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German Pages 350 [351] Year 2021
Wolfram Gobsch | Jonas Held (Hg.)
Orientierung durch Kritik
Meiner
Wolfram Gobsch | Jonas Held (Hg.) Orientierung durch Kritik
Wolfram Gobsch | Jonas Held (Hg.)
Orientierung durch Kritik Essays zum philosophischen Werk Pirmin Stekeler-Weithofers
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. ISBN 978-3-7873-4102-3 ISBN eBook 978-3-7873-4103-0
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. © Felix Meiner Verlag, Hamburg 2021. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Umschlaggestaltung: Andrea Pieper, Hamburg. Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg. Druck und Bindung: Stückle, Ettenheim. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Printed in Germany.
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
von Wolfram Gobsch und Jonas Held Robert Brandom Understanding the Object/Property Structure in Terms of Negation. An Introduction to Hegelian Logic and Metaphysics . . . . . . . . . . . . .
17
Vojtěch Kolman “There Have to Be Crooks in This World Too”. The Speculative Logic of the Constitutive Exception . . . . . . . . . . . . .
41
Henning Tegtmeyer Metaphysik als Kritik. Anmerkungen zur Bedeutung einer missverstandenen Disziplin . . . . . . .
59
Markus Wolf Rekonstruktion, Destruktion, Dekonstruktion. Metaphysikkritik und kritische Metaphysik bei Pirmin Stekeler-Weithofer, Martin Heidegger und Jacques Derrida . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
Christoph Hubig Realität – Wirklichkeit – Virtualität. Erinnerungen an Hegel angesichts der naiven Rede von „Virtual Reality“ in der Simulation Technology und der Entwicklung cyber-physischer Systeme .
107
Boris Hennig Denken als Probehandeln
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
Sebastian Rödl Kant’s Indirect Proof of Transcendental Idealism . . . . . . . . . . . . . . .
145
6
Inhalt
Kathi Beier Orientierung an Wahrheit. Vorarbeiten zu einer Taxonomie intellektueller Tugenden
. . . . . . . . . . 155
Christoph Menke Negativität und Affirmation. Die Dialektik der Befreiung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
183
Benno Zabel Die Realität der Freiheit und das Recht. Hegels nicht-ideale Gesellschaftstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
197
Wolfram Gobsch und Matthias Haase Philosophie des Pöbels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
225
Christian Schmidt Transzendenz und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
247
Holm Tetens „Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner“. Eine etwas andere Lesart von Genesis 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
265
Susanne Herrmann-Sinai Philosophisches Übersetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
271
James Conant Einige sokratische Merkmale in Wittgensteins Philosophieverständnis . . . .
283
Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
325
Verzeichnis der Schriften von Pirmin Stekeler-Weithofer . . . . . . . . . . .
329
Einleitung
D
ie Welt, in der wir leben, verändert sich zunehmend schneller. Denn der Stoff, der ihren Wandel nährt, ist unser Wissen – ein Stoff, den seine Verwendung nicht nur nicht erschöpft, sondern vermehrt. So verwundert es nicht, dass nie mehr Menschen Zugang zu höherer Bildung hatten, nie mehr Menschen in der Wissenschaft tätig waren, nie mehr publiziert wurde und nie der Grad der fachlichen Ausdifferenzierung und Spezialisierung höher war als heute. Mit dem sich beschleunigenden Wandel unserer Welt aber droht uns zugleich ein Verlust an Übersicht und Orientierung. Die längste Zeit war die orientierende Schau des Ganzen der Lebenswelt und des Wissens, das sie konstituiert, das charakteristische Versprechen der Philosophie. Heute aber kann dieses Versprechen leicht als uneinlösbar erscheinen – und die in ihm enthaltene Behauptung des besonderen Charakters der Philosophie gegenüber den Einzelwissenschaften als bodenlose Hybris. Und gerade die zeitgenössische Universitätsphilosophie kann den Eindruck erwecken, sie habe jenes alte Versprechen bereits zurückgenommen. Zunehmend zersplittert sie in immer spezialisiertere Teildisziplinen, zunehmend entkoppeln sich ihre systematischen Debatten und die Erforschung ihrer eigenen Geschichte voneinander, und zunehmend orientieren sich Forschung, Lehre und Karrieren an von den Einzelwissenschaften erborgten Kriterien. Wäre das alles, was sich über die heutige Universitätsphilosophie sagen ließe, man müsste ihre Auflösung – die Auflösung ihres Charakters als Philosophie – für besiegelt halten. Aber das ist durchaus nicht die ganze Wahrheit. Und dass es nicht die ganze Wahrheit ist, ist wesentlich auch Philosophinnen und Philosophen wie Pirmin StekelerWeithofer zu verdanken. Philosophie bleibt möglich, auch heute. Sie bleibt möglich, wenn wir uns nicht ablenken lassen von den versiegelten Oberflächen der Fachsprachen, der Detailkennerschaft, der mathematisch exakten Darstellungen oder der neuesten -Ismen und „Turns“. Zu philosophieren hieß schon immer, die Formen des Wissens und ihre Genese kritisch zu reflektieren, die Konstitution der Wissensgegenstände zu erinnern und nach den Grenzen des Wissens zu fragen. Und diese Art der Konzentration auf das Wesentliche bleibt möglich, der explosiven Vermehrung der Wissensinhalte zum Trotz. Zu dieser Überzeugung kommt, wer sich auf das philosophische Werk von Pirmin Stekeler-Weithofer einlässt. In seinen Schriften und Vorträgen, im Unterricht und im Gespräch hält Stekeler-Weithofer die Philosophie lebendig, trägt sie weiter und inspiriert
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Einleitung
zum Mittun. Seine streitbaren systematischen Analysen umfassen Beiträge und Anstöße zu Debatten in sehr vielen Bereichen der Philosophie, sei es in der Philosophie der Logik und Mathematik, der Erkenntnistheorie, der Philosophie des Geistes, der Sprachphilosophie, der Handlungstheorie, der (Meta-)Ethik, der Religionsphilosophie, der Philosophie der Kunst oder der Philosophie der Geschichte der Philosophie. Immer bindet er seine Analysen zurück an fundamentale Reflexionen auf die logischen Grundbegriffe und -probleme sowie an Fragen der Gegenstandskonstitution. Und überall demonstriert sein Werk, dass die Unterscheidung der Formen von den Inhalten des Wissens ohne Untersuchung der Genese jener Formen letztlich dogmatisch bleiben muss. Seine Untersuchungen dieser Genesen erstrecken sich auf die gesamte Philosophiegeschichte von Heraklit und Parmenides über Platon und Aristoteles, Descartes, Spinoza und Leibniz, Berkeley und Hume, Kant und Hegel, Nietzsche und James bis hin zu Frege, Wittgenstein und der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Sein charakteristischer, mitunter leicht ironisch-beiläufiger Ton hilft dabei, Barrieren abzubauen, und lädt ein zum kritischen Einspruch – zum philosophischen Gespräch. Der vorliegende Band will Pirmin Stekeler-Weithofers Werk würdigen, indem er Beiträge von Weggefährten, Schülern und Kollegen versammelt, deren eigenes Schaffen mit diesem Werk in eben jenem philosophischen Dialog steht. *** In Stekeler-Weithofers Schriften kommt ein selbstreflexiver und wesentlich kritischer Philosophiebegriff zum Ausdruck, der sich grob wie folgt umreißen lässt. Philosophie ist Reflexion auf das Wissen, das unsere Lebenswelt konstituiert. Als Reflexion der Formen dieses Wissens und ihrer Genese, der Konstitution der Gegenstände und der Grenzen des Wissens ist das Philosophieren von den Tätigkeiten, die jenes Wissen hervorbringen, sui generis zu unterscheiden. Nur so vermag die Philosophie an ihrem alten Versprechen der orientierenden Übersicht festzuhalten. Wissen – sei es theoretisch oder praktisch, also Wissen von dem, was ist, oder Wissen davon, wie zu handeln sei – ist als solches allgemein, hat inferentielle Bedeutung und ist insofern begrifflich. Wenn die Allgemeinheit theoretischen Wissens in strenger, ausnahmsloser Universalität besteht, dann deshalb, weil wir seine mathematische Darstellbarkeit bereits voraussetzen. In der Regel ist die Allgemeinheit des Wissens generisch und erlaubt Ausnahmen. Als allgemeines ist das Wissen über Gegenstände verschiedener Bereiche Wissen um die realen Möglichkeiten in diesen Bereichen, und das heißt: Es ist Wissen darum, was hier normalerweise zu erwarten ist.
Einleitung
Das Wissen, das unsere Lebenswelt konstituiert, ist unser eigenes Werk. Das heißt nicht, dass es auf das Werk der Einzelnen reduzierbar wäre oder auf das Werk nur einer Epoche. Wir Einzelne sind immer Kinder unserer Zeit, und unsere Zeit wäre nichts ohne ihre Vergangenheit. Als Kinder unserer Zeit sind wir einzuführen in das bereits bestehende Wissen; so erwerben wir, was Stekeler-Weithofer im Anschluss an Kant und Hegel Verstand nennt. Dass das Wissen unser Werk ist, bedeutet, dass es im Laufe der Geschichte errungen wurde und, wenn alles gut geht, weiter errungen werden wird. Im Prozess der Erringung von Wissen überschreiten wir das bloß Verständige mit Vernunft, indem wir aufmerksam werden auf Widersprüche und Ungereimtheiten im bestehenden Wissen und diese, vermittels Ironie zum Beispiel, zum Sprechen bringen. „Ohne selbstständige Reflexion, Kommentierung und Prüfung der jeweils etablierten und gesetzten Normen, des bloß Rationalen“, so StekelerWeithofer in Kritik der reinen Theorie, „wird das Lehren und Lernen oberflächlich und die Entwicklung des Wissens stagniert.“ 1 Überstürzte Verstandeskritik aber kann sich leicht in ihr Gegenteil verkehren und uns in die „Orientierungslosigkeit des Skeptizismus“ 2 stürzen oder, wenn sie praktisch wird, die „Furie des Zerstörens“ 3 wecken. Das Verhältnis von Verstand und Vernunft ist wesentlich dialektisch. Niemand hat dies laut Stekeler-Weithofer besser erkannt als Hegel. Und es ist vor allem diese Einsicht, die sowohl methodisch wie inhaltlich den Zusammenhang stiftet zwischen seinen eigenen systematischen Überlegungen und seiner einflussreichen Auseinandersetzung mit Hegel. Der Prozess vernünftiger Reflexion, und damit der Prozess der Erringung von Wissen, wird angetrieben von den Widersprüchen und Ungereimtheiten in unserer lebensweltlichen Praxis. Diese ist so der Grund allen Wissens – und damit der Grund der durch dieses Wissen konstituierten Welt. Mit diesem Gedanken vertritt Stekeler-Weithofer einen Konstruktivismus oder Pragmatismus, dem zufolge das objektiv formulierte, allgemeine Wissen, das ein Wissen um reale Möglichkeiten ist, in unseren vernünftigen Erwartungshaltungen und Einstellungen gründet, und nicht umgekehrt. Eine Philosophie, die unsere grundlegendsten – die logischen – Begriffe und Operationen auf der Basis einer realistisch vorausgesetzten Gesamtheit bereits wohlunterschiedener Gegenstände erklärt, deren Konstitution so gar nicht in den Blick kommen kann, verstellt diese Einsicht und führt letztlich in einen Dogmatismus oder MystiPirmin Stekeler-Weithofer: Kritik der reinen Theorie, Tübingen 2018, S. 2. Ebd. 3 Hegel: Grundlinien, § 5 Anmerkung, S. 32; vgl. Pirmin Stekeler-Weithofer: Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts. Ein dialogischer Kommentar, Hamburg 2021, S. 74. 1 2
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Einleitung
zismus. Mit dieser These im Zentrum seines Denkens stellt sich Stekeler-Weithofer in die idealistische Tradition Kants und Hegels. *** Ein Blick in das Verzeichnis der Schriften Stekeler-Weithofers am Ende dieses Bandes zeigt deutlich, dass der Versuch, sein Werk thematisch zu rubrizieren, oberflächlich und unvollständig bleiben muss. Nichtsdestotrotz wollen wir im Folgenden versuchen, anhand seiner wichtigsten Monografien einen knappen und groben Überblick über fünf wichtige Bereiche seines philosophischen Schaffens zu geben: (i) Logik und Philosophie der Mathematik, (ii) Sprachphilosophie und Philosophie des Geistes, (iii) Sinnkritik, (iv) Philosophie der Philosophie, ihrer Geschichte und ihres Verhältnisses zur Religion, (v) die Philosophie G. W. F. Hegels. (i) Stekeler-Weithofers Beiträge zur Logik und zur Philosophie der Mathematik eint die Kritik an den falschen Verheißungen des Formalismus. Es wird hier keinesfalls bestritten, dass in Mathematik, Logik und Philosophie Formalisierungen nötig oder hilfreich sein können. Wir gebrauchen sie „zur übersichtlichen Artikulation impliziter Formen unseres Redens und Handelns“ 4, wie Stekeler-Weithofer etwa in Formen der Anschauung (2008) zeigt. Der Irrtum besteht darin anzunehmen, dass wir uns selbst, unser Denken und die Welt, wie wir sie vorfinden, unmittelbar durch formale Ausdrücke oder Regeln begreiflich machen können. Mathematische Modelle sind erst durch projektive Sprachtechniken auf die Welt bezogen. Die Gegenstände der Mathematik, ob nun der Arithmetik oder der Geometrie, sind dabei wesentlich durch die mathematische Sprache selbst konstituiert. Eine adäquate Philosophie der Mathematik hat daher speziell auf die Anwendung, Begründung und Genese mathematischer Abstraktionen zu reflektieren. Dasselbe gilt – stärker noch – für die Logik. Bereits in Grundprobleme der Logik: Elemente einer Kritik der formalen Vernunft (1986) entwirft Stekeler-Weithofer in diesem Sinne eine an den späten Wittgenstein angelehnte, formalismuskritische und „‚pragmatische‘ Begründung der Logik“. 5 (ii) Es wäre irreführend, die Sprachphilosophie als ein weiteres Feld der philosophischen Tätigkeit Pirmin Stekeler-Weithofers zu beschreiben. Vielmehr ist diese in ihrer ganzen Breite durch und durch Sprachphilosophie. Das würde missverstanden, wenn mit „Sprachphilosophie“ eine besondere Disziplin mit einem klar umrissenen Gegenstandsbereich – Sprache – gemeint 4 5
Pirmin Stekeler-Weithofer: Formen der Anschauung, Berlin 2008, S. vii. Pirmin Stekeler-Weithofer: Grundprobleme der Logik, Berlin/New York 1986, S. 6.
Einleitung
wäre, in der es darum geht, spezifische Probleme, etwa das Problem der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke, zu klären. Auch wenn es in der Philosophie des 20. Jahrhunderts eine Wende – einen „turn“ – hin speziell zu solchen Problemen gab, so ist die Reflexion auf die Sprache – auf den logos – doch so alt wie die Philosophie selbst, wie Stekeler-Weithofer etwa in Sprachphilosophie: Eine Einführung (2014) deutlich macht. 6 Die Vollzugformen des menschlichen Denkens und Handelns zu verstehen, bedeutet laut Stekeler-Weithofer dabei vor allem, kritisch auf die Ausdrücke zu reflektieren, die wir dafür in unserer Sprachpraxis verwenden. So verleiten uns etwa nominalisierte Ausdrücke wie „Geist“, „Überzeugung“ oder „Absicht“ zur Annahme abstrakter oder mystischer Gegenstände und damit zu einer verfehlten Auffassung menschlichen Denkens. 7 Recht verstanden, heißt das, beruht daher auch die Philosophie des Geistes immer auf der „Betrachtung unserer Rede über Ausdrücke, ihrer Gebrauchsformen und ihrer Geschichte“ 8, wie Stekeler-Weithofer in Denken: Wege und Abwege in der Philosophie des Geistes (2012) ausführt. (iii) Insgesamt ist für Stekeler-Weithofer Philosophie methodisch als „kritische Sinnanalyse“ 9 oder „Reflexion auf Sinnkriterien“ 10 zu verstehen. 11 Exemplarisch dafür steht das Buch Sinn-Kriterien: Die logischen Grundlagen kritischer Philosophie (1995), in dem Stekeler-Weithofer den Begriff der Sinnkritik in Absetzung von seinen Ursprüngen im Logischen Empirismus neu bestimmt. „Sinnhaft“ im Sinne von „verstehbar“ ist etwas nur dann, wenn bereits Unterscheidungs- und Bewertungskriterien angewandt werden. Dies gilt nicht nur für die Mathematik oder die Wissenschaft im Allgemeinen, sondern auch für die Religion, die Alltagssprache, bis hin zu der Frage nach dem Sinn des Lebens selbst. 12 Es sind diese Unterscheidungs- und Bewertungskriterien, auf die sich die philosophische Reflexion kritisch bezieht. Hierbei gilt es immer auch, „Methode, Rolle und Status der Reflexion […] selbst zu bedenken“ 13: Sinnkritik ist immer auch Selbstkritik.
