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German Pages 253 [254] Year 2010
Paracelsus im Kontext der Wissenschaften seiner Zeit
Theophrastus Paracelsus Studien Herausgegeben von der Theophrastus-Stiftung
Wissenschaftlicher Beirat Peter Dinzelbacher · Bernhard Haage · Werner Gerabek
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De Gruyter
Paracelsus im Kontext der Wissenschaften seiner Zeit Kultur- und mentalitätsgeschichtliche Annäherungen
Herausgegeben von
Albrecht Classen
De Gruyter
ISBN 978-3-11-021886-2 e-ISBN 978-3-11-021887-9 ISSN 1868-274X Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Paracelsus im Kontext der Wissenschaften seiner Zeit : kultur- und mentalitätsgeschichtliche Annäherungen / edited by Albrecht Classen. p. cm. − (Theophrastus Paracelsus Studien) Includes bibliographical references and index. ISBN 978-3-11-021886-2 (hardcopy : alk. paper) 1. Paracelsus, 1493-1541. I. Classen, Albrecht. B785.P24P32 2010 610.92−dc22 2010013657
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© 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Einleitung Albrecht Classen ....................................................................................................... 1 Der Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris, et de caeteris spiritibus Peter Dinzelbacher................................................................................................... 21 Astrologie, Fortuna und Schicksalsglaube im 16. Jahrhundert. Der Beitrag von Paracelsus zu einem mentalitätsgeschichtlichen Diskurs Albrecht Classen ..................................................................................................... 47 Paracelsus als Theologe Urs Leo Gantenbein ................................................................................................ 65 Zu den sozialpolitischen Schriften des Paracelsus Wolfgang Beutin ...................................................................................................... 91 Die bildhafte Sprache des Paracelsus und ihr Verhältnis zu den alchemistischen Diagrammen: Die Zeichen und das Zeigen Matthias Vollmer.................................................................................................. 129 Die gelehrte Medizin zwischen Mittelalter und Humanismus: Wo steht Paracelsus? Werner Heinz ....................................................................................................... 151 Paracelsus – St. Galler Fundamente seiner Medizin-Philosophie Pirmin Meier ......................................................................................................... 175
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Inhalt
Heilige, Heiler und Hexen: Volksmedizin um 1500 Johannes Grabmayer .............................................................................................. 183 Paracelsus und die deutsche Sprache. Nebst Anmerkungen zur deutschlateinischen Mischsprache temporibus Theophrasti et Lutheri Peter Mario Kreuter ............................................................................................... 201 Blinder Fleck oder Projektionsfigur? Paracelsus und der medizinische Pluralismus heute Heinz Schott ......................................................................................................... 217 Leib, Leben, Bioethik. Mit Paracelsus zur modernen Leib-Philosophie Andreas Brenner ................................................................................................... 229 Autorenverzeichnis ........................................................................................... 239 Register ............................................................................................................... 245
Einleitung Albrecht Classen Seltsam mag es scheinen, mit welchem großen Interesse die Gegenwart auf solche teils schon der modernen Wissenschaft, teils immer noch der mittelalterlichen Scholastik hinneigenden Gestalten wie Nostradamus1 oder Paracelsus reagiert. Der Letztere genießt seit Langem schon das Ansehen, nicht nur mit Geheimwissenschaften umgegangen zu sein, sondern tatsächlich tiefere Einblicke in die Humanmedizin, Astronomie, Astrologie und viele andere Bereiche gewonnen zu haben. Von einem ParacelsusMythos zu sprechen, wäre wohl kaum zu viel gesagt, obgleich wir umfangreich Konkret-Biografisches über diesen Gelehrten des 16. Jahrhunderts wissen, was ihn doch wieder aus dem mythischen Bereich retten könnte. Wir fantasieren aber lieber über Paracelsus als geheimnisumwitterte Gestalt, weil wir uns mit ihm bevorzugt einen Grenzgänger vorzustellen bereit sind, denn als einen seriösen Forscher seiner Tage, der mit großem Wagemut die Grenzen des damaligen Wissens zu überschreiten gewillt war. Dieser Wissensdrang beschränkte sich aber keineswegs auf die Medizin, sondern erfasste beinah jeden Bereich der Gelehrsamkeit der damaligen Zeit, bezog sich sowohl auf die Theologie als auch auf die Philosophie. Erst jüngst hat Bea Lundt in ihrer breiten kulturhistorischen Studie zur Frühneuzeit auch Paracelsus eingeschlossen, über den man offensichtlich einfach nicht hinwegsehen kann, ganz gleich, was man von seinen Gedanken, Beobachtungen oder Schriften halten mag. Sie erwähnt seine Leistungen im Zusammenhang mit einem neuen Verständnis des Körpers und dem medizinischen Bemühen, diesen gesund zu halten (S. 83), dann diejenigen im Hinblick auf die Erforschung der Naturgesetze, die Paracelsus auf höchst idiosynkratische Weise untersuchte, was ihm aber überall Ärger und Konflikte eintrug (S. 137–138). Weiterhin betont Lundt sein Interesse an Fabelwesen und mythischen Kreaturen, die gar nicht mehr als bedrohlich oder gefährlich angesehen werden, sondern als exotische Wesen aus anderer Welt, die sich „nach Teilhabe an der sakramentalen Insti_____________ 1
Albrecht Classen: Nostradamus und seine Prophezeiungen. Ein Mythos aus Wissenschaft und Glauben. In: Verführer, Schurken, Magier, hg. Ulrich Müller und Werner Wunderlich (Mittelalter Mythen, 3). St. Gallen 2001, S. 717–724.
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tution der Ehe und nach Beseelung durch einen Mann“ sehnen (S. 139).2 Heinz Dopsch hat, wie viele andere Forscher vor ihm, Paracelsus als eine höchst vielschillernde Figur wahrgenommen: Er war ein vielseitiges Genie, das in den verschiedensten Bereichen der Wissenschaft, als Forscher und Erneuerer bahnbrechend gewirkt hat: In der Pharmazie, in der Alchemie, der Kosmologie, der Philosophie, der Theologie und schließlich auch in jenem Grenzbereich der Wissenschaften, der sich vor allem mit dem Verhältnis von Geist und Materie befasst.3
So fällt stark ins Auge, wie sehr sich Paracelsus gegen die in Italien aufgekommene Praxis, tote Körper aus medizinwissenschaftlichen Gründen zu sezieren, wehrte und stattdessen darauf drängte, dem Einklang von Mikround Makrokosmos auch und gerade im menschlichen Leben auf die Spur zu kommen. Teilweise bewies sich damit Paracelsus als sehr traditionsverhaftet, teilweise aber verfolgte er dann doch wieder sehr innovative Wege und opponierte gegen den Missbrauch von Herrschaftsstrukturen, ob nun seitens der Fürsten oder, viel schlichter, seitens seiner eigenen Fachkollegen, die mit diesem unsteten Menschen nicht viel anfangen konnten und ihn als schwierigen Konkurrenten ablehnten, der sich sowieso nicht in ihre sozialen Lebensverhältnisse einzufügen bereit zeigte.4 Als Feldarzt im Dienst verschiedener Heere erwarb sich Paracelsus einen großen Schatz an direkter medizinischer Anschauung, weigerte sich aber weiterhin, das Sezieren von Leichen als sinnvolle medizinwissenschaftliche Tätigkeit anzuerkennen. Von Salzburg aus, wo er sich 1524 als Arzt niedergelassen hatte, setzte er sich mit Martin Luther und einigen anderen Reformatoren in Verbindung, schickte ihnen sogar seine eigene Auslegung der ersten fünf Kapitel des Matthäus-Evangeliums mit der Bitte um Kommentierung und Kritik.5 Als sich Paracelsus 1525 mit den aufständischen Bauern in Salzburg zu sehr einer Meinung zeigte, dann in der Stadt sogar Krawalle und Plünderungen ausbrachen, fürchtete er so _____________ 2 3 4 5
Bea Lundt: Europas Aufbruch in die Neuzeit 1500–1800. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte (Kultur und Mentalität). Darmstadt 2009. Heinz Dopsch: Paracelsus. Arzt, Philosoph oder Goldmacher. In: Künstler, Dichter, Gelehrte, hg. von Ulrich Müller und Werner Wunderlich (Mittelalter Mythen, 4). Darmstadt 2005, S. 937–958, hier S. 940. Pirmin Meier: Paracelsus. Arzt und Prophet. Annäherungen an Theophrastus von Hohenheim. 3. Aufl. Zürich 1993, S. 216–220. Frank Geerk: Paracelsus – Arzt unserer Zeit. Leben, Werk und Wirkungsgeschichte des Theophrastus von Hohenheim. Zürich 1992, S. 94–95. Repräsentativ für die doch etwas einseitige Orientierung etwa in der Germanistik in Bezug auf Paracelsus mag der Überblick von Herbert Walz: Deutsche Literatur der Reformationszeit. Eine Einführung. Darmstadt 1988, gelten, wo der Name unseres Wissenschaftlers und (!) Theologen noch nicht einmal fällt. Das Gleiche trifft immer noch auf selbst die jüngste Literaturgeschichte zu: A New History of German Literature, hg. David E. Wellbery und Judith Ryan. Cambridge, MA, und London 2004. Zu dem theologischen Anliegen Paracelsus siehe den Beitrag von Urs Leo Gantenbein im vorliegenden Band.
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sehr die Verfolgung des Erzbischofs, dass er sich fluchtartig aus dem Staube machte und sich in Straßburg niederließ. Dort stärkte er sein mittlerweile hohes Ansehen als Arzt dadurch, dass er den Baseler Buchdrucker Johannes Froben in letzter Not aus seiner Krankheit retten konnte. Dieser verhalf ihm aus Dankbarkeit, in Basel zum Stadtarzt und Universitätslektor ernannt zu werden, wo es aber sehr bald zum nächsten Eklat kam. Paracelsus hielt seine Vorlesungen auf Deutsch und verbrannte am 24. Juni 1527 demonstrativ in der Öffentlichkeit ein scholastisches Lehrbuch, womit er die gesamte „Innung“ der Ärzte und Apotheker empfindlich herausforderte und insgesamt gegen sich richtete.6 Obwohl er sich in Basel beträchtlich länger als anderswo aufzuhalten vermochte, machte er sich immer wieder neue Feinde und bewies sich als ein sehr erstaunlicher Quertreiber, der aber trotz häufig mangelnder Unterstützung seitens der Fürsten, Stadträte und Gelehrten seinen Lebensunterhalt fristen konnte, wenngleich er immer wieder Prognostikationen verfassen musste, um ein gewisses Einkommen zu erhalten. Man sagte ihm nach, Goldmacher zu sein, wenngleich er „nur“ Alchemie betrieb und kosmologische Studien durchführte, um das Verhältnis vom Makro- zum Mikrokosmos zu ergründen. Durch den bewussten Einsatz vieler neu geschöpfter Ausdrücke erwarb er sich zugleich selbst den Ruf eines geheimnisumwitterten Menschen, den man verehrte und zugleich verachtete,7 bewunderte und fürchtete.8 Insoweit als manche späteren Autoren ihre eigenen Schriften unter dem Namen von Paracelsus veröffentlichten, ist es bis heute recht schwierig, genau die Eigenleistungen dieses großen Gelehrten und Autors zu bestimmen.9 Dennoch hat sich sein Ansehen im Laufe der Zeit eigentlich nur gesteigert, auch wenn dieser Wandel hin zu einer positiven Einstellung zu diesem Gelehrten keineswegs notwendigerweise auf ein besseres Wissen um seine Forschungen, seine Schriften, seine Lehren und Erkenntnisse beruht.10 Große Anerkennung genießt Paracelsus sowohl unter Medizinern als auch Pharmazeuten, Theologen und Philosophen. Aber am _____________ 6 7 8 9 10
Blaser: Paracelsus in Basel. Festschrift für Robert-Henri Blaser zum 60. Geburtstag. Sieben Studien des Jubilars mit einem Geleitwort von Kurt Goldammer. Hg. von der Schweizerischen Paracelsus-Gesellschaft. Muttenz und Basel 1979. Siehe den Beitrag von Peter Mario Kreuter in diesem Band. Walter Pöldinger (Redaktion): Zur Sprache des Paracelsus. Vorträge 1998 (Salzburger Beiträge zur Paracelsusforschung, 32). Wien 1999. Kurt Goldammer: Probleme der deutero-paracelsischen Schriften am Beispiel der Magie. In: Paracelsus (1493 – 1541). „Keines andern Knecht …“ Salzburg 1993, S. 353–356. Siehe dazu Lucien Braun: Was ist unter dem Namen Paracelsus zu verstehen?. In: Nova Acta Paracelsica. Beiträge zur Paracelsus-Forschung. Neue Folge ab 1987. NF 10. Einsiedeln 1996. Zugleich Bern, Berlin et al. S. 3–13.
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meisten bewundern ihn doch die Balneologen und Homöopathen, da sie in ihm den Vater ihrer eigenen Forschungsrichtung erblicken.11 Das große Spektrum an Meinungen, die über Paracelsus geäußert wurden, schuldet sich nicht so sehr ideologischen Gegensätzen oder theologischen Spannungen, sondern einer Eigenart des paracelsischen Schreibens und Gedankenguts. Wie Andrew Weeks klar erkannt hat, dominieren bei diesem Gelehrten nicht praktische, empirische Erfahrungen, und dies trotz aller intensiven Studien, die er persönlich durchgeführt hat, sondern spekulative Gedanken, die eine Vielfalt an Einsprengseln aus den verschiedensten Wissenschaftsgebieten, einschließlich der Theologie und Astrologie, aufweisen. Paracelsus trat gerade zu einem solchen Zeitpunkt auf, als die protestantische Kirche sich noch nicht richtig etabliert und die katholische bereits erheblich an Autorität verloren hatte, was dem Individuum erhebliche Freiheit einräumte, theologisch, wissenschaftlich, medizinisch und philosophisch eigene Wege zu beschreiten.12 Dieses eigentümliche Phänomen kommt sehr gut in einem selbstreflexiven Satz zum Ausdruck, den Weeks selbst aus dem Werk von Paracelsus zitiert: ich bin nit Lutherus, ich bin Theophrastus, und bin der Theophrastus, den ir zu Basel Cacophrastum hießen … und bin ich euch Cacophrastus nit genug gewachsen, ich sag euch, meine schuchriemen wissen mer dan ir und alle euer schulmeister, Galenus und Avicenna, und all eure hohenschul. wolt ir das nicht lassen war sein, legent curam utramque auf die wag und secht wie die wag ausschlage.13
Bei solch einem Menschen wie Paracelsus eine traditionelle Messlatte anzulegen, um herauszufinden, ob er dem zeitgenössischen Standard der Wissenschaft und Medizin entsprach, ob er gottesgläubig und fromm war, ob er sich als Lutheraner verstand oder nicht, verfehlte vollkommen die korrekte Einschätzung, und doch fragt man sich immer wieder, um wen es sich bei Paracelsus wirklich gehandelt haben könnte. Gerade die Exaltiertheit seines Charakters, sein trotziges Auftreten und Revoltieren gegen jegliche Autoritäten, sein starker Glaube daran, die entscheidenden Erkenntnisse in sich selbst zu finden ohne Rekurs auf die traditionellen Lehren, drohen ihn für uns heute nicht mehr verständlich zu machen. Dennoch fasziniert er uns gerade deswegen, weil er fast wie ein Frühzeuge der Postmoderne wirkt, der alles zu dekonstruieren und aus den Angeln zu heben drohte und dafür seine spekulativen Gedanken als das Maß aller _____________ 11 12 13
Siehe dazu den schönen, wenngleich sehr knappen Überblick bei Heinz Dopsch: Paracelsus, 2005. Dort findet sich auch eine gute, recht umfangreiche Paracelsus-Bibliografie. Andrew Weeks: Paracelsus. Speculative Theory and the Crisis of the Early Reformation. Albany, NY, 1997. Weeks: Paracelsus, S. 1. Das Zitat findet sich in: Sämtliche Werke. Abt. 1: Die medizinischen, naturwissenschaftlichen und naturphilosophischen Schriften. München 1922 ff. Bd. 8, S. 43 und 47.
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Dinge setzte. Gleichzeitig wehrte er sich gar nicht gegen den Glauben, suchte nur seine eigenen Wege außerhalb jeglicher Institution nach dem absoluten Wissen, das auf jeden Fall nicht in der altüberlieferten Schule zu finden war. Insoweit dürfte es uns gar nicht überraschen, dass Paracelsus herzlich wenig über Geschichte wusste und nur in sehr allgemeinspekulativen Kategorien von der Vergangenheit sprach, die er sich vornehmlich aus dem biblischen Bericht ableitete. Genauso wenig scheint für Paracelsus die Entdeckung der Neuen Welt etwas bedeutet zu haben, in seinen vielfachen und umfangreichen Schriften gibt es praktisch keine Hinweise darauf. Vielmehr bohrte er stets im Innern des Geistes nach Erkenntnis, und alles andere diente ihm bloß als „Vexierbild“ ohne allzu große Relevanz für seinen eigenen Gedankengang.14 Vielleicht beruht ja die große Faszination an Paracelsus genau auf dieser Unergründlichkeit seiner Spekulationen, die er mit erstaunlichem Selbstbewusstsein und Wagemut der Welt ins Gesicht schleuderte, ohne sich um die Konsequenzen für sein eigenes Wohlergehen zu kümmern. Dies versetzt ihn aber ungefähr in die gleiche Kategorie wie viele andere intellektuelle, theologische und wissenschaftliche Genies, seien es einige Große unter den Mystikern und Mystikerinnen, sei es Girolamo Savonarola, sei es Johann Faustus oder Jakob Böhme, um nur einige Namen zu nennen, die uns bis heute wegen ihrer Einzigartigkeit, Quirulenz im Denken, Repräsentationskraft und Fremdheit anziehen und abstoßen, verblüffen und begeistern. Nicht die Masse in der Geschichte, sondern die Einzelgänger treten profilierend vor unsere Augen, und so also auch Paracelsus, der schon seine Zeitgenossen und Nachwelt zutiefst provozierte, faszinierte, irritierte und doch auch ungemein beeindruckte, wie uns die reiche Rezeptionsgeschichte demonstriert.15 Sucht man heute im World Wide Web unter dem Stichwort „Paracelsus“, erhält man schlagartig eine unüberschaubare Riesenmenge an Webseiten angeboten, manche davon durchaus seriös, andere natürlich höchst suspekt.16 Im berühmt-berüchtigten Wikipedia, das sich hierbei als gar nicht so schlecht erweist, verweist der einschlägige Beitrag nach biografischen Hinweisen zumindest auf Paracelsus’ Beiträge zur Philosophie, Medizin, Toxikologie und Psychotherapie, bietet sogar eine Bibliografie und Informa_____________ 14 15
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Weeks: Paracelsus, S. 16–19. Analecta Paracelsica. Studien zum Nachleben Theophrast von Hohenheims im deutschen Kulturgebiet der frühen Neuzeit, hg. von Joachim Telle (Heidelberger Studien zur Naturkunde der frühen Neuzeit, 4). Stuttgart 1994; siehe auch: Der Frühparacelsismus. Erster Teil. Hg. und erläutert von Wilhelm Kühlmann und Joachim Telle (Corpus Paracelsisticum, 1) Tübingen 2001. Meine Suche am 16. Mai 2009 ergab 1 530 000 Treffer. Nostradamus ist zugleich auf 5 590 000 Seiten zur Sprache gekommen. Für Faustus hingegen kam es zu 1 960 000 Treffern.
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tionen zu wichtigen Webseiten.17 Aber dabei handelt es sich nur um einen recht oberflächlichen, auf die Öffentlichkeit zugeschnittenen Beitrag mehr oder weniger enzyklopädischer Art. Viel wichtiger dürfte sein, dass sich u. a. auch das Züricher Paracelsusprojekt im Netz angesiedelt hat, was der wissenschaftlichen Erforschung wesentlich dienlich sein dürfte.18 Wie wir heute auf Paracelsus einzugehen haben, wie wir ihn angemessen und möglichst objektiv beurteilen müssen, hängt stark davon ab, wieweit wir uns auf seine eigenen Schriften und die seiner Zeitgenossen einlassen. Die Verehrung dieses Gelehrten, die ihm von vielen Seiten zuströmt, darf uns nicht blind machen für die Besonderheit und Individualität seiner Gedanken und Überlegungen, die keineswegs stets nachvollziehbar und logisch formuliert sind. Wie Andrew Weeks klar formuliert, „On the whole, his writings present a kind of speculation that is given more to mystical contemplation than to induction from the evidence of the senses“.19 Es wäre mithin zu eng gedacht, wie Weeks postuliert, etwa Paracelsus’ Schrift Labyrinthus Medicorum Errantium als einen spezifischen Beitrag zur Philosophie oder zur Medizin zu betrachten, wohingegen die Kategorien „Theorie“ oder „spekulative Mystik“ der Sache viel näherzukommen scheinen. Wenngleich Paracelsus sich oft theologischen Gedanken überließ und scheinbar sorgfältige Auslegungen des biblischen Textes bot, bediente er sich vielmehr des theologischen Diskurses, um gegnerische Autoritäten anzugreifen und nach seinen dekonstruktiven Argumenten auf anthropologische und naturkundliche Konzepte auszugreifen. Konzise umschreibt dies Weeks folgendermaßen: Paracelsian theorica is characterized by its movement across the boundaries of academic divisions, by its capacity to generate terms and concepts, and by its concern with particular phenomena such as the unclassified female disease, the shifting terrain of pathology, or the purported diversities of lands and peoples. Such phenomena are cited to secure the legitimacy of his recasting of all disciplines and categories. In a movement that only appears to contrast with the quest for the particular, theory is also an impulse to ascend, abruptly and vertically, as it were, from the particular to the metaphysical other divine object – the supreme individual whose hidden, transcendent nature illuminates the pattern of all other natures. Paracelsian theory is contemplative and mystical.20
Wirft man einen Blick auf den heutigen Buchmarkt, entdeckt man, welch exponentielle Beliebtheitssteigerung Paracelsus insbesondere in der Gegenwart weltweit erfährt. Paul Letter hat erst jüngst eine neue Biografie _____________ 17 18 19 20
http://en.wikipedia.org/wiki/Paracelsus (letzter Zugriff am 16. Mai 2009). http://www.paracelsus.uzh.ch/index_g.html (letzter Zugriff am 16. Mai 2009). Weeks: Paracelsus, S. 185. Weeks: Paracelsus, S. 186–187.
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vorgelegt,21 Gabriele Zimmermann hat sich umfangreich im Paracelsischen Werk auf der Suche nach Naturheilmitteln umgeschaut,22 Helmut Werner betrachtet sich die okkulten Schriften Paracelsus,23 Charles Webster behandelt die Aufgabe von Medizin und Magie im Werk dieses Gelehrten angesichts des kommenden Weltendes,24 und Michaela Dane sucht in ihrer populärwissenschaftlichen Studie nach Heilgeheimnissen.25 Sergius Golowin geht sogar so weit, in seinem Buch Rettung für unsere Zukunft im Werk von Paracelsus aufzuspüren,26 während Olaf Rippe und Margret Madejsky bei Paracelsus nach Auskunft über wichtige Heilkräuter für die Alternativmedizin suchen.27 Zum Glück hat sich die wissenschaftliche Forschung von diesem unablässigen Strom oft recht zweideutiger und suspekter Arbeiten, Anthologien, dann aber auch sogar von Filmen und Webseiten nicht von der eigentlichen Aufgabe ablenken lassen,28 wie bereits der erste Band in der Reihe „Theophrastus Paracelsus Studien“ mit seinen Studien zu dem Thema „Mystik und Natur“ zu erkennen gibt.29 Neue Editionen sind im Erscheinen begriffen, wissenschaftliche Tagungen widmen sich immer wieder dieser vielschillernden Figur und weiterführende Fragestellungen werden unablässig aufgeworfen, wie ja auch der gegenwärtige Band vor Augen führen soll. Am faszinierendsten dürfte bei diesem ganzen Phänomen sein, wie sehr Paracelsus uns heute dazu zwingt, intensiv interdisziplinär zu denken und holistisch bei der Interpretation vorzugehen. Medizinhistorische, astrologisch-chemische, astronomisch-historische und literar- und mentalitätsgeschichtliche Aspekte spielen sich hier erstaunlich eng gegenseitig in _____________ 21 22
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Paul Letter: Paracelsus: Leben und Werk. Berlin 2009. Gabriele Zimmermann: Das Heilwissen des Paracelsus: Naturheilmittel der Spagyrik aus Kräutern, Edelsteinen und Metallen – Anwendungen von A bis Z für Gesundheit, Schönheit, Vitalität – extra: die alchemistische Powerkur mit Gold und Silber. München 2009 Helmut Werner: Paracelsus okkulte Schriften – Mikrokosmos und Makrokosmos. Leipzig 2009. Charles Webster: Paracelsus: Medicine, Magic and Mission at the End of Time. New Haven, CT, und London 2008. Michaela Dane: Die Heilgeheimnisse des Paracelsus: alchemistische Heilpraxis für unsere Zeit. Berlin 2008. Sergius Golowin: Paracelsus : Mediziner – Heiler – Philosoph. Darmstadt 2008. Olaf Rippe und Margret Madejsky: Die Kräuterkunde des Paracelsus: Therapie mit Heilpflanzen nach abendländischer Tradition; Naturphilosophie, Signaturenlehre, Astrologie der Heilkräuter, Alchimie und Spagirik, Magie mit Heilpflanzen, Heilpraxis. Baden 2006. http://www.imdb.com/title/tt0036249/; oder http://movies.nytimes.com/movie/ review?res=9506E6DE153BE63BBC4953DFB767838F669EDE (beide zuletzt eingesehen am 19. Mai 2009). Mystik und Natur, hg. von Peter Dinzelbacher (Theophrastus Paracelsus Studien, 1). Berlin und New York 2009.
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die Hand und erweisen sich damit letztlich nur als Facetten ein- und desselben Phänomens. Vielleicht beruht ja die heutige Faszination an Paracelsus genau auch darin, dass sein Werk so ungemein vielversprechend wirkt und in vielerlei Hinsicht den zentralen postmodernen Theorien entspricht, sehen wir zunächst von seinen z.T. wirklich bemerkenswerten, bahnbrechenden Einsichten in Medikamentenlehre und richtige Dosierungen ab, was gar nichts mehr mit der antiken, weit bis ins Spätmittelalter hinein wirkenden Vier-Säfte-Theorie des antiken Arztes Galen zu tun hatte (Humoralpathologie).30 Aber dies mag jeder Einzelne für sich selbst entscheiden, während es nun an der Zeit sein dürfte, im Einzelnen darauf hinzuweisen, worum es sich bei dem vorliegenden Band handelt. Wie schon die oben erwähnte Buchpublikation Mystik und Natur, so gehört auch die gegenwärtige in die neue Publikationsreihe „Theophrastus Paracelsus Studien“. Die Beiträge wurden in erster, mündlicher Fassung auf der Theophrastus Paracelsus Tagung in der St. Gallener Pfalz im Klosterhof vom 11.–13. April 2008 vorgetragen, dann für die Veröffentlichung ergänzt, erweitert und ein wenig im formalen Sinne vereinheitlicht (nicht alle der Vorträge konnten für den vorliegenden Band eingeworben werden). Die Organisation der Tagung hatte noch Prof. Dr. Peter Dinzelbacher durchgeführt, doch wegen seiner extremen Arbeitsüberlastung und auch aus persönlichen Gründen übertrug er mir dann die Aufgabe, den zweiten Band an seiner Stelle herauszugeben, was mir jedoch nur beschränkt möglich war, konnte ich ja zu dem Zeitpunkt nicht mehr angemessen in den jeweiligen Inhalt eingreifen oder stringentere Richtlinien für die formale Gestalt durchsetzen. Ich bedanke mich für sein Vertrauen und die gute Zusammenarbeit mit der Theophrastus Paracelsus Stiftung, was insgesamt zur glücklichen Publikation des zweiten Bandes geführt hat. Nachfolgend werde ich kurz die einzelnen Aufsätze zusammenfassen und dem Leser einen Einblick vermitteln, welche Schritte die heutige Paracelsus-Forschung einschlägt und von welchen theoretischen Richtlinien sie bestimmt wird. Peter Dinzelbacher beginnt hier den Reigen, indem er die Vorstellung Paracelsus’ über die Erdgeister und andere Zwischenwesen untersucht, wie sie in dessen Buch Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris, et de caeteris spiritibus, das bis heute unter allen seinen Werken mit die meiste _____________ 30
Durchaus repräsentativ für seine Position und sein Ansehen in der modernen Medizin dürfte die Zusammenfassung sein, die sich auf einer Webseite findet, die von der Pharmaindustrie erstellt wurde: http://www.die-forschenden-pharma-unternehmen.de/forschung/ forschergalerie/forscher_paracelsus (letzter Zugriff am 17. Mai 2009). Richtig ist aber, dass Paracelsus weiterhin die galenischen Lehren als richtungsweisend ansah, dann aber eigene Wege einschlug und aus mikro- und makrokosmischer Sicht, eingedenk des Walten und der Kraft Gottes empirische Studien verfolgte. Siehe dazu den Beitrag von Albrecht Classen in diesem Band.
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Aufmerksamkeit ausgelöst hat, zur Sprache kommen. Obwohl sich hier Paracelsus mit einem Teil der Arkanwissenschaften auseinandersetzt (Okkultismus), erklärt er sich in diesem recht kurzen Traktat in aller Deutlichkeit und legt alle seine Einsichten klar verständlich auf den Tisch. Für ihn handelte es sich dabei um dem Menschen durchaus vergleichbare Wesen, wenngleich sie nicht aus Fleisch und Blut bestehen; der wesentliche Unterschied besteht bloß darin, dass sie keine Seele besitzen und mit ihrem Tod völlig und auf ewig verschwinden und vergehen. Diese Wesen vermögen sich durch feste Materie zu bewegen, nehmen Nahrung auf, vermehren sich durch Geschlechtsverkehr und gehören deswegen nicht zu den Geistern. Ihre Funktion bestehe darin, die unendliche Kreativität Gottes vor Augen zu führen und zugleich, wenn es zu monströsen Missgeburten kommt, vor der Gefahr der Sünden zu warnen. Dinzelbacher erläutert, welche verschiedenen Gruppen von Paracelsus behandelt werden (Nymphen, Elfen, Undinen, Sirenen, Sylphen) und wie diese bereits in der mittelalterlichen Literatur thematisch gestaltet worden waren, ohne dass sich Paracelsus im Einzelnen darum gekümmert hätte, fehlen ja die einschlägigen Hinweise; dazu weicht er am Ende doch immer wieder von der Tradition ab und bietet ganz andere Charakteristika. Ein anderes Problem besteht darin, worauf uns Dinzelbacher speziell hinweist, dass Paracelsus durchaus widersprüchliche Terminologie benutzte und keineswegs so systematisch-wissenschaftlich vorging, wie man es heute erwarten würde. Faszinierenderweise nahm aber der Autor deutlich Abstand davon, noch wie immer und überall in der mittelalterlichen Theologie diese Zwischenwesen als dämonisch hinzustellen, denn sie gehörten für ihn ganz entschieden zu Gottes universalem Heilsplan. Auch Berggeister wie das Schrätlein treten bei Paracelsus auf, der sich hier ganz deutlich auf einen weitverbreiteten Aberglauben stützte, und so auch Wilde Leute, die bereits lange vor dem 16. Jahrhundert zum Allgemeingut der Fantasie und Imagination gehörten. Obwohl Paracelsus auch auf Riesen und Pygmäen eingeht, ignorierte er wohl ganz bewusst, was in den biblischen Texten über sie zu lesen war und bot, wie so typisch für ihn, seine eigene Sichtweise außerhalb jeglicher Tradition. Weder Bergmännlein noch die Salamander, auf die Paracelsus natürlich auch eingeht, werden als dämonisch beschrieben, wie Dinzelbacher überhaupt konstatiert, dass Paracelsus sich offensichtlich weder von christlichen noch von jüdischen oder griechischen Vorlagen beeinflussen ließ und all diesen Zwischenwesen einen neuen Charakter zuwies. Sogar Versuche, Quellen für die Vorstellungen Paracelsus’ in der Volkskultur zu finden, gelangen nicht weit, während Dinzelbacher gut aufzeigen kann, wie sehr der Gelehrte in seinem Traktat schlicht eine hierarchische Kosmologie entwirft und unbelastet von mythischem Denken und Aberglauben diesen Wesen
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einen gotterfüllten Platz zuweist. Damit bewies er sich, so Dinzelbacher, als ein außerordentlich selbstbewusster Vertreter des frühneuzeitlichen Denkens, das stark auf den Individualismus abhob und den einzelnen Menschen von der antiken und christlich-jüdischen Tradition abkoppelte, weil nun die Möglichkeit offenstand, die Welt mit all ihren unendlichen Wesen und Phänomenen frei von den Voraussetzungen der Scholastik zu interpretieren. Gerade anhand seiner Betrachtung der Geister, Nymphen, Zwerge etc. beweist sich also die Unabhängigkeit des paracelsischen Denkens. Wie Paracelsus genauer in den zeitgenössischen wissenschaftlichen und theologischen Diskurs einzuordnen wäre, bemühe ich mich, in meinem Beitrag zu erörtern, indem ich dort der Frage nachspüre, wie Paracelsus den Einfluss der Sterne und von Fortuna auf das Leben der Menschen beurteilte. Beide Aspekte hatten im 15. und 16. Jahrhundert beträchtlich an Bedeutung gewonnen, wie uns u. a. auch die zeitgenössische Literatur eindringlich vor Augen führt. Paradigmatisch für den neuen Glauben an die okkulten Wissenschaften mag der Prosaroman Dr. Johann Fausten (1587) einstehen, während die Überzeugung vom Walten der Astralkräfte hier auf Erden gut in der Historia der sieben weisen Meister (Mitte 15. Jahrhundert) bzw. von der Kraft der Fortuna explizit im anonymen Fortunatus (1509) zum Ausdruck kommt. Paracelsus schaltete sich ausdrücklich in diese öffentliche und höchst kontroverse Debatte ein und verfolgte aber wie so häufig bei ihm ganz seine eigenen Wege. Zum Teil berief er sich explizit ganz auf Gott, dann aber drängte er wieder auf empirische Forschungen, ohne seine spekulativen Vorstellungen vom Mikro- und Makrokosmos zu vernachlässigen. Im Gegensatz zu vielen Zeitgenossen distanzierte er sich freilich deutlich von jeglichem Okkultismus und identifizierte Gottes Kraft als den Ursprung aller Wesen. Die menschliche Rationalität könne aber durch ein gründliches Studium der Phänomene die nötigen Heilkräfte finden, brauche sich nicht auf die Astrologie zu stützen, wenngleich die Masse der Menschen viel eher zu solch einer Welterklärung neige, als sich auf die Größe Gottes zu verlassen. Ein vernünftig denkender Mensch könne sich ganz auf den Willen Gottes beziehen, der alles leite und lenke. Paracelsus leugnete zwar nicht die Existenz des Teufels, betont hingegen, dass die ganze Existenz begreif- und erklärbar sei, auch wenn es viele Geheimnisse gäbe, die man nur mit Mühen ergründen könne. Der Glaube an den Einfluss der Sterne sei gänzlich zurückzuweisen, allein Gott sei für alle Erscheinungen in diesem Leben verantwortlich. Damit enthüllt sich auf einmal das bisher so sehr vom Mythos bestimmte Bild von Paracelsus als das eines frühneuzeitlichen Menschen, der intensiv gottesgläubig war und zugleich stark sich der empirischen Forschung anvertraute, mit deren Hilfe eben die von Gott geschaffene Kreation in ihrer unendlichen Manifestation erkennbar gemacht werden könne.
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Heinrich Bullinger glaubte jedoch, nach einer Begegnung mit Paracelsus, dass es sich bei diesem um einen eher unreligiösen, ja in Glaubensdingen unzuverlässigen Menschen handelte, wie nun Urs Leo Gantenbein beobachtet. Dieses Urteil fällte der Reformator freilich zu einem Zeitpunkt, als Paracelsus noch lange nicht seine entscheidenden Leistungen auf diesem Gebiet geleistet hatte, und zudem war auch Bullinger nicht von vorgeprägten Meinungen frei und reagierte auch wohl zu heftig auf diesen eigentümlichen Denker und Wissenschaftler. Dagegen bestand eine wesentlich bessere Beziehung zwischen Paracelsus und Leo Jud, dem engen Weggefährten Zwinglis, doch war diese Beziehung auch dadurch bestimmt, dass Jud als Patient von Paracelsus betreut wurde. Wie Gantenbein nun annähernd bestimmen kann, begann Paracelsus um 1520 mit seinen theologischen Studien, die aber erst wesentlich später in Publikationen umgesetzt wurden. D. h. er wurde genau zu dem Zeitpunkt von theologischen Überlegungen bestimmt, als auch Luther die Grundlagen für die protestantische Kirche schuf. Bemerkenswerterweise decken sich Paracelsus’ Ideen in der Hinsicht doch weitgehend mit denen Luthers (z. B. Antiklerikalismus, Christus-Zentrierung, Bibelauslegung), sehen wir von einer Reihe typischer Eigentümlichkeiten ab, die Paracelsus stets und immer wieder zu einem Außenseiter machten, worin er in gewisser Weise Schwenckfeld und Sebastian Franck glich.31 Gantenbein identifiziert ihn nun zwar nicht als Spiritualisten, erkennt aber stark spiritualistische Züge in seinem Werk, was ihn am Ende sogar dazu brachte, selbst den Protestantismus als Institution abzulehnen. Natürlich überrascht dies wenig, bedenkt man Paracelsus’ radikale Position z. B. gegenüber den von ihm sehr sympathisch betrachteten Bauern und allgemein den Armen schlechthin, was sich nicht gut mit dem praktischen Vorgehen Luthers in Übereinstimmung bringen ließ. Aber selbst mit den Wiedertäufern und anderen Freigeistern wollte Paracelsus nicht viel zu tun haben, während er stark für die imitatio Christi plädierte und die Idee des „seligen Lebens“ und die Vorstellung vom „ewigen Samen“ (Limbus aeternus) befürwortete. Wie Gantenbein klar hervorhebt, und dies durchaus in Übereinstimmung mit der älteren Forschung (Goldammer), vermag man einfach nicht, Paracelsus eindeutig konfessionell einzuordnen, was freilich auf viele andere Aspekte in seinem Leben ebenso zutrifft. Auf jeden Fall trifft zu, _____________ 31
Wie wenig all dies bisher von der Religionswissenschaft in Betracht gezogen worden ist, illustriert die ansonsten recht beeindruckende Studie von Stefan Ehrenpreis und Ute LotzHeumann: Reformation und konfessionales Zeitalter. Darmstadt 2002 (Kontroversen um die Geschichte), wo der Name von Paracelsus noch nicht einmal erwähnt wird. Zu Franck nun Yvonne Dellsperger: Lebendige Historien und Erfahrungen. Studien zu Sebastian Francks „Chronica Zeitbuoch vnnd Geschichtbibell“ (1531/1536). Berlin 2008 (Philologische Studien und Quellen, 207).
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dass wir in Paracelsus auf einen hervorragenden Theologen seiner Zeit stoßen, der jedoch nur wenig Widerhall fand und trotz seiner sehr intensiven Arbeit, die zu zahlreichen Publikationen führte, keinen Zuspruch erwecken konnte, und dies, obwohl er in vielerlei Hinsicht mit den Lehren Luthers übereinstimmte und zutiefst evangelisch dachte, ohne eine gar zu wörtliche Auslegung des biblischen Textes zu befürworten, weil letztlich doch immer wieder die göttliche Inspiration den Ausschlag geben müsse, was Paracelsus fast in die Nähe der Mystiker rückte. Wie Gantenbein vor Augen führt, glaubte Paracelsus daran, dass man schon in dieser weltlichen Existenz durch Gottes Hilfe ein seliges Leben erreichen könne, und zwar durch die praktische Nachfolge Christi, wie er es in seinem Liber de vita beata und dann höchst bedeutungsvoll in De sursum corda deutlich zum Ausdruck brachte. Gantenbein untersucht außerdem die wichtigen Abendmahlschriften, in denen Paracelsus speziell den Wert der praktischen Nächstenliebe ins Zentrum seines Interesses rückte. Insgesamt identifiziert er ihn überraschend eng mit der protestantischen Reformation, zeigt aber zugleich auf, welch beträchtlicher theologischer Abstand zu den führenden Köpfen um Luther bestand, was den großen Denker insgesamt ins Abseits rückte. Wie Wolfgang Beutin in seinem Beitrag zum vorliegenden Band zu Recht betont, können wir in Paracelsus sogar einen Denker erkennen, der sich intensiv mit den Sozialbedingungen in seiner Gesellschaft auseinandersetzte, und dies zu einer Zeit, als es noch gar nicht die staatlichen Strukturen gab, unter denen wir uns heute solche Maßnahmen allein als möglich vorstellen. So sehr Paracelsus in den Tiefen der magischen Medizin verloren zu sein schien, so sehr hat er sich doch auch mit Fragen nach dem Wohlergehen des Menschen beschäftigt, was vielleicht gar nicht so erstaunlicherweise enge Parallelen im Werk von Martin Luther besitzt. Bei seiner intensiven Arbeit am biblischen Text kam er unvermeidlich nicht auch an solchen Stellen vorbei, die konkret sozialpolitisch aufzufassen sind, auch heute noch, so die Aufforderung, eine gute, segensreiche Ehe zu führen, keinen Mord zu begehen, und dann, ganz zentral, was aber auch schon eine alte Tradition selbst im Mittelalter ausmachte, keinen unrechten Reichtum anzuhäufen und diesen, wenn er sich denn einstellt, nicht unsozial allein für sich selbst zu gebrauchen. D. h., Paracelsus forderte seine Leser dazu auf, den Gemeinnutzen im Auge zu behalten, den biblischen Tugendkatalog zu beachten, mildtätig und freizügig zu sein, jedoch ohne ins Gegenteil zu fallen und übermäßig Geld zu stiften oder zu verschenken, was die Geistigkeit des Empfängers gefährden könne, was sich schon vielfach bei Mönchen oder Eremiten gezeigt habe. Insgesamt drängte er darauf, einen redlichen Lebenswandel zu führen und stets
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das eigene Ende im Gedächtnis zu behalten, um so die eigenen Ressourcen, hier modern ausgedrückt, adäquat und gottgefällig einzusetzen, ohne einem Exzess zu verfallen. Unnötiger Überschuss solle den Armen übergeben werden. Beutin macht zudem darauf aufmerksam, wie sehr sich Paracelsus um zweierlei Erkenntnisse bemühte, einmal diejenige Gottes, dann diejenige der Wesen dieser Welt, was sich auch in der doppelten Form der Arbeit zeige, der sich jeder Mensch unterwerfen müsse, nämlich Gott zu ergründen (theologisch-spekulativ) und zugleich die praktische Arbeit, um Geld zu verdienen.32 Beide Aspekte seien aber ideal aufgehoben in der Nächstenliebe, die die meisten Menschen nicht mehr gemäß biblischer Vorschrift betreiben würden, was auch andere Zeitgenossen von Paracelsus bereits monierten. Er ging dann aber selbst so weit, diejenigen zu verurteilen, die sich nicht mit eigener Hand ernähren würden und etwa vom unredlich erworbenen Reichtum lebten. Wie Beutin konstatiert, bewertete Paracelsus sorgfältig das Verhalten der Vertreter der verschiedenen Berufe vom Landsknecht zum Arzt bis hin zum Kleriker primär danach, wie sie mit Geld umgehen, und urteilte dann dementsprechend, entwickelte also schon so etwas wie eine globale Sozialkonzeption, so theologisch sie auch getragen war. Genau wie Luther entwickelte Paracelsus eine spezifische Konzeption von Arbeit und wie sie sozial aufgeteilt werden solle, damit genügend Zeit für den Gottesdienst u.dgl. mehr bleibe. Eitler Müßiggang sei hingegen zu verurteilen, und wenn jemand zu viel Reichtum besäße, der eben zu diesem Müßiggang führe, bestehe das Recht, zur Enteignung zu schreiten. Sogar die Regierenden gerieten ins Schussfeld der paracelsischen Überlegungen und wurden höchst kritisch gemessen nach ihren eigenen Leistungen bzw. nach der gerechten oder ungerechten Ausübung von Macht und Gewalt. Insgesamt gilt, worauf Beutin überzeugend hinweist, dass Paracelsus intensiv über die dialektische Beziehung von Gemein- vs. Eigennutz nachgedacht und ein intensives Programm zur Erhaltung solider, allseits förderlicher Sozialstrukturen entwickelt hatte, das natürlich stark religiös geprägt war und doch konkret die gesellschaftlichen Bedingungen seiner Zeit ins Auge fasste. Der Autor forderte Gleichheit unter den Menschen zur förderlichen Entwicklung aller, und kritisierte stark z. B. Wucherpraktiken und individuellen Missbrauch von Eigentum zur Anhäufung von Reichtümern. Wir würden zwar zu weit greifen, wollten wir Paracelsus als _____________ 32
Der Arbeitsbegriff im modernen Kontext bzw. semantisch so verstanden taucht allerdings schon im Mittelalter auf, siehe dazu Gregory M. Sadlek: Idleness Working. The Discourse of Love’s Labor from Ovid through Chaucer and Gower. Washington, DC, 2004. Vgl. dazu auch die Beiträge zu: Arbeit im Mittelalter. Vorstellungen und Wirklichkeiten, hg. von Verena Postel. Berlin 2006.
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einen Vorläufer der Französischen Revolution hinstellen,33 aber die Analyse Beutins macht doch ungemein deutlich, wie vehement dieser Autor gegen die sozialen und ökonomischen Ungerechtigkeiten und Formen der brutalen Ausbeutung, die er allenthalben beobachtete, argumentierte, dabei ein sehr klares Bild von den konkreten Bedingungen seiner Zeit entwickelte und spezifische Vorschläge machte, die Gesellschaft als ganze zu reformieren und neu nach christlichen Idealen zu gestalten. An entscheidender Stelle im paracelsischen Denken steht sicherlich die Überlegung, wie die in allen Dingen und Wesen dieser Welt ruhende Aussagekraft, die eine Brücke hin zum Makro- und Mikrokosmos schlägt, in Zeichen oder Signaturen zum Ausdruck kommt. Matthias Vollmer wendet sich also der Zeichenlehre zu, wie sie Paracelsus zu entwickeln bemüht war, indem er zunächst zwischen theologisch orientierten und alchemistisch bestimmten Welterklärungsmodellen unterscheidet, wie sie schon im Mittelalter intensiv diskutiert wurden. Paracelsus wandte sich speziell dem Menschen zu, den er als das am dichtesten signifizierte Wesen identifizierte und dessen genaue Analyse nur dann möglich sei, auch für medizinische Zwecke, wenn man die engen Beziehungen zwischen außen und innen, d. h. aber auch zwischen Mikro- und Makrokosmos oder Körper und Geist wahrnehme. Das Unsichtbare werde, so Paracelsus, im Sichtbaren erkennbar, was den Weg klar zeigt hin zu einer metaphysischen Hermeneutik, die darauf beruht, dass jedes Wesen oder Objekt Zeichen besitze, die im Materiellen verankert sind, zugleich aber auf das Geistige hinweisen. Wie Vollmer heraus arbeitet, besteht für Paracelsus die zentrale Aufgabe darin, diese Zeichen zu entziffern und zu begreifen, was dann auch die gesamte Welt entschlüsseln würde, denn alles und jedes erhalte diese Signaturen bei seiner Geburt oder Entstehung in der Matrix mitgegeben. Erkenntnis sei nun dadurch möglich, weil enge Beziehungen zwischen dem Signifikat und dem Signifikanten bestehen. Heilend könne der Mensch im Leben eines anderen somit nur dann eingreifen, d.h. als Arzt oder Magus tätig sein, wenn er diese Zeichen zu erkennen und richtig zu deuten in der Lage sei, denn nichts sei arbiträr, weil die Bedeutung den Zeichen vorlaufe. Allerdings bestehe die Schwierigkeit darin, wie Paracelsus hervorhebt, dass seit dem Sündenfall die genuine Identität von Zeichen und Ding auseinandergefallen sei und nur noch der Gelehrte im ausreichenden Maße die nötige Einsicht gewinnen könne. Paracelsus entwickelte jedoch infolge seiner Überlegungen ein höchst eigenwilliges Lexikon für Pflanzen oder Steine, die medizinische Bedeu_____________ 33
Kurt Goldammer, „Friedensidee und Toleranzgedanke bei Paracelsus und den Spiritualisten / I. Paracelsus“. In: Archiv für Reformationsgeschichte 46, Nr. 1-2 (1955), S. 20– 47.
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tung besaßen, weil er glaubte, damit der inneren Bedeutung näherzukommen als mit den traditionellen Namen, was er als Grundvoraussetzung für eine produktive ärztliche Behandlung ansah. Es ging ihm also, so Vollmer, nicht darum, eine neue arkane Sprache zu schaffen, sondern darum, die richtigen Worte für die spezifischen Phänomene zu finden, was allein den erhofften Heilsprozess einleiten würde. Insoweit erweisen sich Bilder in ihrer Zeichenhaftigkeit für Paracelsus oftmals als recht schwierig, weil sie zu viele Elemente enthalten können, die vom wahren Wesen des Dargestellten abzulenken drohen oder eine falsche Vorstellung entwickeln. Eine wichtige Ausnahme stellen hierbei alchemistische Bilder dar, die aber schon ganz bewusst auf das Beziehungsgeflecht von Signifikat und Signifikant eingehen, um so ihre Wirkung zu erzielen. Allerdings bemühte sich der Alchimist, und so auch Paracelsus, darum, die Sprache zu designifizieren, um zu verhindern, dass auch Unwürdige den Zugang zu den tiefen Erkenntnissen gewinnen. Am bekanntesten ist natürlich Paracelsus bis heute für seine medizinischen Forschungen und Einsichten geblieben, und viele Vertreter von Alternativheilmethoden und -mitteln berufen sich auf ihn, ob zu Recht, das sei hier dahingestellt. Werner Heinz betont allerdings, dass man es sich nicht so einfach mit ihm machen könne, indem man ihn entweder als den Wegbereiter der modernen Medizin oder als Scharlatan identifiziere. Dass Paracelsus entscheidende neue Erkenntnisse über den menschlichen Körper und über pharmazeutische Heilmittel gewann, braucht hier nicht weiter überprüft werden, während die Bestimmung seiner Position in einer gewissen fundamentalen Übergangsphase, also inmitten eines Paradigmenwechsels, sicherlich am besten zutreffen dürfte. Einerseits trieb es ihn entschieden nach vorne, in deutlicher Abkehr von der Scholastik, aber zugleich, so Heinz, hielt ihn seine eigene Traditionsbefangenheit auch wieder zurück. Er überblickt in seiner Untersuchung zunächst grob gefasst die Geschichte der westlichen Medizin, widmet sich darauf dem „Krankheitsbild Paracelsus“, was ihm Erklärungsmöglichkeiten bietet, einige Widersprüche im Verhalten dieses Gelehrten kritisch zu durchleuchten. Heinz lehnt es ab, wie es die Zeitgenossen Paracelsus’ oft vermutet oder gelästert hatten, Alkoholabusus für dessen seltsame Charakterzüge verantwortlich zu machen. Stattdessen sei der übermäßige medizinische Konsum von Quecksilber als entscheidende Ursache für den schnellen Verfall des Körpers des noch gar nicht so alten Mannes anzusehen, der sich stark der schon Ende des 15. Jahrhunderts recht weitverbreiteten Lehre angeschlossen hatte, mittels dieses giftigen Elements Wunderheilungen zu bewirken. Paracelsus akzeptierte sogar die Quecksilber-Therapie für sich selbst, was zu vielen verheerenden Folgen führte, die sich in Jähzorn, emotiona-
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ler Labilität, Misstrauen und nervöser Reizbarkeit zeigte – alles Verhaltensmerkmale, die häufig von Zeitgenossen an dem Gelehrten und Theologen beobachtet wurden. Zugleich dürfen wir aber nicht den gängigen Tonfall im Umgang der Menschen miteinander während des 16. Jahrhunderts vergessen, den wir als Grobianismus bezeichnen und der sich genauso bei Paracelsus wie bei Luther und anderen Größen der Zeit zeigte. So sehr man Paracelsus für seine Leistungen auf dem Gebiet der Balneologie und der therapeutischen Behandlung der Syphilis mit Quecksilber anerkennen muss, darf man aber auch nicht vergessen, worauf uns Heinz erneut aufmerksam macht, wie stark sich dieser Gelehrte mit der mikro- und makrokosmischen Lehre identifizierte, wenngleich er die scholastischen Methoden ablehnte. Am berühmtesten war Paracelsus für seine Überlegung geworden, alles könne zu Gift werden bzw. alles könne als Heilmittel eingesetzt werden, es käme nur auf die richtige Dosis an, aber auch diese Vorstellung lässt sich bereits in der Antike entdecken, wie schon ein nicht Geringerer als Galen sich dazu geäußert hatte, gegen den sich Paracelsus so heftig auflehnte. Nichtsdestotrotz gilt aber, wie Heinz abschließend formuliert, dass Paracelsus z. T. durchaus noch an der antikmittelalterlichen Tradition festhielt und diese nur ausweitete oder leicht adaptierte, z. T. aber gewiss auch neue Wege beschritt und gerade deswegen so heftig von seinen verunsicherten Kollegen angefeindet wurde. In der Studie von Pirmin Meier geht es noch einmal um den wissenschaftlichen Ansatz von Paracelsus, der wie viele andere Forscher vor ihm zunächst von dem Staunen über die Phänomene dieser Welt bestimmt war, wie es auch im St. Galler Paramirum zum Ausdruck kommt. Hier formulierte Paracelsus in eindrucksvoller Weise seine Vorstellung der Kontingenz, der Entien, die das Leben des Menschen beherrschen, und der Möglichkeiten, die dem Arzt zur Verfügung stehen. Meier hebt deutlich hervor, wie klar der Gelehrte seine eigenen Grenzen wahrnahm, denn der göttliche Bereich (Ens Dei) war ihm medizinisch gesehen unzugänglich. Dagegen forderte er den Arzt dazu auf, sich gründlich mit den vier Säulen des Wissens, d. h. Philosophie, Astronomie, Alchemie und Ethik, gründlich vertraut zu machen, um wirklich heilkräftig vorgehen zu können, ohne dabei natürlich den Glauben an Christus zu vernachlässigen. Als Materialkonditionen des Lebens erblickte Paracelsus die Elemente Sal, Sulphur und Merkur, die sich in den Materialsubstanzen des Festen (Sal), des Brennbaren (Sulphur) und des Flüchtigen („Merkur“) manifestieren, was er aber weitgehend biospirituell auffasste, nicht chemisch im modernen Sinne. Wie Meier klar darlegt, bemühte sich Paracelsus in diesem Traktat Paramirum um einen wissenschaftlichen Ansatz, der auf der kritischen Analyse beruht, wenngleich immer noch sich stark religiös-spirituelle As-
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pekte bemerkbar machen, insoweit als Paracelsus doch noch erheblich auf die unsichtbaren Charakteristika aller Dinge und ihre Abhängigkeit von Gott abhebt. Meier macht aber auch darauf aufmerksam, wie sehr sich selbst Paracelsus weiterhin auf die Vorstellung von den vier Elementen im scholastischen Sinne stützte. Daneben, und darin besteht oft das Erstaunliche an seinem Werk, vermochte Paracelsus klarsichtig die unterschiedlichen materiellen Gegebenheiten bei Männern und Frauen wahrzunehmen, was bei ihm zu wichtigen, selbst heute noch gültigen Einsichten etwa zur geschlechtsdifferenzierenden Ernährung führte. Die Dialektik des wissenschaftlichen Denkens bei Paracelsus verschärft sich noch dadurch, wenn man wie Johannes Grabmayer die fast unangenehme Frage aufwirft, worin denn der absolute Unterschied zwischen gelehrter und Volksmedizin bestehen möge, denn gerade bei Paracelsus, wie bei vielen Menschen sowohl im 16. Jahrhundert als auch weit darüber hinaus, wenn nicht sogar bis heute, bestand immer wieder die Neigung dazu, auf Wortmagie, Rituale u.dgl.m. zurückzugreifen und heilige Kräuter und Wurzeln einzusetzen, von Zauberformeln und Beschwörungen ganz abgesehen. Selbst schon die Antike setzte die verschiedensten Strategien und Mittel ein, um Krankheiten magisch zu bekämpfen und/oder die Wirkungen des Alterns zu verhindern. Der Unterschied zur mittelalterlichen Medizin erweist sich bei näherer Hinsicht relativ gering, und zieht man so manche Alternativmedizin hinzu, enthüllt sich schnell, wie ähnlich doch die Versuche zu allen Zeiten gewesen sind, bei schwierigen oder unheilbaren Fällen von der Schulmedizin abzuweichen und metaphysische, ja manchmal sogar dämonische Kräfte aufzurufen. Zauberformeln haben noch jederzeit viel Einsatz gefunden, was im christlichen Mittelalter ein wenig durch Gebete verborgen wird, dennoch eine rege Fortsetzung erlebte, vor allem wenn wir an den geradezu überbordenden Heiligenkult denken, der im Grunde bis heute kaum an Einfluss eingebüßt hat, wie z. B. der allseitig verbreitete Wunderglaube, für den Grabmayer zahlreiche Beispiele aus dem Spätmittelalter anführt, eindringlich belegt. Ohne im engeren Sinne sich mit Paracelsus auseinanderzusetzen, entwirft der Autor doch sehr anschaulich den geistes- und mentalitätsgeschichtlichen Rahmen, innerhalb dessen unsere Hauptfigur auch zu betrachten ist, die natürlich primär um experimentelle und empirische Heilkunde bemüht war, dennoch nicht ganz zu verstehen sein wird, wenn man den breiteren kulturhistorischen Rahmen nicht in die Betrachtung einbezieht. Einer ganz anderen, sehr spannenden Frage widmet sich Peter Mario Kreuter, nämlich derjenigen, ob Paracelsus ein Luther vergleichbares Deutsch geschrieben habe, oder ob man den bösen Zungen seiner Tage zustimmen müsse, dass er weder Latein noch ein gutes Deutsch be-
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herrschte. Wieland verteidigte im 18. Jahrhundert Paracelsus mit ebenso großer Heftigkeit wie Adelung ihn in Grund und Boden verdammte. In der Frühneuzeit waltete aber gerade in Deutschland oftmals eine mischsprachige Situation vor, denn das Lateinische wurde weiterhin in gelehrten Kreisen hoch geschätzt, während man zunehmend, u. a. auch unter Luthers Beeinflussung (Bibelübersetzung, Predigten, Tischgespräche etc.) die Volkssprache als das wesentlich Eigene der Kultur ansah. Wie Kreuter uns darauf aufmerksam macht, beklagte aber selbst Luther das verheerende Phänomen einer sich immer mehr ausbreitenden Sprachmischung, wobei keine der zwei Sprachen noch dem traditionellen Standard entsprach. Allerdings gilt zu berücksichtigen, worauf Kreuter zu Recht insistiert, dass gerade die Humanisten stark die Entwicklung der deutschen Muttersprache förderten, zugleich aber im schriftlichen Bereich das Lateinische mit großer Sorgfalt pflegten. Dennoch waren die meisten Gelehrten schuldig daran, beide Sprachen oft unterschiedslos im gleichen Text einzusetzen, was auch Luther klarsichtig beobachtete. Paracelsus hingegen war einer der Ersten, die in den meisten ihrer Werke sich des Deutschen bedienten. Insoweit als er primär über medizinische und naturwissenschaftliche, dann aber auch theologische Aspekte behandelte, für die es noch keine deutschen Ausdrücke gab, prägte er offensichtlich zahlreiche neue Worte, was das Verständnis jedoch bis heute ziemlich erschwert. Zwar verwendete er ebenfalls viele lateinische Termini, aber dies führte bei ihm nicht zu einer Mischsprache, vielmehr bewahrte er sehr klar erkennbar seinen eigenen deutschen Stil, der zwar häufig etwas ungelenk wirkt, insgesamt aber doch sehr charakteristisch für ihn ist. Gegen den Vorwurf seitens der Fachkollegen, eine unwissenschaftliche Sprache zu gebrauchen, verteidigte er sich letztlich sehr erfolgreich damit, nicht rhetorische Meisterleistungen anzustreben, sondern seine empirischen Erkenntnisse speziell medizinischer Phänomene dem breiteren Publikum zu vermitteln; deswegen also Paracelsus’ entschiedene Befürwortung des Deutschen, mit dem er sowohl seine Patienten als auch Studenten, Apotheker, Ärzte und andere mehr oder weniger Gebildete erreichen wollte. Kreuter bezweifelt aber, dass Paracelsus sprachlich eine bedeutendere Wirkung ausgeübt haben mag, denn zum einen traten gar zu viele Kritiker gegen Paracelsus auf, zum anderen fielen die meisten Nachahmer wieder auf das Lateinische zurück, und diejenigen, die sich dem Beispiel Paracelsus’ anschlossen, wurden zu Opfern des vernichtenden Urteils, bloß paracelsistische Laien zu sein, denen man nicht trauen könne. Nicht zu übersehen wäre schließlich auch das deutliche Auftreten von lateinischen Strukturelementen (Syntax) in Paracelsus’ deutschen Texten, was deren Verständnis auch oder gerade heute sehr schwierig macht.
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Den vorläufigen Abschluss des vorliegenden Sammelbandes bildet die Untersuchung von Heinz Schott, der die Frage aufwirft, inwieweit Paracelsus mit seinen doch sehr idiosynkratischen Vorstellungen, wie der menschliche Körper medizinisch richtig zu behandeln wäre, in die heutige bunte Palette von Alternativmedizin und Ganzheitsmedizin etc. passen mag, trägt man ihm ja zunehmend hohe Verehrung entgegen. Dies machte sich aber erst seit ca. 1800 bemerkbar, als die romantische Naturphilosophie in Paracelsus einen bedeutenden Vorläufer zu erblicken begann, der den Ärzten in ihrem Kampf gegen die rationalistisch-aufklärerische Medizin das entscheidende Vorbild abgegeben zu haben schien. Schott weist u.a. auf den Arzt und romantischen Naturphilosophen Dietrich Georg Kieser (1779 – 1862) hin, für den Paracelsus das Ansehen einer geradezu mythischen Figur besaß. Aber im Laufe des 19. Jahrhunderts, mit dem Siegeszug der wissenschaftlichen Medizin, rückte Paracelsus doch wieder in den Hintergrund bzw. wurde zu einer Art Gallionsfigur allein für alternative Strömungen auf diesem Gebiet, vor allem weil man in ihm sozusagen einen Okkultisten erblickte, der etwas wirklich Neues zu sagen hatte. Auf dieser obskuren Grundlage war es dann z.B. für die Nazis möglich, Paracelsus für ihre eigenen ideologischen Zwecke einzuspannen. Schott konzentriert sich aber vor allem auf die moderne Rezeptionsgeschichte, die sich in der sogenannten „Paracelsus-Medizin“ zu erkennen gibt, die vom Glauben am Magnetismus und Mesmerismus bestimmt wird. Kurioserweise wird diese große Gestalt zugleich im heutigen Krankenhauswesen und in der Ärzteschaft als Symbolfigur eingesetzt, obwohl dies doch als ein beträchtlicher Gegensatz zu ihren spezifischen Lehren und Vorstellungen erkannt werden müsste. Wie bei den meisten Mythosfiguren stellt sich auch bei Paracelsus heraus, dass er eigentlich fälschlicherweise von den verschiedensten Seiten (wissenschaftliche Medizin vs. Alternativmedizin) für die eigenen Zwecke in Anspruch genommen wird. Schott hebt besonders hervor, dass Paracelsus zu seiner Zeit ohne Weiteres die verschiedenen Gegensätze in der medizinischen Betrachtung miteinander verbinden konnte, was die heutige Ganzheitsmedizin in gewisser Weise erneut als richtungsweisend ansieht. Sowohl der Mesmerismus als auch die Homöopathie greifen direkt auf Paracelsus zurück, aber sie schießen damit doch recht weit über ihr Ziel hinaus, wie auch die wissenschaftliche Medizin im Grunde ein falsches Verständnis von diesem frühneuzeitlichen Arzt besitzt, der keineswegs bloß spiritualistisch vorging, sondern tatsächlich die Grundsteine für die empirische Erforschung des menschlichen Körpers legte. Schott drängt insgesamt dazu, die absolutierende Verurteilung oder Verherrlichung Paracelsus’ beiseitezuschieben und nüchterner zu überlegen, inwieweit seine Lehren heute für die Biomedizin erneut anwendbar gemacht
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werden könnten, insoweit als die Macht des Geistes, der Glaube an den Makro- und Mikrokosmos und damit die Verehrung der Natur als göttliche Schöpfung wesentliche Aspekte ausmachen dürften, um im 21. Jahrhundert neue Wege in der Medizin einzuschlagen. Es gilt, sich im Sinne von Paracelsus vor der Skylla der rein rationalen Forschung zu hüten und die Charybdis der extrem quasi-religiösen Alternativmedizin zu vermeiden. Ganz zuletzt reflektiert Andreas Brenner über die Leib-Vorstellungen Paracelsus’ der darauf insistierte, dass die Heilkräfte des Körpers in ihm selbst ruhten, die der gute Arzt nur zu aktivieren brauche, der sich u. a. auch dadurch auszeichnet, dass er gut zu beobachten vermöge und aufmerksam alle Phänomene des Körpers in Betracht ziehe, um so zu seinem Urteil zu gelangen, welche Heilmethode am besten einzusetzen wäre. Für Brenner gilt ein klares Verständnis des Leibes, der in der Philosophiegeschichte schon lange ins Abseits gerückt wurde, entscheidend für eine holistische Betrachtung auch und gerade aus medizinischer Sicht. Insoweit bot Paracelsus mit seinen Theorien über den Leib weitgehende Einsichten, die auch heute noch von Gültigkeit sein könnten. Auf jeden Fall ergeben sich wichtige Übereinstimmungen zwischen Paracelsus’ Vorstellungen über den Leib mit den Leibphilosophen des 20. Jahrhunderts (so Hermann Schmitz), womit eine lange verschüttete Tradition, die von den Argumenten Platos und Descartes bedroht worden war, erneut ins Bewusstsein rücken und die Leibesgewissheit wieder zum Zuge kommen kann. Brenner spricht in diesem Zusammenhang von der Authentizität des Leibes, meint also die innere Selbsterkenntnis getragen vom eigenen Körper. Inwieweit sich diese Theorie tatsächlich im Werk Paracelsus’ vorentwickelt finden mag, bleibt freilich noch abzusehen. So weit sich die Spannbreite im Werk Paracelsus’ erstreckt, so unterschiedlich sind auch die Beiträge dieses zweiten Bandes. Allen Autoren ist aber gemeinsam, dass sie in Paracelsus eine wichtige Figur der Frühneuzeit erblicken, der z. T. richtungsweisend die Empirie in die Medizin und Pharmakologie einführte, z. T. fast revolutionäre Sozialtheorien entwickelte und ein zutiefst inniges Streben nach Gott an den Tag legte. Paracelsus muss ein großartiger Wissenschaftler gewesen sein, wenn auch beschränkt durch die Bedingungen seiner Zeit. Zugleich trifft auch zu, dass wir ihn als wichtigen Theologen zu schätzen lernen, der zugleich stark in der Volkskultur verwurzelt war. Wie einige Beiträge unverkennbar demonstrieren, genießt Paracelsus gerade heute eine große Popularität, wohl auch deswegen, weil er als Vertreter einer Übergangszeit in gewisser Weise deutlich als ein Geistesverwandter unserer Zeit erscheint.
Der Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris, et de caeteris spiritibus Peter Dinzelbacher Erst, zu begegnen dem Tiere, Brauch ich den Spruch der Viere: Salamander soll glühen. Undene sich winden, Sylphe verschwinden, Kobold sich mühen. Wer sie nicht kennte, Die Elemente, Ihre Kraft Und Eigenschaft, Wäre kein Meister Über die Geister. Verschwind in Flammen, Salamander! Rauschend fließe zusammen, Undene! Leucht in Meteorenschöne, Sylphe! Bring häusliche Hilfe, Incubus! incubus! Tritt hervor und mache den Schluß!“ (vs. 1272 ff.) Vergebens versucht Goethes Faust, in dem ein Stück des wirklichen Paracelsus steckt, den notorischen Pudel mit diesem magischen Spruch zu bezwingen. Die den in ihm vermuteten Wesen zugeordneten Sphären sind aus dem Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris, et de caeteris spiritibus des Hohenheimers entnommen, dessen Schriften Goethe durchaus kannte und auch teilweise exzerpiert hatte. Der Klassiker, der eben auch Romantiker war, hat den Hohenheimer nicht nur bei der For-
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mung der Faust-Gestalt vor Augen gehabt, sondern zitiert aus den Werken des Arztes auch in seinen botanischen Arbeiten.1 Warum allerdings der bei diesem nicht genannte Incubus anstelle des Erdwesens tritt, bei dem es sich ganz eindeutig um eine teuflische Spezies und kein Naturwesen handelt, hat bislang keine schlüssige Erklärung gefunden2 (ganz abgesehen davon, dass es Goethe, der immerhin genug Latein3 konnte, um seine Dissertation in dieser Sprache zu verfassen, kaum entgangen sein kann, dass hier der Vokativ stehen müsste). Paracelsus entwirft in seinen verschiedenen Abhandlungen einen verwirrend vielfältigen Kosmos von Zwischenwesen, zu denen nicht nur etwa die halbtraditionellen Incubi und Succubi zählen, sondern auch z. B. die Flagae geheißenen Familiargeister, von denen ein Exemplar jeden Menschen seit der Geburt begleitet4. Wir beschränken uns hier jedoch ausdrücklich auf jene Naturwesen, über die der Hohenheimer in seinem genannten Liber handelt. Das Buch von den Nymphen, Sylphen, Pygmaeen und sonstigen Geistern5 gehört zu den kürzesten, aber meistgelesensten Werken des Autors, „Hohenheims ohne Zweifel merkwürdigstes und für viele faszinierendstes oder befremdendstes Buch“6. Welchem literarischen Genus gehört die in sechs „Traktate“ gegliederte Studie an? Dem Okkultismus, den Adorno als „die Metaphysik der dummen Kerle“7 definierte? Nun könnte man harmlos sagen: Okkultismus ist die Beschäftigung mit dem uns normalerweise Verborgenen. Das träfe aber nur teilweise zu, denn die hier tätigen Wissenschaften gehören der Arkandisziplin an, werden also absichtlich verschlüsselt bis verschwiegen, _____________ 1
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Domandl, Sepp, Goethe als Paracelsuskenner: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 80, 1976, S. 41–48; Müller, Leopold, Paracelsisches bei Goethe: Salzburger Beiträge zur Paracelsus-Forschung 26, 1988, S. 49–66. Vgl. Trunz, Erich ed., Goethe, Faust, München 1949, 532; Schöne, Albrecht, J. W. Goethe, Faust: Kommentare, München 1994, S. 248–250. Vgl. Dichtung und Wahrheit 2, 6. Kiesewetter 2007, S. 93 ff. Der Text (ein Abschnitt der zur Philosophia Magna zusammengefassten Traktate) wird zitiert nach Pörksen, Gunhild, ed., Theophrast von Hohenheim, Das Buch von den Nymphen, Sylphen, Pygmaeen, Salamandern und den übrigen Geister, Marburg 1996, die die Ausgabe Basel 1590 als Faksimile wiedergibt. Dieser Text wurde von Johannes Huser besorgt, dem heute verschollene Paracelsus-Handschriften zur Verfügung standen. Die lateinische Zahl bezeichnet den Traktat, die arabische die Seite der Originalausgabe. Vergleichend herangezogen wurden die (ebenfalls auf Huser basierenden) Ausgaben von Karl Sudhoff, Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus, Sämtliche Werke I/14, München 1933, S. 115–151 und von Robert Blaser, Altdeutsche Übungstexte 16, Bern 1960. Meier, Pirmin, Paracelsus, 3. Aufl. Zürich 1993, S. 324. Theodor W. Adorno, Thesen gegen den Okkultismus. In: Ders., Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt 2001, S. 462–474.
Der Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris
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wie z. B. Agrippa von Nettesheim ausdrücklich sagt8. Doch im Liber wird (wenigstens auf allgemein erkennbarer Ebene) nichts verschlüsselt. Sollte man es der Esoterik zurechnen? Esoterisch ist z. B. die Alchimie, die sich schon durch einen schwierigen Begriffsapparat vor dem profanen Blick verbirgt, eine Lehre bei einem Eingeweihten voraussetzt. Wenn man damit etwa Persönlichkeiten wie Rudolf Steiner (1861 – 1925), den (besonders in der Schweiz und Baden-Württemberg) bis heute bekannten Stifter der Anthroposophie, aber auch der Eurythmie und der Waldorfschulen, assoziiert, oder Gérard Encausse, besser bekannt als Papus (1865 – 1916), Gründer der Martinistischen Logen und Verfasser zahlreicher einschlägiger Werke über den Okkultismus, mag man sagen: Vielleicht. Denn das Tertium comparationis ist der Anspruch, über ein geheimes Wissen zu verfügen, das nur dem Eingeweihten, dem Initiierten zugänglich wird. Diesen Anspruch erhebt Paracelsus durchaus. Er hat freilich in Deutsch geschrieben, nicht in der damaligen Gelehrtensprache, hat die verborgene Welt naturkundlich analysiert und ethisch bewertet, hat eine für ihn reale Welt erklärt, die den Unwissenden nicht bekannt ist. Ist es also eine Schrift der Esoterik, präsentiert ihr Verfasser doch seine ganz persönliche Kosmologie als einzig richtige? Die letzten Worte des Traktats haben ja durchaus drohenden Charakter an die Konkurrenz. Eine nüchternere Klassifizierung wird trotzdem vorzuziehen sein: Der Liber zählt am ehesten zur naturphilosophischen Fachliteratur, einer in Renaissance und Barock beliebten, in der Regel freilich lateinisch verfassten Textsorte. Allein der Hohenheimer soll 66 Schriften über verborgene Naturkräfte verfasst haben9. Ein präzises Entstehungsjahr gibt wohl nur Pörksen an, nämlich 153710. Woher sie das weiß, verrät sie uns leider nicht. Die sonstigen Paracelsus-Kenner vermeiden es, sich auf ein Datum festzulegen, Sudhoff vermutet zwischen 1529 und 1532.11 Angenommen 1537 wäre korrekt, dann hätte der Arzt das Buch in Oberösterreich oder Mähren verfasst12, sollte die jüngere Datierung richtig sein, dann kämen Ostbayern, St. Gallen oder Appenzell infrage.13 Doch bleibt dies für uns unwichtig, solange man nicht nachweisen kann, dass der Text Anspielungen in diese Richtung enthalte (wie kaum zu erwarten). _____________ 8 9 10 11 12 13
De occulta philosophia 3, S. 65. Telle, Joachim, Aufgaben der Paracelsusforschung: Salzburger Beiträge zur Paracelsusforschung 39, 2006, S. 9–28, 15. Pörksen, ed. cit. S. 83. Ed. cit. XI. Naber, Helga, Probleme einer Paracelsus-Biographie, Göppingen 1998, S. 59 f. Ebd., S. 43 ff.
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Soweit ich sehe, treten alle Editoren und Kenner für die Echtheit der Schrift ein, nur Schipperges bezweifelt sie möglicherweise, da er große Teile der Philosophia magna, zu der auch der Liber de nymphis rechnet, für unterschoben hält, freilich ohne anzugeben, welche14. „Die Gedankenführung ist gewaltsam, paranoid aber originell und echt paracelsisch.“15 So Gerhard Eis, der Begründer der germanistischen Fachliteraturforschung. Von diesem „echt paracelsisch“ sei im Folgenden, bis zum Erweis des Gegenteils, ausgegangen.
Inhalt Unserem Auge zumeist unsichtbar, uns gelegentlich aber nicht nur erblickbar, sondern auch fühlbar, existiert in den Elementen der Welt eine Schar von Wesen, die, gelehrter und volksläufiger Überlieferung nur halbbekannt, Theophrastus hier in Form eines kleinen Handbuchs den Zeitgenossen und der Nachwelt aufschlüsselt. Am Jüngsten Tag, so der Schluss, werde man schon sehen, wer von diesen Dingen etwas begriffen habe und wer nur Leeres darüber schwätze (dass außer dem Verfasser selbst noch jemand anderer zu der erstgenannten Gruppe zählten könnte, wird auch nicht im Entferntesten angedeutet). Diese Wesen sind keine Geister im spiritistischen Sinn, sondern an Gebaren, Gestalt, Ernährung den Menschen gleich, sie arbeiten auch wie die meisten von uns und kennen eine sozial geordnete Gesellschaft. Nur dass ihr Fleisch nicht grob wie das der Adamskinder ist, sondern so subtil, dass es Mauern und Wände durchdringt. Daher sehen wir sie zumeist nicht, und wenn, dann wie im Traum, wie auch die Engel den Menschen erscheinen (insofern besteht eine Verwandtschaft zur Anthropologie des Theophrastus, denn neben materiellem Leib und immaterieller Seele gibt es für ihn auch noch einen feinstofflichen Astralleib16, den man wohl mit dem von der Parapsychologie anscheinend immer noch nicht eindeutig nachgewiesenen Ektoplasma gleichsetzen dürfte). Doch ist der wichtigste Unterschied zu den Menschen, dass diese Wesen keine unsterbliche Seele besitzen, weswegen sie mit dem Tode ganz und gar vergehen. Ein solches Zwischenwesen heißt daher „homo inanimatus“ und wird eben aus diesem Grunde, ungeachtet der Qualifizierung als Mensch, mehrfach zum „Vieh“ gerechnet. Es ist genauer eine _____________ 14 15 16
Paracelsus heute, Frankfurt 1994, 12. Frdl. Hinweis von Bernhard Haage, dem ich für die Lektüre meines Manuskripts sehr danke. Zit. Pörksen, Gunhild, Die Bewohner der Elemente nach Paracelsus’ Liber de Nymphis: Nova Acta Paracelsica NF 6, 1991, S. 29–50, 30. Kiesewetter 2007, S. 84 ff.
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Mischung aus Geist und Mensch, doch „ein sondre Creatur / ausserthalb deren zweien“ (I, 51), in Gebärden dem Affen ähnlich, der das menschenähnlichste Tier ist, in der Anatomie dem Schwein, dessen Eingeweide wie die unsrigen angeordnet sind. Wie unterscheiden sie sich von Gespenstern? Durch ihren wenn auch subtilen Leib, durch die Nahrungsaufnahme, durch die Fähigkeit, Nachwuchs zu gebären (I, 50). Was ist ihre Funktion? Den Menschen ein Zeichen zu sein für die Unerschöpflichkeit der Gotteswunder und die Natur zu behüten. Alle im vorliegenden Werk beschriebenen Elementarwesen können nun nicht nur Nachwuchs eigener Rasse zur Welt bringen, sondern auch eine Art deformierter Kinder, deren Beschaffenheit das für sie gebrauchte Wort „monstra“ im Sinne von Missgeburten andeutet. Gott will mit ihnen die Menschen vor Sünden warnen (IV, 67). Wir wollen jetzt die von Theophrastus geschilderten Naturgeister einzeln betrachten und dabei vor allem nach den Vorstellungen fragen, die man mit solchen Wesen sonst namentlich im Spätmittelalter verband, um so Paracelsi Sicht mit der antiken, der mittelalterlichen und gleichzeitigen Tradition zu kontrastieren. Dabei ist vorauszuschicken, dass die vier Elemente – mit deren Akzeptanz der Verfasser ganz im Bereich des Herkömmlichen verbleibt – von vier unterschiedlichen Arten von Zwischenwesen bewohnt werden. Jede Art hat ihr spezifisches „chaos“, in dem sie sich wohlfühlt wie der Fisch in seinem Wasser. Hier finden wir uns zum ersten Mal mit der Eigenwilligkeit der Sprache des Hohenheimers konfrontiert, denn dieses Substantiv ist sowohl in der klassischen Latinität als auch dem Latein der Vulgata semantisch bereits eindeutig besetzt, einmal als die ungeformte Urmasse vor der Entstehung der Elemente, zum anderen als der Abgrund zwischen Himmel und Hölle nach Lukas 16, 26, der Lazarus-Parabel. Paracelsus aber meint damit klar das jeweils für eine Gruppe seiner Naturwesen heimatliche Element. Da ihm, wie auch bei den anderen von ihm neu besetzten Worten, durchaus klar gewesen sein wird, dass der durchschnittliche Leser etwas anderes assoziieren musste, zumal er in anderen seiner Werke auch selbst die traditionelle Bedeutung verwendet17, können wir nicht umhin, hierin einen gewissen Ansatz zur Esoterik zu vermerken. Von den nicht wenigen in seinen anderen Schriften vorkommenden Ausdrücken, die von ihm mit neuer Semantik gefüllt werden, seien nur „Mumie“ als körperliche Lebenskraft oder „mirmidones“ als von den Planeten generierte Fantasien erwähnt (die griechischen Myrmidonen waren ein aus Ameisen in Menschen verwandeltes Volk). _____________ 17
Kiesewetter 2007, S. 59.
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Nymphen Den häufigsten Kontakt zu den Menschen nehmen die Wassergeister auf, die mit klassischen griechisch-lateinischen Namen bezeichnet werden. Paracelsus verzichtet jedoch auf jeden Hinweis der Stellung dieser Wesen in der römischen Religion oder antiken Mythologie, sondern meint, sie hießen richtiger „Undinen“18. Hier sind wir ein erstes Mal mit einem Paracelsischen Neologismus konfrontiert, frühere Belege sind unbekannt. Die Ableitung von lat. „unda“ liegt freilich nahe genug. Diese Wesen sind nach Gestalt und Verhalten recht menschenähnlich, meist weiblich, reden gerne und haben nichts dagegen, dass sie „gefangen werden / und vermehlet“ (III, 63), denn das ist ihre Chance auf Beseelung. Sie sind nicht nur menschlich gekleidet, sondern zeigen auch dieselben Begierden. Paracelsus verknüpft mit ihnen das Thema der Mahrtenehe (von Mahr)19, der unglücklichen Liebe zwischen Mensch und Zwischenwesen. Es ist das wissenschaftlich viel frequentierte Motiv der „Fairy Lover“, der elfischen Geliebten, wie es seit dem 12. Jahrhundert zu belegen ist20 und am bekanntesten in den Melusine-Dichtungen behandelt wurde21. Sie ist uns heute das noch am vertrautesten der hier auftretenden Wesen, nämlich durch die Bearbeitungen von Fouqué, Andersen, Heine, Grillparzer, Giraudoux u. a. m.22 Dieses ‚Meerwunder’ verbindet sich dem Menschen als schöne Frau unter der Bedingung, ein Tabu einzuhalten, namentlich das, sie nicht in einer bestimmten Situation zu sehen. Natürlich bricht der männliche Partner dieses Verbot, nachdem schon Kinder aus der Verbindung hervorgegangen sind, und wehklagend entschwindet Melusine in der Form eines Drachens. Die komplizierte Motiventwicklung und ihre genealogische Verknüpfung mit der Dynastie derer von Lusignan (die Könige von Jerusalem und Zypern stellten) brauchen wir hier nicht zu verfolgen, auch nicht die verschiedenen Varianten der Sage. Theophrast wird gewiss den Prosaroman des Berner Bürgermeisters Thüring von Ringoltingen gekannt haben, nach mittelfranzösischer Vorlage erstellt und zuerst 1474 in Augsburg gedruckt. Dieser schreibt: „Melusinam / die Meerfein / in der form und gestalt / als _____________ 18 19 20 21
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Im Grimmschen Wörterbuch s.v. „undena“; vgl. Goldammer S. 102. Vgl. EM 9, S. 44 ff. Lindahl, Carl u.a. ed., Medieval Folklore I, Santa Barbara 2000, S. 303–306; Classen, Albrecht: Geschlechts- und Ehebeziehungen im 15. Jahrhunderts. In: Der Fall „Melusine” von Thüring von Ringoltingen. Eine sozial- und literarhistorische Studie aus mentalitätsgeschichtlicher Sicht: German Studies Review 17, 1994, S. 233–268. Die Rezeptionsgeschichte der genannten Wesen ist nicht mehr unsere Aufgabe, sie zeigt, dass Paracelsus, sei es auch über indirekte Vermittlung, als Anreger wichtiger Werke der Weltliteratur wirkte. Vgl. Goldammer (Anm. 60).
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sie denn alle Sambstag war /Nemblich / von dem Nabel hinauff / ein Menschliches / hübsches / unnd Weiblich Bildt / unnd von dem Nabel hinab / ein großer ungehewrer und feindseliger langer Wurm.“23 Melusine war nach Paracelsus zwar auch kein Dämon, aber von Beelzebub besessen, des Teufelspaktes und der Hexerei schuldig (IV, 70). In ihrem Schicksal sieht der Hohenheimer einer Warnung an die so aufwendig geschmückten Prälaten der Catholica: Es wird bei ihnen auch auf Wurm und Drachen hinauslaufen Aber auch die ebenfalls mit einer dynastischen Genealogie verknüpfte Geschichte des Peter von Staufenberg wird im Liber erörtert. Sie war im 16. Jahrhundert am ehesten aus der Versnovelle eines um 1310 schreibenden elsässischen Dichters bekannt; seit 1483 lag die Geschichte in Buchform vor24. Schuld der Theologen sei es gewesen, so der Dichter wie der Arzt, dass diese Nymphe von ihrem Gemahl als Teufelin angesehen und verstoßen wurde, worauf sie eines ihrer Beine aus dem Plafond des Rittersaales erscheinen ließ, und den Ritter selbst nach drei Tagen ins Jenseits beförderte, „dann kein Richter urtheylet auff ir begeren / dieweil sie nicht von Adam war.“ (IV, 69) Paracelsus ergreift hier ausführlich Partei für das Meerwesen, das ja in einer aufrechten Ehe lebte, die nicht hätte missachtet werden dürfen. Merkwürdigerweise sind es diese Wasserwesen, die im Liber zu den Bewohnern des Venusbergs gemacht werden (IV, 67), ja die Königin Venus selbst sei eine Undene gewesen. Damit steht Theophrastus außerhalb jeder mittelalterlichen Literaturtradition, die Venus als heidnische Göttin oder als Personifikation oft und oft einführte25. Auch des Tannhäusers gedenkt er nicht, obschon die Legende zu seiner Zeit wohlbekannt war26. Speziell von den Nymphen kommen zwei Arten von monströsen Meerwundern: Einmal die Sirenen, die aber keinen gespaltenen Fischschwanz haben (wie in fast allen Darstellungen des Mittelalters), sondern Jungfrauen gleichen, freilich „ettwas entformet / wider die Frawische artt“ (IV, 66). Ein seltenes Beispiel dieses Typs, also Sirene mit Menschenbeinen, zeigt ein Kapitell im Freiburger Münster (um 1200). Eine weitere von _____________ 23 24
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Ed. Roloff, Hans-G., Stuttgart 1969, S. 140. LexMA 8, 76; EM 10, 789 ff.; Grunewald, Eckhard, „Der túfel in der helle ist ´uwer schlaf geselle. Heidnischer Elbenglauben und christliches Weltverständnis im Ritter von Staufenberg“: Dinzelbacher, Peter/Bauer, Dieter R. (Hrsg.), Volksreligion im hohen und späten Mittelalter, Paderborn 1990, S. 129-143; Kiesow, Stefanie, Melusine, Undine und ihre Schwestern. Variationen des Wasserfrauen-Motivs in der Literatur von Peter von Staufenberg bis zu Ingeborg Bachmann, Mag. Arb. Oldenburg 2005: http://www.chrissy-undsteffi.de/steffi_uni/magisterarbeit_v01.pdf. Kern, Manfred u.a., Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters, Berlin 2003, S. 639-662. Brunner, Horst, Herweg, Mathias ed., Gestalten des Mittelalters, Stuttgart 2007, S. 432 ff.
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den Undenen stammende Missbildung sind die Mönche, gemeint: die Meermönche. Von diesen Wesen ist seit dem 13. Jahrhundert immer wieder die Rede, ebenso von den Seebischöfen. Beide Male handelt es sich wohl um in die geistliche Hierarchie eingegliederte Seekühe. Konrad von Megenberg, Leiter der Wiener Domschule und der bekannteste in Deutsch schreibende Naturkundige des 14. Jahrhunderts, sagte über den Monachus marinus, er habe ein Gesicht wie ein Mönch, einschließlich der Tonsur, aber einen Leib wie ein Fisch, und pflege mit den Menschen im seichten Wasser zunächst zu spielen, sie bald aber hinabzuziehen und aufzufressen27. Sylphen Wer lebt in der Luft und auf der Erde? Viel Zeit kosten den neugierigen Leser die Sylphen, bis er schließlich zugeben muss, die communis opinio, auch hier handle es sich um eine Neuprägung des Gelehrten, sei zu akzeptieren28. Theophrastus sagt freilich im Widerspruch29 dazu ausdrücklich, dies sei der Name, unter dem man sie für gewöhnlich kenne (II, 54). Außerdem steht der Begriff in unmittelbarer Umgebung einer ganzen Schar von Gattungsnamen, die eindeutig griechisch-römischen Ursprungs und jahrtausendealt sind. Allein: Nicht einmal der für seine Zeit (1732 ff.) fast allwissende Zedler, das größte deutschsprachige Lexikon überhaupt, kennt die Sylphen; unter den „Silphe“ findet man richtig „eine Art Ungeziefer“, unter den „Silphi“ antike Völkerschaften in Libyen. Phonetisch klingt das Wort an griechisch „silphé“30 an, was allerdings Schabe oder Motte bedeutet und somit zwar ein vielleicht flugfähiges Tier meint, aber kaum ein Luftwesen, das man wie Paracelsus als richtiggehend menschlich wird betrachten können. _____________ 27 28 29
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Buch der Natur, übers. G. Sollbach, Frankfurt 1990, S. 105 f. Vgl. Holbek S. 444–446. Blaser 28 meint dagegen, mit Mönch sei ein Verschnittener gemeint. Grimm’sches Wörterbuch, Band 20, Spalten 1361–1369. Es ist bekannt, dass Theophrastus sowohl innerhalb einzelner Werke als auch zwischen diesen nicht selten unbestreitbare Widersprüche hat stehen lassen. Nur ein solcher Wissenschaftler, der nichts Neues entdeckt, kann davor gefeit sein. Bemerkenswert scheint immerhin, dass in den Frühwerken Theophrasti die Zwischenwesen sehr wohl im Besitz einer unsterblichen Seele waren (Pörksen 95), deren Fehlen ihm dann im Liber zum Hauptkriterium des Unterschieds zu den Menschen wird. Bemerkenswert auch die Diskrepanzen mit der Heiligen Schrift: Die Riesen werden gleich erwähnt werden; gemäß der bis heute gültigen christlichen Dogmatik besitzen Tiere sehr wohl eine Seele, die jedoch nach dem Tode nicht weiterexistiert (Dinzelbacher, Peter ed., Mensch und Tier in der Geschichte Europas, Stuttgart 2000, S. 268). Thesaurus Graecae Linguae 7, 252 s.v. „sílphe“. Der Thesaurus linguae latinae ist noch nicht bis S fortgeschritten.
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Zwei Möglichkeiten wirken wahrscheinlich: „sylfe [aer] vistnok Paracelsus’ egen konstruktion ved sammenblanding af sylvester og nymfe“31; das ergäbe etwa: Waldnymphe. Oder: Sylphe ist eine hyperurbanistische Graphie für den Neologismus „silves, -is (später: -idis)“, da diese Wesen nicht nur der Luft, sondern auch dem Wald verbunden sind. Richtig heißen sie aber ohnehin, so der Verfasser, „Sylvestres“ (als „silvestris“ ein völlig gebräuchliches Wort der klassischen Latinität). Gestützt wird diese Ableitungshypothese von „silva“ durch eine Stelle im Liber de sanguine ultra mortem (der dem hier besprochenen Buch vorausgeht). Dort wird „sylphes“ ausdrücklich synonym mit „schrötlein“ gebraucht, einem Baumbzw. Erdgeist32. Die Stelle zeigt, dass man gerade die Gattungsterminologie bei Paracelsus nicht auf die Goldwaage legen darf, setzt er doch Nymphen (!), Schröttli, Bergmännlein, Pygmäen und Sylphen einfach gleich: „wissen, dasettwan bäum … gefunden werden, die blutt geben so darein gehauwen wirdt … dasz ein nympha darinn ist, dann sie sindt geister und haben blut und fleisch ... der mensch nymph ist ein geist gegen uns zu rechnen, das ist, sein leib durchgeht mauren vnnd dergleichen ohn hinderung. nuhn ist nymphes, nicht ein wasserfrawen, sondern nympha: nymphes ist ein schröttli, nach gemeinem teutschen zu verstehen, von ettlichen bergmenlein genennt oder pygmei. so weitt aber die gründt anzeigen, so heist der recht alt nahm sylphes und sindt menschen wie ander menschen mit allem wesen: doch aber in der natur und eigenschafft uber die menschen also dasz sie verschwinden, gehnd durch beschlossene thür … dieselbigen sylphes werden vom teuffel unnd gespenst in die bäum getrieben unndt also auff solches wirdt blutt erfunden: nicht aber von uns menschen … sondern allein ein sylphes, der besessen ist vom teuffel und also getrieben in den baum. die weil und er durch ein wandt gehn kan, also auch in baum gahn und darinn bleiben. was also herausz laufft, ist derselbigen schröttlein blut und schweisz“33. In Parenthesis sei bemerkt, dass die Bäume, aus denen Blut rinnt, wohl aus der Aeneis des Vergil kommen, von wo sie auch Dante übernommen hat. Im Gegensatz zur Zeit der Romantik üblichen Wortassoziation sind die Sylphen des Paracelsus eher grob und kräftig, scheu und reden wenig. Währenddessen im 16. und 17. Jahrhundert die „sylphides“ vor allem auf das esoterische Schrifttum beschränkt bleiben, gehen sie danach in den allgemeinen Wortschatz ein, wobei erst dann die Bedeutung auf Luftgeist, luftiges Wesen, und das Geschlecht auf das weibliche eingeengt wird (man lese den Eintrag im Grimmschen Wörterbuch). _____________ 31 32 33
Holbek, Bengt, Piø, Iørn, Fabeldyr og sagnfolk, Kopenhagen 1967, S. 52. Werke, ed. Sudhoff, cit. S. 112. Ebd., S. 111ff.
