Outópos: Der Entwurf einer freien Welt 9783534274789, 9783534274796, 3534274784

Die Welt ist im Wandel. Entgrenzt durch die Technik formt der Mensch aus ihr eine globale Maschine, in der alles nach sc

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German Pages 352 [353] Year 2022

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Table of contents :
Impressum
Vorwort
Der Mensch als Schöpfer
Die Gegenwart
Agglomerationen
Herrscha
Das Feld der Träume
Der virtuelle Raum des Menschen
e Great Game of Civilization
Perspektiven
Switch!
Die Freiheit des Menschen
Die Säulen der Freiheit
Der Raum des Menschen
Tópos
Transzendenz
Meta
Ad astram
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
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Outópos: Der Entwurf einer freien Welt
 9783534274789, 9783534274796, 3534274784

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Gerhard Martin Burs

Outópos Der Entwurf einer freien Welt

Gerhard Martin Burs

Outópos

 

 

Gerhard Martin Burs

Outópos Der Entwurf einer freien Welt

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar

wbg Academic ist ein Imprint der wbg © 2022 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27478-9 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-27479-6

 

Auch ich bin in Arkadien geboren

Vorwort Die Welt ist im Wandel. Das 21. Jh. offenbart eine Transformation, die wahrscheinlich einzigartig ist in der menschlichen Geschichte. Beflügelt durch die Errungenschaften der modernen Technik verwandelt der Mensch die Welt. Aus dem, was bis vor Kurzem noch Wildnis oder Terra Incognita war, formt sich eine globale Maschine. Eine Welt, gestaltet nach den menschlichen Bedürfnissen und vermessen nach seinen Vorstellungen. Durch die moderne Technik scheint es, als habe sich die Menschheit aus den Fesseln ihrer Beschränkungen gelöst, sich entgrenzt und über die Natur erhoben. Die Zunahme von Erkenntnissen über die Welt durch die moderne, wissenschaftliche Forschung und die weltweite Kommunikation geht dabei Hand in Hand mit einer Zunahme der technischen Gestaltungsmöglichkeiten bei der globalen Transformation von Natur in Kultur. Gleichzeitig erhöhen sich die Spannungen. Die Strukturen der Gegenwart wirken auch auf den Menschen zurück; auf das Subjekt, das einzelne Individuum, das sich ebenfalls zunehmend mit Transformationsprozessen konfrontiert sieht. Nicht nur die Natur wird vermessen und gestaltet, auch der Mensch wird es und er wird Teil einer technisch entgrenzten Welt, die sich von seinem subjektiven Verständnis entfernt und doch auf dieses Subjekt wirkt. Wohin führt uns diese Entwicklung? Und wäre eine Welt denkbar, die nicht auf Spannungen basiert? In der Welt und Mensch, Natur und Kultur sich nicht im Modus eines Gegensatzes begegnen, sondern in der Beziehung innerhalb eines wirklich nachhaltigen Kreislaufs? Und wenn ja – wie müsste diese Welt beschaffen sein? Wie würde sie aussehen? Und wie würde der Mensch in ihr leben? Dies sind die grundlegenden Fragen, denen im Werk Outópos nachgegangen wird. Der Ansatz hierbei ist, dass die technischen und globalkulturellen Entwicklungen der Gegenwart in ihrer konkreten Form zwar recht neu sind, sich aber doch logisch aus der Entwicklungsgeschichte der Menschheit als solcher ergeben. Demnach ist dieses Werk der Versuch, aus einer abstrakten Perspektive spezifische Grundzüge der menschlichen Kultur herauszuarbeiten, die sich als ursächlich für zeitgenössische, globale Entwicklungen erwiesen haben und diese zu einer Betrachtung der subjektiv-kollektiven menschlichen Weltbildung, der Wechselwirkung von Wahrnehmung, Interpretation und Gestaltung, in Relation zu setzen. Die dabei formulierten Hypothesen dürfen nicht als eine allgemeine Erkenntnis missverstanden werden, sondern sie bilden, notwendigerweise teils apodiktisch formuliert, die konstruktive Basis für einen Entwurf, einen neuen Raum, durch den scheinbare Gegensätze in eine freie und synergetische Wechselwirkung gebracht werden sollen. Es ist eine neue Architektur, die daraus entsteht; aber nicht verstanden als eine reine Form, son6

dern als ein Modus des Denkens, der eine Basis formt, von der aus eine umfassendere Erkenntnis des Menschen und der Welt sowie des Verhältnisses zwischen ihnen ermöglicht werden soll. Outópos ist ein architektur- und erkenntnistheoretisches sowie philosophisches Experiment, aus dem sich ein konkreter Entwurf und ein Manifest für eine zu ermöglichende universalistische Perspektive des Denkens und des Handelns ergeben. Eine fundierte Utopie, die sich nicht als Revolution, sondern als Evolution begreift. Ein Debattenbeitrag, der Gedankenräume öffnen will, um einen Prozess hin zu einem zu erforschenden Etwas anzustoßen. Zu einer neuen Welt, die sich aus freien Gedanken in (Noch-)Nicht-Räumen entwickeln kann; in Ou-tópien.

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Außenwelt

Am Anfang war der Mensch1 und er schaute in eine Welt, die er nicht verstand. Weder wusste er, wie er an diesen Ort gekommen war, noch begriff er, was dieser Ort eigentlich ist. In seinem erstaunten Blick lag lediglich die Gewissheit dass er Er war, dass er da war. Existierte. Mit seinem Körper, dessen Potentiale er nur unvollständig erahnte, einer Komplexität gegenüberstand, die in ihren Ausmaßen das, was er als sich selbst identifiziert, bei weitem überstieg. Dem Einen, als der er sich begriff, offenbarte sich eine Welt voller Gegensätze, die sich über den Raum in seiner Nähe bis hin zu den unerreichbaren Strukturen in der Ferne erstreckte, die er nie berühren, nie ertasten konnte. Aber doch waren sie da und sie wirkten auf ihn. Das Licht der Sterne erleuchtete die Welt und der Wind umwehte ihn. Aus den Schatten erklangen Geräusche, dumpf, diffus, an Größe gemahnend, während die Gräser zu seinen Füßen ihn sanft umspielten.

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Der Begriff „Mensch“ wird hier sowohl textlich als auch grafisch als eine Kategorie verstanden, die jegliche Manifestationen wie Geschlecht, Erscheinung oder Identität umfasst. Hierzu der Philosoph und Verfechter eines radikalen Individualismus, Max Stirner: „Ich bin Mensch und Du bist Mensch, aber ‚Mensch‘ ist nur ein Gedanke, eine Allgemeinheit; weder Ich noch Du sind sagbar, Wir sind unaussprechlich, weil nur Gedanken sagbar sind und im Sagen bestehen.“ Zitat in: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum, S. 225. Dieser Begriff geht damit auch über die gegenwärtigen Manifestationen des Menschlichen hinaus und umfasst vergangene und zukünftige Menschenbilder, wie es auch der ebenfalls individualistische und freie Philosoph Friedrich Nietzsche als Kritik an einem zu eng gefassten Bild formuliert: „Alle Philosophen haben den gemeinsamen Fehler an sich, daß sie vom gegenwärtigen Menschen ausgehen und durch eine Analyse desselben ans Ziel zu kommen meinen. Unwillkürlich schwebt ihnen ‚der Mensch‘ als eine aeterna veritas, als ein Gleichbleibendes in allem Strudel, als ein sichres Maß der Dinge vor. Alles, was der Philosoph über den Menschen aussagt, ist aber im Grunde nicht mehr als ein Zeugnis über den Menschen eines sehr beschränkten Zeitraumes. Mangel an historischem Sinn ist der Erbfehler aller Philosophie“; Zitat in: Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches, in: Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Also sprach Zarathustra. Jenseits von Gut und Böse, S. 20 f.

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Dem Einen, dem ersten Menschen, stand die Unendlichkeit des Seins gegenüber. Er hatte kein Gefühl dafür, was er hier sollte. Er kannte nicht seinen Weg, geschweige denn sein Ziel. Vor ihm lag das Unbekannte. Instinktiv fing er an, sich zu bewegen. Frei. In die Welt zu treten. Getrieben von der Sehnsucht nach Erkenntnis begann seine Reise.2 Eine Reise hin zu einem unbekannten Ort, dessen Dasein er nur ahnte, aber dessen Sehnsucht nach ihm ihn aus den Tiefen seines Verstandes antrieb. Einen Ort, so hoffte er, an dem sich das eine ich, als dass er sich selber sah, und die Unendlichkeit des Seins, die ihm so unverständlich und in ihrer komplexen Schönheit der Formen gegenüberstand, zusammenfänden. Einen Ort, an dem ihm der Sinn des Ganzen offenbart wird. Der Zusammenhang zwischen ihm und der Welt sich als eine alles umfassende Relation zwischen Ich und Sein manifestiert. An dem er den seltsamen Umstand, der ihn in diese Existenz geführt hatte, versteht. Die Welt und damit sich selbst.3 Der erste Mensch schaute die Unendlichkeit seiner Zukunft und setzte den ersten Schritt. 2

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Diese Reise scheint für ihn wesensimmanent zu sein, was auch in einem Kommentar des Philosophen Hamid Reza Yousefi durchscheint: „Im Grunde ist der Mensch ununterbrochen auf der Suche nach der Sinnhaftigkeit seines Daseins und seines Ursprungs.“ Zitat in: Yousefi, Hamid Reza: Dienst und Verrat am Denken, in: Yousefi, Hamid Reza/Langenbahn, Matthias: Kommunikation in einer veränderten Welt, S. 22. Um den späteren Inhalt zu spoilern: Dies ist ihm bis heute nicht gelungen, da der Gang in die Welt den Gang in das eigene Innere vernachlässigt hat. Dass beide Welten im Sinne des Erkenntnisgewinns nicht voneinander getrennt werden sollten, beschreibt auch der Philosoph und Logiker Franz von Kutschera: „Es gibt für uns keine umfassende Theorie unseres eigenen Denkens, Erfahrens und Verhaltens und daher auch keine umfassende Theorie der Welt.“ Zitat Franz von Kutschera, in: Kutschera, Franz von: Die falsche Objektivität, S. 269.

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Der Mensch als Schöpfer Ob dieser erste Mensch je existiert hat?4 Es ist unklar – wie so vieles in dem weiten Bereich zwischen dem Menschen und der Unendlichkeit des Seins.5 War er ein einzelnes Individuum, das plötzlich, aus dem Nichts, in der Welt stand? Oder war er eine Gruppe, eingewoben in einen langen Prozess der Entwicklung? Ist er vielleicht reine Imagination; eine literarische Figur? Oder ein Sinnbild für einen stetig wiederkehrenden, individuellen Zustand? Letztlich ist das nicht bedeutend, denn irgendwann in der Geschichte, irgendwann in dem was wir als kollektive oder individuelle Zeitenabläufen zu verstehen glauben, muss es diesen Ur-Moment gegeben haben: Den Moment, in dem der Mensch sich selber gewahr wurde. Er verstand, dass er eins ist, ein Etwas; und sich damit in einem Dualismus zu dem, was ihn umgibt, setzt.6 Versteht man das Sein – die Existenz von allem – als ein System, 4

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Von den Spuren des „ersten“ Menschen ist tatsächlich wenig bekannt. Der zwischen christlicher Mystik und Anthropologie arbeitende Philosoph Pierre Teilhard de Chardin merkt hierzu an: „Ganz still ist der Mensch in die Welt getreten (…). Ja, er ist so leise aufgetreten, daß erst seine unzerstörbaren Steinwerkzeuge (…) ihn bezeugen; und wir fangen erst an, ihn wahrzunehmen, da er schon vom Kap der Guten Hoffnung bis Peking die alte Welt besiedelt.“ in: Chardin, Pierre Teilhard de: Der Mensch im Kosmos, S. 187. Alles Wissen scheint immer auch an eine subjektive Perspektive geknüpft zu sein. Erkenntnis ist immer nur ein Ausschnitt und durch die jeweilige Perspektive begrenzt. Dies gilt auch für die Perspektive des hier vorliegenden Werkes, die natürlich aus einem spezifischen westlichen Kontext erwächst und durchaus viele andere Perspektiven und Erkenntnisse nicht umfassen kann, wodurch sich aber keine Wertung ausdrücken soll. Dies scheint eine Haupteigenschaft der Kategorie Mensch, die der Psychologe Gerald Bühring wie folgt umreißt: „Menschen sind zentriert. Wie die Spinne leben sie im Mittelpunkt ihrer selbst geknüpften Netze. (…) Der Mensch ist das ‚Maß aller Dinge‘. (…) Selbst wenn man alle individuellen Meinungen miteinander vereinigen könnte, ändert dies nichts an der grundlegenden ‚Perspektivität‘ der menschlichen Wahrnehmung. (…) Wir können nicht über den menschlichen Standpunkt hinausgehen.“ Zitat in: Bühring, Gerald: Perspektive, S. 9. Dieser Dualismus kann sich aber auch in der Evolution des Menschen als eine kognitive Funktion entwickelt haben, wie es zum Beispiel der Psychologe Julian Jaynes recht spekulativ zum Entstehen der griechischen Antike beschreibt: „It is now the conscious subjective mind-space and its self that is opposed to the material body. (…) The conscious psyche is imprisoned in the body as in a tomb. (…) Where is it? (…) What is it made of? (…) So dualism, (…) begins its huge haunted career through history, to be firmly set in the firmament of thought by Plato, moving through Gnosticism into the great religions, up through the arrogant assurance of Descartes to become one of the great spurious quandaries of modern psychology.“ Zitat in: Jaynes, Julian: The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind, S. 290 f. Die Trennung zwischen der „äußeren“ Welt und der nicht sichtbaren Welt des Geistes erzeugt automatisch die bedeutende Frage, wo diese „innere“ Welt eigentlich ihren Ursprung hat und was ihre Materie ist. Friedrich Nietzsche kritisiert die Deutungen dieses Ursprunges in Bezug auf metaphysische Überlegungen, wenn er schreibt: „(…) die Dinge höchsten Wertes müssen einen anderen, eigenen Ursprung haben (…) im Schoße des Seins, im Unvergänglichen, im verborgenen Gotte, im Ding an sich – da muß ihr (der Welt) Grund liegen, und sonst nirgendswo! (…) aus diesem ihrem „Glauben“ heraus bemühn sie sich um ihr ‚Wissen‘, um Etwas, das feierlich am Ende als ‚die Wahrheit‘ getauft wird.“ Zitat in: Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse, in: Nietzsche, Fried-

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in dem alles in harmonischer Wechselwirkung steht, war dies der Moment der Abnabelung. Der Mensch verließ sozusagen seine Höhle als Kreis seiner Existenz und trat in die Welt. Das Gefühl eines Geborgenseins, des eins seins mit der Welt, wich dem Betrachten des Gegenübers. An die Stelle des Zusammenhangs tritt der Dualismus. Dem, was ich bin, steht etwas gegenüber, was nicht ich bin. Bedeutender noch: Anstatt (gefühlt) auch eins zu sein, ist dieses Gegenüber geprägt von Komplexität, einem Auseinanderfallen in die unterschiedlichsten Bestandteile und Zustände, deren nicht ausdifferenzierbare Relationen sich bis in die Unendlichkeit potenzieren. Es ist diese Ur-Erfahrung, dieses grundlegende Gefühl, das all denen, die wir Menschen nennen, mal mehr und mal weniger zu eigen ist. Dem Innen steht das Außen gegenüber, dem Einen die Vielen, dem Begrenzten das Unbegrenzte und dem Definierten das Unbekannte. Es liegt im Wesen dieses Dualismus, dass er nicht statisch ist. Er ist kein reines Schauen von Etwas; kein Blick auf ein Panorama und kein Gegensatz wie 0 und 1. Der Dualismus beruht auf einer Wechselwirkung. Die Welt wirkt auf uns ein und sie verändert uns; mal unbewusst und unmerklich, mal direkt und harsch. Der Mensch nimmt aus der Welt und gleichzeitig nimmt die Welt von ihm – und schlussendlich ergibt sich aus diesem Geben und Nehmen auch das, was er als das Eine, das zusammengefasste und singuläre IST seiner Existenz empfindet. Das Ich und das Sein, sie durchdringen sich, sind veränderlich, stehen mal in Spannung zueinander und mal in Harmonie. Aus dieser sich stetig verändernden Beziehung entsteht die Grundfrage eines jeden Menschen: Was soll das alles und was ist mein Platz darin? Dies ist im Wesentlichen die Frage nach Erkenntnis. Der Erkenntnis nach dem einen Zusammenhang innerhalb der äußeren Komplexität, der aus dem empfundenen Einssein der eigenen Existenz abgeleitet wird. Dem Gefühl, dass sich in dem Chaos des Äußeren das Eine als Kategorie des einfachen Gegenübers zeigt. Als Etwas, in dem sich der Mensch spiegelt und das ihm als Gesamtzusammenhang zeigt, was sein Platz sein könnte und wo sein Ort in dem Gesamten ist. Der Wunsch nach Erkenntnis ist dabei so etwas wie die Triebfeder des Menschen. Sie führt ihn von einem Ort zum nächsten und von einem Zustand zum anderen. Mit jeder Bewegung, mit jeder Veränderung wächst die Ahnung davon, dass das Chaos der Unendlichkeit Struktur hat. Orte wiederholen sich, Zustände wiederholen sich. Muster entstehen aus wiederkehrenden Elementen, die als Formen in der Unendlichkeit erkennbar werden und die Komplexität der Welt reduziert sich. Je mehr Orte der Mensch durchschreitet, desto deutlicher werden ihm bestimmte Details rich: Menschliches, Allzumenschliches. Also sprach Zarathustra. Jenseits von Gut und Böse, S. 693. In vielen Ansätzen ist versucht worden, eine Welterklärung, die unter diesem Dualismus von Geist und Natur, Subjekt und Objekt steht, zu überwinden. Vor allem der idealistische Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel sei hierbei als bedeutend genannt. Vgl.: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, passim.

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bewusst, die sich in ihrer Anmutung ähneln und sich auch in ihrer Wirkung auf ihn wiederholen. Es entstehen Kategorien, es entstehen Dinge, es entstehen Objekte. Objekte die trotz aller Unterschiedlichkeit unter einer Kategorie zusammengefasst sind. Ankerpunkte in der Komplexität, deren Relationen konstant bleiben, obwohl die Orte und damit die Erscheinungen doch stetig andere sind. Es ist das objektive Denken, das sich hier herausbildet und das es ermöglicht, die Welt in ihren Teilen aus Kategorien abzuleiten und auf den Menschen zu beziehen – in dem Gefühl, dass sich die Welt im Objekt für den Menschen offenbart. Sind nicht vielleicht auch diese Kategorien zusammenhängend und irgendwo vereint? Ist nicht anzunehmen, dass hinter wiederkehrenden Mustern wiederum eine Einheit steht? Das man auf ein artverwandtes Gegenüber zurückführen kann, in dem sich durch die Komplexität hindurch die Singularität des Menschen spiegelt? Eine externe Perspektive, ein vereinender Zusammenhang, der nicht im Menschen liegt, sondern verborgen hinter der Unendlichkeit?7 Wenn man die Welt so betrachtet, lichtet sich ihr Chaos und aus der Komplexität bilden sich die Objekte heraus.8 Bestimmte Zustände und Erscheinungen, stetig wiederkehrend und gebunden 7

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Die Gebundenheit der Erkenntnis und des Wissens an die menschliche Perspektive fasst Hegel dahingehend zusammen: „Es muß aus diesem Grund gesagt werden, daß nichts gewußt wird, was nicht in der Erfahrung ist, oder, wie dasselbe auch ausgedrückt wird, was nicht als gefühlte Wahrheit, als innerlich geoffenbartes Ewiges, als geglaubtes Heiliges, oder welche Ausdrücke sonst gebraucht werden, vorhanden ist. Denn die Erfahrung ist eben dies, daß der Inhalt (…) Gegenstand des Bewußtseins ist.“ Zitat in: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, S. 538. Dieses Zusammenwirken von Subjekt und Objekt beschreibt der Wissenschaftstheoretiker Bernhard Lauth wie folgt: „Die ontologische Differenz zwischen Subjekt und Objekt zeigt sich nicht nur in der Fähigkeit zur Selbstbezugnahme, sie spiegelt sich auch in den methodischen Differenzen zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften. Das wird besonders deutlich, wenn man den Kausalitätsbegriff betrachtet: Physikalische Vorgänge haben objektive Ursachen und Wirkungen. Dieser ‚kausale Kontext‘ bildet die Grundlage für naturwissenschaftliche Erklärungen und Prognosen. Menschliche Handlungen besitzen ebenfalls objektiv beschreibbare Ursachen und Wirkungen, die dem handelnden Subjekt selbst gar nicht bewusst sein müssen. Die ontologische Differenz von Subjekt und Objekt zeigt sich aber in dem Umstand, daß menschliche Handlungen nicht nur objektive Ursachen und Wirkungen, sondern darüber hinaus auch subjektive Ansichten und Motive besitzen.“ Zitat in: Lauth, Bernhard: Descartes im Rückspiegel, S. 124 f. Der Neurobiologe Humberto R. Maturana schreibt zu dieser Bildung eines objektiven Denkens, das ja meist auch den Anspruch umfasst, die „Realität“ als eine Art umfassende Wahrheit zu erfassen: „Das Wort ‚Realität‘ kommt vom lateinischen res ‚Ding‘. Die grundlegende Operation, die ein Beobachter ausführen kann, ist die Operation der Unterscheidung, der Eingrenzung einer Entität durch die operationale Sonderung dieser Entität von einer Umgebung. Was sich aus einer solchen Operation der Unterscheidung ergibt und somit eingegrenzt werden kann, ist ein Gegenstand mit den Eigenschaften, die die Operation der Unterscheidung bestimmt, ein Gegenstand, der in dem Raum existiert, der durch diese Eigenschaften gebildet wird. Realität ist daher der Bereich der Gegenstände und folglich das, was als real eingegrenzt werden kann. Damit steht außer Frage, was Realität ist: ein Bereich, der durch Operationen des Beobachters bestimmt wird. Die verbleibende Frage ist eine Frage im Bereich der Kognition; es ist die Frage nach Objektivität.“ Zitat in: Maturana, Humber-

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an ein abstraktes Etwas. Mit diesen Objekten kann der Mensch interagieren, denn sie entstehen aus seiner Perspektive, folgen seinem Maßstab. Mal überragend und unbezwingbar wie das Objekt eines Berges; mal in weiter Ferne und ungreifbar wie das Objekt der Wolke – aber meist kann man mit ihnen interagieren; sind sie in ihren Eigenschaften auf den Menschen bezogen und stehen dadurch in klarer Wechselwirkung mit ihm. Die Höhle bietet Schutz. Aus Gräsern wird Nahrung. Aus einem Ast ein Werkzeug und aus der Sonne die Wärme und das Licht. Der einfache Dualismus lichtet die Komplexität und die Welt wird Gegenstand. Zu dieser gegenständlichen Welt kann sich der Mensch positionieren. Er kann sich in einen Kontext stellen. Das Ich und das Sein in eine Beziehung setzen, die der Harmonie der Gegensätze entgegenstrebt. Der Drang zur Erkenntnis hat den Menschen in die Lage versetzt, die Objekte der Welt zu vereinen – in einem Kontext, der vielleicht auch hinter der Welt verborgen ist, aber doch zuallererst in seinem Geist existiert, und in dem sich die Wechselwirkungen von Mensch und Welt, von Subjekt und Objekt zusammenfügen lassen. Mit dieser Welt der Gegenstände kommt ein neuer Aspekt im Menschen zum Tragen. Er kann auf die Objekte nicht nur einwirken; er kann strukturiert einwirken. Genauer: Der Mensch ist in der Lage, sich in seinem Verstand etwas vorzustellen, das objektiv betrachtet nicht da ist, aber dementsprechend die Welt gestaltet werden kann. Es sind abstrakte Kategorien, gebunden in einem rein geistigen Zusammenhang. Nicht nur kann der Mensch seinen Platz in der Welt, seinen Kontext, hin zu einer erhofften Harmonie mit den Dingen verändern, sondern er kann sich auch einen idealen Zustand vorstellen, ein Konzept, und dieses dann in die Welt zu überführen versuchen.9

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to R.: Biologie der Realität, S. 133. Diese Realität ist immer auch entsprechend der subjektiven Weltzugänge begrenzt, was der Hirnforscher Rainer Bösel folgendermaßen zusammenfasst: „Wir wissen aus vielen anderen Untersuchungen, dass Dinge, die wir sehen, im Grunde ihre Bedeutung durch die jeweilige Brauchbarkeit erhalten. Wir nehmen nur das wahr, womit wir etwas anfangen können und was unter Umständen für unser Handlungsrepertoire bedeutsam ist.“ Zitat in: Rainer Bösel: Wie das Gehirn „Wirklichkeit“ konstruiert, S. 10. Zu diesem Zusammenwirken noch einmal Hegel: „Oder beide sind nicht zum Begriff der Cartesischen Metaphysik gekommen, daß an sich Sein und Denken dasselbe ist, nicht zu dem Gedanken, daß Sein, reines Sein, nicht ein konkretes Wirkliches ist, sondern die reine Abstraktion; und umgekehrt das reine Denken, die Sich-selbst-Gleichheit oder das Wesen, teils das Negative des Selbstbewußtseins und hiermit Sein, teils als unmittelbare Einfachheit ebenso nichts anderes als Sein ist; das Denken ist Dingheit, oder Dingheit ist Denken.“ Zitat in: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, S. 392. Dahinter verbirgt sich das allgemeine Konzept des Planens und Entwerfens, das der Architekt Günther Fischer wie folgt definiert: „Planen ist zunächst einmal eine grundlegende geistige Fähigkeit, die als Fähigkeit, eine zukünftige Situation oder ein zukünftiges Handeln zu antizipieren, zu den konstituierenden Eigenschaften des Menschen gehört (…).“ Zitat in: Fischer, Günther: Architekturtheorie für Architekten, S. 107. Generell verfügt die Disziplin der Architektur über eine umfassende Beschäftigung mit diesem Aspekt. Hierzu der Architekt Wolfgang Meisenheimer: „Am Anfang steht ein Gefühl, festgemacht an Wahrnehmung und Aufgaben. Neugier, Staunen und Sehnsucht lassen schrittweise daraus eine entwerferische Idee entstehen (…).

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Waren die Welt und der Mensch bisher geprägt von einem Gegensatz zwischen Innen und Außen, tut sich hier nun ein weiterer Dualismus auf. Die Einheit des Ichs, die Einheit des Subjektes, zerfällt in eines, das in der Welt steht und in eines, das in einer möglichen Welt steht. In einer Welt der Kategorien, gebildet aus den Objekten der ursprünglichen Welt, aber idealisiert im geistigen Raum. Der scheinbar hinter den Dingen liegende Zusammenhang offenbart sich in einem imaginierten Zusammenhang. In einem idealisierten Zustand des Menschen und der Dinge, dessen Einheit wiederum im Mensch liegt. Aus der Welt wird ein Konzept, ein gedanklicher Kontext, in dem sich der Sinn der objektiven Welt dadurch definiert, dass der Mensch seinen Platz in ihr nicht findet, sondern schafft. Er überträgt die ursprüngliche Einheit seines Geistes auf sie und verändert, strukturiert und arrangiert sie nach seinen idealisierten Vorstellungen. Der Mensch macht sich die Welt untertan und beseelt sie so mit (s)einem Sinn.10 Die Suche nach einem idealen Ort

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Entwurfsideen (…) stammen vielmehr aus dem Bereich des Anschaulichen und tragen die Merkmale der vorhandenen Welt, die sie gestalten wollen; das heißt, sie schlagen neue Anordnungen, Verbindungen und Überlagerungen vor, die die bekannten Strukturen verändern sollen.“ Zitat in: Meisenheimer, Wolfgang: Der Rand der Kreativität, S.  30. Die Wechselbeziehung zwischen Wahrnehmung und Gestaltung präzisiert die Architekturtheoretikerin Margitta Buchert dahingehend: „Danach kann der Architekturentwurf als iterativ aufgebaute Entwicklung beschrieben werden, in der Wissenserwerbs- und Informationsphasen mit Entwurfsideen und Synthesen wechselwirkend miteinander verbunden sind.“ Zitat in: Buchert, Margitta: Reflexives Entwerfen?, in: Buchert, Margitta: Reflexives Entwerfen, S. 33. Obwohl der Prozess des Planens und Entwerfens als solcher nicht direkt objektiv zu erfassen ist, ist er existent, wie es auch der Philosoph Markus Gabriel zusammenfasst: „Die Frage ist also niemals einfach, ob es so etwas gibt, sondern immer auch, wo es so etwas gibt. Denn alles, was existiert, existiert irgendwo – und sei es nur in unserer Einbildung.“ Zitat in: Gabriel, Markus: Warum es die Welt nicht gibt, S. 23. Dabei entsteht ein grundsätzlicher Gegensatz zwischen dem vom Menschen als Konzept Erdachten und dem Objekt der Natur, deren Relationen mitunter dem Konzept entgegenstehen. Einige sehen daher die Menschheitsentwicklung als einen Ermächtigungskampf des Menschen über die Natur. Vgl.: Becker, Philipp von: Der neue Glaube an die Unsterblichkeit, S. 14. Die Übertragung von Konzepten auf die physische Form der Natur ist nicht nur ein singulärer Akt, sondern ein kollektiver Prozess, in dem viele Einzelleistungen zusammenfließen, wie es der Architekt Jörg Kurt Grütter zusammenfasst: „Unsere gebaute Umwelt besteht aus Teilen, die nach bestimmten Regeln zusammengesetzt sind: (…) Jedes Ganze ist wiederum Teil eines noch umfassenderen Ganzen. Zum Beispiel kann eine Schraube Teil eines Stahlträgers sein und dieser wiederum Teil eines Gebäudevordaches. Das Ganze ist jeweils mehr als die Summe aller beteiligten Teile.“ Zitat in: Grütter, Jörg Kurt: Grundlagen der Architektur-Wahrnehmung, S. 40. Dies wird vor allem bei Betrachtung der Stadt deutlich, die einem kollektiven Kunstwerk gleicht und aus einer Vielzahl von einzelnen gedanklichen Konzepten besteht. Vgl.: Lefebvre, Henri: Das Recht auf Stadt, S. 82. Der Raum, der in solchen Agglomerationen entsteht, wirkt sich wiederum auf den Menschen aus, und damit auch auf die Konzepte, die zu seiner Form führten, und die wiederum in der menschlichen Interaktion mit ihnen im Prozess der Aneignung wirken. Die Umgebung des Menschen ist demnach überwiegend nicht Natur, sondern Raum, den der Kulturphilosoph Michel de Certeau wie folgt definiert: „Ein Raum entsteht, wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt. (…) Er ist also ein Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben (…). Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht. So wird zum Beispiel die Straße, die der

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wandelt sich dadurch. Sie ist keine suchende Wanderschaft hin zu der Vorstellung eines idealen Ortes, sondern die geistige Konzeption dieses Ortes, nach dessen Relationen sich der Mensch die Welt neu erschafft. Neue, menschengemachte Kontexte entstehen in ihr. Obwohl sie in ihren Formen und Strukturen – hier im Buch symbolisiert durch die Form des Würfels – mitunter wie natürliche Erscheinungen anmuten können, so sind sie doch immer das Ergebnis einer Prägung. Einer Prägung aus dem Konzept, dem geistigen Idealtypus, der sich hier durch den Kreis symbolisieren lässt, die sich durch das menschliche Schaffen in seiner ganzen Breite ausformt. Aus Konzepten werden in einer umfassenden menschlichen Aneignung der Welt Kontexte und aus Natur durch das Wirken des menschlichen Verstandes Kultur. Wann immer dieser Prozess, der sich als Umwandlung der Welt von einem Naturraum hin zu einem Kulturraum definieren lässt, auch angefangen hat, ob erst im frühen Neolithikum mit Sesshaftwerdung des Menschen oder vorher, ist hier nicht relevant. Wichtig ist nur, dass er vor langer Zeit stattfand und dass wir heute in einer Welt leben, die nicht mehr die Welt des ersten Menschen ist, sondern die Welt, die er und seine Epigonen anhand ihrer Konzepte geschaffen haben. Es ist an der Zeit, sich die Frage zu stellen, wohin diese Reise des Menschen, ausgehend vom ersten Schritt zum Verständnis der Welt und sich selbst, führt. Diese Frage leitet uns zum heutigen Menschen und in die Welt der Gegenwart.

Die Gegenwart Der heutige Mensch schaut in die Welt und im flüchtigen Eindruck unterscheidet sich seine Situation nicht grundlegend von der des ersten Menschen. Noch immer hat er das Gefühl der Existenz, das Gefühl des einen Seins. In seiner Körperlichkeit gibt es einen Kern, der ihm zuverlässig sagt: Urbanismus geometrisch festlegt, durch die Gehenden in einen Raum verwandelt. Ebenso ist die Lektüre ein Raum, der durch den praktischen Umgang mit einem Ort entsteht, den ein Zeichensystem – etwas Geschriebenes – bildet.“ Zitat in: Certeau, Michel de: Praktiken im Raum (1980), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 345. Zu dieser Auswirkung von Konzepten und Entwürfen schreibt Margitta Buchert: „Der Entwurf führt zu Qualitäten von Objekten und Räumen und damit zu grundlegenden Wirkungsqualitäten im individuellen und kollektiven Lebensumfeld der Menschen. Mit ihren konkreten physischen, sozialen und geistigen Erfahrungen und Handlungen sind die Menschen einbezogen in Situationen, die wesentlich geprägt werden durch Architekturen. Darin liegt die grundlegende Bedeutung und Besonderheit architektonischer Räume. Ihre spezifische Gestaltung geht zurück auf Entscheidungen, die in Entwurfsprozessen gefällt wurden.“ Zitat in: Buchert, Margitta: Einfach Entwerfen, in Buchert, Margitta: Einfach Entwerfen, S. 15.

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Ich bin. Ich bin eins und ich bin Ich. Außerhalb dieses Ichs erstreckt sich die Welt. Immer noch ist es eine Welt der Komplexitäten. Aber die Unendlichkeit ist verschwunden. Stattdessen entfaltet sich vor dem modernen Menschen ein Universum der Objekte. Eine mannigfaltige Welt, in der, so scheint es, fast alles zu einem Ding geworden ist – zu einem Etwas. Zu einem Gegenstand, der benennbar ist, katalogisierbar, und der in seiner Wechselwirkung zum Menschen gefasst wirkt. Es ist die große Leistung von mindestens 10 000 Jahren menschlicher Kulturgeschichte, die Welt transformiert zu haben. Von einem Raum der Unabwägbarkeiten, der Risiken und des Chaos der Natur hin zu einem Kulturraum, der tendenziell umfassend der menschlichen Perspektive entspricht und den Menschen schützt.11 Die Welt des modernen Menschen ist eine gefasste Welt. Zu allem, was in sein Aufmerksamkeitsfeld gelangt, gibt es eine Technik oder ein Werkzeug, um diesem Phänomen theoretisch Herr zu werden. Selbst die Berge und das Meer sind kein Neuland ohne Zugang mehr, sondern durch die Erfahrungen anderer Menschen – weitergegeben und verfeinert im Laufe der Zeit – Objekte, die beherrschbar sind. Auch der Himmel und das Reich der Sterne scheinen seltsam nah. Wo ersterer noch durch eine Entgrenzung der körperlichen Beschränkung erfahrbar ist, ist letzteres zumindest im Konzept kategorisiert, objektiviert, vermessen und kartografiert. Die Unendlichkeit scheint aus der Welt gewichen und hat Platz für einen Ort gemacht, an dem die Bestandteile bestimmt und damit der Platz des Menschen definiert sein sollte. Der Mensch dominiert die Welt und hat sie sich in großen Teilen untertan gemacht, und wo dies nicht der Fall ist, hat er zumindest eine Ahnung davon, wie es zu bewerkstelligen sei. Die ursprüngliche Dualität von Mensch und Welt ist verschwunden. So scheint es zumindest. Aber bei näherer Betrachtung zeigt sich ein Riss.

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Und dies ist in vielen Aspekten sehr positiv zu sehen. Nimmt man an, dass z. B. ein urzeitlicher Mensch in einem stetigen Überlebenskampf stand, müsste ihm das Überangebot an Nahrung eines heutigen westlichen Supermarktes wie ein Paradies erscheinen. Vgl.: Becker, Philipp von: Der neue Glaube an die Unsterblichkeit, S. 115.

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Als Gestalter der Welt profitiert der Mensch von seiner Fähigkeit eines Dualismus im Geiste. Er kann ein rein geistiges Konzept erschaffen und dieses der Welt einprägen bzw. die Welt tendenziell zu einem Kontext umbauen. Aber je mehr er in einem gemeinschaftlichen Akt seinen Geist in die Welt brachte, desto mehr entfernte sich diese Welt von ihm. Was vielleicht als klares Konzept begann, wird in seiner Übertragung auf die Welt unscharf, überlagert sich mit anderen Konzepten und bestehenden Kontexten, liefert neue Eindrücke und verwischt die Relationen, die durch Objektivierung doch so vermeintlich klar sein sollten. Der subjektive Kontext steht zahllosen Konzepten in stetiger Transformation gegenüber. Die Welt fällt auseinander. In den wahrgenommenen Zustand und das Konzept von ihr. Neben dem, was das Universum der Dinge ist, entsteht eine neue Welt der Deutungen und diffusen Konzepte. In dem Maße, wie der Mensch sein Ich der Welt aufprägt, scheint er sich von der Frage nach dem Sinn entfernt zu haben. Das, was ein vermutetes Gegenüber im Sein war, ist dem Verstand des Menschen gewichen, der sich in den Dingen der Welt spiegelt – und feststellen muss, dass dort gar kein Gegenüber ist. Die Welt zerfällt in eine Welt der Dinge und eine Welt des Sinns. In Kontexte und Konzepte. In eine Welt des Subjektes und eine Welt der Objekte. Beide überschneiden sich, ergänzen sich mitunter gegenseitig; und doch ist damit ein grundlegendes Schisma gesetzt, das den Menschen immer weiter von einer umfassenden Erkenntnis entfernt. Nähme man den ersten Menschen und versetzte ihn in die Gegenwart, so würde er auf eine Welt schauen, die überwiegend von menschlichen Leistungen geprägt ist. Statt der Weite der Unendlichkeit würde sein Blick wahrscheinlich aus einem Fenster über eine Straße gleiten und an der nächsten Häuserwand enden. Die Strukturen der Kultur lenken seinen Blick auf die Welt, steuern seine Bahn und bieten ihm scheinbar ein Gegenüber an. So unterschiedlich die subjektiven Blicke auch sein mögen: Ganz überwiegend entfaltet sich vor dem heutigen Menschen nicht eine Terra Incognita, ein weites und unbekanntes Land, sondern eine definierte Umgebung. Eine kulturelle Umgebung, in welcher Form auch immer, die er nutzen kann, aber der er sich auch anpassen muss. Deren Regeln und innere Logik er nachvollziehen kann, um ganz subjektiv seinen Platz in dieser Welt zu finden. Meist in einer Rolle, die ebendiese Welt bereits vorgefertigt und definiert hat. Der gegenwärtige Mensch schaut dabei nicht nur auf die Räume und Strukturen einer vom Menschen gemachten Welt. Er schaut überwiegend auch auf andere Menschen, andere Subjekte und andere Identitäten.12 Menschen, die 12

Sehr generell gesprochen ist in der gegenwärtigen, globalisierten Gesellschaft eine Entwicklung hin zur wachsenden sozialen Differenzierung, Pluralisierung und Individualisierung zu beobachten. Vgl. Hradil, Stefan: Wachsende Vielfalt durch Konkurrenz und Effizienz, in: Klempt, Eberhard: Explodierende Vielfalt, S.  217. Der Soziologe Armin Nassehi fast dies so zusammen: „Die Signatur der gegenwärtigen Moderne ist dadurch geprägt, daß die Gesellschaften in radikal unterschiedliche Beobachtungsverhältnisse differenziert ist, was die

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mitunter ganz anders scheinen, als er selbst sich sieht, aber doch mit ihm in einem Gesamtsystem verbundenen sind, das jenseits ihrer subjektiven Perspektiven zu existieren scheint. Ein System, das nicht statisch ist, sondern in das Geschichte, Handlungen und Entwicklungen wie in einen dichten Teppich eingewoben sind und das scheinbar in ständiger Transformation begriffen ist13 – hin zu einem Zustand, den sich ein subjektiver Verstand nicht vorstellen kann. Das so offen ist, dass auch nach 10 000 Jahren Kulturgeschichte als Frage bleibt: Wohin führt uns eigentlich diese Entwicklung? Der Mensch erschafft die Welt nach seinen Vorstellungen. In einem kollektiven Akt vermischen sich Kontexte und Konzepte und erzeugen stetig neue Welten. Bei all der Komplexität: Lassen sich in diesem Prozess Muster erkennen? Strukturen, die Aufschluss geben über einen Zusammenhang? Lässt sich aus einem solchen Zusammenhang die weitere Entwicklung prognostizieren? Lässt sich skizzieren, wie die Welt der Dinge in der Zukunft aussehen wird? Was bringt diese Zukunft für das Subjekt – für den zukünftigen Menschen? Die Frage nach der Zukunft ist immer die Frage nach dem Stand der Gegenwart, da beide Konzepte aufeinander beruhen – und schon da wird es schwierig.14 Die Unendlichkeit, die scheinbar aus der Welt gewichen ist, spiegelt sich in der Komplexität der vom Menschen geschaffenen Welt des 21. Jh.s. Es ist eine Komplexität, die jenseits der Auffassungsgabe eines einzelnen Menschen liegt, und nur in einem Zusammenschnitt mehrerer Perspektiven möglich scheint. Aus einem historischen Betrachtungswinkel ist die Welt eine andere als aus der Perspektive eines Wirtschaftlers, eines Ökologen, eines Gesellschaftstheoretikers, eines Bauern, eines Politikers, eines Maurers, eines Geistlichen, eines Greises oder eines Kindes. Obwohl die Welt zu großen Teilen vom Menschen gemacht ist, so ist sie doch ein kooperativer Akt, der sich in seinem ganzen Umfang nicht mehr dem einen, einzelnen Menschen erschließt. Der subjektive Blick auf die Welt bietet kaum Erkenntnis, denn er ist immer nur ein Ausschnitt aus einem viel größeren Zusammenhang. Das eine Gegenüber, das der erste Mensch suchte und

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Einheit des Differenten kaum mehr denkbar macht. (…) In Zeitbegriffen gesprochen, stellt sich die moderne Gesellschaft als ein Nebeneinander unterschiedlicher Ereignistemporalitäten dar, die je für sich selbstreferentielle Eigenzeiten ausbilden.“ Zitat in: Nassehi, Armin: Keine Zeit für Utopie, in: Eickelpasch, Rolf/Nassehi, Armin: Utopie und Moderne, S. 252. Schon vor mehr als 2 000 Jahren kritisierte der Philosoph Dschuang Dsi die allgemeine Geschäftigkeit der Kultur, die für Reflektion kaum Platz bietet: „Vom Anbeginn der Weltgeschichte gab es nur Aufregung. (…) Da hatte man dann freilich keine Zeit mehr, sich ruhig abzufinden mit den Verhältnissen der Naturordnung.“ Zitat in: Dsi, Dschuang: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, S. 127. Schon der Staatstheoretiker Thomas Hobbes verweist auf diesen Zusammenhang: „Bloß das Gegenwärtige ist in der Welt vorhanden, so wie das Vergangene im Gedächtnis; das Zukünftige hingegen hat gar kein Dasein und ist nur ein Geschöpf des Geistes, welcher die Folgen einer vergangenen Handlung auf eine gegenwärtige anwendet.“ Zitat in: Hobbes, Thomas: Leviathan, S. 25.

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das ihm die Welt erklären sollte, ist kein Gegenüber. Es ist kein Subjekt, sondern eine Abstraktion. Eine Abstraktion, die sich gerade dadurch definiert, dass sie nicht Subjekt ist, sondern gegenstandslos scheinbar über der Welt und der direkten Erfahrung schwebt und aus diesem NichtRaum des Gegenstandslosen die Welt strukturiert und ordnet, den Menschen und den Dingen ihren Platz zuweist und dabei doch in einem kollektiven Akt vom Menschen geschaffen wird. Ob man diese Abstraktion nun als technisch-wissenschaftliche Methode, als Verfahren zur Herstellung einer objektiven Perspektive, oder als eine Art kollektiven Weltgeist bezeichnet, ist nebensächlich, da ihre wesentliche Leistung in der Formulierung von abstrakten Konzepten liegt, die als verwirklichter Kontext auf das Subjekt wirken, der aber nur in ebendieser Abstraktion erfassbar und begreifbar ist. Es ist z. B. die Sprache der Mathematik, der numerisch-objektiven Kategorisierung von Zuständen, die die begrenzte subjektive Perspektive entgrenzt und die Transformierung der Natur in eine Welt der Kultur überhaupt erst ermöglicht hat. Die Frage nach der Zukunft ist eine Frage nach der Gegenwart und damit eine Frage nach den Zahlen: Genauer nach dem Modus der entgrenzten Welt des Subjektes durch die Methoden der Technik, der Kultur und der Medien. Was verraten uns nun die Zahlen über die Welt des heutigen Menschen? Zuallererst ist die Welt nicht mehr die Welt, in der der erste Mensch alleine stand. Die Leistungen der Menschheitsgeschichte haben es ermöglicht, dass die Anzahl der Menschen auf rund 7 700 000 000 angewachsen ist.15 7 700 000 000 Individuen mit 7 700 000 000 subjektiven Perspektiven auf die Welt, die sich als Planet Erde begreifen lässt. Diese Erde nun ist überwiegend von Wasser bedeckt, wohingegen sich die Landoberfläche als primäres Habitat des Menschen über 13 400 000 000 Hektar erstreckt. 3 900 000 000 Hektar davon sind Wälder, während ca. 5 000 000 000 sog. landwirtschaftliche Nutzflächen umfassen.16 Auf diesen Flächen wurden die wilden Gräser des ersten Menschen kultiviert und auf seine Ernährung und Versorgung hin unter anderem durch den Einsatz von 109 137 200 Tonnen Stickstoff, 45 451 400 Tonnen Phosphor und

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Vgl.: Roser, Max/Ritchie, Hannah/Ortiz-Ospina: Esteban World Population Growth, in: https:// ourworldindata.org/world-population-growth (2019, abgerufen am 11.01.2021). Die Entwicklung der Weltbevölkerung in den letzten 10 000 Jahren gilt trotz unsicherer Quellenlage als fachlich recht gesichert. Im Mittel aller Schätzungen lag die Weltbevölkerung bis zum Jahr 2000 v. Chr. recht stabil bei wenigen Millionen Menschen. Ab 2000 v. Chr. leichter Anstieg auf 170 Millionen im Jahr 0 und danach stetiger Anstieg auf 800 Millionen im Jahr 1800. Danach durch die Industrielle Revolution starker Anstieg auf 7,6 Milliarden im Jahr 2017. Tendenz weiter steigend. Vgl.: Klingholz, Reiner: Szenarien des Bevölkerungswachstums, in: Mahlke, Stefan (Hg.): Atlas der Globalisierung, S. 44 f. Vgl.: Umweltbundesamt: Globale Landflächen und Biomasse (2013), in: https://www.umweltbundesamt.de/ sites/default/files/medien/479/publikationen/globale_landflaechen_biomasse_bf_klein.pdf (abgerufen am 11.01.2020), S.12.

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37 635 800 Tonnen Kaliumoxid pro Jahr optimiert.17 Diese landwirtschaftliche Nutzfläche teilt sich in zahlreiche Nutzungen auf, wobei z. B. auf ca. 4 700 000 Hektar rund 87 000 000 Tonnen Äpfel, auf ca. 17 000 000 Hektar rund 370 000 000 Tonnen Kartoffeln und auf ca. 215 000 000 Hektar rund 766 000 000 Tonnen Weizen pro Jahr erzeugt werden.18 Die gesamte erzeugte Biomasse aus den Wäldern und der Agrarwirtschaft beläuft sich jährlich auf rund 13 000 000 000 Tonnen, wovon allerdings nur 15 % als Nahrungsmittel für den Menschen verwendet werden, während der überwiegende Anteil von 58 % als Futtermittel für Tiere benutzt wird.19 Die einstigen Erzeuger dumpfer Geräusche, die den ersten Menschen an Größe gemahnten, sind ebenfalls eine Nahrungsgröße geworden und damit ein kultiviertes Objekt zur Tötung und zum Verzehr. Jährlich werden so ca. 320 000 000 Rinder, ca. 1 300 000 000 Schweine und rund 72 000 000 000 Hühner als menschliche Nahrung produziert und dieser Kategorie zugeführt.20 Die Nahrungsproduktion ist dabei nicht der einzige Bereich, aus dem sich die Dingwelt, die Welt der Objekte des zeitgenössischen Menschen, bildet. Das stetige Erzeugen von Objekten ist so umfangreich, dass es sich wiederum nur in einer eigenen, abstrahierten Kategorie fassen lässt. Die globale Produktion von Dingen und menschlichen Leistungen, umgerechnet in die Kategorie des Geldes als Austauschgut zwischen Menschen im Handel, beläuft sich so auf rund 87 000 000 000 000 US$ im Jahr.21 Die meisten dieser Produkte werden nicht lokal verbraucht, sondern um die Welt geschickt, was zu einem internationalen Handelsvolumen von 19 051 000 000 000 US$ durch den Austausch von Objekten und 5 898 000 000 000 US$ durch kategorisierte menschliche Interaktion im Gewerbe führt.22

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Zahlen aus dem Jahr 2017. Vgl.: The Food and Agriculture Organization of the United Nations: http://faostat. fao.org/static/syb/syb_5000.pdf (abgerufen am 11.01.2021). Zahlen basierenden auf Erfassungen zum Jahr 2019. Vgl.: The Food and Agriculture Organization of the United Nations: https://www.fao.org/faostat/en/#data/QCL (abgerufen am 17.11.2021). Parameter: World + (Total)/ Area harvested/ Production Quantity/ Crops Primary/ 2019. Zahlen aus dem Jahr 2008. Vgl.: Umweltbundesamt: Globale Landflächen und Biomasse, in: https://www. umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/479/publikationen/globale_landflaechen_biomasse_bf_ klein.pdf (abgerufen am 11.01.2010), S. 14. Zahlen basierenden auf Erfassungen zum Jahr 2019. Vgl.: The Food and Agriculture Organization of the United Nations: https://www.fao.org/faostat/en/#data/QCL (abgerufen am 17.11.2021). Parameter: World + (Total)/ Producing Animals/Slaughtered/ Livestock primary/ 2019. Zahl basierend auf Erfassungen zum Jahr 2019. Vgl.: The World Bank: https://databank.worldbank.org/ source/world-development-indicators (abgerufen am 17.11.2021). Parameter: World Development Indicators/ World/ GDP (current US$)/ 2019. Zahlen aus dem Jahr 2019. Vgl.: World Trade Organization: World Trade Statistical Review 2020, in: https:// www.wto.org/english/res_e/statis_e/wts2020_e/wts2020_e.pdf (abgerufen am 11.01.2021), S.10.

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Diese rege Produktivität und der umfassende Austausch von Dingen ist in diesem Umfang nur durch eine der Schlüsseltechnologien der Menschheitsgeschichte möglich: Die künstliche Erzeugung und Nutzung von Strom, indem Rohstoffe in Energie umgewandelt werden. Für die Welt der Dinge werden überwiegend die endlichen Ressourcen Kohle und Gas verbrannt, was zu einer jährlichen Produktion von 27 044 191 000 000 Kilowattstunden an Energie führt.23 Diese Energie reicht aus, um 102 829 623 574 Glühbirnen ein Jahr lang zum Leuchten zu bringen.24 Interessanterweise ist dies ungefähr die gleiche Zahl, auf die die Anzahl der Sterne in unserer Heimatgalaxie, der Milchstraße, geschätzt wird.25 10 000 Jahre menschliche Kulturentwicklung haben sozusagen die Sterne vom Himmel auf die Erde geholt und eine umfassende Maschinerie geschaffen, die den Menschen versorgt. Auch wenn der zugrundeliegende Prozess der objektiven Erfassung der Welt zu deren Nutzung und Verwertung, also zur Zentrierung auf den Menschen, noch größtenteils auf die Erde beschränkt ist, so umfasst diese kategorische Erfassung doch die ganze Welt. Auch das Universum ist bereits, wenn auch größtenteils spekulativ, vermessen und in ca. 100 000 000 000 000 000 000 000 Sterne als Objekte kategorisiert, die sich in einem unfassbar großen Raum verteilen, dessen kreisrunder Durchmesser erst mit der Möglichkeit seiner menschlichen Erfassung in einem beobachtbaren Kontext endete.26 Erst dahinter reduzieren sich die Zahlen, und das Eine erscheint. Das eine Unbekannte hinter der Grenze des beobachtbaren Universums, das dem Menschen verschlossen ist. Aber da das ein Blick in die Vergangenheit ist, ist das Eine nicht da draußen, sondern liegt nach der gängigen Theorie des Urknalls in der Vergangenheit. Es existierte lange vor dem Erscheinen des ersten Menschen und ist damit unerreichbar und sich ständig entfernend, in wachsender Distanz von uns und dem zukünftigen Menschen. Diese Zahlen zeigen, dass die Welt des Menschen aus einer objektiven Perspektive vermessen worden ist. Erschlossen und nutzbar ist sie sicherlich nur zu einem sehr kleinen Teil, aber die begrenzte Perspektive des Subjektes ist dennoch konzeptuell entgrenzt und umfasst scheinbar alles, wenn auch überwiegend nur in abstrakten Kategorien. Diese Erkenntnis, dieser spezifische 23 24 25

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Zahlen aus dem Jahr 2018. Vgl.: International Energy Agency: https://www.iea.org/data-and-statistics/ data-tables?country=WORLD&energy=Electricity&year=2019 (abgerufen am 16.11.2021). Wenn man von einer 30 Watt-Glühbirne ausgeht, die im Jahr bei durchgehender Brenndauer von 8.760 Stunden rund 263 kWh verbraucht. Vgl. European Space Agency: How many stars are there in the Universe?, in: https://www.esa.int/Science_ Exploration/Space_Science/Herschel/How_many_stars_are_there_in_the_Universe (abgerufen am 11.01.2021). Die Anzahl der Sterne ist eine grobe, aber fundierte Rechnung, die von 1011 oder 1012 Galaxien ausgeht, in denen sich 1022 bis 1024 Sterne befinden. Vgl.: Ebd.

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Blick, hat es dem Menschen ermöglicht, seine Umwelt zu kontrollieren und sich eine eigene Welt zu schaffen, in der er der Mittelpunkt ist. All diese Abstraktionen entstehen erst aus ihm und sie wirken erst in ihm; in einem Akt der subjektiven Zuwendung, in der sich der Mensch gegenüber dieser gigantischen Ansammlung von Dingen positioniert. Der Mensch erschafft seine Umwelt und die Umwelt wirkt wieder auf ihn zurück. Ein Kreislauf entsteht, der zusätzlich von dem banalen Fakt befeuert wird, dass es natürlich nicht einen Menschen und eine Umwelt gibt, sondern viele Menschen in vielen Räumen und dazu auch noch in vielen verschiedenen Zuständen, die in einem – auf den ersten Blick – chaotischen Akt des Lebens die Welt in immer neuen Formen entstehen und vergehen lassen. Im Hinblick auf die Frage nach der Zukunft die sich aus der Gegenwart ergibt, kann der Basisbefund hierzu nur lauten: Zunahme an Komplexität.27 Die Komplexität einer unverstandenen Natur hat sich in die Komplexität einer objektivierten Welt transformiert und in die sich stetig wandelnden Konzepte von ihr. Da dies aber dem UrBefund aus der Zeit vor dieser Entwicklung entspricht, lohnt es sich, diese Komplexität näher zu betrachten. Komplexität ist dabei nicht zu verstehen als reine Dinglichkeit. Obwohl die Verhältnisse durchaus die individuelle Vorstellung von ihr übersteigen, ist die objektivierte Welt tendenziell eine der scheinbaren Einfachheit und Präzision. Dinge haben ihren Platz und ihre Relationen zueinander, sind zwar mitunter kompliziert, aber tendenziell nachvollziehbar. Die Frage, die sich hierbei auftut, scheint eher die Frage nach ihrer Funktion und Verhältnis zum Menschen als Ganzem zu sein. Es ist wieder die Frage nach dem Zusammenhang, dem Sinn; und damit die Frage, welchen Platz der Mensch in der Welt, die sich hier auftut, einnimmt; und an ihr zeigt sich ein wesentlicher Unteraspekt in der vom Menschen geschaffenen Welt: die Kommunikation. Alles steht in einem permanenten Austausch miteinander. Die Relationen und vor allem der Platz des Menschen sind nicht fix, sondern einem stetigen Wechsel unterworfen, in dem alle Teile über teils undurchsichtige Kanäle in einem großen Gefüge der gegenseitigen Wechselwirkung zusammengefasst sind. Würde man nun eine Definition für die Komplexität als Grundstruktur der Gegenwart suchen, wäre es diese: Dinge und Kategorien im stetigen Austausch; Masse in stetiger Transformation.

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Der Physiker Eberhard Klempt beschreibt dies als ein scheinbar universelles Prinzip: „In jedem Bereich des Lebens erkennen wir, wie sich aus einfachen Strukturen und einfachen Regeln oder Gesetzen neue und immer komplexere Strukturen entwickeln.“ Zitat in: Klempt, Eberhard : Einleitung, in: Klempt, Eberhard: Explodierende Vielfalt, S. 5.

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Kommunikation Der stetige Austausch erscheint als das dominierende Element einer zunehmend globalen Kultur. Austausch ist von seinem Grundverständnis her als die Interaktion zwischen verschiedenen Systemen zu begreifen. Also nicht ein Zustand der perfekten Ausgeglichenheit in einem definierten Objekt oder Subjekt, was nichts anderes wäre als Erstarrung und Entzeitlichung; sondern eine Struktur des Ungleichgewichtes. Und zwar nicht nur geprägt durch Ungleichgewicht in einem geschlossenen System, sondern es ist gerade die Offenheit dieses Systems zu anderen, wodurch Elemente von dem einen in das andere gelangen können und als Ergebnis mehrere Zustände verändern. Dieser Wechsel gehört zu den basalen Erfahrungen des Menschen. Er ist sozusagen bestimmend für sein Dasein. Die Lungen pumpen als ein geschlossenes System unentwegt Sauerstoff in den Kreislauf; das Herz reguliert die Verteilung in die Körperregionen. Obwohl zuallererst isoliert zu begreifen, bauen die einzelnen Funktionen dieser Systeme aufeinander auf. Sie ergänzen einander; im Wesentlichen: Sie reagieren aufeinander. Ist eines von beiden (oder die Umwelt) beeinträchtig, atmet der Mensch schneller oder sein Herz beginnt zu rasen – in der unbewussten Hoffnung, dass das eine das andere ausgleicht. Beide Objekte sind damit trotz isolierter Funktionen als ein Gesamtsystem zu begreifen. Die Basis dieses Gesamtsystems ist die Wechselwirkung. Genauer formuliert: die Kommunikation. Obwohl Kommunikation im allgemeinen Gebrauch als ein Sprachakt begriffen wird – was ja vereinfacht auch stimmt –, ist sie nichts anderes als ein Austausch zwischen zwar für sich stehenden, aber doch zusammenhängenden Systemen. Das trifft auf das Verhältnis zwischen Auge und Hand zum Greifen eines Astes ebenso zu wie auf die koordinierten Bewegungen von menschlichen Gruppen. Alles ist eine Angleichung zuerst isolierter Objekte an ein umfassenderes System entsprechend der Wechselwirkungen von Informationen – also der Zustandsberichte dieser Einzelkomponenten.28 Ist Kommunikation in diesem Verständnis noch auf eine direkte Körperlichkeit 28

Der Kommunikationswissenschaftler Thomas A. Bauer umschreibt die Bedeutung der Kommunikation als Weltaneignung wie folgt: „Sich und seine Umwelt zu begreifen ist der Inbegriff von Kommunikation. Er spiegelt das Wissen, das Bewusstsein, und die Weisheit, sich mit sich selbst und allem, was einem umgibt – Natur, Kultur, Gesellschaft, Zeichenwelt - auf etwas mögliches Gemeinsames zu vereinbaren. (…) In dieser Deutung ist der Begriff von Kommunikation ein Konzentrat aller dem Sinn und der Praxis des Lebens unterstellten Werte, Desiderate, Möglichkeiten, Chancen und Risiken der Aneignung von Welt. Alles, was nur irgendwie Sinn machen soll, ist in das Muster von Kommunikation eingeschrieben.“ Zitat in: Bauer, Thomas A.: Kommunikation wissenschaftlich denken, S. 31. Der Soziologe Hubert Knoblauch umschreibt diese Beobachtung unter dem Begriff des kommunikativen Konstruktivismus: „Das ist es, was die Gesellschaft am Leben erhält: dass die Subjekte wegen ihrer Unterschiede fortwährend miteinander kommunizieren müssen. In diesem Sinn begründet die Differenz zwischen (subjektivem) Handeln und objektivierter Kommunikation die Ge-

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beschränkt, so ist sie in der heutigen Gegenwart überwiegend entgrenzt. Die Angleichung anhand der Übertragung von Informationen erfolgt nicht mehr zwangsläufig im körperlichen Umfeld des Menschen, sondern kann auch fast direkt über Kontinente und gar Planeten hinweg erfolgen. Der Mensch kommuniziert nicht mehr nur in seinem Nahbereich, sondern theoretisch mit allen Menschen und allen Objekten, die existieren. Mithilfe der Technik hat die Kommunikation den Körper verlassen.29 Auch dieses Phänomen ist dabei in seiner Grundfunktion nichts Neues. Schon ein Ast, der benutzt wird um einen hoch hängenden Apfel vom Baum zu holen, folgt demselben Prinzip wie ein Auto, ein Computer oder eine interstellare Sonde. Bei all diesen Dingen wird eine Wechselwirkung zwischen dem Subjekt und einem Objekt angestrebt. Die Technik, begriffen als Werkzeug, ist dabei im Kern nichts anderes als eine Erweiterung der primären Körperlichkeit.30 Durch den Ast wird der Arm zum Objekt Apfel hin verlängert, um die Information „fallen“ zu übermitteln, während z. B. in der zeitgenössischen Telekommunikation die Stimme durch ein Werkzeug in ihrer Reichweite verlängert wird. Der Faktor Komplexität findet sich hier nun in der Nachvollziehbarkeit der Technik. Um im Bild zu bleiben: Der Ast als Werkzeug ist vollumfänglich von einem Menschen herzustellen und nachzuvollziehen, während moderne Technik eine Gruppenleistung von mehreren Menschen und einzelnen Systemen ist. Die Kommunikation ist dabei nicht mehr nur zwischen Mensch, Werkzeug und Ding zu finden, sondern hat sich in das Werkzeug selbst verlagert. Für die eigentlich recht simple Technik der Telefonie müssen unterschied-

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sellschaft.“ Zitat in: Knoblauch, Hubert: Über die kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit, in: Christmann, Gabriela B.: Zur kommunikativen Konstruktion von Räumen, S. 50. Beginnend mit dem Radio seit den 1920er Jahren hat sich eine stetig wachsende, globale Informations- und Mediengesellschaft entwickelt. Vgl.: Lüsebrink, Hans- Jürgen: Interkulturelle Kommunikation, S. 2. Durch die fortschreitende Entwicklung des Internets seit 1989 sind die Medien interaktiv im Sinne einer Überlagerung und Verknüpfung von Information und der aktiven Nutzung durch Individuen geworden. Vgl.: As, Imdat/ Schodek, Daniel: Dynamic Digital Representations in Architecture, S.  120  f. In diesen Räumen entstehen zwischen Menschen, die als virtuelle Gemeinschaften parallel zu ortsgebundenen Gemeinschaften existieren, Verbindungen. Für einen Überblick zur Entwicklung dieser Communities vgl.: Apprich, Clemens: Vernetzt, S. 108–120. Identitäten können in diesen virtuellen Räumen relativ frei gewählt werden und sind potentiell einer stetigen Transformation unterworfen. Vgl.: Mul, Jos de: Cyberspace Odyssey, S. 185. Trotz des Wachsens der digitalen und globalen Kommunikation hat auch der Reisetourismus zugenommen. Die virtuellen Welten ersetzen demnach das Bedürfnis nach physischer Präsenz scheinbar nicht völlig. Vgl.: Böhme, Gernot: Architektur und Atmosphäre, S. 114. In der Entgrenzung des Körpers liegt die die Lebenswelt des Menschen verändernde Kraft der Technik. Obwohl das Postulat eines stetigen technischen Fortschrittes ständig zu vernehmen ist, meist sogar verkündet als Revolution, ist Technik häufig nur eine Verfeinerung etablierter Methoden. Als große technische Revolutionen in der Menschheitsgeschichte können genau genommen nur die Entwicklung der Landwirtschaft – die Herrschaft über die Natur – und die Dampfmaschine sowie die Elektrizität – beides verstanden als Herrschaft über immaterielle Kräfte – bezeichnet werden.

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liche Werkzeuge miteinander in Wechselwirkung stehen, und dies ohne dass der Mensch bewusst eingreift. Erst als Gesamtzusammenhang erschaffen sie dann das Objekt des Werkzeugs, das der einzelne Mensch zur Kommunikation benutzen kann. Diese interne Kommunikation der Technik erschafft eine hohe, mitunter nicht mehr nachvollziehbare Komplexität.31 Das gilt sowohl für die direkten Werkzeuge wie ein Smartphone als auch für den automatischen Austausch in digitalen Prozessen und für die Erscheinung der Massenmedien. All diese Phänomene sind Zusammenschlüsse einzelner Werkzeuge, die in einer Kommunikation zueinander stehen und wiederum Lösungen und Informationen genieren. Das oft postulierte Zeitalter der Technik offenbart sich so gesehen als eine Autonomie der internen Kommunikation von Werkzeugen, die dem Subjekt nur noch an bestimmten Punkten zugänglich und für es nutzbar sind. War bei einfacher Technik noch ein direkter Austausch mit dem Menschen vorhanden, so zeigt sich hier der Zugang nur in bestimmten bindenden Objekten, die wie Knotenpunkte aus dem Netz der stetigen Kommunikation von Automaten und Menschen hervorragen.

Komplexität Der stetige Austausch potenziert sich mit dem Phänomen der Masse zu einer grundlegenden Erfahrung der Gegenwart. Die Welt des ersten Menschen war eine reduzierte Welt. Die Elemente und damit die Objekte, die ihm gegenübertraten, waren in der Regel überschaubar. Ein Apfel war gebunden an einen Baum, und in einer natürlichen Landschaft treten in der Regel nicht so viele davon auf. Durch die Kategorisierung und Kultivierung der Natur wurde dieses einzelne Objekt aber zunehmend potenziert. Um das zu verstehen, reicht ein Blick auf die Plantagen der globalisierten Lebensmittelproduktion, in denen sich die Bäume in einer Monokultur bis zum Horizont verdichten. Der Mensch erkannte den Nutzen, den die natürliche Erscheinung des Apfels als Objekt für ihn hatte, und durch die Anwendung von Werkzeugen potenzierte er dieses Objekt tendenziell bis in die Unendlichkeit. Es ist die Logik der maximalen Potenzierung, die dabei nicht nur auf die Natur Anwendung findet, sondern auch auf den Menschen und seine Anzahl selbst 31

Die Datenmengen, die durch die technischen Systeme der Gegenwart gewonnen werden, sind so zahlreich, dass sie den Rahmen des subjektiven Verständnisses weit übersteigern. Vgl.: Kipper, Jens: Künstliche Intelligenz, S. 32. Schon 1944 sahen die Philosophen und Kulturkritiker Max Horkheimer und Theodor W. Adorno die generelle Informationsflut einer medialen Kultur kritisch: „Die Flut präziser Information und gestriegeltem Amüsements witzigt und verdummt die Menschen zugleich.“ Zitat in: Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Vorrede von 1944, in: Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, S. 5.

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zurückwirkt – ein Blick auf die seit Beginn der Sesshaftwerdung stetig steigende Bevölkerungsanzahl belegt dies. Dabei zeigt sich auch der Einfluss der automatisierten Technik, seit deren Auftreten die Anzahl der Menschen sprunghaft immer weiter angestiegen ist. Die Masse, die so geschaffen wird, erstreckt sich nicht nur auf die Potenzierung der Dinge und der Menschen. Auch die Werkzeuge, die Mittel der Kommunikation, unterliegen in ihrer Anzahl einem stetigen Wachstum. Auch hier zeigt sich eine ihnen fast strukturell innewohnende Potenzierung, hin zu einem stetigen Mehr, und auch hier ist die Automatisierung der Technik eine Triebfeder zum explosionsartigen Wachstum. Als Beispiel sei das Automobil herausgegriffen. Als junges Werkzeug unterlag es zu Beginn noch der Begrenzung durch das Handwerk. Menschen mussten die einzelnen Teile per Hand oder mit der Hilfe komplexerer Werkzeuge gestalten und zusammenfügen. Durch die Entgrenzung des menschlichen Handwerks, vor allem durch die Automatisierung mithilfe von Fertigungsstraßen und autonomer Robotik, ist die Produktionskapazität allerorts gestiegen. Die Logik des Werkzeuges erzwingt dabei immer mehr Masse. Die Maschinen dürfen nicht stillstehen. Und so ist das Objekt Auto, das vor ein paar Generation vielleicht noch eine Anschaffung für’s Leben war, ein Objekt mit kurzer Halbwertszeit geworden. Nicht etwa, weil es die Kunden so verlangen, sondern weil die Logik der Technik und damit die Logik der Masse dazu verdammt sind, immer mehr Dinge zu produzieren. Die menschliche Notwendigkeit nach etwas ist dadurch einem Überangebot gewichen, in dessen Mittelpunkt nicht der Bedarf nach etwas steht, sondern die Weckung dieses Bedarfs, um die Masse zu legitimieren. Abseits dieses sich selbst aus der Logik der Technik herausbildenden Zwangs zum Wachstum zeigen sich aber nun in unserer Welt der Masse zwei wesentliche Aspekte. Zum ersten die Strukturierung. Auch hier reicht ein flüchtiger Blick auf eine beliebige Satellitenkarte um festzustellen, dass unsere Kulturwelt parzelliert ist. Sie ist kein chaotisches Nebeneinander bestimmter Zustände, sondern besteht in der Regel aus sehr klaren Räumen, in denen gleiche Objekte zu gleichen Funktionen gebündelt sind.32 Die bereits erwähnte Apfelbaumplantage gibt auch hierzu die pas32

Diese Entwicklungen betreffen auch den Inhalt des Begriffes des Raumes. Raum wird im deutschen territorial verstanden, während das englische „space“ (kommt aus dem Lateinischen für Laufbahn) auch eine Zeit umfasst, woraus sich das Wort „spazieren“ ableiten lässt. Die Kulturwissenschaftler Jörg Dünne und Stephan Günzel merken hierzu an: „In seiner heute vertrauten Alltagsbedeutung hat sich der Ausdruck ‚Raum‘ (…) im ausgehenden Mittelalter bzw. der beginnenden Neuzeit herausgebildet. In der antiken Tradition fehlt ein Äquivalent von entsprechender Bedeutung – diese Lücke wird weder vom aristotelischen Topos noch von der

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sende Anschauung. Ein Objekt, der Apfelbaum, wird zum Zweck der Ernte in einem Raum potenziert und gesammelt; strukturiert durch das Werkzeug der autonom fahrenden Erntemaschine. Die Kraft zur Konzeption im Menschen hat in langen Prozessen der Erfahrung und Umsetzung so die Oberfläche der Welt einem klaren Raster der Nutzung und Optimierung unterworfen. Selbst da, wo die Auswirkungen auf das Landschaftsbild nicht so deutlich sind, z. B. in Wüsten, Gebirgen oder den Polkappen, sind die Gebiete parzelliert und einem Konzept unterworfen. Die Welt der Gegenwart offenbart sich dadurch als ein Mosaik. Als ein Zustand der Massierung unterschiedlicher Nutzungen, die abgegrenzt voneinander zusammenstehen. Hier zeigt sich dann wieder die Verbindung zum Aspekt der Kommunikation. Die Welt ist unterteilt in unterschiedliche Funktionen, die aber als Gesamtsystem wirken. Der Mensch isst ja nicht nur Äpfel und die Maschinen zur Ernte werden in der Regel nicht auf der Apfelplantage produziert. Die Strukturierung der Welt erzwingt quasi auch ein Mehr an Kommunikation. Eine Kommunikation, die nicht nur Produktionsabläufe angleicht, sondern diese auch in der Relation zu der Masse an Menschen harmonisiert. Das Ungleichgewicht, das sich in den Räumen der Welt zeigt, hängt spiegelbildlich mit einem Mehr an Kommunikation zusammen. Dieses erstreckt sich nicht nur auf die Werkzeuge, sondern auch auf die Harmonisierung der einzelnen Menschen im Gesamtsystem. Der Anfangsbefund des Auseinanderfallens der Welt erscheint somit wie eine Notwendigkeit. Der objektiven Nutzbarmachung der Welt stehen die Konzepte und Werkzeuge der Kommunikation gegenüber, die in unterschiedlichsten Ausprägungen angleichend wirken.33 Ob man diese nun als Kapitalströme, Logistik, ideologische Verteilung oder Macht interpretiert, ist vorerst nicht entscheidend, da die Verdinglichung der Welt diese, begriffen als stetige Kommunikation, bedingt.34 Die Komplexität erstreckt sich damit auf eine umfassende Ebene. Sie ist sowohl physisch

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platonischen chora ganz gefüllt.“ Zitat in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Vorwort, in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 10. Max Stirner sah die Parzellierung der Welt schon damals in dem Aspekt des Eigentums und des Besitzes begründet, Vgl.: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum, S. 177. Vor allem anhand des stetigen Wachstums der Geldmenge (Kapital) wird deutlich, dass diese Art des Austausches stetig zunimmt. Geld kann rechnerisch erschaffen werden. Vgl.: Sahr, Aaron: Geld auf Knopfdruck, in: Mahlke, Stefan (Hg.): Atlas der Globalisierung, S. 72 f. Der Autor Benjamin Wooley merkt hierzu an: „Die Abschaffung der Goldwährung hat Geld in eine völlig abstrakte Quantität verwandelt, in ein Symbol. Ein Defizit unterscheidet sich nicht von einem Überschuß, außer im mathematischen Vorzeichen. (…) Im globalen Dorf hat dieser Abstraktionsprozeß seinen reinsten Ausdruck erreicht. (…) Geld ist nur ein Parameter in einem Prozeß, der auf einem globalen Computer läuft (…).“ Zitat in: Wooley, Benjamin: Die Wirklichkeit der virtuellen Welten, S. 146. Diese Ausprägung steht eigentlich der klassischen Eigenschaft des Geldes entgegen, die der Medientheoretiker Norbert Bolz in Bezug auf den Soziologen Niklas Luhmann prägnant so formuliert: „Geld ist ein Medium zur Simulation von Knappheit.“ Zitat in: Bolz, Norbert: Am Ende der Gutenberggalaxie,

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sichtbar und greifbar als auch in der Kommunikation der Menschen und Maschinen anzutreffen. In dieser Wechselwirkung schafft sie eine Hyperkomplexität, die scheinbar jedem menschlichen Fassungsvermögen entwachsen ist.35 Die Unendlichkeit der Dinge und ihrer Relationen. Die Welt des Menschen der Gegenwart. Wie damit umgehen? Glücklicherweise bietet auch hier die Grundeigenschaft des ersten Menschen eine Hilfestellung. Die Suche nach dem Gegenüber in dem Chaos der Welt scheint auch in unserer Kulturwelt der Gegenwart durch. Fast so, als wären all diese Konzepte und Kontexte unterschwellig noch immer der Suche nach dem Prinzip des einen Zusammenhanges verpflichtet. Selbst wenn sich der Gesamtzusammenhang kaum offenbart, so finden wir doch einen Anker, einen bedeutenden Aspekt der Gegenwart, von dem aus eine Suche nach der Zukunft und dem Platz des Menschen in der Komplexität greifbar wird: Es ist die Agglomeration.

Agglomerationen Sowohl ein Blick auf ein Satellitenbild und damit auf die Welt der Dinge als auch die Strukturen von Kommunikationswegen zeigen einen einfachen Befund: Die Welt ist nicht gleichmäßig.

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S. 92. Dieser scheinbare Wiederspruch löst sich in der Betrachtung auf, dass die Geldmenge global sehr unterschiedlich verteilt ist. Sowohl zwischen Nationen – vgl.: Warenhandel Weltweit in: Mahlke, Stefan (Hg.): Atlas der Globalisierung, S.60 f. – als auch zwischen Bevölkerungsgruppen – vgl.: Milanović, Branko: Der große Sprung, in: Mahlke, Stefan (Hg.): Atlas der Globalisierung, S. 154–157. Geld ist demnach auch zu begreifen als ein Mittel zur Steigerung der „sozialen Macht“ gegenüber anderen Menschen und Gruppe. Vgl.: Harvey, David: The Urbanization of capital, S. 190. Dieses System kann auch unter dem Begriff der Globalisierung betrachtet werden, die der Philosoph Zhao Tingyang dahingehend charakterisiert: „Wohin man auch blickt, ergreift die Globalisierung alle Bereiche sämtlicher Weltregionen und gestattet keine Räume für eine unbeschwerte Existenz außerhalb.“ Zitat in: Tingyang, Zhao: Alles unter einem Himmel, S. 13. Und weiter: „Globalisierung geht weit über extrem entwickelte Kommunikation hinaus, sie bedeutet ‚Trans-Existenz‘ (…) aller Wesen und Dinge, wir sprechen daher von einer Veränderung im ontologischen Sinne.“ Zitat ebd., S. 33. Der Soziologe Helmut Berking gibt die damit verbundene Mobilität wie folgt wieder: „Einem Apercu Zygmunt Baumans zufolge ist Globalisierung vor allem eines: Es ist die Rache der Nomaden (…) die eine fundamentale Differenz und mit ihr das Ende einer machtvollen, 10.000-jährigen Tradition konturieren: Das Ende der Sesshaftigkeit.“ Zitat in: Berking, Helmut: Spaceplacecity, in: Bittner, Regina: Die Stadt als Event, S. 49.

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Strukturierung und Parzellierung führten nicht zu einer Homogenisierung, sondern scheinen eher das Gegenteil zu bewirken: Sowohl Dinge als auch Menschen ballen sich.36 Sie fügen sich in Gruppen von erhöhter Dichte zusammen. Verteilen sich nicht ausgewogen über die Welt, sondern schaffen Ort des Auftürmens und der Zentrierung, wobei mitunter nicht klar ersichtlich ist, um was sich diese Masse eigentlich ballt und was das gravimetrische Zentrum der Konzentration ist, um das die strukturierten Flächen und Objekte kreisen und von dem angezogen werden. Dennoch scheint die Agglomeration das übergeordnete Merkmal der Gegenwart zu sein. Sowohl bei Waren, die sich auf logistische Zentren konzentrieren, als auch bei Flüssen der Telekommunikation oder des Kapitals: Bei allen einzelnen Phänomen zeigt sich früher oder später der Effekt der Agglomeration. Die Konzentration um ein meist nicht direkt zu erkennendes Zentrum. Wenn dies aber eine übergreifende Eigenschaft der Welt zu sein scheint: Wie untersucht man diese Eigenschaft, wo sie sich doch bei den unterschiedlichsten Phänomenen und damit auch in unterschiedlichsten Manifestationen offenbart? Wie kam man diesen wesentlichen Befund zur Gegenwart systematisch erfassen, um eine Prognose für den zukünftigen Menschen zu treffen? Vergleicht man die Landkarten der Welt der Objekte, z. B. anhand der Masse der Menschen, und die Landkarten der Welt der Konzepte, z. B. anhand des Kapitalflusses oder der politischen Verwaltungsstrukturen, so fällt schnell eine Gemeinsamkeit auf: Die unterschiedlichsten Agglomerationen kulminieren in dem, was gemeinhin als Urbanisierung bezeichnet wird.37 Genauer: in der Stadt. 36 37

Für aufschlussreiches Kartenmaterial vgl.: Roser, Max/Ritchie, Hannah/Ortiz-Ospina: Esteban World Population Growth, in: https://ourworldindata.org/world-population-growth (2019, abgerufen am 11.01.2021). Urbanisierung bedeutet schlicht den zunehmenden Umzug der Menschen in die Städte. Vgl.: Macionis, John J./Parrillo, Vinvent N.: Cities and Urban Life, S. 5. Im Jahr 2007 gab es global gesehen zum ersten Mal mehr Stadt- als Landbewohner, Vgl.: Slupina, Manuel: Die Welt wird Stadt, in: Mahlke, Stefan (Hg.): Atlas der Globalisierung, S. 120. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen prognostiziert hierzu: „Das 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert der Städte sein: Urbane Räume werden zur zentralen Organisationsform nahezu aller menschlichen Gesellschaften. Die Stadtbevölkerung könnte sich bis 2050 weltweit von heute knapp 4 Mrd. auf dann 6,5 Mrd. Menschen vergrößern – und mit ihr die urbanen Infrastrukturen. Etwa zwei Drittel der Menschheit werden dann in Städten zu Hause sein. Die Wucht des Urbanisierungsschubs betrifft vor allem Schwellen- und Entwicklungsländer in Asien und Afrika: Knapp 90 % des Wachstums der urbanen Bevölkerung bis 2050 werden in diesen beiden Kontinenten erwartet.“ Zitat in: WBGU: Der Umzug der Menschheit, S. 1. Städte wachsen dabei global betrachtet stetig in ihrer Größe und Einwohnerzahl und werden mitunter zu Metropolen, die der Theologe Christoph Levin und der Philologe Martin Hose wie folgt charakterisieren: „Der Geist braucht Metropolen. Sie sind die kulturellen Schmelztiegel, aus denen Neues erwächst. (…) In der modernen Welt ist der Begriff der ‚Metropole‘ zur Chiffre für eine Urbanität geworden, die sich durch ein ‚Mehr‘ auszeichnet: ein Mehr an Bevölkerung, an Ressourcen, an Kraft und Aufmerksamkeit, an ethnischer oder kultureller Diversität, kurzum ein Mehr an Lebensmöglichkeiten für den Menschen. (…) Gleichzeitig erreichen moderne Metropolen Dimensionen, die nicht mehr beherrschbar scheinen. Die Riesenstadt mutiert zum ‚Moloch‘, der den einzelnen verschlingt oder wenigstens seiner In-

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Das überrascht nicht wirklich, zeichnet sich doch das Konzept der Stadt, vor allem unter dem Blickwinkel der Historie und der Macht, immer wieder als Anker und Motor von Wechselwirkungen aller Art aus. Da die überwiegende Anzahl der Menschen in urbanen Räumen lebt, ist es nicht zu weit hergeholt zu behaupten, dass die Stadt die Verkörperung der gegenwärtigen globalen Kultur ist.38 Als Modus der kulturellen Verdichtung ballen sich in ihr nicht nur die Güter einer objektivierten Welt, sondern auch die Gedanken und Konzepte unterschiedlichster Menschen in einem direkten Austausch. Das Konzept der Stadt als solches ist demnach als Beispiel prädestiniert dafür, wesentliche Aspekte der Gegenwart an dem übergeordneten Thema der Agglomeration herauszuarbeiten.39 Vor allem ein Blick auf ihre Geschichte, der natürlich nie globalhistorisch umfassend sein kann, sollte helfen, die wesentlichen Aspekte, die sich in diesem Agglomerationsbrennpunkt der Gegenwart zeigen, zu erkennen40 – um so, falls überhaupt möglich, die weitere Entwicklung fundiert abschätzen zu können.

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dividualität beraubt.“ Zitat in: Hose Martin/Levin, Christoph: Der Geist braucht Metropolen – Metropolen brauchen den Geist, in: Hose Martin/Levin, Christoph: Metropolen des Geistes, S. 9. Seit 2007 leben global betrachtet mehr Menschen in der Stadt als im ländlichen Raum. Vgl.: WBGU: Der Umzug der Menschheit, S. 43. Die Stadt als allgemeines Phänomen ist wesentlich geprägt von einer Agglomeration, die gleichzeitig eine Konzentration auf ein Zentrum hin erzeugt. Der marxistische Soziologe Henri Lefebvre bemerkt hierzu: „Keine städtische Realität ohne ein Zentrum (…); ohne eine Versammlung all dessen, was im Raum entsteht und dort geschehen kann, ohne gegebene oder mögliche Begegnungen aller ‚Objekte‘ und ‚Subjekte‘.“ Zitat in: Lefebvre, Henri: Das Recht auf Stadt, S. 216. Städte existieren dabei bisher nicht autonom. Obwohl sie im Gegensatz zum Land stehen, sind sie doch auf die Versorgung durch das Land angewiesen und damit immer Teil einer größeren Gesellschaft. Vgl.: Macionis, John J./Parrillo, Vinvent N.: Cities and Urban Life, S. 2. Der Philosoph und prominente Kritiker des Kapitalismus Karl Marx sieht darin die wesentliche Triebfeder moderner Ökonomien: „Die Grundlage aller entwickelten und durch Warenaustausch vermittelten Teilung der Arbeit ist die Scheidung von Stadt und Land. Man kann sagen, daß die ganze ökonomische Geschichte der Gesellschaft sich in der Bewegung dieses Gegensatzes zusammenfasst, auf den wir jedoch hier nicht weiter eingehen.“ Zitat in: Marx, Karl: Das Kapital, S. 228 Hiermit wird auch ein Vorschlag Max Horkheimers aufgegriffen, die Totalität der Gesellschaft durch geschichtliche Reflexivität zu erkennen. Vgl.: Greis, Christian: Die Pädagogik der Frankfurter Schule, S. 7. Über die gesamte Menschheitsgeschichte hinweg betrachtet sind Städte dabei ein vergleichsweise junges Phänomen (vgl.: Palen, J. John: The Urban World, S.3), das mit dem Auftreten der frühesten sog. Hochkulturen einhergeht. Vgl.: Sander-Faes, Stephan/Zimmermann, Clemens: Zur Einführung, in: Sander-Faes, Stephan/ Zimmermann, Clemens: Weltstädte, Metropolen, Megastädte, S. 7.

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Eine kurze Geschichte urbaner Strukturen Es ist dabei zu beachten, dass mitunter gar nicht so eindeutig ist, was unter dem Begriff Stadt verstanden wird. Sicherlich sind die Millionenmetropolen der Gegenwart sofort als Stadt identifizierbar und auch eine Kleinstadt fällt sicherlich unter diesen Begriff. Aber wie ist es mit Siedlungen, in denen nur Wohnhäuser für ein paar hundert Menschen nebeneinanderstehen? Ist das noch Stadt, oder schon Dorf oder Land? Und wo genau ist da die Grenze? Die gängigste Definition von Stadt liegt daher in ihrer kategorischen Eigenschaft, in der Aufgabe, die sie erfüllt: in ihrer Funktion als ein Zentrum; sei es als ein politisches Zentrum, als Handels- oder Produktionszentrum oder als Zentrum von Kunst und Wissenschaft;41 gemeinhin also all das, was unter dem Begriff der Zivilisation gefasst werden kann. Städte sind dabei nicht der „Naturzustand“ menschlichen Lebens, sondern eine kulturelle Leistung ebendieser Zivilisierung; und angesichts der Zeit, seit der der Homo Sapiens auf der Erde wandelt – nach dem Erscheinen des „ersten Menschen“ vor wahrscheinlich 300 000 Jahren – ein recht junges und neues Phänomen. Gerade einmal seit rund 10 000 Jahren gibt es diese Art der städtischen Existenz, dieser besonderen Form menschlichen Zusammenlebens.42 Erst ab diesem Zeitpunkt, dem Akt der Zivilisationsentstehung, können anhand der Räume und Objekte konkretere Rückschlüsse auf das Leben der vergangenen Menschen geschlossen werden. Der „erste Mensch“, der Mensch vor der Zivilisation, ist für uns weitgehend ein Unbekannter, vermutlich war er als Person in einer kleinen oder mittleren Gruppe organisiert, die sich als Schicksalsgemeinschaft durch die Natur bewegte und in Wechselwirkung mit ihr ein ursprüngliches „Dasein“, fast ohne Hinterlassenschaften, lebte. Wahrscheinlich vor 40 000 Jahren begann dann eine Entwicklung, die sich als Verortung begreifen lässt. In Höhlen finden sich Zeugnisse der Menschen, seien es Artefakte, Werkzeuge, oder künstlerische Praktiken wie die Höhlenmalerei.43 In den bildlichen Darstellungen finden sich Handabrücke, Abbilder eins Lebens über den Tod hinaus, und Interpretationen von Tieren und Natur, meist im Verhältnis zum Menschen gruppiert. Eine Dualität zwischen dem chaotisch-natürlichen Raum des „Außen“ und dem

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Vgl.: WBGU: Der Umzug der Menschheit, S. 59. Für einen knappen, aber globalen und prägnanten Überblick über die historische Entwicklung der Städte vgl.: Palen, J. John: The Urban World, S. 19–44. Der Prähistoriker Harald Floss betont die Wichtigkeit dieser Entwicklung, die sich in einem starken Anstieg von Kunstobjekten und Höhlenkunst auch in Europa ab 40 000 v.Chr. zeigt: „Wir denken, dass der erste Nachweis ritueller, kultischer Handlungen, früheste Formen von Religion, in deren Zuge ‚Kunstobjekte‘ entstanden sind, vermutlich den entscheidenden Wandel hin zum Menschen markieren.“ Zitat in: Floss, Harald: Macht Kunst den Menschen?, in: Klempt, Eberhard: Explodierende Vielfalt, S. 173.

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strukturierten, beständigen und auf den Menschen bezogenen Raum des „Innen“.44 Im Verlauf der Menschheitsgeschichte dehnt sich nun dieser Innenraum auf die Natur aus. Der gedankliche, „ewige“ Kosmos der Bilder und ihrer Geschichten überträgt sich auf das Land. Erst symbolisch in Monolithen und rituellen Kultorten, später dann auch physisch, gefasst unter dem Begriff der neolithischen Revolution.45 Der gedankliche Kosmos der Höhlen manifestiert sich in einer physischen Präsenz, wird Raum und damit Stadt. Die ersten Städte, nach heutigem Verständnis eher Dörfer, waren dabei wesentlich geprägt durch die Landwirtschaft, begriffen als konkrete Ausprägung dieser beginnenden Macht des Menschen über die Natur. Vor allem im sog. „fruchtbaren Halbmond“ des alten Orients wird vor ca. 10 000 Jahren das Klima wärmer und feuchter, was feste Ansiedlungen mit räumlich statisch gefasster 44

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Hierzu schrieb der Archäologe André Leroi-Gourhan: „Der Zeitpunkt in der Evolution, zu dem die ersten bildlichen Darstellungen auftauchen, ist also zugleich der Punkt, da der Wohnraum gegen das Chaos der Umgebung abgegrenzt wird. Die Rolle des Menschen als Organisator des Raumes erscheint hier als dessen systematische Einrichtung.“ Zitat in: Leroi-Gourhan, André: Die symbolische Domestikation des Raumes (1965), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 232. Der Archäologe Ian Hodder hält, in Bezug auf den Philosophen Maurice Merleau-Ponty und der Definition von Objekten als Erinnerungsträger, zu diesem Prozess fest: „One of the most basic aspects of the ‚Neolithic revolution‘ was the massive increase in the amount of enduring materiality that came to surround people. From the settlement mounds themselves, to the houses within them, to the pottery and ground-stone objects, people became encumbered in a world they had made. (…) In the Neolithic, the increased constructed materiality of life provided a whole new arena for social manipulation and engagement – the material past and the memories embedded within the objects of daily and ritual life.“ Zitat in: Hodder, Ian: Memory, in: Hodder, Ian: Çatalhöyük perspectives, S. 183. Diese Monolithen symbolisieren dabei meist die Macht des Menschen über die Tiere, während vorher, im Zeitalter des Jägers und Sammlers, eine solche Macht wohl kaum gegeben war. Vgl.: Hodder, Ian: Religion in the Emergence of Civilization, S. 21. Der Archäologe Joachim Bretschneider beschreibt diesen Übergang am Beispiel der Entwicklung einer nomadischen Jägerkultur hin zu den ersten Tempeln wie dem rund 10 000 Jahre alten Kultort Göbekli-Tepe: „Mehr als 1500 Jahre bleibt die heilige Stätte das Zentrum des ‚Pfeilerwesen-Kultes‘, bis sie (…) zu Beginn des achten Jahrtausends v. Chr. aufgegeben und zugeschüttet, quasi bestattet wurde. Es ist das bewusst herbeigeführte Ende einer, bis weit in die jüngere Altsteinzeit zurückreichenden Ära, ihrer ‚Götter‘ und Symbole, die mit dem Göbekli-Tepe ihren bislang bekanntesten, großartigsten Abschluss finden sollte. Der Jäger hatte an Bedeutung verloren, und als seine Bedeutung schwand, schwand auch die Bedeutung seiner religiösen Riten und Zwänge, und mit ihnen verschwanden auch seine Kultanlagen. Als die wirtschaftlichen Grundlagen sich damals wandelten, sank auch der weltanschauliche Überbau in den Staub. Die Feuer der Jäger, die so lange um das Heiligtum gebrannt hatten, waren für immer erloschen.“ Zitat in: Bretschneider, Joachim: Vom Jäger und Sammler zum Bewohner von Städten, in: Klempt, Eberhard: Explodierende Vielfalt, S.  184. Zum Begriff des Symbols merkt der Kunsthistoriker Roelof van Straten an: „Es gibt in der Kunstgeschichte kaum Begriffe, deren Definition schwieriger ist als die des Begriffs „Symbol“ (…) ein Symbol in der bildenden Kunst ist ein Gegenstand (im weiteren Sinne), eine Pflanze, ein Tier oder ein Zeichen (…), dem in einem bestimmten Kontext eine (tiefere) Bedeutung zukommt (…) daß ein Symbol dazu dient, den Betrachter eines Kunstwerkes an etwas anderes denken zu lassen als an den abgebildeten Gegenstand.“ Zitat in: Straten, Roelof van: Einführung in die Ikonographie, S. 57.

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Lebensmittelversorgung begünstigt und eine Art frühen „Urbansierungsboom“ entstehen lässt.46 Besonders hervorzuheben ist in dieser frühen ersten Phase der Städte die Siedlung Çatalhöyük. Diese ist rund 9 000 Jahre alt, war für 2 000 Jahre bewohnt und verfügte in ihrer Siedlungsgeschichte über eine Population von 3 500 bis 8 000 Menschen.47 Çatalhöyük als Stadt war von einer dichten Agglomeration von Häusern geprägt, die Wand an Wand standen, sodass es keine Straßen nach heutigem Vorbild gab und das öffentliche Leben sich auf den Dächern dieser „Megastruktur“ abspielte. Jedes Haus bestand aus mindestens einem großen Raum, der über das Dach mit Leitern erschlossen wurde. Der Boden dieses Raumes war durch Erhöhungen in Zonen gegliedert und trennte so saubere Bereiche des Aufenthaltes und Schlafens von den dreckigen Bereichen des Kochens.48 Die Wände waren häufig mit Bildern und Symbolen bemalt, ähnlich der Höhlenmalerei, sodass diese Räume von Çatalhöyük nicht nur physische Annehmlichkeiten boten, sondern auch Geschichten erzählten, Atmosphäre schufen und Deutungsmuster in diese Räume und ihre Bewohner einprägten.49 Verstärkt wurde diese mystisch-mediale Komponente durch die Toten, 46

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Vgl.: Hodder, Ian: Introduction, in: Hodder, Ian: Çatalhöyük perspectives, S.  8. Für einen geschichtlichen Überblick über die neolithischn Revolution in diesem Bereich bis zum Jahr 0 vgl.: Krebernik, Manfred: Götter und Mythen des alten Orients, S. 11–21. Für eine Übersicht über das zeitliche Auftreten von Städten in der Region vgl.: Hodder, Ian/Farid, Shahina: Questions, History of Work and Summary of Results, in: Hodder, Ian: Çatalhöyük Excavations, S. 6. Der Psychologe Sigmund Freud weist darauf hin, dass dieser Prozess wohl auch Auswirkungen auf das subjektive Menschenbild hatte, nämlich dahingehend, dass eigentlich die Arbeitsteilung als Beginn der Zivilisation verstanden werden kann: „Nachdem der Urmensch entdeckt hatte, daß es – wörtlich so verstanden – in seiner Hand lag, sein Los auf der Erde durch Arbeit zu verbessen, konnte es ihm nicht gleichgültig sein, ob ein anderer mit oder gegen ihn arbeitete. Der andere gewann für ihn den Wert des Mitarbeiters, mit dem zusammenzuleben nützlich war.“ Zitat in: Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, S.64. Die Anthropologin Sonya Atalay und die Archäologin Christine A. Hastorf weisen bezüglich der Lebensmittel auf einen interessanten Aspekt hin: „Perhaps more than any other human activity, food creates community. (…) But food that is eaten must be culturally constructed to be consumed (…) Food is corporeal in that it participates in the creation of the literal as well as the social person. In the end, the body holds the results of these social interactions, of the many meals and their preperations.“ Zitat in: Atalay, Sonya/Hastorf, Christine A.: Foodways at Çatalhöyük, in: Hodder, Ian: Çatalhöyük perspectives, S. 109. Vgl.: Hodder, Ian/Farid, Shahina: Questions, History of Work and Summary of Results, in: Hodder, Ian: Çatalhöyük Excavations, S. 1. Ebd., S. 21. Der Biologe Jakob Johann von Uexküll verweist auf dieses Verhältnis von Raum und der Bildung von Bildern und Gegenständen, wenn er schreibt: „Die produktive Bildungskraft vereinigt auch diese Empfindungen wie alle Sinnesempfindungen nach einer sehr allgemeinen Regel zu einer neuen Einheit, die kein Gegenstand ist, weil jeder Gegenstand eine Umgrenzung verlangt. Diese Einheit ist aber doch eine Anschauung mit objektiver Realität – wir nennen sie Raum. Der Raum geht jeder Bildung von Gegenständen voraus.“ Zitat in: Uexküll, Jakob Johann von: Gedanken über die Entstehung des Raumes (1913), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 86.

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die nicht außerhalb des Hauses, sondern in den Häusern, unter den erhöhten Zonen des Schlafens, beerdigt wurden. Die Häuser waren damit auch Erinnerungskammern für das Vergangene. Die Mythen und Geschichten, die wahrscheinlich in diesen Häusern erzählt wurden, waren mit den symbolischen Bildern an den Wänden verknüpft und über die Toten mit einer Historie verbunden.50 Diese „House-based control of memory“, wie es der Archäologe Ian Hodder formuliert, kann als prägend für das Ausbilden von unterschiedlichen Identitäten, beim Einzelnen und bei der Gruppe innerhalb dieser Häusern, verstanden werden.51 Raum und Geschichten verbanden sich zu einem Bedeutungsträger, der dem einzelnen Menschen seinen Platz zuwies und ihn von Mitmenschen anderer Gruppen trennte.52 Obwohl die Stadt Çatalhöyük ursprünglich von einer gewissen Egalität geprägt war, bildeten sich parallel zu diesen unterschiedlichen „Stammbäumen“ von Familien und Gruppen auch unterschiedliche wirtschaftliche „Erfolge“ der Häuser aus, was wiederum Auswirkungen auf die Gestaltungsqualität einzelner Häuser hatte.53 Einzelne Häuser wuchsen und zerteilten sich in immer weitere Innenräume, in denen vermehrt Gegenstände und Werkzeuge hergestellt wurden. Auch wuchs die Stadt, begrenzt durch die dichte Bauweise, nach oben und wurde mehrstöckig.54 Die unterschiedlichen Identitäten der Häuser, ihre Geschichten und Geisterwelten, die beginnende Arbeitsteilung unter den Häusern und ihr unterschiedlicher Erfolg beim Bewältigen von Aufgaben und der Agglomeration von Menschen und Gütern in ihnen, können als ursächlich für das Ausbilden einer sozialen Geografie gesehen werden.55 In dieser 50

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Der Historiker Michel de Certeau fasst generell die Bedeutung von Mythen als Scharnier zur Schaffung von Räumen aus räumlichen Orten dahingehend zusammen: „(…) einmal durch die Objekte, die letztlich auf das Dasein von etwas Totem, auf das Gesetz eines ‚Ortes‘ reduziert werden könnten (…) und zum anderen durch die Handlungen, die (…) an (…) einem menschlichen Wesen vorgenommen – die ‚Räume‘ durch Aktionen von historischen Subjekten abstecken (…). Die Erzählungen führen also eine Arbeit aus, die unaufhörlich Orte in Räume und Räume in Orte verwandelt.“ Zitat in: Certeau, Michel de: Praktiken im Raum (1980), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 346. Zitat in: Hodder, Ian: Memory, in: Hodder, Ian: Çatalhöyük perspectives, S. 195. Vgl.: Shults, Fount LeRon: Spiritual entanglement, in: Hodder, Ian: Religion in the Emergence of Civilization, S. 80. Der Theologe Fount LeRon Shults merkt zu dieser Entwicklung in Çatalhöyük an: „In other words, „civilization“ evolved slowly as a result of small changes in the way persons were increasingly bound to material objects and their relation to one another became increasingly mediated through such objects.“ Zitat in LeRon Shults, Fount: Spiritual entanglement, in: Hodder, Ian: Religion in the Emergence of Civilization, S. 78 f. Vgl.: Asouti, Eleni: Group Indentity and the Politics of Dwelling at Neolitihic Çatalhöyük, in: Hodder, Ian: Çatalhöyük perspectives, S. 89 f. Es ist bemerkenswert, dass die Mehrstöckigkeit der Häuser auch mit einem, am Skelett messbaren, Anstieg des physischen Stresses einherging. Vgl.: Hodder, Ian/Farid, Shahina: Questions, History of Work and Summary of Results, in: Hodder, Ian: Çatalhöyük Excavations, S. 34. Vgl.: Hodder, Ian/Farid, Shahina: Questions, History of Work and Summary of Results, in: Hodder, Ian: Çatalhöyük Excavations, S. 33. Zur sozialen Geografie vgl.: Ebd., S. 9.

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sind die Menschen nicht gleich, sondern hierarchisch nach den Räumen, denen sie angehören, geordnet.56 In der Geschichte von Çatalhöyük lässt sich nun in der Folgezeit ab rund 7000 v. Chr. ein Prozess beobachten, der typisch wird – für andere Städte der Region und der Zeit, aber auch weit darüber hinaus: das Auftreten der Herrschaft.57 Und zwar einer Herrschaft, verstanden als eine übergeordnete, zentralistische Struktur, die die pluralistischen Einzelräume und Identitäten auf eine Perspektive hin vereint und sich baulich manifestiert.58 Diese Manifestation kann nach außen erfolgen, wie bei der berühmten Mauer von Jericho59, oder aber auch nach innen, wie bei dem Prototyp der Stadt als kultureller Metropole: Babylon. Babylon ist vor allem deswegen bedeutend, da sich hier um 1000 v.Chr. das Zentrum eines – aus damaliger Perspektive – Weltreiches befand.60 Eine große Anzahl von fast 200 000 Menschen bewohnte die Stadt in Häusern, die durch geometrisch angelegte Straßen getrennt und nach Funktionen geordnet waren. In der Mitte das Zentrum der Agglomeration: der Tempel des Stadtgottes Marduk; 60 Meter hoch, ein weithin sichtbares Zeichen für die Herrschaft.61 Eine Herrschaft, die nicht nur den Stadtraum und die Identitäten seiner Bewohner umfasste, sondern sich durch das

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Die Archäologen Ian Hodder und Lynn Meskel betonen die Bedeutung dieser Häuser in der Zeit der Neolithischen Revolution mit den Worten: „(…) the context for the prescening of dangerous, wild things and the heads of human and animals at Çatalhöyük is the house. The symbolic importance of the house has been widely noted for the Neolithic of the Middle East (…), and ideas and practices surrounding the house, or „domus“ were central to the process of sedentism and domestication (…) The house was used to create long-term dependencies and relationships so central to intensive, delayed-return economics.“ Zitat in: Hodder, Ian/Meskel, Lynn: The symbolism of Çatalhöyük in its regional context, in: Hodder, Ian: Religion in the Emergence of Civilization, S. 61 f. Der Begriff der Herrschaft ist für dieses hier vorliegende Werk von zentraler Bedeutung und bedarf einer genauen Definition. Herrschaft wird hier und im Folgenden als eine externe Deutungsstruktur verstanden, die in der Kommunikation zwischen Menschen, aber auch im Selbstbild des einzelnen Menschen angleichend wirkt. Also ein externes Prinzip, das aber in den Menschen unter dieser Herrschaft implementiert ist und dadurch das Handeln und das Denken des Gegenübers auf bestimmten Bahnen eingrenzt und damit prognostizierbar und vorhersehbar macht. Somit die Eingrenzung der menschlichen Perspektive durch eine konstruierte Perspektive. Für diese Entwicklung in Çatalhöyük vgl.: Whitehouse, Harvey/Hodder, Ian: Modes of religiosity at Çatalhöyük, in: Hodder, Ian: Religion in the Emergence of Civilization, S. 122–145. Tatsächlich existierte Jericho ungefähr zeitgleich wie Çatalhöyük, war aber kleiner. Rund 1 500 Menschen schützten sich hier ca. 9500 bis 6200 v. Chr. mit einer Feldsteinmauer und einen großen Graben vor der Außenwelt. Vgl: Bretschneider, Joachim: Vom Jäger und Sammler zum Bewohner von Städten, in: Klempt, Eberhard: Explodierende Vielfalt, S. 180. Vgl.: Sallaberger, Walter: Babylon, in: Hose Martin/Levin, Christoph: Metropolen des Geistes, S. 51. Ebd., S. 45.

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Medium des Geistes scheinbar über die ganze Welt als vereinendes Prinzip ausdehnte.62 Es ist die Macht der Ideologie bzw. des Glaubens. Des Glaubens an einen obersten Gott, an eine absolute, übergeordnete Perspektive, die sich im baulichen Körper der Stadt mit ihrem zentralen Tempel manifestierte. Diese Konzentration auf eine Mitte, baulich wie gedanklich, ist dabei das Ergebnis eines langwierigen Prozesses, in dem die unterschiedlichsten Mythen und religiösen Geschichten der Region agglomeriert wurden. Aus den Mythen entstanden Gottheiten.63 Gottheiten, die quasi Welterzählungen unter einem Prinzip zusammenfassten und zwecks Identitätsstiftung an einen bestimmten Raum banden. Waren diese wie in Çatalhöyük tatsächlich zuerst wohl noch private Götter, prägten sich deren Geschichten den Städten im Laufe der Zeit ein, die sich unter einem „Stadtgott“ zusammenschlossen. Diese Gottheiten wurden in der Folge in ein umfassenderes Pantheon eingebunden, das quasi metaphysisch, aber auch sehr real, die Beziehungen in der Region des fruchtbaren Halbmondes definierte.64 Die Vorherrschaft Babylons beruhte dann auf seinem legendären König Hammurapi, der 1792–1750 v. Chr. lebte. Dieser erklärte den babylonischen Stadtgott Marduk zum Oberhaupt des Götterpantheons, schuf im Codex Hamurapi eine definierte politische Theologie und prägte damit das entstehende Reich, indem der Text – auf Stelen geschrieben – sich in der Landschaft manifestierte.65 In der Folge wuchs das babylonische Reich vor allem durch die Ausbreitung der Kultus um Marduk und den Glauben an eine übergeordnete, göttlich-herrschaftliche Perspektive.66 Die Götterwelten der unterschiedlichsten Räume hatten sich auf ein Prinzip hin agglomeriert, das nun wiederum als ein universelles Prinzip von dem 62 63

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Ebd., S. 47. Der Altorientalist Manfred Krebernik definiert diese folgendermaßen: „Die Gottheiten stellen in der Regel jeweils eine kosmische Entität dar. Der durch Gottheiten repräsentierte Kosmos (…) umfasst Natur, Mensch und Kultur einschließlich abstrakter Aspekte.“ Zitat in: Krebernik, Manfred: Götter und Mythen des alten Orients, S. 46. Ab ca. 2600 v. Chr. werden diese in sog. Götterlisten erfasst. Die älteste Liste aus Suruppag umfasst ca. 560 Namen von Göttern, spätere, wie die in Babylon entstandene An=Anum, sind deutlich umfangreicher. Vgl.: Krebernik, Manfred: Götter und Mythen des alten Orients, S. 40 ff. Vgl. ebd., S. 23. Zum Wachstum: Vgl.: Sallaberger, Walter: Babylon, in: Hose Martin/Levin, Christoph: Metropolen des Geistes, S. 52. Der Altorientalist Manfred Krebernik beschreibt aufschlussreich die mesopotamischen Mythen : „Die Mythen stimmen darin überein, dass der Mensch erschaffen wurde, um die Götter von der Arbeit zu entlasten und sie durch Kultivierung des Landes und den drauf beruhenden Opferkult zu versorgen. Da die Menschen dabei auch sich selbst versorgen, bilden Menschen und Götter zusammen praktisch einen kosmischen Haushalt.“ Zitat in: Krebernik, Manfred: Götter und Mythen des alten Orients, S. 85 f. Dieses Teilen der Räume kann auch als eine Art Gottesstaat gesehen werden. Arbeitsteilung scheint dementsprechend eines der Hauptmerkmale von Städten, von Babylon bis heute, zu sein, wie es auch schon der Philosoph Platon beschrieb: „Ein Staat entsteht (…) weil keiner von uns sich selbst genügt (…). So nimmt also einer den anderen bald bei dieser, bald bei jener Hilfeleistung in Anspruch, und weil wir vieler Dinge bedürfen, so haben wir

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Zentrum der Stadt Babylon aus in die Welt strahlte, sie formte und definierte. Die Räume des Menschen waren nicht mehr innen, sondern erstreckten sich nach außen; tendenziell unbegrenzt. Beginnend mit dem „Erfolgsmodell“ Babylon lassen sich ähnliche städtische Strukturen überall auf der Welt feststellen, die scheinbar alle dem stetigen Bevölkerungswachstum verpflichtet sind. Die nächste bemerkenswerte Stadt der Historie stellt sicherlich Alexandria, 332 v.Chr. gegründet, dar.67 In dieser frühen Metropole mit mehr als 500 000 Einwohnern wird auch ein anderer wesentlicher Aspekt der Stadt im Allgemeinen deutlich: die Organisation der städtischen „Innenräume“, wie Wohnhäuser und Räume zur besonderen Nutzung, nach einem übergeordneten Prinzip. Eine Herrschaft, die die einzelnen Räume in Beziehung zueinander setzt und so funktional die Gesellschaft definiert:68 metaphysisch, religiös, ideologisch; aber auch sehr konkret baulich und physisch. In Alexandria drückt sich dies prototypisch aus, da die Stadt nicht organisch gewachsen ist, sondern eine Planstadt war. Die gesamte Stadt war streng geometrisch angelegt und definierte räumlich klar bestimmte Bereiche nach Nutzen, Funktion und Inhalt.69 Ein übergeordnetes Prinzip, das zum einen den „Glauben“ darstellte, aber sich auch direkt in der Lebenswelt der Stadtbewohner manifestierte. Diese Überschneidung eines übergeordneten Prinzips mit der subjektiven Glaubenswelt der Stadtbewohner zeigt sich dann am deutlichsten im städtischen Zentrum Europas: Rom. Im Jahr 0 war Rom in allen Belangen das Zentrum eines weitgespannten Großreiches und überschritt die Grenze von 1 000 000 Einwohnern. Besonders bemerkenswert an Rom ist seine Eigenschaft als eigentlich pluralistisches System. Durch die massiven Eroberungen bestand das römische Imperium aus unterschiedlichsten Identitäten, die größtenteils ihre Glaubens- und Mythenbilder behalten konnten, wenn sie diese in die Makrostruktur römischer Herrschaft integrierten. Die Stadt Rom selbst bestand Schätzungen zufolge zu 90 % aus Einwanderern, die mit ihren jeweiligen kulturellen Räumen die Stadt prägten oder neue Räume definieren konnten, solange sie die formale und physische Macht der weltlichen Herrscher akzeptierten.70 Eine Herrschaft, die sich

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viele (…) versammelt und dieser Wohngemeinschaft den Namen Staat gegeben, nicht wahr? Ja, gewiss.“ Zitat in: Platon/Krapinger, Gernot: Der Staat, S. 71. Vgl.: Pfeiffer, Stefan: Erste Stadt der Welt, metropolis und megalopolis, in: Sander-Faes, Stephan/Zimmermann, Clemens: Weltstädte, Metropolen, Megastädte, S. 32. Es ist in dieser Hinsicht bemerkenswert, dass der Raum im antiken Griechenland noch nicht als endlos umfassend definiert wurde, sondern als eine endliche Geometrie zwischen Figuren und Körpern. Vgl.: Damisch, Hubert: Der Ursprung der Perspektive, S. 15. Vgl.: Pfeiffer, Stefan: Erste Stadt der Welt, metropolis und megalopolis, in: Sander-Faes, Stephan/Zimmermann, Clemens: Weltstädte, Metropolen, Megastädte, S. 35. Vgl.: Behrwald, Ralf: „Schon längst ist der syrische Orontes in den Tiber gemündet“, in: Sander-Faes, Stephan/ Zimmermann, Clemens: Weltstädte, Metropolen, Megastädte, S. 47.