Pirmin Stekeler-Weithofer: Sprachphilosophie – Eine Einführung, München 2014, S. 10. Ebd. S. 8. 8 Pirmin Stekeler-Weithofer: Denken: Wege und Abwege in der Philosophie des Geistes, Tübingen 2012, S. VII. 9 Pirmin Stekeler-Weithofer: Sinn-Kriterien: die logischen Grundlagen kritischer Philosophie, Paderborn 1995, S. 15. 10 Ebd. 11 Sinnkritisches Philosophieren (hrsg. von Sebastian Rödl und Hennig Tegmeyer, Berlin 2013) vereint Beiträge, die sich insbesondere diesem Aspekt von Stekeler-Weithofers Denken widmen. 12 Vgl. Pirmin Stekeler-Weithofer: Sinn, Berlin 2011. 13 Pirmin Stekeler-Weithofer: Sinn-Kriterien, S. 15. 6 7
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Einleitung
(iv) Die Frage, was Philosophie sei, ist wesentlich selbst eine philosophische Frage; alle anderen philosophischen Fragen gehören nur kraft ihres internen Zusammenhangs mit ihr zur Philosophie; und umgekehrt verdankt sich der Sinn dieser Frage selbst diesem internen Zusammenhang mit jenen anderen philosophischen Fragen. In Philosophiegeschichte (2006) zeigt Stekeler-Weithofer, dass dies auch bedeutet, dass das Philosophieren nur in eins mit der Erinnerung der Philosophiegeschichte möglich ist. Die Geschichte der Philosophie ist wesentlich auch die Geschichte einer Auseinandersetzung mit der Religion und ihren Grundfragen. In Sinn (2011) beschreibt er diese Geschichte als Geschichte einer zunehmenden Säkularisierung und ihrer Dialektik, in deren Zentrum die Fragen nach dem guten Leben und der Würde des Einzelnen stehen. Die Geschichte der Philosophie ist nicht nur unmittelbar verwoben mit der Religionsgeschichte, sondern auch mit der Geschichte der Wissenschaften und der Künste. Und zusammen mit diesen ist die Geschichte der Philosophie eingebettet in die Weltgeschichte. Laut StekelerWeithofer gehören die Rekonstruktion dieser Einbettung und die durch sie informierte kritische Prüfung der Tragfähigkeit der tradierten Allgemeinheiten und Schematisierungen zu den Kernaufgaben der Philosophie. Die speziell in der analytischen Philosophie gepflegte Orientierung am Ideal einer formallogischen und (quasi-)mathematischen Exaktheit behindert die Erfüllung dieser Aufgabe, wie er in Kritik der reinen Theorie (2018) weiter ausführt. Die Verwendung „gnomischer Sprache“ bei Philosophen wie Hegel, Nietzsche und Heidegger hat unter anderem die Funktion, solche irrigen Orientierungen kritisch zu unterlaufen. Rekonstruktionen und dialogische Kommentare können dabei helfen, mit dem Mythos der Unverständlichkeit solcher Sprache aufzuräumen. (v) Pirmin Stekeler-Weithofer ist einer der meistdiskutierten deutschsprachigen Hegel-Interpreten der Gegenwart. Hegels Analytische Philosophie (1992) ist der Versuch einer „Übersetzung“ der Hegelschen Logik „in eine uns heute verständlichere Sprache“ 14, mit der dessen Wissenschaft der Logik als metasprachliche Reflexion gedeutet wird, die sich „in ihrer Zielsetzung nicht von einer modernen allgemeinen Wissenschaftstheorie und Wissenskritik [unterscheidet]“, 15 um sie so ins Gespräch mit der analytischen Sprachphilosophie und der modernen Logik zu bringen. Stekeler-Weithofer plädiert hier für eine Deflation der Letztbegründungs- und Vollendungsansprüche, die Hegel in seiner Logik zu artikulieren scheint: für eine „rein diesseitige Lesart religiöser
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Pirmin Stekeler-Weithofer: Hegels Analytische Philosophie, Paderborn 1992, S. XIX. Ebd. S. 40.
Einleitung
oder theologischer Rede“. 16 Auch in Philosophie des Selbstbewußtseins (2005) deutet er Hegel als einen sinnkritischen Philosophen. Das Hauptaugenmerk dieses Werks liegt auf der Phänomenologie und der Philosophie des Geistes. Hervorzuheben ist hier die Deutung der Herrschaft-Knechtschaft-Passagen als einer Kritik der platonistischen Idee von der Seele als der Herrscherin über Leib und Sinnlichkeit. Die Dialogischen Kommentare zu Hegels Phänomenologie des Geistes (2014), zu dessen Wissenschaft der Logik (2019 und 2020) sowie zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts (2021) erweitern und vervollständigen Stekeler-Weithofers intensive Auseinandersetzung mit Hegel. *** Die Beiträge in diesem Band sind thematisch ähnlich vielfältig wie das Werk von Pirmin Stekeler-Weithofer selbst. Eröffnet wird der Sammelband mit einem Beitrag von Robert Brandom. Thema von Brandoms Beitrag ist Hegels Begriff der Negation und die Art und Weise, wie Hegel diesen Begriff im zweiten Kapitel der Phänomenologie des Geistes einführt. Insbesondere geht es Brandom hier um die damit verbundenen metaphysischen Konsequenzen für die kategoriale Struktur unserer Erkenntnis und ihrer Gliederung in Gegenstand und Eigenschaften. Im Einklang mit Stekeler-Weithofers systematischen und exegetischen Thesen kontrastiert Brandom Hegels Erklärung dieser Struktur mit der die moderne und zeitgenössische Logik dominierenden extensionalen Semantik. Die Auseinandersetzung mit der modernen mathematischen Logik und der Rückgriff auf Hegel ist auch zentral für Vojtěch Kolmans Beitrag. Kolman entwickelt hier den Begriff der „konstitutiven Ausnahme“ als einen Begriff, der bei der Bestimmung – und der damit zusammenhängenden negativen Abgrenzung – von Totalitäten wie Gott oder der Menge aller Mengen vorausgesetzt wird. Er diskutiert diesen Begriff vor dem Hintergrund der Entwicklung der modernen Logik und Mathematik, insbesondere mit Bezug auf Cantors Diagonalargument. Sein Beitrag reicht jedoch über die Philosophie der Mathematik und Logik hinaus, indem er im Anschluss an Hegel zu zeigen versucht, dass die Idee der konstitutiven Ausnahme nur mit Bezug auf eine andere Person, an die unsere Rede gerichtet ist und die uns zu widersprechen vermag, verstanden werden kann. Henning Tegtmeyer argumentiert gegen die verbreitete Annahme, dass Metaphysik und Kritik zueinander in Spannung stehen. In Auseinandersetzung mit Aristoteles, Kant, Habermas und anderen zeigt Tegtmeyer, dass kritisches Denken schon immer zum Kern der Metaphysik gehört und kritisches Denken 16
S. 428.
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Einleitung
ohne Metaphysik richtungslos zu werden droht. Die Idee einer kritischen Metaphysik steht auch im Zentrum von Markus Wolfs Beitrag. Wolf bezieht sich dabei auf Pirmin Stekeler-Weithofers Unterscheidung zwischen einem Verfahren der geistphilosophischen „Rekonstruktion“ einer Geschichte der vernünftigen Entwicklung von Praxisformen sowie einer Fehldeutungen und vorschnelle Reifizierungen von Formen und Normen abbauenden sinnkritischen „Dekonstruktion“, wie sie in je unterschiedlicher Weise bei Heidegger, Foucault und Derrida praktiziert wird. Im Rückbezug auf Letzteren schlägt Wolf vor, noch präziser zwischen einem Verfahren der „Destruktion“ der Metaphysik der Präsenz und der „Dekonstruktion“ des auch darin noch impliziten Ursprungsdenkens zu differenzieren. Christoph Hubig setzt sich in seinem Beitrag kritisch mit dem gegenwärtigen Sprachgebrauch im Feld der „Virtual Reality“ auseinander. Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass gar nicht so klar ist, in welchem Sinne hier von „Realität“ oder „Wirklichkeit“ gesprochen wird und wie genau sich eine rein virtuelle Realität von der „echten“ Realität unterscheidet. In Erinnerung an die Entwicklung der Begriffe „Realität“ und „Wirklichkeit“ bei Hegel zeigt Hubig, wie dessen Unterscheidung zwischen dem Reellen, dem Realen und dem Wirklichen helfen kann, den fraglichen Sprachgebrauch zu schärfen und Unklarheiten oder Unsinnigkeiten zu vermeiden. Die enge Verbindung zwischen Handlungen und den Gedanken, als deren Umsetzung sie beschrieben werden können, so Boris Henning in seinem Beitrag, kann man dadurch erklären, dass man Handlungen als veräußerte Gedanken auffasst. Einem Hinweis Freuds folgend schlägt er vor, das handlungsvorbereitende Denken umgekehrt als verinnerlichte Vorwegnahme des Handelns aufzufassen. Unter Rückgriff auf Davidsons Begriff der Triangulation argumentiert Hennig in seinem Beitrag, dass und wie es eine Logik des Handelns geben kann, bevor von sprachlich verfasstem Denken die Rede sein kann. Sebastian Rödl setzt sich in seinem Beitrag mit Kants Charakterisierung der Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft als eines indirekten Beweises für seine Doktrin des transzendentalen Idealismus auseinander. Rödl kritisiert diese Doktrin, der zufolge menschliche Erkenntnis notwendig limitiert ist und sich lediglich auf Erscheinungen bezieht, und folgt Hegel darin, die Transzendentale Dialektik gegen Kants ursprüngliche Intention als eine indirekte Widerlegung des transzendentalen Idealismus zu interpretieren. Kathi Beiers Beitrag schlägt die Brücke von der theoretischen zur praktischen Philosophie. Den intellektuellen Tugenden und Lastern wird in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit geschenkt. Ernstzunehmende Versuche, ihre Ordnung und Anzahl zu bestimmen, gibt es allerdings nicht. Das ist ein Problem, denn ohne eine Taxonomie bleibt der Begriff der intellektuellen
Einleitung
Tugend unscharf. Beier diskutiert in ihrem Beitrag drei Ansätze zu einer taxonomischen Ordnung. Aus dem Scheitern dieser drei Ansätze leitet sie grundlegende Prinzipien für eine Taxonomie intellektueller Tugenden ab. Das Thema von Christoph Menkes Beitrag ist der Zusammenhang von Freiheit und Freiheitsbewusstsein. Freiheit ist nur als Freiheitsbewusstsein möglich, und Freiheitsbewusstsein wiederum nur als eine Befreiung, mit der das unmittelbare, affirmative Sein der Freiheit überschritten und darin gegenständlich wird. Die reale, positive Seite der Freiheit ist das Thema von Benno Zabels Beitrag. Die Verteidigung eines Freiheitsrealismus und damit auch einer nicht-idealen Gesellschaftstheorie klingt – auf Hegel bezogen – wie eine hemdsärmelige Provokation. Dass dem keineswegs so ist, es sich vielmehr um die Begründung reflexiven Wissens handelt, zeigt laut Zabel eine genauere Analyse der spekulativen Semantik. Hegels Realismus, so Zabel, beruht auf der Einsicht, dass jede den menschlichen Erfahrungen und Praktiken zugrunde gelegte Wirklichkeitsannahme immer schon theoretisch von uns geformt ist. Hegels Theorie der Freiheit verweist damit zugleich auf eine Begriffsanalyse, die ein tieferes Verständnis des Rechts, der individuellen und kollektiven Lebensformen überhaupt erst ermöglicht. Insofern ist jede Freiheit nur als gedachte real. Laut Stekeler-Weithofer hat unser ethisches Wissen zwei Quellen: Verstand und Vernunft, die verinnerlichten Urteilskriterien der tradierten Ordnung und das Vermögen zu ihrer kritischen Überschreitung. Wolfram Gobsch und Matthias Haase argumentieren in ihrem Beitrag, dass diese Lehre von der Zweistämmigkeit des Ethischen unvereinbar ist mit Hegels Begriff der Sittlichkeit und es deshalb unmöglich macht, das sogenannte Problem des „Pöbels“ als das grundlegende philosophische Problem zu begreifen, als das dieser es in den Grundlinien der Philosophie des Rechts entwickelt. Die Beiträge von Christian Schmidt und Holms Tetens sind in der Religionsphilosophie angesiedelt. Laut Christian Schmidt setzt Geschichte im emphatischen Sinn der bewussten Veränderung gesellschaftlicher Ordnungen voraus, dass die Menschen im Hier und Jetzt die Fähigkeit haben, das Gegebene zu kritisieren und ein Modell für andere, noch nicht gegebene Formen des Zusammenlebens zu entwickeln. Schmidt zeigt, inwiefern die biblische Exoduserzählung, und die hebräische Bibel insgesamt, eine narrative Struktur bereitstellen, an der sich die Probleme einer solchen Selbsttransformation diskutieren lassen. Im Zentrum stehen dabei die Formen von Transzendenz, auf die sich das biblische Geschichtsbewusstsein stützt. Holm Tetens’ Beitrag entwickelt eine philosophische Interpretation von Genesis 3. Er liest die Geschichte des Sündenfalls als ein riskantes Drama für den Menschen – und für Gott selbst. Die Selbstbewusstwerdung des Menschen und die damit verbundene Möglichkeit, sich als Geschöpf Gottes bewusst zu werden, verlangt, dass
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Einleitung
der Mensch Gott in Frage stellt, da die Fähigkeit, eine Sache vernünftig zu erkennen und sich ihrer bewusst zu werden, das Vermögen, Alternativen zu denken, voraussetzt. In ihrem Beitrag untersucht Susanne Hermann-Sinai den Zusammenhang von „Mechanismus“ und freier Selbstbestimmung, den Hegel in seiner Philosophie des Geistes mit Bezug auf die Rolle der Gewohnheit und das Erlernen einer Sprache erläutert. Der „Mechanismus“ der Gewohnheit ist ein notwendiger Zwischenschritt, ohne den es nicht zu einer „selbstbestimmten Übersetzung“ kommen kann. Die Frage, inwiefern selbstbestimmtes Übersetzen und Philosophie zusammengehören, wird mit Rückgriff auf Alexei Yurchaks Begriff der „Hypernormalisierung“ diskutiert, den dieser im Kontext seiner Analyse des Sprachgebrauchs in Diktaturen entwickelt. Der Band endet mit einem Beitrag von James Conant. Conant lässt uns eine Prüfung absolvieren. Es gilt, Zitate von und über Sokrates und Wittgenstein auseinander zu halten. Die überraschend große Herausforderung, die hierin liegt, gibt Einsicht in das Wesen philosophischer Tätigkeit. Conants Beitrag kommuniziert mit dem Werk Stekeler-Weithofers nicht allein deshalb, weil er Philosophen weit entfernter Epochen zusammenliest und so die Tätigkeit des Philosophierens selbst reflektiert, sondern näher auch darin, dass er beispielhaft vorführt, wie der Ernst philosophischer Einsicht vom spielerisch-ironischen Vollzug nicht nur nicht zu trennen ist, sondern durch diesen allererst möglich wird. *** Wir bedanken uns bei Robert Brandom für die großzügige Unterstützung der vorliegenden Publikation aus Mitteln des ihm 2015 verliehenen AnnelieseMaier-Forschungspreises, des Kooperationspreises der Alexander von Humboldt-Stiftung zur Förderung der Internationalisierung der Geistes- und Sozialwissenschaften in Deutschland. Für ihre Kommentare und Hinweise zur Einleitung gilt unser Dank Henning Tegtmeyer, Matthias Haase und Johann Gudmundsson – Letzterem darüber hinaus zudem für seine Unterstützung bei der Redaktion des Verzeichnisses der Schriften von Pirmin Stekeler-Weithofer. Marcel Simon-Gadhof vom Felix Meiner-Verlag danken wir für sein Engagement, das sorgfältige Lektorat und die gute Zusammenarbeit. Wolfram Gobsch und Jonas Held
Robert Brandom
Understanding the Object/Property Structure in Terms of Negation An Introduction to Hegelian Logic and Metaphysics
I
n this paper, I look at the fine structure of Hegelian negation—and at its metaphysical consequences for understanding the categorial object/property structure—when Hegel first introduces it, in the second chapter of the Phenomenology (presenting ideas corresponding to the transition from Sache to Dinge in the Science of Logic). These are only the first baby steps—soon to be aufgehoben—in his intricate story. But the structure revealed is both interesting in its own right, and a cautionary tale for any readers tempted by flatfooted univocal readings of such central Hegelian formulae as “the negation of the negation,” and “identity through difference.” I will be particularly concerned to contrast Hegel’s order of explanation with the extensional semantics that defines the modern logistical tradition, which would not really begin for another 60 years, and which did not achieve equivalent expressive power until 160 years after Hegel wrote the passages I’ll be discussing. The considerations that drive this narrative of explicitation (transforming what is an sich into what is gesetzt) are, I think, individually all familiar. But the argumentative narrative that they jointly articulate, when suitably recruited and deployed, is a paradigm of Hegelian conceptual emergence. It is also a paradigm of analytic metaphysical argument pursued with Hegelian conceptual raw materials, so taking place in a setting substantially different from the Lewisian possible-worlds framework within which most such metaphysical argumentation and construction is pursued today. (As Lewis’s doctoral student at Princeton, I learned this framework at his knee.) This metaconceptual contrast can be illuminating even in the absence of antecedent interest in Hegel’s ideas.