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Mit den Waldfrauen pflegt, laut Theophrastus, der Teufel zu buhlen und sie dadurch mit Aussatz anzustecken (III, 64), doch die Luftgeister selbst erklärt der Verfasser nicht zu Dämonen, wiewohl nach herkömmlicher Überzeugung eben dieses Element von ihnen geradezu überfüllt war. Dies entbehrt vor dem Hintergrund des Engelssturzes nicht der Logik, spricht doch der hl. Paulus davon, dass der Teufel der Fürst der Lüfte sei (Eph 2, 2). Tatsächlich waren sich die geistlichen AutorInnen einig, die Luft sei völlig durchsetzt von Dämonen, ob man nun den Kirchenvater Cassian liest, oder die Visionen des hohenlohischen Zisterziensers Richalm (Anf. 13. Jh.) oder die der österreichischen Begine Agnes Blannbekin († 1315). Um nur aus des Zweitgenannten Liber Revelationum de insidiis et versutiis daemonum adversus homines34 zu zitieren, 130 Kapitel von der Hinterlist und den Tücken der Dämonen gegen die Menschen: Die Welt ist erfüllt von unzählbar vielen bösen Geistern, die jeden von uns so dicht umströmen wie das Wasser einen Ertrinkenden im Meer (c.3). Wie ein dickes Gewölbe hüllen sie uns ein, sodass nicht einmal mehr ein Luftloch dazwischen Platz hat (4). Ihre Menge ist vergleichbar den Sonnenteilchen, dem Staub, dem Sand … (41, 50). Es ist erstaunlich, dass da überhaupt noch ein Mensch am Leben bleibt (12)35. „Oft, wenn ich die Augen schließe, sehe ich Dämonen wie dichten Staub, die mich überall umfluten“ (41)36. Nichts Unangenehmes oder Schwieriges gibt es natürlicherweise: Appetitlosigkeit (24), Blähungen des Bauches (1, 36), Zahnweh (44), der Rausch nach dem Genuss guten Weines (37), Unaufmerksamkeit (1), Schläfrigkeit (6) genauso wie Schlaflosigkeit (11) usf. – alles wird ausschließlich von den dämonischen Feinden um und in uns bewirkt. In jedem Laut, vom Gewitter bis zum Lachen, Räuspern, Seufzen, Niesen, Schnäuzen, besonders aber im Husten manifestieren sich ihre Stimmen, denn dadurch sprechen sie miteinander (47, 21, 26, 71). Sie schnarchen einem so laut in der Nase, dass der Nebenmönch im Chor meint, man wäre tief eingeschlafen (3). Die heilige Hierarchie der Mutter Kirche wird von ihnen in perverser Weise kopiert, denn die bösen Geister haben in jedem Kloster ihre eigene Amtshierarchie(70)37. So gibt es unter den Klosterteufeln einen Abt, einen Prior, einen Kantor … alle mit festumrissenen, „standesgemäßen“ Aufgaben38. Keine Spur davon bei Paracelsus, dessen Luftwesen keinen dämonischen Charakter besitzen. _____________ 34
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Ed. Pezius, B., Thesaurus anecdotorum novissimus I/2, Augustae Vindelicorum 1721, S. 373–472. Neue Edition seit Langem von P. G. Schmidt angekündigt, vgl. Ders., Von der Allgegenwart der Dämonen. Die Lebensängste des Zisterziensers Richalm von Schöntal: Literatur-wissenschaftliches Jahrbuch 36, 1995, S. 339–346. Ed. cit. S. 396. Ebd., S. 421. Ebd., S. 438. Vgl. Dinzelbacher, Angst, S. 96 ff.
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Nicht zu Unrecht (wenn auch ohne Kenntnis dieser Texte) hat Aaron Gurjewitsch bemerkt: „Die Teufel und bösen Geister waren gewissermaßen die Viren des Mittelalters, mit denen die ganze irdische Sündenwelt verseucht war.“39 Dass solche Wesen schon im vorchristlichen Glauben existierten, lässt sich mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erschließen. Nur ein Beispiel: Wenn z. B. der Benediktiner Wetti (ca. 775/780 – 824) vom „daemon de culmine montis“, dem Dämon des Berggipfels, und dem „marinus daemon“, dem Dämon des Bodensees, spricht, die die irischen Missionare in Bregenz vertrieben hätten40, dann handelt es sich eindeutig nicht um biblische Reminiszenzen, sondern um einen keltischen oder alamannischen Berg- und Wassergeist. Wenden wir uns den eher landsässigen Elementargeistern zu, als Bergbewohner auch Schrätlein, Gnomen und Bergleute (II, 54). Sie haben dieselbe Funktion wie die Feuerleute, nämlich die Schätze der Erde zu hüten und werden insofern erstaunlicherweise mehr oder minder den Manen gleichgesetzt (VI, 76), die sonst nur als die Totengeister der römischen Religion bekannt sind. Hier greift der Gelehrte nun doch deutlich auf die Volkstradition zurück, denn die Existenz der Schrate war für Hoch und Niedrig ziemlich durchgängig eine Tatsache. Dieses Zwischenwesen wird vor allem in Glossen seit dem Frühmittelalter des Öfteren erwähnt, wo es als Übersetzung u. a. für „incubus“, „larva“, „pilosus“ (behaarter Waldgeist), „faunus“ figuriert41. Eine Beschreibung gibt der Sachse Heinrich von Freiberg, dem das mittelhochdeutsche Gedicht „Schrätel und Wasserbär“ (um 1300?) zugeschrieben wird: Hört, wie ein Schrätel dort her lief, kaum dreier Spannen lang. Ein rotes Käppchen hat’ es auf, dass ihr die Wahrheit wisst. Und hatte Fleisch gespießt auf einen Eisenspieß. den truoc es in der hende sîn daz schretel ungehiure.42
Ein kleines Ungeheuer also, und so benimmt es sich in dieser Geschichte auch. Freilich trugen auch gute Hausgeister diesen Namen: Im 13. Jahr_____________ 39 40 41 42
Himmlisches und irdisches Leben, Dresden 1997. Vita S. Galli 7: Monumenta Germaniae Historica SS rer. Mer. 4, S. 261. Lecouteux, Claude, Eine Welt im Abseits, Dettelbach 2000, S. 62 ff. Röhrich, Lutz: Erzählungen des späten Mittelalters und ihr Weiterleben in Literatur und Volksdichtung bis zur Gegenwart I. Bern 1962, S. 11 ff., vgl. dazu den ausführlichen Kommentar S. 235 ff.
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hundert werden die „stetewaldiu“ erwähnt („Statt-walter“), Lokalgeister, denen die Leute im Keller oder hinter dem Herd Gaben in Krügen eingruben; auch mittelalterliche Ortsnamen verweisen auf ihre Anwesenheit. Der „dyabolus“, der im Abort wohnte und dem Frauen ein Bad zubereiteten, auch Hafer für sein Pferd und Fleisch für seinen Habicht bereitstellten, um von ihm eine Weissagung über ihren Künftigen zu bekommen, wie Frater Rudolphus im 13. Jahrhundert rügte, ist sicher nicht identisch mit dem Quälgeist, der sich Luther an derselben Stelle manifestierte, und schon gar nicht mit dem „theologischen“ Teufel der Dogmatiker. Es gab eben „Geister, die zwischen Gut und Böse sind, weder in der Hölle, noch im Paradies weilend“, wie ein Zauberbuch des 15. Jahrhunderts weiß. Schon im 13. Jahrhundert erzählte der Stricker von einem „waltschrate“, der einem in der Winterskälte Leidenden helfen möchte, also bestimmt nicht mit einem Höllendämon zu identifizieren ist. Speiseopfer bei Jahresbeginn sind auch für die „schretelen“ in Bayern im 15. Jahrhundert bezeugt; denn: Auch etlich glauben haben, iglich haus hab ein schretlein, wer das er [ehre], dem geb es gut und er.43
Bildliche Darstellungen des „eigentlichen“ Schrats, den man wohl auch Kobold nennen dürfte, zumal er im Mittel- und Frühneuhochdeutschen als Synonym belegt ist44, sind mir, im Unterschied zu den Zwergen, aus dem deutschsprachigen Mittelalter nicht bekannt. Doch darf die bösartige Variante dieses Wesens wohl mit dem altnordischen Troll verglichen werden, der oft, aber keineswegs immer, riesenhafter Gestalt ist45 (was eher für Thursen oder Jöten zutrifft). Von diesen gibt es (bei uns wenig bekannte) Darstellungen in der skandinavischen Kunst, u.zw. im Zusammenhang mit der Vita des hl. Königs Olav von Norwegen. Dieser kämpfte mehrfach mit solchen Unholden, verwandelte sie auch in Stein, was man u.a. in Värmdö und Dannemora bei Uppsala (beide um 1515) in Kirchenmalereien festgehalten hat. Paracelsus hat auch die Wilden Leute im Gedächtnis gehabt, als er von den „Waldleut“ als Erzeuger der Riesen schrieb (V, 73). Diese sind v. a. im späten Mittelalter reichhaltig dokumentiert. Während sie in der kirchlichen Bußliteratur (Burchard von Worms, um 1000) als verbotene, heidnische Vorstellung galten und in der höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts eher dunkle, hässliche Gewaltwesen waren, gegen deren _____________ 43 44 45
Michael Behaim, zit. Ranke: Schrat, Schrättel: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens [HDA] 7, 1936, S. 1285–1290, 1288. Grimm’sches Wörterbuch s.v. Schulz, Katja, Riesen. Von Wissenshütern und Wildnisbewohnern in Edda und Sage, Heidelberg 2004, S. 45 f.
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tierische, frauenraubende Gelüste der höfische Ritter zum Kampf auszog, finden sie sich vor allem im 14. bis 16. Jahrhundert in die höfische Gesellschaft integriert, deren Embleme sie präsentieren. Nicht selten schlüpfte die höfische Gesellschaft im späten Mittelalter bei Kostümfesten wirklich in die Gestalt der Wilden Leute, um wenigstens kurzzeitig und andeutungsweise dieses unzivilisierte Verhalten zu genießen (wie auch heute manche Verkleidete im Fasching oder beim Krampuslauf). Berüchtigt ist der „Bal des ardents“, eine Hochzeitsfeier am französischen Hof 1393, die vier Tänzern das Leben kostete, da ihre mit Harz angeklebten Haarkostüme an einer Fackel Feuer fingen. Bei ihrem Anführer, König Karl VI., soll das Erlebnis seine bekannte Geistesstörung ausgelöst haben. Als Schildhalter trifft man sie, als Motive für Wirkteppiche und Minnekästchen des 15. Jahrhunderts. Und wenn man Wilde Paare auf Hochzeitskästchen anbrachte, dann war dies ebenso höchstwahrscheinlich eine vorsätzliche Symbolverwendung, nämlich die Manifestation des Wunsches, der Gatte möge von gleicher Virilität und die Gattin von gleicher Fruchtbarkeit sein. Besonders deutlich wird dies am Beispiel des dänischen Königs Christian I. Er führte 1449 zwei wilde Männer als Schildhalter seines Wappens ein, was als bewusst gewähltes Wunschsymbol für Fruchtbarkeit gedeutet wird, war doch seit 1286 die Krone dieses Reichs nur einmal vom Vater auf den Sohn vererbt worden46. Andererseits finden sich in der spätmittelalterlichen Kunst auch Darstellungen von Wilden Familien, die idyllisch wirken und wohl als Chiffren einer paradiesischen Urzeit gedacht waren. Und schließlich zeigt es die Vielfalt der möglichen Interpretationen, wenn auch Heilige, die ein strenges Asketenleben in der Wildnis geführt hatten, wie Onuphrius oder häufiger Maria Aegyptiaca (genannt das „rauhe wip“) als Wilde Leute dargestellt wurden47. So stützen Wilde Leute sogar in der Kirche als Miserikordien die Betenden und kommen auch sonst in Randzonen des Gotteshauses gebannt vor. Von den Wald- oder Luftleuten stammen also die Riesen ab, von den gleich zu nennenden Pygmäen die Zwerge, bei denen Theophrastus vor allem an die Gestalten der Dietrichepik denkt. Eine offenbar für authentisch gehaltene Figur wie der Zwergenkönig Laurin zählt also ebenso zu den Monstra. Sie fallen durch ihre ungewöhnliche Größe bzw. Kleinheit genauso auf, wie durch ihre erstaunlichen Kräfte (V, 72), sind aber schon ausgestorben. _____________ 46 47
Buhl, Ingeborg: Vildmaend som frugtbarhedssymbol og skjoldholdere ved det danske kongevaaben. In: Heraldisk Tidskrift 22, 1970, S. 57–65. Vgl. Literatur und Abbildungen bei den entsprechenden Stichworten im Lexikon der christlichen Ikonographie und in der Bibliotheca Sanctorum.
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Wenn Theophrastus auch Christus mit einem Riesen vergleicht, weil er so stark sei, dass ihn die Menschen wie sonst die Riesen wie ein Gespenst nicht achten wollen, so scheint dies ein spontaner Vergleich zu sein. Christus als Riese kommt nämlich nur sehr selten in der mittelalterlichen Literatur und Kunst vor48. Was sich das Mittelalter von dieser Gattung der Monstra vorstellte, dürfte allgemein bekannt genug sein, sodass hier auf weitere Schilderungen zu verzichten ist. Nur eine Bemerkung: Paracelsus weiß sehr wohl, was im Alten Testament über die Entstehung der Riesen steht49, nämlich dass sie Kinder der Gottessöhne mit Menschenfrauen sind (die neben ihnen klein wie Heuschrecken wirken), und auch der Name Goliath wird ihm nicht fremd gewesen sein. Dies ist ein sprechendes Beispiel für seine Methode, an der Bibel vorbei eine eigene Mythologie aufzubauen. Nicht gegen die Bibel – aber was sie sagt, und was natürlich für Christen verbindliches Glaubensgut war und ist, wird einfach nicht erwähnt. Pygmäen Die „pygmaioi“ verdanken ihre Erstnennung Homer, verdeutscht sind es „Faustgroße“ oder „Däumlinge“; in Antike und Mittelalter fehlten sie und ihre Legende in kaum einer Länderbeschreibung, was auch Stoff zu scholastischer Diskussion über ihr Sein bot50. Da es darauf aber im Liber keinerlei Anspielungen gibt und sie eindeutig synonym für Zwerge51 stehen, erübrigt es sich, auf ihren Kranichkampf einzugehen, der sonst das Hauptmotiv bei ihren Erwähnungen in der mittelalterlichen Literatur darstellt52. Laut Theophrastus heißen diese Wesen richtiger „Gnome“, und damit sind wir abermals mit einem Neologismus konfrontiert. Der klingt wieder sehr schön griechisch, da man sogleich „gnóme“, Verstand, assoziiert. Freilich wird aus dem Liber nicht hell, dass diese Wesen von schärferer Intelligenz sein sollen als die anderen Elementargeister. Erneut ist die Bedeutung recht unpräzise, denn in seinen verschiedenen Werken gebraucht der Arzt als Synonyme für Gnome: pygmaei, sylphes, mani, die nocturnalischen, bergmännlein, bergleut, erdmännlein, erdmenschen, und _____________ 48 49 50 51 52
Dinzelbacher, Angst 141, S. 163 ff. LcI 3, 550 (das LThK enthält kein diesbezügliches Lemma!). Köhler, Theodor, Anthropologische Erkennungsmerkmale menschlichen Seins. Die Frage der „Pygmei“ in der Hochscholastik: Miscellanea mediaevalia 21/2, 1992, S. 718–735. Vgl. generell „Zwerge und Riesen“: HDA 9N, 1008 ff.; Tarantul, Evgen, Elfen, Zwerge und Riesen, Frankfurt 2001. Kern, S. 542 f.
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schrötli53. Jedenfalls bleiben sie im Liber noch am ehesten bei ihrer traditionellen Gestalt, sie sind kleine Bewohner der Erdspalten und Höhlen. Bekannt ist ihre Finanzkraft, prägen sie doch selbst Münzen nach Belieben aus den von ihnen behüteten Schätzen der Erde. Wieder schließt sich Paracelsus nicht der üblichen Dämonologisierung an: Die Berggeister zählen nämlich bei den Gelehrten der Zeit sonst auch zu den Teufeln, bei Georg Agricola (1494 – 1555), dem Begründer der Montanwissenschaft, fast ein Jahrgangsgenosse von Paracelsus und ebenfalls Arzt, heißen diese Wesen geradezu „daemones subterranei“ oder „metallici“, auch „bergteufel“, wenn sie bös, „bergmenlein“, wenn sie freundlich gesonnen erscheinen54. Solche Wesen kommen nur in Zonen des Bergbaus vor, mit ihnen erklärte man sich manche unheimliche Geräusche oder Unglücksfälle. Eine der Paracelsus-Sagen berichtet übrigens, dieser habe ein aus sieben Metallen (den sieben Planeten entsprechend) gegossenes Glöcklein besessen, wodurch er die Bergmännlein zu sich rufen konnte55. Salamander Die gelehrte Literatur des Mittelalters, wie etwa das Buch der Natur des Konrad von Megenberg, verstand darunter nur das auch uns wie schon der Antike bekannte Lurch-Tier, freilich mit der Maßgabe, es sei vom Feuer unverletzlich (was noch den jungen Heine dazu motivierte, ein Exemplar erwartungsvoll dem geheizten Ofen zu überantworten56). Salamandra ist nun unzweifelhaft ein griechisches Wort, Plinius und andere haben den Tiernamen latinisiert. Paracelsus jedoch besetzt auch diesen Gattungsnamen völlig neu57, indem er die Tiere mit den im Element des Feuers lebenden Kreaturen fast menschenähnlicher Gestalt in eins setzt. Er meint aber ohnehin, richtig hießen sie „Vulkane“ oder „Aethnische“, denn sie „erscheinen / Feürin /und gehend Feürj in allen jrem Wesen und Gewandt“ (III, 64). Sie sind lang und dürr, schreien und lärmen in den Flammen. Einen über die Feuerfestigkeit hinausgehenden Anknüpfungspunkt bietet weder die heimische noch die antike Mythologie. Mit den Menschen scheinen sie selten zu tun zu haben. Eher schon die Monstra der Feuerleute, denn es sind die gefährlichen Irrlichter, die, oftmals vom Teufel besessen, den Hexen beizuwohnen _____________ 53 54 55 56 57
Grimm’sches Wörterbuch s.v. Gnom. Pörksen, Bewohner 31; HDA 1, 1076. Pörksen, Bewohner 30. Wie er in Elementargeister selbst schreibt. Grimm’sches Wörterbuch s.v.
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pflegen (III, 64; VI, 77). Ihre Funktion ist v.a. die von unheilkündenden Prodigien. Dennoch sieht Theophrastus auch in ihnen keine Dämonen, wie die meisten Zeitgenossen, einschließlich des oben schon zitierten Reformators.
Herkunft des Konzepts Wenn man die Standardwerke der mittelalterlichen Wissensliteratur durchblättert, die fast alle Paracelsus zur Verfügung stehen konnten, zumal man sie im ausgehenden 15. und frühen 16. Jahrhundert in Druckausgaben herausbrachte, auch wenn sie, wie z. B. die Etymologiae des Bischofs Isidor von Sevilla, schon um die 900 Jahre alt waren, findet man überraschend wenig Material, das für den Liber hätte verwendet werden können. Weder Konrad von Megenberg mit seinem 1536 gedruckten Buch der Natur58 noch der anonyme Dyalogus creaturarum moralizatus, dessen 1483 erschienene illustrierte Stockholmer Ausgabe Theophrastus bei seiner Tätigkeit in Schweden hätte kennenlernen können, scheinen von ihm speziell in diesem Zusammenhang der Rezeption gewürdigt worden zu sein. Aber auch zu den Hauptschriften anderer an den Geheimwissenschaften interessierter Gelehrter seiner Ära wie Trithemius, Agrippa von Nettesheim, oder die beiden Pico de la Mirandola ergeben sich höchstens punktuell Parallelen, keine Abhängigkeiten. Etwaigen Möglichkeiten der Anregung durch zeitgenössisches gelehrtes Schrifttum ist bereits Kurt Goldammer nachgegangen, freilich in einer Publikation, wo man dies nicht erwarten würde, nämlich in seinem Buch über Theophrastus und die Romantik59. Was er eruiert hat, braucht hier nicht wiederholt zu werden, in summa bleibt es bei der Möglichkeit minimaler Berührungen. Ich spreche hier von konkreten Einzelthemen, nicht von jenem geistesgeschichtlichen Hintergrund, den der Neuplatonismus damals den Intellektuellen, natürlich auch Paracelsus60, bot, und dem sich z.B. ein prinzipielles Interesse für die Welt der Magie, des Okkulten, der Geister verdankte. Gerade wesentliche Komponenten des humanistischen Neuplatonismus, wie die Emanationslehre, spielen aber im Liber keine Rolle. Schon gar nicht hat – scheint mir im Gegensatz zu Goldammer – der Hohenheimer _____________ 58 59
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Mayer, Johannes, Konrad von Megenberg und Paracelsus: Keil, Gundolf ed., Würburger Prosastudien, Würzburg 1995, S. 322–335. Goldammer, Kurt, Woher kommt und wohin geht Undine. Zur Ableitung und Tradierung der Parcelsischen Elementargeister-Vorstellung … in: Ders., Paracelsus in der deutschen Romantik, Wien 1980, S. 89–113, 159–169. von Brunn, Walter, Zur Elementenlehre des Paracelsus: Sudhoffs Archiv 34, 1941, S. 35 ff.
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für das Buch von den Nymphen die Lehre des Marsilio Ficino (1433 – 1499) übernommen, der mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit von der Belebtheit der Elemente selbst ausgeht: „Quis terram aut aquam neget vivere?“61. Wenn man im Liber liest, es gäbe nichts Korporalisches, das nicht einen spiritus beherbergen würde, dann wirkt dies freilich zunächst wie eine Form des Anim(at)ismus, also jener archaischen Weltsicht bzw. kognitiven Struktur62, die alle oder sehr viele Dinge als beseelt empfindet und die nach einer früher dominierenden ethnographisch-religionswissenschaftlichen Lehre am Beginn der Religion überhaupt stand63. Doch ob uns unbekannte Wesen in der Natur leben, oder diese selbst lebt, ist wohl nicht einerlei. Auch die Dämonenlehre des Michael Psellos aus dem 11. Jahrhundert64, die Ficino adaptierte, hat übrigens in ihrer stufenweisen Sechsergliederung nur sehr entfernte Ähnlichkeit mit den Naturwesen des Paracelsus. Wenn für Agrippa gilt, dass die Bibel, Plato und die Kabbala seine hauptsächlichen Autoritäten darstellten65, so gilt das nicht für den Paracelsus dieses Werks. Er bringt einige wenige Bibelzitate, nichts Identifizierbares von den griechischen oder jüdischen Denkern. Ganz grundsätzlich und gegen den Gelehrtenbrauch der Renaissance tradiert Paracelsus auch nicht die antiken Überlieferungen, welche sich mit den einzelnen auch von ihm gebrauchten Namen verbinden. Da er mehrfach betont, diese seien eigentlich nicht die richtigen Namen, hat man fast den Eindruck, er hätte auf etwas Ähnliches wie die „lingua ignota“ der Hildegard von Bingen (von der er Schriften teilweise kannte) abgezielt. Die Erwartung des Lesers wird auf diese Weise jedes Mal sogleich enttäuscht: Auf sein gelehrtes Wissen braucht er sich gar nicht erst zu besinnen … Dies ist sicher auch eine schriftstellerische Technik, die die Neugier des Lesenden wachhält. Ob sich Theophrastus vielleicht an der Kabbala orientierte, muss ich mangels fachlicher und sprachlicher Kenntnisse dahingestellt lassen. Wenn auch der Hohenheimer vielleicht die Originaltexte nicht lesen konnte, so doch die lateinischen Darstellungen Reuchlins. Nur so viel: „Auch die Kabbala kennt die Unterwesen, die nicht von Adam abstammen und aus Ausdünstungen der Erde entstehen“66; sie heißen Schedim und exis_____________ 61 62 63 64 65 66
Kintzinger, Martin, Quis terram aut aquam neget vivere?: Miscellanea mediaevalia 21/1, 1991, S. 330–345. Oesterdiekhoff, Georg, Kulturelle Evolution des Geistes, Hamburg 2006, S. 167–179. HWDA 1, Russell, Jeffrey, Lucifer. The Devil in the Middle Ages, Ithaca 1984, S. 40–43. Warner, Francis, Das Gedankengebäude des Agrippa von Nettesheim: Antaios 5, 1964, S. 122–142. Pagel, Walter, Das medizinische Weltbild des Paracelsus, Wiesbaden 1962, S. 99.
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tieren in verschiedene Stufen gegliedert, den vier Elementen entsprechend. Diese feinstofflichen Wesen sind dem Menschen gegenüber teils freundlich, teils bösartig gestimmt67. Wenigstens Kiesewetter war der Überzeugung, Theophrastus hätte seine Elementarwesen denen der Juden nachgebildet, wiewohl eben er aus der Philosophia sagax belegt, dass der Meister überzeugt war: „die Hebräischen aber haben je und je nichts gewusst in der Natur und sind allemal die gröbsten Büffel gewest68“. Zweite Welt und Zwischenwesen Wie steht es dann mit dem Volksglauben als Quelle? Peuckert sieht diese „Philosophie der elementischen Wesen, wie sie zugleich abstrus und trotzdem sinnreich, lieblich ist“, ganz aus den zeitgenössischen Vorstellungen der Fuhrleute und Bauern gespeist, wie sie sich dem Arzt bei seinen nächtlichen Ritten „in Heide und Moor“ zu seinen Patienten verlebendigten: „Erleben aus dem Grunde seines Einsseins mit dem Ahnen seines Volkes …“69 Das ist freilich die Sprache der Vierzigerjahre, und der Geist der älteren volkskundlichen Schule, die sich seit Grimm gern der retrogressiven Methode bediente, also dem Schluss aus jüngeren Quellen auf ältere Verhältnisse, wenn sich ein oder zwei Vergleichspunkte fanden. Dieses von einer steten Kontinuität ausgehende Verfahren wird heute von der Neuen Volkskunde abgelehnt, meist, aber nicht immer, zu Recht. Es ist tatsächlich schwierig, aus streng zeitgenössischen Quellen, das sind i. d. R. die kirchlichen Texte des Mittelalters, Genaueres über diese Wesen zu erschließen. Es gibt nur verstreute Hinweise in den Schriftquellen, die außerdem gemäß ihrer kritischen und paränetischen Intention den Volksglauben deformieren. Will man die möglichen volksläufigen Traditionen vorführen, aus denen Paracelsus geschöpft haben kann, müsste man das Wenige zusammenstellen, das sicher eruierbar ist. Hier einige Beispiele: Im 10. Jahrhundert formuliert die Dichterin Hrosvita eindrucksvoll, wie der Gründer ihres Stiftes Gandersheim „Silvestremque locum, Faunis monstrisque repletum“, den Waldgrund, voll von Faunen und Unholden durch die Rodung zu einem christlichen Ort machte. Dass die antiken Bezeichnungen für einheimische Zwischenwesen stehen, ist klar. Oder: Nach Burchard von Worms (um 1000) lassen sich die Hausgeister mit Kinderspielzeug u. dgl. bewegen, den Bewohnern zu helfen (worauf nur zehn Tage Buße standen)70. _____________ 67 68 69 70
Kiesewetter, Karl, Der Occultismus des Altertums, Leipzig 1896, S. 308–314. Kiesewetter, Karl, Geschichte des neueren Okkultismus, Neuausgabe Wiesbaden 2007, S. 57. Peuckert, Will-Erich, Theophrastus Paracelsus, Stuttgart 1944 u.ö., S. 286 f. Dinzelbacher, Peter, Handbuch der Religionsgeschichte I, Paderborn 2009, i. Dr.
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Dass im hohen und späten Mittelalter71, also nach der Jahrtausendwende, der Glaube an Zwischenwesen in den Wäldern wie Wilde Leute und Werwölfe durchaus existierte, lässt sich besser belegen; er wurde von der Geistlichkeit teils als Aberglaube verurteilt, teils kaum bezweifelt. „Was da in der Nacht umgeht, daran darfst du keinesfalls glauben, weder an Holde noch an Unholde, noch an den Bilwis, die Nachtfahrenden, Nachtfrauen, Mare, Trute und was da noch dazukommt. Das sind allsamt Dämonen.“72 So der Volksprediger Berthold von Regensburg im 13. Jahrhundert (mit den deutschen Bezeichnungen im lateinischen Text). Diese Wesen haben Anteil am Bereich der Religiosität, sobald ihnen Verehrung mit Opfern entgegengebracht wurde, wie eindeutig bei den Feen, die bei uns als felices dominae, d. h. salige Fräulein, aufscheinen. Die Furcht vor feindlich gesonnenen Wesen – die erst in den theologischen Abhandlungen zu Dämonen im Sinne der christlichen Dogmatik wurden – erscheint als permanentes Phänomen. Wenigstens seit Wolfram von Eschenbach ist der Bilwis des Öfteren als menschenfeindliches Unwesen belegt, das Krankheitspfeile verschießt. Berthold von Regensburg nennt ihn zusammen mit nahtfrouwen und gespüc. Tische, Stühle und Bänke, die sind ihm so leicht wie ein Ball. Es wirft hinauf und hinunter die Schüsseln und Töpfe; es poltert stets vor sich hin … Es saust alles in die Quer, was in meinem Hofe ist.
Wassergeister figurieren in Deutschland u.a. in der Hagiographie des 12. Jahrhunderts: Der in der Mosel hausende Wassermann erscheint via Interpretatio christiana als „böser Geist, den man ‚Neptun‘ nennt“. Riesen waren durch die Bibel so sicher sanktionierte Wesen, dass man ihre Knochen (faktisch Mammutgebein) in Kirchen aufhängen konnte, z. B. in St. Stephan zu Wien. Sie galten als Erdbewohner der Vorzeit, von denen einzelne immer noch in abgelegenen Gegenden hausten. An Zwerge – sehr wahrscheinlich eine der vielen Gestalten, unter denen im Volk die Toten weiterlebend vorgestellt wurden – glaubte man wohl allenthalben. Ein von einer Königin geleitetes Zwergenreich in den südtiroler Bergwäldern schildert z. B. ein Werk der Dietrichepik des späten 13. Jahrhunderts, Virginal73. _____________ 71 72 73
Die Einzelbelege zum Folgenden ebd. II, Paderborn 2000. Dinzelbacher, Peter, Handbuch der Religionsgeschichte II, Paderborn 2000, 165 ff. Zuletzt: Dorninger, Maria E., The Alps in Middle High German Epic: Aspects of their Description in King Laurin and Virginal: Hartmann, Sieglinde ed., Fauna and Flora in the Middle Ages, Frankfurt 2007, S. 267–290, bes. 276–280.
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Diese Welt des sog. Parallelglaubens kann Theophrastus nicht unbekannt gewesen sein, weder in ihrer ursprünglichen Form, noch in der der Interpretatio christiana unterworfenen. Einzelne Namen und einzelne Charakteristika seiner Zwischenwesen hat er ihr offensichtlich entlehnt, keineswegs jedoch die systematische Weltstruktur, in die er sie mit letztlich scholastischer Ordnungsliebe einweist, noch die quasi Linné’sche Typologie, in die er sie einfügt. Der Liber zwischen Naturwissenschaft und Theologie Wiewohl die Renaissance und der Humanismus durchaus die seit dem 12. Jahrhundert in elitären intellektuellen Kreisen beginnende Emanzipation des Denkens aus der allumfassenden Kategorie des Religiösen, oder institutionalisiert: des Theologischen, förderten, kann man sie keineswegs als areligiös kennzeichnen. Wenn nun auch Verhaltensweisen wie die in der Accademia Florentina gebräuchlichen vereinzelt möglich waren (Gebete an und Altardienst für Gottheiten der Antike), so blieben sie doch exzeptionell und wurden, wenigstens in Rom, als Ketzerei verfolgt. Paracelsus mag dem Humanismus ablehnend gegenübergestanden haben74, dem von ihm ausgehenden Klima intellektueller Neugierde konnte er sich kaum verschließen. Er ist, ungeachtet des oben Gesagten, weit davon entfernt, die Elementargeister rein naturwissenschaftlich zu betrachten. Vielmehr betont er auf jeder zweiten Seite seines Traktats ausführlich, sie würden ihre Existenz einzig dem Wunsch Gottes verdanken, der Mensch solle erkennen, wie allmächtig und wunderbar sein Wirken sei. Indirekt zitiert er andauernd den 138. Psalm, Vers 14: „Mirabilia opera tua“. Dies entspricht seiner Gläubigkeit75, die sich zwar nicht um Details kümmert, auch trotz nie abgestreifter Zugehörigkeit zur Catholica praktisch eher zwischen den Konfessionen steht, vergleichbar anderen berühmten Zeitgenossen wie Albrecht Dürer oder Erasmus von Rotterdam. Auch die Funktion von Krankheit und Besessenheit führte er ja ganz analog darauf zurück, dass sie deshalb von Gott zugelassen würden, damit Christus durch ihre Heilung Zeichen setzen konnte76. Was aber Paracelsus sehr wohl tut, ist es, diese Kreaturen grundsätzlich aus der Sphäre des Dämonischen herauszuheben, der sie die Theologen üblicherweise zurechneten77. Der jüngere Pico z. B. kommentierte seine _____________ 74 75 76 77
Telle, Aufgaben, S. 20 f. Zur religiösen Stellung vgl. Wicks, Jared, Paracelse: DS 12, 1983, S. 182–187. Sudhoff 14, 33. Viel Material zu diesem ganzen Themenbereich findet sich bei Müller, Ulrich u.a., Dämonen,
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Überlegungen, ob es Pygmäen und Nymphen gäbe, mit dem Satz: „Ich aber bin eher der Meinung, daß, wenn sich irgendein Gespenst (spectrum) dieser Art zeigte, es eine dämonische Vorspiegelung gewesen sei (daemonicum phantasma) und eine nichtige Erscheinung.“78 Allerdings lässt Bombast quasi en passant eine Verbindungsmöglichkeit zum Reich des Bösen frei: Der Teufel könne in die Naturwesen genauso leicht einfahren, wie in die menschlichen Hexen (III, 64)79. Nun ist zwar Magie, schreibt Theoprastus am Beginn seines Traktats über die „sagae“ (Zauberinnen, deren Existenz und Wirken ihm genauso wenig zweifelhaft waren wie die Gerechtigkeit ihrer Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen), prinzipiell vom Teufel80. Aber als er zu den Details kommt, dem Hagelmachen der Hexen, ihrer Buhlschaft mit den Incubi, dem Krankheit bringenden Hexenschuss usw., also geläufigen Elementen des damaligen Stereotyps der Unholdinnen, ersetzt er den Dämon durch eine natürliche Kraft, nämlich ihren Aszendenten, etwa: die personifizierte Macht des Geburtssterns. Von diesem sieht er sie besessen, mit diesem haben sie Geschlechtsverkehr81. Die Hexen stehen übrigens nicht nur innerlich unter dem Einfluss des Aszendenten, der bereits während des Zeugungsaktes in sie einfahren kann82, sie sind auch äußerlich von der Natur gekennzeichnet, u. zw. mit krummen Nasen und Gliedern83, sodass man sich leichter vor ihnen hüten kann. Also wiederum die nämliche Struktur, der Ersatz der ‚theologischen’ Dämonen durch freilich mit demselben Zweck wirkende Naturmächte. Es wäre möglich, noch weitere Parallelen im Traktat De sagis et earum operibus herauszuarbeiten. Nach dem Liber handelt es sich bei den von ihm beschriebenen Lebewesen um Kreaturen, die in einem Stufenkosmos neuplatonischer Tradition einen klar umschriebenen Platz besitzen: Gott – unter ihm der nach seinem Bild gemachte und beseelte Mensch – unter diesem die ihm ähnlichen, aber einer Seele entbehrenden Naturgeister (I, 52). Damit steht _____________ 78 79
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Monster, Fabelwesen, St. Gallen 1999. Giovanni Pico della Mirandola, Gian Francesco Pico, Opera omnia, Basel 1573, II, 1129. Vgl. Schneller, Klaus, Paracelsus: Von den Hexen und ihren Werken: Becker, Gabriele u.a., Aus der Zeit der Verzweiflung, 3. Aufl. Frankfurt 1980, S. 240–258; Nowotny, Otto, Paracelsus und das Hexenwesen: Salzburger Beiträge zur Paracelsus-Forschung 26, 1988, S. 37–48; Goldammer, Kurt, Der göttliche Magier und die Magierin Natur, Stuttgart 1991, S. 101 ff.; Lavenia, Vincenzo, Paracelsus: Encyclopedia of Witchcraft III, Ann Arbor 2006, S. 882–884. Werke cit. 5. Ebd., S. 23. Vgl. Scholz-Williams, Gerhild, Defining Definition. The Discourses of Magic and Witchcraft in Early Modern France and Germany, Ann Arbor 1995, 61 f.; Leibbrand, Werner, Wettley, Annemarie, Der Wahnsinn. Geschichte der abendländischen Psychopathologie, Erfstadt 2005, S. 222 ff. Werke cit. S. 9. Werke cit. S. 12.
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dieses Werk im Gegensatz zur wissenschaftlichen Communis opinio der Epoche. Wenn Gundolf Keil meint, Paracelsus habe manche seiner Werke aus älteren Schriften „spoliativ zusammengeflickt“ bzw. von einer „Spolienarchitektur“ seiner Traktate spricht84, so wird man ihm sicher Glauben schenken, denn Keils überragende Kompetenz in puncto medizinischen Fachschrifttums im deutschen Mittelalter ist wohl kaum anfechtbar. Im hier diskutierten Liber ist davon jedoch nichts nachzuweisen. Vielmehr erscheint dieses Werk von größter Originalität. Um die Ansichten des Hohenheimers paradigmatisch mit den typischen seiner gelehrten Umwelt zu kontrastieren und sein Konzept dadurch schärfer zu sehen, sei ein kurzer Blick auf einen älteren Zeitgenossen, Trithemius von Sponheim (1462 – 1516), geworfen, den er einmal (ziemlich flüchtig) als seinen Lehrer erwähnt85. Was den Katholizismus betrifft, so vertritt dieser als freilich wissenschaftlich höchst interessierter Abt des Benediktinerordens hinsichtlich unseres Themas durchaus die seit den Kirchenvätern offizielle Linie. Kaiser Maximilian I. hatte ihm eine Reihe von Fragen vorgelegt, unter denen sich auch jene nach der Macht der Hexen befand. Trithemius bleibt weitgehend in der Linie des Hexenhammers des Dominikanerinquisitors Institoris und erklärt, dass ein Teufelspakt die Grundlage ihrer „Künste“ sei. Das bringt ihn auf die sechs Arten der Dämonen zu sprechen, als die sich ihm eben auch alle Naturgeister entpuppen: Die feurigen schweben in der höheren Luftschicht der Mondsphäre, die luftigen um uns herum und sind besonders auf den Kontakt mit den Zauberfrauen spezialisiert, die irdischen leben wie wir auf der Erde, das Wassergeschlecht sieht man bei Flüssen und Quellen, es hat aber keinen Umgang mit den Menschen. Anders die Unterirdischen und schließlich die Lichtscheuen, welche uns als Albe quälen. „Es seind viel Geschlechter der bösen Geister, haben auch unter einander etliche unterschiedliche Grad und Staffel, nach Gelegenheit der Örter, in welche sie am Anfang ihres Falles erstlich verstoßen worden sind …“ Vom dritten Geschlecht heißt es z. B. „Von diesen Teufeln und bösen Geistern wohnt ein Teil in den Hölzern und Wäldern, die tun den Jägern viel Schalkheit … ein Teil wohnt in heimlichen, verborgenen Winkeln und Höhlen … es ist immer einer böser denn der andere …“86 Oder: „Das viert Geschlecht und Art der Teufel heißt man Aquaticum, das ist darum, daß sie gern um die Wasser wohnen. Ist ein bös, zörnig, unruhig, betrogenes Geschlecht der Teufel, erweckt auf dem Meer allerlei Ungewit_____________ 84 Zit. Telle, Aufgaben S. 17. 85 Arnold, Klaus, Johannes Trithemius, 2. Aufl. Würzburg 1991, S. 185. 86 Zit. Röhrich, Lutz, Elementargeister: Enzyklopädie des Märchens 3, S. 1316–1326, 1317 f. Vgl. Benesch, Kurt, Magie der Renaissance, Wien 1985, S. 368–373.
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ter, versenkt die Schiff in die Tiefe, ertränkt viel Menschen. Diese Geister, wenn sie an sich nehmen einen sichtbaren Leib, so erscheinens meistmals wie die Weiber … Daher haben unsere Vorfahren und die alten Heiden Najades, Nereides und Aquarum Nymphas nit unter dem männlichen, sondern unter dem weiblichen Geschlecht begriffen; wir nennens jetztund … Wasserfrauen und Meerfräulein …“87 Die fünfte Gattung der bösen Geister heißt „subterraneum“, verursacht die Unglücksfälle in den Bergwerken, und etliche „legen sich auf die Schätz, welche die geizigen Leute unter das Erdreich vergraben haben, liegen darauf wie die großen schwarzen Hund … stehlens, verhütens, und zu zeiten führens und tragen sie es von einem Ort an einen anderen.“88 Hier sind also Traditionen genannt, die teilweise wohl bei Paracelsus auch aufscheinen – doch sind sie bei ihm weitestgehend neutral, und nicht negativ konnotiert, natürlich und nicht diabolisch. Für die neuen Konfessionen lassen wir einen anderen, zehn Jahre älteren Zeitgenossen, Martin Luther selbst, zu Worte kommen89: „Interim sinds oben her ynn lufften Et gmeinlich in welden, wassern, winckelen, in domibus[;] und vol Teuffeln schwebts umb unsern kopff, ut muscae in aestate“, und: Die Irrwische „das sindt schwebende tewffel, qui homines in pericula ducunt“; und: „in locis paludinosis ubique sunt diaboli – hinc inde apparent quandoque sicut pulchrae mulieres se comantes. In aqua hinter der propstey [in Wittenberg] credo non paucos habitare demones, imo plenam esse nihil dubium est …“. Diese, im Mönchtum besonders geläufigen Horrorvorstellungen von der Ubiquität der bösen Geister (s. o.) hat der Reformator zeit seines Lebens nicht abgelegt. Paracelsus macht in seinem Liber den Versuch, eine seit der Zeitenwende für Christen verpflichtende Interpretation der heidnischen Numina wieder zu korrigieren. Die Juden und Christen sahen in den griechischrömischen Göttern bekanntlich nur zweifelhafte Wesen geringer Macht und bösen Charakters, Dämonen, oder sie erklärten die bekannteren unter ihnen zu längst verstorbenen und fälschlich vergöttlichten Menschen (Euhemerismus). Dies ist als die „Herabdrückungsmethode“ bekannt. Die Methode der Uminterpretierung, interpretatio christiana genannt, war im Prinzip nur eine Fortsetzung dessen, was die heidnischen Römer mit den Gottheiten der unterworfenen Völker getan hatten, sie setzten sie einer Figur aus ihrem religiösen Kosmos gleich. Nur – und das ist der entscheidende Unterschied – ließen die Römer den so adaptierten Göttern ihre Macht und Würde und luden sie ein, in ihr Pantheon einzuziehen, woge_____________ 87 88 89
Röhrich 1318. Ebd. Alle Zitate aus Klingner, Erich, Luther und der deutsche Volksaberglaube, Berlin 1912, S. 52–55 (WA 34/2, 362; WA 32, 177; WA20, 292).
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gen sie die Christen zu unterlegenen und bösartigen Wesen erklärten und ihre Wohnstätten, die Tempel und Statuen, heiligen Quellen und Haine, zerstörten. Parallel dazu waren aber die Menschen in der Spätantike, auch die Intellektuellen, gleichviel welcher Religion sie anhingen, wesentlich massiver von der Existenz unsichtbarer Zwischenwesen, der Dämonen, überzeugt, als wenigstens ihre gebildeten Vorfahren zu Zeiten Ciceros oder Tacitus. Heiden und Christen konnten sich augenscheinlich die nicht seltenen psychischen Erkrankungen oft nur dadurch erklären, indem sie annahmen, solch ein unsichtbares Geschöpf sei in den Körper des Besessenen eingedrungen und müsse durch den Heiler daraus vertrieben werden – eine der Haupttätigkeiten Jesu war es ja gewesen, unreine Geister aus Menschen zu vertreiben, die Werke des Teufels zu liquidieren (1Joh 3, 8 usw.). Im Unterschied zum daimon des Sokrates stellte man sich bei den Christen diese Wesen stets als bösartig vor, wogegen die jüdischen Engel die Position der guten daimones einnahmen90. Das Christentum intensivierte diese allgemeinen Vorstellung deutlich, indem es die hellenistische Dämonologie mit der reichen jüdischen verschmolz, namentlich die bösen Geister mit jenen Engeln in eins setzte, die zusammen mit Luzifer in die Hölle gestürzt worden waren91. Diese Sicht blieb im Prinzip, natürlich mit manchen Veränderungen, das ganze Mittelalter hindurch gültig. Wir haben eben gesehen, wie z. B. die antiken Nymphen – im ganzen römischen Reich kultisch verehrte Töchter des Zeus92 – sowohl für Trithemius als auch für Luther, die beide hier durchaus paradigmatisch für ihre Glaubensgenossen waren, mit den volkstümlichen lokalen Wassergeistern verschmolzen und als teuflische Spezies identifiziert wurden. Nur sehr ausnahmsweise findet man vor der Zeit des Hohenheimers die Meinung, es gäbe Geister zwischen gut und böse, wie – bezeichnenderweise – in einem deutschen Zauberbuch aus der 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts. Bei der Beschreibung der Riten, die man ausführen muss, um ein Schiff herbeizuzaubern, heißt es, dass die hierzu beschworenen acht „spiritus sunt inter bonum et malum, non in inferno, non in paradyso morantes“93. Im neuplatonisch orientierten Humanismus kam es dann zu Versuchen einer Entdiabolisierung der Elementargeister94, die in Deutschland neben Paracelsus vor allem der wenig ältere Agrippa von Nettesheim, _____________ 90 91 92 93 94
Dinzelbacher, Peter, Heinz, Werner, Europa in der Spätantike, Darmstadt 2007. Dinzelbacher, Peter, San Michele (i. Dr.). Wissowa, Georg, Religion und Kultus der Römer, 2. Aufl. München 1912, S. 223 f. Kieckhefer, Richard, Forbidden Rites, University Park 1997, S. 219. Röhrich 1319.
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ebenfalls studierter Mediziner, in De occulta philosophia vortrug. Auch er hält sich an die vier Elemente, deren „daemones“ er mit den klassischen Termini wie Sylvani, Panes, Nymphae, Camaenoe, Genii, Lemures usw. bezeichnet.95 Diese konnotiert er positiv bis neutral: Die Feuergeister helfen zum beschaulichen, die Luftgeister zum tätigen Leben, die Wassergeister unterstützen die Emotionen, die Erdgeister die vegetative Natur. Hier scheint sich eine Konvergenz zu Theophrastus anzubahnen – doch verwarf der Kölner Gelehrte, fromm geworden, verfolgt und verbannt, seine diesbezüglichen Theorien selbst zur Gänze. Wir haben das Buch von den Nymphen … oben zu den naturphilosophischen Schriften gezählt. Man täte ihm aber auch nicht unrecht, es einen theologischen Traktat de mirabilibus mundi zu heißen. Denn mehrfach wird der Leser in Predigermanier angesprochen und mit passenden Bibel-Anspielungen zu einem Leben ermahnt, das den religiösmoralischen Normen des Christentums gehorchte. Auch die hier zu findenden kurzen gesellschaftskritischen Ausführungen96 sind konzeptionell nicht weltimmanent, sondern gläubig motiviert, wie bei allen sozialreligiösen Strömungen im Zeitalter der Reformation, einschließlich der Bauernkriege, und ganz im Unterschied zur Sozialpolitik seit der Französischen Revolution. Leicht wird in dieser Beziehung freilich die Besonderheit Theophrasti überschätzt, denkt man etwa an die ausführliche Kritik des den Leib der Erde ausbeutenden Menschen durch den Humanisten Paulus Niavis (d.i. Paul Schneevogel) in seinem Iudicum Iovis oder Das Gericht der Götter über den Bergbau (um 1500)97.
Individualismus Zwar ist heute jedem Mediävisten geläufig, dass die nachantike „Geburt des Individuums“ nicht in die Epoche der Renaissance fiel, wie Jacob Burckhardt meinte, sondern bereits in die des Hochmittelalters (und in diesem Sinn habe ich selbst mehreres publiziert98), was aber nichts daran ändert, dass eben Renaissance und Humanismus einen deutlichen Intensivierungsschub in diese Richtung bedeuteten. Angesichts der die ganze „Philosophie“(im damaligen globalen Sinne!) umfassenden Vielfalt der Themen, zu denen sich Bombast äußerte, ver_____________ 95
96 97 98
Ed. Pierrone Compagni, Vittoria, Leiden 1992, S. 448. Vgl. Müller-Jahncke, W.-D., Zur Geister- und Dämonenlehre des Agrippa von Nettesheim: Salzburger Beiträge zur Paracelsus-Forschung 26, 1988, S. 16–24. Betont von Meier S. 332 f. Böhme, Hartmut Natur und Subjekt, Frankfurt am Main 1988. Z. B. Europa im hohen Mittelalter, Darmstadt 2002.
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körpert er eindrucksvoll den Uomo universale der Renaissance – diese im Sinn von John Hale99 als gesamteuropäische Strömung begriffen. Wenn zu den Kriterien des Renaissance-Individualismus’ „self-assertiveness against authority of all kinds“ und „a certain arrogant confidence“100 zählen, wie doch treffend, dann war er der typische ‚Mensch der Renaissance’ im Sinne Burckhardts, besser: Intellektuelle dieser Ära der „großen Wende“101. Sein Buch von den Nymphen und sonstigen Zwischenwesen bezeugt dies vielleicht mehr als manche seiner wohl als zu eigenständig eingeschätzten iatrochemischen Entwürfe102. Nun war das in der Tat eine verzauberte, und, wenn so ernst genommen wie ernst gemeint, sogar beunruhigende Welt, in die Theophrastus hier Einblick gewährte. Als Schlussvignette und kleines Gegengewicht soll daher eine nüchternere Stimme zitiert sein – denn auch solche gab es gelegentlich in Spätmittelalter und Frühneuzeit! – nämlich die des (freilich mittelmäßigen) Dichters Michael (Michel) Beheim, auch Behaim, Beham oder Behm († um 1474), der anlässlich der Krönung Christians I. in Dronthjem war: auch sagt man, wie das trollen In Norwegen sein sollen. nu han ich verr durch varn das lant, das mir chain troll nie wart pekant.103
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Die Kultur der Renaissance in Europa, München 1994 (mit mehrfachen Erwähnungen des Hohenheimers). Nelson, N., Individualism as a Criterion of the Renaissance: Journal for English and German Philology 32, 1933, S. 316–334, 318, 327. Peuckert, Will-Erich, Die große Wende. Das apokalyptische Saeculum und Luther, Neudruck Darmstadt 1966. Haage, Bernhard, Alchemie im Mittelalter, Zürich 1996, S. 177. Die Gedichte des Michel Beheim, hg. v. Gille, Hans, Spriewald, Ingeborg. Berlin 1968 ff., II, S. 326 ff., nr. 235.
Astrologie, Fortuna und Schicksalsglaube im 16. Jahrhundert. Der Beitrag von Paracelsus zu einem mentalitätsgeschichtlichen Diskurs Albrecht Classen
Um hervorragende, meist aber unorthodoxe Wissenschaftler und Mediziner des Mittelalters und der Frühneuzeit ranken sich schnell Mythen und Legenden, die die eigentlichen Leistungen entweder schmälern oder in den Schatten stellen, andere, fast fantastische dagegen übermäßig aufblähen und somit schnell ein völlig falsches Bild erwecken. Diesem Schicksal war z. T. auch Theophrastus Bombastus von Hohenheim, oder Paracelsus (geb. Ende 1493 oder Anfang 1494, gest. am 24. Sept. 1541), unterworfen, der heute vor allem von Anhängern der Naturheilkunde (Homöopathie) und der Esoterik bewundert wird, von der Anthroposophie ganz zu schweigen. Außerdem haben Schriftsteller wie Wieland, Fouqué, Browning, Fabre d’Olivet, Bruhin, Spindler, Nestroy, Gutzkow, C. F. Meyer, Schnitzler, Kolbenheyer, Ezra Pound u.a.m., dann Künstler und inzwischen auch Filmemacher von Paracelsus Besitz ergriffen und ihn als mythische Gestalt für ihre eigenen Zwecke eingesetzt, womit jedoch dem Studium der eigentlich historischen Persönlichkeit wenig gedient ist.1 Wie Heinz Dopsch nun kommentiert: „Allzu leicht wird dabei der Fehler begangen, den großen Arzt und Gelehrten, losgelöst von der Eingebundenheit in seine Zeit und Umwelt, nur aus dem spezifischen Blickwinkel seiner Disziplin zu beurteilen.“2 Das größte Problem besteht immer wieder darin, in ihm einen okkulten Goldmacher oder Astrologen zu erblicken, der mithilfe magischer Kräfte die Begrenzung der menschlichen _____________ 1
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Karl-Heinz Weimann: Paracelsus in der Weltliteratur. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift. Neue Folge 42 (1961), S. 241–274; id.: Paracelsus in Literatur und Dichtung. In: Paracelsus (1493 – 1541). „Keines andern Knecht …“. Salzburg 1993, S. 357–364. Siehe auch Birgit Wiedl: Paracelsus auf der Bühne, im Film und in Ausstellungen. In: ibid., S. 365–374. Vgl. dazu Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 8., überarb. und erw. Aufl. Stuttgart 1992 (Kröners Taschenausgabe, 300), S. 620–622. Heinz Dopsch: Paracelsus. Arzt, Philosoph oder Goldmacher? In: Künstler, Dichter, Gelehrte, hg. von Ulrich Müller und Werner Wunderlich. Unter Mitarbeit von Margarete Springeth. Konstanz 2005 (Mittelalter Mythen, 4), S. 937–958, hier S. 951.
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Albrecht Classen
Natur überwunden habe. Allerdings gibt Paracelsus in seinen pansophischen, magischen und gabalischen Schriften, wie er sie selbst benannte, deutlich zu erkennen, wie sehr ihm an der geistigen Durchdringung auch der metaphysischen Bereiche gelegen war, wobei er jedoch auf so hoher abstrakter Ebene vorging, dass die Nachwelt leicht dahinter Indizien des Nekromantikers wahrzunehmen meinte. Aber Paracelsus hätte all dem schnell einen Strich durch die Rechnung gemacht, wenn man ihn noch zeit seines Lebens in der Weise charakterisiert hätte, was allerdings z. T. auch geschah, formuliert er ja in der Einleitung zu seinem Liber Azoth sive de ligno et linea vitae: Wer die Geheimnisse aller verborgenen Dinge zu wissen begeht, der soll, um solche Dinge zu erfahren, nirgend anders zu suchen gesinnt sein als bei Gott, dem Herren (welcher der einzige Beschaffer und Wissender aller Geheimnisse ist), aus der Ursache, dass niemand alle Geheimnisse den Begierigen, den Suchenden besser offenbaren und lehren kann denn eben der, der aller Geheimnisse und Künste himmlischer und irdischer Ding der Anfänger und Ursacher ist.3
Ohne Zweifel besaß Paracelsus ebenso wie der noch viel umstrittenere Nostradamus (1503 – 1566)4 viele Neider und Kritiker, und viele seiner Berufsgenossen fühlten sich von ihm und seinen Arbeitsmethoden angegriffen und gekränkt, womit er trotz seines hohen Ansehens stets eine gewisse Außenseiterposition einnahm und unter ökonomischen Schwierigkeiten zu leiden hatte.5 Entgegen der wissenschaftlichen Gepflogenheiten seiner Zeit hielt er, als er in Basel zum Universitätslektor ernannt worden war, seine medizinischen Vorlesungen auf Deutsch und verbrannte sogar ein wichtiges Lehrbuch – es soll die Abhandlung Avicennas gewesen sein – am 24. Juni 1527 in einer öffentlichen Demonstration, um sich so deutlich und höchst provokativ von der traditionellen Schulmedizin zu distanzieren. Andererseits zwang ihn seine stets unsichere Berufslage dazu, _____________ 3
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Theophrastus Paracelsus Werke, besorgt von Will-Erich Peuckert. 2., unveränderte Aufl. Basel und Stuttgart 1976, Bd. V, S. 337. Siehe auch Paracelsus: Sämtliche Werke: 1. Abt.: Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften I–XIV, hrsg. von Karl Sudhoff. München und Berlin 1922–1933; Registerband bearb. von Martin Müller, hrsg. von Robert Blaser. Einsiedeln 1960 (= NAP; Supplementum 1960); 2. Abt.: Die theologischen und religionsphilosophischen Schriften I, hrsg. von Wilhelm Matthießen [ohne krit. App.] München 1923; 2. Abt.: Die theologischen und religionsphilosophischen Schriften II–VIII, hrsg. von Kurt Goldammer, Wiesbaden 1955 ff.; Supplementband: Religiöse und sozialpolitische Schriften in Kurzfassungen, Wiesbaden 1973. Albrecht Classen: Nostradamus und seine Prophezeiungen. Ein Mythos aus Wissenschaft und Glauben. In: Verführer, Schurken, Magier, hg. von Ulrich Müller und Werner Wunderlich. St. Gallen 2001 (Mittelalter Mythen, 3), S. 717–724. Für eine sympathische, vielleicht aber auch etwas einseitige Biografie siehe Will-Erich Peukert: Theophrastus Paracelsus. Hildesheim und New York 1976 (orig. 1944); Pirmin Meier: Paracelsus: Arzt und Prophet: Annäherungen an Theophrastus von Hohenheim. 5. verbesserte Aufl. Zürich 2004 (orig. 1993).
Astrologie, Fortuna und Schicksalsglaube im 16. Jahrhundert
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Prognostikationen für hochgestellte Persönlichkeiten zu publizieren, alchemistische Studien zu betreiben und sich deswegen auf ein etwas unseriöses Gebiet zu begeben, was ihm eben den Ruf des Okkultisten eintrug, der ihm jedenfalls in vielen Kreisen unverändert bis heute noch anhängt.6 Wenn man so will, handelte es sich also bei Paracelsus um eine sehr vielschillernde Figur innerhalb der spätmittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Medizin und Naturwissenschaft, was aber im 16. Jahrhundert, als sich ein tiefgreifender Paradigmenwechsel vollzog, keineswegs als so ungewöhnlich zu gelten brauchte.7 Wie Bernhard Dietrich Haage konstatiert: Zu Beginn des 16. Jahrhunderts entwirft Paracelsus zwar eine großangelegte neue Theorie der Medizin, gründet dieses neue Haus der Medizin indes prinzipiell auf Beobachtungen und praktische Erfahrungen. … Selbstverständlich noch ohne Einsicht in die wirklichen Zusammenhänge, doch im Besitz von profundem empirisch-heilkundlichen Wissen propagiert er die Nutzbarmachung der Alchemie für die Medizin.8
Der berüchtigte Dr. Faustus, den ein anonymer Autor in seinem Volksbuch von 1587 verewigte, spiegelte genau diese Spannung wider, hatte ja die neue Forschung bereits die entscheidenden Wege zur Rationalität und letztlich auch zur Aufklärung eingeschlagen, andererseits blieben doch die meisten Beteiligten z. T. älteren Traditionen, mithin auch Mythen und irrigen Vorstellungen verhaftet, die aus volkstümlichen Lehren stammten und eher religiösen denn wissenschaftlichen Ursprungs waren.9 Paracelsus legte hingegen größten Wert auf die Verifizierung seines eigenen medizinischen Wissens und vertraute den klassischen Autoritäten nur sehr wenig, wohingegen er immer wieder darauf drängte und dies dann selbst praktizierte, eigene Studien durchzuführen und die Ergebnisse anhand konkreter Experimente zu überprüfen. Kein Wunder also, dass er so scharf angefeindet wurde und zugleich eine große Schar von Schülern und Freunden _____________ 6
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Wolf-Dieter Müller Jahncke: Die Stellung des Paracelsus in der Alchemie. In: Paracelsus (1493 – 1541). „Keines andern Knecht …“, S. 149–154; Joachim Telle: Paracelsus als Alchemiker. In: Paracelsus und Salzburg. Vorträge bei den Internationalen Kongressen in Salzburg und Badgastein anlässlich des Paracelsus-Jahres 1993, hg.von Heinz Dopsch und Peter F. Kramml. Salzburg 1994 (Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Ergänzungsband, 14), S. 157–172. Siehe auch: The Prophecies of Paracelsus: Occult Symbols and Magic Figures with Esoteric Explanations: Life and Prophecies, and: The Life and Teaching of Paracelsus by Franz Hartmann. Blauvelt, NY, 1973 (Steinerbooks, 1733). Helga Naber: Probleme einer Paracelsus-Biographie: sein Leben im Spiegel seiner Werke. Göppingen 1998 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 653). Bernhard Dietrich Haage und Wolfgang Wegner: Deutsche Fachliteratur der Artes in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin 2007 (Grundlagen der Germanistik, 43), S. 246–247. Albrecht Classen: New Knowledge, Disturbing and Attractive: The Faustbuch and the Wagnerbuch as Witnesses of the Early-Modern Paradigm Shift. In: Daphnis 35 (2006), S. 515–535.
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gewinnen konnte, die nach seinem frühen Tod 1542 um sein posthumes Ansehen kämpften. Damit war die Grundlage für die weltumspannende und bis heute andauernde Mythenbildung um Paracelsus gelegt.10 Bedenkt man die äußerst schwierige Gratwanderung Paracelsus zwischen der praktischen Medizin, der Pharmakologie, Theologie, Philosophie und Metaphysik, erstaunt es keineswegs, dass scheinbar praktisch jeder mögliche Aspekt seines Lebens und Denkens in der bisherigen Forschung behandelt worden ist. Dabei überwiegen jedoch diejenigen Studien, die sich primär auf die Bereiche der Alchemie, der ganzheitlichen Betrachtungsweise des Menschen, Eschatologie und Anthropologie, Humanismus, Naturmystik, Sozialethik, Kosmologie, Naturmagie, Arzneitherapie und -pharmazie, Gnosis, Pathologie und dann immer wieder des Okkultismus und der humanistischen Naturlehre gewidmet haben, so als ob sich dieser äußerst gelehrte und zugleich eigenwillige Kopf so einfach auf diese Kategorien einengen ließe.11 Am liebsten hat man aber das okkulte Element in den Vordergrund gestellt, wohl weil wir angesichts der rasanten Veränderungen in den Naturwissenschaften gerne Halt in der Vergangenheit suchen, als noch vermeintlich etwa die großen Mediziner metaphysischen Zugang zu göttlichen oder höllischen Mächten besaßen.12 Mythos besitzt größere Anziehungskraft als rationale und kritische Betrachtung historischer Figuren und Phänomene,13 und genau unter diesem Schicksal hat auch Paracelsus vor allem nach seinem Ableben ten.14Einigkeit herrscht aber darin, „daß er den Nutzen und die Wirkung chemischer Heilmittel frühzeitig erkennt. Somit wird er ‚der einflußreichste Beförderer der Chemiatrie, die in die neuzeitliche naturwissenschaftliche Pharmazie mündet“.15 Dennoch hat man überwiegend darin ge_____________ 10 11
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Johannes Schaber: Paracelsus. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. VI (1993), S. 1502–1528; siehe auch die online-Version: http://www.bautz.de/bbkl/p/ paracelsus.shtml. Eine umfangreiche Bibliografie findet sich dort. Zuletzt: Maximilian Bergengruen: Nachfolge Christi – Nachahmung der Natur. Himmlische und natürliche Magie bei Paracelsus, im Paracelsismus und in der Barockliteratur (Scheffler, Zesen, Grimmelshausen). Hamburg 2007 (Paradeigmata, 27). Zuletzt: Maximilian Bergengruen: Nachfolge Christi – Nachahmung der Natur. Himmlische und natürliche Magie bei Paracelsus, im Paracelsismus und in der Barockliteratur (Scheffler, Zesen, Grimmelshausen). Hamburg 2007 (Paradeigmata, 27). Beispielhaft dafür siehe den Mythos vom Keuschheitsgürtel; Albrecht Classen: The Medieval Chastity Belt: A The Myth-Making Process. Houndmills, Basingstoke, Hampshire, England, und New York 2007. Franziskus Kerssenbrock: Der höchste Grund der Arznei ist die Liebe: Leben und Zeit des Paracelsus, hg. von Johannes Sachslehner. Wien 2005. Die Zahl einschlägiger Publikationen populärwissenschaftlicher Art ließe sich hier mühelos noch unendlich ausdehnen. Naber: Probleme einer Paracelsus-Biographie, S. 78; sie zitiert hier eine zum damaligen Zeitpunkt noch nicht publizierte Arbeit von Bernhard Dietrich Haage: Iatrochemie vor Paracelsus.
Astrologie, Fortuna und Schicksalsglaube im 16. Jahrhundert
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schwelgt, in ihm einen starken Befürworter der nekromantischen Forschung zu erblicken, weil er vermeintlich die Magie der Dinge mittels alchemischer Methoden ergründen wollte. Diese Aspekte spricht er zwar durchaus an und verfolgt sie ernsthaft, beharrt aber auf deren rein epistemologische Funktion innerhalb eines göttlich bestimmten Universums. Gerade weil Paracelsus sich als eine so strittige Figur erwies, lohnt es sich, der Frage nachzugehen, auf welche Weise er im mentalitätsgeschichtlichen Diskurs seiner Zeit Stellung zum Schicksalsglauben, zur Einstellung zur Fortuna und zur Rolle von Astrologie genommen hat. Wie die zeitgenössische Literatur eindringlich vor Augen führt, herrschte ein starker Glaube daran vor, dass das eigene Leben durch astrologische Konstellationen und andere Mächte bestimmt sei. Die Mundanastrologie war sogar von der Kirche anerkannt, während man sich nur gegen Nativitätsastrologie wehrte, die mittels Geburtshoroskope Vorhersagen über das Leben des Menschen zu machen versuchte, obgleich doch laut opinio communis freier Wille vorherrschte.16 In der Historia von den sieben weisen Meistern und dem Kaiser Diocletian, in lateinischer Fassung zuerst vor 1342 entstanden, in deutscher Übersetzung etwa in der Mitte des 15. Jahrhunderts erschienen, beruht das zentrale erzählerische Moment darin, dass der jugendliche Held Diocletian, der von sieben weisen Meistern gründlich ausgebildet worden ist, schließlich von seinem Vater zurück an den Hof gerufen wird, wo ihn aber die ihm feindlich gesinnte Stiefmutter hinrichten lassen möchte. Dieses Schicksal erkennen die Meister im Voraus, indem sie die Sternenkonstellation studieren, nur verstehen sie sich nicht darauf, auch praktische Lehren zur Rettung ihres Schützlings daraus zu ziehen. Der Prinz widmet sich darauf selbst dem Studium der Sterne und kann anhand eines kleinen, den seine Lehrer ignoriert hatten, verstehen, wie er sich glücklich aus dieser gefährlichen Situation retten kann, indem er für sieben Tage lang seinem Vater gegenüber stumm bleibt: Also sah er, daz die meister war hatten gesait, aber aïnes mer, das er jnen offenwaret des morgens vnd sprach: ‘Jr habent recht erkent vnd gesehen, aber aines mer erkenn ich an ainem klainen sternen …17
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Siehe dazu Ulli Roth: Das astrologische Wissen des Nicolaus Cusanus. In: Das Mathematikverständnis des Nikolaus von Kues. Mathematische, naturwissenschaftliche und philosophisch-theologische Dimensionen. Akten der Tagung im Schwäbischen Tagungs- und Bildungszentrum Kloster Irsee vom 8.–10. Dezember 2003, hg. von Friedrich Pukelsheim und Harald Schwaetzer. Trier 2005 (Mitteilungen und Forschungsbeiträge der CusanusGesellschaft, 29), S. 65–79. Die Historia von den sieben weisen Meistern und dem Kaiser Diocletianus. Nach der Gießener Handschrift 104 mit einer Einleitung und Erläuterungen hg. von Ralf-Henning Steinmetz. Tübingen 2001 (Altdeutsche Textbibliothek, 116), S. 4. Siehe jetzt auch: Sieben weise Meister. Eine bairische und eine elsässische Fassung der „Historia septem sapientum“, hg. von Detlef Roth. Berlin 2008 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, 44).
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Zwar bringt ihn dies regelmäßig nahe dem Untergang, vermag ja die Kaisern ihren Mann immer wieder durch eine Erzählung von der Gefahr Diocletians für seinen Vater zu überzeugen, doch die Meister bieten stets eine Gegenerzählung, wodurch ein Tag Aufschub gewonnen ist. Zuletzt meldet sich der junge Mann selbst zu Wort und enthüllt dabei die mörderischen Pläne der Stiefmutter und ihren dreisten Ehebruch mit mehreren Männern, die daraufhin alle hingerichtet werden. Ohne die tiefen Kenntnisse auf dem Gebiet der Astrologie wäre dieser für den Prinzen glückliche Ausgang unmöglich gewesen, und die ungemeine Popularität dieser Erzählung bestätigt somit, welche tiefe Wirkung dieser okkulte Forschungszweig im Spätmittelalter besaß.18 Im anonym überlieferten Prosaroman (Volksbuch) Fortunatus, zuerst 1509 in Augsburg gedruckt, sieht sich der Protagonist regelmäßig von Schicksalsschlägen getroffen, weil er einmal während seiner Jugend eine falsche Wahl getroffen und die magische Geldbörse anstatt Weisheit gewählt hatte. Allerdings gesteht ihm der Autor doch zu, eine persönliche Entscheidungskraft besessen zu haben, die er jedoch falsch ausgenutzt habe: schueff er jm selbs vnd seinen sünen mye vnd bitterkait der gallen / vnd wiewol ynen etliche wenig tzeit / sueß vnd lieblich was / nam es doch ain sollich ennd / wie ir hyerinn vernommen habt.19
Zu Beginn seiner Wanderung durch die Welt war Fortunatus im Wald auf eine mystische Frauengestalt gestoßen, die sich bald als die „iunckfraw des glücks” herausstellt, die Einfluss auf das Leben der Menschen nehme mittels der Sternenkonstellationen: „vnd durch die einfliessung des himels vnd der sternen / vnd der planeten” (ibid.). Ihr steht die Möglichkeit zur Verfügung, dem bisher recht unglücklichen Fortunatus ein unvergleichliches Geschenk zu machen, nur müsse er unter sechs verschiedenen Begabungen wählen: „weyßhait / Reichtumb / Stercke / Gesundthait / Schone / vnd langs leben” (ibid.). Sie warnt ihn jedoch, seine Wahl schnell zu treffen, weil „die stund des glücks zu gebn ist gar nach verschynen” (ibid.), weswegen er sich ohne langes Bedenken für Reichtum entscheidet, der ihm dann auch in der Form einer unerschöpflichen Geldbörse zukommt. Allerdings merkt er sehr schnell, mit welchen Gefahren dies für sein Le_____________ 18
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Roth, Hg., S. IX, erklärt sogar: „man darf die ‚Sieben weisen Meister‘ mit gutem Grund als einen der erfolgreichsten Stoffe der Weltliteratur bezeichnen“. Siehe dazu Bea Lundt: Weiser und Weib. Weisheit und Geschlecht am Beispiel der Erzähltradition von den „Sieben Weisen Meistern“ (12.–15. Jahrhundert). München 2002; sie geht jedoch nicht speziell auf die Astrologie ein. Fortunatus. In: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten, hg. von Jan-Dirk Müller. Frankfurt a. M. 1990 (Bibliothek der frühen Neuzeit, 1), S. 580.
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ben und sein Seelenheil verbunden ist, wenngleich er es aufgrund gewisser Selbstbeherrschung und Mäßigung schafft, die Herausforderungen zu meistern und ständig auftretende Gefahren zu überwinden. Bereits die nächste Generation, also seine zwei Söhne, vermag aber nicht, mit dem schicksalshaft ihr zugefallenem Glück vernünftig umzugehen und scheitert deswegen kläglich.20 Natürlich verstand der anonyme Autor diese Fortuna-Figur nur allegorisch, aber sie diente ihm außerordentlich gut dazu, die sich aus magisch einstellendem Reichtum ergebenden Gefahren vor Augen zu führen und damit dem Roman eine tiefgreifende ethische Lehre einzuschreiben. Für unsere Überlegungen spielt jedoch primär die Beobachtung eine Rolle, dass der Protagonist nur durch das Eingreifen von einer schicksalsmächtigen Figur aus seiner Not gerettet wird. So magisch und unirdisch sie auch wirken mag, so reflektiert sie doch, genauso wie früher bereits die höchst bekannte Melusine im gleichnamigen Roman des Thürings von Ringoltingen (1456), die mentalitätsgeschichtliche Perspektive, von der wir hinsichtlich der dominanten Einstellung zu den metaphysischen Mächten auszugehen haben. Dem können wir sogleich den berühmten Roman Historia von Dr. Johann Fausten (1587 gedruckt) an die Seite stellen, in dem zwar nicht astrologische und göttliche Kräfte fungieren, wo aber das Eingreifen des höllischen Mephistopheles entscheidend die Brücke zwischen dem Diesseitigen und dem magischen Anderen schlägt und dem Schwarzkünstler Faustus die Möglichkeit gibt, okkulte Forschungen zu betreiben und Experimente durchzuführen.21 Obwohl der Autor explizit seinen Text in den Dienst der Kirche stellt, um vor den Gefahren des Teufels zu warnen und verführerische Neugier hinsichtlich der inneren Natur aller Dinge zu verdammen, verrät der Prosaroman dennoch, wie sehr das allgemeine Interesse an Nekromantie, Okkultismus, seriösen Forschungen und Studien, dann aber auch Magie, Astrologie u. dgl. mehr angewachsen war. Zu Recht hat man in diesem Zusammenhang sogar von einer „GegenRenaissance“ gesprochen, sozusagen von der „Dialektik der Frühmoderne“, um den berühmten Buchtitel von Horckheimer und Adorno für unseren Kontext zu funktionalisieren.22 Während die Scholastik noch mit mehr oder weniger Sicherheit von einem universalen Konzept der Schöpfung ausging und die Menschheit mit ziemlicher Selbstgewissheit in einen _____________ 20 21 22
Zur älteren Forschung siehe den ausführlichen Kommentar in: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts, S. 1159–1223; vgl. dazu Albrecht Classen: The German Volksbuch. A Critical History of a Late-Medieval Genre. Lewiston, N.Y., 1995, neu hg. 1999, S. 163–183. Historia von D. Johann Fausten, zitiert nach: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts, S. 829 ff. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung: Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 1969.
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festen Ordo versetzte, brach dieses holistische Weltbild seit dem späten 15. und 16. Jahrhundert z. T. in sich zusammen und machte Raum für eine Fülle an metaphysischen, astrologischen, okkulten u. dgl. mehr Spekulationen, wie sie von Agrippa, Montaigne, Giordano Bruno u. a. m. formuliert wurden, weil für sie universale Gesetze nicht mehr gültig zu sein schienen und sie sich deswegen auf den Weg machten, nach den tieferen Quellen derjenigen Bewegungen und Entwicklungen zu suchen, die das Leben des Menschen beeinflussten und bestimmten.23 Wie aber passt nun Paracelsus in diese Strömungen hinein, und welchen Beitrag zu dem öffentlich-wissenschaftlichen Diskurs hat er wirklich geleistet? Angesichts seines breitgefächerten Werkes dürfte es unmöglich sein, ihn einfach über einen Kamm zu scheren, so als ob er niemals eine intellektuelle, spirituelle oder religiöse Entwicklung durchgemacht hätte. Aber in der modernen Forschung, die sich vor allem auf die frühneuzeitliche Wissenschaftsgeschichte (einschließlich Astrologie, Okkultismus etc.) bezieht, kategorisiert man Paracelsus meistens sehr schlicht und unbedacht als Magier, Zauberkünstler, Astrologe, Prognostiker und Nikromant, womit man glaubt, sich nicht weiter mit seinem umfangreichen Schrifttum sorgfältig und kritisch auseinandersetzen zu müssen.24 Dr. Faustus begegnet uns als die literarische Verkörperung dessen, der Paracelsus gewesen sein soll, heißt es ja im Druck von 1587: „ward ein Weltmensch / nandte sich ein D. Medicinae, ward ein Astrologus vnnd Mathematicus, vnd zum Glimpff ward er ein Artzt“ (S. 844). Obwohl er mithilfe des Mephistopheles auch Sterndeutung betreibt und die Zukunft für hochstehende Persönlichkeiten prognostiziert, wobei er sich wegen der Treffsicherheit seiner Vorhersagen ein Ansehen erwirbt, muss er sich ganz deutlich von seinem dienenden Geist sagen lassen: Es hat ein solch Judicium / daß alle Sternseher vnnd Himmelgucker nichts sonderliches gewiß Practicieren koennen / Denn es sind verborgene Werck Gottes / welche die Menschen nicht / wie wir Geister/ die wir im Lufft / vnter dem Himmel schweben / die Verhaengnuß Gottes sehen / vnd abnemmen / ergruonden koennen (S. 882–883).
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Breit dazu Hiram Haydn: The Counter-Renaissance. New York 1950, S. 131–175. Siehe z.B. Haydn: The Counter-Renaissance, S. 177, 182, 184, 195, 215, 219, et passim. Er geht sogar so weit, Paracelsus als theologischen Alchemisten hinzustellen: „Here is the alchemist version of the Fall, with the consequence that man ‚cannot know or understand anything of himself“ (S. 516), während doch das von Haydn benutzte Zitat aus dem Werk deutlich auf die Notwendigkeit aufmerksam macht, gründlich die Natur zu studieren, die daraus gezogenen Erkenntnisse aber als Geschenk Gottes aufzufassen. S. J. Tester: A History of Western Astrology. Woodbridge, Suffolk, und Wolfeboro, New Hampshire, 1987, S. 230, spricht sogar nur von ‚Paracelsisten‘ als den Schülern des Astrologen Paracelsus. Peter Whitfield: Astrology. A History. London 2001, S. 163, identifiziert Paracelsus schlichtweg als „great physician, alchemist and mystic“, der welthistorische Entwicklungen aus den Sternen- und Planetenbahnen ablesen zu können meinte.
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Immerhin räumt ihm Mephistopheles ein, dass die Astrologen in der alten Zeit mittels ihrer großen Erfahrung eine große Kunstfertigkeit auf diesem Gebiet erworben hatten, während die jungen und ungeübten Astrologen der Gegenwart „jhre Practica nach gutem Wohn vnd Gutduoncken“ durchführten (S. 883). Dann jedoch liefert der böse Geist ihm dennoch so ausführliche Informationen über die Sternenkreisläufe und Planetenbahnen sowie deren Einflüsse auf das menschliche Leben, dass wir deutlich wahrnehmen, mit welcher Faszination der unbekannte Verfasser sich diesem Thema selbst näherte, das er eigentlich als etwas höchst Verdammenswertes hinstellen wollte. Die Dialektik bestand eben darin, dass man sich in der Frühneuzeit noch stark auf die traditionelle Wissenschaft bezog, z. T. aber bereits mit neuen Kenntnissen vertraut war und zugleich weit über den rationalen Bereich hinaus eine magisch-okkulte Quelle der Erkenntnis suchte.25 Für die kritische Betrachtung der Werke von Paracelsus ergibt sich nun daraus zunächst die folgende Schlussfolgerung: Auf dem Gebiet des naturwissenschaftlichen und theologischen Diskurses entwickelte sich gerade im 16. Jahrhundert eine Fülle an höchst widersprüchlichen und kontroversen Positionen, Methoden, Perspektiven und Einstellungen, was wohl als typisch für die Epoche eines Paradigmenwechsels anzusehen wäre, wie er so treffend von Thomas S. Kuhn beschrieben worden ist.26 Gerade weil Paracelsus so weitschweifend seine Überlegungen vorantrieb und sich dabei selbst auf die entlegensten Gebiete begab, steht heute sein breites Opus weitgehend offen für die unterschiedlichsten Auslegungen. Zentral dürfte aber bei Paracelsus doch bleiben, und dies gerade entgegen so landläufiger Meinungen, dass er entschieden auf eine rationale und kritische Sichtung aller natürlichen Phänomene drängte und eine nüchterne Betrachtungsweise einforderte, wie wir anhand seines De vera influentia rerum, liber Theophrasti zu erkennen vermögen. Unser Gelehrter erweist sich sehr schnell als ein Empiriker, der zwar die höchste Autorität Gottes völlig akzeptiert, der aber auf unterer Stufe ganz praktisch davon ausgeht, all diejenigen Dinge, die unsere Welt ausmachen, „zu tasten und zu greifen”27. Zugleich betont er jedoch, dass Gott als der Schöpfer über allem zu erkennen sei, nur betreffe dies nicht _____________ 25
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Albrecht Classen: New Knowledge. Zu den tragischen Opfern dieser höchst spannungsreichen Entwicklung gehörten auch die Massen an unschuldig der Hexerei und Zauberei angeklagten Menschen, die in der Frühneuzeit zu Scharen verbrannt wurden, siehe Gerhild Scholz Williams: Defining Dominion. The Discourses of Magic and Witchcraft in Early Modern France and Germany. Ann Arbor, MI, 1995 (Studies in Medieval and Early Modern Civilization). Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Zweite rev. und um das Postskriptum von 1969 erg. Aufl. Frankfurt a. M. 1976 (orig. 1962). Paracelsus, Bd. IV, S. 292.
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den Naturwissenschaftler, der sich mit den Konkreta der irdischen Existenz auseinandersetzen wolle. Er gesteht jedoch selbst, welche große Schwierigkeiten darin bestehen, zwischen dem Spirituellen und dem Physischen zu differenzieren: „Denn viel sind der Dinge vor unsern Augen, die wir sehen und doch nicht sehen, verstehen und doch nicht verstehen“ (S. 292). Wenngleich es dann wie ein Satz aus der Relativitätslehre lautet: „Denn es ist kein Ding so hübsch, es mag verachtet werden, auch kein Ding so übel, es mag aus gemeldtem Grund gelobt werden“ (S. 292), warnt Paracelsus seine Leser nur davor, voreilige Urteile zu fällen, ohne das wahre Wesen der betrachteten Wesen oder Gegenstände zu verstehen. Der öffentliche Diskurs sei freilich, wie er mit Bedauern konstatiert, durch Schreihälse bestimmt, die nur mit ihren geschickten Worten das Publikum von ihren Thesen überzeugen wollten, während das entscheidende Ziel doch darin bestehen müsse, kritisch zu reflektieren und zu untersuchen: „sondern es heißt ‚wissen’ und nicht über-reden“ (S. 293). Er differenziert zwar sorgfältig zwischen der theologischen und der naturwissenschaftlichen Erklärung, betont dennoch unmissverständlich, wie zentral und absolut der Ursprung der gesamten Welt in Gott zu finden sei (S. 293), denn dieser allein habe den Pflanzen und anderen Lebewesen die innere Tugend und Kraft verliehen, ohne die sie nicht existieren könnten. Der Schöpfungsakt Gottes stehe somit am Anfang, doch obliege es dem denkenden, rationalen Menschen, die endemischen Eigenschaften aller Objekte wahrzunehmen und zu studieren, um die Größe Gottes zu erkennen, der nichts bloß für sich allein geschaffen habe, sondern stets die Früchte, den Menschen, die Steine etc. mit der inneren durch sorgfältige Analyse erkennbaren Kraft gefüllt habe, was Paracelsus als die göttliche Vorhersehung bezeichnet (S. 295). Die menschliche Natur erweise sich stets noch als schwach und gebrechlich, aber für alle Not und jedes Elend gebe es ein Gegenmittel, das der Mensch nur finden müsse und worauf ihn der im Laufe der Zeit sich immer stärker als mitleidig erweisende Gott hinweise, der gerade dem Menschen das Vermögen verliehen habe, die unterschiedlichen Tugenden bzw. Eigenschaften aller Pflanzen, Tiere oder Dinge zu erkennen. Die innere Fülle aller Entitäten bestehe nun gerade deswegen, damit der menschliche Intellekt sie studieren und begreifen könne, womit eine weltumspannende Epistemologie angesprochen wird, die im Erkenntnisprozess die zentrale Aufgabe des Lebewesens erblickt. Paracelsus wehrte sich aber, und darin unterschied er sich eben ausdrücklich, wenngleich von der Nachwelt kaum recht verstanden, gegen jegliche Versuche, eine Hermeneutik zu betreiben, die sich auf astrologische oder okkulte Prinzipien stützte, denn alle innere Kraft rühre nicht von den Planeten oder anderen Quellen her, sondern allein von Gott: „Denn das Gestirn im Himmel hat der Dinge nichts in sich,
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hat den Nesseln nichts zu geben, daß sie brennt … Das sind alles Dinge die in der philosophia falsch gebraucht werden“ (S. 296). Ohne sich zwar auf den astrologischen Diskurs explizit zu beziehen, wehrt sich Paracelsus deutlich genug gegen jegliche Spekulationen, die sich auf eine spirituelle Verbindung zwischen den sphärischen Konstellationen und den Wesen hier auf Erden stützen: „Nun, was hat der Himmel hier zu schaffen? So er viel hat, so hat er ebenso viel wie ein Feuer, das das Fleisch im Hafen siedet. Das selbige Feuer, was gibts dem Fleisch? Nichts. Das in ihm ist, das kochts“ (S. 296). Paracelsus illustriert sein Argument beeindruckend mittels des Hinweises auf den menschlichen Körper, der Speise und Trank in sich aufnehme, woraus dann Blut, Muskeln etc. entstehen, ohne dass dieses Naturwunder sphärischer Ätiologie bedürfe, denn Gott allein sei dafür verantwortlich und so auch dafür zu loben: „Denn die influentia ist aus Gott und nicht aus den Sternen, geht von Gott auf den menschen und nit in die Sterne, noch darnach von den Sternen zu den Menschen“ (S. 297). Paracelsus gibt jedoch deutlich zu erkennen, dass keine große Hoffnung bestehe, die Masse der Menschen von dieser religiösen Erklärung auf den richtigen Weg zu führen, denn der Glaube an die Astrologie sei zu stark, obwohl nach seiner Überzeugung die kausale Rückführung auf Gott die einzige vernünftige Lehre sei, die ein vernunftbegabter Mensch akzeptieren könne. Alle menschlichen Fähigkeiten schuldeten sich der Begnadung durch Gott, nicht irgendwelcher Beeinflussung durch die Planeten, was Paracelsus ironisch in seiner Absurdität so bloßstellt: „Sonst möchten die astronomi wohl sagen, er wäre filius solis, was doch ganz abgöttisch und falsch wäre, alldieweil doch Christus das redet und heißt den Menschen einen Sohn des Menschen und die Schrift es an viel Orten bezeugt“ (S. 297). Er geht dann sogar noch einen Schritt weiter und argumentiert streng theologisch, indem er das Alte Testament befragt, ob sich dort irgendwelche Hinweise auf astrologische Erklärungsmuster ergeben könnten, findet jedoch nur solche auf Gott als den Schöpfer der Welt. Dies vermag er dann sogleich auf den Bereich der Medizin anzuwenden, denn wenn diese einen Menschen gesund zu machen vermöge, rühre dies nicht von dem „Gestirn, [den] Planeten oder Zeichen im Himmel“ (S. 299) her, sondern allein von Gott, der die Kräuter und Mineralien geschaffen habe. Der Wissenschaftler sei somit aufgerufen, bei seinen Studien nicht bloß die Eigenschaften und Beschaffenheit der Untersuchungsobjekte ins Auge zu fassen, sondern insbesondere darauf zu achten, hinter allen materiellen Objekten die Kraft Gottes wahrzunehmen: „daß die Dinge Gehäus, Herbergen der Tugenden sind, und daß die zu suchen, und daß Gott die selbigen Kräfte und Tugenden in die Natur gegossen hat, wie die Seel in den Menschen“ (S. 299). Sowohl äußere Form als auch
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die Geistesbefähigung im Menschen bedürften freilich der vorherbestimmten Zeit, um sich angemessen zu entfalten, ohne dass man für die Erklärung von Schicksalsschlägen, falschen Entscheidungen oder Handlungen auf astrologische Ätiologie zurückgreifen müsse: „Denn wie ein Kind aus sich selbst und nicht durch die Seel aufwächst, so wachsen die natürlichen Dinge und die Tugenden in ihnen auch, bis auf den terminum, den Gott gegeben hat“ (S. 300). Zugleich betont Paracelsus, wie sehr der Mensch zu dem Maße in sich begrenzt bleibe, wie sehr er durch Gott mit inneren Kräften ausgestattet worden sei: „es kann nicht mehr aus ihnen werden“ (S. 300). Er insistierte also eindeutig auf eine religiöse Betrachtung der materiellen Existenz und lehnte zugleich mit größter Entschiedenheit die Versuche derjenigen ab, die Konstellation der Gestirne oder den Einfluss anderer Kräfte außerirdischer Art für das Schicksal des Menschen verantwortlich zu machen. Natürlich will und kann er nicht leugnen, dass das Urwesen des Lebens weiterhin als ein arcanum anzusehen sei, aber er identifiziert es als gegründet in und ausgeflossen aus Gott selbst: „als eine Gabe aus Gott, darein – ohne alle kreaturische Hilfe – eine Tugend aus Gott gegossen ist“ (S. 302). Um die letzten Zweifler von dieser Erklärung zu überzeugen, verweist Paracelsus schließlich auf das einfache Beispiel eines Menschen, der großen Reichtum erworben habe. Dieser Reichtum sei ihm aber nicht wegen des Gestirns zugefallen, sondern alles nur aufgrund von Gottes Wille. Paracelsus verspottet alle, die mittels Prophezeiungen, Wahrsagereien oder anderer Praktiken versuchen, das Schicksal vorherzusehen oder das innere Wesen aller Dinge zu erkennen ohne Rückbezug auf Gott als die einzige und universale Kraft hinter der gesamten Schöpfung: „Ist es nit so, daß die Metalle aus Gott erschaffen sind? Und wenn sie nun erschaffen sind, so hat sie der Himmel nicht gemacht; was erschaffen worden ist, das macht niemand mehr“ (S. 304). Letztlich leugnet Pararelsus, dass es überhaupt arcana gebe, denn der Mensch sei durch Gott begnadet genug, kritisch die Phänomene dieser Welt zu studieren und zu begreifen und mithilfe der Eigenschaften aller Dinge auch die notwendigen Hilfsmittel für alle möglichen Krankheiten und Notfälle zu finden bzw. Gott selbst als die Ursache aller Krankheiten (S. 309). Der Mensch vermag sich zwar Gott zuzuwenden, nicht aber dadurch Hilfe für alle Krankheiten zu gewinnen, die allemal eintreten mögen, was jedoch stets die Kontingenz des Menschen zum Ausdruck bringe (S. 311. Das gesamte Universum sei jedoch zur Betrachtung vorhanden, damit der sündige Mensch seine eigene Begrenztheit wahrnehmen könne. Ungeachtet aller vermeintlichen arcana sei alles im Leben dem Menschen zur Erkenntnis bereitgestellt: „Die Arznei ist von Gott, der Mensch von Gott, und alle Hilfe, die da geschieht, ist von Gott“ (S. 313).
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Der Henker diene hingegen dem Teufel und strebe allein danach, das Böse im Leben nur schlimmer zu machen (S. 314). Für Paracelsus erweist sich die Wirkungskraft des Teufels weiterhin als höchst einflussreich auf den Menschen, womit er eine religiöse Weltsicht verfolgt, die durch die polaren Kräfte des Guten vs. des Bösen bestimmt wird: „Nun ist nicht minder: der Satan ist vielfältig an dem Ort und mit so viel Betrug, daß viele darob erblinden, wie denn bei Christo auch viele erblindet sind, die der Teufel abwendig machte“ (S. 316). Für Paracelsus ergibt sich daraus ein dialektisches Weltbild, in dem sich Gott und der Teufel die Waage halten und das Gute ausgewogen im Widerstreit mit dem Bösen sich wiederfinde (S. 317). Zugleich weigert er sich, spekulatives Wissen anzuerkennen, denn an Gott allein sei zu glauben, der die gesamte Schöpfung aus sich heraus geschaffen habe: „Wir haben hie in göttlichen Dingen nichts zu grübeln, müssen allein an den Werken, die da geschehen, erkenn, denn sie sind Zeichen des Meisters, der da ist“ (S. 318). Der Mensch vermöge von sich aus selbst gar nichts zu tun, und der Teufel ebenso wenig, vielmehr müsse der Wille selbst sich äußern und Gott diesem zustimmen, was eine ganz persönliche Beziehung für den Menschen schaffe, die religiös und hermeneutisch bestimmt sei. Die Aufgabe des Individuums bestehe schließlich darin, die Perlen im Mist zu suchen bzw. das Mehl von der Kleie zu befreien, um sich dem Willen Gottes zu nähern, der jedoch als ein „mysterium“ (S. 319) zu bezeichnen sei. Wenn der Mensch sich angemessen darum bemühe, dieser Aufgabe gerecht zu werden, würde er überall das Gute finden, so wie die Biene, die den Pollen aus den Blüten saugt, ohne diesen zu schaden oder diese zu verändern: „ist etwas Gutes an einem Ort, so ists aus Gott. Ist es nun Sache, daß Böses dabei ist, wie Hüttenrauch, Mercurium, Arsenik, Operment und dergleichen, so tus daraus, man läßts darum nicht ungesucht“ (S. 320). Wenn sich Wunder im Leben ereignen oder ein Individuum besonders begnadet wird, so sei dies allein auf Gott zurückzuführen, nicht aber auf die Sterne oder Menschen, wie der Vergleich zwischen den Aposteln Petrus und Judas vor Augen führen soll (S. 321). Paracelsus spinnt den Gedanken dahingehend weiter, die unterschiedliche Entwicklung im Leben mit dem Hinweis auf Widerstände und Hindernisse zu erklären, die das Individuum entweder einfach akzeptiert oder überwindet, je nach seiner Konstellation und Kondition. Die göttliche „Influenz“ gelange zwar rein in den Menschen, aber sie wirke niemals so rein in ihm und zeige unterschiedliche Folgen, was Paracelsus mit einer sarkastischen Anspielung auf die Ärzte, Astronomen, Philosophen „und dergleichen Sekten“ (S. 323) erklärt: „Daß aber niemand so hervorkommt, wie er kommen sollte, so wie nämlich die Influenz dahin gefallen ist, ist das die Ursache, daß alle Ding Hindernisse und
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Widerwärtigkeiten haben“ (S. 323). Er lehnt sich mithin entschieden gegen die Überzeugung von der Macht der Planeten und anderer materieller Einflussquellen, die das Leben des Menschen bestimmen könnten, und bezieht sich ausschließlich auf Gott und sein Wirken, während er die Vertreter all der okkulten Künste als „pseudoapostoli, pseudoprophetae, pseudochristi … pseudomedici, -astronomi, -alchimistae und pseudophilosophi“ (S. 324) bezeichnet. Dies jedoch nicht, ohne zugleich den verschiedenen Berufsständen seine Anerkennung auszusprechen, gebe es ja genauso gut „rechte Propheten, rechte Apostel, rechte Arznei, rechte philosophos, astronomos“ (S. 324), solange diese sich aber nach Gott richten würden, ohne sich auf nekromantische Hilfsmittel zu beziehen. Freilich stützte er sich selbst in eigener Weise auf die Astronomie, erkannte er ja ein „ens astrale“ als eine der Ursachen von Krankheit, insistierte jedoch weiterhin darauf, rational-empirisch vorzugehen und sich nur auf die eigene Erkenntnisfähigkeit zu verlassen.28 Im Prolog zu seinem Liber de inventione artium Theophrasti betont er noch einmal ganz explizit, dass der Glaube an den astrologischen Einfluss auf den Menschen als irrig zurückzuweisen sei: „Weil aber der Mensch ein Erbe des Reiches Gottes ist und dem Himmel nur zugeordnet, wie kann er dann ein Sohn des Gestirns sein, alldieweil doch der Himmel zergeht und nichts ganz bleibt. Ein jeglicher, der da mit einer Seel versorgt ist, hat seine Lehre, Weisheit, Gnade aus Gott, aber aus keiner Kreatur …“ (S. 325). Weder der Teufel noch die Gestirne besäßen jegliche Kraft, um jegliche Wirkung auf den Menschen auszuüben. Die Gelehrten, die sich aber auf ihr astrologisches Wissen beriefen, hätten sich selbst getäuscht: „Die Weisheit ist eine Narrheit vor Gott“ (S. 326). Paracelsus geht sogar noch weiter, indem er die laut mittelalterlicher Naturlehre vorhandene Musik der Sterne bloß als „ein Rauschen im Gewölbe” bezeichnet, „das Widerschallen von der Erde“ (S. 326), schließlich stammten alle Dinge von Gott, und alles würde nach Gottes Willen gelenkt und gestaltet. Zwar räumt Paracelsus dann ein, auch Geister versuchten, ihren Einfluss auf den Menschen geltend zu machen, aber er betont sogleich, dass es sich dabei stets um Verderbnisbringendes gehandelt habe, dem man nicht trauen dürfe (S. 327). Weder unabhängig angeborene Fähigkeiten ließen sich im Menschen nachweisen noch die Wirkung der Sterne, wie er sarkastisch den Astrologen vorwirft: „sie behelfen sich dabei des Gestirns, das sie doch nit kennen, noch wissen was es ist. Nach diesem also wißt, daß die Dinge alle _____________ 28
Wenngleich etwas unscharf und ohne Bezug auf die Primärquellen, Martin Roebel: Caspar Peucer als Humanist und Mediziner. In: Caspar Peucer (1525 – 1602). Wissenschaft, Glaube und Politik im konfessionellen Zeitalter, hg. von Hans-Peter Hasse und Günther Martenberg. Leipzig 2004, S. 51–73, hier S. 67–70.