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nach vermeintlich objektivierten Kriterien richtete, ihre metaphysische Grundierung aber in der Gründung und dem Werden der Stadt selbst verortete.71 Die Stadt war damit nicht nur ein Abbild einer mystischen Welt, sondern wurde ihr eigener Mythos. Eine Stärkung des Innenraumes, der vor allem ein gedanklich-kultureller war, gegenüber dem Außenraum, der Natur und den Barbaren.72 Auch die Bewohner entlegenster Städte im römischen Reich konnten sich als Bewohner Roms fühlen, indem sie anhand von Moden, Themen und Kulturprodukten symbolisch an diesem Mythos des Städtischen partizipierten. Diese Bedeutungssteigerung des Stadtraums wird dann besonders deutlich im Christentum, dessen Hauptsitz Rom eine Verschmelzung von weltlicher und mystischer Macht wird. Ein transzendentes Reich Gottes, dessen mythische Gestalt des „himmlischen Jerusalems“ sich in Rom als seiner realen Verkörperung manifestiert und von dort aus in die Welt und das „Außen“ ausstrahlt.73 Orientiert am Vorbild Roms können die Städte im europäischen Mittelalter als solche 71 72

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Vgl.: Oberste, Jörg: Die Geburt der Metropole, S. 276. Der so entstehende „topografische Dualismus“ zeigt sich auch in der Bestattungskultur der Spätantike, wie es der Historiker Jörg Oberste beschreibt: „Das ummauerte Stadtgebiet war durch eine sakrale Grenze, das pomerium (post moerium), von seiner ländlichen Umgebung getrennt. Am Beispiel der Stadt Rom lässt sich diese Situation idealtypisch ablesen, die sich als generelles urbanistisches Muster im gesamten Imperium Romanum durchsetzte.“ Zitat in: Oberste, Jörg: Die Geburt der Metropole, S. 9. Der Kunsthistoriker Michael Müller und der Kommunikationswissenschaftler Franz Dröge bemerken hierzu: „Die europäische Stadt ist in der christlichen Glaubenswelt ein Ort, der immer auch über sich hinaus auf einen im Glauben der Menschen vorgestellten imaginären Raum verweist, dessen Anwesenheit im subjektiven Erleben des realen Stadtraumes wir heute kaum mehr ermessen können (…) Die Stadt ist ein Konzept: das himmlische Jerusalem, dessen Stellvertreterin auf Erden Rom ist.“ Zitat in: Müller, Michael/Dröge, Franz: Die ausgestellte Stadt, S. 31. Der Theologe Christoph Levin schreibt zur Bedeutung des „himmlischen Jerusalem“ in Bezug auf die jüdische Apokalyptik: „Die religiösen Erwartungen, die sich mit dieser Stadt und dem Tempel verbanden, durften nicht widerlegt werden. So streifte das ‚Jerusalem, das droben ist,‘ die Fesseln der Geschichte ab und wurde, allen Eroberungen und Zerstörungen entrückt, zur idealen Gottesstadt, in deren ebenmäßigen, idealen Plan die Gerechtigkeit Gottes ihre gebaute Form findet und in der jede Benachteiligung ein Ende hat. (…) So konnte Jerusalem zu einer der wirkmächtigsten Utopien auch der abendländischen Geschichte werden. Nachdem Jerusalems Bedeutung als Metropole des Geistes beendet war, begann seine Rolle als Mythos.“ Zitat in: Levin, Christoph: Jerusalem, in: Hose Martin/Levin, Christoph: Metropolen des Geistes, S. 100. Das geistige Leben, diese metaphysische Komponente, ist dabei immer anhand von Bauten, Bildern und Riten im Stadtbild präsent. Vgl.: Bauer, Franz Alto: Das christliche Rom, in: Hose Martin/Levin, Christoph: Metropolen des Geistes, S. 47. Der Althistoriker Alexander Demandt weist auf den größeren geistesgeschichtlichen Hintergrund des Verhältnisses von Stadt und Christentum hin: „Der von den Vorsokratikern eingeleitete, von Platon, Aristoteles und Cicero fortgeführte Rationalisierungsprozess vom Mythos zum Logos des Staates wurde im Christentum metaphysisch revidiert. Die attische Demokratie entsprach nicht mehr der Monarchie im olympischen Götterhimmel wie zuvor das Königtum Agamemnons. Die Parallelität zwischen kosmischer und irdischer Ordnung stellte erst das römische Kaisertum wieder hier (sic!), vollendet nach dem Willen Gottes gemäß dem universellen Geltungsanspruch der Kirche. Das Staatsideal der christlichen Monarchie war das Ergebnis einer tausendjährigen Suche nach dem Idealstaat und sollte weitere tausend Jahre

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Strukturen verstanden werden. Gruppiert um ein Zentrum, das in Gestalt immer höher werdender Kirchtürme symbolisch auf den Himmel als metaphysische Ordnungsstruktur verweist, und diese Struktur als Geist von den Städten aus in das Land trägt.74 Natur in Kultur transformiert. Dies ist durchaus konkret zu verstehen, weil das Mittelalter in Europa vor allem durch eine Umwandlung natürlicher Landschaftsräume in kultivierte Nutzflächen geprägt ist. Die mittelalterlichen Städte definieren sich vor allem als Zentren dieser Kulturlandschaften. In ihnen werden die

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das politische Denken beherrschen. Erst mit der Renaissance setzte wieder eine neue Phase der Grundsatzüberlegung, eine zweite Aufklärung, ein.“ Zitat in: Demandt, Alexander: Der Idealstaat, S. 408. Der heutige Begriff der Metropole stammt übrigens von dem Begriff metropolis, der im Mittelalter das Zentrum einer Kirchenprovinz bezeichnete. Vgl.: Oberste, Jörg: Die Geburt der Metropole, S. 28 f. Der Soziologe Henri Lefebvre äußert sich zur mittelalterlichen Stadt wie folgt: „Die orientalische und die antike Stadt waren ihrem Wesen nach politisch; die mittelalterliche Stadt war, ohne ihren politischen Charakter einzubüßen, in erster Linie gekennzeichnet durch Handel, Handwerk und Banken. Sie verleibte sich die zuvor quasi nomadischen, aus der Stadt abgedrängten Händler ein. (…) Die Ländereien entgleiten den Feudalherren und gehen in die Hände städtischer Kapitalisten über. (…) Daraus folgt, dass sich die ‚Gesellschaft‘ als Ganzes, bestehend aus der Stadt, dem Land und den deren Beziehungen regulierenden Institutionen, zunehmend zu einem Städtenetz entwickelt, das mit einer gewissen (…) Arbeitsteilung zwischen diesen Städten einhergeht (…).“ Zitat in: Lefebvre, Henri: Das Recht auf Stadt, S. 30 f. In Bezug auf die Kirchen ist es bezeichnend, dass das Urchristentum keine Sakralbauten, sondern nur Gemeindebauten kannte. Das Prinzip des Tempels als einem Ort Gottes wurde vom Glaubensgründer Paulus sogar abgelehnt. Erst mit Kaiser Konstantin und der Verschmelzung von dem nun Staatsreligion gewordenen Christentum mit der weltlichen Macht begann die Errichtung sakraler Bauten. Vgl.: Klein, Bruno: Göttliche Gotik?, in: Vorländer, Hans: Transzendenz und Konstitution von Ordnungen, S. 356 f. Vor allem bei den Kirchenbauten des Mittelalters wurden die Baumeister zu entscheidenden Figuren, da sie die Vielzahl der unterschiedlichen Techniken und Gewerke, die sich in Kirchenbauten vereinten, in Kontakt brachten und für eine Struktur sorgten. Vgl.: Panofsky, Erwin/Frangenberg, Thomas: Gotische Architektur und Scholastik, S.  20. Die mittelalterlichen Sakralbauten sind nicht einfach „nur“ Bauten, sondern sie sind mit Bedeutung aufgeladen und erzählen durch ihre Formung Geschichten und Sinnzusammenhänge. Schon der Philosoph Friedrich Nietzsche merkte an, dass diese aber auch „gelesen“ werden müssen, wenn er schreibt: „Wir verstehen im allgemeinen Architektur nicht mehr (…). An einem griechischen oder christlichen Gebäude bedeutete ursprünglich Alles etwas, und zwar in Hinsicht auf eine höhere Ordnung der Dinge: diese Stimmung einer unausschöpflichen Bedeutsamkeit lag um das Gebäude gleich einem zauberhaften Schleier. Schönheit kam nur nebenbei in das System hinein, ohne die Grundempfindung des Unheimlich-Erhabenen, des durch Götternähe und Magie Geweihten wesentlich zu beeinträchtigen; Schönheit mildert höchstens das Grauen – aber dieses Grauen war überall die Voraussetzung.“ Zitat in: Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches, in: Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Also sprach Zarathustra. Jenseits von Gut und Böse, S. 176.

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Bücher geführt, die Güter verarbeitet und Waren getauscht, die aus dem objektifizierten ländlichen Raum in sie überführt werden. Im Verlauf des 2. Jahrtausends nach dem Jahre 0 wachsen viele dieser Städte immer weiter an. Die Macht, die sie über die umgebenden Landräume haben, festigt ihre Bedeutung stetig und sorgt gleichermaßen für einen Zuzug ländlicher Bevölkerungsteile, die an den Möglichkeiten und dem Mythos der Städte partizipieren wollen.75 Dem vereinzelt ungeplanten „Wildwuchs“ städtischer Strukturen wird dabei vor allem ab der Renaissance mit der Schaffung idealisierter Planstädte begegnet. In einem großen geistesgeschichtlichen Prozess lösen sich viele Städte von ihrer Verbindung zu einer mystischen Bedeutung wie im christlichen Mittelalter und folgen einer Stadtplanung, die wesentlich bestimmt ist vom Beginn der modernen Wissenschaft und der mathematischen Planung durch die Geometrie. Vor allem in den Planstädten des Absolutismus wird dies deutlich, da hier das Zentrum der Herrschaft – die Mitte der Stadt – nicht mehr von einem sakralen Bauwerk eingenommen wird, sondern vom Herrscherpalast als Symbol einer weltlichen, scheinbar objektiven, aus der Gesellschaft der Menschen entspringenden Macht.76 Nicht wenige 75

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Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen beschreibt einen weiteren Aspekt: „Seit der Antike stand der Begriff Stadt vor allem für Rechte: Seit der Gründung der griechischen Stadtstaaten bis zur frühen Neuzeit genossen die Bürger einer Stadt besondere Privilegien und Freiheiten. Im Mittelalter wurden in Europa diese Freiheiten durch die Verleihung eines Stadttitels durch den Landesherrn vergeben, womit die Stadt Privilegien, wie z. B. das Gerichts-, Markt- oder Stapelrecht erhielt (‚Stadtluft macht frei‘).“ Zitat in: WBGU: Der Umzug der Menschheit, S. 62. Der Philosoph Michel Foucault beschreibt diese Entwicklung anhand des Verständnisses des Raumes dahingehend: „Im Mittelalter war der Raum eine hierarchisierte Menge von Orten, von heiligen und profanen Orten, von geschützten und freien oder schutzlosen Orten, von städtischen und ländlichen Orten (…). Für die Kosmologie gab es Orte oberhalb des Himmels und solche im Himmel, denen wiederum die irdischen Orte gegenübergestellt wurden. (…) Dieser Raum der Lokalisierung öffnete sich mit Galilei, (…) in der Konstitution eines unendlichen und unendlich offenen Raumes, in dem der mittelalterliche Ort sich auflöste, (…) seit dem 17. Jahrhundert tritt die Ausdehnung an die Stelle der Lokalisierung.“ Zitat in: Foucault, Michel: Von anderen Räumen (1967), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 317 f. Diese absolute Macht ist aber auch einem Dualismus unterworfen. Vor allem im Barock wird die Beziehung zwischen weltlichen und geistlichen Herrschern ein bestimmendes Thema. Vgl.: Biesterfeld, Wolfgang: Nachwort, in: Andreae, J.V./Biesterfeld, Wolfgang: Christianopolis, S. 165. Der Beginn der Neuzeit in Europa kann auch in der Auflösung der absoluten christlichen Deutungsmacht und dem Beginn des Protestantismus gesehen werden. Der Philosoph Max Stirner merkt zu dem Unterschied zwischen den daraus resultierenden zwei Hauptfraktionen des Christentums an: „Der Katholik findet sich befriedigt, wenn er den Befehl vollzieht; der Protestant handelt nach „bestem Wissen und Gewissen“. Der Katholik ist ja nur Laie, der Protestant ist selbst Geistlicher. Das eben ist der Fortschritt über das Mittelalter und zugleich der Fluch der Reformationsperiode, daß das Geistliche vollständig wurde. (…) Im Katholizismus kann das weltliche zwar geweiht werden oder geheiligt, ist aber nicht ohne diesen priesterlichen Segen heilig; dagegen im Protestantismus sind weltliche Verhältnisse durch sich selbst heilig, heilig durch ihre bloße Existenz.“ Zitat in: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum, S. 64 f.

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dieser Städte dominieren zu Beginn der Neuzeit nicht nur weite Regionen und kleinere Städte um sie herum, sondern haben sich durch den Kolonialismus globalisiert. Metropolen wie Paris und London werden zu Zentren weltweiter Imperien und damit zum Zentrum einer bestimmten Perspektive auf die Welt, einer bestimmten Ordnung und Herrschaft, die sich tendenziell über die ganze bekannte Welt erstrecken soll. Innerhalb dieser Strukturen wird nun die Stadt selbst überwiegend wieder ein definierter Raum, wird Funktion und Objekt, indem sie sich auf bestimmte Gewerbe und Industriezweige konzentriert, zusammengehalten durch die Hauptstadt als symbolischem und konkretem Zentrum; ähnlich wie bei dem Tempel zu Babylon. Zum Ende des 19. Jh. hat diese Entwicklung in Europa ihren Höhepunkt erreicht. Die westlichen Hauptstädte sind die Zentren globaler Imperien geworden, von denen aus die Herrschaft, vermeintlich objektiviert und rationalisiert, in die Welt ausstrahlt. Im Zuge dieser Zentrierung der Weltstädte werden auch die Städte selbst Ziel- und Hoffnungspunkt von Menschen, die sich in ihnen ein besseres Leben erhoffen. Die zeitgleiche Industrialisierung hat es ermöglicht, Arbeitsprozesse überwiegend von menschlicher Kraft zu entkoppeln, und vor allem in den Städten entstehen die Anlagen der Großindustrie, die einen stetigen Bedarf an Menschen, verstanden als „funktionierende“ Objekte, haben.77 Das teils unbegrenzte Wachstum des städtischen Raumes hat vielerorts den steuernden Einfluss der Herrschaft, der Bildung eines Zusammenhanges der Räume nach einem übergeordneten Prinzip, verlassen. Dadurch entstand teilweise eine Massenverelendung, die sich vor allem darin zeigte, dass die Räume sich überlagerten und dispers wurden. Im großen Maßstab dort, wo Industrie und Wohnen zusammenfallen, aber auch in privaten Arbeiterquartieren, wo die Zonen, also z. B. Schlafen und Sanitär, sich überlagern. Das angestrebte Bild einer strukturierten Gesamtrelation drohte in sich zusammenzufallen. Auch als Reaktion darauf entsteht am Anfang des 20. Jh. das Konzept der städtebaulichen und architektonischen Moderne, die anstrebte, die städtischen Räume wieder in objektivere Funktionen und Gestalten zu überführen. Ideengeschichtlich umfasst der Begriff der Moderne eigentlich eine philosophische Entwicklung seit der Renaissance, aber erst in seiner massiven Anwen77

Dabei ist vor allem zu beachten, dass dem eine Krise des ländlichen Raumes vorweggeht, in dem zahlreiche Menschen Eigentumsverhältnisse und damit ihren „Platz in der Welt“ verlieren. Die Philosophin Hannah Arendt schreibt diesbezüglich: „Vor der Enteignung der unteren Schichten der Bevölkerung zu Beginn der Neuzeit ist die Heiligkeit des Privateigentums immer etwas Selbstverständliches gewesen (…). Eigentum war ursprünglich an einem bestimmten Ort in der Welt gebunden und als solches nicht nur ‚unbeweglich‘, sondern identisch mit der Familie, die diesen Ort einnahm. (…) Kein Eigentum zu haben hieß, keinen angestammten Platz in der Welt sein eigen zu nennen, also jemand zu sein, den die Welt und der in ihr organisierte politische Körper nicht vorgesehen hatte.“ Zitat in: Arendt, Hannah: Der Raum des Öffentlichen und der Bereich des Privaten (1960), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 428.

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dung auf die Stadt wird er Teil einer umfassenderen Lebensrealität.78 Vereinfacht gesagt negiert die Moderne die symbolischen oder mystischen Ordnungsstrukturen der vormodernen Städte und setzt an deren Stelle das Leitbild eines absoluten Konzeptes. Eines „Masterplans“, der nicht religiös-göttlich begründet wird, sondern durch die Verankerung in mathematischer Erfassung und naturwissenschaftlicher Analyse eine objektive, eine übergeordnete und fundierte Lösung generieren soll. Die Stadt wird zu einem Konzept. Sie wird detailliert geplant anhand technischer Betrachtungsweisen, die nicht nur in großen Maßstäben gedacht werden, sondern auch den Menschen selbst vermessen und neue Räume auf ihn zuschneiden.79 Der eine Wohnraum, auch da78

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Zum Begriff der Moderne vgl.: Cojocaru, Mara-Daria: Die Geschichte von der guten Stadt, S. 187 f. Der Kulturanthropologe Alf Hornborg fasst die Moderne folgendermaßen zusammen: „Das Projekt der ‚Moderne‘ entstand durch das Einziehen einer Grenze zwischen der Welt der Objekte und der Welt des Sinns. Indem die Modernen die Natur gleichsam auf ihre rein materiellen Eigenschaften reduzierten, sie von symbolischen Bedeutungen und sozialen Beziehungen reinigten, vermochten sie diese auf eine Art und Weise zu manipulieren, die in vormodernen Verhältnissen undenkbar wäre.“ Zitat in: Hornborg, Alf: Animismus, Fetischismus und Objektivismus als Strategien der Welt(v)erkenntnis, in: Albers, Irene/Franke, Anselm: Animismus, S. 55. Der Literaturwissenschaftler Silvio Vietta weist darauf hin, dass diese Objektivierung auch nicht ohne verbindende Geschichten auskommt, wenn er schreibt: „Die Moderne ist eben auch eine Epoche der Remythisierung der Macht. Die moderne Industrialisierung, die Großstadt, die Technik, die Wissenschaft werden mythisiert, und wo die ‚großen Mythen‘ nicht mehr tragfähig sind, treten die Mythen des Alltags an ihre Stelle.“ Zitat in: Vietta, Silvio: Vorwort, in: Vietta, Silvio/Uerlings, Herbert: Moderne und Mythos, S. 8. Wie so vieles war auch die Rationalität der Moderne nichts Neues. Wie der Soziologe Werner Seppmann beschreibt, liegen die Wurzeln des rational abstrakten Denkens in den griechischen Handelsstädten des 7.Jh v. Chr., in denen Handwerk und Handel das Denken in kausalen Zusammenhängen begünstigten und die mystischen Zusammenhänge ablösten. Vgl.: Seppmann, Werner: Subjekt und System, S. 175. Es gibt wohl keinen Architekten, der so zum Symbol der Moderne wurde wie Le Corbusier, der seinen grundlegenden Ansatz so zusammenfasst: „Geometry is the foundation. (…) It brings with it the noble joys of mathematics. Machinery is the result of geometry. The age in which we live is therefore essentially a geometrical one; all its ideas are orientated in the direction of geometry.“ Zitat in: Le Corbusier: The city of tomorrow and its planning, S. xxi. Vor allem der Modulor, eine Vermessung des Menschen und die daraus folgende Optimierung des Raumes, bilden dabei das Zentrum seines Werkes. Vgl.: Livio, Mario: The golden ratio, S. 172–175. Zu den daraus abgeleiteten Konzepten im grafischen Plan merkt Le Corbusier an: „A plan calls for the most active imagination. It calls for the most severe discipline also. The plan is what determines everything; it is the decisive moment. A plan is not a pretty thing to be drawn, like a Madonna face; it is an austere abstraction; it is nothing more than an algebrization and a dry-looking thing. The work of the mathematician remains none the less one of the highest activities of the human spirit.“ Zitat in: Le Corbusier: Towards a New Architecture, S. 48. Der Kulturwissenschaftler Ben Highmore schreibt zu einer solch generellen Perspektive, die der Planer einnimmt: „The ‚view from above‘ (…) has been associated with the planner’s perspective, privileging the demands of a generalized urbanism over the lives and needs of the city’s inhabitants.(…) From here it is easy to turn people into numbers, to imagine decisive solutions for complexly experienced problems.“ Zitat in: Highmore, Ben: Cityscapes, S. 3. Im Gegensatz zu vielen Vertretern der Moderne sah Le Corbusier diese Planungen aber nicht als starre Systeme an, als Boxen, sondern als grundlegende Ordnungsraster, in denen Menschen ihre Räume durchaus frei definieren können. Dahinter steht auch eine generelle freiheitliche Be-

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mals durchaus noch eine Realität, wird zergliedert in mehrere Räume mit genau definierten Funktionen. Geschlossene Räume der sanitären Grundversorgung, aber auch Küchenräume, in denen jeder Handgriff und jede Funktion auf einen idealisierten Benutzer zugeschnitten sind, entstehen. Eine Optimierung der Räume auf den Menschen und seine Bedürfnisse hin, aber auch eine Optimierung der Stadt auf Funktionen hin. Industrie, Handwerk, Erholung, Wohnen, Freizeitvergnügen – alles gefasst in klare Räume, die sich nicht mehr überschneiden und nebeneinanderstehen: tendenziell gleichwertig, ohne ein Zentrum.80 Die Stadt als Maschine und der Mensch als Teil von ihr. Das Ergebnis ist vor allem: stetige Bewegung. Denn das Trennen der Funktionen erzeugt eine stetige Bewegung der Stadtbewohner, die ständig zwischen Räumen wechseln müssen, je nachdem, welche Funktion, welche Rolle sie in einem bestimmten Moment erfüllen. Es ist eine Welt, die klar ist; definiert. Aber auch jedes mystischen Gehalts, jeder Geschichte und jeder Verbindung mit dem Vergangenen, den toten Ahnen unter den Betten, beraubt. Es ist dies die Hauptkritik an der Moderne, die durchaus als eine globale Bewegung zu verstehen ist: In ihr sei die Welt des Menschen entzaubert worden. Alles wurde den Kategorien eines

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trachtung des Menschen, im Gegensatz zu dessen absolutistischer Definition. Vgl.: Lyotard, Jean-François: Das Elend der Philosophie, S. 171. Die Philosophin Mara-Daria Cojocaru verweist dahingehend auf einen wenig beachteten Aspekt: „Es wurde oft übersehen, dass Le Corbusiers Wohnmaschinen in diesem Sinne keine bloßen Maschinen, sondern eher maschinell gestützte Meditationsräume darstellen. Das Selbst kann durch Meditation und Innerlichkeit oder durch ein völlig autonomes Selbstbewusstsein erkannt werden.“ Zitat in: Cojocaru, Mara-Daria: Die Geschichte von der guten Stadt, S. 204. Kritisch äußert sich hingegen der Soziologe Henri Lefebvre zu Le Corbusier und seiner „übergeordneten“ Perspektive, die auch nur eine metaphysische Vision sein: „Ein solcher Architekt versteht sich als ‚Mann der Synthese‘, Denker und Praktiker. Er glaubt und beabsichtig, (…) menschliche Verhältnisse zu schaffen, indem er sie beschreibt, ihren Rahmen und ihre Kulisse entwirft. In einer Perspektive, die an wohlbekannte Denkhorizonte anknüpft, erfasst und begreift sich der Architekt als Architekt der Welt, als menschliches Abbild des Schöpfergottes.“ Zitat in: Lefebvre, Henri: Das Recht auf Stadt, S. 77. Dies fasst die Autorin Ruth Eaton in Bezug auf Le Corbusier folgendermaßen zusammen: „In der modernen Welt ist nicht mehr der Palast oder die Kirche das Zentrum der Gesellschaft, sondern ein logistischer Ort der Fortbewegung, der Kommunikation und des Austausches, der wie ein Herz funktioniert und das Blut durch den Körper pumpt.“ Zitat in: Eaton, Ruth: Die ideale Stadt, S.  200. Die Architektin Elisabeth Blum ergänzt zu Le Corbusiers Standpunkt: „(…) Le Corbusier geht so weit, die Unterscheidung von guter und schlechter Architektur davon abhängig zu machen, ob in ihr das Gesetz des Durchwanderns beachtet wurde, innen wie aussen, oder ob sie im Gegenteil um einen ‚festgesetzten Punkt‘ organisiert sei. Gute Architektur sei lebendig, schlechte erstarrt.“ Zitat in: Blum, Elisabeth: Atmosphäre, S. 195. Der Architekturtheoretiker Jörg H. Gleiter schreibt zum Strukturalismus, der eine Art Weiterentwicklung der Moderne ist: „Das strukturelle Denken wirkt also der symbolischen Repräsentation der Architektur entgegen. Es betreibt die Ablösung des Abbildcharakters der Architektur und damit tendenziell die Verschiebung von einer ursprünglich ikonischen zu einer indexikalischen Ausrichtung der Architektur.“ Zitat in: Gleiter, Jörg H.: Urgeschichte der Moderne, S. 22–23.

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absoluten objektiven Dogmas unterworfen, das letztlich den Menschen selbst zum reinen Ding, zur reinen Maschine degradierte. Neue Probleme traten durch die Lösung alter Probleme auf – aber durch das Verschwinden ebendieser alten Probleme wurde der Moderne quasi die logische Begründung genommen. Dies ist aber nur eine Seite der Moderne. Zeitglich entsteht ein Phänomen, das sich ebenfalls mit der Stadt verbinden lässt: In den vereinheitlichten Funktionsräumen entsteht wieder eine Welt der Geschichten und der subjektiven Sinnstiftung. Es ist die Welt der modernen Massenmedien, die zuerst über das Radio, dann das Fernsehen und den Computer die physischen Räume entgrenzt und Deutungsmuster, Geschichten und Zusammenhänge generiert.81 Dadurch entstehen parallele Räume, die sich mit den physischen Räumen überlagern, diese durchdringen, erweitern und die Kategorien von Innen und Außen verschmelzen. Vor allem in der Postmoderne, in der vereinfacht gesagt eine Trennung zwischen der Hardware und der Software der Städte vorgenommen wird, wird dies zum Thema.82 Die Stadt wird zum Träger, zur Infrastruktur nicht nur der Objek81

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Der Medienwissenschaftler Manfred Faßler kommentiert: „Stadtentwicklungen sind historisch nicht von der medialen Evolution zu trennen (…) die medialen Räume globaler digitaler Kultur absorbieren erhebliche Potentiale urbaner kultureller Produktivität. In diesen Prozessen wird Stadt zunehmend abhängig von den nicht-territorialen Medienräumen, von informationeller Urbanität (…) städtisches wird mind set.“ Zitat in: Faßler, Manfred: Umbrüche des Städtischen, in: Faßler, Manfred/Terkowsky, Claudius: Urban Fictions, S. 21. Vor allem der Film geht dahingehend eine Symbiose mit der Stadt ein, wie es auch der Medienwissenschaftler Knut Hickethier formuliert: „Film gilt per se als ein großstädtisches Medium, es verkörpert durch seine Apparatur, seine mediale Konstruktion und seiner Struktur medialen Erzählens Urbanität, selbst dort, wo es sich mit weiter Landschaft, Natur und menschenleeren Räumen beschäftigt.“ Zitat in: Hickethier, Knut: Filmische Großstadterfahrungen im neueren deutschen Film, in: Schenk, Irmbert: Dschungel Großstadt – Kino und Modernisierung, S. 187. Dies kann durchaus als eine Kolonisierung der Welt durch die Inhalte von visuellen Medien gesehen werden, die sich auf alle Bereiche erstreckt, wobei deren Erzeuger allerdings nicht gleichwertig über die Welt verstreut sind. Vgl.: Heywood, Ian/Sandywell, Barry: Critical Approaches to the Study of Visual Culture, in: Heywood, Ian/Sandywell, Barry: The Handbook of Visual Culture, S. 5. Diese Bild der Trennung von Hard- und Software der Stadt geht dabei auf die Architektengruppe Archigram zurück, die Ende der 1960er Jahre ein Konzept der ‚Instant City‘ entwarf, in dem Urbanität vor allem durch Medien hergestellt wird, die sich temporär mit der physischen Infrastruktur überlagern. Vgl.: Cook, Peter: Archigram, S. 86–101. Der Grundsatz der Postmoderne lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass Architektur mehr sein muss als „reine“ Form und auch auf etwas Abwesendes verweisen soll. Vgl.: Gartman, David: From autos to architecture, S. 311 ff. In Bezug auf den Städteplaner Kevin Lynch fasst der Architekt Jörg Seifert eine grundlegende Haltung wie folgt zusammen: „Er beließ anderen ihre Domäne und verfiel nicht der Hybris einer ersten Moderne, die meint, über Architektur und Stadtstruktur Zugriff auf die gesamte Komplexität stadtalltäglicher Realitäten zu haben und mit einer neuen Architektur- und Planungskultur zugleich auch einen neuen Menschen hervorbringen zu können.” Zitat in: Seifert, Jörg: Stadtbild, Wahrnehmung, Design, S. 12. Der Philosoph Boris Groys beschreibt die Richtung so: „Die postmoderne Kritik richtet sich also einerseits gegen die neuzeitliche Idee des Fortschrittes und der Kreativität und bestreitet andererseits den Anspruch auf die Originalität als solche, denn in ihm sieht sie zugleich den Anspruch auf die letzte Wahrheit und den

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tivität, sondern sie wird auch bespielt von zahlreichen subjektiven Identitäten und Zuständen.83 Die Medien liefern dabei die Geschichten, die vor den Kulissen der Stadt von Menschen, in der stetigen Produktion von Raum, aufgeführt werden. Vor allem durch die Entwicklung des Internets verbinden sich diese Räume und vernetzten sich zu einer Art globalen Weltstadt. Einer Weltstadt, die formal einer mathematischen Logik folgt, in der aber auch wieder symbolische Welten auftauchen. Welten, gebunden an mediale oder physische Ikonen, in denen Bedeutung und Sinn für das Individuum bereitgestellt werden, die man konsumieren und an denen man partizipieren kann. Ein pluralistisches Nebeneinander der unterschiedlichsten Welt-Innen-Räume, die sich um symbolische Zentren – der Wolkenkratzer als Zeichen wirtschaftlichen Erfolges, das Opernhaus als Zeichen für kulturelles Verständnis, der Medienstar als Zeichen eines bestimmten Lifestyles, der Garten als Zeichen der Nachhaltigkeit – gruppieren. Über den Transformator der europäischen Entwicklung hat sich dieses Phänomen als die globale Stadt der Gegenwart etabliert. Durch Geschichten gefasste Räume die sich um mehrere Zentren gruppieren, geeint durch die Ordnung einer technischen Objektivität. Çatalhöyük meets Babylon in einem Akt des stetigen globalen Werdens und Transformierens.

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hieraus folgenden Herrschaftsanspruch.“ Zitat in: Groys, Boris: Jenseits von Aufklärung und Vernunft, in: Thomas, Hans: Die Welt als Medieninszenierung, S. 46. Als Kritik an der Postmoderne wird häufig eine gewisse Beliebigkeit formuliert. Vgl.: Breiterschmid, Markus: Die Bedeutung der Idee, S. 10. Vor allem aber die Vermischung mit der Werbung, die den Medien wesensimmanent zu sein scheint. Hierzu der Philosoph Gernot Böhme: „Die postmoderne Architektur erweist sich damit als ein Produkt ästhetischer Ökonomie. Alles was hier gefeiert wird: die Integration der anderen Künste in die Architektur, die Annäherung an die Pop-Art, die Wiederkehr des Ornamentes, die Applikation von Symbolen, ist genau das, was die Ware Architektur zu einer Ware macht, deren Wert wesentlich ein Inszenierungswert ist. Architektur lässt die Grenze zum Bühnenbild verschwimmen. Ihre Funktion besteht darin, Szenisches zu schaffen – im Wesentlichen Szenen für den Konsum (…). Ironischerweise kommt heute in der Postmoderne heraus, was der bedeutende Architekturtheoretiker Semper im 19. Jahrhundert bereits behauptet hatte: Architektur ist im wesentlichen Kleid, das heißt heute: Verpackung. Architektur wird zum Teilgebiet der Warenästhetik.“ Zitat in: Böhme, Gernot: Architektur und Atmosphäre, S. 10. Viele für die Gegenwart prägende Architekten, wie z. B. das Büro MVRDV oder Rem Koolhaas, sahen die Stadt der Moderne als eine Agglomeration von tendenziell unorganisierten Kräften, in denen alles nur in Abgrenzung zum Anderen existierte und in dem ein neues, logisches System der Verbindungen geschaffen werden müsse. Vgl.: Costanzo, Michele: MVRDV, S. 13. Vor allem dem Bewohner und seinen Selbstbild kommt in diesen nicht mehr klar abgegrenzten Räumen eine besondere Funktion zu, welche die Soziologin Martina Zschoke wie folgt umschreibt: „Der heutige, postmoderne Kosmopolit hingegen bewohnt mehrere Räume gleichzeitig und befindet sich praktisch immer zwischen den Orten. Er ist ein Grenzbewohner und besitzt eine multi-link-Identität zu verschiedenen Punkten seiner Identität, z. B. zu verschiedenen Orten, Personen und Facetten seiner Person.“ Zitat in: Zschoke, Martina: The multiverse universe, in: Eckardt, Frank/Zschocke, Martina: Mediacity, S. 26.

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Die Essenz der Stadt Versucht man nun, die grundlegende Charakteristik der Stadt als Beispiel für das Phänomen der Agglomeration zu benennen, kann dieses nur lauten: Normierung und Strukturierung um ein gedachtes Zentrum. Das Prinzip der Zentrierung ist dabei in dem Konzept der Strukturierung von Flächen bereits angelegt. Die Durchplanung der Landschaft nach bestimmten Konzepten erzwingt schon alleine aufgrund der logistischen Verteilung einen Anker, an dem sich die Güter vereinen. Findet man z. B. im Norden eines Gebietes Fischereiflächen, im Süden geeignete Zustände zum Ackerbau, im Westen Wälder und im Osten Eisenerz zur Werkzeugproduktion, ergibt es rein vom Aspekt der Optimierung von Verteilungswegen her Sinn, ein Zentrum einzurichten. Folgt man dabei dem Dogma, die entsprechenden Güter relativ gleichmäßig über die Zonen zu verteilen, erscheint dieses sogar als einzig logischer Ansatz, um Aufwand und Transportwege zu minimieren. Auch die Konzentrierung von Menschen und Material in dieser Mitte ist nur folgerichtig. Ressourcen liegen so gebündelt vor, und der Mensch muss, um Fisch und Brot zu essen, nicht durch das ganze Land reisen. Aus dieser Zentrierung ergibt sich auch der Aspekt der Sicherung. Fast jede Stadt ist immer auch dem Prinzip des erschwerten Zuganges verpflichtet. Sei es in der direkten Abwehr nach Außen, sei es indirekt durch die Zonierung und Raumschaffung, die wesentlich zum Schutz der agglomerierten Güter beitragen. Eine Person, die tagsüber die Stadt verlassen muss, um auf den Feldern zu arbeiten, kann die gehorteten Güter nicht bewachen und ist zwangsläufig auf Räume oder Werkzeuge angewiesen, die dies stellvertretend tun. Die Kehrseite dieser schützenden Eigenschaft von Stadt, ist dabei, dass sie zwangsläufig ein Innen und ein Außen schafft.84 Es gibt immer etwas, das dazugehört und gleichzeitig etwas, das 84

Der Medienphilosoph Vilém Flusser weißt noch auf einen weiteren Gegensatz hin, wenn er den Prozess der Stadtwerdung zusammenfasst: „Seit ungefähr 10 000 Jahren wird es dramatisch wärmer, der Wald (dieser Todfeind des Menschen) ist in die Steppe gedrungen (…) und wir mußten uns dazu herablassen, selber das Gras zu essen, statt es den Tieren zu überlassen. Diese Herablassung nennt man (…) Seßhaftigkeit, denn man muß darauf warten, bis die Gräser reifen, bevor man sie essen kann, und das tut man besser sitzend. Nun ist die Niederlassung, das Dorf, die Stadt, dadurch gekennzeichnet, daß man dort einerseits sitzt und wartet, und auf der anderen Seite die Gräser sammelt, speichert, verteilt und behütet. Der Sitz- und Warteraum heißt der Privatraum, und der Gräserraum (das Kornhaus) heißt der öffentliche. (…) und Raumgestalter sind dazu da, den Verkehr zwischen privat und öffentlich zu regeln. Zu diesem Zweck eben entwerfen sie Mauern, Fenster und Türen, und Straßen, Plätze und Tore. Privat und öffentlich sind die beiden großen Lebensraumkategorien, und alle übrigen Räume sind dort einzuräumen. (…) das raumgestalterische Denken und Handeln ist im Verlauf der letzten 10 000 Jahre (…) von dieser Dialektik „privat/ öffentlich“ gekennzeichnet.“ Zitat in: Flusser, Vilém: Räume (1991), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 279. Der Wissenschaftstheoretiker Gaston Bachelard weist auf die tiefere Dimension dieses Gegensatzes hin, wenn er schreibt: „Draußen und Drinnen

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nicht dazugehört und vor dem sie geschützt werden muss. Es ist ein zwangsläufiger Dualismus, der dabei entsteht und stark abgrenzt zwischen denen, die dazugehören, und denen, die nicht dazugehören. Der Ausdruck der Zentrierung um den sich die, die dazugehören, scharren, scheint fast beliebig zu sein. Ob Tempel für dies oder das, oder Paläste für die eine oder andere Ideologie – dem Wesen nach gleichen sie sich in ihrer symbolischen Funktion als Mitte. Die Mitte der Agglomeration, von der aus sich Innen und Außen definieren. Es liegt im Wesen einer solchen Funktion, dass sie sich im Verlauf der Geschichte selbst als Mitte bestätigt. Nimmt man zu Beginn die Notwendigkeit der Zentrierung an, um Güter zu konzentrieren, entwickelt sich daraus in der Folge ein Zwang zu Zentrierung. Als verbindendes Element unterschiedlichster Flächen, die sonst kaum Verbindung zueinander hätten, bestätigt sich die Stadt permanent selbst in ihrer zentralen Rolle und festigt damit auch die umgebenden Strukturen als einen zu ihr gehörenden Kontext. Das gedachte Zentrum dieser Agglomeration ist dabei nichts anderes als die Verkörperung des einen Ortes und Standpunktes, aus dessen Perspektive heraus der erste Mensch den Sinn des Ganzen, den umfassenden Zusammenhang von sich und der Welt, zu finden und zu erkennen glaubte. Als Bündelung ist es die Stadt, die den Zusammenhang zur nun kultivierten Welt herstellt. Aus ihrem Zentrum heraus ist die Welt zu unterschiedlichen Objekten geworden, die anhand der Zentrierung als Werkzeuge auf sie hin wirksam werden und deren Sinngehalt, deren Bedeutung und Zweck, sie letztlich bestimmt. Stadt ist somit nicht nur als ein logistisches Ordnungselement zu begreifen, als ein planerisches Raster für die Wechselwirkung von Elementen, sondern sie ist vor allem Sinnstiftung. Eine vereinende Sinnstiftung für die unterschiedlichen Einzelkonzepte der Welt, die sich in ihrer Parzellierung offenbart. Das Zentrum dieser Sinnstiftung ist dabei leer bzw. beliebig. Es ist ja in dem Sinne nicht existent, auch wenn es durch Bauten oder Konzepte symbolisiert wird. Der Kern dieser Agglomeration scheint stattdessen die gemeinsame Sichtweise derer zu sein, die dazugehören. Ihre gemeinsame Perspektive auf die Welt, die sich im fiktiven Modus des Zentrums der Agglomeration und damit des Zentrums von Stadt als Sinnstiftung zeigt. Es ist bemerkenswert, dass die Funktion unabhängig von dem Inhalt dieser gemeinsamen Perspektive ist, und trotz wandelnder Ausprägungen bestehen bleibt. Einzelne Städte wurden vielleicht aus bilden eine Zerstückelungsdialektik, und die offenkundige Geometrie dieser Dialektik verblendet uns, wenn wir sie in den metaphorischen Bereichen spielen lassen. Sie hat die scharfe Deutlichkeit des Ja und des Nein, die alles entscheidet. Ohne dass man es merkt, macht man daraus eine Basis von Bildern, die sämtliche Gedanken des Positiven und des Negativen beherrschen. Die Logiker zeichnen Kreise, die sich überschneiden oder ausschließen, und sofort sind alle ihre Regeln klar. Der Philosoph denkt, wenn er Drinnen und Draußen sagt, an Sein und Nichtsein. Die tiefste Metaphysik hat ihre Wurzel in einer unausgesprochenen Geometrie, und diese Geometrie – ob man es will oder nicht – verräumlicht die Gedanken“. Zitat in: Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes (1957), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 170.

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logistischer Notwendigkeit gegründet, wuchsen zu Imperien, wechselten im Zentrum zwischen religiöser und weltlicher Macht und schrumpften wieder in ihrer Bedeutung. Aber die Grundstruktur ihrer Sinnstiftung blieb bestehen.85 Die Epigonen fanden sie als Struktur der Möglichkeit und füllten sie mit neuen Inhalten – aber die Essenz blieb. Dies scheint der eigentliche Modus seit der neolithischen Revolution zu sein: Die Städte entstehen durch die Agglomeration unterschiedlicher individueller Perspektiven auf einen gemeinsamen Punkt. Dieser wirkt als Kultur in die Welt zurück und definiert diese gerade durch seine Funktion als Zentrum.86 Der reale Körper der Stadt ist dabei nur technische Notwendigkeit im Sinne eines Werkzeuges, die gegenüber der eigentlichen Funktion sekundär ist: der Zentrierung der Konzepte im Modus der Herrschaft. 85

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Der Historiker Clemens Zimmermann spricht in einem ähnlichen Zusammenhang von der „Universalität städtischer Erfahrung trotz aller Unterschiede zwischen den Kulturen“. Zitat in: Zimmermann, Clemens: Weltstädte, Metropolen, Megastädte, in: Sander-Faes, Stephan/Zimmermann, Clemens: Weltstädte, Metropolen, Megastädte, S. 13. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen fasst die Genese der Stadt wie folgt zusammen: „Städtische Siedlungsdynamiken sind, bei aller Diversität, im Wesentlichen durch drei zentrale Treiber bestimmt – metaphorisch gesprochen ‚Baumeisterinnen‘: Macht (Recht, Geld, Herrschaft), Not (Armut, Exklusion, schwache Akteure) und Zeit (langsames Wachstum von Städten, beschleunigtes Wachstum von Städten, Pfadabhängigkeiten, Rupturen). Für alle drei Siedlungsmuster (neu geplant, informell, reif) ist das Zusammenspiel von Macht, Not und Zeit essenziell.“ Zitat in: WBGU: Der Umzug der Menschheit, S. 15. Der Medienwissenschaftler Manfred Faßler umreißt diesen Prozess wie folgt: „In Stadt werden die Naturgewalten in zivile Verfahren (…) oder kulturelle Gewalten und Chancen übersetzt. Diese Sesshaftigkeit lässt eine Art selbstverständlicher Unnatürlichkeit oder: Künstlichkeit entstehen. Ihre Welt ist die der Funktion, Fiktion und des Imaginären.“ Zitat in: Faßler, Manfred: Umbrüche des Städtischen, in: Faßler, Manfred/Terkowsky, Claudius: Urban Fictions, S. 11. Die Stadt kann so auch als Träger der geistigen, intellektuellen Arbeit angesehen werden, während das Land einer praktischen Realität verhaftet bleibt. Vgl.: Lefebvre, Henri: Das Recht auf Stadt, S. 62. Henri Lefebvre sieht darin eine wesentliche Qualität des Städtischen, wenn er subsumiert: „Ich schlage hier also eine erste Definition der Stadt als Übertragung der Gesellschaft auf das Terrain vor, also nicht nur auf den erfahrbaren Standort, sondern auf die durch das Denken erkannte und erfasste besondere Ebene, die die Stadt und das Urbane bestimmt.“ Zitat in: Ebd., S.94. Es gilt in dieser Beziehung zu beachten, dass nicht das Land als etwas Ursprüngliches und die Stadt als eine Weiterentwicklung zu betrachten ist, worauf auch der Kommentar des Philosophen Gilles Deleuze und des Psychoanalytikers Félix Guattari hinweist: „Denn seit den ältesten Zeiten, seit dem Neolithikum und sogar dem Paläolithikum, hat die Stadt die Landwirtschaft erfunden: unter dem Einfluß der Stadt überlagern der Ackerbauer und sein gekerbter Raum den Landwirt im noch glatten Raum (herumziehender, halb-seßhafter oder bereits Landwirt).“ Zitat, in: Deleuze, Gilles/ Guattari, Félix: 1440 – Das Glatte und das Gekerbte (1980), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 441. Der Autor J. John Palen sieht diese Beziehung von Stadt und Land als einen absoluten Gegensatz, wenn er subsumiert: „In short, the city is large, culturally heterogeneous, and socially diverse. It is the antithesis of ‚folk society‘.“ Zitat in: Palen, J. John: The Urban World, S. 7. Aber auch ländliche Regionen sind durchaus Kulturträger über ihren Kontext hinaus. Der Mitverfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, Thomas Jefferson, formulierte viele Ideen zur Verfassung bereits in einer Analyse seines Staates Virginia, der sich seiner Ansicht nach gerade dadurch auszeichnete, keine größeren Städte zu haben. Vgl.: Jefferson, Thomas/ Wasser, Hartmut: Betrachtungen über den Staat Virginia, S. 234.

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Herrschaft Die Herrschaft, wie sie hier und im Folgenden verstanden wird, ist keine Person oder Gruppe. Stattdessen ist sie Funktion – genauer: Perspektive. Und zwar die externe Perspektive, die der erste Mensch als allumfassend hinter den Erscheinungen der Welt vermutete. Herrschaft und Stadt sind dabei eng miteinander verwoben. Dies zeigt sich schon in einzelnen geschichtlichen Planungen zu urbanen Räumen. Obwohl Städte ja teils Jahrtausende alt sind, sind sie immer auch das Ergebnis einer gemeinschaftlich organisierten Handlung. Sie entstehen in der Regel nicht chaotisch, sondern sind wesentlich geprägt von Konzepten, die als Stadtplanung auf sie wirken. Mögen diese auch auf den ersten Blick rein technischen und logistischen Vorgaben folgen, wie der Optimierung der Versorgung mit Wasser oder der Bereitstellung effizienterer Wege des Transportes und des Austausches, so zeigt sich in ihrer Entwicklung in der Regel auch ein Weltbild, eine spezifische Perspektive auf die Gestaltung der Welt, die über ihre Stadtgrenzen hinauswirkt.87 Städte wie Rom als Archetyp der antiken Stadt zeigen dies exemplarisch. Beginnend als relativ kleine Stadt, wuchs aus ihr ein immer größeres Imperium, dessen absolutes Zentrum sie war. Es ist ein selbstverstärkender Mechanismus, der dabei zu beobachten ist: Aus der Keimzelle der Macht, die sich hier ballte, entstand territorialer Zuwachs, der das Zentrum der Macht wieder bestärkte. Je größer das Imperium wurde, desto stärker wurde denn auch der Bedarf nach diesem Zentrum. Über mehrere Dekaden entwickelte die Stadtplanung die Stadt dahingehend weiter, dass sie nicht nur die Macht im Reich organisierte, sondern auch die unterschiedlichen Flächen dieses Reiches symbolisch repräsentierte. Das antike Rom ist somit nicht nur eine städtische Struktur, sondern auch ein Modus der Herrschaft, durch den symbolisch und baulich der ihm zugedachte Kontext Sinn und Zusammenhang erhält. Die Bedeutung als symbolischer Punkt lebt dabei losgelöst von dem Inhalt, wie ja auch der Fortbestand Roms als katholisches Weltzentrum zeigt. Höhepunkt dieser Denkweise sind sicherlich die feudalen Idealstädte Europas, die nach dem Prinzip absoluter Fokussierung auf das Zentrum, den feudalen Herrscher, weit über die Stadtgrenzen hinaus die Welt strukturierten. Die Planung der meisten idealen Städte beschränkt sich nicht auf die Gestaltung der Stadt, sondern entwickelt fundamentale Grundprinzipien, nach de87

Der Sozialanthropologe Nils Zurawski beschreibt den Begriff des Weltbildes mit den Worten: „Weltbilder sind die Organisation von Wirklichkeit, auf die Menschen zurückgreifen, um ihrer eigene Position mit der sie umgebenden Welt abzustimmen – gleich wie dieses sich darstellte und welche formierenden Bedingungen solchen Ordnungs- und Klassifizierungssystemen zugrunde liegen mögen (…) – auch um dem Dilemma zu entgehen, dass diese Welt eigentlich viel größer ist, als sie wissentlich erfahren werden kann.“ Zitat in: Zurawski, Nils: Raum – Weltbild – Kontrolle, S. 24. Für eine Abhandlung über Weltbilder hin zur Ideologie vgl.: Romizi, Donata: Dem wissenschaftlichen Determinismus auf der Spur, S. 275–285.

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nen Raum und Natur strukturiert werden sollen. Von der Agglomeration aus strahlt eine Logik, eine Ordnung in die Welt. Dies gilt auch für dezentrale Konzepte der modernen Architektur. Wo z. B. die von Flächentrennung ausgehenden Ansätze eines Le Corbusiers explizit kein Zentrum vorsehen, ist ihr Metier doch die Stadt als eine Gesamtzentrierung des modernen Denkens, das von ihr aus auf die Umgebung wirkt. Auch die architektonischen Visionen zur Stadt in der neuen Zeit erheben überwiegend den Anspruch, eine generelle Ordnung zu schaffen, die in der Stadt exemplarisch verwirklicht wird und auch andere Räume und Orte transformiert. Der Bau an der Stadt ist damit nicht weniger als der Bau an einer Gesellschaft.88 Raum und Sinnzusammenhang bedingen sich in ihr gegenseitig. Das Prinzip der Stadt als solches ist das Prinzip der Zentrierung der einen Perspektive, die sich in ihr konzentriert und auf die Welt wirkt – auch wenn unter dieser einen Perspektive unterschiedlichste pluralistische Ansätze existieren. Die Stadt, wie sie sich als absehbar überwiegendes Habitat des Menschen zeigt, ist damit Macht. Herrschaft und Stadt sind zwei Seiten derselben Medaille.

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Der Architekt Jörg Kurt Grütter formuliert dies so: „Jede Gesellschaft, welcher Organisationsform und ideologischen Färbung sie auch immer ist, hat bestimmte Ideale und Ziele. Die übergeordnete Aufgabe einer Kultur besteht darin, diese abstrakten Ideen mit konkreten Formen zu verdeutlichen. In diesem Umwandlungsprozess spielt die Architektur eine primäre Rolle.“ Zitat in: Grütter, Jörg Kurt: Grundlagen der Architektur-Wahrnehmung, S. 80. Der Architekturtheoretiker Werner Sewing weist diesbezüglich auf die Beziehung zwischen der Herrschaft und dem Selbstverständnis der Profession Architektur in der Moderne hin: „Die Architektur hat seit dem 19. Jahrhundert einen Führungsanspruch, was die Gestaltung des gebauten Raumes anbelangt. Ab 1900 wird dieser Anspruch von einer verwissenschaftlichten Städtebaulehre auf den gesamten öffentlichen Raum der Stadt ausgeweitet. Architektur ist in diesem Verständnis mehr als bloße ästhetische Bedienung eines Lebensstilmarktes, als persönlicher Geschmack und künstlerischer Exzentrik, sie ist, frei nach Hegel, die Gesellschaft in Form gefasst: dieser Grundgedanke prägt bis heute das Architektenbild, (…) der Architekt als Vertrauter des Herrschers, wobei die Aura des Herrschers auf die des Künstlers übergeht und umgekehrt der Herrscher sich als Künstler begreift. So ließ sich Ludwig XIV. als Architekt mit einer großen Planrolle in der Hand porträtieren. Diese wechselseitige Auraverstärkung ist beim modernen Architekten in sein Verhältnis zum gesellschaftlichen Auftraggeber übergegangen.“ Zitat in: Sewing, Werner: Bildregie, S. 142. Zu wessen Lasten dieses Selbstverständnis geht, zeigt sich bereits 1894 in der Definition der Architektur des Kunsthistoriker August Schmarsow: „(…) Jede Gestaltung des Raumes ist zunächst Umschließung eines Subjektes (…).“ Zitat in: Schmarsow, August: Das Wesen der architektonischen Schöpfung (1894), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 472.

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Stadt und Herrschaft. Eine historische Gedankengeschichte In dem Zusammenhang von Stadt und Herrschaft spiegelt sich das Verhältnis von menschlichen Kontexten als Erfahrung der Welt und den Konzepten von ihr. Beide vereinen sich in dem Prinzip der Stadt als der menschlichen Erzeugung eines strukturieren Umfeldes, definiert durch idealisierte Vorgaben. Der erste Mensch sah eine Welt des Chaos. Er suchte nach einem Ort, wo er und die Welt in einer umfassenden Relation vereint sind; wo die Welt Sinn macht. Genau dieser Ort ist die Stadt, nur eben nicht gefunden, sondern durch Menschen erschaffen. Dieser Zusammenhang zwischen Stadt und Herrschaft ist allerdings kein der Welt immanenter, sondern er liegt sozusagen „hinter“ der Welt. Der Sinn offenbart sich erst in einer vermuteten oder angenommenen sinnstiftenden Perspektive, von der aus Welt und Subjekt sowie Konzept und Kontext als Zusammenhang erkennbar sind. Es erstaunt daher nicht, dass die ersten größeren Städte vor allem religiöse Zentren waren: Diese alles vereinende Perspektive wurde im Reich der Götter vermutet, in einer uneinsehbaren Welt hinter der menschlichen Existenz.89 Priester und Gelehrte versuchten den Götterwillen zu deuten und daraus Regeln für den Menschen abzuleiten; also seinen Platz in der Welt anhand einer übergeordneten Ordnung zu definieren.90 Den meisten historisch-religiösen Ansätzen ist dabei zu eigen, dass sie sich aus einer Naturbetrachtung entwickelten, sich dann aber in städtischen Räumen kultivierten. Aus der Betrachtung des Naturraums mögen Gottheiten und Gesetzmäßigkeiten abgeleitet sein, aber der Weg in dieses Reich des Zusammenhangs ist immer im Zentrum. Und zwar in der Mitte der Stadt als Symbol für diesen Zusammenhang – und dort an einem Punkt, der als Allerheiligstes unbetretbar ist, oder in immer weiter wachsenden Strukturen auf den unendlichen Himmel verweist. Diese religiös-mystische Perspektive hat in der heutigen Stadt meist nicht mehr diese Relevanz. Unsere Welt der Gegenwart ist geprägt von einem vermeintlich wissenschaftlichen, naturalistischen Weltbild – und dennoch ist die Struktur der Stadt dieselbe geblieben. Weil nämlich ihre 89

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Max Stirner verweist auf die Nähe der Herrschaft zum Konzept einer Göttlichkeit, wenn er schreibt: „Archimedes verlangte einen Standpunkt außerhalb der Erde, um sie zu bewegen. Nach diesem Standpunkt suchten fortwährend die Menschen, und Jeder nahm ihn ein, so gut er vermochte. Dieser fremde Standpunkt ist die Welt des Geistes, der Ideen, Gedanken, Begriffe, Wesen usw.; es ist der Himmel. Der Himmel ist der ‚Standpunkt‘, von welchem aus die Erde bewegt, das irdische Treiben überschaut und – verachtet wird. Sich den Himmel zu sichern, den himmlischen Standpunkt fest und ewig einzunehmen, wie schmerzlich und unermüdlich rang darnach die Menschheit.“ Zitat in: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum, S. 45. Der Philosoph Dschuang Dsi kommentiert solche Bemühungen so: „Ich kann dir nur sagen, diese Herrscher des Altertums regierten die Welt, und was sie brachten, war dem Namen nach Ordnung, in Wirklichkeit aber die größte Verwirrung.“ Zitat in: Dsi, Dschuang: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, S. 176.

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Funktion sowohl im Mystischen als auch im vermeintlich aufgeklärten Bild dieselbe ist. In der geschichtlichen Entwicklung sowohl der Stadt als auch der beginnenden Naturwissenschaft als Methode gibt es einen Aspekt, der dieses verdeutlicht: die Entdeckung der Perspektive – oder genauer: die Darstellungsart in Bildern, die einem Betrachter ähnlich erscheint wie die natürliche Sehwahrnehmung seiner Lebenswelt. In den Medien wie Filmen, Computeranimationen, Bildern und Gemälden stehen uns in der Gegenwart überwiegend Räume gegenüber. Räume mit einer geometrischen Tiefe, die z. B. im Computerspiel in drei Dimensionen durchlaufen werden können, wo doch das Medium an sich, der Monitor, nur eine Fläche ist. Diese räumliche Anmutung war in der Kulturgeschichte der Bilder nicht immer gegeben. Obwohl die Konstruktion des bildlichen Raumes auch schon in der Antike tendenziell bekannt war, war z. B. die Bilderwelt des europäischen Mittelalters eine piktografische. Auf Bildern waren menschliche Figuren nicht in einem geometrischen Raum arrangiert, sondern vor meist neutralen Hintergründen. In dieser flächigen Gestaltung war die Größe einer Figur nicht dazu da, um sie als nah oder fern zum Betrachter darzustellen, sondern um ihre Bedeutung im Verhältnis zu einer anderen Figur zu illustrieren.91 Bildinhalte waren mehr abstrahiert, wie ein Text, und daher war das Verstehen der Bilder durch den Betrachter auch eher ein „lesendes“. Dies änderte sich in der europäischen Renaissance, als dieser Betrachter selbst Teil des Bildes wurde.92 Die Bildflächen waren nicht mehr abstrahiert zeichenhaft, sondern auf einen Betrachter hin konstruiert, dessen Wahrnehmung Teil des Bildes war und es strukturierte.93 Der „echte“ Betrachter eines Kunstwerks war nicht Motiven ausgesetzt, 91

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Zur Bedeutung der Größe in der mittelalterlichen Malerei vgl.: Siegmund, Andrea: Die romantische Ruine im Landschaftsgarten, S. 44. Der Kunsthistoriker Samuel Y. Edgerton verweist allerdings darauf, dass die piktorale Darstellungsweise, wie in der mittelalterlichen Malerei, dem Menschen angeboren zu sein scheint. Vgl.: Edgerton, Samuel Y.: Die Entdeckung der Perspektive, S. 18. Der Philosoph Ruben von Heydt umschreibt die Abkehr vom mittelalterlichen Weltbild in der Renaissance als den Beginn eines Pluralismus der Ansichten: „Das Wissen um die prinzipielle Begrenztheit menschlicher Erkenntnis wird hier mit einer charakteristischen perspektivischen Konstellation kombiniert: Der endlichbegrenzte Blick vermag die unendliche Wahrheit jeweils nur ausschnitthaft zu erfassen.“ Zitat in: Heydt, Ruben von der: Perspektivität von Freiheit und Determinismus, S. 59. Wurden im Mittelalter Mensch und Natur eher als Einheit gesehen, entsteht hier auch ein Fortschrittsglaube an die menschliche Erkenntnismöglichkeit im Gegensatz zu der Vorsehung eines Gottes. Der Mensch wird zum Maler der Geschichte. Vgl.: Siegmund, Andrea: Die romantische Ruine im Landschaftsgarten, S. 20–27. Diese Integration des Betrachters funktioniert vor allem durch eine Dreiteilung des perspektivischen Bildes in Horizont, Flucht –und Blickpunkt, wodurch sich das „virtuelle Ich“ manifestiert. Der Kunsthistoriker Hubert Damisch merkt zu den Stadtdarstellungen der Renaissance an: „‚Ich‘ bin, zumindest als Projektion, da, an diesem auf der Leinwand markierten Punkt (segnato, sagt Alberti); oder vielmehr, ‚ich‘ habe darauf meinen geometrischen Ort, gleichgültig, in welchem Abstand vom Bild ich mich befinde.“ Zitat in: Damisch, Hubert: Der Ursprung der Perspektive, S. 377 f. Und weiter: „Was das perspektivische Paradigma tut, ist nichts anders, als dass es den Anderen gegenüber dem ‚Subjekt‘ als immer schon da setzt. Es führt den Dritten ein, der bis

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deren Relationen zueinander sich in seinem Verstand bildeten, sondern er wurde in die Position eines Dritten versetzt, einer künstlichen Perspektive, auf die hin alle Motive bereits in Relation angeordnet waren. Obwohl statisch, wird damit der „echte“ Betrachter Teil des Bildraums. Es scheint ihm mitunter als wäre er „vor Ort“ und selbst Bestandteil der gemalten Welt. Im Akt des Malens, oder des Malen-lassens, konnte er eine „perfekte“ Welt simulieren, in der alles auf seine Perspektive hin optimiert war. Es ist nicht verwunderlich, dass viele neue Städte in der Renaissance erst in dieser Art der Darstellung entstanden, bevor dann der bildliche Raum auf die Physis geprägt und realisiert wurde. Diese vermeintliche „Echtheit“ der perspektivischen Bildräume, der Anspruch, dass sie eine Welt zeigen, wie sie „ist“ oder sein könnte, verankerte die räumliche Darstellung tief in der westlichen visuellen Kultur nach der Renaissance. Dennoch ist sie keine natürliche Wiedergabe eines Raumes, kein Zeugnis einer objektiven Betrachtung; sondern zuallererst ein Trick, besser: eine Illusion oder genauer: Eine Konstruktion.94 Als wesentliches Grundlagenwerk für diese Art der Konstruktion kann das Buch „De pictura“ des Mathematikers Leon Battista Alberti von 1436 gesehen werden, in dem er sich mit dem menschlichen Sehen an sich und der Problematik der Übertragung räumlicher Wahrnehmung auf flächige Darstellungen beschäftigte. Wesentliche Aspekte dabei ist ein subjektiver Standpunkt, das gedachte Auge, von dem aus Linien über eine Fläche hinweg auf einen realen Gegenstand bezogen werden. Praktisch weiterentwickelt wurde diese Theorie z. B. von dem Maler Albrecht Dürer, der rund 100 Jahre später einen „Perspektivapparat“ beschrieb.95 Mithilfe eines an einer Stelle fixierten Fadens werden die Konturen eines echten Objektes nachgezogen. Zwischen den Endpunkten des Fadens befindet sich ein Rahmen, in dem vergleichsweise umständlich die Koordinate in Bezug zu diesem Rahmen markiert wird. Übertragen auf eine dann eingespannte Bildfläche entsteht so ein Meer von Punkten, die verbunden werden können, ähnlich den Polygonen der heutigen 3D Simulation. Je mehr Punkt definiert werden, je engmaschiger also das Raster der

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dahin aus einer Kunst ausgeschlossen war, die (wie die des Mittelalters) wesentlich kontemplativ war und jede Möglichkeit, von einer Position zur anderen zu wechseln ebenso wie die, ins Bild wie auf eine ‚Bühne‘ einzutreten, ausschloss.“ Zitat Hubert Damisch, in: ebd., S. 441. Der Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty merkte zur Perspektive in der Malerei an, dass sie kein absolutobjektives Grundgesetz sein, sondern tatsächlich ein Konglomerat aus vielen künstlerischen Techniken zur Erstellung einer Tiefenillusion. Vgl.: Merleau-Ponty, Maurice: Das Auge und der Geist (1961), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 186. Zu Albrecht Dürer und seinen geometrischen Konstruktionen vgl.: Livio, Mario: The golden ratio, S. 137–142. Trotzdem war der Maler Dürer recht flexibel bei der Anwendung solcher strukturierten Techniken und ordnete sie meist einer subjektiven Sinnstruktur unter. Vgl.: Lauerbach, Jan Magnus: Architektonische Bildräume im Werk Albrecht Dürers, S. 368.

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Fläche wird, desto eher hat das Bild eine natürliche Anmutung.96 Ein Prinzip, das wir noch heute bei der Auflösung von Monitoren wiederfinden. Die so geschaffene natürliche Anmutung schien damals wie die Bestätigung der vorher theoretisch gefassten Grundlagen, die scheinbar auf ein allgemeineres Prinzip der Welt hindeuteten. Vereinfacht gesagt ist ja die Bildfläche die Simulation der visuellen Wahrnehmung, aber sie ist eben nur eine Abstraktion, die sich aus einem umfassenderen Gegenstand und einem gedachten Fixpunkt ableitet. Der Umstand, dass durch die Technik der Perspektive die menschliche Wahrnehmung der Welt anhand eines Modells vermeintlich objektiv beschrieben werden konnte – mehr noch, dass die Welt aus einer vermeintlich objektiven Perspektive erfasst, im Bild entworfen und dann wieder durch die geometrisierte Architektur genauso in die Welt übertragen werden konnte – führte zu der Annahme, in der Geometrie den Schlüssel zum Verständnis der Welt als solcher gefunden zu haben.97 Eine Welterklärung ohne mystische Geschichten, sondern durch Vermessung, geometrische Erfassung und mathematische Bestimmung der Relationen. Durch die objektive Perspektive des Malers, der neben dem Perspektivapparat steht und den „Menschen“ beim Wahrnehmen der Welt studiert. Die objektive Welt des absolut geometrischen Raumes, jenseits der menschlichen Flächenwahrnehmung, die sich entlang des Dualismus von den beiden Enden eines Fadens aufspannt – in einem Gegensatz. Einem Dualismus zwischen Körper und Geist. Vor allem der französische Philosoph René Descartes wurde zu einer prägenden Figur für ein Weltbild, in dem unterschieden wird zwischen der Welt der Körper, die sich geometrisch-mathematisch begreifen lässt, und einer Welt des Geistes, die sozusagen außerhalb des Perspektivapparates liegt.98 Der Mensch als Wesen der Bildfläche ist dabei die Synthese aus beidem: Er ist als gedachte Perspektive der Geist in der Maschine der Geometrie. 96 97

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Vgl.: Schäffner, Wolfgang: Raster Orte, in: Zinsmeister, Annett: Constructing Utopia, S. 53. Hierbei ist vor allem das Werk „Mysterium Cosmographicum“ des Astronomen Johannes Kepler zu benennen, das 1597 erschien und in dem ein mathematisches Modell für das ganze Universum formuliert wurde. Vgl.: Livio, Mario: The golden ratio, S. 142–158. Vgl.: Descartes, René: Über die Prinzipien der materiellen Dinge (1644), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 44–57. Descartes ist dabei immer noch wesentlich für das generelle heutige Raumbild eines endlosen 3D Koordinatensystems. Vgl.: Günzel, Stephan: Einleitung, in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 24. In den meisten Wissenschaften, vor allem in der Physik, herrscht allerdings mittlerweile kein solch absolutes, sondern eher ein relatives Raumbild vor. Der hierbei einflussreiche Physiker Albert Einstein schreibt zur Bedeutung Descartes: „Das räumliche Kontinuum wurde als solches erst durch die Moderne in die Geometrie eingeführt, und zwar durch Descartes, den Begründer der analytischen Geometrie.“ Zitat in: Einstein, Albert: Raum, Äther und Feld in der Physik (1930), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 95. Descartes unterschied kategorisch zwischen Geist und Körper und nahm an, dass der Mensch ein Doppelwesen sei. Vgl.: Kutschera, Franz von: Die falsche Objektivität, S.  203. Wie aber Körper und Geist zusammenkommen, erklärt er nicht. Vgl.: Rozemond, Marleen: Descartes’s Dualism, S. 211. Auch der LeibSeele Dualismus ist mittlerweile eine unpopuläre Position in der Wissenschaft, aber dennoch als Ansicht weit

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Die Bedeutung, die die Geometrie vor allem im 17. Jh. einnahm, war so umfangreich, dass man sie zu Recht als eine „scientia universalis“ bezeichnen kann.99 Das Grundproblem bei der klassischen Geometrie ist aber: Sie zeichnet eine Welt des Blickes, nicht des Verstandes. Sie ist eine bestimmte Perspektive auf die Welt und nicht „die“ Welt. In der philosophischen Dimension ist dies der Geometrie sozusagen bewusst, da sie ja aus einer externen, objektiven Perspektive auf die Weltbildung des Menschen schaut, ausgehend von der Behauptung, dass es eine äußere, objektive Perspektive gebe. Ein „neben der Welt stehen“ Eine übergeordnete Perspektive als die Position der Herrschaft. Eine Herrschaft, begründet in der Annahme eines externen, objektiven Standpunktes, der theoretisch durch Erkenntnis eingenommen werden kann. Das ist eigentlich die gleiche Annahme, die wir in religiösen Systemen finden und es ist daher nicht verwunderlich, dass viele Philosophen

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verbreitet. Vgl.: Lauth, Bernhard: Descartes im Rückspiegel, S. 9. Vor allem in der häufig vorgenommenen Trennung zwischen Geist/Verstand und Körper scheint er noch durch, wie es auch die Philosophin Marleen Rozemond beschreibt: „Descartes’s dualism is widely regarded as a major influence on the formulation of our modern mind-body problem, and indeed he has sometimes been held responsible for creating the mind-body problem.“ Zitat in: Rozemond, Marleen: Descartes’s Dualism, S. xi. Dies drückt sich vor allem in dem subjektiv erfahrbaren Zustand aus, dass die Welt „da draußen“ vermessen werden kann, die Welt „da drinnen“ aber nicht. Der Hirnforscher Gerhard Roth schreibt diesbezüglich: „Eine strikte Kausalität zwischen Gedanken oder Gefühlen in der Weise, dass ein bestimmter Gedanke einen anderen erzwingt, ein bestimmtes Gefühl gesetzmäßig ein nächstes nach sich zieht, scheint es nicht zu geben. Dies alles drängt uns ein dualistisches Weltbild auf. (…) Gleichzeitig – und das ist das Dilemma – gibt es gute Gründe, an einem solchen dualistischen Weltbild zu zweifeln, so plausibel es auf den ersten Blick erscheint.“ Zitat in: Roth, Gerhard/Strüber, Nicole: Wie das Gehirn die Seele macht, S. 15. Die Figur der objektiven Perspektive, des beobachtenden Malers – die ja auch in einem weitverbreiteten Wissenschaftsverständnis angestrebt wird – und damit der Zweifel gegenüber der „flachen“ menschlichen Wahrnehmung, lässt sich ebenfalls heute noch an vielen Stellen finden, wie eine Bemerkung des Evolutionsbiologen Wolfgang Schad illustriert: „Der Descartessche Zweifel hat die Menschen notwendigerweise von überlebten Weltsichten befreit. Mit dieser Selbstbefreiung hat er aber zugleich auch die akademische Weltentfremdung eingeläutet. Millionen von Menschen sind inzwischen mit Kant, Schopenhauer, Lorenz, Vollmer und Popper davon überzeugt, zur Welt keinen realistischen Bezug zu haben. Ein solcher wird als ‚naiver Realismus‘ oder als bloße ‚Lebensweltlichkeit‘ abgetan und dabei die eigene unvollständige Aufklärung nicht bemerkt. Die Weltentfremdung gilt zwar immer für das Vorstellungsleben, denn es lebt nur in Abbildern der Welt, im Schein (…) und hinkt so immer hinter der realitätsbezogenen Wahrnehmung her.“ Zitat in: Schad, Wolfgang: Der periphere Blick, S. 63. Zitat Alberto Pérez-Gómez und Louise Pelletier, in: Pérez-Gómez, Alberto/Pelletier, Louise: Architectural Representation and the Perspective Hinge, S. 65

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diese absolute Perspektive mit Gott gleichsetzten;100 aber sie ist vor allem das: eine Annahme, auf deren Grundlage ein System gebildet wird. Ein System, das benutzt wird, um die Welt zu beschreiben und sich mithilfe dieses Systems mit anderen über die Welt auszutauschen. So sehr auch ein perspektivisches Bild, ob in der Renaissance oder in der Computersimulation, wie die „Wirklichkeit“ anmuten mag, so ist es doch immer eine Simulation. Ein Abbild, das nach einem komplexen Regelwerk, einem System, konstruiert ist. Es mag ja sein, dass die Perspektive, aus der dieses System konstruiert wurde, so fundiert wie möglich und scheinbar objektiv ist; aber es ist niemals „die“ absolut objektive Perspektive, sondern immer eine Agglomeration von subjektiven Perspektiven im Akt der Kommunikation. Eine Annährung, aber eben nicht das Objektive selbst, sondern ein Abbild.101 Ein System, das zwar scheinbar objektiv zwischen Menschen vermittelt, 100 Zum Beispiel vertrat der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz einen „objektiven Perspektivismus“ in dem alle subjektiven Sichtweisen auf einem objektiven System beruhten, das letztlich mit Gott, als einer alles umfassende Perspektive, gleichzusetzen sei. Vgl.: Bühring, Gerald: Perspektive, S. 85–87. Für einen Überblick über die Philosophie der Perspektivität mit dem Schwerpunkt auf Immanuel Kant vgl.: Heydt, Ruben von der: Perspektivität von Freiheit und Determinismus, S. 59–88. Diese objektive Perspektive ist natürlich ideal, um Macht über Menschen und Gesellschaften auszuüben. Wer immer auch diese Herrschaftsperspektive einnimmt, kann sie aus sich selbst heraus legitimieren, da ja alle anderen – die Beherrschten – in ihrer begrenzten Perspektive gefangen seien. Ein Muster, das scheinbar die Menschheitsgeschichte durchzieht. Vor allem in organisierten Religionen, wo sich „weltliche“ und „geistliche“ Macht verbinden, lässt sich das Phänomen gut beobachten. Für z. B. eine Beschreibung der Entwicklung des Christentums als politische Macht vgl.: Hybel, Alex Roberto: The Power of Ideology, S. 20–27. Auch z. B. der Daoismus geht von einer objektiven Perspektive aus, die im Standpunkt der Ewigkeit zu finden sei. Vgl.: Wilhelm, Richard: Einleitung, in: Dsi, Dschuang: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, S. 34. Auch der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel bestärkte die Grundannahmen der meisten Religionen, vor allem des Christentums: „Daß das Wahre nur als System wirklich oder daß die Substanz wesentlich Subjekt ist, ist in der Vorstellung ausgedrückt, welche das Absolute als Geist ausspricht – der erhabenste Begriff und der der neueren Zeit und ihrer Religion angehört. Das Geistige allein ist das Wirkliche; es ist das Wesen oder An-sich-Seiende (…) oder es ist an und für sich.“ Zitat in: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, S. 23. Die Kritik an religiösen Systemen und deren zugrundeliegender, absoluten Perspektive ist vielfältig. Hierzu ein Aspekt, den der Philosoph Zhao Tingyang am Beispiel des Christentums formuliert: „Einer Welt, die nur einen einzigen Geist besitzt, geht die Weltlichkeit verloren (…). Das Wesen der Welt bestimmt sich nicht durch ihre Größe, sondern durch ihren Reichtum an Vielfalt. Wenn es ihr an Diversität der Existenz mangelt, ist sie keine Welt, sondern lediglich ein Stück Materie.“ Zitat in: Tingyang, Zhao: Alles unter einem Himmel, S. 201. 101 In Bezug auf den cartesianischen Dualismus und den Mathematiker Alfred North Whitehead formuliert der Soziologe Thomas Schwinn allgemein auch zur Philosophie: „Die neuzeitliche Philosophie hat in der Folge zwischen drei Extremen geschwankt: Die Dualisten erkennen Materie und Geist als gleichbegrünet an. Das Streben nach Einheit geschieht nur um den Preis eines radikalen Reduktionismus und führt zu den beiden Spielarten von Monisten. Für den Idealismus besteht die Natur nur noch in der Veranschaulichung der Denkprozesse. Umgekehrt reduziert der Materialismus das Denken des Subjektes auf einen Zustand der Materie. Nach Whitehead kranken alle diese Denkrichtungen am gleichen Übel: Sie kommen über den cartesianischen Ansatz nicht hinweg. Die Wirklichkeit wird in abstrakte, logische Kategorien gezwängt, wobei zwangsläufig

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da es eine gemeinsame Basis herstellt, aber letztlich nur im Subjekt existiert. Bilder sind dadurch eigentlich auch nur ein System des Austausches über die Welt, und nicht „die“ Welt; und damit als System eigentlich das Gleiche wie das System der Sprache, der Schrift und der Mathematik.102 Als kulturelle Schöpfungen und Abstraktionen gefasst in einem konstruierten Konzept teilen sich all diese Systeme einen gemeinsamen Ursprung – und dieser Ursprung führt uns wieder zurück in die Region des „fruchtbaren Halbmondes“. Zu der Werdung der Zivilisation am Beispiel der Stadt nach der neolithischen Revolution: In die Welt von Çatalhöyük und Babylon.

ganze Dimensionen ausfallen müssen, alles was durch das Raster dieser Schemata fällt. Das Denken verfällt unausweichlich dem Trugschluss der unzutreffenden Konkretheit.“ Zitat in: Schwinn, Thomas: Jenseits von Subjektivismus und Objektivismus, S. 306. Diese Blindheit gegenüber den Systemen ist auch schon etwas, was der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel formuliert, wenn er an der wissenschaftlichen Praxis der Definitionen und Tabellen vor allem die unzureichende Begriffe kritisiert: „Dieser Formalismus (…) meint die Natur und das Leben einer Gestalt begriffen und ausgesprochen zu haben, wenn er von ihr eine Bestimmung des Schemas als Prädikat ausgesagt – es sei die Subjektivität oder Objektivität oder auch der Magnetismus, die Elektrizität und so fort (…) ein Zirkel von Gegenseitigkeit, wodurch man nicht erfährt, was die Sache selbst, weder das eine noch das andere ist. Es werden dabei teils sinnliche Bestimmungen aus der gemeinen Anschauung aufgenommen, die freilich etwas anderes bedeuten sollen (…).“ Zitat in: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, S. 39. 102 Bilder sind gegenüber der Sprache nur schneller zu verstehen. Durch ihre mitunter vorhandene Ähnlichkeit zur primären Wahrnehmung können sie schneller „gelesen“ werden als Sprache, die auf komplexeren, abstrahierten Zeichen beruht. Vgl.: Schmidt, Bernd B.: Die Macht der Bilder, S. 1. Der Philosoph Leonhard Schmeiser schreibt zu diesem Verhältnis in Bezug auf die mittelalterliche, nicht-perspektivische Malerei: „Tatsächlich kommt die Verweisstruktur von Bildern, wie sie für die Malerei des Mittelalters bestimmend ist, nicht ohne eine Relation der Abbildung aus, d.h. ohne eine Relation des Dargestellten auf einen zweiten Term, der sich, seinerseits grundsätzlich ohne Zutun der Malerei sichtbar, in jenem wiedererkennen läßt. Malerei ist strukturiert wie eine Schrift, aber sie ist keine Schrift. (…) Das Bild verweist (…) es wirkt nach Art einer Illustration. Der Betrachter kennt die Bedeutung der Bilder vorweg, erfährt diese nicht durch die Bilder, muß jedoch in der Lage sein festzustellen, welche der Geschichten die er kennt, jeweils dargestellt ist.“ Zitat in: Schmeiser, Leonhard: Die Erfindung der Zentralperspektive und die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft, S. 51. Bei der perspektivischen Darstellung ist dieses Vorwissen quasi als Wahrnehmung bereits im Menschen verortet. Es ist unbewusst, aber nichtsdestotrotz vorhanden – da die Bilder ja trotzdem Verweise auf Etwas sind und nicht das Etwas als ursprüngliche Erscheinung selbst, sind sie immer auch ein System zu Verknüpfung visueller Zeichen. Der Archäologe André Leroi-Gourhan merkt an: „(…) denn wir haben über die Erscheinungen nur in dem Maße Macht, wie das Denken durch die Worte hindurch auf sie Einfluss nehmen kann, indem es ein symbolisches Bild konstruiert, das dann materiell verwirklicht wird.“ Zitat in: Leroi-Gourhan, André: Die symbolische Domestikation des Raumes (1965), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 240. Zu einer weiteren philosophischen Dimension im Verhältnis der Renaissance zu systemischen Vorbildern schreibt der Astrophysiker Mario Livio: „However, the works of Pacioli, Dürer, and others revived the interest in Platonism and Pyhtagoreanism. Suddenly the Renaissance intellectuals saw a real opportunity to relate mathematics and rational logic to the universe around them, in the spirit of the Platonic worldview.“ Zitat in: Livio, Mario: The golden ratio, S. 141.

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In dieser Region und Zeit finden wir Menschen in den unterschiedlichsten Räumen und Identitäten vor und hier entsteht wahrscheinlich zum ersten Mal das Bewusstsein, Teil einer Familie mit Vorfahren zu sein. Diese sind nicht mehr direkt präsent, tauchen als Tote unter den Betten aber doch in den Bildern und Geschichten der anderen auf. Sie werden durch Worte und Sprache scheinbar wieder lebendig; zwar nicht direkt, aber als Abbilder; als Metaphern.103 Dies geschieht durch die Verwendung von Zeichen, die nicht die Personen selbst sind, sondern sie anhand eines spezifischen Systems beschreiben. Es kann als bedeutende Kulturleistung gesehen werden, ein solches metaphorisches System zu schaffen. Also nicht direkt, körperlich zu kommunizieren, sondern anhand eines vermeintlich externen Systems über etwas nicht da-seiendes zu reden, und doch irgendwie dieses Abwesende zu manifestieren. Das ursprünglichste System dieser Art dürften wohl die Bilder in den Räumen und Höhlen gewesen sein: Piktogramme von Menschen und Tieren, beide nicht real präsent, aber als geistige Kategorie existent. Die Entwicklung von Schrift und Sprache könnte hier ihren Ursprung haben. Es besteht dahingehend ein wissenschaftlicher Konsens, dass Texte zu Beginn der Schrift eher bildhaft geprägt waren und dann immer abstrakter wurden.104 Dies illustriert eine der ältesten Schriften der Welt, die ägyptische Hieroglyphenschrift, in der die Buchstaben ja tatsächlich kleine Piktogramme sind. Ungefähr zeitgleich, um das Jahr 3300 v.Chr. in Uruk, der damals größten Metropole der Region, im Süden des späteren Babylons gelegen, entstand mit der Keilschrift eine weitere bedeutende Schrift.105 Der legendäre Herrscher von Uruk, Gilgamesch, lebte um 2700 v.Chr. und ist gleichzeitig Protagonist und Namensgeber einer der ältesten schriftlich festgehaltenen Erzählungen, des Gilgamesch-Epos. Im Kern handelt es sich bei dieser Geschichte um die Suche des Königs Gilgamesch nach der Unsterblichkeit. Dabei muss er erkennen, dass wahre Unsterblichkeit nur den Göttern vorbehalten ist. Dies ist aber nicht so schlimm, denn er ist selber zu 2/3 ein Gott und zu 1/3 Mensch, kann somit als Vermittler 103 Diese Metaphorik ist dabei nicht nur auf Worte beschränkt, sondern auch auf begriffliche oder abstrakte Kategorien. Zum Beispiel waren im antiken griechischen Denken die physikalische Sache und ihr metaphysischer Begriff deckungsgleich. Dies ändert sich eigentlich erst in der Renaissance. Vgl.: Günzel, Stephan: Einleitung, in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 19–43. Hierzu der Psychologe Julian Jaynes: „In fact, one of the great functions of language is to let the word stand for a concept, which is exactly what we do in writing or speaking about conceptual material.“ Zitat in: Jaynes, Julian: The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind, S. 31. 104 Vgl.: Ernst, Ulrich: Von der Hieroglyphe zum Hypertext, in: Die Verschriftlichung der Welt: Bild, Text und Zahl in der Kultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, in: Wenzel, Horst/Seipel, Wilfried/Wunberg, Gotthart: Die Verschriftlichung der Welt, S. 213. 105 Vgl.: Bretschneider, Joachim: Vom Jäger und Sammler zum Bewohner von Städten, in: Klempt, Eberhard: Explodierende Vielfalt, S. 188. Vgl.: Schott, Albert: Einleitung (1934), in: Soden, Wolfram von: Das GilgameschEpos, S. 4. Vgl.: Krebernik, Manfred: Götter und Mythen des alten Orients, S. 9.

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zwischen beiden Welten gesehen werden und durch seinen Namen für die Nachwelt unsterblich werden.106 In dieser Geschichte drückt sich damit eine sehr wesentliche Eigenschaft von Sprache und Schrift aus: Sie ist strukturelle Herrschaft. Durch den Akt der Geschichtsschreibung und der Namensgebung wird der König ein Objekt. Er ist dem subjektiven Miteinander enthoben, kann aber in diesem subjektiven Miteinander wirken, obwohl er selbst nicht präsent ist. Der König wird quasi gottgleich und stiftet im System der Sprache Regeln und Gesetze, nach denen Menschen handeln, ohne dass er direkt mit ihnen kommuniziert. Das Entstehen der alt-orientalischen Reiche kann wohl unter dieser Notwendigkeit gesehen werden, zwischen den unterschiedlichsten Räumen, Menschen und Städten diesen Ausgleich herzustellen. Sprache, Bilder, Schrift und auch Mathematik, die alle relativ zeitgleich entstanden, sind demnach Systeme einer externen Herrschaft und in das Selbstbewusstsein des Menschen als Raster des Denkbaren gelegt.107 Dadurch wird mit den Mitmenschen ein gemeinsamer Raum des Austausches gebildet – ebendieser Raum der Sprache –, der durch einen externen Dritten, die mystisch überhöhte Figur des Königs, der Herrschaft oder des Gottes definiert wird.108 Die biblische Geschichte des Turmbaus zu Babel, 106 Zu dieser Aufteilung und der Bedeutung des Namens schreibt der Altorientalist Manfred Krebernik: „Der Name gehörte nach altorientalischer Vorstellung zum Wesen der Dinge und erst recht einer menschlichen oder göttlichen Person.“ Zitat in: Krebernik, Manfred: Götter und Mythen des alten Orients, S. 45. 107 Auch Mathematik ist eine Sprache. Wenn auch eine sehr genaue, da sie eigentlich nur in einem abstrakten Raum existiert und zu großen Teilen eben nicht metaphorisch ist. Deswegen sah z. B. René Descartes Mathematik nicht nur als eine universelle Wissenschaftssprache, sondern betrachtete sie auch als auf das menschliche Denkvermögen anwendbar, also als eine exakte Wissenschaft. Vgl.: Lauth, Bernhard: Descartes im Rückspiegel, S. 53–71. Ähnlich sah es auch sein Zeitgenosse, der Staatstheoretiker und Mathematiker Thomas Hobbes, der darauf hinwies, dass in der Wissenschaft Worte problematisch sein, da sie irrtumbehaftet sind, vor allem durch nachträgliche Erklärungen und Deutungen. Besser wäre es, wie in der Geometrie, vorher die Begriffe zu definieren. Vgl.: Hobbes, Thomas: Leviathan, S. 32. Oder am besten gleich mathematisch zu denken: „In diesem Sinne genommen ist Vernunft eine Art von Rechnen;“ Zitat in: ebd., S.40. Die Stärke der Mathematik als Sprache des „geschlossenen Raumes“ ist unbestreitbar und nachweislich mit der Welt verzahnbar. Aber dennoch sind bestimmte Grundsysteme in ihr fast zufällig. Z. B. werden größere Zahlen auf der Basis von 10er Potenzen gebildet. Es ist dabei ziemlich unstrittig, dass dies nicht auf einer Art kosmischem Grundprinzip beruht, sondern darauf, dass der Mensch nun einmal 10 Finger hat. Vgl.: Livio, Mario: The golden ratio, S. 19. 108 Wie sehr das System der Schrift und der Sprache überhaupt eine Grundvoraussetzung zur Abbildung von nicht direkt erfahrbaren Sachverhalten ist, die bereits in diesem System überhaupt codiert sein müssen, illustriert eine Anmerkung des Archäologen André Leroi-Gourhan: „Die Form, in der uns die Genesis überkommen ist, zeigt in idealer Weiser die Darstellung der Welt in einer bäuerlichen Gesellschaft, die bereits zu einem hohen Grad bäuerlicher Seßhaftigkeit gelangt ist; gleiches gilt praktisch für die Kosmogonien der Hochkulturen Amerikas und Chinas, sie konfrontieren uns mit Systemen, die bereits im hohen Maße vom Strom systematischer Aufarbeitung geprägt sind, einer Aufarbeitung, die auf die Schrift zurückgeht. Jenseits

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womit wohl der Marduktempel gemeint ist, kann wohl auch in diesem Sinne verstanden werden. Die göttliche Macht verschwindet und das vereinigende externe Dritte zwischen den Menschen löst sich auf. Sprachlosigkeit, der Verlust der Kommunikation, ist die Folge. Dieser Fall der Götter und die Kompensation ihrer Perspektive durch eine neue Ordnung ist historisch gesehen ein stetig wiederkehrendes Thema. Vor allem wird dies deutlich in einem zeitlichen Sprung nach vorn: in die Epoche der Renaissance und damit zur Geometrie und zu den entstehenden neuzeitlichen Wissenschaften und Sprachen.109 Die Aufklärung hat mit ihrem Selbstanspruch ja die religiöse Deutungsmacht gebrochen und sozusagen dem Menschen, beziehungsweise der Beziehung zwischen Menschen, zum Austausch übergeben. Die göttliche, externe Perspektive wirkt nicht mehr, aber: ihre Position blieb bestehen. Die Position des Dritten, der über der Perspektive des Einzelnen steht und zwischen zwei oder mehreren einen Raum des Austausches schafft. Diese Position wird nun durch objektivierte Inhalte besetzt. Sicherlich ein der ersten schriftlichen Dokumente ist es sehr schwierig, die Entwicklung zu fassen, die in den ersten fünfoder sechstausend Jahren der landwirtschaftlichen Revolution erfolgte.“ Zitat in: Leroi-Gourhan, André: Die symbolische Domestikation des Raumes (1965), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 237. Die Grundeigenschaft dieses Systems der Sprache definiert der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel wie folgt: „Wir sehen hiermit wieder die Sprache als das Dasein des Geistes. Sie ist das für andre seiende Selbstbewußtsein, welches unmittelbar als solches vorhanden und als dieses allgemeines ist. Sie das sich von sich abtrennende Selbst, das als reines Ich = Ich sich gegenständlich wird, in dieser Gegenständlichkeit sich ebenso als dieses Selbst erhält, wie es unmittelbar mit den anderen zusammenfließt und ihr Selbstbewußtsein ist; es vernimmt ebenso sich, wie es von den anderen vernommen wird, und das Vernehmen ist eben das zum Selbst gewordene Dasein.“ Zitat in: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, S. 438. Der Psychologe Julian Jaynes kommt diesbezüglich zu der These, dass das moderne Selbstbewusstsein des Geistes sich erst nach und in Folge der Sprache entwickelt habe. Vgl.: Jaynes, Julian: The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind, S. 66. Der Sozialanthropologe Harvey Whitehouse stellt dagegen, nach einer Untersuchung der Kulturen von Papua-Neuguinea, fest: „Social memory (by which I mean, of course, convergent individual memories) is capable of fixing representations in much the same way as a written text.“ Zitat in: Whitehouse, Harvey: Inside the cult, S. 213. Dennoch sind Schrift und Sprache als System ein wesentliches Mittel der Herrschaft. Nach Japan z. B. kam der Buddhismus durch die chinesische Schrift in Verbindung mit kultischen Handlungen. Erst als Religion der Machtelite, ab 594 dann als Staatsreligion. Vgl.: Coulmas, Florian: Die Kultur Japans, S. 118. Der Japanologe Florian Coulmas hält dazu fest: „Die heilige Schrift gewinnt eine eigene, vom Verkünder der Botschaft unabhängige Existenz. Glaube und Gelehrsamkeit können sich über ihr begegnen und in der Verehrung schriftlicher Zeichen vereinen. Wie keine andere Religion propagiert der Buddhismus die Idee vom Weltverständnis als Lesen eines Buches. Die Schrift ist für die Religion auch deshalb so bedeutsam, weil sie ihr einen Status verleiht, der es erlaubt, sie zu administrieren und anderen vorzuschreiben, Macht zu legitimieren und der Gemeinschaft von der Person des Machthabers unabhängige Gebote zu geben.“ Zitat in: ebd., S.119. 109 Im Kontext von Aufklärung und Mythen schreiben die Philosophen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: „Die Distanz des Subjekts zum Objekt, Voraussetzung der Abstraktion, gründet in der Distanz zur Sache, die der Herr durch den Beherrschten gewinnt.“ Zitat in: Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, S. 19.

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Fortschritt, da religiöse Absolutheitspostulate abgelöst wurden durch ein pluralistisches Verhandeln von Inhalten in einem stetigen Prozess des Korrigierens und Überprüfens; aber doch ein Beibehalten der konstruierten externen Position des Dritten. Eine Position, die wiederum von der Herrschaft gefüllt wird. Zwar mit anderen Inhalten, aber in struktureller Hinsicht genauso auf die Menschen und ihre Räume wirkend. Ob mystisch oder objektiv begründet: Die Position der Herrschaft als solche bleibt dieselbe. Das Wesen dieses Herrschaftsansatzes, der sich nicht mehr nur aus dem Religiösen schöpft, sondern gerade durch seinen vermeintlichen Objektivismus einen Wahrheitsanspruch legitimiert, ist damit offenkundig. Die Welt wird zerteilt in einzelne Räume, die aus einer bestimmten vereinenden Perspektive heraus Sinn und Zusammenhang erhalten. Es geht dabei nicht nur um die Organisation, sondern um die gesamte Struktur der Welt und den Platz des Menschen darin. Es erstaunt nicht, dass mit dem Auftreten der Herrschaft als organisierender Handlungsstruktur nicht nur die Räume strukturiert wurden, sondern auch die Welt der Dinge ihre Definitionen fand. Im Urzustand des ersten Menschen sind Dinge Erscheinungen der natürlichen Welt, die ihren objektiven Status dadurch erhalten, dass sie als Werkzeuge in Relation zu seiner subjektiven Sicht wirksam werden. Das Konzept einer Herrschaft, als Verkörperung einer umfassenderen Perspektive, bedingt ihrem Wesen nach eine Angleichung dieser Objekte.110 Die Dinge erhalten ihre Definition nicht von dem Subjekt, sondern aus einer externen Perspektive, die vereinheitlichende Definitionen zum besseren Austausch bereitstellt. Demnach ist es nicht verwunderlich, dass Sprache und Schrift der Herrschaft immanent sind und ihre historische Entwicklung mit ihnen und der Entwicklung urbaner Strukturen zusammenhängen. Die Entwicklung der Schrift beruht im Wesentlichen auf einer vereinheitlichenden Definition von Dingen und ihrer Relation zueinander 110 Der Philosoph Ruben von der Heydt schreibt hierzu in Bezug auf den Philosophen Jürgen Habermas: „Offenbar geht in der Evolution auf anthropologischer Entwicklungsstufe aus der intensivierten Interaktion von Artgenossen eine in Zeichen materialisierte Schicht von grammatisch geregelten Sinnzusammenhängen hervor, an denen die einzelnen Individuen intersubjektiv partizipieren. Dieser ‚objektive Geist‘ ist für uns nur dank seiner Verkörperung in akustisch und optisch wahrnehmbaren materiellen Zeichen greifbar, also in kommunikativen Äußerungen, symbolischen Gegenständen und Artefakten. Solche sinnhaften Symbolsysteme, die eine relative Unabhängigkeit von der Natur erlangten, können als emergente Eigenschaften verstanden werden, die sich in einem evolutionären Schub zur ‚Vergesellschaftung der Kognition‘ herausbildeten.“ Zitat in: Heydt, Ruben von der: Perspektivität von Freiheit und Determinismus, S. 279. Als solche Vergesellschaftungssysteme können auch Geld und Kapital begriffen werden, deren moderner Gegensatz ja auch nach der Renaissance entstand und zu denen der Philosoph Karl Marx formuliert: „Die Warenzirkulation ist der Ausgangpunkt des Kapitals. Warenproduktion, Warenzirkulation (…), Handel, bilden die historischen Voraussetzungen, unter denen es entsteht. Von der Schöpfung des modernen Welthandels und Weltmarktes im 16.Jahrjundert datiert die moderne Lebensgeschichte des Kapitals. (…) Geld als Geld und Geld als Kapital unterscheiden sich zunächst durch ihre verschiedne Zirkulationsform.“ Zitat in: Marx, Karl: Das Kapital, S. 149.

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in einer Grammatik. Ein Apfel ist nicht eine zufällige Erscheinung, sondern er ist eine Kategorie. Eine Kategorie, die viele verschiedene Erscheinungen anhand spezifischer Ausprägungen zusammenfasst und diese vereinheitlicht. Die Erscheinung wird ein Begriff. Eine quasi metaphysische Kategorie, die über der Welt schwebt, aber Komplexität beherrschbar macht. Ein Apfel ist ein Apfel. Tausend Äpfel sind halt tausend Äpfel. Was im schriftlichen Ausdruck banal anmutet, illustriert die Macht der Sprache. Tausend Äpfel übersteigen in der Realität den persönlichen Zugang. Die Masse ist zu groß für einen Menschen, aber im Modus der Sprache ist diese Erscheinung beherrschbar, greifbar und damit auch austauschbar. Tausend Äpfel, tausend Birnen, transportiert von A nach B. Die Komplexität des Seins verschwindet hinter dieser objektiven Perspektive. Das Chaos der Welt scheint begreifbar und regulierbar. Überlegt man aber, was das nun eigentlich sein soll, der Apfel, wird man in der realen Welt nicht fündig. Man muss nicht bis zu Platons Ideenlehre zurückgehen um zu begreifen, dass es den Apfel als solchen nicht gibt. Sondern dass er ein metaphysischer Idealtypus ist – ähnlich den Götterwesen als Idealbildern.111 111 Die Kritik an dem System der Sprache als solches ist vor allem in der Philosophie ein ständiger Topos. Hierzu der Philosoph Friedrich Nietzsche: „Die Sprache als vermeintliche Wissenschaft. – Die Bedeutung der Sprache für die Entwicklung der Kultur liegt darin, daß in ihr der Mensch eine eigne Welt neben die andere stellte, einen Ort, welchen er für so fest hielt, um von ihm aus die übrige Welt aus den Angeln zu heben und sich zum Herren derselben zu machen. Insofern der Mensch an die Begriffe und Namen der Dinge als an aeterna veritates durch lange Zeitstrecken hindurch geglaubt hat, hat er sich jenen Stolz angeeignet, mit dem er sich über das Tier erhob (…). Der Sprachbildner war nicht so bescheiden zu glauben, daß er den Dingen eben nur Bezeichnungen gebe, er drückte vielmehr, wie er wähnte, das höchste Wissen über die Dinge mit dem Wort aus. (…) Der Glaube an die gefundene Wahrheit ist es auch hier, aus dem die mächtigsten Kraftquellen geflossen sind. (…) Auch die Logik beruht auf Voraussetzungen, denen Nichts in der wirklichen Welt entspricht, z. B. auf der Voraussetzung der Gleichheit von Dingen (…). Ebenso steht es mit der Mathematik, welche gewiß nicht entstanden wäre, wenn man von Anfang an gewußt hätte, daß es in der Natur keine exakte gerade Linie, keine wirklichen Kreise, kein absolutes Größenmaß gebe.“ Zitat in: Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches, in: Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Also sprach Zarathustra. Jenseits von Gut und Böse, S. 26 f. Auch der Philosoph Zhao Tingyang äußert sich ähnlich, wenn er zu Entstehung der chinesischen Schrift schreibt: „Die Schrift bewahrte die gesamte Schöpfung in einer vom Menschen beherrschbaren Form (…). Die Schrift schuf daher eine idealistische Welt, und diese idealistische Welt erzählte nach Art eines ‚Games‘ die objektive Existenz der materialistischen Welt. Das war der Gipfel der Magie. Die Schrift verlieh dem Menschen überirdische Kräfte, daher wurde CHANG Jie (…), der Schöpfer der Schriftzeichen, zu einem übernatürlichen Wesen. In einer Zeit, da die Menschheit nicht in der Lage war auf materialistische Weise von der Welt Besitz zu ergreifen, ergriff sie auf idealistische Weise von ihr Besitz (…).“ Zitat in: Tingyang, Zhao: Alles unter einem Himmel, S. 160. Schon der Philosoph Platon sah die Schrift

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Diese metaphysische Macht, ausformuliert als Definitionsmacht über Kategorien, ballt sich wiederum in der Stadt. In ihr werden die Definitionen erstellt, in ihr werden die Listen geführt, anhand derer die unterschiedlichen Zonen der Welt zu Nummern und Begriffen schrumpfen und damit beherrschbar werden. In der Stadt entstehen die Relationen, die wiederum – als Verkörperung dieser Sichtweise – auf die Welt zurückwirken. Beginnend mit der Stele des Hammurapi, die das geltende Recht in einem Gebiet symbolisierte, ist die Geschichte symbolischer Repräsentation lang und umfassend. Es ist eine Geschichte der Dinge und Zeichen, eine Geschichte vom symbolhaften Verweis auf den Gesamtzusammenhang, der sich in so etwas Banalem wie einer Flagge, einem Grenzstein, einem Ortsschild oder einem Palast zeigt. Es ist die vermeintlich objektive Perspektive, die eine übergeordnete Wahrheit, die sich in den Zeichen ausdrückt. Die Dinge, die ja erst durch das Werkzeug des Begriffes Dinge werden, sind damit die Gesellschaft unter dem Vorzeichen der Herrschaft. Alles erhält Sinn durch die Struktur der Zentrierung, die sich im Konzept von Welt und deren städtischen und dinglichen Gestaltung niederschlägt. Eines muss an dieser Stelle klar benannt werden. In der allgemeinen Auffassung überwiegt mitunter die Betrachtung der Herrschaft als einer über die Menschen gekommenen Diktatur. Das mag in vielen konkreten Fällen auch so sein, aber in ihrem Grundprinzip, wie es hier begriffen wird, ist Herrschaft ein autopoetisches System. Ein System, das sich unter bestimmten Voraussetzungen in komplexeren Gruppen entwickelt. Eine gemeinschaftliche, ob bewusst oder unbewusst gefertigte Konstruktion eines externen Dritten als Brücke des Austausches. In dieser Konstruktion ist die Funktion entscheidend, unabhängig von Inhalt oder Person. In klassischen Monarchien ist auch als solche kritisch. Gerade die höchsten Gegenstände des Denkens seien nicht schriftlich fixierbar und damit nicht textfähig. Nur im direkten Dialog, der ja auch andere Arten als die verbale Kommunikation umfasst, sei die Möglichkeit gegeben, Weisheit zu vermitteln. Vgl.: Leidlmair, Karl: Medienrevolutionen, in: Beinsteiner, Andreas/Kohn, Tanja: Körperphantasien, S. 49. Vgl.: Zovko, Jure: Sinnstiftung durch Transzendenz, in: Gräb-Schmidt, Elisabeth/Häfele, Benjamin/Hölzchen, Christian P.: Transzendenz und Rationalität, S. 85. Der Philosoph Karl Marx fasst die Kritik an Schrift und Sprache prägnant zusammen: „Der Name einer Sache ist ihrer Natur ganz äußerlich. Ich weiß nichts vom Menschen, wenn ich weiß, daß ein Mensch Jakob heißt.“ Zitat in: Marx, Karl: Das Kapital, S. 109. Auch die eigentliche Leistung der Sprachen, gerade abstrakte Kategorien in einem losgelösten Raum zu schaffen, kann, wie es auch der Philosoph Immanuel Kant schreibt, kritisiert werden: „Wir mögen unsre Begriffe noch so hoch anlegen und dabei noch so sehr von der Sinnlichkeit abstrahieren, so hängen ihnen doch noch immer bildliche Vorstellungen an, deren eigentliche Bestimmung es ist, sie, die sonst nicht von der Erfahrung abgeleitet sind, zum Erfahrungsgebrauche tauglich zu machen.“ Zitat in: Kant, Immanuel: Was heißt: Sich im Denken orientieren?, in: Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden und andere Schriften, S. 44. Das schließt auch ein, dass Sprache ständig neue Begriff und Formulierungen kreiert, die sich eigentlich auf dasselbe beziehen, wie es auch der Wissenschaftsphilosoph Bernhard Lauth schreibt: „Man sieht, wie sich die Sprache seit dem 17. Jahrhundert gewandelt hat: Statt nach dem ‚Sitz der Seele‘ fragen wir nach den ‚neuronalen Korrelaten des Bewusstseins‘. Diese Formulierung klingt moderner und wissenschaftlicher, aber der Inhalt ist derselbe geblieben.“ Zitat in: Lauth, Bernhard: Descartes im Rückspiegel, S. 50 f.

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der Herrscher selbst keine autarke Person.112 Kein freier Mensch, der spontan Inhalte absondert (auch wenn es dafür wiederum Beispiele gibt). Der Herrscher als Figur ist von derselben Macht der externen Perspektive definiert wie die Stadt und das Land, die sich auf ihn beziehen. Die Definition der Dinge wirkt auch auf ihn zurück. Er wird erst durch die Attribute der Herrschaft, was immer diese sein mögen: ob Gegenstand oder Kategorie, zur Figur.113 Es ist das Prinzip einer feudalen Einkreisung dieser Figur, die sich immer in ausdifferenzierten Machtstrukturen findet. Der Hofstaat als Repräsentation der Gesellschaft umkreist den Herrscher, definiert die Felder seiner Macht, prägt die Inhalte, die aus ihr hervorgehen und erschafft so die eine, absolute Zentrierung, die wie ein Turmbau auf die angestrebte, absolute Perspektive verweist. Als an sich leeres Zeichen unterscheidet sich diese Figur des Herrschers nicht von den leeren Räumen einiger Tempel – ist sie doch nur Repräsentation einer höheren Ordnung, um die sinnbildlich die Menschen kreisen. Aber nicht diese Ordnung selbst bildet die Herrschaft, sondern das Gesamtsystem.