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Robert Brandom
I.
The stage in the development of self-conscious understanding of empirical awareness that Hegel calls “perception” develops out of a more primitive understanding of such awareness that construes it as the purely passive, sensuous taking-in of how things show up to us preconceptually. The overarching commitment to understanding experience in terms of immediate sensory givenness requires attributing only the most minimal structure to episodes of sense experience. The content such episodes are understood as having is what would be expressed by what Strawson calls a “feature-placing” language containing expressions such as “It is raining,” or “It is night.” It is characteristic of such expressions that they lack proper subject-predicate structure. In fact Hegel claims that such structure is already implicit even in mere feature-placing characterizations of content. The argument we are concerned with consists in him teasing out the structural commitments implicit in treating what is expressed even by purely feature-placing expressions as determinately contentful. The thought with which the Perception chapter begins is that the determinateness of the content even of an immediately given sensory knowing, an act of sensory awareness, as conceived according to the metaconception Hegel calls “sense certainty”, must be understood in terms of what it excludes or rules out, what is exclusively different from it, not just what is, as he says, merely or indifferently different from it. A metadifference between two kinds of difference shows up already in the contents of acts of sensory awareness conceived according to the categories of sense certainty. The observable contents expressible in a feature-placing vocabulary that were introduced in Sense Certainty offer a couple of alternatives. The day of “It is day,” and the raining of “It is raining,” are different. So are the day of “It is day,” and the night of “It is night.” But they are different in different senses of “different.” In the language Hegel uses in Perception, day and raining are merely or compatibly, or indifferently [gleichgültig] different, while day and night are exclusively [ausschließend] different. For, though different, day and raining are compatible features (it can be both day and raining), while day and night are incompatible (it cannot be both day and night). The determinateness of sense contents cannot be made intelligible solely in terms of their mere difference. Exclusive difference must also be appealed to. If the contents of minimal sensory knowings stood to one another only in relations of compatible difference, none excluding or ruling out any other, then their occurrence would have no significance, would convey no information. They would be mere events,‘that’s without ‘such’es, gears unconnected to any
Understanding the Object/Property Structure in Terms of Negation
mechanism, their occurrence as devoid of cognitive significance as any other unrepeatable events. Their differences would be less (determinate) than “merely numerical” differences. For numbers are exclusively different from one another. Their differences would be less (determinate) than those of featureless Euclidean points, even apart from consideration of all the lines, circles, triangles, and so on whose relations to those points might relate them to one another. For again, being one point precludes being another, whereas merely compatibly different contents can be instantiated by one and the same thing at the same time. In fact contents that are merely or compatibly different are elements of different families of exclusively or incompatibly different contents. Shapes such as circular, triangular, and rectangular are exclusively different from one another. Exhibiting one rules out exhibiting any other (so long as we restrict ourselves to shapes exhibiting the same number of dimensions as the space they inhabit, since a three-dimensional pyramid with a rectangular base might be thought to exhibit both triangular and rectangular shapes). Colors also form a family of exclusively different contents (so long as we restrict ourselves to monochromatic regions). What can be compatibly different is pairs of contents drawn from different families of incompatibles: red and square, green and triangular, and so on. These merely or compatibly different contents are determinate only insofar as they also stand in relations of incompatibility or exclusion from contents drawn from the same family. It is as such that their occurrence conveys information, by excluding the occurrence of other members of the same family or incompatibles. Mere difference is intelligible in the context of such a structure exhibiting also exclusive differences. But by itself it is too weak to underwrite any notion of determinate content. There are, then, fundamental conceptual reasons to understand the notion of determinate difference as implicitly involving the metadistinction between two kinds of difference: exclusive difference and compatible difference. I think Hegel also thinks that this metadifference is observable, that it is part of the phenomenology (in a more contemporary, vaguely Husserlian sense) of sense experience. That is, I think he thinks the compatibility of day with raining, and its incompatibility with night is part of what we are given when we have a sensory experience of the sort that might be expressed in a feature-placing language by “It is day.” In grasping that content, part of what we grasp is its place in a space of compatibilities and incompatibilities with other experienceable contents. On this account, Hegel thinks that more is given in sense experience than empiricists such as Locke and Hume do. The experiences we label ‘red’ and
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‘green’, and those we label ‘rectangular’ and ‘triangular’ for him are experienced as incompatible, as ruling each other out (as simultaneously located), while those labeled ‘red’ and ‘triangular’ and ‘green’ and ‘rectangular’ are experienced as different, but compatible. The different possibilities of combination, and so the arraying of features into compatible families of incompatibles is a ground-level structure of sensory awareness for Hegel. Hegel sees the modal difference between the difference between red and triangular and the difference between red and green as something one knows simply by experiencing them. One important way in which the enriched empiricism Hegel is considering differs from traditional empiricism (including its twentieth-century variants) lies in its rejection of the latter’s atomism about the contents of immediate sensory experience. If their exclusive differences from one another are an essential part of what is given in experience, then each has the content it does only as a member of and in virtue of the role it plays in a constellation of interrelated contents. An experienced red triangle must locate the experiencing of it in the mere (compatible) difference of members of two different families of incompatibles: colors and shapes. (It is interesting to note in this connection that the intrinsic incompatibilities of color properties were a principal consideration leading Wittgenstein away from the logical atomism of the Tractarian idea of elementary states of affairs as independent of one another.) The result is a kind of holism about what is immediately given in sensory experience. The atomism characteristic of the conception of sensory consciousness understood according to the categories of sense certainty is seen to be incompatible with understanding such consciousness as determinately contentful. Equally important, and equally radical, is the fact that Hegel’s principal metaphysical primitive, determinate negation, is intrinsically and essentially a modal notion. The material incompatibility of red with green and circular with triangular is a matter of what can and cannot be combined, what is and is not possible. Modality is built into the metaphysical bedrock of his system. Possibility is understood as conceptually more basic than actuality, in the sense that an immediately given actual experience is intelligible as having the determinate content it does only insofar as it is situated in a space of possibilities structured by relations of compatible and incompatible difference. The empiricism Hegel is considering is a specifically modally enriched empiricism. And we shall see that for Hegel the essentially modal articulation of what is determinate is not restricted to subjective thoughts or experiencings. It also characterizes objective determinate states of affairs, whether possible objects of sensory experience or not.
Understanding the Object/Property Structure in Terms of Negation
II.
If the contents that can be given in sensory experience, some of which actually are, (contents that might be expressed linguistically in a feature-placing vocabulary) are determinate in that they stand to one another in relations of determinate negation in the sense of modally exclusive difference or material incompatibility, then they also stand to one another in relations of material inferential consequence. In Hegel’s idiom, this is to say that although they may be given immediately, the contents of sensory experience are themselves “thoroughly mediated.” For some feature A (such as “It is raining,”) has another feature B (such as “It is precipitating,”) as a material inferential consequence just in case everything materially incompatible with B (such as “It is fine,”) is also materially incompatible with A. In this sense scarlet entails red and square entails rectangular. In much the same way, even if the features in virtue of which sensory experiences are determinately contentful were construed as unrepeatable, their relations of exclusive difference from one another would ensure that they also fall under repeatables, i. e. that they exhibit a kind of universality. For many colors are alike in that they are exclusively different from red, and all shapes are alike in that they are not exclusively different, but merely compatibly different from red. These repeatable commonalities ramify into arbitrary Boolean complexity. For instance, two otherwise dissimilar features might share not being exclusively different from A or B, but being exclusively different from both C and D. More natural sense universals are constructable using entailments defined by exclusions. Thus all the features that entail red—for instance, shades of red such as scarlet and crimson—can be grouped together. Similarly, all the features entailed by rectangular form a kind. As Wilfrid Sellars observes, the primitives appealed to by classical empiricists are determinate sense repeatables. They were concerned with how merely determinable sense repeatables might be understood in terms of these, not with how unrepeatables might give rise to determinate repeatables. It is in virtue of these facts that I take determinate negation to be for Hegel a more metaphysically fundamental concept than mediation and universality:
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Determinateness
presupposes
explains
Mediation
explains
Universality
Negation
Figure 1
as pictured above. The concept of negation that plays the axial role in the metaphysics Hegel introduces in Perception is a rich and complex one. As I have indicated, it is introduced as one element of a dyad. This is the metadifference between two kinds of difference: mere or compatible difference and exclusive or incompatible difference. We have seen that these two kinds of difference articulate determinate repeatable features into compatible families of incompatible features, as in the paradigm of colors and shapes. The next step in understanding exclusive difference is to consider it in relation to another kind of negation. Determinate negation also contrasts with formal or abstract negation. The latter is logical negation, in a non-Hegelian sense of “logical.” Two features stand in the relation of determinate negation if they are materially incompatible. I am helping myself here to Sellars’s terminology, itself not wholly uninfluenced by Hegel. The idea is that items determinately negate one another in virtue of their nonlogical content. By contrast, such items stand in the relation of formal or abstract negation if they are logically incompatible: incompatible in virtue of their abstract logical form. This distinction is as old as logic. It is the distinction between Aristotelian contraries and Aristotelian contradictories. Red and green, circular and triangular, are contraries, while red and not-red, and circular and not-circular are contradictories. Both of these are kinds of exclusive difference. So this is a further metadifference, between two species of exclusive difference. The first metadifference, between compatible and incompatible differences, is a structure of co-ordination. Neither sort of difference is definable in terms of the other; both are required for determinateness. Together they yield compatible families of incompatible feature-kinds. By contrast, contrariety and contradictoriness are interdefinable There are accordingly two orders of explanation one might pursue in relating them, depending on which one takes as primitive. One can define contraries in terms of contradictories, so determinate negation in terms of formal negation: for Q to be a contrary of P is for Q to imply P’s contradictory, not-P. Green is a contrary of red and triangular of circular just
Understanding the Object/Property Structure in Terms of Negation
insofar as green implies not-red and triangular implies not-circular. Or, one can define contradictories in terms of contraries, so formal negation in terms of determinate negation: for something to be the contradictory of P, not-P, is just for it to be the minimal contrary of P, in the sense of being implied by every contrary Q of P. Not-red is implied by all of red’s contraries: green, blue, yellow, and so on, and not-circular is implied by all of circular’s contraries: triangular, square, pentagonal, and so on.
Negation: Mere or Compatible Difference
vs.