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Schätze aus Gott und unter den Menschen ausgeteilt sind“ (S. 328), doch gebe sich die Fülle der Fähigkeiten nur im Laufe der Zeit zu erkennen, weil diese von Gott in den Menschen wie ein Samen im Garten gepflanzt werden und der allmählichen Entfaltung bedürfen je nach Notwendigkeit und Bedarf (S. 328–329). Die Begabung des Menschen, zu töpfern, Glas herzustellen, edle Metalle aus den Erzen zu schmelzen, Stoffe zu weben etc. habe sich nicht über Nacht eingestellt, sondern entwickelte sich, so Paracelsus, über lange Zeit hin bis zur Vollkommnung, wie die Objekte jeweils gebraucht werden – ein Prozess aber, der unablässlich vonstatten gehe und nicht aufhöre, ohne dass sich notwendigerweise erbmäßige Gesetzlichkeiten daraus ableiten ließen (S. 333). Insgesamt schlussfolgert der Autor: „Das sollt ihr aber wissen, daß eure Weisheit von Gott sein muß, wo nicht, sondern aus eurem Denken, so ist es alles nichts als Verführung wider den Willen Gottes“ (S. 335). Paracelsus rechnet somit radikal und endgültig mit all denen ab, die sich den magischen, okkulten oder nekromantischen Künsten verschreiben, astrologische Studien betreiben und sich auf die Kraft von Geistern oder des Teufels stützen. Allein von Geltung sei die Macht Gottes und seine Begnadung des Menschen, der den Samen in sich besitze und diesen nur zur Entfaltung kommen lassen muss, um sein von Gott vorherbestimmtes Ziel zu erreichen. Er appelliert an seine Leser: „so sei aus Gott gelehrt, damit du aus Gott belehrt werdest, dich dahin zu richten, dahin dich die Zeit zieht“ (S. 337).29 Für ihn besitzen zwar die Naturwissenschaften – nicht die Astrologie etc. – höchsten Wert in der menschlichen Existenz, aber sie müssen alle aus Gott bzw. den Glauben an ihn fließen oder in ihm gegründet sein (S. 339), womit sich Paracelsus letztlich als ein tief religiöser Denker erweist, der aber zugleich empirische Arbeitsmethoden fordert, okkulte Ansätze grundsätzlich ablehnt und sich damit gegen populäre Einstellungen zur Naturforschung, Medizin und anderen Bereichen, getragen von metaphysischen Konzepten, wendet, was natürlich in der Öffentlichkeit kaum auf Gegenliebe gestoßen sein wird. Wieso man selbst in jüngsten literaturwissenschaftlichen Studien eigentlich gänzlich ohne primäre Textkenntnis davon ausgehen kann, Paracelsus mit Magie, Alchemie und Astrologie in Verbindung zu bringen, wirkt wahrhaftig rätselhaft, macht sich ja weiterhin der Mythos um diesen frühneuzeitlichen Wissenschaftler weiterhin bemerkbar.30 Wenn man freilich bedenkt, wie grob und ungehemmt Paracelsus über viele seiner Zeitgenossen urteilte, ja gerade einen Teil der _____________ 29 30
Genauso argumentierte Paracelsus in seinem Traktat Coelum Philosophorum, siehe dazu Zolar: The History of Astrology. New York 1972, S. 151–152. Siehe z. B. Peter Hess: Poetry in Germany, 1450–1700. In: Early Modern German Literature 1350–1700. Ed. Max Reinhart. Rochester, NY, und Woodbridge, Suffolk, 2007 (The Camden House History of German Literature, 4), S. 395–465.
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eigenen Kollegen höchst kritisch und satirisch betrachtete und sich über sie lustig machte, wird man nachvollziehen können, wieso sich solch irrige Meinungen über diesen tief gelehrten und religiösen Mediziner, Chemiker und Autor verbreiteten. Ein weiteres Zitat möge dies eindringlich vor Augen führen, vor allem weil sich hier die Verspottung der Astrologie mit einer christologischen Lehre verbindet: „Drum ist das umsonst, daß die astronomi den Himmel auf seine Geburt stellen und ihn damit loben wollen: er sei in einem guten Gestirn geboren. … Darum ist es eine Lapperei, die Dinge so zu erigieren. Allein es komme von oben herab, sonst ist es alles nichts“ (S. 346). Es verwundert daher wenig, im Werk des Paracelsus auch eine ganze Abhandlung über den Aberglauben zu finden, den er grundsätzlich ablegt, während er stattdessen auf die Allmacht Gottes als einzige Quelle für Wunder und alle anderen Erscheinungen hinweist (Liber de superstitionibus et ceremoniis, Bd. IV, 376 ff.). Seine Warnung vor hermeneutischen Verführungen erstreckt sich mithin auf all diejenigen, die sich auf magische, okkulte, astrologische u.dgl. mehr Erklärungen stützen, nicht aber das Heilige Testament im Auge behalten: „Das alles sind Geiste der Menschen, die ihren Neid, Haß, Arges, Übels auf Erden nicht genügend haben vollbringen können, die rächen sich tot“ (S. 380). Wendeten wir uns anderen Werken aus der Feder von Paracelsus zu, entdeckten wir überall die gleiche Methode, höchst kritisch, rational, zugleich aber auch zutiefst religiös die Welt zu erklären und sich nicht durch Aberglauben oder Okkultismus täuschen zu lassen. Allerdings verfolgte er zugleich die Lehren vom Mikro- und Makrokosmos, getragen von dem im ganzen Mittelalter vorherrschenden Prinzip der vier Elemente, so wenn er über die Heilung von Krankheiten spricht: „In der Heilung betrachte drei Ding: den Himmel, die Erden und den Mikrokosmos (Bd. I, S. 71; siehe auch Bd. II, S. 139: „Die Welt ist, wie die philosophia ausweist, die vier Elemente“), doch verändert dies nichts an der globalen Beobachtung eines frühneuzeitlichen Wissenschaftlers, der seine Naturerkundungen in einem theologischen Rahmen verfolgt und bewusst und entschieden Abstand von den populären Spekulationen seiner Zeit nimmt, um mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln der Kräuter- und Naturlehre den Kranken Heilung zu verschaffen: „In der Heilung ist am ersten zu bedenken, daß man der mikrokosmischen Sonn genug Feuchte gebe, auf daß sie für und für zu verzehren habe; das ist, wenn sie aufzehrt, daß dann wieder ein anderes da sei“ (I, S. 79). In seinen philosophischen Schriften wie Philosophia sagax räumte er sogar ein, dass „Geister im Firmament auch handeln können, also daß sie die simplicia im Firmament nehmen können und die selbigen zu einem Donner, Hagel, Wetter, Wolkenbruch usw. komponieren” (III, S. 395). Er fügt dem jedoch sogleich wieder hinzu, dass Gott als Schützer
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der Menschen auftrete und selbst über diese Geister Macht ausübe, selbst wenn der Teufel laut Paracelsus eigenständig sein Unwesen treibe und Schaden anrichtet (III, S. 396). Für ihn besaßen die Geister, die er mit Luft vergleicht, aber nur dann Einflussmöglichkeit auf den Menschen, wenn dieser sein Herz von Gott abgewendet habe (III, S. 397). In seinen medizinischen Schriften stützte er sich zwar stark auf mittelalterliche Vorstellungen der vier Elemente und den Einfluss Gottes, drängte aber trotzdem immer wieder darauf, die rationale Erkenntnisfähigkeit nicht zu vernachlässigen. Um das wahre Wesen der Natur zu erkennen, bedürfe es nicht der Fantasie oder Spekulation, sondern der kritischen Empirie: „Der ein Ding sieht, der hats erfahren; der es nicht sieht, der hats nicht erfahren. Auch wir bezeugen nichts anderes als allein das, was wir sehen, und das besonders in der Arznei“ (II, S.142). Bemerkenswerterweise insistiert Paracelsus in dem Zusammenhang ganz entschieden darauf, dass der Arzt die jeweils typischen Eigenschaften und Beschaffenheit von Mann und Frau differenziert, ohne dabei jegliche misogyne Urteile von sich zu geben (II, S. 143). Diese Betrachtungen sollten aber nicht ohne die vorsichtige Einschränkung enden, dass Paracelsus natürlich ein sehr breites, unterschiedliches Werk hinterlassen hat, das viele Stufen in seinem Denken reflektiert, was eine absolute Behauptung über seine Denkweise als problematisch erscheinen lässt. In unserer Diskussion seiner religionsphilosophischen Schriften hat sich aber deutlich ergeben, dass er sich resolut gegen okkulte und nekromantische Methoden wandte und die von ihm betriebene Naturwissenschaft in einen auf Gott bezogenen Rahmen stellen wollte. Während Dr. Faustus eher die volkstümliche Einstellung zu den Mächten der Natur, der Sterne und der Geister reflektierte, suchte Paracelsus danach, im mikro- und makrokosmischen Bezugssystem eine Einordung der menschlichen Kreatur in die göttliche Schöpfung zu bewerkstelligen. Dies hat aber der Mythosbildung um Paracelsus keinerlei Abbruch bereitet, sodass heute weiterhin vielfach eher Missverständnisse denn klare Einschätzung seines Werkes vorwalten, obwohl intensive Forschungen selbst in jüngster Zeit neue Schneisen in das Dunkel um diesen Gelehrten geschlagen haben.31
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Bernhard D. Haage: Alchemie im Mittelalter. Ideen und Bilder – von Zosimos bis Paracelsus. Düsseldorf und Zürich 2000; Udo Benzenhöfer: Paracelsus. Reinbek bei Hamburg 2002; Sergius Golowin: Paracelsus: Mediziner – Heiler – Philosoph. Darmstadt 2008. Die Flut der populärwissenschaftlichen Literatur verdeckt leider diesen Gelehrten wesentlich mehr als zu unserem Verständnis beizutragen.
Paracelsus als Theologe Urs Leo Gantenbein Paracelsus stand 1527 auf dem Höhepunkt seiner Karriere, als er zum Basler Stadtarzt und Dozent an der Universität ernannt wurde. Die Herbstferien nutzte er zu einem Ausflug nach Zürich, wo er die Spitzen der Reformation aufsuchen wollte. Obwohl selber Arzt und Naturphilosoph, waren ihm die drängenden religiösen Fragen der Zeit ein großes Anliegen. Es ist zwar von einem Zusammentreffen Hohenheims mit Zwingli nichts bekannt. Hingegen sprach Paracelsus mehrmals mit Zwinglis späterem Nachfolger, Heinrich Bullinger (1504 – 1575). Bullinger berichtet darüber wie folgt: Ich habe zu wiederholten Malen mit Paracelsus über Fragen der Religion und Theologie gesprochen. In keinem dieser Gespräche war von Rechtgläubigkeit etwas zu spüren, sehr viel dagegen von einer zumeist selbstersonnenen Magie. […] In fromme Versammlungen ging er selten; er schien sich auch sonst wenig um Gott und göttliche Dinge zu kümmern.1
Wie konnte Bullinger zu einem solchen Urteil gelangen? Sicher beruhte es nur auf einem oberflächlichen Eindruck und war geprägt von Vorurteilen, dies zu alledem in einer Zeit, als die großen Reformatoren begannen, ihre Lehren dogmatisch zu verfestigen und Andersdenkende, wie etwa die Täufer, auszuschließen und systematisch zu verfolgen. Auch hatte Paracelsus seine größte theologische Schaffensperiode noch vor sich, die etwa 1530 beginnen sollte. Am Schluss seines Lebens konnte Paracelsus auf ein theologisches Werk zurückblicken, das in Umfang und Tragweite seinen medizinisch-naturphilosophischen Schriften in nichts nachstand. Die theologischen Schriften werden dereinst, die bereits erschienenen eingerechnet, immerhin etwa 15 stattliche Bände umfassen. _____________ 1
„Contuli cum eo, inquit, semel & iterum de rebus varijs etiam Theologicis vel Religionis. Sed ex omnibus eius sermonibus pietatis nihil intellegere licuit, Magiae verò, quam ille nescio quam fingebat, plurimum.“, Thomas Erastus, Disputationum de medicina nova Philippi Paracelsi. Basel: Peter Perna, Bd. 1 (1571), S. 239; vgl. weiter Bernhard Milt, Paracelsus und Zürich. In: Vierteljahresschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich 86 (1941), S. 321–354, hier S. 322; Charles D. Gunnoe jun., Thomas Erastus and his Circle of Anti-Paracelsians. In: Analecta Paracelsica. Studien zum Nachleben Theophrast von Hohenheims im deutschen Kulturgebiet der frühen Neuzeit. Hrsg. v. Joachim Telle. Stuttgart: Franz Steiner, 1994, S. 127–148, hier S. 139–141.
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Zumindest zu einem Zürcher Theologen gelang es Paracelsus hingegen, einen engeren Kontakt aufzubauen, nämlich zu Zwinglis Weggefährten Leo Jud (1482 – 1542). Paracelsus nennt Jud in vertrautem Ton „min Leo“ und „min gemeinisten zuo Zürch“, bezeichnet ihn also als seinen nächsten Bekannten, den er in der Limmatstadt hatte.2 Dies mochte theologische wie auch praktische Gründe gehabt haben. Aus dem Umstand, dass Jud kurzzeitig mit dem Spiritualisten Kasper von Schwenckfeld sympathisierte und korrespondierte,3 kann man doch vermuten, dass Jud ein offenes Ohr für die geistorientierten Theorien Hohenheims hatte. Andererseits gibt es eindeutige Hinweise, dass Jud Hohenheims Patient war und sich dadurch eine besondere Beziehung zwischen den beiden Männern ergeben hatte.4 Als 1531 der Halleysche Komet erschien, weilte Paracelsus gerade in St. Gallen. In aller Eile verfasste er einen theologischen Kommentar zu dieser Himmelserscheinung, die er als Mahnzeichen und Vorbote von politischen Veränderungen deutete, und schickte das Manuskript Leo Jud nach Zürich, der es unverzüglich drucken ließ.5 Vom offiziellen St. Gallen, und hier vor allem vom Reformator und Bürgermeister Vadian (Joachim von Watt, 1484 – 1551), blieb Paracelsus wie in Zürich jegliche Anerkennung verwehrt. Er widmete Vadian seine mehrteilige Schrift Opus paramirum,6 die einen Versuch darstellt, physiologische Vorgänge alchemisch zu erklären.7 Da Vadian ebenfalls ein theologisierender Arzt war, _____________ 2
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Urs Leo Gantenbein, Pia Holenstein Weidmann (Hrsg.), Paracelsus. Der Komet im Hochgebirg von 1531. Ein Himmelszeichen aus St. Gallen für Zwingli. Mit Beiträgen von Michael Baumann und Rudolf Gamper. Zürich: Chronos, 2006, hier S. 30. Klaus Deppermann, Schwenckfeld and Leo Jud. In: Schwenckfeld and Early Schwenckfeldianism. Ed. by Peter C. Erb. Pennsburg, Pa.: 1986, S. 211–236; Ders., Schwenckfeld und Leo Jud – ein denkwürdiger Briefwechsel über Nutzen und Nachteil der Staatskirche. In: Protestantische Profile von Luther bis Francke. Sozialgeschichtliche Aspekte. Hrsg. v. Thomas Baumann u.a. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1987, S. 65–90; Allgemeine Deutsche Biographie 14, 652; zu Jud vgl. auch Michael Baumann, Meyster Leo Jud (1482 – 1542), Prediger zuo Zürich. Über eine Widmung und deren Hintergründe. In: Paracelsus. Der Komet im Hochgebirg von 1531, hg. von Urs Leo Gantenbein und Pia Holenstein Weidmann. Zürich: Chronos Verlag, 2006, S. 103–116, mit weiteren Literaturangaben. Rudolf Gamper, Paracelsus und Vadian. Ihre Begegnung in St. Gallen. In: Paracelsus. Der Komet im Hochgebirg von 1531, hg. von. Urs Leo Gantenbein und Pia Holenstein Weidmann. Zürich: Chronos Verlag, 2006, S. 117–130, hier S. 120, Anm. 16.
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Vßlegung des Cometen erschynen im hochbirg/zuo mitlem Augsten/Anno 1531. Durch den hochgelertenn Herren Paracelsum, etc. [Zürich 1531]. Faksimile und Kommentar bei Gantenbein/Holenstein, op. cit.
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Theophrastus Bombast von Hohenheim, Paracelsus genannt: Bücher vnd Schrifften. 10 Teile und Appendix zum 10. Teil. Basel: Conrad Waldkirch, 1589–1591. Nachdruck Hildesheim u. New York: Georg Olms, 1971–1973, in der Folge zitiert als HW, hier HW 1, S. 67–237; Theophrast von Hohenheim, genannt Paracelsus: Sämtliche Werke. 1. Abteilung. Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften, hg. von Karl Sudhoff. 14 Bände. München u. Berlin 1922– 1933, in der Folge zitiert als SW, hier SW 9, S. 37–230. Urs Leo Gantenbein, Paracelsus und seine physiologische Alchemie in St. Gallen. In: Thomas Hofmeier u.a., Alchemie in St. Gallen. St. Gallen: Sabon, 1999, S. 13–18.
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hatte sich Paracelsus wohl erhofft, auf einen Gleichgesinnten zu treffen. Doch Vadian ignorierte Paracelsus völlig.8 Die meisten Autoren legen den Beginn von Hohenheims Auseinandersetzung mit der Theologie in das Jahr 1524.9 Nach seiner Promotion zum Doktor beider Arzneien, der Medizin und der Chirurgie, um 1515 in Ferrara und einer längeren Wanderzeit durch halb Europa hatte er damals erstmals versucht, sich in Salzburg als praktizierender Arzt niederzulassen.10 In die Jahre 1524/25 fallen Hohenheims erste datierte Schriften überhaupt, die sich mit theologischen Fragen beschäftigen.11 Es sind dies u.a. eine Schrift zur unbefleckten Jungfrau Maria,12 ein Traktat zur Dreifaltigkeit13 und die Septem punctis idolatriae christianae.14 Diese Polemik nimmt die Kirchenkritik der frühen Reformation auf und wurde von Katharina Biegger als „reformatorische Wende“ bezeichnet.15 Indes dürfte Hohenheims Beginn der Beschäftigung mit religiösen Fragen etwa fünf Jahre früher anzusetzen sein. In seinem Prologus totius operis christianae vitae, gedacht als Vorrede zu einem größeren Werk über das „selige leben christlicher wandlung“, spricht Paracelsus davon, dass er 20 Jahre lang daran gearbeitet habe: Darum ich mir diese vorrede in das selige leben christlicher wandlung zum ersten zu beschreiben fürgenommen habe, dann damit ich mich am ersten entledige meines aufzugs und verlängerung des schreibens in diesem werk, in dem ich in die zwanzig jahre angefangen und gearbeit hab. 16
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Vgl. Gamper, op. cit. Vgl. beispielsweise Kurt Goldammer, Paracelsus. Sozialethische und sozialpolitische Schriften. Aus dem theologisch-religionsphilosophischen Werk. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 1952 (=Civitas Gentium), 10; Alois M.Haas, Paracelsus der Theologe: Die Salzburger Anfänge 1524/25. In: Paracelsus und Salzburg, hg. von Heinz Dopsch u. Peter F. Kramml. Salzburg 1994, S. 369–382. Zur Biographie Hohenheims und zur Diskussion seiner Lebensdaten vgl. insbesondere Udo Benzenhöfer, Paracelsus. Reinbek bei Hamburg 1997 (=Rowohlts Monographien, 1290). Für eine Zusammenstellung der datierten frühen Schriften vgl. Alois M. Haas, Wie wurde Theophrast von Hohenheim zum Theologen? Sein Salzburger Aufenthalt 1524/25. In: 500 Jahre Paracelsus 1493–1541. Hrsg. v. Hans Jörg Keel u. Frank Nager. Sonderdruck aus der Schweizerischen Rundschau für Medizin (PRAXIS). Bern: Hallwag, 1994, S. 40–50, hier S. 42, mit weiteren Literaturangaben; zum theologischen Frühwerk des Paracelsus vgl. insbesondere Ute Gause, Paracelsus: Genese und Entfaltung seiner frühen Theologie. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 1993 (=Spätmittelalter und Reformation, Neue Reihe 4). Libellus de Virgine Sancta Theotoca, August 1524, die Edition erfolgt in der Neuen ParacelsusEdition, hg. von Urs Leo Gantenbein, Berlin u. New York: Walter de Gruyter, in der Folge abgekürzt als NPE, hier NPE 5. Liber de Sancta Trinitate, September 1524; Edition bei GE 3, S. 233–266. De septem punctis idolatriae christianae, verm. 1524/25, vgl. GE 3, XXVIf.; Edition bei GE 3, S. 1–57.
Katharina Biegger, „De Invocatione Beatae Mariae Virginis“. Paracelsus und die Marienverehrung. Stuttgart: Franz Steiner, 1990 (=Kosmosophie, 6), hier S. 34, Anm. 19. Prologus totius operis christianae vitae, NPE 1, S. 127.
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Sein langes Versäumen habe einerseits damit zu tun, „dass die jugend nit soll für der zeit aufgehn“, dass die Gedanken zum seligen Leben also einer gewissen Reifung bedurft hatten, andererseits hätten ihn „andere sachen“ aufgehalten, nämlich Werke zur Astronomie, Medizin und Philosophie, und nun wolle er einen „spätern herbst“ fallen lassen „zu der heiligen geschrift“: Zum anderen, nit allein mein jugend, sonder auch, dass mich andere sachen meiner fakultäten abgehalten haben, als die astronomei und auch die medizin und die werk der philosophei auch beschrieben würden, das ist, was da antrifft das liecht der natur. Und lasse einen spätern herbst fallen zu der heiligen geschrift, damit dieselbig wohl zeitig werd, bis in das end damit verzogen und das weniger zuvor abgefertigt.17
Ohne Zweifel meinte Paracelsus mit den „andern Sachen“ die Astronomia magna von 1537/38,18 verschiedene astrologisch-mantische Jahrespraktiken aus den Jahren 1537 – 1539,19 die Kärntner-Schriften von 1538 mit medizinischen Themen20 und die Philosophia magna naturphilosophischmagischen Inhalts, die ebenfalls in dieser Zeit anzusetzen ist.21 Damit fällt die Niederschrift dieses Prologs zum christlichen Leben in die Jahre 1539, 1540 oder sogar 1541. Nimmt man Hohenheims einleitende Bemerkung beim Wort, dass er nun schon zwanzig Jahre an diesen Schriften zum christlichen Leben gearbeitet habe, so fiele der Beginn seiner theologischen Tätigkeit auf die Jahre um 1520. Genau dieser Zeitpunkt markiert eine entscheidende Frühphase der Reformation, als Luthers deutschsprachige Schriften ihre Breitenwirkung zu entfalten begannen und die allgemeine Diskussion um eine Reform der Kirche entfacht war. Um Hohenheims theologische Denkweise verstehen zu können, soll dieser reformatorische Hintergrund kurz erläutert werden. _____________ 17 18 19
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Prologus totius operis christianae vitae, NPE 1, S. 127 f. Astronomia Magna: Oder, die gantze Philosophia Sagax der Grossen vnd kleinen Welt (1537/38; HW 10, S. 1–397; SW 12, S. 1–444). Dies sind u. a. die Practica Teutsch, auffs [15]37. Jahr (HW 10, fasc. 57–67; SW 11, S. 225– 237), die Practica teutsch auff das Tausent fünffhundert vnd XXXVIII. Jar (SW 11, S. 239– 249) und die Practica Theophrasti Paracelsi, Auff das Jahr nach Christi Geburt M.D.XXXIX. […] vnd ein Vnterricht allen Astronomis (HW 10, fasc. 67–78; SW 11, 251– 265). Die Verantwortung vber etliche Vnglimpfungen seiner Mißgönner (Sieben Defensiones; HW 2, S. 157–190; SW 11, S. 123–160), der Labyrinthus medicorum errantium (HW 2, S. 191–243; SW 11, S. 161–220) und Das Buch von den Tartarischen kranckheiten (HW 2, S. 244–339; SW 11, S. 15–121). Volumen primum Philosophiae de Diuinis Operibus et factis, et de Secretis Naturae (HW 9, S. 1–321; SW 14, S. 1–377; kommentierte Neuedition geplant in NPE 9). Sudhoff nahm an, dass der zweite Band dieser „Philosophia Magna“ von Paracelsus als „Philosophiae pars altera de vita beata“ konzipiert gewesen war und somit für die Vita-beata-Schriften vorgesehen gewesen wäre, vgl. SW 14,v.
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Luthers programmatische Schriften von 1520 leiteten von individueller Frömmigkeit zu einer allgemeinen Reformation über mit Konsequenzen für das persönliche, kirchliche und politische Leben, die in die sog. evangelische Bewegung einmündeten.22 Besonders Luthers Adelsschrift, der Trakat An den christlichen Adel deutscher Nation,23 lieferte der evangelischen Bewegung mit seiner Kirchenkritik und humanistischen Reformvorstellungen ihr Programm. Luther gab Antworten auf das religiöse Zentralproblem seiner Zeit, nämlich wie sowohl transzendentale Erlösung wie auch diesseitige Heilsgewissheit zu erlangen seien. Er stützte sich dabei maßgeblich auf die Rechtfertigungslehre des Paulus in der Interpretation des Augustinus.24 Das Besondere an der reformatorischen Theologie bestand darin, dass sie rein „evangelisch“, auf Grundlage der Evangelien und somit der Schrift entwickelt werden sollte („sola scriptura“).25 Die Rechtfertigung des Sünders geschah durch den Glauben, also nach dem Grundsatz „sola fide“, und durch Ausrichtung auf Christus („solo Christo“) als Vermittler des Heils. Alle anderen Lehren über Kirche, Sakramente und das christliche Leben ergaben sich durch Bibelexegese aus diesen Prinzipien. Bevor sich feste Lehrmeinungen und Konfessionen herausbilden konnten, herrschte unter den Theologen eine breite exegetische Vielfalt, die eifrig diskutiert wurde und noch bis 1521 kaum als Problem wahrgenommen wurde.26 Erst nach 1525, als Luther nach einer ersten großen schöpferischen Phase seine revolutionäre Ausnahmeexistenz aufgab, Frieden mit den Ordnungen der Welt schloss und sich vom singulären Propheten und Charismatiker zum institutionalisierten Konfessionsstifter wandelte,27 wurden Theologen mit abweichenden Lehrmeinungen zunehmend ausgegrenzt und verfolgt. Dazu gehörten Thomas Müntzer (1488/9–1525) mit seinen revolutionären Tendenzen und der Idee der Absonderung der wahren Christen von der Gemeinheit, der Spiritualist Kaspar von Schwenckfeld (1489 – 1561), der vom reinen Wirken des Heiligen Geistes ohne äußere Handlungen oder Sakramente überzeugt war, oder die Täufer mit der Wiedertaufe und sozialrevolutionär-kommunistischen Bestrebun_____________ 22
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Für das Folgende vgl. Wolf-Dieter Hauschild, Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte. Band 2. Reformation und Neuzeit. Gütersloh: Chr. Kaiser, Gütersloher Verlagshaus, 1999, hier S. 43, zur evangelischen Bewegung auch S. 49–58. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe). 72 Bde. Weimar: Hermann Böhlau Nachfolger, 1883–2007, hier S. 6, S. 381–469. Hauschild, S. 33 f. Hauschild, S. 275–277. Hauschild, S. 73. Kurt Goldammer, Paracelsus: Natur und Offenbarung. Hannover: Theodor Oppermann, 1953 (=Heilkunde und Geisteswelt, 5), S. 109.
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gen. Zu dieser Entwicklung hatte auch das Scheitern der Bauernkriege beigetragen, wodurch eine kirchliche Reformation von unten her durch den „gemeinen Mann“, also gepaart mit einer sozialen Reform, verhindert wurde, wohingegen sich Luthers Konzept der Fürstenreformation, gewissermaßen von oben her, als erfolgreich erweisen sollte. Für die von Luther als „Schwärmer“ apostrophierten Außenseiter verwendet die neuere Forschung den Begriff der „radikalen Reformation“,28 deren Repräsentanten es meist um vier Grundfragen geht: Sie erstreben eine reine Kirche der Gläubigen, lehnen die Heilsvermittlung durch Wort und Sakrament ab zugunsten eines im Glauben erfahrbaren praktischen Christenlebens, sind meist kritisch gegenüber der herrschenden Gesellschaftsordnung eingestellt und wollen eine Reformation, die sämtliche Lebensbereiche erfasst, nicht nur den kirchlichen. Schematisierend lassen sich mit Hauschild die radikalen Reformatoren in drei Gruppen unterteilen: apokalyptisch gestimmte Sozialrevolutionäre wie Thomas Müntzer, Spiritualisten wie Kaspar von Schwenckfeld und Sebastian Franck (1499 – 1542/3) und schließlich die Täufer.29 Paracelsus‘ theologische Bemühungen lassen sich nahtlos vor diesem Hintergrund verstehen. Von der Grundidee her, wenn auch nicht in der Ausführung, decken sich seine theologischen Themen mit jenen der evangelischen Bewegung, indem seine Theologie von einem beißenden Antiklerikalismus durchdrungen ist, sich auf Christus zentriert und zum größten Teil aus Schriftauslegung besteht.30 Weiter lehnen sich seine Auffassungen von christlicher Ethik, von der Rechtfertigung des Sünders, von Taufe und Abendmahl stark an die Reformatoren an, wenn sie auch durchsetzt sind von paracelsischer Eigentümlichkeit, und hier besonders in Bezug auf die Heils- und Erlösungsvorstellungen. Man kann Hohenheims Schriften zur Vita beata, dem wahren christlichen Leben, als Auseinandersetzung Hohenheims mit der Reformation bezeichnen. Dieses Buch von der Vita beata wird als Band 1 der Neuen Paracelsus-Edition diesen Herbst erscheinen. Auch noch in anderer Beziehung folgte Paracelsus auf der Spur des jungen Luther. Dieser rief nämlich ausdrücklich zum allgemeinen Priestertum aller Gläubigen auf und forderte die Laien auf, sie sollten die Träger der Reformation sein.31 Diesem Appell leisteten zahlreiche, vorwiegend _____________ 28 29 30
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Hauschild, S. 73–85. Hauschild, S. 75. Vgl. Hartmut Rudolph, Schriftauslegung und Schriftverständnis bei Paracelsus. In: Medizinhistorisches Journal 16 (1981), S. 101–124 (=Kreatur und Kosmos. Internationale Beiträge zur Paracelsusforschung, hg. von Rosemarie Dilg-Frank. Stuttgart u. New York: Gustav Fischer Verlag, 1981, S. 101–124). Hauschild, S. 43.
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junge Leute Folge und zogen als Wanderprediger durch das Land, um das „reine Evangelium“ und das „Wort Gottes“ zu verkünden.32 Obwohl sich Hohenheim dieser evangelischen Bewegung zwar öffentlich nie anschloss,33 so sind doch seine theologischen Schriften von ihrem Geist durchdrungen. Wenn heutige Paracelsusforscher gerne und zuweilen mit leicht abwertendem Unterton vom „Laientheologen“ Paracelsus sprechen, so ist dem nur zu entgegnen, dass die Legitimation dazu direkt auf Luther zurückgeht. Zweifelsohne kann man Paracelsus durch seine Außenseiterstellung und die eigentümliche Ausgestaltung seiner Theologie den radikalen Reformatoren beiordnen.34 Wohl mit Recht sieht Hauschild Paracelsus zusammen mit Schwenckfeld und Sebastian Franck in der Gruppe der Theologen, die ein individualistisches Geistchristentum vertraten, die sich von allen institutionellen Gemeinschaftsformen abkehrten und betonten, dass der durch Christus exemplifizierte Lebenswandel das Wesentliche an der evangelischen Bewegung sein müsse.35 Paracelsus ist nicht als ein eigentlicher Spiritualist zu bezeichnen, denn er betont mit Luther die Realpräsenz Christi beim Abendmahl: Anfänglich ist zu wissen, dass ein jeglicher seliger oder heiliger das sakrament (das ist das fleisch und blut Christi) in der substanz nehmt: materialisch und mit nichten im geist allein. Sondern es muss in der substanz gessen und getrunken werden und nit im geist ersticken. 36
Doch seine Lehre trägt spiritualistische Züge, indem Paracelsus eine Geistkirche im innern Tempel des Herzens postuliert und dem inspirierenden Wirken des Heiligen Geistes große Bedeutung beimisst: Darum so beten wir inwendig, nit auswendig mehr, nit im tempel sacerdot, sonder im tempel Christi, der unser leib ist. 37 Darum der geist geistet, wo er will, nit in allen, nit in vielen, sonder do, do es ihn lust. 38 dann ich habs von mir selbs nit erdacht. was ich geredt hab, das ist aus dem heiligen geist. also es ist das euangelium.39
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Hauschild, S. 55–58. Hauschild, S. 85. Rudolph äußert hier gewisse Vorbehalte, vgl. Hartmut Rudolph, Theophrast von Hohenheim (Paracelsus). Arzt und Apostel der neuen Kreatur. In: Radikale Reformatoren. 21 biographische Skizzen von Thomas Müntzer bis Paracelsus, hg. von Hans-Jürgen Goertz. München: Beck, 1978, S. 231–242; englische Ausgabe in: Profiles of Radical Reformers: Biographical Sketches from Thomas Müntzer to Paracelsus, ed. Hans-Jürgen Goertz and Walter Klaassen. Kitchener, Ont.: Herald Press, 1982 Hauschild, S. 83–85. De sacramento corporis Christi einzunehmen zur seligkeit, NPE 1, S. 502. Liber de re templi ecclesiastica, NPE 1, S. 353. Hierhin gehört auch Hohenheims Polemik gegen die „Mauerkirche“ als äußere Institution mit Gebäuden aus Stein im Gegensatz zu einer inneren Geistkirche, die die inneren Werte des Christentums hochhebt, vgl. De septem punctis idolatriae christianae, GE 3, S. 3–57. Liber prologi in vitam beatam, NPE 1, S. 153, in Anlehnung an Joh 3,8. De septem punctis idolatriae christianae, GE 3, S. 6.
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Hohenheims Weg ist auch in höchstem Grade individualistisch zu nennen, indem er nicht nur die Papstkirche verurteilte, sondern sich zeitlebens keiner der neuen Konfessionen anschloss und nach 1531 die großen Reformatoren sogar scharf kritisierte, so etwa im fingierten Dialog aus De confessione et penitentia et remissione: Luther sprech von herzen on falsch also lauter heraus, als Jacobus da lernet und heist: aus der hoffart hab ich das geschrieben […] die zehen gebot hab ich nicht recht ausgelegt, item das auch nit. das hab ich verstanden, das nit, aber alles für mich genommen […] ich ließ alles aus der federn laufen, überredt mich selbst, es wer alles recht. und auf die bekanntnus sprech Zwingli: und ich, Zwingli, bin all mein tag in huerenwinkeln gelegen und mein kunst bein huren gelert und all mein tag hoffertig gesein, und hat mich verdrossen, daß ich nit auch solt etwas mehr sein bei den groben paurn in Schweiz, hab das und das herfürgebracht, do ich fürwar in meinem herzen nit weiß ist es wahr oder erlogen.40
Den in den Evangelien vorgegebenen ethischen Leitlinien und soteriologischen Vorstellungen folgte Paracelsus wörtlich, sodass Rudolph sogar von einem „ethischen Rigorismus“ sprach.41 Wie schon Ute Gause bemerkt hatte,42 fordert Paracelsus als letzte Konsequenz der Schriftauslegung die eigentliche Imitatio Christi: Dann das müssen wir betrachten, dieweil Christus zur seligkeit gangen ist und uns ein fürbildung geben hat, dass wir also auch wie er sollen den weg gen himmel suchen in seinen fueßstapfen und ein jeglicher sein kreuz uf sich nehmen und ihm nachfolgen.43Dann got gibt uns in allen dingen ein exempel: also wie er, also wir auch.44
Hohenheims Bruch mit Luther dürfte sich bald nach 1525 angebahnt haben. Nach einer Phase der Wanderschaft durch halb Europa hatte sich Paracelsus spätestens im August 1524 in Salzburg45 als Arzt niedergelassen und dort mit seiner theologischen Schriftstellerei begonnen. Die Wirren der Bauernkriege erreichten das Salzburgerland bald darauf. 1525 erhoben sich die Unternehmer im Gold- und Silberbergbau von Gastein und Rauris gegen ihren Landesherrn Kardinal Matthäus Lang und nahmen alsbald Salzburg ein. Mit Sicherheit stand die Gesinnung Hohenheims auf der Seite der Bauern und Bergleute, denn immer wieder setzte er sich für die Sache der Armen und Verfolgten ein, beteuerte, dass das wahre christliche Leben am ehesten beim „gemeinen Mann“ zu finden sei: _____________ 40 41 42 43 44 45
De confessione et penitentia et remissione, GE 2, S. 391 f. Vgl. Hartmut Rudolph, Himmlische Magie und ethischer Rigorismus. Zur Frage der Einheit der Paracelsischen Laientheologie. In: Nova Acta Paracelsica N.F. 19 (2005), S. 53–66. Gause, Genese und Entfaltung, S. 97. Liber de martyrio Christi et nostris deliciis, NPE 1, S. 388. Auslegung des psalmen 111(112), GE 5, S. 158. Vgl. Heinz Dopsch, Paracelsus, die Reformation und der Bauernkrieg. In: Paracelsus und Salzburg, hg. von Heinz Dopsch u. Peter F. Kramml. Salzburg 1994, S. 201–215, hier S. 205.
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Da ich denn gefunden hab, dass im laien, in dem gemeinen mann, im baurn (wie sie dann am schmächlichsten ihren gegenteil schmähen können mit namen) die vollkommenheit christlichs seligs lebens am mehresten wohnet, bei den andern gar nichts.46dise arm arbeiter und ellend verdorben leut, den niemants helfen will […] die besitzen das reich der himeln47
In die Salzburger Zeit fällt die Abfassung eines Begleitbriefs an die Wittenberger Theologen Luther, Melanchthon und Bugenhagen, denen Paracelsus einen Kommentar zu den ersten fünf Kapiteln des MatthäusEvangeliums an schicken wollte, die für das reformatorische Gedankengut von besonderer Bedeutung sind.48 Auffallend ist der vertraute Ton, mit dem Paracelsus die Reformatoren anspricht, als „christliche brüeder“ und „brüderliche liebhaber der warheit in Christo“,49 die eine Bekanntheit mit den dreien suggeriert oder sogar auf ein früheres Zusammentreffen hindeutet. Es ist allerdings keine Antwort der Wittenberger überliefert. Wohl wurde eine solche auch nie verfasst, auch wenn der Brief trotz der Salzburger Wirren angekommen sein sollte. Luther hatte nicht nur fachtheologische Gründe, sich von Paracelsus zu distanzieren, den er wohl auch als einen der von ihm vehement bekämpften Schwarmgeister einstufte.50 Luther hatte sich auch öffentlich gegen die Bauernkriege gewandt,51 und so passte Hohenheims Nähe zur Bauernbewegung und sein Engagement für die Armen im Geiste schlecht zu seiner beabsichtigten Fürstenreformation, bei der Luther sich vor allem, um Erfolg zu haben, die Gunst der Mächtigen und nicht des „gemeinen Manns“ zu sichern hatte. Trotz dem Aufruf des jungen Luther an die Laien, Träger der Reformation zu sein, _____________ 46 47 48
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Prologus in totius christianae vitae, NPE 1, S. 129 f. Psalmus CVIII (109), GE 5, S. 108 f. Eine Teilabschrift des Briefs an die Wittenberger Theologen findet sich bei Karl Sudhoff, Versuch einer Kritik der Echtheit der Paracelsischen Schriften. II. Theil. ParacelsusHandschriften, gesammelt und besprochen von Karl Sudhoff. Berlin: Georg Reimer, 1899, abgekürzt als SH, hier SH S. 236 f. Die definitive Edition des Briefs erfolgt in NPE 2. Sudhoff bezweifelte die Echtheit des Briefs, vgl. SH S. 237, während stichhaltige Argumente für eine Echtheit aufgezählt werden bei Stephan Török, Die Religionsphilosophie des Paracelsus und ihr zeitgeschichtlicher Hintergrund. 2 Teile. Diss. theol. (masch.) Wien 1946, 2/98; Hartmut Rudolph, Einige Gesichtspunkte zum Thema „Paracelsus und Luther“. In: Salzburger Beiträge zur Paracelsusforschung 22 (1981), S. 9–26, hier S. 10 f.; Stefan Rhein, Melanchthon und Paracelsus. In: Parerga Paracelsica. Paracelsus in Vergangenheit und Gegenwart, hg. von Joachim Telle. Stuttgart: Franz Steiner, 1991, S. 57–73, hier S. 63 f.; Gause, Genese und Entfaltung, S. 162 f. Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften Görlitz, Cod. Th. VI. 146, 4°, S. 167. Zu Paracelsus und Luther vgl. Michael Bunners, Die Abendmahlschriften und das medizinisch-naturphilosophische Weltbild des Paracelsus. Diss. theol. (masch.) Berlin 1961, S. 148–151; Hartmut Rudolph, Einige Gesichtspunkte zum Thema „Paracelsus und Luther“. In: Archiv für Reformationsgeschichte 72 (1981), S. 34–54, und in: Salzburger Beiträge zur Paracelsusforschung 22 (1981), S. 9–26. Hauschild, S. 97; Will-Erich Peuckert, Die große Wende. Das apokalyptische Saeculum und Luther. Hamburg: Claassen & Goverts, 1948, hier S. 635–641.
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wird man sich in Wittenberg gehütet haben, sich mit einem theologisierenden Arzt und Eiferer einzulassen, denn nun ging es ja darum, die evangelische Konfession auf eine solide dogmatische Grundlage zu stellen. Nicht umsonst beklagte sich Paracelsus gegen Ende seines Lebens mit Bitterkeit, dass man ihm vorgehalten habe, dass er „als ein lai, als ein baur, als ein gemein mann“ nicht von der Heiligen Schrift reden, sondern sich an die gelehrten Theologen halte solle: Sonder ist mir entgegen gestanden ein anderer hauf und reich, der da gesagt: ‚Du als ein lai, als ein baur, als ein gemein mann, sollt von den dingen nit reden, was die heilig geschrift antrifft, sonder uns zuhören, was wir dir sagen; dabei bleiben und kein anderen solltu hören oder lesen, dann allein uns.52
Man kann verschiedene Phasen in Hohenheims theologischem Schaffen unterscheiden. Das Problem der Zuordnung einzelner Schriften zu diesen Zeitepochen liegt allerdings darin, dass Paracelsus nur wenige seiner Schriften datierte und diese somit indirekt aufgrund stilistischer und inhaltlicher Merkmale zu erfolgen hat. Die ersten datierten Schriften Hohenheims überhaupt stammen vom Salzburger Aufenthalt 1524/25, der ersten großen theologisch fruchtbaren Periode. Einzelne Traktate dürften indes früher anzusetzen sein, wie etwa die Schrift De sensu et instrumentis.53 In einigen Salzburger Schriften beschäftigt sich Paracelsus mit der Dreifaltigkeit Gottes54 und der Jungfrau Maria,55 deren Präexistenz und Unbeflecktheit er entschieden vertrat.56 Maria sei schon vor der Weltschöpfung da gewesen und, wie auch ihre Mutter Anna, unbefleckt empfangen worden.57 Hohenheim sah Maria als „himblische künigin“ und versuchte, sie als „gemahel gottes“ an der Seite Gott-Vaters in die Trinität einzuordnen.58 Sowohl mit seinen Trinitätspekulationen wie auch mit der _____________ 52 53 54 55
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Prologus in totius christianae vitae, NPE 1, S. 129. De sensu et instrumentis, GE 2, S. 83–91. Liber de Sancta Trinitate, GE 3, S. 235–266; vgl. die Beschreibung bei Gause, Genese und Entfaltung, S. 11–26. Zu den Marienschriften vgl. Katharina Biegger, „De Invocatione Beatae Mariae Virginis“. Paracelsus und die Marienverehrung. Stuttgart: Franz Steiner, 1990 (=Kosmosophie, 6), und dieselbe, Paracelsus über Maria - Weiblichkeit und Heiligkeit. In: Nova acta Paracelsica. N.F. 14 (2000), S. 3–18; Alois M. Haas, Paracelsus der Theologe: Die Salzburger Anfänge 1524/25. In: Paracelsus und Salzburg, hg. von Heinz Dopsch u. Peter F. Kramml. Salzburg 1994, S. 369-382. Die definitive Edition der Marienschriften erfolgt in NPE 5. Zum Frühwerk Hohenheims vgl. v.a. Gause, Genese und Entfaltung. Rudolph, Apostel der neuen Kreatur, S. 235. Hartmut Rudolph, Der Laientheologe: Arztberuf und religiöse Sendung, Kirchenkritik und Sozialutopie, Apostel der „neuen Kreatur“ und christlicher Magier. In: Paracelsus, Theophrast von Hohenheim. Naturforscher, Arzt, Theologe, hg. von Ulrich Fellmeth u. Andreas Kotheder. Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgemeinschaft, 1993, S. 55–62, hier S. 60; derselbe, Paracelsus. In: Theologische Realenzyklopädie, hg. von Gerhard Müller. Berlin u. New York: Walter de Gruyter, 1995, S. 699–705, hier S. 703.
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Immakulatätslehre stand Paracelsus dabei nicht allein, sondern knüpfte an bestehende mittelalterliche Traditionen an.59 Mit der eingangs schon erwähnten Schrift Septem punctis idolatriae christianae,60 die eine ätzende Kritik an der „Mauerkirche“ als erstarrter Institution darstellt, schloss sich Paracelsus dem reformatorischen Antiklerikalismus an. In diesen „sieben Punkten des christlichen Götzendienst“ wendet sich Paracelsus gegen die Institutionen und Gebräuche der alten Kirche, also gegen Zeremonien, die Messe, gegen Heiligenfeste, Wallfahrten, Fastengebräuche, aber auch gegen das Mönchswesen, Gelübde und den äußeren Prunk der Kirche, wobei der Papst als Irrlehrer erscheint und mit dem Antichristen identifiziert wird.61 Später, nach dem Tod Zwinglis 1531, distanzierte sich Paracelsus in einem Rundumschlag auch entschieden von den Täufern und den neuen Konfessionen: dann es werden auferstehn falsche propheten. dieselbigen werden sagen, wie sie dann ietzund in der welt seindt manigfältig. der sucht das euangelium zu Rom bei den Romanisten, der ander bei den zwinglisten, der dritt bei den lutherischen, der viert bei den tauferen. und das ist ohne zal zu nennen. das alles glaubens nit, wann es nimmer da ist.“62
Ebenfalls in die Salzburger Zeit fällt die Auslegung der ersten fünf Kapitel des Matthäus-Evangeliums,63 die die lange Folge der Bibelkommentare eröffnet, welche wiederum die Hauptmasse der theologischen Schriften Hohenheims ausmachen. Es war diese Exegese, mit gewichtigen Bemerkungen zur Genealogie Christi, zu Buße, Taufe und zu den Seligpreisungen der Bergpredigt, die Paracelsus mit einem Begleitbrief den Wittenberger Theologen senden wollte. Die 1525 durch den Aufstand der Bergleute hervorgerufenen Unruhen und die damit verbundene jähe Flucht Hohenheims aus Salzburg beendeten diese schriftstellerisch fruchtbare Zeit unversehens. Paracelsus sah sich genötigt, eine andere Existenzgrundlage zu finden, zunächst 1526 als angenommener Bürger von Straßburg, dann 1527 als Stadtarzt und _____________ 59 60 61
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Gause, Genese und Entfaltung, S. 71 f. GE 3, S. 1–57; Beschreibung bei Gause, Genese und Entfaltung,S.118–144; Haas, Paracelsus der Theologe, S. 45 f. Vgl. auch Kurt Goldammer, Paracelsus. Sozialethische und sozialpolitische Schriften. Aus dem theologisch-religionsphilosophischen Werk. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 1952 (=Civitas Gentium), 18, S. 38 f.; derselbe, Paracelsus: Natur und Offenbarung. Hannover: Theodor Oppermann, 1953 (=Heilkunde und Geisteswelt, 5), S. 89; Hartmut Rudolph, Himmlische Magie und ethischer Rigorismus. Zur Frage der Einheit der Paracelsischen Laientheologie. In: Nova Acta Paracelsica N.F. 19 (2005), S. 53–66, hier S. 56; derselbe, Paracelsus. In: Theologische Realenzyklopädie, hg. von Gerhard Müller. Berlin u. New York: Walter de Gruyter, 1995, S. 699–705, hier S. 701 f. Auslegung von Mt 24,23 aus De secretis secretorum theologiae, GE 3, S. 227. Beschreibung bei Gause, Genese und Entfaltung, S. 162–199; Edition in NPE 2.
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Professor in Basel.64 Selbstredend verlagerte sich der Schwerpunkt seiner Schriftstellerei auf medizinische Themen. Dort, auf dem nie wieder erreichten Höhepunkt seiner Karriere, versuchte er ein Reformprogramm durchzusetzen, das die herkömmliche Medizin in ihren Grundfesten erschüttern sollte. In wenigen Monaten hatte sich Paracelsus dadurch so viele Feinde geschaffen, dass ihm wieder nur die Flucht blieb. Nach Basel war Paracelsus ein gebrochener Mann, er sollte zeitlebens nie mehr sesshaft werden. In Nürnberg wurde 1530 der Druck seiner Bücher verboten, in St. Gallen traf er 1531 auf die schroffe Ablehnung Vadians. Es war die Zeit seiner größten persönlichen Krise, seiner weitgehenden Isolation, medizinisch wie auch theologisch, in der er sogar seinen Beruf als Arzt zeitweise aufgab und „in andere Händel“ fiel, wie er im Vorwort der Chirurgia Magna (1536) schreibt: Hab jhm viel nachgedacht/ daß die Artzney ein vngewisse Kunst sey/ die nicht gebürlich sey zugebrauchen/ nicht billich/ mit Glück zutreffen/ Einen gesund machen/ Zehen dargegen verderben. […] Hab abermals von jhr gelassen/ in andere Händel gefallen: Jedoch aber widerumb in dise Kunst gedrungen: Doch funden den Spruch Christi: Die gesunden dörffen keins Artzts/ allein die Krancken.65
Mit diesen „anderen Händeln“ meinte Paracelsus zweifelsohne die Theologie, der er sich nach den persönlichen Misserfolgen in Basel, Nürnberg und St. Gallen um 1531 ganz hingegeben hatte, um erst 1536 mit der Chirurgia magna wieder ein größeres medizinisches Werk vorzulegen, das zu Lebzeiten seinen größten schriftstellerischen Erfolg darstellte. Tatsächlich markieren die Jahre 1530 – 1535 eine Zeit äußerst produktiven theologischen Arbeitens, wo die meisten seiner theologischen Arbeiten entstehen. Angefacht wurde diese Hingabe zu theologischen Fragen durch ein tief empfundenes persönliches Leiden, das sich aus den Frustrationen seiner Arztkarriere ergab. Paracelsus musste bei der um 1530 entstandenen Auslegung von Psalm 118,5 direkt angesprochen gefühlt haben, als er festhielt: Alles das wir auf erden tun, ist nix dann trubsal […] dann wer ist im danz seins lebens sicher? […] darumb ist es nichts dann ein große trubsal, alls was an uns ist und was wir tunt. aus solcher trubsal und ellend uf diser welt hat David zum herren geschrien und ihn angeruft und ihm sein anliegen bekennt nach der lenge, und der herr hat ihm nach der breite verhort.66
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Über die Basler Zeit Auskunft gibt Robert-Henri Blaser, Paracelsus in Basel. Festschrift für Professor Dr. Robert-Henri Blaser zum 60. Geburtstag. Sieben Studien des Jubilars mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Kurt Goldammer. Muttenz/ Basel: St. Arbogast Verlag, 1979. Chirurgische Bücher vnd Schrifften/ deß […] Philippi Theophrasti Bombast/ von Hohenheim/ PARACELSI genandt. […] wider an tag geben […] Durch/ Johannem Huserum. Straßburg: Latzarus Zetzner, 1605, Bl. A6r. Auslegung des psalmen 117(118), GE 5, S. 232 f.
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Goldammer geht sogar so weit, in diesem Zusammenhang von einem „existenziellen Erlebnis“ Hohenheims zu sprechen.67 In den Jahren 1530 – 1535 entstehen der große Psalmenkommentar, sein umfangreichstes Werk überhaupt, dazu mehrere Auslegungen zum MatthäusEvangelium und viele weitere Schriften. In dieser Periode prägt Paracelsus auch den Begriff des „seligen lebens“, der Vita beata, als Inbegriff wahren christlichen Lebens und Heilsversprechens, dem es mit letzter Konsequenz nachzueifern gilt. Weiter prägte Paracelsus zu dieser Zeit den Begriff des „Limbus aeternus“, des ewigen Samens im Gegensatz zum sterblichen Samen Adams, der mit Christus in die Welt kam und im Abendmahlgeschehen auf den Gläubigen übertragen wird. Die Drucklegung der Chirurgia magna, Hohenheims großen Lehrbuchs der Chirurgie 1536 in Augsburg, stellt gleichsam einen Wendepunkt dar. Wie eingangs erwähnt, entstehen wieder umfangreichere medizinische und naturphilosophische Werke, die Astronomia magna (1537/38), die Kärntner Schriften (1538), die Philosophia magna und dazu mehrere astrologischmantische Jahrespraktiken (1537 – 1539). Es ist allerdings zu erwähnen, dass diese Schriften nicht rein medizinisch-naturphilosophisch sind, sondern mitunter umfangreiche theologische Erörterungen enthalten. Besonders die Astronomia magna stellt einen Versuch dar, Naturphilosophie und Theologie zu einer weitgespannten Synthese zusammenzufassen, die von ihrem Ideengehalt her äußerst komplex erscheint.68 Dem Licht der Natur wird das Licht des Heiligen Geistes entgegengestellt, der Inspiration von unten her tritt jene von oben entgegen, zur irdischen Philosophie tritt die himmlische.69 Nach Vollendung dieser umfangreichen Werke wandte sich Paracelsus wieder der Theologie an sich zu. 1540 schreibt er drei Zyklen von Predigten („sermones“), wohl gedacht als Ansprachen vor einem imaginären Publikum: einen Zyklus über den Antichristen, der zweite über die Zauberer und der dritte über die Pseudodoktoren.70 In diesen späten Predigten findet sich eine apokalyptisch gestimmte Endzeiterwartung, die _____________ 67 68
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Kurt Goldammer, Paracelsus: Natur und Offenbarung. Hannover: Theodor Oppermann, 1953 (=Heilkunde und Geisteswelt, 5), S. 73. Bunners, Abendmahlschriften; Dane T. Daniel, Paracelsus – Die Sakramentslehre und das Verhältnis von Religion und Naturwissenschaften in der wissenschaftlichen Revolution. In: Manuskripte, Thesen, Informationen (hrsg. Deutsche Bombastus-Gesellschaft) 16-2 (2000), S. 17–23. Hier knüpft Paracelsus an das patristische und scholastische Konzept vom „lumen naturale“ und vom „lumen divinum“ an, vom „lumen inferius“ und „lumen superius“, vgl. Wilhelm Matthießen, Die Form des religiösen Verhaltens bei Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus. Diss. phil. Bonn, Düsseldorf 1917. Teilabdruck (1–53) in: Paracelsus. Hrsg. v. Udo Benzenhöfer. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1993, S. 157–219, hier S. 164, Anm. 27. Sermones de antichristo, Sermones in incantatores, Sermones in pseudodoctores; die Edition erfolgt in NPE 6.
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zwar in früheren Werken schon latent nachzuweisen ist, nun aber akzentuiert erscheint, wohl im Bewusstsein des eigenen baldigen Endes, denn im März 1540 finden wir Paracelsus schwach und krank in Klagenfurt.71 In diese Zeit fällt auch, wie oben plausibel gemacht, Hohenheims Ansinnen, seinen Schriften zur Vita beata, an denen er 20 Jahre lang gearbeitet hatte, endlich eine abschließende Form zu geben. Krankheit und Tod haben dies verhindert. Es ist eine der Merkwürdigkeiten in Paracelsus‘ Leben, dass er, der mit Vehemenz gegen die Papstkirche gewettert und jegliche institutionalisierte Konfession abgelehnt hatte, sich nach seinem Tod am 24. September 1541 in Salzburg „alt breuchig“, das heißt nach altem katholischen Ritus beerdigen und am ersten, siebenten und dreißigsten Tag eine Totenmesse singen ließ.72 Hohenheim blieb auch zeitlebens im Gefolge seiner Mutter ein Gotteshauskind des Klosters Einsiedeln, wie dessen Leibeigene genannt wurden, und hatte damit nach herrschendem Recht dem Abt des Klosters das wertvollste Stück aus seiner Hinterlassenschaft zu vererben, in diesem Fall ein goldener Becher.73 Trotz dieser äußeren Hinweise, dass Paracelsus trotz allen seinen theologischen Zweifeln bei der Altgläubigkeit verblieben oder zu ihr zurückgekehrt war, stellt Goldammer fest, dass die Frage, ob Hohenheim nun Protestant oder Katholik war, letztendlich nicht beantwortet werden könne.74 Betrachtet man die theologischen Werke Hohenheims in der Übersicht, so lassen sich auf den ersten Blick einzelne thematische Gruppen erkennen. Nach rein äußeren Merkmalen, ohne etwaige innere Zusammenhänge zu berücksichtigen, unterteilte Goldammer die Theologika in fünf große Gruppen, in sogenannte Einzelschriften (Monographien), in Auslegungen zur Bibel, Abendmahlschriften, Sermones und Marienschriften.75 Die Einzelschriften trennte Goldammer in sechs Untergruppen auf: 1. Allgemeines zum „Seligen Leben“, Gott, Christus, Kirche, 2. Ethisches, _____________ 71 72
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Brief an Hans Ungnad, März 1540, SW 11, S. 294. Will-Erich Peuckert, Theophrastus Paracelsus. Stuttgart u. Berlin: Kohlhammer, 1944, S. 464; Biegger, De invocatione, 31; Heinz Dopsch, Paracelsus, Salzburg und der Bauernkrieg. In: Paracelsus (1493–1541). „Keines andern Knecht…“, hg. von Heinz Dopsch, Kurt Goldammer, Peter F. Kramml: Salzburg: Anton Pustet, 1993, S. 299–308, hier S. 263 f. Ernst-Louis Bingisser, Paracelsus und das damalige Einsiedeln. Einsiedeln, Verlag Schwyzer Hefte, 1993 (=Schwyzer Hefte, 59); Dopsch, Paracelsus, Salzburg und der Bauernkrieg, S. 255. Goldammer, Natur und Offenbarung, S. 91. Die erstmalige Präsentation seines Editionsprogramms findet sich in Goldammer, Natur und Offenbarung, S. 113–115, weiter in Kurt Goldammer, Das theologische Werk des Paracelsus. Eine Ehrenschuld der Wissenschaft. In: Nova Acta Paracelsica 7 (1954), S. 78– 102, mit Beschreibung des Editionsprojekts. Eine gute Übersicht bringt auch Biegger, De invocatione, S. 23–28.
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Soziales und Politisches, 3. Eheschriften, 4. Taufschriften, 5. Buß- und Beichtschriften und 6. Dogmatisches und Polemisches. Die Bibelauslegungen unterteilen sich in solche zum Alten und solche zum Neuen Testament. Zu den ersteren gehören der Psalmenkommentar, eine Exegese der Zehn Gebote sowie Kommentare zu Jesaia 1-4 und zum Buch Daniel. Die Auslegungen zum Neuen Testament beinhalten mehrere umfangreiche Kommentare zum Matthäus-Evangelium, die somit zu den bedeutendsten theologischen Schriften Hohenheims gehören. Weiter finden sich hier Fragmente zu anderen Evangelien und neutestamentlichen Briefen. Die Abendmahlschriften fassen Traktate zusammen, die von Hohenheims eigentümlicher Philosophie vom ewigen Samen handeln, der mit Christus in die Welt gekommen war und durch den sich der „alte Adam“ zum neuen Christusmenschen wandeln soll. Die Sermones, Predigten also oder innere Ansprachen, tragen das „sermo“ als Bezeichnung im Titel, während die Marienschriften selbstredend von der Jungfrau Maria handeln. Goldammer blieb es beschieden, etwa die Hälfte der Schriften dieses Editionsprogramms selber zu edieren, nämlich den größten Teil seiner „Einzelschriften“ mit Ausnahme der allgemeinen zum „seligen Leben“ und die alttestamentlichen Schriften. Der Rest ist Gegenstand der Neuen Paracelsus-Edition. Goldammers systematisch zwar bestechende Einteilung täuscht über die Tatsache hinweg, dass zwischen den einzelnen Gruppen zum Teil direkte innere Beziehungen bestehen, ja dass Zusammengehörendes der Systematik willen sogar auseinandergerissen wurde. So räumt Goldammer zwar selber ein, dass die Einzelschriften meist im Zusammenhang zu einem Werk De vita beata stünden76 und sprach etwas vage von „Schriften des vita-beata-Kreises“77, verzichtete jedoch darauf, deren inneren Zusammenhang zu rekonstruieren. Es besteht auch eine Evidenz, dass vier Einzelschriften, die Goldammer verschiedenen Untergruppen zuteilte, zusammen mit einer Abendmahlschrift eine Einheit bilden und im ersten Band der Neuen Paracelsus-Edition als Fünf Traktate zur Seligkeit vorgestellt werden. Die Trinitätsschriften edierte Goldammer bereits im Abschnitt mit den dogmatischen Einzelschriften,78 doch gehören sie zeitlich wie inhaltlich zu den noch ausstehenden Marienschriften, und somit hätte es sich rechtfertigen lassen, diese zusammen in einem Band zu edieren. Weiter fällt bei genauerer Untersuchung auf, dass weit mehr, wenn nicht fast alle theologischen Schriften Hohenheims exegetischen Charak_____________ 76 77
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Goldammer, Natur und Offenbarung, S. 113. Kurt Goldammer, Paracelsische Eschatologie. Zum Verständnis der Anthropologie und Kosmologie Hohenheims. 1. Teil. Die Grundlagen. In: Nova Acta Paracelsica 5 (1948), S. 45–85, hier S. 67. GE S. 3.
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ters sind, also nicht nur jene, die Goldammer der Gruppe mit „Auslegungen zur Bibel“ zuwies. So beziehen sich viele Einzelschriften und insbesondere auch die Abendmahlschriften auf Stellen aus den Evangelien oder den Paulusbriefen, und auch die Sermone stehen zumeist in Relation zu bestimmten Begebenheiten aus den Evangelien wie etwa zu den Wundern und Gleichnissen Jesu. Somit besteht Paracelsus‘ theologisches Werk, ganz im reformatorischen Sinn, über weite Strecken aus Schriftauslegung.79 Fragt man nach den Kerngedanken in Hohenheims Theologie, so steht sicherlich das reformatorische Element an erster Stelle. Dazu gibt es einige Leitmotive, die quer durch alle Schriften immer wieder aufscheinen und um die sich seine Gedanken gruppieren und entfalten. Seine Theologie ist insofern als evangelisch zu bezeichnen, als sie sich ganz stark am Evangelium orientiert. So findet man bei Paracelsus mehrere direkte Bezugnahmen auf dieses Schriftprinzip, freilich wiederum behaftet mit paracelsischen Eigentümlichkeiten. So hält er fest, dass in der Schrift zu erfahren sei, warum wir auf der Erde seien und was für Geschöpfe es gebe, und im Neuen Testament finde man, was uns Gott durch seinen Sohn Gutes getan habe: die geschrift sollen wir erforschen, warumb wir auf erden seindt. in der bibel fenden wir, was für creaturen seindt, und im neuen testament fenden wir, was guts uns gott geton hat durch sein son.80
Goldammer spricht sogar von einer Art „reformatorischer Worttheologie“ bei Paracelsus und von einer Lehre von der Realpräsenz Gottes in seinem Wort.81 So schreibt Paracelsus, wenn Gott nicht mündlich mit uns rede oder persönlich bei uns sei, so sei er doch im Wort Gottes unsichtbar vorhanden, und wo das Wort sei, da sei auch Gott: Also obschon gleichwohl gott nit mündlich mit uns redt oder persönlich bei uns ist, so ist aber sein wort bei uns. Wo dasselbige ist, do ist er auch, aber uns unsichtbar.“82Dieweil aber haben wir sein wort; und wo sein wort ist, da ist er auch. So es nu an seinem worte liegt, so muss es gehört werden.83
Allerdings wendet sich Hohenheim gegen eine wörtliche Auslegung, die allzusehr am Buchstaben haften bleibt, sondern der „verstand des buchstaben“ müsse von oben herab, von Gott kommen: _____________ 79
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Vgl. hierzu die ausführliche Untersuchung von Hartmut Rudolph, Schriftauslegung und Schriftverständnis bei Paracelsus. In: Medizinhistorisches Journal 16 (1981), S. 101–124 (=Kreatur und Kosmos. Internationale Beiträge zur Paracelsusforschung, hg. von Rosemarie Dilg-Frank. Stuttgart u. New York: Gustav Fischer Verlag, 1981, S. 101–124). Auslegung über die zehen gebott gottes, GE 7, S. 153 f. Goldammer, Natur und Erfahrung, S. 75 f. Liber de re templi ecclesiastica, NPE 1, S. 366. Ex libro de tempore laboris et requiei, NPE 1, S. 266.
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Hast die geschrift und sagst, da steht’s geschrieben, der buchstab errett dich nicht. Der verstand des buchstaben, der muss dich erretten, derselbig kommt von oben herab.84 Es leit nichts im buchstaben, wie er angesehen wird. Er hat viel auslegung, und ist doch nur eine allein: dieselbigen, so von oben herab, und all eins verstand, sunst ist alles verfüerung.85
Gerade als Arzt und Naturphilosoph sieht sich Paracelsus dazu prädestiniert, die mannigfaltigen Aussagen der Bibel, die oft einen Bezug zur Alltagswelt und Natur herstellen, richtig deuten zu können. So fordert Paracelsus in seiner Vorredt vber die vier Euangelisten86 (1532), dass es für die rechte Schriftauslegung nicht einen scholastischen Philosophen („Philosophus der Loickhen“) brauche, sondern einen Naturphilosophen, Arzt, Wundarzt, Astronom und Magus, der sich in den Dingen auskenne, von denen die Bibel spreche.87 Glauben, sagt er an anderer Stelle, könne sowieso nur aus richtiger Erkenntnis fließen, benötige also eine vernunftmäßige Grundlage: Alle ding ligen im erkanntnuß/ auß derselbigen fliessen alsdann die frücht gegen demselbigen: die erkanndtnuß gibt den glauben. Dann der Gott erkennt/ der glaubt in jhn. Der jhn nicht erkennt/ glaubt in jhn nicht: ein jetlicher glaubt als er kennt.88 glauben muß ein vernunftigen, verstendigen mann haben, der do weis, was er glaubt und was der glaub sei und was sein kreft seient. on dem ist der glaub nichts.89
So sind gerade die Matthäus-Kommentare voll von naturkundlichen und medizinischen Deutungsversuchen, die ein rein auf den Glauben gegründetes Religionsverständnis ausschließen.90 Paracelsus war ein Zweifler, der sehen und verstehen wollte, bevor er glauben konnte. Es verwundert deshalb nicht, dass sich Paracelsus vom Apostel Thomas angesprochen fühlte, der vom auferstandenen Christus einen Augenbeweis gefordert hatte: dann der glaub Christi soll ein wissen von gott haben und ein erkantnus und nit blindlich hindurch gehn, wie der Thomas.91
Bei aller Schriftnähe ist für Paracelsus jedoch nicht das geschriebene Wort die letzte Instanz, sondern der stets inspirierende Gott, der der „öbrist _____________ 84 85 86 87 88 89 90 91
Liber de sursum corda, NPE 1, S. 469 f. NPE 1, S. 471. Vorläufige Edition in SH S. 435–439, definitiv in NPE 2. Vgl. auch Urs Leo Gantenbein, Astrologie oder Heilige Schrift? Der Komet als Mahnzeichen. In: Paracelsus. Der Komet im Hochgebirg von 1531, hg. von Urs Leo Gantenbein und Pia Holenstein Weidmann. Zürich: Chronos Verlag, 2006, S. 87–101, hier S. 89 f. Labyrinthus medicorum errantium, HW 2, S. 231. Vom tauf der Christen, GE 2, S. 334. Vgl. Urs Leo Gantenbein, Gesundheit und Krankheit in den Matthäus-Kommentaren des Paracelsus. In: Salzburger Beiträge zur Paracelsusforschung 34 (2001), S. 47–72. De genealogia Christi, GE 3, 161. Vgl. hierzu Rudolph, Schriftauslegung, S. 124.
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Scribent“ ist: Also bleibt Gott inn allen dingen der öbrist Scribent / der erst/ der höchst/ vnnd vnser aller Text.92 Aufgrund solcher Aussagen bei Paracelsus und durch das besondere Verhältnis zwischen Natur und Offenbarung, wo Gott sich ständig in der Natur neu offenbart und den Menschen inspiriert, sieht Hartmut Rudolph Paracelsus nicht als Anhänger des Schriftprinzips.93 Dem ist entgegenzuhalten, dass sich in Hohenheims theologischem Schrifttum fast in jeder Zeile ein expliziter oder impliziter Bezug auf eine Bibelstelle nachweisen lässt. Seine theologische Argumentation geht also auf der ganzen Linie von der Schrift aus. In der Interpretation allerdings gibt er sich frei und klebt, wie bereits erwähnt, nicht am Buchstaben, sondern lässt vernunftmäßige Gründe einfließen, die sich mit seinem medizinisch-naturphilosophischen Weltbild vereinbaren lassen. Zu dieser Freiheit des theologischen Denkens passen auch Äußerungen, die eine mystisch zu nennende Annäherung an Gott belegen. Einerseits trägt der Heilige Geist hier die Funktion des ständigen Inspirators, der Künstler, Gelehrte, Ärzte und Erfinder beflügelt und ihnen die Gaben der Weisheit, des Wissens, des Glaubens, der Gesundmachung, der Weissagung und den Geist der Macht austeilt: Uf das folgt nun, dass eim jeglichen der geist geben wird, wie er ihn begehrt. Dem der geist der weisheit, dem andern der geist des wissens, dem der geist des glaubens, den andern der geist des gesundmachens, dem andern der geist der macht, den andern der geist der weissagung, dem andern der geist der zungen etc.94
Andererseits kann sich der Mensch um einen direkten Kontakt zu Gott bemühen, wie es besonders eindrücklich in der Vita-beata-Schrift Liber de sursum corda zum Ausdruck kommt, die wohl als das mystischste Werk Hohenheims bezeichnet werden darf. Paracelsus führt hier das Bild der Jakobsleiter an (Gen 28,12), die von jeher als Symbol für die mystische Begegnung mit Gott galt.95 Wir sollen unser Herz zu Gott richten, dann mache sich Gott von oben herab zu uns. Und so steigt „von einem augenblick zum andern“ immer wieder ein neuer Engel herab, der unser Licht wieder zu Gott trage: So wir nun unser herzen über sich zu gott richten, und richten die obsie in den himmel, so macht sich gott gegen uns von oben herab. […] Und von eim punkten zum andern, von einem augenblick zum andern allemal ein neuer engel steiget
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Labyrinthus medicorum errantium, HW 2, S. 228. Rudolph Liber de potentia et potentiae gratia dei, NPE 1, S. 381. Zum Bild der Jakobsleiter vgl. Karl Rahner, Über das Problem des Stufenwegs zur christlichen Vollendung. In: Zeitschrift für Askese und Mystik 19 (1944), S. 65–78; ebenfalls in: Ders., Schriften zur Theologie, Bd. 3, Einsiedeln 1956, S. 1–31.
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herab, der uns lern, der von uns unser licht wieder zue gott trag, was wir uf erden handlen und was er uns weiter zufügen will. 96
Gott wolle, dass wir allein bei ihm in der „obern schuel“ lernen und so „ohne unterlass“ zu ihm aufsehen sollen: Dann allein will gott, dass wir von ihm lernen und nit von andern. Darum soll unser herz zu ihm stehen und unser augen, uf dass die leitern der engel in unser herzen auf uns gericht werden und do kein feiren sei, dann gott will ohn unterlass, dass wir zu ihm ufsehen und do kein feiertag haben noch sabbat, auch im schlaf.97
Gerade durch diesen Gegenwartsbezug ist das Moment der Mystik bei Paracelsus gegeben, nämlich als ein Akt fortwährender Offenbarung Gottes, der im Gegensatz steht zu einer geschichtlich abgeschlossenen und sich nicht wiederholenden Kundgabe, die lediglich in der Schrift als dem Wort Gottes fortdauert. In diesem Sinne wäre das reformatorische Schriftprinzip ebenfalls durchbrochen. Ein weiteres mystisches Element findet sich in Hohenheims Petrusgestalt.98 Paracelsus nimmt Bezug auf Mt 16, wo Petrus als Erster erkannte, dass Jesus der Sohn des lebendigen Gottes sei. Jesus antwortete darauf, diese Erkenntnis habe Petrus einzig vom himmlischen Vater erhalten, er wolle deshalb seine Kirche auf diesen Felsen bauen und ihm die Schlüssel zum Himmel überreichen. Paracelsus führt dies weiter aus, Petrus habe diese Einsicht nicht aus dem Wissen der Gelehrten und naturkundigen Philosophen erhalten, sondern nur durch die direkte Offenbarung Gottes, und diese werde „ainem Jeglichenn petro“ zuteil, der Christus nachfolge.99 Das Erleuchtungserlebnis des Petrus wird somit für alle erfahrbar. Trotz dieser eindeutigen Hinweise wäre es sicherlich unrichtig, Paracelsus als Mystiker bezeichnen zu wollen. Goldammer verwies in dieser Frage auf den mystischen und den prophetischen Typ des religiösen Menschen nach Söderblom und Heiler.100 Während der mystische Typ nach _____________ 96 97 98
Liber de sursum corda, NPE 1, S. 468. NPE 1, S. 469. Gantenbein, Gesundheit und Krankheit, S. 50–52; Hartmut Rudolph, „Dass ein jeder ‚Petrus’ heisst“: Zur Petrusgestalt bei Paracelsus. In: Rosarium litterarum, Beiträge zur Pharmazie- und Wissenschaftsgeschichte. Festschrift für Peter Dilg. Hrsg. v. Christoph Friedrich, Sabine Bernschneider-Reif unter Mitarbeit von Daniela Schierhorn. Eschborn, Govi-Verlag, 2003, S. 273–283. 99 Erster Matthäus-Kommentar, Auslegung von Mt 16, Edition in NPE 2. 100 Goldammer, Natur und Offenbarung, S. 93–97, mit indirektem Bezug auf die folgenden Werke: Nathan Söderblom, Communion with Deity. In: Encyclopedia of Religion and Ethics 3 (1910), S. 738 ff.; Ders., Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte. Stockholm: Albert Bonnier; Leipzig: J. C. Hinrichs’sche Buchhandlung, 1913 (=Beiträge zur Religionswissenschaft, 1. Jg., 1913/1914, Heft 1); Friedrich Heiler, Das Gebet. Eine religionsgeschichtliche und religionspsychologische Untersuchung. Diss. theol. München 1917; 2. verm. u. verb. Aufl. München: E. Reinhardt, 1920.
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Auflösung der Zweiheit zwischen Kreatur und Gottheit strebt und mehr in sich geht, ist der prophetische Typ ethisch motiviert und kämpft für die Vision einer besseren Welt und die bevorstehende Weltvollendung. In Bezug auf das Frömmigkeitsbild Hohenheims stellte Goldammer nun eine „vollkommene Synthese“ dieser beiden Grundtypen fest, nicht zuletzt deswegen, weil die christliche Ethik und die daraus folgende soziale Gerechtigkeit, trotz aller Hinneigung zu einem losgelösten Geistchristentum, für Paracelsus vorrangig war. Zu Paracelsus‘ Auseinandersetzung mit der Reformation, die einen wesentlichen Teil seiner theologischen Bemühungen ausmacht, wurde bislang erst wenig geschrieben und geforscht.101 Gerade die Schriften zur Seligkeit und zur Vita beata sind in diesem Zusammenhang bedeutend. Es finden sich hier Aufsätze, die wohl wirklich als Einzelstudien zu verschiedenen Fragen gedacht waren, so z.B. die Schrift Vom Tauf der Christen,102 die sich mit dem Wesen der Taufe beschäftigt und sämtliche diesbezüglichen Bibelstellen heranzieht. Weiter bildet die Schrift De thoro legitimo eine ausführliche Sammlung der Schriftnachweise zur Ehe.103 Weiter lassen sich spezielle Gruppierungen von Traktaten erkennen, die gemeinsame Leitmotive aufweisen und einen inneren gegenseitigen Bezug aufweisen. Eine solche Gruppierung wird im ersten Band der Neuen ParacelsusEdition als die Fünf Traktate zur Seligkeit vorgestellt,104 die einen frühen Versuch einer christlichen Rechtfertigungslehre darstellen und zu Buße, Taufe, Abendmahl, zur Gerechtigkeit und der Bilderfrage Stellung nehmen (mit der Werknummerierung von NPE 1):105 B1. Liber de poenitentiis (Von der Buße) B2. Libellus de baptismate christiano (Von der christlichen Taufe) B3. Liber de sacramento corporis Christi, einzunehmen zur Seligkeit (Vom Sakrament des Fleisches Christi) B4. Liber de iustitia (Von der Gerechtigkeit bzw. Rechtfertigung) B5. Liber de imaginibus idolatriae (Von den Götzenbildern)
Buße bedeutet eine Abkehr von der Sünde, was die Voraussetzung für das Wirken der Gnade Gottes schafft. Die wahre Taufe erfolgt nicht durch das Eintauchen in Wasser, sondern durch den Heiligen Geist, der durch Christus vermittelt wird. Die Rechtfertigung des Sünders geschieht, ganz im Sinne der Reformation, durch die Gnade Gottes und nicht durch die _____________ 101 Mit Ausnahme etwa von Andrew Weeks, Speculative Theory and the Crisis of the Early Reformation. Albany: State University of New York Press, 1997 (=SUNY Series in Western Esoteric Traditions), und Charles Webster, Paracelsus. Medicine, Magic and Mission at the End of Time. New Haven and London: Yale University Press, 2008. 102 GE 2, S. 327–366. 103 GE 2, S. 165–243. 104 NPE 1, S. 477–527. 105 Vgl. die einleitenden Erläuterungen bei NPE 1, S. 81–83.
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institutionelle Kirche. Wie Luther ist Paracelsus im Liber de sacramento corporis Christi von der Realpräsenz Christi im Abendmahl überzeugt. Das dargebotene Fleisch und Blut Christi bildet die Nahrung für die Seele, durch das sie allmählich in den Auferstehungsleib hineinwachsen kann und so in neuer Leiblichkeit im ewigen Leben fortdauern kann. Der vierte Traktat De iustitia kommentiert den paulinischen Gerechtigkeitsbegriff aus dem Römerbrief. Die wahren Götzenbilder sind für Paracelsus nicht jene aus Holz und Stein, die als Symbole („bedeutungen“) einen gewissen Stellenwert haben, sondern die Geistlichen mit ihren prachtvollen Gewändern. Eine weitere große Gruppe von Traktaten bildet der Liber de vita beata, das Buch vom seligen Leben, das nur in zerstreuter und unvollendeter Form überliefert ist. Mit dem Begriff des „seligen Lebens“ ging Paracelsus über sein früheres Konzept der „Seligkeit“ hinaus. Während die Seligkeit das Nachleben nach dem Tod bedeutet, kann im seligen Leben bereits auf Erden ein Vorgeschmack auf die Ewigkeit erlangt werden. Man kann sogar sagen, dass das selige Leben auf Erden als Vorbereitung und Voraussetzung für die Seligkeit bzw. das ewige selige Leben nach dem Tod dient. Das selige Leben ist damit mit dem wahren christlichen Leben in der Nachfolge Christi gleichzusetzen.106 Deutlich erkennt man jedoch hinter diesen „Einzelschriften“, wie sie von Goldammer genannt wurden, ein Gesamtkonzept. Im ersten Band der Neuen Paracelsus-Edition wird deshalb eine Rekonstruktion versucht.107 Die 20 Traktate des rekonstruierten Liber de vita beata, für die als gemeinsames Leitmotiv die Nennung des „seligen Lebens“ postuliert wird, lassen sich in vier Hauptabschnitte einordnen, nämlich in I. Einleitung, II. Ethik, III. Kirchenlehre oder Ekklesiologie und IV. Erlösungslehre oder Soteriologie. Ein weiteres Leitmotiv besteht in der Idee des Wachsens und Fruchtbringens mit dem Ziel, für das ewige Leben gerüstet zu sein. Die Vollendung geschieht nicht erst nach dem Tod, sondern wird schon zu Lebzeiten angestrebt, eben im „seligen Leben“, das, wie gesagt, als Vorbereitung auf das ewige Leben bzw. die Seligkeit dient. I. EINLEITUNG A1. Prologus totius operis christianae vitae (Vorrede zum ganzen Werk über das christliche Leben) A2. Liber prologi in vitam beatam (Vorrede zum seligen Leben) A3. Liber de summo et aeterno bono (Vom höchsten und ewigen Gut)
_____________ 106 Vgl. Urs Leo Gantenbein, VITA BEATA. Paracelsus und das wahre christliche Leben. In: Manuskripte, Thesen, Informationen (hrsg. Deutsche Bombastus-Gesellschaft) 26 (2008), S. 26–34. 107 Zu den Einzelheiten vgl. NPE 1, S. 78–81.
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II. ETHIK A4. Liber de felici liberalitate (Von der glücklichen Freigebigkeit) A5. Liber de honestis utrisque divitiis (Von den zwei ehrbaren Reichtümern A6. Liber de virtute humana (Von der menschlichen Tugend) A7. Liber de officiis, beneficiis et stipendiis (Von Ämtern, guten Werken und deren Belohnung) A8. Liber de ordine doni (Von der Ordnung der Gaben) A9. Ex libro de tempore laboris et requiei (Von der Zeit der Arbeit und der Ruhe) A10. Liber de nupta, de alienis rebus non concupiscendis (Von der Angetrauten und von dem, das man nicht begehren soll) A11. Ex libro de magnificis et superbis (Von den Mächtigen und Hochmütigen) III. EKKLESIOLOGIE A12. Liber de religione perpetua (Von der immerwährenden Religion) A13. De ecclesiis veteris et novi testamenti (Von den Kirchen des Alten und Neuen Testaments) A14. Liber de re templi ecclesiastica (Zur Kirchenfrage des Tempels) IV. SOTERIOLOGIE A15. Liber de potentia et potentiae gratia dei (1533) (Von der Macht und Gnade Gottes) A16. Liber de martyrio Christi et nostris deliciis (Vom Leiden Christi und von unsern Freuden) A17. Liber de remissione peccatorum (Von der Sündenvergebung) A18. Liber de venerandis sanctis (Von der Heiligenverehrung) A19. Liber de resurrectione et corporum glorificatione (Von der Auferstehung und Verklärung der Leiber) A20. Liber de sursum corda (Vom Erheben der Herzen)
Der Liber de vita beata kann als eine anspruchsvolle Anleitung für das wahre Christenleben verstanden werden, das eben mit dem „seligen Leben“ identisch ist. Einleitend stellt Paracelsus im A2. Liber prologi in vitam beatam den Fruchtgedanken vor mit dem Bild vom guten Baum (Mt 7,17; 12,33), spricht zugleich aber auch die deutliche Warnung aus, dass die unnütze Spreu vom Weizen gesondert und ins Feuer geworfen werde (Mt 3,12). Überhaupt ist die apokalyptische Androhung einer ewigen Verdammnis bei einem „unseligen Leben“ im ganzen Werk durchaus präsent. Ganz in augustinischer und thomistischer Tradition stehend, wird Gott bzw. Christus im A3. Liber de summo et aeterno bono als höchstes Gut dargestellt, wodurch dem reformatorischen Christozentrismus Ausdruck gegeben wird. Die Schriften zur Ethik der Vita beata sind von Goldammer vorrangig ediert worden und haben nicht zuletzt deswegen bisher das größte Interesse erfahren. Die ethischen Richtlinien des Evangeliums, hier insbesondere die Bergpredigt und das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe, sollen bis zur letzten Konsequenz befolgt werden. Dies geht so weit, dass
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Paracelsus einen Verzicht auf individuellen Reichtum fordert im Sinne einer kommunistisch zu nennenden Güter- und Arbeitsteilung, bei der es keine Armut und Benachteiligung mehr gibt. Armut ist sogar das Ideal, das zum seligen Leben führt. Der Gemeinnutz soll vor dem Eigennutz stehen, der Reiche soll dem Armen und der Gemeinschaft geben, und diese Tugend nennt Paracelsus „Liberalität“, was mit sozialem Handeln gleichzusetzen ist. Im Rahmen einer christlichen Ständelehre ist es der Heilige Geist, der die Gaben verteilt, die es zur Erfüllung der Aufgaben in der Christengemeinde braucht, sei es für den Bauern, Handwerker, Arzt, Gelehrten oder den weisen und umsichtigen Herrscher. Die ekklesiologischen Schriften zeichnen die Hinwendung zu Gott als immerwährende Religion gegenüber anderen Formen geistlichen Strebens aus, stellen eine Theorie sich geschichtlich ablösender Kirchen vor und geben den Vorzug einer inneren Geistkirche, die sich im Herzen vollzieht und nicht in äußeren Formen erstarrt. Im soteriologischen Teil wird die Christozentrik nochmals hervorgehoben mit der Aufforderung zur Nachfolge Christi, wobei Christus die ewige Speise ist, die zur Erlösung führt. Die Rechtfertigung des Sünders geschieht durch den Glauben. Die Erbsünde wird durch die Taufe hinweggenommen, während neue Sünden durch Bekennen gegenüber dem Nächsten getilgt werden. Das Werk gipfelt in der Schrift A20. De sursum corda in der mystischen Aufforderung, das Herz zu Gott zu erheben, worauf sich Gott herunterneigt und den Menschen mit dem Heiligen Geist inspiriert und leitet. Einen weiteren wichtigen Gedankenkreis bilden die Abendmahlschriften des Paracelsus.108 Im Heilsgeschehen ist Christus die zentrale Figur, indem dieser als Vermittler auftritt zwischen dem alten, von Adam herstammenden Menschen und einem neuen Menschen, der neuen Geburt aus dem Heiligen Geist. Durch die unbefleckte Geburt brachte Christus einen neuen und ewigen Samen auf die Welt, der vom Samen Adams verschieden ist. Dieser unsterbliche Samen, von Paracelsus auch „Limus“ oder „Limbus“ genannt, bildet das Leitmotiv in den Abendmahlschriften. Paracelsus spricht von einer „untötlichen Philosophie vom ewigen Samen“. Christus verlieh diesen neuen Samen den Aposteln, und so vermochten sie Wunder zu wirken, Kranke zu heilen und Tote aufzuerwecken. Im seligen Leben kann jeder Christ diesen Samen erhalten, und _____________ 108 Zu den Abendmahlschriften, die in NPE 8 ediert werden, vgl. insbesondere Bunners, Abendmahlschriften; Hartmut Rudolph, Viehischer und himmlischer Leib: Zur Bedeutung von 1. Korinther 15 für die Zwei-Leiber-Spekulation des Paracelsus. In: Carleton Germanic Papers 22 (1994), S. 106–120 (=Studies in Honour of Joseph B. Dallett); Ders., Hohenheim’s Anthropology in the Light of his Writings on the Eucharist. In: Paracelsus. The Man and his Reputation. His Ideas and their Transformation. Hrsg. v. Ole Peter Grell. Leiden [etc.]: Brill, 1998, S. 187–206.
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somit wird die Nachfolge oder sogar die Imitatio Christi zum obersten Ziel im seligen Leben. Nicht der Tod Christi am Kreuz ist das zentrale, heilsvermittelnde Ereignis, sondern das Erscheinen des ewigen Samens mit Christus. Die individuelle Auferstehung geschieht durch einen allmählichen Wachstumsvorgang der Seele, genährt durch die himmlische Speise des Fleischs und Bluts Christi. Wohl einer der zentralsten Begriffe in der paracelsischen Theologie ist der der Liebe. Wie man aufgrund einer statistischen Auswertung der Wortvorkommnisse in den verschiedenen Traktaten zur Vita beata und zur Seligkeit ersehen kann, sind diese durchdrungen vom Gedanken der christlichen Liebe und Barmherzigkeit.109 Dadurch wird der LiebeGedanke zum Leitmotiv dieses Schriftencorpus. Paracelsus stützt sich in seiner Argumentation vor allem auf das evangelische Gebot der Gottesund Nächstenliebe (Mt 22,37-40 par., Joh 13,34) und auf den ersten Korintherbrief, worin Paulus von Glaube, Liebe und Hoffnung spricht und darunter die Liebe als das Höchste erachtet (1. Kor 13,13). Daraus zieht Paracelsus weitreichende Konsequenzen sowohl für das religiöse Streben wie auch das soziale Leben. Das Gebot der Nächstenliebe nach Johannes nimmt Paracelsus zum Ausgangspunkt seiner Ethik: Darauf wissen, dass Christus am letzten gebotten hat seinen jüngern: ‚Ein neues gebott gib ich euch, dass ihr einander lieben.‘ [Joh 13,34] Ist das gebott nit der heiden gebott, und ist ein alt gebott? Aber ein neues gebott ist es gesein unter den juden, das ist bei seinen zwelf apostlen. […] Darum so gebiet ich euch, lieben euch einander. Dann so wir einander lieben, so halten wir alle gebott, ob wir schon nit wissen, wie sie heißen oder was sie seind. Solch gebott ist durch Johannem evangelisten geschrieben und wohl erklärt worden, dass Christus fürgehalten hat die lieb untereinander.110
Liebe bedeutet einerseits, dass die Menschen einander ihre Fehler und Vergehen verzeihen sollen, wenn sie das selige Leben erlangen wollen: Dass wir einander verzeihen, so verzeicht uns gott auch; dass wir auch einander lieben, so liebt uns gott auch. So die liebe bei uns ist, was ist seliger dann das? Ist nun das das selig auf erden, so ist auch das reich gottes bei uns.111
Andererseits fordert Paracelsus aufgrund dieses Gebots den sozialen Ausgleich, dass dem Bedürftigen in der Not beigestanden werden und der Reiche dem Armen geben soll: Nun erfordert die liebe ein ordnung, dass ein teil dem andern sein kreuz helf tragen und mitleidig sei.112 Nun sich [siehe], so die liebe bei uns wäre, so hätt jedermann gnueg, von jugend
_____________ 109 110 111 112
Vgl. NPE 1, S. 84 f. De ecclesiis veteris et novi testamenti, NPE 1, S. 332. Liber de honestis utrisque divitiis, NPE 1, S. 203 f. Liber de ordine doni, NPE 1, S. 252.