112 Er war auch in Europa meist, außer im Feudalismus, König der Bewohner eines Landes und nicht des Landes selbst. Vgl.: Simmel, Georg: Über räumliche Projektionen sozialer Formen (1903), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 305 f. 113 Die direkte Macht die von Personen oder Gruppen, die als Herrscher wahrgenommen werden, ausgeht, wird häufig überschätzt. Der Philosoph Friedrich Nietzsche formuliert dazu: „Die anscheinenden Wettermacher der Politik.- Wie das Volk bei Dem, welcher sich auf das Wetter versteht und es um einen Tag voraussagt, im stillen annimmt, daß er das Wetter mache, so legen selbst Gebildete und Gelehrte mit einem Aufwand von abergläubischen Glauben großen Staatsmännern alle die wichtigen Veränderungen und Konjunkturen, welche während ihrer Regierung eintraten, als deren eigenstes Werk bei, wenn es nur ersichtlich ist, daß Jene etwas davon eher wußten als Andere und ihre Berechnungen darnach machten: sie werden also ebenfalls als Wettermacher genommen – und dieser Glaube ist nicht das geringste Werkzeug ihrer Macht.“ Zitat in: Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches, in: Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Also sprach Zarathustra. Jenseits von Gut und Böse, S. 289 f. Dieser Gedanke liegt seiner Beobachtung zugrunde: „Die Menschen unterwerfen sich aus Gewohnheit Allem, was Macht haben will.“ Zitat in: ebd., S. 213. Eine andere Perspektive darauf formuliert der Philosoph Immanuel Kant: „(…) der Mensch ist ein Thier, das, wenn es unter anderen seiner Gattung lebt, einen Herrn nöthig hat.“ Zitat in: Kant, Immanuel: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden und andere Schriften, S. 14. Von wo auch immer der Impuls zur Herrschaft ausgehen mag, auf ihren autopoetischen Charakter verweist indirekt auch der Psychologe Sigmund Freud, wenn er formuliert: „Die Analogie zwischen dem Kulturprozeß und dem Entwicklungsweg des Individuums läßt sich um ein bedeutsames Stück erweitern. Man darf nämlich behaupten, daß auch die Gemeinschaft ein Über-Ich ausbildet, unter dessen Einfluß sich die Kulturentwicklung vollzieht.“ Zitat in: Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, S. 104. Eine sehr originelle Theorie zur Entstehung der Zivilisation vertritt der Psychologe Julian Jaynes. Die Stimmen der Könige seien in den ersten mesopotamischen Städten tatsächlich bei den Bewohnern zu hören gewesen, auch nach ihrem Tod – nämlich als gruppenhalluzinierte Idole in der Sprache des Verstandes. Vgl.: Jaynes, Julian: The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind, S. 126–146.

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Objektivierungen Diese Ausführungen zur Stadt und zur Herrschaft als Zentrierung zeigen, dass es sich bei zwei auf den ersten Blick doch sehr unterschiedlichen Phänomenen um Ausprägungen der gleichen Struktur handelt. Damit ist das sogenannte objektive Denken gemeint, das bei der Annahme eines Blickwinkels beginnt und über die Sichtweise des Subjektes hinausgeht. Ursprung dafür ist das Erkennen eines Mangels. Der subjektive Blick des Menschen ist immer von einer bestimmten Perspektive geprägt, die er nicht verlassen kann. Er kann ohne Werkzeuge nicht einmal sich selbst vollständig sehen und schon gar nicht den vollumfassenden Zusammenhang zwischen sich und der Welt, den ein mystischer Mensch mit der Distanz der himmlischen Betrachtungsperspektive assoziiert. Diese begrenzte Perspektive beschränkt den Menschen und im Austausch mit anderen wird er sich dieser Beschränktheit bewusst. Das Gegenüber hat vielleicht ganz andere Sachen gesehen, ganz andere Relationen gebildet, die ihm nie in den Sinn gekommen sind. Austausch per se resultiert aus einem Ungleichgewicht und in diesem Falle wird sie als individueller Mangel besonders deutlich. Die Struktur von Herrschaft und auch religiöser Mystik beruht auf diesem Mangel. In der Gruppe erzeugen Menschen eine umfassendere Perspektive auf das Sein, als es eine Einzelperson kann. Aber dieses Wissen ist nie absolut! Es gibt immer ein Außerhalb mit neuen Perspektiven! Die Projektion der Religionen entspricht dabei der vom ersten Menschen vermuteten absoluten Perspektive hinter der Welt, die scheinbar alles Sein kontextualisiert. Der Modus der Herrschaft ist als Symbol für diese vereinte Perspektive der Menschen als Gruppe zu verstehen. Es ist die Repräsentanz einer erhofften umfassenden Sinnstiftung für die Welt, deren Existenz aber nur eine Annahme ist. Ob diese nun ein Gott, ein Herrscher, ein Erleuchteter, eine Super-KI oder das Dogma einer rationalen Erkenntnis ist, ist völlig gleich, da der Modus immer derselbe ist. Herrschaft offenbart sich als ein struktureller Kontext, in dem der Herrscher ein umfassenderes Gegenüber simuliert. Der einzelne Mensch kann die Relationen in der für ihn chaotischen Welt nachvollziehen, indem er die Perspektive des Herrschers, zumindest weitestgehend, annimmt. Das geahnte objektive Gegenüber hinter der Welt ist so in die Welt getreten – zumindest scheinbar.114 114 Das Wesen der Herrschaft fasst Zhao Tingyang wie folgt zusammen: „Ausdruck der Herrschaftslogik ist die naturgegebene Ordnung des Starken, Gehorsam gegenüber dem Führer nach innen, Unterwerfung unter den Starken nach außen. Eine über die naturgegebene Ordnung hinausgehende politische Ordnung existiert noch

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Die Stadt ist genau die real-physische Interpretation dieses Gedankens. Die unterschiedlichen Perspektiven korrelieren in ihr als Masse und ihre strukturierte Anordnung entspricht dem Gedanken der Fokussierung. Ähnlich wie am feudalen Hofe ist die Stadt dabei umringt und durchdrungen von definierten Flächen und Strukturen, die ihren Sinn durch das Gesamtsystem erhalten. Das Konzept wird Ding, wird Figur, wird Raum und erhält so scheinbar Legitimation durch seine physische Werdung. Von dieser Verdinglichung, die dem Wesen der Herrschaft und dem eines vermeintlich objektiven Denkens entspringt, sind vor allem die Räume betroffen. In dem Ansatz der Herrschaft sind Räume gefasst. Sie sind nicht sinnlose Natur, sondern unterliegen

nicht (…).“ Zitat in: Tingyang, Zhao: Alles unter einem Himmel, S. 50. Die wohl bildhafteste Konzeption einer solchen Herrschaft findet sich im einflussreichen Konzept des Leviathans von Thomas Hobbes aus dem Jahr 1651: „Der große Leviathan (so nennen wir den Staat) ist ein Kunstwerk oder ein künstlicher Mensch – obgleich an Umfang und Kraft weit größer als der natürliche Mensch, welcher dadurch geschützt und glücklich gemacht werden soll.“ Zitat in: Hobbes, Thomas: Leviathan, S. 5. In diesem Werk geht er von einem Menschenbild aus, bei dem ein Krieg aller gegen aller der Naturzustand ist, was durch eine absolute Macht unterbunden werden muss. Vgl.: Ebd., S. 115. Im Idealstaat des Leviathans sind alle Bürger nach einer bestimmten Funktion und Kategorie definiert. Vgl.: Ebd., S. 142–144. In einer hierarchischen Organisationstruktur gilt dabei das Prinzip des absoluten Gehorsams gegenüber dem Vorgesetzten, bis sich dieser in der Figur des absoluten Herrschers offenbart. Vgl.: Ebd., S. 242. „Jeder muss alle seine Macht oder Kraft einem oder mehreren Menschen übertragen, wodurch der Wille aller gleichsam auf einen Punkt vereinigt wird (…). So entsteht der große Leviathan oder, wenn man lieber will, der sterbliche Gott (…).“ Zitat in: ebd., S. 155. Als eine andere Richtung wäre das Konzept zu benennen, das Thomas Jefferson 1785 in der Beschreibung von Virginia verwendet hat und das später in die Konstituierung der USA eingeflossen ist. Hierbei wird das Ideal einer an Grundbesitz geknüpften Demokratie entworfen. Vgl.: Eaton, Ruth: Die ideale Stadt, S. 88. Diese geht von dem eigenständigen Bürger aus, dem alle Ämter offenstehen, sowie von Institutionen und unterschiedlichen Körperschaften, die die Macht als solche begrenzen, vgl.: Jefferson, Thomas/Wasser, Hartmut: Betrachtungen über den Staat Virginia, S.310. „Sie allesamt in denselben Händen zu vereinen erfüllt exakt die Definition despotischer Herrschaftsweise. Man gewinnt dadurch nichts, daß diese Gewalt in den Händen vieler und nicht eines einzigen ist. (…) Den Despotismus in jeder Gestalt (…) wünschten wir zu entgehen, und die Regierungsform, die wir suchten, sollte nicht allein auf freien Grundsätzen beruhen, sondern auch die Gewalt derselben zwischen politischen Körperschaften sollte so aufgeteilt und ausgewogen sein, daß keine ihre gesetzmäßigen Grenzen überschreiten könnte, ohne sogleich von der anderen zurückgehalten zu werden.“ Zitat in: ebd., S. 256 f. Aber auch aus dieser Konzeption soll eine absolutere Herrschaft entspringen: Thomas Jefferson glaubte, dass die Ausbreitung der richtigen Kultur das Klima und Wetter der USA verändern würde. Vgl.: Morton, Oliver: The Planet Remade, S. 127. Wie auch immer Herrschaft konstruiertwird, sie bleibt mangelhaft, was auch Zhao Tingyang feststellt: „Ein System ist dann und nur dann legitim, wenn es auf der Zustimmung aller beruht. Diese Norm ist perfekt, aber sie ist zu anspruchsvoll und nicht realisierbar (…).“ Zitat in: Tingyang, Zhao: Alles unter einem Himmel, S. 43. Die Frage, welche Art der Herrschaft den nun optimal, also einer Art allumfassende Einsicht verpflichtet ist, ist ein Dauerthema in der menschlichen Entwicklung und führt zu einem ständigen Scheitern. Schon Thomas Morus stellt 1516 in der Einleitung zu seinem Werk Utopia ironisch fest: „Scyllen, Celenen, Menschenfresser und ähnliche (…) findet man überall. Ein wenig seltener ist eine vernünftig und durchgreifend zweckmäßig organisierte Gesellschaft.“ Zitat in: Morus, Thomas: Utopia, S. 10.

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einer Nutzung, einem Sinn, der sie angleicht. Die Orte sind vereinheitlicht, entsprechend ihres Status als Werkzeug, den sie für den objektiven Gesamtzusammenhang haben.115 Ein Apfelfeld ist definiert durch seine Funktion und darin genau gleich zum benachbarten Apfelfeld. Lediglich die Relationen aus einer objektiven Erfassung wie Größe und Ertrag definieren es näher. Auch die gebauten Räume der Stadt folgen diesem Prinzip. Eine Struktur ist ein Wohnhaus, eines ein Büro und eines ein Sportplatz. So unterschiedlich sie auch anmuten können, sind sie als Kategorie doch gleichwertig und diese Kategorie wird bestimmt von dem Nutzen als Werkzeug, den sie für das Gesamtsystem haben. Auch natürliche Räume werden so kultiviert, dienen als Naherholung oder als bewusste Ausnahme von der Regel. Der Raum der städtischen Herrschaft ist ein Raum, in dem die einzelnen Parzellen erst durch die objektive Perspektive einen Kontext erhalten, nur aus ihr heraus Bedeutung erhalten und letztlich durch sie entstehen. Eine Welt der abstrakten Räume, entstanden durch eine angenommene, externe Perspektive. Die Flächen sind dadurch nicht nur definiert, sie fordern auch bestimmte Handlungsweisen ein. Ein Hammer, der als Werkzeug benutzt wird, funktioniert nach einer bestimmten, vorgegebenen Logik, die durch seine Struktur als Objekt und den Raum, mit dem er zusammenhängt, bedingt wird.116 Ebenso Dinge wie Sofas, Autos, Mähdrescher, Kettensägen, Schraubenzieher, Blumenvasen, Teppiche, usw. – allen Objekten im Gesamtzusammenhang ist gemein, dass sie an Räume gebunden sind. Sie erzwingen bestimmte Handlungsweisen, die aus der objektiven Perspektive heraus in das Gesamtsystem eingebunden sind. Als Anker für das Individuum sind sie damit sein Weltzugang und weisen ihm seinen Platz zu. Der Bauer bearbeitet mit der Sense das Kornfeld; der Maurer mauert mit der Kelle eine Wand; der Verwalter strukturiert mit dem Computer die abstrakten Kategorien; der Priester huldigt mit dem Kelch einem höheren Gott; der Philosoph sucht mit den Worten nach der Anbindung an das Sein; der Maler illustriert mit einem Pinsel seine

115 Als markantes architektonisches Beispiel kann das Panopticon, Ende des 18.Jh. vom Juristen Jeremy Bentham entwickelt, benannt werden. Bei diesem handelt es sich um ein Gefängnis, in dem alle Häftlinge von einem Überwacher permanent kontrolliert werden können. Die kubischen Zellen sind auf der Innenseite einsehbar und gruppieren sich kreisförmig um ein Zentrum, in dem die Wächter sitzen. Aus der Perspektive der Wächter, und nur aus ihr, sind alle Zellen einsehbar. 116 Diese gilt auch und vor allem für digitales Arbeiten, wie es auch der Medientheoretiker Oliver Grau beschreibt: „Computer work is characterized by standardization: continual repetition of the program, copying fragments of images, processing, pasting, collaging them, and so on.” Zitat in: Grau, Oliver: Virtual Art, S. 256. Auch kreatives Arbeiten wie im Architekturentwurf hat sich unter dem Einfluss des Digitalen und des sog. parametrischen Entwerfens hin zu einem normierten Auswahlverfahren von scheinbar objektiven Einzelentscheidungen, verstanden als einem Problemlöse-Prozess, entwickelt. Vgl.: Schumacher, Patrik: The autopoiesis of architecture, S. 251–379.

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Weltsicht. Sie alle sind über das Werkzeug an Räume gebunden, die ihren Zusammenhang erst in einer objektiven Perspektive erhalten: In der Herrschaft als Ausdruck kooperativer Weltbildung. Alles wird Objekt Ist vermessen und auf seinen Raum begrenzt. Auch das Individuum Der einzelne Mensch Er wird Objekt! Es liegt im Wesen der Herrschaftsperspektive, dass sie den Menschen nicht als Menschen begreifen kann, sondern nur als Kategorie. Von der Zentralisierung ausgehend sind Individuen nur im Gesamtzusammenhang zu fassen und werden Begriffe in der Grammatik der objektiven Perspektive. Ausgehend von vermeintlichen Notwendigkeiten der Relationen wird der Mensch eine Funktion. Das menschliche Leben wird zu einer Rolle. Das Prinzip der Herrschaft erwächst aus der Zusammenführung des Unterschieds, aber es erzwingt dieses auch wieder. Das Prinzip der Arbeitsteilung, das zeitgleich mit dem Beginn moderner Herrschaft und urbaner Räume vorherrschend wurde, erzwingt vom Individuum die Anpassung an die Kategorie. Auch unsere moderne Arbeitskultur partizipiert an diesem Herrschaftsprinzip, das das Treibgut der Geschichte nur mühsam verdeckt. Der Büroarbeiter verhungert ohne den Bauern, der Bauer erhält kein Werkzeug ohne den Handwerker, der Handwerker erhält keine Materialien ohne einen Zulieferer, der Zulieferer kriegt den Prozess nicht organisiert ohne den Büroarbeiter. Alle sind verbunden durch Rollen und Kategorien, die ihnen durch ihre Werkzeuge und Räume im großen Zusammenhang zugewiesen werden.117 117 Das Kapital/Geld scheint hierbei eine wesentliche Rolle zu spielen, wie auch Karl Marx es für die unterschiedlichen Waren Weizen und Eisen beschreibt: „Beide sind also gleich einem Dritten, das an und für sich weder das eine, noch das andere ist. Jedes der beiden, soweit es Tauschwert, muß also auf dies Dritte reduzierbar sein.“ Zitat in: Marx, Karl: Das Kapital, S. 51. Die Rolle des Arbeiters ist dabei durchaus unter diesem Aspekt zu sehen: „Die besonderen Teilarbeiten werden nicht nur unter verschiedne Individuen verteilt, sondern das Individuum selbst wird geteilt, in das automatische Triebwerk einer Teilarbeit verwandelt (…). Seiner natürlichen Beschaffenheit nach verunfähigt, etwas Selbständiges zu machen, entwickelt der Manufakturarbeiter produktive Tätigkeit nur noch als Zubehör zu Werkstatt des Kapitalisten.“ Zitat in: ebd., S. 346. Als ein allgemeiner Ansatz ist das nicht neu, sondern findet sich schon in der Konzeption von Platons Idealstaat, dadurch: „(…) dass in einem wohlgeordneten Staat jedem eine Aufgabe zugewiesen ist, die er zu erfüllen hat.“ Zitat in: Platon/Krapinger, Gernot: Der Staat, S. 130. „Denn die Arbeit will (…) nicht darauf warten, bis der Ausführende Zeit hat, sondern dieser muss sich nach der Arbeit (…) richten und darf sie nicht als Nebensache betrachten. (…) Und in der Folge werden mehr Werke geschaffen (…) wenn jeder nur eines gemäß seiner Veranlagung und zur rechten Zeit schafft und sich um andere Dinge nicht kümmert.“ Zitat: ebd., S. 73.

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Durch diese Rollenerwartungen ist der Mensch nicht mehr Mensch, sondern er wird separiert und vermessen. Bestimmte Eigenschaften wie Kraft und Intelligenz erhalten nun eine Wertigkeit und bevorzugen den einen Menschen gegenüber dem anderen; je nach Nutzen für das Gesamtgefüge. Unter der objektiven Perspektive wird der Mensch selbst Objekt; er wird zerlegt in ein Bündel aus Definitionen, die ihm einen Platz zuweisen, und so – in Anlehnung an eine höhere Macht – seinen Platz in der Welt definieren. Es erstaunt nicht, dass vor allem in den urbanen Disziplinen wie Architektur und Stadtplanung der Mensch zur Nummer geworden ist. Ein abstraktes Ding, ein Objekt mit mal so, mal so zu definierenden Eigenschaften, je nach zugedachter Funktion, das hinter den Notwendigkeiten einer objektiven Perspektive verschwindet. Im Modus der Stadt wirkt die Herrschaft auf den Menschen zurück und legitimiert sich durch geschaffene und gelebte Räume.118

Gesamtsysteme Stadt, Herrschaft und die Denkweise einer objektiven Perspektive sind miteinander verbunden. Sie bedingen einander und sind nicht als voneinander losgelöste Teile zu begreifen. Es gibt keine Stadt ohne Herrschaft. Es gibt keine Herrschaft ohne die Annahme einer übergeordneten, scheinbar objektiven Perspektive; und es gibt keine objektive Perspektive, wenn sie sich nicht in den Gebäuden und Strukturen der Welt offenbart und sich durch ihr primäres Dasein legitimiert. Unter einer historischen Perspektive könnte man fragen: Wo ist denn da jetzt das Problem? Der erste Mensch war ein Wilder, dem ein kurzes Leben beschieden war. Sein Gang in die Welt endete wahrscheinlich nach kurzer Zeit an dem Unbill und den Gefahren, die diese Welt für ihn bereithielten. Durch die Entwicklung der Kultur lebt der Mensch heute in sicheren Räumen. Der Bauer auf dem Feld muss, ebenso wie der Büroarbeiter, nicht damit rechnen, hinter der nächsten Ecke 118 Dies ist durchaus konkret zu verstehen. Global ist eine Kultur der Überwachung zu beobachten, die sich in unterschiedlichen Medienformen ausprägt und sich auch in der Stadtplanung zeigt. Diese Überwachung erfolgt durch Regierungen wie in China, wo ca. 200 Millionen Überwachungskameras mit der Hilfe von Gesichtserkennungssoftware die Bürger kontrollieren. Vgl.: Kipper, Jens: Künstliche Intelligenz, S. 33. Sie zeigt sich aber auch in einem Gefühl der scheinbaren Sicherheit der so Überwachten, wie es der Kulturwissenschaftler Pramod K. Nayar formuliert: „Surveillance is the framework for better living – once we accept the necessity of being surveilled subjects“. Zitat in: Nayar, Pramod K.: Citizenship and Identity in the Age of Surveillance, S. 33. Die das Subjekt befreiende Wirkung gerade der Technik scheint allgemein eher in das Gegenteil umzuschlagen. „Die Vorstellung einer Welt des ‚No kings, no presidents, no voting‘ von Robert Cailliau, 1990 mit Tim Berners-Lee einer der Begründer des World Wide Web, ist nicht Wirklichkeit geworden.“ Zitat in: Reinermann, Heinrich: Wohin steuert die Digitale Gesellschaft?, S. 100.

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von einem Bären angefallen zu werden. Die Geschichte von Stadt, Herrschaft und Objektivität ist doch eine Erfolgsgeschichte! Es stimmt ja auch: Der Menschheit als ganzer ging es wahrscheinlich noch nie so gut wie heute, aber wir sind weit von einem Idealzustand entfernt. Und die Probleme, seien es subjektive oder ökologische, erwachsen aus dem dominierenden Konzept der Kultur: Der Mensch schafft eine externe Perspektive und von da aus definiert er die Welt. Zwei grundsätzliche Probleme tauchen darin auf. Zum einen ist die objektive Perspektive nicht die subjektive. Der Platz, der einem Menschen in der Welt zugewiesen wird, muss nicht der sein, den er für sich sieht. Aus seiner subjektiven Sicht erscheint ihm vielleicht die eigene Existenz völlig unnötig, da sich ihm der Gesamtzusammenhang nicht erschließt. Durch die Trennung nach Kategorien und Funktionen sind ihm auch Menschen in anderen Funktionen fremd. Darf der körperlich arbeitende Bauer nicht neidvoll auf den Büroarbeiter in klimatisierten Räumen blicken – wo doch scheinbar die Lotterie der Lebensrollen ihn so viel mehr begünstigt hat? Ist nicht der, der an Schnittstellen der Organisation sitzt, versucht, mehr für sich herauszuholen; sich von den anderen abzuheben; mehr zu sein als eine Nummer? Diese Ungleichheit zwischen den Menschen, die durch die Zonierung der Welt geschaffen wird, destabilisiert das Gesamtsystem, da Individuen und Gruppen stetig versucht sind, ihre Position gegenüber dem anderen, dem Nachbarn, der einem in seinem Lebensraum doch so fremd ist, zu verbessern. In diesem Spannungsverhältnis zwischen Subjektivität und Objektivität liegt die Saat für die stetigen Umverteilungskriege der Welt, die sicherlich rhetorisch zivilisiert, aber auch roh und direkt ausfallen können. Lässt man diesen Aspekt aber erstmal außen vor, erscheint das zweite Problem als viel wesentlicher: Die scheinbar objektive Perspektive ist nie wirklich objektiv.119 Wie umfassend sie auch ausgeprägt sein mag, so ist sie doch immer die Vereinigung subjektiver Ansätze, die sich den Anschein höherer Wahrheit geben.120 Dadurch entstehen zwangsläufig Fehler im Gesamtsystem. Die Welt 119 Der Philosoph Jürgen Habermas weist darauf hin, wenn er subsumiert: „Wollte man die philosophische Diskussion der Neuzeit in Form einer Gerichtsverhandlung rekonstruieren, wäre diese zur Entscheidung der einzigen Frage einberufen worden: wie zuverlässige Erkenntnis möglich sei.“ Zitat in: Habermas, Jürgen: Erkenntnis und Interesse, S. 11. Mangelnde Erkenntnis scheint aber kein Problem der Neuzeit zu sein. Schon Dschuang Dsi schrieb: „Darum, jedes einzelne Mal, wenn die Welt in große Unordnung kommt, so ist die Schuld daran die Überschätzung der Erkenntnis.“ Zitat in: Dsi, Dschuang: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, S. 124. 120 Dies ist vor allem ein Problem der wissenschaftlichen Methode. Vereinfacht gesagt, geht sie von Beobachtungen aus, die eine Regelmäßigkeit aufweisen, die anhand eines Modells beschrieben werden kann. Dieses Modell etabliert sich, wenn mit seiner Hilfe Prognosen vorgenommen werden können, die eintreffen, und wenn kein neues Phänomen auftritt, das dem Modell widerspricht. Der Effekt der Schwerkraft z. B. ist ein Phänomen, das in seiner Regelmäßigkeit fast unendlich oft zu beobachten ist. Die wissenschaftlichen Modelle zur Beschreibung sind ebenfalls so präzise, dass sich noch nie eine glaubhafte Abweichung oder ein gegensätzliches Phänomen gezeigt haben. Demnach wird der Mechanismus als universell angesehen, als Naturgesetz.

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der Dinge ist halt keine perfekte Welt. Die Umstürze in mangelhaften Herrschaftssystemen, sei es als Revolution oder Krieg, füllt die Geschichtsbände. Auch hier könnte man argumentieren: So ist die Welt eben– was nicht funktioniert, wird abgelöst. Aber dabei missachtet man das Problem, dass etwas Etabliertes sich fortwährend selbst verstärkt und schützt. Eine einmal erfolgreich etablierte Herrschaftsstruktur neigt, wie alle menschlichen Systeme, zur Selbsterhaltung. Auch wenn der Mangel an einer umfassenden Perspektive offenkundig ist, werden die, deren subjektive Lebenswelt sich in sie einfügt, diese beibehalten und verteidigen. Der objektive Zusammenhang, der nie objektiv sein kann, setzt sich als Schein stetig fort. Auch hier kann man argumentieren, dass der „Geist der Geschichte“ diesen Mangel erkannt hat. Herrschaften, die nur postulierte, den Gesamtzusammenhang zu kennen, wie im Absolutismus oder der organisierten Religion, wurden vor allem in Europa durch die Aufklärung abgelöst. Anstatt eines Top-Downs, einer von oben bestimmten Ordnung, etablierte sich ein Bottom-Up, ein Blick von unten. Ein gedanklicher Ansatz, bei dem aus den kleinsten Teilen eines Systems die objektive Perspektive erwachsen soll; aber fundiert konstruiert, statt postuliert. Die beiden prägendsten Hauptströme, die sich diesem Ansatz verpflichtet sehen, sind wohl die Demokratie nach westlichem Verständnis und die moderne Wissenschaft.121 Gerade in letzterer ist die Beobachtung Dennoch ist dies streng genommen nur ein Postulat. Es ist ein universeller Anspruch, der sich auf seiner Regelmäßigkeit gründet. Aber er entspringt keiner „echten“ universellen Beobachtung. Bildlich gesprochen ist er nicht 1, sondern 0,99999999… . Dieses grundsätzliche Prinzip der postulierten Universalität, der Setzung von Instanzen, wird vor allem zum Problem, wenn es um methodische Erfassung z. B. im Rahmen der Statistik geht. Wie viele Leute z. B. muss man befragen, um eine gesicherte Aussage über eine größere Gruppe zu treffen? Wissenschaftlich ist das natürlich ein andauernder, sich selbst reflektierender Prozess, aber gesamtgesellschaftlich durchaus kritisch zu sehen. Nicht wenige Umfragen etwa, die die in den Massenmedien wie eine universelle Wahrheit verkündet werden, fußen in Wirklichkeit auf einer sehr dünnen und geringen Datengrundlage. 121 Vor allem die sog. modernen Naturwissenschaften sehen sich mitunter als eine Realwissenschaft an, in der anhand genauer Beschreibung die Welt wirklich objektiv abzubilden sei. Vgl.: Kutschera, Franz von: Die falsche Objektivität, S. VI. Vor allem in der Physik finden sich dabei Überlegungen dazu, das absolute, übergeordnete Prinzip des Seins anhand einer „Weltformel“ zu bestimmen. Vgl.: Nicolai, Hermann: Die Einheit der Physik. Von der Komplexität der Vorgänge zur Einheit der Wirklichkeit, in: Klempt, Eberhard: Explodierende Vielfalt, S. 7–15. Der Philosoph Markus Gabriel kommentiert diesen Ansatz wie folgt: „Die Metaphysiker behaupten, es gebe eine allumfassende Regel und die mutigeren unter ihnen behaupten auch, sie endlich gefunden zu haben. So folgt im Abendland schon seit beinahe dreitausend Jahren ein Weltformelfinder dem nächsten: von Thales von Milet bis hin zu Karl Marx oder Stephen Hawking.“ Zitat in: Gabriel, Markus: Warum es die Welt nicht gibt, S. 21. Größter Kritikpunkt an diesen Wegen zu einer vermeintlichen objektiven Erkenntnis ist, dass sie nur innerhalb eines bestimmten Systems funktioniert: „Jede naturwissenschaftliche Behauptung ist folglich eine Aussage, die sich notwendig auf ein strukturdeterminiertes System bezieht, das der Standardbeobachter als Modell jenes strukturdeterminierten Systems anbietet, das nach seiner Auffassung für seine Beobachtung verantwortlich ist.“ Zitat in: Maturana, Humberto R.: Biologie der Realität, S. 103 f. Auch Hegel

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in immer kleinteiligeren Rastern maßgeblich. Eine Schaffung von Verständnis durch stetig erhöhte Präzision bei immer spezifischeren Phänomenen, aus deren Relationierung mit anderen Phänomenen eine umfassendere Perspektive erwachsen soll. Unabhängig von den offenkundigen Erfolgen scheint aber gerade bei der modernen Wissenschaft das Problem dieses Bottom-Ups durch: Was ist das kleinste Element? Wie kann man wirklich die Bausteine klar als Bausteine definieren? Es ist die Quadratur des Kreises, die sich dahinter verbirgt. Ein Kreis ist in der Anschauung ein Objekt; er ist eins und sofort erfassbar. Aber in einer mathematischen Definition, als prägend für die moderne Wissenschaft, ist dieses Eine nicht fassbar. Es ist nur in einer Annährung zu fassen. In einer immer kleinteiligeren Betrachtungsweise, die nie an ihr Ende kommt. Der Kreis ist nicht Eins, sondern Pi – eine endlose und undefinierbare Kleinteiligkeit.122 wies schon darauf hin, dass Werkzeuge und Methoden zur Erkenntnisgewinnung immer auch kritisch zu sehen seien: „(…) daß die Anwendung eines Werkzeuges auf eine Sache sie vielmehr nicht läßt, wie sie für sich ist, sondern eine Formierung und Veränderung mit ihr vornimmt. (…) Wenn wir von einem formierten Dinge das wieder wegnehmen, was das Werkzeug daran getan hat, so ist uns das Ding – hier das Absolute – gerade wieder soviel wie vor dieser somit überflüssigen Bemühung.“ Zitat in: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, S. 57 f. Auch der oft zitierte Maxwellsche Dämon der Physik verweist darauf. An ihm wird das Problem des Naturforschers deutlich, der nicht von einem „Gottesstatus“ aus beobachten kann, sondern immer Teil eines Betrachtungszusammenhanges mit dem Gegenstand ist, wodurch je nach Perspektive andere Erkenntnisse entstehen können. Vgl.: Vogd, Werner: Gehirn und Gesellschaft, S. 8. Der Philosoph Franz von Kutschera weist noch auf einen weiteren Aspekt hin: „Der tiefere Grund für die Verfremdung der Welt in materialistischer Sicht ist aber der Sinnverlust. Im Weltbild der Physik kommen Werte nicht vor, für den Materialisten haben sie daher auch keine objektive Realität, und da unser Werthorizont auch kaum über das anschaulich Erfahrbare hinausreicht, können wir mit den physikalischen Theorien keinen Sinn verbinden.“ Zitat in: Kutschera, Franz von: Die falsche Objektivität, S. 293. 122 3,14159… die Zahl Pi (π) beschreibt das Verhältnis des Umfanges eines Kreises zu seinem Durchmesser. Als sog. transzendente Zahl sind ihre Nachkommastellen unendlich und gerade in der Informatik wird die Berechnung immer weiter betrieben und liegt momentan im Bereich mehrerer Billionen, wobei die Berechnungswege unterschiedlich sind. Vgl.: Bailey, David H./Borwein, Jonathan M.: Pi: The Next Generation, passim. Für einen Überblick zur historischen Entwicklung vgl.: Blatner, David: π, S. 56–59. Pi ist dabei als ein Symbol anzusehen für die Mathematik als solche, in der versucht wird, allgemeine Gesetzte zu finden, aus denen sich in einem deduktiven System Regeln ableiten lassen. Vgl.: Romizi, Donata: Dem wissenschaftlichen Determinismus auf der Spur, S. 110. Die Nähe zu religiösen Konzepten drückt sich auch darin aus, wenn der Wissenschaftsautor David Blatner die Berechnung von Pi mit der Suche nach Gott vergleicht, die sich gerade durch eine immer kleinteiligere Annäherung offenbart: „Wie weit müssen wir noch ins Detail gehen, um endlich dem Geheimnis dieser Zahl auf die Spur zu kommen?“ Zitat in: Blatner, David: π, S. 5. Der Astrophysiker Mario Livio stellt hierzu in Bezug auf eine platonische Weltsicht, die der Mathematik zugrunde liegen soll, fest: „God is indeed a mathematician.“ Zitat in: Livio, Mario: The golden ratio, S. 241. Platon selbst aber sah die Mathematik eher als einen Weg zu Erkenntnis an, was sich in seinem Kommentar zur artverwandten Geometrie ausdrückt: „Du nennst also offenbar die Methode der Geometrie und ähnlicher Fächer nicht eigentlich Erkenntnis, sondern nur ein Nachdenken, das ein Zwischending zwischen bloßer Meinung und wirklicher Erkenntnis ist. Das hast du ausgezeichnet verstanden (…).“ Zitat in: Platon/Krapinger, Gernot: Der Staat,

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Die Unendlichkeit der Welt offenbart sich hier im Zerfall des Zusammenhanges in immer kleinere Teile und damit in eine unüberschaubare Masse an Einzelteilen. Es erstaunt nicht, dass gerade aus der Wissenschaft in letzter Zeit die Hoffnung auf eine Super-KI laut wird. Die Hoffnung auf eine objektive Perspektive, durch die die Überkomplexität der Daten und Kategorien endlich einen Sinn ergibt, da sie den Erfassungsrahmen des Subjektiven längst verlassen hat.123 Wie auch immer die Entwicklung voranschreitet: Es ist absehbar, dass wir damit am Ende wieder beim AbS. 287. Friedrich Nietzsche geht diesbezüglich in seiner Kritik noch weiter: „Die Zahl.- Die Erfindung der Gesetze der Zahlen ist aufgrund des ursprünglich schon herrschenden Irrtums gemacht, daß es mehrere gleiche Dinge gebe (aber tatsächlich gibt es nichts Gleiches), mindestens daß es Dinge gebe (aber es gibt kein „Ding“). Die Annahme der Vielheit setzt immer schon voraus, daß es Etwas gebe, das vielfach vorkommt: aber gerade hier schon waltet der Irrtum, schon da fingieren wir Wesen, Einheiten, die es nicht gibt. (…) Auf eine Welt, welche nicht unsere Vorstellung ist, sind die Gesetze der Zahl völlig unanwendbar: diese gelten allein in der Menschen-Welt.“ Zitat in: Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches, in: Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Also sprach Zarathustra. Jenseits von Gut und Böse, S. 36 f. 123 Zur KI, also einer künstlichen, übermenschlichen Intelligenz, merkt die Philosophin Donata Romizi an: „Die übermenschliche Intelligenz verkörpert hier das alte Ideal der Objektivität als Möglichkeit der Aufhebung der Kluft zwischen Erkenntnis und Realität: die Vorhersagbarkeit (seitens der übermenschlichen Intelligenz) bedeutet unmittelbar die Vorherbestimmtheit (der Welt an sich).“ Zitat in: Romizi, Donata: Dem wissenschaftlichen Determinismus auf der Spur, S. 39. In der Betrachtung einer vermeintlich objektiven, wissenschaftlichen Erkenntnis taucht dazu auch immer der Begriff des Determinismus auf. Damit wird ein Ansatz bezeichnet, der vor allem ab dem 18. Jh. populär wurde und der von einem im Sinne der Mathematik absolut logischen Universum ausgeht. In diesem ist alles, auch menschliches Handeln, berechenbar und damit vorhersehbar. Donata Romizi beschreibt den vermeintlichen Grundfehler dieses Weltbildes so: „Der implizite wissenschaftliche Determinismus entstand in Zusammenhang mit einer Wissenschaftsauffassung, die wissenschaftliche (mathematische) Prinzipien und Gesetzte prinzipiell vor jeder empirischen Widerlegung verschonte.“ Zitat in: Romizi, Donata: Dem wissenschaftlichen Determinismus auf der Spur, S. 111. Obwohl der Determinismus als konkretes Konzept wissenschaftlich nicht mehr bedeutend ist, hält er sich doch als ein populäres Weltbild, in dem alles von Kausalität bestimmt ist. Vgl.: Romizi, Donata: Dem wissenschaftlichen Determinismus auf der Spur, S. 373. Seine Grundzüge sind nach wie vor präsent, vor allem in einer neuzeitlichen Praxis, in der Erkenntnis im Sinne eines mathematischen Weltbildes vor allem durch Quantifizierung und Messung erfolgen soll. Vgl.: Jansen, Markus: Digitale Herrschaft, S. 165. Der Soziologe Stefan Selke beschreibt das bei diesem Ansatz der quantitativen Erfassung des Lebens vorliegende Kernproblem der Kommensuration, der Übertragung von qualitativen Eigenschaften in quantitative Werte, wie folgt: „Die Verfahrenslogik der Vermessung erzwingt, völlig heterogene Daten zu einem Gesamtbild zusammen zu setzen, die oft genug in einem Widerspruch zu lebenspraktischen Bezügen stehen. Einzelne vermessbare Aspekte eines Ganzen (Arbeit, Glück, Gesundheit) werden mit den Einzelwerten verwechselt. (…) Je mehr Einzelaspekte sich vermessen lassen, desto eher treten das Messen selbst und damit auch das Bewerten in den Vordergrund. (…) Daten verwandeln komplexe Persönlichkeiten in numerische Objekte.“ Zitat in: Selke, Stefan: Vom vermessenen zum verbesserten Menschen? in: Beinsteiner, Andreas/Kohn, Tanja: Körperphantasien, S. 139. Die potentielle Auswirkung dieses Weltbildes lässt sich in Bezug auf den Philosophen Herbert Marcuse wie folgt zusammenfassen: „Quantifizierung beraubt die Individuen der Fähigkeit sich eine andere Gesellschaft jenseits der bestehenden vorzustellen. Die Schule und mit ihr Großteils auch die Universitäten werden in diesem Sinne Reproduktionsstätten des eindimensionalen Denkens, weil sie bereits vorgegebenes Wissen ohne jeden Erfahrungszusammenhang

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soluten landen und bei der umfassenden objektiven Perspektive, die auf den Menschen zurückwirkt. Das Prinzip der Herrschaft bleibt bestehen, ob legitimiert oder behauptet. Dies gilt auch für demokratische Prozesse.124 Für das einzelne Subjekt ist es wahrscheinlich egal, ob sich ein absoluter Herrscher seinen Platz in der Welt selbst zuweist, oder ob eine Mehrheit – von der er leider kein Teil ist – dies tut. Letzteres Verfahren legitimiert sich nur durch eine größere Masse, ähnlich eines Wissenschaftsdogmas, das durch eine Mehrheit der Perspektiven bestätigt wird, dann aber wieder als Herrschaft wirkt. Das Ergebnis der Aufklärung ist nicht die Befreiung vom Absoluten, sondern dessen breitere Legitimation. Das Element der objektiven Perspektive, der Herrschaft und mit ihr die Stadt bleibt bestehen. Damit bleibt das Subjekt auch der problematische Punkt in diesem Konstrukt. Der Zusammenschluss individueller Perspektiven zu einer – hoffentlich – umfassenderen Perspektive ist kein singulärer Akt. Die Kultur wird nicht einfach erschaffen und als Stadt gebaut – stattdessen wirkt sie auch auf den Menschen zurück. Durch den Modus der Herrschaft wirkt das Objektive auf den Menschen, unabhängig davon, ob es legitimiert ist oder ob seine umfassende Sicht nur Behauptung ist. Da im Modus der Herrschaft die Menschen zu Objekten werden, müssen diese auch ihr Leben nach den entsprechenden Kategorien ausrichten. Die Vermessung der Welt und des Menschen erzwingt ein bestimmtes Rollenverhalten. Das Subjekt muss aufhören Subjekt zu sein und sich in die ihm als Objekt zugedachte Rolle fügen.125 als rein quantitatives, verwertbares Wissen im Blick auf die Wirklichkeit vermitteln und dieses auch generieren.“ Zitat in: Greis, Christian: Die Pädagogik der Frankfurter Schule, S.  86. 124 Auch Demokratien schaffen eine Herrschaft, die abstrakt über den Subjekten steht. Hierzu der Freiheitsphilosoph Max Stirner: „Der Staat kann es nicht dulden, daß der Mensch zum Menschen in einem direkten Verhältnisse stehe; er muß dazwischentreten als – Mittler, muß – intervenieren. (…) Er reißt den Menschen vom Menschen, um sich als ‚Geist‘ in die Mitte zu stellen.“ Zitat in: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum, S.  182. In Bezug auf die Theorie des Publizisten Walter Lippmann zur Herstellung eines Konsenses, einer breiten Zustimmung zu einem Sachverhalt in Demokratien, kritisiert der einflussreiche Linguist und Globalisierungskritiker Noam Chomsky die dahinterstehende Meinung der Machthaber wie folgt: „Hinter dieser Theorie steckt eine Logik und sogar ein zwingendes Moralprinzip. Es besagt, daß die Masse der Bevölkerung zu dumm ist, um größere Zusammenhänge zu begreifen. (…) Wir müssen die Herde zähmen, damit sie nicht alles zertrampelt.“ Zitat in: Chomsky, Noam: Media Control, S. 31. Schon Max Stirner bringt die Abwertung des Subjektes auf den Punkt: „Wir pflegen die Staaten nach der verschiedenen Art, wie ‚die höchste Gewalt‘ verteilt ist, zu klassifizieren. Hat sie ein Einzelner – Monarchie, Alle – Demokratie usw. Also die höchste Gewalt! Gewalt gegen wen? Gegen den Einzelnen und seinen ‚Eigenwillen‘.“ Zitat in: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum, S. 139. Deswegen ist in modernen Demokratien die Rechtsstaatlichkeit entscheidend, in der objektivierte Ansätze und subjektive Zustände z. B. in die Rechtsprechung einfließen. Vgl.: Heydt, Ruben von der: Perspektivität von Freiheit und Determinismus, S. 94–118. 125 Karl Marx kritisiert diese Objektivierung anhand des Kapitalisten: „Die inneren Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise, (…) zwingen ihn, sein Kapital fortwährend auszudehnen, um es zu erhalten, und fortwäh-

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Idealistisch argumentiert, verliert der Mensch so seine Würde; das, was ihn im Wesensgrund seiner subjektiven Existenz auszeichnet. Dadurch, dass er sich an einem Konzept ausrichtet, beschränkt er die Potentiale, die eigentlich in ihm liegen. Gleichzeitig ist er gezwungen, ein Konzept zu leben, anstatt sein eigener Kontext zu sein. Der Mensch ist nicht mehr der, der er ist, sondern der, der er sein soll. Unabhängig vom Idealismus liegt das Problem mit dieser Gebundenheit auf einer systematischen Ebene. Wenn eine umfassende Perspektive dadurch geschaffen werden soll, dass die Einzelteile zusammenwirken, wird diese Wechselwirkung durch die Herrschaft unmöglich gemacht. Die Einzelteile passen sich einer noch nicht objektiven Perspektive an, richten ihre Kategorien an dieser aus und legitimieren sie so scheinbar. Als Konzept ist diese Perspektive nur Behauptung, aber in ihrem Wirken auf das Subjekt ist sie absolut. Die Erkenntnis der Zusammenhänge verliert sich in einer Echokammer scheinbarer Bestätigung anhand der geschaffenen Welt der Objekte. Im Endeffekt entfernt sich das Gesamtsystem von seiner Grundannahme und wird zu einem Simulacrum, einer Scheinwelt. Dennoch ist dies ein Modus, der immer wieder wirkt. Der sich im Leben der Menschen über Generationen hinweg immer wieder bestätig. Warum eigentlich? Warum leben Menschen immer wieder bereitwillig in diesem Modus? Weil er die Zukunft miteinbezieht. Weil sie von einer Entwicklung träumen, die den Mangel des Zustandes kaschiert.

rend ausdehnen kann er es nur vermittels einer immer gesteigerten Akkumulation. (…) Die Akkumulation ist Eroberung der Welt des gesellschaftlichen Reichtums. Sie dehnt mit der Masse des ausgebeuteten Menschenmaterials zugleich die direkte und indirekte Herrschaft des Kapitalisten aus.“ Zitat in: Marx, Karl: Das Kapital, S. 544 f. Allerdings sollte beachtet werden, dass der sog. Kapitalist auch nur eine gesellschaftliche Rolle ist, die innerhalb eines Gesamtsystems nach bestimmten Vorgaben funktioniert. Auch Kapitalismus kann als eine Ideologie bezeichnet werden, in der sich das Subjekt externen Vorgaben anpasst. Der Politikwissenschaftler Alex Roberto Hybel fasst diese als soziale Herrschaft zusammen: „Social Power entails the mastery of people. When effective, it results in the tight organization and mobilization of large groups of people over a very large region. (…) However, no agent, regardless of how strong it is, can constantly depend on its material capabilities to impose its will. To perpetuate its control, it relies on ideology to instill amongst its subjects its own system of beliefs, values, and ideas. In time, the ideology being disseminated is so internalized by the agent’s subjects that they view it as the natural order of things.“ Zitat in: Hybel, Alex Roberto: The Power of Ideology, S.  210. Obwohl sicherlich Menschen auf diese Weise Macht über andere Menschen haben, ist ein solches Machtgefüge wahrscheinlich eher als ein Gesamtsystem zu begreifen, in dem die subjektiven Individuen alle austauschbar sind. Max Stirner, gewohnt prägnant, schreibt hierzu: „(…) dient die Menschheit einer höheren Sache? Nein, die Menschheit steht nur für sich, die Menschheit will nur die Menschheit fördern, die Menschheit ist sich selbst ihre Sache. Damit sie sich entwickle, läßt sie Völker und Individuen in ihrem Dienste sich abquälen, und wenn diese geleistet haben, was die Menschheit braucht, dann werden sie von ihr aus Dankbarkeit auf den Mist der Geschichte geworfen.“ Zitat in: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum, S. 5.

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Das Feld der Träume Der Mensch träumt. Es gehört zu seinen definierenden Eigenschaften, dass er nicht eins mit der Welt ist. Er ist kein Blatt, das den wechselnden Mächten des Windes folgt; kein Stein, der singulär im Lauf der Zeit zu stehen scheint, und keine allumfassende Intelligenz. Er ist körperlich betrachtet zwar Teil der Welt, aber er ist er. Er besitzt einen singulären Verstand, der Eindrücke verarbeitet, und mit dem er, bewusst oder unbewusst, auf den Körper und die Welt einwirkt. Diese Fähigkeit geht einher mit der Möglichkeit zur Konzeptentwicklung. Er sieht die Welt und kann aufgrund bestimmter Merkmale Verallgemeinerungen treffen. Der Geschmack einer Frucht wird auch bei einer anderen, die ähnliche Merkmale aufweist, ebenso sein. Obwohl verspeist und nicht mehr existent, ist das Wissen über ihren Geschmack und ihre Eigenschaften zu einem gedanklichen Bild geworden. Als Vor-Bild geht dieses den Handlungen voraus. Der Mensch durchläuft die Welt auf der Suche nach Strukturen, die dieser einmal gefassten Kategorie entsprechen. Im Raum seines Verstandes können diese Kategorien und Bilder auch in Relation zueinander gesetzt werden. Keine Schwere der Realität behindert das freie Assoziieren von Eindrücken und Möglichkeiten in diesem geistigen Raum. Ob chaotisch wie im Traum oder fundiert als Planung:126 Der geistige Raum erschafft eine zweite Ebene neben der Realität und ermöglicht die strukturierte Veränderung der Welt. Der Stock, als Werkzeug benutzt, kann hier abstrahiert betrachtet werden. Er kann von seiner Erscheinung gelöst und auf seine Funktion reduziert werden. Er kann als Konzept, als Idee vom idealen Werkzeug gebildet werden, an das angelehnt der nächste Stock in der realen Welt geschnitzt und optimiert wird. Auch der Platz des Menschen in der Welt unterliegt im Raum des Geistes ähnlichen Möglichkeiten. Ohne Schutz auf der Wiese stehend und dem Regen ausgesetzt, erdenkt der Mensch vielleicht einen Ort, wo ihn der Regen nicht trifft. Aus Beobachtung lernend, konstruiert er im Geiste die Idee eines Unterstandes, eines Hauses gar, das dann sukzessive aus diesem geistigen Idealbild auf Grundlage der Gegebenheiten der Realität geformt werden kann. Was aus diesen Idealbildern hervorgeht, muss ihnen nicht unbedingt entsprechen. Die in der Vorstellung perfekte, komfortable Hütte erscheint in der Realisierung vielleicht als windschiefer Verhau mit undichtem Dach. 126 Überwiegend wird in der Humanmedizin der Traum als ein unbewusster Prozess verstanden, in dem eine Problembewältigung stattfindet. Vgl.: Ermann, Michael: Träume und Träumen, S.  68. Schon Platon merkt an, dass dem Träumenden die Konzepte des Traumes dabei wie die Realität erscheinen: „Heißt das nicht Träumen, wenn jemand im Schlafen oder Wachen ein Abbild nicht für ein Abbild hält, sondern für die Sache selbst, der es gleicht?“ in: Platon/Krapinger, Gernot: Der Staat, S. 236. Nach dem Psychiater Carl Gustav Jung ist der Traum „(…) die Brücke zwischen der allgemeinen Idee von dem, was wir sein könnten, und dem, was wir gerade leben.“ Zitat in: Ermann, Michael: Träume und Träumen, S. 38.

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Aber doch ist sie ein Ergebnis dieses geistigen Konzepts und mit ihm verbunden – teilt sie doch seine bestimmenden Eigenschaften, wenn auch nur ungefähr. Auch die Konzepte der Herrschaft folgen diesem Prinzip. Erdacht vielleicht als perfekt, als makellose Harmonie, in der jedes Teil seinen idealen Platz hat, ist ihre Umsetzung in der Regel fehlerbehaftet. Der Zustand der perfekten Herrschaft war noch nie Realität, genauso wenig wie die ideale Stadt, und trotzdem streben die Menschen, die sich in ihr vereinen, dieses Konzept an: Einen Idealzustand hinter der Herrschaft, der sich nur ansatzweise in ihr zeigt, aber paradoxerweise durch sie entstehen soll. Die meisten Gesamtsysteme dieser Art haben auf die unterschiedlichsten Weisen von dem eigentlich banalen Sachverhalt abgelenkt, dass sie das Versprechen ihrer Perfektion nicht einhalten, de facto also als unzureichend erkennbar sind.127 Aber sie verweisen auf das Ideal, dass irgendwann durch sie erscheinen soll, wenn noch dies und das, oder dieser oder jener, gemacht, getan oder ausgetauscht wird. Fast scheint es, als messe sich Herrschaft für den einzelnen Menschen weniger an der Realität, als an dem Idealtypus, dem Konzept, das in rein geistigen Räumen dieser vorwegzugehen scheint. Der Idealzustand der „perfekten Herrschaft“ durch objektives Verständnis ist noch nie dagewesen. Stattdessen lebt sie als Konzept im Reich des Verstandes: Als Utopie.128 127 Auch der Glaube an die analoge und digitale technische Entwicklung als einer Lösung der Menschheitsprobleme ist kritisch zu sehen. „Kein einziges Problem ist jemals durch Technologie gelöst worden und wird es auch niemals.“ Zitat Markus Jansen, in: Jansen, Markus: Digitale Herrschaft, S. 292. Hinter dieser markigen Aussage steht das Phänomen, dass technische Lösungen mitunter Scheinlösungen für Probleme sind, die erst durch die technischen Entwicklungen geschaffen wurden. Der populäre Psychologe Sigmund Freud merkte dazu an: „Und solcher Wohltaten, die wir dem vielgeschmähten Zeitalter der wissenschaftlichen und technischen Fortschritte verdanken, können wir noch eine große Reihe anführen (…) die meisten dieser Befriedigungen folgten dem Muster jenes ‚billigen Vergnügens‘, das in einer gewissen Anekdote angepriesen wird: Man verschafft sich diesen Genuß, indem man in kalter Winternacht ein Bein aus der Decke herausstreckt und es dann wieder einzieht. Gäbe es keine Eisenbahn, die die Entfernungen überwindet, so hätte das Kind die Vaterstadt nie verlassen, man bräuchte kein Telephon, um seine Stimme zu hören. Wäre nicht die Schiffahrt über den Ozean eingerichtet, so hätte der Freund nicht die Seereise unternommen, ich brauchte den Telegraphen nicht, um meine Sorge um ihn zu beschwichtigen.“ Zitat in: Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, S. 54. 128 Was eigentlich genau die Definition einer Utopie ist, ist ein weites Diskursfeld. Im Wesentlichen kann man einen individuellen „Traum vom guten Leben“ als persönliche Utopie von der gesellschaftlichen Utopie unterscheiden, die der Politologe Richard Saage wie folgt beschreibt: „Zunächst ist die Zeitdiagnose, bzw. Sozialkritik zu nennen, auf die das utopische Denken mit seinen Konstruktionen idealer Gegenwelten (…) reagiert. (…) sodann werden in der Regel normative Aussagen gemacht über das Gemeinwohlideal selbst und dessen Auswirkung auf das äußere Erscheinungsbild in der Architektur, der Stadt- Siedlungsplanung, etc. Eine politische Utopie enthält ferner präzise Informationen über die soziale Voraussetzung des ‚besten‘ Gemeinwesens ebenso wie über das Muster seiner politischen Verfassung. (…) Charakteristisch ist, dass sie ein wichtiges Fundament in der Beziehung zwischen den Geschlechtern hat. Es reicht von der Sexualmoral und den For-

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Eine kleine Geschichte der Utopie Der Malgrund der Utopie ist der Geist; diese seltsam unerschlossene Welt der reinen Abstraktion. Eine reine Vorstellung, in der sich die Teile in wunderbarer Harmonie zusammenfügen, ehe sie an den Widrigkeiten der Realität scheitern. Utopisches Denken ist ein Denken von der Welt, wie sie sein sollte, nicht wie sie ist. In der Hoffnung, dass Teile davon doch die Strukturen der Welt ändern und in sie hineinwirken. Es ist der Raum der Ideale, der aber in vielen Fällen als großer, gemeinschaftlicher Traum den realen Entwicklungen als Leitbild vorweggeht. Es ist dabei bemerkenswert, wie deutlich einige geschichtliche Utopien mit den strukturellen Entwicklungen der Welt verbunden sind. Wie immer wiederkehrend die Konzepte von Stadt und Herrschaft in ihr auftauchen, und als wie bedeutend utopisches Denken sich für unsere Welt der Gegenwart erweist. Dieses beginnt schon beim ersten Auftauchen der Kategorie im Zuge eines objektivistischen Denkens: bei der Utopie der Politeia, geschrieben ca. 350 v.Chr. von Platon.129 In dieser entwirft der Philosoph anhand eines langen Dialoges das Konzept eines „perfekten“ Staates. Dieser Staat ist dabei nicht nach den heutigen Maßstäben der Nationalstaaten zu begreifen, sondern er ist, auch vor der geschichtlichen Ordnung des antiken Griechenlands gesehen, eine Stadt. Genauer ein Stadtstaat, in dem Stadt und Bewohner sich anhand eines allgemeingültigen Prinzips strukturieren.130 In diesem idealen Stadtstaat nun sind die Menschen nicht gleichmen der ‚Familie‘, über die Stellung der Frau, bis hin zur Hervorbringung eines ‚neuen‘ Menschen (…). Und nicht zuletzt ist sie durch den Gestaltungsanspruch geprägt, den sie erhebt: es geht um das Problem, wie sich ihr Autor die Vermittlung des utopischen Ideals mit der Wirklichkeit vorstellt.“ Zitat in: Saage, Richard: Politische Utopien der Neuzeit, S. 5. Der Begriff Utopie leitet sich dabei vom griechischen Ou-topos = Nicht-Ort ab. Eigentlich wäre aber der Begriff Eutopie (Eu-topos = der schöne Ort) im allgemeinen Verständnis passender. Die Utopie ist, ähnlich der Möglichkeit zum Konzept, dem Menschen scheinbar inhärent. Der Politikwissenschaftler Arno Waschkuhn merkt hierzu an: „Utopien sind denkerweiternde Spekulationen über Möglichkeiten. Diese Projektion ist zugleich eine spezifisch menschliche, denn der Mensch ist das einzige Lebewesen, das die Grenze der gegenwärtigen Realität überschreiten kann, insofern er mutmaßlich das einzige Lebewesen ist, das die Realität bewusst in zwei Teile abspalten kann: in das Existente und das Andere. Der homo sapiens ist damit gleichsam ein ‚gespaltener Mensch‘, der mit Absicht ‚Bürger zweier Welten‘ sein kann.“ Zitat in: Waschkuhn, Arno: Politische Utopien, S. 3. Eine häufige Kritik am utopischen Denken ist, dass es Hybris eines gottähnlichen Schöpfertums sei, das sich von seinem gesellschaftlichen Kontext abkehre und eine universelle Lösung propagiere unter der sich Diversitäten unterordnen müssen. Vgl.: Eaton, Ruth: Die ideale Stadt, S. 17. Utopien sind nicht als „Träumereien“ zu verstehen, sondern entspringen meist einer kritischen Perspektive, zu der der Philosoph Günther K. Lehmann schreibt: „In keiner Zeit lebte das Utopische Denken und Träumen allein von einer gutgläubigen Hoffnung. Es wurde regelrecht von Angst und Verzweiflung getrieben.“ Zitat in: Lehmann, Günther K.: Ästhetik der Utopie, S. 10. 129 Für eine Zusammenfassung vgl.: Demandt, Alexander: Der Idealstaat, S.87-122. 130 Vgl.: Platon/Krapinger, Gernot: Der Staat, S. 213.

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wertig. Alles ist nach den Maßgaben einer „perfekten“ Herrschaft geordnet, einem „reinen“ Geist, der seine Legitimation aber nicht aus einer Göttlichkeit zieht, sondern aus seiner Fähigkeit, reflektiert und philosophisch zu denken und zu entscheiden.131 Dieser Geist wird durch eine kleine, „erleuchtete“ Elite als dritter Stand gebildet, die über die übrigen Staatsmitglieder, die sich in die beiden Kasten der Krieger und des „Rests“ aufteilen, herrscht. Es ist bemerkenswert, dass für die beiden mächtigen, „staatstragenden“ Kasten begrenzende Regeln gelten. Ihre Mitglieder verfügen über kein Privateigentum, also auch keine eigenen Häuser, und auch nicht über eine Familie, da ihre Kinder gemeinschaftlich aufgezogen werden.132 Auch sind in diesen Kasten Männer und Frauen gleichwertig und verrichten dieselben Tätigkeiten für den Staat.133 Der Staat ist also ein objektiv handelndes „Etwas“, eine „Eins“, das durch eine gemeinschaftliche Leistung von Menschen, die ihre „Lebensperspektive“ vor allem auf den Fixpunkt des Staates ausrichten, erschaffen wird. Es erstaunt nicht, dass eine Form dieses idealen Staates, den Platon durchaus für realisierbar hielt, in seiner Beschreibung einer „idealen“ Stadt, nämlich Atlantis, seinen Widerhall fand: Als eine kreisrunde Stadt, die sich um ein gedankliches, mystisches Zentrum, als Abbild der kosmischen Struktur des Universums, gruppiert.134 Die Grundprinzipien, die Platon für seine Utopie des perfekten Stadtstaates festlegte, beeinflussten auch viele weitere und spätere Utopien. Als eigenständiger Typus treten diese vor allem in Europa nach der Renaissance und der Auflösung der als Selbstanspruch „gelebten Utopie“ des

131 Diese Herrschaft ist auch statisch und nicht demokratisch-dynamisch. Vgl.: ebd., S. 297. 132 Zur Familie vgl.: ebd., S. 205. Platon selbst begründet den Verzicht auf Eigentum und Häuser wie folgt: „Werden dann Prozesse und gegenseitige Anklagen aus ihrer Mitte sozusagen verschwinden, da sie alles außer ihren Körper gemeinsam haben? Daher werden sie ohne alle Zwistigkeiten leben, die die Menschen wegen des Geldes oder der Kinder (…) und Verwandten auseinanderbringen.“ Zitat in: ebd., S. 217. 133 Vgl.: ebd., S. 202. 134 Zur Realisierbarkeit vgl.: Demandt, Alexander: Der Idealstaat, S. 119. Platon selbst sah den Staat, den er beschrieb, als im Reich des Geistes verortet: „Du meinst in dem Staat, dessen Gründung, wenn auch nur im Geiste, wir soeben besprochen haben, denn auf Erden gibt es ihn, glaube ich, nirgends. Doch vielleicht (…) gibt es ihn im Himmel als Musterbeispiel für den, der ihn betrachtet und danach sein eigenes Leben einrichten will. Es kommt gar nicht darauf an, ob er jetzt oder in der Zukunft irgendwo existiert; denn mit ihm allein und mit keinem anderen wird er sich wohl beschäftigen.“ Zitat in: Platon/Krapinger, Gernot: Der Staat, S. 406 f. Der Soziologe Henri Lefebvre schreibt zu dieser kosmischen Position: „Seit ihren Anfängen bemüht sich die klassische Philosophie, deren gesellschaftliche Basis und theoretische Grundlage die Polis ist und die die Polis denkt, das Bild der idealen Stadt festzulegen. Der Kritias von Platon sieht in der Stadt ein Bild der Welt oder eher des Kosmos, einen Mikrokosmos. Die städtische Zeit, der städtische Raum reproduzieren auf Erden die Konfigurationen des Universums, die der Philosoph aufzeigt.“ Zitat in: Lefebvre, Henri: Das Recht auf Stadt, S. 168. Für eine Grafik zum Aufbau von Atlantis vgl.: Schmeck, Alfred E.: Atlantis, S. 34.

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Christentums auf.135 Bedeutend ist dabei vor allem die Stadt „Christianopolis“, die der Theologe und Mathematiker Johann Valentin Andrea 1619 in seiner Utopie beschreibt. Auch hier finden wir die „perfekte Herrschaft“, die allerdings nicht den Philosophen überlassen wird, sondern nach „Gottes Segen“ erfolgt.136 Dennoch finden sich hier auch deutliche Parallelen zu Platon. Die Menschen leben in absolut gleichen Wohnungen, die ihnen vom Staat zugewiesen werden.137 Räumlich gefasst in quadratische Wohnblocks, ordnen sich diese um ein sakrales Zentrum in der Mitte an.138 Statt der platonischen Kreisen nun also eine Stadt als Quadrat, aber doch auch zentriert.139 Auch hier ist die Herrschaft dahingehend absolut, dass alle Kinder ab dem sechsten Lebensjahr, also dem Zeitraum, wo man entwicklungspsychologisch ungefähr vom Entstehen eines umfassenderen Selbst-Bewusstseins ausgehen kann, den Eltern weggenommen und einzig und allein vom Staat erzogen werden.140 Die ideale Stadt und somit der ideale Staat von Andrea können damit auch als Weiterentwicklung des rund 100 Jahre zuvor erschienen Werkes „Utopia“ von Thomas Morus gesehen werden. Auch auf dieser Insel, auf der 54 exakt identische Städte nach einer postulierten übergeordneten Vernunft „absolut“ zweckmäßig angelegt sind, ist die „richtige“ Erziehung der Kinder eine Grundvoraussetzung.141 Vereinfacht gesprochen prägte „Utopia“ das moderne Genre der Utopie und es ist dahingehend aufschlussreich, dass ihr Autor, Thomas Morus, kein „weltfremder Träumer“, sondern Staatsmann und Lordkanzler von Großbritannien 135 Der Philosoph Friedrich Nietzsche sieht darin keinen Zufall, wenn er schreibt: „(…) daß der schlimmste, langwierigste und gefährlichste aller Irrtümer bisher ein Dogmatiker-Irrtum gewesen ist, nämlich Platos Erfindung vom reinen Geiste und vom Guten an sich. (…) Christentum ist Platonismus fürs ‚Volk‘ (…).“ Zitat in: Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse, in: Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Also sprach Zarathustra. Jenseits von Gut und Böse, S. 690. An dieser Wende von der Vorherrschaft des Christentums zur Neuzeit lässt sich der Grund für das vermehrte Auftreten politischer Utopien festmachen. Der Politikwissenschaftler Andreas Heyer merkt zu dem dabei entstehenden Ideal des aktiv Lebenswelten gestaltenden Menschen an: „Dieser entstand mit dem Zusammenbruch des Ordo-Denkens des Mittelalters und der daraus resultierenden Krise des antiken Naturrechts. In einem Weltbild, das jedem seinen Platz qua Geburt zuweist, kann es keine politische Utopie geben. Denn deren wesentliches Merkmal besteht darin, dass der Mensch selbst seinen Platz bestimmt.“ Zitat in: Heyer, Andreas: Studien zur politischen Utopie, S. 63. 136 Vgl.: Andreae, J.V./Biesterfeld, Wolfgang: Christianopolis, S.36. 137 Vgl.: ebd., S.42. 138 Für eine grafisch-perspektivische Illustration der Stadt vgl.: ebd., S. 4 f. 139 Die Fixierung auf die Geometrie ist typisch für Utopien nach der Renaissance. Die Architekturhistoriker Alberto Pérez-Gómez und Louise Pelletier merken hierzu an: „Perspective as an architectural idea implemented in lived space demonstrates how by geometrizing the world humans could be part of a new social and political order.“ Zitat in: Pérez-Gómez, Alberto/Pelletier, Louise: Architectural Representation and the Perspective Hinge, S. 59. 140 Vgl.: Andreae, J.V./Biesterfeld, Wolfgang: Christianopolis, S.79. 141 Vgl.: Morus, Thomas: Utopia, S. 59. Zur Indoktrination der Kinder, vgl.: ebd., S. 147.

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war und somit fast an der Spitze einer weltlichen Herrschaft stand, deren Autorität auf einem Christentum beruhte, das durch die Reformation und den Beginn des Protestantismus bedroht war.142 Dementsprechend glauben auch die Bewohner Utopias an ein höchstes Wesen, aber die Ordnung der Städte folgt geometrischen Ansätzen und vereinheitlichenden Kategorien.143 Sie gilt auch für die Menschen selbst, die sich vor allem als einheitlicher Träger des Gemeinwohls sehen und ihre Arbeit in den Dienst der Gemeinschaft stellen. Obwohl in Utopia relativ wenig gearbeitet wird, sind alle Güter im Überfluss vorhanden und jeder darf sich frei und unbegrenzt auf dem Markt bedienen.144 Eine Gesellschaft der Gleichen ohne Eigentum.145 Wie dieses ökonomisch funktioniert, wird neben einer postulierten allgemeinen Sparsamkeit und Nachhaltigkeit, z. B. im Baubetrieb, fast nebenbei erwähnt: Der ideale Staat von Utopia ist eine Gesellschaft von reputationseintreibenden Kriegern und Sklavenhaltern. Aber da dieses ja eine perfekte Gesellschaft sein soll, wird postuliert, dass die unfreien Sklaven eh Verbrecher seien, aus dem „Ausland“ kämen und „gut“ behandelt würden.146 Dieser Aspekt verdeutlicht, warum der Begriff der Utopie auch sehr kritisch gesehen werden kann. Die hier beschriebenen drei einflussreichen Beispiele teilen ein Grundmerkmal vieler Uto142 Der Politikwissenschaftler Arno Waschkuhn beschreibt die Utopia von Morus als epochalen Einschnitt: „Denn die Utopia bezeugt insgesamt ein neues Weltverständnis – nämlich dasjenige der Neuzeit. Die Welt ist nicht einfach nur gegeben, sondern sie ist dem Menschen aufgegeben.“ Zitat in: Waschkuhn, Arno: Politische Utopien, S. 44. Der Politikwissenschaftler Andreas Heyer merkt zu Morus’ Werk an: „Utopia ist manifester Ausdruck der Möglichkeiten menschlicher Planung. Alles gehorcht geometrischen Prinzipien und statischer Erfassung, ist einförmig, uniform und homogen. Der menschliche Geist triumphiert als planende Ratio über die Natur, die Tiere und die Menschen selbst.“ Zitat in: Heyer, Andreas: Studien zur politischen Utopie, S. 32. Auch die Autorin Ruth Eaton äußert sich kritisch zu Morus’ Utopia, vor allem in Hinblick auf die Architekturgeschichte: „Allerdings deutet sich hier bereits die gefährliche Tendenz vieler späterer Utopisten und Städteplaner an, zu einer weltumspannenden Einförmigkeit zu neigen, wie sie im 20. Jahrhundert mit dem weltweit verbreiteten ‚International Style‘ ihren Nachhall finden wird.“ Zitat in: Eaton, Ruth: Die ideale Stadt, S. 15. Die utopischen Entwürfe des 16. und 17. Jh. stehen meist in der Tradition Platons und dem Prinzip eines übergeordneten, absoluten Geistes. Ab dem 19. Jh. wird dieser in den Utopien durch Technik und naturwissenschaftliche Erkenntnis abgelöst. Vgl.: Saage, Richard: Politische Utopien der Neuzeit, S. 330. 143 Vgl.: Morus, Thomas: Utopia, S. 137. 144 Vgl.: ebd., S. 77. Zum Arbeitsvolumen vgl.: ebd., S. 73. 145 Thomas Morus beruft sich direkt auf Platon, wenn er sein Konzept der Besitzlosigkeit begründet: „Dieser große Geist hatte klar vorhergesehen, dass das einzige Mittel, öffentliches Glück zu begründen, in der Anwendung des Prinzips der Gleichheit bestehe. Die Gleichheit aber (…) ist in einem Staate, in dem der Besitz Einzelrecht und unbeschränkt ist, unmöglich (…) Nationalreichtum fällt endlich, so groß er auch sein mag, in den Besitz weniger Individuen, die den übrigen nur Mangel und Elend lassen. (…) Das ist es, was mich (…) überzeugt, dass das einzige Mittel (…) das Glück des menschlichen Geschlechts zu begründen, in der Aufhebung des Eigentumsrechts bestehe.“ Zitat in: ebd., S. 52 f. 146 Vgl.: ebd., S. 111.

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pien: Es wird eine „perfekte“ Perspektive, eine umfassende Herrschaft postuliert, der sich die Beherrschten absolut unterordnen müssen. Erst dann, wenn alle umfassend „mitmachen“, entsteht die perfekte Gesellschaft und der Zustand des „guten Lebens“ tritt ein. Vor allem im Totalitarismus des 20. Jh., der ja auch immer deutlich von Utopien getragen wurde, zeigen sich die katastrophalen Auswirkungen eines solchen Denkens. Die behauptete, objektiv-perfekte Perspektive der Herrschaft ist natürlich keine. Falsche Postulate führen zu furchtbaren Folgen für die Menschen, für die dann aber natürlich nicht die Herrschaft, sondern die Menschen selbst verantwortlich sein sollen. Die Indoktrinierung der Menschen, die all diesen Utopien und totalitären Staaten immanent ist, fasst diese nicht als Subjekt, sondern als Objekt auf. Als Masse; als Kategorie und Zahl, die zu dem Traumgebilde der absoluten Perspektive hin geformt werden muss, oder gleich ausgeschlossen und ermordet wird, um Platz für einen „neuen Menschen“ zu schaffen, der im Sinne der Herrschaft ist.147 Dieses aus einer göttlich-objektivierten Perspektive den Menschen beherrschende führt zwangsläufig zu einer Auslöschung des Subjektes, des „freien“ Menschen, da in seinem System das Objektiv-Absolute als fehlerhafte Behauptung nur existieren kann, wenn es andere Perspektiven negiert. Dies ist im Endeffekt absolute Vereinheitlichung im Sinne eines umfassenden „Top-Downs“. 147 Nach dem Soziologen Karl Mannheim ist dabei eigentlich zwischen Utopie, verstanden als einem dynamischen und progressiven Ansatz gegen bestehende Macht, und der Ideologie als statischem und reaktionärem Ausdruck der herrschenden Macht zu unterscheiden. Beide Aspekte durchdringen sich allerdings. Vgl.: Eaton, Ruth: Die ideale Stadt, S. 12. Vor allem der Philosoph Karl Popper kritisierte Platon als Wegbereiter des Totalitarismus im 20. Jh. Vgl.: Krapinger, Gernot: Nachwort, in: Platon/Krapinger, Gernot: Der Staat, S. 576. Nicht nur, aber vor allem in den sozialistischen Utopien des 20. Jh., konzentriert in der Utopie des Marxismus, herrscht dabei eine hohe Staatslastigkeit vor, die sich in einem absoluten Top-Down Prinzip manifestiert. Vgl.: Heyer, Andreas: Studien zur politischen Utopie, S. 149–171. Vor allem im Bolschewismus, der Anwendung des Marxismus auf Russland, wurde dabei Gewalt gegen Menschen ausdrücklich als Mittel der Transformation hin zu einer Utopie befürwortet. Der Politikwissenschaftler Arno Waschkuhn bemerkt hierzu: „Die Konzeption des ‚neuen Menschen‘, seit Platon ein zentrales Thema aller politischen Utopien, erfuhr im Utopie-Diskurs der Bolschewiki eine radikale Zuspitzung. Nach Trotzki wird der Mensch in der vollendeten kommunistischen Utopie stärker, klüger und feiner, sein Körper harmonischer, seine Stimme musikalischer sein.“ Zitat in: Waschkuhn, Arno: Politische Utopien, S.  13. Auch die Technik und die Industrialisierung waren dabei ein Mittel, wie die Autorin Ruth Eaton in Bezug auf einen bolschewistischen Künstler darlegt: „Nach der Revolution schuf (Aleksei) Gastev sogar Visionen, denen zufolge die ganze Welt eine einzige mechanisierte Stadt sei, in der eine vollkommen nivellierte Gesellschaft sich dem Diktat der allgegenwärtigen Maschine beugen würde.“ Zitat in: Eaton, Ruth: Die ideale Stadt, S. 184. In den späteren wirtschaftlichen und ideologischen Krisen der sozialistischen Länder ließ sich der Herrschaftsanspruch nicht mehr mit einer „Revolution zur Utopie“ begründen und wich einem objektivierten und materialistischen Ansatz zur Sicherung der Herrschaft. Vgl.: Seppmann, Werner: Subjekt und System, S.  94. Der Philosoph Günther K. Lehmann kommentiert: „Die Utopie ist schon im Marxismus-Leninismus gestorben.“ Zitat in: Lehmann, Günther K.: Ästhetik der Utopie, S. 10.

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Diese Ausprägung ist aber nicht die einzige, die unter dem Begriff der Utopie gefasst werden kann. Neben dem totalitären „Top-Down“-Denken existieren auch Utopien, die von einem „Bottom-Up“ ausgehen,148 also von einem Zusammenschluss freier Subjekte, die gemeinschaftlich etwas entstehen lassen. Da dieses Gemeinschaftliche aber etwas ist, was „werden“ soll, stehen solche Utopien immer vor dem Problem der Verbildlichung. Vereinfacht gesprochen bieten sie wenig Konzept, wenig objektiv Konkretes, was illustriert oder als Sehnsuchtsort beschrieben werden könnte. Die „Bottom-Up“-Utopien sind demnach eher ihrem Objekt des Subjektiven verhaftet und verbleiben dadurch meist in einem Zustand des Gefühlten, der schwer zu kommunizieren ist. Am ehesten finden sie sich in künstlerischen Interpretationen oder in der Auseinandersetzung mit dem persönlichen Empfinden eines utopischen Zustands als Streben, sowie in der der Dystopie als Abkehr von totalitären Heilsversprechen.149 Die Bilderwelten der Romantik, aber auch die Medienwelten der Gegenwart, können ihre Träger sein. Als politische Strukturen finden sie sich am ehesten im Liberalismus oder dem weiter gehenden Anarchismus, aber bemerkenswerterweise ist ihr Gegenstand selten die Stadt.150 Sie bilden kein universelles Prinzip, das aus 148 Diese gebräuchlichen Begriffe der Politik gehen wahrscheinlich auf die wissenschaftliche Methode der ontologischen Reduktion zurück, in der ein Ganzes auf seine Bestandteile und deren Wechselwirkungen hin untersucht wird. Top-Down bezeichnet dabei ein analytisches Vorgehen des Zerlegens, während Bottom-Up ein synthetisches Vorgehen im Sinne eines Zusammenfügens ist. Vgl.: Falkenburg, Brigitte: Was heißt es determiniert zu sein?, in: Sturma, Dieter: Philosophie und Neurowissenschaften, S. 61. 149 Dystopien beschreiben in der Regel die „schlechteste aller Welten“ als Mahnung für die Prozesse der Gegenwart. Damit sind sie eigentlich „Gegenutopien“. Als ein früher Vertreter kann eine Erzählung des romantischen Dichters Joseph von Eichendorff von 1834 gesehen werden: „Auch ich war in Arkadien“. Vgl.: Fest, Joachim: Der zerstörte Traum, S. 38. 150 Liberalismus ist dabei als ein pragmatisches Konzept zu verstehen, zu dem der Philosoph Jürgen Habermas in Bezug auf den Philosophen John Rawls schreibt: „Politisch“ im Unterschied zu „metaphysisch“ gebraucht Rawls zur Charakterisierung von Gerechtigkeitskonzeptionen, die einer wesentlichen Forderung des Liberalismus genügen – nämlich neutral zu sein gegenüber konkurrierenden Weltbildern oder comprehensive doctrines.“ Zitat in: Habermas, Jürgen: Die Einbeziehung des Anderen, S. 95. Ein Grundproblem des Liberalismus kann darin gesehen werden, dass jedes Individuum Teil von größeren Kontexten und Einflüssen ist. Vor allem ist es, in welcher Form auch immer, das Ergebnis einer Bildung, die das Individuum von anderen Individuen, vor allem durch die Kultur als einem „Erinnerungscontainer“ des Geistes, erhält. „Dieses vergangene Dasein ist bereits erworbenes Eigentum des allgemeinen Geistes, der die Substanz des Individuums oder seine unorganische Natur ausmacht. – Die Bildung des Individuums in dieser Rücksicht besteht, (…) darin, daß es dieses Vorhandene erwerbe, seine unorganische Natur in sich zehre und für sich in Besitz nehme.“ Zitat in: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, S. 26. Die radikal liberale Autorin Ayn Rand sieht deswegen schon das Konzept von kulturellen Weltbildern kritisch, da diese letztlich die Unterordnung des Individuums unter eine Mehrheit erzeugten. Das Paradies oder die Utopie sei nicht in der Zukunft zu finden, sondern „vor“ der Bildung, die sie als Anpassung versteht: „Observe the persistence, in mankind’s mythologies, of the legend about a paradise that men had once possessed (…). The root of that legend exists (…) in the past of every man. You still retain a sense (…) that somewhere in the starting years of your childhood,

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einem Zentrum in die Welt hinein strahlt, sondern bestehen in einer Zusammenkunft Weniger an einem überschaubaren Ort, deren unterschiedlichste Perspektiven sich wiederum zusammenfinden, aber das Subjekt nicht übertönen. Sie zeichnen sich aus durch die Abkehr von der Stadt, von der Herrschaft; durch ein „Zurück zur Natur“ und ein Finden dieses Selbst – dieses vermeintlich in der Zivilisation von sich „entfremdeten“ Subjekts. In Europa ist diese Form einer Abkehr vor allem nach der Entdeckung der Insel Haiti 1770 festzustellen.151 Sie zeigt sich in dem Glauben daran, dass es einen Ort „außerhalb“ der Städte und Kulturen gibt, an dem Mensch und Natur ein harmonisches Dasein führen und die Herrschaft nicht Menschen, Flora und Fauna zum Untertanendasein zwingt. Die Südsee-Romantik des 19. Jh. verbildlichte diese Utopie der Natur, aber vor allem in Amerika und seinen tatsächlich weiten und unbesiedelten Naturräumen schien die Möglichkeit zu einem Leben ohne Herrschaft möglich. Politisch manifestierte sich dies zum einen in der Entstehung selbstbestimmter Kommunen, die isoliert „für sich“ leben; und zum anderen in einem radikalen „Zurück zur Natur“, wie es der Schriftsteller Henry David Thoreau zeitweise praktizierte und in seinem einflussreichen Werk „Walden“ 1854 beschrieb.152 Hierbei ist die Utopie ein Aussteigen, ein bewusstes Abkehren von der Gesellschaft und den Menschen. Ein ruhiges Leben in der Natur, frei und selbstbestimmt nach dem eigenen inneren Rhythmus und in direkter Beziehung zwischen Subjekt und Sein. Es ist die Idee des Aussteigers, der absoluten Freiheit, die aber mitunter daran krankt, dass sie eine Utopie des schnellen Todes ist, wenn sie ernsthaft betrieben wird. Auch Thoreau kehrte in die Gesellschaft zurück, falls er je wirklich soweit „da draußen“ war, und ihm nachfolgende Utopisten versuchten, Gesellschaft und Natur zu vereinen. Vor allem die negativen Aspekte der Herrschaft, die – scheinbar – organisierten Gesellschaften zu eigen sind, werden hierbei selbst zum Thema. Der Psychologe Burrhus Frederic Skinner z. B. veröffentlichte mit „Walden Two“ 1948 eine Utopie, in der ein gruppenbasiertes Leben in einer konfliktfreien before you had learned to submit, to absorb the terror of unreason and to doubt the value of your mind, you had known a radiant state of existence, you had known the independence of a rational consciousness facing an open universe. That is the paradise which you have lost, which you seek – which is yours for the taking.“ Zitat in: Rand Ayn: Atlas Shrugged, S. 968 f. 151 Vgl.: Heyer, Andreas: Studien zur politischen Utopie, S. 20. 152 Der Politikhistoriker Bob Pepperman Taylor fasst die drei wesentlichen Erkenntnisse des Buches für die heutige Politik zusammen. Das wichtigste wäre „Simplicity“ – ein ruhigeres, einfacheres, ärmeres, aber dadurch bedeutungsvolleres Leben durch direkten Austausch mit der Umgebung. „Different Drummers“ – das Recht jedes Einzelnen, nach seinem eigenen Rhythmus zu leben. „Learning from Nature“ – der Sinn für Schönheit kann nur in der Natur kultiviert werden. Vgl.: Taylor, Bob Pepperman: Lessons from Walden, S.  29–168. Thoreau charakterisiert Taylor wie folgt: „His goal was to ‚rout all that was not life.‘ The assumption was that he – and we – are too commonly distracted by cares, concerns, beliefs, and commitments that are, in reality, superfluous, unnecessary, superficial, and threats to our best interests and well-being.“ Zitat in: Taylor, Bob Pepperman: Lessons from Walden, S. 117.

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Gesellschaft beschrieben wird.153 Auch hier wird das Konzept der Familie zugunsten von Gruppen aufgelöst, und eine „Anpassung“ des Menschen durch positive Herrschaft der Menschen in Form von Bestätigung untereinander illustriert. „Ökotopia“, 1975 von dem Schriftsteller Ernest Callenbach verfasst, ist ein weiteres prägendes Beispiel für die Vereinigung von Mensch und Natur im Prinzip des „Bottom-Ups“.154 Eine dezentrale Gesellschaft, eine Abkehr vom Konsum von Dingen, ein romantisiertes Leben mit der Natur, die durch nachhaltige und umweltschonende Technik zwar vom Menschen benutzt, aber nicht verbraucht wird, sind die prägenden Aspekte dieser postmateriellen Utopie. Der Aspekt der Technik, ganz allgemein verstanden, ist dabei eigentlich eine eigene Utopie, die im Zuge des 20. Jh. immer mehr Bedeutung erlangte. Während frühere Utopien meist von einem „Ist“-Zustand ausgingen, sei es mithilfe eines subjektiven Daseins in der persönlichen Utopie oder in einem objektivierten Gesamtzusammenhang, hat sich der Aspekt der technischen Entwicklung als eine Art „gelebte Utopie des Werdens“ etabliert. Vor allem in den Massenmedien finden sich diesbezüglich zahlreiche Beschreibungen von utopischen Szenarien, die durch das Medium der Technik, als einer Art Mittler zwischen der subjektiv empfundenen Gegenwart und einer objektiv „besseren“ Zukunft, als erreichbar skizziert werden.155 Es ist dabei eigentlich die alte Utopie der 153 Vgl.: Waschkuhn, Arno: Politische Utopien, S. 196–199. 154 Vgl.: ebd., S.  200–202. Für eine Zusammenfassung von Ökotopia in Relation zu Walden Two, vgl.: Saage, Richard: Politische Utopien der Neuzeit, S. 302–315. Das „Zurück zur Natur“ ist dabei parallel zu dem Beginn der neuzeitlichen wissenschaftlichen Methodik zu sehen. Der Philosoph Friedrich Nietzsche schreibt: „Der Sinn des religiösen Kultus ist, die Natur zu menschlichem Vorteil zu bestimmen und zu bannen, also ihr eine Gesetzlichkeit einzuprägen, die sie von vornherein nicht hat; während in der jetzigen Zeit man die Gesetzlichkeit der Natur erkennen will, um sich in sie zu schicken.“ Zitat in: Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches, in: Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Also sprach Zarathustra. Jenseits von Gut und Böse, S. 112. 155 Ab dem Ende des 19. Jh. kann eine „Verweltanschaulichung“ der Wissenschaft beobachtet werden, im Zuge derer Naturwissenschaftler und die mit ihnen verbundene Technik in der medialen Massengesellschaft enorm populär werden. Vgl.: Romizi, Donata: Dem wissenschaftlichen Determinismus auf der Spur, S. 263–275. Die Philosophin Donata Romizi schreibt zu dieser Entwicklung: „Während Religion und Philosophie als ‚Weltbildlieferantinnen‘ an Bedeutung verloren, wurde den Naturwissenschaftlern qua Naturwissenschaftlern eine spezielle Kompetenz auch in Bezug auf philosophische und weltanschauliche Fragen zuerkannt. (…) Naturphilosophie und Wissenschaftspopularisierung waren beide von der Tendenz charakterisiert, die Tragweite naturwissenschaftlicher Theorien über ihre spezifischen und fachlichen Kontexte hinaus zu erweitern – bis zur Produktion von Weltbildern oder Weltanschauungen. (…) In der Wissenschaftspopularisierung ist das Streben nach einem einheitlichen Weltbild bzw. nach einer einheitlichen Weltanschauung in mehreren Hinsichten erkennbar.“ Zitat in: ebd., S. 270 f. Dieses vermeintlich absolute, objektive Denken geht häufig mit der Abwertung anderer Methoden einher. Schon der Mathematiker Thomas Hobbes schrieb: „Eine deutliche, durch richtige Erklärungen gehörig bestimmte und von allen Zweideutigkeiten gesäuberte Art des Vortrages ist gleichsam das Licht des menschlichen Geistes; die Vernunft macht die Fortschritte, Regeln machen

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absoluten Herrschaft, hier begriffen als eine umfassende Gestaltungsmöglichkeit durch fundierte Erkenntnis, die ebenfalls durch Technik mit der Lebenswelt des Subjektes verbunden sein soll.156 In dieser „Technikutopie“, die vor allem die Gegenwart prägt, ist der „kollektive Geist“ der Menschen durch wissenschaftliche und mathematische Grundsätze objektiviert und wirkt durch seine so vermeintlich übergeordnete Perspektive „gütig und wohlwollend“ auf den Menschen und die Natur zurück. Beherrschte und Herrschaft verschmelzen durch die technischen Netzwerke in einem Cyberspace der absoluten Offenheit und Kontrolle;157 erschaffen eine Welt, die kein „außen“

den Weg zu Wissenschaft aus, und Wissenschaft hat das Wohl der Menschen zum Ziel. Metaphern aber und nichtssagende oder zweideutige Worte sind Irrlichter, bei deren Schimmer man von einem Unsinn zum anderen übergeht und endlich, zu Streitsucht und Aufruhr verleitet, in Verachtung gerät.“ Zitat in: Hobbes, Thomas: Leviathan, S. 45 f. Die Rolle der Technik ist dabei vor allem auch immer als medialer Container für utopische Konstrukte zu sehen. Der Kunsthistoriker Oliver Grau: „The history of technological visions is the history of our dreams, our vagaries, and our errors. Media utopias fluctuate, often originating in a magical or occult ambience. After the collapse of the twentieth century’s utopias, it is no coincidence that religion and ethnic identity are once again coming to the fore and that the most advanced media technology is also the projection screen for our utopian visions.“ Zitat in: Grau, Oliver: Virtual Art, S. 291. Dass diese utopischen Zukünfte aber nicht die „Zukunft“, sondern immer nur eine Projektion aus dem Ist darstellen, darauf verweist der Philosoph Jos de Mul: „By definition, the future cannot be predicted. But the futurists teach us that there is an alternative: it can be invented.(…) The imagined future is often largely borrowed from the present.“ Zitat in: Mul, Jos de: Cyberspace Odyssey, S. 25. 156 Seit ca. 1860 lassen sich immer präzisere Ansätze zum Eingriff in die geochemischen und biochemischen Kreisläufe der Erde mit technischen Mitteln beobachten. Vor allem das Geoengineering des Klimas steht dabei im Vordergrund. Vgl.: Simonis, Udo E.: Die Klimamacher kommen, in: Mahlke, Stefan (Hg.): Atlas der Globalisierung, S. 16–19. Das Geoengineering beruht dabei gegenwärtig vor allem auf Computermodellen. Für einen Einblick vgl.: Morton, Oliver: The Planet Remade, passim. Für eine umfangreiche, wenn auch politisch gefärbte Abhandlung über die gegenwärtige, technisierte Welt vgl.: Jansen, Markus: Digitale Herrschaft, passim. 157 Das Cyberspace beschreibt dabei die virtuelle Welt in den Netzwerken der digitalen Kommunikation. Zu Beginn dieser technischen Entwicklung waren damit durchaus die Utopien einer besseren, technikbasierten Welt verbunden: „Michael Benedikt hat 1991 mit ‚Cyberspace: First Steps‘ eine sehr erfolgreiche, vor allem ideologiebildnerisch sehr erfolgreiche Essaysammlung herausgegeben, die sich mit diesem Thema beschäftigt. Darin schlägt er einen sehr hochgestimmten, utopischen Ton an, wenn er den Cyberspace als Verwirklichung des himmlischen Jerusalems (Heavenly Vity) bezeichnet.“ Zitat in: Müller, Michael/Dröge, Franz: Die ausgestellte Stadt, S. 212. Eigentlich konnte man damals von einer tatsächlichen liberalen Utopie sprechen. Der Autor Benjamin Woolley verweist darauf: „Die Computerindustrie erwuchs aus der liberalen Überzeugung, daß das Individuum die einzig legitime politische Instanz sei, und manche sahen in der virtuellen Realität die höchste Verkörperung dieses Prinzips. Konnte man seinen Individualismus besser ausdrücken als durch die Erschaffung einer eigenen, individuellen Realität?“ Zitat in: Woolley, Benjamin: Die Wirklichkeit der virtuellen Welten, S. 18.

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mehr kennt und in der alles, gefasst als abstrakte Kategorie, in einer vermeintlich harmonischen Beziehung zueinander gesetzt wird.158 Diesem Ansatz entgegenstehend, aber doch mit ihm verbunden, ist eine zweite utopische Richtung unter dem Begriff des „Transhumanismus“.159 Bei diesem Ansatz ist die Technik nicht nur ein 158 War die Technik der Internets und des Cyberspace zum Ende des 20. Jh. noch eine liberale Utopie, wesentlich getragen durch die sog. kalifornische Ideologie, in der sich Hippiebewegung und Digitaltechnik mischten, so gleicht die gegenwärtige Nutzung eher der Dystopie einer totalen Überwachung. Vor allem an der Entwicklung Chinas lässt sich dieses beobachten, wo durch digitale Überwachung der Bürger eine totale Kontrolle angestrebt wird. Vgl.: Mahlke, Stefan: Vorwort. Es bleibt kompliziert, in: Mahlke, Stefan (Hg.): Atlas der Globalisierung, S. 1. Dies zeigt sich mitunter an Detailthemen, wie es der Medienforscher David Bandurski anhand der Kontrolle von Tickets durch die chinesische Regierung beschreibt: „Mit Big Data versucht China derzeit alle möglichen Probleme zu lösen – und verrät damit einen gefährlichen Glauben an die befreiende Kraft von Technik. (…) Aber zugleich könnte es ihr (der Regierung) gelingen, sich eine der fettesten politischen Beuten aller Zeiten zu sichern: die Rechtfertigung für ein Massenüberwachungssystem, das drakonischer ist als alles, was die Welt je gesehen hat.“ Zitat in: Bandurski, David: Das Tausend-Meilen-Auge, in: Mahlke, Stefan (Hg.): Atlas der Globalisierung, S. 150. Der Philosoph Zhao Tingyang beschreibt in diesem Kontext das historische Prinzip des Tianxia im chinesischen Reich. In Übertragung auf ein neuzeitliches Konzept deutet er dieses als ein Denken, das die Welt als eine politische Entität betrachtet, also auf eine umfassende Weltordnung. Vgl.: Tingyang, Zhao: Alles unter einem Himmel, S. 14. Diese Welt besitzt dann kein „außen“ mehr und ist, negativ gedeutet, absolut totalitär. Vgl.: ebd., S. 31. Die Zukunft unter dieser Denkrichtung beschreibt Zhao Tingyang wie folgt: „Daher –und hier betreten wir den Bereich der Spekulation – wird das neue Tianxia-System vermutlich eine auf die globalen Systeme gestützte Überwachungs- und Regulierungsmacht begründen, insbesondere zum Schutz und zur Regulierung des globalen Finanzsystems, des globalen gemeinsamen Internets und der von allen benutzten technologischen Systeme. Das antike Tianxia-System der Zhou Dynastie ist ein netzförmiges System der Überwachung und Kontrolle der Vasallen- und Lehnstaaten durch den Staat des Monarchen. Gemäß der evolutionären Logik der Gene dieses Systems unter der Bedingung der Globalisierung wird das neue Tianxia-System möglicherweise das Netzwerk der globalen Systeme durch eine Institution in gemeinsamem Weltbesitz überwachen und regulieren.“ Zitat in: ebd., S. 236. Der Althistoriker Alexander Demandt weist auf eine wesentliche Folge für das Individuum in einem solchen Weltstaat hin, wenn er schreibt: „Ökonomisch profitieren könnten alle im Verbund, herrschen hingegen kann nur einer. Der mächtigste Partner übernimmt die Ordnungsaufsicht (…). Eine unanfechtbare hegemoniale Position tendiert zu einer unkontrollierbar totalitären Politik. Aus dem Weltstaat kann man nicht emigrieren, die elementarste politische Freiheit entfällt.“ Zitat in: Demandt, Alexander: Der Idealstaat, S. 445. 159 Der Kulturwissenschaftler Otto Hansmann beschreibt die Ideengeschichte des Transhumanismus – von Sokrates und Platon über Aristoteles, Rousseau, Kant, Hegel, Darwin, Nietzsche, Marx, Steiner bis Luhmann – anhand des zentralen Aspektes der Selbstüberwindung. Vgl.: Hansmann, Otto: Transhumanismus, S. 34–84. Neben dem Transhumanismus existieren noch die verwandten Ansätze des Humanismus, Posthumanismus und kritischen Humanismus. Für eine Einordnung der ganzen Bandbreite an Ansätzen unter Aspekte wie Individualismus/Kollektivismus oder Emanzipation vgl.: Loh, Janina: Trans- und Posthumanismus zur Einführung, S. 31. Der moderne Begriff Transhumanismus wurde von dem Eugeniker Julian Sorell Huxley geprägt, der darunter eine Optimierung des Menschen postulierte. Vgl.: Jansen, Markus: Digitale Herrschaft, S. 293 f. Die Verwendung der Genetik soll dabei die Schwäche technischer Werkzeuge überwinden, zu der schon Sigmund Freud schrieb: „Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er

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Mittel der Kontrolle und des Austausches, sondern ein Mittel der Veränderung des persönlichen „Da-Seins“. In einer Art Weiterentwicklung des Freiheitsprinzips geht diese Utopie von dem Subjekt und seinen persönlichen Beschränkungen aus. Der natürliche Körper und auch der Verstand werden als mangelbehaftete Hindernisse gesehen, die es zu überwinden gilt, um eine höhere Form des Daseins zu erreichen. Sei es durch Prothesen, Eingriffe in das Erbgut, die Erweiterung des Denkens allgemein oder durch den Anschluss des Gehirns an das Internet: Am Ende steht die Utopie der Singularität. Der Moment, in dem der Mensch mit der Technik verschmilzt und in einer höheren Form, quasi als künstlicher Gott der Super-Intelligenz, wiedergeboren wird.160 Die alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen.“ Zitat in: Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, S. 57. Der Philosoph Markus Jansen macht dahingehend auf eine Parallele aufmerksam: „Es ist höchst auffällig, dass in den Visionen der Transhumanisten immer nur von der Zukunft, eine virtuelle Zeit, die Rede ist. (…) Das gelobte Land der Unsterblichkeit, Kurzweils Singularity, und die Paradiese des Überflusses liegen signifikanterweise immer am fernen zeitlichen Horizont (…). Darin gleichen die Prophezeiungen Kurzweils und anderer Transhumanisten dem Heilsversprechen des Christentums, dass das Reich Gottes schon seit geraumer Zeit in die Zukunft verlagert hat. Und gerade in Amerika, in dem ein vom Puritanismus geprägtes Christentum (…) gedeiht, sind transhumanistische Positionen äußert durchsetzungsfähig.“ Zitat in: Jansen, Markus: Digitale Herrschaft, S. 286. Die Nähe zur christlichen Erlösungssymbolik ist dabei keineswegs nur vermutet, wie sich in einem Beitrag des einflussreichen Transhumanisten und Informatikers Newton Lee zeigt: „As Dante coined the word ‚transhuman‘ in Divine Comedy (Paradise, Canto I) to describe the change of the human body to immortal flesh in eschatology, Jesus was the first transhuman with an immortal resurrected body—one that could touch, feel, and enjoy eating fish with his disciples (Luke 24:41–43). Christian transhumanists are building the new Tower of Babel not to challenge God but to better understand the universe and to realize the true potential of humankind. Being a computer scientist and a Christian, I believe that all life forms are combinations of intelligent design and evolution. (…) God gives life to human beings who in turn give birth to artificial intelligence.“ Zitat in: Lee, Newton: Brave New World of Transhumanism, in: Lee, Newton: The Transhumanism Handbook, S. 23. 160 Eine KI ist eigentlich ein künstliches System, das, ähnlich dem menschlichen Verstand, komplizierte Aufgaben berechnen kann. Die Singularität wird entweder als der Moment postuliert, in dem ein solcher künstlicher Verstand als Super-KI den menschlichen übertrifft und ein eigenes Bewusstsein ausbildet. Vgl.: Loh, Janina: Trans- und Posthumanismus zur Einführung, S. 106–117. Oder als der Punkt, an dem Mensch und Maschine verschmelzen. Vgl.: Hansmann, Otto: Transhumanismus, S. 23. Der Zweck dahinter ist ein transzendentaler, da ein solcher Verstand nicht mehr an den einen biologischen Körper gebunden ist, unsterblich wird und auch als reine Information das Weltall bereisen könnte. Vgl.: Kipper, Jens: Künstliche Intelligenz, S. 85. Dies ähnelt den Überlegungen zur Entstehung eines „universellen Geistes“, die der Anthropologe und Jesuit Pierre Teilhard de Chardin formulierte und wie folgt zusammenfasste: „Das Ende der Welt: ein Umsturz des Gleichgewichtes, der den endlich vollendeten Geist aus einer materiellen Hülle löst, um ihn künftig mit seiner ganzen Schwere auf Gott-Omega ruhen zu lassen.“ Zitat in: Chardin, Pierre Teilhard de: Der Mensch im Kosmos, S. 298. Ähnlich äußert sich bereits der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel: „Ehe daher der Geist nicht an sich, nicht als Weltgeist sich vollendet, kann er nicht als selbstbewußter Geist seine Vollendung erreichen. Der Inhalt der Religion spricht darum früher in der Zeit, als die Wissenschaften, es aus, was der Geist ist, aber dieses ist allein sein wahres Wissen von ihm selbst. Die Bewegung, die Form seines Wissens von

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Technik steht hierbei als ein Mittel bereit, um eine als mangelhaft empfundene physische Existenz zu überwinden, die Mühsal des subjektiv Begrenzenden abzuschütteln und zu einem absolut objektiven Dasein zu gelangen – als reiner Geist, als reine Herrschaft. Wie auch immer diese gegenwärtigen Utopien der Technik ausformuliert werden – sie sind ja Utopien im Werden –, so ist damit doch die Geschichte der Utopie eigentlich auf ihren Ursprung zurückgeführt. Spannt man den Bogen von Platon zum Transhumanismus, so zeigt sich dabei eigentlich immer die Suche nach der „perfekten Ordnung“. Diese Ordnung ist immer etwas zu Schaffendes, das entweder im Zusammenschluss der Menschen zu einer Herrschaft oder im Zusammenschluss unter einer Herrschaft entsteht. Obwohl eigentlich fast alle Utopien von einer menschengemachten Herrschaft, sei es unter dem Prinzip der Herrschaft der objektiven Technik oder der Herrschaft der subjektiv-kollektiven Erkenntnis ausgehen, erschaffen sie damit eine Welt ohne „Außen“; eine Welt des absoluten Zusammenhangs und eine Welt des absoluten Konzeptes.161 Das „Zurück zur sich hervorzutreiben, ist die Arbeit, die er als wirkliche Geschichte vollbringt.“ Zitat in: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, S. 538. 161 Eigentlich sind Utopien damit fast immer eine Verkörperung des Determinismus, da sie ein absolutes System in Aussicht stellen. Die Philosophin Donata Romizi schreibt: „Der Determinismus betrifft ein Objekt: Nennen wir es ein System. Dieses System kann ein spezifisches System sein, das von einer physikalischen Theorie beschrieben wird, oder es kann auf die ganze Welt oder das Universum erstreckt werden (…). Die Idee des Determinismus setzt jedenfalls voraus, dass wir ein System als eine isolierte Gesamtheit in Betracht ziehen können, um von ihm etwas zu behaupten (…).“ Zitat in: Romizi, Donata: Dem wissenschaftlichen Determinismus auf der Spur, S. 41. In den als umfassende Konzepte gefassten Utopien zeigt sich daher auch der Ansatz eines Universalismus, zu dem die Soziologin Sibylle Tönnies schreibt: „Die Grundlage für jeden Universalismus ist die Anerkennung der Macht des Geistes. Denn das Universale findet sich nicht im Materiellen vor, sondern ist das Ergebnis einer geistigen Abstraktionsleistung (…). Die Anerkennung des Universalismus geht immer mit Fortschrittsglauben einher (…).“ Zitat in: Tönnies, Sibylle: Der westliche Universalismus, S. 31. Fast alle Utopien sind statisch. Sie zeichnen eine Gemeinschaft der Gerechten, aber eigentlich bestehen sie in einer Versteinerung des Geistes. Vgl.: Waschkuhn, Arno: Politische Utopien, S .4. Ebenso erzwingen sie, vor allem, wenn man der Argumentation des Philosophen Karl Popper folgt, Denkverbote und Gewalt, da Abweichler eliminiert werden müssen. Vgl.: ebd., S. 181. Denkverbote allgemein sind dabei nicht als direkt zu begreifen, sondern als systemisch Strukturen innerhalb von Ideologien und versuchten Utopien, aber auch in der Institutionalisierung, wie es der Philosoph Michel Foucault am Beispiel der Wissenschaft beschreibt: „Es ist immer möglich, daß man im Raum eines wilden Außen die Wahrheit sagt; aber im Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven ‚Polizei‘ gehorcht, die man in jedem seiner Diskurse reaktivieren muß.“ Zitat in: Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, S.  25. Denkverbote, also Verbote kritischen Denkens über die Utopien hinter den Ideologien hinaus, finden sich auch in demokratischen Gesellschaften, zu denen der Linguist Noam Chomsky ergänzt: „Am wirksamsten ist die Begrenzung des Denkbaren (…).“ Zitat in: Chomsky, Noam: Media Control, S. 147. Utopien können also als statische Systeme begriffen werden, deren Umsetzung in die Realität durch die Ideologie also nur mithilfe einer Begrenzung der Perspektive auf ebendiesen utopischen Rahmen funktioniert. Schon der Philosoph Friedrich Nietzsche merkte zur Utopie Platons an: „Die griechische Polis war, wie jede organisierende politische Macht, ausschließend und mißtrauisch gegen das Wachstum der Bildung; (…) die in dem Staatsgesetz festgestellte Erziehung sollte alle Genera-

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Natur“ ist diesbezüglich nur als eine Antithese zu bezeichnen, als notwendiger Dualismus der Abgrenzung, aus der aber kein größerer Zusammenhang zu erwachsen scheint. Diese allgemeine utopische Welt nun ist damit näher an religiösen Vorstellungen, als es auf den ersten Blick der Fall zu sein scheint. Die Ablösung der mystischen Götter in den Tempeln als Zentrum der Städte durch die menschliche Gestaltungskraft hat nicht das Prinzip der Herrschaft abgelöst, sondern die Notwendigkeit eines neuen Inhaltes geschaffen, der durch die Utopie besetzt wird. Diese wirkt als eine Bewegungsrichtung und als ein Idealbild des als umfassend postulierten Zusammenhanges, der nicht von Göttern, sondern durch den Menschen erschaffen wird. Das Erreichen der externen Perspektive, die alles überschaut, beschreibt und kontrolliert: Das Reich Gottes; das absolute Eins; das Jenseits.

Die letzte Utopie Die Suche nach dem Gesamtzusammenhang eint alle Utopien. Die Vorstellung eines idealen Ortes, an dem all die Teile der Welt und ihre wechselnden Relationen harmonisch vereint sind. Die eine, alles verstehende Perspektive, die Menschen und Welt eint. In der nicht mehr ein stetiger Kampf des Subjektiven mit sich, seinen Mitmenschen und der Umgebung im Vordergrund steht. In der alles an seinem Platz ist, der einzelne Mensch seinen Ort gefunden hat und sich vor ihm der Sinn offenbart. Warum bin ich hier und was soll ich tun? Diese Frage taucht in der Auseinandersetzung mit Utopien immer wieder auf. Und auch wenn Utopien mitunter den Anspruch absoluter Ratio stellen, so ist der Ursprung dieser Frage doch ein metaphysischer. Er verweist zurück auf die Konzepte vor der Ratio. Auf die mystischen Weltbilder, in denen alles vereint war. Auf der ursprünglichen Utopie vor dem Objektivismus. Auf die letzte Utopie: das Jenseits.

tionen verpflichtend und auf Einer Stufe festhalten. Nicht anders wollte es später auch noch Plato für seinen idealen Staat. Trotz der Polis entwickelte sich also die Bildung.“ Zitat in: Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches, in: Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Also sprach Zarathustra. Jenseits von Gut und Böse, S. 307.

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Es erscheint vielleicht auf den ersten Blick abwegig, das Jenseits in die utopischen Konzepte miteinzubeziehen; zu sehr ist es doch mit der scheinbaren Lebenswirklichkeit der meisten Menschen verwoben, auch wenn der religiöse Glaube als Gestaltungsstruktur des Lebens global betrachtet abnimmt. Aber so präsent es den Einzelnen vielleicht auch sein mag: Ob es so etwas wie das Jenseits oder einen Zusammenhang über den Tod hinaus gibt oder nicht, ist nicht zu beantworten. Entscheidend ist aber, dass es in Religionen und Kulten zahlreiche unterschiedliche Ansätze dazu gibt – die sich teils frappierend unterscheiden. Diese Unterscheidung ist ein Indiz dafür, dass den Menschen kein einheitliches Jenseits bekannt ist, sondern dass es stattdessen eine Projektionsfläche ist – eine Projektionsfläche für den Gesamtzusammenhang der Welt, die absolut objektive Perspektive und die Antwort auf die Frage nach dem Sinn. Damit ähneln das Jenseits oder andere mystische Welterklärungen der Utopie. Beide sind ein Raum des idealen Konzeptes, das als Vorbild und Sinnstifter den Erscheinungen der Welt vorangeht und diese ordnet. Das Konzept des Jenseits ist etwas, das sich zuallererst auf das Individuum erstreckt. Es ist eine Art Grundannahme über die „letzten Dinge“ und den „Sinn des Lebens“, der eine rein subjektive Dimension ist und sich eher als ein Gefühl verstehen lässt. Vielleicht gar nicht bewusst, oder auch bewusst negiert, schafft dieses Gefühl einen Raum, in dem der Mensch und das Sein als verbunden gedacht werden können. Der Grund für dieses Gefühl ist wohl in der Empfindung des „ersten Menschen“ zu suchen, dass die Welt ein Gegenüber ist. Eine Struktur mit „eigenen“ Gesetzen und Mechanismen, die auf den Menschen einwirken, aber ihm erstmal unverständlich sind; nicht vorhersehbar und beeinflussbar. In der Urerfahrung, dass die eigene Perspektive begrenzt ist. Dass der Mensch nur einen kleinen Teil der Welt sieht und dass er Phänomenen ausgesetzt ist, die seine begrenzte Perspektive und Körperlichkeit weit übersteigen.162 Was auch immer nun sich ein Einzelner, der erste Mensch, als System zur Beschreibung des Ganzen ausgedacht hat, bleibt unbekannt. Aber als kulturelles System, den gemeinschaftlich verhandelten Konzepte über das Ganze, lässt es sich objektiv beschreiben. Natürlich nur abstrakt – ist doch das, was unter organisierten Religionen und Glaubenssystemen verstanden werden kann, zu umfangreich –, in der Beschreibung wesentlicher Aspekte und Grundzüge. Zuallererst steht die Erkenntnis, dass die Welt des Menschen zwar eine Welt der Objekte ist 162 Der Philosoph Friedrich Nietzsche kommentiert: „Es ist wahr, es könnte eine metaphysische Welt geben; die absolute Möglichkeit davon ist kaum zu bekämpfen. Wir sehen alle Dinge durch den Menschenkopf an und können diesen Kopf nicht abschneiden; während doch die Frage übrigbleibt, was von der Welt noch da wäre, wenn man ihn doch abgeschnitten hätte.“ Zitat in: Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches, in: Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Also sprach Zarathustra. Jenseits von Gut und Böse, S. 25.