Exclusive or Incompatible Difference
Two Species:
Material Contrariety
Two Orders of Explanation
Formal Contradictoriness
Hegel takes determinate negation to be prior in the order of explanation to formal or abstract negation. He accordingly has the second picture in mind, understanding contradictories in terms of contraries. The tradition of extensional logic and semantics, extending from Boole through Russell to Tarski and Quine, adopts the other order of explanation, presupposing the logical concept of negation and understanding material incompatibility as contrariety in terms of formal incompatibility as contradictoriness or inconsistency. Each approach has its characteristic advantages. It is worth noting at this point that the interdefinability of contraries and contradictories (hence of determinate and abstract formal negation) depends on the availability of a notion of implication or consequence. The Hegelian order of explanation has a native candidate. For, as already pointed out, material incompatibility underwrites a notion of entailment: Q is a consequence of P just in case everything materially incompatible with Q is materially incompatible with P. What I’ll call the Tarskian extensionalist tradition also has available a notion of implication. But it is not directly definable in terms of formal logical negation. It only becomes available if one widens the focus of the Tarskian explanatory strategy. Doing so will illuminate the metaphysical project Hegel pursues in the Perception chapter. In particular, it makes manifest the difference between building mod-
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ality in at the metaphysical ground-floor, as Hegel does, and adding it as a latecoming, perhaps optional afterthought (think of Quine), as the extensionalist tradition does. The widening of focus I have in mind is to the structure of singular terms and predicates presenting objects and properties that Hegel argues is implicit already in the idea of determinate features presented by a feature-placing vocabulary. I am going to call a conception of the objective world as consisting of particular objects that exhibit repeatable properties (universals) as having an “aristotelian” structure (with a lowercase ‘a’). I do so because I take it that it is such a commonsense conception, suggested by the way our languages work, that Aristotle aims to explain using his proprietary metaphysical apparatus of individual substances and their essences and accidents. I am after the Aristotelian explanandum rather than the explanans. I take it that it is also the common explanatory target of the Perception chapter and of the extensionalist semantic tradition that culminates in Tarskian model theory. (Russell pitched the shift from traditional logics of properties to modern logics of relations as transformative, and along one important dimension, it was. But that difference is not of the first significance for the contrast I am concerned to draw here.) Unlike Aristotle himself, neither Hegel in this chapter (though he does in the Logic), nor the extensionalist tradition in general, makes anything of the distinction between sortal predicates expressing kinds such as ‘fox’ (which come with criteria of identity and individuation), and mere characterizing predicates expressing properties such as ‘red’ (which do not individuate)—which is part of what Aristotle’s essentialism is a theory of. There are two broad explanatory strategies available to explicate the aristotelian structure of objects-and-properties. Hegel wants to explain it in terms of determinate negation, relating property-like features. I want to illuminate that metaphysical approach by contrasting it with the extensionalist Tarskian tradition, which starts with objects understood as merely different. The two orders of explanation exploiting the relations between contraries and contradictories (hence determinate and formal, abstract negation) are embedded in more encompassing converse explanatory strategies for articulating the aristotelian object/property categorial structure, rooted in the metadifference between incompatible and compatible differences. The notion of compatible difference that applies to the objects with which metaphysical extensionalism begins does not appeal to modal notions of possibility or necessity. The mere difference that characterizes elements of the domain of objects of the Tarskian scheme is a primitive material relation, in that it—like the contrariety with which Hegel’s converse explanatory strategy begins—is not defined in terms of formal logical concepts. Properties are re-
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presented in Tarskian structures as sets of objects: the extensions of the properties. The indiscernibility of identicals—that is, that if objects a and b are identical, they have the same properties—will follow set-theoretically from this definition. The other direction of Leibniz’s Law, the identity of indiscernibles, will not, unless one insists that every different set of objects determines or constitutes a property. On this basis, contradictoriness, and so formal negation, can be introduced. Contradictory properties are definable as properties with complementary extensions within the domain of objects. Not-P, the contradictory of P, is the property whose extension consists of all and only the objects in the domain that are not in the extension of P. The relation of contrariety is not really represented in such extensional structures. What are intuitively contraries, such as square and circular, will have disjoint extensions. But not every pair of disjoint extensions corresponds to proper contraries. If the domain does not happen to include a mountain made of gold, being made of gold and being a mountain will be disjoint properties, without being contraries. The failure of Tarskian structures to represent contrariety is the result of the modal character of that notion. Contradictoriness of properties is represented, because negation is given the same reading in all models: contradictory properties are those pairs whose extensions exhaustively and exclusively partition the domain of objects. In order to represent contrariety of properties, we could in this object-based framework impose a non-logical, material constraint on the Tarskian interpretation function, to ensure that the extensions of contrary properties P and Q are disjoint in every model. That, in effect, is what the possible worlds development of Tarskian model theory does. The modal element can be thought of as added by treating contrariety of properties the way logical negation is treated: as a constraint on all interpretations. The account moves up to intensions of properties by looking at functions from indices to extensions. The indices can be models, that is, relational structures. Or they can be possible worlds. We have come to see that the differences between these are great. One important one is that models have domains of objects. Possible worlds do not. Another is that some logically possible worlds (i. e. combinatorially possible constellations of objects and properties) don’t count as really (metaphysically, or physically) possible. Whereas any relational structure with the right adicities can be a model. This is the point where modality gets incorporated—that is, at the end. It then trickles down, via the intensions of properties, to the properties. But it should be emphasized that this constraint is, from the point of view of the underlying raw materials, arbitrary and extraneous. One simply stipulates that the disjointness of domains of certain predicates square and circular, is de jure, while that
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of others, gold, and mountain, is not. Such stipulations come in at the very end of the process of semantic construction, not at the beginning. So possible worlds semantics in the end also takes the distinction between incompatible and compatible difference (exclusive and mere difference) for granted. It just builds it in at a different level, as something latecoming. A particularly extreme version of the extensionalist order of explanation is that of the Tractatus. Not only does it not build modality into its primitives, it offers only the most attenuated version of modality, constructed at the very end as something to be understood in terms of logical contradictoriness and (so) formal negation. The Tractarian scheme starts with mere difference of objects, and mere difference of relations among them. Properties are understood as just relations to different objects. All elementary objects can stand in all relations to all other objects. At the ground level, there are no combinatory restrictions at all, except those that follow from the adicity of the relations. What is syntactically-combinatorially categorically possible (“logically possible”) is possible tout court. Elementary objects put no constraints on the Sachverhalte they can enter into, so no restrictions on the properties they can simultaneously exhibit. At this level, properties do not stand to one another in relations of exclusive difference—e. g. where being A’s mother implies one cannot be B’s father. (Indeed, it is a good question whether and how monadic properties can even be merely distinguished.) More complex facts can be incompatible, but this is intelligible only where one truth-functionally includes the logical negation of an elementary fact included in the other. Dissatisfaction with this treatment of contrariety of colors seems to have played an important role in moving Wittgenstein away from the Tractarian way of thinking about things.
III.
Grafting on at the end substantive modal constraints on admissible models in the way of possible worlds semantics does not alter the basic Tarskian extensionalist order of explanation. The order of explanation Hegel pursues in Perception is the converse of it.
Understanding the Object/Property Structure in Terms of Negation
Explanatory Primitives
Objects
Properties
Mere difference
Exclusive Difference
Tarskian Extensional
X
Order of Explanation
[Need Properties]
X
Hegelian Modal
[No Determinate Content] Order of Explanation
It is of the essence of extensional approaches to begin by appealing only to domains of merely different objects. Besides compatible differences of features, Hegel acknowledges at the outset incompatible or exclusive differences, and argues that differences of this kind are presupposed by determinately contentful features. We have seen that these incompatibilities come in two Aristotelian species: formal contradictories and material contraries. Hegel focuses on the material (nonlogical) incompatibility of such contraries. On the basis of this nonlogical modal primitive, he then elaborates the full aristotelian structure of objects-with-properties (particulars characterized by universals). That is, beginning with the notion of features that are materially incompatible with one another, Hegel explains the difference between objects and properties and the relations they stand in to one another. There are three distinct subsequent moves in the process by which the metaphysical structure of objects-with-properties is found to be implicit already in what would be expressed by a purely feature-placing vocabulary, once the features deployed in that vocabulary are understood to stand to one another in relations both of compatible and of incompatible difference. Each step involves adding to the picture a further kind of difference, so a further articulation of the complex notion of determinate negation. • The first move puts in place the intercategorial difference between properties and objects, or universals and particulars. • The second move puts in place an intracategorial difference between two roles that particular objects must play with respect to properties, reflecting the intracategorial difference between merely different and exclusively different properties.
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• The third move registers a fundamental intercategorial metaphysical difference between objects and properties with respect to mere and exclusive differences. The first move in this argument finds the aristotelian structure of objects-andproperties, or particulars-and-universals to be implicit already in the observation that the features articulating the contents of sense experience stand to one another in relations of material incompatibility or exclusive difference. This argument can be thought of as beginning with the role that what in Sense Certainty Hegel calls “the Now” plays in the distinction between the two basic kinds of difference, compatible and incompatible. What would be expressed by “Now1 is night,” is not incompatible with what would be expressed by “Now2 is day.” It is incompatible with “Now1 is day.” The incompatibility applies only to the same ‘Now’. We could say that the ‘Now’ is playing the role of a unit of account for incompatibilities. At this point we can see that the notion of incompatible difference, determinate negation, or material incompatibility (which I have been claiming are three ways of talking about the same thing) among features implicitly involves a contrast with a different kind of thing, something that is not in the same sense a feature, that is an essential part of the same structure. For incompatibilities among features require units of account. What is impossible is not that two incompatible features should be exhibited at all. After all, sometimes it is raining, and sometimes it is fine. What is impossible is that they should be exhibited by the same unit of account—what we get our first grip on as what would be expressed by a tokening of ‘now’, or ‘here-and-now’, or ‘this’, and the anaphoric repeatability structures they initiate. So from the fact that what would be expressed by different ‘now’s can exhibit incompatible features it follows that the structure of sense contents that includes features that can differ either incompatibly or compatibly also essentially includes items that are not features, but that play a different role. These units of account are of a different ontological category from the features for which they are units of account. Besides the intracategorial difference (concerning relations of features) between two kinds of difference (incompatible and compatible) of features in sensory experience that would be expressed by sentences in a feature-placing language, sensory experience also implicitly involves the intercategorial difference between features and units of account for incompatibilities of features. That is to say that that what I have called the ‘aristotelian’ structure of objects-and-properties, or particulars-and-universals, is now seen to have been all along implicit in sense experience, even as originally conceived ac-
Understanding the Object/Property Structure in Terms of Negation
cording to the categories of sense certainty. Making this implicit structure explicit yields the form of sensory self-consciousness Hegel calls “perception.” A decisive line has been crossed. The content-repeatables exhibited by unrepeatable sense experiencings are no longer to be construed as features, but as properties. What enforces the transition is the association of those sense repeatables not with what is expressed by the indiscriminate “it” of “It is raining,” or the undifferentiated merely existential “there is” of “There is red,” but with different, competing units of account. Looking over the shoulder of the phenomenal self-consciousness that is developing from the categories of sense certainty to those of perception, we see that this differentiation of what exhibits the sense repeatables was implicit already in the different ‘now’s acknowledged by sense certainty from the beginning. No longer are the contents of basic sensory knowings construed as what would be expressed in feature-placing vocabularies. Now they are articulated as what requires expression in vocabularies exhibiting the further structure of subjects and predicates. What is experienced is now understood not just as features, but as objects with properties, particulars exhibiting universals.
IV.
Understanding functional units of accounts for incompatible sense repeatables more specifically as objects or particulars involves further unfolding of what is implicit in distinguishing compatible or merely different sense repeatables from incompatible or exclusively different ones. Hegel says of the features that “these determinatenesses…are really only properties by virtue of the addition of a determination yet to come,” namely thinghood. 1 He elaborates that notion of thinghood along two dimensions: the thing as exclusive and the thing as inclusive. In talking about these two different roles essential to being a “thing of many properties”, he describes it as on the one hand “a ‘one’, an excluding unity,” and on the other hand as “an ‘also’, an indifferent unity.” The unity of the units of account essentially involves this distinction and the relation between being a ‘one’ and being an ‘also’. 2 These correspond to the roles played by objects with respect to incompatible properties, which they exclude, and their role with respect to compatible properties, which they include. So the intracategorial metadifference between two kinds of difference between what now G. W. F. Hegel: Phenomenology of Spirit, trans. by A. V. Miller, with Analysis of the Text and Foreword by J. M. Findlay, Oxford 1977, 113. 2 114. 1
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show up as properties is reflected by the intracategorial difference between two complementary roles objects play with respect to those properties, as repelling incompatible properties and as a medium unifying a set of compatible properties. As to the first, he says: [I]f the many determinate properties were strictly indifferent [gleichgültig] to one another, if they were simply and solely self-related, they would not be determinate; for they are only determinate in so far as they differentiate themselves from one another [sie sich unterscheiden], and relate themselves to others as to their opposites [als entgegengesetzte].
This is the by now familiar point that determinateness requires exclusive, incompatible difference, not just mere or indifferent, compatible difference. Yet; as thus opposed [Entgegengesetzung] to one another they cannot be together in the simple unity of their medium, which is just as essential to them as negation; the differentiation [Unterscheidung] of the properties, insofar as it is…exclusive [ausschließende], each property negating the others, thus falls outside of this simple medium.
The ‘medium’ here is thinghood, the objects that exhibit the properties: The One is the moment of negation… it excludes another; and it is that by which ‘thinghood’ is determined as a Thing. 3
If A and B are different things, then one can be circular and the other triangular, one red and one green. But one and the same thing cannot have those incompatible properties. A’s being circular and red excludes its being triangular or green. Objects are individuated by such exclusions. On the other hand, This abstract universal medium, which can be called simply thinghood…is nothing else than what Here and Now have proved themselves to be, viz. a simple togetherness of a plurality; but the many are, in their determinateness, simple universals themselves. This salt is a simple Here, and at the same time manifold: it is white, and also tart, also cubical… All these many properties are in a single simple ‘Here’, in which, therefore, they interpenetrate…And at the same time, without being separated by different Heres, they do not affect each other in this interpenetration. The whiteness does not affect the cubical shape…each…leaves the others alone, and is connected with them only by the indifferent Also. This Also
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All of this long passage is from 114.
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is thus the pure universal itself, or the medium, the ‘thinghood’, which holds them together in this way. 4
The thing as the medium in which compatible properties can coexist is the thing as ‘also’. It is the thing of many (compatible) properties, rather than the thing as excluding incompatible ones. The tokenings of ‘here’ that sensory consciousness understanding itself as sense certainty already saw as expressing a feature of its experiencings already plays this role, as well as the exclusionary one. Already in that primitive case we can see the medium in which these determinations permeate each other in that universality as a simple unity but without making contact with each other, for it is precisely through participation in this universality that each is on its own, indifferent to the others—As it has turned out, this abstract universal medium, which can be called thinghood itself…is none other than the here and now, namely, as a simple ensemble of the many. 5
Along this dimension, too, thinghood, the idea of objects as an essential structural element of the structure that contains properties, shows up first in indexical form of here-and-now’s, on its way to the full-blown logical conception of particulars exhibiting universals. The idea of sense experiencings that are determinately contentful in the sense of being not only distinguishable but standing in relations of material incompatibility turned out implicitly to involve a structural-categorial contrast between repeatable sense universals and something else. The something else is “thinghood”or particularity. The notion of particularity then turns out itself to involve a contrast: This simple medium is not merely an “also,” an indifferent unity; it is also a “one,” an excluding unity. 6
These different but complementary roles reflect, within this ontological category, the distinction between compatible and incompatible differences, within the ontological category of properties.
113. 113. 6 114. Also: “I now further perceive the property as determinate, as contrasted with an other, and as excluding it…I must in fact break up the continuity into pieces and posit the objective essence as an excluding “one.” In the broken-up ‘one,’ I find many such properties, which do not affect each other but which are instead indifferent to each other.” 117. 4 5
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Properties/Universals Intracategorial Difference
Compatibly Different
Vs.
Incompatibly Different
Intercategorial Difference
Objects/Particulars Thing as Also
Vs.
Thing as Excluding One
Intracategorial Difference
We have seen that determinateness demands that the identity and individuation of properties acknowledge not only compatible differences between them, but also incompatible differences. Does the identity and individuation of objects also depend on both the role of things as unifying compatible properties and their role as excluding incompatible ones? Hegel says: …these diverse aspects…are specifically determined. White is white only in opposition to black, and so on, and the Thing is a One precisely by being opposed to others. But it is not as a One that it excludes others from itself…it is through its determinateness that the thing excludes others. Things are therefore in and for themselves determinate; they have properties by which they distinguish themselves from others. 7
The first claim here is that the thing as a one is in some sense opposed to other things, or “excludes them from itself.” Talk of the thing as an excluding one invokes the role of objects as units of account for incompatibilities of properties. But the sense in which objects exclude or are opposed to other objects cannot be the same as the sense in which properties exclude or oppose one another. What would the units of account for those exclusions be? More dee7
120.
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ply, we have seen that the material contrariety of properties admits of the definition of opposites in the sense of contradictories. Property Q is the opposite of property P in this sense just in case it is exhibited by all and only the objects that do not exhibit P. This is how not-red is related to red. An argument due to Aristotle shows that objects do not have opposites in this sense of contradictories. 8 The corresponding notion of an opposite in the ontological category of objects would have object b being the contradictory of object a just in case b exhibits all and only the properties not exhibited by a. But the properties not exhibited by any object always include properties that are incompatible with one another, and hence not all exhibitable by any one object. The red circular object does not exhibit the properties of being green, yellow, triangular, or rectangular. So its opposite would have to exhibit all of these properties (as well as all the other colors and shapes besides red and circular). That is impossible. Hegel’s Phenomenology has the properties of not being identical to my left little finger, and of not being identical to Bach’s Second Brandenburg Concerto. Its opposite would have to have the property of being identical to both. Since they are not identical to each other, this cannot be. So although objects both differ from and in some sense exclude one another, there is a huge structural difference between how they do and how properties differ from and exclude one another—the distinction between two kinds of difference that kicks off the whole process of explicitation and elaboration we have been rehearsing. The Aristotelian argument unfolds what turns out to have been implicit all along in the distinction between the two ontological categories of properties and objects. The key to the difference, the distinction between them, lies in their relation to exclusive difference: the difference between their relations to this kind of difference. How are we to think of objects as being identified and individuated, by contrast to the ways properties are? The answer Hegel offers in the passage above is surely right as far as it goes: they are identified and individuated by their properties. This response reinforces the order of explanation being identified here as Hegels: from (ur)properties to objects—reversing the extensionalist Tarskian order of explanation. In virtue of their role as hosting co-compatible properties, objects as ‘also’s merely differ from one another insofar as they host different sets of co-compatible properties. In virtue of their role as excluding properties incompatible with those they host, objects as “excluding ones” exclude one another insofar as some of the co-compatible properties exhibited by one are incompatible with some of the co-compatible properties exhibited by another. 8
Book V of the Categories, 3b24.