Paracelsus als Theologe
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auf bis in sein tod. Nun soll die liebe bei den reichen sein, bei den, die den nutz der erden hont. Ist sie do, wie selig ist die erden, die das volk trägt. Ist sie nit do, so wachsen do dieb, mörder und dergleichen, und ein iglicher sinnet ihm nach, wie er auch reich werd.113
Wird nun diese Liebe gegen Gott und dem Nächsten aktiv gelebt, und dies mit aller Konsequenz, und wird an die Erlösung geglaubt, die sich durch Buße, Taufe und Abendmahl ergibt, so eröffnet sich für Paracelsus die Hoffnung auf das Himmelreich und damit das ewige Leben: Dann uf erden ist das selig leben, dass wir glauben im tauf und lieben gott. So wir das tunt, alsdann so mügen wir hie uf erden die hoffnung haben, dass wir werden eingohn in das reich der himmel und do bei gott ewig wohnen.114 Das ist die höchst liebe und die ewig lieb. Durch die liebe müssen wir den himmel erlangen und das ewige leben und weiter in keiner andern liebe. Dann wo der mensch sein liebe hinsetzt, do setzt er auch sein hoffnung. Setzt er sein liebe in menschen, so hat er auch sein hoffnung in menschen. Jetz ist der mensch sein gott, und er ist von gott, darum ist er abgott. Der gott lieb hat, der liebt alles, das gott liebet.115
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Paracelsus die wesentlichen Elemente der frühen Reformation aufnahm, so die Lehre der Rechtfertigung durch den Glauben, das Schriftprinzip und den Christozentrismus. Das Evangelium dient als Leitschnur zur Imitatio Christi und wird bis zur letzten Konsequenz befolgt, sei es im spirituellen oder im sozialen Bereich. Trotz aller Schrifttreue sucht Paracelsus nach vernunftmäßigen und zuweilen naturphilosophischen Erklärungen der Aussagen der Bibel, die den Glauben bestärken können. Paracelsus kann weiter eher zu den Spiritualisten gezählt werden, da er eine Geistkirche gegenüber einer institutionalisierten Kirche bevorzugt und dem freien Walten des Heiligen Geistes große Bedeutung beimisst. Neu bei Paracelsus sind die Begriffsbildungen des „seligen Lebens“ (Vita beata) und des „ewigen Samens“ (Limbus aeternus). Das richtig gelebte selige Leben auf Erden dient als Vorgeschmack oder sogar als Voraussetzung für das ewige Leben nach dem Tod. Der im Abendmahl vermittelte Limbus fungiert als materiell gedachte himmlische Speise, die der Seele Christus einverleibt und die Imitatio Christi ihrem Höhepunkt zuführt. Somit hatte Paracelsus als radikaler Reformator eine eigenständige Theologie entwickelt, die auf den Grundgedanken der Reformation aufbaut.
_____________ 113 Liber de summo et aeterno bono, NPE 1, S. 177. 114 Liber de venerandis sanctis, NPE 1, S. 428. 115 Liber de venerandis sanctis, NPE 1, S. 429.
Zu den sozialpolitischen Schriften des Paracelsus Wolfgang Beutin Für Maria und Wilhelm Nölling, auf Hohe Leuchte (in Grönwohld, Kreis Stormarn), in freundschaftlicher Verbundenheit. „Die Erde ist der Menschen, keines mehr denn des andern.“ Paracelsus
Voraussetzungen Sozialpolitik im 16. Jahrhundert? Die Begrifflichkeit Sozialpolitik, sozialpolitisch lässt in der Gegenwart an staatliche Maßnahmen denken, die bestimmt sind, die Verhältnisse der Menschen im gesellschaftlichen Leben, vor allem in der Arbeitswelt, in der Familie, in Jugend und Alter in gesetzlicher Form und praktisch verbessernd umzugestalten. Sozialpolitik in diesem präzisen Sinne war zuerst gegen Anfang des 19. Jahrhunderts aufgekommen. Wegen des starken sozialpolitischen Engagements, das sich in einer Reihe bedeutender Schriften des Paracelsus ausdrückt, haben Herausgeber gelegentlich diese gleichwohl – mit dem modernen Begriff – als sozialpolitisch vom übrigen Textcorpus gesondert. Die dazu gerechneten Traktate sind zumeist dem Liber de vita beata desselben Verfassers entnommen bzw. gehören in den Umkreis von dessen Liber.1 _____________ 1
Wegen der „sozialpolitischen Traktate“ im Einzelnen vgl. die Ausgabe: Theophrastus Paracelsus, Werke. Bd. IV: Theologische, religionsphilosophische und sozialpolitische Schriften, hg. von Will-Erich Peuckert, Darmstadt 1976, S. 207–265. (Nach dieser Ausgabe wird in der vorliegenden Abhandlung zitiert.) Es gelten folgende Siglen: Liber de honestis utrisque divitiis (Von den zwei ehrbaren Reichtümern) – L De virtute humana (Von der menschlichen Tugend) – V De ordine doni (Von der Ordnung der Berufe) – O Ex libro de tempore laboris et requiei (Über die Arbeitszeit und Muße) – T De generatione et destructione regnorum (Vom Entstehen und Niedergang der Reiche) – G Während der Tagung, worüber der vorliegende Band berichtet, wies ein Teilnehmer in der Diskussion darauf hin, dass der Titel De vita beata der Tradition angehöre. So begegnet er bei Seneca (ca. 4 v. Chr. – 65 n. Chr.). Dies Werk ist leicht greifbar in der Übersetzung von
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Freilich bleiben die Unterschiede unverkennbar. Abgesehen davon, dass die alteuropäische Gesellschaftsordnung, wie sie im 16. Jahrhundert bestand, ein wesentlich anderes Antlitz zeigte als die moderne – die überkommene veränderte sich im Verlauf der Jahrhunderte stark, besonders rasch seit der Französischen Revolution 1789 –, so fällt vor allem ins Gewicht, dass in der Ära des Paracelsus kein Staat vorhanden war, der sich als Träger einer Sozialpolitik moderneren Zuschnitts verpflichtet hätte, so wenig wie es eine Verfassung gab mit dem darin verankerten Auftrag, eine sozialpolitische Gesetzgebung zu schaffen; – sodass sozialpolitische Forderungen nicht an den Staat zu richten waren, nicht an ihn gerichtet werden konnten. An wen dann; an welche verwirklichende Instanz? Paracelsus meinte: An alle; an alle Christen; an alle, die es betraf. Aber an alle, hieß das nicht auch: an eine beliebige Instanz; gar: an so gut wie keine? Ferner ist die Kompetenzfrage mit zu bedenken: Des Paracelsus sozialpolitische Traktate enthalten die Überlegungen eines Mediziners, sind Ausschnitte aus der Gedankenwelt eines rastlos umgetriebenen, eines zweifellos überdurchschnittlich gebildeten, auch Soziales überdurchschnittlich scharf diagnostizierenden Arztes, eines „apokalyptischen Humanisten“, wie ihn Pirmin Meyer definiert2, doch keineswegs eines spezialisierten Sozialpolitikers oder Forschers im heutigen Sinne. Nicht zufällig exemplifiziert Paracelsus also bestimmte Sachverhalte am Beispiel des Arztberufs. Was konnte der Arzt und apokalyptische Humanist an Reflexionen, an Kritik, an Polemik, an Reformvorschlägen vortragen, in welchen Bereichen hatte er sich umgesehen, welche Nöte der Zeit festgestellt? Die Antwort darauf soll in der vorliegenden Abhandlung gesucht werden. Um aber die Konturen der paracelsischen sozialpolitischen Reflexionen klar herauszuarbeiten, wird zuvor eine kleine Übersicht vonnöten sein, die veranschaulicht, was Sozialpolitik – bzw. mit dem benachbarten Terminus: eine Sozialordnung – in der Gegenwart sei (bzw. sein könne), dies der Kürze wegen lediglich in Stichworten. Sie entnehme ich einem Aufsatz von Wilhelm Nölling, der in zwei Teilen im Druck erschien: „Die Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland“.3 Eingangs definierte Nölling: Unter der Sozialordnung eines Landes versteht man einmal die Bestimmungen (Normen), Einrichtungen (Institutionen) und Verhaltensweisen, die die wirtschaftlich begründete soziale Stellung des einzelnen, wie sie durch Beruf und Ausbildung,
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Ludwig Rumpel. In: Seneca, Vom glückseligen Leben und andere Schriften (Auswahl), hg. von Peter Jaerisch, Stuttgart 1953, S. 63–94. Mündliche Äußerung während der Tagung in St. Gallen. In: Informationen zur politischen Bildung, 2 Teile, Bonn 1968/70, Folge 131 sowie Folge 138.
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Einkommen und Vermögen bzw. Einkommens- und Vermögenslosigkeit bestimmt wird, beeinflussen. Daneben regelt die Sozialordnung, welche Aufgaben den am Wirtschaftsleben beteiligten und als soziale Interessenvertretungen gegründeten Gruppen (wie Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden) zukommen sollen und welche Rolle der Staat bei der Gestaltung der sozialen Beziehungen spielt. Durch die Sozialordnung werden also die wirtschaftlich begründeten sozialen Beziehungen nicht allein den Gesetzmäßigkeiten und Bedingtheiten des Wirtschaftslebens überlassen, sondern im Sinne ethischer Normen wie sozialer Gerechtigkeit und Menschenwürde bewußt um- und neugestaltet. Wirtschaftsordnung und Sozialordnung sind Teilordnungen des gesellschaftlichen Lebens, die sich in hohem Maße gegenseitig bedingen und häufig gedanklich und praktisch schwer zu trennen sind.4
Die Übersicht zerfällt in drei Teile: Grundlagen / Die Ordnung des Arbeitslebens / Das System der sozialen Sicherung.5 Grundlagen Begriff und Inhalt der Sozialordnung / Die Entstehung des Problems der Sozialordnung: Industrialisierung und die strukturelle Schwäche des Produktionsfaktors Arbeit – Dynamik des Wirtschaftslebens – Dynamik der Bevölkerungsentwicklung – Gesellschaftliche Erschütterungen und Katastrophen – Weiterentwicklung sozialpolitischer Ziele / Die Sozialordnung im Sinne des Grundgesetzes: Würde des Menschen und freie Entfaltung seiner Persönlichkeit – Rechts- und Sozialstaatlichkeit – Schutz von Ehe und Familie – Gleichberechtigung von Mann und Frau – Arbeits- und Berufsfreiheit – Koalitionsfreiheit / Die Träger der Sozialordnungspolitik: Der Staat – Die Sozialpartner (Die Gewerkschaften; die Arbeitgeberver-bände) – Selbstverwaltungskörperschaften der Wirtschaft (Kammern) – Internationale und supranationale Organisationen. Die Ordnung des Arbeitslebens Recht auf Arbeit und die Vollbeschäftigungspolitik / Berufsaufklärung, Berufsberatung und Arbeitsvermittlung / Organisation der Berufsausbildung und Förderung der beruflichen Bildung: Organisation der Berufsausbildung – Förderung der beruflichen Bildung (Individuelle Förderung …; Institutionelle Förderung …) / Schutz des arbeitenden Menschen im Leistungsprozess: Schutz durch staatliche Normen (Schutz vor Willkür des Arbeitgebers; Schutz vor körperlichen und gesundheitlichen Schäden [Arbeitsschutz]; Sonderschutz für bestimmte Arbeitnehmergruppen) – Schutz der Arbeitnehmerschaft durch Beteiligung der Arbeitnehmerschaft an der Gestaltung der Arbeitsbedingungen (Die Rolle der Gewerkschaften; Die Rolle der Betriebsräte; Der Streit um die Ausweitung der Mit_____________ 4 5
Ebd., 134,2–3. Ebd., 134,2 u. 138,2.
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bestimmung) – Die Austragung von Konflikten (Schlichtungswesen; Der Arbeitskampf; Arbeitsgerichtswesen; Konzertierte Aktion). Das System der sozialen Sicherung Inhalt, Ziele und Gestaltungsprinzipien / System der Sozialversicherung: Historische Entwicklung und gegenwärtige Organisation – Die Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten – Die Gesetzliche Krankenversicherung – Die Gesetzliche Unfallversicherung – Die Arbeitslosenversicherung und Arbeitslosenhilfe / Sozialhilfe / Kriegsfolgeleistungen: Die Kriegsopferversorgung – Der Lastenausgleich / Soziale Wohnungspolitik / Ausbildungsförderung / Familienpolitik / Eigentumspolitik / (Das Thema im politischen Unterricht). Obwohl nicht zu verkennen ist, dass die Anfänge, Ansätze oder Entwürfe einiger der in dieser Übersicht benannten Normen, Einrichtungen und vielfältigen praktischen Maßnahmen bereits im Mittelalter lagen, mehrere zusätzliche in der frühen Neuzeit, erweist doch ein Vergleich der Übersicht, worin sich die Beschaffenheit der Sozialordnung um 1968 spiegelt – mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit des 16. Jahrhunderts und die weitreichenden Unterschiede. Tragen auch die Einsichten und Verbesserungsvorschläge des Paracelsus ausschließlich das Siegel ihrer Epoche, oder wiesen diese doch schon ein Stück hinein in künftige Jahrhunderte, nahmen sie Entwicklungen der späteren Epochen vorweg? Bibel, Theologie, Theologumena grundlegend Als ein ganz Anderes in der paracelsischen Gedankenwelt, misst man sie an einem sozialpolitischen Lehrwerk des 20. Jahrhunderts, erweist sich auf den ersten Blick sofort ihre theoretische Grundlage. In der Gegenwart können Literaturinteressierte, die in der Regel ja säkular gestimmt sind und sich bevorzugt weltlicher Lektüre widmen, nur eher ausnahmsweise religiöser, kaum mehr erahnen, in welchem Maß ein Großteil des Schrifttums selbst noch in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts durch Bibel, Theologie und Theologumena determiniert war. Wer es auf sich nimmt, in die Quellen jener Epoche einzudringen, wird es alsbald registrieren: ohnehin in den Beispielen der religiösen Gattungen, worin Theologen, Reformatoren, Kontroverstheologen u. a. zu Wort kamen, zudem aber ebenfalls in manchen Bereichen der weltlichen Literatur, vor allem in den erörternden. Das gilt auch für die sozialpolitischen Schriften des Paracelsus, diejenige Gruppe von Traktaten, die neuere Herausgeber unter einem Begriff rubrizierten, welcher in ihrer Entstehungszeit noch sehr in der Ferne lag. Eine unbefangene Leserschaft, der die
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Literatur jener Epoche wenig vertraut ist, wird beim Stichwort sozialpolitisch auf den ersten Blick notwendig an sehr anderes Textmaterial denken als das, was sie dann in der Werkausgabe tatsächlich vorfindet. Bei der Untersuchung des gedanklichen Fundaments paracelsischer Traktate trifft man auf so viel Biblisches und Theologisches, dass sich kaum ein Unterschied feststellen lässt, wenn man sie mit den ökonomischen und sozialpolitischen Programmen eines berühmten Zeitgenossen des Paracelsus vergleicht, eines der gründlichsten Theologen der Ära, welcher zugleich als Reformator wirkte, dabei eine geistliche Revolution auslösend (mit bemerkenswerten weltlichen Ingredienzien und Folgen überdies). Von Martin Luther wissen vermutlich bloß die Spezialisten der Forschung, dass er tatsächlich ein ausgesprochen sozialpolitisches Œuvre hinterließ; – der Reformator, zugleich Sozialpolitiker, „Ökonom“ sogar, „der erste bedeutende bürgerliche Ökonom Deutschlands überhaupt“?6 In der Grundlegung der sozialpolitischen Traktate des Paracelsus und Luthers zeigen sich auffällige Gemeinsamkeiten in Fülle. Diese resultieren keinesfalls jedoch daraus, dass die Verfasser einander beeinflusst hätten, geschweige dass ein Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen ihnen bestanden hätte. Paracelsus hat nicht zufällig darauf beharrt, dass Luthers Werk und Wirken das eine sei, sein eigenes Werk und Wirken ein anderes, jenes und dies getrennt zu halten, und dass ihrer beider Persönlichkeit allenfalls in einem zusammenklinge: im Umstand der Verfolgungssucht ihrer jeweiligen Gegner.7 Tatsächlich entwarfen Paracelsus und Luther ihre je eigene Gedankenwelt, jeder eine in beträchtlichem Maße originale – weshalb ihre gedruckte Hinterlassenschaft noch 500 Jahre später eindringlich studiert wird, eine Bemühung, die beide Autoren fraglos verdienen. Sie gehörten in der damaligen Epoche zu den konstruktiven Publizisten, die daran arbeiteten, die vorhandenen Zustände in Kirche und Gesellschaft einer eindringlichen Kritik zu unterwerfen, um Möglichkeiten der Reform auszutarieren – selbst einer radikalen –, dies in polemischen und programmatischen Schriften, alles „vorgetragen mit methodisch bohrendem Zweifel von einigen sich weit vorwagenden Geistern“.8 _____________ 6
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So Günter Fabiunke. In: Martin Luther als Nationalökonom, Berlin 1963 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin / Schriften des Instituts für Wirtschaftswissenschaften, Nr. 15), S. 5. Vgl. die Paracelsus-Äußerung: „Du weißt wohl, ich laß Lutherum sein Ding verantworten, ich will das mein selbst verantworten: … Warumb tut ihrs? Darumb, ihr verhoffet, Luther werdt verbrennt, und Theophrastus soll auch verbrennt werden …“ (Hans Kayser, Schriften Theophrasts von Hohenheim genannt Paracelsus, Leipzig 1921, S. 131). Kurt Goldammer, „Friedensidee und Toleranzgedanke bei Paracelsus und den Spiritualisten / I. Paracelsus“. In: Archiv für Reformationsgeschichte 46 / 1955, Nr. 1 / 2, S. 20–47; hier: S. 24. Der Verf. analysiert im Wesentlichen die politischen Vorstellungen des Autors (mit gele-
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Zu den Avantgardisten dieser Art gehörte ohne Zweifel Paracelsus. Indessen baute er, wie es nicht anders sein konnte, auf nichts anderem als dem Fundament, das seine Epoche ihm zur Verfügung stellte, und diese seine Epoche war – anders als die Ära ein halbes Jahrtausend danach – religiös, christlich, theologisch motiviert, zweifelsfrei stärker zumindest als die dem Ende der Konfessionskriege folgenden Jahrhunderte. Zur Erinnerung: Ein Ludwig Feuerbach vermerkte bereits im 19. Jahrhundert, sein philosophisch fundierter Atheismus sei nur die intensive theoretische Ausformung des in der Praxis der – vermeintlich, vorgeblich – christlichen Weltregion unleugbar vorhandenen Atheismus.9 Bibel, Theologie, Theologumena grundlegend sowie strukturbestimmend Man würde irren, wollte man vermuten, die biblisch-theologische Prägung der hier zu untersuchenden Texte sei eingeschränkt auf den Inhalt allein, sei Eigentümlichkeit einzig der Aussage. Unübersehbar erstrecken sich biblisch-theologische Muster oftmals auf die Formgebung zugleich, sind determinierend für die strukturelle Seite der Schriften. Um dies am Liber de honestis utrisque divitiis zu demonstrieren: Sein Aufbau folgt dem Modell des 127. Psalms (Luther: 128; in protestantischen Übersetzungsausgaben mit der Hinzufügung: „Segen des Frommen im Hausstande“). Der paracelsische Traktat beginnt mit dem ersten Satz des ersten Verses des Psalms. (Dem Vers geht lediglich die Gattungsangabe voran.) Gepriesen wird derjenige, der in der Furcht Gottes die von diesem vorgeschriebenen Wege beschreitet und sich einzig von seiner Hände Arbeit ernährt. Die Belohnung dafür bleibt nicht aus: Seine Ehefrau wird fruchtbar sein, eine Schar wohlgeratener Kinder sich um _____________
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gentlichem Blick auf die sozialpolitischen). Er rühmt des Paracelsus „Lebenszugewandtheit“, die diesen zur Ablehnung des Suicids bewog, ebenso der Todesstrafe – „der erste grundsätzliche Gegner der Todesstrafe“! –, darüber hinaus „in logischer Folgerichtigkeit auch des Krieges“, darunter des Glaubens- oder Religionskriegs (S. 21–23 u. 25). Insofern sieht Goldammer in Paracelsus einen „der Vorläufer des modernen Pazifismus“ (S. 26). Als Wurzeln des Krieges habe er das Aufrüsten der reichen Machthaber und menschlichen Gemeinschaften identifiziert (S. 28). Neben Feuerbach, gleichzeitig mit ihm, stellte Kierkegaard den Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts die Diagnose. Er schrieb, es sei die Christenheit „so weit davon entfernt, zu sein, was sie sich nennt, daß das Leben der meisten Menschen, christlich verstanden, sogar zu geistlos ist, um im streng christlichen Sinne Sünde genannt zu werden … Wie oft sind sich die Menschen nur augenblicksweise bewußt, bewußt in größeren Entscheidungen, aber das Alltägliche wird gar nicht veranschlagt; sie sind Geist so einmal in der Woche für eine Stunde – es versteht sich, daß das freilich eine ziemlich bestialische Weise ist.“ In: Die Krankheit zum Tode (in einem Band zusammen mit: Furcht und Zittern), Frankfurt a. M. etc. 1959, S. 85 f.
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seinen Tisch versammeln. Die einzelnen Verse des Psalms verteilt Paracelsus zitierend über den ganzen Traktat, einem jeden eine intensive Auslegung anfügend. In die Exegese hinein schiebt sich ferner eine Dreizahl von Geboten aus dem Dekalog, die zitiert werden, wobei der Wortlaut gegenüber dem heutzutage gewohnten abweichen kann, z. B.: „Sei kein Mörder.“ (L 211) Außer dem Psalm und drei der Zehn Gebote bringt der Autor in die Gesamtkonstruktion noch zusätzliche Bibelverse ein. Weiterhin integriert er ganze Exempel in Kurzfassung: das Buch Hiob, die Lazarus-Erzählung. Diese letzten beiden in einem Kontext, der lautet: Verfluchung des Reichtums und der Reichen. Gegen Ende des Liber, quasi als Höhepunkt, bietet Paracelsus ein Raster in Form einer Klimax, nochmals eine Struktur, von der die bereits aufgewiesenen Strukturen durchsetzt werden. Was er hier an Schlüssen präsentiert, kann nämlich auf einer Skala angeordnet werden: Hoffnungslos verdammt ist der Reiche, der seinen Reichtum nur für sich genießt. Steht der Reiche für die These, so für die Antithese der Arme, d. i. Lazarus, für die Synthese Hiob; dieser ist der Wohlhabende, dem der Genuss seines Wohlstands misslingt. Auch existiert neben besagten zwei Typen des Reichen ein dritter, ein musterhafter Begünstigter: „Das ist aber der selige Reichtum, daß keiner in seinem Gut seine Lust sucht, sondern seine Nahrung und seines Nächsten Nutz.“ (L 223; Nahrung gewöhnlich wiederzugeben = ‚Lebensunterhalt‘.) Die Krönung ist aber, arm zu sein wie Lazarus; dessen Armut ist der eigentliche Reichtum.
Endlich überwölbt Paracelsus seine gesamte Darlegung – die ohnehin bereits mehrdimensional, vielschichtig ist – mit einem Bogen, der vom gesegneten „Hausstand“ zum Himmelreich führt, oder: zur Aufnahme des Frommen samt seiner Familie ins (neue) Jerusalem (L 221), eine Angabe, die unverkennbar auf die Johannes-Apokalypse (Kap. 21) zurücklenkt; was der Verfasser an dieser Stelle entwirft, könnte mit einer neueren Bezeichnung (welche ja vom Titel einer Schrift abstammt, die der Epoche des Paracelsus angehört) als Utopie gelten, exakt: als Miniatur-Utopie. Die formale Analyse des Liber zeigt also nicht einfach eine theologische Basis, worauf der Autor seine Argumentation errichtete, sondern die Interferenz mehrerer Strukturen biblischer Herkunft, mit Einblendung einer Skala – mutmaßlich von eigener Erfindung des Autors, jedoch abgeleitet aus biblischem Vorstellungsmaterial. Um etliches weniger geschichtet ist der Traktat De virtute humana. Er gewinnt damit an Übersichtlichkeit. Doch wiederum ist er an einem theologischen Modell ausgerichtet. Dem Titel zufolge scheint es sich um eine Interpretation menschlicher Tugend zu handeln, sonst einer Bündelung
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mehrerer christlicher ethischen Werte (obschon, wie leicht erkennbar, nicht der Kardinaltugenden oder der Glaube-Liebe-Hoffnung-Trias). Den Anfang macht hier die Demut; es folgen: die „Mildigkeit“ (d. h.: ‚Freigebigkeit‘), die Mäßigkeit, die Arbeitsamkeit. Der Text der Abhandlung indessen erweist, dass der Titel bestenfalls auf ihre eine Hälfte zutrifft. Die zweite – oder mehr – gibt die Exegese des Katalogs der Todsünden, respektive einer Auswahl daraus. Paracelsus betrachtet die Verfehlungen, die den Tugenden – die stets nur kurz definiert werden – konträr sind: die Hoffart (superbia) der Demut, der Geiz (‚die Gier, Habsucht‘) und Neid der Freigebigkeit, der Zorn der Güte, die Völlerei der Mäßigung. Der Lasterkatalog ist wiederum bebildert mit Anspielungen auf biblische Exempel und Legenden (David, Johannes der Täufer, Herodes, der hl. Nikolaus), auch gelegentlich untermischt mit einer Seligpreisung (V 230)10 usw. Der Traktat de tempore laboris et requiei, also über die Arbeitszeit und Zeit der Muße (oder: die kirchlichen Feiertage) sowie beider Verhältnis zueinander, zeigt zwei unterschiedliche Darlegungen. Die erste erweist sich als eine generelle Argumentation über das im Titel benannte Motiv, im Kern in Form der Erörterung des dritten Gebots, die zweite als Anwendung der Ergebnisse, diesmal gemäß der Abfolge der übergeordneten christlichen Feste Weihnachten und Ostern – es fehlt Pfingsten, wohl weil es sich schlecht der kommunikativen Intention des Verfassers fügte –, wobei dieser am Ende wiederum beim Hausstand des Frommen und seiner Familie anlangt (bei dem entsprechenden Psalm, s.o.). Vom „Mitlaufen“ des Widerspruchs in der Einheit Inmitten von Gedankengängen, die an biblische Erzählungen anschließen oder theologischer Dogmatik folgen, stehen bei diesem Autor immer wieder einmal Erkenntnisse, die überraschend wirken wie Stücke modernen Denkens, verblüffend wie erzeugt vermittels dialektischer Methodologie. Von der Tugend der Freigebigkeit heißt es, diese könne in fatale Untugend umschlagen, ihre Anwendung die ärgsten Folgen haben. So zeigt es Paracelsus in einem Passus (G 262), der mit der Abbreviatur einer Seligpreisung anhebt: „Selig sind die Armen.“ Doch dürfe man einem von ihnen nicht mehr als das Notwendige überlassen, denn sonst riskiere man: „… die Armut im Geist geht hinweg, und es bleibt allein die zeitliche Nahrung.“ Was geht vor? Der Arme wird insgeheim reich (scil. an materiellen Gütern), seine geistliche Vorzüglichkeit verliert sich! Die Beispiele _____________ 10
Wohl nicht zufällig: „Selig sind, die Verfolgung leiden.“
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von Eremiten, Heiligen und Klöstern erweisen es: „So ist es mit vielen Einsiedeln und andern Heiligen, das ist Armen im Geist, geschehen, die aus Torheit der rechten Liberalität zu üppigen reichen Buben wurden.“ Übersetzt: ‚aus mißverstandener, weil unangemessener Freigebigkeit‘ (seitens der Spender); der alte Ausdruck „Bube“, wo semantisch pejorativ, bedeutet: „niederträchtiger Mensch, Verbrecher“. Fortsetzung: „Das sieht man an den Stiften, Klöstern usw.; so ist es Sankt Gallen in der Schweiz auch widerfahren, item Sankt Meinrad zu Einsideln usw. … Darum, der Anfang solcher Liberalität ist gut und einfältig gewesen …“ Aber der Teufel (Leviathan) habe seine „Raden“ (Unkraut) eingesät. Solch heilige Stätte degeneriere alsdann zur „spelunca“. Paracelsus wünscht daher „an einem heiligen Ort“ keinerlei Reichtum und Prachtentfaltung, möchte, dass ein „seliger Mann“, der in der Wüste lebt, immerfort darin verharre, und falls er nach seinem Tode „Zeichen“ tue, „lasse mans dabei bleiben, zu einem Exempel und Memorie; weiter mache man nichts daraus.“ Er misst also klösterliche Stätten seiner Gegenwart an alter Bescheidenheit, denkt an die Rückführung der Heiligenverehrung an ihre keineswegs prächtigen Anfänge und will die Verkultung heiliger Personen beenden. Überhaupt, so äußert er in De virtute humana, gelte allgemein, „daß in allen gerechten Sachen ein Ungerechtes mitlaufen kann“ (V 232). Darin wird man eine Frühform der dialektischen Regel von dem in der Einheit enthaltenen Widerspruch erkennen dürfen. An anderer Stelle geht es um die notwendige Verknüpfung zweier Einstellungen. Zum Beispiel: Er möchte erreichen, dass ein Junktim zustande komme, das unerlässlich ist, wenn ein Vorhaben glücklich enden soll: Es nehmen gemeinhin alle Dinge zuvorderst mit Einfalt (‚Einfachheit‘) einen guten Anfang, aber nit allentwegen mit Fürsichtigkeit, das ist Vorbedachtheit. Aber wir sollen in allen Dingen, das ist Anfängen, sive politicum sive oeconomicum sive ethicum etc. einfältig wie die Tauben, fürsichtig wie die Schlangen sein. (G 260)
Bekanntlich fehlt der Begriff der „Entwicklung“ im Denken der älteren Neuzeit noch. Man könnte meinen, in der Gedankenwelt des Paracelsus keime er bereits, um alsbald ans Licht zu treten. Er versichert: „Ein jeglich Ding hat seine gradus des Wachsens und Abnehmens …“ (G 263) Moderne Schriftsteller würden von der Entwicklung und Rückentwicklung (bzw. Regression) sprechen.
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„Denn der Tod kann dich morgen überwinden“: Eschatologie Unter die geschichtlichen Voraussetzungen der politischen Schriften des Paracelsus, so Goldammer, rechnete neben dem allgemeinen christlichen und theologischen „Traditionsgut“ auch ein sektiererisch-spiritualistisches Erbe, dies z.T. eschatologisch-apokalyptischer Art.11 Zur Alterität sozialpolitischer Reflexionen des Paracelsus, wenn man sie mit der heutigen Lehre von Sozialpolitik vergleicht, gehört es, dass sie unter den Aspekt der Todverfallenheit des Menschen, der allgemeinen Vergänglichkeit und der Anwartschaft der Auserwählten auf die Ewigkeit gerückt werden. Ein Satz wie der folgende, geschrieben an der Wende zum Jahre 1943, würde bei ihm unmöglich zu finden sein: Optimismus ist in seinem Wesen keine Ansicht über die gegenwärtige Situation, sondern er ist eine Lebenskraft, eine Kraft der Hoffnung, wo andere resignieren, eine Kraft, den Kopf hoch zu halten, wenn alles fehlzuschlagen scheint, eine Kraft Rückschläge zu ertragen, eine Kraft, die die Zukunft niemals dem Gegner läßt, sondern sie für sich in Anspruch nimmt.
Das ist immerhin die Aussage eines großen Theologen, 400 Jahre nach der Reformation.12 Bei ihm lag damals über allem Schreiben die Drohung des Todes (Gefährdung des Widerstandskämpfers; trotzdem der unbezähmbare Optimismus). Bei Paracelsus liegt wie ein Schatten über allem das niederdrückende Bewusstsein der Vergänglichkeit alles Irdischen (kein optimistischer Akzent; jedoch auch keine Lähmung seiner Aktivität). Manchmal mit dem Silberstreif der Aussicht auf das neue Jerusalem. Aus dem Wissen um die Vergänglichkeit aller Dinge schließt er, man solle sich um nichts sonst kümmern als um den redlich zu gewinnenden Lebensunterhalt: „Was bedarfst du weiteres mehr, dieweil doch hie kein Bleiben ist?!“ (L 209) „Betrachtet man von Anfang der Welt an, wie der Mensch bisher gehaust, eines hin, das andere her gefallen, jetzt gemacht, jetzt wieder zerbrochen, nichts Beständiges …“ (G 261) Ein „unwissender Mensch“ ist, wer „nit an das Ende denkt“, er lebt „gleich denen, die da sagen: es ist kein Gott!“ (O 235) Der das Ende nicht bedenkende Unwissende, er lebt nicht besser als die Atheisten, die Gottes Existenz bestreiten! Am „Jüngsten Tage“ gelten Ausreden nicht mehr (O 236). Es ist der Zeitpunkt von Christi „Wiederkunft ans Gericht“ (G 258). Er wird als Endzeitkaiser erscheinen, „der rechte Kaiser Christus“ (G 264). Wie kann es aber sein, dass für wahrhaft Gläubige Tod und Vergänglichkeit immer noch so viel Erschreckendes haben? Und das Jüngste Gericht als der ärgste Schrecken erscheint? Nimmt doch hernach das neue _____________ 11 12
„Friedensidee“, wie Anm. 8, S. 20. Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von Eberhard Bethge, Gütersloh 1985, S. 23.
Zu den sozialpolitischen Schriften des Paracelsus
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Jerusalem den Frommen und seine Anverwandten auf, nimmt auf diese alle „in ewigem Frieden und Ruhe, da nimmer Schweiß sein wird, nimmer Arbeit, sondern ewige Leben in allen Freuden. So ist der selige Reichtum auf Erden, der gen Himmel kommt.“ (L 221) Die Armut, d. i. ein Lebensunterhalt mit stets bloß dem gerade eben zum Leben auf Erden benötigten Notwendigen, erweist sich als der Inbegriff des wahren Reichtums, und der Arme erweist sich als derjenige, welchem sich nach seinem Abscheiden die Pforte zum himmlischen Leben öffnet. Nun setzt bei Betrachtung der letzten Dinge Paracelsus gern einmal modernere Betrachtungsweisen hintan, vernachlässigt seine Einsicht, dass in aller Einheit der Widerspruch „mitlaufen“ kann, verwirft die Dialektik, versichernd: Zwei widerwärtige (konträre) Ding können nit beieinander stehn, so wie etwa Fruchtbarkeit und Bosheit, deus et diabolus – ein jeder mit seinem Regiment; item, in einer Mauer Armut und Reichtum. … Solche Zerteilung wird in ultimo iuditio enden et fiet nova terra et novum coelum et iustitia concors. Als dann geht das Reich der Seligen an und geschieht der Wille Gottes auf Erden wie im Himmel. (G 264f.; … wird enden ‚beim Jüngsten Gericht und eine neue Erde, ein neuer Himmel werden entstehen und mit ihnen ihre eigene Gerechtigkeit‘.)
Damit wäre dann auch die Dialektik an ihr Ende gelangt, vergessen der Umstand, den Paracelsus selber notiert: „… alldieweil nichts ist, das nicht ein Widerwärtiges habe“ (O 240; nichts existiere, ‚was nicht seinen Gegensatz in sich trägt‘). Theologia crucis Irdisches Leben soll keinesfalls dem Erwerb des Reichtums dienen, schon gar nicht dessen Genuss – falls mehr vorhanden wäre als der notwendige Lebensunterhalt, „gibs den Armen“ –. Paracelsus erteilt die Anweisung: „folg du dem Kreuz nach, das du trägst und tragen sollst, und laß dich die Reichtümer nit vom Kreuz treiben“ (L 218). Das ist die imitatio Christi und ist es auch nicht. Zunächst: Sie ist es, denn da seien „die Fußtritte (‚-spuren‘) Christi, diese laß dich führen, da du nit hin willst“ (V 226). Sie ist es nicht, weil jeder Leidende sein eigenes Kreuz zu tragen hat. Hier ist der Punkt, an dem die Lehre des Paracelsus mit der Lehre Martin Luthers genau in eins fällt, jener „theologia crucis“ (Walther von Loewenich), die von der Forschung als Glutkern der lutherischen Theologie bestimmt worden ist. Die Nachfolge besteht im Tragen des Kreuzes, das Kreuz tragend wird der Fromme in den Spuren des Heilands gehen, nur dass es nicht dasselbe Kreuz wie des Heilands ist, weil jedem sein individuelles aufgeladen werden wird. Paracelsus schreibt:
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Darum: maß dir nit eines andern Vocation (‚Berufung’) und Kreuz an, sondern des deinigen, das dir Gott gibt, und darin folge Christo nach. Er wird dich wohl führen, dahin du nit denkst. Denn einem jeglichen ist sein Kreuz gegeben. Wann einer meint, er werde um Christi willen geköpft, gleichsowohl ertrinkt oder verbrennt er usw., denn es steht bei Gott. All unsere Seligkeit steht in Einfalt, Armut und eingezogenem Tun. Nit daß einer wie Johannes Baptista sei, sondern wie es Gott in einem jeglichen gefällt, darnach begabt er einen mehr als den andern. (G 263: „Einfalt“ ist ‚Einfachheit‘.)
Ersichtlich verschmilzt an dieser Stelle der Gedanke der Nachfolge Christi mit dem Individualitätsprinzip, das von den Humanisten der Renaissance verstärkt zur Geltung gebracht worden war. Gottes- und Nächstenliebe – des Nächsten Nutzen Eine methodologische Ausgangsüberlegung des Paracelsus ist: Die Gottesgelehrsamkeit, die Philosophie, die weltliche Wissenschaft, alles Nachdenken der Christen richten sich auf nicht mehr als zweierlei Gegenstände. Es sind diese: „Weil wir, wie Paulus sagt, die Profundität Gottes – und das durch den Geist – ergründen können, noch viel mehr können wir das Zeitliche auf Erden ergründen.“ (G 259) So wenig wie als Atheist erscheint Paracelsus als Agnostiker. Er vertraut darauf: Die Möglichkeit der zweierlei Erkenntnis ist gegeben. Die Gegenstände, um die der Fromme sich daher bemühen soll, sind also Gott und der Fundus des Irdischen, die Schöpfung Gottes. Aber bei der alltäglichen Arbeit erübrigt der Fromme nicht die Muße, um Gott und die Erdenwelt zu ergründen. Doch sei der Mensch – obwohl die Arbeit sein hauptsächlicher Lebensinhalt sein muss – nicht nur zum Arbeiten geschaffen. Gleich wieder ein Beispiel: „Wäre Arbeiten, das ist für und für arbeiten, so ein seliges Ding, so hätten die Apostel viel versäumt.“ Wir leben aber nicht nur in der Arbeit, sondern auch im Wort Gottes, welches „seine eigenen Werktage“ hat (G 258). Daraus gewinnt Paracelsus einen Ansatz seiner Sozialethik: Es sind „zwo Nahrungen, die der Mensch haben muß“, sodass er sorgen soll, den „Werktag“ – seine Lebensarbeitszeit – aufzuteilen zwischen „Handarbeit“ und dem „Werktag des Wortes Gottes“, zwischen erstens der Gewinnung seines Lebensunterhalts also und zweitens der Ergründung Gottes; auch diese niemals als Art des Müßiggangs aufzufassen, sondern als redliche Arbeit (G 259). Um den Zugang zur Seligkeit nicht zu verfehlen, ist das Wort Gottes unerlässlich: „Darum glaubt der Schrift, dem Worte Gottes, denn seine Worte sind der Weg zum Himmel.“ (O 235) Eben dies sind die zweierlei Nahrungen: „Laß dir stets eingedenk sein, daß dich nit allein die Arbeit nährt, sondern auch das Wort Gottes.“ (T 256)
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Über allem rangiert für Paracelsus ein oberstes Gebot, ein doppeltes: Gottesfurcht und Nächstenliebe, die Nächstenliebe, wie sie bereits das 3. Buch Mose verkündete (3. Mo. 19,18) sowie, diesem folgend, Jesus (Mt. 5,43). Paracelsus schreibt: „Denn der den Nächsten liebt, der liebt auch Gott, et econtra. Diese zwei Gebote sind mit einander vermählt wie Weib und Mann, da kein Scheiden der Liebe ist.“ (O 236) Allerdings beobachtete er die Zerrüttung beider Gebote, zugleich den Verfall ihrer Liebesbindung. (Vielleicht resultierte daraus seine Bemühung, dies doppelte Gebot immerdar einzuschärfen, in stets erneuerter Bemühung?) Mit Erbitterung konstatierten Ähnliches andere Verfasser in derselben Ära, so der anonyme Urheber der Reformatio Sigismundi: „Hab dein Nebencristen als liep als dich selbst. Das ist tot; yglicher mensch tregt dem andernn ein fegefewr, pein und kummer.“13 War dies korrekt beobachtet, so nahmen der Autor und seine Zeitgenossen die Ursache für ihre Wahrnehmung doch nur undeutlich wahr: den sozialökonomischen Wandlungsprozess. Wie sichtbar er sich vor ihren Augen auch vollzog – ihn in Gedanken zu erfassen, fehlte es ihnen am begrifflichen Rüstzeug. Doch ihr Unbehagen manifestierten sie vielerorts drastisch. Dem grundlegenden Gebot der Nächstenliebe, so sieht es Paracelsus, ist allezeit jegliche (Hand-)Arbeit unterzuordnen: „Was ist nun die Arbeit der Seligkeit, die aus den Händen gewonnen wird? Die ists, daß sie dem Nächsten zu nutz und ohne seinen Schaden, (so wie dir selbst erwünscht), gewonnen wird.“ (L 208) – Die „Arbeit der Seligkeit“ ist diejenige, die auf dem von Gott gewiesenen Lebenswege vollbracht wird, den beschreitet, wer am Ende die Aufnahme ins himmlische Jerusalem begehrt. Das bedeutet nicht, auf den eigenen Lebensunterhalt zu verzichten (Begriff dafür: „Notdurft“). Dessen Gewinnung fällt nicht aus dem Liebesgebot heraus, bleibt so lange ein Tun aus Liebe, wie es nicht auf die Reichtumserlangung angelegt ist. Paracelsus geht nun eine Reihe von Berufen durch, um zu ermitteln, wie die Ausübenden in ihnen die Ethik der Nächstenliebe realisieren, darunter den Arztberuf, also den eigenen (ebd.). Zum Beschluss den des Geistlichen. Den Kleriker redet er barsch genug an: „Was ist, daß dir (Pfaff!) Gott die Schlüssel in den Himmel einzulassen gegeben hat, und diese Macht zu gebrauchen? Nit dir zu nutz, deinem Nächsten zu nutz.“ (L 210) So ist einem jeden aufgetragen, zum Wohle des anderen zu wirken: Und ein jeglicher hat eine Gabe, durch die er seinem Nächsten nützen kann, und ihm sein Nächster desgleichen auch: also andern Häuser bauen, nit dir allein; andern Korn säen, nit deinem Maul allein, andern den Weingarten pflanzen, nit dei-
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Heinrich Koller (Hg.), Reformation Kaiser Siegmunds, Stuttgart 1964 (MGH 500-1500. Staatsschriften des späten Mittelalters, VI), S. 66.
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ner Gurgel allein. Die Erde ist der Menschen, keines mehr denn des andern. (L 219; „Gabe“ hier im Sinne von ‚Beruf‘.)
Zum Dekalog Wie die Vorschrift der Gottes- und Nächstenliebe, die bei Paracelsus fast allgegenwärtig ist, so werden auch die Gebote des Dekalogs in den sozialpolitischen Schriften des Paracelsus zu Gegenständen der Exegese, etwa das „Du sollst nicht töten!“, dies erstaunlicherweise im Konnex mit einem Gegenstand wie z. B. der Arbeit. Er führt aus (L 211): Es tötet schon derjenige, der sich „nit mit der Hand ernährt“. Zunächst habe Töten eine zwiefache Bedeutung: Töten ohne sich zu bereichern, etwa aus „Neid und Zorn“, und „Töten um des Gewinnes willen“, „um der Nahrung willen“ (also: zugunsten des eignen ‚Lebensunterhalts‘). Das als zweites benannte Töten zerfällt wieder in zweierlei: um des materiellen Vorteils mordet ein Einzelner, ein Privatmann, sozusagen ein gewöhnlicher Krimineller, ein Raubmörder, Zweck: einem anderen Menschen „das Seine nehmen und dich ernähren“. Davon unterscheidet der Autor den Landsknecht – Vorform des heutigen Soldaten –, der ebenfalls tötet, um seinen Lebensunterhalt zu gewinnen. Abermals sei zu differenzieren: dessen Töten sei gleichermaßen „billig und unbillig“, ‚gerecht und ungerecht’. Das Erste, falls „ihr mit eurem Sold content seid, der nit weiter als die ehrsame Nahrung darstellt“. Unbillig, ungerecht, falls der Krieger mordet, brennt, plündert, Vieh tötet und auf alle Weise Schaden anrichtet: „Jetzt bist du einem Dieb und Räuber gleich …“, und während das Blut seines Opfers zum Himmel schreit, so nicht doch des Täters, falls er umkommt, „eines Mörders“, für dessen Schrei Gott kein Ohr hat (L 211 f.). Du sollst nicht stehlen“: in der Sicht des Paracelsus auch ein Gebot mit Bezug zur Arbeit, „denn Stehlen geschieht um des Reichtums willen, sich ohne Arbeit ernähren (L 211).
Selbst den Heiligen, die ausziehen, Kranke gesund zu machen, „die Toten vom Tode zu erwecken“, dürfen dies alles nicht unternehmen, um belohnt zu werden, Reichtum zu erlangen. Das sei ein „Abweg von Gott“. „So geschieht das mit den Heiligen, und so mag es auch mit dem Zimmermann, dem Hafner usw., den Kaufleuten, den Krämern, den Bäckern, den Metzgern geschehen.“ (L 218 f.)
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So sehr mithin der Reichtum abzulehnen ist14, der nicht im Dienst der Nächstenliebe ausgegeben wird, so analog der Hochmut der Ämter und die Annahme der Orden gleichermaßen, vor allem das Pochen darauf: Sollen wir nit gleich und einer wie der andere sein? Ebenso ists mit dem Adel und andern Ständen zu verstehen, sind wir nit alle aus dem Bauch Eva? … Ja. … Setze nit in die Kleidung, in Ämter usw., Orden, sondern in die Liebe zu Christo, die da aus dem Hl. Geist fließet; wenn die Liebe da ist, so fällt alle Hoffart von uns … (V 227)
Durch wen aber ist „alle Hoffart … und alle Huren-Arbeit“ aufgekommen? Beigetragen dazu haben u. a. die Seidenfabrikanten und -händler, und was immer sie produzieren, „ein göttliches Leben und ein evangelisches“ ist es nicht. Dazu steuern wiederum die Pfaffen und Mönche bei – durch den Ablasshandel. Ein Sünder tritt auf: „… es nimmt ein Pfaff in einem Jahr ein paar Pfennige und vergibt ihm alles, was er das ganze Jahr gestohlen und betrogen hat.“ (T 248) Unter das Gebot, nicht zu stehlen, fällt für Paracelsus nicht das Eigentum. Eigentum ist nicht Diebstahl. Das ergibt sich ihm aus dem 9. / 10. Gebot, aus einer Aussage Gottes: „Item, er sagt: du sollst nit fremdes Gut begehren. Das ist wieder ein Zeichen, daß wir eigne Güter haben und haben sollen“, allerdings „nit Fremdes.“ (T 250) Das dritte Gebot („Du sollst den Feiertag heiligen“) beschäftigt den Verfasser besonders ausführlich. Müßiggehen, um damit zu beginnen, „beliebt allerwegen“, es behagt der gesamten Gattung, und um es zu propagieren, bedürfte es sicher keines eigenen Gebots. Dass aus der Heiligung des Feiertags jedoch ein besonderes geworden sei, „ist das die Ursach, daß die Herren und Meister ihren Knechten und Dienstmägden und Vieh so harte Arbeit und Joch aufgeladen haben, daß sies ohne Abbruch ihres Lebens nit haben leisten können. Und ist doch so viel Arbeit nit not gewesen …“ (T 249) _____________ 14
Verwerfung der Bereicherung ohne Rücksicht auf die Nächstenliebe und überhaupt des Reichtums trifft man im 16. Jahrhundert nicht selten. So z. B. bei Martin Luther: „Reichthum ist das geringste Ding auf Erden und die aller kleineste Gabe, die Gott einem Menschen geben kann. Was ists gegen Gottes Wort? ja, was ists noch gegen leiblichen Gaben, als Schönheit, Gesundheit, und gegen den Gaben des Gemüths, als Verstand, Kunst, Weisheit? Noch thut man so emsig darnach und läßt sich keiner Arbeit noch Mühe und Gefahr verdrießen noch hindern! Man trachtet Tag und Nach darnach, daß man nur viel und groß Gut zu Wegen bringe, und hat keine Ruge; ist doch materialis, formalis, efficiens et finalis causa, noch ichtes nicht gut daran. Darum gibt uns der Herr Gott gemeiniglich Reichthum den groben Eseln, denen er sonst nichts gönnet.“ (In: Tischreden, hg. von Gerhard Steck. München o. J., S. 122; der Herausgeber übersetzt: ‚ist doch nach Inhalt und Form, Wirkung und Sinn nichts Gutes‘.) Die Einfügung dieses Luther-Zitats wurde angeregt durch Wilhelm Nölling und dessen Blütenlese, vgl.: Hohe Leuchten. Auswertung meiner Lese-Erfahrungen, 2Grönwohld 2004, S. 5.
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Es klingt wie aus dem aktuellen Forderungskatalog einer (erst noch zu erfindenden) deutschen Partei des 21. Jahrhunderts, der es mit dem Artikel des Grundgesetzes ernst ist, wonach die Bundesrepublik ein „sozialer Bundesstaat“ sei, wenn Paracelsus verheißt: „Wenn wir uns nur so brüderlich untereinander hielten15, so würden vier Tage Arbeit genug sein.“ (T 254) Das müsste dem Seelenheil zugutekommen. Aus dem Bedachtsein auf dies entsprießt nämlich die Verpflichtung zur „Arbeit der Herzen“: Denn durch die Arbeit der Herzen erlangen wir den Himmel, und alldieweil uns allemal vom Ertrag unserer Arbeit überbleibt, und wir mehr hinter uns lassen denn wir bedurft haben, darum ist viel Arbeit nit allemal Notdurft, und kann wohl in eine Herzarbeit verwandelt werden. (T 255)
„Herzarbeit“ schließt keineswegs aus, dass erforderliche Alltagsarbeit verrichtet werde, sogar am Feiertag: falls die Not es gebietet. „Es ist nit geboten, die Not nit zu wenden.“ Notwendiges soll niemals unterbleiben. Wenn ein Ross in den Graben fällt, muss man es jederzeit retten dürfen; wenn am Sonntag ein Haus brennt, die Löscharbeit beginnen (T 251). Dennoch bleibt es dabei, es ist immer daran zu denken, „das Werk der Hände in das Werk des Herzens zu verwandeln“ (T 252). Wir finden hier bereits eine Zukunftserwartung vorgeprägt, die Karl Marx dereinst in die Formel kleiden wird, es gelte, das Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit zu verwandeln.16 Paracelsus hat es schon ähnlich, allerdings in Anrede an den Einzelnen: „… verwandele deine Handarbeit in eine Herzarbeit …“ (ebd.) Alles in allem nichts Geringes, mühelos zu Erlangendes, von der Aufnahme des göttlichen Wortes bis hin zu seiner Einwurzelung. „Ein Wort ist bald gehört, braucht eine kleine Zeit, aber schwer kommt es in den Boden des Herzens.“ Das eine ist der gute Acker, in den es fällt; das ist der Hörer, der es in seinem Herzen „ruminiert (‚wiederkäut‘; Terminus aus der Landwirtschaft!), versteht und erkennt“. Die übrigen Hörer aber? „Die andern lassens an der Stunde bleiben, in der sies hören; darnach gehen sie weg, da fällts von ihnen, denn es ist in den Acker, das ist in den Grund des Herzens, nit gekommen.“ (T 258)
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Wie oben bereits die Gleichheits-Parole, so begegnet hier eine Abwandlung der Brüderlichkeits-Parole. Über beide – siehe unten! MEW 25,828.
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Die sozialpolitische Gedankenwelt des Paracelsus Arbeit Es ist in der Wissenschaft üblich, zu den Verdiensten des Reformators Luther die – dann regelmäßig ihm allein zugeschriebene – Umwertung des Arbeitsbegriffs zu zählen. Jedoch wie anderes, was ihm zum Ruhm angerechnet wurde, unternahm er jene in seiner Epoche nicht einsam, sondern zur gleichen Zeit mit anderen, unter denen er allerdings weithin sichtbar in der ersten Reihe stand. In der wissenschaftlichen Literatur heißt es: „Zum wichtigsten objektiven Kriterium für die Fortschrittlichkeit des ökonomischen Denkens“ sei – für die damalige Periode – eines Autors „Stellung zur Arbeit und ihren gesellschaftlichen Entwicklungsformen“. Die Frage laute, inwieweit eine Lehre „unter den Bedingungen des beginnenden Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus zur Entwicklung der gesellschaftlichen Arbeitsproduktivität beitrug oder diese behinderte“. Als Hauptkennzeichen der mittelalterlichen Auffassung der Arbeit gilt deren Herleitung aus dem ‚Sündenfall‘ der ersten Menschen (1. Mo. 3,19). Das zweite Charakteristikum habe „in der streng hierarchischen Rangordnung und moralisch-sittlichen Differenzierung der Arbeit selbst“ bestanden. Diese „Rangordnung der Arbeit“ – so z. B. bei Thomas von Aquin – fiel in eins mit der unterschiedlichen Schätzung der Arbeit, der geistigen und geistlichen auf der einen Seite, der bäuerlichen und handwerklichen auf der anderen, wobei man die letztgenannten in ihrer „sündenbefreienden Wirkung“ als die geringeren schätzte, als die niedrigsten auf alle Fälle.17 An der Umwertung der Arbeit beteiligte sich mit anderen seiner Zeitgenossen auch Paracelsus. Das ist ein Grundzug seines sozialpolitischen Denkens, den man nicht geringschätzen darf. Unvermeidlich erinnerte er an den biblischen Mythos, wonach der Sündenfall des ersten Menschenpaares zu dessen Austreibung aus dem Paradies und Verurteilung zu lebenslanger Arbeit führte: Anfänglich sind wir nit zur Arbeit geschaffen worden, aber durch den Fluch zur Arbeit (außerhalb des Paradieses) bestimmt worden. Und Gott hat sie uns durch den Engel auferlegt, der da sagt: Im Schweiß deines Angesichts wirst du dein Brot essen usw., das ist: gewinnen; das ist: für und für durch Arbeit, mit täglichem Jammer und Elend, dich erhalten.“ (T 248f.) Von hier lenkt er auf die Anordnung im dritten Gebot, wonach wenigstens doch „ein Tag der Ruhe da sei … (T 249)
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Fabiunke, Luther, wie Anm. 6, S. 15 u. 97–99.
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Dass die Menschen arbeiten, ist daher göttliche Verhängung. Zwar könnte – läge es in seinem Plan – Gott Essen und Trinken vom Himmel herabregnen lassen; „aber mit Arbeit will er es aus der Erde haben …“ (T 240) Sie kann in vielerlei Berufen verrichtet werden. Aber jedenfalls ist sie mit menschlicher Existenz unlösbar verbunden, ist sie eine von zwei Gestalten der conditio humana. Daher bestimmt Paracelsus: Denn nit in der Ruhe, nit in der Wohllust, nit im Reichtum, nit im Maul, nit im Bauch steht die Seligkeit, sondern in Arbeit und im Schweiß vollbringe ein jeglicher seine Gabe (‚Berufsleben’), die ihm Gott auf Erden gegeben hat, es sei der Bauer auf dem Felde, es sei der in der Schmiede, es sei der im Bergwerk, es sei der auf dem Wasser, es sei der in der Arznei, es sei der im Verkünden des Wortes Gottes. (L 217 f.)
Unbestreitbar möchte der Verfasser sämtlichen hier aufgelisteten Verrichtungen, zu deren Signum das Schweißvergießen gehört, denselben Rang zusprechen, weist er den säkularen bezeichnenderweise doch ihren Platz in einer Reihe mit der Verkündung zu – eine Nobilitierung, die den Bruch mit der geltenden Sicht in der Papstkirche bedeutete, wonach der Priester ein aus allen anderen Ämtern hervorgehobenes bekleidet (und ihm der character indelebilis zukommt). Daneben räumt er ein, dass auch Berufe vorhanden sind, die tiefer zu stellen er sich genötigt findet, weil sie der Bedingung „Arbeit und Schweiß“ nicht gehorchen: Das aber sind die Zeichen im seligen Leben, das Schwitzen der Arbeiter, das Rußigsein gleich dem Köhler, das Gesundmachen des Arztes usw. Aber einen Hut mit zwo Spitzen tragen, drei Kronen (Tiara) tragen, – eine Kron bedeutet das, die andere das usw., was ist das nutz, das sie bedeuten? Es bedeutet nichts als Hoffart, die weder hie noch dort vergeben wird.(V 227; ‚auf Erden und im Himmel unverzeihlich ist‘.)
Zumindest die in der Invektive unverkennbar zutage tretende antiklerikale, antipapale Tendenz entspricht – wieder einmal – vollkommen reformatorischer Sicht (der zweispitzige Hut kennzeichnet die Kardinäle; das Papstamt ist unnütz, ist superbia). Die Schrift des Paracelsus de honestis utrisque divitiis ist als Ganze der ausführlichen Darlegung der Arbeitsauffassung des Autors gewidmet. Eingangs betont er das Grunderfordernis: Gehe es darum, „die ehrsame aufrechte Nahrung im seligen Leben“ zu beschreiben (‚die Gewinnung des Lebensunterhalts in ehrenvoller, unverfälschter Weise im gottgefälligen Leben‘), so müsse das Wesentliche dem Wort Gottes entnommen werden. Dessen Wille sei es, dass beim Jüngsten Gericht keiner erscheine, der durch unrechte „Nahrung“ „wider seinen Nächsten gehandelt“, mithin das Gebot der Nächstenliebe verletzt habe (L 207). Für die nach Gottes Absicht rechte Weise der „Nahrung“ führt Paracelsus die Aussage des Psalms 127 (bei Luther: 128) an, mit dem Fingerzeig, dass auch hier wieder die Gottesfurcht den Ausgangspunkt bilde.
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Danach zitiert er den Anfang des Verses 2 des Psalms: „Deiner Hände Arbeit wirst du dich ernähren.“ (L 207; wie in Luthers Übers. ohne Präp. „von“!) Ist es die Hervorhebung des Werts allein der Handarbeit, also die Umkehrung der zuvor, im Mittelalter, gültigen Rangordnung der Arbeit? Nein, so weit möchte er nicht gehen. Vielmehr interpretiert Paracelsus den Ausdruck „Hand“ ausgeweitet als ‚Arbeitsmittel’, „Hand“ als Metapher deutend: Was ist dann, daß du aus deiner ‚Hand‘, sie sei im Kopf, in den Füßen, in der Zunge, in den Augen, in den Gemächten18 viel gewinnst und machst dich reich und bist selig in der Welt, aber nit in den Heiligen, das ist: nit vor Gott?! (L 208 f.)
Abermals zieht das Thema „Arbeit“ bei Paracelsus quasi automatisch die Warnung vor dem Streben nach bloß irdischem Reichtum nach sich. Die Warnung ergeht an jedermann, sei er hochgestellt oder niedrig: Brauch deine Glieder, daß du mit ihnen deine Notdurft gewinnest, darin dich dann Gott nit verläßt. Was bedarfst du weiteres mehr, dieweil doch hie kein Bleiben ist?! Bist du ein Bauer und hast viel Äcker, viel Güter, und genießt ihrer viel, – was ist der Genieß? Du ißts nit alles; gib deinen Helfern die Nahrung, den andern Teil den Dürftigen, sammle keinen Schatz, den die Maden und Mucken und Schaben fressen. (L 209)
Wiederum operiert Paracelsus mit dem Gleichheitsgrundsatz, ihn den Oberen einschärfend: Es sei unter uns Menschen auf Erden, was es wolle, so ist doch kein Reicher von Gott mehr begabt denn ein anderer. Das ist: du frißt, und ißt doch nichts mehr denn ein Bauer, bringst nichts mehr in die Welt denn ein Bauer, bringst nit mehr in die Welt denn ein Bettler. (L 209 f.)
Es ist die bekannte Argumentation, vor Gott seien alle gleich, alle kämen mit gleicher (d.h. jedoch: ohne) Ausstattung zur Welt, und weiter im Text fehlt auch das Todesmotiv nicht: alle müssen sterben, der Arzt, der König, der Apostel, selbst Luzifer muss dran glauben – des Gleichmachers Name ist Tod. Dem Vorsatz, der Arbeit höchste Wertschätzung zu erwirken, entspricht des Autors fortgesetztes Beharren auf der Notwendigkeit der Arbeit. Auch in dem sprachlich zunächst einigermaßen rätselhaften Satz: „Auf daß wir tödliche Menschen auf Erden untödlich werden, hat uns Gott den ewigen19 Leib gegeben, und daß wir denselbigen nit verlieren, dann den _____________ 18 19
Das Wort in der Bedeutung ‚Zeugungsglieder‘, vielleicht überhaupt für ‚Zeugungskraft‘. Wohl Anspielung auf den Kinderreichtum vieler Zeitgenossen. Denn auch Kinder können ja für den Lebensunterhalt Gewichtiges beitragen. Im Sinne von ‚göttlich, göttlich erschaffen‘; neben ‚himmlisch‘ eine der älteren Bedeutungen des Adjektivs. – Vgl. den letzten Vers des Goetheschen „Faust“, wo das „EwigWeibliche“ = ‚das im Himmel geborgene Weibliche, das in der Nähe des Göttlichen weilende Prinzip der Weiblichkeit’ (= Maria) ist; was die Deuter in ihrer Mehrzahl verkannten und verkennen.
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Weg der Nahrung angezeigt, wie unser Reichtum in der Nahrung sein solle: allein durch Arbeit uns alle zu ernähren und uns alles Müßiggehns entschlagen.“ (L 213) Dem Leib das Epitheton „ewig“ beizulegen, ist kein Gedanke, der dem Christentum entspränge, und – so weit man sieht – auch keiner anderen Lehre. Daher wäre dann eine Übersetzung vorzuschlagen, etwa wie folgt: ‚Damit wir, die zum Tode bestimmten Menschen, (sogar) auf der Erde diesem zumindest für eine (gewisse) Weile entgehen („untödlich“ seien = ‚am Leben bleiben‘), hat Gott uns unseren von ihm selber erschaffenen Leib geschenkt, und um nun diesen nicht vorzeitig einzubüßen … Im Anschluss daran skizziert Paracelsus sein gesellschaftliches Ideal. In drei Stichwörtern: Verwerfung des Müßiggangs – Arbeitspflicht für jedermann – Tausch der Arbeitsprodukte. Er schreibt: Sollen wir nun eines andern Schweiß nit essen, das ist: nit seiner Händ, sondern unserer Händ Arbeit essen, so geben wir Gleiches um Gleiches. Jetzt zahlt einer dem andern: der Kürschner das Winterkleid (‚Pelzmantel’), der Schneider das Sommerkleid, so der Zimmermann dem Maurer und wiederum der Maurer dem Zimmermann. … Denn Schweiß zahlt Schweiß, die Arbeit die Arbeit, und Müßiggehen zahlt nichts aus. (Ebd.)
Konsequenz: Des Müßiggängers Eigentum wäre – so der rigorose Vorschlag – alsbald zu beschlagnahmen: „Und dem, welcher nit arbeitet, dem soll auch genommen werden, das er hat, auf daß er arbeite.“ (L 217) Auch sei zu verbieten, dass ein Vater „seinen Kindern Reichtum zum Müßgange“ vererbe. Was er ihnen zu hinterlassen hätte, ist dies: „den Bau, die Arbeit, die Werke auf Erden“ (ebd.), nämlich: die Aufgabe des Feldbaus, die Notwendigkeit der Arbeit, die Pflicht des Tätigseins im Erdenleben. Berufe, Tätigkeitsfelder, „Rotten“ Wenn einleitend von dem modernen Begriff der Sozialordnung die Rede war – mit der Anführung von Wilhelm Nöllings Definition –, so darf an dieser Stelle nun festgestellt werden: In der Gedankenwelt des Paracelsus findet sich der Entwurf einer Frühform von Sozialordnung. Die ältere Historiografie zeichnete zuweilen ein Bild der mittelalterlichen Ständegesellschaft, wonach eine Bestimmung gelautet habe, dass jeder Mensch in den Grenzen seines Standes verharren musste. (Dichtungen wie Werners des Gartenæres „Helmbreht“ waren geeignet, diese Meinung zu befestigen.) Gab es eine Bestimmung dieser Art wirklich, so war doch bereits im Mittelalter ihre Verletzung keine Seltenheit. Noch Paracelsus aber in seinen sozialpolitischen Überlegungen scheint in dieser Hin
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sicht solcher Bestimmung verhaftet zu sein – prinzipiell will er nämlich die Standesgrenzen gewahrt wissen –: „… ein jeglicher bleib, wozu er von Gott berufen worden ist.“ (O 238) Dem Aufstiegsverlangen vieler wäre somit prinzipiell ein Riegel vorgeschoben gewesen. Zur Zeit, als dieser Imperativ niedergeschrieben wurde, war die gesellschaftliche Praxis aber längst über ihn hinweggeschritten. In der Theorie der Zeit wurde er ebenso bereits angefochten (Luther!). Das Neue – man könnte forcierend sagen: das sozialpolitisch Revolutionäre –, das in den Überlegungen des Paracelsus aufscheint, ist die Höherwertung der Arbeit zusammen mit einer weitgehend egalisierenden Einrangierung der Berufe (was die pejorative Schätzung einiger Ausgewählter nicht ausschloss!). Er gibt aber mit alledem keine Anweisung, jegliche Über- und Unterordnung fallen zu lassen. Nur soll allerdings der Mächtige, der Reiche sich als der Untergeordnete verstehen, weil als Diener des Armen: „Wer aber mehr und ein Vorgesetzter ist, ein desto größerer Diener ist er, und desto mehr soll er auch, ohne allen Neid und Untreu, untertänig sein.“ (O 240) Dem Dienen verweigert sich leider die Hoffart: Was ist nun Hoffart anderes als mehr sein-Wollen als ein anderer. Und wiewohl nach Ordnung der dona (= ‚Gaben‘, im Sinne ‚der von Gott zugewiesenen Berufe, Positionen, Stellungen‘) einer mehr als der andere sein muß, die Obrigkeit über den Untertan, daraus soll aber keine Hoffart entspringen, sondern nach der Lehr Christ soll der Mehrere der Mindere sein. Zum Beispiel, einer, dem von Gott Reichtum gegeben ist, der soll weniger sein denn alle seine Nächsten. … Darum soll er seine Güter dem Nächsten nachtragen, ihn dieselben nit holen und ihn sich nachgehen lassen. (V 224 f.; er hat also eine Bringschuld!)
Das will Paracelsus auch auf die Gelehrten, die Geistlichen gemünzt wissen. Er entwirft „eine Ordnung der Gaben“ (gemeint: ‚der Berufe, Tätigkeitsfelder‘). Insgesamt sind es vier: eine der Feldbau, eine andere die Handwerke, die dritte die der freien Künste, die vierte die Obrigkeit. Die alle erhalten sich einander, und ein jeder Teil nutzt und erhält die andern drei Teile, et econtra. Und so sind diese vier ineinander verknüpft, so daß gar kein Teil den andern verwerfen und von sich ausschließen kann. (O 237)
Diese vier unterwirft er nacheinander nun eingehender Prüfung. Der Feldbau „erscheint in zwei Teilen: nämlich die, welche das Feld besitzen, und die, welche es bauen. Die müssen es bebauen, die da nichts vom selbigen haben, sondern Knechte sind, denn die Herren des Ackers vermögen es nicht allein zu bauen. Aber die Knechte sollen nit wie das Vieh gehalten werden …“ (O 237) Sollte aber der zu bestellende Boden zu gering sein, übernimmt der Eigentümer beide Rollen zugleich, die des Herrn und die des Bearbeiters. An der althergebrachten Zweiheit: Grundherr / Bauer (Leibeigener) rüttelt der Verfasser keinesfalls: „Der die Erde besitzt, der
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soll nichts werken, auf daß der, dess’ die Erde nit ist, der Erde gleichwohl genießen möge.“ (D. h.: ‚zur Gewinnung seines Lebensunterhalts an ihr partizipiere‘). Er resümiert: Beide Teil machen ein Ganzes. In summa: es ist der monarchia keine, die ohne Knecht und Herrn sei. Des Herrn ist die Gabe, des Knechts die Gabe des Wirkens, denn keine monarchia kann ohne ihren Herrn sein, und so auch kein Herr ohne seinen Knecht. (Ebd.)
„Monarchia“ meint hier klar: ‚Stand, gesellschaftliche Ordnung‘. Also: Die gesellschaftliche Ordnung wird nicht auf das Herr-Knecht-Verhältnis verzichten können. Der Herr besitzt das Land als Eigentum (wiederum = „Gabe“), dem Knecht fällt die Obliegenheit zu, es zu beackern („Gabe“ jetzt in der Bedeutung: ‚Anweisung, den Feldbau zu verrichten‘). Das Handwerk: Vergleichbar wie in der Landwirtschaft geht es auf den übrigen grundlegenden Tätigkeitsfeldern zu (und damit in der Gesellschaft allgemein). Überall existiert einmal der „monarchus“ (‚Herr‘), dann gibt es die Knechte; das sind „die der Meier (‚Bauern‘), die der Meister, die der Künstler (‚Gelehrten‘), die der doctores, die der Obrigkeit, die der Vögte usw.“ Ein „Monarch“ – der Handwerksmeister z. B. – geht indessen „nit müßig“, er führt die Aufsicht über alles, was in seiner Werkstatt geschieht. In seinem Tun, in seiner Arbeit soll er „mehr sein denn der Knecht“. Während dieser „die gemeine Arbeit“ verrichtet (‚die gewöhnliche’ oder Routinearbeit), muss der Meister „dem Grunde weiter und besser nachsinnen“, „Subtilitaeten“ entdecken (O 238 f.), namentlich planen und Neuerungen ersinnen. Die freien Künste (das sind die akademischen Fächer, die Wissenschaften): Auch der Gelehrte wird die nachgeordneten Tätigkeiten seinen Untergebenen überlassen, während er selber die höheren wahrnimmt. Paracelsus redet den Forscher an: „du aber denke einem Schärferen nach.“ (O 239) Die Obrigkeit (die Regierung, die Exekutive, der Kaiser selbst): darf sich nicht einzig mit einem „Platzhalter“ begnügen, der bloße Befehle ausführt, sondern wird Beauftragte einsetzen, „die volle Gewalt haben“ (übersetzt: ‚der Mächtige muss die Macht delegieren können‘). Als Beispiel das Verhältnis Jesu zu seinen Aposteln: Denn Christus hat nit alle Ding allein tun wollen oder getan, wie etwa morbos curare, sondern hat auch Apostel gebraucht. … Denn der durch St. Peter gesund geworden ist, ist eben so gesund, denn der von Christo gesund gemacht worden ist.(O 239)
Jeder Berufsstand („monarchia“) ist nun verpflichtet, eine Einheit zu bilden und zu bleiben. Schäden, die entstehen, z. B. weil einem Bauern die Saat erfriert, werden innerhalb des Standes ausgeglichen; diejenigen, die verschont geblieben sind, müssen dem Geschädigten beispringen. Nicht
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anders im Handwerk. Auf solche Weise, vermutet Paracelsus, lässt sich der Gleichheitsgrundsatz verwirklichen. Er äußert: „Denn an einem Menschen liegt so viel wie am andern.“ (O 240) Im selben Sinne schlägt er vor, ein Problem, das den Menschen der Epoche zu denken gab, zu lösen: das der Bruderschaften. Bisherige Zerrformen (u.a.: Bruderschaft als Begräbnisgemeinschaft) wünscht er zu eliminieren: „Nicht die Toten begraben, das ist keine Bruderschaft.“ Was stattdessen? „Die rechte Bruderschaft aber ist, daß alle Handwerker des Handwerks gleich genießen.“ (O 242; ‚denselben Anteil am Gewinn haben, der dem Handwerk insgesamt zufließt‘.) Am meisten gefährdet sieht Paracelsus unter den vier Berufsgruppen die Regierenden. Er apostrophiert sie: „ihr Freiherrn und Obrigkeiten“. Erstens bezögen sie ihre Nahrung gewöhnlich eben doch „von den drei andern Monarchien“, beschafften sich von ihnen ihren Unterhalt. Den wesentlich in Form von Geld. Sie könnten viel „sanfter und seliger“ regieren, „wenn ihr des Geldes entledigt werdet. Denn wo Geld ist, da ist auch Sorge. Das ursacht die Mörder …“ Es wandelt die Fürsten in Schlagetots um, verdirbt sie. „Ihr gebts nit dem Lande, sondern nur den Huren und Gleisnern, und es gibt in summa nur bösen Mut, Schande, Arges und Übles, Reichtum, Tanzen, Turnieren, Bankettieren usw.“ (O 244) Zu dem allen kommt die Eroberungssucht der Könige: Was liegt schon Gott daran, fragt der Verfasser, ob er „einen großartigen Arzt macht, einen großen König, einen großen Petrum (‚Papst‘!) mit großer Macht …?“ Was ist dieser und jener? „Item der König, daß er große Länder erobert, groß einnimmt und reich ist?“ (L 210) Außer den vier Ständen bzw. Tätigkeitsfeldern und Berufsgruppen existiert noch eine Art von Menschen, die ihren Lebensunterhalt auf besondere Art gewinnen: Fischer, Jäger und ihresgleichen. Nach Ansicht des Paracelsus kein gottgefälliges Metier; weshalb? Petrus war ein Fischer, doch Jesus nahm ihn mit sich, übertrug ihm eine andere Aufgabe. Eustachius wäre kein Heiliger geworden, hätte er nicht von der Jagd gelassen. Sind aber nun die Fischer und Jäger einmal da, so soll, was sie an Tieren fangen und erlegen, alles den Armen zukommen. Solche Menschen „außerhalb der vier Monarchien“, rät Paracelsus, sollten sich zu einer „Landschaft“ vereinigen, einer Interessengemeinschaft „der Lebendigen“, in der sich einer dem anderen zuwende, sodass er nicht nur seinen eigenen Vorteil sucht. Mit Widerwillen konstatiert der Verfasser zudem außer den „monarchien“ und neben den Fischern und Jägern „noch etliche Rotten“, Menschengruppen, deren spezielles Tun und Treiben vollkommen unchristlich sei; weshalb? Sie „ernähren sich ungöttlich, einer fremden Nahrung, die als verboten in die Zehn Gebote einbegriffen ist“ (245; ohne Präp.
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„von“). Gemeint sind damit die Kaufleute, Krämer, Geldverleiher u. a., darunter auch – wie er ausdrücklich anmerkt und womit er einem zeitgemäßen Vorurteil Ausdruck verleiht – die Juden (O 246). Was die Kaufleute betrifft, so wäre es unmöglich, „in einen unbrüderlicheren Stand und Wesen“ zu kommen. Ihnen sei „keine Schalkheit zu groß, kein Lügen zu viel. … Sie heißen einen Beschiß eine Geschicklichkeit, das Betrügen ein wohl Tun. Schaut, wie kann doch gegenüber dem nächsten Menschen ein größerer Betrug sein denn der von den Kaufleuten! All ihr Leben ist teuflisch.“ (Eine Klimax: „ungöttlich“ – „teuflisch“!) Den Fürsten seien sie trotzdem (oder deshalb?) „die Allerliebsten und die Nächsten an ihrer Seite“, und „sie mischen sich unter den Adel“ (ebd.).20 In den Umkreis dieser Teuflischen rechnet Paracelsus „noch die Kaufmannsknechte, Faktoren, Buchhalter … Sie können dafür nit genug fressen und saufen und alle fremden Frauen und Jungfrauen schänden und zu Huren machen, die Jugend zu allen Tücken reizen, und allen Unrat und Üppigkeit erdichten.“ (O 247) Erscheinen die erhöhte Wertschätzung der Arbeit und die Änderung der Rangordnung der Berufe als progressiver Bestandteil in der sozialpolitischen Gedankenwelt des Paracelsus, so eine Reihe anderer Elemente – aus der Perspektive des Wandels der Produktionsweisen – als auffallend rückwärtsgewandt: die Ablehnung des Geldes (dafür: einfacher Tausch der Arbeitsprodukte), die Verdammung der Kaufleute, Händler, Faktoren usw. Entsprechend fällt in die andere Waagschale die spürbare Favorisierung des Feldbaus und der darin Tätigen sowie der Handwerke, alles in allem der „Handarbeit“ im eigentlichen Sinne, der die stärkere Sympathie des Verfassers gilt. Insgesamt nahm er damit in seiner Epoche, einer Epoche des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus, eine zwiespältige Haltung ein, die sich aus innovierenden Zügen ebenso wie aus retardierenden zusammensetzte.
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Anklage des Berufsstands der Kaufleute ist im 16. Jahrhundert ebenfalls nicht selten, ähnlich wie die Anklage des Reichtums (s. o.). So z. B. bei Erasmus von Rotterdam: „Die Törichtsten und Verächtlichsten von allen sind indes die Kaufleute. Gibt es doch nichts Niedrigeres als ihren Beruf, den sie noch dazu auf gemeine Weise ausüben; denn in der Regel sind sie Lügner, Meineidige, Diebe, Betrüger und Schwindler …“ (In: Das Lob der Torheit, hg. von Curt Woyte, 4Leipzig o. J., S. 87 f.) Auch die Einfügung dieses ErasmusZitats wurde angeregt durch Wilhelm Nölling und seine Blütenlese (Hohe Leuchten, S. 23).
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Ökonomie unter dem Aspekt ‚Eigennutz vs. Gemeinnutz‘ Dem Denken über Arbeit, Berufstätigkeit und Wirtschaftswelt lag in der Epoche des Paracelsus vielfach eine Antithese zugrunde, die auch in seinen sozialpolitischen Schriften vielfach Verwendung findet: Gemeinnutz vs. Eigennutz.21 So schreibt er: „Geld ausleihen, Zins nehmen zerstört den gemeinen Nutz …“ (O 245). Oder in der Anrede an den Adel und die Fürsten: „Aber im Eigennutz werden verlogene Leute aus euch, ihr Freiherrn und Obrigkeiten …“ (O 244). Der Eigennutz verhindere die allgemeine Menschenliebe, stelle sich der Nächstenliebe in den Weg: „Aber der Eigennutz hat stetige Sorge um seinen Schaden, daß also eine gemeine Liebe nit statthat.“ (O 242). Die Figur der Entgegensetzung von Eigen- und Gemeinnutz hatte im 16. Jahrhundert bereits eine lange Geschichte hinter sich.22 Im antiken säkularen Denken war ihr eine wichtige Funktion zugekommen. Im christlichen Denken konnte das Prinzip des Gemeinnutzes mit der Forderung der Nächstenliebe zusammenfallen, sodass der Eigennutz als Widerspruch zu dieser erschien. Entsprechend bei Paracelsus. Er handelt von dem Winzer, dem seine Weinberge eine gute Ernte beschert haben, im Kontrast zu einem Berufsgenossen, der in demselben Jahr nur ein spärliches Ergebnis erzielen konnte. Nun möge der „Wohlgeratene“ darauf verzichten, dass er allein sein Produkt teuer verkaufe, „auf seinen eigenen Nutz, sondern er soll in die Liebe gegenüber dem Nächsten treten, daß sein Gewinn des Beschädigten Gewinn auch sei. Und so wird keiner reicher denn der andere und keiner hat einen Schatz vor dem andern.“ (O 241). Den Eigennutz hingegen spornt der Teufel an: „Er überlegt und denkt Tag und Nacht, daß er unsern Schweiß zum Reichtum treib und in den Eigennutz.“ (L 218) Um des Teufels Anschläge zunichtezumachen, ist von den Menschen „wohl zu bedenken, wie eine jegliche Gabe gegenüber dem Nächsten zu gebrauchen sei, damit das Gebot Gottes vollkommen erfüllt werde. Wiewohl der Satan diese Liebe des Nächsten gar heftig und oft verhindert hat und auf den Eigennutz zieht und treibt, mag er jedoch nichts erzielen, wenn wir anders im Weg und Willen Gottes gehen und wandeln und uns _____________ 21
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Dazu vgl. Conrad Wiedemann, Arbeit und Bürgertum. Die Entwicklung des Arbeitsbegriffs in der Literatur Deutschlands an der Wende zur Neuzeit, Heidelberg 1979, S. 282: „Die Arbeitsgesinnung blieb dem Gedanken verhaftet, das Ausmaß des erlaubten Gewinns an das Modell der mittelalterlichen Ordnung zu binden, d. h. die standesgemäße ‚Nahrung‘ fand da ihre Grenze, wo das Ausmaß des Erwerbs die Funktion des ‚gemein nutz‘ bedrohte.“ Dazu einiges Weitere – siehe unten!
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befleißigen, denselben zu erfüllen. Wo aber nicht, alsbald nur ein kleiner Finger von uns wanket, uns davon abzuziehen, so dringt der Satan mit Haufen List herein, so daß wir nimmermehr zu Gottes Hand kommen. So wird der gemeine Nutz zerstört und zertrennt an Reichtum, Hoffart, Lästerung, Spielen und Huren usw., und so tut ein jeglicher in dem seinen, was ihn gelüstet; und wie es ihm gefällt, dahin richtet ers.“ (O 235 f.) Was schüfe Abhilfe, um die Zerstörung des Gemeinnutzes zu verhindern und die Ausbreitung des Eigennutzes einzudämmen? – Primär die „Ordnung der Gaben“, d. h. die Einhegung der Berufe in Berufsstände oder -gruppen, nach Tätigkeitsfeldern: „Damit aber nun solches Reich und der Eigennutz nit in vita beata eindringen möge, folgt eine Ordnung der Gaben eines jeglichen gegenüber dem Nächsten.“ (O 236; das Nähere bereits dargelegt.) Welche Folge zeitigt nun das Verfahren, die Ökonomie unter den Aspekt der Antithese von Gemein- und Eigennutz zu rücken? Was ist die Konsequenz, wenn das Wirtschaften der Nächstenliebe subordiniert wird, wie diese im Alten und Neuen Testament konzipiert ist? – Paracelsus muss grundlegende Motive dessen, was in der Moderne unter Wirtschaft verstanden wird, verurteilen und, soweit sie vordringen, zurückzudrängen versuchen. Das sticht in den sozialpolitischen Schriften des Paracelsus als eine Komponente hervor, die ihnen zusammen mit der Menge biblischer und theologischer Einsprengsel ein eigentümlich archaisches Aussehen gibt. Es beginnt mit der Kritik am Sammeln von Schätzen: „… sammle keinen Schatz“ (L 209) – und Schatzbildung ist noch nicht einmal ein Charakteristikum des Kapitalismus und erfolgte auf älteren Stufen der Wirtschaftsgeschichte wie auf späteren. Kritik desgleichen am Kaufmann, der seinen Gewinn wieder investiert: „… was ists, daß du dein Gut mit Geschicktheit anlegst, daß du ein König würdest?“ Heute wäre er der Wirtschaftskapitän, der Tycoon, der global player, aber in Hinsicht auf seine Seligkeit ist – so Paracelsus – die Errichtung seines Königreichs (modern: seines ‚Wirtschaftsimperiums‘) der Weg zur Verdammnis. (Ebd.) Ferner sind verboten: u. a. Zinsnehmen, Zehnten, Renten (L 217). Zins z. B. ist purer Diebstahl: … wenn du ein Geld gegen Zins ausleihst, und du gebrauchst den Zins, und das Hauptgut (der alte Ausdruck für ‚Kapital‘) schwindet nit, – was ist das anderem denn einem Diebstahl zu vergleichen? Ursach: du frißt einem andern seinen Schweiß ab. (L 215; und zerstörst „den gemeinen Nutz“, s. o.)
Wer Geld verleiht, soll jedenfalls keinen Gewinn dabei haben, sondern die Summe vorstrecken, weil die Menschen „einander zur Hilfe“ eilen müssen (L 216). In die Kategorie „Diebstahl“ fällt auch der Wucher (ebd.). Ausgeschlossen ist mit alledem die Profitmaximierung, das Profitmachen über-
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haupt: „… es soll doch keineswegs Gut an mich kommen, das nit Ertrag meiner Arbeit ist.“ (V 228) Immerhin verkennt Paracelsus nicht, dass in der Praxis seiner Zeit längst andere Wege beschritten werden als die, auf die er verweist. So z. B. vom Handwerker: „Die Sorgen der Zinszahlungen, der Bürgschaft auf sich nehmen und ausgeben, das ist des Meisters Arbeit.“ (O 238) Hier klingt in dem Wort „Arbeit“ die alte Bedeutung „Mühe, Mühsal“ durchaus noch mit. Der Anathematisierung verfällt im Denken des Paracelsus nicht zuletzt das Konkurrenzprinzip – auch widerspricht es ja der Nächstenliebe: So vergönnt ein Hafner dem andern, ein Bäck dem andern usw. seinen Wohlgang nit. Wie es sich oft begibt, daß ein Arzt dem andern nit vergönnt, daß sein Kranker gesund geworden ist oder wird; er vergönnte es ihm eher, daß er gestorben wäre. … So auch die Kaufleute untereinander … (V 229)
Weisheitslehre, Anthropologie, Ethik So wenig, wie man mit einem Messer eine Wassermasse durchschneiden kann, lassen sich in der Gedankenwelt des Paracelsus die sozialpolitischen Bestandteile von den biblisch-theologischen abtrennen, und so wenig, wie man jene und diese voneinander trennen kann, ebenso wenig von beiden die philosophischen, anthropologischen und ethischen Maximen und Reflexionen. Zunächst zeigt sich des Verfassers Erkenntnis-Optimismus auch darin (kein Agnostizismus!), dass er mit der Bibel annimmt, dem Menschen sei die Fähigkeit verliehen, zwischen Gut und Böse klar zu unterscheiden, sodass er imstande wäre, sein Handeln danach einzurichten: Wenn Gott unserm Leibe eine Zier gegeben hat, die eigene Erkenntnis, daß er aus sich selbst merken kann, was ihm übel ansteht, so soll er dasselbe auch meiden. (V 224)
Unter den großen Übeln ist im Erdenleben eines der größten das Vergehen gegen die Nächstenliebe des eigenen Wohllebens wegen: Unser Reichtum auf Erden soll so sein, daß er uns keine Wohllust gebe. Das ist eine Wohllust: im unseligen Leben wohnen, das ist außerhalb der „Notdurft“, … Reichtum haben und denselben Reichtum nur dir selbst brauchen. Das ist Wohllust gesucht. (L 221)
Abkehr von der „Wohllust“ (luxuria) gilt auch im sexuellen Bereich, innerwie außerhalb der Ehe. Darin verharrt Paracelsus noch völlig auf dem Standpunkt der mittelalterlichen Sexualethik. Die katholische Amtskirche lehrt bis heute, die Ehe diene allein der Fortpflanzung, der Lust keineswegs. Paracelsus schreibt:
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Hast du eine Ehefrau, so ist es dir mit ehelichen Werken mit ihr erlaubt, aber nit zu luxurieren, das ist auszuschweifen. So wenig wie mit Essen und Trinken, so wenig sichs verteidigen läßt, so wenig ist da ein Durst und Hunger da23; ‚sie ist meine Hausfrau‘. Ist sie nun dein Eheweib, so halte sie ehelich und bedenke, daß in allen gerechten Sachen ein Ungerechtes mitlaufen kann.
An dieser Stelle setzt er dann eine Forderung der formalen Ethik hinzu: „Alle Geschöpfe sollen dazu gebraucht werden, dazu sie geschaffen sind, das ist zum Notwendigen allein.“ (Ebd.) Je nachdem ob dies geschehe oder nicht, würden die Kinder ausgestattet sein, die zur Welt kommen: … fromm und nit fromm. … Es werden darum zweierlei Kinder von Mutterleibe geboren: in der Lust und nit in der Lust … So verhielt sich Herodes, nachdem und die Lust seiner Eltern gewesen war; so der hl. Nikolaus entsprechend seiner Geburt, der von Mutterleib an Gott gedient hat. Denn aus der Reinheit der Eltern werden reine Kinder, aus der nit-Reinheit tobt das Blut, daß sie auch unrein werden. Der in Gottesfurcht gebiert, gebiert einen reinen Menschen; der in der Lust gebiert, gebiert ein Weltkind.
Und – um eine Nuance gröber –: Wenn die Eltern in (Liebes-)Lust zeugen, „kommts, daß ebenso diebische, mörderische, räuberische Kinder geboren werden“ (ebd.). Versteht sich, dass diese Theorie der Zeugung von ‚Weltkindern‘, die dem Bösen anhängen, von Geschöpfen, die ihr späteres Leben gar als Kriminelle verbringen werden, in der Anthropologie der Moderne keine Fürsprecher mehr hat. Zum „seligen Reichtum“, der „allein Arbeit“ ist, rechnet der Verfasser doch ein weiteres: die Ehefrau. Die gemeinsamen Kinder, „geboren in der Ehe“ (außereheliche Geburt ist hier stillschweigend missbilligt), sollen erzogen werden „in der Arbeit, zur Arbeit und zur Ehe. Denn so sehen sie nichts als allein Arbeit, allein die Ehe; darin erwachsen sie. Wenn sie das aber nit sehen, sondern sehen Müßiggeher, Hurer, wie denn derselbigen Wesen beinhaltet (‚das Tun und Treiben, das aus deren Wesensart entspringt’), – jetzt verfallen dieselbigen Kinder in den Haufen der Laster.“ (L 220) Zu den Vorschriften, die Paracelsus zum Gebrauch seiner Zeitgenossen niederschrieb, zählen zudem: das Verbot des Luxus, z.B. in der Bekleidung; das Verbot von Schmuck des Leibes, von Gold und Edelsteinen: „Häng die Tugend des seligen Lebens an dich.“ (V 226) Es bleibt nicht aus, dass Paracelsus sich lehrend mitunter in Aporien verfängt, die ihm mit dem christlichen Gedankenerbe überkommen sind. Er notiert, mit Christus seien „ein neuer König, ein neues Gesetz“ erschienen. „Denn das ist der Gott und König, der uns den Leib mit dem _____________ 23
Ins neuere Deutsch übertragen etwa: ‚So wenig wie Ausschweifungen beim Essen und Trinken erlaubt sind, die sich ebenfalls nicht rechtfertigen lassen, auch nicht durch Hunger und Durst verursacht werden‘
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himmlischen Fleisch gibt, aus dem wir geboren werden; seine Demütigkeit ist unser Fußstapfen.“ (V 226 f.) Kurz darauf kommt er aufs Geschmeide zurück, dessen Tragen er ja missbilligt, und fragt: Was ists, daß du, Ritter, eine Kette am Halse trägst? Wer ist ein Ritter, Seele oder Leib? Das ist: der Leib nit, denn er ist nichts. Wo hat nun die Seel ihren Hals, daran güldene Ketten hangen können? (V 227)
Zweierlei Deutung wäre hier zu erwägen. Die buchstäbliche: Der menschliche Leib ist nichts. Aber: Immerhin war es doch Gott (Jesus), „der uns den Leib mit dem himmlischen Fleisch gibt, aus dem wir geboren werden“. Oder die allegorische (weniger wahrscheinlich): Die Rede wäre von seinem Leib, dem Leib Jesu. Er wäre sein Geschenk an uns, dies zu verstehen als Inbegriff der Gemeinschaft der Gläubigen, aus deren Mitte unsere geistig-geistliche Existenz erst erwächst. – Aber wie man es dreht und wendet, unbestreitbar bleibt die Aussage, dass der menschliche Leib „nichts“ sein soll, – derselbe menschliche Leib, der Gottes Schöpfung war und ist. Gegen das Übel, was aus dem Eigennutz rührt, empfiehlt Paracelsus einige Tugenden; aus der Zahl der Kardinaltugenden (das sind: Klugheit, Gerechtigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit) vor allem die Gerechtigkeit; daneben andere: „… du sollst dich mit keinem Betrug ernähren, mit keinem Falsch. Sondern ernähr dich mit Wahrheit und Gerechtigkeit, so wird die Wahrheit und Gerechtigkeit zu Hilfe kommen …“ (L 215) Die Freigebigkeit – so problematisch sie wirkt, wo unbedacht angewendet – wird angeraten, wäre zu praktizieren nach dem Vorbild Gottes: … was Gott auf Erden erschafft und durch sie gibt, dasselbige gibt er mit milder Hand, und soll auch von milder Hand gebraucht und gegeben werden, alldieweil wir nit wie die Heiden, sondern wie die Christen leben sollen“ – und er prägt es neuerlich ein: – „hie auf Erdreich keinen Schatz sammeln. (L 217; „mild“ = ‚freigebig‘.)
Und wiederum: Wir müssen die Ding betrachten und ermessen, wie gütig sie uns Gott gegeben hat und wie mild. Ebenso, mit solcher Milde und Güte sollen auch wir sie untereinander austeilen und keinen Schatz daraus machen … (L 219)
Eine mögliche weitere Remedur erblickt Paracelsus in der Herstellung der Gleichheit und Verwirklichung der Brüderlichkeit.24 In seiner Schrift De generatione et destructione regnorum versammelt er die herrschenden Stände seiner Zeit unter dem Begriff des Unkrauts (sein Terminus: „Raden“). Es sind die Regenten, der Adel, das Stadtbürgertum, Mönchs- und Pfaffenherrschaft: _____________ 24
Beide gleichlautend wie die aus der Französischen Revolution bekannten Parolen, doch sind sie alter, sogar sehr alter Herkunft – siehe unten!
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Die genannten Stände taugen alle nichts zu regieren, denn sie sind eigennützig, wiewohl zu Zeiten zum Schein iustitiam administrieren, – damit sie nachher vielfältige iniustitiam ausführen. Denn die Leute, die Allgemeinheit ist von ihnen geblendet; drum schinden und schaben sie den Armen.25 Eine rechte Obrigkeit soll nit reicher sein als die Gemeine, sondern es muß eine Gleichheit sein. (G 264)
Die Gleichheitsidee findet sich in den sozialpolitischen Schriften des Paracelsus an mehreren Stellen. Die Belege hierfür, obschon in der vorliegenden Untersuchung gelegentlich erwähnt, seien aber doch noch einmal kompakt zusammengestellt: Es ist „kein Reicher von Gott mehr begabt denn ein anderer“ (L 209; nämlich als ein anderer Mensch, ein Armer). Alle haben gleichen Anteil an den irdischen Gütern (oder sollten ihn haben): „Die Erde ist der Menschen, keines mehr denn des andern.“ (L 219) Die „Teile der Erde, die doch für jeden gleich sein sollen, und die niemanden abgekauft oder entzogen werden sollen …“ (bei Strafe der Verurteilung durch das Jüngste Gericht!) (O 237) Mehr sein zu wollen als der andere – also nach Ungleichheit zu streben –, ist Hochmut (V 224). „Denn an einem Menschen liegt so viel wie am andern.“ (O 240) D. h.: Alle Menschen sind in der Schätzung Gottes von gleichem Werte, und allen kommt von den irdischen Ressourcen derselbe Anteil zu; dies noch nicht in der gesellschaftlichen Wirklichkeit seiner Zeit, aber im vorwegnehmenden (utopischen) Denken, in der idealen Konstruktion einer „neuen“ Ordnung der Welt, im ersehnten erneuerten „Jerusalem“. Zur Gleichheit fügt sich die Brüderlichkeit. Sie ist Ausdruck dafür, dass es so zugehe: „Denn wenn man einander in der Gemein liebt …“; das bezieht sich zunächst einmal auf den Berufsstand, das Tätigkeitsfeld. Die Liebe „in der Gemein“ hat aber eine fließende Grenze zur allgemeinen (Menschen-)Liebe, und es könnte sein, dass es dieselbe ist, die bei Paracelsus „eine gemeine Liebe“ heißt. So soll auch in einem Stand, in einer Berufsgruppe gelten: „Da soll die Lieb und Bruderschaft gehalten werden.“ (O 242) Zur Tradition des paracelsischen sozialökonomischen Denkens Waren oben als Fundament der paracelsischen sozialpolitischen Schriften die Bibel, die christliche Theologie und etliche Theologumena benannt worden, so wurde damit noch nicht die Gesamtheit der gedanklichen Voraussetzungen erwähnt, die der älteren Tradition entstammen und ins Werk des Paracelsus Eingang fanden. _____________ 25
Einer der für Paracelsus typischen harschen Angriffe auf die Obrigkeit, vgl. Goldammer, Friedensidee, wie Anm. 8, S. 22.