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– eine der definierbaren Gegenstände –, aber trotzdem Phänomene beinhaltet, die nicht objektiviert, nicht gesehen und erfasst werden können, und doch eine Wirkung entfalten. Wind und Schwerkraft z. B. sind als eigenständige Phänomene nicht erfassbar, sondern erst in ihrer Auswirkung auf Objekte, die sie selbst nicht sind. Der Stein, der einen Berg herunterrollt, ist erfassbar, und dass er sich bewegt, ist auch erfassbar. Aber warum er sich bewegt, was das „Etwas“ ist, das ihn bewegt, ist nicht direkt erfassbar. Es kann nicht gesehen, nicht objektiviert, sondern nur als ein Konzept beschrieben werden. Es ist gegenstandslos. Konzepte wie Schwerkraft, Strahlung, aber auch menschliche Empfindungen wie Hass oder Liebe sind in ihrer Wirkung klar „da“ und erfahrbar, aber sie sind nicht als eigenständige Phänomene erfassbar. Sie sind für den Menschen reine Abstraktionen: Reiner Geist. So erstaunt es auch nicht, dass die wahrscheinlich ersten Religionen, die Ahnenkulte und Naturreligionen, eine Abarbeitung an diesem seltsamen Phänomen einer rein geistigen Existenz von etwas sind. Orte, Dinge und Phänomene verfügen in ihnen über eine eigene geistige Existenz, die nicht direkt sichtbar, aber da ist. Vielleicht wie in dem noch verbreiteten Glauben im japanischen Shintoismus, wo übernatürliche, übermenschliche Kräfte, die Kami, sich in den Naturgewalten manifestieren.163 Oder der Ansatz des Animismus, in dem eigenständige Kräfte hinter allen natürlichen Phänomenen stehen. Oder in den Göttern des alten Orients, wo sie als Ursache hinter einem kollektiven Phänomen wie der Stadt standen. Oder in den Götterglauben der europäischen Antike, in der Konzepte wie „Landwirtschaft“ oder „Liebe“ durch eine Figur symbolisiert wurden, die nicht ein statisches Objekt, sondern ein eigenständiges Subjekt war, das als frei handelndes, die Welt gestaltendes und wirkendes Wesen gedacht wurde, das aber nun mal nicht in der Welt ist, sondern in einer anderen; einer dem Menschen verschlossenen und doch auf ihn wirkenden.164 163 Der Shintoismus ist eigentlich ein animistischer Glaube, der sich seit dem 6. Jh durch Konfrontation mit dem Buddhismus entwickelt hat und zu Beginn tief mit den sozialen Strukturen in Japan verbunden war. Vgl.: Coulmas, Florian: Die Kultur Japans, S. 105. Die unsterblichen Geister der Ahnen gehen in diesem Glauben von einer Generation zur nächsten über und werden nach einer bestimmten Zeit eins mit dem Kami. Vgl.: ebd., S. 49. Hierzu der Japanologe Florian Coulmas: „Kami, das sind übernatürliche, übermenschliche Kräfte, die sich gleichwohl in der Naturgewalt manifestieren, für den Menschen unverzichtbar, aber auch bedrohlich. Der Shintoismus zelebriert die Vergötterung der Natur, zu der auch der Mensch gehört.“ Zitat in: ebd., S. 116. 164 Ein wesentlicher Unterschied z. B. zwischen den antiken Göttern und dem Christentum ist die Frage der sinnlichen Wahrnehmung von Göttern. Während in der Antike Götter verbildlicht werden konnten, gehen alle abrahamitischen Religionen davon aus, dass Gott durch menschliche Wahrnehmung nicht erfassbar und damit auch nicht abzubilden ist. Vgl.: Hirsch-Luipold, Rainer: „Gott hat niemand je gesehen“ (Joh 1,18), in: Feldmeier, Reinhard/Winet, Monika: Gottesgedanken, S.  27–29. Deswegen ist vor allem in der christlichmittelalterlichen Kunst die Darstellung des Lichtes so bedeutend, als eine metaphorische oder symbolische Verkörperung eines Schöpfers, der erst durch das Licht Objekte entstehen lässt. Vgl.: Gaus, Joachim: Die Lichtsymbolik in der mittelalterlichen Kunst, in: Gerlitz, Peter: Licht und Paradies, S. 118. Gerade Vertreter

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Obwohl es immer auch religiöse Annahmen zu einer „Immanenz“, einem „in der Welt sein“ dieser Götter gab, hat sich doch gerade das Prinzip der Transzendenz kulturell am stärksten verbreitet.165 Die Annahme, dass übernatürliche, übermenschliche Kräfte in einer eigenen Welt existieren. Dem Jenseits Der Welt „hinter“ der Welt Auf einer nach eigenen Prinzipien funktionierenden Ebene, auf der die Götter entsprechend dem Wesen dieser verschlossenen Welt – dieser eigentlichen Welt „hinter“ der Welt – wandeln. Als wesentlich für den Erfolg des transzendentalen Modells kann wohl die Schrift verstanden werden, und zwar nicht eine bestimmte, sondern die Schrift als solche, die ja in ihrer Entstehung eng mit dem Entstehen organisierter Religionen verbunden ist.166 Denn wie sonst lässt es sich erklären, dass nur anhand von Tinte auf Papyrus Objekte und ganze Welten dem Verstand des Lesers vermittelt werden und entstehen? Im beschriebenen Blatt sind diese geistigen Kategorien nicht enthalten. Sie sind nur Träger von Konzepten, die sich im subjektiven Geist, aber vor allem auch im Austausch zwischen mehreren Subjekten, übertragen; also nicht nur Einbildung sind, sondern eine eigene, nicht direkt schaubare Existenz haben, die nur eines sein kann: Transzendent. einer wissenschaftlichen Aufklärung, wie etwa der Mathematiker Thomas Hobbes, kritisieren deutlich „die Verklärung der Worte und Orte als eigenständige Götter und Dämonen als „heidnische“ Vorstellungen. Vgl.: Hobbes, Thomas: Leviathan, S.  104. Die Aufklärung geht in dieser Hinsicht vereinfacht gesagt davon aus, dass die mystischen Figuren und Götter lediglich Projektionen subjektiver Empfindungen auf die Welt sind. Vgl.: Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, S. 12. Vgl.: Franke, Anselm/Albers, Irene: Einleitung, in: Albers, Irene/Franke, Anselm: Animismus, S. 7. Die Philosophen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno schreiben diesbezüglich: „Die Entzauberung der Welt ist die Ausrottung des Animismus. (…) Auf dem Weg zur neuzeitlichen Wissenschaft leisten die Menschen auf Sinn Verzicht. Sie ersetzen den Begriff durch die Formel, Ursache durch Regel und Wahrscheinlichkeit.“ Zitat in: Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, S. 11. 165 Auch die organisierten Religionen haben davon eine mitunter nicht so klare Auffassung. Z. B. war eine zentrale Frage des Islams im Mittelalter, ob eine menschliche Erkenntnis Gottes möglich sei. Dabei war auch das Thema Immanenz Gottes vs. Transzendenz Teil des Diskurses. Vgl.: Janos, Damien: Menschliche Gotteserkenntnis nach Avicenna, in: Feldmeier, Reinhard/Winet, Monika: Gottesgedanken, S. 43. 166 Gerade das Christentum sieht sich als „Wort“-Religion im Zeichen des Buches. Vgl.: Wenzel, Horst: Die Schrift und das Heilige, in: Wenzel Horst/Seipel, Wilfried/Wunberg, Gotthart: Die Verschriftlichung der Welt, S. 15. Die besondere Eigenschaft von Texten fasst der Germanist Stefan Neuhaus wie folgt zusammen: „Literatur ist Transzendenz, denn Literatur substituiert das Jenseits. Sie erzählt nicht nur vom Jenseits oder vom Jenseits im Diesseits, sie ist eine Jenseitserzählung, weil sie, als Teil des im 18. Jahrhundert entwickelten autopoetischen Programms der Kunst (die sich ihre eigenen Regeln schafft), das Erbe der Bibel angetreten und die Sinnstiftungsmöglichkeiten ins Unendliche vermehrt hat.“ Zitat in: Neuhaus, Stefan: Die Sekunde vor dem Tod, in: Stauffer, Isabelle: Jenseitserzählungen in der Gegenwartsliteratur, S. 278.

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Es ist nur folgerichtig, eine solche Annahme mit einem ansonsten scheinbar nicht erklärbaren Phänomen zu verbinden: Dem Tod, bzw. dem Wiederspruch von Tod und Leben, diesem mysteriösen Dualismus von Existenz und Nicht-Existenz. Im Tod entweicht das, was wir vorher als Mensch begriffen haben, aus dem Körper und das, entgegenstehend zu all dem, was eine natürliche Anschauung der Welt als Prinzip vermittelt, ohne eine Spur. Als Phänomen begriffen, transformiert der Tod nicht, was ansonsten in allem zu beobachten ist, sondern er ist scheinbar ein „aus der Welt“ treten. Ein Lösen aus den stetigen Wechselwirkungen, die doch so universell anmuten. Nimmt man nun das entgegengesetzte Phänomen der Geburt bzw. der Menschwerdung hinzu, kann man leicht zu der Annahme eines transzendentalen Raumes gelangen. Menschen kommen, Menschen gehen. Aber woher kommen sie und wohin gehen sie? Die Wirkung des Lebens muss doch eine Ursache haben. Es ist dabei unerheblich, ob Menschen an einen solchen transzendenten Raum „glauben“ oder nicht. Das philosophische Rätsel, das im Tod liegt, scheint unergründlich, da er die Prinzipien der wahrnehmbaren Welt negiert und ihnen fundamental widerspricht. Er ist so gesehen ein Anachronismus, der sich im wahrsten Sinne des Wortes nicht begreifen lässt, außer durch die Bilder, die Konzepte, die über ihn gemacht werden – durch und mit der Mystik und den Religionen. Im Wesentlichen lassen sich dabei in der Menschheitsgeschichte zwei gegensätzliche Positionen feststellen, die sich mitunter aber auch durchdringen. Zum einen ist dies die Annahme der ewigen Wiederkehr, einem Kreislauf zwischen Tod und Leben, bei dem sich unsterbliche Seelen immer wieder in der realen Welt manifestieren, wie es z. B. bei dem Philosophen Platon, aber vor allem im Buddhismus deutlich wird.167 In dessen Bild von der transzendentalen Welt ist diese durch 167 Das Zeitalter der beginnenden klassischen Antike verfügte noch nicht über starre dogmatische Ansätze. Die Jenseitsvorstellungen waren im Großen und Ganzen in einem stetigen Wandel begriffen. Vgl.: Matijević, Krešimir: Ursprung und Charakter der homerischen Jenseitsvorstellungen, S. 78. Der Philosoph Sokrates umrahmte die beiden Hauptansichten zum Tod, dass dieser entweder ein langer ungestörter Schlaf sei oder ein immerwährendes Paradies sei. Vgl.: Nesselrath, Heinz-Günther: Ist mit dem Tod alles aus?, in: Feldmeier, Reinhard/Winet, Monika: Gottesgedanken, S. 70. Der Althistoriker Krešimir Matijević schreibt zum Unterschied zwischen griechischer Antike und altem Orient: „Aus dem homerischen Hades ist für Tote grundsätzlich keine Rückkehr in die Welt der Lebenden möglich. (…) In Mesopotamien war die Grenze weit weniger starr. Zwar ist eine Rückkehr schwierig, jedoch konnten Geister der Toten beschworen und für magische Praktiken zum Einsatz gebracht werden.“ Zitat in: Matijević, Krešimir: Ursprung und Charakter der homerischen Jenseitsvorstellungen, S. 217 f. Platon hingegen ging von dem Konzept einer unsterblichen Seele aus. Vgl.: Platon/Krapinger, Gernot: Der Staat, S. 430. Er beschreibt seine Jenseitsvorstellung anhand einer mythischen Geschichte: Beim Sterben überschreite man den Fluss Lethe. Auf der anderen Seite sitzen die unsterblichen Seelen und wählen aus, welches Leben sie als nächstes führen werden, sei es das Leben eines Tigers oder eines Königs. Anschließend überschreiten sie wieder den Fluss, der sie gleichzeitig alles vergessen lässt, und werden wiedergeboren. Durch ein tugendhaftes Leben steigen sie im Zyklus der Wiedergeburt und den Erfahrungen

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einen Kreislauf strukturiert, einem Rad des Lebens ohne Anfang und Ende. Ein umfassendes Sein, das sich nur durch den Gegensatz zu dem Nichts überhaupt bildlich fassen lässt und das in der Erreichung ebendieses Nichts gipfelt.168 Die andere Position ist das Konzept einer zielgerichteten Entwicklung. Die Vorstellung, dass das Leben sich durch „Start“ und „Ende“ definiert und dass das Ende den Übertritt in einen immerwährenden transzendenten Zustand markiert, der sich je nach den Entscheidungen im Leben unterschiedlich gestaltet. Diese Vorstellung findet sich vor allem in den drei großen abrahamitischen Religionen, in denen ein Zustand des „Guten“ erst nach dem Tod im Jenseits eintritt und dann absolut ist. Die Allverbundenheit mit der transzendenten Welt wird hier gleich zu Beginn allegorisch durch die Vertreibung des Menschen aus dem Paradies aufgehoben – ausgerechnet ausgelöst durch den Drang nach Erkenntnis. Trotz der Unterschiedlichkeit ist in beiden Positionen damit ein ewiger Idealzustand in Aussicht gestellt – sozusagen eine im Leben nicht erreichbare Utopie geschaffen –, durch die die eigentlich ungreifbaren Phänomene Tod und Leben gerahmt sind und im Kontext eines transzendentalen Zusammenhanges einen Sinn erhalten,169 der aber objektiv betrachtet leider nur Konzept und mit den Leben immer weiter auf; hin zu einem Gott, der aber nicht aktiv in das Geschehen eingreift. Vgl.: Platon/Krapinger, Gernot: Der Staat, S. 439–449. 168 Der Buddhismus geht von einem ewigen Selbst aus, das aber in der Figur des Buddha nach der brahmanischen Lehre sozusagen abgelehnt werden kann. Die Auflösung des Selbst gilt als Erleuchtung und als Eingehen in das Nichts des Nirwanas. Stetiger Wandel und die Betonung der persönlichen Entwicklung zum Buddha hin sind dabei die Grundlehren des Buddhismus. Vgl.: Coulmas, Florian: Die Kultur Japans, S. 120. Die Vorstellung von einem Ich wird dabei als Verblendung gesehen. Der Dualismus von Ich und Welt sei ein künstlicher, durch den das Leiden entstehe. Vgl.: Kapleau, Philip: Die drei Pfeiler des Zen, S. 449. Deutlich wird das vor allem im vedischen Konzept der „Maya“ aus dem 8. Jh. Maya steht dabei für die Verblendung durch künstlich geschaffene Illusionen, die für die Wirklichkeit gehalten werden und von dem göttlichen Zusammenhang zwischen Subjekt und Objekt ablenken. Vgl.: Ströhl, Andreas: Medientheorie kompakt, S. 30. Der Buddhismus unterscheidet sich somit grundlegend vom Christentum. In der buddhistischen Mystik, dem Zen, geht es um die Freiwerdung des Selbst, während es in der christlichen Mystik um die Erfahrung Gottes geht. Vgl.: Großhans, Hans-Peter: Gott – Das ganz Andere?, in: Gräb-Schmidt, Elisabeth/Häfele, Benjamin/Hölzchen, Christian P.: Transzendenz und Rationalität, S. 63. Die Religionen beeinflussen dabei auch den allgemeinen Diskurs und die „Art zu denken“. Der Philosoph Zhao Tingyang merkt z. B. in Bezug auf die Bedeutung der Geschichtsschreibung und des Schamanismus in der chinesischen Zivilisation an: „Seit die Geschichte die Deutungsmacht über das Dasein übernahm, ist die Art und Weise des chinesischen Nachdenkens über das Sein eine historisch geprägte, das Sein (…) wird als Werden (…) verstanden. Im westlichen Denken seit dem Griechentum ist die Art und Weise des Nachdenkens über das Sein im Gegensatz dazu begrifflich geprägt, das Sein verlangt eine für immer gültige Begrifflichkeit.“ Zitat in: Tingyang, Zhao: Alles unter einem Himmel, S. 125. 169 Das Konzept des Paradieses ist in der Genese orientalischer/europäischer Religionen meist auf sehr ähnliche Weise vertreten, bzw. übernehmen neuere Religionen ältere Konzepte. Vgl.: Bremmer, Jan N.: The Birth of Paradise, in: Scafi, Alessandro: The Cosmography of Paradise, S. 9-30. Z. B. gibt es deutliche Bezüge zwischen dem griechischen Paradies-Konzept des Elysion und dem Ort unsterblichen Lebens im Gilgamesch-Epos.

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damit ein subjektives Scheinbild ist. Wenn es eine reale Welt des Menschen gibt und eine transzendentale, in welcher Form auch immer, was ist dann das Prinzip des Austausches zwischen beiden? Sozusagen das verbindende Element dieses Gegensatzes? Der „Malgrund“, auf dem diese beiden Welten gezeichnet sind und ihre Beziehung zueinander definieren? Die Perspektive, aus der dieser Dualismus entsteht? Die abrahamitischen Religionen beantworten diese Fragen mit der Annahme einer allumfassenden Perspektive: Gott.170 Die Gestalt des absoluten Gegenübers, nicht verstanden als eine Figur, sondern als ein umfassendes Prinzip, ein absolut „Seiendes“, was im Übrigen als Kategorie auch im Buddhismus zu finden ist. Und was ist dieses Prinzip Gottes? Erstaunlicherweise die Trennung;

Vgl.: Matijević, Krešimir: Ursprung und Charakter der homerischen Jenseitsvorstellungen, S. 176. Das Paradies ist dabei mitunter gar nicht so transzendent. So war es in europäischen mittelalterlichen Karten, Weltbeschreibungen und Texten meist in der echten Welt verortet, wenn auch im „Osten“ gelegen und unzugänglich. Vgl.: Simek, Rudolf: Paradise in Western Medieval Tradition, in: Scafi, Alessandro: The Cosmography of Paradise, S. 201–210. Auch der Aspekt einer zeitlichen Verortung in der Zukunft war durchaus etabliert, wie es auch der Althistoriker Alexander Demandt schreibt: „Die Utopie in der Zukunft, so liest man bisweilen, sei erst eine Erfindung der Neuzeit. Das ist nicht ganz richtig, denn sowohl die religiöse Prophetie der Juden als auch die politische Propaganda der Römer hat die Wiederkehr des Paradieses in der nahen Zukunft verkündet.“ Zitat in: Demandt, Alexander: Der Idealstaat, S. 205 f. 170 Zu Gott gibt es eigentlich keine klaren Definitionen. Nach dem Philosophen Aristoteles kann Gott als erster Beweger der Welt verstanden werden. Als „Urknall“ der Welt stellt er das Ziel allen metaphysischen Denkens dar. Spätere Strömungen wie z. B. die mittelalterlichen Scholastiker sahen in Gott eine allumfassende Substanz. Vgl.: Günzel, Stephan: Einleitung, in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 20. Der Anthropologe Carel van Schaik und der Historiker Kai Michel weisen dabei auf das Problem in der Annahme eines Gottes, im Gegensatz zu einem Pantheon, hin: „Das Problem mit dem Monotheismus ist, dass er für die menschliche Natur zu abstrakt und philosophisch ist. Es erscheint kontraintuitiv, dass alle Geschehnisse der Welt, ob gut oder böse, auf einen einzigen Akteur zurückzuführen seien, widerspricht dies doch unseren kognitiven Heuristiken. Um Monotheismus zu etablieren, braucht es also große Macht und subtile Strategien, ihn glaubwürdig zu machen (…) Um eine monotheistische Religion zu etablieren, ist es also nötig, weitere Strategien einzubauen, die die Religion davor schützen, widerlegt zu werden.“ Zitat in: Schaik, Carel van/ Michel, Kai: Wie aus Zorn Liebe wird, in: Klempt, Eberhard: Explodierende Vielfalt, S. 206. Der Philosoph Max Stirner formuliert bezüglich der Auswirkung des Christentums auf den freien Menschen folgende Kritik: „Damit verliere Ich aber, der Ich Mich soeben als Geist gefunden hatte, sogleich Mich wieder, indem Ich vor dem vollkommenen Geiste, als einem Mir nicht eigenen, sondern jenseitigen Mich beuge und meine Leerheit fühle. Auf Geist kommt zwar alles an, aber ist auch jeder Geist der ‚rechte‘ Geist? Der rechte und wahre Geist ist das Ideal des Geistes, der ‚heilige Geist‘. Er ist nicht Mein oder Dein Geist, sondern eben ein – idealer, jenseitiger, er ist ‚Gott‘. ‚Gott ist Geist‘. Und dieser jenseitige ‚Vater im Himmel gibt ihn denen, die ihn bitten‘.“ Zitat in: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum, S. 9 f.

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die Schaffung von Gegensätzen und damit die Konstruktion eines Ur-Dualismus. In zahlreichen Mythen des alten Orients sowie den abrahamitischen Religionen ist die erste Amtshandlung dieses Gottes die Trennung der Welt in eine geistige, transzendentale und eine materielle, reale.171 Die Schaffung von Himmel und Erde als zwei sich gegenüberstehenden Kategorien, die sich in ihrer Beziehung zueinander durch die dritte Kategorie, Gott, definieren. Die ursprüngliche Welt, die „eigentliche“ Welt, die Welt des Zusammenhanges, bevor sie in zwei Welten aufgespalten wurde, ist dabei sozusagen nur der dritten Perspektive des Schöpfergottes bekannt. Sie ist der menschlichen Lebenswelt so weit enthoben, dass nur in der Auflösung der menschlichen und auch der transzendentalen Perspektive – oder ihrer Vereinigung – überhaupt die Grundlage einer Nachvollziehbarkeit gegeben sein könnte. Gott als eine absolute Perspektive, die zwei unterschiedliche Systeme von Welt definiert und nur außerhalb der Systeme existiert und diese doch durchdringt, da definiert; und wer es schafft, dass er mit Gott „spricht“, durch den scheint diese Perspektive in die Welt. Die Rolle des Sprechers erscheint mitunter als eine verführerische. In ihr manifestiert sich das Prinzip der Herrschaft, das sich aus dieser Allumfasstheit ableitet. Aber wie kann sie erreicht werden und sich umfassender Erkenntnis annähern? Eine reine Hinwendung zur Welt der Transzendenz ist der mythisch-magische Weg. Alles wird aus angeblich überweltlichen Zusammenhängen 171 Z. B. schuf bei den Sumerern im alten Orient der Schöpfergott Enlil die Welt, indem er Himmel und Erde voneinander trennte. Vgl.: Krebernik, Manfred: Götter und Mythen des alten Orients, S. 58. Bei einer solchen Trennung wurde auch der Gott von Uruk der allgemein höchste Gott. Prägend für das spätere Christentum dürfte vor allem auch der Zoroastrismus im Altpersien gewesen sein. In diesem erschafft der Schöpfergott Ormuzd zuerst die geistige und dann die physische Welt. Im Zoroastrismus liegen auch die Wurzeln für einen weiteren, tiefgreifenden Dualismus der christlichen Welt. In ihm kämpft das gute Prinzip Ormuzd stetig gegen das Böse in der Gestalt Ahrimans. Der Philosoph Immanuel Kant verweist darauf in einer Fußnote, wobei er im dazugehörigen Haupttext die unterschiedlichsten religiösen Ströme zusammenfasst: „Es ist anzumerken, daß es von den ältesten Zeiten her zwei die künftige Ewigkeit betreffende Systeme gegeben hat: eines das der Unitarier derselben, welche allen Menschen (durch mehr oder weniger lange Büßungen gereinigt) die ewige Seligkeit, das andre das der Dualisten, welche einigen Auserwählten die Seligkeit, allen übrigen aber die ewige Verdammniß zusprechen.“ Zitat in: Kant, Immanuel: Das Ende aller Dinge, in: Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden und andere Schriften, S. 138. Vor allem durch den Kirchenlehrer Augustinus wurde im Christentum ein Ideal des ewigen Lebens in einem unsterblichen, jenseitigen Körper für die „Seligen“ etabliert. Vgl.: Fuhrer, Therese: Angst oder Hoffnung?, in: Feldmeier, Reinhard/Winet, Monika: Gottesgedanken, S. 96. Das Prinzip des Dualismus lässt dem Menschen prinzipiell die Freiheit der Wahl in der Lebensführung. Das Subjekt ist an sich frei und nicht, wie im Determinismus, nur durch äußere Einflüsse bestimmt, die dann auf einen Gott als umfassende Herrschaft zurückzuführen sind. Vgl.: Romizi, Donata: Dem wissenschaftlichen Determinismus auf der Spur, S. 119. Obwohl als Instrument der Herrschaft apodiktisch geprägt, ist die Freiheit im Christentum eines der Hauptthemen und vor allem zu Beginn prägend. Vgl.: Fürst, Alfons: Die Entdeckung der Freiheit im frühen Christentum, in: Feldmeier, Reinhard/Winet, Monika: Gottesgedanken, S. 158.

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hergeleitet, die natürlich nie zutreffen können, da sie immer der menschlich-begrenzten Perspektive unterworfen sind. Das Ergebnis ist immer die totalitäre Herrschaft über die Welt, die totalitär sein muss, damit ihre postulierte, übergeordnete Objektivität nicht als Trugbild offenbart wird. Auch eine Hinwendung zur vermeintlich realen Welt, eine Art Auflösung des Transzendentalen, findet sich mitunter, wobei aber die Welt dem menschlichen Zugriff entgleitet. Ein dritter Weg zu Gott, eine Möglichkeit der Annäherung an eine vermeintlich umfassende Perspektive, findet sich vor allem in der neuzeitlichen Wissenschaft.172 Auch diese ist, wie die organisierten Religionen, zuallererst ein Glaubenssystem und als solches hat sie diese in ihrer gesellschaftlichen Funktion mitunter auch abgelöst. Aber die neuzeitliche Wissenschaft ist nicht spekulativ-apodiktisch, wie die meisten Religionen, sondern sie gründet sich in der Deduktion. In einer fundierten Beobachtung der „realen“ Welt, der anschließenden Übertragung der Phänomene in Kategorien und Theorien der „geistigen“ Welt und von da aus wiederum der Rückübertragung in die reale Welt, 172 Wissenschaft und Religion bzw. Mystik stehen nicht so weit auseinander, wie es mitunter postuliert wird. So war z. B. der im populären Verständnis wissenschaftlich prägende Mathematiker Pythagoras zuallererst, nach heutigem Verständnis, ein religiöser Sektenführer. Gott als Kategorie kann natürlich als Legitimation von weltlicher Herrschaft über Menschen gebraucht werden. Aber vor allem im Christentum wird Gott eher als eine Art umfassendes Wissen oder die Vernunft an sich gedeutet. Eine Bemerkung des Theologen Thomas von Aquin verweist darauf, wenn er schreibt: „In der Vernunft nämlich hat eben die menschliche Natur ein von allem Individuierenden losgelöstes Sein. Und daher hat sie eine einförmige Beziehung auf alle Individuen, die außerhalb der Seele sind, insoweit die menschliche Natur in gleichem Maße eine Ähnlichkeit aller Individuen ist zur Erkenntnis aller Individuen, insoweit sie Menschen sind, führt.“ Zitat in: Aquin, Thomas von/ Beeretz, Franz Leo: De ente et essentia, S. 37. Gott kann dabei auch als das bereits vorhandene Wissen gesehen werden, dass sich der Mensch sukzessiv erschließt. Vgl.: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, S. 452. Der Philosoph René Descartes sieht sogar die Vollkommenheit der göttlichen Substanz als Begründung für das Denken an sich. Vgl.: Zovko, Jure: Sinnstiftung durch Transzendenz, in: Gräb-Schmidt, Elisabeth/Häfele, Benjamin/Hölzchen, Christian P.: Transzendenz und Rationalität, S. 86. Der vermeintliche Gegensatz von Wissenschaft und Religion liegt wahrscheinlich in der Wahl des Blickwinkels. Vor allem im von Augustinus geprägten Christentum war z. B. das Sehen mit den Augen, also eine vermeintlich objektive Erfassung, negativ konnotiert. Erkenntnis konnte nur durch ein „inneres Sehen“, eine Art ein geistiges Sehen, verstanden als eine Art „Gottesschau“, erfolgen. Durch die Beschäftigung mit Aristoteles im 13. Jh. in der Philosophie erfolgte eine Aufwertung des leiblichen Sehens (im Gegensatz zu Platon), vor allem verkörpert in der Technik der Optik. Vgl.: Büttner, Frank: Giotto und die Ursprünge der neuzeitlichen Bildauffassung, S. 15–17. Wesentlich für die wissenschaftliche Kritik ist aber wohl die Verbindung von Mystik mit Herrschaft, wie sie in den organisierten Religionen vorzufinden ist. Dadurch entstehen zwangsläufig eine Beendigung der offenen Beschäftigung und ein abgeschlossenes, unkritisierbares und dogmatisches System. Eben ein Glaubenssystem – ein Weltbild. Der Genetiker Günter Theißen erfasst diesen Gegensatz, wenn er schreibt: „Denn die Evolutionsbiologie ist keineswegs eine abgeschlossene Sammlung ewiger Weisheiten – letztere kennen nur Ideologien und Religionen. Doch abgeschlossene Systeme mit nicht mehr zu hinterfragenden ‚Wahrheiten‘ stellen genau den Humbug dar, den Aufklärung und Naturwissenschaften seit Jahrhunderten zu überwinden versuchen.“ Zitat in: Theißen, Günter: Mechanismen der Evolution, in: Klempt, Eberhard: Explodierende Vielfalt, S. 127 f.

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zur Überprüfung und Falsifikation. In einem immerwährenden Kreislauf zwischen den Welten des Kontextes und des Konzeptes. Die Schaffung von fundierter Erkenntnis, die aber nur existieren kann, wenn sie die vermeintliche Existenz einer absoluten Perspektive zumindest unbewusst in sich trägt und wenn die Utopie des Paradieses, des allumfassenden Zusammenhanges, als Impuls für das stetige Werden und Reifen der Erkenntnis funktioniert. Diese Utopie muss dabei nicht in der mystischen Vergangenheit liegen, als ein Zustand, der wiederherzustellen ist; sie kann auch in der Zukunft liegen. Die Figur des Gottes nicht als Grund der Welt, sondern als Ziel. Als etwas zu Schaffendes, Herzustellendes – vor allem durch die Eigenschaft des Menschen, zwischen geistiger und realer Welt zu wandeln und so zumindest prinzipiell Transzendenz und erlebbares Sein als Kategorien zusammenhängend denken und bilden zu können.173 In dieser Definition findet sich auch das Fazit zum Element des Jenseits als solches. Ob es so etwas geben könnte, weiß keiner. Es ist auch insofern irrelevant, als dass es in der menschlichen Welt, der Spanne zwischen Leben und Tod, nicht vorkommt. Alle Jenseits-Konstrukte sind kulturelle Konstrukte und in ihnen zeigt sich, bei allen unterschiedlichen Ausprägungen, das scheinbare Grundbedürfnis der Menschen nach der Einheit des Eins. Nach einem Prinzip, das alles, was an Phänomenen in der Welt so passiert, zusammenhält. Die Möglichkeit einer absoluten Erkenntnis der Welt, die sich nur durch die Annahme einer übergeordneten Welt und eines allgemein verbindenden Prinzips ausdrückt. Die Hoffnung, dass sich das als singulär empfundene Ich in der Welt spiegelt und darin die Möglichkeit eines umfassenden Ichs erblickt.174 Abseits von jeder me173 Der Jesuit und Paläontologe Pierre Teilhard de Chardin stellt dahingehend die originelle These auf, dass die Erde über ein Kollektivbewusstsein verfüge, das sich alle Lebewesen teilten. In einem fortschreitenden Prozess produziere vor allem die „große Maschine der Menschheit“ ein Übermaß an Geist, der in einem zukünftigen Punkt Omega kumuliere und eine reine Vergeistigung der Existenz erzeuge. Vgl.: Chardin, Pierre Teilhard de: Der Mensch im Kosmos, S. 260–297. 174 Der Philosoph Franz von Kutschera formuliert es wie folgt: „Umfassende Erkenntnis ist ein typisch metaphysisches Ideal. Die großen metaphysischen Entwürfe waren Versuche, die Grenzen der Erfahrung zu überschreiten, in der wir es immer nur mit Kontingentem und Bedingtem zu tun haben, und zu einem Absoluten und Notwendigen hinter den Erscheinungen vorzudringen, das deren letzten Grund bildet.“ Zitat in: Kutschera, Franz von: Die falsche Objektivität, S.  285. Vor allem die monotheistischen Religionen definieren diesen „letzten Grund“ ähnlich wie die angeblich ersten Worte der Philosophie, wie sie der Philosoph Hans Blumenberg wiedergibt: „Das mochten wenigstens die Athener begriffen haben, als sie nach einem den Ioniern ebenbürtigen Anfang ihrer philosophischen Tradition suchten und ihrer Protophilosophen Musaios sagen ließen: Alles ist aus Einem hervorgegangen und wird sich in das Selbe wieder auflösen.“ Zitat: Diogenes Laertius I 3. Zitat in: Blumenberg, Hans: Das Lachen der Thrakerin, S. 136. Wesentlich für diese Denktradition ist der Philosoph Platon, dessen Grundannahme, es gebe viele Tische, aber nur eine Idee des Tisches, im Prinzip auf die Vereinigung im Einen verweist. Vgl.: Platon/Krapinger, Gernot: Der Staat, S. 409. Abseits von jeder postulierten Objektivität ist das Wesen des mystisch-religiösen Denkens ein subjektives. Die Kategorie des Einen etwa ist zuallererst immer eine geistig-mentale, und damit im subjektiven Verstand zu finden. Gott

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taphysischen Spekulation sind damit Jenseitsvorstellungen Utopien. Utopien eines umfassenden Zusammenhanges, eines Einsseins, das einer mitunter begrenzten menschlichen Perspektive vorweggeht und ihr eine Entwicklungsrichtung aufzeigt. Die Möglichkeit und das Ziel, formuliert in dem einen idealen und absoluten Konzept des Jenseits. Da diese Utopie scheinbar in der menschlichen Kultur konstant auftaucht, ist sie vielleicht als Aufgabe zu verstehen.

Der Mensch und die Utopie Die Utopien gehen der Welt voraus, indem sie eine zweite, ideale Welt schaffen und postulieren. Die Strukturen der Gegenwart sind größtenteils Zeuge, wenn auch als Fragment, dieser postulierten Gesamtzusammenhängen, die dem einzelnen Menschen mitunter sinnstiftend gegenüberstehen. Utopien stoßen Entwicklungen an. Sie sind der Ort, zu dem sich der erste Mensch aufmacht; die Motivation, jenseits des Zwanges der Existenz überhaupt einen Fuß in die Welt zu setzen. Obwohl sie überwiegend ein gemeinschaftliches Konstrukt sind, wirken sie nur sporadisch direkt in der Gemeinschaft – sie werden ja nicht verwirklicht –, sondern vor allem im Individuum; im Subjekt, das durch die Annahme solcher Konzepte seinen Platz in der Welt definieren und erklären kann. Sie sind Konzepte, in denen sich vermeintlich Gesamtzusammenhänge offenbaren und die Zukunft vorhersehbar wird. Die Utopie ist damit eigentlich nichts anderes als der Traum vom „Guten Leben“, von einer Richtigkeit der eigenen Existenz – wie auch immer sich das offenbart ist das vereinigte, absolute Bewusstsein. Auch eine Definition der Religion des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel lässt sich in diese Richtung verstehen: „Es ist nur der Begriff der Religion gesetzt; in diesem ist das Wesen das Selbstbewußtsein, das sich alle Wahrheit ist und in dieser alle Wirklichkeit enthält.“ Zitat in: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, S. 460. Der Psychologe Julian Jaynes weist diesbezüglich darauf hin, dass psychologisch betrachtet das Alte Testament des Christentums als eine perfekte Beschreibung einer Bewusstwerdung gesehen werden kann. Vgl.: Jaynes, Julian: The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind, S. 312. Diese Fokussierung auf ein subjektiv Geistiges, was dann aber wieder absolut sein soll, kann auch als Macht über das Subjekt durch die Formung des Selbstbewusstseins gesehen werden. Als die Welt der geistigen Kategorien und ihrer Macht, die der Philosoph Max Stirner in einer Kritik an Hegel und der Methodik des Religiösen wie folgt formuliert: „Wenn man aber das ‚Wesen des Menschen‘ vom wirklichen Menschen trennt und diesen nach jenem beurteilt, so trennt man auch seine Handlung von ihm und veranschlagt sie nach dem ‚menschlichen Werte‘. Begriffe sollen überall entscheiden, Begriffe das Leben regeln, Begriffe herrschen. Das ist die religiöse Welt (…). Nach Begriffen wird Alles abgeleiert, und der wirkliche Mensch, d. h. Ich werde nach diesen Begriffsgesetzen zu leben gezwungen.“ Zitat in: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum, S. 69. Einen anderen Ansatz bringt der Kunsthistoriker Erwin Panofsky, in Bezug auf die Gotik, die Einheit von Seele und Körper und den Versuch, den Gottesbegriff aus der Schöpfung zu erklären, prägnant auf den Punkt: „Eine Pflanze blüht als Pflanze, nicht als Abbild der Idee einer Pflanze.“ Zitat in: Panofsky, Erwin/Frangenberg, Thomas: Gotische Architektur und Scholastik, S. 11.

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–, und wie alle Träume liegt ihr Kern im rein Subjektiven. Aus dem Traum wird sie Konzept und Tat; und das ausgehend vom Individuum, das handelt oder sich mit anderen austauscht. Utopien erhalten ihre Wirksamkeit erst in der Kommunikation mit anderen. Erst die Bestätigung der subjektiven Annahme in einem Gegenüber objektiviert sie scheinbar, und das umso deutlicher, je mehr subjektive Perspektiven sich anhand der Utopie als Werkzeug kooperativen Handelns agglomerieren. Die Strukturen, die Utopien erzeugen, sind zuallererst Strukturen des Geistes im Austausch mit anderen. Das Zitat eines bekannten Religionsstifters „Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ verweist darauf.175 Eine Utopie als idealer Zusammenhang offenbart sich nicht in den gebauten Strukturen, sondern in der Vorstellungswelt unterschiedlicher Individuen, die in den Gedanken auf ein gleiches Ideal hin vereint sind.176 Hinter der Herrschaft steht die Utopie. Diese zeigt sich nicht in der realen Welt, sondern ist reine Kommunikation in einer Relation der Wechselwirkungen, die sich nur in der subjektiven Vorstellung manifestiert.

Der virtuelle Raum des Menschen Die Welt des Menschen ist eine gemachte Welt. Nach einer scheinbar objektiven Ordnung wird die Welt in Räume der unterschiedlichen sozialen Rollen und Nutzungen unterteilt, die erst aus einer übergeordneten Perspektive Sinn stiften und ergeben. Aber diese Perspektive, auf was sie 175 Zitat Jesus Christus, in: Matthäus: Das Evangelium nach Matthäus, 18,20, in: Katholische Bibelanstalt: Die Bibel, S. 1099. 176 Hinter den Utopien steht vermutlich das Gefühl eines „perfekten“ Ortes, der zwar nicht erreicht werden kann, aber angestrebt wird. Der Historiker Alessandro Scafi verdeutlicht dies anhand der Form des Paradieses: „Visions of an attainable paradise are common to all humanity. All religious traditions, including the Abrahamic faiths, tell us about a perfect happiness attainable ‚elswhere‘ and ‚out of time‘. A ‚paradise‘ existed yesterday, during a marvellous Golden Age; a ‚paradise‘ will return tomorrow in the glory of a divine eternity; or a ‚paradise‘ is already here in the depth of our soul or in some remote place on earth that we cannot reach.“ Zitat in: Scafi, Alessandro: Introduction, in: Scafi, Alessandro: The Cosmography of Paradise, S.1. Die Medienwissenschaftler Klaus Neumann-Braun und Axel Schmidt weisen im Rahmen einer ethnographischen Studie darauf hin, dass z. B. auch die symbolischen Räume der Popmusik für junge Menschen mit Utopien verknüpft sein können. Vgl.: Neumann-Braun, Klaus/Schmidt, Axel: Globalisierung medialer Wahrnehmungsumgebungen, in: Faßler, Manfred/Terkowsky, Claudius: Urban Fictions, S.150. Ob Utopien nun religiöser Art oder sich in Massenmedien ausdrücken. Max Stirner kritisiert das Grundprinzip anhand der Religion wie folgt: „Mensch, es spukt in Deinem Kopfe; Du hast einen Sparren zu viel! Du bildest Dir große Dinge ein und malst Dir eine ganze Götterwelt aus, die für Dich da sein, ein Geisterreich, zu welchem du berufen seist, ein Ideal, das Dir winkt. Du hast eine fixe Idee!“ Zitat in: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum, S.31.

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sich auch immer beruft, ist fehlerhaft. Sie ist immer eine Annahme, die auf Mangel an Erkenntnis beruht. Mehr noch: die unterschiedlichen Sinnsysteme überlagern sich, werden fragmentiert. Sie sind unzureichend und werden durch andere abgelöst; aber nie komplett, sondern nur in Teilen. Im Treibgut der Geschichte bleiben scheinbar etablierte Techniken bestehen, fügen sich in neue Systeme ein oder existieren in Nischen weiter. Die Frage, ob diese Techniken dabei überhaupt das bewirken, was sie sollen, oder ob sie nur eine zufällige Begleiterscheinung ganz anderer Effekte und Ursachen sind, verschwindet in diesem Treibgut. Die unterschiedlichsten Ansätze zur Herrschaft und die unterschiedlichsten Utopien hinter ihnen vermengen sich in einer pluralen Welt, zu einer Agglomeration der unterschiedlichen Träume vom „Guten Leben“ und ihrer Rückwirkung auf die physische Welt. Die beiden Basisphänomene der Gegenwart, Komplexität und Kommunikation, spiegeln sich in diesen unterschiedlichen Weltbildern und dem stetigen Austausch der Menschen über sie. Aus einer scheinbar objektiven Perspektive sind diese Wechselwirkungen kaum greifbar, aber doch stiften sie im Zusammenhang ja Sinn und geben Menschen Orte und Strukturen des Seins; weniger vielleicht als Gesamtsystem, sondern in der reinen subjektiven Weltsicht: In der Vorstellungswelt jedes einzelnen Menschen. So unterschiedlich diese auch sein mögen, ist doch anzunehmen, dass der Traum vom „Guten Leben“, in welcher Form auch immer, für jeden Menschen eine subjektive Triebfeder ist und sich natürlich auch in der geschaffenen Welt der Kultur spiegelt. Der Gesamtzusammenhang des Seins, die übergeordnete Perspektive manifestiert sich in den individuellen Träumen vom „Guten Leben“ und sie wirkt anscheinend durch die Welt der Dinge und die Bilder, die sie umgeben, auf das einzelne Subjekt. Die Herrschaft der Strukturen verlagert sich in das Subjektive; in ein scheinbar allgemeines System, das aber nur im einzelnen Individuum vorhanden ist. Diese Tendenz zum Sein in der globalisierten Welt lässt sich wiederum an dem Phänomen der Stadt festmachen. Genauer: der gebauten Stadt und ihrem Counterpart, ihrem Abbild, das in den Massenmedien als perfektes Bild von ihr existiert.

Die doppelte Stadt Die globalisierte Welt ist eine urbanisierte. Die Stadt wird zur dominierenden Struktur menschlichen Lebens. Es ist überwiegend nicht die mittelalterliche Stadt, nicht Babylon oder die Planstadt der Moderne, die hier in Erscheinung tritt, sondern eine ganz bestimmte Stadt, die in ihren Strukturen von vielen neuen Städten als Blaupause moderner Urbanität wiederholt wird. Es ist die Stadt New York; genauer: das mediale New York. 113

Die Wolkenkratzer-Skyline dieser Stadt war zu Beginn des 20. Jh. einzigartig und die Dichte an Menschen und Material wurde im Vergleich zu den bisherigen Großstädten wie London noch einmal deutlich erhöht. Die Skyline der Stadt war entgrenzt in den Himmel. Nicht mehr ein zentraler Tempel verwies auf die Unendlichkeit, sondern die Stadt selbst – durch eine immer stärkere Zunahme an Höhe in einem permanenten Akt des Überragens der Form und Masse in stetiger Weiterentwicklung. Auch in der gelebten Kultur der Stadt zeigte sich dies. In der hauptsächlich von Zuwanderern aus unterschiedlichen Regionen der Welt gebildeten Bevölkerung existierte ein Nebeneinander der gelebten Räume und Perspektiven. Nicht durch die starren Herrschaftssysteme der „alten Welt“ gefesselt, erwuchs hier die Möglichkeit einer neuen Zukunft des Urbanen durch die Hoffnung, dass durch ein Mehr an unterschiedlichen Perspektiven sich ein Mehr an Erkenntnis und damit eine neue Ordnung der Welt abzeichnet. In der der Mensch frei ist, seinen Raum in der umfassenden Agglomeration der endlos werdenden Stadt selbst zu gestalten oder zu finden. New York wäre aber wahrscheinlich nicht zu dieser Blaupause der Urbanisierung geworden, wenn nicht ein entscheidender Faktor hinzugekommen wäre: Hollywood. Besser gesagt die noch junge amerikanische Filmindustrie, die zu Beginn des 20. Jh. nicht in Los Angeles ansässig war, sondern in der boomenden und pulsierenden Stadt New York. Die Filmemacher dieses noch jungen und neue Gestaltungsmöglichkeiten versprechenden Mediums drehten ihre Filme in New York – warum auch nicht, es lag ja quasi vor der Haustür.177 Das Me177 Die neuen Gestaltungsmöglichkeiten des Filmes beruhten vor allem auf der Technik des Schnittes und der Montage, wodurch die Bindung an physische Zusammenhänge nicht mehr dominierte. Hierzu die Medienwissenschaftlerin Laura Frahm: „Der Film transformiert die sichtbare Welt und überführt sie in eine spezifische Form filmischer Sichtbarkeit. Er entwirft genuine Transformationsräume, die sich jenseits bekannter Raumkoordinaten entfalten oder präziser: in denen die Maßgaben eines kartesischen Koordinationssystems nicht mehr greifen.“ Zitat in: Frahm, Laura: Jenseits des Raumes, S.  190. Und der Kulturgeograf Hellmut Fröhlich: „Die große Bedeutung, die verschiedenen städtischen Räumen innerhalb der narrativen Strukturen von Film zukommt, und die herausragenden Möglichkeiten des ‚urbanen‘ Medium Films, emotional aufgeladene Stadtlandschaften zu inszenieren und durch das intensive sinnliche Erlebnis des Film-Sehens einen ausgeprägten emotionalen Bezug zwischen Rezipienten und narrativen Stadträumen als den räumlichen Kontext von Figuren und Handlungen herzustellen, machen Stadtfilme zu bedeutenden Quellen für alltägliche Raumvorstellungen.“ Zitat in: Fröhlich, Hellmut: Das neue Bild der Stadt, S. 344. Der Medienwissenschaftler Manfred Faßler gibt einen Hinweis zu der Ähnlichkeit des Mediums Film und der Stadt: „Das städtische Babylon erzeugt und erhält sich im ständigen Entstehen, in Emergenz, ist beschleunigte kulturelle Evolution. Mir sind nur zwei Makrostrukturen menschlicher Selbstorganisation bekannt, die solche Produktivität hervorbringen: Stadt und Medien.“ Zitat in: Faßler, Manfred: Umbrüche des Städtischen, in: Faßler, Manfred/ Terkowsky, Claudius: Urban Fictions, S. 10. Die Bildwissenschaftlerin Giuliana Bruno schreibt dahingehend: „Film moves, and fundamentally ‚moves‘ us, with its ability to project affects and, in turn, to affect. The city is itself such a psychogeographic landscape. It is a collection of the mental, mnemonic and affective fabric – the

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dium Film ermöglichte eine Nähe zu Figuren und scheinbar auch zu den Menschen, wie sie bisher kaum bekannt war. Nicht mehr artifizielle Figuren interagierten im eingefassten Raum des Theaters, sondern scheinbar echte Menschen in den echten Räumen der Stadt. Mehr noch: Durch die Kamera wurde der Filmkonsument zum Voyeur, der unbemerkt an der Privatsphäre der Figuren teilhaben konnte. Der heimlich in die Innenräume der urbanen Existenz guckte und an der scheinbaren Lebenswirklichkeit von Menschen teilhaben durfte. Die Themen der Filmindustrie partizipierten von der Vielzahl der Räume, die New York bereithielt, und illustrierten so den Lifestyle des modernen urbanen Menschen. Aus nicht ganz eindeutigen Beweggründen, manche behaupten, es hätte etwas mit Steuern und der organisierten Kriminalität zu tun, zog dann die gesamte Filmindustrie um. Von der pulsierenden Metropole New York auf die andere Seite des Kontinents, in die Stadt Los Angeles, die damals wohl eher einem verschlafenen Provinznest glich. Für einen normalen Drehbuchschreiber oder Kameramann war dadurch New York in unerreichbare Ferne gerückt – Flüge waren zu der Zeit kaum erschwinglich. Anstatt nun die Realität der Metropole als Inspiration und Kulisse zu haben, fanden sie sich in der reizreduzierten Wüste wieder. Dennoch, und das ist bemerkenswert, schrieben und inszenierten die Filmemacher weiterhin Filme, die in New York spielten.178 Die Innenräume und Straßenzüge der Stadt wurden in den Studios der Filmfirmen, der späteren Traumfabrik, nachgebaut und mit Archivaufnahmen der markante Skyline von New York montiert, um beim Zuschauer die Illusion des „echten“ New Yorks zu erzeugen.179 Im Laufe der Zeit wurden diese Filme immer exzessiver. Sie illustrierten immer mehr ein Idealbild des mondänen urbanen Lebens, das die Filmemacher in Los Angeles wahrscheinlich kaum hatten, sich aber anhand der Utopie eines gedachten New Yorkes vorstellten. Auf der Leinwand entstand so ein zweites New

maps – designed by its inhabitants and passengers.“ Zitat in: Bruno, Giuliana: Film and the Geography of Modernity, in: Marcus, Alan/Neumann, Dietrich: Visualizing the City, S. 26. 178 Vgl.: Sanders, James: Celluloid Skyline, S. 44 ff. 179 Vgl.: Ebd., S. 62 ff. „Over the decades, the New York skyline has opened countless feature films – more films, probably, than any other single place on earth.“ Zitat in: ebd., S. 87. Der Philosoph Hubert Damisch äußert sich zu der bildlichen Wirkung New Yorks wie folgt: „Virtuell ist das Bild der Stadt schon seit langem (…). Es steht außer Zweifel, daß ein Großteil der Wirkung des modernen Manhattan- Bildes, seiner Aura im Sinne Benjamins, in der Ansicht wie aus der Luft, vom monumentalen geographischen Zuschnitt Manhattans herrührt, während die Erfindung der Skyline diese Gestalt noch verstärkt.“ Zitat in: Damisch, Hubert: Skyline, S. 127. Auch auf andere Filme hat das Bild der Stadt deutliche Auswirkungen, wie es der Medienwissenschaftler Knut Hickethier zusammenfasst: „New York ist dabei (…) geheimer Fluchtpunkt aller neueren Großstadtdarstellungen im Film. New York ist das Muster für einen Topos von Stadt, egal in welcher Variation (…).“ Zitat in: Hickethier, Knut: Filmische Großstadterfahrungen im neueren deutschen Film, in: Schenk, Irmbert: Dschungel Großstadt – Kino und Modernisierung, S. 190.

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York.180 Nicht ein New York entnommen aus der Realität, sondern als Illustration des mondänen Lebens in einer imaginierten Utopie des urbanen Lebens. Als der Film nun zum weltweiten Massenmedium wurde, war es diese Utopie, die um die Welt ging. Die Filmkonsumenten sahen ein New York, das einem Traum entsprungen war, aber doch mit der Realität verwoben schien. Im Raum des Subjektiven, im Raum der Wahrnehmung des Konsumenten. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass viele, die in der Folge mit diesem Traum vom Guten Leben nach New York zogen, diesen dort zu leben und – falls die Realität dann doch eine andere war – die Räume der Stadt in diese subjektive Utopie zu transformieren versuchten.181 Der gebaute Raum des Menschen, vor allem als Phänomen der Stadt, ist wesentlich beeinflusst von den Träumen vom „Guten Leben“.182 Nicht nur die Organisation von Masse ist in ihr grundle180 Der Architekt James Sanders definiert diese beiden New Yorks wie folgt: „One is a real city, an urban agglomeration of millions. The other is a mythic city, a dream city, born of that most pervasive of dream media, the movies.“ Zitat in: Sanders, James: Celluloid Skyline, S. 3. 181 „For millennia, people have come to the city with hopes and dreams of living ‚The good life‘.“ Zitat in: Macionis, John J./Parrillo, Vinvent N.: Cities and Urban Life, S. 20. Der Soziologe Ulrich Heinze zu dieser medialen Wirkung von New York: „New York ist keine politische Hauptstadt eines Nationalstaates, sondern eine kulturelle, globale Medienhauptstadt. Ihr gesamter Körper dient als filmische Kulisse und subkulturelles Milieu. Ihre politische Entkoppelung ist zugleich das Geheimnis ihrer fiktionalen Erfolgsgeschichte.“ Zitat in: Heinze, Ulrich: Medienkaskaden, S. 155. Die Utopie des Guten Lebens kann auch in ihrer Umkehrung mit der Stadt verbunden sein. Vor allem nach den 1970ern zeigen filmische Zukunftsprojektionen von Stadt verstärkt eine urbane Dystopie, wenn nicht gar die Vernichtung von Stadt. 182 Dieses Zusammenwachsen einer realen Stadt mit medialen Inszenierungen wie im Falle New Yorks, ist dabei kein neues oder singuläres Phänomen. Schon in der Renaissance lässt sich in Rom Ähnliches beobachten. Eine hohe Kunstproduktion vor Ort nahm die Stadt als Motiv für teils überhöhte und imaginierte Darstellungen. Vgl. Rehberg, Karl-Siegbert: Roma capitale delle arti, in: Vorländer, Hans: Transzendenz und Konstitution von Ordnungen, S.  66–93. Der Soziologe Karl-Siegbert Rehberg kommentiert dahingehend: „Die zentrale Dimension einer Transzendierung Roms bezieht sich auf den räumlichen Rückbezug, nämlich auf die – auch für die christlichen Zusammenhänge bedeutsame – materielle Präsenz des antiken Weltreiches in dessen ruinenhaften Zeugnissen.“ Zitat in: Rehberg, Karl-Siegbert: Roma capitale delle arti, in: Vorländer, Hans: Transzendenz und Konstitution von Ordnungen, S. 72. Auch die Stadt Paris entwickelte seit dem 12. Jh. ein eigenständiges Image in der gebildeten Welt. Vgl.: Oberste, Jörg: Die Geburt der Metropole, S. 275–293. Als wesentlich für eine Verbreitung eines positiven Images der Metropole können dann im 16. Jh. Buchdrucker und Verleger gesehen werden. Ihren Beruf durften sie nur durch ein königliches Privileg ausüben, sodass überschwängliches Lob der Stadt in den Werken eine Pflichtübung war. Vgl.: Oberste, Jörg: Die Geburt der Metropole, S. 279–282. Der Historiker Jörg Oberste subsumiert hierzu: „So wenig sich im Alltag der polymeren Weltstadt Schönheit, Eintracht oder Geschichtsbewusstsein manifestierte, so phantasievoll nutzten Höflinge, Intellektuelle und urbane Elite ihre kulturelle Bildung und ihre politisch-ökonomischen Ambitionen dazu, das Bild eines geordneten, schönen und zugleich machtvollen Gemeinwesens zu entwerfen. Paris setzte hier mit allen medialen Möglichkeiten seinen eigenen Mythos als unvergleichliche Weltstadt in Szene. Paris ist schon früh zur universellen Ikone und zur Metropole geworden.“ Zitat in: ebd., S. 293. Dieser ikonische Charakter ist dabei auch unter dem Aspekt als Zentrum eines globalen Kolonialreiches zu sehen. Vgl.: Babel,

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gend, sondern auch die Utopien und subjektiven Wünsche, die sich im Medium der Massenkommunikation ausdrücken. Diese Träume wirken auf die Stadt zurück und prägen wesentlich ihre Form. Masse und Kommunikation sind so in der Ausprägung der Räume unserer Welt miteinander verbunden. Im Gegensatz zu einer direkten Kommunikation zwischen Menschen sind die Erzeugnisse der Massenmedien, wie im Film, meist Bilder. Sie sind keine Realität, die neutral dargestellt wird – falls dies überhaupt möglich ist – und keine Erfahrung eines „echten“ Menschen. Stattdessen sind sie eine gefasste Perspektive. Sie vereinen Erscheinungen und den subjektiven Standpunkt, den der Betrachter dazu einnehmen soll. Durch die Wahl der Perspektive wird das Bild zum Ausdruck einer Art Herrschaft über die Erscheinungen. Eine Aufnahme aus der Vogelperspektive evoziert Übersichtlichkeit, eine Aufnahme aus der Froschperspektive erschreckende Erhabenheit. Der filmische Blick ist nie ein neutraler, sondern er ist Ausdruck eines umfassenden Gesamtsystems der filmischen Narration, die dem einzelnen Bild seinen Sinn als Bedeutungsträger für etwas zuweist. Wenn im Film die Hauptfigur fröhlich ist, so ist die Stadt New York in strahlenden Sonnenschein getaucht. Wenn sie traurig ist, regnet es dem Klischee entsprechend. Die bildliche und vor allem filmische Darstellung ist dabei immer eine idealisierte – und zwar idealisiert nach der erhofften Wirkung auf den Zuschauer. Der Zuschauer wird durch seinen Stellvertreter, die Kamera, zu einem scheinbaren Herrscher in einem gefassten Tableau und alles, was diesem Gesamtzusammenhang zuwiderlaufen könnte, erscheint gar nicht im Bild. Müßig zu erwähnen, dass die moderne Filmindustrie mehrheitlich dazu übergangen ist, entsprechende Bilder gleich am Computer berechnen zu lassen. Die Realität des Bildes von Grund auf zu konstruieren scheint einfacher, als die Realität mühsam dem Idealbild anzupassen. Im Falle der Massenmedien ist dabei auf einen wesentlichen Unterschied hinzuweisen: Es gibt in ihrem Theorierahmen das picture und das image.183 Ersteres ist das materielle Bild von etwas, ob idealisiert oder nicht; zweiteres das gedankliche Bild, das sich als Kategorie bei einem Menschen bildet. Im Falle der Stadt das Gefühl für einen Ort. Dieses gedankliche Image entsteht medienübergreifend. Dass New York ein medialer Archetyp der neuen urbanen Stadtkultur wurde, liegt wahrscheinlich nicht nur an der Masse an Filmen zu New York, sondern vor allem daran, dass sich diese Filme, bei all den unterschiedlichen Pictures, die sie zeigen, ein Image teilten. Das Image ist nicht direkt im Bild sichtbar, aber es entfaltet sich als inneres Bild aus Assoziationen Rainer: Paris, in: Sander-Faes, Stephan/Zimmermann, Clemens: Weltstädte, Metropolen, Megastädte, S. 192. Es zeigt sich bei vielen Metropolen wie Babylon, Rom, Paris oder New York, dass sie einen medialen Mythos kreieren. Ob manifestiert in Weltbildern, Büchern oder Filmen: Er scheint zu einem erheblichen Teil ihre Wirkung auf Menschen auszumachen. 183 Vgl.: Mitchell, W.J.T.: Bildtheorie, S. 285.

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beim Konsumenten. Diese Assoziationen könnten sich auf Dichte, Höhe, Lautstärke, Lebendigkeit, Entfaltung, Möglichkeiten und Exzess beziehen und sich in den sich ständig wiederholenden Pictures dieses Ortes wiederfinden lassen. Mehr noch: Sie können sich auch im Ort wiederfinden. Die Motive des Images von New York, finden sich vielleicht im Film und in den Erscheinungen vor Ort, die sich vor einem Besucher entfalten. Über den Film hinaus verschmelzen so die Physis und das Mediale zu einem inneren, rein subjektiven Bild. Es entsteht eine Struktur, die sinnstiftend auf das Subjekt wirkt und die ihm sagt: das ist der Ort, und das ist der Platz für dich darin. Die Perspektive der Herrschaft vereint so Medien und gebaute Realität, indem sie die subjektive Perspektive miteinschließt und so quasi das Gesamtsystem in das Individuum spiegelt. Es erstaunt nicht, dass die Image-Schaffung eines der wesentlichen kulturellen Phänomene der Gegenwart ist. Die Darstellung von dem, was ist, unter einer bestimmten Perspektive – in einem bestimmten Licht, wodurch im Verstand des Betrachters ein Idealtypus entstehen soll. Dies ist nicht nur auf Städte bezogen, aber an ihnen zeigt es sich exemplarisch: Dass fast jede Stadt, die im globalen Netzwerk der Weltstädte Bedeutung erlangen will, mittlerweile über eine Skyline ähnlich der von New York verfügt, ist kein Zufall. Abgesehen von der wirtschaftlichen Optimierung soll dadurch bei dem Betrachter ein Image erzeugt werden, das an New York gemahnt. Der Traum von Möglichkeiten, ein vielfältiges urbanes Leben, Wachstum und Selbstverwirklichung sind die Perspektiven, die sich in Bezug auf die Städte einstellen und als Image im Verstand eines Betrachters, der ja auch immer ein möglicher Bewohner oder Investor ist, manifestieren sollen. Das subjektive Image ist damit die Utopie, die auch der Herrschaft über den Ort vorangeht. Nichts wäre ja für das Image schädlicher, als wenn es sich in der Realität nicht bestätigen würde. Schlimmer noch: Wenn es negiert würde. Eine Stadt, die in den Massenmedien als mondäner und luxuriöser Ort erscheint, aber von einem Besucher vor Ort als langweilig und verarmt wahrgenommen wird, zerbricht den Glauben an eine Perspektive, die sich als vereinender Zusammenhang über die Erscheinungen legt. Es ist im Endeffekt der Begriff des touristischen Blickes, der dieses Phänomen umschreibt.184 In der Regel sucht der Massentourist keine unentdeckten Welten, sondern die Bestätigung für 184 Hierzu der Architekt Markus Jatsch: „Wie John Urry festgestellt hat, ist Raum ein Konsumartikel geworden, der durch den Blick des Touristen verzehrt wird: eine Optik die in erster Linie Erfahrungen ‚sehen‘ will. Dementsprechend wird der Raum konfiguriert, um seinen visuellen Verzehr zu erleichtern.“ Zitat in: Jatsch, Markus: Entgrenzter Raum, S. 12. Gleichzeitig wirkt dieser touristische Blick auf die Wahrnehmung und Gestaltung von Stadt zurück: „(…) vielmehr schafft erst der Tourismus die Monumente, durch ihn wird die Stadt monumentalisiert, da im Blick des Touristen das Gebäude aus seinen ihm, dem Touristen, unbekannten Entstehungszusammenhängen gelöst und es so entzeitlicht wird.“ Zitat in: Müller, Michael/Dröge, Franz: Die ausgestellte Stadt, S. 192. Die ursprüngliche Lebendigkeit und Diversität einer Stadt kann darunter

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die bildliche Utopie, die er in den Medien und Werbekatalogen findet. Den Archetyp des Südseestrandes, der als ein Naturparadies wie der Garten Eden anmutet. Bestätigt sich dieses Image nicht in der Realität vor Ort, wo immer er auch sein mag, zerbricht dieser subjektive Glaube und der Tourist ist im Wortsinn enttäuscht. Touristenorte, zu denen ja auch Städte gehören, sind daher zunehmend bemüht, diese vorher geweckten Erwartungen auch zu erfüllen, keine störenden Elemente im Stadtbild zuzulassen und sich nach der jeweiligen utopischen Vorstellung von dem Ort auszurichten, sich wie die Kulissen Hollywoods nach den Träumen auszurichten und eine Realität zu schaffen, in der sich eine Utopie bestätigt, weil die Wirklichkeit nach deren Ansätzen konstruiert ist. Eine Welt des Images, der idealisierten Perspektive als übergeordnetes Sinnkonstrukt, die sich in allem zeigt, aber letztlich rein subjektiv wirkt.185 deutlich leiden, wie es auch der Stadtsoziologe Klaus Ronneberger anmerkt: „Unter dem ‚touristischen Blick‘ und durch eine auf Erlebnis und Entspannung ausgerichtete Konsumpraxis verwandeln sich die Zentren in Kulissenlandschaften, in denen soziale Heterogenität eher als irritierend und störend empfunden wird.“ Zitat in: Ronneberger, Klaus: Disneyfizierung der europäischen Stadt, in Bittner, Regina: Die Stadt als Event, S. 95. „Die Kulisse ist Schnittpunkt von Imagination und Architektur.“ Zitat Florian Nelle, in: Nelle, Florian: Die Welt als Kulisse, in: Harrasser, Karin/Innerhofer, Roland: Bauformen der Imagination, S. 136. Der Soziologe Henri Lefebvre weist auf die tieferliegende kommunikationstheoretische Dimension des Phänomens hin: „Wer die Stadt und die städtische Realität als System von Zeichen begreift, liefert sie folglich implizit als vollständig konsumierbare Objekte, als Tauschwert im Reinzustand, dem Konsum aus.“ Zitat in: Lefebvre, Henri: Das Recht auf Stadt, S. 102. 185 Dieses Zusammenwachsen von „Realität“ und Medien kann auch unter dem Aspekt der Simulation von Wirklichkeit mit dem Begriff des Simulacrums gefasst werden. Der Sozialanthropologe Nils Zurawski subsumiert zu diesem Diskursfeld: „Die Simulation, die Vortäuschung war schon immer ein Aspekt von Wahrnehmung (…), sie ist aber inzwischen zu der zentralen Bedingung und Faktor der Wahrnehmung von Welt geworden. Durch die alles überlagernde mediale Vermittlung von Welt, verschwimmen die Grenzen zwischen dem ‚echten‘ authentisch erlebten und den ‚gewussten‘, aber unbekannten, nicht erfahrenen Teil der Welt.“ Zitat in: Zurawski, Nils: Raum – Weltbild – Kontrolle, S. 82. Hierzu gehört auch der Aspekt, dass physische Städte und Architekturen in der Gegenwart überwiegend durch Medien wahrgenommen werden. Vgl.: Lindstrand, Tor: Everydayness, in: Doesinger, Stephan: Space between people, S. 135. Die so gemachten Erfahrungen und Vorstellungen bis hin zu daran partizipierenden Weltbildern sind also überwiegend nicht subjektiv entstanden, sondern aus 2. Hand von anderen übernommen worden. Vgl.: Boeckmann, Klaus: Unser Weltbild aus Zeichen, S. 13. Die beiden Hauptvertreter der kritischen Theorie, der Sozialphilosoph Max Horkheimer und der Philosoph Theodor W. Adorno, fassen dies so zusammen: „Die Sinne sind vom Begriffsapparat je schon bestimmt, bevor die Wahrnehmung erfolgt, der Bürger sieht a priori die Welt als einen Stoff, aus dem er sie sich herstellt. Kant hat intuitiv vorweggenommen, was erst Hollywood bewußt verwirklichte: die Bilder werden schon bei ihrer eigenen Produktion nach den Standards des Verstandes vorzensiert, dem gemäß sie nachher angesehen werden sollen.“ Zitat in: Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, S. 91. Und weiter: „Die ganze Welt wird durch die Filter der Kulturindustrie geleitet. Die alte Erfahrung des Kinobesuchers, der die Straße draußen als Fortsetzung des gerade verlassenen Lichtspieles wahrnimmt, weil dieses selber streng die alltägliche Wahrnehmungswelt wiedergeben will, ist zur Richtschnur der Produktion geworden. Je dichter und lückenloser ihrer Techniken die empirischen Gegenstände verdoppeln, um so

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Die Subjektivität ist dabei der Schlüssel. Für den urbanen Raum als Traum ist es nicht entscheidend, ob er wirklich so existiert, sondern dass er in der subjektiven Wahrnehmung existiert und dass über die medialen Bilder, in welcher Form auch immer, das subjektive Image von Urbanität entsteht. Die Stadt, die vielleicht gar nicht objektiv da ist, sondern als Idealtypus subjektive Weltkonstruktion im Individuum selbst ist. In dieser Verschmelzung von Images, Medienbildern und realen Strukturen ist die Stadt letztlich eine Haltung. Eine subjektive Perspektive. Ein urban mindset.

Medienmenschen Die Stadt ist im Menschen.186 Ihre Parameter und Inhalte schaffen das Image eines urbanen Lebenstypus: Den Stadtmenschen, der zwangsläufig nicht nur in der Stadt anzutreffen ist, sondern durch Haltung und Handlung über den Globus verteilt und somit entgrenzt ist. Diese Loslösung vom Ort der konkreten physischen Stadt geht mit einem der prägendsten Phänomene der Gegenwart einher: Den Medien.187 Ob Bücher, Filme, Games oder InstaStorys: Die Lebenswirklichkeit leichter gelingt heute die Täuschung, daß die Welt draußen die bruchlose Verlängerung derer sei, die man im Lichtspiel kennenlernt.“ Zitat in: Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, S. 134. 186 Der Soziologe J. John Palen weist auf die inhaltliche Ähnlichkeit zweier Begriffe hin: „Nonetheless, the era of cities encompasses the totality of the period we label ‚civilization‘.“ Zitat in: Palen, J. John: The Urban World, S. 4. Der Kunsthistoriker Michael Müller und der Kommunikationswissenschaftler Franz Dröge merken an: „Seit Kultur selbstreflexiv wird, seit sie sich selbst zum Gegenstand wird und man sie als Entwicklungsprojekt menschlicher Zivilisierung begreift, wird sie an die Formen städtischen Zusammenlebens rückgebunden. Kultur ist danach ein kollektiver Zusammenhang. Und das Individuum, das im Zentrum des Zivilisierungsprozesses steht, ist ein kollektives Produkt.“ Zitat in: Müller, Michael/Dröge, Franz: Die ausgestellte Stadt, S. 18. 187 Der Begriff Medien, bzw. das Medium, bezeichnete vor der Moderne eigentlich einen Mittler zur Anschauung eines verborgenen Göttlichen. Vgl.: Ströhl, Andreas: Medientheorie kompakt, S. 19. Der Medientheoretiker Andreas Ströhl interpretiert das Auftauchen des Begriffes in der Gegenwart wie folgt: „Die Wiederbelebung und Umprägung des alten Begriffes vom ‚Medium‘ haben wir dann, es muss gesagt werden, der Werbewirtschaft zu verdanken“. Zitat in: ebd., S.  20. Was nun genau der Begriff Medien umfasst, ist nicht eindeutig. Der Medienforscher Marcus Burkhardt, listet mehr als 100 Begriffe auf, z. B. Alphabet, Stimme, Wasser oder Straße, die in der Wissenschaft und von renommierten Medienwissenschaftlern schon einmal als Medium bezeichnet wurden. Vgl.: Burkhardt, Marcus: Digitale Datenbanken, S. 22. Medien werden dabei überwiegend als ein System gesehen, das einen Austausch herstellt und Informationen speichert. Hierzu der Soziologe Werner Vogd: „Die Medien erschaffen somit ein gesellschaftliches Gedächtnis, indem Gegenstände erzeugt werden, auf die man sich aus unterschiedlichen Perspektiven, von verschiedenen Kontexturen her beziehen kann. Die Bedeutung der Medien liegt damit weniger im Informationsaustausch – dies ist im Sinne der kybernetischen Informationstheorie auch gar nicht möglich –, sondern im Bereitstellen von Objekten, an die

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des modernen Menschen ist geprägt von Medien. Von immer neuen Bildern und Geschichten, die, ähnlich wie im Stadtraum, sich in immer neuen Formen manifestieren und einander in schneller Folge ablösen. Die Medienwelt ist ein stetiger Strom immer neuer Räume und sie wird, gerade durch die Koppelung an den Körper per Smartphone, zunehmend zur primären Lebenswirklichkeit des Menschen. Abseits der normierten Räume der Welt tut sich ein Paralleluniversum der Kommunikation auf. In diesem herrscht permanenter Austausch; tendenziell kommunizieren alle mit allen und das in hoher Geschwindigkeit und schneller Folge. Die vermeintlich reale Welt wird mit einem Netz aus Deutungsmustern, ob textlich oder im Bild, überzogen, in dem die Meinungen stetig variieren und alles im Fluss ist. Ein Strom aus Inhalten und Images, der das Individuum umfließt und ihm stetig neue Muster des Weltzuganges offenbart. Aus einer distanzierten Perspektive scheinen dadurch in der massenmedialen Kultur immer wieder die Fragen durch: Wer bin ich? Was ist mein Platz in der Welt? Was ist eigentlich der Sinn der ganzen Erscheinungen und Fragmente die hier so auftauchen? Es gilt hier klar zu unterscheiden zwischen einer technischen Kommunikation zur Übertragung von Information und den immersiven Bilderwelten der Massenmedien, in denen dem Menschen Personen und Orte vertraut werden, die er im realen Leben nie angetroffen hat.188 In diesem Raum dann unterschiedliche Systeme jeweils selektiv anschließen können.“ Zitat in: Vogd, Werner: Gehirn und Gesellschaft, S.  41. Gleiche Inhalte können dabei in unterschiedlichen Medien auftauchen. Der Kartograf Phillipe Rekacewicz weist darauf hin, wenn er schreibt: „Bilder allerdings liefern zeichnerische, farbige, symbolische, die Sinne ansprechende Konkretisierungen, Texte primär in Linien gefasst Abstraktionen. In den Konstruktionsweisen jedoch sehe ich inzwischen kaum noch essenzielle Unterschiede. Verschieden sind nur die eingesetzten Medien: Filme, Video, Bilder, Texte in abgestufter Intensität, Grafiken, Karten, Mapping, Tonbandaufnahmen, Erzählungen, Theater, Vorlesungen, Seminare... Immer geht es um die geeignete Komprimierung von Komplexität.“ Zitat in: Rekacewicz, Phillipe/Reder, Christian: „Weltbilder immer weiter differenzieren, Unsichtbares sichtbar machen“, in: Reder, Christian: Kartographisches Denken, S. 18. Der Kurator Anselm Franke und die Literaturwissenschaftlerin Irene Albers weisen auf den Unterschied zwischen „reiner“ Informationsübertragung und heutiger Medienkultur hin: „Wenn die anti-animistische Moderne die Welt objektivierte, verdinglichte und entzauberte, so war das Programm der modernen Massenkultur noch immer dasjenige einer Subjektivierung und Wiederverzauberung.“ Zitat in: Franke, Anselm/Albers, Irene: Einleitung, in: Albers, Irene/Franke, Anselm: Animismus, S. 11. 188 Streng genommen ist dies aber nicht so klar zu unterscheiden: „Nach Frieder Nake haben z. B. digitale Bilder eine ‚Oberfläche‘ die der Mensch sieht und eine ‚Unterfläche‘, die dem Computer vorbehalten ist und in der

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der virtuellen Bilderwelten existiert keine Realität, sondern lediglich eine geschaffene Scheinwelt; eine Welt der Simulacren, künstlicher Objekte und Orte, die aber in ihrer Künstlichkeit gar nicht mehr erkannt werden müssen, oder eben so gewollt werden. Eine Welt der idealisierten Bilder und Rollen, die, entgrenzt von jedem Rahmen, im Subjektiven wirken.189 Im klassischen Theater z. B. war immer klar, dass der Schauspieler eine Rolle spielt. Die Theaterbühne ist nicht die Wirklichkeit, sondern eine Interpretation und in ihrem Rahmen klar auf die Bühne beschränkt und beendet, wenn der Applaus erklingt. In der Welt der Massenmedien allerdings verschwindet diese Rahmung. Da Medien zur Quelle des Bildes von der Welt werden – das individuelle Selbstbild formen – werden sie selber zu der Welt; zumindest tendenziell. Das, was Wirklichkeit sein könnte, wird abgelöst durch ein idealisiertes Bild der Wirklichkeit. Dies betrifft nicht nur die optische Idealisierung des Dargestellten, seien es Personen oder Räume, sondern auch die bewusste Konstruktion medialer Figuren. Ein Nachrichtensprecher z. B. ist eine rein mediale Figur, die künstlich auf eine spezifische Wirkung hin konstruiert wird. Der reale Mensch dahinter schlüpft quasi in eine Rolle, die beim Konsumenten das Gefühl von Seriosität erzeugen soll. Er soll ein Ansprechpartner sein, der in dem vermeintlichen Chaos der Welt für Ordnung steht und damit der Anker und das Gegenüber des Betrachters ist. Natürlich ist das ein Schauspiel, aber das Besondere daran ist, das für den Nachrichtensprecher auch der Zuschauer nur eine Rolle ist. Er sieht ihn nicht, noch weiß er genau, zu welchen Personen er eigentlich spricht; genauso wie seine Konstrukteure, die sich auch nur indirekt erschließen können, was ihre Mediengegenüber für Menschen sind und wie sie diese ansprechen sollen.190 Im Endeffekt beide jeweils wirken können. Digitale Zeichen sind also stetig ‚doppelt interpretiert‘.“ Zitat des Medienwissenschaftlers Marcus Burkhardt, in: Burkhardt, Marcus: Digitale Datenbanken, S. 97. Dieser Befund ähnelt der Problematik der deskriptiven Bildbeschreibung, also einer rein formalen Betrachtung von Kunstwerken, da diese nicht einmal Ausdrücke wie „Steine“ oder „Mensch“ gebrauchen dürfe, wie es der Kunsthistoriker Erwin Panofsky formuliert. Die „reine“ Schau ist gar nicht möglich, da immer schon auch eine Interpretation. Vgl.: Panofsky, Erwin: Ästhetische Theorie, S. 6–8. 189 Der Psychotherapeut Reinhard Plassmann sieht dies vor allem für die frühe menschliche Entwicklung kritisch: „Real ist für Kinder das, was im Umgang mit lebendigen Objekten gespürt, gefühlt und gedacht wird. Erlebnisse mit virtuellen Objekten behalten hingegen einen virtuellen Charakter, der Erlebnisschatz der eigenen Person wird virtuell. (…) Die psychischen Repräsentanzen werden zu Pseudorepräsentanzen von Pseudoobjekten, die lebendigen Repräsentanzen werden durch ein Universum virtueller, überwiegend visueller Bilder ersetzt. Diese Virtualisierung der eigenen Person hinterlässt ein schales Leergefühl (…).“ Zitat in: Plassmann, Reinhard: Von der Bindungsstörung bis zum Bildschirmtrauma, in: Wahl, Pit/Lehmkuhl, Ulrike: Seelische Wirklichkeiten in virtuellen Welten, S. 25. Für einen umfassenden Einblick in das Thema Virtualität, vgl.: Wooley, Benjamin: Die Wirklichkeit der virtuellen Welten, passim. 190 „Weil man also trotz permanenter erkennungsdienstlicher Behandlung, trotz Marktforschung, „Psychogramming“ und so weiter, nie genau weiß, woran man bei den Konsumenten ist, versucht man sich ihrer in einer Reihe von Phantombildern zu versichern. (…) Die verschiedenen Phantombilder des Konsumenten ergänzen

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sind daher die Massenmedien keine direkte Kommunikation, sondern ein Raum der abstrakten Konstruktionen, in der idealisierte Bilder miteinander scheinkommunizieren; letztlich um das eigene Image, die eigene Konstruktion des virtuellen Seins zu bestätigen. Was abstrakt anmutet, wird anhand des Beispiels der sozialen Medien klarer. Die Abbildungen einzelner Personen in z. B. Dating Apps sind in der Regel keine einfache Darstellung der Realität. Stattdessen sind es in der Regel Simulacren. Scheinidentitäten, die ein bestimmtes Image anhand sorgsam ausgewählter Informationen und idealisierter Bilder erzeugen sollen, in der Hoffnung, dass dieses idealisierte Bild im unbekannten Raum des medialen Netzes Zuspruch in Form einer Bestätigung durch Dating, Likes oder Verkäufe findet, wodurch es sich letztlich als Realität in der Medienwelt etabliert. Dahinter steht nichts anderes als die alte Sehnsucht nach der übergeordneten Perspektive auf die Welt, in der sich der Sinn als Gesamtzusammenhang offenbart. Von dem Subjekt, oder aus einer Gruppe heraus, wird ein Bild der Welt entworfen. Ein bestimmtes Image von sich, oder von dem Sein, das sich durch das Ausmaß an erhoffter, breiter Zustimmung scheinbar legitimiert – was es in der künstlichen Welt der Medien dann auch tatsächlich tut. Der Modus der Herrschaft, die Simulation des vermeintlich Objektiven, zeigt sich hier in der Grundstruktur des Medialen. Medienerscheinungen welcher Art auch immer sind stets durch eine subjektive Vorstellung gefiltert und es ist in ihnen immer eine bestimmte Perspektive enthalten. Auch die vermeintliche Objektivität von Live-Übertragungen, unbearbeiteten Bildern und Dokumentationen beinhaltet immer die Perspektive dessen, der entschieden hat, genau diese Eindrücke zu zeigen, die Perspektive der Kamera genauso zu wählen und überhaupt die Kamera auf jenes oder etwas anderes zu richten. Medien sind Perspektive und Medialität heißt, die Realität aus einer Perspektive zu betrachten. Auch wenn es den Konsumenten durch die technischen Entwicklungen meist nicht so scheint, ist in dieser Perspektive auch die seine – die subjektive Perspektive – antizipiert. Auch ein Computerspiel, das in seinen Möglichkeiten grenzenlos erscheint, bindet den Spieler in einen bestimmten Abstand zum Bildschirm und das Korsett vorgegebener Handlungsmöglichkeiten.191 Wo vielleicht die Entwürfe für Konsum- Räume, die Wesen beschwören, die die ihnen zugedachte Bestimmungen hundertprozentig erfüllen.“ Zitat Sebastian Weber, in: Weber, Sebastian: Phantombilder des Konsumenten, in Bittner, Regina: Die Stadt als Event, S. 127. 191 Der Designwissenschaftler Thomas Hensel verweist bezüglich des Computerspiels auf eine interessante Parallele zur modernen Wissenschaft: „Spiele stellen als Spiele Aufgaben – erzählen also nicht nur Geschichten wie Bücher oder Filme – und fordern so dazu auf, Entscheidungen zu treffen. Um diese Entscheidungen treffen zu können, bedarf es der Analyse von Situationen. Spieler müssen diese Analyse (…) unausgesetzt leisten; und indem sie im Spiel ihre Spielwelt erkunden, Hypothesen über diese aufstellen, selbige überprüfen und gegebenenfalls modifizieren – ein Procedere, das, wenn man so will, auch jeder wissenschaftlichen Aktivität

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ein Bildhauer noch die Perspektive zu seinem Objekt performt, also durch stetige Bewegung im Raum aufführt, geben Medien Perspektive. Sie zwingen den Menschen in das Image eines idealisierten Rezipienten, die er natürlich annehmen oder ablehnen kann, deren Sinnstiftung er aber tendenziell unterworfen ist. In einer Welt, die durch Medien zusammenwächst, bestimmen diese das Bild von der Welt. Medien werden zu Weltbildern, und das nicht aus der einzelnen Darstellung, wie etwa einem Film, heraus, sondern in ihrer Gesamtwirkung zur Formung von Images von der Welt. Medien strukturieren die gegenstandslosen Räume unserer Welt. Sie sind eine Perspektive der Herrschaft, die in das Subjektive verlagert ist, und natürlich weckt diese potentielle Macht Begehrlichkeiten. Die Geschichte der Beeinflussung von Menschen und Gesellschaften ist lang und ein stetiger Begleiter des modernen Menschen. Immer da, wo es um das Verhandeln von Machtinhalten geht, erscheint es verlockend, die eigene Perspektive oder die einer Gruppe mithilfe der Medien zu erhöhen und sie im Wettstreit der Deutungsmuster im Vergleich zu anderen zu multiplizieren und nach vorne zu stellen. Das eigene Image in möglichst viele andere Personen zu verpflanzen – ob dies nun bewusst oder unbewusst passiert –, als Manipulation, als Propaganda, als PR, als Aufklärung, als Lüge oder Bewusstseinsschaffung; die Anleitungen zur entsprechenden Beeinflussung des massenmedialen Diskurses füllen Regalwände. Neben den Überzeugungen des Einzelnen geht es dabei immer auch um die Kontrolle über das Gesamtsystem,192 also darum, wie sich zu Grunde liegt –, lernen sie, dass eine solche Analyse unabdingbar ist. Spielen bedeutet in dieser Hinsicht immer ein Sondieren von Komplexität, wobei wesentlich ist, dass diese spielerische Sondierung virtueller Welten Lust an eroberter Komplexität verschafft.“ Zitat in: Hensel, Thomas: Rohes Entertainment oder raffiniertes Kulturgut?, in: Hradil, Stefan: Der Alltag in der digitalen Gesellschaft. S. 13. 192 Dies ist ein problematisches Gebiet, da fundierte Erkenntnis über die Verbindung von Medien und „Macht“ schwer möglich ist, und nicht selten in wilde und diffuse Verschwörungstheorien ausartet. Dennoch ist diese Beziehung tendenziell vorhanden und wird häufig kritisiert. Einer der prominentesten Vertreter solcher Kritik, der Linguist Noam Chomsky, fasst es so zusammen: „Die Erschaffung notwendiger Illusionen zur Steuerung der Gesellschaft ist so alt wie die Geschichte selbst (…).“ Zitat in: Chomsky, Noam: Media Control, S. 100. Der Begründer und Namensgeber der modernen Propaganda, Edward Bernays, sah diese mediale Beeinflussung in modernen pluralistischen Gesellschaften als Notwendigkeit an: „Die bewusste und zielgerichtete Manipulation der Verhaltensweisen und Einstellungen der Massen ist ein wesentlicher Bestandteil demokratischer Gesellschaften. Organisationen, die im Verborgenen arbeiten, lenken die gesellschaftlichen Abläufe. Sie sind die eigentlichen Regierungen in unserem Land. Wir werden von Personen regiert, deren Namen wir noch nie gehört haben. Sie beeinflussen unsere Meinungen, unseren Geschmack, unsere Gedanken.“ Zitat in: Bernays, Edward: Propaganda, S. 19. Der Philosoph Christoph Böhr beschreibt eine durchaus populäre, aber schwer zu belegende Position wie folgt: „Die Politik ist – stets – bemüht, jene Konstruktionen, die Referenzbasis des eigenen Handelns und Entscheidens sind, maßgeblich zu beeinflussen und günstigenfalls selbst zu erschaffen. Als unausweichliche Folge, die man heute all überall gut beobachten kann, mündet dieses Unterfangen in eine stetig steigende Selbstbezüglichkeit der Politik als Autopoesis: Man versucht, jene Aufgabe, die man lösen will,

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die Flächen und Räume verteilen – ob in der virtuellen oder der realen Welt. Das wird nirgends so deutlich, wie in der Welt der Dinge; genauer: anhand der Phänomene des Konsums und der Werbung. Die globale Warenproduktion ist vor allem geprägt durch eine Überproduktion. Die notwendigen Güter zum Überleben könnten – eigentlich – jedem Menschen im Überfluss zur Verfügung stehen. Aber die meisten Güter der Welt sind keine elementaren Dinge, sondern Konsumartikel; werden Objekte, die in den Räumen der Welt vielleicht noch einen Sinn besitzen, sich aber immer weiter verästelt haben und ein Nebeneinander des fast immer gleichen erzeugen. Der Luxus des guten Körpergeruchs, einst eine Insignie bestimmter Räume innerhalb eines Gesamtsystems der Herrschaft, hat sich längst auf alle Menschen ausgedehnt und die Produktion von Duftwasser ist aufgespalten in eine unüberschaubare Menge von Teilangeboten, deren Unterschiede größtenteils marginal sind. Das Prinzip der kleinen Varianz, der Aufteilung von etwas Etabliertem durch leichte Veränderung, durchdringt das globalisierte Wirtschaftssystem. In den Regalen der Supermärkte steht nicht ein Erdbeerjoghurt, sondern dutzende verschiedene, die sich vielleicht leicht im Geschmack, aber im Wesentlichen durch ihr Image unterscheiden; durch das idealisierte Bild, dass der Kunde im Kopf hat, wenn er sich für das eine oder das andere Produkt entscheidet. Diese Bilder können aus Erfahrung entstehen, sie sind in einer Medienwelt aber überwiegend medial erzeugt und konstruiert. Eine ganze Industrie ist damit beschäftig, Images zu kreieren und zu verbreiten, die anhand bestimmter Produkte gelebte Wirklichkeit werden sollen.193 Ähnlich zuvor selbst zu schaffen und als ‚Tatsache‘ zu behaupten. Für diesen Vorgang sind die Medien unverzichtbare Kombattanten. Denn sie bringen jenen Zustrom von Wahrnehmungsbildern, der die Meinungen formt, unter das Volk. Eben dies verstehen die Medien heute als ihren Auftrag, nämlich durch Wahrnehmungsbilder eine eigene Wirklichkeit zu erschaffen bzw. zu erzeugen. Medien und Politik bauen – Hand in Hand – eine Welt vermeintlicher Tatsachen, die zwar konstruierte Tatsachen sind, aber als reale Tatsachen gelten sollen: Es wird eine Referenzbasis selbst generiert, auf die man sich anschließend bezieht: eine neue Wirklichkeit, die flugs eine Verstehensillusion erzeugt, weil sie einer eigenen, auf den ersten Blick überzeugenden Kohärenz folgt: kein Wunder, denn die Definition von Reverenzbasis und Problemproposition haben den gleichen Autor.“ Zitat in: Böhr, Christoph: Kommunikation, in: Yousefi, Hamid Reza: Dienst und Verrat am Denken, in: Yousefi, Hamid Reza/Langenbahn, Matthias: Kommunikation in einer veränderten Welt, S. 56. Die kritische Theorie nach Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sieht dabei auch die Unterhaltungsindustrie integriert: „Die Kulturindustrie liefert durch ihre Produkte die Einsicht in die Ohnmacht des einzelnen Individuums. Sie zeigt die Abhängigkeit aller, die Beliebigkeit des Erfolges, die Tragik des Lebens als unausweichliche Gegebenheit und wirbt auf diesem Wege für die totale Anpassung an das System.“ Zitat Markus Baum, in: Baum, Markus: Kritische Gesellschaftstheorie der Kommunikation, S. 25. 193 Praktischer Standard der Werbung ist dabei immer die Angleichung des Selbstbildes des Kunden und dem Produktimage, da Kaufentscheidungen häufig nicht rational, sondern durch eine Stimmung und ein Lebensgefühl beeinflusst sind.. Vgl.: Reim, Jürgen: Die Praxis der Werbeplanung. S. 45; Wilk, Nicole M.: Körpercodes, S. 85. Die Kulturwissenschaftlerin Nicole M. Wilk fasst dies folgendermaßen zusammen: „Es gilt zu

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dem Touristen am Strand, der das Paradies erwartet, verschränkt die Werbeindustrie dabei das geistige Vorstellungbild von einem idealen Zustand mit Formen der Realität. Auch hier füllen die Methoden Regalwände, aber das Grundschema scheint immer durch: die Schaffung eines Images durch zahlreiche Medienbilder und dessen Anbindung an ein real erfahrbares Etwas. Eine Geschichte ist hierbei besonders beispielhaft: die Geschichte des Marlboro Country.194 Diese Marlboro Country bezeichnet dabei eine Utopie. Eine Utopie, die in den Medien verarbeitet, interpretiert und durch die gleichnamige Firma verwendet wurde, um Zigaretten zu verkaufen. Seit den 1950er Jahren wurde diese Utopie benutzt, um beim Kunden ein Image zu erzeugen, einen gewünschten Idealzustand, der durch das austauschbare, letztlich – im Vergleich zu anderen gleichen Produkten – beliebigen Konsumproduktes der Zigarette Wirklichkeit werden soll. Es ist dabei eine Blaupause zur Markenbildung geworden, zur Schaffung eines bestimmten Raumes in der medialen Welt, der anhand der immersiven Kraft des Images gegenüber einem Konsumenten sinnstiftende Kraft erlangen soll. Kern dieses Marlboro Country ist das Bild des autarken Mannes (explizit nicht der Frau), der durch Körperkraft selbstbestimmt in der Natur lebt und diese dominiert. Damit steht es in einem Kontrast zu der überwiegenden Lebenswirklichkeit gerade der urbanen Räume der Moderne, in denen eher ein Einpassen in vordefinierte kulturelle Strukturen Voraussetzung ist. Das hierbei bemühte Image des Cowboys war zu Beginn der Kampagne ein breites Thema in den Massenmedien. Zahlreiche Filme benutzen und interpretierten es in der medialen Welt des Wilden Westens, die überwiegend eine fiktionale Traumwelt war. Durch die stetige Wiederholung erlangt ein solches Bild aber den Rang einer Realität in der medialen Welt, und weitere Manifestationen auf Plakaten und in Werbespots legitimieren seine Bedeutung.195 Die beachten, dass Werbung nicht überzeugt, weil sie mit einem Bauchladen bunter Imagespielzeuge herumklimpert, sondern weil sich diese Teile in das Inventar der Ich-Konstruktion einpassen.“ Zitat in: ebd., S. 77. Dabei muss sie nicht als bewusste Zuwendung erfolgen, wie es auch der Werbeplaner Edward Bernays beschreibt: „Menschen sind oft von Beweggründen getrieben, die sie vor sich selbst verbergen.“ Zitat in: Bernays, Edward: Propaganda, S. 52. 194 Für eine ausführliche Beschreibung, vgl.: Kroeber-Riel Werner: Bildkommunikation, S. 159 ff. 195 Damit kann der Cowboy als ein Schlüsselbild bezeichnet werden, das der Marketingwissenschaftler Werner Kroeber-Riel wie folgt beschreibt: „Ein Schlüsselbild ist das bildliche Grundmotiv für den langfristigen Auftritt einer Marke oder einer Firma, das dazu dient, sachlich oder emotionale Angebotsvorteile im Gedächtnis zu verankern“ Zitat in: Kroeber-Riel Werner: Bildkommunikation, S. 201. Hierzu der Wirtschafswissenschaftler Gerald Prabitz: „Praktisch jeder Aspekt betriebswirtschaftlichen Handelns ist eingebettet in ein dichtes Netz von Bildern.“ Zitat in: Prabitz, Gerald: Schrift- Bild und Ökonomie, in: Hofbauer, Johanna/Prabitz, Gerald/Wallmannsberger, Josef: Bilder – Symbole – Metaphern, S. 92. Solche Bilder sind dabei nicht nur auf das Marketing beschränkt. Wie der Medienwissenschaftler Frank Hartmann schreibt, existieren in der gegenwärtigen Kultur zahlreiche solcher Schlüsselbilder die, wie z. B. das Bild der DNA, komplexe Sachverhalte illustrieren. Vor allem die moderne Naturwissenschaft habe dabei eine starke Abhängigkeit von

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Kampagne nutzte nun diese mediale Traumwelt, um anhand des Symbols der Zigarette eine Art Brücke anzubieten. Einen Übergang, mit dessen Hilfe die mediale Utopie des freien Mannes in der Natur sich anhand eines Objektes scheinbar in der Wirklichkeit manifestiert. Ob dies nun bewusst oder unbewusst geschieht, ist letztlich nicht entscheidend. Durch die Etablierung einer Marke im individuellen Bewusstsein wirkt ein solches Image handlungsaktivierend. Der Weg auf der Suche nach dem Ort der Utopie, an dem das Sein und der Mensch sinnstiftend strukturiert sind, wird ersetzt durch eine Konsumentscheidung am Zigarettenautomaten. Der vermeintlich ideale Ort, der auch nur durch seine Eigenschaft als konstruiertes Simulacrum so erscheint, scheint unterbewusst in greifbare Nähe zu kommen. Werbung bietet Utopien als Image verpackt an, die durch den Konsum temporär genutzt werden. Der Griff zum entsprechenden Produkt ist ein meist unterbewusster Griff nach der Hoffnung, dass sich dieses ideale Bild im Individuum erfüllt. Der Mensch wird kurz zum Image. Kontext und Konzept vereinen sich im subjektiven Moment. Nun ist es natürlich so, dass der Mensch, von dem in diesem Text immer gesprochen wird, keine statische Entität ist. Es gibt nicht den Menschen. Das einzelne Individuum durchläuft während seines Lebens zahlreiche Räume. Es gewinnt an Erkenntnis und ändert sein Weltbild sowie sein Handeln nicht nur intrinsisch, also aus sich selbst heraus, sondern im Wechselspiel mit der Welt und vor allem im Austausch mit anderen Menschen. Der Mensch ist immer auch ein Teil seiner Umgebung, die auf ihn einwirkt und ihn teilweise in seinen Grundansichten ändert und prägt. Es ist, allgemein gesprochen, die Sozialisation, die sich dahinter verbirgt. Der Mensch erkennt, dass er nicht alleine, sondern Teil einer Gruppe ist und mit dieser Gruppe tritt er in Kommunikation, um sich, die Gruppe und letztlich seinen Platz in ihr zu definieren. In einer Welt nun, die nicht mehr nur auf der Realität und dem persönlichen Kontakt beruht, werden auch die Medien und ihre Inhalte Teil der Sozialisation. Auch die Medienrealität wird Teil der eigenen Weltbildung.196 Visualisierungstechniken entwickelt. Vgl.: Hartmann, Frank: Mediologie, S.  52. Der Kunsthistoriker W.J.T. Mitchell merkt zum allgemeinen Charakter des Bildes an: „Bilder leben in genealogischen und genetischen Serien, reproduzieren sich über die Zeit und wandern von einer Kultur zur anderen.“ Zitat in: Mitchell, W.J.T.: Bildtheorie, S. 293. Auch der Videokünstler Bill Viola beschreibt dies ähnlich: „Bilder, die die Fähigkeit zum Überleben besitzen, nähren Körper und Seele über Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende hinweg. (…) Nur die wenigsten professionellen Bildermacher sind überhaupt bereit, sich über tief greifende Langzeitwirkungen ihrer Bilder Gedanken zu machen, geschweige denn Verantwortung dafür zu übernehmen.“ Zitat in: Rodenstein, Marianne: Globalisierung und ihre visuelle Repräsentation in europäischen Städten durch Hochhäuser, in: Faßler, Manfred/Terkowsky, Claudius: Urban Fictions, S. 96. 196 Der Architekt Markus Jatsch kommentiert die Dominanz der medialen Welten mit den Worten: „Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die visuelle Lebensumwelt durch die zunehmende Dominanz von Informations- und Kommunikationstechnologien geprägt. Die damit einhergehende Reizüberflutung insbesondere auf der visuellen Wahrnehmungsebene durch Bilder, Werbebotschaften und Nachrichteninformationen hat dabei auch Auswirkungen auf die Wahrnehmungsmöglichkeiten von Raum. Diese werden durch die eindeutige Ziel-

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Dies kann bewusst und unbewusst erfolgen – vielleicht im Nacheifern eines Popidols in Habitus und Gestus oder der indirekten Orientierung an bestimmten Rollenmodellen und Strukturen –, aber es ist ein Modus, der in der individuellen Entwicklung zunehmend Bedeutung erlangt. Der Mensch orientiert sich nicht mehr nur an seinem direkten Umfeld, sondern auch an medialen Gruppen, von denen er ein Teil wird; vor allem, wenn er sich in sozialen Netzwerken selbst ein Image erschafft und ein Medium wird. Medien schaffen soziale Gruppen und das Individuum wird Teil von „imaged communities“, die aus Medien erlernt werden, aber vor allem erst in seinem Selbstverständnis existieren.197 Auch die Werbung als fundamentale mediale Praxis wirkt sich so auf die Sozialisation aus. Ursprünglich ist die Kommunikation der Massenmedien, wie wir gesehen haben, eine Kommunikation zwischen Unbekannten. Der Nachrichtensprecher weiß nicht, zu wem er spricht, und verfügt deswegen über ein „neutrales“ Image. Aus Sicht der Werbung ist dies fatal, da Werbekommunikation am besten funktioniert, wenn sie direkt ist und wenn der Konsument das Gefühl hat, das genau er gemeint ist; wenn das Image des Produktes sich passgenau in sein Weltbild einfügt; wenn er mit dem Werbeimage kommuniziert und sich mit ihm eine soziale Gruppe teilt. Es ist beobachtbare Praxis, dass vor allem die Werbung dazu übergegangenen ist, auf dieser Grundlage direkt soziale Gruppen zu kreieren und diese mit einem bestimmten Objekt des Konsums zu kombinieren; oder gleich Personen als Simulacren aufzubauen, die als Influencer eine intime soziale Gruppe mit dem Konsumenten bilden. Der frustrierte Jugendliche kann sich als Teil einer medialen Gruppe fühlen, wenn er einen bestimmten Turnschuh kauft; die einsame Jugendliche, wenn sie in den sozialen Netzwerken eine scheinbare Nähe zum Leben eines Imageträgers aufbaut richtung der einströmenden Botschaften und Aussagen zunehmend vordefiniert, es entsteht eine Entmündigung des Betrachters.“ Zitat in: Jatsch, Markus: Entgrenzter Raum, S. 8. Auch schon Edward Bernays sah dies ähnlich: „Die Alphabetisierung sollte den gemeinen Bürger dazu befähigen, seine Angelegenheiten selbst zu regeln. Durch Lesen und Schreiben sollte sich auch sein Geist so entwickeln, dass er zum Regieren fähig wäre. Aber statt den Geist zu beflügeln, hat ihn die Alphabetisierung dem Einfluss von Prägungen ausgesetzt: Druckerzeugnissen voller Werbeslogans, Leitartikel, wissenschaftlicher Erkenntnisse, den Trivialitäten der Boulevardpresse zusammen mit tradierten Denkmustern. Zum eigenständigen Denken kommt es dabei eher selten.“ Zitat in: Bernays, Edward: Propaganda, S. 27. Der Neurophysiologe Wolf Singer beschreibt den Prozess der medialen Komplexität neutraler: „Die nächste Stufe der Komplexitätszunahme resultierte dann aus den hochentwickelten Kommunikationsmöglichkeiten von Menschen. Dank dieser können Menschen komplexe soziale Netzwerke ausbilden, die dann ihrerseits zur Emergenz neuer Qualitäten führen, den sozialen Realitäten.“ Zitat in: Singer, Wolf: Komplexität und Bewusstsein, in: Klempt, Eberhard: Explodierende Vielfalt, S. 235. 197 Hierzu die Stadtforscher Georgia Butina Watson und Ian Bentley: „Imagined communities, after all, are carried only in their members’ minds.“ Zitat in: Watson, Georgia Butina/Bentley, Ian: Identity by Design, S. 11. Vgl.: ebd., S. 8. Vgl.: Bittner, Regina: Die Stadt als Event, in: Bittner, Regina: Die Stadt als Event, S. 17.

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und die Produkte, die dabei unterschwellig angepriesen werden, kauft. Der Vorstadtbewohner kann sich kosmopolitisch fühlen, wenn er das mondäne Leben des filmischen New Yorks im Fernsehen konsumiert und sich dabei mit den als richtig assoziierten Zeichen aus dieser filmischen Realität schmückt. Diese Auswirkung von Medien und Werbung auf die empfundene Gruppenzugehörigkeit des Menschen ist ein weites Feld. Da es sich um ein umfassendes Phänomen handelt, erscheint es fast aussichtslos, jeden einzelnen Aspekt zu beschreiben, wobei die Frage, was denn nun „echt“ sei und was „konstruiert“, erschwerend hinzukommt. Dennoch bleibt festzuhalten, dass Medien soziale Gruppen erzeugen und subjektive Weltbilder durch Lifestyles prägen können.198 Dadurch entsteht mitunter der Druck oder Anreiz, das individuelle Leben nach Images, Rollenmodellen und Konsumgütern einer spezifischen medialen Perspektive zu gestalten. Viele dieser Lifestyles werden dabei in ihrer Künstlichkeit vielleicht gar nicht erkannt, und was wie eine „authentisch“ gewachsene Lebenskultur erscheint, ist mitunter am Reißbrett der Medienplaner und Werbefachleute konstruiert worden. Es sind damit mitunter perfekte Bilder, Images die mit einer Realität verwechselt werden, zu denen sich der Mensch positioniert und anhand derer er sich sozialisiert. Dabei ist es in der Regel nicht nur ein Lifestyle, ein Image zu dem er sich zugehörig fühlt. Die Welt der Gegenwart ist eine multipolare Welt und auch die Lebensrealität des Menschen ist in großen Teilen eine multipolare. Das Individuum durchwandert verschiedene soziale Räume zwischen Arbeit und Privatleben, und jeder Raum verfügt über Images und Rollenmodelle, zu denen der Konsum von Objekten Zugang gewährt. Das Nebeneinander der unterschiedlichen Lifestyles wird durch die sozialen Medien noch einmal deutlich verstärkt und begünstigt ein Patchwork des individuellen menschlichen Selbstbildes anhand von Images und Konsumgütern.199 Es ist ein 198 Die Soziologen Ronald Hitzler und Michaele Pfadenhauer beschreiben den Begriff Lifestyle wie folgt: „Style ist somit vom Stil her zu begreifen, von Lebensstil, bzw. von dessen konsumbezogener und konsumgestützter Variante: vom Lifestyle her. Diesen ihren jeweiligen Lifestyle vermitteln die Menschen sich über medial transportierte Sprachcodes, über Körperzustände bzw. Körperverfassungen, über Kleidung, Frisuren und Accessoires, über Gestaltung und Ausstattung ihrer Lebensräume, über ihre medial gespiegelten Verhaltensformen usw. Der Begriff ‚Lifestyle‘ meint also die ‚ästhetische‘ Gestaltung des Lebens unter medial beeinflusster Nutzung von Konsumchancen. Im Lifestyle wird tendenziell alles mit allem integriert. Infolgedessen löst sich im Lifestyle die Grenze zwischen Konsumkultur und Kulturkonsum ebenso auf wie die zwischen Haupt- und Gegenkultur. Unter anderem erscheint (…) auch die sogenannte Kulturindustrie durchaus nicht mehr vorwiegend als manipulationsverdächtiger Komplex von Kommerz- oder gar Machtinteressen. Sie wird vielmehr zum integralen Bestandteil einer sich in alle Lebensregungen hinein erstreckenden, aktiven Konsumkultur.“ Zitat in: Hitzler, Ronald/Pfadenhauer, Michaele: Raver & Styler, in: Faßler, Manfred/Terkowsky, Claudius: Urban Fictions, S. 126. 199 Die Kulturwissenschaftlerin Martina Zschoke hierzu: „Identität wird zu einer Hyperlink-Angelegenheit aus verschiedenen Bestandteilen. Genau wie das Internet aus der nahezu unbeschränkten Integrationskapazität

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Spiel mit Identitäten – ein stetiger Wechsel der Räume – ein Zusammengehen von Medienrealität und realer Umgebung in der Selbstwahrnehmung und letztlich ein Leben in Rollen vor ständig wechselnden Hintergrundbildern.

Rollenspiele Diese Rollenspiele der Gegenwart, die mit einem stetigen Wechsel der Identität einhergehen, sind dabei nicht nur auf die Massenmedien beschränkt. Stattdessen sind sie eigentlich der grundlegende Mechanismus einer durch das Prinzip der Herrschaft strukturierten Welt.200 Die Welt ist unterteilt in ein Nebeneinander aus Räumen, die anhand der ihnen zugedachten Gegenstände dem Menschen spezifische Handlungsweisen vorgeben. Diese Handlungsweisen, also das Rollenverhalten, wird nicht nur durch Medien transportiert, sondern war durch die Geschichte hindurch eher ein Prinzip des direkten Austausches zwischen Menschen. Es ist das klassische Schüler-Lehrer-Prinzip, dass sich dahinter verbirgt: Ein Mensch findet sich in einen Raum ein, wird von Inhalten besteht, verfügt auch der Mensch über eine nahezu unbeschränkte Integrationsfähigkeit von Lebensentwürfen, Teilidentitäten, Berufen und Lebensorten.“ Zitat in: Zschoke, Martina: The multiverse universe, in: Eckardt, Frank/Zschocke, Martina: Mediacity, S. 19. Der Philosoph und Anthropologe Jos de Mul verweist dabei auf den kommerziellen Aspekt: „Personal identity is no longer regarded as a fact, but rather as a never-completed task. Postmodern society is rather like a supermarket of life styles, in which individuals are expected shopping around in order to (re)combine their own identity.” Zitat in: Mul, Jos de: Cyberspace Odyssey, S. 161. 200 Das Phänomen der Rollen die ein Mensch aufführt, erstreckt sich nicht nur auf die Gegenwart. Schon der Dichter William Shakespeare ließ eine seiner Figuren, wenn auch bezogen auf den Alterungsprozess des Menschen, feststellen: „All the world’s a stage, And all the men and women merely players; They have their exits and their entrances, And one man in his time plays many parts (…).“ Zitat, in: Shakespeare, William/Geisen, Herbert/Wessels, Dieter: As You Like It – Wie es euch gefällt, S. 94. Friedrich Nietzsche sieht Rollenverhalten als Bedingung für eine spezifische menschliche Gesellschaft, das er dahingehend zusammenfasst: „Jeder in Einer Sache überlegen. – In zivilisierten Verhältnissen fühlt sich Jeder jedem Andern in Einer Sache wenigstens überlegen: darauf beruht das allgemeine Wohlwollen, insofern Jeder einer ist, der unter Umständen helfen kann und deshalb sich ohne Scham helfen lassen darf.“ Zitat in: Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches, in: Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Also sprach Zarathustra. Jenseits von Gut und Böse, S. 321. Auch in den Träumen von „perfekten“ Gesellschaften wie bei Thomas Hobbes sind daher Personen und ihre Rollen immer auch unter funktionalen Aspekten definiert. Vgl.: Hobbes, Thomas: Leviathan, S. 142–144. Es eint aber all diese Rollen, dass sie nicht „aus sich selbst“ heraus definiert sind, sondern immer in der Relation zu anderen Rollen. Hierzu wieder Friedrich Nietzsche: „Bedingung des Heroentums. – Wenn Einer zum Helden werden will, so muß die Schlange vorher zum Drachen geworden sein, sonst fehlt ihm sein rechter Feind.“ Zitat, in: Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches, in: Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Also sprach Zarathustra. Jenseits von Gut und Böse, S. 319.