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Here we see another aspect of the contrast in orders of explanation between the Tarskian extensionalist tradition and Hegel’s metaphysics of universals and particulars. The extensionalist tradition offers an answer to the question about how the identity and individuation of objects relates to that of properties: Leibniz’s Law. It comprises two parts, a weaker and a stronger claim: LL1: The Indiscernibility of Identicals. LL2: The Identity of Indiscernibles. (LL1) says that identical objects must have all the same properties. (LL2) says that objects with all the same properties are identical. The identity of indiscernibles is stronger than the indiscernibility of identicals in that it seems to depend on there being “enough” properties: enough to distinguish all the objects that are really distinct. As it arises in the extensionalist framework, Leibniz’s Law appeals only to the mere difference of properties and the mere difference of objects. It becomes controversial how to apply it when modally robust properties are in the picture. 9 How do these principles look in an environment where exclusive difference of properties is also in play, as well as mere difference? The Indiscernibility of Identicals says that mere difference of properties is sufficient for mere difference of objects. The Identity of Indiscernibles says that merely different objects have at least merely different properties. I think Hegel endorses these principles. But his talk of objects as excluding one another suggests that he also endorses a further, stronger principle: different objects not only have different properties, they have incompatible properties. We might call this principle the “Exclusivity of Objects.” Such a view satisfies three criteria of adequacy, the first two of which are set by the passage most recently quoted above. • It underwrites talk of objects as excluding one another. • It does so by appealing to the more primitive notion of properties excluding one another. • And it respects the differences between property-exclusion and object-exclusion that are enforced by the Aristotelian argument showing that objects cannot have contradictories definable from their exclusions (in the case of properties, their contrarieties) in the way that properties do. In effect, the Exclusivity of Objects says that it never happens that two objects are distinguished by their role as things-as-alsos combining different compatible properties, according to the discernibility of non-identicals version of (LL2) unless they are also distinguished by their role as things-as-excludingI discuss this issue in Chapter Six and the second half of Chapter One of From Empiricism to Expressivism: Brandom Reads Sellars, Cambridge MA 2014. 9
Understanding the Object/Property Structure in Terms of Negation
ones. There is no mere difference of properties distinguishing objects without exclusive difference of properties (having incompatible properties) distinguishing them. This is a topic on which Leibniz’s Law is silent. The principle of the Exclusivity of Objects holds even within the extensionalist context, provided logical vocabulary is available. (Recall that we saw that defining contraries in terms of contradictories requires the expressive resources of both negation and a conditional.) For even in the Tarskian extensional setting it is denied that two objects could differ (merely differ) just by having different merely or compatibly different properties. Taking our cue from the appeal to identity-properties used to illustrate the Aristotelian argument that objects cannot have contradictories, we can notice that if a and b are indeed not identical, then a will have the property of being identical to a and b will have the property of being identical to b. If a and b are not identical, then nothing can have both properties; they are not merely different properties, they are exclusively different. It is impossible for any object that has the one property to have the other. So thinking about things from the extensionalist direction, beginning with mere differences of objects and identifying merely different properties in effect with sets of them, does yield a version of the principle of Exclusivity of Objects. If object a is red and object b differs from it by not having that property, then appeal to the notion of formal or abstract negation yields the result that b has the property that is the contradictory of red. It has the property notred. That property is exclusively different from red, in that it is a property of formal negation that it is logically impossible for any object to have both properties simultaneously. Provided that logical vocabulary such as identity or negation is available to define complex properties, merely different objects will be exclusively different. The fact that the principle of the Exclusivity of Objects, that merely different objects will have not only compatibly different properties but also incompatibly different ones, arises early in the Hegelian order of explanation and late in the extensionalist one is a consequence and reflection of the two orders of explanation regarding the relations between material contrariety and formal contradictoriness that they adopt. The Hegelian order of explanation has no need to appeal to what is expressed by formal logical vocabulary. For distinguishing at the outset compatibly from incompatibly different properties, as Hegel does, commits one to a picture of properties as coming in compatible families of incompatible properties, as in the paradigmatic case of shapes and colors of monochromatic Euclidean plane figures. If objects a and b differ merely in compatible properties, they differ in properties drawn from different families of incompatibles. For example, a is red and b is square.
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But for them to be distinguished from each other thereby, a must not also be square and b must not also be red. But if a is not square, it will exhibit some other shape, incompatible with being square, and if b is not red it will exhibit some other color, incompatible with being red. But then a and b will have properties that are not merely different from one another, but incompatible with one another. That is just what the Exclusivity of Objects claims. According to this picture, kinds of things are characterized by which compatible families of incompatible properties they must exhibit. Sounds can be shapeless and colorless—though they must have some pitch and volume. But any monochromatic Euclidean plane figure must have both shape and color on pain of not qualifying as a determinate particular of that kind. In a sense, then, for the identity and individuation of objects, the exclusiveness of objects, which appeals to exclusive difference of properties, is more basic in the Hegelian order of explanation than Leibniz’s Law, which appeals to mere difference of properties. Modality, what is impossible and what is necessary, is built in at the beginning of Hegel’s story, as a feature of determinate negation. It is more basic explanatorily, and so conceptually, than nonmodal formal logical vocabulary such as abstract negation.
V.
This observation completes the rehearsal of the argument that • elaborates what is implicit in the idea of the contents of sensory consciousness as what would be expressed in a feature-placing vocabulary, • through the consideration of what is implicit in the requirement that the features articulating those contents must be determinate, • through the consideration of the relation of negation and universality, • to the much more finely structured idea of those contents as presenting a world consisting of empirical objects with many observable properties. We are now in a position to understand what Hegel is after when, in the opening introductory paragraphs of the Perception chapter, he says such things as: Perception…takes what is present to it as universal. 10 As it has turned out…it is merely the character of positive universality which is at first observed and developed. 11 Only perception contains negation. 12 10 11 12
111. 114. 111.
Understanding the Object/Property Structure in Terms of Negation
Being…is a universal in virtue of its having mediation or the negative within it; when it expresses this in its immediacy, it is a differentiated, determinate property. 13 Since the principle of the object, the universal, is in its simplicity a mediated universal, the object must express this its nature in its own self. This it does by showing itself to be the thing with many properties. 14
In these passages Hegel describes a path from universality, through unpacking the requirement of the determinateness of universals, to negation (and mediation), fetching up with the universal/particular structure of the thing with many properties. I have told the story somewhat differently, but not, I think, irreconcilably so. The official result inherited from the Sense Certainty chapter is the realization by sensory self-consciousness that it must understand its immediate sense knowledge as having contents that are repeatable in the sense of being universal. (Not only in this sense, as we have seen.) So that is where Hegel picks up the story in Perception. I understand the subsequent invocation of determinateness and negation to be a reminder that what drove empirical consciousness understanding itself according to the categories of sense certainty to the realization that repeatability as universality must be involved was precisely considerations of the determinateness of sense knowledge as involving negation. So I have told the story of sensory consciousness understanding itself as perceiving starting with the distinction between two ways in which sense contents came to be seen to differ already in the experience of sense certainty. The passage I want to focus on at this point is one in which Hegel summarizes what we will learn, by talking about …sensuous universality, that is, the immediate unity of being and the negative… 15
For here he is announcing that in this chapter we get our introduction to one of his master-ideas, that determinateness should be understood as a kind of identity constituted by difference, unity articulated by disparity. Though he has other big ideas, this is the central structural innovation of his thought about what he calls “logic”, which only later in the story is differentiated into a semantics addressing the structure of the subjective realm of thought and an ontology or metaphysics addressing the structure of the objective realm of being. One of my main interpretive claims is that determinate negation or material incompatibility on the side of the thinking subjects is deontic incom13 14 15
113. 111. 115.
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patibility (a matter of commitment and entitlement) and on the side of the objects thought about is alethic incompatibility (a matter of necessity and possibility), and that Hegel’s idealism is a story about the unity constituted by these different kinds of differences. But that is a story for another occasion. What we have been exploring is the metaphysical fine structure of what Hegel invokes in this passage as “the negative.” One of Hegel’s own summaries is this: …the thing as the truth of perception reaches its culmination to the extent that it is necessary to develop that here. It is α) the indifferent passive universality, the also of the many properties, or, rather, matters. ß) the negation generally as simple, that is, the one, the excluding of contrasted properties, and γ) the many properties themselves, the relation of the two first moments: The negation, as it relates itself to the indifferent element and extends itself within it as a range of differences; the point of individuality in the medium of enduring existence radiating out into multiplicity. 16
In fact, I have argued that Hegel’s metaphysical analysis of the fine structure of the aristotelian object-with-many-properties, and his derivation of it from the concept of determinate universality, is substantially more intricate than this summary indicates. As on offer in the Perception chapter, it is a constellation of no fewer than ten interrelated kinds of difference. We began by distinguishing 1. mere or “indifferent” [gleichgültig] difference of compatible universals from 2. exclusive difference of incompatible universals. This brought into view the 3. metadifference between mere and exclusive difference. This is the first intracategorial metadifference, between differences relating universals to universals. It is a kind of exclusive difference, since the universals must be either compatible or incompatible, but not both. ßBLOCKMBAß (One could use the terminology differently, so that exclusively different universals were also merely different. But this does not seem to be how Hegel uses the terms.) Within exclusive difference, there are two species that can be related by two opposing orders of explanation:
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Ebd.
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4. material contrariety, corresponding to determinate negation, and 5. formal contradictoriness, corresponding to abstract logical negation. There is then also the 6. metadifference between determinate and abstract logical negation. This is the second intracategorial metadifference, between differences relating universals to universals. These are not exclusively, but only compatibly different. Contradictories are a kind of contrary: minimal contraries. Implicit in the concept of repeatables as universals is the 7. difference between universals and particulars. This is the first intercategorial difference. It, too, is a kind of exclusive difference. Implicit in the concept of particulars in relation to universals is the 8. difference between two roles they play: • particulars as ‘also’s, that is as medium hosting a community of compatible universals, and • particulars as “exclusive ones,” that is as units of account repelling incompatible properties. This is the first intracategorial difference between roles played by particulars. These are what we might call strongly compatibly different roles, since every particular not only can but must play both. Corresponding to this difference on the side of particulars is the 9. difference between two roles universals play with respect to particulars: • universals as related to an inclusive ‘one’ in community with other compatible universals ((1) aufgehoben), and • universals as excluding incompatible universals associated with different exclusive ‘one’s ((2) aufgehoben). Finally, there is the 10. difference between universals and particulars that consists in the fact that universals do and particulars do not have contradictories or opposites. Unless the distinctions and intricate interrelations between these different ways in which things can be said to differ from or negate others are kept firmly in mind, nothing but confusion can result in thinking about Hegel’s metaphysics of negation. As an illustration, both determinate properties and objects can be understood as, to use a favorite Hegelian phrase, “negations of the negation.” But in very different ways, accordingly as both what is negated and the negating of it must have senses drawn from different elements of the list above. For instance the first negating of a negation is intracategorial, among universals, and the second is intercategorial, distinguishing particulars from universals. In the first case, the identity of a determinate property con-
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sists in how it negates or differs from all of its material contraries. Each is in sense (2) the negation of the property in question. And it is by being the contrary of, negating, all of its exclusive contraries that it is the determinate property that it is. This is one sense in which universals as such “contain negation within themselves,” which is why perception, which “takes what is present to it as universal,” thereby itself “contains negation.” In the second case, according to the order of explanation I have attributed to Hegel, particulars are understood in terms of their exclusive difference, of types (7) and (9), from universals. Since the universals are the determinate universals they are because of their negations of one another, particulars can be understood as negations of the negations that articulate those universals. They are of the category that does not negate others of its category in the way universals do negate others of their category. These two examples of kinds of identity that are intelligible as constituted by negating a negation are obviously quite different, due to the difference in the kinds of negation.
VI.
We have seen Hegel argue that the idea that sense experience has a determinate content implicitly involves the idea that such contents can differ from one another in two different ways. And we have seen how he argues that the aristotelian structure of objects-with-properties is implicit in the relations between these two sorts of difference, these two senses in which contents can negate one another. The result is a case-study concerning how Hegel thinks a more complex structure can be understood as implicit in a simpler one. That understanding is articulated and enacted in the process by which one goes about making that implicit structure explicit.
Vojtěch Kolman
“There Have to Be Crooks in This World Too” The Speculative Logic of the Constitutive Exception
1. Introduction “There have to be crooks in this world too,” said Švejk, lying down on his straw mattress.“If everyone were honest with each other, they’d soon start punching each other’s noses.” (Jaroslav Hašek, The Good Soldier Švejk) 1
Sayings such as “the exception proves the rule” are both part of the folk wisdom and, in an elaborated aphoristic form, the basis of a variety of dialectical gags and puns, as utilized aptly, but sometimes ad nauseam, by Slavoj Žižek. The above quoted passage from Hašek’s Švejk is, in fact, one of them. 2 In looking for a deeper logical stratum that these puns and gags might have one risks, of course, spoiling all the fun – including their playful and surprising quality. In this paper I am willing to take this risk, maintaining that, in the end, it is the task of philosophy to spoil the fun of others for the benefit of some higher good. This good, I will claim, is that which Hegel calls speculative logic. 3 Such a logic, in my reading, calls for a finer analysis of language that somehow considers its inherent subversiveness which, often, by aiming at achieving one goal, achieves the very opposite of it. It is exactly due to this subversive Jaroslav Hašek: The Good Soldier Švejk and His Fortunes in the World War, transl. by Cecil Parrott, London 1973, p. 30. 2 One of Žižek’s own illustrative examples is, e. g., this: “Rabinovitch, a Jew […] wants to emigrate. The bureaucrat at the emigration office asks him why; Rabinovitch answers: ‘There are two reasons why. The first is that I’m afraid that in the Soviet Union the Communists will lose power, there will be a counterrevolution, and the new power will put all the blame for the Communist crimes on us, Jews—there will again be anti-Jewish pogroms …’ ‘But,’ interrupts the bureaucrat, ‘this is pure nonsense, nothing can change in the Soviet Union, the power of the Communists will last forever!’ ‘Well,’ responds Rabinovitch calmly, ‘that’s my second reason’.” See Slavoj Žižek: Žižek’s Jokes, ed. by Audun Mortensen, Cambridge MA 2014, p. 127. 3 See, particularly, Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Encyclopedia of the Philosophical Sciences in Basic Outline. Part I: Science of Logic, transl. by Klaus Brinkmann and Daniel O. Dahlstrom, Cambridge 2010, §§ 79–82. 1
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feature of language that Kant forbids reason to use certain global concepts, such as world or God, in a direct way, and Wittgenstein later insists that some truths cannot be positively claimed but only shown. The concept of “the constitutive exception” deals with the same phenomenon from a more positive or speculative side, addressing this subversiveness as a constitutive rather than destructive phenomenon. To achieve this, however, one must undergo and complete the following dialectical journey: (1) First, there is the intrinsic negativity of our knowledge, as given in the motto determinatio est negatio: to determine something means to draw a boundary between the thing to be determined and the rest, against which the determination proceeds. (2) Second, once this negativity is combined with the utmost generality, as in the determination of ultimate totalities, such as the world, the God, or the set of all sets, the resulting impossibility of contrasting the whole with its outside that, by definition, cannot exist is resolved by the inner split. That is, the boundary is drawn again, but this time within the very totality itself. Here, the first, though underdeveloped concept of the constitutive exception arises: there must be exceptional objects that cannot be real, so that the other objects could be. (3) In the final ironic twist, known from the master slave parable, the full-fledged form of the constitutive exception comes forward: the exception is found more real than the regular cases, being the source of their reality. As a result, the new concept of knowledge arises. In my paper, I would like to provide a more transparent or “exact” form of this line of thought against the background of the development of modern “mathematical” logic. Cantor’s diagonal construction will provide a model situation, from which the full-fledged form of constitutive exception arises by means of its transformation within Gödel’s incompleteness result. Here, an arithmetical sentence is construed that is unprovable and – here comes the moment of irony – because of this unprovability is true. This twist, I will claim, stems from the fact that in this second model the exception cannot be simply explained away by purely formal reasons but manifests straightforwardly the deeper logical structure which is the dialogical nature of our language. Speculatively, I will claim, the full-fledged “constitutive exception” stands for the existence of another against whom my sentences are claimed and who, as such, can always disagree because without such a disagreement, the sentence will lose its positive value. The talk about the constitutive exception here is to make the structure of our fallibility explicit, capturing its intrinsic positive sense. It is both our knowledge’s weakness and, at the same time, the source of its power, its objectivity, and possibility to grow.