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Zu dieser zählen nicht zuletzt Grundannahmen und Maximen der Antike, die in den Folgejahrhunderten nicht untergingen, sondern im Schrifttum des Mittelalters und bis weit hinein in die Neuzeit erhalten blieben. Darunter säkulare, nichtchristliche, der christlichen Glaubenslehre aber nicht widersprechende, die auf deren Boden Verwendung finden konnten. Andere zudem, die, ins Christentum eingeschmolzen, fortdauerten und einen Bestandteil geistlicher Argumentation bildeten. Durchaus nicht ungewöhnlich ist es, dass ein Autor der Zeit um 1500 umstandslos auf das Werk eines antiken Kollegen zurückgriff, als wäre dieser (fast) sein Zeitgenosse. Man vermochte sich auf ihn zu berufen, als läge nicht eine Kluft von – sagen wir – anderthalb Jahrtausenden dazwischen. So führte ein Anonymus, der in der Forschung des 19. Jahrhunderts die Kennzeichnung „Oberrheinischer Revolutionär“ erhielt, als Quelle für den Tugendadelsbegriff in Verbindung mit dem gemeinen Nutzen Cicero mit seiner Schrift de re publica an: Der heißt kein edelman, der wider die gescribnen gottlichen rechte tůt, wan der adel wirt erkornt noch (‚nach, gemäß’) der tugend, als Tullius ‚de re publica‘ spricht: der ist edel, der sich herfurtůt, dem gemein nutz vnd witwen vnd weißen zu scirmen.26
In allen späteren Jahrhunderten war eine der wichtigsten Quellen für das sozialpolitische und staatstheoretische Denken in Europa der Politiker und politische Denker Cicero. Bei ihm konnte man als eine seiner grundlegenden Annahmen lesen: … von Natur aus ist eine so große bannende Kraft des sittlichen Strebens dem Menschengeschlecht und eine so große Liebe, das Gemeinwohl zu schützen, verliehen, daß eben diese Macht alle Verlockungen zu Genuß und Nichtstun bezwungen hat.27
Die Beschreibung, die in Ciceros Buch (entstanden 54 – 51 v. Chr.) Africanus (= Cornelius Scipio Africanus minor) vom Staat gibt – was er sei und sein solle –, kann unbezweifelt selbst in der Gegenwart noch als Maßstab dienen: Es ist also … der Staat die Sache des Volkes, das Volk aber nicht jede Versammlung von Menschen, auf welche Weise auch immer zusammengeschart, sondern die Versammlung einer Menschenmenge, die durch die Übereinstimmung der Rechtsvorstellung und die Gemeinsamkeit des Nutzens vereinigt ist.28
Paracelsus hätte wohl sehr gut auch der folgenden Bemerkung Ciceros Beifall spenden können – denn sie ist Geist von seinem Geiste –: „… es gibt _____________ 26
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Zit. wird die Ausg.: Annelore Franke / Gerhard Zschäbitz (Hgg.), Das Buch der hundert Kapitel und der vierzig Statuten des sogenannten Oberrheinischen Revolutionärs, Berlin 1967; hier: S. 245 f. M. Tullius Cicero, Der Staat, hg. von Rainer Beer, o. J. (Rowohlt) 1964, S. 8 f. Ebd., S. 25.
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keine häßlichere Erscheinungsform eines Staates als jene, in der die Reichsten für die Besten gehalten werden.“29 In der philosophischen Hinterlassenschaft des Stoikers Epiktet (geb. um 50. n. Chr., Todesdatum unbekannt) gibt es ebenfalls die Antithese des ausschließlichen Nutzens für den Einzelnen und des Gesamtwohls. Es heißt darin: „Was verlangt man nun von einem Bürger? Daß er nichts für seinen ausschließlichen Nutzen besitze … In dieser Gesinnung würde niemand etwas versuchen, erstreben oder betreiben, was gegen das Wohl des Ganzen wäre.“30 Überhaupt ist unter den philosophischen Systemen der Antike, von denen das Christentum Lehren übernahm oder mit denen die Christenlehre gewisse Gemeinsamkeiten aufweist, vor allem die Stoa zu nennen. Auch die Übereinstimmungen zwischen dieser und den Lehren des Paracelsus sind auffällig. Zum Beleg könnten etwa die „Selbstbetrachtungen“ des Kaisers Marc Aurel (121 – 180 n. Chr.) herangezogen werden. Beim Vergleich mit den Lehren des Paracelsus kann man sowohl auf Einzelheiten abheben wie auf Fundamentales in der Gedankenwelt beider. Zu verweisen wäre z.B. auf Marc Aurels Polemik gegen die Wollust, mit Empfehlung der Askese sowie der Verachtung des Leibes: „Dieser ganze Körper ist Moder und Verwesung.“31 Die Folie ist auch bei dem Kaiser die Erkenntnis der Wandelbarkeit und Vergänglichkeit des Irdischen: „Denn alles ist von Natur zur Umwandlung, zur Veränderung und zum Untergang bestimmt, damit anderes an seine Stelle trete.“32 Gefordert sei daher zweierlei: Ehrung der Götter und Menschenliebe: „… was bleibt übrig? Was anders, als die Götter zu ehren und zu preisen, den Menschen aber wohl zu tun …“33 (Christlich hieße das: Gottesfurcht und Nächstenliebe.) So formuliert er als Basis seiner Ethik: „Liebe das Menschengeschlecht; folge der Gottheit.“34 Daraus ergibt sich, dass der Mensch nicht zum Vergnügen existiere, sondern „zur Tätigkeit, zur Arbeit“.35 Alle Gedanken des Tätigen sollen sich aber auf das Gemeinwohl richten. Es bildet das Leitmotiv in Marc Aurels Buch. Wofür soll man Sorge tragen? „Nur das eine: eine gerechte Sinnesart, gemeinnütziges Handeln, _____________ 29 30 31 32 33 34 35
Ebd., S. 31. Handbüchlein der Moral und Unterredungen, hg. von Heinrich Schmidt, Leipzig o. J., S. 68. Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, übers. von Albert Wittstock, Stuttgart 1956, S. 127. Ebd., S. 191. Ebd., S. 76. Ebd., S. 104. – Vgl. S,. 36: Der vorbildliche Philosoph erachtet es als „der Menschennatur angemessen …, unseresgleichen zu lieben …“ Ebd., S. 61.
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beständige Wahrheit im Reden und eine Gemütsstimmung, alles, was uns zustößt, mit Ergebung hinzunehmen wie eine Notwendigkeit …“36 Die Quellen der Spätantike wie des frühen Mittelalters tradierten den Begriff des Gemeinwohls, des gemeinen Nutzens durch die Jahrhunderte. Begriff hier meint: die Vorstellung, die Idee, das Ideal; die sprachlichen Äquivalente im Latein hingegen sind variabel, auch in den Nationalsprachen, aber – mit jenem verglichen – spärlicher. Lateinisch: salus publica (so in dem oft zitierten Satz Ciceros: salus publica suprema lex esto, De legibus III,3,8), (Variante:) salus populi (civium); (ferner:) utilitas rei publicae, utilitas publica, utilitas communis, utilitas generalis, bonum commune, bonum publicum. Deutsch: gemeiner Nutz, der gemeine Frommen, das gemeine Beste. Französisch: commun pourfit (proffit, profit), commun besoigne etc.37 Dieselbe Begrifflichkeit begegnet im späten Mittelalter wieder u.a. bei Johannes Quidort von Paris in seiner Schrift De regia potestate et papali (ca. 1302), in der Definition des Königtums: „Regnum est regimen multitudinis perfectae ad commune bonum ordinatum ab uno.“ (‚Königtum ist die auf das Gemeinwohl hingeordnete Regierung einer vollkommenen Menge durch einen.’)38 Die Antithese lautet bei Johannes: proprium bonum / bonum commune multorum.39 Einen Zeitgenossen des Paracelsus, den Dichter und Propagandisten der lutherischen Reformation Hans Sachs, bewogen die Zustände seiner Zeit zu heftiger Kritik, wiederum angeordnet auf der Achse Eigennutz – Gemeinnutz. So entstanden z.B. seine Dialoge: Klag der brüderlichen lieb uber den aygen nutz und Der eygen nutz, das grewlich thir, mit sein zwölff eygenschafften.40 _____________ 36
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Ebd. S. 35 f. u. 55. – Vgl. ebd. ferner: 87, 118, 143, 146, 151 („… so erfüllt auch der Mensch, zum Wohltun geboren, so oft er eine Wohltat erweist oder etwas für den allgemeinen Nutzen Förderliches leistet, seinen natürlichen Zweck und empfängt damit das Seinige.“), 181, 191. Darlegungen nach Walther Merk, „Der Gedanke des gemeinen Besten in der deutschen Staatsund Rechtsentwicklung“. In: Festschrift Alfred Schultze, Weimar 1934; die angeführten Belege (und viele mehr:) finden sich zwischen S. 454 und 519. – Noch im Grundgesetz „für die Bundesrepublik Deutschland“ existiert die Formel: „Wohl der Allgemeinheit“. Ausg. unter dem Haupttitel: Über königliche und päpstliche Gewalt, hg. von Fritz Bleienstein, Stuttgart 1969; hier: S. 75 u. 220. Ebd., S. 76 / 221. – Die Antithese eignete sich vorzüglich als Waffe im Kampf gegen das Papsttum! So reflektiert Johannes einmal die Möglichkeit der Absetzung des Papstes im Falle, dass dieser das Kirchengut nicht zum Allgemeinwohl verwende, „non ad bonum commune“. In: Werke, hg. von A. von Keller, Bd. 3, Stuttgart 1870, S. 302–305 u. 491–501. Vgl. hierin: „Doch ist der arme wie der reich / Im eygen nutz ersoffen gleich.“ (304) Sachs verzichtet so wenig wie Paracelsus auf die Drohung mit dem Jüngsten Tag (305). Er trägt die Metapher vom „wolffsmagen“ vor; das sei „aygner nutz“, der sämtliche lebensnotwendigen Güter verschlinge, vor allem, soweit er in Gestalt der Handelsgesellschaften auftrete und als „factorey“, also als Kaufmannsniederlassung (496).
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Von bedeutendem, noch höherem Alter als die Antithese Gemeinnutz / Eigennutz ist der Gleichheitsbegriff. Seine Entstehung wird in der vorchristlichen Antike vermutet: „Seit etwa der Mitte des 5. Jahrhunderts meldet sich in Athen die Forderung nach politischer, wirtschaftlicher und sozialer Gleichheit (Isotes) …“41 Auch Otto Dann setzt den Beginn der Frühgeschichte des Begriffs in die Epoche um 500 v. Chr. Er sieht einen Zusammenhang mit den Reformen des Kleisthenes (Terminus: „isonomia“) und verweist auf die Begriffsverwendung bei Herodot (Gleichheit solle vereint mit Freiheit sein).42 Etwa 500 Jahre später argumentierte Seneca: Haben doch Alle denselben Ursprung, dieselbe Abstammung; kein Mensch ist edler als der andere, es sey denn, daß sein geistiges Wesen besser beschaffen und zu edelm Wissen fähiger wäre. … Die eine Mutter unser Aller ist die Welt …43
Den mittelalterlichen Autoren war der Gleichheits- wie der Freiheitsbegriff ebenso bekannt wie den antiken, oft mit der Versicherung verbunden, alle Menschen seien nach ihrer Abstammung vom ersten Menschenpaar oder aus der Erde sowie im Tode gleich. Berthold von Regensburg schrieb: „de eadem terra sum ego et rex … natura omnes homines equales fecit.“44 („Aus derselben Erde sind wir beide hervorgegangen, ich und der König … Die Natur zeugt alle Menschen gleich.“) Um 1500 schreibt der Oberrheinische Revolutionär: „Wir sind all gebrůder von Adam herkummen.“ Nicht die Person oder der Rang seien entscheidend dafür, ob einer edel genannt werden dürfte, sondern sein Tun (Tugendadelsbegriff): „Alß der sprach von gott, der tůt glich den armen als dem richen, nit angesehen die person, oder von was wirden die sig (‚sei‘), sunder (‚sondern einzig und allein‘) die tat, so er begangen hatt.“45 Bei Paracelsus findet sich die Formulierung: „Die rechte Bruderschaft aber ist, daß alle Handwerker des Handwerks gleich genießen.“ (O 242). Darin zeigt sich die enge Nachbarschaft des Gleichheits- und des Begriffs der Bruderschaft. Aus diesem erwächst ihm die Brüderlichkeitsforderung. Wie der Gleichheits- und der Freiheitsbegriff ist auch der Gedanke der _____________ 41 42
43 44 45
Klaus Thraede, (Art.:) „Gleichheit“. In: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 9 (1981), Sp. 122-166; hier: Sp. 123. Otto Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung. Das Gleichheitspostulat in der alteuropäischen Tradition und in Deutschland bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert, Berlin 1980 (Historische Forschungen, Bd. 16), S. 34–36; dazu vgl. desselben Verf.s Beitrag: „Gleichheit“. In: Brunner, Otto / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hgg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2 (Stuttgart 1975), S. 997–1046. Von den Wohlthaten (De beneficiis), übers. von J. Moser, Stuttgart 1829, S. 761. Zit. in: Anton E. Schönbach, Studien zur Geschichte der altdeutschen Predigt VIII, (repr.) Hildesheim 1968, S. 15. Buch, wie Anm. 26, S. 245.
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Brüderlichkeit aller Menschen, die miteinander in Liebe verbunden sein sollen, antiken Ursprungs. Er geht u.a. auf Epiktet zurück, von dem die Aussage stammt: Durch die Beziehung zu Zeus, dem Vater aller Menschen, seien diese untereinander verwandt, seien alle Menschen – Brüder.46
Fazit Es ist nachgerade zum Gemeinplatz geworden zu sagen: Weil dieser oder jener Autor in einer Epoche des Übergangs lebte, sei sein schriftliches Erbe von der Epoche geprägt und wie diese zwiespältig, zeige es doch die Einwirkung des Alten wie des Neuen, enthalte es doch seinerseits die Züge einer Lehre im Übergang. Topoi sind aber nicht stets unbrauchbar; für manchen Autor in Zeiten starken Wandels ist die Einsicht völlig zu bestätigen, sodass gilt: weil er in einer Epoche im Übergang lebte, daher der Übergangscharakter seiner Lehren. Das Ideengut des Paracelsus, das ihm als Material diente, um seine eigene sozialpolitische Gedankenwelt auszubauen, bezog er zwar vorwiegend aus biblischen Quellen, christlichen, theologischen, doch zudem aus der sonstigen alteuropäischen Tradition. So weit entstammt es überwiegend vergangenen Epochen. Es war aber auf eine stark veränderte Gegenwart zu applizieren. Des Paracelsus sozialpolitische Gedankenwelt bedeutete zweifellos den Versuch, das gesellschaftliche und ökonomische Geschehen seiner eigenen Zeit begrifflich zu erfassen, scharf zu kritisieren und energisch zu reformieren. Als sein Ziel dabei lässt sich angeben: der in Umgestaltung begriffenen Gesellschaft und Wirtschaft die Bahnen anzuweisen, in denen sich entsprechend biblischen Vorschriften, tradierten säkularen Idealen und vom Verfasser selbst gefundenen Spielregeln ihre Entwicklung vollziehen sollte. Dabei trat eine Eigentümlichkeit auf, die Paracelsus mit einigen anderen Autoren der Epoche teilte: die Ambivalenz zweier Grundzüge, von denen der eine, ein weit in die Vergangenheit rückwärtsweisender, dem sozialpolitischen Denken des Autors eine bemerkenswert altertümliche Färbung verlieh, der andere, ein vorwärts in die Zukunft weisender, demselben Denken einen nahezu modernen – fast ‚demokratischen‘ – Charakter. _____________ 46
Epictetus, The discourses (…), hg. von W. A. Oldfather, Vol. 1, London 1956, Buch 1, Kap. 13, S. 98 f. – Vgl. auch: Epiktet, Vom Kynismus, hg. von Margarethe Billerbeck, Leiden 1978, S. 119.
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Der rückwärtsweisende Zug: Es ist derselbe, den Fabiunke für Martin Luther nachwies. Luther habe „auf der Grundlage einer stark ethischreligiös ausgeprägten traditionalistischen Gesamthaltung einen deutlich naturalwirtschaftlich bestimmten Standpunkt“ eingenommen. Es sei ihm „in der irdischen Welt, besonders in der Wirtschaft, um die Erhaltung und Herstellung ‚natürlicher‘ Verhältnisse und ‚menschlicher‘ Beziehungen“ gegangen: Von naturalwirtschaftlichen Gesichtspunkten aus beurteilte er daher auch in erster Linie die vielfältigen und weit verbreiteten Erscheinungen der Warenproduktion, die seiner wirtschaftlichen Umwelt mehr und mehr das Gepräge gaben.47
Versuchte Paracelsus Wesentliches von dem, was in der Ökonomie an Innovationen aufkam und das Leben der Menschen im Alltag je länger, desto einschneidender veränderte, soweit er es verwarf, mit dem Terminus des „Eigennutzes“ zu bannen, so kann nicht verwundern, dass er – darin einem Kaiser verwandt, der mehr als ein Jahrtausend vor ihm gelebt hatte –, den Gemeinnutz um so leidenschaftlicher positiv akzentuierte. Die Reichtümer der Erde wurden von Einzelnen angeeignet? Aber sie sollten allen dienen, das Eigentum aller sein – der Gemeinnutz verlangte es! Es rissen inhumane Verhältnisse ein, inhumane Lebensbedingungen wurden den Menschen auferlegt, vor allem den Angehörigen des Bauernstands und des Handwerks? Was ließ sich in der Sphäre der Ideen besser dagegensetzen als alt tradiertes Gedankengut, besonders aus der antiken Politiklehre und Philosophie und aus dem christlichen Katechismus? Der Dekalog, die Nächstenliebe! Die Bergpredigt, die Seligpreisungen! Schon die Auswahl aus dem, was Bibel und Theologie boten, charakterisiert die Radikalität der Gedankenwelt des Paracelsus. Es galt ja immer noch, was Otto Dann für die Gleichheitsidee im antiken Christentum hervorhob: deren „soziale Sprengkraft“48, und diese konnte mehr als ein Jahrtausend später vielleicht noch einmal gesteigert erscheinen. Daher mag es stark enthusiasmiert klingen, was Goldammer 1955 formulierte, jedoch ist es in der Tendenz korrekt gesehen: „Die revolutionäre Dreiheit von liberté, egalité und fraternité findet sich der Sache nach durchaus unter den Forderungen Hohenheims.“49 So rückwärtsgewandt in manchem – im Griff zu altem Gedankengut, zu naturalwirtschaftlichen Vorstellungen –, so aktualitätsfern diese sozialpolitischen Schriften des Paracelsus heute erscheinen mögen: ein aktueller Beitrag zu seiner Epoche waren sie gleichwohl. Weshalb, wodurch? _____________ 47 48 49
Luther, wie Anm. 6, S. 105. Gleichheit und Gleichberechtigung, wie Anm. 42, S. 58. Friedensidee, wie Anm. 8, S. 29.
Zu den sozialpolitischen Schriften des Paracelsus
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Weil und indem er überlieferte Ideenwelten (Gemeinnutz, Gleichheit, Brüderlichkeit), die er als Gegenwurf zu essenziellen Tendenzen seiner Epoche empfand, abermals aufnahm – sie radikalisierend aktualisierte. Damit stand er mit beiden Beinen inmitten seiner unruhigen, einer umstürzenden Epoche, stand er als beobachtender, kritischer, konzeptiver Zeitgenosse in seiner eigenen Gegenwart. Anderes, worüber er spekulierte, manches, was Paracelsus ersann – von der methodologischen Innovation bis zur gedanklichen, von der Aktualisierung utopischer Vorstellungen der Vergangenheit bis zur Geltendmachung vormals nicht da gewesener Gesichtspunkte – sollte erst der Zukunft gehören. So z. B. – und auch hier abermals mit der Brüderlichkeitsforderung verbunden – der Vorschlag: „Wenn wir uns nur so brüderlich untereinander hielten, so würden vier Tage Arbeit genug sein.“ (T 254) Wie sähe die moderne Arbeitswelt wohl aus, wenn dieser paracelsische Vorschlag ganz allgemein in die Tat umgesetzt wäre? Versteht sich: bei vollem Lohnausgleich; alles andere wäre ein Verstoß gegen den Brüderlichkeitsgrundsatz.
Die bildhafte Sprache des Paracelsus und ihr Verhältnis zu den alchemistischen Diagrammen: Die Zeichen und das Zeigen Matthias Vollmer
Einleitung Im unmittelbaren Vorfeld dessen, was wir spätestens seit Johannes Kepler unter neuzeitlicher Naturwissenschaft verstehen, formulierte Paracelsus, der „Empedokles der Frühen Neuzeit“1, auf der Basis der Mikro- und Makrokosmos-Entsprechung eine Signaturenlehre, die besagt, dass sich in jedem Teil der Natur ein verborgenes und wahres Wesen in äußeren Zeichen ausdrückt. Diese anschauliche Zeichenhaftigkeit der Natur versuchte Paracelsus sprachlich adäquat zu vermitteln. Er bemühte sich, eine Einheit von Zeichen und Bezeichneten zu denken und in eine bildhafte Sprache zu übertragen. Im Folgenden sollen einige Überlegungen zur paracelsischen Signaturenlehre und den mit diesem Natur-Erklärungsmodell verbundenen semiotischen Grundbedingungen angestellt werden. Paracelsus hat keine einheitliche oder systematische Zeichen- und Signaturenlehre geschaffen. Seine Überlegungen zum Zeichen und die daran geknüpften Bedingungen und Möglichkeiten des Zeigens finden sich über sein ganzes Werk verteilt und sind nicht widerspruchsfrei. Es kann also nicht darum gehen, eine einheitliche paracelsische Zeichenlehre zu rekonstruieren, da es sie nie gegeben hat. Es soll versucht werden, Äußerungen des Hohenheimers zu analysieren, die darauf abzielen, zu einer sicheren Erkenntnis der natürlichen Vorgänge mittels einer besonderen Lesart der richtigen Worte zu kommen. Eines der einflussreichsten und anschaulichsten Welterklärungsmodelle der Antike und des Mittelalters bis zur Frühen Neuzeit war die Theorie, dass der Mikrokosmos des Leibes den Makrokosmos der übergeordneten Schöpfung widerspiegelt. Mithilfe von komplexen Kosmogrammen ver_____________ 1
Böhme, Gernot und Hartmut Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente. München 1996, S. 127.
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suchte man, diese naturgegebene Tatsache anschaulich und umfassend ins Bild zu setzen und gleichzeitig dem Umstand Rechnung zu tragen, dass jedes Ding seine existenzielle Legitimation erst durch einen göttlichen Zeichengeber bekam.2 Auch die Vorstellungswelt der Alchemie basiert auf einem signatorischen Mikro-Makrokosmos-Modell, doch dieses ist einer ganz anderen Intention unterworfen. Es geht hier nicht in erster Linie darum, sich der Natur verstehend zu bemächtigen, ihre Gesetzmäßigkeiten zu begreifen und wissensvermittelnd ins Bild zu setzen, sondern alles Natürliche wird prinzipiell als Geheimnisträger angesehen, dessen secreta nur Wenige verstehen können und sollen. Da diese also nicht ohne Weiteres mitgeteilt werden dürfen, werden sie sprachlich und bildlich verschlüsselt. An der Schwelle zur Neuzeit, in der Formierungsphase wissenschaftlich-objektiver Naturbeobachtung, bedienten sich verwandte und doch unterschiedliche Welterklärungsmodelle verschiedener Bildlichkeiten. Diesen Bildhaftigkeiten lagen konträre und zugleich komplementäre Vorstellungen von Wissensvermittlung zugrunde, von denen hier drei in aller Kürze umrissen werden sollen.
Mittelalter Im Mittelalter kam dem platonischen Gedanken, dass der Makrokosmos sich im Menschen als dem Mikrokosmos3 spiegelt, konstitutive Bedeutung zu. Am anschaulichsten wird dies vermittelt durch Diagramme, welche die elementare Einbindung der Welt und des Menschen zeigen. Ein Kosmosbild, das der Enzyklopädie De Natura rerum4 des Domini_____________ 2
3 4
Die utilitas der Dinge liegt in der angestrebten Erkenntnis Gottes, der Veranschaulichung nicht-sichtbarer abstrakter Wahrheiten. Im mimetisch bedingten Zusammenspiel von Imagination und Imitation scheint die emotionale und religiöse Glaubwürdigkeit gebunden zu sein an die bildhaften Übersetzungen eines Weltbildes. Veranschaulichung ist ein Erkenntnisprozess, der zum körperlichen Miterleben führen soll. Der Gegenstand der Erkenntnis wird somit mittels seiner Bildhaftigkeit und seiner Fähigkeit, Bilder zu generieren, nicht in erster Linie als Abstraktum begriffen, sondern er wird vor allem körperlich erfahren. Siehe: Bräunlein, Peter J.: „Bildakte. Religionswissenschaft im Dialog mit einer neuen Bildwissenschaft“. In: Religion im kulturellen Diskurs. Festschrift für Hans G. Kippenberg zu seinem 65. Geburtstag, hg. von Brigitte Luchesi und Kocku von Stuckrad. Berlin, New York 2004, S. 195–233, hier S. 222 f. Finckh, Ruth: Minor Mundus Homo. Studien zur Mikrokosmos-Idee in der mittelalterlichen Literatur. Göttingen 1999. De natura rerum, München, Bayerische Staatsbibliothek, Ms. lat. 2655, fol. 105r. Selten besprochen wird die vorhergehende und zugehörige Seite fol. 104v. Hier wird die stehende, nackte Gestalt des Menschen gezeigt, der von Personifikationen der Elemente und Jahreszeiten umgeben ist. Seine Arme sind auf beiden Körperseiten leicht erhoben, sodass seine Kör-
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kaners Thomas von Cantimpré (gest.1270) in einer naturwissenschftlichen Sammelhandschrift (um 1295) unmittelbar nachgeschaltet ist, zeigt dies propädeutisch.
Abb. 1: Kosmosbild, De Natura rerum, Thomas von Cantimpré, München, Bayerische Staatsbibliothek, Ms. lat. 2655, fol. 105r, naturwissenschaftliche Sammelhandschrift (um 1295).
_____________ perhaltung jener des die Welt umfassenden Schöpfergottes ähnelt. Um seinen Kopf kreisen die sieben Planeten. Über seinem rechten Arm befindet sich ein Medaillon, das eine Personifikation des Frühlings zeigt, darüber reitet eine luftige Figur auf einem stehenden Vogel. Über dem linken Arm des Mannes ist im Medaillon der Sommer und darüber das Element Feuer auf einem Löwen zu sehen. Die untere Körperhälfte wird ganz ähnlich von den übrigen Elementen und Jahreszeiten eingefasst: rechts unten säugt Terra den Zentauren auf dem sie reitet, darüber ist der Winter in seinem Kreis zu erkennen. Auf der anderen Seite sitzt ein Wasserwesen auf einem großen Fisch, darüber zeigt der Herbst Pflanzen und Zweige. Siehe Zahlten, Johannes: Creatio mundi. Darstellungen der sechs Schöpfungstage und naturwissenschaftliches Weltbild im Mittelalter. Stuttgart 1979, S. 181, 185, 198, 200, Abb. 363, der ebenfalls nur die kosmologische Abbildung zeigt. Vgl., Beer, Ellen J.: Die Rose der Kathedrale von Lausanne und der kosmologische Bilderkreis des Mittelalters. Bern 1952, S. 22, 39, 45, Abb. 54; Wirth, Karl-August: „Erde“. In: RDK, Bd. 5, Sp. 10671068, 1088, Abb. 37; Popitz 1965, S. 10-11; Nilgen, Ursula: „Elemente, vier“. In: LCI, Bd. 1, Sp. 600-606, hier Sp. 604, Abb. 3; Böhme/Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft, S. 221227, Abb. 20; Holländer, Hans: „Zeichenkonzeptionen in der Architektur und bildenden Kunst des lateinischen Mittelalters“. In: Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, hg. von Roland Posner, Klaus Robering, Thomas A. Sebeok. Berlin, New York 1997, 1. Teilband, S. 1065-1094, hier S. 1070–1071, Abb. 55.5; GORMANS, Andreas: Geometria et ars memorativa. Studien zur Bedeutung von Kreis und Quadrat als Bestandteile mittelalterlicher Mnemonik und ihrer Wirkungsgeschichte an ausgewählten Beispielen. (Diss. RWTH Aachen 1999). Aachen 2003. (http://darwin.bth.rwth-aachen.de/opus3/ volltexte/2003/551/), S. 146 f.
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Die Figuren und ihr attributives Beiwerk sind nur zeichenhaft und recht allgemein gezeigt, doch die Darstellung ist durch die Intention bestimmt, die abstrakten Begriffe und ihre Bezüge auf das Anschaulichste zu zeigen. In Wort und Bild soll die Verbindung von antiker Kosmologie und christlicher Schöpfungstheologie quasi in einem Blick vorgeführt werden. Zentraler Fixpunkt dieses memorativen Kosmogramms ist die von wirbelnden Wassern umkreiste Erde. Eingefasst wird dieses Zentrum vom Firmament, dem Bereich der sich konzentrisch drehenden Planetensphären, zu denen auch Sonne und Mond zählen. Rot bzw. rosa abgesetzte Kreisringe, die für die Sphären, die Engelshierarchien und Himmelsorte stehen, umschließen ihrerseits das Firmament. Gerahmt wird diese kosmologische Hierarchie von einem Quadrat, in dessen Zwickel die Buchstaben für caelum eingetragen sind und dessen gelbe Rahmenleiste die Inschrift zeigt: „Aus dem Nichts schuf alles die Hand des Allmächtigen. Auf vierfache Weise bestimmt der Zusammenklang (Hymnus) der Elemente den Weltkreis“.5 Dieses Quadrat ist von den vier sich an den Händen haltenden halbfigurigen Personifikationen der Elemente umgeben. Ihr gemeinsames Auftreten veranschaulicht einmal mehr die Einheit der Vielheit. Die Personifikationen sind darüber hinaus buchstäblich in ihrem Element: Sie ragen rot aus den Flammen, bräunlich aus der Erde, weiß aus den Wolken und bläulich aus den Wellen hervor. Sie werden noch näher bezeichnet: Während die Personifikationen von Luft (aer) und Feuer (ignis) durch Vögel und Phönix gekennzeichnet sind, saugen an den Brüsten von Erde (terra) und Wasser (aqua) Köpfe, in deren Haaren Salamander und Schlange bzw. Fische zu erkennen sind. Unmittelbar über den verschränkten Händen der Elemente steigen aus stilisierten Wolkenformationen die Torsi der vier Hauptwinde auf. Jeder von ihnen hält in jeder Hand die Häupter der ihm zugeordneten Nebenwinde. Umschlossen wird diese Komposition von einem weiteren blassgelben Quadrat, das mittels der zweifachen Anwendung des Prinzips der Quadratur konstruiert wurde. Es weist also exakt den vierfachen Flächeninhalt des gelb umrandeten innersten Quadrates auf, welches die Kosmos-Darstellung im Zentrum einschließt. Die Position der konstruktiven Eckpunkte des zwischen innerem und äußerem Quadrat vermittelnden dritten Quadrates werden durch die Köpfe der vier Elemente markiert. Die Arme der elementischen Personifikationen geben den Verlauf der Quadratseiten an. Eingespannt zwischen dem äußeren Quadrat und einem Kreisring, der durch dessen Ecken geflochten ist, steht der Kosmokrator mit ausgebreiteten Armen in der Manier, wie sie auch von gleichzeitigen mappae mundi be_____________ 5
„Omnio ex nihilo fecit manus omnipotentis“.
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kannt ist.6 Seine Bedeutung wird durch die bereits zitierte Umschrift des inneren Rahmenquadrats: „Omnio ex nihilo fecit manus omnipotentis“ unterstrichen; der Kosmokrator umspannt also das, was er geschaffen und durch seine Menschwerdung erlöst hat. In den Ecken des die gesamte Komposition umfassenden Rahmens hocken auf kleinen Sockeln die das menschliche Leben regelnden vier Kardinaltugenden mit ihren Attributen. Die weise Prudentia hält oben links die Schlange in ihren Händen; rechts folgt Iustitia, mit ihrer ausbalancierten Waage; Fortitudo, wird durch den Löwen an ihrer Seite genauer bestimmt, und Temperantia, unten rechts, verdünnt maßvoll den Wein mit Wasser. Entsprechend der mittelalterlichen Annahme, dass die Zahl Vier das universale Zeichen der Schöpfung sei, formuliert die Inschrift des äußeren Kreisbogens in vier Sätzen das Programm der christologischen Kosmologie, die durch die Makro-Mikrokosmos-Analogie und die Elementenlehre bestimmt ist: Seit ewig war der Lebendige im himmlischen Gespräch. Der Archetyp der Welt ist wahrnehmbar und fruchtbar. Der Mensch ist Mikrokosmos als Bild für alles von der Erde Hervorgebrachte. Durch die vierfache Kraft des Geistes und der elementischen Körper.7
Eine Reihe der gezeigten Symbole und Personifikationen können auch in alchemistische Zusammenhänge gestellt werden: Die Brüste der Natur, die natura lactans wird in der Alchemie zum Bildschema der terra hominis nutrix. Die im Firmamentum schwebenden sol und luna können seit ottonischer Zeit auch Feuer und Luft signifizieren und da unterhalb von sol und luna im Spiralwirbel die Wassersphäre eingezeichnet ist, die in ihrem Kern (die Erde) umschließt, so sind auch im inneren Quadrat wieder alle vier Elemente gegenwärtig: Die vollständige figura solida der alchemistischen Elementenlehre ist gezeigt.8 Die similitudines rerum visibilium, die Ähnlichkeiten der sichtbaren Dinge sind es, die das allegorische Sprechen und das spirituelle Verstehen ermöglichen. Der exegetische Nutzen der Dingbeschreibung und ihrer Darstellung _____________ 6 7
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Z. B. die Ebstorfer Weltkarte des Gervasius von Tilbury. Hartmut Kugler (Hg.): Die Ebstorfer Weltkarte. 2 Bde. Berlin 2007. De natura rerum, München, Bayerische Staatsbibliothek, Ms. lat. 2655, fol. 105r : „Vivus ab eterno fuit in sermone superno. Archetypus mundus et sensilis iste secundus. Est homo terrigena microcosmus ymagine plena. Vi quadrua mentis et corporeis elementis.“ Bober, Harry: „In Principio. Creation before Time“. In: De artibus opuscula XI. Essays in honor of Erwin Panofsky, hg. von Millard Meiss. New York 1961. Bd.1, S. 13-28, S. 27: „Compositional structure and intellectual content develop perfectly and completely in the formal and visual realm of which the schemata have been an unrecognized determinant. The monogram, as a figured schema, develops visual graphic exegesis in the art of the book in much the same way that verbal exegesis is practiced by the textual commentators.“
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liegt in der allegorischen Entzifferung enigmatisch-bildhafter Bibelstellen.9 Die naturhaften Zusammenhänge und ihre jenseitige Legitimationsstruktur werden in einem synoptischen Blick gezeigt.
Paracelsus – Ähnlichkeit und Signifikation Paracelsus nun geht es nicht in erster Linie darum zu zeigen, dass in seinem dichten System von welterklärenden Beobachtungen, in dem mittels Zugehörigkeiten und Ähnlichkeiten Sinn gestiftet und Erkenntnis vermittelt wird, der höchste und letzte Legitimationsgrund allen Seins auf der Heilsgeschichte basiert. Paracelsus will vielmehr in seinem chemischen und semiologischen Weltbild der Signifikation den menschlichen Körper als die komplexeste Verdichtung von Bedeutungen sowohl im Reich der Natur als auch im Bereich des Geistes erfassen. Dem Diktum der Tabula Smaragdina10 folgend „Was oben ist, das ist auch unten“, erklärt Paracelsus die wesentliche Korrespondenz der Dinge des Himmels und der Erde in einem übergeordneten System naturphilosophischer Medizin per analogiam. Dan wie es außen ist, also ist es in im auch, und was außen nit ist, das ist in im auch nit. Und ein ding ist, das eußer und das inner.11
Alles, was zur natürlichen Ordnung der paracelsischen Welt gehört, ist sichtbar und unsichtbar zugleich.12 Ihre wahrnehmbaren Gestalten, ihre _____________ 9
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Mittelalterliche Enzyklopädien sind vor allem als Darstellungen der Werke Gottes zu verstehen, und nicht als „objektive“ wissenschaftliche Faktensammlung. Die Erfassung der sichtbaren Dinge führt zur Erkenntnis Gottes. Bartholomäus Anglicus († nach 1250) bezieht sich im Vorwort seiner Enzyklopädie De proprietatibus rerum auf den Anfang des Römerbriefs (1, 20): „Seit Erschaffung der Welt wird seine unsichtbare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen, […].“ Bei: Meyer, Heinz: Die Enzyklopädie des Bartholomäus Anglicus, Untersuchungen zur Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte von „De proprietatibus rerum“. München 2000, S. 27. Irrtümlich dem Hermes Trismegistos zugeschrieben (1614, Isaak Casaubonus). Yates, Frances A.: The Art of Memory, Chicago, 1966, S. 321; dies.: The Rosicrucian Enlightenment. Boulder 1978, S. 111; und dies.: Giordano Bruno and the Hermetic Tradition. London 1964, S. 432–440. Das Buch Paragranum, VIII, 180. Die Werke des Paracelsus werden nach der Sudhoffschen Ausgabe zitiert: Karl Sudhoff (Hg.): Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus, Sämtliche Werke, I. Abtlg: medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften. 14 Bde. München, Berlin 1922-1933. Zuerst ist der Titel des Buches angegeben, dann folgen die röm. Ziffern, die den Band der Sudhoffschen Ausgabe angeben, und schließlich die Seitenzahl. Um eine bessere Lesbarkeit zu gewährleisten, wurde einige Male auch aus anderen Ausgaben zitiert, auf die an entsprechender Stelle verwiesen ist. Grundlegend für die folgenden Darlegungen war: Wegener, Christoph: Der Code der Welt. Das Prinzip der Ähnlichkeit in seiner Bedeutung und Funktion für die Paracelsische Naturphilosophie und Erkenntnislehre. Frankfurt a. M. u.a. 1988. Die Bücher von den unsichtbaren Krankheiten, IX, S. 252 ff.
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corpora, haben die Dinge aus den Elementen, ihre unsichtbare kraft und tugent aus der natürlichen Ordnung des Firmaments.13 Beides gehört zusammen, sichtiges und unsichtiges sind ein ding.14 „dan eins one das ander mag nicht sein“15 Der Zusammenhang einer unsichtbaren geistigen und kosmischen Dimension mit einem jeweils entsprechenden, sichtbar physischen Erscheinungsbild ist nicht nur in Bezug auf den Menschen konstitutiv, sondern darüber hinaus auch für jede Einzelerscheinung eines nichtmenschlichen, natürlichen Bereichs. In seiner unsichtbaren Tugend besitzt jedes natürliche Ding eine scientia, ein Wissen seiner selbst, das alles enthält, was ein Ding ausmacht.16 Der Weg zu diesem Wissen führt über die Betrachtung der Natur, die der Ort der Zeichen ist, die wiederum auf das Unsichtbare verweisen: denn alle creata sind Buchstaben und Bücher, um des Menschen Herkommen zu beschreiben. Das ist: will man eine alte Historie wissen, so muß man sie aus den Schriften nehmen, und die Schrift ist nichts anderes als eine Zusammensetzung der Buchstaben. Also sind alle creata Buchstaben, in denen gelesen wird, wer der Mensch ist.17
In der gesamten Natur finden sich sogenannte signa signata, Zeichen der Glieder, Körperteile und Organe des Menschen.18 Diese Zeichen19 verweisen zugleich auf das Wesen seines Trägers wie auch auf eine Eigenschaft oder einen Teil des Menschen. Indem Gott jedem Ding seine äußere Form gibt, wird dieses zum Zeichen seines unsichtbaren Wesens.20 Gott ist der ursprüngliche Signator, der „oberst scribent, der erst, der höchst und unser aller text.“21 „Dieser signator signiert dem hirsch seine horn mit zinken, daran man sein alter erkent; dan soviel das horn zinken hat, sovil ist es jar alt […].“22 Jedes Ding ist wesentlich schon immer Zeichen: […] nichts ist ohne ein Zeichen; das ist, die Natur läßt nichts von ihr gehen, ohne daß sie das nit bezeichnet, das in ihm ist … Und es ist nichts so Geheimes im Menschen, das nit ein auswendig Zeichen an sich hätte … Der da die natürlichen
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Astronomia Magna, XII, 97. Die Bücher von den unsichtbaren Krankheiten, IX, S. 290. Astronomia Magna, XII, 49. Labyrinthus medicorum errantium, XI, 193. Astronomia Magna, XII, 32 Siehe auch die Astronomia-Ausgabe von Winkler, Norbert, Astronomia Magna: oder die ganze Philosophia sagax der grossen und kleinen Welt. Frankfurt 1999, S.27. Astronomia Magna, XII, 176. Mersch, Dieter: „Die Sprache der Dinge. Semiotik der Signatur bei Paracelsus und Jakob Böhme“ In: Signatur und Phantastik in den schönen Künsten und in den Kulturwissenschaften der frühen Neuzeit, hg. von Martin Zenck, Tim Becker, Raphael Woebs. München 2008, S. 47–62. Astronomia Magna, XII, 480. Labyrinthus, XI, 203. De natura rerum, XI, 399.
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Dinge beschreiben will, der muß die Zeichen vernehmen, und aus den Zeichen das selbige erkennen […]23
Damit ist signatura, die Erkenntnis der Zeichen, eine scientia, durch die alle verborgenen Dinge gefunden werden können. Die „welt ist aus der matrix geboren“, schreibt Paracelsus im Paramirum.24 Die Matrix ist der Mutterschoß der Elemente, hier werden alle natürlichen25 und damit unkonventionellen oder unmittelbaren26 Zeichen geschaffen: wir wissen „durch die kunst signatum, das ein ietzlich Ding gezeichnet wird nachdem aus dem es ist und zu dem es gehört […]“27 So deutet Paracelsus unmittelbar: so schwarz har wechst, ist ein anzeigen eines solchen wesens im menschen, so rot har ist, des selbigen anzeigen, dan es muß ie ein ding aus dem komen, das sein ist, als die birn zeigen iren Baum an.28
In der Form, dem Ausdruckselement oder Signifikanten manifestiert sich bereits das Wesen, die Bedeutung, das Signifikat.29 Das Designationspotenzial des Signifikanten beruht auf seiner natürlichen Ähnlichkeit zum Signifikat: „dan also sollent wir verstehen das ein iegliche Figur, die eußerlich ist, etwas inwendig seines gleichen figurirt […]“30 Alle geschaffenen Dinge weisen durch ihre Form auf ihre Kraft, ihre Eigenschaften und Tugenden hin.31 Paracelsus führt vier hauptsächliche Künste an, mit _____________ 23 24 25
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Von den natürlichen Dingen, II, 86; Wegener: Der Code der Welt. S. 146. Paramirum IX, 191. Auch Platon unterscheidet im Dialog Kratylos zwischen natürlichen (physei) und konventionellen (thesei) Zeichen. Allerdings sind für ihn die sprachlichen Zeichen immer unvollständige Repräsentationen des eigentlichen Wesens der Dinge. Augustinus bestimmt die natürlichen Zeichen folgendermaßen: signa naturalia sind Zeichen, die ohne willentliche Entscheidung und ohne jedes Verlangen, etwas zu bezeichnen, außer sich selbst (= ihre eigenen Natur) etwas anderes aus sich selbst heraus erkennen lassen ( „[...] sine voluntate atque ullo appetitu significandi praeter se aliquid aliud ex se cognosci faciunt […],“). Augustinus: De doctrina christiana, II,1,2, hg. von Joseph Martin, Turnhout 1962. (CCSL 32). Die signa naturalia des Paracelsus bleiben hingegen in sich und bei sich; sie enthalten prinzipiell die Möglichkeit zur Erkenntnis des Wesens der Dinge. Aleida Assmann spricht von einer unmittelbaren Signifikation im Zusammenhang der Hieroglyphenschrift als Ideennotation. Die Legitimität der Fiktion. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Kommunikation. München 1980. Sowie Assmann, Jan: „Die Macht der Bilder. Rahmenbedingungen ikonischen Handelns im Alten Ägypten“. In: Genres in Visual Representations, Visible Religion VII. 1990, S. 1–20. Buch von den Tartarischen Krankheiten XI, 71 f. Liber de podagricis er suis speciebus et morbis annexis, I, 322; Elf Traktat, I, 79; De natura rerum, XI, 375. Astronomia Magna, XII, 177. Das ander Buch der großen Wundarznei, X, 299. Winkler, Astronomia Magna, (Was signatum, was der signator, und was die signatur mitsamt ihren speciebus sei), S. 65: „Nichts ist, das die Natur nicht hat, durch welche Zeichen man erkennen kann, was im selbigen sei, was gezeichnet ist. So sind vier species, die alle signatur in ihnen begreifen, und der die vier erkennt und versteht, derselbige mag das Ge-
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denen der Arzt oder Magus die Dinge designieren kann: die Chiromantie, die Physiognomie, die substantia und Mos und Usus, das heißt die Gebärden.32 Der Arzt33 muss die Lesart dieser vier Künste beherrschen, damit er in der Lage ist, die richtige Arznei zu verschreiben oder zu erzeugen. Diagnostiziert er die Krankheit richtig und vermag er darüber hinaus die Dinge zu erkennen und beim Namen zu nennen, dann ist er ein natürlicher Arzt, Astronomos oder Philosophos, er ist ein wahrer Naturkundiger, ein naturalis.34 Der Arzt, der nicht in der Lage ist, die signata zu lesen, „der halte seine Larve zu und rede nichts von den Heimlichkeiten der Natur.“35 Gott, die Natur und in eingeschränktem Maße auch der Mensch in Gestalt des Arztes und Magus besitzen die Kunst der „abcontrafetung“, der Zeichensetzung.36 Mehrheitlich entstammen die Signaturen für Paracelsus der gegenständlichen Natur- und Körperwelt. Alles bleibt innerweltlich und verweist dennoch auf das Nicht-Sichtbare. Die Signaturen sind eindeutig und nicht konventionell. Also geben die Werk das Zeichen selber was es ist, wie ein gemalts bilt gibt sein Zeichen, das ein gemelt ist, also auch ein haus ein zeichen das ein haus ist, und das es bedeut und zeichnet, das ist es selbs auch und bedeut nichts anderst als alein was es selbst ist. Also sollen die ding verstanden werden.37
Der von Paracelsus als natürlich verstandene Zeichenträger ist in einem wesentlichen Maße identisch mit seiner Bedeutung, die für ihn in diesem Zusammenhang eben nicht arbiträr ist. Der paracelsische Zeichenkörper verweist in erster Linie auf sich selbst als Ausdruck des Unsichtbaren und nicht auf etwas, das sich außerhalb von ihm befindet.38 _____________
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müt des Menschen wohl erkennen. Und um dieselbigen Zeichen zu verstehen, so wißt ihr einen solchen Unterricht: Die Sterne haben ihren Lauf, und durch denselben werden sie erkannt. In den Menschen ist es auch so, allein mit dem Unterschied, daß die dem Menschen lineas fixas geben, durch die man sieht und erkennt, wie der Lauf ist. Wie also der Lauf der Sterne komplexioniert ist, so ist auch dieselbige Linie komplexioniert, die ihm gleich ist.“ Weiteres: Winkler, Astronomia Magna, (Probatio particularis in scientiam signatam), S. 114 ff. Winkler, Astronomia Magna, S. 117. Schadewald, Hans: „Paracelsus als Arzt“. In: Paracelsus und Salzburg. Vorträge bei den Internationalen Kongressen in Salzburg und Badgastein anläßlich des Paracelsus-Jahres 1993, hg. von Heinz Dopsch und Peter F. Kramml. Salzburg 1994, S. 19–32. Meier, Pirmin: Paracelsus – Arzt und Prophet. Zürich 1993. Winkler, Astronomia Magna, S. 117. Winkler, Astronomia Magna S. 119. Wegener, Der Code der Welt, S. 108. Das ander Buch der großen Wundarznei, X, 301. Astronomia Magna, XII, 178 f. Winkler, Astronomia Magna, S. 118, sowie S. 114 ff. Unter den Vorgaben einer modernen Semiotik ist damit im Grunde die Integrität als Zeichen infrage gestellt. Ferdinand de Saussure sieht die Annäherung von Bezeichnung und Bezeichneten für das Symbol gegeben. Saussure, Ferdinand de: Grundfragen der allgemeinen
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Aus dem Buch der Natur werden die sprachlosen Namen der Dinge in die menschliche Sprache übertragen; es ist die Natur der Dinge, die der menschlichen Sprache ihren Signifikationsumfang zu vermitteln sucht. Die Bedeutung kommt also vor dem Alphabet, sie kommt in das Alphabet von außen hinein, aber im Fimament, da ist es im Ursprung.39 Die Natur ist der fabricator in der figur. So gibt sie die Form, die das Wesen an sich selbst ist, und die Form zeigt das Wesen an.40
An anderer Stelle heißt es: So wissen wir auch, daß die Natur die ihrigen zeichnet, damit man den Menschen durch äußere Zeichen erkennt, was in ihm ist, denn nichts ist so heimlich, daß es nicht in solcher Gestalt offenbar werde. Wer nun einen Menschen so zu erkennen weiß, durch seine von der Natur gegeben Zeichen, der weiß, was im natürlichen Herzen ist.41
Die natürlichen Zeichen, aus denen auch der Mensch als Teil des Kosmos besteht, zeigen nicht nur sein Wesen an, sondern sind mit ihm identisch. Zeichen, Mensch und Wesen sind begriffen als eine Einheit. Die von Menschen gesetzten Zeichen hingegen lösen durch ihre Konventionalität diesen unmittelbaren Zusammenhang auf, und laufen nach Paracelsus Gefahr, ihren Wahrheitswert zu verlieren. Eine andere Gefahr sieht Paracelsus in einer bewusst falschen Interpretation der naturgegebenen Zeichen, wie sie von unehrenhaften Ärzten und Philosophen gegeben wird.42 Nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen darf der Mensch Zeichen setzen. Er muss vorab das innere Wesen dessen kennen, was er durch Zeichen zeigen/abbilden will: Als ein exempel. Ein bildhauer, will er ein naren schnizen, so muß er sein ingenium am ersten in ein naren stellen, will er ein hasen machen, sein ingenium in ein hasen.43
Der Mensch ist durch seine Imagination fähig, in einem mimetischen Prozess mit dem Objekt der Erkenntnis durch „abcontrafetung“ eins zu werden und zu verschmelzen. Auch wenn der Mensch nicht die unmittelbare Ursache derjenigen Dinge ist, auf die er durch Zeichensetzung verweist, so besitzt er in diesem Fall ein Wissen vom Wesen der Gegenstände seiner Zeichen. Hierdurch erhält er für Paracelsus seine ‚Legitimation‘ als Zeichenproduzent. _____________ 39 40 41 42 43
Sprachwissenschaft. Berlin 2. Aufl. 1967 S. 80 und 85. Theophrastus Paracelsus: Werke in 5 Bänden, hg. von W.-E. Peuckert. Darmstadt 1965, Bd. II, S. 451. Winkler, Astronomia Magna, (Probatio particularis in scientiam signatam), S. 117. Winkler, Astronomia Magna, (Was signatum coeleste und was ein coelestis signator sei), S. 216. Winkler, Astronomia Magna, (Probatio particularis in scientiam signatam), S. 119. Astronomia Magna, XII, 263.
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Das Lesen der Signaturen, der Zusammenhang von Sprache und Erfahrung ist grundlegend für das paracelsische Verständnis seines Arztberufes: „mich bekümmert das alein, den ursprung einer Krankheit und seine heilung zu erfahren und den namen in dasselbig zu concordieren.“44 Allerdings ist die menschliche Sprache korrumpiert. Die paradiesische, adamische Sprache war zugleich das unmittelbare Abbild des Wesens der Dinge und somit reines Medium der Bedeutung. Adam hat die „kunst signata“, die „leret die rechten namen geben allen dingen“ „volkomlich gewußt“45 Im Paradies vor dem Sündenfall waren Name, Wort und Erkenntnis noch ungetrennt und identisch mit dem Geschaffenen, sie waren sichtbar und unmittelbar verständlich.46 Durch den Sündenfall wird dieser Einklang zerstört.47 Die gesamte Natur,48 die Schöpfung, wird zum Zeichenträger ihres nunmehr unsichtbaren Wesens; die Einheit von Leib und Seele ist zerbrochen, Zeichen und Bezeichnetes sind auseinander getreten. Doch in einem speziellen Erkenntnisprozess kann der Mensch die Einheit von Sprache und Wesen wieder gewinnen. Hier kommt dem Arzt eine besondere Funktion zu: „dan under allen menschen der natur und seins liechts ist der arzet der höchste erkenner und lerer …“49 Diesem kommt nur noch der Magus gleich. Die Fähigkeit, in den Dingen zu lesen ist eine Berufung, in die man hineingeboren wird.50 Haben Arzt oder Magus über die äußeren Zeichen und Signaturen das innere Wesen der Dinge erkannt, so können sie diese Erkenntnis adäquat in die Sprache übertragen.51 Aufbauend auf der Annahme, dass die natürlichen Signaturen der verborgenen Wahrheiten sich durch die Identität von Signifikat und Signi_____________ 44 45 46 47 48
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Sieben Defensiones, XI, 135. De natura rerum XI, 397. Astronomia Magna, XII, 34 f. Astronomia Magna, XII, 173. Joly, Bernard: „Natur“. In: Alchemie. Lexikon einer hermetischen Wissenschaft, hg. von Claus Priesner und Karin Figala. München 1998, S. 250-251. Goldammer, Kurt: Der göttliche Magier und die Magierin Natur. Religion, Naturmagie und die Anfänge der Naturwissenschaft vom Spätmittelalter bis zur Renaissance. Mit Beiträgen zum Magie-Verständnis des Paracelsus. Stuttgart 1991, bes. S. 7–24. Natur ist ein Oberbegriff für das zeichenvermittelnde Verhältnis von Makrokosmos und Mikrokosmos, ebenda S. 11. Zum Naturbegriff im Paracelsismus: Kühlmann, Wilhelm: „Anmerkungen zum Verhältnis von Natur und Kunst im Theoriezusammenhang des paracelsistischen Hermetismus“. In: Der Naturbegriff in der Frühen Neuzeit. Semantische Perspektiven zwischen 1500 und 1700, hg. von Thomas Leinkauf unter Mitwirkung von Karin Hartbecke. Tübingen 2005, S. 87–108. Das ander Buch der großen Wundarznei, X, 278. Astronomia Magna, XII, S. 27, 50, 123 f, 237, 487, 500. Zum Magus siehe Goldammer, Kurt: „Magie bei Paracelsus“. In: Studia Leibnitiana, Sonderheft 7, Magia naturalis und die Entstehung der modernen Naturwissenschaften. Wiesbaden 1978, S. 30–50. Astronomia Magna, XII, 173.
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fikant auszeichnen, vermag der Arzt/Magus neue sprachliche Signaturen zu schaffen,52 die das Ähnlichkeitsverhältnis der Dinge reflektieren und sich eindeutig denotieren lassen. In den sprachlichen, intuitiven53 Signaturen hingegen, die der Mensch üblicherweise schafft, verweist der Signifikant auf einen Bedeutungsinhalt, der niemals die gleiche signifikante Identität besitzen kann wie ein natürliches Zeichen. Dieser qualitative Unterschied in der Zeichenhierarchie hilft Paracelsus, den Ursprung aller möglichen Irrtümer zu erklären. Doch wie sieht das in der Praxis aus? Die Sprache des Hohenheimers ist von Neologismen geprägt. Sudhoff stellt in seiner Einleitung zur Paracelsusausgabe fest, dass sich kaum ein anderer „Schriftsteller des 16. Jahrhunderts“ so sehr einer „Normalorthographie“ entzieht, wie Paracelsus.54 Paracelsus versucht mit seiner Sprache, der Natur der Dinge möglichst nahezukommen. Da diese Natur oft verborgen und kompliziert ist, erscheint auch die sprachliche Fassung entsprechend schwierig. Doch Paracelsus verschlüsselt die Namen nicht, um was auch immer zu verbergen, sondern er erfindet, gerechtfertigt durch seinen ärztlichen Berufsstand, Bezeichnungen, die die Eigenschaften der Sachen beinhalten sollen. Diese Bezeichnungen können sich sowohl von den umgangssprachlichen Ausdrücken als auch von den medizinischen, lateinischen Fachtermini unterscheiden. Die Namen der Kräuter und Heilmittel wie etwa Mutterkraut, Herzentrost, Geschwellkraut, Treibkorn, und Meisterwurz55 weisen in sich selbst eine hohe, subjektiv assoziierte, sinnliche Dimension auf. Zwischen ihnen und der von ihnen als Signifikant bezeichneten „Realität“ besteht nicht einfach nur ein äußerliches abstraktes Denotationsverhältnis, sondern die wesentlichen Qualitäten und Funktionen der „Sache“ wirken namens- und zugleich sinnstiftend. Bezeichnungen wie donnerstern oder regenstern drücken eine sinnliche, zeitliche und dynamische Beziehung zur Realität aus;56 es ist für den Arzt von elementarer Wichtigkeit, dass er die naturgemäßen Konnotationen der Bezeichnungen erkennt; naturhafte Ereignisse und Zustände bestimmen wesentlich die Begrifflichkeit der Objekte und Erscheinungen. Diese qualitätsbezogenen Bezeichnungen, _____________ 52
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Paracelsus zum Wort: „Sagt mir eins: Ist die Heilkraft nur in Kräutern, Holz und Steinen und nicht in den Wörtern? Dann will ich euch sagen, was Wörter sind! Was gibt es, was das Wort nicht vermag?“ in: Paracelsus, Septem Defensiones, Die Selbstverteidigung eines Außenseiters. Übertrg. und Einf. von Gunhild Pörksen. Basel 2003, Die zweite Verteidigungsrede, die neuen Bezeichnungen des genannten Doktor Theophrastus betreffend, S. 56/57. Siehe auch: Eco, Umberto: Die Suche nach der vollkommenen Sprache. München 1994, S. 129. Sudhoff, Vorwort I, XXX. Wegener, Der Code der Welt, S. 133. Quatuor elementorum, XIII, 37.
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die Paracelsus seinem Erkenntnismodell zugrunde legt, sind sprachlich ikonisch. Sie erzeugen mentale Ding-Bilder, die den Bewusstseinsakt der Erkenntnis unmittelbar veranschaulichen.57 Diese mentalen icons, die durch die Namen erzeugt werden, erhalten die Funktion eines Symbols, einer Abstraktion. Es sind besondere Denk-Bilder, die mimetische Qualitäten aufweisen, und gerade damit die von Paracelsus angestrebte Einheit von Zeichen und Bezeichneten infrage stellen. Die sprachliche Fixierung eines Dinges durch einen bildhaften Begriff bedroht die Möglichkeit der praesentatio und kann zur repraesentatio werden. Da es Paracelsus jedoch nicht um die Darlegung einer Zeichentheorie geht, sondern um eine medizinisch orientierte, dingnahe Qualitätsbestimmung von sinnlich erfahrbaren Gegenständen als Präsentationen einer höheren Erkenntnis, sind ihm die zeichentheoretischen Schwierigkeiten seines Vorhabens nicht bewusst geworden. Die Bedeutung eines Dinges muss nach Paracelsus immer auch in seiner Bezeichnung enthalten sein, will man es adäquat erfassen und seine heilende Kraft freisetzen. Erkennen ist wesentlich Benennen. Arzt und Magus müssen also ihre Erkenntnis der Dinge in eine entsprechende Sprache kleiden, wollen sie mit ihren Rezepturen Erfolg haben; allerdings wird durch sprachliche Neuschöpfungen ihre allgemeine Mitteilsamkeit und ihr Nachvollzug oft beträchtlich erschwert. Die Benennung ist für Paracelsus jedoch nicht willkürlich, denn […] auf das sollent ir auch wissen, das vil kreuter und wurzlen iren namen bekomen haben, nicht alein von wegen ir angeborenen kraft und tugent sonder auch von irer biltnus, form und substanz wegen.58
Das Brennen der Nessel ist ein klares Zeichen dafür, dass sie in sich ein besonderes, brennendes Feuer hat, welches heilend eingesetzt werden kann.59 Paracelsus misst der richtigen Bezeichnung eines Dinges einen eminent hohen Stellenwert zu. Die Namensgebung spiegelt den Grad der Erkenntnis wider und verweist zugleich auch auf die mittelalterliche Praxis der Wortmagie,60 doch immer wieder macht Paracelsus darauf aufmerk_____________ 57
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Zum Zusammenhang von Icon und Bewusstsein siehe auch die Darstellung Umberto Ecos zur Funktion der Icons bei Charles Sanders Peirce: Eco, Umberto: Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte. Frankfurt a. M. 1977, S. 138 ff. De Natura Rerum, XI, 398. Möglicherweise unterschätzt Foucault in seiner Interpretation des paracelsischen Ähnlichkeitsprinzips die ursprüngliche Sprache der Dinge die aus dem Buch des Firmaments stammt und die durch ihre sinnliche Präsentation und ihre entsprechende sprachliche Fassung erfahrbar gemacht werden kann. Foucault, Michel de: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a. M. 1971, S. 46 ff und S. 56 ff. Winkler, Astronomia Magna, (Probatio particularis in scientiam signatum), S. 119. Siehe auch: Goldammer: Der göttliche Magier, bes. S. 7–24 und 45-58. Meier, Pirmin: „Magische Beschwörungen, aber keine alchemische Küche. Neue Erkenntnisse zur Sankt Gallener Zeit des Paracelsus“. In: Paracelsus und Salzburg. Vorträge bei den Internationa-
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sam, dass es ihm um Medizin und um Heilkraft geht und nicht um arkanes Wissen an sich. Wie bereits angedeutet, stößt der paracelsische Ansatz, die Einheit von Wort und Sache, von Struktur und Inhalt, sprachlich adäquat auszudrücken, auf beträchtliche zeichen- und sprachtheoretische Probleme. Die durch Ähnlichkeiten geforderte Zusammenführung von Zeichen und Bezeichneten, die Angleichung von Wort und Ding ist nicht zu leisten und zumindest neuzeitlich schwer vorzustellen.61 Die Wahrheit zu suchen und zu erkennen, heißt für Paracelsus, die Zeichen zu entziffern.62 Dies ist nur möglich mittels eines besonderen Vorverständnisses ihrer wirklichen Bedeutung. Allein diejenigen, die wie ein Arzt oder ein Magus63 bereits wissen, dass es besondere Signaturen gibt, verwandeln durch ihre speziellen Erkenntnisfähigkeiten die äußeren Erscheinungen der Dinge in Zeichen und enthüllen dadurch einen Zeichenzusammenhang, der wiederum einen besonderen Interpretationsprozess in Gang setzt. Auch wenn Paracelsus dem Wesen der Dinge mit einer bildhaften Sprache nahezukommen trachtet, so ist doch sein Verhältnis zum Bild selbst problematisch. Er interessiert sich nicht für den ästhetischen Aspekt von Bildwerken, sondern vor allem für ihren Gebrauchswert im Hinblick auf die Heilung. Bilder solcher Art besitzen „Kraft“ und „Tugend“64, welche allerdings nur durch die richtige Benennung wirksam werden kann. Die wahre, stimmige begriffliche Fassung ist die praesentatio des natürlichen Zeichenträgers; die Darstellung hingegen, das Bild einer Sache, ist immer repraesentatio und damit mimetisch. Die angestrebte Identität von Wort und Sache, von Signifikant und Signifikat vermag nur das Wort in seiner adamischen Idealbestimmung zu leisten. Bilder sind dagegen immer Interpretationen von Menschenhand, sie sind oft genug bildhafte Abbilder von sprachlichen Ungenauigkeiten und falschen Vorstellungen. Doch Paracelsus lehnt Bilder nicht generell ab, allerdings hat er eine klare Vorstellung von ihrem Missbrauch,65 die eindeutig auf die mittelalterliche Bilddebatte bis in seine Gegenwart zu Andreas Bodenstein von Karlstadt verweist. Paracelsus verurteilt vornehmlich Bilder, die in erster Linie unkontrollierte Emotionen und Affekte hervorrufen sollen. Wenn Bilder affizieren, dann ist der Ursprung der organischen Beeinflus_____________ 61 62 63 64 65
len Kongressen in Salzburg und Badgastein anläßlich des Paracelsus-Jahres 1993, hg. von Heinz Dopsch und Peter F. Kramml. Salzburg 1994, S. 117–120. Wegener, Der Code der Welt, S. 139. Dazu auch Mersch, Die Sprache der Dinge, S. 53 f. Das ander Buch der großen Wundarznei, X, 300 f. Astronomia Magna, XII, 133 f. Siehe: Möseneder, Karl: Paracelsus und die Bilder. Über Glauben, Magie und Astrologie im Reformationszeitalter. Tübingen 2009. Liber de imaginibus, XIII, 359–386.
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sung nicht mehr eindeutig auszumachen; der Zeichenkontext ist durch ein dazwischen geschaltetes, von Menschenhand geschaffenes Medium gestört. Die von Paracelsus gedachte Einheit von Zeichen und Bezeichneten, fällt hier für ihn auf eine nichtakzeptable Weise auseinander. Paracelsus spricht nur von alten, volkstümlichen Bildern und Skulpturen, wenn er über die Zauberkraft der Bildnisse reflektiert. Eine Besonderheit stellen die characteres dar, zauberkräftige Zeichen oder Amulette mit bildhafter Qualität, denen er Heilkräfte zuschreibt. Im Buch Archidoxis magicae finden sich genaue Anweisungen für die Herstellung dieser heilkräftigen Amulette, die mit verschiedenen Schriftzeichen, Zahlen und Symbolen versehen sind,66 die den Schriftsystemen der damaligen Zeit entstammen. Unter dem Primat des Heilens versucht Paracelsus eine Sprache zu finden, die mit einer vor-metaphorischen Bildlichkeit das Wesentliche der Dinge zu beschwören vermag.
Alchemistische Bilder – Das Verbergen im Zeigen Auch der Alchemist legt seiner Vorstellungswelt eine kosmische Magia naturalis (Naturgesetz) zugrunde, die den Makro- mit dem Mikrokosmos verbindet. Ein Blick in alchemistische Traktate und auf die entsprechenden Bildprogramme zeigt jedoch, dass es sich hier um Erklärungs- und Veranschaulichungsmodelle ganz eigener Art handelt.67 Die „Atalanta fugiens hoc est Emblemata Nova De Secretis naturae Chymica“ des Michael Maier erschien 1618 bei de Bry in Oppenheim68 (siehe Abb. 2) Mit ihren 50, von Matthaeus Merian gestochenen Emblemen, vereinigt sie in einer sinnstiftenden alchemistischen und synästhetischen Synthese Musik, Bild und Schrift. Auf jeweils einer Doppelseite (siehe Abb.3) ist auf dem linken Blatt ein musikalischer Fugensatz als zweistimmiger, kontrapunktierter Kanon69 gesetzt, der oben und unten von zwei Textblöcken eingerahmt wird. Diese finden sich in lateinischer Fassung auf dem rechten Blatt wieder, wo sie in der gleichen Anordnung ein Bildfeld einfassen. Die ersten _____________ 66 67
Archidoxis magicae, XIV, 442. Clericuzio, Antonio: „Alchemie, neuzeitliche“. In: Alchemie. Lexikon einer hermetischen Wissenschaf, hg. von Claus Priesner und Karin Figala. München 1998, S. 29–36. 68 Streich, Hildemarie: „Musikalische und psychologische Entsprechungen in der Atalanta Fugiens von Michael Maier“. In: Eranos-Jahrbuch. Bd. 42 (1973), S. 361–426. De Jong, H.M.E.: Michael Maier´s Atalanta Fugiens. Sources of an Alchemical Book of Emblems. Leiden 1969, bes. S. 166 ff. 69 Meinel, Christoph: „Alchemie und Musik“. In: Die Alchemie in der europäischen Kulturund Wissenschaftsgeschichte, hg. von Christoph Meinel. Wolfenbüttel 1986, S. 201–228.
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zwei Zeilen des unteren Textes, eines Epigramms, sind nochmals den Noten der Fuge unterstellt. 50 Mal wird dieses Darstellungsschema wiederholt, an das sich jeweils eine theoretische Abhandlung anschließt. Dieser Text
Abb. 2: Michael Maier, Atalanta Fugiens hoc est Emblemata Nova De Secretis naturae Chymica. Oppenheim 1618, Titelblatt
beschreibt das im Bild Gezeigte nicht, sondern versucht das meist rätselhaft anmutende Geschehen zu erläutern und fortzuführen, was zu einer Erkenntnis stiftenden Differenz zu dem im Bild Gezeigten führt.
Abb. 3: Michael Maier, Atalanta Fugiens hoc est Emblemata Nova De Secretis naturae Chymica. Oppenheim 1618, Doppelseite: Fuge, Epigramm und Emblem XXI, S. 92–93.
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Sehen wir uns ein Beispiel aus der Atalanta an, nämlich Emblem XXI, (siehe Abb. 4) das mit einer Inscriptio überschrieben ist, die ankündigt, um was es geht:
Abb. 4: Michael Maier, Atalanta Fugiens hoc est Emblemata Nova De Secretis naturae Chymica. Oppenheim 1618, Emblem XXI, S. 93.
„Aus Mann und Frau fertige dir einen Zirkel, daraus ein Quadrat und aus diesem wieder ein Dreieck. Schlage einen Kreis und du hast den Stein der Weisen.“ Das „Grosse Werk“ des Alchemisten ist anscheinend ganz einfach mit Lineal und Zirkel herzustellen! Diese Anweisung wird vom Epigramm präzisiert: „Das Dreieck soll den umgebenden Kreis mit allen Eckpunkten berühren“. Und weiter: „Wenn du auch ein solch großes Vorhaben nicht gleich begreifst, dann wirst du doch alles wissen, wenn du die Lehre der Geometrie verstehst.“ Ein Blick auf das Bild scheint dies zu verdeutlichen: Ein Mann in antikisch-orientalischem Gewand steht in einer angedeuteten Stadtlandschaft vor einer quadratischen, etwas ruinösen Wand, von welcher der Putz abblättert. Er hat soeben mit einem mächtigen Zirkel einen Kreis auf die Wand geschlagen. Zu seinen Füßen liegen architektonische Werkzeuge, ein rechter Winkel in Kreuzform und ein Winkelkreismaß; hinter dem Mann liegen Entwürfe, die zeigen, dass er sich eingehend mit einem geometrischen Problem beschäftigt hat. Zu erkennen sind das Quadrat als Symbol für die vier Elemente, ein in einen Kreis gestellter sechszackiger Stern, der für die elementare Vereinigung steht und schließlich eine kreisartige Figur, die aus kurzen Geraden zu bestehen scheint und die wohl auf die Unmöglichkeit der Quadratur des Kreises anspielt. Hier geht es um
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mehr als um bloße Geometrie! Der Zirkel bestimmt den orientalischen Weisen als einen Geometer, ganz in der Tradition des deus geometra70, der alles nach Maß und Zahl71 geordnet hat. Der Konstrukteur scheint innezuhalten und auf sein Werk an der Wand zu blicken. Die Zirkelspitze im Kreismittelpunkt lenkt den Blick des Betrachters auf die von den Schriften geforderte geometrische Konstruktion: Mann und Frau werden zu einer androgynen Vereinigung der Gegensätze von einem Kreis umschlossen, der in ein elementisches Quadrat eingepasst ist. Dieses ist seinerseits so in ein Dreieck eingefügt, dass seine untere Seite auf der Basis des Dreiecks steht und seine oberen Eckpunkte die Schenkel desselben berühren. Das Dreieck soll nicht nur die Verwandlung der vier Elemente durch die drei alchemistischen Prinzipien Salz, Schwefel und Quecksilber72 anzeigen, sondern auch auf die mit Farbnamen gekennzeichneten Entwicklungsstufen Nigredo, Albedo und Rubedo verweisen. Es sind in der vorliegenden Doppelseite also zunächst Schwarz, Weiß und Rot, die, hier aus der Malerei abgeleitet, die Eckpunkte des triadischen opus magnum bezeichnen: die Schwärzung/Nigredo steht am Anfang und spiegelt die Stufe der reinigenden ,Abtötung‘/Mortificatio der Materie; die Bleichung/Albedo repräsentiert die äußerste Grenze der ‚Lösung‘/Solutio, wodurch der Zustand der höchsten Reinheit der Gegensätze durch die vollzogene Vergeistigung des Stofflichen erreicht ist; die Rotfärbung/ Rubedo schließlich kennzeichnet die vollendete ‚Gerinnung‘/Coagulatio, d. h. die Verwandlung des Körpers in Form gewordenen Geist; die Verkörperung des Geistes ist gelungen und der machtvolle ‚Stein der Weisen‘ ist als vollkommene Vereinigung von feinstofflich-belebendem Pneuma und grobkörnig-passiver Hýle gefunden. Finally, according to this theory, the apotheosis of colour was reached in the Philosopher’s Stone, the alchemistic form of Aristotle’s entelechy, the final cause which can reproduce itself. 73
Gewährsmann für den beschriebenen Prozess ist Hermes Trismegistos74, der einem Adepten in einer Vision erscheint und seine Rede vom „Stein, der kein Stein ist“ mit den Worten beginnt: _____________ 70
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Dazu: Ohly, Friedrich: „Deus Geometra. Skizzen zur Geschichte einer Vorstellung von Gott (1982)“. In: Friedrich Ohly. Ausgewählte Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung, hg. von Uwe Ruberg und Dietmar Peil. Stuttgart, Leipzig 1995, S. 555– 598. Zahlten: Creatio mundi, S. 153 ff. Sap 11,20. Auch Spr 8,27. Berühmt ist vor allem der schreitende deus geometra der Bible moralisée aus der Mitte des 13. Jahrhunderts in Wien, Cod. 2554, fol. 1v. Sal, Sulphur und Mercurius. Read, John: Prelude to Chemistry. An outline of alchemy, its literature and relationships. New York 1937, S. 16. Ebeling, Florian, Das Geheimnis des Hermes Trismegistos. Geschichte des Hermetismus. München 2005.
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Nimm ihn, wenn du ihn kennst, und mache aus ihm einen Kalk und eine Seele, einen Körper und einen Geist, und trenne sie beide und bringe einen jeden in sein bekanntes, bewußtes Gefäß. Mische die Farben wie die Maler das Schwarz und das Weiß und das Gelb und das Rot mischen, und wie die Ärzte ihr Gemenge mischen, das Feuchte, das Trockene, das Warme und das Kalte, das Weiche und das Harte, bis daraus die gleichmäßige, den Körpern zusagende Mischung hergestellt ist, und zwar nach dem bekannten Gewichtsverhältnis, nach dem die ausgeglichenen Dinge sich zusammensetzen und die getrennten Naturen sich vereinigen.75
Der Punkt, um den der Geometer seinen Zirkel schlägt, ist zugleich der obere Tangentialpunkt des inneren Kreises und des umgebenden Quadrats. Folgt man nun der Auszugsbahn des kreisenden Zirkels, dann entdeckt man, dass das so eingefasste Dreieck zwar mit seinen unteren Eckpunkten auf der Kreisbahn steht, die Spitze des Dreiecks jedoch vom Zirkelschlag verfehlt wird! Wie erschreckt verharrt der Zirkel an dieser Stelle und der Blick des Betrachters wandert etwas ratlos zwischen dem Kreismittelpunkt und der Fehlstelle hin und her! Im letzten Schritt des Werkes scheitert der Weise, der mit den Mitteln der Geometrie das opus magnum, das Geheimnis der Schöpfung nachvollziehen will; der lapis philosophorum bleibt verborgen. Eine Reihe von weiteren Details unterstützt diese Beobachtung: Die Größe des Zirkels steht für die Unverhältnismäßigkeit der Aufgabe; die ruinöse Architektur steht für die Endlichkeit des Menschlichen. Bei genauem Hinsehen gewinnt man den Eindruck, dass der innerste Kreis links und rechts ein wenig zu eng von den senkrechten Quadratseiten eingefasst wird und man erkennt, dass die jeweils äußeren Fußspitzen des Menschenpaares von der Kreisbahn überschnitten werden. Sie scheinen nicht im, sondern räumlich hinter dem Kreis zu stehen. Schon im ersten, zentralen Konstruktionsschritt zeigt sich eine Ungenauigkeit, welche die Durchführung des Werkes gefährden muss. Das Versprechen des Epigramms, das zudem von der Fuge unterstrichen wird, scheint nicht eingelöst. Es bleibt die Hoffnung auf Erläuterung durch den nachgestellten Text. Hier heißt es nun, dass das Problem nicht mit den Mitteln der Geometrie, more geometrico zu lösen sei, sondern mit den Mitteln der Naturphilosophie. D. h., durch natürliche Magie oder Alchemie könne die wahre Transformation der vier Elemente in Körper, Geist und Seele vorgenommen werden. Diese werden durch die himmlische Kraft des schwarzen Saturns eine körperhaft-erdige, durch den weißen Mond eine wässriggeistige und durch die gelbe Sonne eine seelisch-luftige Erhöhung erfahren. Wenn diese triadische Transformation abgeschlossen ist, dann ver_____________ 75
Aus: Federmann, Reinhard: Die königliche Kunst. Eine Geschichte der Alchemie. Wien, Berlin, Stuttgart 1964, S. 110.
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wandelt sich das Dreieck in den perfekten Kreis der unveränderbaren Röte. Dies führt letztlich dazu, dass Mann und Frau eine Einheit werden und alles sich in die Vollkommenheit der ewigen Ruhe und Friedfertigkeit zurückzieht. Das Werk ist vollbracht. Auf den ersten Blick zeigt unser Bild den Mangel und das Scheitern wissenschaftlichen Verfahrens angesichts einer Aufgabe, die sich der Rationalität entzieht. Doch das Scheitern ist hier ein Zeichen dafür, dass es auch ein Gelingen geben muss. Eine wörtliche Verbildlichung und eine ebensolche Lesung ist eine Sackgasse, auch wenn das Bild alle Elemente zeigt, die für das Erreichen des Zieles notwendig sind. Es ist nicht eine nachvollziehende Rekonstruktion, die zum Erfolg führt, sondern es geht um inspirierte Neuschöpfung. Man muss wissen, wie und in welchem Geist die Dinge im Prozess zueinanderfinden, sie müssen richtig benannt und nicht nur auf geometrische Formen reduziert werden. Es wird gezeigt, dass der alchemistische Prozess genuin geistig und verborgen ist. Die Designation alchemistischer Zeichen ist keine nach außen tretende und sich entäußernde Kreation. Alchemistische Zeichen haben eine grundsätzlich verborgene tiefe Bedeutung, deren Designation durch die Verbildlichung bewusst verunklart wird. Das Wissen soll nicht ohne Weiteres herausgelesen werden können. Die Ähnlichkeiten, auf die verwiesen wird, sind kontextuell gesetzte Ähnlichkeiten des Verbergens und nicht ent-deckte Ähnlichkeiten des Ent-bergens. Emblem XXI kann für sich allein nur schwer verstanden werden. Das, was ins Bild gesetzt ist, muss zuerst in seinem Literalsinn angenommen werden, es bedeutet zunächst, was man sieht – ein Scheitern. Betrachtet man die Zeichen des Bildes genauer, dann sieht man, dass dieses Scheitern programmatisch ist, es bedeutet also etwas. Der zu singende und zu hörende Kanon, der sich in seiner Mehrstimmigkeit erhebt, verweist auf die Harmonie des Kosmos und der tönenden Sphären – es gibt also eine höhere Verbindung. Diese Verbindung ist nur im Prozess zu erfahren, so wie Bild und Musik sich sinnstiftend zusammenfügen. Letzten Aufschluss gibt der abschließende Traktat, der diese Deutung unterstützt. Es ist der Prozess, um den es geht, und nicht die Konstruktion. Auch ein vollständiges Rezept führt nicht zum Erfolg, die Einbindung der Konstruktion in die kosmische Dimension überführt diese in den Prozess der transmutation und ermöglicht so das opus magnum.76 Paracelsus will als Arzt die verborgenen und offenen Zeichen der Welt deuten, um zu heilen. Er will Wissen offenlegen und nicht in Büchern oder in der Gelehrtensprache verbergen. Er versteht sich als ein _____________ 76
Figala, Karin: „Opus Magnum“. In: Alchemie. Lexikon einer hermetischen Wissenschaft, hg. von Claus Priesner und Karin Figala. München 1998, S. 261–263.
Die bildhafte Sprache des Paracelsus
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besonderer Alchemist, der in altruistischer Absicht aus den Stoffen die heilenden Wirkkräfte herauszuziehen vermag. Zeigen ist für Paracelsus gleichbedeutend mit Heilen. Einem gänzlich anderen Zeige- und Erklärungsprinzip folgt die Alchemie, sei es nun in Texten oder in Bildern und Emblemen. Wo Paracelsus mit seiner Zeichenkunst ent-birgt, da verbirgt die Alchemie ihr Wissen. Paracelsus versucht seine Sprache selbst dem Prozess des Signifizierens und Designifizierens anzupassen; die Sprache ist für Paracelsus bereits ein „Bild“, deshalb benutzt er keine Bilder und rät zur Vorsicht in ihrer Verwendung. Der Alchemist, der sucht, was die Welt im innersten zusammenhält, der ebenfalls mit Analogieschlüssen und Ähnlichkeiten arbeitet, bedient sich einer oft verdunkelnden, bildüberladenen Sprache; die Hieroglyphen, bzw. das, was man mit Bezug auf die „Hieroglyphica“ des Horapollon77 dafür hielt, werden als eine Sprache oder Signatur verstanden, die sich nicht auf Silben und Wörter bezieht, sondern auf Begriffe und Gedanken. Ähnlich wie bei Paracelsus wird ein unmittelbarer, natürlicher Zeichenzusammenhang gesucht. Allerdings wird dieser Zeichenzusammenhang sofort alchemistisch konventionalisiert und kontextualisiert, d. h., es wird von vornherein eine geheime, hermetische Sprache angenommen, die nur von Eingeweihten verstanden werden soll. Wenn Hieroglyphen und Sprachsymbole dann noch in Anagrammen und Akrosticha weiter verschlüsselt werden, die ihrerseits hochkomplexen Bildprogrammen „erklärend“ beigefügt, bzw. nochmals in diesen verschlüsselt werden, dann geht es eindeutig nicht mehr darum, die Welt zu lesen, zu verstehen und dieses Wissen heilend anzuwenden, sondern es geht um geheimes Wissen, das nur wenigen zugänglich gemacht werden darf und das nur wenige verstehen können.78 Zeigen ist wesentlich Verbergen. Bild und Sprache sind, wie unterschiedlich auch immer, im Mittelalter, bei Paracelsus und in der Alchemie bestimmt durch ihre wesentliche, Sinn generierende Funktion in der Erfassung und Darstellung der Natur. Sie _____________ 77
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Des Niloten Horapollon Hieroglyphenbuch (Bd. 1, Text und Übersetzung), hg. und übers. von Heinz Josef Thissen. München Leipzig 2001. Brunon, Claude-Francoise: „Signe, Figure, Language: les Hieroglyphica d’Horapollon“. In: L‘Emblème à la Renaissance, hg. von Yves Giraud. Paris 1982 , S.29–47, v.a. S.35. Giehlow, Karl: „Die Hieroglyphenkunde des Humanismus in der Allegorie der Renaissance, besonders der Ehrenpforte Kaiser Maximilians I.“. In: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses XXII,1 (1915), S. 1–232. Russell, Daniel S.: „Emblems and Hieroglyphics: Some Observations on the Beginnings and the Nature of Emblematic Forms“. In: Emblematica 1/2 (1986 ), S. 227–243. Volkmann, Ludwig: Bilderschriften der Renaissance. Hieroglyphik und Emblematik in ihren Beziehungen und Fortwirkungen. Leipzig 1923. Wittkower, Rudolf: „Hieroglyphen in der Frührenaissance (1972)“. In: Allegorie und Wandel der Symbole in Antike und Renaissance, hg. von Rudolf Wittkower. Köln 1984, S. 218–245. Kieckhefer, Richard: Magie im Mittelalter. München 1992, S. 161 f.
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sind selbst in unterschiedlicher Weise Teil des Dargestellten. Das MikroMakrokosmos-Modell des Mittelalters referiert auf ein eindeutig zu bestimmendes Verhältnis von Signifikat und Signifikant – ein Bild kann wie ein Text gelesen und gedeutet werden. Paracelsus sucht in der Identität von Bezeichneten und Bezeichnendem die wahre Natur der Dinge in die menschliche Sprache zu übertragen. Beide Ansätze wollen Wissen darstellen und vermitteln. Der Alchemist will nicht nur Zeigen und Erklären, sondern er sucht das komprimierte Wissen zu verschlüsseln und in immer komplexere Sprach- und Zeichensysteme zu übertragen. In der Neuzeit ändert sich der Darstellungsanspruch. Dem wissensvermittelnden Bild und der Sprache kommen nun, zumindest nominell,79 eine zunehmend deskriptive Funktion zu, sie werden gemäß ihren Anwendungsbereichen und in ihrer Bildlichkeit schematisiert, um dem Postulat der objektiven Darstellung von Naturgegebenheiten zu genügen. Die Zeichen zeigen noch immer, doch sie sind entzaubert.
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Die Genese wissenschaftlicher Bilder findet zunehmendes Interesse: Baigrie, Brian Scott: Picturing Knowledge: Historical and Philosophical Problems concerning the use of Art in Science. Toronto 1996. Kemp, Martin: Bilderwissen. Die Anschaulichkeit naturwissenschaftlicher Phänomene. Köln 2003. Auch im Schema, in der Skizze oder der Konstruktionszeichnung ist die imaginative Denkbewegung ersichtlich und erkenntniserweiternd nachzuvollziehen. Wissenschaftlich kontexualisierte Bilder können als eigenes Reflexionsmedium untersucht werden. Dazu: Bredekamp, Horst: Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm Leibniz´ Theater der Natur und Kunst. Berlin 2004. Bredekamp, Horst: „Galilei der Künstler“. Der Mond. Die Sonne. Die Hand. Berlin 2007.
Die gelehrte Medizin zwischen Mittelalter und Humanismus: Wo steht Paracelsus? Werner Heinz
Aus dem wissenschaftlichen Symposion „Mystik und Natur“, das die Theophrastus-Stiftung im November 2007 in Salzburg abhielt, ergaben sich einige offene Fragen, die darauf hinzielten, den geistigen Hintergrund der medizinischen Welt von Theophrastus Bombastus von Hohenheim klarer als bisher fassen zu können. Wenn in der griechischsprachigen Antike der Begriff to phármakon sowohl für Heilmittel als auch für Gift stand – übrigens ist in diesem Zusammenhang auch von einer Dosierung die Rede –, wird rasch deutlich, dass des Hohenheimers Lehre „Allein die Dosis …“ im Gegensatz zu aller üblichen Behauptung nicht originär im Raume steht.1 So steht hier die Frage zur Diskussion, wie sich die gelehrte Medizin im Mittelalter entwickelte, welche Traditionsstränge möglicherweise bis zu Paracelsus durchliefen2 und warum er damit so nachhaltig in Konflikt kam. Es wird sich zeigen, dass vielerlei Fehlurteile aus unseren Tagen den Hohenheimer auf einen Platz setzten, der ihm in seiner Gesamtheit nicht gerecht wird. Es wird sich – die Untersuchungen der Gebeine des Hohenheimers bestätigend – zeigen, dass sich bei Theophrastus mit aller Wahrscheinlichkeit eine chronische Quecksilbervergiftung, die mit einer Wesensänderung einhergeht, diagnostizieren lässt. Die Hinweise dazu stehen allzu offensichtlich auf dem Knauf seines großen Schwertes. Es wird sich aber auch zeigen, dass man nach solchem Aufräumen die Per_____________ 1
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Alle Paracelsus-Zitate im Weiteren nach: Theophrast von Hohenheim gen. Paracelsus, Sämtliche Werke. 1. Abteilung: Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften, hrsg. von Karl Sudhoff, Bde. 1–14, München und Berlin 1922–1933 Weiter unten werden insbesondere Vitruv und Galen zur Diskussion stehen. – Der bedeutende Paracelsus-Kenner Walter Pagel weist verschiedentlich auf Überlieferungen hin, die Paracelsus gekannt haben könnte, ohne dass dies nachweisbar wäre. Beispiel: W. Pagel, Das Rätsel der „Acht Mütter“ im Paracelsischen Corpus, als Repr. in: W. Pagel, Religion and Neoplatonism in Renaissance Medicine, London 1985, Kap. X; dort S. 258: „Ob er das Werk von Reuchlin oder ähnliches in der Hand gehabt oder davon gehört hat, wissen wir nicht. Es ist aber nicht unwahrscheinlich.“ Vgl. S. 259: „Woher auch immer die Anregung, Paracelsus hat …“.
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sönlichkeit des Paracelsus erheblich besser an der Nahtstelle zweier Epochen ansiedeln kann. Paracelsus zog aus, um neue Wege zu bereiten, und gleichzeitig zog ihn seine eigene Tradition wieder ein Stück zurück. Paracelsus steht am Umbruch, nicht schon in der neuen Zeit – allein das schließt schon etliche Konflikte ein. Ihm diese Vielfalt mit allen Brüchen und Sprüngen zu lassen, bedeutet, ihn als ganz sicher großen, wenngleich auch unbequemen Geist zu würdigen.
1. Kleine Übersicht zur Entwicklung der Medizin im Mittelalter Die gelehrte Medizin des Mittelalters greift auf die Antike zurück. Ein paar Punkte, die letztlich auch im Hinblick auf Paracelsus interessant sind, seien hier vorgestellt. „Was“, fragt Rufus von Ephesus3 (2. Jahrhundert n. Chr.), „hast du beim Leierspielen zuerst gelernt? – Jede einzelne der Saiten anschlagen und benennen. … Willst du nun auch die Heilkunst von den Namen aus erlernen? … Indem du zuhörst und auf diesen Sklaven siehst, wirst du dir zuerst die sichtbaren Teile einprägen; später werden wir ein Tier, das dem Menschen sehr ähnlich ist, sezieren.
Rufus – ein Zeitgenosse des sehr viel bekannteren Arztes Galen4 – schildert in diesen Zeilen ein Privatissimum, eben jene Art und Weise, wie sich der Unterricht in der Antike außerhalb der Ärzteschulen abspielen konnte: Ein Arzt unterweist privat einen Schüler. Nun, als Arzt konnte zu dieser Zeit jeder firmieren, der sich dazu befähigt hielt; Kriterien für eine Ausbildung gab es nicht.5 Unter diesem Blickwinkel ist der Weg bis zur Zeit des Paracelsus, die ja immerhin einen Titel für die akademische Lehrbefähigung voraussetzte,6 noch sehr weit. Es ist unbestritten, dass in der Antike eine Fülle von Scharlatanen sein Unwesen trieb. Aber es gab auch großartige Ärzte; die beiden Genannten _____________ 3
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Rufus, De corporis humani appellationibus 1–10; S. 127 wird das Tier spezifiziert: ein Affe. Edition und Übersetzung: W. Müri (Hg.), Der Arzt im Altertum: Griechische und lateinische Quellenstücke von Hippokrates bis Galen mit der Übertragung ins Deutsche, München 19794, S. 290 f. Kurze, prägnante Würdigung: A. Krug, Heilkunst und Heilkult: Medizin in der Antike, München 1985, S. 64 ff. – Vgl. z.B. auch: H. Goerke, Arzt und Heilkunde: Vom Asklepiospriester zum Klinikarzt, München 1987², S. 20 ff. – E. Seidler – K.-H. Leven, Geschichte der Medizin und der Krankenpflege, Stuttgart 20037, S. 67 ff. K. Pollak, Die Heilkunde der Antike, Wiesbaden 1969, S. 211 f. K. Goldammer, Neues zur Lebensgeschichte und Persönlichkeit des Theophrastus Paracelsus: I. War Paracelsus Doktor der Theologie? Zur Berufsauffassung und Ämterlehre um 1530. In: K. Goldammer, Paracelsus in neuen Horizonten: Gesammelte Aufsätze (Salzburger Beiträge zur Paracelsusforschung Bd. 24), Wien 1986, S. 34 ff., hier S. 37.