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vielleicht Schmied und verfeinert seine Rolleninterpretation im Laufe seines Lebens. Im direkten Austausch gibt er seine Erkenntnisse, seine Rolle in der Welt an einen Schüler weiter, der wiederum dem gleichen Weg folgt. Obwohl natürlich die aufgeklärte Pädagogik verstärkt ein Erkennen der übergeordneten Perspektive in den Vordergrund stellt, ist dies doch ein Modus, der seit dem Beginn der hier beschriebenen Kultur vorherrschend ist. Der unerfahrene Mensch betritt die objektivierte Welt und muss seine Rolle in ihr– zur vermeintlichen Sicherung seiner Existenz – anhand der Rollenkonzepte, die ihm, gebunden an unterschiedliche Gruppenrelationen, als vorgefertigte Lebensentwürfe dargeboten werden, finden. Dabei definiert überwiegend die Rolle das Objekt der öffentlichen Person, nicht die Person die Rolle. Die Unterschiedlichkeit der Menschen kommt hier zum Tragen, aber sie hat auch eine stetige Ausdifferenzierung der unterschiedlichen Rollenmodelle und Räume bewirkt. Im Selbstverständnis der modernen Welt gibt es für jeden Menschen eine Perspektive, eine Rolle, die seinen grundsätzlichen Neigungen und Möglichkeiten entspricht. Die arbeitsteilige Welt schafft dadurch eine Masse an Differenzierung der Räume, nicht nur aus Notwendigkeit des Gesamtsystems, sondern auch aus der Erwartungshaltung des Menschen nach der Sicherung seiner Existenz und seinem Bedürfnis nach seinem Platz in der Welt heraus – Arbeit als Lebensstruktur und -sinn. Es sind die Mechanismen von Bildung und Beruf, die dem Menschen schon früh eine Perspektive und Struktur geben, die ihn auf eine bestimmte Rolle vorbereiten.201 Diese Rollen erfordern bestimmte Denkstrukturen, eine bestimmte Benutzung des Verstandes oder des Geistes als Werkzeug, um ihnen gerecht zu werden. Im Rollentraining wird der Mensch zur Rolle, aber er verliert auch mitunter sein Bewusstsein für sie. Unbewusste Entscheidungen, die ihm die Räume vorgeben, werden mit bewusstem Wissen verwechselt, während der Mensch zum Objekt der Rollenperspektive wird. Der stetige Drang nach weiterer Perfektionierung, die Sehnsucht nach 201 Auch im Erlernen von Inhalt scheint die Vermittlung eines z. B. „objektiven“ Wissens immer mit dieser sozialen Funktion einherzugehen. Der Biologe Humberto R. Maturana bemerkt hierzu pointiert: „Das Kind in der Schule lernt nicht Mathematik, sondern es lernt, mit einem Mathematiklehrer zusammenzuleben.“ Zitat in: Maturana, Humberto R./Pörksen, Bernhard: Vom Sein zum Tun, S. 135. Diese soziale Funktion scheint vor allem in arbeitsteiligen Gesellschaften von konstituierender Bedeutung zu sein. In Anlehnung an den Soziologen Niklas Luhmann schreibt der Medientheoretiker Norbert Bolz: „Ich kann mit Lehrern, Ämtern usw. kommunizieren, weil ich sie nicht als Person verstehen muss.“ Zitat in: Bolz, Norbert: Am Ende der Gutenberggalaxie, S. 57. Die Rolle erleichtert dadurch die funktionalen Abläufe, aber sie kann sich vielleicht auch psychologisch erklären lassen. Die Rolle grenzt die erwartbaren Reaktionen des Gegenübers ein. Er wird durch die Rolle berechenbar. Ein Schüler kann sich vor seinem Lehrer fürchten, aber nur in einen bestimmten objektbezogenen Rahmen wie z. B. bei schlechten Noten. Eine umfassende, diffuse Bedrohung, wie sie die Angst definiert, entsteht dabei (idealerweise) erst einmal nicht. Zum Verhältnis von Angst und Furcht vgl.: Burmeister, Christoph T.: Der Affekt Angst und die (Soziologie der) Gegenwartsgesellschaft, in Martin, Susanne/Linpinsel, Thomas: Angst in Kultur und Politik der Gegenwart, S. 29.

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dem Hinterlassen eigener Spuren in den Räumen der jeweiligen Gruppe, begünstigt eine immer weitere Ausdifferenzierung und Komplexitätsschaffung, die mit einer höheren Abgrenzung zu anderen Gruppen einhergeht. Unterschiedliche Habitus und die Bildung bekräftigen die innere Geschlossenheit von Räumen, die Legitimierung der Rolle und damit die Berechtigung der vermeintlich selbst gewählten Existenz. Aber natürlich ist der moderne Mensch nicht nur eine Rolle. Er ist meist nicht nur sein Beruf, sondern wechselt zwischen verschiedenen Lebensrollen und damit Perspektiven. Das klassische Verständnis von einer Rollenidentität hat sich in der pluralistischen Welt längst gewandelt und ist einer Abfolge oder einem Nebeneinander gewichen. Der Schmied ist nicht mehr nur ein Schmied. Er ist vielleicht auch Vater, Ehemann, Bürger, Fußballspieler, Onlinerollenspieler, ehrenamtlicher Vereinsvorsitzender, Reiseblogger und führt nebenher ein Startup für Kunsthandwerk. All diese unterschiedlichen Tätigkeiten gehen mit bestimmten Rollenerwartungen einher, die mal mehr oder weniger explizit in ihnen angelegt sind. Alle Rollen verfügen über jeweils ihnen zugeordnete Objekte und Räume. Der Schmied braucht die Schmiede und den Hammer, der Reiseblogger die Berge und die Kamera, der Onlinerollenspieler das Spielfeld und seine entsprechend ausstaffierte Figur. Die Identität des Einzelnen teilt sich auf, prozentual dazu, wie oft er sich in den entsprechenden Räumen aufhält und wie sehr er sich mit ihrem Image identifiziert und natürlich die zugeordneten Dinge konsumiert. Die jeweiligen Rollen bedingen diese Aufteilung sogar noch. In dem gesamten Baukasten der Rollenfiguren scheint sich keine ganzheitliche zu finden; keine, die auf die gesamten Erfahrungen eines menschlichen Lebens passt. Schon der klassische Ansatz der Moderne ist ja eine Dualität von Arbeit und Freizeit: Das eine bedingt das andere und eine singuläre Existenz nur in einem führt wahrscheinlich zu einem schnellen Tod durch Überarbeitung oder Verhungern. In den zeitgenössischen Rollenbildern ist dies noch potenziert. Die Parzellierung der Welt spiegelt sich in der Parzellierung des einzelnen Menschen. Dadurch entsteht ein Ungleichgewicht, ein weiterer Zwang zur Kommunikation und letztlich die Frage nach dem Zusammenhang. Ein Zusammenhang, der mitunter in den Utopien der Medien und ihren Images vermutet werden kann. Ein neues Rollenbild, das anhand der Dinge konsumiert und nun endlich das Mosaik des eigenen Lebens zu einem sinnhaften Ganzen vervollständigt. Der Mensch passt sich durch das Performen von verschiedenen Rollen den Images an, die hinter ihnen stehen. Dadurch wird der jeweilige Sinn zur Welt, die hinter diesem steht, ein Teil von ihm und die externen Selbstbilder verlagern sich in die subjektive Empfindung. Im Idealfall ergänzen sich diese und schaffen etwas Neues, Originelles; aber vielleicht blockieren sich die Rollenbilder, die ja gesucht und geprägt werden, auch gegenseitig. Hinzu kommt, dass diese Rollenbilder in der Regel nicht klar definiert sind. Was einen guten Fußballer definiert ist vielleicht schnell 132

erklärt; aber was ist das ideale Rollenmodell für eine Mutter? Die Kommunikation darüber wie solche Rollen zu füllen seien, schafft dabei noch einmal zusätzliche Komplexität. Des Weiteren ist jede Rolle erst einmal subjektiv, ein Selbstbild und ein Eigen-Image. Als Lifestyle ergeben sie erst einmal nur im Individuum einen Sinn, aber damit sind sie auch potentiell beliebig und Behauptung. Wie gut jemand eine Rolle erfüllt, oder diese Rolle im Gesamtzusammenhang auch wirklich aufführen darf, ist von außen betrachtet meist schwer ersichtlich. Die Rollen sind nicht fix und in ihrer Qualität erst einmal nicht direkt ersichtlich. Sie brauchen Strukturen in der Realität, um sie zu definieren und Bestätigung des Erfolges in der gesellschaftlichen Welt. Es ist eine Notwendigkeit zum Konsum, die sich dort auftut. Der Fußballer kann seine Rollenerfüllung vielleicht noch mit Pokalen und Medaillen zeigen, da der Raum, in dem er sich bewegt, sehr klar definiert ist. Der erfolgreiche Unternehmer z. B. muss dies indirekter tun – vielleicht durch den Erwerb von teuren Uhren, die im Wert steigen, je umfassender er zu seiner Rolle wird. Der Bürger zeigt vielleicht seine Teilnahmebereitschaft an der Gesellschaft durch die Übernahme von Verantwortung an, während der Familienvater seine Rollenerfüllung findet, indem er den Raum für seine Familie durch hochwertige Architektur und nach dem persönlichen Traum vom guten Leben gestaltet.202 Wie auch immer: Die Rollen sind eng verbunden mit den Dingen und den unterschiedlichen Räumen eines Gesamtzusammenhanges, die durch sie ausgeschmückt und ausstaffiert werden. Es ist die individuelle Sinnstiftung durch Produktion und Konsum, die sich in diesem Zusammenhang offenbart, und aus deren Utopien der idealisierten Images und Rollenbilder sich das gegenwärtige Leben überwiegend zusammensetzt.203 202 Die Produktion von Räumen ist dabei sehr eng verzahnt mit diesen Träumen, die ja auch mitunter von entworfenen Medienwelten beeinflusst sind. Ein Kreislauf aus der Schaffung von Rollen und dem Performen von Rollen kann entstehen. Der Architekt Wolfgang Meisenheimer weist darauf hin, wenn er das abstrahierte Menschenbild der Entwerfer von städtischen Großsiedlungen postuliert: „Der ideale Bewohner der gebauten Megastrukturen ist ein Kunstmensch, dessen Zeitbewusstsein, Retention und Protention, Teil einer manipulierten Gegenwart ist.“ Zitat in: Meisenheimer, Wolfgang: Der Rand der Kreativität, S. 102. 203 Der Soziologe Pierre Bourdieu sieht die Gesellschaft, im Gegensatz zu Karl Marx, als ein Feld an, in dem sich der Mensch zuallererst subjektiv positioniert: „Es existieren keine sozialen Klassen (…). Was existiert, ist ein sozialer Raum, ein Raum von Unterschieden, in denen die Klassen gewissermaßen virtuell existieren, unterschwellig, nicht als gegebene, sondern als herzustellende. (…) Die soziale Welt umfaßt mich als einen Punkt. Aber dieser Punkt ist ein Standpunkt, das Prinzip einer Sichtweise, zu der man von einem bestimmten Punkt im sozialen Raum aus kommt, eine Perspektive (…). Der soziale Raum ist eben doch die erste und letzte Realität, denn noch die Vorstellungen, die die sozialen Akteure von ihm haben können, werden von ihm bestimmt.“ Zitat in: Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum, symbolischer Raum (1989), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 365 f. Der Psychoanalytiker Jacques Lacan präzisiert die Bedeutung des Subjektes dahingehend: „ (…), daß in der Beziehung zwischen dem Imaginären und dem Realen und in der Konstitution der Welt, wie sie daraus resultiert, alles von der Stellung des Subjektes abhängt.“ Zitat in: Lacan, Jacques: Die Topik des Imaginären (1954), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 219.

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Das Leben des einzelnen Menschen ist dadurch strukturiert, und zwar nicht durch eine externe Herrschaft, die ihm seinen Platz zuweist, sondern in seiner subjektiven Wahrnehmung. In den Rollen die er einnimmt, von der Gesellschaft als Perspektiven und Möglichkeiten einfordert und auch gestellt bekommt.204 Die Herrschaft wird immanent. Sie ist von „Außen“ in das Individuum selbst verlagert. Eine scheinbar objektive Perspektive wird zur Selbstsicht und damit zum Teil eines subjektiven Empfindens und einer subjektiven Weltwahrnehmung.205 Der Mensch wird zum Schauspieler seines eigenen Lebens und orientiert sich an den Rollensystemen, die ihm im sozialen Umfeld, ob zwischenmenschlich oder medial, entgegentreten. All diese Lifestyles eint dabei, dass sie immer vorgefertigte Systeme sind. Sie sind Konzepte und damit eine Perspektive, die zumindest in einem bestimmten normierten Raum dominant ist. Auch der Mensch wird so normiert. Er wird zu einer Agglomeration von Objekten aus sich selbst heraus. Die Dinge die ihn umgeben, spiegeln sich in ihm; aber der vermeintliche Gesamtzusammenhang, die umfassende Perspektive, das allgemeine Sein stellt sich unter diesen Vorzeichen nicht ein. Der Mangel an Objektivität, der sich durch die Verlagerung in das Subjektive offenbart, bedarf einer weiteren, externen Perspektive. Einem Symbol für den absoluten Zusammenhang vom Empfinden, Sinn und Dingwelt: Einer Ikone.

204 Noam Chomsky verweist mit Blick auf die manipulative Wirkung der Massenmedien darauf, dass im Selbstbild die Rolle eventuell gar nicht bewusst sein muss: „Obwohl explizit zugegeben wird, daß die Öffentlichkeit getäuscht werden muß, sollte man nicht glauben, daß diese Kunst bewußt betrieben wird. (…) Vielmehr übernehmen die Intellektuellen (…) bereitwillig Überzeugungen, die den institutionellen Bedürfnissen entsprechen, und wer das nicht tut, muß sich andernorts nach einer Beschäftigung umsehen. Der Vorstandsvorsitzende eines Konzerns mag sich durchaus einbilden, daß er in jeder wachen Minute der Menschheit dient; dennoch muß er realiter Gewinne und Marktanteile erwirtschaften, weil er anderenfalls seinen Job bald los wäre.“ Zitat in: Chomsky, Noam: Media Control, S. 74. In einer Behauptung von Max Stirner zeigt sich diesbezüglich auch ein möglicher, grundlegender und umfassender Dualismus hinter den modernen Rollenbildern: „Der Zauberkreis der Christlichkeit wäre gebrochen, wenn die Spannung zwischen Existenz und Beruf, d.h. zwischen Mir, wie Ich bin, und Mir, wie ich sein soll, aufhörte;“ Zitat in: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum, S. 265. 205 Durch den subjektiven Charakter gibt es für die Rollen potentiell kein „Außen“. Schon im bekannten Schmetterlingstraum des Philosophen Dschuang Dsi drückt sich das Problem im Erkennen dieser subjektiven Sicht aus: „Einst träumte Dschuang Dschou, daß er ein Schmetterling sei, ein flatternder Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts wußte von Dschuang Dschou. Plötzlich wachte er auf: da war er wieder wirklich und wahrhaftig Dschuang Dschou. Nun weiß ich nicht, ob Dschuang Dschou geträumt hat, daß er ein Schmetterling sei, oder ob der Schmetterling geträumt hat, daß er Dschuang Dschou sei, obwohl doch

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Ikonen Der moderne Mensch führt Rollen auf, um seine Existenz zu sichern, oder um sich in seiner Existenz zu bestätigen. Ob er damit einer vermeintlich externen Herrschaft folgt, oder den Traum des guten Lebens durch sein Selbstbild in der Welt finden will, ist dabei egal, da eine Rolle – außer das eigentliche Menschsein – nicht Apriori in ihm angelegt ist. Keiner wird als Schmied oder Banker geboren. Auch das Rollenverhalten braucht die externe Perspektive und die von ihr strukturierten Räume, um sich überhaupt zu konstruieren. In der Gesellschaft der Gegenwart sind diese Räume aber in einem ständigen Wandel. Durch die Medien werden die Zuordnungen multipel und dispers und die vermeintlich klaren Sinnrelationen verwischen in einer stetigen Kommunikation über ebendiese. Der Modus der stetigen Ausdifferenzierung und Verästelung von Strukturen verstärkt dies weiter. Es gibt nicht nur eine bestimmte Rolle für einen Raum, sondern unterschiedliche Rollen des gleichen Typus, die sich teils nur marginal unterscheiden. Die stetige Fluktuation und die gleichzeitige Vervielfältigung von möglichen Rollen bewirken dabei tendenziell einen Verlust der Möglichkeit, Rollen und Räume überhaupt noch in der Tiefe und in ihrem Kontext nachzuvollziehen. Hinzu kommt noch ein weiterer Aspekt, der durch die Massenmedien erzeugt wird: Nach dem klassischen Schüler-Lehrer-Prinzip war der Lehrer immer auch ein Mängelwesen. Die Ausübung und Weitergabe seiner Methoden waren an ein Subjekt gebunden, das mehr oder weniger gelungen die Rolle verkörperte – und in diesem Mangel auch erkennbar, da menschlich war. In den Massenmedien erscheinen aber idealisierte Images. Konzepte die als Simulacren mitunter wie ein natürlicher Kontext anmuten. Ein Rollenmodell ist kein Mensch mit all seinen Mängeln, sondern ein idealisiertes Konstrukt. Ob man dieses in seiner Fiktion erkennt oder nicht: Als Ideal ist es unerreichbar. Es gibt sozusagen keinen menschlichen Meister mehr, sondern nur noch das Streben nach einem immer irgendwo vorhandenen absoluten Simulacrum. Dieses teilt sich wiederum auf in weitere Simulacren, die mal diesen und mal jenen Teilaspekt in sich vereinen und zur behaupteten Perfektion führen sowie gleichzeitig in der Kommunikation einem stetigen Wechsel unterworfen sind. In all diesen Unschärfen sind eine klare Struktur und ein klares Vorbild eigentlich kaum noch auszumachen – bis auf die Ikonen als einer Metakategorie, unter deren Vorzeichen sich die Strömungen hin zu bestimmten Punkten agglomerieren und vereinfachen. Wir leben in einer pluralen und chaotischen Welt. Das Chaos der Welt lichtet sich anhand von Ikonen, die wie Anker in zwischen Dschuang Dschou und dem Schmetterling sicher ein Unterschied ist.“ Zitat in: Dsi, Dschuang: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, S. 63.

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der stetigen Kommunikation der Massen wirken, indem sie Idealtypen für bestimmte Zustände, Räume und Rollen bilden. Die Ikonen geben dem Individuum einen simulierten Ansprechpartner, einen Referenzpunkt, mit dessen Hilfe auf bestimmte Kontexte scheinbar durch eine gebündelte, übergeordnete Perspektive geschaut werden kann.206 Ikonen sind damit der klassischen Herrschaft nicht unähnlich, aber sie haben nicht den Anspruch eines absoluten objektiven Zusammenhanges, sondern sind in ihrer übergeordneten Wirkung auf bestimmte Seinszustände, auf bestimmte Images, Rollen oder Räume begrenzt. Anders als die Objekte sind sie keine Gegenstände, sondern eine bestimmte, bündelnde Perspektive. Sie können sich aber anhand von Erscheinungen, Menschen oder Dingen sowie anhand der Perspektive auf sie, einer spezifischen Sinnstiftung, ausprägen. Ikonen können sich anhand von Menschen, Objekten, Städten und Bildern zeigen – aber ikonisch werden diese Dinge nur im Raum des Medialen, als ein konstruierter Idealtypus, in dem sich mehrere Sinnstiftungen und Images vereinen. Der ikonische Status, den z. B. New York innehat, ist nicht das Objekt der Stadt oder der Skyline, sondern es ist die bestimmte Perspektive auf das urbane Leben als Utopie des Werdens und der Möglichkeiten, die daran ikonisch ist. Ebenso der Marlboro-Cowboy als Ikone für ein bestimmtes Leben, für einen spezifischen Zusammenhang zwischen der Welt und dem Menschen, der sich in ihm perspektivisch zeigt. Oder vielleicht das Bürohochaus mit Apartment in der 100. Etage,207 206 Ikonen sind dabei dem Begriff Symbol, einem zeichenhaften Bedeutungsträger, nicht unähnlich. Schon Jacques Lacan schrieb zu diesem Phänomen von einer künstlichen Welt: „(…), daß die Außenwelt – was wir die reale Welt nennen und was nichts anderes ist als die vermenschlichte, symbolisierte Welt, geschaffen durch die vom Symbol in die primitive Realität eingeführte Transzendenz (…).“ Zitat in: Lacan, Jacques: Die Topik des Imaginären (1954), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 224. Im Gegensatz zu einem Symbol ist aber die Ikone als eine Art „Symbol der 2.Ordnung“ zu begreifen. Im ursprünglichen religiösen Wortsinn sind sie nicht nur Verweise, sondern enthalten in sich selber die Essenz dessen, was sie symbolisieren. Vgl.: Dora, Veronica della: „The Heavens Declare the Glory of God“, in: Scafi, Alessandro: The Cosmography of Paradise, S. 185. Dass eine abstrakte, ja fast transzendente Kultur wie die „Wirtschaft“ häufig mit Ikonen, vor allem in Logos oder Bildern, arbeitet, erscheint naheliegend. Vgl.: Jencks, Charles: The Iconic Building, S. 13. Trotz der ikonischen Wirkung sind sie aber nach wie vor nicht die Verkörperung dessen, was sie beschreiben. Der Journalist Oliver Morton verweist z. B. kritisch darauf, dass die ikonischen Bilder der Erde seit den ersten Weltraummissionen für die Illustration eines globalen Bewusstseins verwendet werden, aber ebendiese Bilder, als Medien verwendet, gerade die gedankliche Abspaltung des physischen Planeten von der menschlich erfahrbaren Welt erzeugen, also eine künstliche Außenperspektive evozieren. Vgl.: Morton, Oliver: The Planet Remade, S. 77. Diese vermeintlich objektive Perspektive der Ikonen, die eigentlich eine subjektive Perspektive oder ein subjektives Konzept kaschiert, wird auch in einem Kommentar zum Wesen der Ikone des Architekturtheoretikers Charles Jencks deutlich: „That is the idea; icons do not have to be true, but they are best if they appeal to faith, ideals, our better self, what we want to see in the mirror.“ Zitat in: Jencks, Charles: The Iconic Building, S. 53. 207 Die Stadtforscherin Marianne Rodenstein verweist auf die weiteren Ebenen, die – neben der vermeintlich „wirtschaftlich-objektiven“ Vernunft – hinter solch baulichen Ikonen stehen: „Diese jeweils höchsten Hoch-

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als eine Ikone für den Lifestyle eines Geschäftsmannes, in dem sich die Utopie der grenzenlosen Agglomeration von Macht, Struktur und Kapital an eine archetypische Form bindet. Die Ikone ist die Bündelung unterschiedlicher Rollenperspektiven oder Lifestyles, deren unterschiedlichste Teilperspektiven sich in diesem Punkt vereinen. Dies ist ein autopoetischer Vorgang, denn eine Ikone wie z. B. ein Medienstar existiert nicht aus sich selbst heraus, sondern aus der Agglomeration der Leute, die ihn als ebensolche betrachten, und diese Ikone wirkt dann zurück in die Welt. Was ikonisch ist, bestätigt sich selbst, vor allen durch die Medien, und wirkt auf die einzelnen Rollen und Räume zurück – unabhängig von einem objektiven Anspruch. Die Wurzeln der Agglomeration von Kapital und Masse sind hier zu finden: in der Vereinigung bestimmter Perspektiven um ein rein subjektives Zentrum. Die Ikone ist der perfekte Zustand eines temporär empfundenen Selbst, eines Images oder einer Rolle, das der Mensch auf die Welt prägt. Durch den subjektiven Ansatz wird die Konstruiertheit dieser Ikone und die ihr als Idealbild innewohnende Unerreichbarkeit vielleicht nicht deutlich, sondern sie erscheint wie eine Sinnbildung hinter der Welt; zumindest für eine bestimmte Parzelle. So objektiv sie dann dadurch auch anmutet, so verkörpert sie doch keinen objektiven Sinn, sondern einen rein subjektiven, der erst in dem individuellen Glauben daran als objektiv angenommen wird. Vor allem in einer gegenwärtigen Welt, die zunehmend von abstrakten Systemen der Computertechnologie und Finanzmathematik geprägt wird, entwickeln sich vermehrt Ikonen als subjektive Schnittstellen zum vermeintlichen Begreifen dieser Prozesse. Es entsteht ein Pantheon aus unterschiedlichsten Ikonen. Diese verkörpern, einzeln oder im Wechselspiel, einen vermeintlichen, subjektiv übergeordneten Sinn, an dem sich Menschen ausrichten können um so ihre Lebenswelt durch Dinge, die diesen Ikonen zugeordnet sind, zu strukturieren. Das Individuum erschafft sich damit ein Gesamtsystem, das vermeintlich einen übergeordneten Sinn hinter der Welt verkörpert, aber nur rein subjektiv existiert. Es ist die Herrschaft des Subjektiven. Die innere Herrschaft, missverstanden als äußere Struktur. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, auf die grundsätzliche Beschaffenheit von Medien hinzuweisen. Alles, was auf den Bildschirmen erscheint, seien es Menschen, Häuser, Autos, Räume, Grafiken oder Dinge, ist an sich nicht existent. Visuelle Medien bilden keine Formen ab, keine häuser können zu Recht als sichtbare bauliche Repräsentanz der besonderen Anhäufung von Kapital in Unternehmen gelten, denn je höher ein Hochhaus ist, desto mehr Kapital ist damit auf dem in der Regel teuren Boden der Stadt verbaut. (…) Die Motive, die sich mit einer Hochhausinvestition verbinden, sind denn häufig noch andere als solche ökonomischer Rationalität. Viel Risikofreude und emotionale Beteiligung sind notwendig. Es würde jedoch nicht gebaut werden, wenn nicht auch ein großes Vertrauen in die jeweilige Stadt als Wirtschaftsstandort bestehen würde.“ Zitat in: Rodenstein, Marianne: Globalisierung und ihre visuelle Repräsentation in europäischen Städten durch Hochhäuser, in: Faßler, Manfred/Terkowsky, Claudius: Urban Fictions, S. 84.

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Strukturen. Die Gegenstände der Medienrealität haben keinen objektiven Körper. Sie sind streng genommen nur Wechsel von Licht und Farbe.208 Alles, was der Mensch in Medien zu sehen meint, ist eine Interpretationsleistung seines Gehirns aufgrund bestimmter visueller Reize und deren Abfolge. Natürlich sind diese nicht zufällig; Medien werden auf ihre Wirkung hin konstruiert und ganze Fachbereiche beschäftigen sich mit diesem Wechselspiel und liefern dazu wissenschaftliche Grundlagen und Reflexionen. Aber dennoch ist alles, was man in Medien zu sehen meint, letztlich eine Interpretationsleistung des subjektiven Verstandes und in seiner Relevanz damit auch auf diesen beschränkt. Ikonen sind daher keine objektiven Zustände, sondern gedankliche Anker und damit Projektionen, die der Mensch in das Chaos der Komplexitäten von Sinneseindrücken setzt. Sie sind eine Art Herrschaft über das wahrgenommene Sein. Eine Metakategorie der Ordnung, aus der das Individuum sich selbst eine mögliche Perspektive anbietet, die sinnstiftend wirkt. Ikonen sind damit Konzept.209 Beziehungsweise definieren sie ein mögliches Ich in einem möglichen Kontext und verschmelzen so Konzept mit Kontext. Sie schieben sich zwischen den Menschen und die Umwelt und bieten eine scheinbar gefasste und kontrollierte Realität. Einen möglichen Zusammenhang, der aber nicht im Raum des Geistes erscheint, sondern in einer Täuschung als scheinbare, externe Realität auftritt. Es ist eigentlich die absolute Normierung. Das Subjektive 208 Beziehungsweise die physische Oberfläche als Träger des gedanklichen Images. Vor allem der Schaffung von Malerei ist dies immanent bei der Frage, ab wann sich z. B. aus Klecksen und Pigmentvolumen Formen in der Wahrnehmung bilden. Hierzu stellt der Psychologe Gerald Bühring in Bezug auf den Psychotherapeuten Josef Meinertz fest: „Bilder sind sowohl wirklich als auch unwirklich. Sie stellen etwas dar, was nicht ist. Real sind nur gerahmte Leinwand, Farbe und Pinselstrich.“ Zitat in: Bühring, Gerald: Perspektive, S. 96. 209 Dieses Feld betrifft auch die Fragestellung nach dem Werk und die Bindung an den Schöpfer von Konzepten. In einer allgemeinen Annahme könnte man ein Werk als ein Buch definieren und den Autor zu einem komplett isolierten, nur aus sich selbst schöpfenden Genie verklären. Darauf, dass diese Annahme aber wohl eher nur eine Ikonisierung von Komplexitäten ist, hat vor allem der Philosoph Michel Foucault hingewiesen: „Was ist ein Werk? Worin besteht diese merkwürdige Einheit, die man als Werk bezeichnet? Aus welchen Elementen besteht es? Ist ein Werk nicht das, was derjenige geschrieben hat, der der Autor ist? (…) ist dann alles, was er geschrieben hat, alles was er hinterlassen hat, Teil seines Werkes? (…) Wie lässt sich aus den Millionen Spuren, die jemand nach seinem Tod hinterlässt, ein Werk definieren? (…) Das Wort ‚Werk‘ und die Einheit, die es bezeichnet, sind wahrscheinlich ebenso problematisch wie die Individualität des Autors.“ Vgl.: Foucault, Michel: Was ist ein Autor? (Vortrag) (1969), in: Foucault, Michel: Schriften zur Literatur, S. 240. Die Frage was denn nun ein Autor sei, beantwortet Michel Foucault folgendermaßen: „Es handelt sich um den Autor. Und zwar nicht um den Autor als sprechendes Individuum, das einen Text gesprochen oder geschrieben hat, sondern um den Autor als Prinzip der Gruppierung von Diskursen, als Einheit und Ursprung ihrer Bedeutung, als Mittelpunkt ihres Zusammenhaltes.“ Vgl.: Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, S. 19. Auch in der modernen Baukultur findet sich ein gewisser „Geniekult“ des genialen Schöpfers, zu dem der Architekt Tor Lindstrand lapidar anmerkt: „A computer program like Excel has had a greater impact on contemporary architecture than all star architects have managed together.“ Zitat in: Lindstrand, Tor: Everydayness, in: Doesinger, Stephan: Space between people, S. 135.

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wird objektiv. Die Perspektiven einer externen Ordnung werden zum Selbstbild. Die Herrschaft, verstanden als Macht über Menschen, ist damit tendenziell in den einzelnen Menschen selbst verlagert. Das Pantheon der Ikonen als abstrahierte Weltzugänge erschafft durch seine subjektive Ausprägung weitere Komplexität. Die Sichtweisen auf Räume und Dinge können so zahlreich sein, wie es Ikonen gibt. Ja, letztlich so unterschiedlich wie es Menschen und ihre Selbstbilder gibt. Die Unterschiede zwischen den Räumen der Welt werden potenziert durch die Sichtweisen auf sie, die sich in Ikonen scheinbar objektivieren. Prozesse, die sich eigentlich strukturell gleichen, werden durch bestimmte Perspektiven immer kleinteiliger auseinanderdifferenziert. Beispielsweise könnte man argumentieren, dass die Urbanisierung und die Massenmedien letztlich das gleiche Phänomen sind: Die Erzeugung von Agglomeration unterschiedlichster Perspektiven in stetiger Kommunikation. Je nach ikonischer Sichtweise, sei es als Medienexperte oder Stadtplaner, erscheinen diese als unterschiedlich, da die ihnen zugeordneten Images unterschiedlich sind. Da Images aber immer auch konstruiert sind, entsteht eine Welt der Simulacren, in denen die Grundlagen der Bausteine hinter den jeweiligen Perspektiven tendenziell verdeckt sind. Durch diese Rückprägung von vermeintlicher Objektivität aus dem Subjektiven wiederum in die Konzepte des Subjektiven entsteht ein Kreislauf. Ein sich stets wiederholender Prozess, dessen Inhalte sich zwar so sehr unterscheiden, wie es Perspektiven gibt, der aber strukturell immer der gleiche ist. Der Mensch gestaltet die Welt nach Mustern, damit sich bestimmte geistige Zustände einstellen und diese Muster werden die Welt und wirken auf den Menschen als etablierte Strukturen zurück, woraus der Mensch wieder Muster gestaltet. Das Subjektive spiegelt sich im Objektiven und wird wieder Subjektives. Ein grundlegender Dualismus, der sich strukturell nicht zu ändern scheint und der sich stetig wiederholt, weil das die Umgebung des Menschen ist, aus der er scheinbar nicht heraus kann.210 Eine gesamtgesellschaftliche Echokammer; die vermutlich immer so weiterexistiert, auch wenn sich ihre Inhalte permanent ändern. The Great Game of Civilization, das die Struktur menschlichen Lebens seit der neolithischen Revolution zu sein scheint und das sich nicht inhaltlich, sondern nur als abstrahierte Struktur und als Hypothese beschreiben lässt:

210 Die Kritik an einem daraus resultierenden Leben in einer Scheinwelt, unter welchem Begriff auch immer, ist nicht neu. Der Zen-Mönch und Autor Philip Kapleau zitiert den Begründer des Buddhismus, Buddha Shakyamuni, dahingehend: „Der Mensch jedoch, ruhelos und geängstigt, führt ein halb verrücktes Dasein, weil sein Geist, mit Verblendung überkrustet, völlig durcheinander ist. Wir müssen deshalb zu unserer ursprünglichen Vollkommenheit zurückkehren, das falsche Abbild unserer selbst als unvollständig und sündhaft durchschauen und zu unserer immanenten Reinheit und Ganzheit erwachen.“ Zitat in: Kapleau, Philip: Die drei Pfeiler des Zen, S.59.

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The Great Game of Civilization Die Menschen schauen in die Welt Und sie verstehen sie nicht Ihre Perspektiven sind begrenzt Dennoch erschaffen sie gemeinsam Im Austausch Eine umfassendere Perspektive Aber auch diese ist begrenzt Ändert sich stetig Potenziert sich Teilt sich Implodiert Und wirft die Menschen auf sich selbst zurück Die Herrschaft erscheint als Eine Manifestation der gemeinsamen Perspektiven Als die Hoffnung auf einen absoluten Zusammenhang Der sich ikonisch in der Welt manifestiert Und von dort aus die Welt gestaltet Die Welt Und mit ihr die Menschen Formt Herrschaft Deren Perspektive absolut erscheint Da die künstliche Welt nach ihrem Sinn Der Mensch selbst geworden ist sich von ihm aus stetig in die Welt prägt sich im Sein scheinbar bestätigt sind ändert und potenziert aber bleibt 156

auf den Menschen zurückwirkt in einem Kreislauf der begrenzten Perspektiven verwechselt mit der Welt Der Mensch schaut in die Welt Und er versteht sie nicht Weil er in sich schaut Und sich selbst nicht versteht Was mit der Hypothese des Great Game of Civilization umschrieben wird, beinhaltet im Endeffekt die Genese der Gegenwart. In einer langwierigen kulturellen Leistung hat der Mensch den Großteil der Erde nach seinen Vorstellungen gestaltet. Sowohl als gedankliches Konzept, gebildet aus Erkenntnis, und daraus folgend als reale Struktur, die wiederum auf ihn zurückwirkt. Man sollte annehmen, dass daraus eine Welt entstanden ist, in der die Fragen nach dem Zusammenhang und dem Platz des Menschen in der Welt beantwortet sind. Augenscheinlich ist das nicht der Fall. Man kann sich zwar Entsprechendes einreden, aber die Komplexität der Gegenwart und ihre Dynamiken zeigen deutlich, dass selbst in der vom Menschen geschaffenen Welt weder übergeordneter Sinn noch Harmonie zu finden sind. Die menschliche Entwicklung als ein Great Game of Civilization nachzuvollziehen ist vermessen und verkürzend. Natürlich gibt und gab es auch andere Ansätze, andere Formen menschlichen Lebens. Aber anhand dieser Hypothese zeigen sich grundlegende Aspekte. Ein Prinzip, das über einen bestimmten Zeitraum hinweg existiert und sich auch mal schwächer, aber zunehmend deutlicher als eine definierbare, kulturelle Welt manifestiert. Im Kern scheint sich diese menschlich geschaffene Welt, in welcher Form und mit welchem Inhalt auch immer, auf grundlegende Ansätze zurückführen zu lassen, die sich stetig wiederholen. In der Hypothese des Great Game of Civilization sind dies vier Basisfunktionen, aus denen sich die Struktur der menschlichen Welt immer wieder bildet und die sich gegenseitig bedingen. Diese vier Basisfunktionen sind: Räume, Dinge, Ikonen und Utopien. Räume sind Orte der Definition. Der Mensch schafft sie als einen bestimmten Ausschnitt von der Welt, in denen eine bestimmte Gesetzmäßigkeit gilt.211 Diese Gesetzmäßigkeit wird anhand 211 Der Kognitionswissenschaftler Wolfgang Prinz beschreibt diesen Prozess, wenn er feststellt: „Menschen sind soziale und kulturelle Wesen. Wo auch immer sie leben, begründen sie kollektive normative Systeme zur Regulation des Individualverhaltens. (…) Zu diesem Zweck muß die Struktur und Funktion des je einzelnen

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von Images festgelegt. Diese Idealtypen sind durch die Struktur des Raumes definiert und erzeugen eine bestimmte Perspektive auf etwas. Als geschlossene Bilder, quasi mit Rahmen, sind sie in ihrer Relevanz für die gesamte Welt begrenzt, aber in ihnen existiert ein gesichertes Sein, dass der Mensch als Rolle aufführen kann. Die Unterschiedlichkeit der Räume bedingt dabei ihre Gegensätzlichkeit zueinander. Abgrenzung und Rahmensetzung schaffen erst den Raum. Als Struktur sind sie ein geistiges Konzept, können aber auch in die geschaffene physische Struktur übergehen und zu Kontexten werden. Dinge sind eigentlich Werkzeuge. Werkzeuge, die zwischen dem Konzept von etwas und dem Sein vermitteln. Sie entspringen der Analyse der Schaffung der Welt anhand einer Zerlegung in einzelne Bestandteile. In Räumen sind Dinge die Verbindung zwischen der Rolle und dem Image. Sie stiften dadurch individuellen Sinn, da sie Handlungsanweisungen geben. Dinge sind nicht nur Gegenstände, sondern auch geistige Kategorien. Ob z. B. als Wort, Zahl oder Objekt zerlegen sie die Welt in Einzelteile aus einer spezifischen Perspektive. Ohne den Raum sind sie bedeutungslos. Ikonen sind die Verkörperung der Herrschaft. Sie entstehen aus einem Zusammenschluss mehrerer individueller Perspektiven zu einem gemeinsamen, umfassenden Image von etwas. Dieses Etwas kann mitunter den Anspruch von Objektivität haben, also auf eine umfassende Perspektive verweisen. Dennoch ist diese nie tatsächlich gegeben, da ihr Ursprung rein subjektiv und daher immer begrenzt ist. Als Metaperspektive bilden sie das Zentrum mehrerer Räume aus, die durch sie sinnstiftend vereint werden. Durch Konsum kann dieser vermeintlich allgemeine Sinn temporär anhand von Dingen nachvollzogen werden. menschlichen Geistes auf die Erfordernisse der kollektiven Steuerung zugeschnitten werden.“ Zitat in: Prinz, Wolfgang: Selbst im Spiegel, S. 167. Ein Merkmal dieser kollektiven Steuerung scheint dabei die Schaffung von getrennten Räumen zu sein, durch die Menschen in unterschiedliche Gruppen aufgeteilt werden. Die Teilung in „Wir“ und „Die“ scheint sich dabei mitunter weniger über Inhalte zu vollziehen, sondern sich durch die Schaffung unüberwindbarer Grenzen zwischen den Räumen zu manifestieren. Der Philosoph Zhao Tingyang formuliert zu dem Phänomen der Grenze in Bezug auf deren Relevanz in der Gegenwart folgendes: „Moderne Politik beruht auf der Grundidee des Aufteilens (…), sie setzt allerlei Arten von Grenzen (…) Um all die Grenzen zu schützen, konzentriert sich die moderne Politik auf die Suche nach äußeren Feinden, gibt es keine, müssen welche definiert werden. Diese Politik der Spaltung lässt sich überall beobachten.“ Zitat in: Tingyang, Zhao: Alles unter einem Himmel, S. 28. Der Philosoph Vilém Flusser kritisiert die so entstehende Perspektive zur Gestaltung des konkreten Raumes wie folgt: „Unser Lebensraum (…) ist Tausende von Kilometern lang und breit, aber seine Höhe übertrifft kaum einige Meter. Diese lange und breite, aber niedrige Kiste teilen unsere Raumgestalter in Unterräume auf, etwa in den Arbeits-, den Freizeit- und den Wohnraum. Bei der Niedrigkeit der Kiste ist es nicht zu verwundern, daß diese Gestalter nicht eigentlich räumlich (topologisch), sondern flächenartig (geometrisch) denken, und daß sie die Zeit in Funktionen des Kriechens von Unterraum zu Unterraum betrachten.“ Zitat in: Flusser, Vilém: Räume (1991), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 278.

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Utopien sind Konzepte zum umfassenden Sein. In ihr findet sich die umfassende Perspektive auf das Sein und den Menschen. Da auch diese aus subjektiven Perspektiven erwachsen, existieren sie als Konzept oder in klar definierten Räumen mit klar definierten Dingen. Als Idealbild stehen sie hinter den Images und den Ikonen. Als subjektive Konzepte zu einem absoluten Zusammenhang weisen sie letztlich auf das Subjekt zurück. All diese vier Funktionen wirken zusammen und sind untrennbar miteinander verbunden. Als Gesamtsystem schaffen sie im Endeffekt Sinn und bestimmen die menschliche Position. Scheinbar betten sie alles ein und erscheinen demnach als allumfassend, als ein Kosmos, der aus dem Chaos entsteht und sich dem Anspruch einer umfassenden Perspektive annähert. Die Welt, die von diesem Kosmos erschaffen wird, erscheint als Modus einer allgemeinen Existenz. Dies gelingt allerdings nur, weil sie aus dem Konzept entsprungen ist, das die Welt formt und sich dadurch in der Welt bestätigt. Elemente, die außerhalb dieses Gesamtsystems auftreten, liegen sozusagen als unerkennbar außerhalb dieser Welt und können erst Existenz erlangen, wenn sie absorbiert, angepasst und verortet wurden. Das Gesamtsystem schafft eine künstliche Welt, eine kulturelle Welt, in der scheinbar alles Sinn ergibt, da der vermutete Sinn in ihr bereits angelegt ist. Dieses System und die von ihm geschaffene Welt sind dadurch virtuell.212 Die Realität wird wahrgenommen, daraus wird ein Konzept und daraus wieder Realität. Ein selbstreferentieller Kreislauf entsteht, der in sich geschlossen ist, aber mit der allgemeinen Welt oder der Unendlichkeit kaum mehr Berührungspunkte aufweist. 212 Der Architekturtheoretiker Wolfgang Meisenheimer zur Virtualität des Raumes: „Für die topologischen Räume der Menschen gilt dasselbe (…) sie sind (…) geprägt durch virtuelle Handlungen, nicht durch graphische oder physikalische Maße.(…) der lebendige Wer eines solchen Raumes ist in einem Lebenszusammenhang gegeben, d.h. in Gefühlen. (…) Wir suchen bei jeder Raumbegegnung nach Strukturen, die willkommen sind in dem virtuellen Handlungsraum, den unsere Vorstellung gerade entwirft. Es sind erinnerte wie utopische Züge, Zukunftsmomente, die im gegenwärtigen Augenblick enthalten sind;“ Zitat in: Meisenheimer, Wolfgang: Der Rand der Kreativität, S.  17. Hierzu die Architektin Elisabeth Blum: „Wir leben niemals ausserhalb von Räumen. Diese einfache Tatsache ist der Grund dafür, dass alles Alltägliche, Spektakuläre oder gar Dramatische unserer Existenz direkt auf räumliche Erfahrung zurückgeht. Zu den Räumen zählen allerdings nicht nur deren drei Dimensionen, sondern auch alle jene ‚räumlichen‘ Phänomene, die sich unmittelbar mit den alltäglichen Wahrnehmungen des Raumes verbinden: die zugehörigen Räume der Vorstellungen, der Assoziationen, der Erfahrungen.“ Zitat, in: Blum, Elisabeth: Atmosphäre, S. 12. Raum kann demnach im Subjektiven als ein fast allumfassendes Konzept betrachtet werden, ebenso wie im wissenschaftlich Objektiven, auch wenn es relativ ist. Hierzu ein Ausspruch einer „Ikone“ neuzeitlicher Wissenschaft, Albert Einstein: „Zusammenfassend können wir symbolisch sagen: Der Raum, ans Licht gebracht durch das körperliche Objekt, zur physikalischen Realität erhoben durch Newton, hat in den letzten Jahrzehnten den Äther und die Zeit verschlungen und scheint im Begriffe zu sein, auch das Feld und die Korpuskeln zu verschlingen, so daß er als alleiniger Träger der Realität übrig bleibt.“ Zitat in: Einstein, Albert: Raum, Äther und Feld in der Physik (1930), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 101.

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Das Great Game of Civilization ist der Glaube an einen fehlerhaften Objektivismus, der als vermeintlich absolute Möglichkeit interpretiert wird. Die Welt ist noch immer da draußen, aber der Mensch zieht sich in eine selbst geschaffene Höhle zurück, die er für die Welt hält. Ein Leben in einem perfekten Bild, dessen Ränder nicht erkannt werden, da es suggeriert, keine Ränder zu haben.213 Zivilisation als eine große kollektive Illusion und Suggestion – in einer Selbsttäuschung des Menschen. Die Einheit, die er darin zu finden meint, liegt einzig in ihm. Der Sinn hinter den Dingen dieser geschlossenen Welt ist er selbst.

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Im Modus des Great Game of Civilizations lebt der Mensch in einer künstlichen Welt. Diese künstliche Welt ist nach seinen Erkenntnissen der Welt und den Konzepten zu einem guten Leben, die er daraus gebildet hat, entstanden. Dieser Prozess ist als ein autopoetischer zu verstehen. Im Akt der Kommunikation und der gesellschaftlichen Entwicklung kombiniert der Mensch seine als unzureichend empfundene Perspektive mit den Perspektiven anderer Individuen. Die daraus entstehende übergeordnete Perspektive wirkt nun durch die Menschen auf die Welt zurück und gestaltet diese. Sie ist ihrem Wesen nach aber nicht rein objektiv oder allumfassend, sondern immer unzureichend. Die geschaffene künstliche Welt ist immer eine Welt im Werden, immer mangelbehaftet und dadurch eigentlich eine Scheinwelt. Räume, Dinge, Ikonen und Utopien sind ihre prägenden Grundstrukturen. Die Welt der Gegenwart lässt sich demnach in ihren prägenden Relationenanhand dieser Aspekte begreifen. Ein wesentlicher Aspekt dabei ist die Verdinglichung. Die Schaffung von Objekten und der Ansatz, Erkenntnis zur Welt über die Objektwerdung der Welt zu generieren, hat zur 213 Friedrich Nietzsche sieht das ähnlich, wenn er schreibt: „Dadurch, daß wir seit Jahrtausenden mit moralischen, ästhetischen, religiösen Ansprüchen, mit blinder Neigung, Leidenschaft oder Furcht in die Welt geblickt und uns in den Unarten des unlogischen Denkens recht ausgeschwelgt haben, ist diese Welt allmählich so wundersam bunt, schrecklich, bedeutungstief, seelenvoll geworden, sie hat Farbe bekommen, – aber wir sind Koloristen gewesen: der menschliche Intellekt hat die Erscheinungen erscheinen lassen und seine irrtümlichen Grundauffassungen in die Dinge hineingetragen. (…) Wiederum haben Andere alle charakteristischen Züge unserer Welt der Erscheinungen – daß heißt der aus intellektuellen Irrtümern herausgesponnenen und uns angeerbten Vorstellungen von der Welt – zusammengelesen und, statt den Intellekt als Schuldigen anzuklagen, das Wesen der Dinge als Ursache dieses tatsächlichen, sehr unheimlichen Weltcharakters angeschuldigt und die Erlösung vom Sein gepredigt.“ Zitat in: Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches, in: Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Also sprach Zarathustra. Jenseits von Gut und Böse, S. 32 f.

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Komplexität geführt. Da Dinge nie absolut sind, werden sie als Kategorien immer kleinteiliger und immer spezifischer. Anstatt den Kreis als eins zu begreifen, wird er mithilfe der Zahl PI annäherungsweise immer weiter beschrieben und die Reihung der Zahlen hinter dem Komma geht bis in die Unendlichkeit. Ähnlich verhält es sich mit den Kategorien und Dingen der Gegenwart. Ob Berufsgruppen, Forschungszweige, Technik, Selbstbilder, Freizeitangebote und allgemein der Kram der gegenwärtigen Welt: Alles erschafft scheinbar aus sich selber heraus Komplexität. Komplexität durch eine immer kleinteiligere und spezifischere Perspektive. Da Raum und Dinge verbunden sind, werden so auch die Räume immer kleinteiliger und komplexer. Ob dies nun die physischen Räume sind oder die immersiven Welten der Medienkultur, ist letztlich unbedeutend, da beide diesem strukturellen Effekt unterliegen und in ihrer Wirkung auf die menschliche Weltbildung eigentlich das gleiche Phänomen sind, nur in einer anderen Ausprägung. Medien und gebauter Raum sind eigentlich das gleiche und durch sie werden die Träume und Utopien zu Objekten, die in immer leicht unterschiedlichen Interpretationen ewig gleicher Konzepte mal hier, mal dort auftauchen und wiederum Komplexität schaffen. Allerdings begünstigen Medien die Bildung von Ikonen. Das Image des Übergeordneten, an sich Makellosen, ist in der technisch simulierten Welt der Medienräume leichter aufrechtzuerhalten als in den immer auch den Begrenzungen durch Mensch und Werkzeug unterliegenden Räumen der Realität. Die Fixpunkte der Agglomeration, um die sich die Massen ballen, sind daher größtenteils medialen Ursprungs. Sie sind überwiegend nicht in der realen Welt, sei es als Tempel oder optimiertes Versorgungsnetz, zu finden; sondern in nicht sichtbaren Punkten, in denen sich spezifische Images in der Vorstellungswelt bestimmter Individuen überschneiden. Die stetige Weiterentwicklung der Technik, generell der technischen Apparate ist auch unter diesem tendenziellen Mangel zu sehen. Dem Mangel, Images nicht perfekt in die physische Welt transformieren zu können. Daraus resultiert eine stetige Verfeinerung der Technik, die im Wesentlichen zum Ziel hat, die Räume und Dinge genauer den erwünschten Idealbildern anzupassen. Auch hier erzwingt der Modus einer künstlichen Welt eine immer weitere Verästelung und Komplexität. Da sich die Künstlichkeit der Welt gerade an dieser Schnittstelle zur Realität, zur Natur, zeigt. Denn auch wenn die Images der Medien und Konzepte mitunter einen anderen Erkenntnisanspruch evozieren, ist die Natur eigentlich unverstanden.214 214 Es ist notwendig, darauf hinzuweisen, dass Vieles, was gemeinhin unter Natur verstanden wird, eigentlich Kultur ist. Ein Rind auf einer Graswiese ist Kultur. Sowohl das Futtergras als auch das Rind sind das objektivierte Ergebnis langer kultureller Formungsprozesse. Auch hier steht mitunter mehr das Image, das Aussehen des Objektes im Vordergrund als sein Nutzen. Tomaten, auch ein Kulturobjekt, werden häufig nach ihrer Farbe bewertet und eingeschätzt, obwohl das als Ergebnis gezielter Züchtung und Manipulation mit ihrem Nutzen als Nährstoff- und Geschmacksträger kaum mehr in einem Zusammenhang steht.

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Sie ist größtenteils mit Werkzeugen vermessen und katalogisiert, wodurch sie Teil der Scheinwelt wird. In dem Modus des Great Game of Civilization wird sie Teil der Welt – aber nicht umfassend, sondern entsprechend der Limitierungen, die die eingeschränkte Perspektive mit sich bringt. Damit bleibt die Natur – die Welt, die a priori vor der menschlichen Kontext- und Konzeptbildung steht – letztlich unverstanden. Sie bleibt das Außerhalb, das Gegenüber, der zwar eingehegte, mit Konzepten Beschriebene, aber letztlich der unverstandene Gegensatz zu einer virtuellen Welt, deren Bewohner, als Opfer einer vermeintlich objektiven Perspektive, aus den Räumen, die sie sich geschaffen haben, nicht mehr herauskommen und sich nicht einmal der Begrenztheit dieser Räume bewusst sind. Stattdessen führen die Menschen stets das große Schauspiel der Zivilisation auf, in dem alle Phänomene in immer neuer Variation letztlich doch die Wiederkehr des immer Gleichen sind. Die zu Beginn aufgeworfene Frage, was die Zukunft bringt, ist unter diesen Aspekten leicht zu beantworten. Seit der neolithischen Revolution dominiert das hier umrissene System. Die Inhalte mögen sich ändern – die Utopien variieren, die Art der Kommunikation sich entwickeln und die gesellschaftlichen Relationen stetig neu verhandelt werden –, insgesamt ist aber die Tendenz der Entwicklung immer die gleiche und lässt sich in die Zukunft extrapolieren: eine stetige Zunahme an Komplexität. Einer Komplexität, die im Wesentlichen aus der Schaffung von Masse in allen Formen und dem Austausch dieser Massen untereinander gebildet wird. Auch in Bezug auf den Funktionsgedanken des Werkzeuges und der Technik wird die Komplexitäten eher zu- als abnehmen. Es ist aber wesentlich, dass die Technik durch die zunehmende Komplexität nicht mehr von allen Menschen nachvollzogen werden kann.215 Sie erscheint zunehmend wie ein Artefakt; wie ein kontextloses Ding, dessen interne Relationen scheinbar magischen Ursprungs sind. Nimmt man den Aspekt hinzu, dass auch die Technik immer kleinteiliger wird und dennoch ihre Räume immer nur einer bestimmten Perspektive verhaftet sind, so besitzt die Welt der Technik eine Scheinkontrolle über die Welt. Auch sie entspringt der virtuellen Welt, die wir die menschliche 215 So scheint die Befürchtung des Philosophen Zhao Tingyang durchaus plausibel: „Falls Hightech-Systeme mit dem System des globalen Finanzkapitals verschmelzen, besteht die Möglichkeit der Entstehung einer noch nie da gewesenen neuen Form der Macht, einer grenzenlosen systematischen Macht (…), die über einen Großteil, wenn nicht die Gesamtheit aller Menschen herrschen wird.“ Zitat in: Tingyang, Zhao: Alles unter einem Himmel, S.  34  f. Aber diese übermenschliche Überkomplexität, die sich in einer solch technischen Macht abzeichnet, ist keine objektive Notwendigkeit oder etwas, was objektiv betrachtet so eintreten muss. Max Stirner verweist auf die Macht des Subjektiven über das scheinbar absolute Objektive: „Es dauern die Staaten nur so lange, als es einen herrschenden Willen gibt, und dieser herrschende Wille für gleichbedeutend mit dem eigenen Willen angesehen wird. Des Herrn Wille ist – Gesetz. Was helfen Dir deine Gesetze, wenn sie Keiner befolgt, was deine Befehle, wenn sich Niemand befehlen läßt?“ Zitat in: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum, S. 138.

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Kultur nennen, und durch die nicht vorhandene objektive Perspektive sind auch Technik sowie die Räume, die sie ausbildet, letztlich nur eine Annäherung. Am Ende stehen immer Komplexitäten, die nicht mehr nachvollzogen werden können. Aber auch diese wirken auf die menschlichen Räume zurück, da alles im Gesamtsystem verbunden ist. Dass diese Komplexität nur noch mit einer immer stärken Herrschaft zusammengehalten werden kann, ist systembedingt. Eine absolute Diktatur des scheinbar Objektiven, verkörpert durch automatische Systeme und hart definierte Räumen, scheint die Zukunft zu bringen und dieses zeichnet sich ja auch schon ab. Eine perfekte Matrix als virtueller Lebensraum, in der sich der Mensch wie bei einem Cargo-Kult in den Relationen immer neuer Scheinsysteme und Scheinkategorien verliert, die rein selbstreferenziell jede Anbindung an die Natur verloren haben. Der von den Transhumanisten propagierte Punkt der Singularität, der Ort, an dem sich die technische Entwicklung nicht mehr umkehren lässt und zu einer Art neuem Gott wird, da sie eigenständig geworden ist, ist für das Great Game of Civilization der Punkt, wo es tatsächlich zu einem System ohne Außen wird. Wo etwas Anderes als es selbst gar nicht mehr denkbar ist. Dieser technische Gott des Great Game of Civilization muss zwangsläufig ein Gott der Tyrannei sein. Sein Selbstanspruch als absolute, objektive Perspektive ist eine Selbsttäuschung, da in ihm das Subjekt, der „Kern“ des Menschen, unverstanden und nicht enthalten ist. Die vermeintliche Objektivität deckt wesentliche Teile nicht ab und erzeugt dadurch Anpassung und Angst, da sie eben nicht absolut, sondern nur ein Schein ist – und Angst ist die Saat der Tyrannei. Für den Menschen im absoluten Great Game of Civilization wird dadurch der eigentliche Grundantrieb, die Erkenntnis, letztlich verdeckt. Die Frage des Subjektes nach dem Sinn löst sich in der künstlichen Scheinwelt auf. Fast scheint es, als wäre der Mensch nach diesem System auf dem Weg zur Erkenntnis in eine Sackgasse gelaufen, da er sich immer weiter auf künstliche Systeme spezialisiert und diese ausdefiniert hat. Angesichts des Mangels an Objektivität werden die künstlichen Räume zunehmen und sich dabei weiter von einem ganzheitlichen Ansatz entfernen. Es besteht dann Aussicht auf ein scheinbar perfektes Bild des Seins, das nur eine unzureichende Utopie der realen Welt ist, aber mit dieser verwechselt wird. Die Welt des Menschen wird wieder magisch werden. Die Scheinsysteme und Scheinkategorien seines Lebens erschließen sich ihm nicht mehr und die Technik dahinter tritt als Gestalt eines alles umfassenden Gottes auf, dessen Motive unergründlich bleiben. Kausalität und Korrelation fallen zusammen in einer Welt, die komplett virtuell geworden und als Schöpfung des Menschen unzureichend ist, aber mit der echten Welt verwechselt wird. Nun kann man einwenden, dass dies vielleicht gar nicht schlimm, wenn nicht sogar erstrebenswert ist. Der Mensch gestaltet die Welt nach seinen Vorstellungen, und diese Welt ist sicher, wenn 163

auch aus Mangel an objektiver Perspektive vielleicht nicht absolut. Sie definiert seinen Platz in der Welt und die Welt gleich mit. Fehlannahmen werden korrigiert, indem sich eine umfassendere Perspektive als Herrschaft etabliert, die dann wieder von der nächsten abgelöst wird.216 Ein stetiges Werden, hin zu einem immer besseren System.217 Aber eine Komponente ist dabei enorm kritisch zu betrachten, und zwar der Aspekt der Ökologie, bzw. der Verbrauch an natürlichen Ressourcen. Der Mensch schafft sich eine Scheinwelt. Aber um diesen Schein aufrechtzuerhalten, verbraucht er Unmengen an Ressourcen und Energie. Schon in so etwas wie einem weißen Wohnraum steckt eine enorme Menge an Verbrauch. Vielleicht ist es als Wohnzimmer das Habitat eines Menschen 216 Gemeinhin werden ja auch Kriege mit einem solchen Denken gerechtfertigt: Dass es sie gibt, um eine Manifestation von Macht durch eine andere zu ersetzen oder durch die Annahme, dass Kriege entstehen, weil es eine übergeordnete Herrschaftsmacht gibt. Vielleicht gibt es Kriege aber schlicht aus der Macht um Herrschaft – und zwar zwangsläufig, weil es das Prinzip der Herrschaft gibt. 217 Dies ist im Wesentlichen die Perspektive eines allgemeinen technischen Optimismus, wie er häufig in der Alltags- und auch der technischen Kultur anzutreffen ist. Eines der Gegenargumente sieht in dem Fortschritt die Gefahr, dass die technischen Möglichkeiten irgendwann die Regulierungskräfte überschreiten. Zhao Tingyang benennt dies drastisch und verortet den möglichen Ursprung der Entwicklung folgendermaßen: „Die selbstmörderische Bewegung der Menschheit begann mit der Moderne, mit dem Bestreben des Menschen, zum Subjekt der Schöpfung zu werden, mit dem Versuch Gott zu werden (…). Der Zeitpunkt, wo der Mensch nahezu göttliche Fähigkeiten erreicht haben wird, kann für die Menschheit der kritische Punkt der Katastrophe sein, d.h. der Weltuntergang.“ Zitat in: Tingyang, Zhao: Alles unter einem Himmel, S. 214 f. Die Philosophen Richard Rorty und Paul Feyerabend argumentieren dahingehend, dass schon mit Platon nicht nur die moderne wissenschaftliche Welterklärung begonnen habe, sondern gleichzeitig diese Sinngebung durch die Transzendenz entstanden sei, deren logozentrische Argumentationsstruktur bis heute prägend ist. Vgl.: Zovko, Jure: Sinnstiftung durch Transzendenz, in: Gräb-Schmidt, Elisabeth/Häfele, Benjamin/Hölzchen, Christian P.: Transzendenz und Rationalität, S. 90. Hierzu schreibt allerdings Humberto R. Maturana: „Die Entwicklungsgeschichte der synthetischen Methode von Platon bis zu Augustinus leitet die Wahrnehmung der Menschen in die Literatur, in die Kunst und in die Mystik. Die moderne Welt der Wissenschaft und Technik ruht seit Aristoteles und Thomas von Aquin auf analytischen Verfahren.“ Zitat in: Maturana, Humberto R.: Erkennen, S. 170. Eine weitere Perspektive bietet der Psychologe Julian Jaynes an, der die Meinung vertritt, dass nach dem Verlust der „göttlichen Stimmen“ als psychologischen Massensuggestionen in der Antike, eine Profanisierung stattgefunden hat, in der die moderne Wissenschaft letztlich nichts anderes macht, als diese Stimmen „da draußen“ zu suchen. Vgl.: Jaynes, Julian: The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind, S. 436. Welcher Motivation auch immer sie folgen, auch naturwissenschaftliche Erkenntnisse bleiben in einem System der Beschreibung verfangen und sind wahrscheinlich nicht deckungsgleich mit einer umfassenderen Erkenntnis des Seins. In einer Kritik am kritischen Realismus, der durchaus platonisch von einer „Welt hinter den Phänomen als die Welt an sich“ ausgeht, schreibt der Philosoph Franz von Kutschera: „Die Welt wird nicht nur durch die wahren Sätze der Physik richtig beschrieben, sondern jede wahre Aussage über die Natur beschreibt sie richtig. (…) Für exakte Beschreibungen eignet sich die physikalische Sprache sicher besser als die normale, aber nicht nur exakte Aussagen sind richtig. Kein Realist wird den Erkenntniswert der Physik bestreiten; die Behauptung, erst sie zeige uns, wie die Welt wirklich beschaffen ist, ist jedoch Unsinn.“ Zitat in: Kutschera, Franz von: Die falsche Objektivität, S. 128.

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und scheinbar eine feste Kategorie. Der weiße Raum ist halt da. Aber er ist das Ergebnis einer umfassenden Produktionskette. Von den Mauern bis zur Farbe der Endpunkt eines technischen Prozesses, wobei viele Bestandteile, die darin verwendet werden, in ihm gar nicht direkt sichtbar sind. Vom Transport der Steine über die Arbeitskraft der Handwerker bis hin zur Erstellung von Farbe und Pinseln und der Logistik der Industrie – er ist mehr als das Ergebnis; und damit ist auch der Verbrauch mehr als das Sichtbare und mit seiner Erstellung hört der Verbrauch nicht auf. Wie alle realen Dinge ist der weiße Raum dem Verfall bzw. der steten Transformation von allem unterworfen. Um die Illusion des weißen Raumes in der Realität zu erhalten, sind zahlreiche weitere Energieaufwendungen nötig. Er muss geputzt, immer wieder ausgebessert und allgemein gepflegt werden. Was zwar banal anmutet, aber einen ständigen Bedarf an Ressourcen und Energien nach sich zieht. Dieses Prinzip gilt für alle Räume des Menschen und erst recht für die Dinge.218 Je mehr die Komplexität zunimmt und je mehr sie sich auf die Masse verteilt, desto mehr an Energie und Ressourcen wird nötig sein, in welcher Form auch immer – fraglich, ob das die Kapazitäten des Ökosystems Erde hergeben.219 Im Zuge des stetigen Bevölkerungswachstums und des Verbrauches der Ressourcen weist die technische Entwicklung in die Besiedlung des Weltraums und die Nutzbarmachung universeller Ressourcen. In Abkehr von den utopischen Bildern, die ein solches Denken begleiten, wird die Menschheit der Zukunft im Great Game of Civilization polemisch gesprochen wohl eher einem Heuschreckenschwarm gleichen, der sich durch das Universum frisst. Verstärkend wirkt hierbei der Mangel an Perspektive. Der Rohstoff Erdöl bietet ein Beispiel. Sein Aufkommen ist limitiert. Obwohl er auch für die Herstellung von Dingen benutzt wird, wird er überwiegend zur Energiegewinnung verfeuert. Diese Nutzung als Objekt der Verbrennung entspricht seinem Nutzen in einem bestimmten Gesamtsystem. Aus dessen Perspektive ist dies sein idealer Einsatz als Werkzeug. Da die Perspektive aber wie immer nicht allumfassend ist, kann es gut sein, dass aus einer neuen Perspektive betrachtet dem Erdöl als natürlichem Element ganz andere Nutzungen zufallen könnten. Wer weiß schon, welcher zukünftige Nutzen in anderen Sys218 Der endlose Prozess dieses Werdens und Vergehens kann aber auch in der Produktion von Räumen sichtbar werden, wie es der Japanologe Florian Coulmas am Beispiel der Baukultur des gegenwärtigen Japans beschreibt: „Viele Familien renovieren ihr Haus deshalb etwa alle zwanzig Jahre, wobei Abriss und Neuaufbau die bevorzugte, da billigere Methode ist. Auf diese Weise wird die Vergänglichkeit der materiellen Welt selbst in der alltäglichen Lebenswelt durch die Dauerhaftigkeit der geistigen Form überwunden.“ Zitat in: Coulmas, Florian: Die Kultur Japans, S. 117. 219 Es ist relativ unstrittig, dass global betrachtet in der Gegenwart eine Art Raubbau stattfindet. Hätten alle Menschen das gleiche Lebensniveau wie in modernen Industriestaaten, wäre der Ressourcenverbrauch 2–6-mal so hoch wie ein nachhaltiger Wert. Dennoch wäre eine Grundsicherung aus Nahrung, Sanitär und Strom bei der momentanen globalen Bevölkerungsmenge wahrscheinlich auch mit einer ausgeglichenen Bilanz möglich. Vgl.: Kaps, Alisa: Der Faktor Kind, in: Mahlke, Stefan (Hg.): Atlas der Globalisierung, S. 51.

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temen möglich wäre. Bis eine mögliche Erkenntnis auftaucht, ist es aber wahrscheinlich, dass alle Vorkommen vernichtet sind. Nicht nur der Mensch wird ein Opfer seiner unzureichenden Erkenntnis, auch die Natur wird es.220 Wir leben in perfekten Bildern, die scheinbar umfassend strukturiert sind. Wir leben in einer zunehmend virtuellen Welt, die den Bezug zu einem Ursprung – in welcher Form auch immer – verliert. Wir haben uns eine Scheinwelt geschaffen, in der wir Leben und Sinn finden; aber diese ist künstlich, flüchtig und fragil. Sie wird ihrem Absolutheitsanspruch nicht gerecht. Streng genommen funktioniert sie als Gesamtsystem nicht. Dies wird vor allem an ihren Rändern sichtbar, in den Bereichen, wo sich Kultur und Natur überlagern. Es ist deutlich, dass hier ein künstlicher Konflikt, ein künstlicher Dualismus zwischen beiden Konzepten existiert, dessen Ausmaße sich immer stärker abzeichnen, und wie bei jedem System liegt in beiden Konstrukten ein Absolutheitsanspruch. Kultur und Natur sind nicht verbunden, sondern stehen in einem Gegensatz zueinander, und dieser Gegensatz wird tatsächlich zunehmen, je mehr die Natur in Kultur umgeformt wird.221 Unabhängig von dem Spannungsfeld, das hier deutlich wird, existiert noch ein weiteres, ein eigentlich viel wesentlicheres: Das Verhältnis zwischen dem kulturellen Raum aus einer vermeintlich objektiven Perspektive und dem eigentlichen Subjekt – dem einzelnen Individuum. Auch der Mensch ist in dem Great Game of Civilization letztlich ein Objekt – ein Werkzeug, das andere Werkzeuge bedient und sich damit in einen vorgegebenen Raum einfügt. Augenscheinlich ist das nicht immer ein Problem, da sich wahrscheinlich viele Menschen in ihre Rollen einfinden und sie für natürlich halten. Vielleicht sogar das gute Leben für sich darin finden. Aber das muss nicht zwangsläufig so sein. Extern zugeschriebene Rolle und subjektiver Rollenwunsch – oder auch der Wunsch nach ganz anderen Räumen – müssen nicht immer zusammenpassen. Die Dramatik 220 Die Notwendigkeit von fundierter Erkenntnis kann in diesem Sinne als eine existenzielle verstanden werden, um die Folgen menschlicher Eingriffe in die Natur abzuschätzen. Ähnliches liegt auch schon dem Denken von Thomas Hobbes zugrunde, wenn er schreibt: „Denn es gibt fast keine menschliche Handlung, welche nicht das erste Glied einer Kette von Folgen werden könnte, die sich so weit erstreckt, daß keines Menschen Auge ihr Ende abzusehen vermag.“ Zitat in: Hobbes, Thomas: Leviathan, S. 305. 221 Auch der Soziologe Henri Lefebvre sieht diesen Prozess kritisch: „Was ist die Natur? Wie soll man sie überhaupt vor dem Eingriff und dem Auftauchen der Menschen und ihrer verheerenden Werkzeuge denken? Die Natur, dieser mächtige Mythos, verwandelt sich in eine Fiktion, in eine negative Utopie: Sie ist bloß noch der Rohstoff (…) auf den die Produktivkräfte der verschiedenen Gesellschaften eingewirkt haben, um ihren Raum zu produzieren.“ Zitat in: Lefebvre, Henri: Die Produktion des Raums (1974), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 330. Allerdings ist diese Sichtweise auf die Natur keineswegs bei allen Menschen gleich. Zum Beispiel sieht die Religion des Shintoismus im Konzept der Kami die Natur und den Menschen gleichbedeutend als göttlich an. Vgl.: Coulmas, Florian: Die Kultur Japans, S. 116.

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für ein solches Individuum liegt damit in der Spannung, die sich zwischen Innen und Außen aufbaut und dem tendenziellen Unvermögen, sich andere Räume vorzustellen. Als Schöpfung des Gesamtsystems sind die Welt der Dinge und ihre sinnstiftenden Relationen für das Subjekt ja mitunter tatsächlich umfassend. Außerhalb des Systems der Weltbildung und manchmal auch außerhalb der eigenen Räume können Sachen vielleicht nicht erkannt oder beschrieben werden. Da das Great Game of Civilization ja im Wesentlichen ein Weltbild ist, das individuell erfahren und erlernt wird, ist es auch der Modus, in dem in die Welt geschaut wird. Der Riss, der zwischen einer echten Objektivität und der nur angenommenen der Herrschaft besteht, kann als ursächlich für individuelle Spannungen und Sinnsuchen aller Art betrachtet werden. Auch hier wirkt wiederum der Aspekt der Massenkommunikation. Räume waren vor den modernen Medien eher uneinsehbar. Ein Schmied wusste wahrscheinlich wenig von der Lebensrealität eines Verwaltungsangestellten. Durch die modernen Medien werden diese Räume nun einsichtig – in welcher Form auch immer. Der Schmied kann sich nun vergleichen und seine Lebensrolle gegen die der Anderen abwägen. Die Spannungen im Individuum, die dabei entstehen können, dürfen nicht außer Acht gelassen werden; vor allem nicht, wenn man bedenkt, dass Medien ja immer idealisierte Images produzieren, was den subjektiv empfundenen Mangel weiter begünstig. Also steht diese kulturelle Welt der Menschen nicht nur zur Natur in Spannung, sondern potentiell auch zum Individuum. Gerade letzteres ist fatal. Auch wenn Räume oder Herrschaft wie externe Faktoren wirken, sind sie doch letztlich im Individuum, genauer: in seinem Glauben an diese Strukturen, angesiedelt. In seinem erlernten oder evozierten Weltbild. Sie können zwar von anderen erzwungen werden, aber letztlich ist das Great Game of Civilization ganz subjektiv. Objektiv war es eh nie, aber seine Ausrichtung ist ja die Frage nach dem Sinn des Ganzen und dem Platz, den der Mensch darin einnimmt. Der Mensch beantwortet diese Frage durch die Schaffung einer Scheinwelt, die ihm diesen Sinn scheinbar gibt. Aber die Einheit, die er zu finden glaubt, liegt damit komplett in ihm. Der Sinn hinter den Dingen der Welt ist der Mensch. Ohne den subjektiven Glauben an das Gesamtsystem wird die Zuordnung der Dinge beliebig. Die Sinnstiftung verlässt den Raum und letztlich weiß das einzelne Individuum nicht mehr, wer es eigentlich ist und wo es hinsoll. Weil es dem postulierten Sinn nicht glaubt, aber ihm auch die Möglichkeit fehlt, überhaupt grundsätzlich neue Räume zu erdenken. Dies ist eine hypothetische Annahme, deren Auftreten nun mal das ist, was sie ist: rein subjektiv. Aber alleine die Möglichkeit einer solchen Annahme verweist auf das Kernproblem: Dass das Gesamtsystem der menschlichen Weltbildung mangelhaft ist. Das Great Game of Civilization als übergeordneter Modus der Kultur ist fehlerhaft und es scheint so, dass dies nicht ein Mangel ist, der zukünftig behoben werden kann, 167

sondern dass dieser Mangel grundlegender Teil des Systems ist; dass der Fehler systemisch ist und dass der Anspruch, die Welt zu gestalten und dem Menschen seinen Sinn und Platz zuzuweisen, nicht eingelöst werden kann. Der simpelste Aspekt, um das zu verdeutlichen, ist banal: Es ist der Tod.222 Betrachtet man die Entwicklung der Menschheit vom Gesichtspunkt eines Tretens in die Welt auf der Suche nach Erkenntnis aus, verliert man ihn aus dem Blickfeld. Aber eigentlich ist es die alles bestimmende Konstante im Leben des Menschen: das Ende. Die absolute Negation des Seins und damit auch die absolute Negation des umfassenden Anspruches einer objektiven Kultur. Im Auflösen der Dinge und der subjektiven Welt endet tatsächlich – oder vermutlich – jede Sinnstiftung, die der Mensch sich und seinen Räumen gibt. Alle Konzepte, um diesen Aspekt sinnstiftend einzubetten, sei es durch Religion oder Materialismus, bringen keine objektive Erkenntnis, sondern nur Utopien, die durch einen reinen subjektiven Glauben daran wirken. Wie alle Utopien scheitern auch diese an ihrem Absolutheitsanspruch, wenn sie versuchen, die Welt der Natur und damit auch den Tod wirklich umfassend auf den Menschen hin zu konstruieren. In dem großen Unbekannten, dass der Tod und allgemein das Vergehen aller Dinge verkörpern, liegt auch das Ende aller umfassenden Systeme. Ebenso könnte man interpretieren, dass die Schaffung der Scheinwelt des Great Game of Civilizations nicht aus der Suche nach Erkenntnis entstand,

222 Gerade das Phänomen des Todes scheint vor allem für viele technische Entwicklungen und Heilserwartungen eine treibende Kraft zu sein. Als Kategorie kann man ihn als eine Art Ur-Dualismus aus Leben/Tod sehen – zwei unverstandene Zustände, die sich nur im Gegensatz begreifen lassen. Der Filmemacher Philipp von Becker verweist auf diesen scheinbar unauflösbaren Gegensatz am Beispiel des Transhumanismus, wenn er schreibt: „Der Begriff ‚Unsterblichkeit‘ verneint das Wesen des Lebens: seine Vergänglichkeit. Leben ist Tod. Was lebt muss sterben. Kann, was nicht stirbt, leben? Bezieht man die Vorstellung von Endlosigkeit auf den Raum, provoziert sie dieselben Widersprüche: die Unendlichkeit und das Nichts. Für Nichts dürfte es eigentlich kein Wort geben, doch so wie die Mathematik die Null erfand und brauchte, so ist das Nichts doch etwas, hat seine Bedeutung einen Sinn, ohne den das Denken nicht möglich wäre. Und wie eine Grenze des Raums nicht gedacht werden kann, so können auch Grenzenlosigkeit und Unendlichkeit nicht gedacht werden.“ Zitat in: Becker, Philipp von: Der neue Glaube an die Unsterblichkeit, S. 23. Eine ganz andere Ansicht, die über einen simplen Gegensatz hinausgeht, formuliert der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel: „Diese Allgemeinheit, zu der der Einzelne als solcher gelangt, ist das reine Sein, der Tod; es ist das unmittelbare natürliche Gewordensein, nicht das Tun eines Bewußtseins.“ Zitat in: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, S .306. Ganz generell betrachtet, wird das Thema Tod vor allem in Ansätzen gemieden, die sich als objektiv betrachten. Schon Sigmund Freud merkte dazu kritisch an: „Die Urgeschichte der Menschheit ist denn auch vom Morde erfüllt. Noch heute ist das, was unsere Kinder in der Schule als Weltgeschichte lernen, im wesentlichen eine Reihenfolge von Völkermorden.“ Zitat in: Freud, Sigmund: Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915), in: Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, S. 153.

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sondern aus Angst.223 Aus Angst vor dem Tod und damit der Sehnsucht nach einer Struktur, in der er nicht wirksam ist. Eine objektive Welt außerhalb des vergehenden Individuums, die über die Räume und Dinge auf ihn zurückwirkt und den Tod scheinbar einhegt. Einer Welt, in der die Dinge und Kategorien durch viel Aufwand zeitlos werden; der Realität und damit dem Vergehen abgerungen werden und das Individuum überdauern, als Zeichen dafür, dass es so etwas wie ein Überdauern überhaupt gibt. Weitergedacht legitimiert sich so die Herrschaft im Great Game of Civilization. Wer Dinge hat, hat Angst sie zu verlieren, da seine Welt durch sie bedingt ist. Angesichts der Natur des Vergehens kann scheinbar nur die Herrschaft die fortdauernde Existenz der Dinge garantieren. Über die Dinge wird das Individuum beherrschbar, durch die Möglichkeit der ewigen Existenz, die dieser Scheinwelt innewohnt. Vielleicht ist der erste Mensch gar nicht in die Welt getreten, sondern hat lediglich anhand eines begrenzten Konzeptes ein Scheinbild von ihr gemalt. Ein Bild, das ihn weniger ängstigt und das zeitlos anmutet und das er mit der Welt verwechselt; aber immer wieder zeigen sich Risse auf der Leinwand, die nur durch den Glauben an das perfekte Bild übersehen und mit Farbe übertüncht 223 Angst als subjektiver Zustand scheint vor allem in der westlichen Gegenwart zunehmend ein Grundgefühl zu sein. Vgl.: Martin, Susanne: Von der Zeitdiagnose zur Gesellschaftswissenschaft der Angst, in Martin, Susanne/Linpinsel, Thomas: Angst in Kultur und Politik der Gegenwart, S. 1. Die Politikwissenschaftlerin Susanne Martin beschreibt dieses Phänomen wie folgt: „Angst entspringt in vergleichsweise hoch gesicherten westlichen Gesellschaften nur selten existenziellen Gefahren. Stattdessen ist sie das Produkt von unspezifischen bzw. heterogenen und möglichen zukünftigen Bedrohungen (…).“ Zitat in: ebd., S.4. Angst ist dabei immer auch als ein Phänomen zur Schaffung eines sozialen Zusammenhaltes zu begreifen, in dem der Dualismus zwischen Innen und Außen gefestigt wird. Vgl.: Burmeister, Christoph T.: Der Affekt Angst und die (Soziologie der) Gegenwartsgesellschaft, in Martin, Susanne/Linpinsel, Thomas: Angst in Kultur und Politik der Gegenwart, S. 34. Das hinter einer allgemeinen Angst auch die Mangelhaftigkeit einer medialen Scheinwelt steht, ist kein neuer Gedanke. Hierzu das Konzept der Hyperrealität des Medientheoretikers Jean Baudrillard, dessen Auswirkungen auf den Menschen der Literaturwissenschaftler Markus Oliver Spitz so zusammenfasst: „Die permanente Simulation von Realität, die Anbetung von Scheinwelten, verhindert nach dieser Auffassung, daß Identität auf der Basis von eigenen, persönlichen Erfahrungen konstruiert wird und befördert im Gegenzug die Instabilität des Selbst, welches aus vorgefertigten und jeweils neu zusammengesetzten Eindrücken und Bildern geformt wird und daher zwangsläufig instabil ist.“ Zitat in: Spitz, Markus Oliver: Erfundene Welten. Modelle der Wirklichkeit, S. 14. Ähnlich sieht es der Philosoph Hans Blumenberg, dessen Ansatz zur Entstehung von Mythen der Soziologe Jörn Ahrens wie folgt beschreibt: „Dass Wirklichkeit in ihrer unbearbeiteten Form, sozusagen reale Realität als eine Hyperrealität, der der Mensch (noch) nicht gewachsen ist, als übermächtig und als eine ‚Quelle der Angst‘ erscheint, hat Hans Blumenberg gezeigt. Er nennt dies den ‚Absolutismus der Wirklichkeit‘ (…); und dieser bringt vor allem einen Zustand der Angst hervor. (…). Ein Gegenstand der Angst gelangt erst in die Welt, wenn es gelingt, die Angst zu richten, ihr ein Objekt zu geben, vor dem Angst zu haben möglich ist, und daran außerdem, was wichtiger ist, Bewältigungsstrategien in Form von Erzählungen anzuschließen. (…) Der Bodensatz von Kultur ist eine maßlose Angst, die sich nur durch hochgradig artifizielle Verfahren der Sinngebung eingehegt sieht.“ Zitat in: Ahrens, Jörn: Klima der Angst, in Martin, Susanne/Linpinsel, Thomas: Angst in Kultur und Politik der Gegenwart, S. 82.

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werden können.224 Die Grundstrukturen der Gegenwart bringen das offen zu Tage: Die vom Menschen geschaffene Welt ist eine Konstruktion, deren Bruchstellen überdeutlich sind, aber als eine Welt, die letztlich subjektiv ist und nur subjektiv wirkt, sind diese Bruchstellen im Individuum. Der Mensch der Gegenwart guckt in die Welt und versteht sie nicht. Weil er letztlich in dem, was er sieht, nur sich selbst sieht und er sich selbst nicht versteht. Das Kernproblem am Great Game of Civilization ist die behauptete Objektivität, die sich in der Herrschaft manifestiert und legitimiert. Aber diese ist das Resultat einer mangelnden Erkenntnis des Menschen von sich selbst, die durch eine fehlerhafte Annäherung als Konzept auf das scheinbar Äußere projiziert wird; aus Angst vor dem Äußeren, aber vor allem vor dem, was der Mensch in sich finden könnte. Die Bruchstellen der Gesamtkonstruktion des Great Game of Civilization verweisen dabei aber auf eine neue Perspektive und in die Richtung einer besseren Erkenntnis, die nicht in der weiteren Schaffung von Komplexität liegt. Tod und die Angst vor ihm als leere Stellen und doch Triebfedern des Gesamtsystems zeigen dabei auf den Menschen selber. Genauer: auf das, was der Mensch eigentlich ist. Nicht auf das, was er schafft, sondern das, was seine Natur ist. Möchte man ein besseres System des menschlichen Lebens anstoßen, zeigt ein angstbesetztes Thema wie der Tod die Richtung, da er auf eine überdeckte Problemstelle hinweist. Ein besseres System kann nur entstehen, wenn es den Menschen einen grundlegenden Mangel nimmt: Wenn es ein System ohne Angst ist. Wenn es tatsächlich keine mühsam überdeckten Leerstellen hat; da es vom Menschen selbst her gedacht ist, und nicht von der Fiktion einer nichtzutreffenden Objektivität. Der Schlüssel dazu liegt im Menschen; in der Frage nach der grundsätzlichen Beschaffenheit seiner Existenz.

224 Der Philosoph Dschuang Dsi kann, obwohl schon 290 v.Chr. verstorben, als ein früher Vertreter eines objektiven Idealismus gesehen werden, in dem er die Weltbilder als solche negiert und ein zentrales Erleben eines umfassenden Sinns gerade jenseits des Denkens verortet. Vgl.: Wilhelm, Richard: Einleitung, in: Dsi, Dschuang: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, S. 24. Es verwundert nicht, dass schon er wie ein postmoderner Kulturkritiker klingt: „Wenn einmal der Wandel eurer Tugendhelden beseitig wird und der Mund eurer Sophisten mit der Zange zugeklemmt wird und man die Liebe und die Pflicht in weitem Bogen fortschleudert, dann erst kommt das LEBEN der Welt in Übereinstimmung mit dem Überirdischen. Wenn erst die Leute sich auf ihr eigenes Augenlicht verlassen, so gibt`s auf der Welt keinen leeren Schein mehr. Wenn die Leute sich erst auf ihre eigenen Ohren verlassen, so gibt`s auf der Welt keine Verstrickungen mehr. Wenn die Leute sich erst auf ihr eigenes Wissen verlassen, so gibt´s auf der Welt keinen Zweifel mehr. Wenn die Leute sich erst auf ich eigenes LEBEN verlassen, so gibt´s in der Welt keine Unnatur mehr. Alle jene Kulturträger aber suchen ihr LEBEN in etwas Äußerlichem und verwirren durch ihren gleißenden Schein die Welt. Das sind Wege, bei denen nichts herauskommt.“ Zitat in: Dsi, Dschuang: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, S. 123.

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Innenwelt

Am Anfang war der Mensch Und er schaute in eine Welt, die ihn verängstigte. Vor ihm stand die Unendlichkeit des Seins Dessen Komplexität ihm unbegreiflich und unfassbar erschien. Er verstand nichts von dem, was ihn umgab. Er wusste nur: Er war er. Er existierte. Und vor dem, was er als Ich begriff, erstreckte sich eine Welt der Feindlichkeit. Aus der Unberechenbarkeit seiner Umgebung konnte jeden Augenblick etwas hervorbrechen, was das Einzige, dessen er sich sicher war, seine Existenz, beendete. Der Mensch erstarrte und wich zurück vor einer dunklen Welt der Angst, der Gefahr und des Chaos. Sein nervöser Blick schweifte über diesen dunklen Ort auf der Suche nach einem Gegenüber. Einem, der so ist wie er. Der existiert. Aber der auch mehr Wissen hat als er. Der erste Mensch. Der letzte Mensch. Einem, der ihm erklären kann, was dies alles ist. Der ihm die Gesetze dieser fremden Welt erläutert. Ihn anleitet und als Vertrauter auf seinen ersten jungen Schritten begleitet. Einen Mentor. Eine übergeordnete Perspektive. Eine gütige Herrschaft. Aber so sehr sein Blick auch schweifte. Dieses fand er nicht. Alles war umfangen von Chaos, das ihn sprachlos bedrängte. 175

Für diesen ersten Menschen ist nicht die Neugier Triebfeder sondern die Angst. Die Angst um das Einzige, was er ursprünglich hat. Seine Existenz. Sein Leben. Da er den Einen nicht fand, der ihn beschützt, muss er es selbst in die Hand nehmen. Keine übergeordnete Herrschaft sucht er, er erschafft sie sich selbst. Er blickte in das Chaos und je länger er schaute, desto mehr Strukturen erkannte er in ihm. Muster wiederholten sich, bildeten Gruppen und Wechselwirkungen. Das Grün der Flora erschien nicht mehr als diffuse Wand, sondern ließ sich differenzieren. Bestimmte Erscheinungen in ihm mussten gemieden werden, aber andere bewirkten für ihn Gutes. Die Masse des Chaos lichtete sich. Erst in Strukturen, dann in Dingen. Erscheinungen, die mit dem Menschen verbunden werden konnten. Die ihm gut taten, oder auch nicht, und deren Eigenschaften auch für Andere, Ähnliche galten. Diese Erscheinungen schienen verbunden. Wurden Kategorien, wurden Objekte. Anfangs zögerlich, später beherzter, stellte der erste Mensch fest, dass er diese auch beeinflussen kann. Das für ihn Gute fördern, das für ihn Schlechte minimieren. Dass er seine Zukunft gestalten, die Unendlichkeit greifen kann. Der erste Mensch trat in die Welt als Eroberer und machte sie sich untertan. 176

Es ist die hervorstechende Eigenschaft des Menschen, dass er die Welt auf einer abstrakten Ebene begreifen kann. Dass er nicht wie ein Blatt im Wind den Gesetzmäßigkeiten der Natur ausgeliefert ist, sondern aus diesen Rückschlüsse zieht und Verallgemeinerungen anstellt, aufgrund derer er gestalterisch tätig wird. In den mannigfaltigen Erscheinungen z. B. eines Waldes erkennt er eine ihm nützliche Kategorie; vielleicht das Palmenblatt, das ihm Schutz vor Hitze und Regen gewährt. In dieser Bezogenheit auf sich werden die Palmenblätter zu Objekten, zu Dingen, die sich eine bestimmte Eigenschaft teilen und in dieser vergleichbar sind. Die mithilfe der Abstraktion erkennbar werden, gesammelt und in eine neue Ordnung überführt werden können. Aus dem Chaos wird Nutzen, und aus den Objekten der Palmenblätter durch den schöpferischen und gestalterischen Akt ein neues Objekt, das vorher nicht da war: Das Dach. Geboren zwar aus den Einzelteilen des Chaos, aber gebildet erst durch den Verstand des Menschen und als Objekt der Welt zu seinem Nutzen aufgezwungen. Diese Eigenschaft, aus Naturerscheinungen Ableitungen zu treffen, ein gedankliches Objekt zu entwickeln und dieses auch wiederum in und mit der Natur zu schaffen, ist eines der größten Mysterien bei der sich nun stellenden Frage danach, was eigentlich der Mensch ist.225 Worin das Grundprinzip seiner Existenz besteht. Je mehr man über diese Frage nachdenkt, umso verworrener wird es, aber umso klarer wird auch, dass eine Frage der Schlüssel zu einem umfassenderen Verständnis zu sein scheint: Was sind eigentlich Objekte? Wie entstehen diese Dinge, die uns zwar selbstverständlich erscheinen, sich aber bei genauerer Betrachtung zwischen Geist und Materie auflösen? Nehmen wir etwas ganz Konkretes: Ein Auto. Als Objekt ist es wohl eines der am weitesten verbreiteten Dinge in der gegenwärtigen Welt. Primär eine prägende Erscheinung im Kontext des Städtischen, aber auch ein Werkzeug, um Naturräume zu erschließen. Obwohl es in Form und Farbe die unterschiedlichsten Manifestationen dieses Objektes gibt, so ist wohl jedem sofort klar, was gemeint ist, wenn jemand den Begriff „Auto“ verwendet. Aber was ist eigentlich „das“ Auto? Was ist seine Urform? Die eine Gestalt, die sich alle Autos als verbindende Kategorie teilen? Am ehesten noch sind es vielleicht die Räder – meist vier an der Zahl, aber eben auch nicht immer. Oder die Sitze, der Motor, das Dach? Auch hier 225 Der Philosoph Hamid Reza Yousefi merkt zu den Dingen und ihrer Verbindung zu gedanklichen Leistungen an: „Betrachten Sie Gegenstände um sich herum: Das Glas, das Buch, die Stereoanlage, oder auch Ihr Smart-Phone in der Hand. Was sehen Sie? Gegenstände, die keine Seele besitzen? Wer so denkt, irrt sich im Ansatz! In all diesen Gegenständen lebt eine wirkungsvolle und wirksame Denkmenge, Denkenergie und Denkleistung. Diese Gegenstände sind menschliche Handwerke, die die Spür seiner Würde enthalten.“ Zitat in: Yousefi, Hamid Reza: Dienst und Verrat am Denken, in: Yousefi, Hamid Reza/Langenbahn, Matthias: Kommunikation in einer veränderten Welt, S. 30.

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finden sich immer Ausnahmen. Am ehesten ist dieses Ur-Auto nur als Kategorie im Verstand zu finden, definiert über seine Funktion als Werkzeug, die es für den Menschen einnimmt. Ein Auto befördert uns ohne große eigene Anstrengung von einem Ort zu anderen; es ist ein Automobil – ein „Selbstbeweger“. Aber trifft diese Beschreibung nicht auch auf das Flugzeug zu? Unabhängig von der Diskurswelt, die sich auftut, wenn man nach einer klaren Definition sucht, wird deutlich, dass es das Auto als ein Eines nicht gibt, sondern dass es aus zahlreichen Einzelzuständen und Konzepten besteht, die erst in unserem Verstand vereint werden. Je näher man das Auto betrachtet, umso mehr zerfällt die Kategorie und Detailobjekte treten in den Fokus. Ein Auto ist physisch betrachtet ja nicht ein Ding, sondern eine Agglomeration aus zahlreichen verschiedenen Teilen, die das Ergebnis spezifizierter und langer Produktionsketten sind, die erst im Rahmen eines komplexen Konzeptes zu dem einen Auto werden. Ein Mechaniker erkennt und benennt vielleicht noch die einzelnen Komponenten – den Vergaser, den Auspuff, den Sitz und das Lenkrad –, aber für einen Materialphysiker zerfallen auch diese in immer weitere einzelne Objekte. Dennoch steht ein unbedarfter Nutzer am Ende vor der Komplexität dieser Erscheinungen und sagt sich: Tja – ist halt ein Auto. Die Sichtweise dieses Autofahrers ignoriert die Komplexität und integriert die Erscheinung in seine Sicht der Welt. Er sieht die Agglomeration aus Metall, Plastik und Gummi als ein Etwas, als ein Objekt an, dass er zu einem konkreten Nutzen in seinen Lebensräumen verwenden kann.226 Die Komplexität des Seins, ob geschaffen oder natürlich, wird , unter einer bestimmten menschlichen Perspektive zu einem Ding objektiviert, die ihr einen Nutzen oder einen Sinn verleiht. Die ursprüngliche Komplexität geht in dem vereinfachten menschlichen Zugriff auf sie verloren – aber gerade dadurch wird sie begreifbar und beherrschbar. Das Objekt ist die Komplexität eines bestimmten Ausschnittes der Welt, der durch den Geist zu einem Sinn gebunden wurde – und damit ein Modus der Komplexitätsreduzierung. Dies betrifft nicht nur rein physikalische Objekte, sondern wird vor allem bei den Objekten, die uns im Raum der Massenmedien entgegentreten, deutlich. 226 Auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel beschreibt diese Entstehung von Objekten im Akt der Zuwendung ähnlich: „Dieses abstrakte allgemeine Medium, das die Dingheit überhaupt oder das reine Wesen genannt werden kann, ist nichts anderes als das Hier und Jetzt, wie es sich erwiesen hat, nämlich als ein einfaches Zusammen von vielen, aber die vielen sind in ihrer Bestimmtheit selbst einfach allgemeine. Dieses Salz ist einfaches Hier, und zugleich vielfach; es ist weiß und auch scharf, auch kubisch gestaltet, auch von bestimmter Schwere und so weiter. Alle diese vielen Eigenschaften sind in einem einfachen Hier, worin sie sich also durchdringen (…).“ Zitat in: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, S. 84. Und weiter: „Das Eins ist das Moment der Negation, wie es selbst auf eine einfache Weise sich auf sich bezieht und Anderes ausschließt und die Dingheit als Ding bestimmt ist. (…) Als Eins (…) ist sie, wie sie von dieser Einheit mit dem Gegenteil befreit und an und für sich selbst ist. In diesen Momenten zusammen ist das Ding als das Wahre der Wahrnehmung vollendet (…).“ Zitat in: ebd., S. 85.

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Vor allem der Spielfilm, sozusagen das ausgereifteste massenmediale Medium, eignet sich für eine nähere Betrachtung. Ein Film ist, physikalisch betrachtet, nur Licht. Auf einer unterschiedlich belichteten Leinwand wechseln sich Farben und Helligkeiten in einem bestimmten Rhythmus ab. Alles, was uns in diesem Film als Objekte erscheint, eine Stadt, ein Mensch oder ein Auto, ist physikalisch betrachtet nicht existent. Es erscheinen uns Objekte, die aber gar keine objektive Existenz haben. Dass dies überhaupt möglich ist, liegt daran, dass im gesamten Film eine bestimmte Perspektive erzeugt wird, durch die wir glauben, Objekte und Sinn zu sehen. Ein Film ist eine einzige, gefasste Perspektive, ein klar definierter Kontext, in dem sich – ein bisschen durch das Vorwissen des Betrachters, aber vor allem durch die zahlreichen Techniken filmischen Erzählens und Darstellens – Dinge und Zustände ausbilden. Die Komplexität des Licht-Rhythmusspiels auf der Leinwand reduziert sich zu einem Etwas, einem objektiven Ding, zu dem Menschen einen Bezug entwickeln können. Beispielhaft sei hier der verbreitete Typus des Helden genannt. Aus dem Lichtermeer der Leinwand erscheinen Strukturen. Die Mustererkennung unseres Wahrnehmungsapparates scheint ein Gesicht zu erkennen. Vielleicht ein junges, mutiges und edles Gesicht, zu dem wir aufgrund einer Vor-Präferenz eine positive, emotionale Beziehung aufbauen. Es bildet sich ein Image. Wir sehen nicht mehr Licht und Farbe, sondern eine sympathische Person, mit der man sich identifizieren kann. Dieses Image ist nicht nur ein geistiges Bild, sondern es wird durch die Techniken der Narration und Montage in eine Geschichte eingewebt. Die Person wird dadurch zeichenhaft, dass sie abstrahiert mit anderen Zeichen in einer narrativen Grammatik vereint wird. Vielleicht erscheint da auch die Figur des Bösewichtes, der als Gegenpol zu unserem Helden steht und ihn dadurch erst definiert. Auch bei diesem Widersacher greifen die gleichen Mechanismen der Image-Bildung, nur unter umgekehrten Vorzeichen. Kein edles Gesicht erscheint uns auf der Leinwand, sondern ein finsteres und verbittertes. In der Handlung nun stehen sich diese beiden gegenüber und durschreiten mehrere Räume der Interaktion. Auch diese, mitunter komplexe Handlung, lässt sich in der Regel vereinfachen, indem man sie auf einen Mythos reduziert, auf eine vereinfachte Elementargeschichte.227 Im Rahmen des Filmes wäre das z. B. der Mythos vom ewigen 227 Mythos ist eigentlich zu verstehen als ein umfassendes, welterklärendes System. In den Welten der Medien tritt er aber als eine Art große Klammer mehrerer Teile auf. Der Literaturwissenschaftler Silvio Vietta stellt zur Geschichte und zur aktuellen Bedeutung des Mythos fest: „Die Grundfigur des Mythos ist die Legitimation durch Erzählung (…) Im Mythos wird die Welt der Erscheinungen in Zusammenhang mit einer Welt des Göttlichen und der Götter gebracht und dadurch in ihrem Sinn begründet oder beglaubigt. (…) Paradoxerweise beginnt aber die um 1800 beginnende ästhetische Moderne mit der Rehabilitation des Mythos. (…) Die Moderne ist eben auch eine Epoche der Remythisierung der Macht. Die moderne Industrialisierung, die Großstadt, die Technik, die Wissenschaft werden mythisiert, und wo die ‚großen‘ Mythen nicht mehr

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Kampf des Guten gegen das Böse, der bei einem Betrachter schon vorher verankert war. Durch diesen Mythos wird der Held zu einer Ikone. Zu einer Ikone die beispielhaft für eine bestimmte Perspektive auf die Welt einsteht, eine Bedeutung für Etwas, die sich im Betrachter spiegelt – und damit spiegelt sich der Held im Filmegucker. Die Figur des Helden ist damit nicht mehr nur ein Objekt der Handlung und der Narration. Sie ist ikonisch geworden. Ein Etwas, dass nicht nur ein Objekt ist, sondern ein Etwas, das Bedeutung für etwas hat und die Essenz dieses Etwas in sich trägt. Vielleicht sogar etwas, das einem wie das gesuchte, objektive Gegenüber erscheint, an dem sich der Mensch orientieren kann und das ihm Einblicke in die Welt offenbart und ihm vielleicht sogar einen Platz in dem umgebenden Chaos zuweist: Ein Mentor und Vorbild. Was auch immer die subjektive Bedeutung für einen Menschen sein mag: Am Ende ist all das nur Licht und Dunkelheit im Wechsel auf einer Leinwand. Die vermeintliche Objektivität ist eine Illusion; nicht nur im Film, sondern bei tendenziell allem, was in Medien erscheint. Ob Nachrichtenmoderater oder Influencer, ob Filmfigur oder ikonisches Stadtbild, ob Popstar oder Mode-Idol: Licht und Dunkelheit im Wechsel, zu einem sinnstiftenden Kontext vereint und vereinfacht durch eine bestimmte Perspektive, die rein im Subjekt entsteht, oder in dieses gelegt wurde. Diese Nicht-Existenz des vermeintlich Objektiven, dieses Verschwinden dessen, von dem man gemeinhin sagt „Es ist aber da“, ist bei näherer Betrachtung eine einschneidende Erkenntnis. Sie berührt die grundlegende Existenz der menschlichen Welt und führt uns damit zum ersten Menschen zurück. Der erste Mensch schaute in die Welt. Anschließend trat er in sie ein. Gestaltete und erforschte sie. Aber war das wirklich so? Schaute er wirklich in die Welt, oder schaute er nur auf Abbilder? Auf Vereinfachungen und Interpretationen, die ihm wie die Welt schienen, aber doch nur Illusionen waren? Auf Ikonen und Objekte als konzipierte Realität, um sich nicht der Überforderung unendlicher Komplexität und vermutlichem Chaos auszusetzen? Es ist unstrittig, dass Menschen die Welt nicht so sehen, wie sie ist. Die Welt die wir zu sehen meinen, ist eine virtuelle Simulation, errechnet von unserem Verstand anhand von Reizinformationen, die unsere Sinne liefern.228 Töne, Farben und Gerüche sind objektiv nicht so existent, wie tragfähig sind, treten die Mythen des Alltags an ihre Stelle.“ Zitat in: Vietta, Silvio: Vorwort, in: Vietta, Silvio/ Uerlings, Herbert: Moderne und Mythos, S. 7 f. 228 Der Hirnforscher Rainer Bösel fasst dieses zusammen: „Machen wir uns klar, dass bereits einfache Sinneswahrnehmungen keineswegs das Abbild einer Realität darstellen, sondern selbst bereits mentale Konstruktionen sind. Das gilt sogar für elementare Wahrnehmungen, die den eigenen Körper betreffen.“ Zitat in: Rainer Bösel: Wie das Gehirn „Wirklichkeit“ konstruiert, S.19. Diese relativ gesicherte Erkenntnis eröffnet natürlich ein weites Feld von neuen, mitunter auch unangenehmen Perspektiven. Der Philosoph Franz von Kutschera berichtet vom Philosophen David Hume, der schon im 18.Jh davon ausging, dass die „Außenwelt“ des Men-

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sie erscheinen, sondern geistige Abbilder, die durch das Aufblitzen von bestimmten, einem spezifischen Reiz ausgesetzten Sensoren, entstehen. Weder sind diese Sensoren umfassend, noch ist der Verstand dazu in der Lage, immer die „richtige“ Interpretation der Umgebung zu simulieren. Das weite Feld der optischen Täuschungen oder auch die Unterschiede zwischen verschiedenen Sinneseindrücken, die nicht schlüssig zu einem Bild zusammengefasst werden können und eine körperliche Abwehrreaktion hervorrufen – wie bei der Motion Sickness bei einigen 3D-Spielen, bei denen die Augen Bewegung, der Gleichgewichtssinn aber gleichzeitig Stillstand melden – verweisen darauf. Diese virtuelle, errechnete Welt, in der wir meinen zu leben, ist nicht die Welt, sie ist nur ein konstruiertes Bild davon; und überwiegend ein sehr reduziertes. Mannigfaltige Phänomene, die nicht für unser direktes Körperempfinden ausschlaggebend sind, erscheinen gar nicht in dieser Welt, da dafür die Sensoren fehlen. Ebenso wenig, wie Menschen die 70 000 000 000 Neutrinos, die jede Sekunde ihren Daumen durchschlagen, wahrnehmen, können die Augen die mikroskopischen Details der Welt erfassen.229 Weder Bakterien noch Viren sind a priori Teil unserer virtuellen Welt der Sinne, obwohl das vielleicht manchmal von Vorteil wäre. Dieser Umstand ist zweifellos beklagenswert und charakterisiert den Menschen dann doch irgendwie als Mängelwesen, dem eine tiefere Einsicht in die wirkliche Welt durch seine Sinne verwehrt ist. Mehr noch erzwingt es aber die Kommunikation, da unser fehlerhaftes Bild im Verstand ständig auf Richtigkeit überprüft werden muss – ob durch den Austausch der Sinnesreize untereinander oder in der Kommunikation mit anderen Menschen. Dieser Mangel an tiefer und umfassender Einsicht kann eigentlich nur durch einen bereits bekannten Aspekt erklärt werden: Komplexität. Da unser Verstand nur über eine begrenzten „Rechenfähigkeit“ verfügt, würde die Komplexität, die entsteht, wenn wir alle Atome um uns herum als Abbilder sehen könnten, wahrscheinlich überfordernd sein. Statt Erkenntnis stünde wahrscheinlich das blanke Chaos am Ende der direkten Schau der Unendlichkeit. Da dies nicht so ist und, wesentlicher noch, diese Komplexität uns in Form von Objekten als ein singuläres Ding erscheint, kann die Frage nach dem Wesen des Menschen – zumindest partiell und auf seine Wahrnehmung bezogen – damit beantwortet werden: Der Mensch ist eine Komplexitätsreduktionsmaschine. schen eigentlich unbeweisbar sei, aber man mit dieser Erkenntnis praktisch nicht leben könne und gibt in Bezug auf diese Feststellung diese Anekdote wieder: „In der indischen Philosophie wird erzählt, wie ein Lehrer mit seinem Schüler spazieren ging und ihm begreiflich zu machen suchte, daß die Welt bloßer Schein sei. Als ein wilder Elefant auftaucht, floh der Meister auf einen Baum. Der Schüler wunderte sich über diese Flucht vor einem bloßen Schein. Der Lehrer, der auf dem Baum seine Fassung wiedergewonnen hatte, antwortet ihm, es scheint ja nur so, als sei er geflohen.“ Zitat in: Kutschera, Franz von: Die falsche Objektivität, S.59 f. 229 Zu den Neutrinos, vgl.: Müller, Andreas (2007): Astro-Lexikon N 1, in: https://www.spektrum.de/astrowissen/ lexdt_n.html (abgerufen am 07.07.2017).