“There Have to Be Crooks in This World Too”
2. Negativity and Generality
“If I want to say something meaningful, I must limit myself.” This is the joint obnon-A servation and, so to say, central thesis of both Hegel’s and Wittgenstein’s general concepts of logic that supersede their A usual narrow, formal variants. 4 Thus, in Hegel’s Science of Logic, one starts with the concepts of pure, or unqualified Being and Nothingness, only to find out later that they are pretty much the same. Like the pure light or darkness, they both allow us to see both everything and nothing. As a result, the qualified Being arises once these extremes are combined, first in the concept of Dasein and, finally, via the series of interconnected steps, in the ultimate concept of Absolute in which they meet without canceling each other and all the distinctions they have led to. In Wittgenstein’s Tractatus, the choreography is quite similar, starting with examples of extreme truth-conditions, tautology and contradiction. Like Hegel with his metaphor of darkness and light borrowed from Goethe’s theory of color, 5 Wittgenstein too is quite graphical: “The truth-conditions of a proposition determine the range that it leaves open to the facts. (A proposition, a picture, or a model is, in the negative sense, like a solid body that restricts the freedom of movement of others, and, in the positive sense, like a space bounded by solid substance in which there is a room for a body.) A Hegel says this explicitly in his Encyclopedia of the Philosophical Sciences in Basic Outline, § 80 (p. 127): “Someone who wants to do something great must know, as Goethe says, how to limit himself ”, reflecting on the role of understanding (Verstand) as the lowest power of reason and the domain of the formal logic that sets the fixed rules and differences. (The direct reference is to Goethe’s poem “Natur und Kunst”.) 5 See Georg Wilhelm Friedrich Hegel: The Science of Logic, transl. by George di Giovanni, Cambridge 2010, p. 69: “Pure light and pure darkness are two voids that amount to the same thing. Only in determinate light (and light is determined through darkness: in clouded light therefore), just as only in determinate darkness (and darkness is determined through light: in illuminated darkness therefore), can something be distinguished, since only clouded light and illuminated darkness have distinction in them and hence are determinate being, existence.” See also Goethe’s Theory of Color: “What we have been describing is an archetypal phenomenon of this kind. On the one hand we see light or a bright object, on the other, darkness or a dark object. Between them we place turbidity and through this mediation colors arise from the opposites […].” Johann Wolfgang Goethe: Scientific Studies, transl. and ed. by Douglas Miller, New York 1988, p. 195. 4
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tautology leaves open to reality the whole – the infinite whole – of logical space: a contradiction fills the whole of logical space leaving no point of it for reality. Thus neither of them can determine reality in any way.” 6
Thus, again, reality is a mixture of both unqualified Being and Nothingness and, as such, has to be expressed by sentences that can be both true and false. The concept of the Absolute – as something both achieved and discarded – arises in the last paragraphs of Wittgenstein’s essay in which one is advised to throw away the ladder after he has climbed up. 7 The problem with the extreme cases – i. e., tautology and contradiction – that draw no boundaries at all, consists in the circumstance that they, in fact, draw them, not contentwise, but nominally, by their very form of an indicative sentence. For Wittgenstein, this is the reason, Kantian by its very nature, why we simply cannot talk about them but just indicate them by means of a suitable formalism. For Hegel, this would be an empty gesture: We can talk about them because we do. The reason to be given is how to talk about them, and this, in Hegel’s choreography, consists in filling the gaps on the long route between the unqualified Being and the overqualified Absolute. Now, what happens once the combination of generality with negativity is not forbidden, but taken as it is? Put graphically, the outer emptiness so to say migrates into the whole itself, splitting it into x Nothing its proper and improper part. See the picture. This is, basically, what Hegel’s “middle” categories such as Being and Semblance stand for, starting with the existent objects, or phenomena, that can be treated as real or not, dependx ing on the rational reasons we provide for them. Thus, one differentiates between the real drug and placebo not because there are no existing effects in the latter case, but because they are not taken as real (or “objective”) for generally acknowledged reasons. Similarly, one can draw a difference between a real and a fictitious force, such as a centrifugal one, not because we do not feel the existing effects of both forces, e. g., when changing direction in a car, but because, in the latter case, we ascribe them to the body’s inertia and not to the causal acting of other bodies. 8 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, transl. by D. F. Pears and B. F. McGuinness, London 1974, § 4.463. 7 Ibid., § 6.54. 8 It is quite important for a proper understanding of Galilei’s and Newton’s achievements to see inertia as a label for the newly introduced conceptual frame rather than for 6
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Hegel’s saying that “not everything that exists (existiert) is real (wirklich)”, 9 meant as an adjustment of his controversial gnomon “what is real, is rational and vice versa”, captures this situation quite well, being, in fact, the motto “determinatio est negatio” in its more developed form. To say something meaningful I cannot just register phenomena, but I have to draw some rational boundaries within them, e. g., by means of Newton’s laws of motion and their concept of inertia, leading to the division of phenomena into proper and improper parts. Against this background, the concept of constitutive exception suggests itself almost automatically, as a kind of a logical explication of the whole situation: the constructive exception is an existent object that is not real in order the other objects could be.
3. Cantor’s Model
To make the underlying logical mechanism explicit, I suggest considering Cantor’s diagonal construction as a kind of model case. Its model quality lies, of course, in having the employed conceptual means under, so to say, exclusive control, which covers Cantor’s very own definition of real numbers. This definition goes back to the approximative reading of real numbers as infinite sequences of rational numbers, or, in the most simplified form, the sequences of 0’s and 1’s. 10 After this is done, what follows is a construction of an object that is among those reals and at the same time cannot be there. Cantor’s idea is basically this: If reals are given as arbitrary sequences of 0’s and 1’s, one can think of them in their exhaustive enumeration, forming the sequence of sequences, a1, a2, a3, … See the illustration. This allows us, in the second step, to make the following move: take the diagonal d of this the mere result of empirical observations. In this frame, contrary to the frame provided by Aristotle, it is the change of the uniform movement, not the uniform movement itself, that one is obliged to explain, which is why one of the laws is phrased as F = ma and not F = mv. 9 See Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Philosophie des Rechts. Nach der Vorlesungsnachschrift von D. F. Strauß 1831, Stuttgart-Bad Cannstatt 1973, p. 923. 10 This refers to the binary version of the better known infinite decimal expansion of real numbers in the form a.b1b2b3… where a is an arbitrary natural number and bn stands for an arbitrary integer in the range 0, …, 9. The expression b1b2b3…, or the fractional part of the given number, in fact, represents an infinite series of rational numbers of exponentially decreasing size thus capturing the idea of rational approximation of the point of the real line by the powers of 1/10. The binary representation provides this approximation by means of the range of 0, 1, i. e., the powers of 1/2. Cantor himself uses the concept of the fundamental series, which is simply a general series meeting the so-called Cauchy property. All these concepts are, in fact, equivalent.
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enumeration and systematically dea₁ 11111… form it, here by replacing 0 by 1 and vice versa. Now, obviously, the defora₂ 01010… mation d ’ must be missing from the a₃ 11001… d' = 00111… list (since it differs from every an in a₄ 10000… the n-th member of its development) a₅ 01000… and, at the same time, it must be there … as a series of 0’s and 1’s. As such, it represents an exception. Let us base the following discussion, as well as the split between the classical and constructive mathematics, on this observation. Classical mathematics follows Cantor in treating his construction as leading directly and inevitably to what is known as Cantor’s diagonal argument. According to this, the exception is only an apparent one, serving as an element in the more complex reduction ad absurdum of the presupposition that one can enumerate all the real numbers, i. e., index them by means of the natural ones. In Cantor’s reading, the construction shows that the totality of reals is in some sense bigger than the totality of natural numbers, or non-denumerable, which represents the beginning of the set theory as a theory of the emancipated infinity. On the other hand, the founder of intuitionistic mathematics and one of the most fervent opponents of classical mathematics, L. E. J. Brouwer, disagrees. The exception is real, he would claim, because it represents a case which was not in the previously defined reals, but it still belongs to them by way of an additional adjustment. Accordingly, the concept of the real number is a dynamic one meeting Hegel’s idea of logical categories as developing in accordance with the content they represent. There are no more reals than natural numbers, their difference consisting mainly in the nature of their concept formation which in the former case transcends every attempt at a schematic delimitation. As such, Brouwer says, reals are not non-denumerable, but merely denumerably unfinished. 11 Now, what I want to claim is that both these approaches are, in fact, insufficient, representing the early phases of the development of logical categories. Their attitude to the given constitutive exception is a sign of it. For Cantor, there is no such thing as the sequence d ’, its construction serving only as a part of the indirect proof. For Brouwer, on the other hand, d ’ is real both as an See Brouwer’s dissertation: Over de grondslagen der wiskunde, Amsterdam 1907. For English translation see L. E. J. Brouwer: Collected Works I., ed. by Arendt Heyting, Amsterdam 1907, p. 13–101, p. 108. 11
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object and as an exception, but only temporarily, until d ’ is made part of the real numbers. In both cases, the constitutive exception proper disappears. As for the insufficiency of Cantor’s approach, this is easy to show once one follows its further fate to the moment when it famously backfires via the so-called Cantor’s theorem. This is also based on the diagonal construction arguing that for proper every set there exists a bigger one, namely its classes sets power set. 12 Applied to the set of all sets V, which should, simply by definition, be the biggest of all, the theorem brings about the following contradiction: the given power set of V should be bigger than V and, at the same time, cannot be. Since Cantor, unlike Brouwer, does not doubt the employed conceptual means, particularly the very concept of the size of the infinite totalities, he must deny the existence of the very set of all sets. Thus, in the end, he arrives at what he tried to avoid before, i. e., the exception proper stemming from the split of the unqualified Being into real totalities, the sets, on the one hand, and the totalities that are only apparent, the proper classes, on the other hand.
4. Becoming and Nothing
The insufficiency of Brouwer’s reading is more delicate. Let me circumscribe it by means of comparison: Cantor starts with the universe in its original form of pure Being, and the difference between the real and apparent object arises only later by this universe’s collapsing, so to say, under its own weight, which is also the weight of the global definition of the real number as an arbitrary sequence; for Brouwer, the totality of reals generates the same split of pure Being from inside representing what Weyl later identified in Hegelian (and Heraclitus’) terms as examples of the category of Becoming. 13 In Hegel’s terms, The idea is to consider an arbitrary surjective mapping f of the set A on its power set P (A), i. e., the set of all subsets of A, and consider the “deformed” diagonal set D’ of all members a of A that do not belong to their image f (a), i. e., D’ = {x, x 2 =f (x)}. Now, the question is whether the element d’ such that f (d ’) = D’ is a member of D’ or not, both possibilities resulting in the opposite answer, i. e., d ’ 2D’ if and only if d 2 =D’. Based on this antinomy, Cantor concludes that the given mapping of A on P (A) cannot exist while being surjective, i. e., covering the whole P (A) as its range which, in his reading, says that P (A) is always bigger than A. 13 See Hermann Weyl: “On the Current Epistemological Situation in Mathematics”, in: 12
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Brouwer does not start with the pure Being, but from its negative counterpart, the pure Nothing. This allows us to depict both approaches as parts of the same problem. While Cantor presupposes too much, or, as Wittgenstein put it, deals with numbers as “facts of nature” rather than products of our creation, 14 Brouwer presupposes too little, underestimating the robust and independent features of the products of our creativity. This is what his attitude to classical logic and mathematics clearly demonstrates. He attacks them for their unreliability, rightly noticing that there is a vacant space between the positivity of Being simply stipulated and the unfinished nature of Becoming as stemming from the infinite nature of arithmetical concepts. He uses this vacancy – i. e., the space in which the exceptions such as those given above can arise – against classical logic and mathematics by adopting it as a new standpoint but supposedly without making the same mistake they did, by fixing this standpoint explicitly as something that could be overthrown later. And this fixation of the unfixed is where his strategy, going back to what is called his method of counterexamples, blatantly fails. Let me describe this particular method in some detail. Brouwer notices that, due to the underlying infinity of mathematical discourse, there is a fluent sphere of undecided arithmetical sentences such as the Goldbach conjecture that allow us to check the validity of some claim, e. g., that an even number (bigger than 2) is the sum of two primes in every specific case but not in toto because there are simply too many numbers to be checked. This can be materialized in the concept of the pendulum number, 15 providing a new sense in Paolo Mancosu (ed.): From Brouwer to Hilbert. The Debate on the Foundations of Mathematics in the 1920s, Oxford 1998, p. 123–142, p. 141. 14 See Ludwig Wittgenstein: Remarks on the Foundations of Mathematics, transl. by G. E. M. Anscombe, London 1967, p. 56: “The dangerous, deceptive thing about the idea: ‘The real numbers cannot be arranged in a series’, or again ‘The set … is not denumerable’ resides in its making what is a determination, formation, of a concept, look like a fact of nature.” 15 The number is based on the rational development p , p , … which oscillates around zero 1 2 with an exponentially decreasing swing, e. g., pn = (–1/2)n, and stops once the so-called critical number, i. e., the lowest even number which is not the sum of two primes, is found. But since we do not know whether there is such a critical number, the pendulum number p is neither 0, nor positive, nor negative. Brouwer interprets this result not only as a proof of the unreliability of the excluded middle, but also as the basis of some classically very weird mathematical theorems such as that every total function defined on the continuum must be already continuous. The point is that the classical counterexamples, such as the step function f (x) = 1 for x < 0 and f (x) = –1 for x � 0, will not work here exactly because one cannot say what their value is for p.
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which some classical laws of logic, such as the excluded middle but also the standard mathematical theorems, might be treated as ill-defined. But for this method to work, as the basis of what might be called the ultimate logic of the constitutive exception, one obvious problem obstructs the path: the undecided sentences witnessing the unreliability might be decided later, as happened famously in the case of Fermat’s last theorem. Brouwer tried to avoid this option by replacing the as yet undecided sentences with the oracle of the socalled “creating subject,” which provides for spontaneous and completely contingent decisions such as “throwing a dice”. Consequently, the possibility of constructing an exception to any given rule, or to the given difference, is based on ignoring any rule there is or might be by a simple fiat. The problem of this move, as phrased by Wittgenstein, 16 is that by ignoring any rule, or transgressing any difference, no new rule or difference arises. The rule as well as the difference are, namely, contrastive concepts as is the exception an exception from something. Thus, Brouwer’s ultimate exceptions or counterexamples are, for conceptual reasons, no exceptions at all. But this is not to say that we have achieved nothing. Quite to the contrary, we see now more clearly than before that what has been disguised as the intuitionist’s or constructivist’s Becoming is, in fact, still the old Nothing and, as such, identical with the Being transposed to the unreachable Beyond. Speaking epistemologically, Brouwer’s radical subjectivity, unbound by any rule, amounts to Cantor’s radical objectivity, in which the ever-collapsing universe fuses with the one being constantly expanded. The running conclusion is this: the true solution must lie somewhere in between, in the insight that classical or any other logic are not unreliable per se but only if they think of their principles as forever fixed and immediately given. 17 Unlike this “cautious positivity”, i. e., positivity aware of its own “negativity”, or limits, Brouwer’s own destructive approach, on the other hand, easily becomes unreliable once it is taken to its limits which are, it would appear, no limits at all. See Wittgenstein’s comments on Brouwer’s methods in Philosophical Remarks, ed. by Rush Rhees, London 1975, particularly § 179 (p. 220): “But that doesn’t imply that a law would be given in that I say ‘In every case throw either heads or tails.’ Of course, in this way I would necessarily obtain a special case of the general law mentioned, but wouldn’t know from the outset which. No law of succession is described by the instruction to toss a coin. What is arithmetical about the process of tossing the coin isn’t the actual result, it is its infinite indefiniteness. But that simply does not define a number.” 17 Frege, e. g., does not think so, at least not in his Begriffsschrift period, clearly identifying the emergence of his Concept Script with the historical situation of the reformed calculus of Cauchy and its needs of clarifying the “logic” of quantificational dependencies and a substantial use of relative properties. See my paper “Logicism as Making the Arithmetic Explicit”, in: Erkenntnis 83 (2015), p. 487–503, for elaboration on this point. 16
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The speculative turn, which I would like to proceed to now, amounts to an attempt to capture the given approaches, Cantor’s and Brouwer’s, as contributing to the bigger picture of what is happening in thinking in which both tranquility of the fixed Being and creativity of the perpetual Becoming is needed. For this, I suggest, Cantor’s model case of the constitutive exception must be revised.