Die gelehrte Medizin zwischen Mittelalter und Humanismus
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gehören dazu. Deren eigentliches Wirken setzt aber erst zwei Jahrhunderte nach dem Tod ein, nämlich mit den Exzerpten von Oribasios von Pergamon7, dem Leibarzt des Kaisers Julian Apostata (360 – 363). Auch wenn Oribasios keine eigenständigen Werke schuf, begründete er doch eine Überlieferung, die weit in das Mittelalter hineinreichte und jenem „Galenismus“ Raum gab, der vor allem im östlichen Mittelmeerraum wirkte und Galens Ruhm im 15. Jahrhundert allgemein zu einem Höhepunkt führte, der letztlich erst im 16. Jahrhundert in genau jene Kritik geriet,8 an der Paracelsus großen Anteil hatte. Mit Oribasios werden Änderungen sichtbar, die für die Spätantike kennzeichnend sind. Die ärztliche Kunst löst sich von der der Forschung und nähert sich stattdessen der Magie, verstanden im herkömmlichen Sinne, an; der „Seelenarzt“ (Sarkophag in Ravenna aus dem späteren 3. Jahrhundert n. Chr.)9 ist gefragt; die spirituelle Behandlung ersetzt die Kausalität10. Auch in diesem Punkte lässt sich eine direkte Brücke zu Paracelsus bauen, auch wenn es ihm nicht primär um Zaubertafeln und Amulette geht, sondern eher um eine magica ars im Sinne eines Agrippa von Nettesheim (1486 – 1535), eine Wissenschaft also, die in der Astronomie, aber auch in der Heilkunde ihren Platz hat.11 Im frühen Mittelalter gingen viele Errungenschaften der antiken Medizin verloren. Das gilt auch und gerade für die Balneologie. Die tonisierende Wirkung eines Bades galt im antiken Rom als eine anerkannte Größe,12 wie aus Architekturformen und Beschreibungen des Badeablaufs ersichtlich. Im Mittelalter finden genau diese Komponenten ihre Entsprechung im islamischen Bad13, etwa im jordanischen Qusair Amra14 (8. Jahrhundert). In Mitteleuropa gab es allenfalls in einzelnen Punkten eine Kontinuität von der Antike zum frühen Christentum, so etwa bei dem später verbotenen Brauch, eine Münze ins Taufbecken zu werfen;15 _____________ 7 8 9 10 11
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Krug (1985), S. 214 f. Seidler – Leven (2003), S. 70 f. P. Dinzelbacher – W. Heinz, Europa in der Spätantike: Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte, Darmstadt 2007, Abb. S. 70. Dinzelbacher – Heinz, S. 71. K. Goldammer, Der göttliche Magier und die Magierin Natur: Religion, Naturmagie und die Anfänge der Naturwissenschaft vom Spätmittelalter bis zur Renaissance (Kosmosophie Bd. 5), Stuttgart 1991, S. 45 ff., bes. S. 50. W. Heinz, Antike Balneologie in späthellenistischer und römischer Zeit. Zur medizinischen Wirkung römischer Bäder. In: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt II (Principat) 37.3, Berlin 1996, S. 2411 ff., bes. S. 2430. U. Kiby, Bäder und Badekultur in Orient und Okzident: Antike bis Spätbarock, Köln 1995, S. 53 ff. F. R. Scheck, Jordanien: Völker und Kulturen zwischen Jordan und Rotem Meer, Köln 22000, S. 216 ff. F. J. Dölger, Die Münze im Taufbecken und die Münzen-Funde in Heilquellen der Antike:
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ansonsten erlosch die alte Badekultur nicht zuletzt auch deshalb, weil die Goten die römischen Aquädukte kappten.16 Die Regel Benedikts lässt keine Kenntnis medizinischer Wirkung von Bädern mehr erahnen: Den kranken Brüdern solle man Bäder gewähren, so oft es nützlich erscheine; den Gesunden, besonders aber den Jüngeren, gestatte man es weniger.17 Noch deutlicher die Aachener Erlasse des Jahres 816, die darauf abzielten, das Klosterleben zu vereinheitlichen. Dort heißt es im 7. Kapitel, dass die Mönche Bäder überhaupt nur zu Weihnachten und Ostern nehmen sollten18 – ein Beschluss, der im Folgejahr auf der zweiten Synode in Aachen wieder zurückgenommen wurde.19 Diese Aachener Synode, geleitet von Benedikt von Aniane, kam auf Befehl Ludwigs des Frommen zustande. Von diesem Kaiser ist nun überliefert, dass er immerhin jeden Samstag ein Bad nahm.20 Ludwigs Vorgänger, Karl der Große († 814), stand dem Bad weit offener gegenüber. Einhard berichtet in seiner Biografie, Karl habe die natürlichen Quellen geliebt und sei sehr viel geschwommen; deswegen habe er auch Aachen zu seiner Residenz ausbauen lassen, wo er Freunde und Gefolge und sogar seine Leibwache zum Baden eingeladen habe.21 In Aachen waren die bedeutenden römischen Badeanlagen von den Franken ignoriert, dann aber auch gewaltsam zerstört worden.22 Der „Mönch von St. Gallen“23 erzählt die Geschichte der Wiederauffindung der heißen Quellen (Büchel-Kaiserquellen) durch Pippin24 um 765. Die unter Karl dem Großen entstandenen Bäder – die ältesten Thermalbäder des deutschen Mittelalters – bestanden nahezu ein Jahrtausend.25 Das spricht für eine sehr hohe Bedeutung. So verwundert es schon, dass in unmittelbarer Umgebung mit den erwähnten Aachener Erlassen von 816 der diametrale Gegensatz zu Karls Badefreudigkeit eingefordert wird. Auch die Hirsauer _____________ 16 17 18 19 20 21 22
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Kultur- und Religionsgeschichtliches zum Kanon 48 der Synode von Elvira in Spanien. In: F. J. Dölger, Antike und Christentum 3, 1932, S. 1 ff., hier bes. S. 8 f. G. von Hahn – H.-K. von Schönfels, Wunderbares Wasser: Von der heilsamen Kraft der Brunnen und Bäder, Aarau – Stuttgart 21986, S. 41. Benedikt, Regel Kap. 36, 8. Edition: S. Benedetto, La regola, testo, versione e commento a cura di A. Lentini, Montecassino 1993³, S. 334. Zweisprachig zitiert bei: W. Braunfels, Abendländische Klosterbaukunst, Köln 1969, S. 281. K. Hecht, Der St. Galler Klosterplan, Wiesbaden 1997 (= Lizenz Sigmaringen 1983), S. 171. A. Martin, Deutsches Badewesen in vergangenen Tagen, Jena 1906, S. 8. Einhard, Vita Karoli Magni 22. H. Cüppers, Beiträge zur Geschichte des römischen Kur- und Badeortes Aachen. In: H. Cüppers et al., Aquae Granni: Beiträge zur Archäologie von Aachen (Rheinische Ausgrabungen Bd. 22), Köln 1982, S. 1 ff., hier S. 14 und 55. Kaiser Karl der Dicke forderte 883 den ‚Mönch von St. Gallen‘ zur Niederschrift der von alten Brüdern überlieferten Geschichten auf: Martin (1906), S. 8. Cüppers (1982), S. 55. Cüppers (1982), S. 63 ff.; S. 67.
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Mönche badeten nur zwei Mal im Jahr: zu Weihnachten und zu Pfingsten.26 Doch nicht überall galt gleiche Badeabstinenz. Denn der berühmte Klosterplan von St. Gallen, jetzt durch ein Chronogramm im Gänsestall auf das Jahr 819 datiert,27 verzeichnet immerhin neben einem Krankenund einem Ärztehaus vier unterschiedliche Bäder28: für die Mönche, den Abt und seine Gäste, das Krankenhaus und die Novizen. Für das Krankenhaus sind zwölf Plätze ausgewiesen mit vier zugehörigen Kufen im Bad. Diese Einrichtung stimmt mit der Regel Benedikts überein, ebenso die Anzahl von nur zwei Badekufen für immerhin 77 (+ 2) Betten im Dormitorium29. Allerdings verzeichnet der Plan auch für die Novizen vier Kufen.30 Die Vergesellschaftung von Krankenhausbad, Aderlasshaus, Ärztehaus und Kräutergarten31 weist einen relativ hohen Stand der medizinischen Versorgung durch den Klosterarzt aus, der zugleich auch Chirurg und Apotheker war. Die Klöster dieser Zeit waren ja bekanntlich die Heimstätten medizinischen Wissens. – Es zeigt sich also folgendes Bild: Die monastische Medizin verlässt die erprobten Standards der Antike; sie geht selbst hinter die zeitgenössischen Modelle des Hofes (Karl der Große, Ludwig der Fromme) weit zurück. Es ist gut möglich, dass hier die gleichen leibfeindlichen Überlegungen Platz greifen, die auch den spätantiken therapeutischen Konzepten zugrunde liegen: Krankheit als Prüfung und Strafe – so lehrte es ja schließlich noch Paracelsus32 – verlangt den Primat der Heilung der Seele; der Körper wird darüber bewusst vernachlässigt.33 Dieser Bereich der Balneologie ist weit weniger bekannt als die Bilder von der Badefreudigkeit des hohen – des ritterlichen34 – und des späten _____________ 26 27
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Martin (1906), S. 8. F. Huber, Der Sankt Galler Klosterplan im Kontext der antiken und mittelalterlichen Achitekturzeichnung und Messtechnik. In: P. Ochsenbein – K. Schmuki (Hgg.), Studien zum St. Galler Klosterplan II (Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte Bd. 52), St. Gallen 2002, S. 233 ff., hier S. 262. Martin (1906), S. 5 ff. Braunfels (1969), S. 54. Hecht (1997), S. 172. Huber (2002), S. 239, Abb. 2. Seidler – Leven (2003; Anm. 3) 91 mit gewestetem Plan des Ensembles. U. Gause, Paracelsus (1483–1541): Genese und Entfaltung seiner frühen Theologie (Spätmittelalter u. Reformation, NR 4), Tübingen 1993, S. 84. A. Breitenbach, Ambrosius von Mailand: Ein Bischof für die Kranken?. In: B. Feichtinger – H. Seng (Hgg.), Die Christen und der Körper: Aspekte der Körperlichkeit in der christlichen Literatur der Spätantike, München 2004, S. 101–150, hier S. 122. Dinzelbacher – Heinz (2007; Anm. 8) S. 70. Hahn – Schönfels (1986; Anm. 15) S. 52 ff. Man verzeichnet hierzu Importe aus dem Orient; die scheinen allerdings eher akzidentieller als systematischer Natur zu sein.
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Mittelalters, die in vielerlei Weise auf uns gekommen sind.35 Sie zeigen uns, dass auch Paracelsus in einer völlig anderen Welt lebte, als es die Bäderabstinenz des frühen Mittelalters vermittelt. Von daher ist sein persönliches Interesse an der Balneologie36 durchaus begründet. Kein Geringerer als Isidor von Sevilla († 636), der bekanntlich der Medizin als „zweiter Philosophie“37 eine hohe Stellung – sie habe an allen freien Wissenschaften teil38 – einräumte, ließ die spätantike Welt der Körperfeindlichkeit hinter sich.39 Mit seinem Rückgriff auf die altgriechische Tradition bereitete der große spanische Gelehrte zugleich auch den allmählich aufkommenden muslimischen Wissenschaften den Boden. Nun ist der arabische Einfluss auf die mittelalterliche Medizin keine unbekannte Größe. So mögen an dieser Stelle einige Worte genügen. Bereits der Abbassidenkalif al-Mansur (754 – 775), der Gründer Bagdads, bezeugte sein Interesse an den griechischen Wissenschaften durch Übersetzungen ins Arabische.40 Medizinische Texte drängten sich dabei unter Kalif al-Ma’mun (813 – 833) in der Bagdader Akademie mehr und mehr in den Vordergrund.41 Dabei schuf der Übersetzer Hunain Ibn Ishaq (808 – 873), ein arabischer Christ, der bei arabischen und byzantinischen Ärzten studiert hatte, eine eigene Terminologie.42 Ab dem 10. Jahrhundert entstanden eigene medizinische Werke über Gifte und Gegengifte.43 Der Weg wurde frei für große und einflussreiche Gelehrte wie Ibn Sina, besser be_____________ 35 36
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Hahn – Schönfels (1986; Anm. 15) S. 56 ff. W. F. Reddig, Bader, Medicus und weise Frau: Wege und Erfolge der mittelalterlichen Heilkunst, München 2000, S. 117 ff. Paracelsus, Von den natürlichen bedern (Ausgabe Sudhoff 1, 2, 227 ff.). – G. Keil, Die medizinische Versorgung durch Bader und Wundärzte zur Zeit des Paracelsus. In: V. Zimmermann (Hg.), Paracelsus: Das Werk – die Rezeption: Beiträge des Symposiums zum 500. Geburtstag von Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus (1493 – 1541) an der Universität Basel am 3. und 4. Dezember 1993, Stuttgart 1995, S. 195 ff., hier S. 217: Paracelsus habe seine Herkunft aus der Badestube nie verleugnet. Isidor, Ethym. 4, 13, 5. – Die Philosophie dringt schließlich in die mittelalterliche Bilderwelt als ergänzendes Element der septem artes liberales ein, etwa an der Fontana Maggiore in Perugia (13. Jh.) zu sehen: G. Kauffmann, Emilia-Romagna, Marken, Umbrien: Baudenkmäler und Museen (Reclams Kunstführer Italien Bd. 4), Stuttgart 1977, S. 440–446. Isidor, Ethym. 4, 13, 1. W. Heinz, Medizin und Religion in der Spätantike, in P. Dinzelbacher (Hg.), Mystik und Natur: Zur Geschichte ihres Verhältnisses vom Altertum bis zur Gegenwart (Theopratus Paracelsus Studien; 1), Berlin – New York 2009, S. 7 ff., hier S. 34 f. A. v. Gladiss, Medizinische Schalen: Ein islamisches Heilverfahren und seine mittelalterlichen Hilfsmittel. In: Damaszener Mitteilungen 11, 1999, S. 147 ff., hier S. 151 f. D. Brandenburg, Die Ärzte des Propheten: Islam und Medizin, Berlin 1992, S. 41 ff. mit Hinweisen zur Art der Übertragung ins Arabische. Brandenburg, S. 42. – M. Hattstein, Wissenschaft im Islam. In: M. Hattstein – P. Delius (Hgg.), Islam: Kunst und Architektur, Köln 2000, S. 56 f. Gladiss (1999), S. 150.
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kannt als Avicenna44 (um 980 – 1037), Averroes (1126 – 1198) oder Maimonides45 (1135 – 1204). Das Abendland rezipierte einen guten Teil dieses neuen Wissens, zum Teil sogar unter Übernahme arabischer Terminologie. Der wohl bedeutendste Ort medizinischer Forschung im hochmittelalterlichen Europa ist Salerno. Diese Stadt im südlichen Campanien beherbergte die erste medizinische Fakultät des Mittelalters; sie hatte bis 1812 Bestand.46 Die Voraussetzungen in dieser griechisch geprägten Umgebung waren günstig. Alfanus von Salerno (1058 – 1085), Erzbischof und Arzt, veranlasste Constantinus Africanus (ca. 1010 – 1087) zu Übersetzungen medizinischer Texte aus der arabischen Sprache ins Lateinische. Die Arbeiten erfolgten ab 1065 im Kloster Monte Cassino. Man hat der Medizinschule von Salerno universitären Charakter abgesprochen,47 sie aber andererseits als Medizinische Hochschule bezeichnet.48 Nun, die immense Geltung dieser Schule erreichte ihren höchsten Punkt zur Zeit der Eroberung von Stadt und Burg Salerno, also in den Jahren um 1076/1077, durch Robert Guiscard49. Die neuen normannischen Herrscher waren mit der arabischen Welt und ihrer Mentalität bestens vertraut, wie die arabisch-normannische Amalgamierung im 1072 eroberten Palermo zeigt.50 Die salernitanische Medizinschule strahlte auf die jungen Universitäten des Mittelalters aus, wobei Montpellier besonders profitierte und seinen Ruhm als eine der besten medizinischen Fakultäten bis weit in die Neuzeit verteidigte.51 Ein weiterer Gedanke der mittelalterlichen Medizin, der – auf welchen Wegen auch immer – zu Paracelsus führt, sei abschließend hervorgehoben. Der bereits erwähnte Isidor von Sevilla verknüpft die Medizin mit den freien Künsten, so auch mit der Astronomie: postremo et astronomiam notam habebit – schließlich wird er (der Arzt) von der Astronomie Kenntnis haben, denn unsere Körper – so die Begründung – verändern sich mit der _____________ 44 45 46 47 48 49 50
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Brandenburg (1992), S. 75–77. E. Fischer-Homberger, Geschichte der Medizin, Berlin – Heidelberg – New York 1975, S. 39 f. – J. Chr. Claus, Medizingeschichte, Wiesbaden 1985, S. 54 f. Seidler – Leven (2003; Anm. 3) S. 108. K. Rückbrod, Universität und Kollegium, Baugeschichte und Bautyp, Darmstadt 1977, S. 11. H.-A. Koch, Die Universität: Geschichte einer europäischen Institution, Darmstadt 2008, S. 48. E. Kirsten, Süditalienkunde: 1. Band, Campanien und seine Nachbarlandschaften, Heidelberg 1975, S. 504. Etwa beim Normannenpalast, dessen arabische Grundlagen vielfältig sichtbar werden; vgl. z.B. S. Giordano, Die Hofkapelle im Normannenpalast, Palermo 1977, passim. Dazu und zu weiteren Beispielen: B. Carnabuci, Sizilien: Insel zwischen Orient und Okzident, Köln 1996³, S. 345 ff., S. 370 ff. zur Zisa usw. Seidler – Leven (2003; Anm. 3) 112. – M. J. Pagès, Neuer Führer durch die Sehenswürdigkeiten von Montpellier, Montpellier 1979, S. 27 f.
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Beschaffenheit der Gestirne.52 Der Einfluss stellaren Geschehens auf die Heilkunde, letztlich damit natürlich auf das Wohlbefinden des Menschen insgesamt, gilt im frühen Mittelalter als feststehende Größe, die keiner weiteren Diskussion bedarf. Den Boden dafür hatten die antiken astronomischen Forschungen,53 aber auch die Anklänge an die Astrologie – etwa in der Darstellung der Tierkreise54 – bereitet. Selbst einem römischen Kaiser wie Tiberius sagte man Ergebenheit in die Astrologie und Schicksalsgläubigkeit nach.55 Auch im arabischen Raum galt der Einfluss der Gestirne im Allgemeinen56 sowie auf medizinische Vorgänge als gegebene Größe.57 Es verwundert nicht, wenn noch im ausgehenden Spätmittelalter, so etwa in der Schedelschen Weltchronik von 1493, Komet und Mond als Unheilverkünder auftauchen.58 Eine solche Sterndeutung auf Weltereignisse hin lässt Paracelsus nicht gelten; er bekämpft solche Ansichten und stößt dabei zugleich seine Zeitgenossen vor den Kopf.59 Die Astronomie im weiteren Sinn hatte nicht einer allgemeinen Prognose des Weltgeschehens, sondern ausschließlich der Heilkunde zu dienen. Der Arzt hatte ein Astronom zu sein, übrigens auch ein Kosmograf: Ein arzt sol am ersten ein astronomus sein, heißt es in der vierten Defension60 über das Landfahren. Denn aus dem Stand der Planeten erkennt der Arzt die Krankheiten.61 Der Makroanthropos des Himmels und sein irdisches Gegenbild entsprechen einander in der Krankheit; das ens astrale (Gestirn-Wesen) ist Krankheitsursache und Wirkfaktor.62 Es zeigt sich also ein um das andere Mal, dass die mittelalterliche Medizin in vielen Bereichen auf Paracelsus ausstrahlte. Bisweilen finden sich _____________ 52 53
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Isidor, Ethym. 4, 13, 4 ed. A. Valastro Canale, Bd. 1, Turin 2006, S. 384. R. Müller, Der Himmel über dem Menschen der Steinzeit: Astronomie und Mathematik in den Bauten der Megalithkulturen, Berlin – Heidelberg – New York 1970, passim. – W. Schlosser – J. Cierny, Sterne und Steine: Eine praktische Astronomie der Vorzeit, Darmstadt 1996, passim. – B. L. van der Waerden, Die Astronomie der Griechen: Eine Einführung, Darmstadt 1988, passim. H. G. Gundel, Zodiakos: Tierkreisbilder im Altertum: Kosmische Bezüge und Jenseitsvorstellungen im antiken Alltagsleben, Mainz 1992, passim. Sueton, Tiberius 69. So schon unter dem Kalifen al-Mansur (8. Jh.): O. Mazal, Die Sternenwelt des Mittelalters, Wiesbaden 2001, S. 143. Gladiss (1999; Anm. 39) S. 153 f. Mazal (2001), S. 150 f. U. L. Gantenbein, Astrologie oder Heilige Schrift? Der Komet als Mahnzeichen. In: U. L. Gantenbein – P. Holenstein Weidmann, Paracelsus: Der Komet im Hochgebirg von 1531: Ein Himmelszeichen aus St. Gallen für Zwingli, Zürich 2006, S. 87 ff., hier S. 94; S. 101. Paracelsus ed. Sudhoff 1, 11, 143. Gantenbein, S. 94. K. Goldammer, Die Astrologie im ärztlichen Denken des Paracelsus. In: K. Goldammer, Paracelsus in neuen Horizonten: Gesammelte Aufsätze (Salzburger Beiträge zur Paracelsusforschung 24), Wien 1986, S. 250 ff., hier S. 254.
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direkte Parallelen wie in der Verknüpfung von Arzt und Astronom. In anderen Fällen erschließt sich indirekt eine Kontinuität, so etwa bei der Feststellung, dass Paracelsus kein Chirurg gewesen sei.63 Immerhin hatte sich die mittelalterliche Medizin auf dem Konzil von Tours 1163 von der Chirurgie getrennt.64 Es wird sich noch zeigen, dass auch der paracelsische Begriff der Dosis in antike Vorstellungen eingebettet ist. Paracelsus erscheint somit auf der Folie einiger wenig bekannter Hintergründe, was die Frage nach seiner Person und Persönlichkeit wieder einmal neu stellt.
2. Person und Persönlichkeit des Paracelsus Theophrastus Bombastus von Hohenheim (1493 – 1541) vereinigte viele Qualitäten in seiner Persönlichkeit.65 Er war als Arzt von dem Impetus beseelt, die persönliche Erfahrung gegen scholastische Buchgelehrsamkeit in den Vordergrund zu rücken: Sein Bart habe mehr erfahren denn alle hohen Schulen66; als Naturphilosoph interessierte ihn die „Concordanz“ der Leiblichkeit des Menschen mit dem – wie bereits angeklungen – mystischen Astral-Leib, gedacht einer kosmologischen Dimension67; als Laientheologe galten ihm die Zusammenhänge zwischen Gottes Wirken, also dem Heil, und dem ärztlichen Wirken, also der Heilung, als unumstößlich, denn Krankheit definierte er als göttliche Strafe68. Große Qualitäten sagt man ihm nach, so etwa, dass „er in unseren Tagen als einer der berühmtesten Ärzte gefeiert wird und neben Hippokrates geradezu zu einem Idol des ärztlichen Berufes hat werden können“.69 _____________ 63 64
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Keil, Medizinische Versorgung (1995; Anm. 35) S. 217. J. Chr. Claus, Medizingeschichte, Wiesbaden 1985, S. 59. – H. Goerke, Arzt und Heilkunde: Vom Asklepiospriester zum Klinikarzt, München 1987², S. 139 f. mit Verweis auf das Konzil von Clermont (1130), das den Priestern die Ausübung der Heilkunst untersagte. Das Verbot von 1163 wurde auf dem 4. Laterankonzil von 1215 bestätigt: Seidler – Leven (2003; Anm. 3) 112. K. P. Jankrift, Mit Gott und schwarzer Magie: Medizin in Mittelalter, Darmstadt 2005, S. 42. Kurze, unprätentiöse Würdigung: K. Goldammer, s.v. Paracelsus. In: RGG³ (Die Religion in Geschichte und Gegenwart) Bd. 5, Tübingen 1961, Sp. 93 f. St. Rhein, „mein bart hat mer erfaren dan alle euer hohe schulen“. Ein Zwischenruf zur Quellenfrage bei Paracelsus. In: V. Zimmermann (Hg.), Paracelsus: Das Werk – die Rezeption: Beiträge des Symposiums zum 500. Geburtstag von Theophrastus Bombastus von Hohenheim, Genannt Paracelsus (1493 – 1541) an der Universität Basel am 3. und 4. Dezember 1993, Stuttgart 1995, S. 99-104. Vgl. H. Böhme, „Die Krankheiten wandern hin und her, so weit die Welt ist.“ Lebenswege des Arztes Paracelsus. In: V. Zimmermann (Hg.; 1995; s. vor. Anm.) S. 67–83, hier S. 78. G. Gause, Paracelsus (1493 – 1541): Genese und Entfaltung seiner frühen Theologie (Spätmittelalter und Reformation, NR 4), Tübingen 1993, S. 82-84. H. Schipperges, Paracelsus – heute: Seine Bedeutung für unsere Zeit, Frankfurt 1994, S. 14.
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Heinrich Schipperges weiter: Als Arzt vertrete Paracelsus „keine Medizin der Traditionen“ (Gegenteiliges wurde soeben genannt), seine Medizin beruhe vielmehr „auf einer klaren, eindeutigen Theorie, einer von der Theorie geleiteten Handlungswissenschaft“.70 Mehr noch des Lobes: Der Hohenheimer sei der „Unvollendete“71 mit geistigen „Würfen über alle Zeit hinaus“72. Unmittelbar vor dem Erscheinen dieses Buches leitete Gundolf Keil, ein nicht minder renommierter Kollege der medizinhistorischen Forschung, einen Vortrag mit den Worten ein, man könne die wundärztliche Tätigkeit des Theophrastus von Hohenheim noch mit Argumenten vertreten, doch dass er Arzt gewesen sei, müsse aufgrund des gegebenen Standes der Forschung ausgeschlossen werden.73 Derselbe Forscher weist auch auf die ambivalente Haltung des Hohenheimers gegenüber der Humoralpathologie hin: Er verwerfe und benutze sie gleichermaßen.74 Ist hier tatsächlich nur von einer Persönlichkeit die Rede? Und wohin tendierte sie? Warum ist sie offensichtlich nur schwer zu fassen? Es ist längst kein Geheimnis mehr, dass Paracelsus „mit seinem Denken schon in einer alten und breiten Tradition“ (Paul Letter) von den Ägyptern bis zu den arabischen Philosophen stand und diese Quellen auch nutzte.75 Im Weiteren skizziert Letter den Hohenheimer als einen typischen Vertreter der Renaissance: Statt der Büchergelehrsamkeit suche er die Erfahrung, statt ekstatischer Mystik die Klarheit, statt einer Entzauberung der Welt deute er das All als Spiel göttlicher Kräfte76. Der Biograf realisiert nicht den Bruch in der Zusammenstellung dieser drei Punkte: Denn das All als Spiel göttlicher Kräfte zu sehen steht vollauf in mittelalterlicher Tradition. Nun muss man eine einzelne Passage in einer umfänglichen Biografie nicht notwendig im Sinne einer Idealisierung des Theophrastus deuten. Die ist allerdings, wie Dietlinde Goltz in einem engagierten und sehr belesenen Beitrag festgestellt hat, oft genug gegeben: Warum – so fragt sie – werde „die sozialrevolutionäre Tendenz des Paracelsus oder seine Forderung nach unentgeltlicher Behandlung der Armen“ in sehr vielen Werken nicht erwähnt, oder warum verleugne man unangenehme Charakterzüge _____________ 70 71 72 73 74
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Schipperges (1994), S. 165 f. Schipperges (1994), S. 157. Schipperges (1994), S. 99. G. Keil, Die medizinische Versorgung durch Bader und Wundärzte zur Zeit des Paracelsus. In: V. Zimmermann (Hg.; 1995), S. 195-217; hier S.195. G. Keil, Mittelalterliche Konzepte in der Medizin des Paracelsus: Anmerkungen zur Verwendbarkeit des Hohenheimers als personalautoritative Berufungsinstanz. In: V. Zimmermann (Hg.; 1995), S. 173-193, hier S. 184. P. Letter, Paracelsus: Leben und Werk, Klein Königsförde 2000, S. 18 f. Letter (2000), S. 19.
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wie die Trunksucht?77 Diese Seite des paracelsischen Wesens geht offensichtlich aus einem Brief hervor, den ein Famulus des Hohenheimers, nämlich Johannes Oporinus, am 26. November 1555 an den Arzt Johannes Weyrer schrieb.78 Dort heißt es, Paracelsus habe zwar viele Heilungen vollbracht, doch sei er stets betrunken nach Haus gekommen und habe sich so, wie er angezogen war, aufs Bett geworfen; er habe in diesem Zustand auch seine Werke diktiert, wie es allerdings ein Nüchterner nicht besser hätte machen können; neben seiner persönlichen Vernachlässigung wird dann auch noch sein Desinteresse an Frauen hervorgehoben.79 Oporinus schrieb diesen Brief 14 Jahre nach des Hohenheimers Tod an einen anerkannten Feind Paracelsi und der Paracelsisten. Es handelt sich um einen auf Verlangen geschriebenen Schmähbrief80, dessen Intention freilich über weite Strecken verfehlt ist. Mehr als einmal hebt Oporin die Heilerfolge seines Lehrers hervor: so ist von seinen wunderlichen und glücklichen Heilungen (3) die Rede, er sei wie ein zweiter Äskulap gefeiert worden (10), im Kurieren und Heilen von Geschwüren verrichtete er fast Wunder, wo wenig Hoffnung zu sein schien (34) – und das alles ohne irgendwelche Gelehrtheit (5) bei gleichzeitigen Diktaten im behaupteten Zustand der Volltrunkenheit Paracelsi (11) zu einer Philosophie, die freilich so ordentlich gewesen sei, dass sie von einem nüchternen Menschen nicht hätte verbessert werden können (13)? Ist das wirklich ein Schmähbrief? Zur Zeit der Abfassung des Briefes war Oporin selbst längst anerkannter Verleger; er brachte gerade die zweite Auflage von Andreas Vesals Anatomie heraus. Wie Paracelsus ging auch Vesal mit der galenischen Medizin ins Gericht. Vor diesem Hintergrund kann man eigentlich kein Interesse des Oporinus annehmen, seinen früheren Lehrer schlechtreden zu wollen. Er beschreibt ja, wie gesehen, die guten Seiten Theophrasts neben den negativen Charaktereigenschaften, die Paracelsus in den „Defensiones“ ja schon selber zu entkräften suchte. Der Brief des _____________ 77
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D. Goltz, Paracelsus als Leitbild – Die Historiker und ihr Objekt. In: P. Dilg – H. Rudolph, Neue Beiträge zur Paracelsus-Forschung (Hohenheimer Protokolle Bd. 47), Stuttgart 1995, S. 15–40, hier S. 26. Dies., Paracelsus as a guiding model – historians and their object. In: O. P. Grell (Hg.), Paracelsus: The man and his reputation, his ideas and their transformation (Studies in the History of Christian Thought Bd. 85), Leiden 1998, S. 79-100, hier S. 93. Text bei: W.-E. Peuckert, Theophrastus Paracelsus, Stuttgart – Berlin 1943, S. 144–147. Ferner: S. Domandl, Paracelsus, Weyrer, Oporin. Die Hintergründe des Pamphlets von 1555. In: S. Domandl (Hg.), Paracelsus – Werk und Wirkung: Festgabe für Kurt Goldammer zum 60. Geburtstag (Salzburger Beiträge zur Paracelsusforschung 13), Wien 1975, S. 53–70 (der Brief mit Einteilung in einzelne Abschnitte – danach hier – S. 54-56); S. 391 f. eine lateinische Fassung des Briefes von 1629. Diese Punkte betonen: E. Fischer-Homberger, Geschichte der Medizin, Berlin – Heidelberg – New York 1975, S. 48 und E. Seidler – K.-H. Leven, Geschichte der Medizin und der Krankenpflege, Stuttgart 72003, S. 127. Domandl, S. 60 ff.
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Oporinus gewinnt somit erheblich an Glaubwürdigkeit, jedenfalls bezüglich der Beobachtungen, die er notiert. Ob die im Lichte heutiger Erkenntnis richtig gedeutet sind, ist eine andere Frage. So hat etwa Kurt Goldammer die Ehelosigkeit des Hohenheimers81 mit guten Gründen auf dessen religiös-missionarische Berufung zurückgeführt, sein ‚Apostolat‘ also, das eo ipso mit Ehelosigkeit zu verbinden sei.82 Völlig anders die Hypothesen, die von medizinischer Seite geäußert worden sind: Denkbar wäre als Krankheitsbild das sog. angeborene adrenogenitale Syndrom, eine Aberration also, die besagt, dass Theophrastus chromosomal als Frau determiniert war, aufgrund einer genetischen Störung aber den Körper eines scheinbaren Mannes ausbildete. Gerade solchen Patienten, die unfruchtbar und sexuell nicht interessiert sind, ist die Neigung zum Jähzorn, ist aber auch Scheuheit eigen.83 Die von Oporinus beschriebene Symptomatik erscheint einem heutigen Mediziner ganz klar: Es handelt sich offensichtlich um Abusus von Alkohol,84 also um ein Krankheitsbild, das nicht nur durch hohen täglichen Alkoholkonsum beschrieben wird, sondern auch durch die nach außen hin anscheinend kaum beeinträchtigte Arbeitsfähigkeit des Patienten, sobald der Alkoholpegel im Blut den individuellen Mindeststand erreicht hat. In der Tat verwundert es, dass eine solche im Grunde sehr einfache Diagnose zumindest in der mir bekannten Literatur kaum zu finden ist. Denn mit dieser Krankheit gehen Veränderungen der Persönlichkeitsmerkmale einher, die sehr gut zur Aggressivität Theophrasts passen: Die öffentliche Verbrennung eines Lehrbuches am 24. Juni 1527 ist nur ein Anfang des provokanten Verhaltens, denn Paracelsus legte sich – noch immer in Basel – mit den Apothekern an; er galt rundum als schwieriger Charakter, als Quertreiber und Querulant, der im Zorn Richter belei_____________ 81 82
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Satz 52 im Brief des Oporinus; Domandl, S. 56. K. Goldammer, Neues zur Lebensgeschichte und Persönlichkeit des Theophrastus Paracelsus: I. War Paracelsus Doktor der Theologie; II. Die Ehelosigkeit des Paracelsus. In: K. Goldammer, Paracelsus in neuen Horizonten: Gesammelte Aufsätze (Salzburger Beiträge zur Paracelsusforschung Bd. 24), Wien 1986, S. 34 ff., hier S. 46-49. H. Kritscher – J. Szilvássy – W. Vycudilik, Die Gebeine des Arztes Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus: Eine forensisch-anthropologische Studie. In: H. Dopsch – P. F. Kramml (Hgg.), Paracelsus und Salzburg: Vorträge bei den Internat. Kongressen in Salzburg und Bad Gastein anläßlich des Paracelsus-Jahres 1993, Salzburg 1994, S. 94 f. – Für den Hinweis auf diese Arbeit möchte ich Herrn Dr. Urs Leo Gantenbein herzlich danken! R. Girtler, Der Landfahrer Paracelsus und die Kultur des fahrenden Volkes. In: H. Dopsch – P. F. Kramml (Hgg.), Paracelsus und Salzburg: Vorträge bei den Internat. Kongressen in Salzburg und Bad Gastein anläßlich des Paracelsus-Jahres 1993, Salzburg 1994, S. 393 ff., v.a. S. 397: Der Autor stellt die Affinität des Hohenheimers zu „dieser Welt der Vaganten, der Herumwandernden“, und deren Freude am Alkohol, den sie besangen, in den Vordergrund.
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digte und mit allen Ordnungen in Konflikt geriet, bis er schließlich zwischen allen Stühlen saß85 als Folge seiner Dickköpfigkeit, Überheblichkeit und Rücksichtslosigkeit.86 Einmal unterstellt, der Abusus von Alkohol sei richtig gedeutet, wäre nicht nur die Persönlichkeit des Hohenheimers, sondern auch sein wissenschaftliches Denken besser erklärbar. Darin schließlich sollte das Ziel einer solchen Untersuchung liegen, nicht in einer Verklärung und auch nicht in einer Verurteilung. Nun, die Diagnose, Paracelsus sei Alkoholiker gewesen – auf den ersten Blick scheint sie ja unumstößlich zu sein –, muss hinterfragt werden. Denn Oporinus teilt lediglich mit, was er beobachtet zu haben glaubte – oder was Weyrer vielleicht von ihm verlangte. Oporinus widerspricht sich inhaltlich: Paracelsus dem Trunk ergeben und kaum eine Stunde nüchtern – und im nächsten Augenblick als zweiter Aesculap gefeiert;87 Paracelsus diktiere im Zustand der Volltrunkenheit philosophische Traktate88 in bester Qualität. Merkwürdig auch: Nach Abschluss des eigentlichen Briefes89 (… werde ich Euch mehr schreiben) folgt noch einmal ein Nachklapp mit einem abschließenden Hinweis auf die schweinische Sauferei seines Lehrers90. Die Daten passen einfach nicht zusammen, und so müssen wir wohl nach einer anderen Lösung suchen. Denn es ist immerhin denkbar, dass auch eine andere Ursache das Erscheinungsbild einer chronischen Alkoholvergiftung abgibt. Um das zu verstehen, rufe man sich die gängigen Darstellungen von Paracelsus mit seinem riesigen Schwert in Erinnerung.91 _____________ 85 86 87 88 89 90 91
Letter (2000), S. 137–144; S. 201. Böhme (1995; Anm. 66) S. 74. Sätze 9-10; Domandl, S. 54. Sätze 11-13. Domandl, S. 54. Domandl verweist ausdrücklich auf diese Widersprüche (S. 61; 69). Satz 51; Domandl, S. 56. Sätze 53-57; Domandl, S. 56. Beispiele: G. Wehr, Esoterik. In: R. Jütte (Hg.), Paracelsus heute – im Lichte der Natur, Heidelberg 1994, S. 64–72, hier S. 67 Abb. 5 (weniger gute Abb. in: Fischer-Homberger [1975], S. 49 Abb. 13): Flugblatt des 17. Jh.s mit Porträt des Paracelsus, der die rechte Hand auf den Schwertknauf legt; auf dem Knauf die Aufschrift „Azoth“; unter seinem rechten Arm steht ein Buch mit einer auf der Oberseite angebrachten Inschrift „CABALA“; dazu Zahlendiagramme und Texte, in deren einem er sich mit Dürer vergleicht: „Wie Durer in der Malerey | So dieser in der Artzeney“. Nahezu gleiche, aber nicht identische Darstellung mit Schwert samt Aufschrift und Buch: R. Burgun – P. Laugier, Die Geschichte der Geschlechtskrankheiten. In: R. Toellner (Hg.), Illustrierte Geschichte der Medizin Bd. 3, Erlangen 1992, S. 1449-1511, hier S. 1499 Abb. 1621. H. Goerke, Arzt und Heilkunde: Vom Asklepiospriester zum Klinikarzt: 3000 Jahre Medizin, München 1987², S. 120 Abb. 221 (Kupferstich von Z. Deel, 17. Jh.: Paracelsus stehend, mit Schwert samt Aufschrift „Azoth“). W. Schreiber – F.K. Mathys, Infectio: Ansteckende Krankheiten in der Geschichte der Medizin, Basel 1986, S. 56 (große Abb.): Paracelsus im Brustbild mit
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Die Bilder zeigen durchweg einen klar blickenden Mann, dessen Gesichtszüge keineswegs durch Alkoholabusus verlebt erscheinen. Eine kleine Aufschrift jedoch, die auf dem Knauf seines Schwertes notiert ist, gibt zu denken. Man liest das Wort „Azoth“. Zur Deutung dieses Begriffs zeichnet der auf dem beigegebenen Buch notierte Hinweis auf die Kabbala den Weg vor zu jener mystisch-theosophischen Geheimlehre, die im späten Mittelalter – im 13. Jahrhundert – in Spanien aufblühte.92 Das Wort „Azoth“ beschreibt offensichtlich etwas wie eine Vorstufe zu dem „Stein der Weisen“93, einen Urstoff, der als Urprinzip der Metalle, als „Urquecksilber“ im Sinne eines ganz besonders reinen Quecksilbers94 angesehen werden kann – bei Paracelsus ist das ebenfalls, wie sein Lexikograf notiert, das Quecksilber95. Förderung und Nutzung dieses Metalls waren im frühen 16. Jahrhundert längst gängige Größen. Schon vor der Zeitenwende beschrieb Vitruv eine Methode, die es ermöglichte, mithilfe von Quecksilber (lat.: argentum vivum) Gold aus alten Goldgeweben zu lösen.96 Auch Plinius der Ältere beschreibt im späteren 1. Jahrhundert n. Chr. die Eigenschaften des Quecksilbers,97 darunter auch die Giftigkeit. Im 14. Jahrhundert gab es eine Empfehlung, Seuchen mit Quecksilber anzugehen.98 1403 schließlich wird das erste deutsche Quecksilber-Bergrecht durch Kaiser Rupprecht verliehen, und um 1485 findet man Quecksilber als Bestandteil des Schießpulvers99. In Basler Bettelorden-kirchen fand man bei Instandsetzungsarbeiten Gräber mit hervorragend konservierten Leichen, die vor gut 500 Jahren bestattet worden sind. Es stellte sich her_____________
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Schwert ohne Aufschrift. Ebenso mit Schwert ohne Aufschrift ein Porträt von Augustin Hirschvogel von 1540: Th. Meyer-Steineg – K. Sudhoff, Illustrierte Geschichte der Medizin, Paderborn 20065, S. 194 Abb. 119. – Wichtig insgesamt: I. Hannesschläger, Echte und vermeintliche Porträts des Paracelsus. In: H. Dopsch – P. F. Kramml (Hgg.), Paracelsus und Salzburg: Vorträge bei den Internat. Kongressen in Salzburg und Bad Gastein anläßlich des Paracelsus-Jahres 1993, Salzburg 1994, S. 217 ff. E.L. Dietrich, s.v. Kabbala. In: RGG³ (s. Anm. 64) Bd. 3, Tübingen 1959, Sp. 1079 f. http://de.wikipedia.org/wiki/Azoth. D. Goltz, Zur Geschichte der Mineralnamen in Pharmazie, Chemie und Medizin von den Anfängen bis Paracelsus, Diss. Marburg 1966, S. 255. Dies., Studien zur Geschichte der Mineralnamen in Pharmazie, Chemie und Medizin von den Anfängen bis Paracelsus (Sudhoffs Archiv, Beih. 14), Wiesbaden 1972, S. 269 f. Schreiber – Mathys (1986), S. 56 (ohne Nachweis). Mit Nachweis: Goltz (Diss. 1966), S. 255; Goltz (1972), S. 270 Anm. 273. Vitruv, De architectura Buch 7, 8. Plinius, Naturalis historia 33, 99-100. Textausgabe, Übersetzung und Kommentar zu metallurgischen (!) Problemen: Silberbergbau und Verhüttung in der Antike nach Texten von Plinius, Diodor und Dioskurides. Übers. u. kommentiert von der Projektgruppe Plinius des Arbeitskreises „Archäometrie“ in der Fachgruppe „Analytische Chemie“ der Gesellsch. Deutscher Chemiker (Bochum: Georg-Agricola-Gesellsch.), 1998, S. 16 f. Schreiber – Mathys (1986), S. 62. F.M. Feldhaus, Die Technik: Ein Lexikon, Wiesbaden 1970, S. 852.
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aus, dass die Konservierung von Feingewebe überall dort am besten war, wo man eine rot gefärbte körnige Masse fand, die sich als Quecksilbersulfid identifizieren ließ. Lunge, Zwerchfell, Dünndarm, Gelenkhäute: Überall zeigten sich dem Pathologen die deutlichen Spuren einer Quecksilberintoxikation, wobei der Befund der Lunge auf eine Inhalation des Quecksilbers hinwies.100 Dieses Metall ist also zu Lebzeiten von Paracelsus eine eingeführte und ihm seit seinem Aufenthalt in Ferrara sehr wohl bekannte Größe.101 Schon zu Anfang des 16. Jahrhunderts behandelte Berengario di Carpi (1460 – 1530) die Syphilis mit Salben102 und Quecksilber103. Auch der junge Jurist Joseph Grünpeck berichtete 1503 (wenn auch anonym) über die an ihm erfolgreich vorgenommene Syphilis-Therapie, die damit begann, dass man ihn mit einem Quecksilber-Pflaster einrieb.104 Paracelsus selber nahm von der Behandlung der Syphilis mit Arsen wegen dessen Giftigkeit wieder Abstand und verordnete die Anwendung von Quecksilber – für Paracelsus eines der drei Prinzipien der Materie neben Schwefel und Salz105 –, die entweder als Hautauftrag – also als Schmierung – oder als Räucherung in einer Schwitzkur erfolgte.106 Die Wirksamkeit quecksilberhaltiger Salben wies Robert Koch 1881 nach.107 Für die Schmierkur rührte man das Metall mit Asche und Speichel zu einer Art Salbe an. Heute weiß man aus den Beobachtungen der Arbeitsmediziner,108 dass die Resorption von Quecksilberdämpfen über die Haut grundsätzlich gering ist; direkter Hautkontakt – wie bei einer Salbe nun einmal gegeben – mit flüssigem Quecksilber kann jedoch zu einer dermalen Aufnahme des Wirkstoffs in einer Menge führen, die nicht mehr vernachlässigbar ist.109 Der Hauptaufnahmeweg für Quecksilber läuft jedoch _____________ 100 S. Scheidegger, Pathologisch-anatomische Befunde aus der Zeit des Paracelsus: Beitrag zur Frage mittelalterlicher Quecksilbervergiftungen. In: Nova Acta Paracelsica 10, 1982, S. 159–172. 101 Schreiber – Mathys (1986), S. 62. 102 G. Lambertini, Die Schule von Salerno und die Universitäten von Bologna und Padua. In: R. Toellner, Illustrierte Geschichte der Medizin Bd. 2, Erlangen 1992, S. 727–749, hier S. 743. 103 R. Rullière, Die Kardiologie bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. In: Toellner, Bd. 2, S. 1055–1103, hier S. 1077. 104 Burgun – Laugier (1992), S. 1490 f. 105 Bei Paracelsus stets auf Lateinisch zu lesen: sulphur, sal, mercurius: De mineralibus, hier: De saturno, De ferro et chalybe, De venere (Ausgabe Sudhoff 1, 3, 57). Vgl. D. Goltz (1972; Anm. 93) S. 371 mit Anm. 19. 106 Schreiber – Mathys (1986, Anm. 90) S. 62. 107 Er zeigte, dass Quecksilberchlorid Anthrax-Sporen in einer Kultur abtöten konnte: J. Mann, Mord, Magie und Medizin: Aus dem Giftschrank der Natur, Stuttgart 1995, S. 184. 108 Für vielerlei Hinweise bin ich meiner Frau, Frau Dr. med. Kalmbach-Heinz, sehr zu Dank verpflichtet! 109 http://biade.itrust.de/biade/lpext.dll/Infobase/uberschrift38490/glied138493.htm?f=te...
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über den Atemtrakt. Der wurde sattsam strapaziert bei der Räuchertherapie, wie sie uns mit Abbildungen110, aber auch mit der berühmten Beschreibung des Humanisten Ulrich von Hutten (1488 – 1523) überliefert ist.111 Beim Ausräuchern stand der Patient nackt auf einer Platte, unter der ein Feuer loderte; in dieses Feuer warf man die Quecksilberpastillen. Ulrich von Hutten vermerkt nun ausdrücklich, dass die Arzneien und Salben112 nichts ausrichteten bei der Behandlung des morbus Gallicus, also der Syphilis, wenn kein Quecksilber darunter gemischt sei. Zur Räucherkur aber würden die Patienten in einen Schwitzkasten gesperrt mit nicht selten letalen Folgen: Schlund, Zunge und Gaumen würden durch Geschwüre angefressen, der Speichel fließe in Mengen und das Gehirn würde bei vielen Patienten angegriffen. In der Tat kann eine solche Quecksilbertherapie mit einem hohen Maß an Respiration von Quecksilberdämpfen zu Schwachsinn führen113 oder zum Tode. Diese Gefahren wollte Ulrich von Hutten vermeiden. Deswegen setzte er sich vehement für die Behandlung mit dem erst kürzlich aus Mittelamerika eingeführten Guaiak-Holz ein, wie in seiner Schrift „Guaiacum“ ausführlich dargelegt.114 Man kennt dieses Hartholz. Man weiß auch um die Importgeschäfte, dieses Holz betreffend, des Hauses Fugger. Und man weiß auch um die Intrigen der Fugger, die auf ein Verbot hinzielten: Paracelsus hielt nicht viel von der Guaiak-Therapie bei der Syphilis; er bevorzugte die Behandlung mit Quecksilber.115 So wandte er sich 1529 in einer Veröffentlichung, die das Haus Fugger schließlich verbieten ließ, gegen das Guaiak-Holz. Es bleibt sich gleich, ob die Fugger sich allein aus wirtschaftlichen Gründen gegen dieses Buch wehrten oder nicht.116 Sie verdienten in jedem Fall, entweder am Import des Holzes oder an der Bereitstellung des Quecksilbers, deren ergiebigste Minen in Neukastilien Kaiser Karl V. ihnen 1524/25 verpachtete.117 Halten wir fest: Paracelsus setzte sich nachhaltig für die Quecksilbertherapie ein, die – wie gesehen – mit erheblichem Hautkontakt und viel Respiration verbunden ist. Paracelsus legte gern die Hand auf den _____________ 110 111 112 113 114 115 116 117
(02.01.2008) aus der Stoffdatenbank des Gefahrstoffinformationssystems der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung. Burgun – Laugier (1992), S. 1466 Abb. 1587 (17. Jh.: „Für eine Freude tausend Leiden“). Schreiber – Mathys (1986, Anm. 90) S. 68–70. Abbildung mit Darstellung des Einsalbens syphilitischer Patienten: Burgun – Laugier (1992), S. 1483 Abb. 1605 (16. Jh.). Burgun – Laugier (1992), S. 1477 mit Abb. 1599 aus der Zeit um 1813, in der Quecksilber noch immer das einzige einigermaßen wirksame Medikament war. Lyon 1520. Abbildung des Titelblatts: Burgun – Laugier (1992), S. 1485, Abb. 1608. Burgun-Laugier (1992), S. 1499. Vgl.: Jankrift (2005; Anm. 63) S. 48. K.-H. Ludwig – V. Schmidtchen, Metalle und Macht: 1000 bis 1600 (Propyläen-Technikgeschichte Bd. 3), Berlin 1997, S. 231.
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Schwertknauf, der der Überlieferung zufolge dieses Wundermittel enthielt. Doch auch wenn das nicht der Fall war: Der Mann war stets der wiederholten Einwirkung von Quecksilber ausgesetzt. Das führt neben der akuten Vergiftung, die bei nicht zu hoher Exposition therapierbar ist, zu einer chronischen Toxizität, die vor allem das Zentralnervensystem angreift.118 Die Symptome äußern sich ggf. mit Tremor, dann mit emotionaler Labilität, die sich neben Misstrauen und Nervosität in Reizbarkeit äußert. Weitere Symptome bis hin zu Konzentrationsschwächen, Lähmungserscheinungen und neuromuskulären Veränderungen wie Schwäche oder Atrophie können auftreten. Wichtig in unserem Zusammenhang ist nun, dass sich diese Symptomatik zunächst kaum von der des Alkoholabusus unterscheidet. Was also Johannes Oporinus als Trunksucht beschrieben hat, lässt sich mühelos auch als eine chronische Quecksilbervergiftung ermitteln. Die Lebensumstände des Theophrastus Bombastus von Hohenheim lassen diese Deutung der schleichenden Kontaminierung mit einem Schwermetall erheblich an Wahrscheinlichkeit gewinnen; die Merkmale seiner Persönlichkeit sprechen dafür. In der Tat haben die anthropologischen Untersuchungen an des Hohenheimers Gebeinen eine (gegenüber zeitgleichen und frischen Knochen) bis zu 100-fach überhöhte Konzentration an unlöslichem Quecksilber festgestellt, was zugleich auch bedeutet, dass das Schwermetall zu Lebzeiten resorbiert worden sein muss, also nicht durch eine spätere Kontamination zu erklären ist.119 In der Tat konstatieren auch diese Untersuchungen am Skelett die neurologischen Folgeerscheinungen „bei schwerer chronischer Quecksilbervergiftung in den Stadien des Tremor mercurialis und des Erethismus mercurialis in Verbindung mit einer Vielzahl psychischer Symptome,120 die zu Depressionen und auch Halluzinationen führen können, die insbesondere zur Nachtzeit zu schweren Aufregungszuständen der Patienten führen können. Deshalb also war er so reizbar, wenn man ihn veralberte, indem man ihn statt Theophrastus als „Cacophrastus“ (Scheißphrastus) bezeichnete.121 Im Austeilen war er gut: Die Anhänger der Säftelehre122 galten ihm als „humoristen seue“123, und die antike Tradition der Naturwissenschaf_____________ 118 Vgl. die zitierte Datenbank. 119 H. Kritscher et al., Gebeine (1994, s.o. Anm 82) S. 69 ff., v.a. S. 87. 120 Chr. Reiter, Das Skelett des Paracelsus aus gerichtsmedizinischer Sicht. In: Dopsch – Kramml (Hgg.), Paracelsus und Salzburg, S. 112. 121 Böhme (1995; Anm. 66) S. 75. 122 Die antike Säftelehre hat sich vielerorts in Europa noch über die Zeiten von Andreas Vesal (1514 – 1564) hinaus gehalten: R. Wittern, Die Gegner Andreas Vesals: Ein Beitrag zur Streitkultur des 16. Jahrhunderts. In: F. Steger – K. P. Jankrift, Gesundheit – Krankheit: Kulturtransfer medizinischen Wissens von der Spätantike bis in die frühe Neuzeit (Archiv für Kulturgeschichte, Beih. 55), Köln 2004, S. 167–199, hier S. 199. 123 Keil, Mittelalt. Konzepte (1995; Anm. 73) S. 186 (Huser I, II, 25).
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ten schalt er als „Bescheisserey“ und „lügnerei“124. Kurz, er war, so Hartmut Böhme, „anmaßend, polemisch, barbarisch im Ton“125. Seine Nehmerqualitäten hingegen waren schlecht. Er stand nicht über der Sache, woraus sich ein gewisses Indiz für Minderwertigkeitskomplexe ersehen lässt. Und so hat C. G. Jung auch seinen „reizbaren Geltungsdrang, der ihn immer wieder mit seiner Umgebung verfeindete“, zurückgeführt auf das Symptom eines „nicht zugegebenen Minderwertigkeitsgefühl(s), d. h. auf einen wirklichen Fehler, dessen man sich aber in der Regel nicht bewusst ist“126. In der Tat hatte er eine gewisse Neigung zum Jähzorn ererbt, und in seinen Schriften fällt ja auch immer wieder, so Jung, „sein galliges und streitsüchtiges Temperament“127 auf. Man wird freilich den Eindruck einer gewissen Steigerung seiner Wutausbrüche konzedieren müssen, was sich in seiner immer unsteteren Lebensführung und kürzeren Verweilzeiten äußert bis hin zu seinen letzten Jahren, über die man wenig Klarheit hat.128 Persönlichkeit und Werk des Hohenheimers sind in ihre Zeit eingebettet, und die war, wie soeben gesehen, rau im Umgangston. Die Basler Buchverbrennung von 1527 stand in bester Tradition. Nur zwei Beispiele: Sieben Jahre zuvor, am 10. Dezember 1520, verbrannte Martin Luther die päpstliche Bannandrohungsbulle; und eine Generation vorher, am 7. Februar 1497, ließ Savonarola in Florenz den „Scheiterhaufen der Eitelkeiten“ errichten, auf dem auch Botticelli eigene Werke verbrannte. Andererseits lässt sich diese Zeit auch als suchend qualifizieren: Man beobachtete die Natur – ganz in dem Sinne, der von Paracelsus vorgegeben worden war – und zog Schlüsse daraus, auch wenn man die Hintergründe nicht verstand. So hat man beispielsweise in dem Großen Ordenshospital auf Malta, das 1575, also erst in der Zeit nach Paracelsus, bezugsfertig war, die Betten von Tuberkulosekranken samt Bettzeug verbrannt, auch wenn die Übertragungswege129 der Tbc noch nicht bekannt waren. Und man reichte in diesem Haus die Mahlzeiten auf silbernem Tafelgeschirr130, weil man offensichtlich die desinfizierende Wirkung dieses Metalls beobachtet hatte. _____________ 124 Rhein (1995; Anm. 65) S. 99. 125 Böhme (1995; Anm. 66) S. 70. 126 C. G. Jung, Paracelsica: Zwei Vorlesungen über den Arzt und Philosophen Theophrastus, Zürich 1942, S. 73. 127 Jung (1942), S. 10. 128 Schipperges (1994, Anm. 68) S. 34 ff. 129 Schreiber – Mathys (1986; Anm. 90) S. 183 ff.: Erst im 17. Jh. fand man jene Gebilde, die man als Tubercula bezeichnete; S. 189: im Jahre 1882 legte Robert Koch den Nachweis vor, dass diese Krankheit übertragen und nicht etwa vererbt wurde. 130 M. Buttigieg-Jaklin, Malta: Mit Gozo, Comino und Cominotto, München 1993², S. 71.
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So zeigt sich die Setzung von Impulsen, die sicher mit dem Hohenheimer zu verbinden sind: Man beobachtet die Natur und zieht Schlüsse daraus. Auch wenn man viele Antworten nicht kannte – das ergeht manchen Teilbereichen der Medizin noch heute so –, so hat Paracelsus doch wenigstens manchen Weg gewiesen. Seine Therapie der Syphilis ist über Jahrhunderte nicht überboten worden,131 und auch seine balneologischen Forschungen verdienen hohe Aufmerksamkeit. Auf der anderen Seite gilt: Vieles im Leben und im Denken des Mannes, ein guter Teil seiner Persönlichkeit, war noch im Mittelalter verhaftet. Die Idee vom Menschen als Mikrokosmos in Abhängigkeit von den vier Elementen des Makrokosmos, die im Mikrokosmos wirken132 – mit anderen Worten: Gott bestimmt über die Krankheiten –, kann nicht gerade als zukunftsträchtiger Befreiungsschlag für das Denken einer neuen medizinischen Welt verstanden werden. Die Theologie des Hohenheimers verbleibt auf traditioneller Ebene, und die Medizin kann bei Paracelsus nicht ohne Theologie gedacht werden.133 So steht beispielsweise hinter dem paracelsischen „Lammarzt“ das Verständnis des mittelalterlichen Christus Medicus134. Solches wird auch im paracelsischen Schrifttum deutlich, etwa in den Defensiones135: ein ietliches ding sol gebraucht werden, dahin es verordnet ist, und wir sollen weiter kein scheuen an demselben tragen, dan got ist der recht arzt und die erznei selbst. Damit allein schon wird eine mittelalterliche Tradition sichtbar, die sich in anderer Hinsicht auch in den Kommentaren zu den Aphorismen des Hippokrates136 wiederfindet: Ein Mensch muss sich im Gleichgewicht befinden (Paracelsus: ein bein sol als schwer sein, als das ander); wo nicht, ist ein uberfluß und ein krankheit; deswegen müssen alle ding in der ordnung stehen, in der zal, im gewicht, in der maß, im zirkel etc. Das ist nun ein Zitat nach Sapientia 11, 20b, wo es heißt: Du aber hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet. Dieser Vers wird von den Kirchenvätern und auch weithin im Mittelalter immer wieder zitiert,137 so auch von Isidor von Sevilla138. Wie Paracelsus an die Überlieferung kam, entzieht sich einstwei_____________ 131 Böhme (1995, Anm. 66) S. 75. 132 U. Gause, Aspekte der theologischen Anthopologie des Paracelsus. In: P. Dilg – H. Rudolph (Hgg.), Neue Beiträge zur Paracelsus-Forschung (Hohenheimer Protokolle Bd. 47), Stuttgart 1995, S. 59–70, hier S. 61. 133 Zu beiden Aussagen: Rhein (1995; Anm. 65) S. 100. 134 D. v. Engelhardt, Paracelsus – der Arzt, Naturphilosoph und Alchemist. In: R. Jütte (Hg. 1994; Anm. 90) S. 15–30, hier S. 24. 135 Sieben Defensiones, hier: Die drite defension (Ausgabe Sudhoff 1, 11, 137). 136 Deutsche Kommentare zu den Aphorismen des Hippokrates (Ausgabe Sudhoff 1, 4, 535). 137 Vgl. G. Binding, Der früh- und hochmittelalterliche Bauherr als sapiens architectus, Darmstadt 1996, S. 407 ff. 138 Isidor von Sevilla, Ethymologiae III, 4, 1. Dieses dritte Buch trägt den Titel: De mathematica.
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len der Kenntnis; denkbar wäre beispielsweise eine mündliche Weitergabe;139 dass es sie gab, steht außer Frage. Auch in anderen Hinsichten stand Paracelsus in mittelalterlichen Traditionen. Allein das Landfahren – für ihn eine „Obsession“ (Böhme), die er mit der miserablen Begründung vertrat, dass die Krankheiten hin und her wanderten140 – geriet ihm zur Dauerflucht vor jenen kommunalen Autoritäten, die noch Ende des 15. Jahrhunderts, also als der Hohenheimer das Licht der Welt erblickte, alle fahrenden Leute mitsamt den „Spielern, Gauklern, Meineidigen …“ pauschal als „unnütz für Gott und die Welt“ titulierten.141 Subjektiv machte er das Beste daraus, indem er den Horizont seiner Untersuchungen erweiterte; von außen betrachtet hatte er sich aus der Gesellschaft herauskatapultiert. Und wie den fahrenden Spielleuten war auch ihm die Armut eine häufige Begleiterin. Weiterhin steht Paracelsus eindeutig in antiker Tradition, ob es ihm selber nun bewusst war oder nicht. Der berühmte Satz alle ding sind gift und nichts on gift; alein die dosis macht das ein ding kein gift ist. als ein exempel: ein ietliche speis und ein ietlich getrank, so es uber sein dosin eingenomen wird, so ist es gift142 wird gern so verstanden, dass Paracelsus den Begriff der Dosierung im Sinne der Quantifizierung eingeführt habe.143 In der Tat erläutert Paracelsus seine Vorstellung von dosis in rechtem gewicht … es ist nicht zu vil noch zu wenig.144 Nun hat demgegenüber Georgios Papadopoulos herausgearbeitet, dass es sich beim paracelsischen Begriff der Dosis nicht einfach um ein Weniger oder Mehr einer bestimmten Substanz handle; durch entsprechende Dosierung, also die Veränderung der Quantität, werde ein Gift nicht zu einer Arznei, sondern höchstens zu einem Nicht-Gift145. Vielmehr scheide Paracelsus Arznei und Gift146: ich scheit das, das nit arcanum ist, von dem, das arcanum ist, und gib dem arcano sein recht dosin.147
_____________ 139 Rhein (1995; Anm. 65) S. 104: „orale Wissenskulturen“. 140 Böhme (1995; Anm. 66) 83. Paracelsus, Sieben Defensiones, hier: Die vierte defension (Ausgabe Sudhoff 1, 11, 142. – Die Syphilis etwa „wanderte“ ja nicht in ein anderes Land, sondern sie breitete sich aus, wobei sie dem Ursprungsland erhalten blieb. 141 W. Hartung, Die Spielleute im Mittelalter: Gaukler, Dichter, Musikanten, Düsseldorf 2003, S. 314 mit Zitat. 142 Sieben defensiones, hier: Die drite defension (Ausgabe Sudhoff 1, 11, 138). 143 Zum Thema beispielsweise: W. Walter, Chemie und Naturwissenschaften. In: R. Jütte (Hg.), Paracelsus heute – im Lichte der Natur, Heidelberg 1994, S. 73–84, hier S. 83. 144 Sieben Defensiones, hier: Die drite defension (Ausgabe Sudhoff 1, 11, 138). 145 G. Papadopoulos, Gift, Arznei und Dosis bei Paracelsus. In: Nova Acta Paracelsica NF 18, 2004, S. 61–82, hier S. 70 f. 146 Papadopoulos, S. 77. 147 Sieben defensiones, hier: Die drite defension (Ausgabe Sudhoff 1, 11, 140).
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Dem gegenüber muss man sich aber vor Augen halten, dass der griechische Begriff to phármakon148 zweierlei Bedeutung beinhaltet: zum einen Heilmittel oder Arznei, zum anderen Gift. Auch hier kommt es entscheidend sowohl auf die Dosierung an149 als auch auf die Scheidung der Substanzen. Genau das untersuchte, wie die antiken Quellen berichten, bereits der König Mithridates VI. Eupator (132 – 66 v. Chr.), der die Wirkung tödlicher Arzneimittel an Todeskandidaten ausprobierte und daraus eine einzige Arznei – das Mithridat – herstellte, zu dem später Andromachos, Neros Hofarzt, durch Veränderungen das Gegengift, den Theriak150, gesellte – auch hier also zwei unterschiedliche Substanzen, für die des Hohenheimers Worte gelten könnten, in einem ietlichen ding ist ein essentia und ein venenum.151 Zurück zur Antike: So sei gegen Vipernbiss der Theriak wirksamer als das Mithridat. Auch sei die Wirkung verschieden, je nachdem ob man das Heilmittel vor oder nach dem tödlichen Gift einnehme, und wenn nachher, dann sei auch noch die Dosis152 entscheidend …153 Doch dieser Text stammt von Galen, für den Paracelsus nicht gerade freundliche Worte übrig hatte, zumal er die hier geschilderten Vorgänge, von denen er mit gewisser Wahrscheinlichkeit Kenntnis hatte, verurteilte.154 Auch bezüglich der paracelsischen Beobachtungen zur „Bergsucht“, wie er die Lungenkrankheit jener Bergleute nannte, die Erze fördern und schmelzen, muss man sich die Frage stellen, ob hier tatsächlich erstmals eine Berufskrankheit155 beschrieben wird.156 Die Spezifizierung auf die Lunge könnte es vermuten lassen. Denn mehr als 15 Jahrhunderte vor Paracelsus beschrieb Vitruv die Berufskrankheit der Bleiarbeiter, die alle eine bleiche Körperfarbe hätten, weil der freiwerdende Bleidampf (vapor), _____________ 148 Τοɳ ϕαɴρµακον. Als weitere Konnotation sei auf die Bedeutung dieses Wortes im Sinne von ‚Zaubermittel‘ oder ‚Zaubertrank‘ hingewiesen. 149 A. Krug, Heilkunst und Heilkult: Medizin in der Antike, München 1985, S. 103: „erst die Dosis entschied, ob es heilte oder tötete“. 150 Der griechische Begriff: θηριακηɴ. 151 Volumen Paramirum (Ausgabe Sudhoff 1, 1, 195). 152 Τοɳ επιδιδοɴµενον von διɴδωµι geben. Zur Textstelle s. die folgende Anmerkung. 153 Galen, De antidotis 1. Text und Übersetzung: W. Müri (Hg.), Der Arzt im Altertum: Griechische und lateinische Quellenstücke von Hippokrates bis Galen, München 19794, S. 416 f. 154 Mir scheint, dass Paracelsus diese Stelle kannte, denn bezüglich der Dosis prangert er an, dass die Kenntnis über ein Mehr oder Weniger über Leichen führe; es sei „ein erfarenheit aus dem mörderischen weg“: Von ursprung und herkomen der franzosen (Ausgabe Sudhoff 1, 7, 320). 155 Engelhardt (1994; Anm. 133) 26: „Seine Beobachtungen der Bergwerkserkrankungen haben ihn zum Vater der Arbeitsmedizin werden lassen.“ Böhme (1995; Anm. 66) 72: Paracelsus als „Entdecker“ der Berufskrankheiten. 156 R. Bollinelli – P. Carles, Geschichte der Lungenheilkunde. In: R. Toellner (Hg.), Illustrierte Geschiche der Medizin Bd. 5, Erlangen 1992, S. 2703; S. 2708.
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der sich an den Gliedern des Körpers (corporis artus) festsetze, den Körperteilen die wertvollen Eigenschaften des Blutes entziehe.157 So hat Vitruv hier eindeutig die Berufskrankheit der Bleiarbeiter beschrieben mit der übrigens bemerkenswerten Folgerung, dass somit auch das Wasser aus Bleiröhren der Gesundheit nicht zuträglich sein könne. – Zu Paracelsus‘ Zeiten war Vitruv in Italien bereits an mehreren Orten gedruckt worden; eine deutsche Übersetzung erschien 1514 in Basel158. Eine Bekanntschaft Theophrasts mit diesem Werk ist also ohne Weiteres denkbar. Gewiss werden solche Beobachtungen Gegner auf den Plan rufen. Paracelsus erschien zunächst als Alkoholkranker, bei näherem Hinschauen dann allerdings als Opfer einer wesensverändernden Verseuchung durch Quecksilber – der Arzt wird zum Patienten einer Berufskrankheit und weiß es nicht. Paracelsus muss Zuschreibungen erstmaliger Erkenntnisse abgeben – schon früher wusste man um die Bedeutung der Dosis; schon vor langer Zeit beschrieb man Berufskrankheiten. Paracelsus wird freilich durch diese Beobachtungen nicht demontiert. Seine Buchverbrennung in Basel kann man „als Zeichen für den Anbruch einer neuen Zeit werten. Die Theorien des Paracelsus sind noch mittelalterlich, aber seine Tat beweist die Unabhängigkeit seines Geistes gegenüber einer erstarrten medizinischen Lehre und nimmt die folgenden Umwälzungen vorweg“159 (P. Dustin). Diese Umwälzungen setzen zu Theophrasts Lebzeiten nachhaltig mit dem revolutionären Gedanken eines heliozentrischen Weltbildes ein. Nikolaus Kopernikus (1473 – 1543) formuliert diese These erstmals um 1509 in seinem Commentariolus; 1533 erläutert er die heliozentrische Theorie dem Papst160 – das alles zu Paracelsi Lebzeiten. Beide – Paracelsus und Kopernikus – waren praktizierende Ärzte;161 beide hielten sich, wenn auch zu unterschiedlichen Zeiten, in Ferrara auf.162 Es gab also Berührungspunkte. Allerdings: Der Druck der kopernikanischen Schrift De revolutionibus erfolgt soeben nach des Hohenheimers Tod in den Jahren 1542/43. Zu genau dieser Zeit erschienen auch Andreas Vesals anatomische Studien, die die endgültige Überwindung der galenischen Anatomie einleiteten.163 _____________ 157 Vitruv, De achitectura libri decem 8, 6, 11 ed. C. Fensterbusch, Darmstadt 1976². 158 Fensterbusch (s. vor. Anm.) S. 13 f. 159 P. Dustin, Die pathologische Anatomie. In: R. Toellner, Illustrierte Geschichte der Medizin Bd. 4, Erlangen 1992, S. 2045-2089, hier S. 2056. 160 M. Carrier, Nikolaus Kopernikus, München 2001, S. 76 ff. zur Genese des heliozentrischen Ansatzes; S. 183 Zeittafel. 161 W. Shea, Nikolaus Kopernikus: Der Begründer des modernen Weltbildes, Heidelberg 2003, S. 39. 162 Kopernikus bereits 1503: Carrier, S. 183. H. Blumberg, Die kopernikanische Wende, Frankfurt 1965, S. 80. 163 Jankrift (2005; Anm. 63) 45. O. Mazal, Geschichte der abendländischen Wissenschaft des
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Dustins sehr treffende Zusammenfassung, Theophrastus nehme die folgenden Umwälzungen vorweg, lässt sich dahingehend erweitern, dass Paracelsus mit seiner heuristischen, „primär intuitiven, sich in Wissenschaft wandelnden“ Konzeption (Goldammer164) in gewisser Hinsicht „zum Begründer einer naturwissenschaftlichen Konzeption der Heilkunde“165 (O. Mazal) wurde, und zwar immer dann, wenn er sich um einzelne (Heil-)Mittel bekümmerte und den übergeordneten Gedanken einer von Gott ausgehenden Heilung für einen Moment hintan stellte. Somit steht Paracelsus an einer Nahtstelle zwischen den Zeiten.166 Er schöpft aus einer bisher anscheinend kaum gewürdigten Tradition; er bringt sein Erbe mit; er weist aber auch deutlich in die Zukunft. Wenn es gelingt, diese Merkmale seiner Persönlichkeit zu trennen und in ihrem jeweiligen Kontext zu würdigen, und wenn man dann noch sein immer mehr zum Reizbaren hin sich veränderndes Wesen, dem im Übrigen keine Einsicht in eigenes Verschulden möglich war,167 einbezieht, dann – erst dann – kann man ansetzen, einem Mann gerecht zu werden, der sich dem Zugriff so oft entzieht.
_____________ Mittelaltes II, Graz 2006, S. 431 f. 164 K. Goldammer, Zur philosophischen und religiösen Sinngebung von Heilung und Heilmitteln bei Paracelsus. In: K. Goldammer, Paracelsus in neuen Horizonten: Gesammelte Aufsätze (Salzburger Beiträge zur Paracelsusforschung Bd. 24), Wien 1986, S. 343-357, hier S. 355. 165 Mazal, S. 429. 166 Engelhardt (1994; Anm. 133) 20: „Paracelsus verbindet Mittelalter und Neuzeit.“ 167 Jung (1942, Anm. 125) S. 11.
Paracelsus – St. Galler Fundamente seiner Medizin-Philosophie1 Pirmin Meier In St. Gallen über Paracelsus sprechen müsste heißen, Hohenheims St. Galler Ansätze zu den Grundlagen seines Denkens und Wirkens wenigstens andeutungsweise einzubeziehen. Der emblematische Titel aus dem Gesamtwerk, der in St. Gallen abermals auftaucht, heißt Paramirum: dasjenige, was über alles zum Staunen anregt. Das Sichverwundern, von Platon und Aristoteles zum Anfang der Philosophie erklärt, leitet auch die wissenschaftliche Neugier von Paracelsus. In Salzburg, Basel, im Elsass, in Nürnberg, St. Gallen, Mährisch-Kromau und in Kärnten hebt er noch und noch an, um einem meist wenig geneigten Publikum immer wieder das gleiche Programm mit einer Überfülle von Paradigmen vorzuführen. Die „Erfahrenheit aus dem Lichte der Natur“: erfasst nach Maßgabe von fünf Entien („was Gewalt hat, den Leib krank zu machen“), fünf Heilungswegen, vier Säulen der Medizin, vier Elementen und den drei Prinzipien Sal, Sulphur und Merkur. Dies gipfelt dann in der Lehre von den vier Arcana, den Heilmitteln aus dem Lichte der Natur. Das St. Galler Paramirum, dem einheimischen Doktor, Stadtarzt, Reichsvogt und Bürgermeister Joachim von Watt (1484 – 1551) gewidmet, stellt für Paracelsus den dritten großen Versuch zu einem FundamentalWerk der Medizin-Philosophie dar. Ihm vorausgegangen sind die Studien zu den fünf Entien Volumen Paramirum und das Viersäulenbuch Paragranum. Das Entienbuch, also die Lehre von den Umwelteinflüssen und Zeitfaktoren (ens astrale), von den Vergiftungen und Infektionen (ens _____________ 1
Anstelle eines Literaturverzeichnisses: Paracelsus, Theophrastus von Hohenheim: Sämtliche Werke, I. Abteilung: Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften, hg. von Karl Sudhoff, Berlin 1922 – 1933, 14 Bde. Zit. I–XIV. u. Seitenzahl. Braun, Lucien: Paracelsus und das Wesen des Grundes. Salzburger Beiträge zur Paracelsusforschung, Salzburg 1984. Meier, Pirmin: Paracelsus, Arzt und Prophet, 5. Auflage, Zürich 2004 (wird oft mit einem belletristischen Werk verwechselt und deswegen in der wissenschaftlichen Literatur selten zitiert). Binswanger, Hans Christoph: Geld und Magie, Deutung und Kritik der modernen Wirtschaft, Stuttgart 1985.
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venale), von den konstitutiv gegebenen Krankheitsursachen (ens naturale) und von den Geistwirkungen (ens spirituale), womit auch die Wirkungen von Pflanzen- und „Metallgeistern“ gemeint sind, begründet als Abgrenzung gegenüber der scholastischen Ursachenlehre eine differenzierte Handhabung des metaphysischen Kausalitätsprinzips. Nicht zu vergessen ist dabei die allgemeine Kontingenz (Zufälligkeit, Nichtnotwendigkeit des Daseins), womit das Unfassbare, Unerklärbare und schlicht Irrationale den ihm angemessenen Ort im System zugesprochen bekommt: Das fünfte Ens oder das Ens deale, auch Ens Dei genannt, ist keine Dogmatik göttlicher Einwirkungen, schließt solche jedoch nicht aus. Das Ens Dei entspricht einem Bereich, für den der Arzt nicht zuständig ist. Dem Wirken des in der Theorie gelehrten und praktisch erprobten „Iatrosophen“ bleiben die vier natürlichen Entien überlassen. Aber auch für die astralen, venalen, naturalen und spiritualen Gesichtspunkte gilt, dass nicht der Arzt es ist, der heilt, sondern dessen Meister, die „Natur“. Das visionäre Modell der fünf Entien hat mit einer Totalmedizin zu tun, die dennoch nicht als geschlossenes System einherkommt. Jedes der fünf Entien gehört einem je eigenen Wissensbereich an. Die Erfassung desselben erfordert vom Arzt Beherrschung der vier Säulen der Arznei, nämlich der Philosophie, der Astronomie, der Alchemie und der Ethik, darüber hinaus einen unerschütterlichen Glauben und die Orientierung an Christus, „welcher ist der erste arzet und der einzige, der es umsonst tut“. Die philosophische Pointe der Lehre von den fünf Entien ergibt sich aus dem Vergleich mit Modellen aus der Zeit der Scholastik und der (nachparacelsischen) Aufklärung über das Verhältnis von Ursache und Wirkung. Als Beispiel seien der aristotelische Bewegungssatz (alles, was bewegt wird, wird von einem anderen bewegt), das metaphysische Kausalitätsprinzip (keine Wirkung ohne Ursache, am Ende wird von einer „Erstursache“ ausgegangen) und der für das mechanische Weltbild unumstößliche Kausalsatz genannt. Für den Kausalsatz gilt: Gleiche Wirkungen haben gleiche Ursachen und umgekehrt. Damit geht das für die sogenannte exakte Naturwissenschaft der Aufklärung kennzeichnende mechanistische Weltbild noch über das ältere metaphysische Kausalitätsprinzip hinaus. Nach dem scholastischen Kausalitätsprinzip hat zwar jede Wirkung ihre Ursache, doch deutet dies noch nicht auf je ein und dieselbe notwendige Ursache. Für die Erkenntnis der Natur – z. B. nach Albert dem Großen – ist einzig und allein der Blick auf eine „hinreichende Ursache“ erforderlich. Um diese „hinreichenden Ursachen“ handelt es sich auch bei den Entien des Paracelsus. Es ist beim je gleichen Krankheitssymptom keineswegs ausgemacht, dass stets die nämliche Ursache die Krankheit hervorgerufen habe. Wie bei den Scholastikern ist auch bei Paracelsus die einzig notwendige und allererste Ursache für die geschaffenen Dinge der
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Schöpferwille Gottes. Dieser wird nicht einseitig nur als Anfangsgrund gesehen, sondern als permanenter Grund. Über das Wesen des Grundes bei Paracelsus hat sich 1984 in den Salzburger Beiträgen zur ParacelsusForschung der Philosoph aus der Schule Heideggers und langjährige Straßburger Paracelsusspezialist Lucien Braun ausgelassen. Für das Verständnis der Paracelsischen Kosmologie bringt das St. Galler Paramirum mit der Ausfaltung der Lehre der drei Prinzipien Sal, Sulphur und Merkur eine analoge Entsprechung für das, was Aristoteles, Albert der Große und Thomas von Aquin als „Materialursache“ der Dinge beschrieben haben. Diese konstitutive materielle Seite alles Geschaffenen wird bei Paracelsus grundsätzlich mit den als Bildbegriffen zu fassenden Materialsubstanzen des Festen (Sal), des Brennbaren (Sulphur) und des Flüchtigen („Merkur“) gefasst. Am allerersten muss der arzet wissen, das der Mensch gesezt ist in drei substanz. Dan diewol der mensch aus nichts gemacht ist, so ist er aber in etwas gemacht, dasselbig ist geteilt in dreierlei. (Sudhoffsche Ausgabe, Bd. IX, S. 40)
Hohenheim bewegt sich innerhalb der klassischen Substanz-Diskussion, als er die Substanz das „in etwas“ bezeichnet, wofür die Scholastik den Fachausdruck „ens in se“ reserviert hat: das In-sich-Seiende im Gegensatz zum Seienden in einem andern, also einer bloßen Eigenschaft oder Bestimmung, in der Schulphilosophie accidens (im Gegensatz zur Substanz) genannt. Dieses „in etwas“ besteht nach Paracelsus aus dem Dreierlei SalSulphur-Merkur. Die dynamische Grundstruktur dieser alchemischen Dreifaltigkeit beantwortet bei ihm die Frage nach dem kosmischen Woher. Diese wird erstmals bei den älteren griechischen Naturphilosophen gestellt, so bei Thales, Heraklit, Anaximenes, Anaximander, Empedokles und Pythagoras. Dabei sind die Hohenheimschen Vorstellungen weder mit Materialismus noch mit Monismus (Einprinzipienschema) gleichzusetzen. Sal-Sulphur-Merkur sind nicht als statische Stoffe anschaulich zu machen, erst recht nicht eins zu eins mit Salz, Quecksilber und Schwefel gleichzusetzen. Es handelt sich um Grundbegriffe eher biospiritueller als biochemischer Art. Die Umschreibung von Prozessen, die mit dem letzten Grund des Lebendigen zu tun haben. „Aus dem lebendigen gehet der grunt“ (XI, 176) ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges Axiom aus dem Labyrinthus medicorum errantium, dem späteren Grundlagenwerk aus dem Jahre 1538. Diese drei Prinzipien stehen für das Lebendige, für den beseelten Leib, nicht zu verwechseln mit dem elementischen Körper, welcher als Leiche die entscheidenden Informationen uns gerade nicht zu geben vermag. Die besagten Lebensprinzipien erfassen die organische und anorganische Welt gleichzeitig. In diesem Sinn steht Hohenheim, wie die vorplatonischen Denker, der archaischen Lehre von der Stoffbelebung (Hylezoismus) nahe.
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Das Vorgehen im Buch Paramirum ist, wenigstens im Grundsatz, nicht als Spekulation gemeint, sondern beruft sich auf „zerlegung und erfarung, solcher eigenschaft ergründung“ (IX, 45), also auf die „erfarenheit der natur“, das Programm des Paracelsus seit seiner Basler Antrittsvorlesung vom 5. Juni 1527. Unter unausdrücklicher Berufung auf Nikolaus von Cues wird ein modernes Wissenschaftsprinzip in Anspruch genommen, wenngleich bei Weitem noch nicht konsequent gehandhabt: „die krankheit stet in dem gewicht, in der zal und in der mass.“ (IX, 44) Es ist nicht nur von sichtbaren, auch von unsichtbaren Dingen die Rede (IX, 44). Allerdings nicht von dem, was die Bauernaugen sehen (IX, 46), sondern was für die „augen des feuers“ (IX, 44) wahrnehmbar ist, was also der alchemischen Prüfung, der Erfahrung im Feuer, standhält. Als Standardbeispiel, didaktisch geschickt gewählt, dient das Holz, generell ein Lehrmeister der Erfahrung und eine Art Leib: Nun die ding zu erfaren so nempt einen anfang vom holtz. dasselbig ist ein leib; nun lass (es) brinnen, so ist das do brint der sulphur, das da raucht der mercurius, das zu eschen (Asche) wird sal. (IX, 56)
Dieser erfahrungsbezogene Lehrsatz gibt den „anfang zu den arzneiischen augen“, eine Primärsicht aller materiellen Dinge als Beitrag zur medizinischen Theorie des Leibes. Heraklitisch ist in diesem Zusammenhang das Feuer als Erkenntnisprinzip, mit dem Holz, und zwar mit dem Zedernholz als bibelnahes Beispiel illustriert. „Hüpsch“ sei der Baum, so lange er lebe, „so er aber in das feur kompt, so zeigt sich das, was sein leben verbirget“ (IX, 49). Was zunächst nur als anmutige Erscheinung sichtbar ist, wird aus dem Feuer wissenschaftlich erkennbar, wenigstens für den Forscher mit den Feueraugen. Dies ist der Sinn und Zweck des „opus magnum“, des großen Werkes des Alchemisten. Analog zu diesem anschaulichen Beispiel erfahren wir die Wahrheit über den Menschen in seinem „zerbrechen“ (IX, 50), so im Kranksein und Sterben. Im St. Galler Buch „Von den unsichtbaren Krankheiten“ steht in diesem Zusammenhang der denkwürdige Satz: „dan was dem leibe schadet, zerbricht das haus des ewigen“ (IX, 257). Was indes dem Leibe schadet, sieht man nicht erst bei der Leichenschau, sondern zumal und zuerst am Krankenbett. Der Blick auf den gesunden Menschen ist dabei nicht zu vernachlässigen: „Sechet auch den menschen an, so er lebt, wie schön er ist.“ (IX, 194) Ein seltenes Wort in einem medizinischen Fachtext, noch dazu von einem Autor, der sich selber als hässlichen verkrümmten Sohn seiner Mutter ansehen muss (XI, 155f.). Im dritten Kapitel des Paramirum wird das gesunde Leben mit dem Frieden verglichen (IX, 52). „Gut, stark, hüpsch“ sind die Adjektive für das Leben in einer Zahl von Jahren, „die klein ist“ (IX, 53). Der lebendige Mensch steht in den drei Prinzipien Sal-Sulphur-
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Merkur als ein mittel corpus zwischen dem Ursprung, prima materia genannt (eines der vier Paracelsischen Arcana), und der Vollendung nach dem Tode, ultima materia. Um dieses „Mittelcorpus“ willen sind der Arzt und die Arznei geschaffen worden. Voll Optimismus, ganz im Geiste Huttens („O Jahrhundert, o Wissenschaft, es ist eine Lust zu leben!“), wird in kraftvollem, alemannisch geprägtem Frühneuhochdeutsch, auch „Gemeines Landteutsch“ genannt, verkündet: so wissent das got den arzt nicht gesezt hat von wegen alein des pfnüsels (Niesen), hauptwe, aissen (eitrige Entzündungen), zanwe, sondern von wegen des aussazes, gehen (jähen) tots, fallend sucht (Epilepsie) und dergleichen, nichts ausgenommen! mügen wir das nicht tun, so gebrist (ermangelt) uns der kunst und der weisheit, so da sein sol, und gottes treu get nicht ab! (IX, 78)
Im Vergleich zum Paragranum von 1530 ist die Sprechweise im St. Galler Paramirum deutlich gemäßigter, wahrscheinlich mit Rücksicht auf den Empfänger der Widmung. Joachim von Watt hat es indes Paracelsus nicht gedankt, für den hochgelehrten St. Galler Stadtmächtigen blieb der Privatarzt von Bürgermeister Christoffel Studer (gestorben im Dezember 1531) sowohl wissenschaftlich als auch religiös ein Sektierer. Unbeschadet der Dreiprinzipienlehre spielt bei Paracelsus die alte, auf Empedokles zurückgehende Lehre von den vier Elementen eine tragende Rolle. Gemäß dem Hylezoismus sind die vier Elemente nicht nur die Masse des Lebendigen. Sie verfügen wesenhaft über ein Geschlecht. So vermochte Paracelsus gemäß Paragranum im Tosen des Rheinfalls einen Hörsaal der Natur wahrzunehmen, worin die ungeheure Kraft des Weiblichen, im Wassertropfen noch leicht übersehen, gewaltig und sinnenfällig zum Ausdruck kommt. In St. Gallen macht er auf drei „männliche Werke“ aufmerksam, nämlich das Anzünden durch Sulphur, das Auflösen durch Sal bzw. Salzsäure und das Verduften durch das Merkurprinzip. Dies ist indes so wenig „moralisch“ gemeint wie das Lob der weiblichen Elementargeister, welche die Wasserschätze hüten und die Oberfläche der Erde vor Verwüstung bewahren (gemäß Liber de nymphis aus der Astronomia Magna von 1537). Das aggressive männliche Prinzip ist für die Natur ebenso unentbehrlich wie das bewahrende weibliche Prinzip. Der St. Galler Gelehrte und Ökonom Hans Christoph Binswanger hat, über die Vermittlung von Goethes Faust, darauf hingewiesen, wie sehr im neuzeitlichen Kapitalismus die drei Paracelsischen Prinzipien als innere Hauptstruktur zu Ehren kommen. Mercurius steht dabei für das Prinzip von Wechsel und Papiergeld, Sulphur für das Prinzip der Investition und Sal für das Realkapital, die Summe der Produktionsmittel wie Schiffe, Maschinen, Infrastrukturanlagen einschließlich Gebäude, Dämme und Kanäle. Die Pointe des verweltlichten alchemistischen Prozesses im Sinne der modernen Wirtschaft liegt in der Möglichkeit, die ganze Welt zu „vergolden“,
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das heißt, aus allem Geldwert zu schöpfen. So weit Hans Christoph Binswanger in einer These, deren Tiefsinn bis anhin wohl doch eher unterschätzt worden ist. Vgl. Binswanger: Geld und Magie. Deutung und Kritik der modernen Wirtschaft, Stuttgart 1985. Zu den bemerkenswertesten Errungenschaften aus der Systematik des St. Galler Paramirum gehören Wortschöpfungen, mit denen Paracelsus in die Geschichte der deutschen Literatur, mithin aber auch in die Geschlechtergeschichte eingegangen ist: Es sind dies Ausdrücke wie „frauengeist“, „frauenhirn“, „manneshirn“, „frauenherz“ , „mannesherz“ und als bedeutendste Errungenschaft „freuische arznei“ (IX, 193). Ins Zentrum der Erörterung, auf den Hauptschauplatz von Krieg und Frieden der Geschlechter, führt uns die St. Galler These: … dergleichen so ist auch ein ander anatomei in den frauen als in den mannen, ursacht aber die besondere physica … nim für dich, dass das hirn der frauen frauenhirn ist und nicht manneshirn, ir herz frauenherz und nicht mannesherz, das ist ein unterschied, der dir vor den augen ligen sol. besich eusserlich die frauen gegen dem man und sich, was eins gegen dem andern sei und schau, ob du nicht findest, dass eine frau ein besonders vom man und ein man ein besonders von der frauen sei … (IX, 186)
Der Gesamtzusammenhang, innerhalb dessen die Diskussion über den „frauengeist“ zu begreifen ist, nach Karl Heinz Weimanns unveröffentlichter Dissertation über den Paracelsischen Wortschatz ein Grundbegriff für „weibliche Wesensart“, ist die Lehre von der Matrix. Dieser Begriff, der sich im 17. Jahrhundert zur Bedeutung der Gebärmutter im Sinn von Uterus verengt, später für mathematische Determinanten steht, bei Heisenberg, Born und Jordan in die theoretische Physik eingeht, ist bei Hohenheim ein analogisches Schema, womit er reale psychophysische Gegebenheiten verständlich machen will. Dies steht jenseits von Wertungen oder einseitigen Reduktionen. Dem Materialisten Rudolf Virchow (1821 – 1902) sollte es dann im 19. Jahrhundert vorbehalten bleiben, in seiner berüchtigten Studie Der puerperale Zustand. Das Weib und die Zelle (1848) die These aufzustellen: „Alles, was wir an dem wahren Weibe Weibliches bewundern und verehren, ist nur eine Dependenz des Eierstocks.“ Dass der Begriff Matrix bei Paracelsus eben dies nicht meint, unmöglich meinen kann, versuchte ich im 10. Kapitel meines Buches Paracelsus – Arzt und Prophet (5. Auflage 2004) darzutun. Die Paracelsische Theorie von der Matrix, die in St. Gallen ihre Mitte, aber nicht ihren Abschluss erreicht, hat Weiterungen in die verschiedensten Themen der Frauenmedizin, übersteigt schließlich den ärztlichen Bereich in Richtung Philosophie und Theologie. Mit der Lehre von der Matrix hängen eng zusammen: die Anschauungen betreffend Empfängnis und Geburt, was die Vorstellung von der fruchtbildenden imaginatio betrifft, die
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Forderung nach einer speziellen Ernährung der Frau, die spezifisch weiblichen Krankheitszeichen, die Heilmittelbotanik u.a. Berühmt sind in diesem Zusammenhang etwa die Paracelsischen Vorstellungen über die Melisse geworden. Auch die in ernährungswissenschaftlichen Vorträgen von Prof. Peter Ballmer (Winterthur) ausgesprochene Empfehlung, wonach für die Langlebigkeit der Frau täglich je zwei Deziliter Rotwein optimal seien, für den Mann jedoch drei Deziliter, ist im Prinzip nichts anderes als die praktische Anwendung einer für Paracelsus im Grunde selbstverständlichen Gegebenheit. Im Zusammenhang mit dem Thema „De vita longa“, also der Langlebigkeit, ist Hohenheim schon früh aufgefallen, dass viele Frauen, haben sie einmal die kritische und damals mit hohen Risiken verbundene Phase des Gebärens hinter sich, eigentlich kaum mehr umzubringen sind und sich auf ihre notorische Langlebigkeit verlassen können. Am Schluss des Buches Paramirum erweist es sich, dass Paracelsus auch in St. Gallen das Polemisieren am Ende dann doch nicht lassen kann. Gott habe den Arzt aus dem Lichte der Natur geschaffen, die Arznei jedoch aus der Erde, was aber leider für die verderbten Vertreter der Schulmedizin nicht gelte: euch hat Leipzig, Tübingen, Wien, Ingolstadt beschaffen …, das ir schmeckent ist weder kalt noch warm (IX, 229)
War sich der Verfasser eigentlich bewusst, dass er damit dem Empfänger der Widmung, dem früheren Rektor der Universität Wien, eine unverblümte Ohrfeige gab? Die Stelle lässt vermuten, dass das vierte Buch über die Matrix für Vadians Prüfung wohl kaum vorgesehen war, möglicherweise zu einem Zeitpunkt geschrieben wurde, da die ersten drei Teile beim Stadtarzt schon durchgefallen waren. Joachim von Watt gilt mithin als der bedeutendste St. Galler, als Reformator und Politiker brachte er es zur Denkmalfigur. Nach Hohenheim ist erst seit Herbst 1993, gleich beim Haus zur Wahrheit im Loch, wo er sich 1531 mit einiger Gewissheit aufgehalten hat, ein Paracelsusgässlein benannt.