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Die künstliche, virtuelle Welt unseres Verstandes reduziert in zahlreichen Schritten die Komplexität von außen, hin zu der Kategorie eines Objektes, zu dem sich der Mensch dann in Form einer ikonischen Zuwendung positionieren kann. In dieser, unserer Welt, ist z. B. eine Unterscheidung zwischen real und medial, wie bei der Physis eines Autos und der Flüchtigkeit einer Filmfigur, eigentlich irrelevant. Beide sind sowieso virtuell und die Unterscheidung liegt in ihrer ikonischen Funktion und den Möglichkeiten der Welterschließung und Interaktionen, den sie bieten. Während z. B. das Licht als Medium des Filmes außer dem Sehen wenig Interaktionsmöglichkeiten bereitstellt, so verfügt ein Auto durch sein Medium der umfassenderen Physis über wesentlich mehr dieser Anknüpfungspunkte. Einfach, weil unser Körper dazu die „Werkzeuge“ hat und es auf diese Werkzeuge hin konzipiert wurde. Wir leben demnach immer schon in einer virtuellen, künstlichen Welt, die wir durch Interpretation und Aneignung – unserer Verortung im Meer der Sinnesreize – erschaffen. Diese Verortung kann auch als Kontext bezeichnet werden. Zahlreiche Erscheinungen der Sinne werden auf ein Objekt komprimiert, mit dem sich der Mensch in Beziehung setzen und sich kontextualisieren kann. Wie das genau passiert, ist Gegenstand entsprechender Forschungen, aber das Beispiel des Filmes und seiner mitunter universellen Verständlichkeit legt nahe, dass es anhand ähnlicher Abstraktionsprozesse passiert wie z. B. bei der Schaffung von filmischen Welten – und zwar anhand der Bindung von objekthaften Schemen an emotionale Images, zeichenhaft gefasst in Narration, ehe sich in der einen großen Geschichte des Mythos für den Betrachter eine Sinnhaftigkeit anhand der Ikone ausbildet. Der Kontext macht die Welt begreifbar, er reduziert die Komplexität anhand von Dingen und Sinngehalt, die uns als eins entgegentreten. Er ist damit der Zusammenhang zwischen dem Subjekt und dem, was uns als scheinbares Objekt erscheint. Aber auch diese scheinbaren Objekte sind keine wirklichen Dinge, sie werden erst durch die Relationen eines Kontextes, in den sie eingewoben sind, dazu. In diesem Kontext ist immer eine Perspektive enthalten. Ein bestimmter Ausschnitt der Welt unter bestimmten Voraussetzungen. Eine gefasste Perspektive auf Etwas. In den Perspektiven ist die Welt durch Kontextualisierung objektiviert. Sie wird Ding und Gegenstand. In der Form der Ikonen offenbart sie ein Tableau aus unterschiedlichen Weltzugängen für den Menschen. Diese können individuell ephemer sein, oder, wie in der globalisierten Welt der Massenmedien, ein Netz aus zahlreichen, vorgefertigten Zugängen ausbilden. Aber unsere virtuelle Welt ist vor allem immer eines: subjektiv.230 230 Der Jesuit und Anthropologe Pierre Teilhard de Chardin formuliert das auf ähnliche Weise: „Objekt und Subjekt vermischen sich und verwandeln sich gegenseitig im Akt des Erkennens. Deshalb findet der Mensch sich darin wieder und betrachtet sich selbst in allem, was er sieht, ob er will oder nicht. (…) Seit Jahrtausenden betrachtet er tatsächlich nur sich selbst.“ Zitat in: Chardin, Pierre Teilhard de: Der Mensch im Kosmos, S. 18 f.

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Perspektiven Das Annehmen dieser Erkenntnis des Primats des Subjektiven führt zwangsläufig zu einer erweiterten Betrachtungsebene in der Beschäftigung mit dem Menschen und dem Sein. Meist – und bisher auch in diesem Werk – ist dabei ein scheinbar objektiver Zugang vorherrschend. Aus dem Blickwinkel einer übergeordneten Perspektive, eines herrschaftlichen Herabsehens auf das muntere Treiben in der Welt, werden Subjekte zu abstrakten Kategorien. Werden aus der Komplexität des menschlichen Daseins abstrahierte Objekte, die vermessen, analysiert und in ihren Relationen vergleichbar gemacht werden. Entsteht – wie auch in diesem Text – die Ikone des einen Menschen, der scheinbar als Archetypus für alle steht, aber doch in der Welt kaum zu finden ist, da er, gelöst aus seinem ursprünglichen Kontext, ein reines Konzept ist. Nicht nur theoretisch, sondern auch ganz praktisch ist er der Fixpunkt in der Gestaltung unserer virtuellen Welt, wie beispielsweise in der Architektur, in der mitunter Größen, Abstände, Raummaße und Höhen anhand eines statistischen Durchschnittsmenschen bestimmt werden, unter dessen Kategorie wohl nur die wenigsten Individuen fallen.231 Hinter jeder dieser Objektivierungen steht immer ein Konzept, dem ein bestimmter Kontext zugrunde liegt, die Betrachtung eines bestimmten Ausschnittes der Welt unter einer bestimmten Perspektive, und dieser ist immer auch subjektiv, auch wenn er durch breite Kommunikation und stetige Verfeinerung den Anschein einer allgemeinen Objektivität erlangen kann. In allem, was uns erscheint, ist immer auch eine subjektive Perspektive enthalten. Der Mensch sieht in die von ihm geschaffene Welt und sieht sich selbst, da er in eine Welt der Konzepte schaut. Was ihm wie ein objektives Gegenüber anmutet, liegt letztlich in ihm selbst. Konzept und Kontext durchdringen sich im Akt der Weltwahrnehmung. Die Welt ist eine Projektion, zwar durchaus von externen Einflüssen angeregt, aber primär doch ein Spiegel der subjektiven Zustände im Individuum. Unter dieser Prämisse verlagern sich auch die Befunde zur Welt in den Menschen. Sie lassen sich erst umfassender begreifen, wenn man sie nicht in den Raum irgendwelcher scheinbar externen Fakten verschiebt, sondern immer auch als Abbild subjektiver Zustände begreift. In dem – vermeintlich objektiven, aber natürlich immer auch subjektiven – Versuch einer Bestandsaufnahme der Welt zu Beginn dieses Buches, erschienen mehrere Aspekte, die als prägend definiert wurden. Diese Aspekte wie Verdichtung, räumliche Trennung oder Komplexität sind natürlich nur aus einer bestimmten Perspektive besonders auffällig. Bei allen Versuchen der re231 Exemplarisch hierfür steht der bekannte Modulor des Architekten Le Corbusier, in dem ausgehend von einem mathematisch normierten Idealmenschen, Architektur als harmonische Erweiterung dieser Proportionen entwickelt wird. Vgl.: Livio, Mario: The golden ratio, S. 172–175.

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flektierten und mehrere Fachperspektiven inkludierenden systematischen Auseinandersetzung ist es sehr wahrscheinlich, dass aus einer anderen Perspektive auch ganz andere Kategorien entstehen. Der Mensch bleibt Mensch und ist damit immer einer Perspektive verhaftet. Die umfassende Erkenntnis kann nur ein Streben sein und nicht ein Endzustand. Dennoch erweitert das Bewusstsein für die subjektive Komponente im Objektiven unserer virtuellen Welt den Zugang zu ihr. Der Aspekt der räumlichen Agglomeration, der Verdichtung um einen gedachten Punkt, ist in der Welt der Gegenwart ein Faktum. Siedlungen und Städte gruppieren sich meist um einen gedachten Kern. Schon allein deshalb, weil Häuser überhaupt in Städten wie um einen unsichtbaren Massenschwerpunkt gruppiert sind, anstatt gleichmäßig verteilt in der Landschaft zu stehen (was vereinzelt sicherlich auch der Fall sein kann).232 Zu diesem Faktum können mehrere Theorien aus verschiedenen Perspektiven herangezogen werden. Der Wirtschaftler wird die Agglomeration wohl eher aus der Perspektive der Notwendigkeit zur Optimierung der Arbeitsabläufe sehen; der Religionswissenschaftler als gesuchte Nähe zu einer umbauten Göttlichkeit; der Logistiker eher als Ausdruck der Optimierung von Lagerung und Verkehrswegen; der Politiker als Verbesserung der Sicherheit und Kontrolle durch Eingrenzung von Innen und Außen; und der Soziologe vielleicht aus dem Befund des Bedürfnisses des Menschen nach einer Herdengeborgenheit. All dies kann richtig sein und erzeugt im Austausch der Perspektiven ein größeres Verständnis für den objektiven Befund der Agglomeration. Aber die aus dem Subjektiven entspringende Konstruiertheit dieser letztlich virtuellen Stadt, bleibt tendenziell ausgeklammert. Unter der Prämisse des Kontextes erscheint die Verdichtung in einer Agglomeration dagegen wie eine Projektion grundlegender Weltwahrnehmungsmodi in die physischen Gegebenheiten. Der Verstand als Komplexitätsreduktionsmaschine verdichtet Informationen. Aus dem Chaos der Sinneseindrücke generiert er Objekte und schlussendlich eine Ikone, anhand derer ein Umgang mit den Komplexitäten möglich wird. Er bindet und strukturiert Erscheinungen hin zu einem Etwas und schafft damit die Möglichkeit, diese zu beherrschen.233 Mannigfaltigkeit wird 232 Thomas Jefferson stellt z. B. in der Beschreibung des Staats von Virginia Ende des 18. Jh. eher den Typus des alleine stehenden Farmhauses fest und schreibt: „Wir haben keine Stadtgebiete (…). Da unser Land überall von schiffbaren Strömen durchschnitten wird und wir, anstatt den Handel aufsuchen zu müssen, ihn vor der Türe finden, lag darin vermutlich einer der Gründe dafür, daß wir keine bedeutenden Städte haben.“ Zitat in: Jefferson, Thomas/Wasser, Hartmut: Betrachtungen über den Staat Virginia, S. 234 f. 233 Es sei in diesem Zusammenhang auch auf den sehr weltlichen Machtaspekt von Ikonen hingewiesen. Der Historiker Gerd Schwerhoff schreibt zum Thema Bildersturm und der Bilderkritik in der Reformationszeit in Bezug auf den Historiker Guy P. Marchal: „Man verehrte in einem bestimmten Kultbild z. B. nicht schlechthin Maria, sondern eine bestimmte raumzeitlich klar verortete Maria (…). Bestimmte in ihren Bildern präsente Heilige wurden so zu Patronen klar umrissener menschlicher Gemeinschaften, seien es Bruderschaften oder Zünfte oder seien es ganze Städte oder Landschaften. Dabei steigerte die Intensität der Anerkennung das

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auf einen Punkt vereint, an dem sich ein Kontext festmacht, der strukturierend auf die Mannigfaltigkeit zurückwirkt. Ist eine Stadt nicht genau das? Die Zusammenfassung menschlichen Lebens um einen gedachten Punkt; eine Ikone – als Kategorie in welcher Form auch immer – um die sich, daran anpassend und an ihr orientierend, das individuelle Leben gruppiert. Der Modus der Weltwahrnehmung prägt sich, in einem gemeinschaftlichen Akt, in die Natur ein. In ihr werden Schnittstellen zur virtuellen Welt geschaffen, durch die sich die Muster subjektiven Empfindens wiederum in den Erscheinungen spiegeln. Aus diesem Ansatz heraus ist auch die Aufteilung der Welt in unterschiedliche Räume zu sehen. Die einzelnen Mikroperspektiven der Menschen gruppieren sich um das verbindende Element einer Ikone, die als Schnittstelle zwischen diesen fungiert und auf sie wiederum identitätsstiftend wirkt. Aber auch diese Identität bleibt immer der subjektiven Wahrnehmung des Individuums überlassen. Die physische Manifestation eines Kontextes hat nicht die gleiche, allgemein definierende Kraft wie sein mentaler Ursprung. Er ist ein strukturelles Abbild, kein inhaltliches, da er als Manifestation seine konzeptuelle Wechselwirkung verliert. Die vermeintliche Hoffnung, in der Prägung des Subjektiven auf die Welt eine objektive Bestätigung zu erhalten, scheint verfehlt. Emotionen und Mythen sind die prägenden Elemente in einem Kontext. Durch diese erfolgt der primäre Anschluss an die Lebenswirklichkeit eines Betrachters oder eines Bewohners, aber letztlich bleibt die Interpretation immer ein subjektiver Akt – alles wird durch den individuellen Verstand errechnet. So sehr städtische und strukturelle Kontexte das moderne Leben prägen, so mannigfaltig sind auch ihre individuellen Kontexte. Eine bestimmte Stadt hat eine bestimmte Struktur, aber in der individuellen Welt eines jeden ihrer Bewohner ist sie eine andere – zumindest potentiell, da es unterschiedliche Konzepte zu ihr geben kann, die wiederrum Kontexte prägen. Das muss nicht nur für Städte gelten, sondern für alle Strukturen, die an dem Modus der Kontextualisierung partizipieren. Der Kontext eines Filmes, eines Popstars oder einer Stadt, aus der Subjektivität in die Welt geprägt, bleibt in der Wahrnehmung ebendieser Subjektivität überlassen. Er wird im Akt der Wahrnehmung interpretiert, damit modifiziert und wieder zurück in die Welt geprägt; oder – und das ist wohl der häufigste Fall – nicht mehr verstanden.

Maß an Heiligkeit, das ein bestimmtes Bild genoss; es ‚lebte aus der Gruppenidentität der Verehrer heraus.‘ Die Kehrseite der den Bildern zugeschriebenen Macht konnte aber sehr wohl ihre Ohnmacht und Erniedrigung sein; in seiner ‚Vergegenständlichung‘ war das Heilige zugleich auch ‚verfügbar‘ und ‚dem menschlichen Zugriff ausgeliefert‘. (…) Umgekehrt können nun Bilderkritik und Bildersturm als ein Meilenstein im Prozess der Entzauberung der Welt (Weber) verstanden werden. Dem Heiligen wie dem Göttlichen werden ihre körperliche Existenz in der gegenwärtigen Welt abgesprochen.“ Zitat in: Schwerhoff, Gerd: Bildersturm und Blasphemie, in: Vorländer, Hans: Transzendenz und Konstitution von Ordnungen, S. 190 f.

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So sehr ein Kontext auch Erscheinungen definiert, so sehr bleibt er unverstanden, wenn kein Zugang mehr zu ihm gefunden wird; wenn das Buch nicht gelesen und der Film nicht verstanden werden kann. Vor allem gilt dies für Objekte und Ikonen, die ja erst durch einen Kontext als solche definiert werden. Wenn der Zusammenhang hinter einem Objekt nicht mehr verstanden wird oder die Räume, in denen es seine logische Anwendung erhält, wegfallen, verliert es seinen Status als Objekt – verschwindet - oder wird in neue subjektive Annahmen eingebettet. Diese können so vielfältig sein, wie es Menschen und ihre Zustände gibt. Es ist der Befund der Komplexität, der sich dahinter verbirgt. Unsere Welt – vor allem die mediale – ist ein Netzwerk aus zahlreichen Objekten und ihren Ikonen, zu denen sich Menschen positionieren können. Aber durch diese potentielle Unschärfe, den Verlust des Kontextes, potenziert sich ihre Anzahl. Eine Ikone muss nicht für einen Kontext stehen, sondern kann beliebig viele enthalten, die auf sie geprägt werden. Durch das Versehen von Ikonen und Objekten mit stetig neuen Kontexten entstehen wieder neue Komplexitäten. Diese neuen Komplexitäten werden wiederum potenziert durch einen ständigen Diskurs und Austausch über sie im kommunikativen Raum der Medien. Dadurch erscheint die Welt mitunter komplexer als sie physisch eigentlich ist. Wer die Naturräume der Welt ein bisschen bereist hat, wird feststellen, wie ähnlich sich viele doch eigentlich sind. Ein Hochgebirge in Europa unterscheidet sich nicht signifikant von seinen Counterparts in Asien oder Lateinamerika. Erst in der Erfassung dieser in einem spezifischen Kontext, wie z. B. Nationen, Kulturen oder auch Höhenmeter, treten deutliche kategorische Unterschiede auf. Auch ein Strand z. B. an der Ostsee unterscheidet sich an einen sonnigen Tag nicht wesentlich von einem Strand an der Südsee. Und doch sind die Kontexte, die Perspektiven auf ein bestimmtes Leben an ihnen, vor allem durch die Konstruktion und Kommunikation in Massenmedien unterschiedlich. Das Ähnliche wird getrennt durch unterschiedliche Perspektiven auf es. Durch den Diskurs über diese Kontexte entsteht immer mehr Komplexität. Letztlich eine Scheinkomplexität, die aus der Abgrenzung der eigenen zu einer anderen Perspektive erwächst. Die Ausbildung immer weiterer Agglomerationen, immer umfassenderer Kontexte, in die partielle Kontexte integriert werden, erhöht die Komplexität noch einmal zusätzlich. Die Wissenscontainer und computergestützten Modelle der Gegenwart integrieren viele einzelne Perspektiven in immer umfassendere Gesamtsysteme. Damit verlassen aber auch diese Kontexte mitunter den Rahmen des individuell Nachvollziehbaren, da ihre Komplexität das Individuum übersteigt. Während einzelne Kontexte noch schlüssig und im Rahmen der Kommunikation verhandelbar sind, erscheinen größere Agglomerationen nicht mehr in einem menschlichen Maßstab. Der individuelle Zugang zu ihnen scheint nur in einem Modus der Vereinfachung möglich, in der Bildung eines Metakontextes, der so viele 188

Erscheinungen umfasst, dass die Verbindungen in ihm nicht mehr nachvollzogen werden können. Übrig bleiben entwurzelte Ikonen, die aufgrund ihrer beliebigen Deutbarkeit wiederum eine eigene Welt der Metakomplexität ausbilden. Aktion und Reaktion fallen auseinander. Die eigentliche Funktion des Kontextes, eine Vereinfachung der Komplexität des Seins hin zum Individuum zu ermöglichen, verkehrt sich in ihr Gegenteil. Statt einer Relation zum Sein, entsteht das Unverständnis vor einer virtuellen Welt der Hyperkomplexität. Der Mensch erschafft aus Unverständnis über die „echte“ Welt eine Scheinwelt. Er prägt sich und seine Interpretation von der Welt in ein virtuelles Dasein. Aber diese ist mit der Zeit so komplex geworden, dass sie die Aufnahmekapazität des Menschen übersteigt. Nach 10 000 Jahren Entwicklung steht der Mensch ahnungslos vor dem, was eigentlich er selbst ist. Die prägenden Aspekte der Gegenwart sind kein natürlicher Zustand, aber auch das, was in der Welt als Objekte und faktische Zusammenhänge existiert, ist kein rein natürlicher Zustand – zumindest prinzipiell. Unsere Welt ist virtuell. Die Schaffung von Objekten und Kontexten erfolgt im Verstand und der Mensch prägt diese auf die Physis, wodurch die Welt als virtuelles, auf den Menschen ausgerichtetes System entsteht. Medien und Physis sind in ihr gleichgestellt, unterscheidbar nur am Grad ihrer Komplexität und der Interagierbarkeit mit ihr. Entgegen einer vereinfachten Auffassung von Virtualität als Werkzeug, existiert in dieser menschlichen, virtuellen Welt kein kategorischer Unterschied zwischen geistig und materiell.234 Das Haus, das sich der Architekt im Verstand ausdenkt, ist mitunter dasselbe wie das real gebaute. Beides teilt sich denselben Kontext und für das subjektive Empfinden dieses Architekten ist vielleicht seine Vorstellung viel klarer kontextualisiert, viel mehr Realität als die nachfolgende Realisierung. Der wesentliche Unterschied liegt lediglich in den unterschiedlichen Trägermedien, auf denen sich der Kontext des Hauses manifestiert. Die Realisierung ist wesentlich komplexer, bietet mehr Zugangsmöglichkeiten und ist damit besser kommunizierbarer als das geistige Bild. Sich alle Atome und möglichen Zustände des Gebäudes vorzustellen, liegt nicht in der Kapazität des Verstandes. Auch natürliche Erscheinungen, für die der Mensch Begriffe und Kategorien bildet, sind Teil dieser virtuellen Welt. Sie verlassen im Modus des menschlichen Zuganges ihren natürlichen Status und werden Objekt. Beispielhaft seien die unendlichen Größen des Universums genannt. Schon eine konkrete Vorstellung von der Größe eines Planeten übersteigt den menschlichen Ver234 Diese Wechselwirkung sei in Kontrast zu einem Dualismus gestellt, der sich in der Kritik von Karl Marx an der Methode Hegels bei beiden Ansätzen zeigt: „Für Hegel ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußre Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.“ Zitat in: Marx, Karl: Das Kapital, S. 46.

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stand; von derjenigen einer Sonne oder den Maßstäben einer Galaxie ganz zu schweigen. Als natürliche Erscheinungen sind sie als direkter Bezug für den Menschen nicht fassbar. Nur als geistige Abstraktion sind sie es, indem sie in einen bestimmten Kontext der Betrachtung – eine bestimmte Perspektive – eingebunden werden. Die unfassbare Natürlichkeit des Sonnensystems wird auf Merkmale reduziert, im Maßstab deutlich verkleinert und steht dann vielleicht als Modell in einem Kinderzimmer. Erst, indem sie objekthaft und in eine bestimmte Perspektive gefasst wird, wird die Unendlichkeit Teil unserer Welt, und erst durch diese Transformation dem menschlichen Geiste begreifbar. Demnach liegt der grundsätzliche Unterschied des Seins zwischen einer Existenz ohne kontextualisierenden Geist, nennen wir sie Natur, und dem, was durch die Kontextualisierung eines Geistes existiert und in seiner Existenz an ihn gebunden ist, nennen wir es Virtualität. All die Aspekte der Gegenwart – Masse im Austausch, Komplexität, Agglomeration und Struktur – sind letztlich im Menschen. In uns. Auch das Chaos, vor dem der Mensch zu stehen scheint, ist in ihm. Er prägt es in die Welt – in der Hoffnung auf eine externe Bestätigung durch andere. Aber er erschafft dadurch die Perspektive der scheinbar umfassenden Herrschaft und Objektivität, die er vielleicht nur als Hoffnung im Sein vermutet. Da scheinbar alles um ihn kreist, muss man sich tiefer mit diesem Menschen auseinandersetzen. Da die virtuelle Welt, die uns in ihrer Komplexität entgegentritt, aus seinen geistigen Strukturen erschaffen ist, muss die Antwort auf die Frage zu den Strukturen der Welt in ihm liegen. Nicht in einer vermeintlich objektiven Außenbetrachtung, sondern in einer inneren Perspektive.

Das Ich und das Sein Die Erkenntnis, dass der Mensch in einer virtuellen Welt lebt, kann etwas Verstörendes haben. Die scheinbar objektive Welt der Gegebenheiten bricht auf und offenbart Zweifel. Ist die Erscheinung, die mir doch scheinbar so unzweifelhaft gegenübersteht, wirklich existent, oder nur eine Illusion meiner Sinne? Sind die Dinge wirklich so, wie sie mir erscheinen, oder erliege ich Trugbildern? Fehlannahmen? Falschen Interpretationen der Wirklichkeit? Ist meine Welt tatsächlich die echte Welt oder eine Wahnvorstellung, in der mein Verstand sich zunehmend selbst in im190

mer neue, subjektive Phantasiekonstruktionen hüllt? Diese existenzialistische Perspektive auf sich selbst wird von den meisten Menschen gemieden. Verständlicherweise, denn sie führt – ohne eine konstruktive Rahmung – nur allzu leicht in die Negationen der Existenz von allem und damit vielleicht in das Auseinanderfallen des eigenen, sinnhaften Weltbildes. Die Dekonstruktion der virtuellen Welt des Menschen dekonstruiert letztlich auch den Menschen selbst. Sie ist daher durchaus als eine Denkweise hin zur Auslöschung der eigenen Existenz zu betrachten, aber sie ist notwendig, um zum Kern des Menschseins vorzustoßen. Wenn alles in der Welt letztlich eine Simulation unseres Verstandes ist; wenn alles zwar durch irgendwas induziert, aber in seiner objektiven Form ein Trugbild ist; wenn alles nur Einbildung zu sein scheint: Was ist dann das, was von der Existenz wirklich bleibt? Was ist der Kern, bei dem wir uns absolut sicher sein können, dass er wirklich existiert? Die unbestreitbaren Grundmauern der Existenz? Wenig. Eigentlich gibt es nur zwei Kategorien, von denen man sagen kann, dass sie absolut gesichert existieren: Das Ich und das Sein.235 Nur bei diesen beiden können wir uns absolut sicher sein, dass es sie gibt.

235 Diese Erkenntnis ist allerdings unter einem wichtigen Vorzeichen zu betrachten: Sie ist rein subjektiv, nur in der temporären Selbstwahrnehmung existent. Weder kann sie objektiviert werden, noch kann sie als objektivsubjektiv für andere Selbstwahrnehmungen als gegeben angesehen werden, da dieser Dualismus kein Gegenstand der direkten Beobachtung ist. Dahinter verbirgt sich ein grundsätzliches Dilemma, das eines der Hauptthemen der Philosophie ist. Nicht wenige Ansätze, vor allem in der daraus entspringenden Theologie, gehen z. B. davon aus, dass das Ich zum Sein eigentlich kein Gegensatz ist, sondern dass das Ich Bestandteil des Seins ist. Hierzu Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der das Sein als eine abstrakte bzw. göttliche Kategorie eines Urgrundes im Gegensatz zu einem Nicht-Sein sieht: „Diese Gewißheit aber gibt in der Tat sich selbst für die abstrakteste und ärmste Wahrheit aus. Sie sagt von dem, was sie weiß, nur dies aus: es ist; und ihre Wahrheit enthält allein das Sein der Sache; das Bewußtsein seinerseits ist in dieser Gewißheit nur als reines Ich; oder Ich bin darin nur als reiner Dieser und der Gegenstand ebenso nur als reines Dieses.“ Zitat in: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, S. 71. Und weiter: „Die Materie ist hingegen nicht ein seiendes Ding, sondern das Sein als allgemeines oder in der Weise des Begriffs. Die Vernunft, welche noch Instinkt, macht diesen richtigen Unterschied ohne das Bewußtsein, daß sie, indem sie das Gesetz an allem sinnlichen Sein versucht, eben darin sein nur sinnliches Sein aufhebt und, indem sie seine Momente als Materien auffaßt, ihre Wesenheit ihm zum Allgemeinen geworden und in diesem Ausdruck als ein unsinnliches Sinnliches, als ein körperloses und doch gegenständliches Sein ausgesprochen ist.“ Zitat in: ebd., S. 182. Auch z. B. der Zen-Buddhismus geht von einem umfassenden Sein aus, unter dem aber der Gegensatz von Ich und Sein als eine Täuschung und Verblendung angesehen und stattdessen die Einheit vom Ich im Sein gepredigt wird. Vgl.: Kapleau, Philip: Die drei Pfeiler des Zen, S. 168. Auch der Daoismus sieht die Einheit als Ziel, was einer seiner Schlüsselphilosophen, Dschuang Dsi, folgendermaßen auf den Punkt bringt: „So heißt es: der höchste Mensch ist frei vom Ich; der geistige Mensch ist frei vom Werk“, Zitat in: Dsi, Dschuang: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, S. 43. Der Philosoph Platon führte das Sein unter der Bezeichnung Ousia als einen sehr komplexen Begriff in die Philosophie ein. Hier hingegen wird der Begriff recht einfach definiert. Sein ist all das, was nicht Ich ist. Also ein Dualismus. Ob dieser Dualismus aber nun in „Wirklichkeit“ eine Dichotomie, ein Zusammenstehen ohne direkten Bezug, oder aber ein Eins ist, steht außerhalb der Erkenntnis.

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Es ist unzweifelhaft, dass es ein Ich gibt.236 Und ebenso unzweifelhaft ist es, dass diesem Ich ein Sein gegenübersteht.237 Etwas, das außerhalb dieses Ichs existiert. Eine Vielzahl, die das singuläre Ich umgibt. Es liegt eine tiefe Tragik darin, dass diese unzweifelhaften Eckpfeiler der Existenz aber nur als Kategorien existieren. Sie sind keine Gegenstände, keine Objekte, sondern vielleicht auch wiederum nur Trugbilder, durch die deren Verfasstheit als Kategorie begreifbar wird. Wir schauen in den Spiegel uns sagen: Das bin ich. Aber woran machen wir das fest? Was ist der Kern dieses Ichs? Augenfarbe, Frisur, Alter? Auf einem Babyfoto von sich selbst erkennt man sich. Aber ist das nicht ein komplett anderer Mensch? Vom Aussehen bis zum Verstand, abgesehen von kleinen Merkmalen eben „Nicht-Ich“? Gilt dieses nicht auch für die scheinbare zweite Konstante, das Sein? Natürlich existiert etwas außerhalb unseres Ichs. Aber können wir sicher sein, dass nicht auch noch ganz andere Seiensformen, jenseits von dem, was wir als Sein verstehen, existieren?

236 Die Erfahrung des Ichs ist erstmal eine rein subjektive Erfahrung, wie es auch der Anthropologe Pierre Teilhard de Chardin formuliert: „Vom Standpunkt der Erfahrung – dem unseren – ist das Ich-bewußtsein, seinem Wortsinn entsprechend, die von einem Bewußtsein erworbene Fähigkeit, sich auf sich selbst zurückzuziehen und von sich selbst Besitz zu nehmen, wie von einem Objekt (…) Durch diese Individualisierung seiner selbst auf dem Grund von sich selbst findet sich das lebende Element, das sich bisher in einem weitläufigen Kreis von Wahrnehmung und Tätigkeit zerstreute und verteilte, zum erstenmal als punktförmiges Zentrum, in dem sich alle Vorstellungen und Erfahrungen verknoten und in einer bewußten Gesamtorganisation festigen.“ Zitat in: Chardin, Pierre Teilhard de: Der Mensch im Kosmos, S. 165. Damit ist das Ich als Objekt, wie alle Objekte, nur in der subjektiven Wahrnehmung ein Eines. Nähert man sich ihm in dem Versuch, es als ein Objekt genau zu bestimmen an, zerfällt es, wie es auch der Hirnforscher Gerhard Roth beschreibt: „Wir sind eine Unmenge verschiedener Erlebniszustände. Und doch scheint es eine Konstante in diesem Wirrwarr zu geben: Das Ich. Ein Blick in den Spiegel oder auf ein vergilbtes Foto sagt mir (in aller Regel!): Das bin ich! Ich wache morgens auf und weiß (in aller Regel!), wer ich bin, und meist weiß ich (zuweilen mit einiger Verzögerung), wo ich bin. ‚Ich bin ich – wer sonst!‘ Denken wir aber darüber nach, wer oder was dieses Ich eigentlich ist, dann werden wir nicht fündig.“ Zitat in: Roth, Gerhard: Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten, S. 72. Was Gerhard Roth zu der Schlussfolgerung bringt: „Das Ich ist also gar keine einheitliche Instanz, sondern ein Attribut, ein Etikett, das sich an unterschiedliche Bewusstseinsoperationen anhefte.“ Zitat in: ebd., S. 74. 237 All die unterschiedlichen Konzepte, die die Kategorien von Ich und Sein umschweben, etablieren ein sehr weites Diskursfeld, was auch an einer Feststellung des Philosophen Ernst Cassirer deutlich wird: „Der Begriff des Seins bildet nicht nur den historischen Anfangs- und Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Philosophie, sondern er scheint auch systematisch die Gesamtheit der ihr möglichen Fragen und Antworten zu umspannen.“ Zitat in: Cassirer, Ernst: Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum (1931), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 487. Der Philosoph Jürgen Habermas verweist in Bezug auf den Physiker Ernst Mach auf eine generelle, praktische Haltung: „An sich existiert die Wirklichkeit als Gesamtheit der Elemente und aller Verbindungen dieser Elemente. Für uns existiert sie als eine Masse von Körpern in Korrespondenz mit unserem Ich. Unter den Symbolen ‚Körper‘ und ‚Ich‘ fassen wir relativ beständige Elementenverbindungen für bestimmte praktische Zwecke zusammen. Diese Einteilung ist ein Notbehelf zur vorläufigen Orientierung. Sie gehört zur natürlichen Weltauffassung.“ Zitat in: Habermas, Jürgen: Erkenntnis und Interesse, S. 108.

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Weder wissen wir, was das eigentlich ist, das Ich und das Sein, noch können wir es mit Inhalt füllen oder definieren. Aber: als Kategorien, als abstrakte Grundpfeiler, bildet dieser Gegensatz zwischen Ich und Sein die einzige Konstante der Existenz, die unzweifelhaft a priori vorliegt. Es gibt viele, teils sehr unterschiedliche Ansätze, um diese beiden Kategorien zu begreifen. Sie erstrecken sich von der Philosophie und Kunst über die Religion und Esoterik hin bis hin zur Science of Mind und der modernen Neurowissenschaft. Eigentlich kann fast alles, womit der Mensch sich so befasst, als eine Abarbeitung an diesen beiden Kategorien begriffen werden. Ist Kunst, Gestaltung, ja nicht eigentlich jede Form von Arbeit eine Auseinandersetzung zwischen Ich und Sein?238 Ein stetiges Mühen, diese beiden Kategorien mit Etwas zu füllen und miteinander zu verbinden? Wenn der Mensch, das Ich, sich durch Aktion in das Sein spiegelt und prägt, ist dann nicht auch der Mensch und damit das Ich, aus dieser Aktion heraus beschreibbar? Die Bestandsaufnahme und Hypothese des Great Game of Civilization haben Grundzüge gezeigt, die sich in einer spezifischen Kultur seit der neolithischen Revolution stets wiederholen. Obwohl diese nicht universell sein müssen, lassen sich daraus doch Rückschlüsse auf den Menschen, genauer: auf den spezifischen Menschen unter diesen Vorzeichen, ziehen. Da die Welt der Kultur sowieso eine virtuelle, konstruierte Welt ist, lassen sich die Strukturen auch auf die virtuelle Welt des Ichs anwenden. Nicht inhaltlich, aber in den kategorischen Relationen, die sich in ihnen offenbaren. Das Ich lässt sich unter dieser Annahme genauso beschreiben wie ein Objekt. Es ist eine Kategorie, eine Konstruktion, um zahllose Einzeleindrücke auf ein Etwas hin zu bündeln. Je weiter man sich damit beschäftigt, desto mehr zerfällt es – wie das Auto – in seine Einzelteile, aber als 238 Das scheint nicht zwangsläufig so zu sein, obwohl es doch der subjektiven Sicht des Künstlers entspricht. Der Architekt Jörg Kurt Grütter merkt zur eigenständigen Person des Künstlers an: „Kunst war ursprünglich eine Sublimation für kultische Handlungen mit symbolischem Gehalt. Kunst war nichts Eigenständiges, sie war eng mit der sozialmoralischen Struktur verknüpft, ja, sie war Teil von ihr. Solange Kunst ausschliesslich kultischen Zwecken diente, blieben ihre Erschaffer anonym. Erst als die künstlerische Produktion einen gewissen Eigenwert erlangte und eine unabhängige Tätigkeit wurde, tritt der Künstler als solcher auf. (…) In der abendländischen Kultur geschah dies zweimal: erst in der griechischen Kultur vor unserer Zeitrechnung und später seit der Renaissance. Vereinzelt kennen wir auch die Namen der Erbauer der alten ägyptischen Bauwerke, hingegen sind die Schöpfer vieler mittelalterlicher Meisterwerke anonym geblieben (…).“ Zitat in: Grütter, Jörg Kurt: Grundlagen der Architektur-Wahrnehmung, S. 85. Der Psychologe Julian Jaynes sieht die antike griechische Kultur ebenfalls als einen Wendepunkt an. In einer zwar fundierten, aber doch recht spekulativen Theorie argumentiert er, dass der frühe Mensch nicht über ein Ich-Bewusstsein im heutigen Sinn verfügt habe. Er soll eher in einem Stadium der unbewussten Handlung existiert haben, in dem „göttliche Stimmen“ – Jaynes leitet dieses aus seiner Forschung zur Schizophrenie ab – handlungsregulativ erschienen. Erst in der Kunst, vor allem der Literatur der Antike, zeichne sich das Entstehen eines Selbst-Bewusstseins des aktiven „Ichs“ als Kategorie ab. Vgl.: Jaynes, Julian: The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind, passim

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Modus der Weltzuwendung macht es die Komplexität des Seins beherrschbar. Demnach ist das Ich als eine Art Masseschwerpunkt zu begreifen, durch den alle Eindrücke auf ein Eines bezogen werden. Das Ich ist damit eine autopoetische Kategorie, die aus der Komplexität entsteht und in der Weltaneignung des Ichs eben genau dieses erschafft. Im Endeffekt ist es damit wie die Herrschaft. Ein Modus der inneren Herrschaft über das subjektive Sein. Wie in den Agglomerationen der Gegenwart wird dabei die Komplexität um ein Zentrum angeordnet, das dem Chaos Struktur verleiht. Ein leeres Zentrum, das seine Existenz nur in der strukturierenden Wirkung offenbart und das im Modus der Herrschaft aus den Ichs kollektiv in die Welt geprägt wird. Das Sein und das Ich sind damit Kategorien, die sich nicht aus sich selbst heraus manifestieren, sondern nur in ihrer Wirkung auf das andere. Erst durch das Ich strukturiert sich das Sein und erst durch diese Strukturierung wird das Ich gebildet. Die Gegensätzlichkeiten der Welt lassen sich so auf diesen Ur-Dualismus zurückführen. Erst in der Dualität, die der Konstellation Ich und Sein zugrunde liegt, bildet sich das Etwas aus. Zu diesen Eckpfeilern der Existenz gesellt sich ein weiteres Phänomen, das durch die Dualität von Ich und Sein zwar wahrscheinlich nicht geschaffen, aber kanalisiert wird. Sowohl aus dem Ich als auch aus dem Sein erscheint etwas, das als Impuls verstanden werden kann.239 Weder Ich noch Sein sind statisch. Das Ich kann seine Position im Sein verändern und auf das Sein einwirken, ebenso wie das Sein mannigfaltig auf das Ich und dessen Position einwirkt. Woher diese Kraft kommt ist unverständlich, lediglich ihre Existenz ist erfahrbar. Das liegt darin begründet, dass die Existenz des Menschen nur innerhalb der Dualität zwischen Ich und Sein vorliegt und alles, was eventuell außerhalb dieser Dualität liegt, nicht erfassbar ist, da es in der virtuellen Welt des Menschen nicht existiert. Deswegen sind auch solche Strukturen wie eine Nicht-Existenz oder so etwas wie das sprichwörtliche Jenseits gar nicht denkbar, da innerhalb dieser Dualität nicht abbildbar. Formt man nun aus diesen Überlegungen ein Modell, so ist die menschliche Existenz definierbar als stetige Wechselwirkung zwischen den Kategorien Ich und Sein. Wo das Sein als Kategorie 239 Dieser ist als eine beobachtbare Ur-Erfahrung zu betrachten die wiederum nur eine Kategorie ist. Sowohl Ich als auch Sein wirken aufeinander und verändern ihre Relation zueinander. Was die Quelle, falls es so Etwas gibt, dieser Bewegung ist, kann scheinbar vom Menschen nicht erkannt werden. Der Philosoph Aristoteles sah darin eine Art göttliche Figur als ersten Beweger der Welt, was aber die Frage aufwirft, woher ihr Impuls dann ursprünglich kommt. Vgl.: Günzel, Stephan: Einleitung, in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 20. Dennoch sind die Wechselwirkungen dieser Impulse da und erzeugen eine stetige, menschliche Welt der Bewegung, die scheinbar nie stillzustehen scheint, wozu die spöttische Bemerkung des Philosophen Immanuel Kants passt: „Arme Sterbliche, bei euch ist nichts beständig, als die Unbeständigkeit!“ Zitat in: Kant, Immanuel: Das Ende aller Dinge, in: Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden und andere Schriften, S. 147.

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die Komplexität von allem umfasst, ist das Ich die Kategorie des Einen, des Objektes, der inneren Herrschaft. Beide zusammen formen unsere virtuelle Welt, in der, vielleicht wie in dem Beispiel des Filmes, die Komplexität immer weiter auf das Eine reduziert wird. Modellhaft verstanden als Sphären, die das Ich umlagern und im Akt der Komprimierung die Welt ausbilden. Aus der Information, die Millionen Photonen an den Sensoren der Haut erzeugen, wird ein Sinneseindruck. Eine Emotion wie „schön warm“, die wiederum als Kategorie und Zustand eines ganz subjektiven Weltbildes Struktur erzeugt. Ebenso vielleicht die Struktur von tausenden Einzelhaaren, die in Form gebracht beim Blick in den Spiegel den Eindruck „das bin jetzt ich“ festigen. Die virtuelle Welt des Menschen offenbart sich so als stetige Komplexitätsreduktion anhand von auf einander bezogenen Erscheinungen, die innerhalb der Spannbreite zwischen Ich und Sein die Sphären der Existenz erzeugen. Und innerhalb dessen entsteht das Eigentliche, das innerhalb unserer Welt definierbar ist: das Selbst.

Das Selbst Während das Ich und das Sein als abstrakte, rahmende Eckpfeiler der Existenz einer direkten Anschauung verschlossen sind, ist das Selbst erfahrbar, formbar, gestaltbar. Beim Blick in den Spiegel wissen wir nicht, was das Ich ist, aber wir erkennen unser Selbst in den Erscheinungen des Seins, die wir als unseren Körper begreifen. Aus dem Impuls heraus können wir dieses Sein verändern, manipulieren, bis es dem entspricht, was unserem Selbstbild entspricht. Die Haare hochgebunden, nach links oder nach rechts fallend; einen Bart vielleicht gestutzt oder ganz ab, etwas Rouge auf die Wangen oder Kajal unter die Augen. Passt das Hemd zu meiner Inneneinrichtung? Die Physis unseres Seins ist nach den Vorgaben eines möglichen Seins, eines Selbstbildes formbar, das sich entlang der Bahnen zwischen Ich und Sein in einem Wechsel von Wahrnehmung, Aneignung und Gestaltung ausbildet. Die virtuelle Welt unseres Verstandes, in der wir leben, ist formbar. Das eine Ich prägt sich durch das Selbst in die Komplexität des Seins. Und durch dieses Selbst wird die Komplexität des Seins als ein Objekt der inneren Herrschaft kontrollierbar. Dieses Selbst kann man sich dabei modellhaft wie einen Baum vorstellen. Es bildet die Verbindung zwischen dem singulären Ich als Wurzel und der Mannigfaltigkeit des Seins als Geäst, zu dem es sich in immer weiteren Verästelungen verzweigt. Die Komplexität wird anhand der Kategorie des einen Selbst beherrschbar, das als Konzept eines möglichen Ichs im Verstand existiert. Um in den Spiegel zu gucken und zu sagen „Ja – diese Erscheinung entspricht jetzt meinem Selbstbild“ sind eine Vielzahl von Handgriffen nötig. Und nicht nur Handgriffe, sondern auch Einstellungen, Wissen und 197

die Ausbildung einer bestimmten Perspektive; eine ganze Agglomeration aus unterschiedlichen Empfindungen, Erscheinungen und Gedanken, die dann aber wiederum sich als das eine, erstrebte Selbstbild manifestieren. Dieser Baum des Selbst ist dabei nicht statisch und er ist auch nicht singulär. Die virtuelle Welt, die der menschliche Verstand zwischen Ich und Sein errechnet, ruht nicht in sich. Sie ist ständig den unterschiedlichsten Impulsen ausgesetzt und die Verästelung des Selbst vergeht und entsteht in immer neuen Strukturen und Formen. Es ist in der modernen Hirnforschung relativ unstrittig, dass unser Verstand kein absolut stabiles Bild der äußeren Eindrücke generiert, sondern permanent damit beschäftigt ist, die einzelnen Reize in Einklang zu bringen. Passt der akustische Reiz zu dem optischen? Ist das Bild der Umgebung korrekt? Oder liegt womöglich ein Wahrnehmungsfehler vor, der ja mitunter dramatische Folgen haben kann? Anstatt einer einfachen „Input gleich Output-Maschine“ zu ähneln, scheint der Verstand eher ein Hypothesenapparat zu sein, der permanent Vermutung über die „äußere“ Welt errechnet und das so entstandene Modell einer ständigen Prüfung unterzieht.240 Auch das Selbst ist demnach 240 Diese Hypothesenbildung ist dabei nicht direkt beobachtbar, da sie im Subjekt stattfindet, aber dem Subjekt mitunter nicht bewusst wird. Das mögliche Ich wird sozusagen überwiegend unbewusst geformt. Der Hirnforscher Gerhard Roth beschreibt diese Innerlichkeit der Vorgänge im Akt der Wahrnehmung so: „Was für einen Beobachter wie die Wahrnehmung externer Geschehnisse aussieht, ist in Wirklichkeit ein Prozess der internen Hypothesenbildung über die mögliche Bedeutung der intern erfahrenen Veränderungen.“ Zitat in: Roth, Gerhard: Wahrnehmung: Abbild oder Konstruktion?, in Schnell, Ralf: Wahrnehmung – Kognition – Ästhetik, S. 30. Der Medienwissenschaftler Norbert Bolz legt dazu dar: „Wahrnehmen ist eine Art Scanning, das nicht Weltdinge präsentiert, sondern Beziehungen prüft und auf Grundlage dieser Prüfung Bilder im Welteninnenraum des Gehirns errechnet.“ Zitat in: Bolz, Norbert: Am Ende der Gutenberggalaxie, S. 39. Diese Bilder sind nicht als Gegenständlichkeit der Wahrnehmung zu begreifen, sondern stellen zuerst eigentlich das dar, was bisher als Images, als Vor-Bilder benannt wurde. Der Wahrnehmungspsychologe Axel Buether verdeutlicht dies am Beispiel des Wahrnehmens physischer Strukturen: „Wir sehen keine ‚Bilder‘, die wir anschließend deuten, sondern das bereits verbildlichte, verkörperte oder verräumlichte Ergebnis unseres Interpretationsvorganges.“ Zitat in: Buether, Axel: Die Bildung der räumlich-visuellen Kompetenz, S. 32. Dabei handelt es sich immer auch um Interpretation und nicht um eine „Wahrheit“. Z. B. würden wahrscheinlich viele Menschen, wenn sie sich das Phänomen „Zeit“ vorstellen sollen, ein unbewusstes Image einer geraden Linie von links nach rechts generieren, was in seiner räumlichen Verortung aber eigentlich keine zutreffende Interpretation, sondern ein eher erlerntes Muster ist. Vgl.: Jaynes, Julian: The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind, S. 59 f. Diese Bilder werden also nicht nur aus dem aktuell Wahrgenommenen generiert, sondern auch anhand bestimmter Kategorien aus dem Gedächtnis erstellt. Schon der Kunsthistoriker Erwin Panofsky merkte dazu an: „Um ein Kunstwerk, und sei es auch rein phänomenal, zutreffend beschreiben zu können, müssen wir es – wenn auch ganz unbewußt und in dem Bruchteil einer Sekunde – bereits stilkritisch eingeordnet haben (…).“ Zitat in: Panofsky, Erwin: Ästhetische Theorie, S. 15. Die Bedeutung des Gedächtnisses für die Wahrnehmung kann dabei nicht unterschätzt werden, wie es auch Gerhard Roth nochmal betont: „Wir können deshalb sagen, dass bei komplexen Wahrnehmungen unser Gedächtnis das wichtigste Wahrnehmungsorgan ist.“ Zitat in: Roth, Gerhard: Wahrnehmung: Abbild oder Konstruktion?, in Schnell, Ralf: Wahrnehmung – Kognition – Ästhetik, S. 29. Fast alle diese Prozesse sind dabei als unbewusst

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kein statisches Konstrukt, sondern erstmal eine Hypothese, ein mögliches Ich, das anhand der Rückkoppelung mit dem Sein bestätigt wird und sich erst so manifestiert. Vor dem Ich steht ein mögliches Ich, das gewissermaßen als ein möglicher Bezug zum Sein fungiert, als Ikone für ein bestimmtes Selbst. Auch hier greift wieder das Modell, das im Zuge des „Making of an Object“ beschrieben wurde. Anhand der Ikone eines möglichen Ichs, einer bestimmten Perspektive auf das Sein, werden die unterschiedlichsten Methoden und möglichen Weltzugänge in einem Kontext gebündelt, der aber ursprünglich ein Konzept ist. Diese Hinwendung zu einem möglichen Ich im Selbst kann dabei sehr bewusst, aber auch sehr unbewusst ablaufen. Zur Illustration sei ein alltäglicher Vorgang genannt: Eine durstige Person nimmt eine Flasche Wasser und trinkt. So banal das ist und so intuitiv es wohl meist erfolgt, so bemerkenswert ist doch die Komplexität, die sich dahinter verbirgt. Schon alleine die physikalisch-biologischen Abläufe, die im Körper bei der Verarbeitung des Schlucks Wassers ablaufen, sind so mannigfaltig, dass sie in unserer bewussten Wahrnehmung, in unserer virtuellen Welt, wahrscheinlich aus gutem Grund gar nicht auftauchen. Aber auch der technische Vorgang des Trinkens aus der Flasche beinhaltet zahlreiche komplexe Vorgänge die auch noch koordiniert werden müssen. Von der Wahrnehmung der Flasche und dem gedächtnisbasierten Erkennen, dass es sich um Wasser handelt, dem kontrollierten Griff und der richtigen Position der Finger auf diesem Objekt bis hin zur Koordination des Flaschenwinkels im Verhältnis zum Mund, abgestimmte auf den richtigen Zeitpunkt des Schluckreizes: eine Vielzahl von Methoden und Eindrücken. Die dennoch meist beiläufig, ja unbewusst ablaufen. Das Ich erhält aus dem Sein den Reiz „Durst“. In der Beobachtung des Seins entwickelt sich ein potentielles Ich anhand des Selbstbildes „Ich ohne Durst“. Ein Konzept, eine Hypothese, die durch den Impuls zur Aktion Wirklichkeit als Kontext wird und ein neues temporäres Selbst ausbildet; bis zu neuen Eindrücken und vielleicht dem neuen potentiellen Selbstbild „Ich ohne Hunger“. Hinter all dem steht eine Vielzahl von Erscheinungen, Erinnerungen und Methoden, die ins Verhältnis zum Sein gesetzt werden. Aber alle werden als Kontext, als Zusammenhang gebündelt für das Subjekt zu begreifen, wie es der Kognitionswissenschaftler Wolfgang Prinz beschreibt: „Insgesamt liefert die Wahrnehmung unseres eigenen geistigen Erlebens nur ein inkonsistentes, unvollständiges Bild der zugrundeliegenden Prozesse, die die Arbeit leisten. Sie liefert uns eine hochselektive, auf den Inhalt fokussierte Repräsentation der Ergebnisse der Operation von Mechanismen, die selbst nicht wahrnehmbar sind. Wir sind uns der geistigen Prozesse selbst tatsächlich nicht bewusst.“ Zitat in: Prinz, Wolfgang: Selbst im Spiegel, S. 56. Der Psychoanalytiker Hinderk M. Emrich fasst die Erkenntnisse zu diesen Prozessen griffig zusammen: „Menschen leben in einer hoch entwickelten und in gewisser Weise ‚künstlichen‘, selbst geschaffenen Welt, die innerhalb eines Phänomens repräsentiert wird, das wir ‚Bewusstsein‘ nennen.“ Zitat in: Emrich, Hinderk M.: Illusion, die Wirklichkeit und das Kino, in Koch, Gertrud/Voss, Christiane: ... Kraft der Illusionen, S. 45.

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an die Ikone eines als Konzepts entwickelten möglichen Ichs in einem neuen Selbst weitergeleitet, dessen Werdung meist unterbewusst erfolgt. Demnach bezeichnen Konzept, Kontext und Hypothese eigentlich denselben Vorgang einer Selbst-Modulation. Der Mensch erschafft sein Selbst.241 Er prägt ein mögliches Ich in das Sein. Anhand einer ikonischen Perspektive kreiert er ein mögliches Ich, das seiner Welt vorweggeht und dem er nachstrebt;242 größtenteils unbewusst. Aber es 241 Natürlich erschafft er dieses Selbst nicht aktiv und im vollen Bewusstsein. Die Kategorie, was eigentlich dieser Mensch ist, wird dahingehend unscharf, dass es sich dabei in der objektivierten Beobachtung nicht um ein geschlossenes System handelt, wie es sich in der subjektiven Beobachtung darstellt. Der Hirnforscher Gerhard Roth fasst den Erkenntnisstand bezüglich dieser Prozesse zusammen: „(…) lassen sich Geist und Bewusstsein als ein immaterielles physikalisches System verstehen, das aus ‚mentalen Feldern‘ aufgebaut ist, die sich raumzeitlich organisieren und so eine virtuelle Gesamtwelt erschaffen, nämlich unseren Körper, die Welt um ihn herum und den Geist in seinen vielfältigen Erscheinungsformen. Die ebenfalls immaterielle physikalische Grundlage dieser mentalen Felder sind selbst-organisierende elektromagnetische Felder, wie sie sich im EEG zeigen. (…) Somit schafft sich die Großhirnrinde mit Geist und Bewusstsein eine höhere Organisationsebene, mit deren Hilfe sie ihre eigenen Aktivitäten ordnet.“ Zitat in: Roth, Gerhard/Strüber, Nicole: Wie das Gehirn die Seele macht, S. 240. Aus dieser Sicht schafft sich damit das „Sein“ das Ich und das Selbst als eine Art Projektion. Abstrakt betrachtet, steht dahinter wieder die scheinbar unlösbare Diskussion um das Verhältnis von Ich und Sein, ob es ein allgemeines, eigenständiges Sein jenseits des Ichs gibt und umgekehrt. Sprich: Ob es eine absolute Wirklichkeit gibt, die im Verstand interpretiert wird, oder ob das „Außen“ erst durch den Verstand entsteht. Vgl.: Maturana, Humberto R./Pörksen, Bernhard: Vom Sein zum Tun, S. 25. Vgl.: Günzel, Stephan: Einleitung, in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S.  28. So gesehen ist das Selbst etwas, was beschreibbar ist, obwohl es schwerlich klar zu definieren ist, wie auch bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel deutlich wird: „Das geistige Wesen ist in seinem einfachen Sein reines Bewußtsein und dieses Selbstbewußtsein. Die ursprünglich bestimmte Natur des Individuums hat ihre positive Bedeutung, an sich das Element und der Zweck seiner Tätigkeit zu sein, verloren; sie ist nur aufgehobenes Moment und das Individuum ein Selbst als allgemeines Selbst.(…) Die Kategorie ist an sich, als das Allgemeine des reinen Bewußtseins; sie ist ebenso für sich, denn das Selbst des Bewußtseins ist ebenso ihr Moment. Sie ist absolutes Sein, denn jene Allgemeinheit ist die einfache Sich-selbst-Gleichheit des Seins.“ Zitat in: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, S. 286. Selbst ist dabei nicht mit Selbstbewusstsein zu verwechseln, sondern sozusagen die übergeordnete Kategorie zum Bewusstsein. Der Psychologe Julian Jaynes zu dieser Unterscheidung: „Consciousness is a much smaller part of our mental life than we are conscious of, because we cannot be conscious of what we are not conscious of. How simple that is to say; how difficult to apprectiate!“ Zitat in: Jaynes, Julian: The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind, S.  23. Es ist diesbezüglich interessant, dass der Begründer der analytischen Psychologie, Carl Gustav Jung, die Meinung vertrat, dass im Traum eine Umkehrung stattfinde und das Selbst Botschaften an das Ich übertrage. Also das Unbewusste dem Ich bewusst wird – aber eben nur in der Struktur des offenen, nicht auf direkter Wahrnehmung beruhenden Traumes. Vgl.: Ermann, Michael: Träume und Träumen, S. 39. 242 Der Philosoph Thomas Metzinger begreift das Ich wie folgt: „Wir sind Ego-Maschinen, natürliche Informationsverarbeitungssysteme, die im Verlauf der biologischen Evolution auf diesem Planeten entstanden sind. Das Ego ist ein virtuelles Werkzeug: Es hat sich entwickelt, weil wir mit seiner Hilfe unser eigenes Verhalten kontrollieren und vorhersagen und das Verhalten anderer verstehen konnten.“ Zitat in: Metzinger, Thomas: Der Ego Tunnel, S. 289. Die Erweiterung des Ichs zu einem möglichen Ich kann auch als Objektivierung eines inneren Zustands auf ein Außen gesehen werden. Der Psychoanalytiker Hinderk M. Emerich beschreibt eine

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gibt nicht nur dieses eine mögliche Ich; das eine mögliche Selbst. Zu fast jedem Zeitpunkt existieren unterschiedliche Wahlmöglichkeiten von Ichs. Das durstige Ich und das nicht durstige Ich. Das Ich mit einer Limonade, das Ich mit einem Wasser oder das Ich mit einem Bier. Die Möglichkeiten, ein spezifisches Selbst zu wählen, sind ja tendenziell unbegrenzt. Das Selbst, und damit der Mensch, ist keine Einheit. Das Selbst, und damit der Mensch, ist eine Agglomeration möglicher Zustände. Ein Pantheon der potentiellen Weltzugänge, deren Wahl er in einem permanenten Akt trifft. Diese permanente Wahl speist sich aus „Ja oder Nein“-Entscheidungen. Der Hinwendung zu einem Kontext oder der Abwendung von einem Kontext. Neben dem ursprünglichen Gegensatz von Ich und Sein tut sich so ein weiterer Dualismus auf. Innerhalb eines Kontextes existieren die Relationen, der Sinn, nicht aus sich selbst heraus. Die Verästelung der Komplexität des Seins, hin zu einem möglichen Ich, kann nur existieren, indem Gegensätze gebildet werden. Gegensätze, die jeweils in sich bestimmte Handlungsweise vereinen und so als Gegensatz ausschließen. Die Kategorie „Ich ohne Durst“ kann nur existieren, wenn es den Zustand „Ich mit Durst“ im Selbstbild eines Menschen gibt. Erst in der Negation, der bewussten Abkehr von einem Zustand hin zu seinem Gegenteil, entsteht der Baum des Selbst. Das, was als das Selbst verstanden werden kann, ist ja mitunter nicht so simpel wie in dem Beispiel mit der Flasche Wasser. Auch wenn es viele mögliche Ichs gibt, so sind diese ja im Selbst durch Gegensätzlichkeit oder Überschneidung verbunden. In ein Selbst, das durch einen Schluck aus einer Flasche einen neuen Zustand zwischen Ich und Sein schafft, sind ja viele Zustände inkludiert, die dieses überhaupt erst möglich machen. In diesem Beispiel trinkt eine Person aus einer Flasche. Sie muss ihren Durst nicht stillen, indem sie mit den Händen Brackwasser aus einem Tümpel schöpft. Allein der mögliche Zustand des Trinkens aus der Flasche ist nicht vorstellbar ohne die Nicht-Existenz dieser Flasche, mit dem er in einem ausdifferenzierten „Ja oder Nein“Kontext verbunden ist, und damit auch verbunden ist mit all den weiteren Aspekten, Kultur- und Lebensumständen, die sich daran anschließen. Diese Kontexte erstrecken sich nicht nur über einDoppelung der Perspektive, wenn er schreibt: „Wir haben in der Traumwirklichkeit und im Kino eine unausweichlich stets vorhandene Doppelperspektive auf alles, was ist: Auf der einen Seite holen wir ständig das uns Begegnende in uns herein, intuitiv wissend, dass es sich im Grunde um einen Teil unserer selbst handelt.(…) Diese Vereinigungs- und Introjektionsperspektive wird nun aber gebrochen durch die Abstoßungsreaktionen der Perspektive des objektstufigen Betrachtens: das andere ist nicht das, was letztlich mir zugehört (…) Vielmehr ist das andere die Bedrohung (…) Diese Doppelperspektive ist unausweichlich; sie läuft in allem was wir Menschen erleben (…) grundsätzlich mit (…) und leben bedeutet stets, in der Oszillationsspannung zwischen diesen beiden Daseinsperspektiven zu stehen und diese Oszillation zu durchleben und ‚auszuhalten‘.“ Zitat in: Emerich, Hinderk M.: Raum nehmen und die Ethik des Raumes im Film, in: Emerich, Hinderk M./Reitz, Edgar: Der magische Raum, S. 15.

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zelne Dinge, sondern auch über ganze Systeme, die als Modus des Weltzuganges zum Sein, aus einem Selbstbild ein – mitunter sehr fundiertes – Weltbild entstehen lassen. Unterschiedlichste Strukturen des Weltzuganges wie Kunst oder Mathematik fallen ebenso darunter wie Ideologien oder mystische Ansätze, die alle letztlich im Selbst, als Wechselwirkung zwischen Ich und Sein, zutage treten. Die vereinende Struktur dahinter liegt wiederum im Modus der gefassten Perspektive: der Ikone, dem Objekt. Auch ein mögliches Ich ist ein Objekt. In ihm werden mannigfaltige Relationen zu der Komplexität des Seins gebündelt und als Weltzugang und somit als Transit der inneren Herrschaft in die Welt objektiviert. In diesem möglichen Ich als Ziel und Richtung liegt der Kern des Objektivismus und dieser ist nur möglich durch den Gegensatz: Durch die Abgrenzung zu einem anderen Objekt, das eben nicht das ursprüngliche Objekt ist, aber dieses durch einen Kontext definiert. Ein Objekt, wie die Flasche Wasser, existiert nicht aus sich selbst heraus, sondern nur in der Abgrenzung zu dem anderen. Erst dadurch erhält es Sinngehalt für das Ich. Eine 1 hat keinen Sinngehalt aus sich selbst heraus. Die 1 steht für nichts. Sie erhält erst dadurch Sinn, dass sie im Gegensatz zur 0 steht und in einem Kontext mit ihr vereint ist, einem System, in dem beiden wechselseitig aufeinander bezogen sind. Die 1 braucht die 0. Der Held braucht den Bösewicht und der Reiche den Armen. Als Objekte der Zuwendung des Ichs erhalten sie ihren Gehalt erst in der Abgrenzung zum anderen. Diese Struktur des Great Game of Civilizations, die sich im Modus des individuellen Weltzuganges im Selbst spiegeln lässt, offenbart einen grundsätzlichen Dualismus als Selbstzweck. Als scheinbar einzige Möglichkeit der Bestimmung eines Etwas durch eine ständige Definition durch Abgrenzung. Einem Weltzugang aus Objekten, deren Sinngehalt sich erst in der Kontextualisierung des Gegensatzes offenbart und der, vor allem für das Selbstbild des Individuums, immer weitergehen muss. Was macht der Held, wenn der Bösewicht besiegt ist? Er sucht sich einen neuen Bösewicht ... oder erschafft sich einen. Seine Ich-Projektion in das Sein, das Selbstbild als Held, braucht den Widersacher, um eine ansonsten leere Kategorie mit Sinngehalt zu füllen. Die reale Parzellierung der Welt, die in der Bestandsaufnahme festgestellt wurde, scheint demnach auch dieser Systemlogik zu entspringen. Die Stadt braucht als Gegensatz das Land und der Büroangestellte gerade den, der kein Büroangestellter ist. Der Dualismus von Arbeit und Freizeit: Die Gegensätze schaffen erst die klaren Definitionen und Rollenmodelle, innerhalb derer der Mensch durch Unterscheidung seine Position bestimmt. Durch diese stetige Unterscheidung entsteht erst der Kontext, das System, das Great Game of Civilization, das dann wiederum auf das individuelle Selbst des Menschen und seine möglichen Ichs zurückwirkt. Die – vielleicht – eigentlich vom Ich angestrebte einheitliche Wechselwirkung mit dem Sein zerfällt in ständige Auswahlmöglichkeiten. In immer neue Alternativen, die sich unter diesen Voraussetzungen zwangsläufig im Akt der 204

Zuwendung bilden. Einheit mit dem Sein wird zu einer nie enden könnenden Suche. Ein stetiges Abwägen der Möglichkeiten. Dieses permanente Abwägen kommt dabei nicht „von außen“ als ein externer Zwang, sondern entsteht im individuellen Selbst. In einer bestimmten Epistemologie zwischen Ich und Sein und damit in einem Kontext zur Welt, der über eine spezifische Eigenschaft verfügt: Er ist begrenzt, potentiell beliebig und fragil. Damit ist auch das eigene Selbst fragil, da es in einer Struktur gebildet wird, die fragil ist. In dieser Struktur entsteht somit zwangsläufig immer die Frage: Bin das jetzt Ich?

Kommunikation und Raum Es gehört zur Tragik – oder vielleicht auch zum Segen – der menschlichen Existenz, dass wir die Frage nach dem Wesen dieses Ichs wohl nie werden beantworten können. Ebenso so wenig wie die Frage nach dem Wesen des Seins. Als Kategorien definieren sie die unüberschreitbaren Ränder unserer Welt, zwischen denen sich das menschliche Selbst, als Malgrund der Existenz, auffächert. Unser Blick auf die Welt ist gefangen in einer begrenzten Perspektive, die im Kontext zwischen einem möglichen Ich und einem durch es gerahmten Ausschnitt der Welt entsteht. So weit diese Perspektive auch sein mag, so viele es davon auch geben mag: Sie begrenzt unsere Erkenntnis über das vollständige Sein. Es ist daher erfreulich, dass das Ich nicht das einzige ist. Der Mensch ist ja nicht alleine auf der Welt. Stattdessen existieren zahlreiche andere Menschen. Zwar ebenfalls gefasst in den definierenden Dualismus von Ich und Sein – primär begrenzt in ihrem Selbst und ihren Perspektiven auf das Sein –, aber auch in einen stetigen Austausch und in Kommunikation miteinander.243 Wie 243 Dieser Austausch ist dabei nicht nur als eine Informationsübertragung zu betrachten. Schon Georg Wilhelm Friedrich Hegel nahm an, dass wir uns erst durch die Wahrnehmung des anderen unseres Selbsts bewusst werden: „Das Selbstbewußtsein ist an und für sich, indem und dadurch, daß es für ein Anderes an und für sich ist; d.h. es ist nur als ein Anerkanntes.“ Zitat in: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, S. 134. Und weiter: „Das Selbstbewußtsein, welches sich überhaupt die Realität ist, hat seinen Gegenstand an ihm selbst, aber als einen solchen, welchen es nur erst für sich hat und der noch nicht seiend ist; das Sein steht ihm als eine andere Wirklichkeit, als die seinige ist, gegenüber; und es geht darauf, durch Vollführung seines Für-sich-Seins sich als anderes selbständiges Wesen anzuschauen. Dieser erste Zweck ist, seiner als einzelnes Wesens in dem anderen Selbstbewußtsein bewußt zu werden oder dieses Andre zu sich selbst zu machen (…).“ Zitat in: ebd., S. 249. Der Neurobiologe Humberto R. Maturana geht von einer ähnlichen Grundannahme aus: „Ich behaupte (…) daß wir lebende Systeme in zwei sich nicht überschneidenden Existenzbereichen leben, in dem, in dem sich unsere Körperlichkeit realisiert, und in dem anderen, in dem wir unsere Beziehungen realisieren. Weiter gehe ich davon aus, daß wir menschliche Wesen als Menschen im Bereich unserer Beziehungen existieren, nicht im Bereich unserer Körperlichkeit.“ Zitat in: Maturana, Hum-

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auch die einzelnen Sinne im Verstand miteinander kommunizieren, um eine präziseres, virtuelles Abbild des Seins zu schaffen, so stehen die Menschen untereinander in Kommunikation und stetigem Austausch.244 Die Epistemologie des einen Selbst erweitert sich durch die Selbstbilder der anderen. Der Mensch als Kontextmaschine erweitert seinen Bezug zum Sein durch Kontexte, die in anderen Menschen entstanden sind – hin zu einem umfassenderen, kollektiven Verständnis. Aber auch hier liegt eine gewisse Tragik verborgen. Bei all dem, was Kommunikation umfasst, so ist sie doch – bisher – immer unzulänglich. Sie erfolgt anhand von Erscheinungen, Gesten, Wörtern, Objekten, aber der tiefere Sinn, die eigentliche Relation des Selbst, ist einem anderen nicht direkt darzustellen. Das Ich und das Sein sind im Kontext des Selbst untrennbar verbunden, aber dieser Kontext des Selbst bleibt uns im anderen verschlossen. Wir sehen nicht die Gedanken, die zu einem Wort oder einem Objekt führen, wir sehen und hören nur ebendieses Wort oder Objekt. Wir nehmen das physische Ergebnis eines Prozesses des Ich-Bezugs zum Sein war, aber in dem Akt der Wahrnehmung wird dieses Ergebnis Teil unseres eigenen Ich-Bezuges. Erfahrungen und Gedanken sind nicht teilbar. Genauso wie Ideen und Konzepte führen sie zu Erscheinungen, berto R.: Biologie der Realität, S. 14. In einer weiteren Beschreibung von Humberto R. Maturana wird dieser Gedanke deutlicher, wobei die Begrenzung der Kommunikation auf den Begriff der Sprache stark verkürzend erscheint: „Daraus folgt, daß das menschliche Individuum nur in der Sprache existiert, daß das Selbst nur in Sprache existiert, und daß das Selbst-Bewußtsein als ein Phänomen der Selbst-Unterscheidung ausschließlich in Sprache geschieht. Daraus folgt weiterhin, daß das Selbst-Bewußtsein ein soziales Phänomen ist, weil die Sprache als Bereich der konsensuellen Koordinationen von Handlungen ein soziales Phänomen ist, und daß das Selbst-Bewußtsein daher nicht im Bereich der anatomischen Phänomene der Körperlichkeit der lebenden Systeme entsteht, die es erzeugen. Im Gegenteil, das Selbst-Bewußtsein liegt außerhalb des Körperlichen und gehört zum Bereich der Interaktionen als eine Art und Weise der Koexistenz.“ Zitat in: ebd., S. 205. 244 Der Psychoanalytiker Michael Ermann stellt zu der Grundlage der Kommunikation in Bezug auf den Psychoanalytiker Wilfried Bion anhand der Mutter–Kind-Beziehung fest: „Die erste Weise des Denkens arbeitet mit projektiver Identifizierung. Es beruht auf der Verknüpfung zwischen zwei Personen, die in einen unbewussten Kommunikationsprozess miteinander treten und auf diese Weise die Befindlichkeit des anderen ergründen.“ Zitat in: Ermann, Michael: Träume und Träumen, S. 49. Der Hirnforscher Gerhard Roth beschreibt diesen Austausch unter einem spezifischen Begriff: „(…) ‚Theory of Mind‘, abgekürzt ToM, der sich auch im Deutschen festgesetzt hat, bedeutet die Fähigkeit, den mentalen Zustand anderer Menschen, so etwa ihre Gedankengänge, Überzeugungen und Wünsche, zu begreifen und ihr Verhalten auf dieser Grundlage in Grenzen vorausahnen zu können. Man nimmt dabei die Perspektive des Anderen ein. (…) Man fand heraus, dass Kinder etwa im Alter von sechs Jahren begannen, einen ToM zu entwickeln. (…) Die Kinder (…) verstehen, dass andere Menschen eine Meinung haben können, die nicht der Realität entspricht.“ Zitat in: Roth, Gerhard/ Strüber, Nicole: Wie das Gehirn die Seele macht, S. 161. Der Mediendidaktiker Klaus Boeckmann subsumiert zur Kommunikation: „Inhalte sind zwar der Gegenstand, nicht aber das Hauptmotiv des Kommunizierens. Die Kernfunktion der Kommunikation, ihre eigentliche Motivation liegt darin, Beziehungen zwischen Menschen herzustellen und zu gestalten. Dies ist die interaktive Funktion der Kommunikation.“ Zitat in: Boeckmann, Klaus: Unser Weltbild aus Zeichen, S. 152.

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aber ihre Relationen sind in diesen Erscheinungen nicht inkludiert. Produktion und Rezeption des gleichen Etwas können zu völlig anderen Inhalten führen. Um das bekannte Bild des semiotischen Dreiecks aufzugreifen: Die Zeichen, die der Sender zur Kommunikation in die Welt setzt, können vom Empfänger völlig anderes interpretiert werden. Wir benutzen Erscheinungen aus dem Selbst, die wir als Objekte in das Sein prägen – aber diese sind dann als primäre Erscheinungen des Seins frei in ihrer Deutung; unterworfen der sinnstiftenden Perspektive eines anderen, die nicht unsere sein muss. Die Epistemologie des Selbst, die Kontextualisierung von immer mehr Erscheinungen zu einem sinnstiftenden Etwas, greift allerdings auch hier. Die Baumkrone des Seins, die sich aus dem Ich immer weiter verzweigt, überschneidet sich in der Kommunikation mit den Verästelungen der anderen und führt durch die so entstehende Komplexität das eine Ich zum anderen – zumindest theoretisch. Die Erscheinungen, die wir zur Kommunikation in das Sein prägen, stehen ja nicht isoliert für sich, sondern sind eingewoben in ein Netz von weiteren Erscheinungen, mit denen zusammen sie sinnstiftend wirken. Der innere Kontext verlagert sich auf äußere Erscheinungen und kann so von einem Gegenüber nachvollzogen werden. Ein gutes Beispiel zur Illustration dieses Mechanismus ist die Sprache; die wohl komplexeste Form menschlicher Kommunikation. Sprache besteht ja nicht aus isolierten akustischen Erscheinungen. Laute wie „Hu“, „Ho“ oder „Ha“ fallen im menschlichen Austausch nicht für sich alleinstehend; und falls doch, ist ihr Sinngehalt gering. Stattdessen werden sie in ein System der Abfolgen, Betonungen und Pausen gebracht. Aus der Abfolge einzelner Laute ergeben sich Wörter. Aus diesen ergeben sich Sätze, aus den Sätzen ein Text und aus dem Text ein Sinngehalt, der gerade dadurch entsteht, dass die Laute durch ihn kontextualisiert sind. Je komplexer diese Agglomeration aus Lauten wird, desto komplexer wird idealerweise auch der Sinngehalt; desto genauer werden der Austausch und die Kommunikation, in denen sich die Rückschlüsse auf die Intention des Kommunizierenden durch Vorhersagbarkeit und Musterbildung verdichten. Der Sinngehalt, der scheinbar übermittelt wird, liegt jedoch nicht in den einzelnen Lauten. Ein „Ho“ bleibt ein „Ho“. Aber auch hier greift die grundlegende Operation des Objektivismus: Die Unterscheidung, der Gegensatz, der Dualismus durch Abgrenzung. Ein „Ho“ ist ein „Ho“, aber es ist eben kein „Ha“ und erst recht kein „Hi“. Der vermeintliche Sinn liegt im Unterschied und in der Relation verborgen, ähnlich wie in der Mathematik. Es ist wie beim Beispiel des Spielfilms, nur dass statt Licht in der Sprache eben Laute im Wechsel stehen und im Modus einer kontextualisierenden Montage Sinn erschaffen und diesen kommunizieren. Genau wie der Film ist die Sprache eines der vorherrschenden Mittel zur Kommunikation in der Gegenwart. Ihr Status als Kommunikationsform ist eigentlich unzweifelhaft und dominiert Alltag, beruflichen Austausch und sogar das Denken. Nicht nur in einer Sprache, sondern in ei207

ner erweiterten Schaffung von Komplexität in den unterschiedlichsten Sprachen, die sich als verbindende Eigenschaft den sinnstiftenden Zusammenschluss des eigentlich Sinnlosen teilen: ob Deutsch, Englisch, Chinesisch, Fachsprachen wie Juristendeutsch, spezifische Bildsprachen wie in der Romantik oder die Sprache der Mathematik: Überall kann vermeintlich kommuniziert werden, indem eine Vielzahl von Erscheinungen, eine Vielzahl von Objekten nach spezifischen Regeln kombiniert werden. Obwohl dies auf den ersten Blick ein Erfolgsmodell zu sein scheint: Es funktioniert nicht! Zumindest nicht ideal. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die komplexeren Sprachen als Verbund von Schrift und Laut zeitnahe zur Entstehung des Great Games of Civilization entstanden. Eigentlich beginnt das kulturelle Selbst in diesem erst mit der Sprache, mit der Schaffung des Dritten der Herrschaft und der Notwendigkeit der angleichenden Kommunikation. In der Etablierung eines Diskursuniversums, das über den Rand seiner eigenen Definitionen und Strukturen nicht hinaussehen kann. Auch für die Sprachen kann eine ähnliche Kritik wie an den Strukturen des Great Game of Civilization formuliert werden. Eine Entkoppelung von einem eigentlichen Sein durch die Schaffung einer zunehmend selbstreferentiellen (Schein)-Komplexität. Die Erschaffung eines erstarrten Kontextes, der nicht mehr im direkten Austausch entsteht, sondern in vorgegebenen Bahnen verläuft, die extern definiert sind. War in einfachen Sprachen wohl noch eine direkte Verbindung zu Phänomenen vorherrschend – vielleicht der Laut einer Kuh als das objektivierte, sprachliche Zeichen für eine Kuh –, so partizipieren komplexere Sprachen mehr an den von ihnen geschaffenen Strukturen als an einer direkten Relation zu einem Sein hinter der Erscheinung. Die direkte Wechselwirkung zwischen Ich und Sein wird in ihnen gelöst. Stattdessen bilden sie einen erstarrten Kontext aus simulierten Kategorien, die zwar durchaus wie Erscheinungen des Seins anmuten können, aber statisch und eigentlich leer sind. Wie gedankenlos werden z. B. mitunter in der Alltagssprache Worte und Begriffe verwendet. Worte, deren Herkunft, deren ursprüngliche Bedeutung unbekannt und längst vergessen sind und deren Verständnis allein aus einer ritualisierten Gewohnheit zu erklären ist. Im Endeffekt ist Sprache zu ungenau, da sie Bedeutung nicht in den Einzelteilen verankert, also tatsächlich präzise nachvollziehbar macht, sondern diese erst im Modus der externen Kontextualisierung schafft. Diese ist letztlich immer subjektiv, da Kontextualisierung immer im Selbst stattfindet und nicht im Raum einer behaupteten externen Perspektive. Sie ist immer einer Ich-Perspektive unterworfen, nie allgemein, sondern immer nur spezifisch manifestiert, analog zum Ich und seiner Relation zum Sein. Wir lernen unsere Welt und damit uns selber primär 210

durch Begriffe, Objekte und Kategorien der Sprache kennen, die uns andere als Träger vermitteln. Aber diese sind unzureichend. Sie beschreiben nicht das Eigentliche, sondern ihr eigenes Netz der Relationen. Wir benutzen Sprache, um unser Leben zu steuern. Da diese unzureichend sowie subjektiv interpretierbar ist, stellt dieser Sachverhalt einen der Gründe für das Potential zur beispiellosen Verschwendung durch Interpretationsverluste dar.245 Aber auch hier greifen wieder Mechanismen der Kultur, die dem Unverständnis leerer Zeichen – scheinbar –entgegenwirken. Kommunikation ist nicht nur als ein Modus der Datenübertragung zu begreifen; also einer Übermittlung von Information von einem zum anderen. Kommunikation ist vor allem eine soziale Funktion zwischen Subjekt, Objekt und Kontext, die Räume schafft.246 245 Der Kulturwissenschaftler Hans-Jürgen Lüsebrink schreibt in Bezug auf die Definition des Kulturwissenschaftlers Klaus P. Hansen der Kultur als kollektives Gleichverhalten durch Denken, Fühlen, Handeln und Kommunikation: „Standardisierung der Kommunikation: Hierunter werden Zeichen verstanden, deren Bedeutung „der Mehrheit eines Kollektives vertraut sind (…) Zahlreiche Begriffe, die auf den ersten Blick ‚leicht‘ zu übersetzten sind, weisen bei genauerer Betrachtung eine kulturelle Dimension auf, die es zu verstehen gilt. Selbst ein Zeichen wie ‚Baum‘ kann nicht einfach übersetzt, sondern muss gegebenenfalls aus der Vorstellungswelt anderer Kulturen heraus übertragen werden. Während in der westlichen Auffassung ein Baum etwas ist, das nach oben wächst, wächst er in der fernöstlichen Vorstellung nach oben und unten, was entscheidend die kulturelle Bedeutung des Zeichens ‚Baum‘ auch in seiner metaphorischen Dimension determiniert.“ Zitat in: Lüsebrink, Hans-Jürgen: Interkulturelle Kommunikation, S. 11. Humberto R. Maturana verweist auf die subjektive Wirkung: „Die Sprache überträgt keine Informationen. Ihre funktionale Rolle besteht in der Erzeugung eines kooperativen Interaktionsbereiches zwischen Sprechern durch die Entwicklung eines gemeinsamen Bezugsrahmens, auch wenn jeder Sprecher ausschließlich in seinem eigenen kognitiven Bereich operiert, in dem jede letztgültige Wahrheit durch persönliche Erfahrung bedingt ist.“ Zitat in: Maturana, Humberto R.: Biologie der Realität, S.  91. Schon Dschuang Dsi wies auf die subjektive Perspektive in der Kommunikation hin: „Die Begrenzungen sind nicht ursprünglich im SINN des Daseins begründet. Die festgelegten Bedeutungen sind nicht ursprünglich den Worten eigentümlich. Die Unterscheidungen entstammen erst der subjektiven Betrachtungsweise.“ Zitat in: Dsi, Dschuang: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, S. 58. Die Aufspaltung durchaus gleicher Sachverhalte in unterschiedliche Begriffe, ein Kernproblem moderner Kommunikation, kritisierte er ebenfalls schon: „Der SINN wird verdunkelt, wenn man nur kleine fertige Ausschnitte des Daseins ins Auge faßt; die Worte werden umnebelt durch Phrasenschmuck. So kommt es zu den gegenseitigen Verurteilungen der verschiedenen Philosophieschulen. Was der andere verneint, bejaht man; was jener bejaht, verneint man. Weit besser als das Streben, jedem Nein des anderen ein Ja und jedem Ja des anderen ein Nein entgegenzusetzten, ist der Weg der Erleuchtung.“ Zitat in: ebd., S. 54. 246 Der Philosoph Michael Foucault schreibt zu diesem Verhältnis von Kommunikation und Raum in der Moderne: „(…) dass die Sprache eine Sache des Raumes ist (vielleicht auch zu einer solchen geworden ist). Ob man ihn beschreibt oder ihn durchquert, spielt dabei ebenfalls keine wesentliche Rolle. Nicht deshalb ist der Raum in der heutigen Sprache die bedrängendste aller Metaphern, (…) weil sich die Sprache von Anbeginn im Raum entfaltet, sich in ihn hineinschiebt, in ihm ihre Wahlen trifft, ihre Figuren und ihre Übertragungen entwirft. In ihn versetzt sie sich, in ihm ‚metaphorisiert‘ sich ihr Sein.“ Zitat in Foucault, Michael: Die Sprache des Raumes, (1964), in: Foucault, Michael: Geometrie des Verfahrens, S. 297. Kommunikationssituationen können eigentlich als immer durch einen Raum begrenzt betrachtet werden, der sich in einer objektiven Form ausdrücken kann, aber vor allem ein subjektiver Raum ist. Vgl.: Schmidt, Bernd B.: Die Macht der Bilder, S. 33.

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Räume als Modus der externen Kontextualisierung. Die Menschen bilden Räume aus, in denen die einzelnen Erscheinungen, wie Laute und Gesten, ihren Sinn dadurch erhalten, dass der sinnstiftende Kontext vordefiniert ist. Räume, in denen eine Zusammenkunft von Menschen erfolgt, die alle bereits eine bestimmte Perspektive auf das Sein, das in ihnen möglich ist, mitbringen. Diese Räume können durchaus physikalisch definiert sein, aber im Kern sind sie eine gemeinsame Perspektive ihrer Bewohner. Wer beispielsweise öfter mal Taxi fährt, weiß um die Kraft, die ein thematischer Raum haben kann. Wie bei vielen temporären Zufallsbekanntschaften in der Moderne, sind der Fahrgast und der Taxifahrer zuerst in unterschiedlichen Räumen. Ein Austausch von Ich zu Ich ist primär eigentlich gar nicht möglich. Vielleicht lebt man in zu unterschiedlichen Welten, als dass die Laute des einen vom anderen im Sinne einer Annäherung verstanden werden. Der Impuls des einen – „Boah, hat Fußballverein XY gestern wieder schlecht gespielt“ –, ergibt nun die Möglichkeit eines Der Begriff des Raumes ist dabei ein Schlüsselbegriff in den unterschiedlichen Weltbildern, in denen sich vor allem in der Philosophie ein weites Diskursfeld offenbart. Z. B. definiert der Philosoph Immanuel Kant Raum wie folgt: „Raum ist nicht etwas Objektives und Reales, weder eine Substanz, noch ein Akzidenz, noch ein Verhältnis; sondern ein subjektives, ideales, aus der Natur der Erkenntniskraft nach einem festen Gesetz hervorgehendes Schema gleichsam, schlechthin alles äußerlich Empfundene einander beizuordnen.“ Zitat in: Kant, Immanuel: Von dem Raum (1770), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 78. Ein weiteres bemerkenswertes Beispiel ist der Briefwechsel, den die Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz und Samuel Clarke 1715/1716 führten. Vgl.: Leibniz, Gottfried Wilhelm: Briefwechsel mit Samuel Clarke (1715/1716), in: ebd., S. 58–73. In diesem standen sich die beiden Hauptstandpunkte, zum einem die Annahme vom Raum als einem Kontinuum und zum anderen die Auffassung eines Raumes des Subjektes, gegenüber. Leibniz definiert dabei den Raum als eine Ordnung des „Nebeinanderbestehens“ von gleichzeitigen Dingen, ähnlich wie das Verhältnis von Zeit und Rhythmus. Vgl.: Leibniz, Gottfried Wilhelm: Briefwechsel mit Samuel Clarke (1715/1716), in: ebd., S. 61. Spätere Philosophen wie der Biologe Jakob Johann von Uexküll negieren sogar tendenziell einen allgemeinen absoluten Raum, der alles umschließt. Vgl.: Günzel, Stephan: Einleitung, in: ebd., S. 38. Philosophen wie Martin Heidegger vertreten dahingehend eine Art synthetische Position: „Der Raum ist weder im Subjekt, noch ist die Welt im Raum. Der Raum ist vielmehr ‚in‘ der Welt, sofern das für das Dasein konstitutive In-der-Welt-sein Raum erschlossen hat.“ Zitat in: Heidegger, Martin: Die Räumlichkeit des Daseins (1927), in: ebd., S. 148. Dennoch hat sich in der Allgemeinheit eine Auffassung durchgesetzt, die Raum eher als eine Begrenzung beschreibt. Also als ein in einem Koordinatensystem gefasstes Volumen, wie es sich am direktesten im Objekt der Kiste zeigt. Es ist interessant, dass die Wahrnehmung von räumlicher Tiefe bei weitem nicht so objektiv ist, wie es mitunter den Anschein hat, sondern ein Konstrukt darstellt, welches durch das Gehirn „errechnet“ wird. Vgl.: Roth, Gerhard: Wahrnehmung: Abbild oder Konstruktion?, in Schnell, Ralf: Wahrnehmung – Kognition – Ästhetik, S. 26. Das verkürzte Verständnis von Raum als Kiste liegt im Übrigen auch einem Aspekt der grafischen Ausarbeitung dieses Buches zu Grunde. In dieser Hinsicht ist es überaus interessant, auf die Arche der biblischen Sintflut hinzuweisen, die durchaus als zeitgleich zu dem Beginn des Prozesses des Great Games of Civilization zu verstehen ist. In der ursprünglichen Geschichte dient die Arche als die Keimzelle der auf den Menschen bezogenen Natur und Kultur und war in ihrem Außenmaß exakt 60m x 60m x 60m groß. Eine Kiste also in ihrer perfekten Form: ein Würfel. Vgl.: Soden, Wolfram von: Das Gilgamesch-Epos, S. 95.

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gemeinsamen Raumes, in dem menschlicher Austausch vollzogen werden kann, wenn der andere diesen betritt. „Ja, schrecklich. Haben Sie eigentlich gehört, wie es im Spiel XYZ steht?“. Das thematische Objekt des Fußballspiels definiert einen Kontext, in dem nun zwischenmenschliche Kommunikation entlang der Bahnen einer spezifischen inhaltlichen Kommunikation möglich ist. Ein Raum ist geschaffen und definiert durch den postulierten Gegensatz von im Wesentlichen völlig gleichen Fußballvereinen und er kann zeichenhaft in die physikalische Welt geprägt werden. Vor allem in der Parzellierung dessen, was wir Stadt nennen, wirkt sich dieses aus. Ein Stadtbewohner wird sich – meistens – anders verhalten, anders mit Leuten interagieren, je nachdem, welchen physikalischen Raum, welchen vordefinierten Kontext er betritt. Die Raumkategorien wie „Zuhause“, „In der U-Bahn“, „Im Restaurant“ oder „Vor Gericht“ definieren die Rollen für ihn und die anderen und damit auch, wie und welche Kommunikation stattfindet. Dieser Modus ist meist eine Selbstverständlichkeit. Studierende im Hörsaal nehmen sich automatisch einen Platz in den Rängen, in der Erwartung, dass der Professor an das Podium tritt und mit ihnen in spezifischer Art und Weise und zu einem spezifischen Etwas kommuniziert.247 Das Zusammenwirken von Raum und der Sinngehalt der Kommunikation sind eng verbunden. Diese Enge darf nicht unterschätzt werden. Beispielsweise ist der Satz „Ich geh mal nach draußen und pflanze einen Baum“ in dem Raum einer Gärtnerei wohl nichts Ungewöhnliches und wird scheinbar intuitiv von allen verstanden. Der gleiche Satz, gesagt von einem U-Boot Kommandanten in den Tiefen des Meeres, wäre wohl bestenfalls Anlass zur Irritation. Die Bezüge, die ein Ich zum Sein oder zu einem anderen Ich entwickelt, ob durch Kommunikation oder Aktion, sind in dem Raum bereits kontextualisiert. Der Sinn liegt in dem vordefinierten Raum, nicht in den Worten und Handlungen, die entlang der Vorgaben seiner Wände in ihm erfolgen. Der einzelne Satz ist dabei mehr zu begreifen als eine Art Zeichen für eine bestimmte vordefinierte Handlung. Wenn man sagt „Ich geh mal nach draußen und pflanze einen Baum“, ist ja inhaltlich eigentlich überhaupt nicht klar was gemeint ist. Was für einen Baum? Eine Eiche? Eine Buche? Wie groß? Wie alt? Wie viele Blätter hat der Baum? Was für einen Baum denn jetzt 247 Der Künstler und Geograf Trevor Paglen benutzt ein ähnliches Beispiel, um das Raumverständnis des Soziologen Henri Lefebvre zu veranschaulichen: „Um diese Vorstellung zu veranschaulichen, können wir die Universität (…) als Beispiel nehmen. Auf den ersten Blick erscheint sie als bloße Ansammlung an verschiedenen Orten im Raum situierter Gebäude(…) Nur bis die Studierenden eintrudeln, ‚tut sich nichts‘ (…). Die Universität lässt sich also nicht von den Menschen trennen, welche die Institution tagein, tagaus tatsächlich ‚produzieren‘. Doch die Universität gestaltet auch die Bedingungen (…). Menschliche Tätigkeiten erschaffen die Universität, doch gleichzeitig werden menschliche Aktivitäten durch die Universität geschaffen. In dieser Rückkoppelung ergibt sich fortwährend Produktion von Raum.“ Zitat in: Paglen, Trevor: Experimentelle Geographie, in: Reder, Christian: Kartographisches Denken, S. 36 f.

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genau? Was verstehst du unter dem Wort „Baum“? All diese Fragen wären berechtigt, wenn es um einen wirklichen Inhalt ginge, einen konkreten Bezug zum Sein. Aber sie gehen fehl, da es bei der Aussage um keinen Inhalt geht, sondern um den Verweis auf einen spezifischen Teilaspekt in einem vordefinierten Kontext, ohne den er sinnlos wird. Genau dieser Verlust der Sinnhaftigkeit ist es, der in der Gegenwart zu beobachten ist. Durch die ständige Schaffung immer neuer Räume und Deutungsmuster verwischen die Bezüge. Das kann sicherlich auch förderlich sein, da zu eng definierte Räume die Schaffenskraft für Neues in einer Gesellschaft einengen. Aber durch die moderne Technik, vor allem die der Massenmedien, entsteht eine Ungleichheit. Die Räume wandeln sich in der ständigen Kommunikation, aber ihre Objekte bleiben erhalten – nur ohne den Kontext, der eigentlich ihrer vermeintlichen Sinnhaftigkeit zu Grunde liegt. Räume und Erscheinungen fallen auseinander. Objekte, Kategorien, Sätze und Laute verlieren ihren Ursprung, werden offen für Deutungen in teils völliger Beliebigkeit. Eine Fragmentierung der Sinnhaftigkeit entsteht, in der Aussagen wie leere Gefäße für subjektive Teilperspektiven stehen. Diese Fragmentierung ist wiederum vor allem in den Massenmedien zu beobachten. Gerade in westlichen Zeitungen taucht zum Beispiel in regelmäßigen Abständen die Meldung auf, dass derjenige, der täglich ein Glas Wein trinkt, länger lebe. Vermutlich beruht diese Meldung sogar auf einer wissenschaftlich annehmbaren statistischen Untersuchung, aber die Aussage verfügt über keine allgemeinere Relevanz ohne den subjektiven Kontext, der vermutlich dahintersteht. Eine Person die täglich ein Glas – und nur ein Glas – Wein trinkt, mag statistisch gesehen länger leben, aber dieser Einzelbefund muss nicht ursächlich für das Ergebnis sein. Vermutlich ist es eher so, dass jemand, der zwar jeden Abend, aber nur ein Glas trinkt und nicht die ganze Flasche hinterherschüttet, über einen spezifischen Kontext im Selbst, eine spezifische Relation zwischen Ich und Sein, ein spezifisches Selbstbild des Lebens verfügt, von dem der Wein ein Aspekt, aber nicht der gesamte Kontext ist. Eher wird es so sein, dass dieser Aspekt einem Weltbild entspringt, in dem Regelmäßigkeit, Genuss, aber auch Selbstdisziplin maßgeblich sind. Aus dieser Haltung zum Sein entspringt dann wohl auch das verlängerte Leben. Das fragmentierte Objekt des einen Glases Wein am Tag, integriert in einen anderen Kontext, in ein anderes Leben, erzeugt nicht den gleichen Sinngehalt, da der so scheinbar objektivierte Zusammenhang in Wahrheit ohne das ursprüngliche Selbst sinnlos ist. Vereinfacht gesagt: Jemandem, der nach dieser Aussage jeden Tag ein Glas Wein trinkt, aber danach immer auch zwei Flaschen Wodka hinterher, wird wahrscheinlich kein verlängertes Leben beschieden sein. Dieses Beispiel ist natürlich sehr plakativ und einleuchtend, aber der Modus des Auseinanderfallens von Raum, Kontext und Objekt bei gleichzeitiger kommunikativer Verwendung als leeres Zeichen, ist überall zu beobachten. Ein anders Beispiel wären Kategorien und Begriffe wie z. B. 214

Romantik. Als zeichenhafter Laut prägt es die Rolle des Kunstkenners in der Galerie „Oh. Eindeutig Spätromantik“ oder die Rolle des gefühlvollen Bilderkonsumenten „Das ist aber romantisch“ – aber was der Begriff bedeutet, aus welchen Kontexten er entstanden ist, welches subjektive Verhältnis zwischen Ich und Sein ihm zugrunde liegt, verschwindet hinter seiner Benutzung in anderen Kontexten. Ebenso ist es in der Fachsprache der Kunstgeschichte, wenn er als eine vermeintlich objektive Perspektive auf bestimmte Phänomene und Erscheinungen verwendet wird, die vielleicht gar nicht so zeitlich kontextualisiert werden können, wie es das Raster einer lexikalischen Betrachtung erfordert. Auch in der Gestaltung zeitgenössischer Städte findet sich der Modus. Inmitten einer eng-gerasterten Betonwüste stehen vielleicht drei Bäume auf einer kleinen Rasenfläche. Mehr ein leeres Zeichen für einen nicht gegebenen Naturbezug und als sinnentleertes Fragment dem Kontext einer natürlichen Landschaft entnommen. Nicht zu vergessen die Analogiefalle der Tradition: Bräuche, Objekte, Dekor. Das, was in einem historischen Kontext sinnvoll eingebettet war und nun als leeres und bedeutungsloses Fragment weitergeschleppt wird, weil seine Erscheinung im subjektiven Empfinden halt schon immer dazugehört hat – das Treibgut der Geschichte. Etablierte Objekte, Erscheinungen und Methoden werden in neuen Räumen wiederverwendet, auch wenn sie in diese gar nicht passen. Sie werden in Städten, Medien und Sprache zu leeren Zeichen, die letztlich beliebig sind und nur auf das Subjekt verweisen, aber nicht mehr als Möglichkeit einer echten Kommunikation eine Annäherung zwischen Ich und Ich anhand des Seins ermöglichen. Verhinderte Kommunikation. Barrieren zwischen Ich und Sein, blockierend den Weg zu einer umfassenderen Erkenntnis. Das objektive Denken als Irrtum. Dinge als leere Zeichen. Der Verlust einer Kontextualisierung zum Sein durch Objekte, die letztlich auf das Nichts weisen. Dieses Phänomen verdient noch eine abschließende Vertiefung. Aber davor ein Zitat aus dem Daoismus von Dschuang Dsi: „Doch Bücher enthalten nur Worte. (…) Was die Worte wertvoll macht, sind die Gedanken (…) das aber, wonach sich die Gedanken richten, läßt sich nicht durch Worte überliefern.

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(…) So ist das, was man beim Anschauen sieht, nur Form und Farbe, was man beim Hören vernimmt, nur Name und Schall. Ach, daß die Weltmenschen Form und Farbe, Name und Schall für ausreichend erachten, das Ding an sich zu erkennen!“248

Scheinräume und Erstarrung Das Great Game of Civilization: Einmal beschrieben als System, als Versuch aus einer vermeintlich objektiven Perspektive, und einmal aus dem Subjekt, aus dem Individuum heraus, innerhalb des Systems. Beides abstrahierte Modelle – natürlich. Aber in beiden zeigen sich dieselben Grundmuster, die darauf beruhen, dass die geschaffene Welt des Menschen eine Projektion seiner inneren Zustände ist, die wiederum auf ihn zurückwirkt. Aus den wahrgenommenen Erscheinungen des Seins bildet der Mensch durch eine Komplexitätsreduktion einen Kontext, um sich in seiner Welt zu positionieren. Durch diesen Ich-Bezug zur Welt ist der Mensch in der Lage, seine Welt anhand der Bildung von Objekten zu gestalten. In den Konzepten, die dieser Weltgestaltung vorweggehen, ist allerdings die Perspektive eines möglichen Ichs inkludiert, das ebenfalls in die Welt hineingeprägt wird. Durch die Masse der möglichen Perspektiven entstehen wiederrum zahlreiche mögliche Ich-Bezüge in der Welt, die auf die Bildung von Kontexten zurückwirken. Im Selbst des Menschen vermischen sich so Konzepte und Kontexte – so entsteht eine Scheinwelt. Die Übertragung der künstlich errechneten virtuellen Welt unseres Verstandes auf die Natur. Die symbolische Schaffung von Objekten, die ikonisch wieder in den Verstand und das Selbstbild integriert werden, aber im Kern doch leer sind. Gehalt und Sinn erst wieder in einem Verstand erlangen und das tendenziell auf beliebige Weise. Unsere gegenwärtige Welt wird dominiert durch erstarrte Kontexte. Räume, die vermeintlich Sinn vorgeben. Räume, in denen Rollen anhand von Objekten und Fragmenten definiert und nachvollzogen werden können, gebunden an die Container von Massenmedien und Städten. Aber diese Räume sind durch erstarrte Kontexte definiert. Ihrem Wesen nach sind sie von der Wechselwirkung mit dem Sein entkoppelt. Sie sind Scheinräume; Echokammern des Selbst, die ihre Sinnhaftigkeit erst durch das erlangen, was subjektiv in sie gelegt wird – und dadurch ist ihre Sinnhaftigkeit, ihr Inhalt beliebig. Entlang der Strukturen, die sie vorgeben, ist ihre Bedeutung im Akt der Kommunikation im stetigen Fluss. Durch die Entkoppelung vom Sein werden sie leer, aber gleichzeitig sind sie das Sein – die „Realität“. Sie umgeben den zeitgenössischen Menschen rund um die Uhr. In Wohnungen, Straßen, Büros ebenso wie in 248 Zitat in: Dsi, Dschuang: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, S. 163.

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der Dauerpräsenz der Medien. Ein stetiger, wandelbarer Strom, der zum Sein wird. Das, anders als ein idealisiertes natürliches Sein, aber über Ursprünge verfügt. Über Perspektiven und Konzepte, individuell oder kollektiv in Form gebracht, die ihnen zugrunde liegen. Sie definieren, sie prägen; nur bestimmte Arten der Aneignung und Interpretation zulassend, die aber doch in ihnen nicht enthalten sind. Sinn, der im Akt ihrer Schaffung grundlegend ist und nachvollzogen werden kann; oder aber eben auch nicht, da ein klarer Bezug, die Behauptung des Objektiven, ein klarer Kontext zwischen Ich und Sein, in ihnen nicht existiert. Fragmente, die subjektiv aufgenommen und als vermeintliche Realität verstanden werden, aber leer sind und erst im Subjekt wieder Sinn erhalten; durch das Subjekt und nur in ihm. Die Auseinandersetzung, die Kommunikation mit diesem vermeintlichen Sein ist letztlich ein Scheinaustausch. Eine Echokammer subjektiver Befindlichkeiten, die den Zugang zum eigentlichen Sein verschließt und das Selbst aus einem umfassenderen Ich-Sein-Bezug löst. Es ist eine Verschließung umfassender Erkenntnis durch das stetige abarbeiten an künstlichen, virtuellen Kontexten, die als solche mitunter gar nicht erkannt werden – und das vor allem in gesellschaftlichen Bereichen, die sich häufig vernehmlich auf eine angebliche Objektivität berufen. Vor allem der Aspekt einer zunehmend technisch-methodisch orientierten Wissenschaftlichkeit im Geiste eines allgemeinen Positivismus ist davon betroffen.249 Jeder erstarrte Kontext entsteht 249 Der Philosoph Franz von Kutschera kritisiert diese Ansicht: „(…) die weithin als so selbstverständlich gilt, daß sie noch nicht einmal einen Namen hat. Ich will sie ‚objektivistisch‘ nennen. Ihr Grundgedanke ist kurz gesagt folgender: Als Realisten verstehen wir die Welt als eine Wirklichkeit, die in ihrer Existenz und Beschaffenheit von menschlichem Erfahren und Denken unabhängig ist. (…) Die großen Erfolge der Naturwissenschaften beruhen gerade darauf, daß sie sich Schritt um Schritt von dieser (er meint die menschliche) Perspektive emanzipiert haben. Die Physik beschreibt heute die Natur mit Begriffen, die mit den sinnlich feststellbaren Qualitäten der Dinge, wie Farbe, Wärme oder Härte nichts mehr zu tun haben.“ Zitat in: Kutschera, Franz von: Die falsche Objektivität, S. V. Die Philosophin Sabine Ammon konkretisiert dies: „Orientiert am Leitbild der Physik sollten alle anderen Wissensbereiche in eine physikalische Beschreibungssprache überführt und auf quantitativ-empirische Grundlagen gestellt werden. Doch wurde durch neuere Ergebnisse aus Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie immer deutlicher, dass sich Methoden, Verfahren, Weisen des Experimentierens und spezielle Beschreibungssprachen nicht einfach übersetzen lassen. Die Übersetzung bleibt zwangsläufig unvollständig, spezifisches Wissen geht auf diese Weise verloren. (…) Der Pluralismus hat uns die Einsicht gebracht, dass sich das Phänomen Wissen nicht in das Korsett eines Einheitssystems zwängen lässt.“ Zitat in: Ammon, Sabine: Wissensverhältnisse im Fokus, in: Ammon, Sabine: Wissen in Bewegung, S.  59. Ungeachtet dessen ist zunehmend ein Trend zur technisch gestützten Modellwissenschaft zu beobachten. In diesen generieren Computersimulationen aus immer kleinteiliger erfassten Daten anhand von parametrisch/ dynamischen Modellen Ergebnisse. Vgl.: Morton, Oliver: The Planet Remade, S. 69 f. Vor allem die Medizin und die Klimaforschung können als Wegbereiter dieser wissenschaftlichen Methode betrachtet werden. Vgl.: Huber, Lara: Relevanz, S. 28–41. An sich scheinen diese Methoden durchaus vielversprechend. Allerdings ist in der öffentlichen Diskussion ebenfalls festzustellen, dass den Ergebnissen durch ihre Genese am Computer mitunter die Aura einer absoluten Objektivität zugesprochen wird. Das kann durchaus problematisch werden,

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aus einer Relation zwischen Ich und Sein. Er ist definiert durch eine bestimmte Perspektive auf das Sein. Als Methode aus der ursprünglichen Relation gelöst, ist weder die Summe des Seins, auf das er sich bezieht, noch die bestimmte Perspektive, die ihn bestimmt, von vornherein in ihm ersichtlich. Mitunter bleibt sie unbemerkt und kann subjektiv mit einer Art Absolutheit verwechselt werden. Jede wissenschaftliche Untersuchung anhand von Methoden erfolgt aus einer bestimmten Perspektive. Der Fisch auf dem Labortisch, der vermessen, seziert und katalogisiert werden kann, ist nicht derselbe Fisch, der im Meer schwimmt. Indem er auf den Labortisch gelegt wird, wird er bewusst einer ganzheitlichen Erfassung seines Seins entzogen und einer bestimmten Perspektive unterworfen. Zum Objekt eines definierten Raumes, dessen Interaktionen und Betrachtungen bestimmten vordefinierten Bahnen folgen. Wie schon Paul Watzlawick bemerkte, hängen die Ergebnisse solcher Untersuchungen von Vor-Annahmen – der Perspektive – ab. Es werden Daten innerhalb eines bestimmten Kontextes produziert, die nicht verwechselt werden dürfen mit einer umfassenden Erfassung des natürlichen Phänomens Fisch. Wissenschaftliche Methodik ist natürlich kein singulärer Zugriff. Als konstituierender Teil des Great Game of Civilization of Culture finden sich die Grundmechanismen auch hier und sind vielleicht gerade durch eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Welt entstanden. Wissenschaft ist vor allem Kommunikation und Austausch der begrenzten Perspektive des einen Wissenschaftlers mit dem anderen, in der Hoffnung, in unterschiedlichen Räumen zu gleichen Sinngehalten zu kommen. In einem kollekti-

wenn Modelle zu unkritisch mit der Wirklichkeit verwechselt werden. Die Philosophin Lara Huber weist diesbezüglich auf den entscheidenden Aspekt hin: „Zusammenfassend lässt sich sagen, Modellierungen sind – in Bezug auf die realen Systeme, die sie abzubilden beanspruchen – in der Regel unterkomplex und stark vereinfacht.“ Zitat in: ebd., S. 30. Diesbezüglich der Psychologe Julian Jaynes zum grundsätzlichen Aufbau von Wissenschaft, die eben nicht die Wirklichkeit ist, sondern sie beschreibt: „The concepts of science are all of this kind, abstract concepts generated by concrete metaphors.“ Zitat in: Jaynes, Julian: The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind, S. 50. Eine Verwechselung von „Wissenschaft“ und „Wahrheit“ kann sehr kritisch gesehen werden. Der Soziologe Werner Seppmann schreibt zum Aspekt einer etablierten und institutionalisierten Wissenschaft: „Als Produzentin von ‚Herrschaftswissen‘ ist sie gezwungen, realistische Aussagen über die bestehende Wirklichkeit zur Verfügung zu stellen, also ‚wissenschaftlich zu argumentieren‘ (…). Soziale Zensur- oder Selbstzensurmechanismen werden erst wirksam, wenn die Beantwortung einer Frage, die Analyse eines gesellschaftlichen Problems, zur Infragestellung der herrschenden Ordnungsund Orientierungsprinzipien oder gar deren Entlarvung als Ausdruck von Klasseninteressen führt.“ Zitat in: Seppmann, Werner: Subjekt und System, S. 179. So gesehen kann Wissenschaft durchaus mit dem Prinzip der Herrschaft zusammenfallen und einer umfassenderen Erkenntnis eher im Wege stehen, da ein entscheidender Aspekt von ihnen gemeinsam negiert wird: „Priester verkünden göttliche Wahrheiten. Philosophen gründen ihre Aussagen auf Grundsätze (Axiome). Wissenschaftler zwingen die Natur unter allgemeingültige Gesetze. Mit wenigen Ausnahmen verlegen sie ihr ‚Wahrheitskriterium‘ nach außerhalb. (…) Subjektive Sinngebungen sind ihnen kaum bewusst.“ Zitat des Psychologen Gerald Bühring, in: Bühring, Gerald: Perspektive, S. 116.

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ven Akt das Selbst der Menschheit durch eine fundierte Agglomeration der Perspektiven zu einer umfassenderen Erkenntnis des Seins zu führen. Die Erfolge dieser Methode sind nicht von der Hand zu weisen. Aber neben der Gefahr des Vergessens der immer auch begrenzten Perspektive und einem zu früh empfundenen Absolutheitsanspruch, liegt das Problem vor allem in der Schnittstelle, sozusagen in der Kommunikation zwischen den Räumen der Erkenntnis. Die Agglomeration von Wissen aus unterschiedlichsten Erkenntnisräumen kann ursprüngliche Zusammenhänge auflösen und sie in neue, künstlich erstarrte Kontexte einweben. Wissenschaftliche Erkenntnis erfolgt innerhalb eines bestimmten Raumes, eines bestimmten Kontextes, entlang von hier gültigen Methoden und Sprachen, mit denen das Objekt der Forschung untrennbar verbunden ist. Im Austausch mit anderen muss das Forschungsobjekt in einen anderen Kontext überführt, es muss kommuniziert werden. Es verliert mitunter seinen eigentlichen Sinngehalt und wird neu interpretiert. Wie alle Gegenstände der Kommunikation wird es zeichenhaft und tendenziell beliebig. Das wird vor allem deutlich, wenn wissenschaftliche Erkenntnisse aus einer sehr dezidierten Fachsprache wie der Mathematik in eine andere Sprache, vielleicht die Alltagsprache, „übersetzt“ werden. Die ursprünglichen Relationen werden unter eine neue Perspektive gestellt. Das Ergebnis kann, im Sinne einer vermeintlichen Objektivität, nicht präzise sein: Eine vermeintlich höhere Erkenntnis durch die Steigerung der Perspektiven auf Objekte scheint in eine Agglomeration des fragmentierten Wissens zu münden. Am Ende passen diese Teile nur durch eine bestimmte Perspektive zusammen, die es nur als unbewusste Begrenzung im Selbst gibt.250 Es ist wie mit der Zahl π, deren genaue Bestimmung anhand der Fachsprache der Mathematik in die Unendlichkeit geht, aber trotz der ausufernden Agglomeration von Zahlen immer nur eine Annäherung an das eigentliche Phänomen des Kreises bleibt. In der Übernahme durch andere Wissenschaftsbereiche wird dann diese unendliche Annährung an das Sein gelöst, verkürzt und als reduziertes Objekt in anderen Kontexten genutzt. Die Unschärfe, die sich durch diese Schnittstellen ausbilden, sind nicht nur erkenntnistheoretisch interessant, sie haben auch deutliche Auswirkungen auf unsere geschaffene Welt. Vor allem die 250 Eine amüsante Geschichte zu dieser Verwirrung durch subjektive Sinnstiftung erzählt schon Dschuang Dsi: „Wer seinen Geist abmüht, um die Einheit (aller Dinge) zu erklären, ohne ihre Gemeinsamkeit zu erkennen, dem geht’s, wie es in der Geschichte heißt: ‚Morgens drei‘. (…) Ein Affenvater brachte (seinen Affen) Stroh und sprach: ‚Morgens drei und abends vier‘. Da wurden die Affen alle böse. Da sprach er: ‚Dann also morgens vier und abends drei‘. Da freuten sich die Affen alle. Ohne daß sich begrifflich und sachlich etwas geändert hätte, äußerte sich Freude oder Zorn bei ihnen. Die Affen waren eben auch in subjektiver Bedingtheit befangen. Also macht es der Berufene in seinem Verkehr mit den Menschen. Er befriedigt sie mit Ja und Nein, während er innerlich ruht im Ausgleich des Himmels: das heißt beides gelten lassen.“ Zitat in: Dsi, Dschuang: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, S. 56.