5. Gödel’s Model
Speculatively, let us say, the situation looks like this: Brouwer’s attempt at “the ultimate logic of constitutional exception” is legitimate but remains stuck at the mere dialectical level of considering the always present relativity of our distinctions without clarifying from where their possible stability comes from. And this, in my reading, is the result of an impoverished concept of constitutive exception which always vanishes in the process of becoming. As a model in which this is taken care of, I suggest one based on Gödel’s incompleteness theorem. Formally, it looks like a straightforward employment of Cantor’s diagonal construction. Its strength, however, lies elsewhere, not on the merely formal level, but in the model’s subject proper which is the delimitation of arithmetical truth. Gödel’s idea is roughly this: In dealing with the arithmetical truths, I can refer to some axiomatic systems generating arithmetical sentences both as a definition of truth and its objective manifestation here and now. Frege “I am unprovable” and Hilbert provided tools for this task. Now, like Cantor before him, and Gödel has shown that once this because of task is done, it has to be incomplete provable it true because one can construct an arithmetical sentence which is true but does not fall within the given axiomatic delimitation. And this is done “simply” by constructing the sentence, claiming, contentwise,“I am unprovable”, which means not derivable in the given axiomatic system. 18 Provided that the given There are, of course, additional conditions to be met for the argument to work. First, the axiomatization must be “mechanically” testable, or recursive, as the definition goes, i. e., one must be able to effectively check what the axioms or rules are and what the proof based on them is. Second, the system must be strong enough so that the critical sentence might be even phrased (Presburger arithmetic with the language limited to the successor function and addition is complete in the axiomatic sense of the word but, of course, incomplete in so far as 18
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axiomatic system captures the arithmetical truth, then, if provable, the sentence – still being an arithmetical sentence though, at the same time, about arithmetic – has to be true, i. e., unprovable, which is a contradiction. As a result, the given sentence must be unprovable and, as such, true. Now, the range of problems and possible readings present here is similar to those of Cantor’s diagonal construction, including two extreme cases: (1) there are arithmetical truths that cannot be known by men, and (2) every delimitation of arithmetical knowledge transcends itself. 19 These extremes represent, respectively, the unqualified Being and the all-annihilating Becoming that, in the end, collapse into each other. But this time, the given collapse does not have to happen, if one considers the specific role that the concept of truth plays here, enhancing the whole argument with what might be called narrative irony. 20 This is mainly to emphasize the distinctive point of the whole construction, particularly with respect to the previous one. Here, the given sentence is not only outside the previously delimited realm of truth, but, in fact, it is true because it us outside of it. 21 This is why the described “exception”cannot be easily explained away, neither in Cantor’s nor in Brouwer’s way: without it, the whole argument would immediately lose its sense. Thus, e. g., one cannot claim that there are arithmetical truths unknown to men because the given example of the unprovable sentence is proven to be true as part of the arguthe required goal of capturing the arithmetical truth is concerned) and consistent. Third, the suitable coding is introduced in which arithmetical expressions are associated with numbers in such a way that a particular number fulfils a concrete arithmetical condition if and only if the encoded expressions fulfill a certain syntactical condition, such as “to be an axiom”or “to be a proof ”, etc. For further details, see, e. g., Peter Smith’s didactical masterpiece: An Introduction to Gödel’s Theorems, Cambridge 2007. 19 These options were, in fact, phrased by Gödel himself, see his “Some basic theorems on the foundations of mathematics and their implications”, in: Kurt Gödel: Collected Works III, ed. by S. Feferman, J. W. Dawson, W. Goldfarb, C. Parsons, and E. M. Solovay, Oxford 1995, p. 304–323, p. 310. 20 The term is borrowed from Hutter’s book Narrative Ontologie (Tübingen 2017, p. 84), in which such an irony is described as a vehicle of correcting the facts, or Being, by means of a meaning, or Sense. 21 The sentence has the form of the generalized claim :Proof(x,n) which is decidable, in the sense that one can show in finite number of steps, for given m, that :Proof(m,n) is derivable in the given axiomatic system, i. e., true according to the given standards. The formula Proof(m,n) expectedly captures the semantic fact that m is encoding the proof of the formula encoded by n. The fact that 8x:Proof(x,n) must be true too, is just part of the metamathematical reasoning that was present here the whole time. That it cannot be proven in the original system follows from the fact that n represents the formula 8x:Proof(x,n) itself. I am, of course, simplifying heavily here in so far as the technical details of the whole construction are concerned. You may find them, again, in Smith: An Introduction to Gödel’s Theorems.
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ment. And for the same reason, one cannot say that this sentence is true in a new sense only to be accommodated later. What the model based on Gödel’s theorem leads us to is, in the first place, the conclusion that one must differentiate between the proof and truth. And this is, in fact, what the argument historically – though not always on the conscious level – has established. But one cannot end up with that, particularly if the truth and proof are conceived merely as independent and heterogenous spheres of intelligibility, syntax, and semantics, as they usually are in their standard reading. 22 What the model really provides and what the narrative irony employed stands for is rather this: it is the truth itself that, in its most general meaning of human knowledge, is split into two parts which are both interdependent and homogenous as the argument goes.
6. You Are an Exception
Epistemologically speaking, the difference between the truth and proof mimics the old difference between the observed reality as it is and the reality as it appears to the eye of the beholder. As such, it leads to the original form of the epistemological skepticism: if the world as it objectively is and my capability of its cognition are of a different nature, there will always be a situation in which something is true yet the justification fails. However, Gödel’s argument shows – and this is the point of the previous section – more than this, namely the inner codependency of both world-concepts as well as the positive side of their conflict. In fact, it provides a clear example of where the benefits of our fallibility lie, showing ironically that without the tendency to fail, there would be no possibility to know. Knowledge and failure support each other if treated in an adequate way. With respect to the traditional definition of knowledge and Gettier’s attack on it, this was elaborated by Robert Brandom in his broader concept of inferentialism. 23 The problems like those described above, Brandom argues, show not that we are “finite”,“limited”creatures unable to know, but that knowledge, This point was, in fact, expressed by Frege against the concept of Hilbert’s metamathematics maintaining that the concept of provability (i. e., the metamathematical claim “this is provable”) presupposes the same concept of truth that it tries to justify. 23 Gettier’s famous argument against Plato’s classical definition of knowledge as justified true belief (see Edmund Gettier: “Is Justified True Belief Knowledge?” in: Analysis 23 (1963), p. 121–123) plays an important role in Brandom’s argument because it shows, in a suitable reading, how the gap between the justification and truth, in fact, arises and cannot be overcome by conventional means, i. e., by a mere ad hoc adjustment of conditions put on justifia22
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in fact, is something else than we might have thought before. It is not a binary relation between the subject (providing the proof, or justification) and the object (providing the truth) but a complex social enterprise in which the object is addressed always derivatively via another subject. This relation might be conceived as a binary one too, but with an additional element, which is the sociality itself, or, as Hegel put it, I that is We and We that is I. The main advantage of Gödel’s model is that it allows us to make this point explicit not only in the general sense described above, but also in the specific sense of the employed mathematical concepts such as provability. It was Paul Lorenzen – one of the followers and, at the same time, one of the critics, of Hilbert’s metamathematical reasoning – who stressed that provability in some axiomatic system, despite its superficial positivity, has an obvious negative side: if something is provable then there is a positive proof I can give, but if it is not provable then I have obviously nothing in hand to show. Lorenzen’s central idea was that these cases, and, in fact, negation in general, cannot be captured directly as the existence of the non-existent, but by a dialogical move. 24 In claiming something, he says, I am, often implicitly, addressing somebody else, who can ask for a justification of my claim. In the case of negation, I am also claiming something, but the justification is indirect: if my negative claim (non-A) is doubted, my partner who executes the doubt commits himself to the given positive part of the claim (A). It is only by this move that the whole problem can obtain an essential social reading in which the other side not only adopts an offensive attitude but must actively defend itself too. If my opponent is not able to defend his or her claim, I win, and vice versa. By this social move, the given duality, as described above, is both overcome and sustained by treating the originally heterogenous sides of truth and justifiability as played by two idealized partners within one dialogue. In claiming something, I am not primarily addressing the world but somebody against whom my claim is made, thus acknowledging the existence of the other who, if this addressing shall have any significance, can disagree. The whole mystery of knowledge’s fallibility and the impossibility of its direct expression is given in this peculiar nature of our sentences that, no matter how social they are, do not wear this sociality on their sleeves. In the end, it is the other, we might say, that is the always present “constitutive exception” in the whole enterprise of bility. See Robert Brandom: Articulating Reasons. An Introduction to Inferentialism, Cambridge MA 2000, chap. 3. 24 See both Paul Lorenzen: Einführung in die operative Logik und Mathematik, Berlin 1955, and Paul Lorenzen: Metamathematik, Mannheim 1952, for further details.
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knowledge. As such, the constitutive exception is both existent and real from the beginning to the very end; otherwise, knowledge would lose its dynamic and creative nature that is not reducible to mere positive statements of some facts but to both their constitution and maintenance. The concept of narrative irony is an essential part of this.
7. Master’s Proof and Slave’s Truth
The ironic part of Gödel’s argument becomes particularly vital if looked at from the perspective of Hegel’s master and slave parable. In fact, the relation of Cantor’s model to Gödel’s and the transition between them corresponds roughly to that from the inverted world to the given parable in Hegel’s Phenomenology of Spirit. Here, the truth finally manifests its deep dialogical nature and the employed self-referential forms, such as “I am provable”, turn out to be complex social achievements in which the relation to myself is moderated by my relation to another. In this achievement, the proof and truth are treated as specific perspectives of two participants of the dialogue, or their fight to the death, by which the death of the original one-sided point of view, or one’s epistemological subjectivity, is meant now. What Gödel’s construction has explicitly shown is (1) that knowledge, or truth in the original undifferentiated sense of the world, cannot be thought outside the dialogical process (as Cantor’s solution would suggest) and (2) that this process is unstable once I think of some delimitation of truth as fixed and for ever given (as Brouwer’s solution indicates). Both these points are part of the whole narrative and contribute to what was called the “narrative irony” of the whole story and what famously makes the proper part of the dialectics of master and slave. The details are as follows: The master here is the one who delimits the concept of truth by a specific method of justification, such as the axiomatic proof. As such, he can easily be found to be dependent on the more general concept of truth which he, unknowingly, uses to phrase his own position as dominant. In the very task of delimiting the truth, I am already presupposing the concept of truth as given. 25 From the other side, in showing the master’s Hilbert’s angry reaction to Gödel’s incompleteness results, announced at the same time as when he was pronouncing the famous words “we must know, we will know” on the radio, in fact only corroborates his masterly role in the given discourse, as does his attempts to exclude Brouwer with his alleged “putschist’s” tendencies from the editorial board of Mathematische Annalen. The so called Grundlagenstreit associated with this is, in fact, an apt illustration of how superficial positivity can seriously affect and influence the social 25
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conceptual limits, I am revealing that without such an attempt at delimitation there would be no truth at all, because simply everything could be true in some sense. That is why the master’s truth is part of the resulting sentence which is not true according to his standards but still true with respect to them. Hegel phrased it in the original context like this: “without having experienced the discipline that breaks self-will, no one becomes free, rational, and capable of command. To become free, to acquire the capacity for self-government, all peoples must therefore undergo the severe discipline of subjection to a master. […] Bondage and tyranny are, therefore, in the history of peoples a necessary stage and hence something relatively justified.” 26
The slavish reading of the whole argument thus consists in the radical claim that I do not need any delimitation of truth because it is somehow pregiven, be it in the mathematical reality, i. e., hyper-objectively, or in the inner self of the creating subject, i. e., hyper-subjectively. This is what Brouwer arrived at in his concept of the creative subject and what Cantor says when he claims that the freedom of mathematics consists in having no limitations or differences at all. 27 The significance of Gödel’s results and the model based on it consists in avoiding all the extreme readings of what knowledge is, on the one hand, while showing their place in the resulting whole, on the other. There is no pregiven sphere of a fixed mathematical or any other kind of knowledge independent of relations even in the seemingly purely intellectual and highly objective subjects as mathematics. See, e. g., Dirk van Dalen’s biography of Brouwer for further details: Mystic, Geometer, and Intuitionist. The Life of L. E. J. Brouwer. Vol. 2: Hope and Disillusions, Oxford 2005, chap. 15. 26 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Philosophy of Mind, transl. by W. Wallace and A. V. Miller, Oxford 2007, p. 161 (§ 435). 27 Both Cantor’s and Brouwer’s fight for their own version of mathematics in the name of creative freedom. Thus Brouwer: “Mathematics is created by a free action independent of experience; it develops from a single aprioristic basic intuition, which may be called invariance in change as well as unity in multitude.” Brouwer: Over de grondslagen der wiskunde, p. 97. And Cantor: “Mathematics is in its development entirely free and is only bound in the self-evident respect that its concepts must both be consistent with each other and also stand in exact relationships, ordered by definitions, to those concepts which have previously been introduced and are already at hand and established. […] every superfluous constraint on the urge to mathematical investigation seems to me to bring with it a much greater danger, all the more serious because in fact absolutely no justification for such constraints can be advanced from the essence of the science – for the essence of mathematics lies precisely in its freedom.” Georg Cantor: “Foundations of a general theory of manifolds”, in: William Ewald (ed.): From Kant to Hilbert. A Source Book in the Foundations of Mathematics, Vol. II, Oxford 1996, p. 878–919, p. 896.
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the given “community” and its ability to claim something. This claiming has a complex narrative structure in which, first, somebody must adopt the masterly role of delimiting something, which includes, by its very form, the determination to defend it against everyone. Already this, though, provides for the proponent’s fallibility, i. e., possibility that his masterhood will not be accepted as such. But this fallibility goes beyond the mere claim that mistakes happen: not only because every master can fail, but because he or she, in fact, must fail if the given process shall constitute what might be called knowledge proper. By this ironic twist, the inherent instability of knowledge is transformed into its relatively stable social form employed in a democratic dialog in which both sides have their say, i. e., are master and slave at the same time. It is this cautiously limited freedom of speech that the full-fledged constitutive exception stands for.