Heilige, Heiler und Hexen: Volksmedizin um 1500 Johannes Grabmayer
Ich komme aus Klagenfurt in Kärnten, jenem heutigen österreichischen Bundesland, das Paracelsus „nach dem Lande meiner Geburt, mein ander Vaterland“ 1 genannt hat. Und in der Tat, der Aufenthalt in jungen Jahren in Kärnten, insbesondere in Villach bei seinem Vater Wilhelm, der ihn als Erster in die Wunder der Natur einführt, ihm die Heilkraft von Kräutern, Steinen, Metallen und auch des Wassers nahebringt, und so manches andere, von kirchlichen und medizinischen Autoritäten argwöhnisch Beäugte, hat nicht nur die berufliche Biografie des Philippus Aureolus Theophrastus Bombastus von Hohenheim nachhaltig geprägt. Die Stadt Villach betrachtet die Pflege der Paracelsustradition seit dem 19. Jahr-hundert als ihr Anliegen: Hohenheimstraße, Paracelsussaal, -hof, -ring, -gedenkstein, inschriftentafel etc. – Paracelsus ist also in Villach und ganz Kärnten wohl bekannt. Weniger bekannt und auch in der Literatur eher am Rande berücksichtigt ist das Thema der Medizingeschichte, insbesondere die Geschichte der sogenannten Volksmedizin.2 Medizingeschichte ist wohl die letzte Bastion, in welche die moderne Kultur- und Mentalitätsforschung bislang kaum einzudringen vermochte.3 De facto setzt sich die professionelle Medizingeschichtsschreibung erst seit Paul Diepgen (er ist 1966 verstorben) mit Volksmedizin auseinander, aber bis heute ist dieses Forschungsgebiet eine Domäne der Volkskunde geblieben. Kultur und Mentalitäten hatten in diesem Forschungskanon lange keinen Platz. Es wurde kaum danach gefragt, wie biologische Tatbestände, ärztliche Handlungen und medizini_____________ 1
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Zit. nach Jacobi, Jolande: Paracelsus. Arzt und Gottsucher an der Zeitenwende. OltenFreiburg/Br. 1991², 30. Vgl. auch Neumann, Dieter: Paracelsus und Kärnten. In: Paracelsus (1493–1541) „Keines andern Knecht …“, hg. von Heinz Dopsch, Kurt Goldammer, Peter F. Kramml. Salzburg 1993, S. 33–40, hier S. 33. Vgl. Eckart, Wolfgang Uwe, Jütte, Robert: Medizingeschichte. Eine Einführung. KölnWeimar-Wien 2007, S. 334 ff. mit weiterführender Literatur. Zur alpenländischen Volksmedizin vgl. Grabner, Elfriede: Grundzüge einer ostalpinen Volksmedizin (Sitzungsberichte der Österr. Akademie d. Wissenschaften, phil.-hist. Klasse 457) Wien 1985. Vgl. Jütte, Robert: Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der frühen Neuzeit. München-Zürich 1991, S. 7 ff.
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sche Innovationen von den Betroffenen bewertet wurden und welche Einstellungen, Erfahrungen oder Mentalitäten dabei eine Rolle spielten. Es gibt eine Reihe von Arbeiten zur Therapiegeschichte, etwa zu jener des Aderlasses, die meisten davon sind profund, aber kaum eine Studie befasst sich mit der Bedeutung dieser Therapie für die Alltagskultur. Die zeitgenössische Diskussion um „Volksmedizin“ entwickelte sich seit den frühen 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts dahingehend, bevorzugt von „medialer Kultur“ oder „medikalem System“ bzw. „medizinischem System“, von „medikaler Kultur“ anstatt von „Volksmedizin“ zu sprechen.4 Damit wird versucht, „die Limitierung und Wertungen, die der alte Begriff mit sich brachte, zu vermeiden.“5 Erstmals begegnet uns dieser mittlerweile etablierte neue Begriff 1983 bei Wolfgang Alber und Jutta Dornheim, die darunter „die medizinischen Wissensvorräte und Handlungsweisen einschließlich der dazugehörenden Institutionen“6 verstehen. Das bedingt, dass solche Definitionen für das Mittelalter und in weiten Bereichen auch für die beginnende Neuzeit nicht anwendbar sind. So gesehen ist es von den Veranstaltern des Symposions wohl überlegt gewesen, den traditionellen Begriff „Volksmedizin“ für meinen Vortrag zu verwenden. Aus der Sicht der Mediävistik ist „Volksmedizin“ eine kulturund mentalitätshistorisch hochinteressante Materie und zugleich eine ausgesprochen verworrene, wenig dokumentierte Grauzone. Denn wo beginnt die Medizin des Volkes und wo jene der Eliten? Wer ist – aus diesem Blickwinkel betrachtet – überhaupt „Volk“, und wer ist „Elite“? Sind Volk die Vielen, die keine gelehrte Ausbildung an einer Universität genossen haben und Elite folgerichtig die zahlenmäßig kaum zu berücksichtigende Gruppe der akademisch ausgebildeten, studierten Ärzte? Wenn Diepgen in seiner „Deutschen Volksmedizin“ 1935 sagt, „Volksheilkunde ist die Medizin, die aus dem Volke hervorgewachsen ist und durch ihren Gegensatz zur wissenschaftlichen Medizin charakterisiert ist“7, ist das wahrlich eine Definition ex negativo. Wohin gehört dann der Arzt, der wie Paracelsus bei einem todkranken Patienten characterales anwendet, Buchstaben- und Wortmagie praktiziert, wie wir sie insbesondere von Hexen und Zauberern aus verschiedenen Prozessakten kennen? Gehört der Priester, der mittels Ähnlichkeits- und Kontaktmagie heilt, zum _____________ 4 5 6
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Vgl. Jütte (wie Anm. 3), S. 13, 18 u.ö. Siehe Eckart/Jütte (wie Anm. 2), S. 335. Siehe Alber, Wolfgang, Dornhelm, Jutta: „Die Fackel der Natur vorgetragen mit Hintansetzung alles Aberglaubens.“ Zum Entstehungsprozeß neuzeitlicher Normsysteme im Bereich medikaler Kultur. In: Kultur zwischen Bürgertum und Volk, hg. von Jutta Held, Berlin 1983, S. 163–181, S. 165. Siehe Diepgen, Paul: Deutsche Volksmedizin. Wissenschaftliche Heilkunde und Kultur. Stuttgart 1935, S. 2.
Heilige, Heiler und Hexen: Volksmedizin um 1500
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Volk, oder doch eher zur Elite? Wohin gehört beispielsweise der Verfasser des Arzneibuches aus dem Zisterzienserkloster Viktring in Kärnten von 1549, der am Ende langer medizinischer Ausführungen zu Krankheiten und Heilkräutern, über die man genau wissen müsse, wie man sie breche und ausgrabe, wie er betont, das SATOR-Palindrom aufschreibt und anfügt: Diese wort auf ain schniten Prot geschriben vnd solches in ain briefl dorauf sandt Johans Evangeli geschriben ist eingewikelt vnd den Menschen oder Viech zum essen geben vnd darneben ain Vater Vnser bet (…)8
Auch Paracelsus hat bei schweren Fällen neben dem Beten von Vaterunser und Ave Maria diese bekannte SATOR-Formel empfohlen, wie Pirmin Meier in seinem Beitrag zur St. Galler Zeit des Paracelsus zu berichten weiß.9 Und wohin mit dem Leibarzt Ulrichs III. von Heunburg, magister Bruno phisicus10, der in seiner Apotheke Salben, Pflanzen, Tinkturen und Pillen aller Art, darunter kostbare orientalische Heilmittel wie Tamarinden (Indische Dattel, Sauerdattel) aufbewahrt, wobei etliche vor Hexen- und Teufelsspruch bewahren, wie er überzeugt ist, und der in seinem Stall einige Böcke, schwarze Hennen und Kater hält, die er ebenfalls für Heilzwecke züchtet. Und zur Zeit der Sonnenwende geht er auf die Suche nach heiligen Kräutern und Wurzeln, von denen viele nur in dieser Nacht gepflückt und gegraben werden dürfen, sollen sie heilkräftig wirken.11 Der Teufelsabbiss muss um Mitternacht vor dem Tage Johannis des Täufers (24. Juni) ausgegraben werden, dann ist seine Wurzel noch nicht vom Teufel abgebissen und dient nun zu dessen Vertreibung. Sie hilft auch bei Steinleiden. Junge Maiblumen, vor Sonnenaufgang gepflückt und unter das Gesicht gerieben, verhindern das Aufkommen von Sommersprossen. Das Farnkraut trägt nur in der Johannisnacht Samen, und dieser ist daher nur dann und mittels Beschwörungen zu gewinnen. Und auch die wohl sagenumwobenste Pflanze, die Mandragora, darf in der zeitgenössischen apotheca nicht fehlen. Wer sie ausgräbt, hat sich zu hüten, dass er nicht gegen den Wind steht, und dass er nicht gegen Westen sieht. Auch muss er vorher _____________ 8
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Siehe Kärntner Landesarchiv, Menhardtkatalog, B 9/34, p. 107. Vgl. auch Grabmayer, Johannes: Volksglauben und Volksfrömmigkeit im spätmittelalterlichen Kärnten (Kulturstudien. Bibliothek der Kulturgeschichte 24) Wien-Köln-Weimar 1994, S. 253. Vgl. Meier, Pirmin: Magische Beschwörungen, aber keine alchemische Küche – Neue Erkenntnisse zur St. Galler Zeit des Paracelsus. In: Paracelsus und Salzburg, hg. von Heinz Dopsch, Peter F. Kramml (Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde Ergänzungsband 14) Salzburg 1994, S. 117–120, hier S. 119 f. Zu Magister Bruno vgl. Frick, Karl R. H: Geschichte der Medizin in Kärnten im Überblick. Bd. I: Von den Anfängen bis zum Jahre 1804 (Das Kärntner Landesarchiv 14) Klagenfurt 1987, S. 16. Vgl. Grabmayer (wie Anm. 8), S. 255.
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mit dem Messer drei Kreise um dieselbe ziehen. Die Mandragora, deren Wurzel eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Gnomen-physiognomie aufweist, ist ein giftiges Nachtschattengewächs, um das sich viele Geschichten ranken. Der deutsche Name Alraune setzt sich vermutlich aus Alb und Raunen, also Murmeln im Sinne von Zaubersprüche murmeln, zusammen.12 Auch wurde ihr ein düsterer Ursprung angedichtet. Es hieß, sie gedeihe unter dem Galgen, insbesondere unter dem Leichnam eines Gehenkten, der Wasser und Samen von sich gelassen hatte. Daher wurde sie auch Galgenmännlein genannt. Sie auszureißen war gefährlich, denn das Männlein solle im Moment des Ausreißens einen so fürchterlichen Schrei ausstoßen, dass derjenige, der dieses Sakrileg ausführe, sofort vor Schreck sterbe. Daher war ein hungriger schwarzer Hund mit dem Schwanz an der Pflanze festzubinden und ihm ein Stück Fleisch vor die Schnauze zu halten. Der Hund stürme sogleich los und reiße das Gewächs aus dem Boden. Danach sei es zu baden, frisch zu bekleiden und in verschlossenen Flaschen zu halten.13 Den Notizen Brunos zufolge suchte man die Wirkung von Arzneien und insbesondere von Kräutern durch das Beten von Segens- und Zaubersprüchen zu verstärken, bzw. sie wurden schon beim Einsammeln der Kräuter und Wurzeln gesprochen. Es ist auch ein Gemeinplatz, anzunehmen, dass die mittelalterliche Heilkunst im Gegensatz zur antiken oder gar modernen geradezu primitiv gewesen sei. Hans-Henning Kortüm hat dagegen schlüssig argumentiert, dass in der Antike Krankheit, Alter und Siechtum häufig als größtes Übel galten. Nach seiner Einschätzung führte die negative Einstellung der antiken Gesellschaft insbesondere gegenüber chronisch Kranken zu einem starken Ansteigen magischer Praktiken, da diese im Unterschied zu den traumatisch Erkrankten als nicht durch eine rational orientierte Medizin therapierbar galten.14 Wir können daher schon für die Antike von der Existenz einer Fülle magischer Behandlungsmethoden ausgehen und auch von Mentalitäten, die meist erst dem Mittelalter zugeordnet werden. Magische Handlungen und religiöse Kultformen sind auch in der Antike bedeutend. Das antike Konzept etwa, dass hinter jeder Krankheit ein dafür zuständiger Dämon stehe, wurde ins Mittelalter übernommen. Im Mittelalter vermengten sich die beiden Stränge der _____________ 12
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Vgl. Rätsch, Christian: Hexenmedizin – das Vermächtnis der Hekate. In: Hexenmedizin. Die Wiederentdeckung einer verbotenen Heilkunst – schamanische Traditionen in Europa, hg. von Claudia Müller-Ebeling, Christian Rätsch, Wolf-Dieter Storl. Aarau 1998, S. 95– 166, hier S. 124 ff. u.ö. Vgl. Meyer, Carl: Der Aberglaube des Mittelalters und der nächstfolgenden Jahrhunderte. Stuttgart-Wien o. J. (Neudruck), S. 63 f. Vgl. Kortüm, Hans-Henning: Menschen und Mentalitäten. Einführung in die Vorstellungswelten des Mittelalters. Berlin 1996, S. 244 f.
Heilige, Heiler und Hexen: Volksmedizin um 1500
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Medicina magica – Naturmagie, magia naturalis, die Handhabung der Natur durch den Schöpfungsakt immanenten Kräfte – und die dämonische Magie, die qualitates occultae, die auf dem herkömmlichen Dämonenpakt beruhten, mit der Tradierung der antiken Medizinschule seit Hippokrates und Galen.15 Darin liegt die Krux, wenn man sich mit mittelalterlicher Medizin befasst, denn diese beiden Richtungen – heute würde man fast dazu neigen, von Schul- und Komplementärmedizin zu sprechen – zu entwirren ist nicht einfach und war dem Denken der Zeitgenossen fern. Die Begründung einer universitären Medizin, die beginnende Professionalisierung eines Ärztestandes und die Trennung von Wundarznei als Handwerk von der inneren Medizin als Wissenschaft wurden ab dem späten Mittelalter für den Umgang mit Krankheit relevant, aber in der Praxis nur sehr zögerlich wirksam.16 Naturkundlich-medizinische Laienbildung, die meist von einem stark magischen Denken geprägt war, erlosch im ausgehenden Mittelalter keineswegs und setzte sich auch in der Frühen Neuzeit noch weiter fort. Mentalitäten sind eben komplex. Verschiedene Einflüsse und Traditionen verbinden sich miteinander und können sich durchaus auch überlagern. Gerade Paracelsus kann dafür stehen. Heiler, Heilige, Hexen – schon der Titel des Vortrags deutet in die Richtung des Außergewöhnlichen, Außerweltlichen, Magischen, deutet auf die Anderswelt. Peter Dinzelbacher nennt ein Subkapitel seiner instruktiven Abhandlung zur Religionsgeschichte im Hoch- und Spätmittelalter auch „Zauberer, Heiler, Hexen“ und meint darin, dass der Priester im Rahmen eines legitimen organisierten Kultes handle, während der Magier, die Hexe, in unerlaubter, unorganisierter Konkurrenz zu ihm stünden.17 Ein elementarer Aspekt der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Magie ist der Glaube an die Wesensidentität von Mensch und Natur. Daraus resultiert die Anschauung, die z. B. in der Medicina Magica, dem Wetterzauber und den Zaubersprüchen zum Tragen kommt, dass Ähnliches Ähnliches bewirkt – similis similibus – ergänzt durch den Grundsatz, dass das Gegenteil Gegenteiliges hervorruft. Diese sympathetische oder imitative Magie beruht auf der äußerlichen Ähnlichkeit von Erscheinungen. Fruchtbarkeits-, Wetter- und Heilzauber sind nach diesem Prinzip angelegt. Kontagiöse Magie wiederum beruht auf dem Grundsatz, dass etwas, das einmal im Zusammenhang gestanden hat, nach einer Trennung immer noch verbunden ist. Pars pro toto – ein Teil steht für das Ganze, z. B. Haare, Blut, _____________ 15 16 17
Vgl. dazu Tuczay, Christa: Magie und Magier im Mittelalter. München 2003, S. 220 ff. Vgl. Grabmayer, Johannes: Europa im späten Mittelalter 1250 – 1500. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Darmstadt 2004, S. 83 ff. Vgl. Dinzelbacher, Peter: Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum. Bd. 2: Hoch- und Spätmittelalter. Paderborn u.a. 2000, S. 363 f.
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abgeschnittene Nägel, usw. Diese Ingredienzien in der Hand einer Schadenzauberin konnten schlimme Folgen nach sich ziehen.18 Dazu ein Beispiel: Am St. Jakobstag 1486 treffen sich drei Zauberinnen in Wolfsberg in Kärnten, um zu beraten, wie sie den Edelmann Wolfgang Poyner, der eine der Frauen materiell geschädigt hatte, strafen könnten. Sie kommen überein, eine Wachspuppe anzufertigen und zu vergraben. Dazu benötigen sie einen Schuhriemen des Mannes, ein Stück seines Gewandes und die Rippe eines Toten. Nachdem die Utensilien beschafft worden waren, wurde die Puppe in einer Pfingstnacht nach Mitternacht zwischen Kreuz und Galgen angefertigt und vergraben. Und tatsächlich wurde Poyner schwerkrank. Als daraufhin eine der Frauen ihre Tat bereut und fordert, das „Piltl“ wieder auszugraben, geht das auch nur mit einem Gegenzauber. Similis similibus. Irgendwie flog das Malefiz auf, und den Wolfsbergerinnen wurde der Prozess gemacht. Dessen Ausgang ist nicht überliefert.19 Das Anzaubern einer Krankheit durch Vergraben einer Wachs- oder Lehmpuppe in verschiedenen Varianten lässt sich weit ins Altertum zurückverfolgen, und in den forma et modus interrogandi augures et ydolatas, dem ältesten der Interrogatorien aus der Zeit um 1270, wird Zauberei mit Figuren, Haaren, Gewändern und Ähnlichem verurteilt. Auch Heinrich Institoris berichtet in seinem Malleus Maleficarum vom Ende des 15. Jahrhunderts ausführlich darüber.20 Solche zeitlos „klassischen“ Vorstellungen beruhen auf der Annahme, dass den Dingen Kräfte innewohnen, die übertragbar sind. Der nächste Schritt ist die Transformation dieser virtus durch Aussprache eines Wortes oder Namens der Kraft, was innerhalb eines rituellen Ablaufes, einer Zeremonie, erfolgt. Es gilt, die hinter den Naturerscheinungen verborgenen Kräfte zu aktivieren und dem eigenen Wollen zu unterwerfen. Die Kunst des magischen Heilens wurde in der von der Antike bis heute reichenden Tradition der Volksheiler von Generation zu Generation weitergegeben. Die Aktivierung der magischen Kräfte bzw. die Beschwörung von Hilfsgeistern oder Schutzgeistern erforderte einen geregelten formalen Ablauf. Und da unterschied sich das Zauberritual des Mittelalters phänomenologisch kaum von den offiziellen Riten der Kirche. Daraus resultiert auch die immer wieder konstatierte Verschwommenheit der Abgrenzungen. Im Grunde genommen geht es nur darum: will ich schaden oder helfen. Die Ähnlichkeit der verschiedenen magischen Praktiken _____________ 18 19 20
Vgl. dazu Tuczay (wie Anm. 15), S. 220 ff. Vgl. Grabmayer, Volksglauben (wie Anm. 8), S. 235 f. Vgl. Sprenger, Jakob, Institoris, Heinrich: Der Hexenhammer (Malleus Maleficarum). Aus dem Lateinischen übertragen und eingeleitet von J. W. R. Schmidt. 2. Teil: Die verschiedenen Arten und Wirkungen der Hexerei und wie solche wieder behoben werden können. Nördlingen 1986 (Neudruck), S. 119 ff. u.ö.
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von Heiligen und Priestern auf der einen Seite und Dämonen und Hexen bzw. Zauberern auf der anderen ist evident. Die Einstellung des Menschen des ausgehenden Mittelalters zu Krankheit weist in Richtung Außerwelt. Zentral war für ihn über die physischen Aspekte von Krankheit hinaus deren existenzielle Bewertung und die soziale Einordnung der Leiden im Rahmen ihres christlichenWeltbildes.21 Das ist der für die Menschen um 1500 auf mentaler Ebene trotz der Begründung und Etablierung einer universitären Medizin und zunehmender Professionalisierung eines Ärztestandes wichtigste Ursachenkomplex für Krankheit, nämlich der moralisch-religiöse. Krankheit kann als Strafe Gottes, aber auch als göttliche Auszeichnung verstanden werden. Die Bibel lässt beide Interpretationen zu, wobei das Alte Testament Krankheit als Strafe auslegt und im Neuen Testament erlöst Christus von körperlichen Leiden bei gleichzeitigem Nachlass der Sünden. Von Kirchenseite wird auch noch im ausgehenden Mittelalter immer wieder der Standpunkt vertreten, Krankheit sei eine Strafe Gottes und daher durch Reue, Buße, kirchliche Heilmittel wie Wallfahrten und Prozessionen oder Votivgaben heilbar. In dieser wirkungsmächtigen Auslegung steht Krankheit für den suchenden, irrenden Menschen auf dem Weg zum Heil. Und die Prediger versäumen es nicht, von der Kanzel herunter den Gläubigen Krankheit als Folge des göttlichen Zorns darzustellen. Die Auswirkungen zeigen sich in einer Fülle an Stiftungen, Prozessionen und Wallfahrten sowie ein überreiches Votivbrauchtum. All das belegt die wichtige Funktion des Wunders bei der Heilung oder Linderung von Beschwerden aller Art. Diese Funktion darf nicht unterschätzt werden! Mirakelbücher und Wunderberichte insbesondere im Kontext von Wallfahrten zeigen, wie bedeutend das Wunder an sich und der Glaube an Wunder im Leben des Menschen an der Zeitenwende vom Mittelalter zur Neuzeit waren.22 Die vielen überlieferten Beispiele verschiedener Heilungen sind mannigfach und vermitteln die Realisierung des Unglaublichen, Unvorstellbaren aufgrund göttlicher Hilfe. Die Beschäftigung mit Krankheit erfasst einen grundlegenden Bereich im Leben jedes Menschen. In der Furcht vor dem Ausgeliefertsein an Schmerz, Kummer und Leid wurde und wird nach Möglichkeiten gesucht, diese abzuwenden oder zumindest zu verringern. Das Spätmittelalter als eine Zeit, die mit verschiedenen Katastrophen wie die große Pest und ihren verheerenden Nachfolgewellen oder am Ende der Epoche die Syphilis auf besondere Weise mit Krankheit, Sterben und Tod konfrontiert _____________ 21 22
Vgl. Grabmayer, Europa im späten Mittelalter (wie Anm. 16), S. 85 ff. Zum „Wunder“ vgl. LeGoff, Jacques: Phantasie und Realität des Mittelalters. Stuttgart 1990.
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ist, reagiert auch in besonderer Art und Weise. Schenkungen an Kirchen nehmen zu, neue Bruderschaften werden gegründet, mehr Wallfahrten unternommen, öfters Testamente aufgesetzt, mehr kirchliche Bauten und liturgisches Gerät gestiftet, die Zahl der Feiertage vermehrt. Parallel dazu wenden sich viele Menschen dem Diesseits zu. Es zählt für sie nur mehr die profan-säkulare Welt und nicht mehr die heilsgeschichtlich eingebettete. Die Furcht vor einer schweren Erkrankung gehört(e) sicher zu den schlimmsten Ängsten überhaupt, umso mehr in Epochen wie jener um 1500, in denen man sich dieser Bedrohung zeit seines Lebens weitgehend schutzlos ausgesetzt sah. Da war jede Hilfe willkommen, wenn es galt, die vielen unerklärlichen Krankheiten, die gerade deshalb so Furcht einflößend waren, weil sie oft überraschend auftraten und das Leben entscheidend verändern oder gar beenden konnten, abzuwenden. Es ging in erster Linie darum, das Leben zu bewahren, mit welchen Mitteln auch immer – durch tradiertes Wissen, durch urtümlich anmutenden Glauben oder christliche Religion, mithilfe heilkundiger Frauen, von Badern, oder bei den wenigen Reichen durch die Gelehrten der neuen „Buchmedizin“. Es wird im Grunde keine Hilfe ausgeschlagen, wenn es um die Rückgewinnung des Wohlbefindens geht. Da es um 1500 weder ein intaktes organisiertes Gesundheitssystem, noch ein soziales Auffangnetz gibt, und da es als Tatsache gilt, dass fromme Werke am Lebensende förderlich sind, ist es nicht nur im Hinblick auf Genesungschancen, sondern auch bezüglich des jenseitigen Lebens entscheidend, welcher sozialen Schicht die Erkrankten angehören. Es gibt den grundlegenden Unterschied zwischen dem Hochadeligen, um dessen körperliche Wiederherstellung sich gut dotierte Ärzte und eine Reihe von Priestern kümmern, die sich um sein Federbett einfinden, und der Alten, die von ihrem Sohn auf einer Wallfahrt zu einer wundertätigen Marienstatue auf dem Karren, auf dem sie liegt, in einem ihr völlig fremden Dorf zurückgelassen und der caritas der dortigen Einwohner überlassen wird,23 oder dem armen Schlucker, der sich von Freunden und Nachbarn allein gelassen auf seinem wanzenverseuchten Strohsack in einer feuchten Kammer vor Schmerzen windet und Gott und die Heiligen, und wenn das nicht hilft, den Teufel und seine Dämonen um ein Wunder anfleht. Die Masse der Bevölkerung hat sich bei ihrer Behandlung auf die Konsultation von Badern, weisen Frauen, die es in jeder Ortschaft gab, und anderen „Heilkundigen“ sowie auf das tradierte eigene Wissen zu stützen. Ich möchte allerdings um 1500 auch nicht in der Haut des kran_____________ 23
Vgl. dazu Grabmayer, Johannes: Zwischen Diesseits und Jenseits. Oberrheinische Chroniken als Quellen zur Kulturgeschichte des späten Mittelalters. Köln-Weimar-Wien 1999, S. 163 f.
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ken Fürsten gesteckt haben. Dazu genügt es, an den Bericht über die Beinamputation Kaiser Friedrichs III. zu erinnern, den uns einer der operierenden Wundärzte, Hans Suff oder Seyff bzw. Siff von Göppingen überliefert24: Das linke Bein des Kaisers war zur Fastenzeit, als er sich in Linz aufhielt, von Altersbrand befallen worden, hervorgerufen durch Durchblutungsstörungen. Hans Suff hingegen glaubt an eine „oppilatio, das heißt verstoppung“. Der gängigen Viersäftelehre entsprechend bedeutet dies, dass einem Lebensgeist der Zugang in den Körper verwehrt war. Man entschloss sich zur Amputation, um das Leben des Herrschers zu retten. Friedrichs Sohn Maximilian bemühte die besten Ärzte. Am 8. Juni 1493 fand die Operation in Anwesenheit des Hofes – ein Herrscher hat immer öffentlich zu leben – statt. Zwei studierte Ärzte übten beratende Funktion aus, drei Wundärzte hielten den Kaiser und zwei schnitten mit der Säge das Bein oberhalb der Wade ab. Das Procedere zeigt die unterschiedlichen Kompetenzen der Ärzte deutlich auf: Universität versus Handwerksberuf. Die Wunde begann nach sechs Wochen zu verheilen, vier weitere Wochen später galt Friedrich als geheilt, erlitt allerdings zu Mariä Himmelfahrt (15. August) einen Schlaganfall und verstarb. Der Bericht über die Beinamputation, die nichts mit Volksmedizin zu tun hat, wie das große Aufgebot an hoch dotierten Ärzten zeigt, erinnert an die Abbildung einer ähnlichen Amputation, die mit „Volksmedizin” in Zusammenhang steht, auf einem Tafelbild aus der Zeit um 1500 aus Ditzingen bei Leonberg, das sich heute im Württembergischen Landesmuseum in Stuttgart befindet. Es wird eine Wunderheilung durch die heiligen Ärzte Kosmas und Damian dargestellt. Nach Hermann Hold war damals die Auffassung weit verbreitet, dass, wenn durch Krankheit die ursprüngliche Harmonie gestört sei, übernatürliche Mächte die Ur-Form wiederherstellen sollten. Er bezieht sich explizit auf das Ditzinger Tafelbild und kommentiert: „So amputieren die Heiligen Kosmas und Damian das dunkel gefärbte, gangränöse Bein eines Kirchendieners; am Boden liegt schon das gute, natürlich gefärbte Bein, welches hernach transplantiert wird.“ 25In der Legenda Aurea des Jacobus de Voragine aus dem späten 13. Jahrhundert wird dieselbe Szene folgendermaßen beschrieben: Der Papst Felix (…) baute in der Ehre der Heiligen Cosmas und Damianus zu Rom eine gar edle Kirche. In dieser Kirche diente ein Mann lange Jahre ergeben den heiligen Märtyrern, doch das half alles nichts. Ihm hatte der Krebs ein ganzes Bein zerfressen. Und siehe, als er schlief, da hatte er ein Gesicht. Es erschienen
_____________ 24
25
Vgl. Wagner, Wolfgang Eric: Die Fußamputation Kaiser Friedrichs III.: Das Reich auf einem Bein. In: Deutsches Ärzteblatt 97/49 (2000). http//www.aertzteblatt.de/V4/archiv/ artikel.asp?src=heft&id=25375 (Stand: 11.07.2008). Hold, Hermann: Alltagsreligiosität im Spätmittelalter. In: Beiträge zur Historischen Sozialkunde 1 (1985), S. 4 ff., hier S. 20.
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St. Cosmas und Damianus ihrem Diener und trugen Salben und ärztliches Werkzeug mit sich. Sprach der eine zum anderen: ‘Wo sollen wir frisches Fleisch hernehmen, das Loch zu füllen, da wir das faule Fleisch ausschneiden müssen?’ Sprach der andere: ‘Auf dem Friedhof zu St. Peter ist heute ein Mohr begraben worden, der ist noch frisch: von dem hole, was wir für diesen brauchen.’ Cosmas läuft zum Friedhof, holt das Bein des Mohren, das kranke Bein wird entfernt und durch das dunkle, gesunde, ersetzt, dem Mohren das kranke Bein des Kirchendieners ins Grab gelegt. Und als der Mann erwachte, spürte er keinen Schmerz mehr.26
Das ist die Szene, wie sie auf dem Stuttgarter Tafelbild dargestellt ist. Die drei Assistenzengel sollen wohl die Verehrungswürdigkeit der beiden Heiligen dokumentieren und auf die Kirche als Ort des Geschehens hinweisen. So wie das idealtypische Schema der antiken Heilungsgeschichte zuerst die Krankheit, dann Inkubation und Erscheinung der Gottheit und schließlich den Heilungserfolg schildert, kommt im Neuen Testament zuerst die Exposition, die Darlegung, worin die Schwere des Leidens hervorgehoben wird, dann das wunderbare Eingreifen des Heilands und schließlich die erfolgte Heilung, die durch den Geheilten und durch Zeugen bestätigt wird. Im geschilderten Amputationsmirakel wird, dem neutestamentlichen Schema folgend, zuerst die Schwere des Leidens betont – der Cancer hatte den gesamten Unterschenkel befallen, und – auch das ist wichtig – etliche Therapieversuche waren bereits gescheitert: „do erczneiet er vil an, dz halff jn alles nit.“27 Die Wunderheilung wird mit der Inkubation eingeleitet, dem rituellen Tempelschlaf, welcher bereits der Antike geläufig, in christlicher Zeit jedoch anders konnotiert war. Glaubte man in der Antike, durch den Traum am heiligen Ort von der Gottheit Anweisungen zu bekommen, wie das Leiden zu therapieren sei, genügte es dem gläubigen Christen, in der Kirche am Grab oder bei Reliquien eines Heiligen die Nacht zu verbringen, um durch die Heilkraft des Heiligen zu genesen. Die Nacht in der Nähe der Gebeine von Heiligen oder anderen Reliquien zu verbringen, gehört den unzähligen Mirakelberichten zufolge seit dem vierten Jahrhundert wie andere prächristliche Praktiken zum üblichen Devotionskanon Heilungssuchender. Nach der gelungenen Transplantation wird der Heilerfolg auf typische Weise demonstriert – der Kranke ist nach dem Erwachen schmerzfrei, und das Wunder wirkt der Legenda Aurea zufolge nachhaltig auf die Umgebung. Das erregte Publikum überzeugt sich durch Augenschein von der Realität der Erzählung des Geheilten. Der Sachverhalt der Darstellung auf dem Tafelbild ist also genau umgekehrt wie von Hold vermutet. Das kranke Bein ist das weiße, das ge_____________ 26
27
Zit. nach Fichtner, Gerhard: Das verpflanzte Mohrenbein – zur Interpretation der Kosmas- und Damian-Legende. In: Medizin im mittelalterlichen Abendland, hg. von Gerhard Baader, Gundolf Keil (Wege der Forschung 363) Darmstadt 1982, S. 324–343. Siehe Fichtner (wie Anm. 26), S. 332.
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sunde das dunkle. Dennoch spricht Hold ein gerade für das Spätmittelalter bezeichnendes Phänomen an: das Wiederherstellen einer verlorenen Ordnung im Menschen, das Heilen von Krankheit durch Heilige, ein Phänomen, das seit Jahrtausenden in den Religionen der Menschheit nachzuweisen ist. Denn nicht nur die Medizinheiligen Kosmas und Damian kommen Kranken zu Hilfe, sondern es ist eine Hauptfunktion aller Heiligen, den Gläubigen gerade bei Krankheiten beizustehen und ihnen zu helfen. Die innere Nähe von Heilung und Heil ist evident. Auch die zahlreichen Mirakelsammlungen, die Propagandaschriften für einen Heiligen und seinen Wallfahrtsort, belegen diese Funktion der Heiligen eindrucksvoll. Der heilige Blasius half gegen Halskrankheiten, der Namen bedingte aber auch im deutschen Sprachraum die Meinung, er könne bei Blasenleiden helfen, Erasmus wurde bei Unterleibsbeschwerden angerufen, Dionysius bei Kopfschmerzen, Hubertus bei Biss und Tollwut. Die Helferqualitäten leiteten sich zum Teil aus der Biografie der Heiligen her. Die Zwillingsbrüder Kosmas und Damian waren Ärzte, Anargyroi (= ohne Geld, da sie Bedürftigen ohne Bezahlung halfen). Der Märtyrer Sebastian, dessen Attribut jene Pfeile sind, die ihn bei seinem Tod durchbohrten, hilft gegen die Pest und andere Seuchen, da die Annahme weit verbreitet war, Seuchen würden durch Krankheitsgeschosse verbreitet.28 Dann wieder genügt der Namen: Blasius – Blasenleiden, Augustin – Augenleiden, Lambert – Lähmungen.29 Es ist geradezu symptomatisch für das ausgehende Mittelalter, dass sich Christen spontan auf den Weg zu Gnadenstätten machen, wenn sie von wunderbaren Geschehnissen hören, von denen sie sich Hilfe in ihren Leiden und Nöten erhoffen. Und es gehört dazu, dass Kleriker und Theologen über die libido currendi klagen. Erasmus von Rotterdam etwa meint: Der eine verehrt Christophorus an gewissen Tagen, aber nur so, dass er sein Bildnis ansieht. Und was will er damit? Er hat sich überredet, an jenem Tag vor dem Tod sicher zu sein. Einer betet den Rochus an. Warum? Er glaubt, er könne seinen Körper vor der Pest bewahren. (…) Dieser fastet für Apollonia, damit er keine Zahnschmerzen kriege. Und er bringt es auf den Punkt: „Kurz, auf eben diese Weise machen wir so viel Heilige, als es Dinge gibt, die wir entweder fürchten oder wünschen.“30
Es ist bezeichnend für die volksmedizinische Komponente der Heiligenverehrung des ausgehenden Mittelalters, dass sich Wundertäter zunehmend spezialisierten. Generell war die Heilkraft Gottes unbestritten, auch insofern er Herr über Leben und Tod, Krankheit und Gesundheit, die Heiligen, aber auch die Ärzte delegiert hat, in seinem Auftrag und durch _____________ 28 29 30
Vgl. dazu Dinzelbacher, Peter: Angst im Mittelalter. Paderborn u.a. 1996, S. 211 ff. Vgl. exemplarisch Gorys, Erhard: Lexikon der Heiligen. München 1998². Siehe Grabmayer, Volksglauben (wie Anm. 8), S. 77.
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seine Macht kranke Menschen gesund zu machen und gesunde Menschen vor Krankheiten zu bewahren. Unzählige Wunderberichte und -kataloge aus ganz Europa, die durchaus im Kontext der theologischen Legitimation von wundersamen Handlungen stehen, geben Aufschlüsse über den praktischen Umgang mit Heiltümern und die überaus konkreten Vorstellungen der Notleidenden, die sich an sie knüpfen. Der weitverbreitete Glauben, durch Berührung, körperliche Nähe und das Betrachten der wundertätigen Reliquien, Bilder und Skulpturen von Heiligen „Heil-ung“ zu erfahren, ist allen Gesellschaftsschichten immanent. Die Zeit um 1500 ist gekennzeichnet vom Großen Laufen, dem Wallfahrtsdrang, der sich von ähnlichen Veranstaltungen früherer Zeiten durch „Intensivierung, Formalisierung und Emotionalisierung“31 unterscheidet. Diese speziellen Orte des Betens, an denen Heilungen stattfanden, die von der jungen Medizinwissenschaft nicht zu erklären waren, extramedikale Heilungen, die von Bischöfen als unmittelbares Einwirken Gottes erklärt wurden, galt es, aufzusuchen. Verstärkt wurden die Kenntnisnahme und Anerkennung von Wundern, wenn sie über Mirakelbücher und mündliche Verbreitung hinaus auch bildlich dargestellt wurden. Bildzyklen dieser Art sind ab dem 15. Jahrhundert erhalten. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurden für den Gurker Dom sechs Reliefs geschnitzt, die das Wirken Hemmas von Gurk, der späteren Kärntner Landespatronin, eindrucksvoll darstellen. Vier davon thematisieren die Biografie der Stifterin, für die Thematik der Volksmedizin sind die beiden letzten Reliefs von Interesse, wobei Nr. V Hilfesuchende an Hemmas Grab zeigen, und auf Nr. VI ist die Erteilung des berühmten Augensegens abgebildet. Es lohnt sich, gerade diese Reliefs näherer Betrachtung zu unterziehen. Seit ihrer Entstehung vor etwa 500 Jahren haben die geschnitzten Hemmareliefs wesentlich zur Verehrung der Lebensgeschichte der Kärntner Landesheiligen beigetragen. Jedem Betrachter wird die Biografie der Gräfin Hemma von Gurk als ein dargestellter Geschichtsbericht von der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit instruktiv vor Augen geführt. Schon durch die formale Kontur angedeutet und schriftlich im Abschreibbuch des Gurker Dompropstes Wilhelm Welzer von Eberstein (1487 – 1518) aus der Zeit von 1488 – 1513 bestätigt, waren die Reliefs für den Kreuzgang des Klosters bestimmt, von wo aus sie nach dessen Abbruch 1637 zunächst in die Vorhalle des Domes und 1886 an ihren derzeitigen Aufstellungsort, an die Seitenwände der Oberkirche des Domes, einer hochromanischen Kathedrale von internationaler Bedeutung, gelangten.32 Die Bestellung für den originären Aufstel_____________ 31 32
Siehe Schubert, Ernst: Einführung in die Grundprobleme der deutschen Geschichte im Spätmittelalter. Darmstadt 1992, S. 281. Vgl. Reichmann-Endres, Elisabeth: Die Reliefs der Hemma-Historie in Gurk. In: Hemma
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lungsort, dem ehemaligen Westflügel des Ganges, dessen symbolisches Thema die Vergänglichkeit der Welt war, bestätigt die Bedeutung des Kreuzganges als lebendigen Mittelpunkt klösterlichen Lebens. Dort fanden Prozessionen und Bittgänge statt, auch geistliche Lesungen, und natürlich diente er ebenso der Meditation und Rekreation. Die Reliefs entstanden in einer Zeit allgemeiner genealogischer Besinnung. Ein sechsbändiger Geburtsspiegel über die Abstammung Kaiser Maximilians wird angefertigt und die Ahnenprobe wird an den Grabmälern verewigt, Klöster gedenken ihrer Stifter. In der Kärntner Abtei St. Paul im Lavanttal wird ein monumentales Stifter-Wandgemälde bei Thomas Artula von Villach in Auftrag gegeben, dem wohl talentiertesten Kärntner Maler jener Zeit, ein anderes im Kreuzgang des Stiftes Viktring unweit von Klagenfurt, oder eines in Millstatt am gleichnamigen See, worauf die Gründung des St. Georgs-Ritterordens im Kreuzgang dargestellt wird. Zur gleichen Zeit meißelt Tilman Riemenschneider im Auftrag des Bamberger Bischofs Heinrich III. Groß von Trockau (1487 – 1501) das neue Hochgrab für Kaiser Heinrich II. und seine Frau Kunigunde im Dom zu Bamberg in Stein. In diesem großen kultur- und mentalitätshistorischen Kontext stehen auch die Gurker Relieftafeln. Die historische Person Gräfin Hemma von Gurk ist nur schwer fassbar. Zu unsicher sind die vorhandenen Angaben. Auch die meisten Aussagen der Hemmalegende sind nicht oder nur schwer verifizierbar. Doch das ist für die tiefe Verehrung der Dame und ihre Wundertätigkeit nicht relevant. Trotz aller historischen Ungereimtheiten lässt sich die Gestalt dieser hochadeligen Frau erahnen, die um die Jahrtausendwende eine große Fülle von Macht und Besitz in ihrer Hand vereinigte. Die uneingeschränkte Großzügigkeit, mit der Hemma als Witwe des Grafen Wilhelm II. vom Sanngau, der 1036 erschlagen worden war, ihren Reichtum zur Gründung zweier Klöster, Admont in der Steiermark und Gurk, heranziehen konnte, zeigt zum einen, wie man zu der Zeit zum/zur Heiligen wurde, und zum anderen, dass zur Jahrtausendwende beim Hochadel Erbtöchter und Witwen über eine erstaunliche Autorität und Handlungsfreiheit verfügten.33 Aufgrund dieser großen Stiftungen beginnt die Verehrung Hemmas spätestens im 12. Jahrhundert – 1174 wird ihr Sarg in einem Festakt in die neu errichtete 100-säulige Krypta des Gurker Domes umgebettet, nach der Translation kursieren erste Wunderberichte und Legenden, und 1287 werden in einem Wunderkatalog Mirakel aufgeschrieben, wobei die Wunder entweder Hemma oder einer alten Mariens_____________ 33
von Gurk. Katalog zur Ausstellung, hg. von Bistum Gurk. Klagenfurt 1988, S. 247–256. Zu Hemma vgl. Dopsch, Heinz: Hemma von Gurk – eine Stifterin zwischen Legende und Wirklichkeit. In: Hemma von Gurk. Katalog zur Ausstellung (wie Anm. 34), S. 11–23; Grabmayer, Volksglauben (wie Anm. 8), S. 79 ff.
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tatue zugeschrieben werden. Den Berichten zufolge hatten zahlreiche Gläubige Heilung von ihren körperlichen Gebrechen erfahren. Es waren vorrangig „evangelische Wunder“ an sozial Minderberechtigten, die in Gurk stattfanden. In Windeseile verbreitete sich der Ruf des Hemmagrabes als Heiligtum, und auch die Verehrung Hemmas breitete sich weit über die kleine Diözese aus, in die Steiermark, nach Salzburg, ins heutige Slowenien und Kroatien. Ablässe, ein Hemma-Altar, Stiftungen folgen, eine eigene Hemma-Messe inklusive Messformular wird erstellt. Aber es fehlte noch die Kanonisation der Volksheiligen durch den Heiligen Stuhl. Der Heiligsprechungsprozess begann 1466. Die päpstliche Kommission hielt 97 Wunderberichte fest, die Kanonisation wurde aber wegen einer in Rom kursierenden Epidemie verschoben, da ein großer Teil der Kurienkardinäle die Ewige Stadt aus Angst vor Erkrankung verlassen hatte. Bald danach starb mit dem Gurker Bischof der große Verfechter der Heiligsprechung Hemmas. Diese sollte letztlich erst 1938 erfolgen.34 Faszinierend sind die Wunderberichte über Hemmas heilendes Wirken durch die Zeiten – bis heute gibt es mehr als 160 – und die Methoden, wie die Heilige zum Vollbringen ihrer medizinischen Großtaten motiviert werden sollte, allemal. Auf dem fünften Hemma-Relief ist eine Reihe von Kranken und Verstümmelten dargestellt, die, teils Hilfe suchend, teils dafür dankend, an einem Altartisch, der das Grab Hemmas symbolisiert, vorüberziehen. Das wundertätige Hemmagrab ist einem Altar gleich mit einem kunstvollen Gewebe verhüllt. Es war üblich, die Tumba andächtig zu umschreiten, die, von sechs Steinstützen getragen, ein wenig von der Erde abgehoben war. Hier vollzogen sich die meisten Wunder. Kranke wurden geheilt, indem sie auf das Grab gelegt wurden, schwangere Frauen krochen unter dem Sarkophag durch und erhofften sich eine leichte Geburt. Die Krypta Hemmas mutierte zur Heilanstalt. Neben körperlich Verunstalteten – Symbol für die Armen, stets findet sich auf zeitgenössischen Darstellungen der Arme irgendwie deformiert, bevorzugt verkrüppelt –, Bettlern, die sich auf Knien mit Handstützen weiterbewegen, Arm- und Beinamputierten, gibt es auf dem Relief Darstellungen von Lähmungen, von Gliedersteifen, aber auch die eines Tobsüchtigen, eines kretinoiden Kindes, eines Blinden oder Augenleidenden, einer hochschwangeren Frau, aber auch die Abbildung eines von seinen Zahnschmerzen befreiten Mannes. Die Schwangere ist besonders interessant, weil sie offensichtlich für ihre unversehrte Schwangerschaft dankt, nachdem, wie am rechten oberen Rand des Reliefs zu erkennen ist, die _____________ 34
Zur Hemmaverehrung vgl. Hemma von Gurk, Katalog zur Ausstellung (wie Anm. 34), Abschnitt: Die Verehrung, S. 73–144; Fritz, Anton: Das große Hemma-Buch. Klagenfurt 1980, S. 29 ff. u.ö.
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Frau die Attacke eines wütend gewordenen Rindes unversehrt überstanden hatte. Im Hintergrund werden Überfälle und Verletzungen dargestellt, auch die Rettung eines Ertrinkenden. All diesen Menschen war Hemma in höchster Not beigestanden. Die künstlerisch ansprechende Darstellung folgt den vielen Berichten, worin kranke Arme in Wallfahrtsorten stets als abstoßend und übel riechend erwähnt werden. Besonders interessant ist die Aussage der Pulcheria, der Wächterin am Hemma-Grab, anlässlich ihrer Befragung während des Kanonisationsprozesses 1466. Die Frau ist um die 50 Jahre alt, so genau weiß sie das selbst nicht, und sie wacht am Grab der Volksheiligen schon seit zehn Jahren. Viele Notleidende beiderlei Geschlechts und unterschiedlichen Standes seien in ihrer Gegenwart mit großer Andacht am Grab Hemmas gewesen und hätten ihre Gelübde mit Gebeten, Weinen, Kniebeugen, Opfern an Geld, Kerzen, Wachs, Leinen, Wolle und anderen Dingen unter Danksagung erfüllt, erzählt die Wächterin. Das Grabmal und einen Ring – hier erwähnt die Frau den sogenannten Hemma-Ring, eine heilbringende Reliquie, die in der Krypta in einem hohlen Stein verwahrt wurde – hätten die Heilsuchenden besonders verehrt. Sobald sie ihre Gelübde abgelegt, Opfergaben dargebracht und sich zu Boden geworfen hatten, reichte ihnen die Wächterin den Ring. Den legten sie auf ihre erkrankten Gliedmaßen oder berührten damit die Augen. Pulcheria erzählt weiter, die Notleidenden hätten nach Anrufung Hemmas und nach Gelübden in verschiedenen Krankheiten und Widerwärtigkeiten augenscheinlich die Gnade der Heilung und Tröstung erlangt. Sie selbst habe gesehen, wie einige Hilfesuchende die Heilung empfangen hätten, erzählte die Grabwächterin.35 Auf dem Relief küsst ein Kauernder gerade das Grab der Wundertätigen über viele abgelegte Krücken hinweg, um das ausströmende Heil noch intensiver zu empfangen. Darum geht es: Leidende begeben sich in großer körperlicher und/oder seelischer Not an heilige Orte, unterwerfen sich dem oder der dort ruhenden Heiligen, wenden Devotionspraktiken an, von denen sie erhoffen, dass sie die/den Heilige/n zu einem Wunder bewegen und belegen so das Faktum der Heiligen als Rechtssubjekt mit Rechts- und Handlungsfähigkeit. Gerade das demonstrative, innige Wehklagen, die intercessio, die Anrufung um Hilfe, soll Wirkung erzielen. Der Hemma-Ring wiederum mit dem Hemma-Stein, einem Korund, ist ein christliches Amulett. Der Gebrauch solcher Reliquien ist schon für die Antike belegt, auch der weitverbreitete Glauben an die paranatürlichen Kräfte von Edelsteinen.36 Durch die Übernahme von Steinlehren in volks_____________ 35 36
Vgl. Fritz (wie Anm. 34), S. 52. Vgl. dazu Meier, Christel: Gemma Spiritalis. Methode und Gebrauch der Edelsteinallegorese vom frühen Christentum bis ins 18. Jahrhundert. 1. Teil München 1977.
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sprachliche Werke, z. B. Konrads von Megenberg Naturlehre37, wurden sie weithin bekannt. Schon im 8. Jahrhundert war auf dem Konzil von Nicäa die Wunder- und Heilkraft von Reliquien feierlich verkündet worden. Die Reliquienverehrung gründet auf dem Glauben, dass die Kraft, die virtus der Heiligen und Seligen, das Gute zu verströmen, über ihren Tod hinaus wirkt. Durch die Teilhabe an der Verherrlichung besitzt die Reliquie die gleiche Kraft zu schützen, zu bergen, zu entsühnen, zu heilen und zu heiligen. Reliquien im engeren Sinn sind die Überreste des Körpers der Heiligen, im weiteren Sinn alle von ihnen benutzten Gegenstände. Verehrung durch Berührung und Kuss wird ihnen nur in ihrer Beziehung zur Person des/der Heiligen erwiesen: sie allein sind es, die in sich und unmittelbar der Verehrung würdig sind. In magischen Amuletten wirkt die okkulte Kraft direkt, in christlichen Reliquien hingegen geht sie mittelbar aus der Kraft des verehrten Heiligen hervor, der bei Gott Fürbitte einlegt. Was dem Menschen der Antike wundersam, aber natürlich schien, wurde im Christentum durch kirchliche Benediktionen zu Kräften, die Gott erst auf Bitte des Priesters oder – noch wirksamer – eines Heiligen in die Steine legte. Die sechste Relieftafel von Gurk zeigt die Erteilung des Augensegens mit dem Hemma-Ring durch einen Priester. Dieser Segen wird in Gurk bis heute, spätestens seit dem 13. Jahrhundert, am fiktiven Sterbetag Hemmas, dem 29. Juni, erteilt.38 Dem gläubigen Volk wurden Ring und Anhänger Hemmas zum Küssen gereicht und mit den Kleinodien die Augenweihe vorgenommen. Auf dem Relief spendet der Priester im weißen liturgischen Gewand den Augensegen, die pauperes sind an den Rand gerückt: etwa ein die Hand in der Schlinge tragender Barfüßiger und ein mit Geschwüren behafteter Bettler. Nur ein gefesselter Narr im Vordergrund stört anscheinend gerade die Zeremonie schreiend. Eine Mutter mit Kind, ein vornehm gekleideter Knieender sowie ein glückliches, weil geheiltes Bürgerpaar, das dankbar Almosen spendet, verkörpern die „heile Welt“. Magische Ringreliquien spielen schon im Frühmittelalter eine wichtige Rolle. Zum Insignien- und Ringcharakter kommt noch jener des Amuletts. Gerade im volksmedizinischen Bereich sind magische Ringe bis weit in die Barockzeit und darüber hinaus wichtig. Noch 1919 behauptete eine junge Frau aus Grafenstein bei Klagenfurt, sie hätte durch die Augenweihe mit dem Hemma-Ring, der ihr vom Priester auf die Augen gelegt worden war, entscheidende Besserung ihres Augenleidens erfahren. Edelsteine _____________ 37 38
Vgl. Konrad von Megenberg, Das Buch der Natur, hg. von Franz Pfeiffer. Hildesheim 1994 (Neudruck) Vgl. Grabmayer, Volksglauben (wie Anm. 8), S. 88.
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konnten nach weitverbreiteter Meinung allein durch ihre Präsenz heilen, als Medizin wurden sie pulverisiert verwendet. In der allegorischen Steintherapie wird die Heilkraft der Steine mit Körperteilmetaphern anschaulich gemacht, wobei die Symbolik des Auges bevorzugt wird. Weil der Vorgang des Sehens auch für das geistige Erkennen steht, gilt Blindheit sinnbildlich als Mangel an geistiger Erkenntnisbereitschaft. Das wiederum ist die Ursache für verfehltes Handeln. Und so stehen in übertragener Bedeutung kranke oder blinde Augen für Sünde: Die Sünde trübt den Blick des geistigen Auges auf das Seelenheil. In der allegorischen Steintherapie verhelfen Edelsteine zur Gesundheit des geistigen Auges und zu einem klaren, scharfen Blick. Angst, Ehrfurcht, Hoffnung. Die von Peter Spangenberg in diesem Kontext gestellte Frage, ob vor diesem Hintergrund noch darüber diskutiert werden müsse, ob die in den Mirakeln immer wieder geschilderte, intensive Gebetspraxis, zu der viele Tränen und Zerknirschung gehören und die stets erfolgreich wirke, zumindest vorbewusst als magisches Zwangsmittel gegenüber der Transzendenz verstanden wurde,39 beantwortet sich wohl von selbst. Gerade anhand der Mirakelberichte wird der Sinn ritueller Anheimstellung deutlich. Die Heilsuchenden begeben sich in die heilige Sklavenschaft, sie „verloben“ sich mit Hemma, wie es im Wunderkatalog von 1466 immer wieder heißt, um geheilt zu werden. Damit wollen sie die Heilige zum Heilen verpflichten. Ein sehr konkretes Frömmigkeitsverständnis ist zu erkennen. So kommt Thomas Schinntenperger zu Werfen in der Salzburger Diözese 1466 nach Gurk und berichtet, er sei vor vier Jahren sehr krank gewesen und hätte nicht mehr geglaubt, gesund zu werden. Da fiel ihm ein, dass er geloben solle, zur seligen Hemma nach Gurk zu wallfahrten, und so hätte er das Gelübde gemacht, woraufhin er anfing, sich besser zu fühlen, und bald sei er ganz gesund geworden. Oder Jahrzehnte später (1526) geht der Bauer Mathias Kawaschnig in den Wald, um Holz zu machen. Er fällt einen hohen Baum und wird von diesem getroffen. Seine Brust wurde eingedrückt, er verlor die Stimme und war dem Tode nahe. Da machte er das Gelübde, wenn er gesund werde, alljährlich zur seligen Hemma zu wallfahrten. Am nächsten Tag ließ der Schmerz nach, und er wurde wieder ganz gesund.40 Bei all den Hilfe suchenden Menschen, die zu Hemma nach Gurk um Heilung kamen, handelt es sich um Erkrankte, deren Krankheit zur Zeit des Bestehens als _____________ 39
Vgl. Spangenberg, Peter: Die altfranzösischen Marienmirakel im Kontext von Heiligenverehrung und der Verschriftlichung von gesellschaftlicher Komplexität. In: Wallfahrt und Alltag in Mittelalter und früher Neuzeit (Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit 14; Sitzungsberichte der Österr. Akademie d. Wissenschaften, phil.-hist. Klasse 592) Wien 1992, S. 317–351, hier S. 328. 40 Vgl. Fritz (wie Anm. 36), S. 52.
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absolut unheilbar galt. Daher ist ein Wunder notwendig, um Hilfe zu erlangen. Im vorliegenden Beitrag wurden insbesondere Heilungswunder einer weiblichen Heiligen näher betrachtet, weil um 1500 gerade Frauen heilkundige Autoritäten sind. Die medizinische Kompetenz der Hausfrau – die Therapeutin, Mutter, Amme, Erzieherin und Medizinfrau in einem ist – ist unbestritten. Die Heilkunde war für einen Gutteil der Bevölkerung eine Form von Selbsthilfe, das Wissen wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Den Ruf, besondere heilkundliche Fähigkeiten zu besitzen, hatten vor allem die sogenannten weisen Frauen. Und dass Hebammen weit mehr waren, als nur Geburtshelferinnen, ist hinlänglich bekannt. Das geburtshilfliche und gynäkologische Wissen dieser Frauen umfasste u. a. die Vorsorge bei Schwangerschaft, das Erstellen von Rezepten bei Unfruchtbarkeit, die Anwendung von Analgetica und von Kräutern mit kontrarezeptiver und abortiver Wirkung. Allgemein hatte die Tätigkeit dieser Frauen durch die Verbindung von Heilkunst und Magie einen ambivalenten Charakter. Erfolgreiche Heilbehandlungen wurden eher ihrer Fähigkeit, den Mitteln durch Zauberei Heilkraft zu verleihen, zugeschrieben, als ihrem heilkundigen Wissen. Doch das ist ein eigenes trauriges Kapitel, gerade im 16. und 17. Jahrhundert, als die heilkundigen Geburtshelferinnen nur allzu oft als Hexen ausgegrenzt, verdammt und verfolgt wurden.)
Abb. 1: Hilfe finden und Augensegen (Copyright: Domkustodie Salvatorianerkolleg Gurk)
Paracelsus und die deutsche Sprache. Nebst Anmerkungen zur deutsch-lateinischen Mischsprache temporibus Theophrasti et Lutheri Peter Mario Kreuter
In seiner zwischen 1785 und 1799 erschienenen Geschichte der menschlichen Narrheit1 hat der Bibliothekar, Lexikograph und Germanist Johann Christoph Adelung (1732 – 1806) auch an Paracelsus gedacht. Im siebten Teil seines Werkes geht Adelung mit den Schriften aus der Feder des Hohenheimers hart ins Gericht, und folgende Zeilen sind im 73. Kapitel „Theophrastus Paracelsus, ein Kabbalist und Charlatan“ zu lesen: Zwar versichern alle, die ihn gekannt, daß er beständig geschrieben oder dictiret, und zwar am meisten, wenn er am betrunkensten gewesen, welchen Umstand man auch ohne diese Versicherung fast allen seinen Schriften ansehen würde, weil sie voll beständiger und ewiger Wiederhohlungen, ohne Sinn und Zusammenhang dahin gesprudelt, und mit den weitschweifigsten und pöbelhaftesten Schmähungen auf alle Doctoren und gelehrte Aerzte durchwürzt sind; […] Theophrast schrieb oder dictirte aus Unwissenheit der lateinischen Sprache, alles in der deutschen. Indessen wurden schon bey seinem Leben manche derselben in das Lateinische übersetzt, und oft schrieben seine Famuli das, was er ihnen deutsch dictirte, Lateinisch nach.2
Paracelsus konnte kein Latein, und sein Stil ist grauenhaft – Johann Christoph Adelung hat mit recht wenigen Worten ein Urteil gefällt, dem so wohl die Mehrzahl derer zustimmen könnte, die mit dem Werk des Arztes aus Einsiedeln konfrontiert wurden. Schon in den Schriften mancher Zeitgenossen von Paracelsus lassen sich solche Aussagen mühelos finden.3 _____________ 1
2 3
Adelung, Johann Christoph: Geschichte der menschlichen Narrheit, oder Lebensbeschreibungen berühmter Schwarzkünstler, Goldmacher, Teufelsbanner, Zeichen- und Liniendeuter, Schwärmer, Wahrsager, und anderer philosophischer Unholden. 8 Teile, Leipzig 1785 – 1799. Adelung: Geschichte der menschlichen Narrheit, 7. Teil, Leipzig 1789, S. 189–364; hier S. 336 u. 338. Eine ganze Sammlung solch negativer Urteile ist zu finden bei Telle, Joachim: „Die Schreibart des Paracelsus im Urteil deutscher Fachschriftsteller des 16. und 17. Jahrhunderts“. In: Medizinhistorisches Journal 16 (1981), S. 78–101; bes. S. 79 f.
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Indes, es gab auch jene, die ihren Hohenheimer verehrten und nachgerade vergötterten, sein Deutsch über alle Maßen lobten, und deren Urteil natürlich anders aussah. Christoph Martin Wieland gehört mit seiner Darstellung noch zu den zurückhaltenderen unter den Verteidigern des Paracelsus. Paracelsus verdient aus zwoo Ursachen einen Platz unter den Worthies des 16ten Jahrhundert: als ein Mann von außerordentlichem Genie, und weil er in der Artzneykunst Epoche gemacht. Heutigs Tages mögen freylich fast Wenige seyn, die ihn durch sich selbst kennen und mit dem Geist, der in seinen Schriften weht, in Gemeinschaft stehen. […] Er selbst und seine Anhänger giengen unstreitig zu weit, da sie die Heilkunst zu sehr simplifizierten, ihre chymische Arzneyen zu sehr universalisierten, und den menschlichen Körper zu einer völligen chymischen Werkstatt machten, worinn ewig nichts als destilliert, sublimiert, aufgelößt, niedergeschlagen und cohobiert wurde. Auf der anderen Seite erkennen alle, die seine Werke gelesen haben und verstehen, daß er tiefe Einsichten in die Metallurgische Chymie gehabt, und diese vornehmlich in seinem Tractat de Sulphere bewiesen; daß er, mancher mißlungenen Versuche ungeachtet, die meisten damals als unheilbar angesehene Krankheiten, und unter diesen besonders die im ganzen Europa so schreckliche Verwüstungen anrichtende venerische Seuche, viel geschwinder als seine galenischen Kollegen durch seine aus dem Metallreiche gezogene viel würksamere Mittel geheilt habe; und daß es Verdiensts genug wäre, wenn er auch kein anders um die Nachwelt hätte, als die Chemie in die Apothecken eingeführt und so viele herrliches Arzneymittel, als man mit Worten zerstreut findet, erfunden zu haben.4
Wie Uwe Pörksen festhält: „Paracelsus avancierte zum faustisch drängenden Original, dem die Zeichen prophetischer Unbeholfenheit an der Stirn geschrieben standen.“5 Nicht von ungefähr ist im Zusammenhang mit Paracelsus auch immer wieder von einem „Luther der Medizin“ die Rede gewesen.6 Und mehr als peinlich wirkt es, wenn Franz Spunda den Hohenheimer zu einem schwerzüngigen Genie stilisiert, „das mehr aussagen will, als für seine Zeit schon wortreif ist“ und dessen Werk als „Dichtung, ungefüge und groß wie eine Urweltsage“ preist.7 Was aber stimmt denn nun? War er ein sprachlich unbeholfener und des Lateinischen unkundiger Arzt, der sich mehr schlecht als recht auszudrücken verstand? Oder hat er doch ein Deutsch geschrieben, das neben _____________ 4 5 6
7
Wieland, Christoph Martin: „Einige Nachrichten von Theophrastus Paracelsus“. In: Der Teutsche Merkur 1776, 3. Vierteljahr, S. 85–91, hier S. 85 und 89 f. Pörksen, Uwe: „War Paracelsus ein schlechter Schriftsteller? Zu einer im 16. Jahrhundert entstehenden Streitfrage“. In: Nova Acta Paracelsica N.F. 9 (1995), S. 25–46; hier S. 26. Vgl. hierzu Schott, Heinz: „,Lutherus medicorum.‘ Wege und Irrwege der ParacelsusRezeption“. In: Medizin und Sozialwesen in Mitteldeutschland zur Reformationszeit, hg. on Stefan Oehmig. Leipzig 2007, S. 273–288. Spunda, Franz: Das Weltbild des Paracelsus. Wien 1941, S. 18 f.
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dem eines Martin Luther bestehen kann? War er ein verhinderter Schriftsteller? Oder gar jemand, der für sich selbst ein Sprachsystem entwickelt hat, das der allgemeinen Entwicklung nicht folgen sollte? Schließlich: Hatte er Einfluss auf die Entwicklung der neuhochdeutschen Sprache? Im Jahre 1528 ereiferte sich der Glarner Geschichtsschreiber und Politiker Aegidius Tschudi (1505 – 1572) über die Vielzahl an fremden Wörtern in der Sprache seiner Zeit, die seiner Meinung nach den ‚ehrlichen Charakter’ des Deutschen zu zerstören drohe. Und so nun tütsche spraach zů eigner gschrifft gebracht, ouch aller dingen worten an iro selbs volkommen gnůg ist, so wöllend yetz die tütschen Cantzler, ouch die Consistorischen schryber uns wider zů latin bringen, könnend nit ein linien one lateinische wort schryben, so sy doch der tütschen genůg hettend, machend, das menger gemeiner man, so kein latin kann, nit wissen mag, was es bedüt, oder wie ers versten soll, wöllend also unser tütsch, so ein erliche spraach ist, verachten, bruchind ouch etwa wälsche wort, so doch all ander spraachen die unser nit ansehend; daruß kompt, das nach und nach man nit weißt, was tütsch ist. In den alten tütschen find man kein latin, sonders alles tütscher worten, allein die nüwen Cantzler sind so naswyß […] mischlend also latin und tütsch under einandren; were nützer gar latin oder gar tütsch.8
Tschudis Die uralt warhafftig Alpisch Rhætia,9 der dieses Zitat entstammt, ist eine Frucht seines recht bewegten Lebens. Er verstand es, seine Ämter, derer er einige im Laufe seines Lebens hatte, mit der Einsichtnahme in Urkunden und Dokumente zu verbinden und die dabei gewonnenen Erkenntnisse für seine eigenen Arbeiten zu nutzen. So trug er den Inhalt von etwa 700 Urkunden und Urkundensammlungen (wie das Weiße Buch von Sarnen) sowie Überlieferungen, welche von patriotischen Beschreibungen seiner Heimat Glarus über die Publizistik zum Konzil von Konstanz bis zur Geschichte des Alten Zürichkriegs reichen, zusammen. Er hatte es dabei mit deutschem wie lateinischem Quellenmaterial zu tun, vermied es aber sorgsam, seine Sprache allzu sehr lateinischen Sprachmustern anzugleichen. Damit stand er, wie das Zitat belegt, in erkennbarem Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen, die sich der Sprachvermischung schuldig machten … und eine deutsch-lateinische Mischsprache kreierten. Was aber genau ist eine Mischsprache? Mit diesem Begriff werden in der Linguistik allgemein Sprachzustände bezeichnet, die durch intensiven Kontakt zwischen zwei Sprachen (selten sind mehr als zwei beteiligt) entstanden sind und Elemente beider Sprachen in nennenswertem Umfang _____________ 8 9
Zitat nach Socin, Adolf: Schriftsprache und Dialekte im Deutschen nach Zeugnissen alter und neuer Zeit. Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache. Heilbronn 1888, S. 290. Erstmals in Basel 1538 gedruckt (lateinische Ausgabe noch im selben Jahr – Tschudi, Aegidius: De prisca ac vera alpina Rhaetia cum caetero alpinarum gentium tractu descriptio. Basel 1538, Neuausgabe 1560). Alle anderen Werke aus seiner Feder sind erst nach seinem Tode gedruckt worden.
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beinhalten. Der Begriff der Mischsprache ist jedoch ein unscharfer.10 Von einer Mischsprache wird immer erst dann ausgegangen, wenn sich die sprachlichen Einflüsse auch jenseits des Wortschatzes manifestieren und es sich somit nicht um ein rein lexikalisches Phänomen handelt. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle kann deutlich eine Substratsprache von einem Superstrat geschieden werden. Die Substratsprache ist dabei meist diejenige Sprache, die das geringere soziale Prestige besitzt. Die dabei entstehenden grammatischen, syntaktischen und lexikalischen Muster und Regeln werden verstetigt und bilden ein eigenes, neues System aus. Dies unterscheidet Mischsprachen auffällig von spontanen Sprachvermischungen wie dem Code-Switching, das häufig bei Immigranten der zweiten und dritten Generation beobachtet werden kann, aber auch von Phänomenen wie ‚preziösem Sprechen’, also das Überladen der Muttersprache mit Entlehnungen, und der Makkaronisprache. Der Begriff kann Kreolsprachen wie Tok Pisin auf Papua-Neuguinea oder das Seychellenkreolisch Seselwa ebenso einschließen wie PidginSprachen (Küchendeutsch in Namibia, englisches Pidgin in Afrika und der Karibik), doch auch Sondersprachen wie Rotwelsch fallen hierunter. Sehr unscharf sind die Grenzen von Mischsprache zu Mundarten wie dem Petuh in Flensburg, einem deutsch-friesisch-dänischem Sprachmix, bei dem der Wortschatz überwiegend aus hoch- und niederdeutschen Wörtern besteht, Satzbau und Grammatik jedoch weitgehend dem dänischen Muster folgen. Schließlich wird der Begriff auch auf manche ‚ordentlich ausgeformte Nationalsprache’ wie dem Englischen bezogen, um die sehr unausgewogene Struktur im Wortschatz einer Sprache zu beschreiben. Doch auch die Barbarolexis kann als Mischsprache verstanden werden, also die übermäßige Verwendung von lateinischem Wortmaterial, die aber auch syntaktische Funktionswörter wie Relativpronomen umfasst und daher auch Einfluss auf die Syntax der deutschen Sprache genommen hat. Latein als Exostandard ersetzte im Heiligen Römischen Reich (und nicht nur dort) die autochtone(n) Sprache(n). Allerdings, und dies ist eine wichtige Einschränkung, keineswegs absolut. Die Straßburger Eide von 842, die für das Französische das älteste überlieferte Sprachdenkmal darstellen und zugleich einer der ältesten Belege für die deutsche Sprache sind, geben ein Beispiel für die frühe Verwendung dieser beiden Volkssprachen. Die Eide sind als Zitate in der lateinisch verfassten Chronik Historiarum Libri IV von Nithard († 844/845) überliefert, die ihrerseits in einer Abschrift aus dem 10. Jahrhundert vorliegt, welche sich in der Bibliothèque Nationale in Paris befindet.11 Nach dem Tode Kaiser Ludwigs _____________ 10 11
Für einen ersten Überblick über diesen schillernden Begriff bietet sich der entsprechende Artikel in Wikipedia an, vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Mischsprache (Stand: 01.08.2008) Einführend Theis, Laurent: L’héritage des Charles. De la mort de Charlemagne aux envi-
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des Frommen 840 stritten seine Söhne und Erben Lothar, Karl der Kahle und Ludwig der Deutsche um die Vorherrschaft im Frankenreich sowie um die Abgrenzung ihrer Territorien. Da Lothar als Ältester den Mittelteil des Reiches samt Kaisertitel erhalten hatte und aufgrund dieses Titels die Vorherrschaft beanspruchte, verbündeten sich seine Brüder bzw. Halbbrüder Karl, der Erbe der westlichen Reichsteile, und Ludwig, der Erbe des Ostreiches, gegen ihn und besiegten ihn in der Schlacht von Fontenoy (841). In den am 14. Februar 842 abgelegten Straßburger Eiden wird das gegen Lothar gerichtete Bündnis zwischen Karl und Ludwig sowie ihren jeweiligen Vasallen bekräftigt. Hierbei schwor Ludwig in der Sprache der Unterführer Karls, also altfranzösisch, während Karl althochdeutsch (rheinfränkischer Dialekt) sprach, damit ihn Ludwigs Männer verstehen konnten. Danach schworen die Unterführer jeweils als Gruppe, wobei sie ihren Eid in der eigenen Sprache leisteten. Anhand der sprachlichen Gemeinsamkeiten beider Eidesformeln darf man davon ausgehen, dass die Originaltexte der Eide zunächst von den königlichen Kanzleien auf Latein verfasst und hernach übersetzt worden sind.12 Und obwohl an auffälligen Fehlern in der deutschen Eidesversion deutlich zutage tritt, dass der Kopist diese nicht verstand und folglich romanischsprachig gewesen sein muss, war ihm, darin Nithard gleich, daran gelegen, diese in einem lateinischen Text sprachlichen Fremdkörper so genau wie möglich wiederzugeben. Die Eide waren mündlich geleistet worden. Dies zeigt, dass die Volkssprachen schon im 9. Jahrhundert ihren Platz hatten. Theologie, Urkunden, kurz jedwede Form „erhabener“ und „wichtiger“ Schriftlichkeit war dem Lateinischen vorbehalten. Dies behinderte aber weder die Wiedergabe mündlicher Kommunikation in schriftlicher Form, wenn es denn einmal nötig war, noch verhinderte es die frühzeitige Herausbildung volkssprachlicher Literatur, die beispielsweise mit der altokzitanischen Troubadourlyrik schon Ende des 11. Jahrhunderts einen ersten Höhepunkt erreichen sollte.13 Über die deutsche Literatur des Mittelalters, oder besser die mittelalterliche Literatur in den verschiedenen Varianten des Deutschen, möchte ich hier aus Platzgründen kein Wort verlieren. Wichtig ist aber der nachgerade plötzliche Übergang von der lateinischen zur deutschen Urkunden_____________ 12
13
rons de l’an mil. Paris 1990, S. 32–35. Berschin, Helmut, Josef Felixberger u. Hans Goebl: Französische Sprachgeschichte. Lateinische Basis – Interne und externe Geschichte – Sprachliche Gliederung Frankreichs. Mit einer Einführung in die historische Sprachwissenschaft. München 1978, S. 186 f. Rieger, Dietmar: „Die altprovenzalische Lyrik.“ In: Lyrik des Mittelalters I: Probleme und Interpretationen. Mittellateinisch – Altprovenzalisch – Altfranzösisch, hg. von Heinz Bergner et al. Stuttgart 1983, S. 197–390.
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und Rechtssprache, der sich um die Mitte des 13. Jahrhunderts vollzieht. Nun ist das Deutsche zwar schon immer eine Rechtssprache in der mündlichen Kommunikation gewesen, aber jetzt werden auch Gesetzessammlungen auf Deutsch fixiert (Sachsenspiegel um 1225, Schwabenspiegel um 1275).14 Sozialer Wandel, die immer stärkere Beteiligung von Bevölkerungsgruppen, die des Lateinischen nicht mächtig sind, und die rasch voranschreitende Bedeutung des Schriftlichen im Alltag haben hieran ihren Anteil. Hinzu kommen die territoriale Zersplitterung des Heiligen Römischen Reiches und der Ausbau der partikularfürstlichen Verwaltungen, die in immer stärkerem Maße Urkunden in der Volkssprache ausstellen. Theologie und Philosophie, die Wissenschaften allgemein bleiben aber eine Domäne des Lateinischen. Es entsteht dabei eine Art Diglossie innerhalb der gebildeten, der gelehrten Welt, für die das Latein zur ‚natürlichen’ Schriftsprache wird, ohne dass die Bedeutung der Volkssprache als mündliches Kommunikationsmittel verleugnet würde. Nachgerade ein Paradebeispiel für diese Diglossie stellt Nikolaus von Polen dar. Der zwischen 1234 und 1240 in Schlesien geborene und nach 1316 gestorbene Niklas von Mumpelier, „natione teutonicus“, hat, wie sein deutscher Name bereits andeutet, etwa in der Zeit zwischen 1250 und 1270 als Dominikaner in Montpellier gelebt. Nach seiner Rückkehr wurde er bei mehreren Piastenherrschern Hofbediensteter und schließlich Leibarzt des polnischen Seniorherzogs Leszeks II. des Schwarzen (reg. 1279 – 1288). Nikolaus war, darin Paracelsus nicht unähnlich, ein erbitterter Gegner der galenischen Medizin. Aus einer Art negativer Signaturenlehre heraus (je hässlicher und unreiner etwas ist, desto höher sein Heilungsvermögen) … lehnt Nikolaus die Schulmedizin in Bausch und Bogen ab, verwirft ihr theoretisches System – die Humoralpathologie – und verunglimpft medici sowie apothecarii, deren Stand er aufzuheben bzw. durch den Beruf der Naturheilkundigen (empirici) zu ersetzen empfiehlt: Nicht die teuren Spezereien der Pharmazeuten, nicht die Pflanzen mit ihrer Blütenpracht und ihren berauschenden Düften seien mit Heilkraft begabt, sondern die Tiere in ihren verabscheuten Vertretern wie Schlangen, Kröten, Schnecken, Maulwürfen und Maulwurfsgrillen.15
Seine Dichtung, aber auch seine medizinischen Schriften verfasste er in lateinischer Sprache. Seine auf uns gekommenen Werke, Antipocras und Experimenta, wurde erst später ins Deutsche übertragen. Das Latein des _____________ 14
15
Zu Sachsenspiegel und Schwabenspiegel in ihrer Stellung im Rechtswesen, gerade auch in Bezug auf das Delikt der Hexerei, siehe Schild, Wolfgang: Die Maleficia der Hexenleut’. Rothenburg ob der Tauber 1997, S. 128 f. Keil, Gundolf: „Der anatomei-Begriff in der Paracelsischen Krankheitslehre. Mit einem wirkungsgeschichtlichen Ausblick auf Samuel Hahnemann“. In: Lebenslehren und Weltentwürfe im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Politik-Bildung-NaturkundeTheologie, hg. von Hartmut Boockman et al. Göttingen 1989, S. 336–351; hier S. 340.
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Nikolaus ist makellos, und er hatte keine Probleme, seine Kritik in dieser Sprache vorzubringen.16 Seine Krakauischen Jahrmarktsansprachen jedoch hielt er auf Deutsch, denn er wollte nicht nur auf einer akademischen Ebene gegen die Schulmedizin vorgehen, sondern auch dem gemeinen Volk sein medizinisches Wissen kundtun. Deutsch war für ihn also ‚nur’ Volkssprache, noch nicht brauchbar für den wissenschaftlichen Diskurs. Nikolaus steht somit am Anfang einer Entwicklung in der medizinischen Fachsprache, zu deren bedeutendsten Repräsentanten Paracelsus gehört. Eng verbunden mit der Ausbildung einer deutsch-lateinischen Mischsprache ist der Humanismus. Er strebte „als gesamteuropäische Bildungsbewegung die Wiederbelebung des klassischen Altertums in seinem Eigenwert“17 an, damit geschieden von der Kirche, die diese als Bestandteil christlicher Bildung ansah. Dies war verbunden mit einer Wertschätzung und Förderung des Lateins. Gleichzeitig aber führte diese ‚Wiederentdeckung der Antike’ zu einem neuen Interesse an den Texten zur älteren Geschichte, die man für die eigene nationale Geschichte nutzbar machte – man denke nur an die Wertschätzung für die Germania des Tacitus. So gab der Humanismus auf der einen Seite der Pflege des Lateins breiten Raum und förderte es als internationales Kommunikationsmittel, initiierte aber auf der anderen Seite ein gesteigertes, auch sprachpflegerisches, Interesse an der eigenen Kultur. Dantes De vulgari eloquentia von 1305 ist dafür ein Paradebeispiel. Latein zu schreiben und dabei die eigene Muttersprache zu beleuchten, das war kein Gegensatz. Man war zwar regelrecht zweisprachig geworden, empfand dabei aber Latein als ‚natürliche’ Schriftsprache und nicht als Fremdsprache; auf diese Diglossie wurde bereits hingewiesen. Somit war damals jemand, der neben seiner Muttersprache auch Latein und Griechisch beherrschte, nicht drei-, sondern nur zweisprachig, denn dem Griechischen stand die ‚natürliche Kombination’ aus Muttersprache und Latein gegenüber. Diese allgemein übliche Diglossie bei den Gelehrten führte zu Kommunikationssituationen, in denen deutsche und lateinische Bestandteile gemischt wurden. Dies konnte sich auf das Einfügen einzelner Worte beschränken, aber auch zu Mischsätzen führen, bei denen das Prädikat die Struktur des gesamten Satzes bestimmte. In einigen Fällen wurde bewusst ‚latinisiert’, um umständliche Wendungen im Deutschen zu vermeiden, in anderen Fällen drückt das volkssprachliche Element Gefühle aus. _____________ 16 17
Keil, Gundolf: „Nikolaus von Polen“. In: Enzyklopädie Medizingeschichte, hg. von Werner E. Gerabek et al. Berlin/ New York 2005, S. 1052. Hartweg, Frédéric u. Klaus-Peter Wegera: Frühneuhochdeutsch. Eine Einführung in die deutsche Sprache des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. Tübingen 22005, S. 108.
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Doch Anfang des 16. Jahrhunderts wird aus der gelehrten Diglossie allmählich ein Gegensatz. Prototypisch steht hierfür der Name Martin Luther. Zumindest in seinem ersten Lebensdrittel war ihm Latein die Sprache seiner theologischen Tätigkeit. Selbst seine ersten Flugschriften verfasste er erst auf Latein und übersetzte sie dann ins Deutsche. Auch seine Predigten sind stark latinisiert, seine Mischsprache ist überdeutlich zu vernehmen. Hier ein Beispiel aus der Nachschrift einer Lutherpredigt: Quia unser herr Gott hat eam mussen anders machen, ander blut, hitz geben, ut gravida fieret et pareret. […] Non solum per vicinos, patrem et matrem hat lassen aufschreien, quomodo natur et quale miraculum fecit, quod scilicet in sua senectute, quae verdorret, quae non sol safft kriegen, not ut jungs meidlin, das thut sie, et est wunderzeichen, sed quad deus per eius leib thut. Er wunderzeichen, quod fit stum, et nato filio, das must auch lautber werden. […] Ista est prophetia, quod sol stimmen und setzen zeit futuri Messiae. […] Das ist aber nicht das grost dran, sed quad tu man, qui dicitur aurora ante Christum, ein seer herrlich weissagung, tamen quid eris? hoc erit ex te, quando meus filus gros et kann mans erbeit thun, fiet praedicator et talis, qui hard fur dem herrn her ghe.18
Handelt es sich hier um eine Nachschrift, die von fremder Hand angefertigt wurde, so zeigt das folgende Beispiel einen Text, den Luther selber verfasst hat, ein Gebet. Domine, mein allmechtiger Gott, quam libenter fudissem sanguinem pro tuo verbo, tu scis, sed forsan sum indignus. Fiat voluntas tua. […] Tu es Deus vitae et mortis. Mein allerlibster Gott, du hast mich in die sach gefurtt, du weist, das es dein warheit und wort ist; ne glorifica inimicos, ne forte dicant gentes: Ubi est Deus eorum? […] Tu nosti multos esse, quibus dedisti, ut pro euangelio fuderint sanguinem suum; putabam fore, ut ego pro tuo nomine sanguine funderem, aber ich bins nicht werdt. Fiat voluntas tua.19
Doch in seinem 1524 verfassten Brief an die „Ratherren aller Städte deutschen Lands“ beklagt er die Sprachvermischung sehr deutlich. Ja wo wyrs versehen, das wyr (da Gott fur sey) die sprachen faren lassen, so werden wir nicht alleyn das Evangelion verlieren, sondern wird auch endlich dahyn geratten, das wir wider lateinisch noch deutsch recht reden odder schreyben künden. Des last uns das elend grewlich exempel zur beweysung und warnung nehmen ynn den hohen schulen und klöstern, darynnen man nicht alleyn das Evangelion verlernt, sondern auch lateinische und deutsche sprache verderbet hat, das die elenden leut schier zu lautter bestien worden sind, wider deutsch noch lateinisch recht reden oder schreyben konnen, Und bey nahend auch die natürliche vernunfft verloren haben.20
_____________ 18 19 20
Dr. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. 120 Bände, Weimar 1883 ff.; hier 41. Band, Weimar 1910, S. 334. Dr. Martin Luthers Werke, Tischreden, 3. Band, Weimar 1914, S. 88. Es sei darauf hingewiesen, dass die lateinischen Passagen in Antiqua, die deutschen aber in Fraktur stehen. Dr. Martin Luthers Werke, 15. Band, Weimar 1899, S. 38.
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Und 1526 verteidigt er in seiner Schrift „Deudsche Messe und ordnung Gottis diensts“ die lateinische formula missae gegen Tendenzen, diese aufzuheben, ohne dabei aber rigoros am Lateinischen festhalten zu wollen: Denn ich ynn keynen weg will die latinische sprache aus dem Gottis dienst lassen gar weg komen, denn es ist myr alles umb die jugent zu thun. Und wenn ichs vermöcht und die Kriechische und Ebreische sprach were uns so gemeyn als die latinische und hette so viel feyner musica und gesangs, als die latinische hat, so sollte man eynen sontag umb den andern yn allen vieren sprachen, Deutsch, Latinisch, Kriechisch, Ebreisch messe halten, singen und lesen.21 „so gemeyn als die latinische“ … so gemein wie die ‚gelehrte zweite Muttersprache’. Luther selbst lebte noch völlig in einer gedanklichen Welt, für die Zweisprachigkeit die Beherrschung von Latein (plus Muttersprache) und Griechisch bedeutete.22 Dass ein deutscher (niederländischer, französischer …) Muttersprachler, der des Lateinischen mächtig war, bereits zweisprachig war, ist ein Gedanke, der Martin Luther ebenso wenig in den Sinn gekommen wäre wie Erasmus von Rotterdam oder Michel de Montaigne. Erst in diesem Zusammenhang erahnt man auch die Bedeutung, die die Bibelübersetzung für den Menschen Luther gehabt hat.
Was aber kann in diesem Zusammenhang von Paracelsus gesagt werden? Hat er sich einer deutsch-lateinischen Mischsprache bedient? Paracelsus ist Mediziner, er betätigt sich als Pharmazeut, Chemiker, auch als Philosoph; keineswegs aber ist er Philologe, Sprachwissenschaftler. Er sucht nur nach dem rechten Ausdruck in der deutschen Sprache, die jetzt neben dem Latein ebenfalls zur Sprache der Wissenschaft wird. Paracelsus verwendet dabei einen Wortschatz von Tausenden von Fachausdrücken. Da er als einer der ersten Mediziner und Naturwissenschaftler in großem Umfang deutsch schreibt, tauchen bei ihm zahlreiche Worte neu auf, die bis dahin gar nicht oder wenig bezeugt sind. Und weil Paracelsus medizinisch und pharmazeutisch ein Neuerer ist, braucht er für seine Neuerungen auch neue Worte und Begriffe.23
Auf den ersten Blick scheint sich Paracelsus einer humanistischen Sprachmischung zu entziehen. Er schreibt, von Ausnahmen abgesehen, auf Deutsch. Schriftstellerischen Ehrgeiz kann man ihm dabei nicht unbedingt bescheinigen. Seine Diktion scheint oftmals ungelenk, Syntax und rhetorische Gestaltung muten eher schlicht an. Und trotzdem ist es ihm gelungen, seinen eigenen Stil zu finden und diesen auch zu pflegen. Sein Ziel ist es, verständlich zu sein und sich dabei vor allem bei den Fachtermini genau auszudrücken. Seine Sprache ist Oberdeutsch, _____________ 21 22 23
Dr. Martin Luthers Werke, 19. Band, Weimar 1897, S. 74. Stolt, Birgit: Die Sprachmischung in Luthers Tischreden. Studien zum Problem der Zweisprachigkeit. Stockholm/Göteborg/Uppsala 1964, S. 8 f. Karl-Heinz Weimann, „Sprache und Wortschatz bei Paracelsus“. In: Paracelsus (1493 – 1541). „Keines andern Knecht …“, hrsg. von Heinz Dopsch, Kurt Goldammer und Peter F. Kramml, Salzburg 1993, S. 211–216; hier S. 211.
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… mit den Sprachanpassungen der oberdeutschen Druckersprache im bayerischösterreichischen, fränkischen und schwäbischen Raum, die damals bis hin nach Basel und Straßburg gilt. Schweizer Lautstand findet sich kaum. Wo der deutsche Wortschatz regionale Synonyme bietet, folgt die Wortwahl des Paracelsus stets dem Oberdeutschen; bei konkurrierenden Synonymen im Bayerisch-Österreichischen und im Schwäbisch-Alemannischen folgt die Wortwahl häufig dem letzteren.24
Da er einer der ersten Fachwissenschaftler deutscher Zunge ist, die sich der deutschen Sprache bedienen, sind viele deutsche Fachausdrücke bei ihm zum ersten Mal zu finden.25 Hierfür wurde er heftig kritisiert, doch lehnt er auch hier eine Argumentation, die allein auf die Autorität der überlieferten medizinischen Fachliteratur setzt und dem, was alt ist, automatisch einen höheren Wahrheitsgehalt zubilligt, ab. Auch eine Vorrangstellung der alten medizinischen „Beschreibsprachen“ aufgrund ihrer herausgehobener Stellung findet vor seinen Augen keine Gnade. Es stunden etlich secten auf, die mich mit Hebraischen, Kriechischen, Caldeischen und Arabischen umbstossen wollten. Nun lag der handel an meim interpretirn. So mag ich kein interpreten anemen der wörter halben sondern der werken. was hülf mich lügen mir interpretirt anzeigen, dieweil ich als ein arzet der warheit und nit der lügen sol ein doctor sein, die werk interpretirn, dan on die künt ir nichts loben; also steif und warhaftig ist die arznei an ir selbs. Das heiß ich interpretirt, das in den kriechischen und hebreischen codicibus auf dem teutschen sein kraft auch hat. dieweil sie aber vil der kriechischen interpretirent (die sonst mit lügen gezigen werden) und sie handeln nichts endlich, aus was sol mich und die kranken das süeß geschwez freuen? keiner sprach ist fur den andern zu glauben, darumb interpretirn mit den werken beschehen sol, so ist sie gewiß, die nit falsch ist. liegen und schwezen ist in allen sprachen gemein und in allen sprachen beschreiben derselbigen.26
Allerdings ist auch Paracelsus nicht frei von Einflüssen der lateinischen Sprache. Uwe Pörksen hat anschaulich gezeigt, dass es ein „Fachwerk“ von lateinischen Termini und Wendungen gibt, um die herum er seine eigene Terminologie und auch seine Syntax aufgebaut sind. Und offenbar ist das Ungelenke in seinem Stil auch dem Umstand geschuldet, dass er _____________ 24 25
26
Weimann, „Sprache und Wortschatz bei Paracelsus“, S. 212. Allerdings sind manche seiner neuen Ausdrücke nichts anderes als von ihm gebildete Varianten bereits vor ihm etablierter Begriffe. So ist sein corrosivisch lediglich neu wegen des Anhängens eines Suffixes. Korrosiv in der Bedeutung ‚ätzend, auffressend‘ ist bereits bei Peter von Ulm in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts nachgewiesen. Zu dieser Problematik sei verwiesen auf Eis, Gerhard: „Zum deutschen Wortschatz des Paracelsus“. In: Zeitschrift für deutsche Wortforschung 19 (1963), S. 146–152. Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus: Sämtliche Werke. I. Abteilung: Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften, hg. von Karl Sudhoff, 14 Bände, München/ Berlin 1922 – 1933. Hier Band 7: Von der französischen Krankheit drei Bücher Para. 1529, 23. November (Von den Imposturen), „Die funfzehnt impostur, die sich in mancherlei sprachen aufgeplasen hat“, S. 67–181; hier S. 99.
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der lateinischen Syntax nicht immer entfliehen kann und sozusagen deutsche Sätze mit weitgehend deutschem Wortmaterial nach lateinischen Mustern bildet.27 Zu einer Sprachmischung im Sinne der Barbarolexis führt dies allerdings nicht; Paracelsus schreibt ein, oder besser: sein Deutsch. Und dieses paracelsische Deutsch lohnt eine nähere Betrachtung. Mehrmals in seinem Werk weist Paracelsus auf seine Sprache und deren Herkunft hin, nicht gerade, um sich zu entschuldigen, aber doch, um dies zu erläutern. So auch in der Beschlussrede des ersten Buches der Großen Wundartzney: Ich habe inn disem Buch den Artzeten ein benügen gethon / umb die anderen ist mir kayn sorg / ich hab hierinn bißher ein ländtlichen spruch gefürt / das mich kayner Rhetorick noch subtiliteten berümen kann / sonder nach der zungen meiner geburt / und landssprachen / der ich bin von Ainsidlen / des lands ein Schweytzer / soll mir mein lendtlich sprach niemandts verargenn / ich schreyb nicht von der sprach wegen / sonder von wegen der kunst meiner erfarenhayt.28
In der Vorrede sagt er, sein Buch sei „wiewol einfeltig / ursach / die artzney ist kayn Rhetorica“.29 Paracelsus weiß also um die Wirkung, die die Wahl des Deutschen als Sprache seiner Bücher hat, und um den Eindruck, den er damit hervorruft. Eine sprachwissenschaftliche Theoriebildung, zumindest im Sinne eines durchdachten Systems zur Beschreibung sprachlicher Phänomene und zur Regulierung von etwaigen Neubildungen, fehlt bei Paracelsus. Doch finden sich, verstreut in seinen Schriften, immer wieder Hinweise auf sein Sprachverständnis. In seinen Septem Defensiones widmet er der Frage einer Optimierung der Fachterminologie ein ganzes Kapitel, nämlich die zweite Defension.30 … das ists aber das mich von demselbigen treibt, das die nomina so von vil mancherlei sprachen zusamen gefügt und gesezt sind, das wir nimermer mögen dieselbigen art grüntlich in unsern verstant bringen. auch dieselbigen selber ir eigene nomina nit verstehen noch erkenen, als dan auch in Teutschen von einem dorf in das ander die nomina versezt werden. […] dan sich befindet in denselbigen scribenten, das kein capitel on lügen und große irsal befunden wird, sonder es wird etwas da gefunden das es alles verderbt. Was sollen mich dan dieselbigen scribenten erfreuen? Ich suche nit rhetoricam oder latein in inen sonder ich suche erznei, in denen sie mir keinen bericht wissen zu geben.31
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Grundlegend hierzu Pörksen, Uwe: „Paracelsus als wissenschaftlicher Schriftsteller. Ist die deutsche Sachprosa eine Lehnbildung der lateinischen Schriftkultur?“ In: Wissenschaftssprache und Sprachkritik. Untersuchungen zu Geschichte und Gegenwart, hg. von Uwe Pörksen. Tübingen 1994, S. 37–83. Paracelsus: Die große Wundartzney. Buch I und II. Reprint nach dem Original aus dem Jahre 1536. Nachwort von Udo Benzenhöfer. Hannover 1989, LXI v. Paracelsus: Die große Wundartzney, A vi r. Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus: Sämtliche Werke. I. Abteilung , Band 11: Septem Defensiones, S. 123–160; hier S. 131–136. Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus: Sämtliche Werke. I. Abteilung , Band 11: Septem Defensiones, S. 133.