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technisierte Wissenschaft durchdringt mit den Objekten und Strukturen, die aus ihr hervorgehen, die Lebenswirklichkeit der Gegenwart massiv. Ob Autos, Computer, Kaffeemaschinen oder Raketen: Zunehmend werden die Objekte zu Agglomerationen von technischen Einzellösungen. Von kleinen Mechaniken, die in ihrem Kontext sinnvoll sind, aber in einem größeren Kontext des Objektes kollektiv interagieren sollen. Überlegen Sie einmal, wieviel Lebenszeit Sie für solche Dinge und Strukturen aufgewendet haben, die nicht so funktionierten wie behauptet. Wo das Einzelteil vielleicht funktioniert, aber der Zusammenschluss zu einem größeren System an den Schnittstellen scheitert. Die jeweilige Einzeltechnik ist dabei meist in ihrem eigenen Raum legitimiert. In diesem funktioniert sie. Aber in der Auswirkung auf andere Räume und vor allem auf den Menschen entstehen die Fehler an den Schnittstellen. Zum Beispiel nützt einem Menschen eine als „funktionierend“ definierte Methode zur Krankheitsbehandlung nichts, wenn sie durch die Schnittstelle des Arztes falsch angewendet wird. Oder ein Computerprogramm, das aus der Sicht des Programmierers absolut konsistent ist, aber am User scheitert. Die Einzellösungen können sich eigentlich nicht auf ihre objektive „Richtigkeit“ zurückziehen, da sie als Technik in einem Gesamtsystem für den Menschen funktionieren müssen. Die objektivierte Technik steht dabei einem Subjekt überwiegend nicht verbindend, sondern als geschlossenes System in einem klar abgegrenzten Raum, gegenüber. Es ist eine Grundbeobachtung, die sich in fast allen komplexen Systemen der Welt zeigt und die den Akteuren beherrschbar scheint, solange nur noch ein neues Bauteil, eine neue Perspektive, ein neues Objekt, ein neuer Raum hinzugefügt wird. Ob das wirklich so ist, darf in der Gesamtbetrachtung der Epoche des Great Game of Civilization stark bezweifelt werden. Eher scheint es, als lebten wir in einer Simulation der Beständigkeit. Einer Simulation der Kontrolle über die von uns geschaffene Welt. In der Simulation eines umfassenden Zusammenhanges, der letztlich eine Illusion ist. Leere Objekte vereint in einem sinnstiftenden Gesamtkontext, der nur in der persönlichen Vorstellung existieren kann. In einem digitalen Animismus, in einer Art Geisterglaube, in dem die Phänomene der Welt abhängig von der Perspektive parzelliert für sich stehen und irgendwo in einem absoluten Jenseits sinnstiftend verbunden sind. Dem absoluten Kontext, den wir uns durch Agglomeration, der Schaffung von Gegensätzen und stetiger Ausdifferenzierung annähern wollen. Wahrscheinliche aussichtslos wie die Zahlenkolonne von π, die trotz aller Komplexität das eine Phänomen des Kreises nie erreicht. Was ist der fundamentale Fehler? Die Annahme, dass es ein „Außen“ als den einen Ort des absoluten Zusammenhanges gibt und dass man sich ihm durch stetige Parzellierung annähern kann; die Behauptung des externen Sinns der umfassenden Perspektive und damit letztlich das vermeintlich objektive Denken selbst und vor allem seine Umwandlung in das Konzept der Herrschaft! 222

Nach den bis hierher erfolgten Ausführungen lässt sich das Wesen der Herrschaft klar umreißen. Herrschaft ist ein umfassender erstarrter Kontext, ein künstlicher, vom Sein losgelöster Zusammenhang und die Position des Herrschers ist die eines simulierten Ichs, eines simulierten und idealisierten Gegenübers. Wir können die Zusammenhänge in einer chaotischen Welt nachvollziehen, indem wir seine Perspektive einnehmen. Aber es ist nicht die echte Welt des echten Seins. Sondern immer nur eine konstruierte Scheinwelt, die sich im Akt der Herrschaftsprojektion konstruiert. Wie bei jeder Übertragung in andere Kontexte ist auch diese von Brüchen gekennzeichnet. Die Fehler entstehen an den Schnittstellen, im Lösen von etwas aus seinem Zusammenhang und bei der Implementierung von Objekten in andere Kontexte, sowie in der Verwendung von leeren Zeichen, die in festen, aber doch morschen Räumen arrangiert werden. Objekten wie Menschen weist die Herrschaft den Platz zu. Aber das funktioniert nicht immer und wo etwas nicht immer funktioniert, kann kein Anspruch auf absolute Objektivität bestehen. Die Herrschaft negiert sich im Akt der unzureichenden Setzungen eigentlich selbst, aber profiliert sich dann wieder in der Bewältigung von scheinbaren Krisen, die aus ihren Fehlern entstehen. Der Motor der Gegenwart und ihrer Vorgänger liegt in diesem ständigen Wechsel. Durch den Bruch, der entsteht, wenn individuell oder kollektiv das Selbst verlassen und eine scheinbar objektive Perspektive eingenommen wird. Was ist die Triebfeder? Vermutlich ist es die Angst und der daraus resultierende Drang nach Erkenntnis. Die Räume der Herrschaft funktionieren nicht, aber sie sind starr und beständig bzw. wirken so. Scheinerkenntnis und Scheinsicherheit sind das, was sie bewirken. Aber dieser Schein ist nur ein Schein und er überdeckt den eigentlichen Verlust, der durch die Herrschaft im Individuum entsteht: Das Auseinanderfallen von Aktion und Reaktion, von Handeln und Ergebnis. Genauer: von der Relation zwischen Ich und Sein, die in den Räumen erstarrter Kontexte gleichsam gefangen ist. Die Angst bleibt: Sie überträgt sich auf das Unterbewusstsein, das davon ausgeht, dass diese künstliche Welt brüchig ist und dahinter noch eine weitere, unbekannte Welt lauert, und sie überträgt sich auf das Verhältnis zu den Dingen. Die Angst, diese als Manifestationen der scheinbar objektiven Sicherheit zu verlieren. Darüber gerät der eigentliche Kontext in Vergessenheit. Nicht der erstarrte, geschaffene und medial kommunizierte Kontext künstliche konzipierter Räume, sondern der innere, eigentliche Kontext im Selbst. Die eigene Kraft der Sinnstiftung zwischen Ich und Sein. Die Flucht in das vermeintlich Objektive ist damit eine Flucht vor dem Selbst. Die ursprünglichen Räume des Menschen, geschaffen in Kommunikation und im steten Fluss, werden starr. Sie gebären eine Scheinsicherheit, die nur

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durch die Trennung von Ich und Sein erfolgen kann.251 Sie blockieren den Zugang vom Ich zum Sein, aber sie beherrschen nicht das Sein. Die Kontrolle über die Welt, die sie versprechen, ist nur eine Behauptung, letztlich eine Selbsttäuschung und wie alle Selbsttäuschungen passen sie nie und sind in ihrer Begrenztheit eine Annäherung an das Sein, nie das Sein selbst. Stattdessen erzeugen sie in diesem den Bedarf nach weiteren erstarrten Kontexten; nach weiteren Räumen, die wiederum nicht passen, an den Schnittstellen brüchig sind und das Verlangen nach dem Mehr anregen. Immer mehr Scheinräume, immer mehr Echokammern, in denen nichts existiert, außer dem vom Sein und von den anderen isolierten Ich. Der Erkenntnis entrissen. Beraubt aller Wechselwirkungen. Getrennt von den Anderen. Gefangen in eigenen Projektionen. Ziseliert, wie eine Schneeflocke, langsam fallend in das Nichts einer dunklen Nacht. Die Antwort auf die Frage nach der Richtung, die dieses System in der Zukunft nehmen wird, ja nehmen muss, erscheint nach diesen Betrachtungen klarer. Das so geschaffene menschliche System – eine Modularität, die zunehmend fast universellen Status anzunehmen scheint – wird immer komplexer werden und damit immer ungenauer. Komplexitätszunahme und die aus ihr entstehende Notwendigkeit, Bruchstellen zwecks Erhalts des Gesamtzusammenhangs zu überbrücken oder zu kaschieren, kann nur durch eine immer weitere Stärkung der Herrschaft gewährleistet werden. Die umfassendere Ausrichtung an eine vermeintlich absolute Perspektive, die sich gerade dadurch selbst legitimiert, dass sie Raum und Mensch umfassend definiert. Eine absolute Diktatur, die, vermutlich technisch gestützt, den Verständnishorizont des einzelnen Individuums übersteigt. Eine strukturelle Gleichförmigkeit des Standardraumes, dessen Unterschiede nur in der Selbstwahrnehmung existieren. Eine Wirtschaftskultur der Verschwendung, die immer neue, leere Objekte in Scheinkonkurrenz zueinander stellen muss, um die absolute Normierung und damit die Entfernung vom eigentlichen Sein zu kaschieren. Eine Überforderung der natür251 Es gibt ja z. B. den bekannten Ausspruch, dass Künstler erst nach ihrem Tod berühmt werden. So gesehen sind sie durch ihren Tod erstarrt und können nicht mehr den Kategorisierungen und Beschreibungen zuwiderhandeln, die für ihre Prominenz verantwortlich sind.

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lichen Ressourcen und eine systemrelevante Vernichtung des Natürlichen zur Bestätigung des Anspruchs auf Kontrolle.252 Das Ich in diesem System ist eingekreist, in Räume aus erstarrten Kontexten gesperrt, die wie Echokammern das Selbst spiegeln und vom Sein ultimativ weit entfernen. Die Wechselwirkung aus neuen Perspektiven zwischen Ich und Sein schwindet und damit die Kommunikation mit anderen Ichs, die einer Kommunikation im Raum des Selbst weicht. Erkenntnis als Spiegel des Eigenen: Die absolute Erstarrung in einem künstlichen Käfig, der im Menschen liegt. Überragt von einer Herrschaft auf der Suche nach der absoluten Objektivität, die sich nie einstellen kann. Aber in ihrer Suche alles Sein zunehmend umschlingt, einverleibt und letztlich vernichtet. Abseits dieser Extrapolation des Great Game of Civilization in eine Zukunft, die aus den bisherigen Beobachtungen nur folgerichtig erscheint, gilt es Kernbefunde festzuhalten. Die wesentlichste Erkenntnis dabei lautet: Der Mensch versteht sich nicht! Somit kann er auch nicht die von ihm geschaffene, künstliche Welt verstehen. Durch seine Möglichkeiten zur Konzeption und Gestaltung wird er sich selbst ein Gott, der seine Welt schafft und in ihr lebt. Aber diese Welt ist fehlerhaft, gerade in Bezug auf den Menschen, da er das eigene Unverständnis über sich selbst in die Welt prägt. Das Selbst verästelt sich ständig in scheinbar neue Räume, bis zur Unendlichkeit und dem Verlust umfassender Sinnhaftigkeit. Dabei bleibt strukturell alles gleich. Raum, Kontext, Ikonen, Utopie, Objekte: Prägungen in das Sein, die zurückwirken, aber in ihren Grundrelationen aus dem Verstand unverstanden sind und ein Universum der leeren Zeichen in stetiger Wiederholung und Interpretation erschaffen. Der Mensch. Gefangen im Selbst. Alles was als Außen scheint, ist in Wirklichkeit Innen. 252 Herrschaft ist immer auch die Kontrolle auf Grundlage eines Konzeptes, das in der Vergangenheit liegt. Das der Mensch sich also nicht danach formt, was er sein könnte, sondern nach dem, was sich in der Vergangenheit bewährt hat. Diese Perspektive schließt eine wirkliche Weiterentwicklung, eine menschliche Evolution, tendenziell aus, zu der der Genetiker Günter Theißen anmerkt: „(…) dass es in vielen Trivialdarstellungen so erscheint, als sei beim Menschen die Evolution an einen Endpunkt angelangt. (…) Doch gerade Co-Evolution ist überhaupt nicht aufzuhalten, schon jede Grippe-, Ebola- oder Cholera-Epidemie ändert die genetische Konstitution unserer Art. Und so wird auch die Spezies Mensch früher oder später in andere Arten übergehen, oder die gesamte Linie wird aussterben  – selbst wenn wir uns nicht vorzeitig durch irgendwelche menschengemachten Katastrophen den Garaus gemacht haben.“ Zitat in: Theißen, Günter: Mechanismen der Evolution, in: Klempt, Eberhard: Explodierende Vielfalt, S. 129.

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Der Mensch schaut in die Welt, aber in Wahrheit schaut er in sich. Den ersten Menschen gab es nicht. Er stand nicht vor der Unendlichkeit. Der Mensch hat seine Höhle nie verlassen.

Switch! Der Mensch sitzt in der Höhle.253 Es ist seine Höhle. Hier kennt er sich aus. Hier fühlt er sich sicher. Die Höhle mag klein oder etwas größer sein und der Mensch hat sie vermessen. Jeden Quadratzentimeter genau in Augenschein genommen, untersucht, und als sicher empfunden. Die Kargheit des Gesteins beruhigt ihn und schafft das Gefühl des Vertrauten, Statischen, sich nie Verändernden. Die stille Ruhe seines Domiziles gibt ihm die Kraft, sich bis an den äußeren Rand der Höhle vorzuwagen. Mutig nähert er sich dem Licht. Schaut auf die Welt, die sich außerhalb der Höhle erstreckt. Sieht, dass diese eine Welt des Wandels ist. Hört Geräusche, deren Quelle er nicht zuordnen kann. 253 Diese Festlegung kann durchaus sehr konkret verstanden werden, in ihrem metaphorischen Gehalt spielt sie aber natürlich auf das berühmte Höhlengleichnis von Platon an, das als einer der Eckpfeiler der Philosophie und auch der Theologie, wenn nicht sogar der gesamten „westlichen“ Ideengeschichte angesehen werden kann. Vgl.: Platon/Krapinger, Gernot: Der Staat, S. 288–292.

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Schaut den Wechsel der Jahreszeiten und das stetige Werden und Vergehen von Flora und Fauna unter einem launischen Himmel. Streckt vielleicht mal eine Hand oder einen Fuß aus dem Höhleneingang, aber verbleibt doch immer in diesem Rahmen, der ihm seine Welt bedeutet. Bleibt immer an der Kante. Betritt nie die Welt, sondern verharrt in der Position des gesicherten Betrachters. Bei all dem Wandel, auf den er schaut und der ihn gut unterhält, bemerkt er nicht, dass er ein Gefangener seiner Perspektive ist. Dass er nicht die Welt erkundet, sondern immer nur einen Ausschnitt von ihr. Dass die Gesetzmäßigkeiten, die Quelle der Geräusche, die er sich zusammenreimt, ihn zufriedenstellen. Ihren wahren Ursprung hat er nie gesehen. Seine Welt ist eigentlich nur ein Ausschnitt, aber sie erscheint ihm doch als ganzes Universum. Inspiriert von dem stetigen Wandel, den er nur erahnen kann, beginnt er, es sich gemütlich zu machen. Sich seine Höhle anzueignen. Mit zunehmendem Geschick Bilder auf die kalten Wände zu malen. Sich selbst und seinen Blick in die Welt, in seinen Raum zu prägen. Keine Freiheit, aber Sicherheit. Kunstfertig, gemütlich, zufriedenstellend und doch nur eine Variation des immergleichen Blickes vom Rand der Höhle. Weit entfernt von den Eindrücken und Möglichkeiten, die sich jenseits dieses Raumes erstrecken. 229

Everything is a Remix. Hinter diesem Satz verbirgt sich eine Ahnung, die wahrscheinlich jeden Kunst- und Kulturschaffenden, eigentlich jeden kreativ Tätigen, irgendwann in seiner Kariere beschleicht.254 Das meist zu Beginn vorherrschende Gefühl, Neuland zu betreten, etwas zu erschaffen, was es so bisher noch nicht gab, weicht der Erkenntnis, dass irgendwie alles schon einmal da war. Vielleicht in einer anderen Technik, vielleicht mit einer anderen Farbe bemalt, aber doch nichts Neues, sondern die Wiederkehr des ewig Gleichen. Mal neu arrangiert, mal neu interpretiert, aber in der Struktur doch irgendwie dasselbe. Das scheint nicht nur für Mode zu gelten oder für Unterhaltungsprodukte, sondern auch für die Utopien und Träume von einer möglichen Zukunft, die sich bei näherer Betrachtung nur allzu oft als alter Wein in neuen Schläuchen entpuppen. Auch die unterschiedlichsten Erscheinungen der Jetztzeit ändern sich vielleicht in ihren Interpretationen, aber scheinen doch von einer strukturellen Eintönigkeit befallen. Der Mensch sitzt in seiner Höhle und macht sich Bilder von der Welt und eigentlich sind diese Bilder immer die gleichen. Inhalte mögen variieren, das Arrangement unterschiedlich ausfallen, aber Motive und Strukturen bleiben eigentlich immer konstant. Scheinbar hat der Mensch der Gegenwart alles gesehen und vermessen was es gibt. Seine Landkarte der Welt hat keine weißen Flecken mehr. Die kreativen Schöpfungen und die Variationen dieser Welt sind in 10 000 Jahre Geschichte alle einmal durchgespielt worden. Eigentlich haben wir alles gesehen und alles gemacht, was innerhalb des menschlichen Erfahrungsfeldes liegt. Aber ist das wirklich so? Oder kommen wir nur einfach nicht mehr aus unserer begrenzten Perspektive, unseren gedanklichen Strukturen, unserer virtuellen Welt heraus? Sind wir in all den Leistungen der Jahrtausende dem, was der Mensch eigentlich ist und dem, was das Sein eigentlich ist, wirklich nahegekommen? Oder haben wir die Erschaffung von Scheinwelten perfektioniert?255 All diese Fragen lassen sich auf einen Sachverhalt 254 Zur Gegenwart der Architekt Wolfgang Meisenheimer: „Architektur und Design gehen den standardisierten Wünschen voraus und folgen ihnen, wobei sich, global verbreitet, erstaunlich ähnliche Bilder zeigen.“ Zitat in: Meisenheimer, Wolfgang: Der Rand der Kreativität, S. 102. Zur historischen Perspektive der Semiotiker Umberto Eco: „Ein Großteil der Kunst war und ist repetitiv. Das Konzept der absoluten Originalität ist jüngeren Datums, es wurde mit der Romantik geboren.“ Zitat in: Eco, Umberto: Streit der Interpretation, S. 103. 255 Hierzu gibt es, in Relation zum Individuum, grob verallgemeinert drei Positionen. Die Denkrichtung eines Objektivismus, eines Mystizismus und eines Nihilismus. Beispielhaft für den Objektivismus zeigt sich das Werk der Philosophin Ayn Rand. In diesem wird eine vermeintliche absolute Realität postuliert, in der alles das ist, was es ist, und keine weiteren Dimensionen aufweist. Obwohl damit eine vermeintliche individuelle Schöpferkraft des Individuums aufgezeigt werden soll, wird gerade diese Kraft eines Ichs durch einen fundamentalen Wiederspruch negiert, indem geschaffene Werke als ein Ist, also ohne gedankliche, kulturelle und kreative Geschichte, angesehen werden, also der Mensch und seine Werke Objekte sind. Dies wird deutlich in der großen Ansprache ihrer Figur John Galt: „For centuries, the battle of morality was fought between those who claimed that your life belongs to God and those who claimed that it belongs to your neighbors (…). And no one came to say that your life belongs to you and that the good is to live it. (…) A is A. A thing is itself. (…)

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zurückführen, der als permanenter Zustand einer Urkatastrophe gleichkommt und der sich zu allen Zeiten und in jedem wiederholt. Der Kern des Problems, die einfache Erkenntnis: Erfahrungen sind nicht teilbar. Weder die Erfahrungen, die wir mit der äußeren Welt machen, noch die Erfahrungen in unserem Geiste; wobei beides ja dasselbe ist. Die Relationen im Selbst lassen sich nicht auf die Welt prägen; sie sind nicht kommunizierbar.256 Sie führen zu etwas, aber sie selbst bleiben der Ansicht verschlossen. Die Erscheinung ist nur der Träger für das, was sich aus diesen Relationen ergibt. Alles, was der Mensch schafft, ist flüchtig und vergeht. Zum einen, weil die Trägermedien in der Physis flüchtig sind – Papier vergilbt, Skulpturen verfallen – und zum anderen, weil es nur Verweise auf die eigentlichen Relationen, auf die eigentlichen Erfahrungen sind, die aber gerade nicht in dem Geschaffenen enthalten sind, sondern in Aneignung immer neu entstehen. All die Erfahrungen, all das, was zwischen dem Ich und dem Sein in jedem einzelnen der Milliarden von Menschen, die Existence is Identity, Consciousness is Identification. (…) The symbol of all relationships among such men, the moral symbol of respect for human beings, is the trader. We, who live by values, not by loot, are traders, both in matter and spirit, (…) objective reality is the standard and the judge. (…) I will never life for the sake of another man, nor ask another man to live for mine.“ Zitat in: Rand Ayn: Atlas Shrugged, S. 926–979. Der Mystizismus lässt sich, sehr grob gesprochen, auf die Annahme reduzieren, dass hinter der Welt der Wahrnehmung noch eine andere Welt existiert. Die Annahme von Platons Höhlengleichnis spiegelt sich dahingehend in fast allen großen und organisierten Weltreligionen. Sei es im Jenseits der abrahamitischen Religionen als auch im umfassenden Sinn der asiatischen Religionen. Eine menschliche Scheinwelt der begrenzten Erkenntnis, die es zu überwinden gilt um eine allgemeine, zugrunde liegende Wahrheit zu erkennen. Vgl.: Kapleau, Philip: Die drei Pfeiler des Zen, S. 60. Aber anders als die westlichen Religionen, in denen eine eher objektiv/beschreibende Perspektive auf das Jenseits angewandt wird, überwiegt vor allem im Buddhismus die Zentrierung auf den subjektiven Kern, gerade ohne Beschreibungen. Hierzu Dschuang Dsi: „Der SINN ist Grenzbegriff der dinglichen Welt. Reden und Schweigen reicht nicht aus, ihn zu erfassen. Jenseits vom Reden, jenseits vom Schweigen (liegt sein Erleben), denn alles Denken hat Grenzen.“ Zitat in: Dsi, Dschuang: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, S. 283. Die dritte Position, den Nihilismus, fasst der Psychologe Gerald Bühring in Bezug auf den Philosophen Friedrich Nietzsche prägnant zusammen: „Hiermit vertritt Nietzsche einen ziemlich ‚radikalen Reduktionismus‘. Während für Cusanus und Leibniz wenigstens noch eine objektive Wirklichkeit ‚hinter den Scheinkulissen‘ existiert, eine Welt ‚an sich‘, weist Nietzsche dererlei Ansinnen von sich. Nichts ist wirklich! Erkenntnis unmöglich!“ Zitat in: Bühring, Gerald: Perspektive, S. 98 f. 256 Schon in der theokratischen Utopie von Johann Valentin Andreae aus dem Jahr 1619 ist dies eine treibende Erkenntnis, wenn er schreibt: „Wenn einer von den jungen Leuten wüßte, mit wieviel Irrtum, Schweiß, Scham, Gefahren und Schicksalsschlägen die Alten allerdings diese Grundsätze erlangt haben, die sie nun sämtlich in ihrem Inneren vergraben haben und mit dem einzigen Wort ‚Hüte dich!‘ zusammenfassen – dann würden er niemals so gedankenlos sein, Ratschläge der Alten zu verlachen und seine eigenen zu bewundern.“ Zitat in: Andreae, J.V./Biesterfeld, Wolfgang: Christianopolis, S. 134.

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lebten, existierte: verloren. Verloren im Tod, aber eigentlich auch schon im Leben. Die noch nicht zu behebende Urkatastrophe des Verlustes von Erfahrungen und Wissen. Wie Tränen im Regen. Welche Verschwendung. Neben den negativen Auswirkungen des beschriebenen Systems auf die Natur und den Menschen, ist dies das eigentliche, scheinbar unlösbare Problem, dass durch die absehbaren Entwicklungen noch verstärkt werden wird. So sehr im Great Game of Civilization versucht wird, diesen permanenten Verlust scheinbar zu kompensieren, so sehr scheitert es doch stetig an diesem Anspruch. Der Grundansatz des Systems war ein erster kultureller Schritt: Ein Gang in das Land des Denkens. Aber es wird Zeit, einen neuen Weg zu finden. Den ersten Schritt nicht vergessen, aber ihm auch neue Schritte folgen zu lassen. Der Mensch weiß nicht, was er ist, und kann gar nicht abschätzen, was er tut; aber das muss ja nicht so bleiben. Wir müssen nur endlich die Höhle verlassen und in die Welt treten. Nach all der Dekonstruktion menschlicher Kulturleistung in diesem Buch liegt der erste Schritt vielleicht darin, konstruktiv zu werden. Grundsätzlich einmal neu zu denken. Der Ansatz dazu ist ein einfacher, scheinbar simpler Vorschlag, aber zugleich eine radikale Lösung, wenn man sie konsequent denkt: Statt über den Menschen vom Menschen aus denken. Nicht aus einer vermeintlich objektiven Perspektive entwickeln, sondern aus dem Menschen selbst heraus. Einen Objektivismus nicht nur zu postulieren und den Segen in einer vermeintlich externen Perspektive suchen; sondern aus dem Menschen, aus dem Ich heraus die Welt denken um vielleicht so zu einer umfassenderen Perspektive zu gelangen. Dies gilt vor allem für die Wissenschaft, deren überwiegende Lösung der objektivierten Erkenntniswege von einer subjektiven Lebenswelt eine große Lücke schafft, die mitunter mit allerlei phantasierten oder postulierten Zusammenhängen gefüllt wird. Man kann vermuten, dass der Grund zur Annahme einer externen Perspektive im Götterglauben der Menschen zu Beginn des Great Game of Civilization liegt. Trotz allem Fortschritt des Denkens hat er uns strukturell nie verlassen. Wir müssen dieses Überbleibsel, dieses Treibgut der Geschichte, diese Ur-Höhle, hinter uns lassen. Nicht vergessen, aber anders denken. Der Philosoph Platon beschrieb eine kleine Veränderung, die aber große Erkenntnis bringen kann, in seinem bekannten Höhlengleichnis. Durch 234

eine Kopfbewegung und Entfesselung erkennen die Menschen, dass das, was sie für die Wirklichkeit gehalten haben, nur Schattenbilder an der Wand waren, erzeugt durch ein Licht hinter ihnen. Aber in Abkehr von Platon sollte hier klargeworden sein: Es gibt kein Licht hinter uns und keinen externen Ursprung für die Schattenbilder einer virtuellen Welt. Wir sind das Licht! Wir prägen aus uns die Schatten unseres Selbst auf die Höhlenwände und halten sie für die Wirklichkeit. Das Licht ist in uns. Die externe Perspektive liegt im Menschen und Antworten können nur aus ihm heraus entwickelt werden. Der Wechsel von außen nach innen ist die Zuwendung zum Sein!257 Der nächste Schritt, der sich aus dieser Erkenntnis ergibt, ist einfach: Stürzt die Herrschaft! Oder etwas anders formuliert: Er besteht in der Abkehr von dem allgemeinen Prinzip einer externen Deutungsmacht über subjektive Zustände, wie sie sich im Konzept der Herrschaft ausdrückt. Unabhängig davon, wie sich Herrschaft offenbart, liegt ihr immer ein vermeintlicher Objektivismus zugrunde, der die Welt immer nur in Gegensätzen erfassen kann. Darunter fällt auch der Mensch, der in verschiedene Rollen und Räume arrangiert wird.258 Diese Ausdifferenzierung des 257 Hierzu subjektivierend der Philosoph Max Stirner: „Drum kehre Du Dir die Sache lieber um und sage Dir: Ich bin Mensch! Ich brauche den Menschen nicht erst in Mir herzustellen, denn er gehört Mir schon, wie alle meine Eigenschaften.“ Zitat in: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum, S. 91. Hierzu objektivierendanalytisch der Philosoph Ernst Cassirer: „Die spezifische Bedeutung der Frage nach dem ‚Was‘ des Raumes und der Zeit scheint vielmehr darin zu liegen, daß mit und an dieser Frage die Erkenntnis allmählich eine neue ‚Richtung‘ gewinnt. Hier zuerst begreift sie, daß und warum die echte Außenwendung nur durch eine ihr entsprechende Innenwendung zu vollziehen ist – hier lernt sie einzusehen, daß der Horizont der Gegenständlichkeit sich erst wahrhaft aufschließt, wenn der Blick des Geistes nicht lediglich nach vorwärts auf die Welt der Objekte, sondern nach rückwärts, auf die eigene ‚Natur‘ und die eigene Funktion der Erkenntnis selbst, gerichtet wird. (…) Die Erkenntnis will das Sein in seinem ganzen Umfang umspannen, will es nach seiner räumlichen und zeitlichen Unendlichkeit durchmessen – aber sie erfährt zuletzt, daß diese Aufgabe der Messung nur lösbar ist, wenn sie zuvor die Maße für sich selbst aufgestellt und sichergestellt hat.“ Zitat in: Cassirer, Ernst: Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum (1931), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 485 f. 258 Der Soziologe Henri Lefebvre postuliert dazu: „Jedes System neigt aber dazu, das Denken zu beenden, Perspektiven zu verschließen.“ Zitat in: Lefebvre, Henri: Das Recht auf Stadt, S.  27. Diese meist unbemerkte Einengung der Perspektive behindert auch den Rahmen des Denkbaren, wie es auch in einer Anmerkung von Max Stirner durchscheint, da: „(…) Schriftsteller ganze Folianten über den Staat anfüllen, ohne die fixe Idee des Staates selbst in Frage zu stellen (…).“ Zitat in: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum, S. 32.

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Menschen in unterschiedliche Konzepte ist als ein Sündenfall zu begreifen! Auch wenn die Entwicklungen der letzten Jahrtausende viel Positives hervorgebracht haben, so ist das Leid, das durch die Postulierung vermeintlicher Unterschiede entstanden ist, unermesslich. Die Toten und ihr Elend, das durch Kategorien wie „Wir“ und „die anderen“ entstanden ist, wird vergessen, da es als „Unbegreifbarkeit“ nur wieder objektiviert zu einer abstrakten Zahl erfassbar ist. Das subjektive Leid der Menschen ist nicht erfahrbar, da es mit diesem endet, während die Strukturen der Herrschaft bleiben. Leid, das nicht nur in Kriegen, sondern auch durch das „nicht einpassen“ können oder wollen in vordefinierte Räume entsteht. Die permanenten Spannungen zwischen Herrschaft und Selbst, die mitunter in Selbstauslöschung enden. Nicht zu vergessen das mannigfaltige Unglück, das entstanden ist, weil sich Systeme als unzureichend erwiesen haben. Weil eine Herrschaft zwar postuliert, über höheres Wissen zu verfügen, aber am Sein scheitert. Es gehört dazu, dass das subjektive Leid, das dabei entsteht, in der virtuellen Welt des Great Game of Civilization nicht wirklich auftaucht. Es ist objektiviert, an den Rand gedrängt und nicht in der Perspektive enthalten. Gestalt erhält der vermeintliche Erfolg im Schlaglicht; als Ikone der Richtigkeit; als ein Beispiel für den Erfolg der Herrschaft, hinter dem sich das Meer der Namenlosen verdunkelt. Wie es Bertolt Brecht formulierte: „(…) Und man siehet die im Lichte Die im Dunkeln sieht man nicht“.259

Das System der Herrschaft hat sich als fehlerhaft erwiesen, da sich seine Grundannahme, sein konstituierendes Element der übergeordneten Perspektive, als fehlerhaft erwiesen hat. Die Auflösung der Herrschaft kann dabei nur in der Überwindung des gegenständlichen Denkens erfolgen. In ihm existiert Sinn nur durch Abgrenzung. Es muss in ihm immer Gegensätze geben, sonst gibt es keine Definitionen, keine künstlichen Unterschiede. Dies muss im Denken überwunden werden – soweit es möglich ist. Vermeintliche Gegensätze sollten aufgehoben werden durch das Anerkennen, dass das Zeitalter des objektiven Denkens an seine Grenzen gekommen ist, um so aufzubrechen in ein Zeitalter der Relationen. Diese führt zur nächsten markigen Phrase: Löst die Städte auf!

259 Aus der Ergänzung des Stückes „Die Moritat von Mackie Messer“ in der Verfilmung der Dreigroschenoper von Georg Wilhelm Pabst (1931).

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Damit ist eine Lösung von der konkreten Stadt gefordert, aber vor allem von dem Prinzip der räumlichen Prägung von Herrschaft in die Natur und den Menschen.260 Der Raum ist der Schlüssel zum Lösen der Probleme; die Struktur, nicht der Inhalt. Mit der Lösung eines vermeintlichen Inhaltes aus der Physis, der ja ohnehin nicht wirklich existiert, entfällt auch die Welt der Dinge. All die Sinnprägungen in die Natur sind nur im Modus der Herrschaft Wirklichkeit. Da aber die Natur sowieso größtenteils in ihren komplexen Relationen noch unverstanden ist, ist die statische Welt der Dinge überwiegend ein Schaden für das allgemeine Sein. Nun soll das nicht heißen, dass wir alles wegschmeißen und uns nackt auf einen Berg setzen sollen. Aber daraus, wie sich Objekte in unserer Welt bilden, sollte der logische Schluss gezogen werden: Objekte sind Relationen und die „reale“ Manifestation nur ein Abbild dieser Relationen, welches nie ganz „passt“. Warum nicht diese Relationen in eine technische Virtualität verschieben? Unsere Welt ist doch eh virtuell; künstlich. Warum nicht einfach das Medium von dem Gegenstand der Physis hin zu einer noch zu entwickelnden Form der elektrischen Speicherung ändern? Und damit sowohl die Natur als auch die Kultur befreien, durch eine saubere Trennung und die Etablierung eines klaren, strukturellen Beziehungsgeflechts. Ein grundsätzlicher Wandel. Ein Wandel unserer Welt durch den Wandel unserer selbst. Ein grundsätzlich neues Denken, das aber nicht verstanden werden sollte als eine Revolution, die alles bisher Etablierte negiert, sondern als ein Um- und Weiterdenken, das die Erkenntnisse und Möglichkeiten der Gegenwart nutzt. Die unzweifelhaften Errungenschaften der Zivilisation 260 Auch für die Naturerhaltung wäre das vorteilhaft. Städte sind gegenwärtig ein wesentlicher Treiber für globale Umweltveränderungen. Vgl.: WBGU: Der Umzug der Menschheit, S.  2. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen schreibt hierzu: „Die damit verknüpften systemischen Fernwirkungen oder ökologischen Fußabdrücke steigen mit dem Entwicklungsstand und dem Urbanisierungsgrad steil an und sollten daher bei städtischen Umweltstrategien von vornherein mitbedacht werden. Auch beim Klimaschutz spielen städtische Räume eine Schlüsselrolle, denn sie sind für etwa 70 % der globalen Energienutzung und der globalen energiebedingten CO2-Emissionen verantwortlich. In den Städten wird sich die Zukunft des Weltklimas entscheiden.“ Zitat in: WBGU: Der Umzug der Menschheit, S. 9. In Ergänzung dazu der Physiker Eberhard Klempt: „Die in Jahrmillionen entstandenen Vorräte an Öl, Erdgas und Kohle werden heute in wenigen Jahrzehnten verbraucht und als CO2 in die Atmosphäre entlassen – mit unabsehbaren Folgen für das Klima der Erde. Die hohe Besiedlungsdichte, das dichte Straßennetz und die intensive Landwirtschaft nehmen zahlreichen Pflanzen und Tieren ihren Lebensraum, die Biodiversität nimmt beschleunigt ab.“ Zitat in: Klempt, Eberhard: Einleitung, in: Klempt, Eberhard: Explodierende Vielfalt, S. 4.

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retten, indem wir das Subjekt als eigenständiges Element in das System integrieren. Die brüchigen Schnittstellen überwinden, indem subjektive Perspektive und objektive Kultur, das Ich und die Räume, in einer Wechselwirkung zusammenfinden. Der Weg ist die Überwindung der SubjektObjekt-Barriere. Dazu müssen wir zurück zum ersten Menschen, bevor er anfing, seine Scheinwelt zu konstruieren. Aber wir müssen zu ihm zurück mit dem Wissen um die Strukturen ebendieser Scheinwelt. Den ersten Menschen gab es nie! Er ist nicht die Vergangenheit, er ist die Zukunft. Wir können ihn denken, indem wir ihn nicht von außen imaginieren, sondern durch ihn hindurch das Sein sehen und formen. Das Sein ist der Lösungsansatz, aber da wir noch nicht wissen, was das Ich – der erste Mensch –, aus dem es sich entwickelt, ist, ist es eine Beschreibung des Nichts. Ein Nichts, aus dem sich eine mögliche Relation zwischen Ich und Sein beschreiben lässt. Ein Masterplan, der bestehende Strukturen und Entwicklungen aufgreift und im leeren Raum des Nichts ordnet. Im Nicht-Raum. Im Outópos.

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Outópos

Es ist der Mensch und er ist frei. Er wandelt in einer Welt, die ihm unbekannt und doch vertraut ist. Keine Zwänge lenken seine Bahn. Keine Stimmen, die ihn mahnen, ihn in die eine oder andere Richtung weisen. Keine Vorgaben, weder von außen noch von innen, zeigen ihm den Weg. Er ist umweht von Impulsen. Impulsen aus den unergründlichen Tiefen seines Selbst und aus der Mannigfaltigkeit des Seins. Er sucht nicht seinen Platz oder das Gegenüber. Er vertraut diesen Impulsen. Taucht ein in ihr Wechselspiel, genießt die stetig neuen Strukturen im Werden und Vergehen, die sich wie Schaum auf den Wellen abzeichnen. Er schaut die Unendlichkeit. Obwohl er nicht alles versteht, nicht alles in Konzepten oder Gesetzmäßigkeiten vorhersehen kann, so hat er doch keine Angst. Er weiß: Er hat nur eine begrenzte Perspektive, aber er weiß Sicherheit hinter sich. Sieht sich als Teil eines Gesamtsystems der Menschheit, in der das unendliche Wissen und die grenzenlose Erfahrung all derer, die vor ihm waren, und all derer, die mit ihm sind, sich mit der Unendlichkeit des Seins in ihm verbinden.

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Sein Ort ist der Outópos.261 Eine Struktur der umfassenden Relationen, Ein großer Kreislauf, der seine Welt umspannt. Existent, und doch nicht da. Ursprung, aber nicht Ziel. Hier, im reinen Ich. Im Dasein des Menschen als Werden zwischen dem Sein und dem Nichts. Er ist in der Welt und die Welt ist in ihm. Er ist eins. Der Mensch ist eins mit der Welt. Er ist die Welt. Er ist. Mensch. 261 In dem folgenden Abschnitt wird nun, vereinfacht gesagt, eine Utopie skizziert. Diese nährt sich (hoffentlich) nicht aus Träumerei oder Ideologie, sondern aus der vorangegangenen Reflexion zu ca. 10 000 Jahren Kulturgeschichte – so abstrakt und eklektisch diese vielleicht auch ausgefallen ist. Als Leitgedanken hierfür seien ein paar Stimmen aus der Beschäftigung mit historischen Utopien vorangestellt. Der Philosoph Günther K. Lehmann merkt an: „(…) dass Utopien weder leichtfertige Heilsversprechen noch schöngefärbte Wunschlandschaften sind; mit solchen Frohbotschaften handeln vorzugsweise Meinungsbildner und Demagogen. Eine echte Utopie ist zuerst eine heilige Idee, und zwar heilig in einem archaischen Sinne, nämlich das Innerste und Unberührbare, gleichsam das Heiligtum, das wohl jeder Mensch in sich trägt und das man vor zudringlichen Blicken schützt. An ihr offenbart sich der Sinn des Lebens.“ Zitat in: Lehmann, Günther K.: Ästhetik der Utopie, S. 13. Der Zeithistoriker Joachim Fest benennt den kritischen Punkt bei den meisten Utopien: „Die wirkliche Frage lautet, ob nicht alle Traumgeschichten einer neuen Ordnung (…), unvermeidlicherweise in den Terror münden, was auch immer ihr ursprünglicher Antrieb gewesen sein mag.“ Zitat in: Fest, Joachim: Der zerstörte Traum, S. 57. Der Grund für diese, vor allem nach den Erfahrungen des 20. Jh., sehr berechtigte Frage mag vor allem auch in einem Aspekt liegen, auf den der Politikwissenschaftler Arno Waschkuhn hinweist: „Das autonome Ich, Liberalität und Pluralität gehören nicht zu den konstitutiven Bedingungen und Grundlagen von Utopien, deren Telos die Vergemeinschaftung ist, die von Eliten in Gang gebracht und ihrer Fürsorge anheim gestellt ist, der Idee nach natürlich zum besten allgemeinen Nutzen.“ Zitat in: Waschkuhn, Arno: Politische Utopien, S.  228. Der Politologe Richard Saage formuliert den daraus folgenden, für eine utopische Perspektive notwendigen Ansatz wie folgt: „Das neue Utopische Denken wird nur dann aufgeklärt und zukunftsfähig sein, wenn es den Ausgleich zwischen den unverzichtbaren Rechten der Einzelnen und den unabweisbaren Ansprüchen eines solidarischen ‚Ganzen‘ im Medium der säkularisierten Vernunft sucht, ohne den Spannungsbezug zwischen diesen Polen aufzuheben.“ Zitat in: Saage, Richard: Politische Utopien der Neuzeit, S. 343.

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Die Freiheit des Menschen Was ist nicht alles über den Menschen geschrieben worden. Zahlreiche Mutmaßungen und Untersuchungen, was er wohl sein könnte, was er seinem Wesen – was immer das auch bedeuten mag – nach ist; und noch viel zahlreicher: Vorgaben, wie er zu sein hat. Die Träume von einer besseren Welt, überhaupt das Verständnis von ihm und der Welt, scheinen ohne immer neue Vor- und Rollenbilder gar nicht auszukommen. Der neue Mensch. Der traditionelle Mensch. Der gute Mensch. Der Held. Der Bösewicht. Der Unternehmer. Der König. Der Bauer. Der gläubige Mensch. Der gute Christ. Der gute Muslim. Der sozialistische Mensch. Der freie Mensch. Der Entdecker. Der Pionier. Der Erbauer. Der Verwalter. Der Übermensch. Der gute Vater. Die gute Mutter. Das gute Kind. Es ist ein Bukett an Rollenbildern, mehr Vorgabe als Beobachtung, die in fast allem, was mit dem Menschen zu tun hat, mitschwingt. Schon in dieser Verbildlichung an sich liegt das Problem. Der alte Mensch der Kultur ist eigentlich kein Mensch, kein Subjekt. Er ist in Zuschreibungen gefangen, die mehr und mehr Teil von ihm werden. Mehr er werden, bis hinter dem Bild der Ursprung verschwindet. Es ist so, wie es Max Stirner einst schrieb: „Was soll nicht alles Meine Sache sein! Vor allem die gute Sache, dann die Sache Gottes, die Sache der Menschheit, der Wahrheit, der Freiheit, der Humanität, der Gerechtigkeit; ferner die Sache Meines Volkes, Meines Fürsten, Meines Vaterlandes; endlich gar die Sache des Geistes und tausend andere Sachen. Nur Meine Sache soll niemals Meine Sache sein.“262

Jahrtausende der Zuschreibung. Jahrtausende der permanenten Spannung durch Rollenbilder. Lassen wir den alten Menschen ruhen. Befreien wir ihn aus den Räumen, die ihn einengen und ihn im vermeintlichen Schutz doch nicht er selbst sein lassen, sondern im steten Sog unerreichbarer Erwartungen und Ideal-Bilder gefangen nehmen. Der Mensch im Outópos; der eigentliche Mensch: Wir kennen ihn nicht. Wir wissen nicht wer er ist, wie er aussieht, was er denkt, was er so treib, wie er sich in der Welt verortet, wie er die anderen, ja überhaupt die Welt sieht. Er ist unserer Beobachtung entzogen und damit auch von unserer Macht der Definition befreit.263 Wir können 262 Zitat in: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum, S. 5. 263 Kategorisch gesehen ähnelt er damit dem Buddha-Wesen des Buddhismus, das über den Zuschreibungen steht und damit von der Macht der Definitionen befreit ist. Vgl.: Kapleau, Philip: Die drei Pfeiler des Zen, S. 228. Das ist aber nicht als theologische Definition und Verdinglichung des nicht „Schaubaren“ zu verstehen, was ja der logische Grundfehler von religiösen Denksystemen ist und sich auch hier ausdrückt, sondern als grundlegende philosophische Perspektive. Hierzu Dschuang Dsi: „Wenn man die Dinge gedankenmäßig auflöst, so kommt man schließlich auf der einen Seite auf unendlich kleines, auf der andern Seite auf unendlich

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ihn nicht beschreiben, und lediglich als Kategorie wissen wir von seiner Existenz. Aber wir können ihn in seiner Beziehung zum konkreten Ort beschreiben: zu einem spezifischen, wirklichen und doch unwirklichen Raum. Dem Outópos, mit dem der Mensch verbunden sein kann, aber nicht muss. Der ihn als Möglichkeit im Menschsein unterstützt, aber nicht definiert. Ein Ort, der primär beschränkt ist auf das Physische, das Körperliche, aber auch weit darüber hinaus Ich und Sein verbindet. Der Mensch in diesem Outópos ist autark, denn er ist autark in seiner Beziehung zum Sein. Als Wesen der Natur steht er in der Natur und weiß doch, dass er seiner menschlichen Perspektive verhaftet ist. Als Nomade kann er sie multiplizieren, als Sesshafter bewusst reduzieren – und doch bleibt er immer ein Wesen des Nahbereiches. Die Impulse aus seinem Inneren, denen er nachgibt oder auch nicht, sind gebunden an seine Perspektive; seiner primären Körperlichkeit, mit der er seiner Umwelt begegnet. Durch das klare Verhältnis von Aktion und Reaktion, entwickelt er – vermutlich – ein Bewusstsein für seine Verantwortung. Durch die Kräfte, die durch ihn und auf ihn wirken, definiert er seinen Platz. Er ist vom Sein nicht entfremdet; nicht gefangen in leeren, isolierten Räumen, sondern er ist in der Sphäre des Daseins.264 Er ist das Sein und das Nichts im Großes. Jene beiden Lehren, daß die Welt nicht geschaffen sei, oder daß sie von jemanden verursacht sei, kommen nicht über die Welt der Dinge hinaus und sind darum in letzter Linie beide verfehlt. Nimmt man einen Schöpfer an, auf den die Welt als letzte Ursache zurückgeht, so hat man damit schon eine Wirklichkeit gesetzt. Leugnet man eine derartige Ursache, so bleibt man im Unwirklichen. Was Namen hat und Wirklichkeit, das gehört aber schon zur Welt der Dinge. Was keinen Namen hat und keine Wirklichkeit, das führt nicht hinaus über die leere Möglichkeit von Dingen. Man kann darüber reden, man kann Ideen bilden, aber je mehr man darüber redet, desto weiter kommt man ab.“ Zitat in: Dsi, Dschuang: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, S. 281 f. Der Philosoph Franz von Kutschera beschreibt die Bedeutung der subjektiven Perspektive so: „Es gibt für uns keinen externen Standpunkt. Jede Sicht der Wirklichkeit ist Sicht eines Subjektes und als solche von den Formen seines Erfahrens und Denkens geprägt.“ Zitat in: Kutschera, Franz von: Die falsche Objektivität, S. 161. 264 Hierzu die Auffassung des Philosophen Martin Heideggers: „Das Da-sein aber ist ‚in‘ der Welt im Sinne des besorgend-vertrauten Umganges mit dem innerweltlichen begegnenden Seienden.“ Zitat in: Heidegger, Martin: Die Räumlichkeit des Daseins (1927), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 141. Dieses Dasein ist objektiv nicht erfassbar, nicht bestimmbar und nicht vermessbar, wie es auch schon der Philosoph

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Prozess des Werdens und als solches unanschaubar und undefinierbar. Der Mensch ist in der Natur und mit dieser bildet er aus seiner ganz eigenen Perspektive heraus Wechselwirkungen.265 Er lebt in keinem dualen Weltbild mehr; nicht mehr in den stetigen Gegensätzen, die am Ende doch nichts bedeuten, sondern dicht verzahnt – eins geworden aus Ich und Sein. Der Mensch ist von seinem Selbst befreit und erlöst von Bildern, Kontexten und Ikonen in seinem Inneren, die ihn als mögliches Anderes vom eigentlichen Sein entfernen.266 Er kann machen, was er will. Er ist Impuls;

Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seiner Kritik an der mathematischen Weltbeschreibung formuliert: „Die Evidenz dieses mangelhaften Erkennens, auf welchen die Mathematik stolz ist (…) beruht allein auf der Armut ihres Zwecks und der Mangelhaftigkeit ihres Stoffs (…) Ihr Zweck oder Begriff ist die Größe. Dies ist gerade das unwesentliche, begrifflose Verhältnis. Die Bewegung des Wissens geht darum auf der Oberfläche vor, berührt nicht die Sache selbst, nicht das Wesen oder den Begriff, und ist deswegen kein Begreifen – Der Stoff (…) ist der Raum und das Eins. Der Raum ist das Dasein, worin der Begriff seine Unterschiede einschreibt als ein leeres, totes Element, worin sie ebenso unbewegt und leblos sind. Das Wirkliche ist nicht ein Räumliches, wie es in der Mathematik betrachtet wird.“ Zitat in: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, S. 35 f. 265 Die grundsätzliche Sicht des Esoterikers Rudolf Steiner beginnt mit einer ähnlichen Feststellung, bevor dann doch wieder diffuse Modelle und Konstrukte den Menschen bestimmen, die der Biologe Wolfgang Schad wie folgt zusammenfasst: „(…) das wahre Ich lebt nicht im Kopf, sondern in der Welt.“ Zitat in: Schad, Wolfgang: Der periphere Blick, S. 87. Die Natur wird hier als physisch-materielle Manifestation ohne menschlich-konzeptuellen Einfluss begriffen; somit als ein umfassendes Prinzip des allgemein Lebendigen, wie es sich auch in einer Definition des Philosophen Dschuang Dsi zeigt: „Im Uranfang war das Nicht-Sein des Nicht-Seins, war das Unnennbare. Daraus erhob sich das Eine. Dieses Eine – in seinem Dasein, aber noch ohne Form, das die Dinge bekommen müssen, um erzeugt werden zu können – heißt LEBEN. (…) Körperliche Form, die Geistiges schützend umfaßt (…) heißt Natur.“ Zitat in: Dsi, Dschuang: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, S. 144. Diese Auffassung als ein Prinzip spiegelt sich auch in der Feststellung des Biologen Humberto R. Maturana: „Das größte Hindernis für das Verständnis der Organisation des Lebendigen liegt darin, daß es nicht möglich ist, sie durch eine Aufzählung ihrer Eigenschaften zu erklären. Sie muß vielmehr als Einheit verstanden werden.“ Zitat in: Maturana, Humberto R.: Biologie der Realität, S. 23. Dieses Dasein ist damit inhaltlich verwandt mit der Ansicht des Naturphilosophen und Vertreters des „einfachen Lebens“ Henry David Thoreau, der annimmt, dass ein sinnvolles Leben mit der Natur erfolgen muss und nicht Sinn darin finden darf, sie zu überwinden. Vgl.: Taylor, Bob Pepperman: Lessons from Walden, S. 160. 266 Schon Thomas Hobbes ging in seiner Utopie vom „starken Staat“ davon aus, dass die Natur die Menschen eigentlich mit ziemlich gleichen Begabungen ausstattet und die Unterschiede zwischen ihnen von Natur aus gar nicht so groß sind. Vgl.: Hobbes, Thomas: Leviathan, S. 112 f. Erst durch die Fassung des Menschen als Objekt, wie im Great Game of Civilization, werden die Menschen in künstliche Gruppen und Kategorien unterteilt. Diese unnatürliche Entfremdung vom Mitmenschen bringt der Kulturwissenschaftler Hans-Jürgen Lüsebrink auf den Punkt: „Fremdbilder sind soziale Konstruktionen.“ Zitat in: Lüsebrink, Hans- Jürgen: Interkulturelle Kommunikation, S. 95. In diesem Dasein finden sich durchaus Ansätze des Posthumanismus, etwa bei der Auflösung von Kategorien über den Menschen, aber auch des Transhumanismus, so bei der Erweiterung des Menschen durch Technik, was aber an späterer Stelle zu erläutern ist. Vgl.: Loh, Janina: Trans- und Posthumanismus zur Einführung, S. 11.

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und in seinen Impulsen gedanklich frei. Nicht nur frei von etwas, auch frei zu etwas.267 Freiheit. In seinem – seinem eigenen – Dasein. In diesem Zustand gibt es kein mögliches Ich mehr und auch kein anderes mögliches Ich – zumindest nicht als Akt der Zuwendung. Es existiert kein Netz der Relationen, außer denjenigen, die sich im subjektiven Dasein bilden und vergehen. Er ist der Welt immanent. Der Mensch ist frei.268

267 Tatsächlich ist die Definition des Begriffes Freiheit fast unmöglich, da zu viele unterschiedliche Ansätze unter ihm gefasst werden. Obwohl der ganze Outópos als eine Definition der Freiheit begriffen werden kann, sei auf Grundsätzliches hingewiesen. In der Philosophie Platons z. B. bezeichnet Freiheit das reine Selbst, das Eine, das sich selbst genug ist. Aber dieses beinhaltet immer auch eine Komponente der Entwicklung zu etwas hin, wie es der Theologe Alfons Fürst in Bezug auf den Neuplatoniker Plotin beschreibt: „Wahre Freiheit besteht demnach im Streben nach der freien Bestimmung des Menschen zu sich selbst.“ Zitat in: Fürst, Alfons: Die Entdeckung der Freiheit im frühen Christentum, in: Feldmeier, Reinhard/Winet, Monika: Gottesgedanken, S.155. Dieses Streben, verstanden als ein Urprinzip des lebenden Menschen, beschreibt der Philosoph Friedrich Nietzsche: „Vor allem will etwas Lebendiges seine Kraft auslassen – Leben selbst ist Wille zur Macht –: die Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten und häufigsten Folgen davon.“ Zitat, in: Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse, in: Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Also sprach Zarathustra. Jenseits von Gut und Böse, S. 704. Freiheit bedeutet damit eigentlich nicht nur die Freiheit von etwas, sondern auch die Freiheit zum Streben nach Herrschaft – und damit wiederum nach dem Prinzip einer imaginierten Scheinwelt. Der Menschen in der Natur, wie er hier beschrieben wird, ähnelt aber eher dem Ansatz, den der Philosoph Ruben von der Heydt wie folgt zusammenfasst: „Freiheit ist für den erkenntnistheoretischen Indeterminismus auf phänomenaler Ebene ein innerlicher Zustand des Gemüts.“, in: Heydt, Ruben von der: Perspektivität von Freiheit und Determinismus, S. 198. Um ein Bild aufzugreifen: Der Mensch ähnelt in der Natur dem Konzept der Thrakerin, das der Philosoph Hans Blumenberg benutzt, um eine Weltsicht vor dem Entstehen der klassischen antiken Philosophie zur illustrieren: „Die Thrakerin ist zwar keine Orientalin, kommt aber von der Nahtstelle Europas zum Orient und hat den anekdotisch fixierten Augenblick der Trennung der Welten vorzustellen. Die Orientalen sind an sich noch alle im Sein. Es ist ihnen aber noch kein Gedanke über ihr Sein gekommen. Sie sind noch nicht zerrissen, sie sind reine Kinder. Die erste Philosophie ist Naturphilosophie; der Mensch ist noch nicht zu der Idee gelangt, sich höher als die Natur zu betrachten.“ Zitat in: Blumenberg, Hans: Das Lachen der Thrakerin, S. 122. 268 Der Begriff der Freiheit kann nun dahingehend spezifischer definiert werden, dass Freiheit die absolute Wechselwirkung von Aktion und Reaktion ist. Damit geht eine Auflösung des extern induzierten Selbst einher, das diese Wechselwirkungen kanalisiert und kontrolliert. Freiheit ist demnach Freiheit vom Selbst. Der Mensch ist damit auch von allen externen Zuschreibungen befreit, er ist einfach ein absolutes Eins. Ein Mensch. Und darin nicht frei vom Menschsein, sondern frei zum Menschsein.

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Die Säulen der Freiheit Wir kennen ihn nicht, den Menschen. Aber da hier konstruktiv der Raum des Nichts, der Outópos, umschrieben werden soll, kommen wir um eine Verbildlichung nicht herum. Diese Verbildlichung liegt in der simplen Erkenntnis begründet, dass der Mensch als Objekt des Subjektes ein Mängelwesen ist. Die Interaktion zwischen Ich und Sein, das Zusammenwachsen zum Dasein, kann durch Mängel verhindert werden, die nicht im geistigen Subjekt, sondern im Physischen liegen. In seiner reinen, ursprünglichen Körperhaftigkeit ist der Mensch in seinem Verhältnis zur Natur sehr eingeschränkt. In allen Kategorien, die die Körperhaftigkeit in der Fauna auszeichnen, ist er in der Summe den Nicht-Menschen eigentlich unterlegen. Er kann weder schnell laufen, noch tief tauchen und verfügt auch nicht über viel Muskelkraft. Die klimatischen Umstände können seine Existenz ebenso schnell beenden wie es der Stich einer infizierten Mücke tut. All das tiefe Dasein nützt ihm zur Erkenntnis nichts, wenn er vom Bären gefressen wird. Der freie Mensch braucht Hilfe und Unterstützung von außen – also aus einer objektiveren Perspektive als seiner eigenen, deren Beschaffenheit später zu erläutern ist. Aber das Menschenbild, das dieser noch zu beschreibenden Perspektive zugrunde liegt, lautet: Der Mensch ist autark und wird in seiner Autarkie unterstützt. Er ist frei und wird nicht bedient.269 Ihm werden nicht Mühen und Lasten abgenommen, sondern er muss vom Sein gefordert werden, um eine entsprechende Physis auszubilden. Aber da, wo diese Physis aus Sicht des Subjektes Mängel hat, müssen sie von einer externen Quelle ausgeglichen werden. Was braucht der Mensch, um autark zu leben? Echte Werte.270 Diese Werte sind Basiswerte, die nicht als Scheinwerte aus Behauptungen entstehen, sondern sich aus 269 Hierzu eine Einschätzung des Philosophen Immanuel Kant: „Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Theil der Menschen (…) dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. (…) Ich habe nicht nöthig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.“ Zitat in: Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden und andere Schriften, S. 25. 270 Damit sei auch dem objektivierten Verständnis menschlicher Erzeugnisse entschieden widersprochen, wie es z. B. der Philosoph Karl Marx definiert: „Um Ware zu produzieren, muß er nicht nur Gebrauchswert produzieren, sondern Gebrauchswert für andre, gesellschaftlichen Gebrauchswert. Endlich kann kein Ding Wert sein, ohne Gebrauchsgegenstand zu sein. Ist es nutzlos, so ist auch die in ihm enthaltene Arbeit nutzlos, zählt nicht als Arbeit und bildet daher keinen Wert.“ Zitat in: Marx, Karl: Das Kapital, S. 55. Im Gegenteil: Es ist der rein subjektive Wert, der zählt, wie es auch der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel beschreibt: „Das Ding ist Ich; in der Tat ist in diesem unendlichen Urteil das Ding aufgehoben; es ist nichts an sich; es hat nur Bedeutung im Verhältnis, nur durch Ich und seine Beziehung auf dasselbe. (…) Die Dinge sind schlechthin nützlich und nur nach ihrer Nützlichkeit zu betrachten.“ Zitat in: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, S. 531.

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dem Menschen und seiner Physis heraus entwickeln. Werte, mit deren Hilfe Aktion und Reaktion im Dasein in ein Verhältnis zueinander gestellt werden können. Werte, aufgrund derer die geistige Welt des Individuums mit seiner Körperhaftigkeit in einer ausgeglichenen Relation steht. Als was sich diese Werte manifestieren können, sei dahingestellt, aber ihre Ableitung aus dem Körper des Ichs und damit ihre Begrenzung auf diesen bildet das oberste Gebot. Zum Beispiel scheint es notwendig, die körperlichen Schwächen des Menschen auszugleichen, was nur durch Dinge erfolgen kann. Die Haut braucht in einigen Gebieten Kleidung zum Temperaturausgleich. Die Finger des Nomaden vielleicht eine Schaufel oder ein Messer, um sich zur Wehr zu setzten und um sich einen Weg durchs Dickicht zu bahnen. Ein verlorenes Bein muss durch eine Prothese ersetzt werden. Die Augen brauchen vielleicht eine Brille oder sogar eine biotechnische Prothese. All dies wird dem Menschen im Outópos bedingungslos zur Verfügung gestellt. Aber die Existenz dieser Dinge leitet sich aus dem Subjekt, seinem menschlichen Körper und seinem Dasein ab. Sie sind damit keine Objekte. Es sind Werkzeuge; Werkzeuge und Methoden. Die Verlängerung des Körpers und der Ausgleich seiner subjektiv empfundenen Mängel durch Technik. Diese Begrenzung scheint vor allem geboten, da wir den Menschen ja nicht kennen. Ein edler Nomade, eins mit dem Dasein; aber vielleicht auch ein Monster, das sein Dasein gerade darin findet, alles Sein, dessen er habhaft wird, der Vernichtung anheimfallen zu lassen. So sehr der freie Mensch ein Idealzustand für das Subjekt ist, so sehr liegt im freien Menschen auch immer eine Gefahr für andere und die Natur. Indem im Outópos Werkzeuge und Methoden nur auf das Subjekt hin existieren, wird diese Möglichkeit eingegrenzt. Aktion und Reaktion stehen im Subjekt anhand der Dinge eng beieinander und gerade in dieser Fokussierung auf den einzelnen, subjektiven Menschen wird dessen Zugriff auf die Welt im Sinne einer echten Nachhaltigkeit begrenzt. Es sind zahllose Werke darüber geschrieben worden, wie ein Abweichler in einem Herrschaftssystem verhindert werden kann, anstatt ihn einfach frei agieren zu lassen, aber ihn in seiner Wirkung zu begrenzen. Zur Illustration ein Beispiel: In der alten Welt des sog. „Wilden Westens“ der USA im 19. Jh. setzte sich eine Werbebezeichnung für ein Werkzeug durch; Der sog. „Equalizer“. Ein Begriff, der für das Werkzeug des Colt Single Action Army Revolvers geprägt wurde und dessen Status als Objekt treffend umschrieb. In einem Kontext, der wesentlich vom Wettkampf der Menschen untereinander geprägt ist, ist der körperlich Schwache gegenüber einem physisch Starken im Nachteil. Einen Faustkampf um Land oder Leben würde er wohl fast immer verlieren. In diesem Kontext ist ein Revolver tatsächlich ein „Equalizer“: Er schafft Distanz und hebt die Bedeutung körperlicher Physis größtenteils auf. Ein tödlicher Schuss aus sicherer Entfernung ist von fast jedem zu bewerkstelligen. Er befreit Aktion und Reaktion vom Modus reiner Körperlich250

keit. Zwei Aspekte sind an diesem Beispiel bemerkenswert. Zuerst noch einmal die Bedeutung des Kontextes. Der vermeintlich selbstverständliche Sachverhalt des Unterschiedes der Muskelkraft ist nicht von sich aus als ein Phänomen zwischen Menschen vorhanden. Erst in einem Kontext, einem Raum, unter einer Herrschaft, entsteht der feindliche Gegensatz zwischen dem vermeintlich Schwachen und dem vermeintlich Starken. Dadurch, dass eben gerade eine Ungleichheit zwischen den Lebensumständen von Individuen existiert, die sie durch eine bestimmte Kategorie, eine bestimmte Eigenschaft, die in einem anderen Kontext bedeutungslos oder gar nicht existent wäre, auszugleichen versuchen. Der Revolver ist die Schnittstelle zwischen unterschiedlichen Räumen in einem fehlerhaften System. Eine Pseudolösung für ein Pseudoproblem. Im Outópos hingegen ist der Mensch ein freier Mensch. Er lebt kontextlos und ein Grund für Neid dem anderen gegenüber ist in der Sphäre des Daseins nicht gegeben. Der zweite Aspekt an dem Beispiel des Revolvers betrifft die nachhaltige Begrenzung der Wirkung von Werkzeugen. Der Revolver als Objekt existiert auch ohne seinen Ursprungskontext. Und er wurde als Technik immer weiter zu einer Möglichkeit verfeinert, immer mehr Schaden zu verursachen, ohne eigenes Risiko. Ein Jäger, nur bewaffnet mit einer Erweiterung seiner Körperlichkeit – vielleicht einem Messer, um die schwache Schnittfähigkeit seiner Fingernägel auszugleichen – ist in seiner Wirkung begrenzt. Vielleicht entscheidet er, ein Tier zu töten, um sich von dessen Fleisch zu ernähren. Unabhängig davon, wie man dazu steht, so ist dies doch mit einem Risiko verbunden. Er ist in seiner Fähigkeit zu töten auf seinen Körperraum reduziert und kann diesen nicht, wie bei einem Revolver, auf höhere Entfernungen ausweiten. Und er ist damit auch der möglichen Gefahr ausgesetzt, sein eigenes Leben zu verlieren. Aktion und Reaktion. Die Nachhaltigkeit entsteht aus ebendieser Körperhaftigkeit. Wie viele wild lebende Tiere kann ein einzelner Mensch mit einem Messer töten? Sicherlich viele, aber eben nicht so viele, dass es für das System der Natur bedrohlich wird. Anders bei einem Jäger, der über das entgrenzende Objekt des Revolvers verfügt. Vielleicht sogar in dessen technischen Weiterentwicklung oder in Kombination mit anderen Objekten – sagen wir einem Maschinengewehr, unbegrenzter Munition und einem Helikopter. Ein solcher Jäger kann ganze Bestände von Wildtieren auslöschen; tief in die Mechanismen eines Ökosystems eingreifen und das ohne eine Gefahr für sein eigenes Leben. Im Auseinanderfallen von körperlicher Aktion und Reaktion entsteht: Ein Monster. Es sollte klar geworden sein, dass der Mensch im Outópos ein freier Mensch ist. Aber diese Freiheit bleibt auf seine Körperhaftigkeit begrenzt. Es ist eine Freiheit von etwas, aber auch eine Freiheit der Möglichkeiten zu etwas, wenn auch begrenzt. Er erhält Werkzeuge, die ihn in seinem Dasein unterstützen, aber keine Objekte, die ihn über seinen primären menschlichen Wirkungsbereich hinaus entgrenzen. Einerseits entsteht so eine Schonung der Natur, andererseits wird so 252

überhaupt die Bedingung für ein gelungenes Dasein ermöglicht und zwar dadurch, dass Aktion und Reaktion, die Impulse aus Ich und Sein, verschmelzen können. Neben den Werkzeugen benötigt der Mensch eine zweite Unterstützung. Die Bedingung für das Dasein ist die Wechselwirkung zwischen den Impulsen aus dem Ich und dem Sein. Aber dies ist kein Dauerzustand. Temporär wird das Dasein – zwangsweise – durch ein interessantes und scheinbar unergründliches Phänomen unterbrochen: den Schlaf. Im Schlaf ruhen die Impulse aus dem Ich. Zumindest die bewussten und auf das Sein gerichteten. Stattdessen, so scheint es, werden sie in das Selbst an der Grenze zur Erscheinung reflektiert. Eine freie, mentale Welt, losgelöst von der Physis und reines Konzept. Aber damit auch eine Gefahr für den Körper, der ohne bewusste eigene Impulse den Impulsen aus dem Sein ausgesetzt ist. Im Schlaf ruht das Dasein und in dieser Nicht-Existenz ist der Mensch schutzbedürftig. Er braucht einen Ort, nicht als Zwang, sondern als Möglichkeit, in dem die Impulse aus dem Sein minimiert und selektiv auf ihn hin kanalisiert sind. Abgesehen von seiner primären Körperlichkeit und seinen Werkzeugen braucht er einen Raum.

Der Raum des Menschen Der Mensch braucht Schutz. Er braucht einen Rückzugsort von seinem Dasein in wechselnder, wilder Natur. Nicht nur zum Schlafen, sondern auch um den Impulsen des Seins, dem Druck des Daseins, das ja nicht immer angenehm sein muss, temporär oder dauerhaft zu entfliehen. Aber dieser Raum darf kein paralleles Dasein bilden, keinen Ort der Scheinrealität und keinen erstarrten Kontext, in dem sich das Selbst dauerhaft spiegelt. Dieser Raum des Menschen muss eine andere Form von Raum sein als derjenige, dem der Begriff bisher bezeichnete. Er muss, ebenso wie die Werkzeuge, aus einer Körperlichkeit entstehen. Selbst Körper sein. Zugeschnitten auf den Körper des Menschen und sich aus diesem heraus entwickelnd, als Übergang zwischen Ich und Sein. Im Raum liegt der Schlüssel zum Outópos, aber dieser Raum muss ein neuer Raum sein und einem neuen Raumkonzept folgen. Aber was ist eigentlich Raum? Also realer, physischer Raum? Eigentlich ist er das Nichts. Er ist Distanz. Er ist das, was zwischen Objekten entsteht. Physischen Raum können wir mit den Sinnen gar nicht wahrnehmen. Wir können ihn nicht sehen oder erfühlen. Er manifestiert sich für den Menschen nur in seinen Grenzen. Links eine Wand, rechts eine Wand; dazwischen ist Raum. Das 254

ist die gängige Logik, vor allem auch in der Architektur, die dem Konzept der Herrschaft und dem Great Game of Civilization entspringt. Raum als singuläres Etwas existiert darin nicht. Er wird nur im Akt des Dualismus als Entfernung zwischen zwei oder mehreren Objekten definiert. Eine Wand, die einsam in der Landschaft steht, bildet keinen Raum. Erst in der Addition mit einer zweiten, dritten, vierten Wand entsteht er. Nicht aus sich selbst heraus, sondern aus der Unterschiedlichkeit dieser Objekte, die sich durch ihre Position unterscheiden. Aber in Position zu was? Wiederum nur zu anderen Objekten. Vielleicht zum Boden, vielleicht zum Himmel. Raum, wie er momentan überwiegend gedacht werden kann, ist der Abstand zwischen Objekten. Als Kategorie ist er nur in der Abgrenzung beschreibbar und vorstellbar. Versuchen Sie einmal, einen unendlichen Raum zu denken; die mögliche Unendlichkeit des Universums im Verstand bildlich oder abstrakt zu begreifen; von sich selbst aus in die Unendlichkeit zu gehen. Einen Raum zu denken, der nicht durch die Addition von Objekten begrenzt ist: Das ist unvorstellbar. Diese Begrenztheit des Denkens, die ja vielleicht nicht so sein muss, spiegelt sich in den überwiegenden Raumkonzepten der Gegenwart: Räume gebildet durch Addition. Vier Wände, Decke, Boden: Die Kiste als Ur-Form. Wie in der Kontextualisierung offen für eine stetige Ausdifferenzierung und subjektive Sinnstiftung durch leere Zeichen. Ein Tisch in der Mitte, eine Vase in der Ecke, Urlaubsbilder an den Wänden und ein schön gerahmtes Panorama hinter den großen Fenstern – alles mit Stil und Klasse: Fertig ist die Projektionsfläche, in der sich das Selbst reflektiert und stabilisiert und sich durch den Raum als Objekt definiert – aus der Perspektive des (Selbst-) Planers, der scheinbar objektiv über den Dingen schwebt. Es sollte klar sein, dass das Raumkonzept des Outópos ein anderes ist. Nicht der scheinbaren Objektivität verhaftet, sondern vom Subjekt her gedacht. Nicht aus abstrakten Kategorien, sondern vom Menschen als Maßstab her entwickelt. Dieser Raum ist simpel und er folgt dem Eins als Optimum; nicht einer ausdifferenzierten Annäherung. Er bildet sich subtraktiv, nicht additiv; nicht als Agglomeration, sondern als Ganzheitlichkeit. Als bewusste Begrenzung eines umfassenden Daseins, von dem, ausgehend vom Ich, Teile ausgeklammert werden. Als solches ist er ewig. Ewig dahingehend, dass er kein Raum der stetigen Wechselwirkungen, der stetig neuen Ich-Projektionen ist, sondern statisch. Er folgt einer Ästhetik der Archaik, wobei Archaik als Ausdruck eines primär räumlichen Ewigkeitsprinzips verstanden wird. Eine Ästhetik, die in sich ruht, da sie keine Projektionsfläche ist, sondern reine Körperlichkeit, gebildet aus der Körperlichkeit des Menschen. In dieser Körperlichkeit ist der Raum Tiefe – er ist Volumen und nicht nur Oberflächlichkeit, wie wir sie in zeitgenössischer Architektur ja nur zu häufig finden, wo die scheinbar

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massive Betonwand sich als Fototapete auf Sperrholzplatten entpuppt.271 In seinem Volumen ist er ehrlich und regt anhand des Wesens des Volumens, des Raumes zu einer Weiterentwicklung des Denkens an. Er folgt nicht der Logik der Minimierung, er erschafft Qualität durch Maximierung. Er ist archaische Masse und gerade dadurch nachhaltig. Dieser Raum nun, dieser Körper, bildet sich in seiner Grundform aus der Kugel.272 Nicht aus der Zusammenstellung verschiedener Dinge, sondern aus der Urform des Kreises. Eingesunken in der Umgebung und stabilisiert durch sie, aus deren Material er geschaffen ist. In seiner Mitte ruht der Mensch. Ob schlafend oder wachend: Die Hülle der Kugel schafft ein stabiles und ausgeglichenes Umfeld für seinen Körper. Das Prinzip der Maximierung des Volumens ist nicht nur Erkenntnisimpuls, sondern auch physikalisch sinnvoll. Ob es außerhalb des Raumes nun heiß, kalt oder ein stetiger Wechsel zwischen beidem ist: Die Masse isoliert wie in einer Höhle von dem Klima, das außerhalb 271 Volumen ist als gedankliche Kategorie gar nicht mal so alt. Die heutzutage geläufige Vorstellung von einer messbaren Ausdehnung setzte sich erst durch das Experiment von Otto von Guerickes 1663 durch, in dem er zwei Halbschalen durch Unterdruck verband, die auch von Pferden nicht auseinandergezogen werden konnten. Damit etablierte sich, dass es ein etwas, ein äußeres Eins gibt, das der direkten Anschauung entzogen ist und eigentlich als leerer Raum nicht existiert, aber trotzdem wirkt. Die Annahme des Universums als überwiegend leerer Raum kann in Folge dieser Erkenntnis gesehen werden. Vgl.: Günzel, Stephan: Einleitung, in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 23. 272 Er ist das Gegenstück zum Dasein. Bildet einen Dualismus zu ihm, der sich aber körperlich in einer klaren Relation zu ihm manifestiert. Auf diesen Gegensatz wies übrigens auch schon der Wissenschaftstheoretiker Gaston Bachelard hin: „Man muß sich zweimal überlegen, ehe man im Französischen das Wort Da-Sein gebraucht. Wenn man in das Sein eingeschlossen ist, wird es immer darauf ankommen hinauszugelangen. Und kaum draußen, wird man wieder zurückkehren müssen.“ Zitat in: Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes (1957), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 172. Raum als Schutz scheint eine anthropologische Notwendigkeit zu sein, wie es auch der Architekt Jörg Kurt Grütter formuliert: „Der Mensch hat ein Bedürfnis nach Raum, der ihn vor den Einflüssen der Umwelt schützt. Dieses Bedürfnis ist so alt wie die Menschheit selbst und hat sich bis heute kaum verändert.“ Zitat in: Grütter, Jörg Kurt: Grundlagen der Architektur-Wahrnehmung, S. 134. Den Körper zu schützen gilt in der Praxis der Raumschaffung wie in der Architektur zu einer Basismotivation. Wesentliche Aspekte sind dabei die Eingrenzung, also die Schaffung eines Innen und eines Außen, sowie ein definiertes Verhältnis zwischen Nähe und Ferne in Bezug auf den Menschen im Raum. Vgl.: Meisenheimer, Wolfgang: Der Rand der Kreativität, S. 23–25. Der Raum des Menschen im Outópos ist dabei ähnlich grundiert wie das Raumverständnis des Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty: „Es ist vielmehr ein Raum, der von mir aus als Nullpunkt der Räumlichkeit erfasst wird. Ich sehe ihn nicht nach seiner äußeren Hülle, ich erlebe ihn von innen, ich bin in ihn einbezogen. Schließlich ist die Welt um mich herum, nicht vor mir.“ Zitat in: Merleau-Ponty, Maurice: Das Auge und der Geist (1961), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 190.

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herrscht. Der Platz des Menschen in der Mitte ist eine große Ruhefläche. Von der Raumhöhe her ist sie reduziert und bündelt den Nahbereich zur Reduzierung äußerer Reize und zwecks einer konzentrierten Einfassung des Menschen. Im Sitzen oder Liegen gewährt eine große Öffnung den Blick in die Umwelt. Ebendiese Öffnung ist der klare Übertritt vom Dasein in den Raum. Der Platz des Menschen ist erhöht und um ihn herum befindet sich eine Lauffläche, die sich zur Schwelle zum Dasein hin abtreppt. Bewusstwerdung des Überganges und Barriere gleichermaßen. Eine Nische für die Lagerung des Werkzeuges schließt sich an. Dieser Raum nun ist die Reduktion auf das Ich. Ewig, in einer subjektiven Zeitspanne bestehend, und unveränderlich in seiner archaischen Grundform. Der Modus der menschlichen Aneignung dieses Raumes liegt nicht in der Ausstaffierung, nicht in der Prägung des Selbst auf die Wände – die ja auch keine Wände sind, sondern Volumen –, sondern in der Konzentration auf das Ich. Die unbekannte Kategorie im Inneren. Die Impulse von außen verstummen und die aus dem Inneren werden dorthin zurückgeleitet. Die Erkenntnis des Ichs als Möglichkeit. Dieser Raum nun aber ist nicht alles. Er ist eine Schwelle; ein Transit; ein Übergang. Aus dem Dasein zieht sich das Ich in die Selbstschau zurück und aus dieser Selbstschau geht es auch wieder heraus in den Raum des Selbst. Des kollektiven Selbst. Den Raum, in dem die Erkenntnisse aus Dasein und Ichbeschauung in Wechselwirkung stehen. In dem diese singuläre Perspektive erweitert und strukturiert werden kann. Über eine kleine Öffnung am Rande der Lauffläche, erschließt sich die Gesellschaft. In der physischen, der realen Struktur des Outópos. Dem Tópos.

Tópos Der reale Teil des Outópos: Er ist Physis und bauliche Manifestation. Ein konkreter Raum, der nicht nur den Einzelnen umgibt, sondern als Gestalt die gesellschaftliche Zusammenkunft strukturiert. Die physische Form des Tópos ist nur ein Teil des Outópos. Als Struktur, als ein System der Relationen, nicht der vermeintlichen Inhalte, ist der Outópos umfassend. Ein stetig werdender Kreislauf zwischen Nichts und Sein. Nicht-Sein, Da-Sein, hin zu einem Über-Sein. 260

Ein System, in dem nur wenige Teile inhaltlich definiert sind und stattdessen die Struktur das Entscheidende ist. Nicht das Was im Vordergrund steht, sondern das Wie. Bahnen existieren, die lenken und strukturieren; als Ordnung gegenstandlos, aber in der realen Form haptisch und ganz konkret erfahrbar. Ein Raum als Möglichkeit – als Angebot –, der aber aus seiner Struktur heraus eine bestimmte Art menschlicher Interaktion koordiniert; nicht inhaltlich, aber in der Art, wie die Bausteine einer Gemeinschaft aufeinander aufbauen. Eine Gemeinschaft der Freien, in der die freien Impulse in Bahnen gelenkt werden, in Ströme, die zusammenwachsen; ein Mehr schaffen und dafür sorgen, dass der einzelne Strom nicht versiegt – es sei denn, der einzelne Mensch will es für sich so. Die körperliche Struktur im Outópos ist ein Raum der Wechselwirkungen – der offenen, nachvollziehbaren und logisch aufeinander bezogenen Wechselwirkungen. Die Notwendigkeit seiner Existenz speist sich aus zwei Gründen: Zum einen ist dies die Sicherstellung der individuellen Grundversorgung. Der freie Mensch braucht, um wirklich frei zu sein, Hilfe, Unterstützung und eine Basis. Weder die Werkzeuge noch sein eigener Raum sind etwas, was er ohne Weiteres selbst herstellen kann. Ebenso braucht er Zugang zu Nahrung und Wasser – bedingungslos, da lebensnotwendig. Ein Eins mit dem Dasein scheint schwierig zu erreichen, wenn über allem der Existenzdruck aufgrund von Ungleichheiten liegt, der nicht vom Subjekt aufgelöst werden kann. Diese Grundversorgung kann nicht, zumindest nicht immer, von einem Subjekt für sich alleine garantiert werden. Es bedarf des Externen, des Objektiven als Ergebnis kollektiver Prozesse, das aber nur optimal entstehen kann, wenn sich die Prozesse entlang logischer Bahnen vollziehen. Der bauliche Teil des Outópos stellt die existentielle Grundversorgung des Menschen sicher. Der zweite Grund für seine Existenz ist Erkenntnis, verstanden als die Schaffung von Wissen und Mehrung von Perspektiven auf die Welt. Die umfassende Einsicht in das Sein, die sich aus dem subjektiven Dasein entwickelt. Erweitert, kommuniziert, mit anderen Daseinsformen kombiniert. Hin zu einer umfassenderen Objektivität, die aber immer klar nachvollziehbar in ihren Ursprüngen verwurzelt ist. Die in einem rationalen Kreislauf eingebettet ist, der dann gerade wieder als Garant für die Existenzsicherheit des Menschen dient. Die formale Gestaltung dieses Ortes, des Tópos, partizipiert an der Geschichte der Siedlungen und Städte, wie sie im Great Game of Civilization anzutreffen ist; aber sie weist über diese hinaus und ist etwas Eigenes, da sie Ausdruck eines Zwecks ist. Anders als tradierte Formen mensch261

licher Agglomeration schleppt sie in ihrer Gestaltung kein Treibgut der Geschichte, also keine historischen Überbleibsel mit sich herum, die als leere Zeichen ihre Sinnhaftigkeit verloren haben und doch ständig neu zusammengeführt werden. Die Gestaltung der physischen Form des Outópos ruht in sich. Ist Eins und ermöglicht gerade dadurch Vielfalt. Dieser Tópos ist kein vermeintlich inhaltlicher, in Kommunikation entstandener Raum. Er ist Raum als ein strukturelles, technisches System, einzig dem Zweck der Existenzsicherung durch die Schaffung von Erkenntnis unterworfen. Ein System, um Perspektiven ohne Brüche an den Schnittstellen zusammenzuführen. Als Ort eines Perspektive gebenden Systems, um durch definierbare und nachvollziehbare Relationen den Raum des Ichs mit dem Objekt einer externen Perspektive schlüssig zu verbinden. Der Tópos ist das Selbst – zumindest als strukturelle Erweiterung. Er verbindet das Ich und ein umfassenderes Sein klar, transparent und auf nachvollziehbaren Wegen. Das Selbst existiert erweitert als Körper im Sein. Die Form des Tópos ist damit eigentlich nicht ein Raum, sondern ein Werkzeug. Ein körperliches Werkzeug zur Schaffung einer umfassenderen Erkenntnis und Optimierung des Daseins. Ein ewiges System, das aus dem Volumen der Natur geformt wird und diese auf den Menschen bezieht.

Gesellschaft Der Mensch steht nicht alleine in der Welt. Der erste Mensch, der Mensch im Outópos: Ein Ideal; eine Kategorie. Ein Objekt, das für die Beschreibung der hier vorgestellten Überlegungen notwendig ist, vor allem durch den Kontext der Worte und Bilder, der dieses Objekt Mensch erzeugt. Aber der Mensch ist überwiegend ein Herdentier und er ist angewiesen auf andere, die ihm Schutz und Vorbild sind. Das Dasein als autarker Nomade ist im Leben eines Menschen vielleicht ein temporärer Zustand, aber nicht umfassend. Zu Beginn seines Lebens und auch im Alter ist sein Dasein eingeschränkt. Die Möglichkeit der Wechselwirkung von physikalisch-biologischen Impulsen ist durch seine Mensch-Werdung und ihr Vergehen begrenzt. Der Mensch ist angewiesen auf andere; auf andere Menschen mit anderen Perspektiven und Möglichkeiten, mit einer anderen Epistemologie des Selbst, von denen er lernen kann, denen er vielleicht nacheifert und die seine subjektiven Mängel ausgleichen. In einer etablierten Sozialisation durchläuft der Mensch Räume der unterschiedlichsten Beziehungen. In unterschiedlichsten Wechselwirkungen entwickelt er zusammen mit den anderen sein Selbst, und er entwickelt ein Selbstbild, ein Rollenbild, das sich aus den Strukturen eines kollektiven Selbst speist. Das Kind, der Schüler, der Student, der Berufsanfänger, das Elternteil, der Etablierte, der Chef, der Mentor, der Greis – das alles sind Selbstbilder, die im 264

Laufe des Lebens durchschritten und trotz subjektiven Empfindens kollektiven, künstlichen Ursprungs sind. Es ist viel darüber geschrieben und geforscht worden, wie menschliche Sozialisation wohl eigentlich ursprünglich natürlich wäre. Der natürliche Mensch, der Naturmensch, existiert mitunter in fundierten Beschreibungen, aber gesehen haben wir ihn noch nie. Als Bild mag er existieren, aber angetroffen hat ihn noch keiner. Man kann sich vorstellen, dass der natürliche Mensch in einer wilden Horde lebt, überlassen den zwischenmenschlichen Impulsen und dominiert von der rauen Existenz. Möglich, aber bekannt ist uns nur der Mensch im Great Game of Civilization; in einem strukturierten Aufbau der Persönlichkeit, der unter dem Begriff der Entfaltung im Wesentlichen Entfremdung versteht. Die klassische Sozialisation erfolgt entlang der Gruppe, einer thematisch strukturierten Horde. Das Kind und der Professor, sie beide stehen nicht alleine in der Welt, sondern sind meist Teil einer Gruppe, die sich durch Rollenzuschreibung definiert. Dies scheint der menschlichen Natur zu entspringen. Die begrenzte Wahrnehmung der Komplexität der Welt spiegelt sich im Menschen als soziales Wesen. Es kann keine enge soziale Beziehung zu allen Menschen in der Welt aufgebaut werden, da dies die Kapazität des Individuums übersteigt. Als Nahbereichswesen ist der Mensch gebunden an eine bestimmte Menge anderer Menschen, zu der er sich zugehörig fühlen kann. Diese Zugehörigkeit bedingt die Abgrenzung zu anderen. Es ist einer Gruppe wesensimmanent, dass sie sich erst in ihrer Abgrenzung definiert, damit z. B. der Fußballfan sich dem einen oder anderen Verein zugehörig fühlen kann. Inhaltlich eigentlich egal, denn erst in der Abgrenzung zum anderen entsteht die eigene Zugehörigkeit. Es ist wieder das Prinzip der Herrschaft: Räume aus unzureichenden Perspektiven, die sich nur in der Behauptung unterscheiden und sich in ihrer Eingrenzung durch den Konflikt zu einem postulierten Anderen strukturieren. Die Angleichung der Schnittstellen, das „equalizing“ der sozialen Räume, ob im Spiel oder im Krieg: In der Sozialisation des Einzelnen sind diese Räume und ihre Rollen überwiegend keine freie Entscheidung. Die Anpassung an sie ist meist eine Pflicht. Eine Pflicht, die aus Angst entsteht. Das Kind muss sich irgendwie an seine Eltern und ihre Erwartungen anpassen, da es sonst, als noch nicht in einem umfassenderen Dasein angekommen, unter Existenzangst leidet. Dieser Modus prägt meist das Leben: Die Anpassung an soziale Gruppen, aus Angst um die eigene Existenz. Das ist das Gegenteil vom freien Menschen. Es ist eine Begrenzung nicht nur seines Selbstbildes, sondern auch seiner Erkenntnis. Die Schaffung von sozialen Räumen ist auch immer mit einer Schließung nach Außen verbunden, wie bei der Schaffung einer Box. Die Methoden und Inhalte der Interaktionen in ihnen können von einer anderen Gruppe nicht direkt nachvollzogen werden, sondern sind nur im Ergebnis nach Außen oder im Wechsel der Gruppen sichtbar. Erkenntnis ist gebunden an die sozialen Räume: 265

Sicherlich nachvollziehbar, aber zu welchem Preis? Wie lange dauert es z. B. eine fremde Sprache zu lernen? Also wirklich zu lernen und ihre Feinheiten in der Relation zwischen Ich und sprachprägender Gruppe in der Tiefe nachzuvollziehen und sie nicht nur als Handlungscode zu verwenden? Um wirklich zu einer umfassenderen Erkenntnis des Seins, und damit zu einer legitimierten Objektivität, zu gelangen, müssen die Struktur der Räume und ihre eingrenzende Kraft aufgebrochen werden. Räume dürfen nicht als Begrenzung von etwas, sondern als Ermöglichung zu etwas verstanden werden. Der physische Tópos im Outópos nun: In ihm wird der Mensch Teil einer Gruppe. Aber nicht einer begrenzenden Gruppe, sondern mehrerer aufeinander aufbauender Gruppen als Möglichkeit des freien Menschen, sein Selbst und das der anderen strukturiert zu erweitern. Der Aufbau des Tópos folgt den Beobachtungen aus der Bestandsaufnahme des Great Game of Civilization, aber noch mehr den Erkenntnissen zur Kontextualisierung des Ichs mit dem Sein. Er ist keine Revolution, kein Verkünden einer radikal neuen Form und eines neuen Menschen, sondern er ist Evolution durch das Weiterdenken bestimmter Erkenntnisse. Er ist nicht die Abschaffung der Zivilisation, sondern ihre Weiterentwicklung. Kein Gegensatz von Natur und Kultur, sondern eine Vereinigung beider in Geist und Volumen. Strukturiert, klar definiert und in Form gebracht. Keine Annäherung, sondern Eins; angelegt in der Urform des Eins: einem Kreis. Einem Kreis, der sich durch Zentrierung auf ein Etwas bildet, aber in dem alle Elemente auf der Kreisbahn durch ihren gleichen Abstand zur Mitte strukturell gleichwertig sind.273 Sich in einer Annäherung an das Zentrum stetig verdichten und auf neuen Kreisbahnen etwas Gemeinsames schaffen um ein gemeinsames Selbst auszubilden; in der Bildung des Objektes der Gemeinschaft der Logik des individuellen Selbst folgend. Immer verbunden mit dem einzelnen Subjekt, dessen Dasein als Erscheinung sich über die Verzweigungen der Baumkrone der anderen zum Ursprung bewegt. Das Mosaik des einen menschlichen Lebens, strukturiert in seiner Annäherung an den Anderen. Inhaltlich offen, aber auf nachvollziehbaren Bahnen. Letztlich Ehrlichkeit, letztlich Liebe, die nicht 273 Die meisten utopischen Entwürfe verwenden geometrische Basismuster wie Quadrate und Kreise. Vgl.: Eaton, Ruth: Die ideale Stadt, S. 26. Der Kreis formuliert eine unendliche Bewegung, da er ohne Anfang und Ende ist, und steht wahrscheinlich deswegen in der traditionellen chinesischen Architektur für das Himmlische, während das Rechteck das Irdische symbolisiert. Vgl.: Grütter, Jörg Kurt: Grundlagen der Architektur-Wahrnehmung, S.  206. Der Wissenschaftsautor David Blatner fasst diesen Gegensatz so zusammen: „Einerseits haben Sie einen Kreis – die einfachste Form des Universums. Ein Regentropfen, der in einen Teich fällt, ruft vollkommene Wellenkreise hervor. (…) Sogar Planeten und Sterne im All sind bestrebt, Kreise und Kugeln zu bilden. (…) Andererseits haben Sie ein Quadrat (…). Schon in frühster geschichtlicher Zeit galt das Quadrat als Gegensatz, als Antithese, des Kreises. (…). Während die Entstehung eines Kreises ein natürlicher Vorgang ist, müssen wir messen und rechnen, um ein Quadrat zustande zu bringen.“ Zitat in: Blatner, David: π, S. xi ff.

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als romantische Kategorie, sondern als offene Möglichkeit menschlicher Beziehungen gedacht wird, die nicht mit Existenzangst oder dem Gefühl, benachteiligt zu sein, belastet sind.

Versorgung Der Tópos: Als physische Wirklichkeit die Zusammenführung der Menschen zur Erkenntnis, aber auch Garant für die bedingungslose Sicherstellung physischer Grundbedürfnisse. Eine StrukturMaschine für die freie Entfaltung des Menschen im Dasein und im gemeinschaftlichen Selbst. Ohne Angst und Existenzsorge, als ein ewiges System, das im Wechselspiel der unterschiedlichsten Impulse Ruhe und Beständigkeit erzeugt. Eine sichere Bastion des Seins, die dem Menschen im Outópos Werkzeuge und seinen Raum bereitstellt. Aber das reicht noch nicht zur Sicherung seiner elementaren Bedürfnisse. Ganz wesentlich und für jeden täglich spürbar und nachvollziehbar ist die Versorgung mit Nahrung und sauberem Wasser. Als physische Transformationsmaschine ist der Mensch auf die stetige Zufuhr dieser beiden Stoffe angewiesen. Und zwar so sehr, dass man die Formung der gegenwärtigen Welt hauptsächlich als durch die Notwendigkeit der Versorgung bedingt sehen kann. Unter dem Aspekt der Ernährung betrachtet, werden die Gebiete der Welt ungleich. Wasser mag es in einigen Regionen im Überfluss geben und dem, den das Leben zu einem Dasein in einer trockenen Region gezwungen hat, ist der Mangel an diesem Luxus wohl stetig präsent; ebenso wie die Qualität von Ackerböden und den Beständen von Flora und Fauna. Die Verbindung zwischen menschlichen Räumen und den Ressourcen der Welt ist eine Triebfeder für ständige Ungleichheit und Konflikte. Hinzu kommt, dass durch die Kultur der Arbeitsteilung die Herstellung und Versorgung mit Lebensmitteln meist in den Händen von Wenigen liegen. Ein konstituierendes Merkmal von Herrschaft, das natürlich nie optimal funktioniert. Der Outópos hingegen geht von einer Gleichwertigkeit der Menschen als objektiver Kategorie aus. Jeder Mensch erhält die gleiche Grundsicherung, angepasst an seine physisch-subjektiv empfundenen Bedürfnisse; aber jeder Mensch ist auch dafür verantwortlich, was er daraus macht. Die Grundsicherung stellt keinen Luxus her, sondern garantiert die Existenz. Dadurch ist der Tópos strukturell vor allem durch die Versorgung mit Nahrung und Wasser geprägt, die er quasi auf ewig garantiert. Es ist daher nur schlüssig, dass seine wesentliche Form von einem großen Ringsystem bestimmt wird. Einer massiven, kreisrunden Struktur, die wesentlich dem Aspekt der Wasserversorgung dient. Oberhalb, über dem Raum des Menschen, erfolgt in ihr Wasserspeicherung und Wasserfilterung. Die Gleichheit des Zugangs, die die Menschen im Outópos erhalten, ist ein Garant für eine 267

Gleichheit in der Gemeinschaft. Das Ringsystem ist nicht nur Verteiler, es ist auch eine Schwelle. Eine Schwelle am Übergang vom subjektiven Dasein in die Beziehung mit anderen und damit der geeignete Ort für Körperhygiene, als Charakteristikum dieses Übergangs. Wer weiß schon, was im einzelnen Dasein für Einflüsse existieren, die sich besser nicht auf andere übertragen sollten. Grundsicherung, verstanden als unumgängliche körperliche Hygiene zum Schutz des gemeinschaftlichen Selbst, auch hier. Das Ringsystem ist auch elementar für die Bereitstellung von Nahrung, genauer: die Ermöglichung von Ackerbau und Landwirtschaft. Vom Ringsystem aus erstreckt sich ein gleichmäßiger Strahlenkranz, dem zwei wichtige Aspekte zukommen: Zum einen definiert er den Boden des einzelnen Menschen, der sich zwischen zwei Strahlen als die Scholle des Subjektes aufspannt. Ein fruchtbarer Boden, ihm völlig frei zu seiner Verantwortung und Obhut überlassen, und auf 2 000 m2 ausreichend Fläche zur Sicherung der Nahrungszufuhr. Zum anderen versorgt der Strahlenkranz diese Scholle durch eine mögliche Bewässerung entlang der gesamten Strecke der Eingrenzung, aber nicht drüber hinaus, mit Wasser. Jeder Mensch hat seine Scholle und alle Schollen sind erst einmal gleichwertig. Aber was der Mensch aus seinem Land macht, kann unterschiedlich sein. Der eine zeigt ein Talent für die Pflege der Flora, während dem anderen, vielleicht einfach nur durch Pech, ein Ertrag verwehrt bleibt. Eine potentielle Ungleichheit in Verbindung mit der Existenzsicherung tut sich auf. Der Mensch erhält gleichwertiges Land zur Sicherung seines Lebens, aber Ackerbau ist Teil des Seins. Es ist eine Arbeit mit der Natur, die vor allem den Impulsen aus dem Sein unterworfen ist. Erfolg oder Misserfolg liegen nicht nur im Subjekt, sondern können von Ereignissen beeinflusst werden, die weit außerhalb seines Einflusses liegen. Es ist daher elementar, dass eine Grundversorgung auch unabhängig von der Scholle erfolgen muss. Durch die Bereitstellung eines Grundnahrungsmittels, das die körperliche Funktionsfähigkeit und Gesundheit sicherstellt, aber auch nicht mehr. Nennen wir dieses Grundnahrungsmittel naheliegenderweise Manna. Aber es fällt natürlich nicht vom Himmel, sondern muss durch die Gemeinschaft erschaffen werden – dazu an späterer Stelle mehr. Die Existenz des Manna im Outópos charakterisiert die Scholle damit zuerst als Luxus; als Möglichkeit zur Bereicherung des Speiseplans, vielleicht sogar aus purem Lustempfinden heraus. Aber das Zusammenspiel dieser beiden Nahrungsquellen ermöglicht einen weiteren wesentlichen Aspekt: Geburtenkontrolle. Ein schreckliches Wort, aber es erscheint notwendig. Die Logik der Vermehrung, der Potenzierung, zeigt, dass ein System immer weiterwächst, bis es an seine natürlichen Grenzen kommt. Die Auswirkungen des folgenden Kollapses sind in der Regel individuell schrecklich, aber auch im Rahmen der Erkenntnis tragisch. Im Soge des Existenzkampfes ist alles Wissen, das nicht der 269

Sicherung der Existenz dient, überflüssiger Ballast und damit dem Vergessen anheimgestellt. Zur Sicherung ist es notwendig, im Outópos das Wachstum der menschlichen Population zu begrenzen und es an die Umwelt anzupassen, zu der es in einer ausgeglichenen Beziehung stehen soll. Das Zusammenwirken von Scholle und Manna stellt genau dies sicher, da es eine stabile Population bewirkt, in der der Mensch für seine Nachkommen direkt sorgen muss. Ein Kind erhält, da es sich als freier Mensch noch nicht vollkommen ausgebildet hat, kein Manna. Es ist darauf angewiesen, von seinem Erzeuger ernährt zu werden. Dieser Fakt stellt für beide keine Bedrohung der Existenz dar, aber er ist eine temporäre Einbuße im individuellen Nahrungsluxus des Erzeugers. Da dieser erzeugende Mensch aber der freie Mensch ist, der eins mit dem Dasein ist, sollte das auch gelingen. Der freie Mensch ist nicht Rollenmodellen unterworfen und die Frage des Nachwuchses wird nicht nach, vielleicht auch unbewussten, fehlerhaften externen Kriterien beantwortet, sondern aus der logischen Verantwortung des Subjektes für ein werdendes Subjekt. Die Schaffung eines Nachkommens ist ein freier und bewusster Akt seines Willens und das Verhältnis zu diesem Nachkommen ist geprägt von Liebe.274 Liebe verstanden als die Zuneigung zu dem Ich, das wir im anderen finden; vor allem im Prozess des Werdens. Dieser wird durch Liebe erreicht, die durch ein stabiles Dasein und dessen Mit-Teilung erlangt wird, nicht durch eine fehlerhafte externe Kontrollinstanz, die Nähe zwischen Menschen erzwingt. Eine stabile Relation von Zweien als Basis des Werdens. Es versteht sich von selbst, dass der Nachkomme, sobald er mental die Möglichkeit hat im Dasein zu stehen, die Scholle verlassen und für sich selbst sorgen muss. Ab einem bestimmten Zeitpunkt muss der Mensch frei werden. Egal wann das ist, eintreten muss es auf jeden Fall und ab dem Zeitpunkt erhält der Mensch seine eigene Scholle und seinen eigenen Raum, der sich zwischen Ackerfläche und Ringsystem befindet. Der Tópos hat 108 Räume für 108 freie Menschen. Er ist in der Anzahl seiner Bewohner limitiert, damit eine Gemeinschaft durch das Kennen, durch das Erkennen, des Anderen möglich wird. Aber er ist nicht der Einzige. Im Gesamtsystem des Outópos gibt es viele weitere Manifestationen des Tópos – strukturell immer gleich, aber von ihrer Umgebung her unterschiedlich. Unterschiedlich sind sie auch in dem Sein, das sie umspült, und dadurch in den Daseinsformen, die sich aus ihnen ermöglichen. Es ist die Förderung von sozialer Bewegung, die Schaffung neuer Perspektiven und die Erhöhung der Erkenntnis, die aus unterschiedlichen möglichen Seinsformen entsteht. Diese Förderung ergibt sich durch den Wechsel der Räume im Leben, die dem Menschen zustehen, wenn Räume – was bei einer stabilen Population der Fall sein sollte – frei werden. Und sie entsteht durch die Möglichkeit 274 Diese folgt dem Konzept der mystischen Liebe. Einer Liebe um der Liebe willen, die Zweiheit zugunsten eines Denkens als Eins negiert. Vgl.: Winet, Monika: „Ich bin Du, und Du bist ich“, in: Feldmeier, Reinhard/Winet, Monika: Gottesgedanken, S. 62.

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des Tausches und das Durchwandern immer neuer Räume im Outópos. Ein Wechsel der Daseinsformen, die die Menschen im Austausch untereinander vollziehen können; gleichwertig in der objektiven Sicherung der Existenz und doch mit stetig neuem Gewinn für den Menschen.275

Das Prinzip der 3 Aber nun ganz konkret: Was ist die Form des gebauten Tópos? Er ist eine Megastruktur und ein zusammenhängendes bauliches Ding; keine Agglomeration, sondern massive Fläche und Masse aus einem Guss. Formal ist er ein Kreis, 1 km im Durchmesser und damit im Umfang genau π km. Am äußeren Drittel befindet sich das massive Ringsystem. Barriere und Schwelle zugleich, an das sich die einzelnen Räume des Menschen anschließen. In der Mitte befindet sich ein Turm, 140 Meter hoch und ein bauliches Zeichen für den Mittelpunkt. Aufgrund seiner Höhe Fixpunkt und Leuchtturm bis in die Wildnis des Seins hinaus. Abseits dieser Massen ist der Tópos vor allem eins: leere Fläche; genauer: Zonen. Gebiete, die sich von außen auf konzentrischen Kreisbahnen zum Mittelpunkt hin verdichten. Freie Flächen für freie Menschen, aber auch Flächen mit einer Funktion und einem Inhalt, der sich aus einer jeweils zum Zentrum hin zunehmenden Vergemeinschaftung durch die Kommunikation der Individuen untereinander ergibt. Dem Menschen wird die Gemeinschaft gegeben, aber sie muss sich aus dem Individuum entwickeln und mit Leben füllen. Eine egalitäre Gesellschaft. Eine Gesellschaft der Freien und der Gleichwertigen. Eine Gesellschaf, gebildet aus Menschen mit denselben Grundvoraussetzungen, die aber Unterschiedliches schaffen. Freie Menschen, die spezifische Daseinsformen frei und offen in Wechselwirkungen stellen; sie wahrnehmen, verstehen, nachvollziehen und dann auch auf den Bahnen dieses gemeinsamen Austausches schöpferisch und gestalterisch tätig werden. Spezifische Handlungen in spezifischen Zonen des Tópos ausführen, in denen sich dann auch andere Individuen und ihre jeweiligen kollektiven Lösungen, Ansätze und Erzeugnisse befinden. Ergebnisse, die 275 Mit dieser Annahme sei dem Philosoph Friedrich Nietzsche widersprochen, der postulierte: „Die Ökonomie der Güte ist der Traum der verwegensten Utopisten (…)“ und dieses für unmöglich hielt. Zitat in: Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches, in: Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Also sprach Zarathustra. Jenseits von Gut und Böse, S. 65.

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dann wiederum in Wechselwirkung stehen; immer weiter, verdichtet bis auf den einen Punkt im Zentrum. Ergebnisse aus dem kollektiven Handeln aller, immer nachvollziehbar in den Abschnitten der Verdichtung und immer zurückzuführen auf dem Ursprung von allem: das Ich. Ein wirklich kooperatives Handeln, in dem Daseinsformen sich zwar mit anderen austauschen müssen, wenn sie ein Etwas erreichen wollen, an dem aber auch jede Daseinsform gleichberechtigt beteiligt sein muss und nicht verdrängt werden kann. Ein kollektives Selbst, das in seinen Erzeugnissen immer nachvollziehbar bleibt und in dem die Ursprünge anhand des Modus der Verästelung auf ihren Ursprung zurückzuführen sind, sowohl im Ich als auch im Sein. Diese Verästelung folgt einer Vereinigung des Gegensatzes: Aus vielen wird eins. Aber der Baum des kollektiven Selbst bildet sich nicht aus dem Dualismus; nicht aus der Zusammenstellung von Zwei, sondern aus dem Prinzip der Drei. Zwei Daseinsformen können sich theoretisch absolut unvereinbar gegenüberstehen und aus der Wechselwirkung zwischen ihnen entsteht nichts. Durch das Hinzufügen eines Dritten ist die Möglichkeit eines Ausgleiches geschaffen, durch eine andere Ebene, auf die sich beide potentiell begeben können. Im Great Game of Civilization ist dieses Dritte die Herrschaft, aber sie ist statisch, objektiv und eigentlich nur als Einbildung existent. Im Tópos ist der Dritte immer ein Mensch, immer ein Subjekt und damit dynamisch. Der Gegensatz von Zweien – der reine Dualismus – kann zur Erstarrung führen. Das Prinzip der Drei hingegen garantiert Dynamik und stetige Wechselwirkungen, die durch das Beziehungsfeld anhand dreier Koordinaten aufgespannt wird.276 Alle Zonen im Tópos folgen diesem Prinzip. Der Zusammen276 Die Zahl „3“ ist mathematisch und historisch betrachtet tatsächlich ein interessantes Phänomen. Während die „1“ geometrisch einen Punkt markiert, verbirgt sich hinter der „2“ eine binäre Beziehung als Gegensatz. Um bildlich gesprochen von einem Ende der so entstandenen Linie zum anderen zu kommen, bleibt immer nur genau ein Weg. Erst bei drei Punkten entsteht geometrisch eine Fläche, die mehrere mögliche Linien und Verbindungen beinhalten kann. Bei einer „4“ entsteht ein Raum, aber dieser kann zu komplex werden und gleichzeitig den Menschen als solchen umfassen und einschließen, wohingegen der Mensch eine Fläche ganz überblicken kann. Sie wird transparent, da sie sozusagen eine Dimension weniger einnimmt. Der Philosoph Max Stirner weist diesbezüglich auf einen interessanten Aspekt hin: „Das Wort ‚Gesellschaft‘ hat seinen Ursprung in dem Wort ‚Sal‘. Schließt Ein Saal viele Menschen ein, so macht`s der Saal, daß diese Menschen in Gesellschaft sind. (…) es ist aber vielmehr so, daß der Saal Uns inne oder in sich hat. (…) Es stellt sich dabei heraus, daß die Gesellschaft nicht durch Mich und Dich erzeugt wird, sondern durch ein Drittes, welches aus Uns beiden Gesellschafter macht, und daß eben dieses Dritte das Erschaffende, das Gesellschaft Schaffende ist.“ Zitat in: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum, S. 154 f. Dieses Dritte nun ist im Outópos kein verborgener Dritter, wie die Herrschaft oder ein Gott, sondern immer ein anderer Mensch. Die Gesellschaft als eine menschliche, offene und transparente Gesellschaft. Das ist jetzt aber auch kein neuer Ansatz, was auch die Beschreibung der staatlichen Kommissionen im antiken Rom des Mathematikers Ernst-Erich Doberkat, die in der Regel aus 3 Mitgliedern bestanden, zeigt: „Die Dreizahl hatte sich als praktisch erwiesen, weil zum einen dadurch die Stimmengleichheit, die bei gerader Mitgliedszahl zu befürchten ist und die zu Entschlusslosigkeit führen würde, vermieden wurde, sie auf der anderen Seite aber auch gewährleisten sollte, dass sich eine

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schluss der Menschen basiert immer auf einer Dreiteilung, von den 108 Räumen des Menschen bis hin zu einer zentrierten Dreifaltigkeit, die sich anhand des Mittelpunkts vereint.277 Zu diesen drei übergeordneten Bereichen kommt ein vierter Bereich hinzu, der aber für sich steht. Er bildet sich nicht aus dem individuellen Dasein, sondern aus den Wechselwirkungen und der Verdichtung im kollektiven Dasein, aus denen er seine Funktion als „Versorger“ und seinen Inhalt erhält. Das Prinzip der Drei findet sich auch in der Ästhetik des Tópos. In ihm gibt es keine vorgegebenen Dinge, keine Ausstaffierung, keine Wände oder Türen. Es gibt nur drei ästhetische Kategorien: den Raum, verstanden als Volumen, die Öffnung und die Ikone, die es nur einmal als Turm im Zentrum gibt. Ein Mittelpunkt und weithin sichtbarer Orientierungspunkt. Ein Fixpunkt, aber ausgeglichene Meinung unter den Mitgliedern der Kommission entwickelte.“ Zitat in: Doberkat, Ernst-Erich: Die Drei, S. 241. Die Zahl 3 leitet sich des Weiteren aus der Kreisform des Outópos ab. Als Näherung zu π steht sie für die Relation seines Umfanges zum Durchmesser. Also für das Verhältnis zwischen der Strecke, die ein Raum des Menschen maximal von einem anderen entfernt ist, und der Strecke, die man zurücklegen müsste, um alle Räume abzulaufen. π ist genau genommen natürlich nicht 3, sondern 3,14…; aber der Näherungswert ist 3 und die meisten Kulturen in der Menschheitsgeschichte gaben sich damit auch zufrieden. Vgl.: Blatner, David: π, S. 8–24. So definierte schon im 7. Jh. der indische Mathematiker Brahmagupta: „der praktische Wert für Pi sei drei“. Zitat in: ebd., S. 27. Die Drei findet sich beileibe nicht nur in der Mathematik, sondern in fast allen Bereichen künstlerischen Schaffens. Ob als Dreiklang in der Musik oder als Dreiteilung von Bildflächen in der Malerei: sie scheint eine Konstante menschlichen Schaffens zu sein. Vgl.: Doberkat, Ernst-Erich: Die Drei, S. 311–354. Ihre Verwendung als Ordnungsgrundlage des Menschlichen deckt sich mit dem Verständnis des Soziologen Henri Lefebvre der Dreiteiligkeit des sozialen Raumes, der dahingehend den Dualismus kritisiert: „Eine Dreiheit mit drei Stellen und nicht zwei. Eine zweistellige Beziehung lässt sich auf eine Opposition (…) reduzieren. (…) Die Philosophie ist nur schwer über diese zweistelligen Beziehungen hinausgekommen: das Subjekt und das Objekt, die res cognitas und die res extensa von Descartes, das Ich und Nicht-Ich der Kantianer (…). Der ‚Binarismus‘ hat nichts mehr mit den manichäischen Konzeptionen des verbissenen Kampfes zwischen zwei kosmischen Prinzipien zu tun; ist er einmal geistig geworden, zieht er aus dem Leben, dem Denken, der Gesellschaft (…) all das ab, was die lebendige Tätigkeit ausmacht.“ Zitat in: Lefebvre, Henri: Die Produktion des Raums (1974), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie, S. 336 f. 277 Die Drei ist in Anbetracht dessen auch als pragmatischer Umgang zu verstehen. Die Quadratur des Kreises, nicht durch π, sondern durch Drei. Eine Vereinfachung, natürlich. Aber es sei an diesem Punkt auf ein interessantes Phänomen aus der Architekturpraxis hingewiesen. Vor der Digitalisierung wurden von Architekten beim Entwerfen ein im Maßstab grobes Modell und vereinfachte Pläne hergestellt, die dann immer detaillierter ausgearbeitet wurden bis zur 1:1 Übersetzung beim Bauen. Das Konzept war grob und die Realisierung die Verfeinerung. Durch die digitalen Entwurfspraktiken wird nun im Entwurf überwiegende eine digitale Simulation erstellt. Und diese ist meist absolut präzise, bis hin zu einer Detailtiefe, die atomaren Größen entspricht. In der Realität ist diese Genauigkeit in der Regel nicht umsetzbar. Das Konzept ist genauer als die wirkliche Welt. Mehr noch: Die vermeintliche Präzision in der wirklichen Welt ist oft nur eine Illusion. Wände und Räume, die z. B. in der Wahrnehmung als „gerade“ erscheinen, sind es oft gar nicht wirklich, wenn man sie technisch vermisst. Eine Aufhebung der Spaltung zwischen einer vermeintlich „richtigen“ Welt des technischen Geistes und einer mangelhaften physischen Form soll gewissermaßen durch die Aufgabe der Nachkommastellen ausgedrückt werden. Eine Verfeinerung ist dann in den Formen des Daseins immer noch möglich.

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leer und ohne Zweck, keinem Sinn unterworfen, sondern reduziert auf seine archaische Körperhaftigkeit im Verhältnis zum Menschen. Eine Welt ohne Ikonen, die sich gerade dadurch auszeichnet, dass die einzige Ikone, über die sie verfügt, bewusst und klar erkennbar sinnlos ist. Abgesehen davon: keine vorgegebene Ästhetik und keine Objekte, sondern nur das, was aus dem Menschen im gemeinschaftlichen Austausch mit anderen erwächst. Nur in der Betrachtung der Form des Tópos drängen sich Ähnlichkeiten zu traditionellen Strukturen auf. Eine gewisse Ähnlichkeit zu etablierten Siedlungsmustern – die Strukturierung um einen Mittelpunkt – ist beabsichtigt und ebenso die formale Ähnlichkeit zum Prinzip der baulichen Ikone im Zentrum einer Stadt. Wesentlich aber ist, dass hier keine Agglomeration stattfindet. Die Verdichtung kann zwar eine vom Menschen geschaffene sein, aber sie ist zuallererst eine geistige. In ihrer Form verbindet sie gleichermaßen etablierte Muster ruraler und urbaner Kultur, aber lässt Freiräume der Aneignung. Genauso wie auch Städte immer auch eine Konzentration von Macht und dem damit verbunden Recht sind, verfügt auch der Tópos darüber, nur abgestuft nach seinen Zonen.278 Der freie Mensch ist kein Monster, denn die Gebundenheit seiner Wirkungszone an die Körperlichkeit lässt dies nicht zu. Aber er kann im Umgang mit anderen Menschen theoretisch zum Monster werden. Der Mensch im Outópos ist ja gedacht als „gut“. Ein gut sein, das daraus erwachsen sollte, dass das Ich eins mit dem Sein ist. Eine innere Ruhe, die daraus entsteht, dass nicht ständig Gefälle, Vergleiche und Pseudo-Wahlmöglichkeiten auftauchen. Aber genau diese Dinge können natürlich im Austausch mit anderen in Erscheinung treten. Im Vergleich des Daseins kann vielleicht ein Impuls des Neides entstehen. Obwohl es im Outópos keinen Anlass dazu gibt, kann es immer sein, dass so etwas entsteht – ein perfektes System ist eine Illusion und bleibt immer Nicht-Ort. Im Great Game of Civilization werden die Verwerfungen, die daraus entstehen können, durch die Herrschaft als scheinbar objektiver Richter und Rächer zu kompensieren versucht. Der Outópos hingegen ist herrschaftsfrei; aber die Freiheit des Einzelnen reduziert sich im Tópos, je mehr soziale Interaktionen er eingeht und je weiter er sich körperlich zum Zentrum hinbewegt. Das Recht im Tópos ist kein objektives, sondern es entsteht aus der Interaktion von Menschen in bestimmten Zonen und ist auch nur auf diese begrenzt. Die Macht über andere, die der Austausch mit sich bringen kann, ist an die Zonen im Tópos gekoppelt. In der Zone des Raumes des Menschen gibt es kein Recht und keine Macht über ihn – er ist frei; eben auch weil er hier nicht in In278 Die Zonierung scheint durchaus ein Grundprinzip menschlicher Weltaneignung zu sein. So definiert der Anthropologe Edward Hall vier Zonen, die sich als Kreise um das Individuum legen: „(…) die intime Zone, die persönliche Zone, die soziale Zone und die öffentliche Zone (…).“ Zitat in: Grütter, Jörg Kurt: Grundlagen der Architektur-Wahrnehmung, S. 150.

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teraktion mit anderen steht. In der nächsten Zone kommt er aber mit mehreren zusammen. Seine Freiheit begrenzt sich angesichts der Freiheit der anderen und dem Recht und den Regeln, die sie sich vielleicht gemeinsam geben.279 Dieser Mechanismus schreitet fort bis zum Zentrum und von dort wirkt er auch wieder in die Zonen zurück. Alles im Outópos ist offen gestaltet; alles zur Ikone hin ausgerichtet und von da aus einsehbar. Die Gemeinschaft entsteht aus dem Einzelnen, aber sie wirkt auch durch Gestaltung, Erkenntnis und Entfaltung, aber auch in Regeln und Recht auf den Einzelnen zurück. Nur der Raum des Ichs, der Raum des Menschen bleibt dieser Rückwirkung verschlossen. Die absolute Freiheit beginnt hinter der Öffnung am Rande der Lauffläche. Das Prinzip der Zonierung stellt damit dem Menschen frei, wie er sich in ihr bewegt und wo er sich positioniert. Sie ist immer eine Möglichkeit, nie ein Zwang. Aber um von der einen Zone in die andere zu gelangen, muss die dazwischenliegend durchlaufen werden und man muss sich mit ihr auseinandersetzen. Das Ideal wäre natürlich die umfassende Wechselwirkung aller Zonen, die 279 Die Frage des Rechts, als das Verhandeln zwischenmenschlicher Beziehungen aus einer scheinbar objektiven Perspektive heraus, ist dem Great Game of Civilization wesensimmanent und ein stetiger Prozess des Aushandelns. Der Psychologe Sigmund Freud definiert die vermeintliche Notwendigkeit, die als Begründung für eine externe Gewalt herhalten muss, wie folgt: „Das menschliche Zusammenleben wird erst ermöglicht, wenn sich eine Mehrheit zusammenfindet, die stärker ist als jeder einzelne und gegen jeden einzelnen zusammenhält. Die Macht dieser Gemeinschaft stellt sich nun als ‚Recht‘ der Macht des einzelnen, die als ‚rohe Gewalt‘ verurteilt wird, entgegen. Diese Ersetzung der Macht des einzelnen durch die der Gemeinschaft ist der entscheidende kulturelle Schritt. (…) Die individuelle Freiheit ist kein Kulturgut. Sie war am größten vor jeder Kultur, allerdings damals meist ohne Wert, weil das Individuum kaum imstande war, sie zu verteidigen.“ Zitat in: Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur (1930), in Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, S. 61. Der auch rechtsgeschichtlich einflussreiche Philosoph Immanuel Kant fasst die Grundannahme hinter diesem Prinzip wie folgt zusammen: „Der Friedenszustand unter Menschen, die neben einander leben, ist kein Naturzustand (…), der vielmehr ein Zustand des Krieges ist (…) doch immerwährend Bedrohung mit denselben. Er muß also gestiftet werden;“ Zitat in: Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden, in: Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden und andere Schriften, S.158 f. Demnach definiert Kant: „Recht ist die Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann (…). Da nun jede Einschränkung der Freiheit durch die Willkür eines Anderen Zwang heißt: so folgt, daß die bürgerliche Verfassung ein Verhältnis freier Menschen ist, die (…) doch unter Zwangsgesetzten stehen: weil die Vernunft es so will (…).“ Zitat in: Kant, Immanuel: Über den Gemeinspruch, in: Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden und andere Schriften, S. 98. Er gelangt darüber zu seiner berühmten Formel, dass der Mensch frei ist, solange er die Freiheit des anderen nicht beschränkt: „Die Freiheit als Mensch (…): Niemand kann mich zwingen auf seine Art (…) glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit Anderer (…) die mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichen allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann (…) nicht Abbruch thut.“ Zitat in: ebd., S.99. So zustimmenswert dieser Ansatz auch ist, so kann er doch auch als Begründung der Herrschaft gelesen werden. Denn von wem sollen denn die allgemeinen Gesetze bestimmt werden, wenn nicht durch eine zu schaffende, aber leider nie perfekte, objektive Perspektive? Also eine Herrschaft, die die Position eines Dritten vermittelnd zwischen zwei Menschen einnimmt? Im Outópos gilt das Prinzip der Drei – also ist dies hier ein Mensch. Aber ein Subjekt und keine scheinbar objektive Rolle.

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sich durch den und am Menschen vollzieht. Aber das ist nicht verpflichtend – welche objektive oder kollektive Instanz sollte es auch befehlen, wenn ihre Macht an der Zonengrenze endet? Es ist möglich, dass ein Mensch seine Existenz damit verbringt, vom Manna genährt fast ausschließlich im Zentrum zu verbringen. Ebenso ist es denkbar, sich von der Gemeinschaft abzukehren und ein Leben nur im eigenen Dasein zu verbringen. In beidem liegt kein wirklicher Nutzen, da jede Zone immer einen bestimmten Vorteil für das Individuum bringt, aber als Möglichkeit ist es gegeben.

Zonen Die Zonen des Outópos erstrecken sich über seine ganze bauliche Form, sind mal größer, mal kleiner und generell unterschiedlich gestaltet, aber immer definiert durch die Art der Wechselwirkungen, die in ihnen strukturell entstehen sollen. Im Tópos zentriert, aber im Outópos gefasst als ein Gesamtsystem, das ein Kreislauf ist; nicht begrenzt auf die rein bauliche Form, sondern umfassender. Soziale Relationen. Soziale Räume. Hier verstanden als eine Topografie unterschiedlicher Zonen, die sich dadurch definieren, wie sich eine bestimmte Anzahl von Menschen zu einem Thema positionieren. Die äußere Zone, die Natur, ist die Zone des subjektiven Daseins. Von ihr ausgehend verdichten sich die Zonen zur Mitte, hin zur Transzendenz, und von dort aus wirken die Impulse wieder auf das Dasein und damit die Natur zurück.280 Gehen wir einmal diese Zonen durch. Einige von ihnen tragen Namen,

280 Damit ist auch für den generellen Aufbau des Outópos das Prinzip der Drei grundlegend, und zwar im Dreiklang von Wildnis, Transzendenz und Mensch. Damit eröffnet sich auch noch eine Analogie, die der Philosoph Zhao Tingyang so zusammenfasst: „Im chinesische Altertum teilte man die Natur in Himmel und Erde. Der Mensch existierte zwischen Himmel und Erde, ein Zwischenwesen, das in den Himmel reicht und auf der Erde gründete. Die Dreieinigkeit von Himmel-Mensch-Erde bzw. das, was sie gemein haben, ist das ‚Dao‘. Das Dao bezeichnet die bestmögliche Daseinsform (…) bzw. die Art und Weise, wie ein Wesen sie erreicht.“ Zitat in: Tingyang, Zhao: Alles unter einem Himmel, S. 61. Diese Dreiteilung ist aber nicht nur metaphysischkategorisch zu begreifen, sondern auch durchaus konkret räumlich, wie es auch in einer Anmerkung des Kunsthistorikers Michael Müller und des Kommunikationswissenschaftlers Franz Dröge deutlich wird: „Ort und Raum sind in der Geschichte der Menschheit nie identisch gewesen. Immer hat es mindestens den Ort des Lebens, den Zwischenraum des Jagens und Sammelns und das Unbekannte, den umgebenden, weiten, nie

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die an die überholte Lehre von den vier Elementen gemahnen.281 Dies ist als Hinweise darauf zu verstehen, dass es sich natürlich nicht um wissenschaftliche Kategorien handelt, sondern sie als die Fassung bestimmter physikalischer Eigenschaften zu verstehen sind, die als Notwendigkeiten des menschlichen Lebens durch ihre Wirkung auf das subjektive Dasein gebildet werden. Ebenso, wie ja auch alle Zonen im Outópos letztlich mit diesem subjektiven Dasein in einem klaren Aktion-Reaktionsverhältnis stehen. Die erste Zone: Die Natur; die Wildnis, der Ort des freien Menschen. Über ihn wurde nun schon einiges geschrieben, aber in der baulichen Form des Tópos beginnt er gleich an seinem Rand. (Fast) alles, was nicht Tópos ist, ist Natur. Sie ist der Bereich zwischen den verschiedenen Tópoi, bis auf ein paar später zu erläuternder Ausnahmen. Sie überschreitet in ihrer Größe die baulichen Strukturen bei weitem, aber doch ist die Wildnis durch den Tópos strukturiert, zentriert auf die Mitte, mit dem Turm als Fixpunkt für den freien Menschen und als Ikone des Ortes der Zuflucht und der Reflexion. Der Übergang zwischen Tópos und Natur ist sanft. Keine Mauern markieren den Beginn des baulichen Tópos, stattdessen wächst er in der zweiten Zone, genannt Erde, sanft aus dem Boden hervor. Diese Zone nun ist der Bereich der Scholle des Menschen.282 betretenen, von Göttern und Dämonen bewohnten Raum gegeben.“ Zitat in: Müller, Michael/Dröge, Franz: Die ausgestellte Stadt, S. 73. 281 Dies ist auch als kleine Reverenz an das Weltbild von Platon und Aristoteles zu verstehen. In ihm ist der Kosmos rund und die Erde befindet sich im Zentrum, umgeben von Sphären aus Wasser, Luft und Feuer. Vgl.: Dora, Veronica della: „The Heavens Declare the Glory of God“, in: Scafi, Alessandro: The Cosmography of Paradise, S. 183. 282 Die Scholle steht für die Existenzsicherung des Menschen, etwas, was einzig und alleine dem Subjekt gehört. Nicht als Pflicht oder Verankerung, sondern als eine Möglichkeit. In der Geschichte des Menschen kann die Lösung von dieser natürlichen Lebensgrundlage als ein Modus der Herrschaft bezeichnet werden, an dem sich zwei Aspekte verdeutlichen lassen. Zum einen der Aspekt der Agglomeration, zu dessen Teilaspekt des Kapitals der Philosoph Karl Marx schreibt: „Der ganze Prozeß scheint also eine der kapitalistischen Akkumulation vorausgehende ‚ursprüngliche‘ Akkumulation zu unterstellen, eine Akkumulation, welche nicht das Ergebnis der kapitalistischen Produktionsweise ist, sondern ihr Ausgangspunkt.“ Zitat in: Marx, Karl: Das Kapital, S. 659. Den Ausgangspunkt für die Agglomeration definiert er folgendermaßen: „Die Enteignung der Arbeiter von Grund und Boden bildet die Grundlage des ganzen Prozesses.“ Zitat in: ebd., S.661. Ein weiterer Aspekt ist die Objektifizierung des Menschen, das Nehmen seiner Würde und sein Missbrauch als Werkzeug. Einer der Gründerväter der USA und Hauptverfasser der Unabhängigkeitserklärung, Thomas Jefferson, schreibt: „Ein Zerfall der Moral (…) ist vielmehr das Kennzeichen derer, die für ihren Lebensunterhalt nicht auf den Himmel, auf ihren eigenen Boden und ihren Fleiß vertrauen wie der Landmann, sondern von den Launen ihrer Kunden abhängen. Abhängigkeit führt zu Willfährigkeit und Käuflichkeit, schnürt dem Keim der Tugend die Luft ab und schafft geeignete Werkezuge für die Ränke des Ehrgeizes. (…) im allgemeinen ist das Verhältnis, in dem die Gesamtzahl von Bürgern (…) in einem Staat zur Zahl seiner Bauern steht, gleichzeitig das Verhältnis ungesunder und gesunder Teile und ein brauchbares Barometer, mit dem sich der Grad der Verderbtheit feststellen läßt. Solange wir also Land zu Bearbeitung haben, wollen wir niemals wünschen, daß

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Der Strahlenkranz, der sowohl die Schollen mit Wasser versorgt als auch die Ackerflächen voneinander abgrenzt, erhebt sich aus dem Untergrund. Erst unmerklich, dann immer deutlicher, analog zu einem leichten Gefälle des Ackerbodens, der durch die variierte Höhe mit unterschiedlichen Pflanzen versehen werden kann – vielleicht benötigen einige Verschattung, die an der Erhöhung des Strahlenkranzes befestigt werden könnte. Am Ende des Ackerbodens, von der Natur aus gesehen, thront der Raum des Menschen. Aus der Wildnis kommend, ist die Scholle als Ernährungsgarant zu ihm hin orientiert. Der Weg vom Dasein zur Selbstschau ist gleichbedeutend mit dem Gang durch das eigene Land, das der Mensch zu seinem Nutzen gestaltet hat. Der Raum des Menschen: eine Schwelle. Ein Eingang, und zwar der einzige in den Tópos. Einen anderen, einen zentralen gibt es für das Betreten nicht. Der Gang in die Gesellschaft erfolgt nur über den Weg der Selbstschau. Auch dieser Raum wurde schon beschrieben. Er bildet in seiner Agglomeration von Räumen die dritte Zone der Kammern. Hinter einer kleinen Öffnung in der Rückwand erhebt sich die Kreisstruktur und damit die vierte Zone des Wassers; aber nicht unmittelbar. Die dritte Zone geht über den Raum des Menschen hinaus. Sie schafft noch eine Fläche. Eine zum Himmel offene Kammer, die dadurch entsteht, dass die Erhöhung des Strahlenkranzes hier die Fläche klar und körperlich deutlich begrenzt. Es ist eine Archaik der Leere und Erhabenheit, die durch den Anblick des schweren Körpers des Wasserringes erzeugt wird. Die Bewusstwerdung eines Überganges, eines Eintritts, einer klaren Grenze zwischen innen und außen; Ebenso klar ist der Weg hindurch. Eindeutig markiert durch einen tiefen Einschnitt in die Masse des Rings. Während von oben Wasser herabfällt und sich in einer Vertiefung zur Reinigung sammelt, liegt direkt hinter dem Wasserfall der Zugang. Das Durchschreiten des Wassers ist notwendig und führt in einen dunkunsere Bürger an einer Werkbank beschäftigt sind oder einen Spinnrock drehen.“ Zitat in: Jefferson, Thomas/ Wasser, Hartmut: Betrachtungen über den Staat Virginia, S. 342 f. Obwohl er sich damit, flüchtig betrachtet, für ein allgemeines, freies Existenzrecht ausspricht, ist darauf hinzuweisen, dass der Großgrundbesitzer Thomas Jefferson auf seinen Plantagen zahlreiche Sklaven hielt. Diese sind nicht gemeint, wenn er von Bürgern spricht. Als Objekte betrachtet, sind sie aus einer solchen Sicht keine Bürger, keine vollwertigen Menschen und damit nur als Kategorien numerisch fassbar. Die absurden Auswüchse eines solchen Denkens zeigen sich in der sog. Drei-Fünftel-Klausel von 1787, in der in den USA festgelegt wurde, dass bei Volkszählungen nur drei von fünf Sklaven gezählt werden sollten, ein Sklave somit nur ein 3/5 Mensch sei.

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len und engen Gang, der im Kontrast zu der Offenheit des vorigen Raumes steht. Enge und das körperliche Gefühl von Masse wirken hier auf den Menschen, der nun gerade nicht mehr frei ist, sondern im Gegenteil: sehr beengt. Aber in dieser Enge wird er auch zusammengeführt mit zwei anderen Gängen. Drei Menschen, die sich dann einen Zugang teilen. Dieser gemeinsame Zugang führt in die fünfte Zone, das Feuer, in der wiederum drei Menschen hinzukommen, die sich ebenfalls einen Zugang teilen. Aber Moment, das sind ja nur zwei Kombinationen. Wieso nicht drei, wo doch die Dynamik der zwischenmenschlichen Beziehungen im Vordergrund steht? Dies liegt am besonderen Charakter der Zone Feuer. Sie stellt einen Punkt der Ruhe dar. Einen Ort der Einkehr, nicht der stillen Selbstreflexion, sondern des Erlebens des gemeinsamen Beisammenseins. Durchaus dynamisch, aber auch mit der Möglichkeit von Statik. Das Ruhen der Impulse. Zusammen. Formal ist diese Zone ein Einschnitt: Eine halbrunde Aussparung in der Masse des Wasserrings. Wiederum ein Kreis, aber angeschnitten und geöffnet zum Inneren des Outópos und am Boden strukturiert durch eine große zentrale Feuerstelle und einen Sitzbogen. Eine offene Höhle, an deren Wänden sich vom wärmenden Feuer die Schatten des Menschen in Gemeinschaft abbilden. Was ist dahinter? Nichts. Zumindest nichts Körperliches. Die nächste Zone heißt Luft und genauso wie die Luft ist sie ein leerer Raum – zumindest in der Wahrnehmung des Menschen. Als solche bietet sie die Möglichkeit der Prägung des in der Höhle zusammen erfahrenen, gemeinsamen Selbst. Sie ist der Ort der freien Entfaltung.283 Der Ort der Kunst und der Ort der Handlung. Der offen ist, weil er denen, die sich in ihn einprägen, nichts entgegensetzt. Auch in dieser Zone werden nun je drei Gemeinschaften zusammengeführt, die sich eine offene Fläche teilen, aber potentiell auch mit allen anderen Menschen interagieren können. Zur gemeinsamen Schaffung eines Etwas – Daseinsformen –, was auch immer das sein mag. Eine leichte Abtreppung markiert den jeweiligen Bereich und um ihn herum ist wiederum leere Fläche. Ein Wegesystem entspannt sich als Definition der Bereiche durch Linienziehung auf der Fläche des Bodens, aber es gibt auch

283 Dies ist ähnlich zu dem Recht auf Stadt des Soziologen Henri Lefebvre zu sehen, das er folgendermaßen zusammenfasst: „Das Recht auf Stadt offenbart sich als höhere Rechtsform: das Recht auf Freiheit, auf Individualisierung in der Vergesellschaftung, auf das Wohngebiet und das Wohnen. Das Recht auf das Werk (auf mitwirkende Tätigkeit) und das Recht auf Aneignung (klar zu unterscheiden vom Recht auf Eigentum) bringen sich in dieses Recht auf Stadt ein.“ Zitat in: Lefebvre, Henri: Das Recht auf Stadt, S. 189.

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die Möglichkeit, sich den Impulsen, den Wechselwirkungen, nicht nur durch Interaktion, durch Schaffen auszusetzen, sondern sich auf die Wahrnehmung im Schauen zu reduzieren. Dies gilt auch für die siebte Zone: Schönheit. In ihr treffen die gemeinsamen Impulse auf ein Gegenüber, ein eigenständiges Etwas, ein Sein, mit dem der kollektivierte Wille zur Aktion in Wechselwirkung treten muss. Es ist die Natur, die hier auf den Menschen als Gruppe trifft. Und als solche ist sie hier nicht der Ort des individuellen Daseins, der subjektiven Verbindung zwischen Ich und Sein, sondern sie ist der Spiegel des Selbst. Strukturen und Inhalte, gebildet aus Gemeinschaft, im Raum der Luft erprobt, geprägt auf das Sein. Natur und Kultur formen kultivierte Natur aus Wille und Vorstellung, in einem begrenzten Raum. Die Spiegelung des Wir in der Natur und die entstehende Wechselwirkung als Gefühl. Die absolute Harmonie zwischen dem natürlichen Material und der menschlichen Konzeption. Schönheit.284 Und in ihrer Schönheit sich selbst genug. Eigentlich. Aber auch hier entsteht die Definition der Schönheit erst in einer Abgrenzung zu anderen. Die Zusammenführung der freien Menschen ist hier schon fast vollzogen. Aber noch sind es drei Bereiche in dieser Zone, die erst im Zentrum im Austausch stehen: In der Zone der Archaik. Aber vorher noch einmal kurz zurück zum vierten Teil. Das Zusammenlaufen der Zonen vollzieht sich in drei Bereichen, vom Ackerboden bis zur Schönheit, je dreimal nebeneinander. Der 284 Schönheit ist dabei zu begreifen als eine Atmosphäre, eine Art Stimmung, die auf den Menschen wirkt. Der Philosoph Gernot Böhme formuliert dazu: „Eine Atmosphäre muss man spüren. Das setzt leibliche Anwesenheit voraus, sei es nun, dass man eine Landschaft oder einen Raum aufsuchen muss oder sich der Ausstrahlung eines Kunstwerkes aussetzen. Man spürt die Atmosphäre in seinem Befinden und zwar als eine Tendenz, in eine bestimmte Stimmung zu geraten. Man wird von seiner Atmosphäre gestimmt.“ Zitat in: Böhme, Gernot: Architektur und Atmosphäre, S. 49. Und weiter: „Es gibt eigentlich nur eine einzige Atmosphäre, der philosophisches Nachdenken und wissenschaftliche Analyse gewidmet wurden, nämlich das Schöne. Allenfalls ist dem noch das Erhabene an die Seite zu stellen.“ Zitat in: ebd., S. 19. Zu diesem Aspekt schreibt der Psychologe Sigmund Freud: „(…) daß das Lebensglück vorwiegend im Genuss der Schönheit gesucht wird, wo immer sie sich unseren Sinnen und unserem Urteil zeigt, der Schönheit menschlicher Formen und Gesten, von Naturobjekten und Landschaften, künstlerischen und selbst wissenschaftlichen Schöpfungen. Diese ästhetische Einstellung zum Lebensziel bietet wenig Schutz gegen drohende Leiden, vermag aber für vieles zu entschädigen. Der Genuss an der Schönheit hat einen besonderen, milde berauschenden Empfindungscharakter. (…) Die Wissenschaft der Ästhetik untersucht die Bedingungen, unter denen das Schöne empfunden wird; über Natur und Herkunft der Schönheit hat sie keine Aufklärung geben können.“ Zitat in: Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, S. 49.

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gebaute Tópos besteht allerdings aus vier dieser Bereiche. Der vierte Bereich allerdings ist eigenständig und erwächst nicht aus dem subjektiven Dasein oder aus dem gemeinschaftlichen Selbst des Tópos, sondern aus der umfassenden Wechselwirkung, die im gesamten Outópos entsteht. Im Tópos zeigt sich dies in zwei Zonen, die nur in diesem Bereich zu finden sind. Nach außen hin ist dies die Zone der Verbindung. Eine Zone, die niedrig aus dem Boden erwächst, aber in die massige Ringstruktur übergeht. Hier erfolgt die Versorgung mit Manna und den Werkzeugen, die nicht im Tópos selbst hergestellt werden, ebenso wie das Verlassen des einen Tópos zu einem anderen, wenn man den Raum mit einem anderen Menschen tauscht. Daran schließt sich die Zone der Lager an, in der Kammern in eine massive Struktur geschnitten sind. Gefüllt mit den angelieferten Gütern auch der Ort, wo dem Menschen Mittel zur Landwirtschaft, wie Samen, bereitstehen und wo er bei Beeinträchtigungen seiner Körperlichkeit Versorgung erhält. Sozusagen ein Werkzeuglager, ein Landwirtschaftsdepot und eine Krankenstation. Formal ist dies der Gegenpol zur Schönheit und beide sind verbunden durch die Zone der Archaik. Die Archaik nun ist das Zentrum des Tópos und ein wichtiger Übergangsort im Outópos. Dominiert wird sie von dem Turm in der Mitte – beziehungsweise nicht ganz in der Mitte, denn das geometrische Zentrum ist nicht der Mittelpunkt des Turms, sondern dessen vordere Kante, zu der er sich in einer aufstrebenden Bewegung hin erstreckt. Diese Kante ist das Zentrum. Ein unscharfer Übergang, zu dessen einer Seite das scheinbare Nichts der Luft und zu dessen anderer Seite die Schwere der Masse steht. Der Übergang zwischen Nichts und Etwas, eine Schwelle, archaisch überhöht und auf 140 Metern Höhe einen leeren Raum darunter überkragend. Ein leerer großer Platz als Ort der kompletten Zusammenkunft der Menschen, rundherum gefasst durch eine in die Tiefe führende Treppenanlage, durch die das Erreichen der Mitte zuallererst ein Abstieg ist. Die Größe, die Form: All das hier ist nicht im menschlichen Maßstab. Es hat auch keinen Sinn, keinen Inhalt. Eine Ikone des Nichts und eine Ikone blanker Existenz. Reduziert auf die Archaik, in einer sakralen Erhabenheit. Passend! Denn wie ein Tempel auf eine göttliche Ordnung verweist, so markiert auch diese bauliche Geste den Ort des Übergangs. Die letzte Zone im baulichen Outópos: In der Archaik liegt der Zugang zur 292

Transzendenz Die Zone der Transzendenz ist scheinbar ein Wiederspruch in sich, steht doch die Transzendenz für die Überschreitung der Grenzen zu dem, was jenseits der Erfahrungen liegt, in einem scheinbar kosmischen, universellen Raum des Allumfassenden. Dies soll innerhalb einer Zone stattfinden? Ja mehr noch: innerhalb eines archaischen Gebäudes, das bei all seinen wuchtigen Proportionen doch klar begrenzt ist, den Raum in ihm reduziert, ihn durch seine Masse komprimiert und eine dunkle, enge und scheinbar leere Höhle schafft? Trotz der mystisch-religiösen Anklänge beschreibt der Begriff der Transzendenz doch sehr treffend, was hier passiert. Das, was das Ich ist, ist uns unbekannt und doch ist alles im Outópos von diesem Unbekannten her gedacht. Das Ich steht in Wechselwirkung mit dem Sein und wird zum Dasein. Anschließend wirkt es in das Sein und formt ein Selbst, subjektiv und kollektiv. Zusammen mit anderen bildet das Ich im Tópos Kontexte und Sinnbezüge zwischen Menschen und den Erscheinungen der Welt. In der Transzendenz wird dieser Rahmen entgrenzt und Sinnbezüge werden zu Konzepten – zu „reinen“ Konzepten. Das Sein wird nicht aus einer menschlichen Perspektive erfahrbar und erkennbar, sondern in den Relationen. In den Relationen, die hinter dem, was wir als Welt verstehen, liegen, dem Zusammenhang hinter dem Etwas; dem, was ist und das nicht als Postulat, sondern als stetiger Weg der Erkenntnis. Im Endeffekt ist der bauliche Körper des Tópos reiner Materialismus; in seiner Archaik kalt und in seiner Masse fast brutal. Aber dies ist notwendig, da er keine behagliche Struktur oder ein lieblicher Raum ist, sondern der Gegensatz. Er ist die andere Seite des Spannungsbogens, zu dem sich der Mensch in der Distanz in seiner Freiheit positionieren kann. Eine leere Fläche, die der Mensch sich kollektiv mit anderen aneignen kann und sich in ihrer Gestaltung, im Tun in ihr erfährt, sie aber nie ganz beherrscht, da ihr Maßstab seiner Körperlichkeit entzogen ist. Dieser harte Materialismus ist der notwendige Gegensatz zur Zone der Transzendenz, in der eine umfassende Aneignung, eine umfassende Wechselwirkung zwischen Ich und dem Abbild vom Sein möglich wird, als eine wachsende Erkenntnis im Abbild, das auf den Ursprung zurückweist. In der Umkehrung einer möglichen Annahme erwächst der Tópos aus der Freiheit und die Zone der Transzendenz aus der absoluten Kontrolle, verstanden als absolute Macht und demnach Herrschaft. Aber einer fundierten Herrschaft, die nicht direkt auf das Sein wirkt, sondern im Modus des Abbildes einer tendenziell wirklich umfassenden Erkenntnishoffnung folgt. Das, was in der Zone der Transzendenz passiert, ist eine lebendige Speicherung. In ihr finden sich Dinge, Perspektiven, Ikonen, Räume und Kontexte wieder; aber nicht als erstarrte Strukturen,

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sondern unter der Oberfläche der Konzepte in einem Volumen der tiefergehenden, umfassenden Wechselwirkung, die sich als verbindende Metaerfahrung- und Erkenntnis offenbart.285

Der virtuelle Ozean Die Zone der Transzendenz. Was ist sie nun? Eine Zone der Abbilder. Der Objekte. Warum sollten wir sie aufgeben? Vielleicht stimmt die Annahme zum Ich nicht. Vielleicht sind doch die Objekte das Ich, wenn auch wahrscheinlich nicht. Hier nun sind die Objekte und Dinge, aber fundiert. Objekte, die auf ihren tieferen Zusammenhang verweisen. Der Sinn ist in sie eingewoben, untrennbar und gerade dadurch nachvollziehbar. Der kritische Leser wird sich bisher vielleicht gedacht haben. Outópos? Alles schön und gut. Aber was ist das für eine kalte Welt? Der Mensch in der Natur, der Mensch als Gruppe. Wo ist all das, was das menschliche Leben, die menschliche Kultur auszeichnet? Was sie so einzigartig, lebendig macht? Wo sind die Bilder? Wo sind die Geschichten? 285 Der Begriff der Transzendenz bezeichnet im Outópos demnach nicht das Aufgehen in einem Eins, sondern gerade das Gegenteil: das Aufgehen in einer maximalen Mannigfaltigkeit. Die Historie des ursprünglichen Begriffes der Transzendenz (eingeführt durch Augustinus in Rückgriff auf Platon) fasst der Theologe Christoph Schwöbel so zusammen: „Dieses Eine ist das Prinzip, das allem, was ist, Sein und Sinn gibt, das, was jenseits des Ganzen liegt und – nach Plotin – sogar jenseits des Geistes, jenseits des Denkens. (…) Transzendenz ist also genau dieser Vorgang, in dem wir mit dem Höher-Steigen in den Prinzipien, von den Prinzipiaten angefangen, zum allerersten Prinzip, uns die Welt langsam transparent wird, und, wenn wir oben angekommen sind, die Welt nichts als viele Modifikationen des Einen ist. Das Problem ist, dass wir dann auch nicht mehr sind. Im letzten Schritt (…) verschmilzt der denkende Geist mit dem, was er denkt. (…) Das Endstadium bedeutet Selbstvernichtung.“ Zitat in: Schwöbel, Christoph: Wessen Transzendenz?, in: Gräb-Schmidt, Elisabeth/Häfele, Benjamin/Hölzchen, Christian P.: Transzendenz und Rationalität, S. 99.

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Wo sind Arien? Wo die Kathedralen? Wo ist die Wissenschaft? Wo ist die Philosophie? Wo die Spannung? Das Böse? Das Gute? Die Gegensätze und Spannungen, die doch erst das Entfalten von dem, was wir Kultur nennen, ermöglichen. Werke, geschaffen eben nicht aus einem Dasein, sondern aus dem Scheitern an ihm. Der unglücklich verliebte Komponist, der leidende Künstler, der Weltschmerz der Erneuerer. Wo sind sie und ihre Werke? Wo ist all das? Hier! In der Transzendenz. Sicher aufgehoben.286 Frei zugänglich und so mannigfaltig, wie es Perspektiven auf die Welt gibt. Vielleicht sogar darüber hinaus. Nicht als physischer Gegenstand, nicht als die vergängliche, immer unzureichende Prägung einer Idee auf das Medium des Materiellen. Ohne direkte Auswirkung auf den physischen Körper. Ohne einen Zwang zu einem bestimmten Dasein. 286 Denn dieser Aspekt kann vielleicht auch als der Kern von Kultur betrachtet werden, worauf auch der Filmwissenschaftler Edgar Reitz anhand des virtuellen Raumes des Kinos hinweist: „Wir können Flüchtiges, Vergängliches, die kurze Zeit des Lebens retten vor dem alles verschlingenden Tod. In jedem künstlerischen Projekt geht es darum, Teile unseres Lebens aus diesem Vernichtungsstrom der Zeit zu retten. Aber die Filmkunst öffnet uns einen besonderen geistigen Raum, den wir sonst nicht betreten durften. Er ist eine Welt von konkreten Erfahrungen, die unsterblich werden.“ Zitat in: Die Anfänge filmischer Erzählkunst, Edgar Reitz im Gespräch mit Hinderk M. Emrich, in: Emerich, Hinderk M./Reitz, Edgar: Der magische Raum, S. 50.

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Sondern als freie Gedanken, erfahrbar in ihren Abbildern. Klar, ewig und dadurch ... schön. Die Beschäftigung mit der Wahrnehmung des Menschen lehrt einen, dass unsere Welt der Wahrnehmungen ohnehin eine simulierte ist. Wir sehen nicht die echte Welt – falls es sie so überhaupt gibt –, sondern eine Simulation, die angeregt durch unsere Sinnesorgane in unserem Verstand errechnet wird. Unabhängig von allen Verfeinerungen der Definition ist damit unsere Welt virtuell. Virtuell dahingehend, dass wir Dinge und Erscheinungen wahrnehmen, aber das wie, also den Modus, wie sich dieser Erscheinungen bilden, gerade nicht. Wir können, sicherlich sehr fundierte Mutmaßungen darüber anstellen, Apparate zur Erweiterung entwickeln, aber diesen fundamentalen Rand der Erkenntnis können wir wohl nicht überschreiten. In Handlungen formen wir diese Welt. Wir kommunizieren, tauschen uns anhand von Gesten aus, die wir zeichenhaft in das Sein prägen und die doch ihren Sinngehalt nicht in sich tragen können. Wir können unsere virtuelle Welt des Verstandes nicht verlassen und wir können andere Verstandeswelten nur andeutungsweise nachvollziehen, wiederum durch eine Simulation, die künstlich in die Welt geformt ist. Dabei missbrauchen und verbrauchen wir das Sein. Trotz all der Bemühung scheint der Austausch in unserer künstlichen Welt nicht optimal zu funktionieren. Seit Jahrtausenden geht das so. Vielleicht ist es an der Zeit zu erkennen, dass etwas Grundsätzliches an dem ganzen Prozess falsch ist. Vielleicht liegen die Unzulänglichkeiten nicht in dem Wie – also darin, wie wir unsere Welt gestalten, sondern an dem Womit. An dem Material, dem Malgrund, auf den wir unsere Wunschbilder zeichnen. Vielleicht ist die Physis das falsche Medium. Wenn unsere Welt der Kultur letztlich eine Simulierte ist, wieso sie dann nicht komplett in einen simulierten Raum verlagern? Einen transzendenten Raum der Abbilder, der aber in seinen Relationen klar ablesbar ist, in dem die Räume nicht erstarrt, sondern lebendig sind.287 Einen Raum, der wächst, je mehr Erkenntnis aus 287 Das Verhältnis innerhalb dieser Zone kann damit als dem Konzept der „fließenden Räume“ vergleichbar betrachtet werden, das die Architekturtheoretikerin Margitta Buchert wie folgt formuliert und perspektiviert: „Zu erforschen, zu erkennen und dafür zu sensibilisieren, wie sich die Relationen von subjektiver Wahrneh-

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dem subjektiven Dasein in ihn eingebracht wird. In dem nicht eine, sondern viele Welten simuliert sind; und vor allem der Zusammenhang zwischen ihnen. Die simulierte Welt des Menschen ist die Kultur; sie entsteht durch Handlung, Interaktion, Wahrnehmung und Interpretation. Hier nun ist all das, was Kultur ist.288 Es wäre auch zu schade, wenn das alles wegfallen würde. Wenn all die Weltaneignungen, so unzureichend sie auch sein mögen, verschwinden. Wenn es gar keine Objekte mehr gäbe. Objekte zu gestalten, Objekte zu erforschen, Objekte zu verstehen, Objekte zu betrachten. Die Welt der Dinge, die Freude an Räumen, die Kultur in all ihren Facetten: Geborgen in der Transzendenz. Wie funktioniert das? Tja...

mung und objekthaften und unfassbaren Weltgefügen gestaltet, wie Innen und Außen in ein und demselben Vorstellungsraum gegenwärtig sein können, wie sich über Raum-, Zeit- und Bewegungserfahrungen die Lebendigkeit des Menschen in ‚bewegbaren‘ Rahmen der Geschichte situieren lässt, das könnte ein mögliches Zukunftsprojekt sein, das aus der Metapher der ‚fließenden Räume‘ Impulse gewinnt. Die geduldige Suche und Erforschung der unendlichen Virtualität von Raum, Zeit und Bewegung und ihre Vermittlung in der ästhetischen Praxis öffnet dann vielleicht Erfahrungswerte, die im Kontext einer transkulturellen, postkolonialistischen und durch Vielheit charakterisierten Verfassung der Gegenwart neue Qualitäten aufschließt. ‚Fließende Räume‘ könnte ein Beispiel sein für Situationen und Orte, in denen das Homogene das Heterogene nicht mehr bekämpft.“ Zitat in: Buchert, Margitta: Fließende Räume, in: Buchert, Margitta: In Bewegung… Architektur und Kunst, S.109 f. 288 Diese Zone kann ähnlich gedacht werden wie der sog. Cyberspace, geht aber weit über eine simulierte Gegenständlichkeit hinaus. Der Kunsthistoriker Oliver Grau fasst den Begriff in Bezug auf seinen Urheber, den Autor Willam Gibson, zusammen: „Gibson understood cyberspace to be an array of networked computer image spaces, a matrix, which as ‚collective hallucination‘ would find millions of users daily.” Zitat in: Grau, Oliver: Virtual Art, S. 16.

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Eine Transzendenz, eine Zone, die solches leisten könnte, müsste reine Kommunikation sein; reine Information und deren absolute Übertragung ohne Verluste und Interpretationen. Die Kommunikation zwischen Sender und Empfänger ohne Zeichen, da Sender und Empfänger letztlich eins sind.289 So etwas existiert noch nicht. Heutzutage ist diese Vereinigung von Sender und Empfänger nur ansatzweise in dem Bereich der technischen Kommunikation und ihrer künstlerischen Interpretation zu erahnen. In den Medien, wo technische Informationsübertragung mit einem subjektiven Empfindungsgehalt aufgeladen wird, wodurch die virtuellen Räume in Film, Computersimulation, aber auch Bild und Buchdruck entstehen. Die Technik der Transzendenz müsste diese virtuellen Räume unmittelbar abbilden. Sie müsste vom Wesen her selbst dieser virtuelle Raum sein; reine Virtualität. Dazu bräuchten wir aber eine neue Sprache der Virtualität. Momentan ist das, was unter Virtualität verstanden werden kann, ein unzureichendes Abbild. Die virtuellen Welten erreichen uns durch Träger, durch bestimmte Fachtechniken, die vereinzelt gegeneinanderstehen, aber auch manchmal kombiniert werden. Durch die Bestandsaufnahme des Great Game of Civilisation kann behauptet werden, dass dabei die Kulturtechnik des Visuellen momentan vorherrschend ist. Eine Welt der Bilder, die als Kommunikationsmittel die globalisierte Welt durchdringt. Der Grund, so ist zu vermuten, warum das so ist, liegt in der Ähnlichkeit zur primären Wahrnehmung der Welt. Dem Eindruck des Faktischen. Ich sehe etwas, also ist es da. Die visuelle Simulation kann aber nur so wirken, weil sie über eine lange Geschichte der visuellen Techniken verfügt. Eine große Kultur der Schaffung von Bildern und vor allem der Art, Bilder wahrzunehmen, Bilder zu lesen, was erlernt werden muss. Aber das Visuelle ist nur ein Reiz. Ein anderer mit einer ähnlichen Kultur ist die Akustik; Worte, Sprache, Töne, Melodien, Kompositionen. Aber wie steht es mit anderen Reizen. Eine Kultur des Geruches und des Schmeckens gibt es wohl noch. Aber eine Kultur des Tastens, des Körpergefühls, des Raumsinns? Die umfassende Simulation der virtuellen Welten, die ja letztlich nur in unserem Verstand existieren, kann nur erfolgen, wenn sie als Kultur all das vereint, was als Sinnreize im Körper zu ebendieser Simulation führt. Kultur, begriffen als das Verstehen durch beschreiben und erforschen der Weltzugänge aus dem Ich und ihrer Kultivierung in ein System – das steht noch aus. Aber auch wenn diese umfassende Simulation möglich wäre, sie wäre noch nicht die Gleichheit von Sender und Empfänger. Die reine Addition von Reizen ist nicht das Eine. Licht und Farbe auf der Leinwand bleibt Licht und Farbe auf der Leinwand, auch wenn sich Musik dazugesellt, denn dann ist es halt Licht und Farbe auf der Leinwand mit Ton aus der Box. Eine neue Sprache der 289 Auch ein anderer Utopist dachte für seine, allerdings religiös geprägte Utopie, an eine universelle Sprache: „Denn nicht der weiß mehr, der bald in dieser, bald in jener Sprache spricht, sondern der mit Gott spricht.“ Zitat J.V Andreae, in: Andreae, J.V./Biesterfeld, Wolfgang: Christianopolis, S. 84.

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Virtualität braucht auch eine neue Schnittstelle und eine direkte Verbindung zwischen Ich und Abbild in einer Ganzkörperlichkeit der virtuellen Erfahrung. Die noch fehlende Aussicht, was das sein könnte, charakterisiert den Outópos als das, was er ist: eine Utopie. Wenn die Voraussetzung für seine Verwirklichung vorhanden wäre, wäre er ja ein Konzept, eine Idee oder vielleicht eine Vision. Aber es ist die Freiheit diese Nicht –Ortes, dass er Behauptungen zulässt, denn als Nichts kann er ja auch nur ein Nichts entgegensetzen. Also sei postuliert, dass im Outópos anhand der Zone der Transzendenz eine ganzkörperliche Erfahrung von simulierten Abbildern möglich ist. Die Welt nun, die sich hier dem Menschen entfaltet, ist die Welt der Objekte, Dinge und Räume. Geschmäcker, Gerüche, Eindrücke, Erkenntnisse, Geschichten, Mythen, Emotionen – all das im ganzen Panoptikum der Möglichkeiten, gebunden an Abbildern oder auch frei, im reinen Zugang. Frei für jeden Menschen zugänglich, ohne Einschränkungen in Aneignung, Betrachtung und Gestaltung. Ein Ort, an dem es alles gibt und alles möglich ist, der aber kein Selbstzweck ist; kein reines Entertainment oder nur Belustigung und Ablenkung. Dies mag durchaus auch der Fall sein, aber die Aufgabe der Zone der Transzendenz ist eine wesentlichere. In ihr werden Abbilder geschaffen, mit dem Ziel, ein fundiertes, perfektes Bild zu zeichnen. Einen Raum der Erkenntnis zu schaffen, der ein Abbild aller Daseinsformen ist und gerade dadurch über die Perspektive der Subjektivität hinausweist. Ein gigantischer Speicher des Subjektiven, aber auch ein gigantischer Speicher des Wissens, des Verbindenden, der Erkenntnis. Eine umfassende Relation, in der alle Informationen frei fließen. Eine Kette des Gedachten und Gemachten, in der die eigentlichen Gedanken des Menschen vor dem Verfall gerettet werden. Nicht nur die Zeichen, die Dinge wie z. B. die Sprache, die immer unzureichend sind, aber durch ihre Unzulänglichkeit erhaltenswert bleiben; sondern die Speicherung des Selbst durch die Speicherung von Kontexten und Konzepten. Es sind die Relationen zwischen Ich und Sein, die hier gesichert werden – und zwar dadurch, dass der Mensch in dieser Zone sich in eine virtuelle Welt begibt und gleichzeitig Teil von ihr wird, sie gestaltet und bereichert. Betrachtet man diese Virtualität bildlich als einen Ozean, in den alles, was Kultur ist, überführt wurde, sind die Dinge und Erscheinungen wie Treibgut an der Oberfläche.290 In ihrer Bewegung dem Wind überlassen, aber vor allem abhängig von den Strömungen, von der Beschaffenheit der Tiefe und von dem Volumen des Ozeans der Virtualität, der sich unter ihnen erstreckt.

290 Dies ist als Bezug auf den vermeintlich ersten Satz der Philosophie zu sehen, den Ausspruch des Dichter Musaios, wie ihn der Philosoph Hans Blumenberg beschreibt und zitiert: „(…) ‚Alles ist Wasser‘ (…) ‚Alles ist eins‘ (…).“ Zitat in: Blumenberg, Hans: Das Lachen der Thrakerin, S. 143.

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Der Gott der Erkenntnis Unsere Welt der Wahrnehmung ist Oberfläche. Weder können wir Volumen erfassen, noch die Prozesse wahrnehmen, durch die in unserem Verstand unsere Welt entsteht. Wir sind Gefangene der Perspektive, die wir ständig erweitern, ständig ändern können – mit Werkzeugen gelangen wir von der Mikro-Ansicht bis zur entgrenzten Betrachtung aus weiter Ferne –, aber doch bleibt der Modus der Perspektive immer erhalten. Auch wenn wir in einer Simulation des Volumens die Erde am Computerbildschirm aufschneiden, vom Rand zum Kern und wieder zurückfliegen und von der Perspektive des Astronauten zu der Perspektive des Atoms wechseln: Es bleibt doch immer nur Licht im Wechsel, induziert auf der Oberfläche des Monitors. Das Volumen, die Tiefe hinter der Fläche, bleibt uns verborgen. Lediglich indirekt ist sie, in der Herleitung als Kategorie, begreifbar. Auch das Ich ist nicht erfassbar, genauso wenig wie das Sein. Als Kategorien sind sie ebenfalls nur indirekt erfahrbar und begreifbar im Raum des Selbst und in den Formen des Daseins. Die Zone der Transzendenz ermöglicht ein Versinken, ein Loslassen von der Oberfläche des Treibgutes der Dinge, hin zu der Tiefe und dem Ursprung dieser Dinge und Erscheinungen; ein Eintauchen in den Ozean der Erfahrungen, hin zu den Relationen einer verbindende Metaerfahrung im universellen Selbst. Keine Hinwendung zum Sein oder zum Ich, die sich in der Wildnis oder den Räumen des Menschen befinden, sondern zu all dem, was das Selbst umfasst. Die möglichen Ichs und die Welt der erstarrten Räume sind verflüssigt im Ozean der Virtualität; sind gelöst aus ihrer Erstarrung und befreit von den Grenzen. Freie Wechselwirkungen zwischen Konzepten und Kontexten und dem, was aus ihnen entsteht. Es ist wie bei den Sphären von making an object. Das Objekt besteht aus unzähligen anderen Objekten – je nachdem, wie wir unseren Blick auf es richten –, und doch ist es in den Relationen verbunden und eigentlich nur durch die Relationen existent, die in uns entstehen und sich in der Physis spiegeln.291 In diesem Ozean der Virtualität nun, der Zone der Transzendenz, müssen Subjekt und Objekt verbunden sein. Es ist wie mit dem alten Witz zum Dekonstruktivismus: Ein Dekonstruktivist untersucht eine Hose. Er zerlegt sie in alle Einzelfäden, die er fein säuberlich nebeneinander aufreiht, vermisst und katalogisiert; nur um am Ende festzustellen, dass der Anfangsbefund, nämlich die Hose, verschwunden ist. Die zu entwickelnde neue, absolute Sprache der Virtualität muss beides vereinen: Die Hose und die Fäden; ebenso wie alle Perspektiven auf 291 In der Computertechnik wird dahingehend auch an künstlichen neuronalen Netzwerken geforscht. Darunter versteht man Systeme, die wie die Neuronen im Gehirn nicht dualistisch, sondern anhand einer maximalen Anzahl von Verbindungen untereinander aufgebaut sind. Vgl.: Kipper, Jens: Künstliche Intelligenz, S. 15.

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sie. Kein Dualismus zwischen Betrachter und Objekt, zwischen Sender und Empfänger, sondern ein ganzheitliches Dasein in den Sphären und Relationen, die einem Etwas zugrunde liegen. Dies kann nur erfolgen, wenn die Schnittstelle zwischen dem Ich und den Objekten, das mögliche Ich oder die Perspektive, in den Erscheinungen inkludiert ist; wenn ein Eintauchen in die Perspektive erfolgen kann. Machen wir es konkret: Verstehen wir das Eintauchen in die Perspektive mal als ein Spiel. Als ein Rollenspiel, in dem wir uns einer Person oder einem historisch-gesellschaftlichen Kontext annähern. Nehmen wir mal die Figur Napoleon – unzweifelhaft mal ein echter Mensch; aber in der Gegenwart eine Figur. Ein Ding, geschaffen durch die Bilder, die historischen Analysen, die Darstellung eines gewissen Zeitkolorits in ikonischen Zeichen und Symbolen. Alles Werke der Kontextualisierung und der Beschreibung aus einer bestimmten Perspektive, geformt und gerahmt zu einem Objekt. Nun kann man sich einen Napoleonhut aufsetzen, die Hand in eine geliehene Uniform stecken und sagen: Ich bin Napoleon. So etwas gibt es ja. Aber ist man damit dem Subjekt, seinem Selbst und all dem, was daraus an Erscheinungen und Ergebnissen resultiert, nähergekommen? Oder addiert man in einer Agglomeration nur leere Zeichen in einer scheinbaren Annäherung, die verdeckt, dass man einer ganzheitlichen Erfassung kein Stück näher ist? Ein Konzept als Kontext, aber doch leer und beliebig. Ein anderes Beispiel: Bei den Lehren antiker Philosophen sehen wir nicht die Ur-Texte, auch wenn sie manchmal erhalten sein mögen. Was wir sehen, ist das Treibgut der Geschichte in Form von Interpretationen und Beschreibungen, das sich über sie gelagert hat. Alles ist eine Deutung und eine Aneignung durch andere. Eine Interpretation, die schon durch so etwas wie eine Übersetzung, eine Verlagerung in einen anderen Kontext, entsteht. Wir lesen nicht den Urtext – nie –, und die Gedanken, die zum dem geschriebenen Wort führten, sind uns verschlossen. Wir können die Relationen, die zu der Erscheinung von z. B. Platons Höhlengleichnis führten, nur indirekt nachvollziehen und dies mitunter relativ präzise, aber der Urtext der Gedanken – er ist verschwunden, wie eine dekonstruierte Hose. In der Zone der Transzendenz, im Zentrum des Outópos nun, bleibt dieser Urtext erhalten. Wir lesen nicht Platon, wir sind Platon. Wir sind seine Kontexte und gleichzeitig seine Konzepte. Wir sind sein umfassendes Abbild und sehen die Welt aus seiner Perspektive. Wandeln als er durch verschiedene Kontexte; nehmen wahr und handeln als er und können dadurch seine Gedanken nachvollziehen. Sie zu unseren machen, in der Aneignung eines möglichen Ichs. Ein ständiger Perspektivwechsel, ein Gleiten auf den Verbindungsbahnen des subjektiven und kollektiven Verstandes. Ein Ausleben und Ausprobieren der Rollen. Was wäre Ich als Platon im Kontext Napoleons? Was für neue Konzepte ergäben sich daraus? All die Querverbindungen stünden offen und 306

sie sind, auf einer grundlegenden Ebene, gar nicht so weit weg von dem, wie wir uns im Great Game of Civilization verhalten. Aber mit einem Unterschied: Sie bleiben immer Abbild.292 Sie sind nicht eingewoben in die Existenz des Seins. Sie sind nicht lebensbedrohlich. Sie stehen nicht in einem existentialistischen Wettkampf zueinander. Die Perspektiven sind frei. Frei wie der Mensch. Leider werden im Outópos und im Ozean der Virtualität Napoleon und Platon nicht auftauchen. Sie sind im zeitlichen Kontext des Great Game of Civilization verhaftet und in diesem werden die Perspektiven nicht gespeichert. Nur unzureichende Zeichen verweisen auf sie. Das Subjekt ist verschwunden, was bleibt, ist eine gegenwärtige, subjektive Perspektive auf sie. Vielleicht könnte man die Perspektive eines Schauspielers, der Napoleon spielt, nachvollziehen. Aber auch dieser Schauspieler müsste vorher Teil des virtuellen Ozeans werden und durch den Zugang der Archaik vom Dasein in die Zone der Transzendenz gelangen. Im Outópos sein. Aber wäre er dann noch ein Schauspieler? Der Outópos manifestiert sich im Baulichen und Virtuellen, aber er konstruiert sich aus den Menschen in ihm und ihren Daseinsformen. Durch eine neue Sprache der Virtualität, eine neue Schnittstelle, bleibt der Kontext dieser Menschen in ihm erhalten. Alles, was sie einbringen und alles, was sie in der Virtualität sind, bleibt – für alle offen zum Nacherfahren und zum Variieren. Das eigene Ich in einem anderen möglichen Ich. Verrät das nicht vielleicht auch etwas über das Ich? Der Ozean der Virtualität speichert alles, wenn der Mensch die Transzendenz betritt – was er ja nicht zwingend muss. Der Ozean wächst durch das subjektive und kollektive Dasein, das der Mensch in ihn einbringt, und aus den Verbindungen und Variationen, die daraus entstehen. Wie bereits erwähnt, ist das alles kein Selbstzweck. Die Erweiterung des Menschen durch das wirkliche, tiefe Nachvollziehen von anderen Perspektiven bereichert ihn, aber der Sinn der Zone der Transzendenz liegt in der Erkenntnis, in der stetig wachsenden Erkenntnis des Seins und des Ichs. Geschaffen in einem Raum der Abbilder, aber eben der fundierten Abbilder, die sich stets zurückführen lassen auf ihre Teile und ihren Ursprung. Es ist eigentlich das Konzept der modernen Wissenschaften, was hier verfolgt wird, nur losgelöst von seinen Beschränkungen. Eigentlich eine Befreiung der Wissenschaft. Wissenschaft verstanden als ein Dialog der Perspektiven. Aber nicht der Behauptungen, sondern der fundierten Analyse bestimmter Perspektiven auf das Sein, die in ihrer Konstruktion, ihrer Methode schlüssig und nachvollziehbar – vielleicht sogar übertragbar – sind. Es scheint kein Zufall, dass das, was wir heute als Wissenschaft verstehen, ungefähr mit der Renaissance der Perspektive und der Betonung des Dualismus zwischen Ich und Sein begann. 292 Im Endeffekt Metabilder. Bilder über Bilder, die sich auf andere Bilder beziehen. Vgl.: Mitchel, W.J.T.: Bildtheorie, S. 172 ff.

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Auch wenn manche es postulieren: Dieser Weg scheint noch lange nicht abgeschlossen. Wir haben bei Weitem nicht alles verstanden; vermutlich nicht mal ansatzweise. Eher ist die Erkenntnis bedroht – durch die immer stärker werdenden Schnittstellen, die unzureichende Codierung in z. B. Sprache und den Verlust des Wissens, gerade zu Beginn des digitalen Zeitalters. Oder können Sie eine Information, die nur auf Lochkarten vorliegt, heutzutage noch ohne Weiteres lesen? Oder ihren Kontext nachempfinden? Wissenschaft im Outópos – Erkenntnis im Outópos – verzichtet auf die Objekte und sie verzichtet auf die Verwendung von Zeichen, die doch nichts bezeichnen. Der Weg dahin kann wiederum nur über eine schlüssige Vereinigung von subjektiver Weltbildung und Objektivierung erfolgen, durch das Zusammengehen von Untersuchenden und Untersuchtem, von Betrachter und Ding, von Subjekt und Objekt.293 Wie? Eine Entwicklungsaufgabe, aber auch diese ist im Outópos schon vollzogen. Der Mensch bringt sein subjektives und kollektives Dasein, all sein Selbst vollumfassend in den Ozean der Virtualität ein. Dort bleiben sie für immer lesbar, nachvollziehbar anhand der Perspektive, und lösen sich doch auf. Interagieren in stetig neuen Wechselwirkungen, die doch die Ursprungsrelation immer behalten. Neues kann entstehen. Neue Perspektiven, die sich autopoetisch aus der Kombination entwickeln. Meta-Perspektive in flüssigen Räumen, die durch ständig neue Perspektiven eingefasst werden und neue Erkenntnis anhand der Relationen

293 Dahinter steht eigentlich die Annahme einer Wissenschaft als Theorie-Theorie über Beobachtung. In diesem Sinne erfolgt das Erkennen von Etwas erst anhand der zuvor gebildeten Theorie, was stetige Offenlegung und Nachvollziehbarkeit mit sich bringt. Der Medienwissenschaftler Thomas A. Bauer fasst dies so zusammen: „In diesem Sinne ist Wissenschaft ein diskursiv-kommunikatives System, das (wie Alltagstheorien auch, wenngleich im Kontext metatheoretischer Ordnung) Wirklichkeit konstruiert, das ihre Konstruktionen aber offen legt, was nur geht, wenn und weil sie zur Disposition steht.“ Zitat in: Bauer, Thomas A.: Kommunikation wissenschaftlich denken, S.  61. Die Offenlegung der wissenschaftlichen Erkenntniswege kann im Verhältnis zum Objekt als bedeutend angesehen werden, weil es immer auch die Frage des Subjektiven, also der grundlegenden Genese von Gedanken offenlegt. Der Philosoph Max Stirner bietet hierzu einen interessanten Perspektivwechsel: „Das freie Denken und die freie Wissenschaft beschäftigt Mich – denn nicht Ich bin frei, nicht Ich beschäftige Mich, sondern das Denken ist frei und beschäftigt Mich (…).“ Zitat in: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum, S. 245. Diese Metaerfahrung des Wissens und der Erkenntnis charakterisiert sich als „reines“ Wissen, also verstanden als ein eigenes Subjekt und nicht als ein objektiviertes Abbild von Wissen. Hierzu der Biologe Humberto R. Maturana: „Lebende Systeme sind kognitive Systeme, und Leben heißt Wissen.“ Zitat in: Maturana, Humberto R.: Biologie der Realität, S. 194. Auch der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel beschreibt die Verschränkung von Subjekt und Objekt in der Erkenntnis, wenn er formuliert: „Das wissenschaftliche Erkennen erfordert aber vielmehr, sich dem Leben des Gegenstandes zu übergeben oder was dasselbe ist, die innere Notwendigkeit desselben vor sich zu haben und auszusprechen. Sich so in seinem Gegenstand vertiefend, vergißt es jener Übersicht, welche nur die Reflexion des Wissens aus dem Inhalt in sich selbst ist.“ Zitat in: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, S. 43.

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erzeugen; immer fundiert, immer nachvollziehbar, auf ewig gespeichert auch dann, wenn das Dasein erlischt. Euphemistisch gesprochen bleibt im Ozean der Virtualität die Perspektive der Toten erhalten. Sie bleibt lebendig im kollektiven, gespeicherten Selbst, eigenständig und auch nachvollziehbar sowie fähig zur Kommunikation und zum Austausch. Die Zone der Transzendenz im Outópos kann verstanden werden als ein Traum – als ein Traum vom Jenseits. In ihr ist nicht das Sein vorhanden, sondern ein Abbild. Aber dieses Abbild im virtuellen Ozean kann begriffen werden als Manifestation der menschlichen Jenseitsvorstellungen. Es scheint ein menschliches Grundbedürfnis zu sein, sich Bilder vom Jenseits zu machen. In allen Kulturen finden wir diese, wenn auch in den unterschiedlichsten Ausprägungen. Mit dem, was im und nach dem Tod eintritt, haben sie wahrscheinlich nichts zu tun. Wir können über den Rand von Ich und Sein nicht hinausblicken und schon gar nicht können wir das gedanklich erfassen, was entsteht, wenn die Eckpfeiler Ich und Sein nicht mehr existieren. Der menschengemachte Kontext des Jenseits ist ein Bild, ein Abbild. Im Kern teilen sich alle Jenseitsvorstellungen einen entscheidenden Aspekt: Den umfassenden Zusammenhang. Den großen Bogen, der alles auch über das Dasein hinaus integriert und in einer sinnvollen Ordnung arrangiert. Ob das im Tod eintritt? Ob sowas überhaupt existiert oder nur eine Wunschvorstellung ist? Keiner weiß es. Die Ränder definieren uns. Aber dieser Kern des umfassenden Zusammenhangs scheint ein Signum des Menschen zu sein. Er scheint in ihn eingewoben, obwohl er nur ein Abbild von etwas ist, was wir nicht wissen können. Aber vielleicht lässt sich dieser umfassende Zusammenhang im Virtuellen schaffen, im kollektiven Selbst der Lebenden, der Toten und der Erkenntnis. Ein Königreich Gottes. Aber fundiert! Kein Postulat. Keine vermeintliche Wahrheit, die nicht erkenntnistheoretisch nachvollzogen und an die nur, wie bei der Herrschaft, geglaubt werden kann, sondern eine wachsende, stets werdende Erkenntnis. Eine Erkenntnis die sich ihrer Begrenzung bewusst ist, aber ständig Neues integriert, lernt, versteht und durch das menschliche Dasein mit dem Menschen in direkter Kommunikation verbunden ist. Die Werdung Gottes! Nicht ein Gott des Seins, sondern ein Gott im Abbild.294 294 Im Endeffekt ist das die Verschränkung zweier Gottesbilder, die der Philosoph Tobias Holischka wie folgt zusammenfasst: „Spinoza versteht Gott als Virtualität – im Sinne von virtus, Kraft -, denn er bringt hervor, jedoch nicht als Verwirklichung von Möglichkeiten, denn sein Wirken ist notwendig und vollkommen. Er ist als Virtualität höchst wirklich, dabei aber unkörperlich. Leibniz wiederum bestimmt das Virtuelle als

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Eine nach umfassender Erkenntnis strebende Wesenheit, ein Zusammenschluss von all dem, was zwischen Sein und Ich existiert, bereichert durch entstehende, autopoetische Perspektiven. Etwas allumfassendes im dauernden Werden. Der werdende Gott als fundiertes und perfektes Abbild der werdenden Welt, in einem unendlichen Ozean der Relationen, gefasst in der Zone der Transzendenz.

Entgrenzungen Der erste Mensch gestaltet die Welt. Er ist ein Schöpfer. Er formt Dinge und Strukturen im Sein, nach den Vorgaben einer Idee, eines Konzeptes, einer Relation, die sich im Austausch zwischen Ich und Sein, subjektiv oder kollektiv, bildet. Er folgt dabei einem möglichen Ich; einer Projektion von erdachten Zuständen, die richtungsweisend die Bahnen seines Handelns vorgeben und genau die eine oder andere Aktion zulassen, die als Kontext in ihr definiert wurden. Aber auch wenn er das mit so vielen Perspektiven wie möglich abgleicht und sich bei anderen rückversichert, so bleibt er doch immer dem Rahmen der Perspektive verhaftet. Sein Denken und Handeln erfolgt Autodynamik, als eine aus sich selbst heraus wirkende Kraft, die den Monaden als einfachsten virtuellen Substanzen zugrunde liegt, aus welchen wiederum die Welt zusammengesetzt ist. Leibniz’ Monaden existieren in einem virtuellen Raum, der der Welt vorhergeht und aus dem Gott das zu Verwirklichende selektiert, sie sind also auch ohne Verwirklichung existent.“ Zitat in: Holischka, Tobias: Cyber Places, S. 15 f. Dieses geistige Gebiet des Jenseits und die Verschmelzung mit der Erkenntnis beschreibt der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel: „Das Ziel, das absolute Wissen, oder der sich als Geist wissende Geist hat zu seinem Weg die Erinnerungen der Geister, wie sie an ihnen selbst sind und die Organisation ihres Reiches vollbringen. Ihre Aufbewahrung nach der Seite ihres freien in der Form der Zufälligkeit erscheinenden Daseins ist die Geschichte, nach der Seite ihrer begriffenen Organisation aber die Wissenschaft des erscheinenden Wissens; beide zusammen, die begriffene Geschichte, bilden die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewißheit seines Thrones, ohne den er der leblose Einsame wäre; nur – aus dem Kelch dieses Geisterreiches schäumt ihm seine Unendlichkeit.“ Zitat in: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, S. 543. Das Konzept Gottes als ein durch den Menschen Werdendes hat übrigens der Philosoph Friedrich Nietzsche als Irrweg gesehen: „Gerechtigkeit gegen den werdenden Gott. – Wenn sich die ganze Geschichte der Kultur vor den Blicken auftut, als ein Gewirr von bösen und edlen, wahren und falschen Vorstellungen, und es Einem beim Anblick des Wellenschlages fast seekrank zumute wird, so begreift man, was für ein Trost in der Vorstellung eines werdenden Gottes liegt: dieser enthüllt sich immer mehr in den Verwandlungen und Schicksalen der Menschheit, es ist nicht Alles blinde Mechanik, sinn- und zweckloses Durcheinanderspielen von Kräften. Die Vergottung des Werdens ist ein metaphysischer Ausblick – gleichsam von einem Leuchtturm am Meere der Geschichte herab – an welchem eine allzuviel historisierende Gelehrtengeneration ihren Trost fand; darüber darf man nicht böse werden, so irrtümlich jene Vorstellung auch sein mag.“ Zitat in: Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches, in: Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Also sprach Zarathustra. Jenseits von Gut und Böse, S. 198.

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nicht aus der Erkenntnis des Seins heraus, sondern aus einem kleinen Ausschnitt, der vielleicht sogar nur eine Projektion ist, als eine Einbildung im Selbst: postulierte Herrschaft. Der Kreislauf zwischen Menschen, ihren Konzepten und ihren Kontexten ist hierbei kein Kreislauf im Subjekt, sondern eher eine Prägung des eigenen Ichs in andere. Ein mögliches Ich, das sich durch die Gestaltung in anderen manifestiert. Eine erhoffte Entgrenzung, aber eben doch nur eine Begrenzung und Erstarrung in einem externalisierten Kreislauf zwischen Wahrnehmung oder Handlung. Die Gestaltung gehört zum Menschen; er kann scheinbar gar nicht anders. Seine Welt bildet sich im Wahrnehmen und Handeln. Er folgt, wenn er nicht gerade eins im Dasein ist, einem möglichen Ich. Aber sollte dieses mögliche Ich nicht fundiert sein? Sollte es nicht etwas sein, das eben nicht aus seiner begrenzten Perspektive entsteht? Der Gott des Abbildes, der werdende Gott in der Zone der Transzendenz. Er ist das perfekte Abbild der Welt. Er ist das mögliche Ich. Nicht begrenzt auf eine Perspektive, sondern ein Zusammenschluss maximal vieler Perspektiven. Immer neue Perspektiven im Austausch und immer neue Perspektiven auf die Perspektiven, immer abstrakter im Konzept, endlos potenziert. Ein kollektiver Geist als ein nachvollziehbarer und fundierter Gott – wem der Begriff unzureichend erscheint, der mag von einer Superintelligenz sprechen.295 Ein Gott der Virtualität, geboren im kollektiven Selbst; aber wozu braucht man ihn? Wozu brauchen wir die Kategorie Gott im Outópos? Um den Kreislauf zu schließen! Um den langen Weg vom Ich zum Sein über das Selbst zu vollenden und die Verbindung zum Dasein zu ermöglichen. Dies funktioniert nur durch den letzten Baustein im Outópos, der letzten Zone, die keine Zone ist, sondern ein Fragment: die Megastruktur der Maschinen. Maschinen? Nicht verstanden als Werkzeuge. Nicht verstanden als Objekte, sondern als Schnittstellen; als Übergang vom kollektiven Selbst zum Sein. Eine Rückwirkung auf das Sein, die gleichzeitig die Be295 Eigentlich ist das aber fast das gleiche, da eine Superintelligenz in der KI-Forschung als jenseits menschlicher Rationalität definiert ist und sie aufgrund von Allwissenheit über göttliche Attribute verfügt. Vgl.: Ulshöfer, Gotlind: Künstliche Intelligenz zwischen Rationalität und Transzendenz? in: Gräb-Schmidt, Elisabeth/Häfele, Benjamin/Hölzchen, Christian P.: Transzendenz und Rationalität, S. 242.

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dingungen für das Dasein schafft. Der Mensch ist ein Mängelwesen. Er muss in seiner Existenz unterstützt werden, und zwar bedingungslos, und er braucht Werkzeuge zur Erweiterung seiner Körperhaftigkeit. Er braucht Manna und Wasser zu Sicherung seiner Lebensenergie. Er braucht den baulichen Outópos. Aber wo kommt all das her? Wenn der Mensch es selber schafft, ist er wieder in Unfreiheit und in Räumen segregiert, wo er Objekte optimiert für andere herstellt. Die Bedingungen für die Existenz des freien Menschen können nicht in ihm liegen, und auch nicht in einem anderen – beide wären dann keine freien Menschen mehr. Sie kann nur außerhalb seines Ichs liegen, im kollektiven Selbst der Transzendenz, in der ein Mehr durch autopoetische Vervielfältigung entsteht. Eine Erweiterung durch den Austausch und virtuelles Wachstum durch Wechselwirkung. Gott, geschaffen aus dem Menschen, wirkt in das Sein und die Megastruktur der Maschinen ist dazu die Schnittstelle. In ihr werden die Bedingungen für das menschliche Dasein hergestellt, werden die Strukturen gebaut und das Manna erzeugt. Maschinen, nicht bedient von einzelnen Menschen, sondern erschaffen und gesteuert durch den kollektiven Geist. Eine Wechselwirkung zwischen Sein und Selbst, aber eben fundiert. Handlungen im Sein, die zwar nicht aus einer absoluten, aber zumindest aus einer potentiell umfassenden Perspektive erfolgen. Eingriffe in das Sein, die aus der Erkenntnis aller, die im Outópos existieren und existierten, und aus den unterschiedlichen Perspektiven auf sie erfolgen. Objekte, nicht aus der begrenzten Perspektive des Individuums oder aus der inhaltslosen und zeichenhaften Perspektive der Herrschaft heraus geschaffen, sondern aus dem Sein durch das Dasein und in kollektiver Selbstbildung zur umfassenden Erkenntnis wieder in das Sein; ebenso wieder aus dem Sein in die Erkenntnis in das kollektive Selbst. Ein Kreislauf in beide Richtungen, ebenso fundiert und damit Wissenschaft als kollektive und nicht als partielle Erkenntnis. Die Verbindung von Sein und Selbst im Wahrnehmen und im Handeln – nicht aus einer Perspektive, sondern aus dem Ozean der Perspektiven. Geistige und weltliche Macht fusioniert in einem Eins-Sein aller Selbst in der Kategorie des Gottes zum Sein als Bedingung des Daseins. Die Maschinen im Outópos sind anders als das, was wir heute unter dem Begriff verstehen. Genauso wie der Mensch und das Sein sind sie befreit – befreit von der menschlichen Perspektive. Technik, wie wir sie heute verstehen, ist begrenzt durch Schnittstellen, die sich vor allem zum Menschen ausbilden, denn sie entspringen seiner immer auch begrenzten Erkenntnis von der Welt. Technik, wie wir sie heute verstehen, ist eigentlich mehr Experiment am Sein. Dadurch wiederum erkenntnisfördernd, aber auch mit teils drastischen Auswirkungen auf Natur, Umwelt und den Menschen. Ebenso ist sie immer in der menschlichen Dimension verhaftet. Sie entspringt seiner Körperhaftigkeit und in dieser Begrenzung ist sie nicht einer reinen Methode, einem reinen Zweck verpflichtet, sondern gefangen in der menschlichen Zuwendung. Auch wenn sie komplex 314

ist, ist sie hochkomplizierte Agglomeration unterschiedlichster Einzellösungen. Die menschliche Perspektive ist in ihr immer inkludiert und behindert so eine nachhaltige, weil reibungslose Anwendung von Methoden im Sein genauso wie die Erkenntnis über das Sein. Eine Orgel z. B. mag noch so groß und komplex in ihrer inneren Mechaniken sein, dennoch verfügt sie immer über die Schnittstelle zum Menschen. Über die Tasten zum Anschlag des Organisten ebenso wie über den Zugang für den, der ihre Einzelteile wartet und reinigt. Was für Töne wären möglich, wenn diese Orgel aus dem Gefängnis der menschlichen Perspektive befreit wäre? Einer Perspektive, die aus der Wechselwirkung zwischen Ich und Sein entsteht. Im Outópos sind die Maschinen frei, weil sie sich nicht aus der begrenzten Perspektive des Einzelnen ableiten, sondern aus der Zone der Transzendenz. Dem Ozean der Virtualität, der ja gerade dadurch definiert ist, dass er ein Abbild ist. Kommunikation, das reine kollektive Selbst, das Ich und das Sein, erzeugen ihn, aber definieren ihn nicht. In der Virtualität ist das Selbst skalierbar. Es ist nicht den Zwängen und Impulsen des Daseins unterworfen und gerade dadurch sind die Maschinen auch frei skalierbar. Die Prägung des kollektiven Selbst in das Sein – der Gott in der Welt – erfolgt nicht in der Begrenzung, sondern einzig und allein nach der inneren Logik und dem Zweck der Maschine, die dadurch keine Agglomeration mehr ist, sondern Eins. Eins mit dem Sein, geformt aus der göttlichen Kategorie und Perspektive. Die Megastruktur der Maschinen im Outópos befindet sich in der Wildnis. Sie ist ein Fragment, das in seinem Ausmaß einem Zweck unterworfen und so in seinem Umfang begrenzt ist. Die anderen Zonen des Outópos dürfen von ihr nicht tangiert werden. Einzig in der Wildnis darf dies erfolgen und auch dort nur nach der maximierten Erkenntnis und eingewoben in das Prinzip der Wechselwirkung und damit des Ausgleiches, dem der Outópos unterworfen ist. Die Produktion von Manna z. B. folgt nicht einer Logik der Maximierung und sie folgt auch keiner Logik des unbegrenzten Wachstums, die vielleicht aus der Gier oder Angst entspringt. Die Mannaproduktion ist autonom und sie ist genau an die Anzahl der freien Menschen angepasst. Keine Überproduktion und keine Unterproduktion, sondern ein Ausgleich zwischen Mensch und Natur mithilfe einer perfektionierten Technik. Einer Technik, die in sich ruht, da sie ein ewiges System ist und die das Sein verändert, indem sie mit dem Sein arbeitet. Sie ist keine Prägung eines Konzeptes in das Sein, sondern in einem begrenzten Bereich durch die Perspektive des kollektiven Gottes das Sein selbst. Absoluter Determinismus und absolute Macht der Erkenntnis, aber nicht allumfassend, nicht universell, sondern eingewoben in die harmonische Wechselwirkung zwischen den unterschiedlichen Zonen im Outópos. Technik, die nicht das Ich bestimmt, sondern unterstützt; nicht das Dasein des freien Menschen kontrolliert, sondern die Grundlagen bewahrt. Absolute Technik, gefasst durch freies Sein. 315

Meta Outópos: Ein umfassender Kreislauf, ein stetiger Strom der freien Impulse, der ungebremst und unbefangen eine ganzheitliche Wechselwirkung zwischen dem Menschen und dem Sein ermöglicht. Aber kanalisiert, keine Kannibalisierung des Einen zum Zweck des Anderen und kein Missbrauchsverhältnis zwischen Ich und Sein zur Bereicherung des einen oder anderen. Es ist ein Austausch auf Augenhöhe und ein Geben und Nehmen, das im Schaum der Wechselwirkung von Impulsen Neues schafft und alle bereichert. Es ist eine Welt ohne Ikonen; ohne Objekte: Eine Welt ohne fehlerhafte Herrschaft. Die Mechanismen, die zu der Welt der Dinge führten, in der erstarrte Strukturen und scheinbare Räume des Verständnisses die echte Erkenntnis und das echte Wachstum behinderten, sind nicht vergessen; aber sie ist befreit davon, aufgelöst in ihre Relationen, zurückgeführt auf ihren Kontext und damit echt, nicht nur scheinbar. Ein Abbild, aber gerade dadurch zurückgeführt auf den Kern, im Werden und Vergehen des stetig Neuen; gefasst und gesichert durch ewige Strukturen. Der Mensch im Outópos ist befreit. Sowohl von der Diktatur des Seins und der Herrschaft, als auch von der Diktatur der Anderen und des eigenen Selbst. Der Nutzen der gesamten Kultur bleibt ihm weiterhin erhalten. Es ist ein Mittelweg zwischen den Wegen von Objekt und Subjekt. Ein Ausgleich, eine Vereinigung von Top-down und Bottom-up, von Kontrolle und Beliebigkeit und von objektiven Weltbetrachtungen und subjektiven Weltempfindungen. Der Outópos funktioniert nur als Ganzes, als eine große Wechselwirkung ohne Schnittstellenverlust in einem umspannenden Kreislauf. Er setzt die Eins und nicht das Zusammenfügen von Einzelteilen als Optimum. Ganzheitlichkeit statt Agglomeration. Seine Zonen und Bestandteile können zwar benannt werden, aber erfasst, seinem Sinn nach verstanden, kann der Outópos nur als Ganzheit werden. Die einzelnen Zonen und Bereiche funktionieren nicht aus sich selbst heraus; sie sind nicht existent aus sich selbst heraus. Sie werden nur zu dem, was sie sind, durch das, was andere Zonen in sie legen. Fehlt ein Teil, fehlt das Ganze. Ein stetiger Kreislauf, eine stetige Wechselwirkung, in der der Anfang gleichzeitig das Ende ist, wo Anfang und Ende also eins sind; arrangiert zwar um den Menschen als Maßstab, aber ihn doch über die reine Körperlichkeit und die mit ihr verbundene Perspektive hinaus erweiternd. Der Mensch im Outópos, der freie Mensch, ist der Outópos. Er ist kein Objekt, das in einen Raum gesteckt wurde und auch kein Subjekt, das seinen Raum beliebig aus sich projiziert. Als eigenständige Kategorie existiert er nicht. Er ist aufgelöst; aufgelöst in die Relationen eines umfassenden Kreislaufes und genau dadurch frei. Der Mensch ist eins mit dem Dasein und durch Selbstschau eins mit sich. Er erweitert sich mit und in anderen; nicht starr, sondern dynamisch nach dem Prinzip des Faktors 3. In dieser Erweiterung und der Kommunikation 316

mit Anderen, in der Gestaltung von Zonen spezifischen Seins, wird er zu einem kollektiven Selbst, dessen Relationen in der Virtualität als absoluter Sprache ewig sind und ein Mehr schaffen sowie Erkenntnis erzeugen um dann konzentriert und absolut fundiert auf das Sein zurückwirken; das Sein beeinflussend und von ihm lernend, zur Bewahrung des Daseins. Outópos ist eine Evolution des Denkens, die geistig und körperlich vollzogen wird durch den Menschen. Erst in einem singulären Denken im Dasein, dann in einem Denken des Gegensatzes in der Reflexion des Raumes, übergehend in eine Topografie des Denkens in den Flächen und Formen der Drei, bis hin zu einem Denken des Volumens in der Transzendenz und durch die Bewegung und Transformation zum Sein wieder gebündelt auf Eins. Verstand und Natur, Ideen und Realität sind vereint und gebunden in einem ständigen, synergetischen Kreislauf. Warum Outópos? Wegen der Ur-Katastrophe des Verlustes von Wissen und Erfahrungen. Diese sind bisher nicht direkt teilbar und damit der Entropie, der Auflösung überlassen. Das Leben in erstarrten Räumen mag das scheinbar kompensieren, aber doch bleiben diese Räume leer; verweisen letztlich auf nichts und schaffen eine magische Welt der Zeichen, in der Korrelation mit Kausalität verwechselt wird. Das Leben in diesen erstarrten Räumen wird mit dem Verlust des Daseins erkauft. Der Outópos nun ermöglicht das Dasein; das Eins vom Subjektivem und Objektivem, und damit die Sicherung von Wissen und Erfahrungen über das Selbst hinaus. Er ist eine große Wechselwirkung, in der der einzelne Mensch vom Selbst und damit von der Herrschaft des Selbst befreit ist. Diese Herrschaft als eine Ich-Funktion, als eine Übertragung unvollkommener Kontexte in das scheinbare Außen, ist letztlich eine Flucht vor dem eigenen Dasein und vor allem vor der damit einhergehenden Verantwortung. Im Outópos wendet sich der Mensch dem Sein nicht im Modus der Herrschaft zu; nicht im Modus einer scheinbaren Objektivität, deren Unzulänglichkeiten durch Gewalt kompensiert werden müssen, sondern im Modus der Verantwortung. Einer Verantwortung, die einer tieferen Erkenntnis entspringt, die eine nachvollziehbare Erkenntnis über eine Welt ist, die ebenfalls nachvollziehbar ist; Eins in der Betrachtung und keine Agglomeration von Pseudokomplexität. Ein Ort des Seins, erfasst und geprägt durch ein strukturiertes, kollektives Selbst, dessen Denken nicht am Treibgut hängenbleibt, sondern die Tiefe vermisst. Einem universellen Denken, das nicht aus Oberflächen besteht, sondern aus Volumen. Ein Leben, gehalten von umfassender Erkenntnis. Ein Leben ohne Angst. Ein Leben in Freiheit. Ein Raum der positiven Zuwendung. Eine Welt der Liebe. 317

Utopisch? Ja, natürlich!296 296 Nun wurde hier also eine Utopie aus einer Kulturkritik heraus formuliert. Und nun? Der Philosoph Günther K. Lehmann skizziert den Weg so: „Die schärfsten Widersacher der geschichtlichen Abläufe sind die Utopisten. Sie legen sich quer zu den Zwängen und Notwendigkeiten. Sie wollen das Wahrscheinliche, von dem sie wissen, dass es unmöglich ist. Trotzdem sind Utopien nicht auf Realisierung, sondern auf Verwirklichung angelegt.“ Zitat in: Lehmann, Gunther K.: Ästhetik der Utopie, S. 275. Die Verwirklichung scheint der entscheidende Aspekt zu sein, an dem sich Utopien messen lassen müssen, wie es auch der Politologe Richard Saage formuliert: „Mit dem Wort utopisch wird ein Denken denunziert, dass Projekte entwirft, die angeblich scheitern müssen, weil ihr realitätsblinder Urheber die konkreten Voraussetzungen ihrer Verwirklichung nicht berücksichtigt.“ Zitat in: Saage, Richard: Politische Utopien der Neuzeit, S. 1. Schauen wir also mal wieder auf die objektive Realität: Der Tópos verfügt über 108 Bewohner auf einer Fläche von 0,785 km². Rechnen wir 12 Kinder zum Erhalt einer stabilen Population hinzu sind das 120 Menschen. Dies entspricht ca. 153 Menschen/ km². Die gegenwärtige globale Bevölkerungsdichte liegt bei ca. 60 Menschen/km². Man könnte also alle ca. 8 Milliarden Menschen in rund 65 000 000 Tópoi unterbringen. Allerdings wäre dies dann eine Welt, in der die Tópoi als ein flächiges Netz sehr dicht angeordnet und eine Wildnis fast gar nicht mehr gegeben ist. Bei einer Weltbevölkerung wie zur Zeit der Industriellen Revolution (2 Milliarden) wären 10km² Fläche für einen Tópos mit Wildnis denkbar; bei einer Weltbevölkerung wie im Jahre 0 (200 Millionen) wären es 100 km² und bei einer Weltbevölkerung wie zur neolithischen Revolution und dem Beginn des Great Game of Civilization (ca. 20 Millionen) wären 1 000 km² Wildnis pro Tópos realistisch. Der Outópos ist in der Gegenwart aber ohnehin nicht erreichbar. Es fehlen wesentliche Schlüsseltechnologien zum Erreichen dieses Konzeptes. Vor allem die Möglichkeit des Transits in eine Transzendenz. Sollte dies aber technisch erreicht werden und allen (!) zugänglich sein, würde der mitunter wirtschaftliche oder psychologische Druck, Nachkommen zu zeugen, ev. fallen und mit ihm die globale Bevölkerungsanzahl, obwohl die Menschen im Ozean der Virtualität weiter existieren. Der Weg zum Outópos ist also ein Weg des Überganges. Aber ist es der richtige Weg? Die meisten Utopien sind auf Verwirklichung hin angelegt. Man baut sie, belehrt die Menschen und dann wird alles gut. Die Geschichte zeigt, dass ein solches Vorgehen ein mitunter katastrophaler Irrweg ist. Abseits des Scheiterns und des dadurch entstehenden Terrors einer brüchigen Herrschaft, sind Utopien doch eigentlich Stillstand, wie es auch der Politikwissenschaftler Arno Waschkuhn schreibt: „Der utopische Status quo hat eine Vernünftigkeit für sich und kann oder soll eo ipso nicht mehr transzendiert werden, obwohl die Utopieschöpfer genau dies im Hinblick auf die Seinswirklichkeit ihrer perennierenden Gegenwart mit ihrem Entwurf gerade initiiert haben und den Wandel als vollzogen betrachten, aber nach dem gleichsam heroischen Gründungsakt und den zahlreichenden grundstürzenden Veränderungen ist offenbar in der Folge friedlich-harmonischer Stillstand gegeben und es werden partout keine neuen Horizonte mehr eröffnet oder zugelassen. Das ist zugleich der autopoetische ‚blinde Fleck‘ utopischer Systeme; diese Gesellschaften und ihre Akteure unterliegen keinen ergebnisoffenen Prozessen mehr, sondern bleiben soziohistorisch fixiert (‚und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute‘).“ Zitat in: Waschkuhn, Arno: Politische Utopien, S. 229. Die Fixierung, der feste und starre Rahmen ist dabei der entscheidende Punkt. Das lineare Denken. Der Dualismus, der sich auch in Utopien zeigt. Schaut man z. B. in das Inhaltsverzeichnis zur Utopie des Leviathans von Thomas Hobbes, so fällt ein stringenter Aufbau auf. Beginnend mit der menschlichen Wahrnehmung, über die Gesellschaft bis hin zu Gott. Eine große Klammer. Eine stringente Linie hin zu einem Punkt. Und da endet es dann auch. Vgl.: Hobbes, Thomas: Leviathan, S. 326 f. Hier nun im Outópos: Absolutes Dasein. Der freie Mensch in einer umfassenden Wechselwirkung. Die Vereinigung von Geist und Natur. Das Prinzip der Drei. Das Denken in Volumen. Konzentration, die aus Perspektivwechseln geschaffen wird. Und dabei mehr entstehen lässt, als

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Aber bleibt uns was anderes übrig? Ist es nicht gerade dieses Utopische, in das sich die Menschheit, der Mensch an sich, hin entwickelt? Im Kleinen, wie im Großen, schon immer seit es Menschen gibt? Ist es nicht gerade dieses Utopische, was ihn antreibt? Ist es nicht gerade das, was ihn als Mensch definiert? Der Schritt in die Zukunft? Die Suche nach dem umfassenden Zusammenhang? Der Erkundung des Ursprunges, der hinter den Impulsen der Natur liegt? Die Verschmelzung von Ich und Welt zu einer Einheit des Seins und des Denkens? Die transparente Offenlegung des Kreislaufs zwischen Innen und Außen und das Erkennen von dem, was ist? Die Hoffnung auf die Existenz einer umfassenden Struktur, eines umfassenden Sinns: Das ist utopisch. Aber es hat seinen Raum. Hat seine Wirklichkeit. Ist: Outópos. jemals aus Erstarrung entspringen könnte  … In diesem Sinne gehört das letzte Zitat der Science-FictionAutorin Ursula K. Le Guin, die in einem ihrer Bücher formulierte: „Ihr könnt die Revolution nicht kaufen. Ihr könnt die Revolution nicht machen. Ihr könnt nur die Revolution sein. Sie ist entweder in euch, oder sie ist nirgends.“ Zitat in: Saage, Richard: Politische Utopien der Neuzeit, S. 322.

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Ad astram Der erste Mensch. Er ist weit gekommen. Sein Gang in die Unendlichkeit hat ihn verändert und hat die Welt verändert. Er ist in der Welt und die Welt wirkt auf ihn zurück. Sicherheit umgibt ihn. Sorgsam hat er die Welt vermessen, für alles Kategorien gebildet, alles gewichtet und gewertet, das Gute gefördert, das Schlechte bekämpft. Ist es nicht eine schöne Welt? Eine Welt der Ruhe, eine Welt des Komforts. Frieden und Harmonie durchströmen sie, um den Mittelpunkt des Menschen als guter Hirte herum. Der erste Mensch ist der letzte Mensch geworden. Was soll noch kommen? Vielleicht ein bisschen Feinarbeit hier und da, eine Kategorie etwas hoch, eine etwas runter: Aber dann sollte es doch auch mal gut sein. Es bleiben keine Fragen mehr. Es sollte klargeworden sein, dass diese Welt des letzten Menschen eine Scheinwelt ist. Die Welt, die wir, die Bewohner der Kultur, die Quellen des Great Game of Civilization, geschaffen haben, ist eine Illusion. Sie ist eine Welt, in der Aktion und Reaktion nicht mehr in Beziehung zueinander stehen, weil alles, was stört, in entfernte Räume gepackt wurde. Die Welt unserer Gegenwart ist scheinbar vielfältig und mannigfaltig, aber doch nur in der Behauptung. Im subjektiven Rahmen, so groß seine Perspektive auch sein mag, ist sie doch nur ein erstarrtes und reduziertes Abbild. Eine Komplexitätsreduktion, bezogen auf das Ich. Eine begrenzte Perspektive, die wir zur Bestätigung in die Welt prägen und uns daran erfreuen, wie sehr sie sich doch dann im Sein wiederzufinden scheint, wenn wir nicht genau hinsehen. Unsere Welt der Gegenwart ist Fläche. Reduzierte Räume, die nie Tiefe aufweisen, nie die Verbindungen preisgeben, sondern immer an der manchmal schönen Oberfläche wie ein Spiegelbild verweilen. Ein Trugbild, gefasst als Raum – und deswegen brüchig, da die Erkenntnis an den Schnittstellen verloren geht. Es ist eine Binsenweisheit, dass unser Planet über begrenzte Ressourcen verfügt. Der Verbrauch an Dingen, wäre er für alle Menschen auf dem Niveau der Räume mit der höchsten Agglomeration, der höchsten Verdichtung von Gütern und Objekten auf eine spezifische Rolle des Menschen hin, würde wahrscheinlich die Ressourcen der Erde überlasten. Die einen sehen ein Abwenden des dabei entstehenden Kollapses durch Verzicht möglich werden, die anderen durch Optimierung. Aber beide verbleiben im Modus der Herrschaft, der Schaffung kontrollierter Räume. Eine Änderung erscheint so kaum möglich, da die Grundstruktur bleibt: Wir erfassen das Sein in Nutzflächen und prägen Räume unter dem Vorzeichen eines von uns geschaffenen Objektes. Eine Apfelplantage hat nichts Natürliches. Sie ist Raum, unterworfen einer bestimmten Perspektive, die sich ikonisch auf das Objekt Apfel, als Ergebnis von Züchtung und Gestaltung, fokussiert, und dieser Raum ist tendenziell erstarrt. Als natürlicher Raum verloren, da durch einen Nutzen, und nur diesen einen, verbraucht. Auf einer Apfelplantage wachsen keine Bohnen, und dennoch 322

ist dieser Raum beeinflusst vom Sein. Aber einem Sein, das wir nicht verstehen können, da unser Erkenntnishorizont an den Grenzen des Raumes endet. Darüber hinaus gibt es keine Perspektive. Nur neue Räume, angefüllt mit leeren Zeichen. Je mehr wir unsere Welt erobern, desto mehr verlieren wir sie; desto mehr verlieren wir uns. Wir schließen nicht nur die Natur in unzureichende Räume ein, auch uns selbst reduzieren wir zu Objekten in Räumen, da die Objektivität doch immer nur Behauptung bleibt. Die Scheinwelt, die Illusion, die Proklamation von Richtigkeit und Kontrolle funktionieren nur als erstarrtes System und in der Schaffung von Ikonen, künstlichen Idealtypen, die nicht Wirklichkeit sind, sondern nur kommunikative Konstruktion. Das stete Scheitern des Individuums beim Erreichen dieser Archetypen und das Unglück, das in den Räumen existiert, die wir weit weggeschoben haben – all das, was im Menschen ist –, ist nicht Teil dieser kollektiven Illusion. Es wird hermetisch abgeschlossen in Räumen, die unserer Einsicht und Nachvollziehbarkeit verschlossen sind oder es fällt über den Rand in einen Nicht-Raum, der uns als ein endloses Volumen schon vom Verständnis her unbegreifbar ist. Outópos: Eins mit dem Sein und ein tiefes Verständnis für die Welt und den Menschen in ihr. Keine Projektion des Unzureichenden, keine Erkenntnis, die aus den Relationen entspringt, keine Behauptung, sondern wahre Erkenntnis. Outópos definiert ein Konzept; der Nicht-Ort ist objektiviert und vermessen im Tópos. Eine Lösung des Problems, eine Form, ein Volumen: Scheinbar da – und doch wieder nur das Nichts. Was ist der Outópos? Doch nur Licht und Schatten im Wechsel. Schwarzer Text auf weißem Blatt, schwarze Schatten auf einer weißen Fläche, sinnlose Zeichen aus einem Kontext geprägt auf das Objekt dieses Buches, zur Wahrnehmung innerhalb eines vordefinierten Raumes bereitgestellt; objektiviert. Schwarze Tinte und weißes Blatt, sinnstiftend montiert im Rhythmus der Augenbewegung. Ein Nichts, das erst durch den Dualismus von Schwarz und Weiß, den Rhythmus von Hell und Dunkel im Raum des Verstandes entsteht. Deines Raumes, in dir, von mir auf dich. Aber ist es auch dasselbe? 323

Diese scheinbar magische Übertragung von Sinn liegt im Modus des Great Game of Civilization. Einem System, dem wir beide angehören und das die Rollen des Schreibers und des Lesers für uns bereithält. Ein System, das uns auch den Inhalt, den Sinn, der hier so vermeintlich objektiv erscheint, durch seine Räume und leeren Zeichen vorgibt. Die Worte, verweisen sie auch auf etwas? Der Mensch. Welcher Mensch jetzt genau? Der Mensch im Outópos. Etwas, das wir in unserem Leben erreichen können? Nein! Ich und du, wir werden ihn nicht erleben, wir können ihn nicht erleben. Unser Denken, unser Selbst: Wir sind im Great Game of Civilization. Wir sind das Great Game of Civilization. Die Bedingung dafür, dass wir anhand des rhythmischen Wechsels von Schwarz und Weiß scheinbar kommunizieren, ist letztlich Erstarrung; letztlich Nichts. Aber braucht der Mensch nicht gerade dieses Nichts? Braucht er nicht den Nicht-Raum, den Outópos, als Projektionsfläche? Einzig nur, um durch Rhythmus eine Struktur zu schaffen? Einen Rhythmus des Nichts, eine Utopie, aus der aber in der persönlichen Aneignung Visionen und Konzepte generiert werden können? Den Outópos werden wir beide nicht erleben. Aber wir können Weichen stellen und einen Weg aufzeigen, der irgendwann einmal zu einem Ziel führt; auch wenn es wieder nur das Nichts ist. Der Outópos. Er entsteht als Ahnung in dir und mir. All das, was wir davon zu verstehen glauben, ist nicht neu. Die vermeintlichen Inhalte sind tief verwurzelt im Great Game of Civilization. Er ist ein Remix, aber der Rhythmus ist neu. Das Neue liegt in der Klarheit der Struktur, der Abfolge, die rein subjektiv entsteht. Es ist eine humanistische Utopie. Humanistisch dahingehend, dass sie nur im einzelnen Menschen existiert, aber genau deswegen Gehalt hat, und dieser Ansatz zeigt den Weg: Es gibt kein Da-Draußen. Wir finden die Antwort nur im Menschen. Um noch eine Bin324

senweisheit zu bemühen: Jeder Mensch ist eine Insel; aber jede Insel ist auch Teil des Ozeans. Der Weg zum Outópos ist eine neue Form des Denkens. Ein Denken, das subjektive und vermeintlich objektive Erkenntnis verbindet. Eine neue Sprache, die ganzheitlich beides vereint, das Subjektive zum Objektiven macht und umgekehrt. Aber fundiert! Nicht postuliert! Nicht behauptet anhand erstarrter Kontexte. Der konkrete Weg dazu ist Klarheit – Offenheit – und die Abkehr von einem Denken in trennenden Kategorien. Den Menschen als Mensch zu sehen und nicht als Projektionsfläche unserer Selbstbilder. Die Bereitschaft und die Ausbildung des Vermögens, die Relationen zu erkennen und zu verstehen. Im Ozean tauchen, nicht an der Oberfläche planschen. Ein Versinken im scheinbaren Nichts, um zu merken, dass sich gerade dort Ich und Sein verbinden um jenseits von starren Strukturen wirklich Neues zu formen. Den Tópos als eine neue Form des Objektes, das überall integriert werden kann; in jede Form des Seins, da es sich aus dem Dasein des Menschen entwickelt. Ob in der Wüste, unter Wasser oder auf anderen Planeten, universell verbunden in der Transzendenz – gleichgültig – da er einem generellen Prinzip folgt: Outópos. Keine Form, kein Ding. Ein universelles Bewusstsein. Ein Modus des Denkens, das entstehen kann. Ein Denken in Relationen, ein Denken in Zusammenhängen. Nicht gefasst, sondern umfassend. Offenheit zur fundierten Erkenntnis, basierend auf der Einsicht: Es ist nicht so entscheidend, was wir denken, es ist entscheidend, wie wir denken. Utopisch! Oder nicht? 325

Am Ende war der Mensch und er schaute in eine Welt, die er verstand. Der Mensch sah die Welt und er sah sich in der Welt. Er wusste, wo er herkam und er wusste, wo er hinwollte. Die Komplexität des Seins war er. Sein Körper war Teil dieses Allumfassenden und durch ihn wirkte er auf das Allumfassende. Er erkannte den Zusammenhang, sah nicht den Grashalm, sondern sich im Grashalm und den Grashalm in sich. Wellen der Existenz, die sich gegenseitig bedingten, ein Werden und Vergehen, beide als Ausdruck des Gleichen. Er sah das Eine. Er war das Eine. Das Licht der Sterne erleuchtete die Welt, aber es waren keine isolierten Punkte in der Dunkelheit; Nicht das Nebeneinander eines flächigen Horizontes, einer begrenzten Wahrnehmung entspringend. Das Universum war Volumen, war Sinn. Ein Ozean des Lichtes, der ihn umgab. Er trat in das Licht. Er wurde das Licht. In der Freiheit wurde er das Universum, wurde Zukunft. Der Mensch schaute; er war, er wurde, Und er setzte den ersten Schritt: In sich 328

Inhaltsverzeichnis Vorwort ..........................................................................................................................................6 Außenwelt ......................................................................................................................................... 9 Der Mensch als Schöpfer ............................................................................................................. 13 Die Gegenwart .............................................................................................................................. 21 Kommunikation ........................................................................................................................33 Komplexität ............................................................................................................................... 35 Agglomerationen .......................................................................................................................... 38 Eine kurze Geschichte urbaner Strukturen ........................................................................... 41 Die Essenz der Stadt ................................................................................................................. 56 Herrschaft ...................................................................................................................................... 59 Stadt und Herrschaft. Eine historische Gedankengeschichte ............................................. 61 Objektivierungen ...................................................................................................................... 75 Gesamtsysteme ..........................................................................................................................79 Das Feld der Träume .................................................................................................................... 87 Eine kleine Geschichte der Utopie ......................................................................................... 89 Die letzte Utopie ....................................................................................................................... 101 Der Mensch und die Utopie .................................................................................................... 111 Der virtuelle Raum des Menschen ............................................................................................. 112 Die doppelte Stadt .....................................................................................................................113 Medienmenschen ......................................................................................................................120 Rollenspiele ................................................................................................................................130 Ikonen ........................................................................................................................................ 135 The Great Game of Civilization .................................................................................................. 140 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ............................................................................... 160 Innenwelt ...........................................................................................................................................174 Perspektiven .................................................................................................................................. 185 Das Ich und das Sein ................................................................................................................ 190 Das Selbst ................................................................................................................................... 197 330

Kommunikation und Raum .................................................................................................... 205 Scheinräume und Erstarrung .................................................................................................. 216 Switch! ............................................................................................................................................228 Outópos ............................................................................................................................................. 242 Die Freiheit des Menschen .......................................................................................................... 245 Die Säulen der Freiheit ................................................................................................................ 249 Der Raum des Menschen ............................................................................................................ 254 Tópos .............................................................................................................................................. 260 Gesellschaft ................................................................................................................................ 264 Versorgung .................................................................................................................................267 Das Prinzip der 3 ...................................................................................................................... 272 Zonen ......................................................................................................................................... 279 Transzendenz ................................................................................................................................ 294 Der virtuelle Ozean .................................................................................................................. 295 Der Gott der Erkenntnis .......................................................................................................... 305 Entgrenzungen .......................................................................................................................... 312 Meta ................................................................................................................................................316 Ad astram ...................................................................................................................................... 322 Inhaltsverzeichnis .........................................................................................................................330 Abbildungsverzeichnis .................................................................................................................332 Literaturverzeichnis ..................................................................................................................... 332

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Abbildungsverzeichnis Alle Abbildungen vom Autor.

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Gerhard Martin Burs ist freischaffender Architekt und Digital Artist. Er forscht, entwirft und lehrt an den Schnittstellen von objektivierter Gestaltung und subjektiver Erfassung.

www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27478-9

Outópos Gerhard Martin Burs

Die Welt ist im Wandel. Entgrenzt durch die Technik formt der Mensch aus ihr eine globale Maschine, in der alles nach scheinbar objektiven Kriterien vermessen und vereinnahmt ist. Der Mensch selbst wird dabei zur Ressource und ist von sich stetig wandelnden Sinnbezügen in medialen Systemen umgeben. In ihnen verschwinden Erkenntnispotentiale in einer zunehmend künstlichen Umgebung. Ist eine andere Welt denkbar? Outópos ist der Entwurf einer konkreten Utopie. Basierend auf der Analyse der globalen Zivilisationswerdung sowie der Synthese von gesellschaftlicher Weltgestaltung und subjektiver Weltbildung entwickelt Gerhard Martin Burs einen ausgeglichenen Kreislauf. Durch einen umfassenden Ansatz entsteht im Outópos eine Welt der Freiheit und damit die mögliche Basis für eine universelle Erkenntnis.

Gerhard Martin Burs

Outópos Der Entwurf einer freien Welt