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Auch spricht er mehrmals davon, dass er sich des Deutschen bediene, weil er verstanden werden möchte und in der ärztlichen Kunst nichts zu verschleiern sei. Keinesfalls ist hier davon auszugehen, dass er sich an den gemeinen Mann wenden wollte. Analphabetismus war im 16. Jahrhundert noch die Regel, und ein Buch stellte etwas ungemein Kostbares dar, dessen Preis für die Mehrheit der Menschen schlicht nicht zu bezahlen war. Viel eher ist an eine Leserschaft gedacht, die gebildet und des Lateinischen durchaus mächtig war, die aber Schwierigkeiten hatte, der althergebrachten lateinischen Fachterminologie zu folgen. Neben medizinisch interessierten Laien an weltlichen wie geistlichen Höfen ist hier vor allem an das sich rasch entwickelnde städtische Bürgertum, aber auch an halbprofessionelle Heilkundige oder an Apotheker zu denken.32 … bilich halt ir euch besondern von allen gelerten mit euren dictionibus und vocabulis; dan solt mans verston, so schmeckt alle welt wol, das bescheißerei were. […] Nun hie aber ist mein fürnemen, die philosophei zu erkleren etlichs teils zu einem eingang der arznei, was ein arzt sein sol, und das auf teutsch, damit das besondern genomen werd und in die gemein gebracht, also das die philosophei dermaßen sol gelernt werden, das in ir der mensch ganz erschein und begegne und in ir finde alle krankheiten und zufell, gesuntheit und trübsal […].33
Und seine Vorlesungen in Basel hielt er ebenfalls auf Deutsch. Diese Vorlesungen sind allerdings stärker von Latinismen durchsetzt, als dies für Paracelsus typisch ist.34 In den elf Monaten, die er in Basel verbrachte (März 1527 – Februar 1528), hielt er mehrere Vorlesungen. Zunächst benutzte er für diese Vorlesungen die lateinische Sprache, um bald schon zur deutschen Sprache überzugehen. Eine dieser Vorlesungen mit dem heute gebräuchlichen Titel De Tartaro ist lateinisch überliefert, doch hat Wolfgang Schneider Zweifel an dieser Sichtweise genährt. Es ist ebenso gut möglich, dass es sich um die lateinisch verfasste Mitschrift einer deutsch gehaltenen Vorlesung handelt.35 Doch selbst wenn Paracelsus sich des Lateins bedient haben sollte, so ist der hohe Anteil an deutschen Sentenzen darin auffällig. Compressio stomachi, wan sie faul seind und verdrossen, lempen dohin, vix pedes tollere possunt au tos aperire, so faul und schwer: signum est in stomacho
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Telle, Joachim: „Wissenschaft und Öffentlichkeit im Spiegel der deutschen Arzneibuchliteratur. Zum deutsch-lateinischen Sprachenstreit in der Medizin des 16. und 17. Jahrhunderts“. In: Medizinhistorisches Journal 14 (1979), S. 32–52; hier S. 35. Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus: Sämtliche Werke. I. Abteilung, Band 8: Das Buch Paragranum, S. 133–221; hier S. 144. Ich danke Herrn Pirmin Meier aus Beromünster für den Hinweis, im Rahmen dieser Arbeit doch einen tieferen Blick in die Baseler Vorlesungen zu werfen. Schneider, Wolfgang: Paracelsus – Neues von seiner Tartarus-Vorlesung (1527/28). Stuttgart 1985, S. 1–8.
Paracelsus und die deutsche Sprache
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esse, nam in hepate et renibus sunt agiles. item quando dicunt, ich schmecke mich, eben als het ich herte eier gessen, signum stomachi.36
Die deutschen Einsprengsel in De Tartaro geben häufig das wieder, was ein Patient sagt, um seinen Zustand zu beschreiben. Der fachliche Metadiskurs wird in der Vorlesung somit auf Latein geführt, die praktische Umsetzung des Könnens beim Blick auf den Patienten und die möglichen Aussagen der Kranken aber sind dem Deutschen vorbehalten. Bleibt noch einer Frage nachzugehen: Inwieweit hatte Paracelsus Einfluss auf die Herausbildung einer deutschen medizinischen Fachsprache oder auch auf die Entwicklung des Neuhochdeutschen? Liest man die kantigen und manchmal auch einfach nur schwer verständlichen, aber immer wieder wuchtig formulierten und gerne auch polemischen Bücher des Hohenheimers, dann ist man versucht, einen solchen Einfluss anzunehmen: Solch eine Sprachgewalt kann doch ihre Wirkung nicht verfehlt haben! Es hat denn auch nicht an Forschern gefehlt, die ihm einen prägenden Einfluss zugestanden haben; der schon mehrfach zitierte KarlHeinz Weimann wäre hier stellvertretend zu nennen. Indes, bereits die teils heftige Kritik an Paracelsus, seinem Lebenswandel und seinem Werk, die von seinen Zeitgenossen vorgebracht wurde, lässt hieran doch zweifeln. Und auch die in ihrer Zahl beeindruckenden pseudoparacelsischen Schriften können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sein Einfluss auf die Sprache der nachfolgenden Jahrhunderte so gut wie gar nicht vorhanden war. So, wie schon vor ihm vereinzelte medizinische Schriften in deutscher Sprache verfasst worden sind,37 so wurde nach ihm weiterhin in lateinischer Sprache publiziert, auch im Bereich medizinischer Fachliteratur.38 Und es muss, wenn man Paracelsus einen Einfluss auf die Entwicklung der Schriftsprache zugesteht, doch verwundern, dass diejenigen, die sich in ihren Publikationen bewusst für die deutsche Sprache entscheiden und dies wortreich begründen, seinen Namen in diesem Zusammenhang meist nicht erwähnen. Erwartungswidrig mußten wir aber bei einer Umschau im Bezirk deutscher Druckschriften chirurgischen, leibärztlichen und alchemisch-chemiatrischen In-
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Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus: Sämtliche Werke. I. Abteilung, Band 5: De Tartaro, S. 1–122; hier S. 57. So verfasste Hieronymus Brunschwig (ca. 1450 – 1512) sein 1497 in Straßburg erschienenes Buch der Cirurgia auf Deutsch. Ein weiteres Beispiel ist der aus dem Elsass stammende Mediziner und Kartograph Lorenz Fries (ca. 1490 – 1531), dessen Spigel der Artzny 1518 in Straßburg erstmals gedruckt wurde und 1529 in der zweiten Auflage erschien. Es sind gerade auch Paracelsisten, die auf Latein publizieren, unabhängig davon, ob sie eher der medizinischen oder der alchemistischen Seite zuneigen; vgl. Goltz, Dietlinde: „Die Paracelsisten und die Sprache“. In: Sudhoffs Archiv 56, H. 4 (1972), S. 337–352. Heinrich Khunrath (1560 – 1605) steht mit seinem 1595 in Hamburg erschienenen Amphitheatrum Sapientiae Aeternae keinesfalls allein da.
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halts feststellen, daß Paracelsus als sprachliches Vorbild ungenannt bleibt und die frühneuzeitlichen Urteile über seine Schreibart fast ausnahmslos ungünstig ausfallen. Anstoß zum Verfassen deutschsprachiger Fachtexte gab er gewiß Pseudohohenheimern, deren Hinterlassenschaft freilich nur einen verschwindend geringen Raum im Bereich der pragmatischen Literatur einnimmt. Viele führende Paracelsisten blieben beim Latein. Und unter „Galenisten“ hielt wohl mancher sprachlich schwankende Fachautor schließlich schon deshalb am mehrheitlich gebrauchten, reputierten Latein fest, um sich in der latinisierten Gelehrtenkultur nicht dem kompromittierenden Ruf eines ungelehrten Paracelsisten auszusetzen.39
Schnell war man offenbar in die Nähe zu Paracelsus gerückt, nur weil man sich des Deutschen bediente. Heinrich Mylphort (1601 – 1627), der sein Medicinisches Spatzirgänglein auf Deutsch verfasste,40 verwahrte sich gegen die Meinung, dass das Schreiben eines Arzneibuches in deutscher Sprache so viel bedeute, „als ob man Paracelsi Schrifften Galeni Methodo vnd gründlichem Curirwerck vorziehen wollte“.41 Meist aber wurde zu Paracelsus geschwiegen. Und dieses Schweigen und Johann Friedrich Henckels vereinzelt dastehende Äußerung, der Paracelsische Traktat Von der Bergsucht sei „nach (Hohenheim) Art so kauderwelsch (geschrieben), daß man vor Ungedult denselben gantz zu durchlesen die Schwindsucht kriegen möchte“, scheinen vielmehr darauf hinzudeuten, daß an der Ausbildung der deutschen Arzneibuchliteratur beteiligte Autoren mehrheitlich in Paracelsus keinen literarisch beispielhaften Vorgänger erblickten.42
Genau hier liegt aber die Krux. Paracelsus wurde abgelehnt (und in einzelnen Fällen offen kritisiert), weil er sich nicht an konventionelle Sprachmuster, näherhin an die Vorgaben der Rhetorik hielt. Es ist nicht nur der Inhalt seiner Schriften, der negative Reaktionen provozierte, es ist auch die äußere Gestalt, die abstieß. Paracelsus wandte sich bewusst gegen das Latein, aber nicht, weil ihm diese Sprache nicht zur Verfügung stand, sondern weil er sich im Klaren darüber war, „daß die alte Medizin in dem und durch das lateinische Sprachkleid institutionalisiert war“.43 Schon in jenem Ende 1527 in Basel entstandenen und verbreiteten anonymen lateinischen Schmähgedicht mit dem Titel Manes Galeni adversus Theophrastum _____________ 39 40
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Telle, „Die Schreibart des Paracelsus“, S. 99. Medicinisches Spatzirgänglein/ darinnen der mit heiligen Namen bekandtesten Kräutlein Ursprung/ und etlicher gesunder Küchenkräuter Art und Eigenschafft angedeutet. Auch ein völliger/ noch zur Zeit gantz unbekandter Bericht von des gantzen Leibes XII. universal, und XXI. Particular-Complexionen zu finden/ angehenden Practicanten fast dienlich. Schleusingen, 1627. Mylphort, Medicinisches Spatzirgänglein, Vorrede. Telle, „Die Schreibart des Paracelsus“, S. 99. Telle gibt dort auch in Anm. 89 die genaue Quelle für Henckels Aussage an. Pörksen, „Paracelsus als wissenschaftlicher Schriftsteller“, S. 69.
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sed potius Cacophrastum wird dies deutlich. Es beginnt mit den Worten „Audi qui nostrae laedis praeconia famae / Et tibi sum rhetor, sum modo mentis inops“ (‚Höre, der Du die Ausbreitung unseres Ruhmes verhinderst / Dir bin ich ein Rhetor, ein Geistesschwacher’).44 Dass Paracelsus Rhetorik oder, böse formuliert, Wortgeklingel kritisierte, wird gerade hier zu einem Argument gegen ihn gemacht. Wie soll man nun ein Fazit ziehen? Das Deutsch des Paracelsus ist keine deutsch-lateinische Mischsprache im Sinne von Sprachvermischung oder humanistischer Doppelsprachigkeit. Zugleich steht sein Deutsch aber deutlich unter einem gewissen lateinischen Einfluss, insbesondere was die Syntax betrifft. Auch Paracelsus hat Latein beherrscht, er hat die lateinischen medizinischen Traktate gekannt, er wird wohl seine Vorlesungen auf Latein gehört haben. Dies hat er übertragen, aber die sich erst entwickelnde frühneuhochdeutsche Sprache musste dabei lateinisch ‚gedacht’ werden. Vieles der ungelenken Kraft seiner Werke ist dem lateinischen Fachwerk der Syntax zu verdanken. Sein Einfluss auf die Entwicklung der frühneuhochdeutschen Sprache war äußerst begrenzt. Seine Zeitgenossen zumindest waren entsetzt über das Wie seines Schreibens. Erst in späterer Zeit griff man auf ihn als großes Vorbild zurück – allzu oft in polemischer Absicht, die den Intentionen des Hohenheimers zuwiderlief.
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Zu diesem Schmähgedicht allgemein verweise ich auf Blaser, Robert-Henri: „Manes Galeni adversus Theophrastum. Ein Beitrag zur Deutung des Basler Pasquills gegen Paracelsus“. In: Nova Acta Paracelsica 7 (1954), S. 41–61. Das Gedicht wird in diesem Aufsatz, in mehrere Portionen aufgeteilt, ganz zitiert.
Blinder Fleck oder Projektionsfigur? Paracelsus und der medizinische Pluralismus heute Heinz Schott
Medizin und Gesundheitswesen bilden kein einheitliches und in sich geschlossenes System. Denn jenseits der sogenannten wissenschaftlichen Medizin, wie sie in der ärztlichen Ausbildung an den Universitäten gelehrt wird, gibt es noch ganz andere Heilkonzepte, die je nach Standpunkt der sogenannten „alternativen“, „komplementären“ oder auch „esoterischen“ Medizin zugeordnet werden. Oft ist auch die Rede von der „Ganzheitlichen Medizin“ oder „Ganzheitsmedizin“, ein schillernder Begriff, der sich in besonderer Weise gegen das objektivierend-reduktionistische Menschenbild und Krankheitsverständnis der naturwissen-schaftlichen Medizin (Biomedizin) richtet. Jenseits von Sozialversicherungssystem und Krankenkassenwesen breitet sich schon seit Langem ein bunt erscheinender Gesundheitsmarkt aus, der auf eine beachtliche Nachfrage in der Bevölkerung schließen lässt. Denn: Wohin können sich jene Patienten wenden, die an sogenannten „austherapierten“ chronischen Krankheiten leiden, wie etwa Asthma oder Neurodermitis, wenn die sogenannte Schulmedizin keine dauerhafte Hilfe bieten kann? Wohin sollen diejenigen gehen, die weder gesund, noch krank sind und über ein allgemeines Unwohlsein, über ein Burn-out-Syndrom, über ständige Kopfschmerzen klagen oder angeblich unter dem Elektrosmog leiden? Die Angebotspalette ist groß und bei genauerem Hinsehen durchaus heterogen: klassische Naturheilverfahren (neuerdings manchmal als Traditionelle Europäische Medizin, TEM, bezeichnet), Homöopathie, Anthroposophische Medizin, indisches Ayurveda, Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) etc. Diese Situation, wie wir sie nicht nur hierzulande, sondern – mit unterschiedlichem Profil – weltweit vorfinden, ist geprägt vom medizinischen Pluralismus. Darunter verstehe ich das Nebeneinander unterschiedlicher Heilsysteme, die quasi als Subsysteme des Gesundheitswesens funktionieren. Ich möchte hierzu keine systemtheoretischen oder kulturanthropologischen Überlegungen anstellen. Der medizinische Pluralismus ist eben nicht nur in Afrika, etwa in Tansania, anzutreffen, wo traditionelle Vorstellungen von Hexerei und Besessenheit neben islamischen Einflüs-
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sen (Yunani-Medizin, d. h. ionische = griechische Medizin) und westlicher Medizin im Gefolge der christlichen Missionierung und europäischen Kolonialisierung existieren.1 Er ist praktisch in allen Kulturen zu beobachten, in spezifischen Ausprägungen auch mitten in Europa. Wenn wir uns nun fragen, welche Rolle der Name „Paracelsus“ hierzulande spielt, so wollen wir von diesem Feld des medizinischen Pluralismus ausgehen. Es wird sich herausstellen, dass Paracelsus einerseits als Projektionsfigur für unterschiedliche Vorstellungen und Begehrlichkeiten herzuhalten hat, andererseits zumindest Teile seines Werkes blinde Flecken für diejenigen darstellen, die sich auf seinen Namen berufen. Ich möchte im Folgenden in fünf Schritten vorgehen.
„Luther der Medizin“: Paracelsus als romantische Projektionsfigur Das umstrittene und irritierende Paracelsusbild bekam erst um 1800 unter dem Einfluss der romantischen Naturphilosophie (vorwiegend in Deutschland) eine eindeutig positive Prägung. Nun, da die verborgenen Geheimnisse der Natur mit theologischen Konnotationen neu erforscht werden sollten, da neue Methoden der magischen Heilkunde diskutiert und mit magnetisch-sympathetischen sowie elektrischen Kuren experimentiert wurde, erschien Paracelsus als Wegbereiter einer Medizin, welche die engstirnig rationalistischen Grenzen der Aufklärung überschreiten wollte. Die Tatsache, dass Paracelsus den Magneten als Heilinstrument und vor allem als Symbol für die magischen Wirkkräfte der Natur in die Medizin einführte, spielte sicherlich eine wichtige Rolle. Denn das viel beachtete Heilkonzept des „animalischen“ (oder auf Deutsch: „thierischen“) Magnetismus, das ab 1814 auch als „Mesmerismus“ bezeichnet wurde und ein Faszinosum für die Romantiker darstellte, operierte mit dem Schlüsselbegriff des Magneten. Die romantisch eingestellten Ärzte und Naturforscher im frühen 19. Jahrhundert konnten sich deshalb mit Paracelsus identifizieren, weil er ihnen einst das vorexerziert zu haben schien, was sie selbst in ihrer Zeit bewerkstelligen wollten: Die fundamentale Kritik einer vermeintlich erstarrten medizinischen Lehre, welche die „Nachtseite der Naturwissenschaft“ (G. H. Schubert) und insbesondere die verborgene Natur im Menschen (Stichwort: „unbewusstes Seelenleben“) selbst verleugnete. _____________ 1
Vgl. Bruchhausen, Walter: Medizin zwischen den Welten. Geschichte und Gegenwart des medizinischen Pluralismus im südöstlichen Tansania, Göttingen 2006.
Blinder Fleck oder Projektionsfigur?
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So stilisierte 1817 der bedeutende Arzt und romantische Naturphilosoph Dietrich Georg Kieser (1779 – 1862), übrigens von 1858 bis 1862 Präsident der Leopoldina (jetzt Deutsche Nationalakademie), der vor allem durch seine Studien zum Mesmerismus bekannt wurde, Paracelsus zu einer epochemachenden, revolutionären Figur: „Um das Alte, Unbrauchbare zu zerstören, bedurfte es einer gewaltsamen Revolution. Diese spricht sich durch Paracelsus aus, und was Luther gegen den Papismus ist, war Paracelsus gegen die scholastische Medizin.“2 Hier zeigt sich also die traditionelle Analogisierung: Luther habe gegen die Papstkirche, Paracelsus gegen die scholastischen „Sekte“ und deren Oberpapst Galen gekämpft. Der Medizinhistoriker Walter Artelt sprach in einer Arbeit von 1957 im Hinblick auf diese romantische Verklärung von einer „Paracelsomanie“.3 In der Folgezeit sollte die deutsch-nationale Paracelsus-Rezeption die Oberhand gewinnen, sodass schließlich die nationalsozialistische Ideologie Paracelsus für ihre völkische und antisemitische Propaganda ohne Weiteres vereinnahmen und ihn zum Urbild des „deutschen Arztes“ stilisieren konnte, wie der künstlerische beachtliche ParacelsusFilm von Georg Wilhelm Pabst aus dem Jahr 1942 zeigt.
Paracelsus als Projektionsfigur für Alternativund Schulmedizin heute Es ist nicht verwunderlich, dass mit dem Siegeszug der naturwissenschaftlichen Medizin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Paracelsus mitsamt der romantisch inspirierten Medizin in den Hintergrund trat und letztlich mit dieser zusammen in den Topf des „Okkultismus“, des sogenannten Aberglaubens, geworfen wurde. Von nun an lebte er als historische Lichtgestalt in zwei Strömungen der Heilkunde weiter: Zum einen in der im Laufe des 19. Jahrhunderts aufblühenden Naturheilbewegung, die sich wesentlich als volkstümliche Laienmedizin verstand, zum anderen in der ärztlichen Kritik an der modernen naturwissenschaftlichen Medizin, wie sie sich ab den 1920er-Jahren dezidiert zur „Krise der Medizin“ äußerte. Hier, an der Schnittstelle von Volksmedizin, Naturheilkunde und Medizinkritik erlebte Paracelsus vor allem in Deutschland im frühen 20. Jahrhundert eine beachtliche Renaissance mit, wie bereits angedeutet, fragwürdigen Auswüchsen im Dritten Reich. _____________ 2
3
Zit. nach Engelhardt, Dietrich von: Paracelsus im Urteil der Naturwissenschaften und Medizin des 18. und 19. Jahrhunderts. Darstellung, Quellen, Forschungsliteratur, Halle 2001 (Acta Historica Leopoldina, 35), S. 45. Ebd., S. 44.
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Vor diesem Hintergrund wollen wir einen Blick auf den gegenwärtigen Gesundheitsmarkt und seine Bezugnahme auf Paracelsus werfen. Im Rahmen der ökologischen Bewegung der letzten Jahrzehnte und der damit zusammenhängenden Aufwertung bestimmter Formen naturgemäßer Lebensweisen („Bio-Boom“) und entsprechender „alternativer“ Heilmethoden erschien er von Neuem als eine Leitfigur. Ähnlich wie bei der sogenannten „Hildegard-Medizin“, die sich auf die Naturlehre und Heilkunde der Hildegard von Bingen beruft und diese auch direkt praktisch anwenden will, ist heute auch von einer „Paracelsus-Medizin“ die Rede. Sein Name erscheint heute als ein vielfach verwertbares Markenzeichen. So werden „Bio-Magnete“ angeboten, mit denen man u. a. auch Wasser, Getränke und Lebensmittel „magnetisieren“ könne. Der gelegentliche Hinweis auf Mesmer ist interessant, stand doch am Anfang der Entstehungsgeschichte des „animalischen Magnetismus“ die Therapie mit Stahlmagneten, die seinerzeit von den beiden französischen Ärzten Charles-Francois Andry (1741 – 1829) und Michel-Augustin Thouret (1748 – 1810) in einer gemeinsam verfassten Schrift (1785 veröffentlicht) wissenschaftlich evaluiert wurde. Allenthalben finden in Deutschland und deutschsprachigen Regionen Paracelsus-Messen statt, auf denen sich die unterschiedlichsten Anbieter auf dem alternativen bzw. komplementären Gesundheitsmarkt zusammenfinden, etwa eine jährlich stattfindende Veranstaltung in Castrop-Rauxel. Aber der Name Paracelsus eignet sich offenbar auch für die Benennung von einzelnen Kurkliniken, wie etwa die Paracelsus Klinik Lustmühle für Ganzheitsmedizin und Zahnheilkunde bei St. Gallen sowie von großen Krankenhauskonzernen, wie etwa die Paracelsus-Kliniken Deutschland GmbH. Im zentralen Leitbild dieses Unternehmens wird Paracelsus erwähnt: „Wir fühlen uns der Tradition einer ganzheitlichen Betrachtung unserer Patienten auch durch den Namensgeber Paracelsus verbunden.“ Freilich ist fraglich, ob dieser Namensgeber auch den übernächsten Satz unterschrieben hätte: „Unsere Patienten und deren Angehörige sind unsere Kunden.“4 Es ist bemerkenswert, dass der Name „Paracelsus“ sowohl für Heilpraktiker als auch für Ärzteverbände einen gleichermaßen positiven Klang hat. So wird er im Hinblick auf die Phytotherapie von der Akademie zur Berufsausbildung für Heilpraktiker genannt. Andererseits verleiht die Bundesärztekammer alljährlich die „Paracelsus-Medaille der deutschen Ärzteschaft“ als höchste Auszeichnung an verdiente Ärzte. Aber auch in der touristischen Städtewerbung lässt sich der Name des Theophrastus gut verwenden: So etwa in der aktuellen Salzburger Touristeninformation, _____________ 4
http://www.paracelsus-kliniken.de/deutsch/Unternehmen/Leitbild/page.html (Stand: 26.03.2008).
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wo Paracelsus als der „’Urvater’ der modernen Medizin“ bezeichnet wird. Die Projektionsfigur Paracelsus eignet sich also als Passepartout für ganz unterschiedliche Zwecke. Dies lässt sich damit erklären, dass er in einer einzigartigen Umbruchzeit zwischen Mittelalter und Neuzeit lebte und zwischen heterogenen Ansätzen oszillierte. So kommt bei Paracelsus sozusagen alles – und das Gegenteil von allem vor. Vieles bleibt in einem gewissen Dämmerlicht unbestimmt: Hexen, Elementargeister, Spectra, unholde Aszendenten, natürliche Magie, arcana etc.
Blinde Flecken der Biomedizin: Verdrängte Einsichten des Paracelsus Der Begriff „Ganzheitsmedizin“ oder auch „ganzheitliche Medizin“ wurde, wie bereits erwähnt, im 20. Jahrhundert geprägt. Er ist in hohem Grade schillernd und wird in unterschiedlicher Perspektive benutzt.5 Sein Ursprung liegt vor allem im frühen 20. Jahrhundert nach dem Kulturschock des Ersten Weltkriegs, als auch die Medizin und die Ärzte nach einer neuen Orientierung suchten. Die damalige sogenannte „Krise der Medizin“ richtete sich gegen eine naturwissenschaftlich-objektivistische Medizin, die technologisch-mechanistisch ausgerichtet war und den Organismus und seine Teile isoliert betrachtete und behandelte. Zunächst stand der Begriff der Biologischen Medizin im Vordergrund, der dann – wegen seiner politischen Belastung im Kontext der Neuen Deutschen Heilkunde während des Nationalsozialismus – nach 1945 vom Begriff der Ganzheitsmedizin abgelöst wurde.6 Die Vision der Ganzheitsmedizin wollte den Menschen im Wechselspiel mit der Umwelt begreifen, seine psychosomatische und soziale innere wie äußere Verwobenheit als „biopsycho-soziales Wesen“ erkennen – heute würden wir vielleicht von einer mehrdimensionalen „Vernetzung“ sprechen. Medizinische Kybernetik bzw. Systemtheorie, die Einführung des Begriffs „Umwelt“ (als Gegenpol zur „Innenwelt“) in die Biologie durch Jakob von Uexküll (1864 – 1944), die davon beeinflusste Gestaltkreistheorie Viktor von Weizsäckers zur Begründung einer medizinischen Anthropologie, aber auch die etwa 1929 auftauchende Bewegung der Neuen Deutschen Heilkunde mit ihrem völkisch-nationalen Verständnis von „Ganzheit“ sowie die populären medizinkritischen Schriften eines Erwin Liek (878 – 1935), der die Schul_____________ 5 6
Vgl. den Übersichtsartikel in wikipedia : http://de.wikipedia.org/wiki/Ganzheitliche_Medizin (Stand: 27.03.2008). Vgl. Jütte, Robert: Geschichte der Alternativen Medizin. Von der Volksmedizin zu den unkonventionellen Therapie von heute, München 1996, S. 55–65.
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medizin gleichsam durch die Naturheilkunde läutern wollte, wären hier zu nennen. Im Folgenden möchte ich anhand des paracelsischen Welt- und Menschenbildes als einer Art historischen Kontrastfolie die blinden Flecken der modernen Biomedizin aufzeigen. Mit anderen Worten: Was könnte die Medizin heute durch eine Beschäftigung mit Paracelsus lernen? Das auch die Alternativmedizin einschließlich der Naturheilkunde und Homöopathie in Bezug auf Paracelsus ihrerseits blinde Flecken haben kann und vielfach auch hat, ist unbestritten, soll jedoch hier nicht eigens thematisiert werden. Die Stilisierung unseres Helden als „Urvater der modernen Medizin“ (Salzburger Touristeninformation) ist eine verkürzende und letztlich falsche Charakterisierung. Aber es ist sicher ebenso verkürzend und falsch, ihn per se zum Schutzpatron für das große Sammelbecken aller möglichen Naturheilverfahren zu ernennen, mit denen er größtenteils kaum etwas zu tun hatte oder die sogar im Widerspruch zu seiner Lehre stehen, wie z. B. die ausleitenden Verfahren im Sinne der klassischen (humoralpathologisch fundierten) Naturheilkunde. Zum weithin unbekannten Denken des Paracelsus und seiner Zeit möchte ich nur einige grundsätzliche Anmerkungen machen. Interessant sind die von der Alchemie und natürlichen Magie der frühen Neuzeit gebildeten Analogien zwischen oben und unten, innen und außen, die unserem kausal-mechanistischen Denken von heute widersprechen. Wie die Stoffverwandlung im Makrokosmos, z. B. die Reifung der Metalle im Berginneren, vonstatten gehe, so sei auch die Stoffverwandlung im Mikrokosmos, im Körperinneren, insbesondere im Magen als dem Sitz des archeus („Lebensgeistes“) vorzustellen. Gerade Paracelsus argumentierte in dieser Perspektive. In der äußeren Natur sei der imaginäre Schmied namens vulcanus am Werk, im menschlichen Organismus der imaginäre Lebensgeist namens archeus. Beide wurden als tätige Alchemiker vorgestellt, die in ihrem jeweiligen Laboratorium – in der äußeren Natur bzw. im Körperinneren – ihre zielgerichteten Prozeduren vollbrachten. Und wie die äußeren Sterne oben am Himmel eine bestimmte Konstellation bildeten, so schienen auch die inneren Sterne im menschlichen Körper in Korrespondenz mit jenen eine bestimmte Konstellation zu bilden. Wir sehen bereits hier, wie sich solche Analogiebildungen eine typische Metaphorik hervorbrachten. Vor allem die Scheidekunst (alchemia), personifiziert in der Figur des Alchemikers, lieferte eine brauchbare Metapher für die allenthalben unterstellte Magie der Natur. So viel sei festgehalten: Die horizontale Analogie „wie innen so außen“ und die vertikale Analogie „wie oben so unten“ bedeuteten nicht eine jeweilige Gleichwertigkeit der polar gegenüberstehenden Glieder, sondern implizierten eine klare Hierarchie. Der Mensch konnte nur inso-
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fern seine alchemische Kunst entfalten, als er auf der Grundlage der Naturprozesse voranschritt. Die Natur vollzog den ersten Scheideprozess und der Mensch konnte sinnvollerweise nur diesen fortsetzen und vervollkommnen. Insofern erschien die menschliche Scheidekunst als eine sekundäre Fertigkeit der natürlichen. Die alchemische Arzneimittelproduktion hatte die Natur zu vollenden. Dabei ist der Gedanke der Höherentwicklung, Verfeinerung, Vergeistigung leitend. Mit dem arcanum als geistigem Wirkprinzip ist auf dem Wege eines bottom-up gewissermaßen der Gipfelpunkt der alchemischen Kunst erreicht. Diese Denkrichtung der alchemischen Stoffveredelung nach oben springt noch stärker ins Auge, wenn wir die Vermittlung göttlicher Weisheit durch die Natur für den Menschen als eine Bewegung top-down vom Himmel auf die Erde ins Auge fassen. Diese beiden Bewegungen, zum einen die Erleuchtung von oben, zum anderen die alchemische Arbeit von unten, bedingen sich in dieser Weltanschauung gegenseitig. Nur „im Lichte der Natur“, so das Motto des Paracelsismus, könne der Arzt und Naturforscher richtig handeln und wirksame Arzneimittel produzieren, ansonsten würde er als Scharlatan betrügerisch handeln. Indem er die richtigen Schritte unternehme und insbesondere Arzneimittel auf alchemischem Weg herstellen könne, werde er dem Auftrag Gottes gerecht und komme der göttlichen Absicht nach. Somit haben wir es mit einem komplexen analogischen System zu tun. In Robert Fludds „Utriusque Cosmi“ (1617) findet sich eine Illustration mit dem Titel „Integrae Naturae speculum Artisque Imago“ (Spiegel der ganzen Natur und Sinnbild der Kunst), welche die Verbindung zwischen Mensch und Gott als eine Art „goldene Kette“ (catena aurea) darstellt.7 Die medizinische Anthropologie des Paracelsus kannte durchweg diese drei Instanzen: Gott, Natur, Mensch. Zwischen ihnen spielen sich alle Probleme von Krankheit und Gesundheit, Diagnostik und Therapie, krankem Menschen und ärztlichem Helfer ab. Die drei Instanzen durchdringen sich gegenseitig und bilden zugleich eine hierarchische Ordnung. Zwei Sinnbilder der natura bzw. sophia illustrieren die paracelsische Rede_____________ 7
Vgl. das Schaubild in: Fludd, Robert: Utriusque Cosmi […], Bd. 1, Oppenheim 1617. Die Kette führt von der Hand Gottes zur Jungfrau Natur (natura) und von dieser zu einem Affen, der Kunst und Wissenschaft insofern verkörpern soll, als er die über ihm stehende Natur nur nachahmen, nachäffen könne, um ihre Produkte zu verbessern. In diesem Bild verbindet die Natur den feurigen Himmel (Gott) mit dem Ätherhimmel (Gestirne) und mit der „sublunaren“, irdischen Welt (Elemente). Die Natur, dargestellt als kräftige und Kräfte spendende Frau, ernährt die Welt: Ihr Herz als wahre Sonne gibt den Sternen das Licht und ihr Bauch (Gebärmutter) erscheint als das Medium, wodurch die astralen Einflüsse auf die Erde ausstrahlen. Die Kette verläuft von der (linken) Hand Gottes, die aus der himmlischen Feuerwolke herauslangt, zur (rechten) Hand der Natur, und von der (linken) Hand der Natur zum (linken) Unterarm des Menschen-Affen. Die Natur reiht sich als Mittelkörper in die Kette ein und unterteilt sie damit zugleich.
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weise vom „Lichte der Natur“ eindrucksvoll. In seiner Atalanta fugiens (1618) zeigt Michael Maier mit einem Kupferstich von Matthäus Merian die Natur als eine junge Frau, die mit köstlichen Früchten in Händen voranschreitet. In ihren Fußspuren (quasi Wegweiser) läuft ihr ein Naturforscher mit Gehstock (quasi Vernunft), Brille (quasi Erfahrung) und einer Laterne (quasi Licht zum Studium der Schriften) hinterher. Der Gelehrte solle also der Natur folgen, lautet die Botschaft.8 In abgewandelter Form ist diese Illustration auch im Musaeum Hermeticum (1625) enthalten.9 Eine direkte Begegnung zwischen der Natur (einer Mischung aus verführerischer Frau, Königin und Engel) und dem Alchemisten zeigt die etwa 100 Jahre ältere Miniatur des bedeutenden französischen Hofmalers Jean Perréal von 1516.10 Wenn wir uns in dieser Weise in die Umbruchzeit des 16. und 17. Jahrhunderts (frühe Neuzeit) hineinversetzen, so stoßen wir auf einen interessanten Tatbestand: Was heute im Kontext des medizinischen Pluralismus als unvereinbar oder gegensätzlich erscheint, lag damals eng beisammen, ja, konnte vielfach gar nicht voneinander abgegrenzt werden: etwa göttliche versus natürliche Heilquellen, Dämonen versus Samen als Krankheitsursache, direktes Eingreifen Gottes (im Sinne der ens dei) versus Hilfe durch den naturphilosophischen Arzt. Insofern ist die alchemisch_____________ 8
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Emblem 42 : De secretis Naturae „Dem/der in Chymicis versiret, sey die Natur/Vernunfft/Erfahrenheit vund Lesen/ wie ein Führer/ Stab/Bryllen und Lampen. Dein Führerin die Natur sey/ welch’r du must folgen von weiten/ Williglich/ anderst du jrrst, wo sie dich nicht thut leyten/ Die Vernunft sey dein Stab/ vnd es muß stärken die Erfahrnheit Dein Gesicht/dass du könnst sehen/ was gelegt ist weit vnd breit/ Daß Lesen sey wie ein Lamp im finstern leuchtend hell vnd klar/ Dadurch du mögst verhüten der Sachn vund Wörter Gefahr.“ Vgl. Maier, Michael: Atalanta fugiens, hoc est, Emblemata nova de secretis naturae chymica […]. Oppenheim 1618, S. 176. Musæum Hermeticum, Omnes Sopho-Spagyricæ Artis Discipulos Fidelissime Erudiens. Frankfurt 1625; Titelkupfer: Unten M. Maiers Natura-Dux-Emblem in ovalem Rahmen. Natura trägt einen sechseckigen Stern in Leuchtkugel in der rechten Hand, sie ist vierbrüstig (nackt bis zum Gürtel), dem Gelehrten mit Brille, Stock und Laterne folgt ein zweiter in einiger Entfernung, ebenfalls mit Stock und Laterne (evtl. auch mit Brille). Die Krone der Natur zeigt die Zeichen der sieben Metalle, die Äste des Baumes symbolisieren die vier Elemente, die sich in der Mitte kreuzen (mixtio), die drei Baumwurzeln repräsentieren die drei Reiche der Natur (mineralia, vegetative, sensitiva), im Baumstamm befindet sich der Ofen der Natur. Dieses OPUS NATURAE steht im Gegensatz zum OPUS MECHANICE. Der Alchimist soll sein Laboratorium verlassen und in ihrem Reich lernen, dem ursprünglichen Reich der Alchemie, symbolisiert durch den Baum, der aus den drei Wurzeln Mineralia, Vegetabilia und Sensitiva wachse. Die natürliche Scheidekunst, das opus naturae, führe zur obersten Blüte des Elixiers, das als „vegatabiles Gold“ sublimiert werde.
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magische Medizin der frühen Neuzeit – ähnlich wie die wissenschaftlich raffiniertere Medizin unter dem Vorzeichen der romantischen Naturphilosophie im frühen 19. Jahrhundert – eine anregende Fundgrube für alle, die naturwissenschaft-liche und alternative, ganzheitliche Medizin in theoretischer oder praktischer Absicht miteinander in Beziehung setzen wollen.
Exkurs zur Wirkungsgeschichte: Mesmer und Hahnemann Die Aktualität des Paracelsus für heutige Therapieansätze, die wir einer wie auch immer definierten „Ganzheitlichen Medizin“ im weiteren Sinne zurechnen können, ergibt sich aus meiner Sicht im Allgemeinen nicht direkt, etwa durch direkte Übernahme eines speziellen Behandlungsverfahrens von Paracelsus, das man dann konkret anwenden würde. Solche Ansätze bei der Heilmittelherstellung, wie sie das „Laboratorium Soluna“11 in Donauwörth in der Nachfolge des Dichters und Alchemisten Alexander von Bernus (1880 – 1965) betreibt, existieren zwar, erscheinen jedoch eher als randständig. Vielmehr ist aus medizinhistorischer Sicht der Einfluss von Paracelsus indirekter Natur, quasi historisch gebrochen. Dies möchte ich an zwei Heilkonzepten aufweisen, die um 1800, zwischen Aufklärung und Romantik, entstanden und bis heute weltweit millionenfach praktiziert werden. Ich spreche hier von Franz Anton Mesmers animalischem Magnetismus (Mesmerismus) und von Samuel Hahnemanns Homöopathie. Während der Mesmerismus heute (sehen wir von dem im Englischen häufig benutzten Verb „to mesmerise“ einmal ab) als Begriff und als Heilkonzept kaum mehr geläufig ist, konnte die Homöopathie ihre weltweite Erfolgsgeschichte als Heilkonzept unter diesem Namen bis heute fortsetzen. Der Mesmerismus dagegen wird zumeist unter anderen Bezeichnungen bzw. in Kombination mit anderen Heilmethoden praktiziert: als Lebensmagnetismus, Magnetopathie, healing by touch, Geistheilung oder Handauflegen. Mesmerismus und Homöopathie wurzeln ideengeschichtlich im Konzept der Simile-Magie, die gerade für Paracelsus und seine Begründung des medizinischen Magnetismus fundamental war. Die „sympathetischen“ Wechselwirkungen, Korrespondenzen zwischen ähnlichen Naturdingen im Mikrokosmos und Makrokosmos sollten als natürliche Heilkräfte zu therapeutischen Zwecken eingesetzt werden. Mesmer, der 1815 im Alter von 81 Jahren starb, hat die Homöopathie nicht mehr zur Kenntnis genommen. Der um 21 Jahre jüngere Hahnemann jedoch interessierte sich sehr für Mesmers „animalischen Magnetismus“, diese „während eines _____________ 11
Siehe http://www.soluna.de/ (Stand: 01.04.2008).
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Heinz Schott
ganzen Jahrhunderts[!] geleugnete oder geschmäh’te Heilkraft, eine wundersames, unschätzbares, dem Menschen verliehenes Geschenk Gottes“.12 Im Übrigen war der Mesmerismus in Hahnemanns Augen die einzige Heilmethode, die er neben der Homöopathie gelten ließ! Er lobte die „heroische Kraft“ des „Animalism (thierischen Magnetism)“, die er zu den „dynamischen Arzneireize[n]“ zählte.13 In seinem Hauptwerk „Organon der Heilkunst“14 wird die Nähe zum Mesmerismus greifbar, wenn er davon spricht, dass „unsere Lebenskraft als geistartige Dynamis nicht anders denn auf geistartige (dynamische) Weise ergriffen und afficirt werden [kann].“ Hahnemann sah in der Kombination beider Heilkonzepte eine ideale Ergänzung. Manche Hahnemann-Schüler propagierten regelrecht eine Kombination beider Behandlungsmethoden.15
Paracelsus als Herausforderung für Biomedizin und „Alternativmedizin“ Es gibt sozusagen komplementäre blinde Flecken der Paracelsus-Rezeption: Während die „Ganzheitliche Medizin“ den analytischen Ansatz bei Paracelsus und den damit zusammenhängenden mitunter gewaltsamen Zugriff auf die Natur allzu leicht übersieht, verkennt die sogenannte Schulmedizin den synthetischen, ja synkretistischen Charakter des paracelsischen Denkens, das ja nicht nur Mikro- und Makrokosmos zusammenbringen möchte, sondern überhaupt Gott, Natur und Mensch. Oder anders gesagt: Die „Ganzheitliche Medizin“ verkennt den enorm modernen Impetus des Paracelsus, der biomedizinische Vorstellungen, wie etwa die bakteriologische Lehre von Krankheitskeimen, antizipierte; die Schulmedizin dagegen, die sich gerade in der Ethik auf Paracelsus beruft, verkennt angesichts seiner beeindruckenden Innovationen seine Verankerung im traditionellen mittelalterlichen Weltbild einerseits und seiner Affinität zum Neuplatonismus der Renaissance andererseits. Ich möchte abschließend fragen: Was könnte die gegenwärtige Biomedizin von Paracelsus lernen? Ich möchte drei Bereiche andeuten, die _____________ 12 13 14
15
Hahnemann, Samuel: Organon der Heilkunst, nach der 6. Aufl. Ed. Haehl, Leipzig 1921, S. 264. Hahnemann, Samuel: Heilkunde der Erfahrung [Berlin 1805]. In: Kleine medicinische Schriften. Hrsg. von Ernst Stapf. Dresden, Leipzig 1829, S. 37 bzw. 42. 5. Aufl. Dresden, Leipzig 1833, S. 86. Ausführliche Erklärung des „zoomagnetischen Agens“ bei Stapf, Ernst: „Zoomagnetische Fragmente“. In: Archiv für die homöopathische Heilkunst. 2 (1823) H.2. Vgl. Dr. Sievers: „Die Homöopathik und der Lebensmagnetismus“. In: Allgemeine homöopathische Zeitung 50 (1855) No. 7, S. 67–70.
Blinder Fleck oder Projektionsfigur?
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mir besonders brisant erscheinen – und die zum Teil auch Therapieangebote der alternativen Medizin betreffen, die ja manchmal nicht weniger von Hybris und technokratischem Denken strotzen, als gewisse Heilangebote der von ihnen attackierten Schulmedizin: 1. Die Biomedizin könnte lernen, die Macht des Geistes ernst zu nehmen, die sich in einer der unsichtbaren Welt ausdrückt und ebenso real ist wie die sichtbare. Dies bedeutet konkret: die Macht des Geistes über den Körper im menschlichen Organismus, die ungeheure Wirkungen im Positiven wie im Negativen entfalten kann. Paracelsus beschreibt dies in seiner Lehre von der imaginatio, welche eine radikale Psychosomatik beinhaltet und von der heute die Placebo- bzw. Nocebo-Forschung erhellende Anregungen empfangen könnte. 2. Die Biomedizin könnte darüber hinaus von Paracelsus lernen, die Natur wieder als Makrokosmos anzuschauen und wahrzunehmen, als ein göttliches Medium, die ihre Geheimnisse nur den ernsthaften Naturforschern (Adepten) preisgibt, die mit größter Zielstrebigkeit forschen. Diese Einstellung könnte zu einer neuen Ehrfurcht und Demut gegenüber dem Gegenstand der Naturwissenschaften zur Folge haben und der heute oft festzustellenden Hybris der Forschung und ihrer kulturellen und religiösen Blindheit in dem, was sie tut, entgegenwirken. (Albert Schweitzers Forderung nach einer „Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben“ vor fast 100 Jahren ist auch heute noch aktuell.) 3. Und schließlich könnte die Biomedizin lernen, den für Krankheit wie Gesundheit entscheidenden Faktor Mensch, den Einfluss des Subjekts, ernst zu nehmen und zu würdigen. Dies hängt sicher mit der soeben erwähnten Macht des Geistes zusammen, hat hier aber noch eine besondere Pointe. Der Arzt solle „sich rein und keusch halten“, sagt Paracelsus im Paragranum.16 Damit meinte er freilich keine äußerlich vorgegebenen Verhaltensnormen, sondern vielmehr eine unendliche Bildungsaufgabe, vergleichbar mit der alchemischen Scheidekunst, die mit dem reinen Produkt (arcanum) zugleich die wirkvollste geistige Potenz erzeugen will. Dies ist aus meiner Sicht der ethische Kern seiner Botschaft: Bildung als Resultat einer intensiven Selbsterziehung, die zugleich re-ligiös im buchstäblichen Sinne ist. _____________ 16
Theophrast von Hohenheim gen. Paracelsus: Sämtliche Werke. 1. Abteilung: Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften. 14 Bde, hg. von Karl Sudhoff. München, Berlin: 1929 – 1933, Bd. 8, S. 209; vgl. Schott, Heinz: „’Also sol der Arzt rein und keusch sein‘ (VIII/210). Zur naturphilosophischen Begründung der ärztlichen Ethik bei Paracelsus“. In: Manuskripte, Thesen, Informationen, hg. von der Deutschen BombastusGesellschaft (1999) Nr. 14-1, S. 22–30.
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Heinz Schott
Von Paracelsus könnten heutige Ärzte und Naturforscher letztlich wieder lernen, dass Heilkunde und Religion einschließlich der Mystik zusammenhängen. So heißt es in seiner Schrift Von den Natürlichen Dingen, dass das geeignete Heilmittel (arcanum) der Wille Gottes sei, das in den natürlichen dingen ist. und so vil seind der arcana, so vil und dem menschen not zustênt […] so nun der wil gottes geschehen sol, so muß in der arzt suchen do er ligt, nicht mit worten, sie seind im nicht befolen, alein das liecht der natur, was got für ein willen dohin behalten hat, denselbigen heraus zu nehmen und in dohin tun, dohin es not ist. also ist das arcanum entdekt.17
_____________ 17
Theophrast von Hohenheim gen. Paracelsus, Paracelsus, Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 111 f.
Leib, Leben, Bioethik. Mit Paracelsus zur modernen Leib-Philosophie Andreas Brenner
Paracelsus als Beobachter der menschlichen Natur „Ein Glied, das vom Leibe abgehauen ist, kannst du nimmer ansetzen; was aber ab ist und wieder angesetzt werden soll, das kann nimmer ohne Gebresten an das alt Wesen kommen.”1 Diese Feststellung Paracelsus’ in seiner „Großen Wundarzney” kann man als verfehlt ansehen und das nicht erst aus der Perspektive der Moderne, in der die Wiederherstellungschirurgie einen hohen Stand erreicht hat, sondern bereits zeithistorisch könnte man Einwände formulieren, sind doch bereits sehr früh Versuche unternommen worden, abgehauene Nasen oder Finger wieder anzunähen, ‒ wenngleich lange ohne nachhaltigen Erfolg. Ich möchte jedoch die Stärke von Paracelsus’ Aussage betonen und zwar wegen der in ihr implizit unterlegten Leib-Vorstellung. So fährt Paracelsus in seiner Verdeutlichung nämlich fort: „Ein gesunder Leib ist nit ohne Zufälle, wievielmehr ein verletzter.”2 Diese Aussage ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert, zum einen wegen ihrer Verneinung, und zum anderen wegen der Betonung des Zufalls. Zum einen: Das kleine „nit” in dieser Stelle kann einen zunächst irritieren, im Kontext zeigt sich dann aber, dass Paracelsus „nit” nicht als Verneinung verwendet, sondern zur Bekräftigung, etwa in dem Sinne: „der Leib ist ohne Zufall, nicht (wahr)?” Was soll das heißen, „ohne Zufall”? Was zufällig ist, das könnte auch anders sein. Was zufällig ist, dem ist etwas zugefallen, das macht, dass es ist, wie es ist und dem kann es entsprechend auch wieder abfallen, wie eben eine im Kampf abgeschlagene Nasenspitze. Was zufällig ist, das kann, wie’s der Zufall will, auch anders sein. Was nicht zufällig ist, das ist notwendig. _____________ 1 2
Große Wundarzney, S. 391. In: Paracelsus Theophrastus Werke, Bd. II: Medizinische Schriften. Darmstadt 1965. Große Wundarzney, S. 392.
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Andreas Brenner
Zum anderen: Neben der Bedeutung von accidentia wird „Zufall” in der Medizin auch im Sinne von Symptom, d.h. krankhafter Störung gebraucht.3 Die Paracelsus-Stelle wäre dann so zu verstehen: Bereits ein gesunder Leib hat Symptome. Wenngleich möglicherweise beide Bedeutungen in den Paracelsus-Satz einfließen, so erweist sich das Verständnis von „nicht zufällig” im Sinne von „notwendig” als besonders erhellend: Bereits jeder Laie kann an sich selbst die medizinische Beobachtung machen: Der Schnitt im Finger beginnt nach heftigem Bluten schon nach kurzem zu heilen. Der Finger heilt ohne weiteres Zutun. Wie lässt sich das erklären? Wie kann man verstehen, dass der Einschnitt in Haut und Fleisch sich mit der Zeit schließt und die verletzte Stelle letztlich heilt und wieder ganz gesund wird? Die Antwort auf diese Frage fällt eigentlich überraschend einfach aus: Wenn die Heilung ohne äußeres Zutun erfolgt, dann muss sie aus dem Inneren kommen. Dieser einfache Gedanke hat jedoch eine ausgesprochene Tiefe. Es ist der Balsam, der natürlich im Fleisch liegt, (er) heilt das Fleisch. So ist mit einem jeglichen Glied zu verstehen, dass ein jegliches Glied seine eigene Heilung in sich trägt. Und so hat die Natur ihren eigenen Arzt in ihrem eigenen Gliede, der das heilt, was in ihr verwundet ist.4
Hier, wie an vielen weiteren Stellen seines Werkes begreift Paracelsus den Leib als etwas aus eigener Kraft Lebendes: Der Arzt Paracelsus ist zutiefst davon überzeugt, dass man den menschlichen Körper missversteht, wenn man nicht seine eigene Kraft erkennt und diese nicht zur Geltung kommen lässt. Als Methode ist dazu die Beobachtung notwendig. Das geübte Auge vermittelt die Einsicht in das Wirken des Leibes. Wenn man gut sehen lernt – das Hinsehen ist eine der wichtigsten Tugenden des Heilers –, dann zeigt sich einem das Selbstwirken des Leibes. Wer zu beobachten gelernt hat, wird dann auch nicht vorschnell urteilen, sondern einfach erkennen. Wer hinsehen kann, der erkennt dann beispielsweise das Pulsieren und das Schwitzen. Die Regungen des Pulses, das Auf und Ab eines sich durchatmenden Körpers und das Erhitzen und Ausschwitzen von Körperflüssigkeit zeigen den Leib als ausgesprochen aktiv. Für Paracelsus ist es geradezu die Voraussetzung einer gelingenden Heilbehandlung, dass der Leib in dieser Weise als Subjekt begriffen wird und nicht etwa als ein Objekt.
_____________ 3 4
Siehe Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, München 1984, Bd. 32, Sp. 343 (den Hinweis verdanke ich Peter Dilg, Marburg). Große Wundarzney, S. 394.
Leib, Leben, Bioethik
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Die Wiederentdeckung des Leibes Im Nachhinein ist man in einigem klüger. So wird Paracelsus’ mangelnde Anerkennung zu seinen Lebzeiten und lange darüber hinaus, verständlich, wenn man erkennt, dass er in einer geistesgeschichtlichen Gegenströmung stand, in der er mangels eines ihn auffangenden Verständnisrahmens fast zum Scheitern verurteilt war. Umso mehr kann man Bewunderung für den Mut und auch das Engagement aufbringen, mit welchem Paracelsus dieser ihm so ungünstigen Zeit trotzte. Ungünstig war ihm die Zeit gewogen angesichts der gewaltigen Gegenströmungen, denen er ausgesetzt war und die auch heute noch kräftig nachwirken. Die stärkste dieser Gegenströmungen ist zum einen die der platonischen Philosophie und zum anderen diejenige, die ein Jahrhundert nach Paracelsus das abendländische Denken auf Stromlinie brachte, der Substanzen-dualismus von René Descartes. Beide Denker, Platon und Descartes haben das Ihre dazubeigetragen, dass das Verständnis für eine Leibvorstellung weitgehend verloren gegangen ist; wie kann es da wundern, dass Paracelsus oft nicht verstanden wurde. Aber es ist ja nicht so, dass Paracelsus gar nicht verstanden worden wäre. Er wurde umso mehr verstanden je weniger die Menschen von diesen besagten Denkströmungen überspült waren, also beispielsweise Bauern, Barbiere und Hebammen. Schauen wir uns im Folgenden die kulturelle Wirkung dieses Denkens an. Die erste und auffälligste Wirkung ist die, dass wir heute kaum noch wissen, was mit dem Begriff Leib gemeint ist, das ist zumindest dann der Fall, wenn wir uns innerhalb der Philosophie mit dem Thema beschäftigen wollen: Der Leib ist nämlich mittlerweile so weit ins Dunkel gerückt, dass, wenn in einem philosophischen Gespräch die Rede auf den Leib kommen soll, er zunächst aus dem Dunkel wieder ans Licht gebracht werden muss. Dem philosophischen Gespräch ist der Leib also weitgehend entrückt, ganz im Unterschied zum Alltagsgespräch. Hier hatte der Leib bis vor Kurzem noch einen festen Heimplatz. Zwar rückt er auch hier unverkennbar in den Hintergrund, aber der Prozess ist noch nicht so weit vorangeschritten, als das wir nicht mehr verstünden, wovon die Rede ist. So gilt es zwar als etwas altbacken, wenn man von seiner Leibspeise redet, aber wir verstehen, was das ist, nämlich ein Gericht, das einem ganz besonders gut schmeckt. Und wir verstehen natürlich auch, wenn jemand von seinem Leibarzt spricht, – obwohl wir kaum glauben, dass er einen solchen hat – und wir staunen nicht schlecht, wenn uns jemand erzählt, dass er neuerdings nur noch mit Leibwächter aus dem Hause geht. Diese und weitere Redeweisen im Zusammenhang mit dem Leib sind nicht mehr gerade en vogue, aber immerhin doch noch verständlich.
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Andreas Brenner
In der Philosophie bedarf die Rede vom Leib hingegen einer Vorverständigung. Wir wollen uns daher einmal auf den Weg der Rekonstruktion des Leib-Begriffs machen. Als erste Station machen wir dabei Halt bei Edmund Husserl. Von Husserl stammt eines der in der Philosophie so raren empirischen Experimente. Es ist dies das Experiment der Doppelempfindung. Das Experiment ist von bestechender Einfachheit. Alles was man dazu braucht, sind die eigenen beiden Hände. Die Versuchsanleitung sieht dabei wie folgt aus: Man drücke mit der einen Hand die andere Hand. Was geschieht bei diesem in der Tat einfachen Experiment? Die drückende Hand erfährt in eben dem Maße, in dem sie Druck ausübt auf die, sagen wir, linke Hand, Druck von der rechten Hand. Mit naturwissenschaftlicher Präzision beschreibt dies Husserl wie folgt: „Die lokal verschiedenen Daten ‚berühren‘ sich, ‚decken‘ sich, ohne sich zu verdecken.“5 Dass diese Daten sich nicht „verdecken“ ist wichtig, geschähe dies nämlich, so würde derjenige, der mit der einen Hand seine andere Hand berührt, lediglich zwei getrennte Wahrnehmungen haben: in der rechten Hand die durch den Druck der linken begründete Wahrnehmung dieses Drucks und in der linken Hand die Wahrnehmung des durch den eigenen Druck ausgelösten Gegendrucks. Nicht jedoch diese beiden Wahrnehmungen meint Husserl, wenn er von Doppelempfindung spricht. Gemeint ist das Dritte, das über die beiden separaten Empfindungen hinausgeht. Während der beiden separaten Empfindungen – Druck der linken und Druck der rechten Hand – entsteht durch die „Berührung“ der beiden jeweils getrennt konstituierten Datenfelder der jeweiligen Einzelempfindungen eine Deckung, die Husserl mit dem Begriff der Doppelempfindung bezeichnet. Dieses Neue, dass sich mittels der beiden Separat-Empfindungen konstituiert, das ist das Leibliche. Das taktile Moment der wechselweisen Berührung unserer Hände hat nämlich die Vorstellung ans Tageslicht unseres Bewusstseins gebracht, dass wir nicht aus bloßen „Dingen“, – das wäre die Ebene des „Körpers“ –, bestehen, sondern dass da noch etwas anderes ist. Diese Erfahrung vermittelt nun den Eindruck, dass der Leib dasjenige sei, das erst durch die Berührung sich konstituiert. Und genau dieser Meinung ist Edmund Husserl. Und genau hier zeigen sich sowohl Verdienst wie Versäumnis Husserls. Es ist ein großes Verdienst Husserls den Leib nach der Jahrhunderte zählenden Leibvergessenheit wieder ans Tageslicht geholt zu haben. Es ist ein Versäumnis, den Leib dabei in konstitutiver Abhängigkeit vom Moment des Taktilen zu begreifen. Warum? Es stellt eine Verkürzung dar, wenn man so tut, als könne sich der Leib nur taktil konstituieren. _____________ 5
Edmund Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß. Dritter Teil, Hua XV, Den Haag 1973, S. 297.
Leib, Leben, Bioethik
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Den Leib selbst zur Sprache zu bringen, ist in der Gegenwartsphilosophie daher nicht das Verdienst Edmund Husserls, sondern seiner Nachfolger. Ich nenne hier nur drei, Maurice Merleau-Ponty, Michel Henry und Hermann Schmitz. Alle drei Autoren haben Außerordentliches geleistet, um den LeibBegriff zu rekonstruieren und ich möchte die These wagen, dass insbesondere das Werk von Henry und Schmitz, die erst seit wenigen Jahren in einer breiteren philosophischen Öffentlichkeit diskutiert werden, noch einen wichtigen Beitrag zur Zentrierung einer zunehmend haltlos gewordenen Kultur leisten werden. Um zu verdeutlichen, wie der Leib zur Sprache gebracht wird und wie dadurch der Unterschied zum Körper markiert wird, will ich im Folgenden auf die Leibphilosophie von Hermann Schmitz eingehen.
Hermann Schmitz’ Leibphilosophie Hermann Schmitz, 1928 geboren, hat als Professor an der Universität in Kiel seit den Sechzigerjahren eine eigenständige Leibphilosophie vorgelegt. Sein umfangreiches Werk wurde bis vor wenigen Jahren in Kreisen der akademischen Philosophie so gut wie nicht wahrgenommen. Schmitz, ein Randgänger der Philosophie, hat den langen Winter seiner philosophischen Nicht-Beachtung außerhalb der Philosophie verbracht, nämlich im Bereich der therapeutischen Wissenschaften, wo Schmitz bereits seit vielen Jahren rege rezipiert wird. Bereits ein Kerngedanke aus Schmitz’ Leibphilosophie mag seine Theorie verdeutlichen: das leibliche Spüren. Wir vermögen demnach auch ohne taktile Außenstimulation, sei es durch den Druck der anderen Hand oder den Widerstand, den wir in der auf der Tischplatte liegenden Hand verspüren, eine Wahrnehmung des Leibes zu haben. Wir spüren, wenn wir genau hinhorchen, unseren Leib, ohne, dass er von außen stimuliert wird; wir spüren ihn also von innen heraus. So spüren wir „unseren Leib“, wenn wir ihn denn spüren, vor allem in konkreten Regionen verdichteter Wahrnehmung: Diese Regionen bezeichnet Schmitz als Leibesinseln.6 Die Topographie dieser Inseln ergibt keine geschlossene Oberfläche, sondern markiert die Gebiete, die aus dem Meer weitgehender Wahrnehmungsneutralität herausragen. Und in dieser Beschreibung der Wahrnehmung wird auch bereits die Differenz, die zwischen der Körper- und der Leibvorstellung herrscht, deutlich. Der Körper-Begriff ist ein Begriff _____________ 6
Hermann Schmitz, Der Unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie. Bonn 1990, S. 115–120.
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der Außenzuschreibung, der Leib-Begriff primär ein Begriff der Innenwahrnehmung. Wir können unseren Leib spüren, wenn wir ihn denn spüren können. Es ist aber gar nicht so leicht, seinen Leib zu spüren: Zweieinhalb Jahrtausende Vorstellungsgeschichte haben die Leibwahrnehmung dramatisch schrumpfen lassen. Will man sich auf allgemeiner Ebene über den Leib verständigen, so bieten sich denn dazu, wie Schmitz empfiehlt, vor allem zwei Quellen an: die Epen Homers und die Reste der von der Theorie noch nicht okkupierten Alltagssprache. Die Epen Homers markieren, wie Schmitz verdeutlicht, eine Empfindungsweise wie sie bis zum Auftreten der rationalistischen Reduktionswelle in Form der Heraklitisch-Platonischen Philosophie anzutreffen war. Und das bedeutet, dass hier die Trennung von Physis und Psyche noch nicht vollzogen ist: Beide, Physis und Psyche, kommen in den Gliedern des Körpers vor und sind nicht strikt getrennt, sondern in fließendem Übergang. Will man sich dieses „Leibgefühl“ mit modernen Begriffen verständlich machen, so denke man etwa an die alltagssprachlichen Redeweisen vom „Schreck, der einem in die Glieder fährt“, oder an „die (seelische) Last, an der man schwer trägt“. In der Ilias des Homer finden wir zahlreiche Beschreibungen dieser Art, so etwa die von Andromache, der Gemahlin des Hektor.7 Andromache erwartet ihren Gemahl siegreich als Held aus der Schlacht gegen Achilleus zurück: Doch mit einem Schlag, noch bevor ihr Boten die Todesnachricht gebracht haben, ist es um Andromache geschehen und sie weiß um den Tod ihres Geliebten und sie ruft aus: „Mir selbst klopft das Herz in der Brust zum Mund hinaus, unten die Kniee sind erstarrt.”8 Ihr ganzes Leid erlebt Andromache nicht etwa seelisch, sondern in ihrem gesamten Leib: Von den Knieen, also von unten her, ist ihr Leib bereits wie zu Eis erstarrt und stößt nach oben aus Brust und Mund das heraus, was an Leben noch in ihr ist. Gerade wenn man den Sinn dieser Reden ernst nimmt und das heißt, sie nicht als metaphorische begreift, dann offenbart sich einem hier eine Leibvorstellung, die sich radikal unterscheidet, von der Körpervorstellung, wie sie mit Platon auf die Bühne des abendländischen Denkens tritt und die sich dann bis zur mageren res extensa-Vorstellung eines René Descartes ausdünnt. Die bei Heraklit bereits vorbereitete und von Platon dann durchgesetzte Scheidung von Physis und Psyche markiert Bruno Snell als die Schwelle hin zum europäischen Denken. Den Preis dieses Denkens haben _____________ 7 8
Ich folge hier Hermann Schmitz, Situationen und Konstellationen. München 2005, S. 138 ff. Homer, Ilias 22, 451–453.
Leib, Leben, Bioethik
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wir mittlerweile kennengelernt: er besteht in einer Einschrumpfung des Leibes auf Körperformat. Diese Trennung ist indes nicht unumkehrbar abgeschlossen, der Wechsel zwischen den beiden Bereichen bleibt möglich, wie Snell an folgenden Sätzen deutlich macht: „Er trägt Gedanken an seine Geliebte im Herzen“, oder: „Er hat nichts als Rache im Kopf“.9 In beiden Fällen wird die ansonsten als fest angesehene Scheidung des Kopfes als Sitz der Gedanken und des Herzens als Sitz der Gefühle ohne tief greifende Verständnisschwierigkeiten aufgehoben. Dennoch ist unser diesbezügliches Reden mittlerweile zur Ausnahme geworden: Die vom platonischen Rationalismus ergriffenen Menschen hat, wie man es mit einer Bemerkung Helmuth Plessners sagen kann, eine große Ernüchterung gepackt.10 Die ernüchterten Menschen, das sind die erwachsensen Personen, zeichnen sich durch die Fähigkeit zur Selbstreflexion aus. Das Subjekt ist nach moderner Vorstellung eines, das zur Selbstreflexion in der Lage ist. Wie gravierend die Leib-Verdrängung ist, sieht man auch hier: Der reflexive Selbst-Begriff verfehlt sich selbst, wenn er von dem Selbstverständnis ausgeht, dass das Selbst erst in der Reflexion zu sich selbst komme. Die Leibvorstellung erweist sich ja gerade als eine solche, die ohne jede reflexive Windung ihrer selbst vermittelt ist. Wir können daher von einem präreflexiven Subjekt sprechen. Schauen wir zum Beleg dieser Tatsache auf den Schmerz, auf den Hermann Schmitz wiederholt verweist: Der Schmerz stellt eine Erfahrung dar, an deren Existenz man eigentlich nur so lange zweifeln kann, wie es nicht der eigene ist. Dann aber ruft aus dem schmerzumwundenen Leib eigentlich alles nach einem „Weg!“ Die Fluchtbewegung, zu der der Schmerz drängt, lässt sich im Ernst nicht übersehen: Wer Schmerzen leidet, der mag zwar versucht sein, sich wegzuwünschen und wegzudenken, aber es will ihm ja nicht gelingen. Wer Schmerzen leidet, der ist aufs Nachdrücklichste vom Leiben des Leibes überzeugt. Das „Leiben des Leibes“, diesen Ausdruck prägt Martin Heidegger während seiner Ärzteseminare in Zollikon,11 vermittelt eine Gewissheit des Leibes, die an Selbstgewissheit grenzt.
_____________ 9 10 11
Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entdeckung des europäischen Denkens bei den Griechen. Göttingen 1975, S. 21. Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. In, ders.: Gesammelte Schriften Bd. IV. Frankfurt/M. 1981, S. 374. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare. Frankfurt/M. 1987, S. 113.
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Die Lehre aus dem Leib-Denken Auf theoretischer Ebene ist es die Einsicht in die präreflexive Selbststruktur des Menschen, auf praktischer Ebene sind es die leibbezogenen Redeweisen, wie beispielsweise der von einer „Last an der man schwer trägt“, welche deutlich machen, dass sich unsere Identität aus der des Leibes speist und von dieser nicht loszulösen ist. Die Bedeutung des Leibes für die Identität der Person möchte ich als so überragend bezeichnen, dass sie auch ein zentrales und ausgesprochen prominentes Konzept der Moderne in den Schatten stellt, nämlich das der Autonomie. Ikonenhaft finden wir dies bei Immanuel Kant: „Die Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller moralischen Gesetze“, sagt Kant und fährt mit der Behauptung fort, dass „… das moralische Gesetz nichts anderes ausdrückt, als die Autonomie der reinen praktischen Vernunft, d.i. der Freiheit.“12 Das Konzept der Autonomie, wie es seither den gesellschaftlichpolitischen Diskurs bestimmt, hat zweifelsohne eine mit Recht große Bedeutung erlangt. So macht die Vorstellung der Autonomie erst ethisches Handeln verständlich: Autonomie im Sinne von Freiheit ist die Voraussetzung für ethisches Handeln, nur weil wir autonom Handelnde sind, sind wir daher auch verantwortlich. Die Bedeutung des Autonomie-Konzepts für die Ethik ist also unbestritten. Dennoch sollte man den Versuchen entgegentreten, die Bedeutung der Autonomie zu überdehnen, wie dies bisweilen gerade in der Medizinethik zu beobachten ist. Exemplarisch kann man dies an dem international maßgeblichen Lehrbuch der Bio- und Medizinethik, den „Principle of Biomedical Ethics“ von Tom Beauchamp und James Childress sehen. Dieses Werk, das erstmals 1979 erschien und seither international die EthikAusbildung in Medizin- und Pflegeberufen bestimmt, gründet die Medizinethik auf die folgenden vier Prinzipien: Achtung der Autonomie, Nichtschädigungsgebot, Wohlwollensprinzip und Gerechtigkeitsprinzip.13 Das erste Prinzip ist mittlerweile unter dem Begriff der Patienten-Autonomie sehr stark ausgebaut worden, was die Verrechtlichung der Medizin vorangetrieben hat und zugleich die Patienten gestärkt hat. Erwachsene Patienten und in advokatorischer Vertretung auch rechtsunmündige Patienten können unter Berufung auf das AutonomiePrinzip über Ziel und Grenzen der Behandlung bestimmen. Dies ist selbstverständlich eine zu begrüßende Entwicklung. Dennoch erscheinen die vier genannten Prinzipien aus leibphilosophischer Perspektive defizi_____________ 12 13
Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft. In, ders.: Werkausgabe Bd. VII, Frankfurt/M. 1974, S. A 59. Tom L. Beauchamp/James F. Childress, Principles of Biomedical Ethics. New York 1994.
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tär. Die Anerkennung der Autonomie stellt doch eigentlich eine absolute Selbstverständlichkeit im Rahmen einer modernen Gesellschaft dar. Das sieht man schon daran, dass ein Verstoß gegen das Autonomie-Prinzip auch bereits bevor dieses zu einem bioethischen Prinzip erklärt wurde, rechtlich hätte sanktioniert werden können. Man erkennt daran, wie tief greifend der, vor allem von Kant entworfene, Autonomie-Gedanke die Gesellschaft geprägt und durchdrungen hat, und es gibt keinen Grund, diese Entwicklung zurückschrauben zu wollen. Zu einem solchen regressiven Versuch gäbe es deshalb im wahrsten Sinne keinen Grund, weil sich dies nur mit und aus Autonomie tun ließe. Die Vorstellung der Autonomie, welche identisch mit der des reflexiven Selbst ist, lässt sich also nicht widerspruchsfrei aufheben. Die hier noch einmal bekräftigte Bedeutung der Autonomie bedeutet aber nicht, dass die Autonomie nicht ihrerseits Voraussetzungen und Vorbedingungen hat, welche in dem Autonomie-Konzept unaufgeklärt bleiben. Und gerade hier kommen wir auf die Leib-Theorie zurück. Der Leib bildet eine präreflexive Subjektivität. Für diese präreflexive Subjektivität möchte ich anstelle des etablierten Begriffs der Autonomie den der Authentizität vorschlagen.14 Den Leib ernst nehmen, bedeutet, die leibliche Authentizität anerkennen. Die Verletzung der Ehre des Menschen beginnt nicht erst damit, dass sein Leib geschändet wird, die Verletzung des Menschen Ehre setzt bereits früher an: Das Übersehen der Leiblichkeit des Menschen, das sich im dominanten Körper-Diskurs zum Ausdruck bringt, stellt die erste Entwürdigung des Menschen dar. Der Körper-Diskurs als Gegenprogramm zur Phänomenalität der Leiblichkeit spaltet, wie wir gesehen haben, den Menschen auf: Diese Aufspaltung stellt den ersten Angriff auf die Integrität des Menschen dar und bedeutet darin seine erste Verletzung. Die Weigerung, den Menschen als leibliches Wesen anzuerkennen, erweist sich damit auch als die Basis ihn vollkommen der technischen Verfügbarmachung auszustellen. Die wissenschaftlich-technologische Mobilmachung der letzten drei Jahrhunderte ist daher auch nur denkbar vor diesem Hintergrund verweigerter Leiblichkeit. Die Wiedererinnerung der Leiblichkeit ist daher geeignet, einen kulturellen Wandel einzuleiten. Die neue Kultur ist eine, die sich durch ein hohes Maß an Wahrnehmung auszeichnet. Die Wahrnehmung ist in dieser Kultur deshalb geweitet, weil sie die leiblichen Wahrnehmungs- und Entfaltungsmöglichkeiten nicht unterdrückt, sondern zur Sprache kommen lässt. Damit öffnet sich auch der Raum, in dem Heilung stattfinden kann. _____________ 14
Vgl. Andreas Brenner, Bioethik und Biophänomen. Den Leib zur Sprache bringen. Würzburg 2006, S. 241 ff.
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Paracelsus ist diesen Weg ganz offensichtlich gegangen: er redet vom Schwitzen, er kennt das „Feiste“, „den Schmerz“, „das Blut“, „das Mark“, welche für ihn die Kraft des Leibes zum Ausdruck bringen.15 Wenn Paracelsus, wie es in seiner Zeit guter Brauch war, das „Schröpfen“ und „zur Ader lassen“ empfiehlt, so versteht er solche Maßnahmen nie allein isoliert, sondern immer im Zusammenhang der Eigenkraft des Organismus, oder eben des Leibes.
_____________ 15
Große Wun, S. 395.
Autorenverzeichnis Prof. Dr. Wolfgang Beutin hat 1963 an der Universität Hamburg promoviert und wurde 1996 an der Universität Bremen habilitiert. Von 1971 bis 1999 war er Dozent an der Universität Hamburg. Im Jahr 1973 hatte er zudem eine Gastprofessur an der Universität Göttingen inne und war als Gastdozent an der Universität Oldenburg. Seit 1996 ist er Privatdozent an der Universität Bremen. Forschungsschwerpunkte Mystik, Geschichte der erotischen Literatur und die Psychoanalyse. Wichtige Publikationen Literatur und Psychoanalyse, München 1972 – Zur Geschichte des Friedensgedankens seit Immanuel Kant, Hamburg1996 – ANIMA. Untersuchungen zur Frauenmystik des Mittelalters, 3 Bde., Frankfurt am Main 1997/99 – Sexualität und Obszönität, Würzburg 1990 – Aphrodites Wiederkehr. Beiträge zur Geschichte der erotischen Literatur von der Antike bis zur Neuzeit, Frankfurt am Main 2005.
PD Dr. Andreas Brenner studierte Philosophie in Bonn und Zürich und promovierte anschließend in Basel. Von 1994 bis 1999 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Potsdam, anschließend bis 2000 Mitglied im Graduiertenkolleg des „Interfakultären Zentrums für Ethik in den Wissenschaften“ der Universität Tübingen. Seit 2000 hat er Lehraufträge an den Universitäten St. Gallen, Freiburg, Fribourg und der FHNW Basel und Aarau. Seit 2006 ist er Privatdozent an der Universität Basel. Er ist Mitglied der Ethikkommission der Schweizerischen Akademie für Naturwissenschaften. Forschungsschwerpunkte Angewandte Ethik, Politische Ethik, Phänomenologie. Wichtige Publikationen Leben. Grundwissen Philosophie. Stuttgart: Reclam 2009 – Umweltethik. Ein Lehrund Lesebuch. Fribourg: Academic Press 2008 – Bioethik und Biophänomen. Den Leib zur Sprache bringen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006 – Tiere beschreiben. (Hg.). Erlangen: H. Fischer 2003 – Lexikon der Lebenskunst. (zusammen mit J. Zirfas). Leipzig: Reclam 2002.
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Prof. Dr. Albrecht Classen studierte an den Universitäten Marburg, Erlangen, Millersville, PA (USA), Oxford (Großbritannien), Salamanca (Spanien), und Urbino (Italien). Im Jahr 1986 promovierte er zum Doktor der Germanistik an der University of Virginia. 1987 ging er an die University of Arizona, wo er heute als Professor für „German Studies“ tätig ist. Forschungsschwerpunkte Literatur-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte des Mittelalters und der Frühneuzeit, Frauenliteratur und Geistesgeschichte. Wichtige Publikationen Deutsche Schwankliteratur des 16. Jahrhunderts, 2009 – Sexuality in the Middle Ages and Early Modern Times, ed., 2008 – The Power of a Woman’s Voice in Medieval and Early Modern Literature, 2007 – The Medieval Chastity Belt: A The Myth-Making Process, 2007 – Der Liebes- und Ehediskurs vom hohen Mittelalter bis zum frühen 17. Jahrhundert – Verzweiflung und Hoffnung. Die Suche nach der kommunikativen Gemeinschaft in der deutschen Literatur des Mittelalters, 2002. Auszeichnungen, Ehrungen und Preise Five Star Faculty Award, 2009 – Henry & Phyllis Koffler Prize for outstanding accomplishments in Research/Scholarship/Creative Activity, 2008 – Excellence in International Education and Service Award, 2007 – AATG Outstanding German Educator Award, 2006 – Distinguished Undergraduate Advising/Mentor Award, 2005 – Bundesverdienstkreuz am Band, 2004 – University Distinguished Professor, 2004.
Hon.-Prof. Dr. habil. Peter Dinzelbacher studierte Geschichte, Kunstgeschichte, Philosophie, Völkerkunde und Klassische Philologie an den Universitäten Graz und Wien und promovierte 1973 an der Universität Wien mit der Arbeit „Die Jenseitsbrücke im Mittelalter“. 1978 folgt die Habilitation für mittlere und alte Geschichte an der Universität Stuttgart. Seit 1988 ist er Honorarprofessor für Sozial- und Mentalitätsgeschichte an der Universität Wien und Herausgeber der internationalen Zeitschrift „Mediaevistik“ zur interdisziplinären Mittelalterforschung. Forschungsschwerpunkte Mentalitätsgeschichte, Mystik und Religiosität, Visionsliteratur, Frauen-, Kultur- und Sozialgeschichte des Mittelalters. Wichtige Publikationen Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum, I u. II, Paderborn 2000/2009 – Europa im Hochmittelalter 1050 – 1250. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte, Darmstadt 2003 – Das fremde Mittelalter. Gottesurteil und Tierprozeß, Essen 2006 – Unglaube im „Zeitalter des Glaubens“. Atheismus und Skeptizismus im Mittelalter, Badenweiler 2009. Auszeichnungen, Ehrungen und Preise Mystik-Preis der Theophrastus Stiftung
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Dr. med. dipl. Math. ETH Urs Leo Gantenbein studierte an der ETH Zürich Mathematik und Physik und erhielt 1983 sein Diplom für das Höhere Lehramt zur Wahlberechtigung an Schweizer Gymnasien. Im Anschluss studierte er an der Universität Zürich Humanmedizin und promovierte 1992 zum Doktor der Medizin. Seit 1994 unterrichtet er an der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich. 1995 erhielt er den Facharzt für Allgemeinmedizin. Von 1999 bis 2003 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Medizinhistorischen Institut der Universität Zürich, danach freier Mitarbeiter. 1998 gründete er das „Zürcher ParacelsusProjekts“ zur Bewältigung anstehender Aufgaben der Paracelsus-Forschung, ist seitdem Vorstandsmitglied der Schweizerischen Paracelsus-Gesellschaft (SPG), war dort von 2000 bis 2007 Co-Präsident und Vize-Präsident der Internationalen ParacelsusGesellschaft. Forschungsschwerpunkte Paracelsus, Paracelsismus, Alchemie, Medizin des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Herausgeber der Neuen Paracelsus-Edition. Wichtige Publikationen Der Chemiater Angelus Sala, 1992 – Schwitzkur und Angstschweiss. Praktische Medizin in Winterthur seit 1300, 1996 – Paracelsus. Der Komet im Hochgebirg von 1531, 2006 – Paracelsus, Vita Beata, Neue Paracelsus-Edition Bd.1, 2008 – Zahlreiche Fachartikel zu Paracelsus.
Prof. Dr. Johannes Grabmayer studierte an der Universität Klagenfurt Geschichte und Germanistik und promovierte 1986 zum Doktor der Philosophie. In den folgenden Jahren war er Assistent am Institut für Geschichte an der Universität Klagenfurt und erlangte 1996 seine Habilitation. Seitdem ist er Dozent für Geschichte des Mittelalters am Institut für Geschichte an der Universität Klagenfurt. Forschungsschwerpunkte Kulturgeschichte (Geschichte der Mentalitäten, Geschichte des Alltags, Historische Anthropologie, Frömmigkeitsgeschichte, Adelsforschung), Wissenschaftstheorie. Wichtige Publikationen Volksglauben und Volksfrömmigkeit im spätmittelalterlichen Kärnten. Wien-KölnWeimar 1994 – Zwischen Diesseits und Jenseits. Oberrheinische Chroniken als Quellen zur Kulturgeschichte des späten Mittelalters. Köln-Weimar-Wien 1999. – Erfragt und gestaltet. Was ich schon immer über das Mittelalter wissen wollte. Klagenfurt 2002. – Europa im späten Mittelalter 1250 – 1500. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Darmstadt 2004 – Hg. österreichische Historische Bibliographie. Graz 2004 ff. Auszeichnungen und Ehrungen Förderungspreis des Landes Kärnten für Wissenschaft, 1992.
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Dr. Werner Heinz studierte Theologie, Archäologie, Vor- und Frühgeschichte und Kunstgeschichte. In den Jahren 1979 bis 1982 war er vom Landesdenkmalamt Baden-Württemberg mit Forschungen, Grabungen und Vorarbeiten zur Konservierung der römischen Thermenruine von Badenweiler beauftragt. Seit 1983 arbeitet er als freiberuflicher Archäologe mit eigenen Forschungen, Gastvorlesungen, Aufsätzen und Büchern sowie der Begleitung von Studienreisen. Forschungsschwerpunkte Architektur und Balneologie antiker Bäder; Symbolhaftigkeit in der Architektur und der Kulturgeschichte; naturwissenschaftliche Methoden in der Archäologie und der Kunstgeschichte; das frühe Christentum in seiner Geschichte. Wichtige Publikationen Römische Thermen: Badewesen und Badeluxus im römischen Reich, 1983 – Reisewege der Antike, 2003 – Der Aufstieg des Christentums: Geschichte und Archäologie einer Weltreligion, 2005 – Musik in der Architektur: Von der Antike zum Mittelalter, 2005 – P. Dinzelbacher – W. Heinz, Europa in der Spätantike 300 – 600, 2007.
Dr. Peter Mario Kreuter war von 2001 bis 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Wolf-Dieter Lange an der Universität Bonn. Anschließend für zwei Jahre an der Universitäts- und Landesbibliothek in Bonn und betreute dort die „Virtuelle Fachbibliothek Romanistik“. Von 2005 bis 2008 war er tätig am Medizinhistorisches Institut der Universität Bonn. Heute ist er am Südost-Institut Regensburg Redakteur der Zeitschrift „Südost-Forschungen“. Forschungsschwerpunkte Phanariotenherrschaft in den Donaufürstentümern (1711 – 1821), Paracelsus und der Einfluss von Volksmagie und Hexenglauben auf sein Werk, Südosteuropäischer Volksglaube an Dämonen, speziell Vampire; Hexen und Hexenverfolgung, speziell im Donauraum; Nationalhymnen. Wichtige Publikationen Der Vampirglaube in Südosteuropa. Studien zur Genese, Bedeutung und Funktion. Rumänien und der Balkanraum. Berlin: Weidler 2001 – Vom „üblen Geist“ zum „Vampyr“. Die Darstellung des Vampirs und seines kulturellen Hintergrunds in den Berichten österreichischer Militärärzte zwischen 1725 und 1756, in: Poetische Wiedergänger. Deutschsprachige Vampirismus-Diskurse vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. von Julia Bertschik und Christa Tuczay. Tübingen: Francke 2005, 113–127 – Alte Schläuche für neuen Wein? Die Hofkultur der Phanarioten – jenseits von Norbert Elias, in: Studia Universitatis Babeş-Bolyai 51, 4, 2006, 137–152 – The Role of Women in Southeast European Vampire Belief, in: Women in the Ottoman Balkans. Hg. von Amila Buturovic und Irvin Cemil Schick. London: I. B.
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Tauris 2007, 231–241 – „... sondern weiter gwandert durch Ungern, Walachi, Sibenbürgen ...“ Zum Stand der bisherigen, auf Siebenbürgen bezogenen Paracelsusforschung, in: Forschungen zur Volks- und Landeskunde 50, 2007, 147– 157.
Dr. Pirmin Meier studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte an der Universität Zürich und promovierte mit einer Arbeit über Reinhold Schneider. Heute unterrichtet er an der Kantonsschule Beromünster die Fächer Deutsch, Philosophie, Religionskunde und Ethik. Wichtige Publikationen In seinen Publikationen bewegt er sich zwischen der Belletristik und der Wissenschaft, meist darum bemüht, psychologisch das Innenleben seiner untersuchten Personen zu eruieren. Er veröffentlichte Bücher über Reinhold Schneider (1972 und 1978), Joseph Victor von Scheffel (1986), Paracelsus (1993), Klaus von Flüe (1997) und Eduard Spörri (2001), neben einer Reihe von primär literarischen Werken und reflexiven Essays.
Prof. Dr. med. Dr. phil. Heinz Schott studierte zunächst Medizin an der Universität Heidelberg, der University of Glasgow (Royal Infirmary) und der TU München. 1974 promoviert er am Pathologischen Institut der Universität Heidelberg und erhielt 1975 seine Approbation als Arzt. 1992 beginnt er das Studium der Philosophie im Hauptfach an den Universitäten München und Heidelberg und promoviert 1977 am Philosophischen Seminar der Universität Heidelberg. Von 1978 bis 1987 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Medizin an der Universität Freiburg im Breisgau. Im Jahr 1982 folgen die Habilitation und die Venia legendi für das Fach Geschichte der Medizin an der Universität Freiburg und schließlich 1983 die Ernennung zum Professor. Seit 1984 ist er Professor (C4) für Geschichte der Medizin und Leiter des Medizinhistorischen Instituts der Universität Bonn. Seit Oktober 2008 ist er freigestellt für ein Opus magnum-Projekt im Rahmen der Förderinitiative „Pro Geisteswissenschaften“ (Fritz Thyssen Stiftung und VolkswagenStiftung) mit dem Thema: Magie der Natur: Zur Ideengeschichte neuzeitlicher Medizin. Forschungsschwerpunkte Medizinische Anthropologie in Geschichte und Gegenwart, Geschichte der Psychiatrie, Psychotherapie und Psychoanalyse, Medizin zwischen Aufklärung und Romantik (insbesondere Mesmerismus), Medizin in Renaissance und früher Neuzeit (insbesondere Paracelsismus). Wichtige Publikationen Franz Anton Mesmer und die Geschichte des Mesmerismus. Beiträge zum Internationa-
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len Wissenschaftlichen Symposion anläßlich des 250. Geburtstages von Mesmer, 10.- 13. Mai 1984 in Meersburg. Stuttgart: Steiner 1985 – Zauberspiegel der Seele. Sigmund Freud und die Geschichte der Selbstanalyse. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1985 (überarbeitete Fassung der Habilitationsschrift Freiburg im Breisgau 1982) – Die Chronik der Medizin. Unter Mitarbeit von Ingo Wilhelm Müller [...]. Übersichtsartikel und fachliche Beratung: Johanna Bleker [...]. Dortmund: Chronik Verlag 1993 – Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren – Irrwege – Behandlungsformen. München: C. H. Beck 2005 – Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin. Unter Mitarbeit von Ralf Forsbach. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2008 (UTB 2915). Auszeichnungen, Ehrungen und Preise Justinus-Kerner-Preis der Stadt Weinsberg (2002) – Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina (seit 2003).
Dr. Matthias Vollmer studierte Kunstgeschichte, Philosophie und Orientalistik an der FU Berlin und wurde mit einer Arbeit über mittelalterliche Buchmalerei im Fach Kunstgeschichte promoviert. Er ist als Lehrbeauftragter im European Studies Programm der Freien Universität Berlin tätig. Die Lehrtätigkeit umfasst interdisziplinäre Kurse zur Kunst- und Kulturgeschichte des Mittelalters, der Renaissance und der Moderne. Gegenwärtig beschäftigt er sich mit den wissenserzeugenden Korrelationen von Bildern, Diagrammen und Texten in den Enzyklopädien des Mittelalters und der Renaissance. Forschungsschwerpunkte Wissenserzeugende Korrelationen von Bildern, Diagrammen und Texten in den Enzyklopädien des Mittelalters und der Renaissance; Farbenlehren. Wichtige Publikationen Fortuna Diagrammatica. Das Rad der Fortuna als bildhafte Verschlüsselung der Schrift De Consolatione Philosophiae des Boethius, Frankfurt 2009 – „Der Trost im Blick – der Text im Kopf. Das Rad der Fortuna als textsubstituierendes Zeichen“ in: Reinhold F. Glei / Franz Lebsanft / Nicola Kaminski (Hg.): Boethius Christianus? Zur Rezeption der Consolatio Philosophiae in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin 2009 – Philosophie und Theologie des Averroes. Übersetzt von J. Müller. Mit einem Nachwort von M. Vollmer, Weinheim 1991, S. 143–181 – Hermes Trismegistos. Poemander oder von der göttlichen Macht und Weisheit, in der Übers. von D. Tiedemann, hgvon M. Vollmer. Mit einer Einleitung von M. Vollmer, Hamburg 1990, S. VII-XXVII.
Register Adelung, Johann Christoph 18, 201 Adorno, Theodor W. 22, 53 Agricola, Georg 35 Agrippa von Nettesheim 23, 36, 44, 153 al-Ma’mun, Kalif 156 al-Mansur, Kalif 156 Albert der Groß 177 Alfanus von Salerno 157 Andersen 26 Andry, Charles-Francois 220 Apostata, Julian, Kaiser 53 Aristoteles 175, 177 Aurel, Marc, Kaiser 122 Averroes 157, 244 Avicenna 4, 48, 157 Behaim, Michael 46 Benedikt von Aniane 154 Benedikt von Nursia 154 Berengario di Carpi 165 Bernus, Alexander von 225 Berthold von Regensburg 39, 124 Binswanger, Hans Christoph 179–180 Blannbekin, Agnes 30 Bodenstein, Andreas 142 Böhme, Jakob 5 Botticelli 168 Browning 47 Bruhin 47 Bruno, Giordiano 54, 134 Bugenhagen, Johannes 73 Bullinger, Heinrich 11, 65 Burchard von Worms 32, 38
Burckhardts, Jacob 46 Cassian 30 Christian I., König 33 Cicero 44, 121, 123 Constantinus Africanus 157 Descartes, René 20, 221, 234 Dietrichepik 33, 39 Dr. Johann Fausten 12, 53 Dürer, Albrecht 40 Epiktet 122, 125 Erasmus von Rotterdam 40, 193, 209 Fabre d’Olivet 47 Faustus, Johannes 5, 49, 53–54, 63 Feuerbach, Ludwig 96 Ficino, Marsilio 37 Fludd, Robert 223 Fortunatus 10, 52 Fouqué, Friedrich de la Motte 26, 47 Franck, Sebastian 11, 70–71 Froben, Johannes 3 Fugger 166 Galen 8, 16, 152–153,171, 187, 219 Gérard Encausse 23 Giraudoux, Jean 26 Goethe, Johann Wolfgang 21–22, 179 Goliath 34 Grillparzer 26 Grimm 38
246 Guiscard, Robert 157 Gutzkow, Karl 47 Hahnemann 225-226 Hale, John 46 Heidegger, Martin 177, 235 Heine, Heinrich 26 Heinrich II., Kaiser 195 Heinrich III. Gros von Trockau, Bischof 195 Heinrich von Freiberg 31 Hemma von Gurk 194-195 Henry, Michel 233 Heraklit 177, 234 Hermes Trismegistos 146, 244 Hildegard von Bingen 37, 220 Hippokrates 159, 169, 187 Historia der sieben weisen Meister 10 Homer 34, 234 Horckheimer, Max 53 Hrosvita/Roswitha/Hrotsvita 38 Hunain Ibn Ishaq 156 Husserl, Edmund 232–233 Institoris, Henricus/Heinrich Kramer 42, 198 Isidor von Sevilla 36, 156–157,169 Joseph Grünpeck 165 Jud, Leo 11, 66 Jung, C. G 168 Kant, Immanuel 236–237, 239 Karl V., Kaiser 166 Karl VI., König 33 Karl der Große, Kaiser 154–155 Karl der Kahle, König 205 Kawaschnig, Mathias 199 Kieser, Dietrich Georg 19, 219 Kleisthenes 124 Koch, Robert 165 Kolbenheyer, Guido 47
Register Konrad von Megenberg 28, 35–36 Kopernikus, Nikolaus 172 Kunigunde, Kaiserin 195 Lang, Matthäus, Kardinal 72 Leszek II. der Schwarze, Herzog 206 Liek, Erwin 221 Linné, Carl 40 Lothar, König 205 Ludwig der Deutsche, König 205 Ludwig der Fromme, Kaiser 155 Luther, Martin 2, 12, 43, 95, 101, 126, 168, 202, 208, 211 Maier, Michael 143, 224 Maimonides 157 Marx, Karl 106 Maximilian I., Kaiser 42 Melanchthon, Philipp 73 Melusine 26–27, 53 Merian, Matthaeus 143, 224 Merleau-Ponty, Maurice 233 Mesmer, Franz 220, 225, 243 Meyer, Conrad Ferdinand 47 Mithridates VI. Eupator 171 Mönch von St. Gallen 154 Montaigne, Michel de 54, 209 Müntzer, Thomas 69–70 Musaeum Hermeticum 224 Mylphort, Heinrich 214 Nestroy, Johann 47 Niavis, Paulus (Paul Schneevogel) 45 Nikolaus von Polen/von Mumpelier 206 Nithard 204-205 Nostradamus 1, 48 Oberrheinischer Revolutionär 121 Oporinus, Johannes 161–163, 167 Oribasios von Pergamon 153 Papus (siehe Encausse) 23
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Register Perréal, Jean 224 Peter von Staufenberg 27 Pico de la Mirandola 36 Pippin, König 154 Plato 20, 37 Plinius der Ältere 164 Plinius 35 Pound, Ezra 47 Psellos, Michael 37 Pulcheria 197 Quidort, Johannes 123 Reuchlin, Johann 37 Richalm 30 Riemenschneider, Tilman 195 Rufus von Ephesus 152
Trithemius von Sponheim 42 Tschudi, Aegidius 203 Uexküll, Jakob von 221 Ulrich III. von Heunburg 185 Ulrich von Hutten 166 Vadian (Joachim von Watt) 66–67, 76, 181 Virchow, Rudolf 180 Virginal 39 Vitruv 164, 171-172 Weizsäcker, Viktor von 221 Wetti 31 Weyrer, Johannes 161, 163 Wieland, Christoph Martin 18, 47, 202 Wilhelm II. vom Sanngau, Graf 195 Wilhelm Welzer von Eberstein 195 Zwingli, Ulrich 11, 65–66, 72, 75
Sachs, Hans 123 Sachsenspiegel 206 Savonarola, Girolamo 5, 168 Schedel, Hartmann 158 Schinntenperger, Thomas zu Werfen 199 Schmitz, Hermann 20, 233–235 Schnitzler, Arthur 47 Schwabenspiegel 206 Schwenckfeld, Kaspar von 11, 66, 69–71 Seneca 124 Spindler 47 Steiner, Rudol 23 Stricker, Der 32 Studer, Christoffel 179 Suff, Hans 191 Tabula Smaragdina 134 Tacitus 44, 207 Thomas von Cantimpré 131 Thomas Artula von Villach 195 Thomas von Aquin 107, 177 Thouret, Michel-Augustin 220 Thüring von Ringoltingen 26 Trismegistos, siehe Hermes 146, 244