8. Conclusion “I think that we should be fair about everything,” said Švejk. “After all, anybody can make a mistake and, in fact, must make a mistake, the more he thinks about a thing.” (Jaroslav Hašek, The Good Soldier Švejk) 28
The full-fledged concept of a constitutive exception is an explicit and adequate expression of our fallibility. This trades hopeless skepticism (or what Hegel calls the “path of despair” or the “Golgotha of the Spirit”) for a kind cautious optimism which is, we might say, the tenor of Hegel’s speculative logic. It is better not to think of this logic as a kind of super-logic that pretends to replace both the standard logic of Being or its dialectical extension of everlasting change or Becoming by introducing new rules or laws, such as those articulated by Brouwer or, for that matter, by Žižek and Lacan. 29 In a sense, it is still Hašek: The Good Soldier Švejk and His Fortunes in the World War, p. 27. (I have adjusted the original translation a bit so as to be in accord with the original wording.) 29 Žižek, following Lacan, entertains the so-called formulas of sexuation, together with the exceptional rules such as that the sentence “for every x A(x)” entails, for intelligibility’s sake, that “there is some x such that non-A(x)”, as a kind of counterpart to Aristotle’s logical square. These rules are interesting, and, in fact, manifest the duality of categories such as Being and Semblance, as given in the inference “Everything is a semblance, thus there must be something that cannot be a semblance”, because otherwise, the very concept of semblance would lose its sense. But they must be read exactly as relative to their Aristotelian predecessor, otherwise they would just repeat Brouwer’s mistake. See, e. g., Slavoj Žižek: Less than Nothing. Hegel and the Shadow of Dialectical Materialism, London 2012, p. 756–771. 28
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the old logic of our everyday sentences that, however, identifies their most basic form not in their superficial grammatical structure (as Frege, despite his sharp distinction between the grammatic and logical form, still sticks to) but in the underlying sociality of their being claimed against somebody. This is the deepest logical layer for which both the categories of negativity and generality stand for. The reason for which the speculative logic supersedes its formal and dialectical variants is the same for which it needs them as its one-sided parts, the moment of which I phrased in the concept of the narrative irony. In this, our propensity to fail is transformed into a new advantage, the advantage of socially moderated knowledge. The individual’s inability to have under control effectively everything that he or she claims is seen as an intrinsic tradeoff for the breadth that merely individual knowledge achieved by being shared with another who, quite consequently, must have a say in the whole process. 30 By means of this “ironic” moment, speculative logic should be able to condense its previous phases in the so-called speculative sentences, described by Hegel as those in which “common opinion […] learns from experience that it means something other than what it took itself to have meant, and this correction of its opinion compels knowing to come back to the proposition and now to grasp it in some other way.” 31 Examples of such sentences are many, including the notorious “truth is the whole”, or the more interpretative, “Spirit is a bone”. 32 For our purpose, a more suitable example of speculative judgement is that of “God is dead”, considered within what Hegel called a Speculative Good Friday: it is the moment in which God, as individual, must die so that he can live forever or, at least, for other two thousand years. How difficult and nuanced this speculative position is, as far as fallibility is concerned, is easily shown by the cases of false positivity of which Popper’s verisimilitude is an exemplary case. We cannot know for sure how things are, says Popper, but we can know for sure that we are getting closer to the truth This is Hegel’s point that he articulates by claiming that by the overall socialization of knowledge our “desire acquires the breadth of being not only the desire of a particular individual but containing within itself the desire of another.” See Hegel: Philosophy of Mind, p. 161 (§ 435). Brandom uses a similar argument in his reconstruction of Hegel’s social concept of knowledge and the underlying concept of desire for acknowledgment, see his “The Structure of Desire and Recognition: Self-consciousness and Self-constitution”, in: Philosophy and Social Criticism 33 (2007), p. 127–150. 31 See Georg Wilhelm Friedrich Hegel: The Phenomenology of Spirit, transl. by Terry Pinkard, Cambridge 2018, § 63. 32 Here, the need of Spirit to manifest itself goes through the natural phrenological form (as known, also, from modern neurosciences) and proceeds to its more nuanced performative forms according to which “the truth of intention lies in the deed”. 30
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about them than our forefathers did. But to affirm this, of course, I must be able to measure the distance between my current position and the goal to be achieved, which is to presuppose exactly where the truth itself is. Then, however, the whole modesty of “we cannot know” is only a dramatic pose meant for a public. Socrates in his overly dramatic “I know that I do not know” might be suspected of a similar, hypocritical intent, in which I am acknowledging my inherent fallibility in order to manifest my epistemic superiority over the others who do not know enough to even know not to know. This, of course, jeopardizes any dialogue from the very beginning. Friedrich Dürrenmatt in his farce “The Death of Socrates” 33 entertains exactly this ironical reading. But there is another, truly speculative reading that surpasses the given irony without annihilating its positive and fruitful features. To avoid the “inconsistency” of the given content (“if I know that I do not know then I, of course, know something”), as well as the hypocritical consequences associated with it, one cannot just rely on the superficial logical reading of the given sentence but activate its deeper social dimension as well. Here, the claim is understood in the sense of being stated again by somebody who can disagree, not with the content as such, but, e. g., with the very concept of knowledge, as Brouwer did with respect to Cantor or, for that matter, Gödel with respect to classical mathematics. This situation, in fact, was nicely phrased by Heisenberg in his appreciation of Wittgenstein’s late philosophy (as opposed to the strict “logic” of Tractatus): “We cannot help the fundamental situation – that words are meant as a connection between reality and ourselves – but we can never know how well these words or concepts fit reality. […] when we use such words as position or velocity, for atoms, for example, we cannot know how far these terms take us, to what extent they are applicable. By using these words, we learn their limitations. 34
It is exactly in situations like this when the standard concept of logic both in its formal and dialectical form fail and what remains is the overall speculative logic of our sociality, with the basic categories of the other (negativity) and us (generality) standing for the most common ground on which the lost intelligibility can be gained again. But there are no guarantees for that.
See Friedrich Dürrenmatt: “Der Tod des Sokrates”, in: Werkausgabe, Zürich 1998, Band 29, pp. 144–156. 34 Paul Buckley and F. David Peat (eds.): Glimpsing Reality. Ideas in Physics and the Link to Biology, London 1996, p. 8. 33
Henning Tegtmeyer
Metaphysik als Kritik Anmerkungen zur Bedeutung einer missverstandenen Disziplin
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elbst zu denken, ohne es dabei an Disziplin fehlen zu lassen, ist ein Imperativ nicht erst der Aufklärung, sondern des philosophischen Denkens von seinen Ursprüngen her. Dabei bedarf es nach Kant des persönlichen Mutes, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, da damit auch immer ‚Autoritäten‘ angegriffen werden. Zugleich aber ist für ihn Aufklärung eine Frage der Überwindung von Bequemlichkeiten, die für eine widerstandslose Befolgung von Konventionen und Traditionen sprechen. Wenn sich Aufklärung dann aber auch gegen eine ‚Disziplinlosigkeit des Denkens‘ richtet […], bemerken wir, dass der scheinbar klaren Entgegensetzung von Autonomie und der Autorität der Tradition eine viel komplexere Struktur zugrunde liegt. 1
Dem ließe sich hinzufügen, dass Mut nicht nur dort erforderlich ist, woTraditionen zu kritisieren sind, sondern auch dort, wo es gilt, dem Konformitätsdruck eines mächtigen Zeitgeistes zu widerstehen, starken Mehrheiten oder militanten Minderheiten zu widersprechen oder unpopuläre Gedanken öffentlich zu machen. Eine verbreitete Meinung besagt, dass der Mut zum Selbstdenken vor allem in der Überwindung des ‚herkömmlichen Denkens‘ bestehe, das dogmatisch in der Form ‚traditioneller Metaphysik‘ kodifiziert und tradiert worden sei. Dieser Meinung gemäß fallen Aufklärung und selbständiges, kritisches Denken geradezu mit nicht-, nach- bzw. antimetaphysischem Denken zusammen. Im Folgenden soll diese Meinung, die ihre Ursprünge in den anti-scholastischen Polemiken des 17. Jahrhunderts hat, genauer untersucht werden. Dabei wird sich erweisen, dass gerade die Metaphysik als zentrale philosophische Disziplin ein wichtiges, vielleicht sogar unersetzliches Instrument des selbständigen, aber disziplinierten Denkens ist und dass einem nachmetaphysischen Denken
Pirmin Stekeler-Weithofer: Denken. Wege und Abwege in der Philosophie des Geistes, Tübingen 2012, S. 42 f. Das Stichwort „Disziplinlosigkeit des Denkens“ verweist auf Jürgen Mittelstraß. 1
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mit den metaphysischen Grundlagen auch der Schutz vor bloßer intellektueller Willkür abhanden zu kommen droht.
1. Metaphysik versus Kritik?
Dass Metaphysik etwas mit Dogmatismus und unkritischem Denken zu tun habe, ist ein Gemeinplatz, der bereits im 18. Jahrhundert viel Anklang fand. David Hume beschreibt Metaphysik einprägsam als bloßen Streit um Worte und unbeweisbare spekulative Behauptungen. Principles taken upon trust, consequences lamely deduced from them, want of coherence in the parts, and of evidence in the whole, these are every where to be met with in the systems of the most eminent philosophers, and seem to have drawn disgrace upon philosophy itself. Nor is there requir’d such profound knowledge to discover the present imperfect condition of the sciences, but even the rabble without doors may judge from the noise and clamour, which they hear, that all goes not well within. There is nothing which is not the subject of debate, and in which men of learning are not of contrary opinions. […] Amidst all this bustle ’tis not reason, which carries the prize, but eloquence […]. The victory is not gained by the men of arms, who manage the pike and the sword; but by the trumpeters, drummers, and musicians of the army. From hence in my opinion arises that common prejudice against metaphysical reasonings of all kinds […]. 2
Hume selbst schlägt daher vor, die Metaphysik durch die bescheidene „Wissenschaft vom Menschen“ (the science of man) zu ersetzen, die alle berechtigten Wissensansprüche in der menschlichen Erfahrung gründet. 3 Ein Vierteljahrtausend später folgt ihm Ernst Tugendhat und fordert ebenfalls die Ersetzung der Metaphysik durch Anthropologie. 4 Immanuel Kant übernimmt Humes Rhetorik in seiner eigenen Kritik aller bisherigen Metaphysik, wenn er beklagt, dass „in diesem Lande [der Metaphysik; HT] in der Tat noch kein sicheres Maß und Gewicht vorhanden ist, um Gründlichkeit von seichtem Geschwätze zu unterscheiden“. 5 Er gesteht denn auch, dass Humes Kritik an der Metaphysik dasjenige war, „was mir vor vielen David Hume: A Treatise of Human Nature, hrsg. von L. A. Selby-Bigge und P. H. Nidditch, Oxford 1978, S. xiii f. 3 Vgl. ebd., S. xv f. 4 Vgl. Ernst Tugendhat: „Anthropologie als ‚erste Philosophie‘“, in: ders.: Anthropologie statt Metaphysik, München 2007, S. 34–54. 5 Immanuel Kant: „Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können“, in: ders.: Werke III: Schriften zur Metaphysik und Logik, hrsg. von Norbert Hinske, Wiesbaden 1958, A 5 (S. 114). 2
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Jahren den dogmatischen Schlummer unterbrach, und meinen Untersuchungen im Felde der spekulativen Philosophie eine ganz andre Richtung gab“. 6 Eine solche Unterbrechung empfiehlt Kant nun auch seinen Kollegen: Meine Absicht ist, alle diejenigen, so es wert finden, sich mit Metaphysik zu beschäftigen, zu überzeugen: dass es unumgänglich notwendig sei, ihre Arbeit vor der Hand auszusetzen, alles bisher Geschehene als ungeschehen anzusehen, und vor allen Dingen zuerst die Frage aufzuwerfen: „ob auch so etwas, als Metaphysik, überall nur möglich sei“. 7
Damit ist das Leitmotiv für zwei Jahrhunderte anhaltender Metaphysikkritik festgelegt, das in der Folge immer wieder variiert wird, in Fichtes Kritik des (metaphysischen) Dogmatismus, 8 in der These Schopenhauers, es gebe ein „Bedürfnis einer Metaphysik“, das den Menschen als animal metaphysicum von anderen Tieren unterscheide, uns aber zugleich zu Wunschdenken verleite, 9 in der positivistischen Polemik des Wiener Kreises gegen Metaphysik als sinnlose Rede, 10 in Heideggers Kritik der Metaphysik als Onto-Theologie 11 und in Derridas daran anschließendem Projekt einer Dekonstruktion der Metaphysik, dessen Einfluss auf gegenwärtige anti-essentialistische Bewegungen wie den Anti- und den Transhumanismus wohl kaum überschätzt werden kann. In all diesen Variationen klingt das Leitmotiv durch: Metaphysik ist keine philosophische Disziplin wie andere; sie ist vielmehr eine Denkweise, die mit Argwohn und Kritik betrachtet werden muss, weil sie teils mit leeren Unterscheidungen und unbegründeten Annahmen, teils mit spitzfindigen Scheinargumenten und Trugschlüssen eine Autorität beansprucht, die ihr nicht zusteht, vor allem wenn es um ‚große‘ und ‚letzte‘ Fragen geht, Fragen
Ebd., A 12 (S. 118). Ebd., A 4 (S. 113). 8 Johann Gottlieb Fichte: Die Bestimmung des Menschen, hrsg. von Fritz Medicus und Horst D. Brandt, Hamburg 2000, Erstes Buch. 9 Arthur Schopenhauer: „Über Philosophie, Universitätsphilosophie und meine Philosophie“, in: ders.: Ausgewählte Schriften, Gütersloh 1958, S. 86. In diesem Zusammenhang führt Schopenhauer ferner aus: „Ohne Zweifel ist es das Wissen um den Tod, und neben diesem die Betrachtung des Leidens und der Not des Lebens, was den stärksten Anstoß zum philosophischen Besinnen und zu metaphysischen Auslegungen der Welt gibt“ (ebd.). Martin Heidegger transformiert diesen Gedanken in seine eigene Lehre vom menschlichen Dasein als einem Sein zum Tod. 10 Vgl. Rudolf Carnap: „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“, in: Erkenntnis 2 (1931/32), 219–241. 11 Vgl. Martin Heidegger: „Die onto-theologische Verfassung der Metaphysik“ (1957), in: ders.: Identität und Differenz, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 2. Aufl., Frankfurt/ M. 2006. 6 7
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wie die, ob es einen Gott gibt, ob die Welt Grenzen in Raum und Zeit hat und ob die menschliche Seele unsterblich ist. Ein fester Bestandteil der philosophischen Polemik gegen Metaphysik ist die Entgegensetzung von Dogmatismus und Kritik. Demnach ist ein Hauptkennzeichen des metaphysischen Denkens eine inhärent dogmatische Haltung sowohl zu den eigenen Geltungsansprüchen als auch zu damit unvereinbaren Gedanken. Das legt nahe, dass eine kritische philosophische Haltung per definitionem antimetaphysisch sein muss. Eine radikale Form antimetaphysischen kritischen Denkens ist der Skeptizismus, aber es ist keineswegs die einzige. Weit häufiger sind Bemühungen, eine kritische Philosophie zu entwickeln, die Äquidistanz zu den Extremen des Dogmatismus und Skeptizismus wahrt. 12 Jürgen Habermas hat den Terminus ‚nachmetaphysisches Denken‘ als Sammelbezeichnung für diese Denkform geprägt. 13 Ob und in welchem Maße es das sich selbst als kritisch verstehende Denken wirklich vermag, gleichermaßen nicht-metaphysisch und nicht-skeptisch zu sein und zu bleiben, ist eine andere Frage. Kürzlich hat Habermas eine umfangreiche Gesamtdarstellung der Philosophiegeschichte vorgelegt, in der diese Geschichte umstandslos mit der Geschichte der Entstehung des nachmetaphysischen Denkens gleichgesetzt wird. 14 Habermas selbst bezeichnet sein Projekt denn auch als ‚Genealogie des nachmetaphysischen Denkens‘. 15 Für Habermas ist das metaphysische Denken von drei Hauptmerkmalen geprägt: von Identitätsdenken, Idealismus und einem starken Theoriebegriff. Unter Identitätsdenken versteht er „das Einheitsmotiv der Ursprungsphilosophie“, unter Idealismus die „Gleichsetzung von Sein und Denken“ und unter einem starken Theoriebegriff die Auffassung, dass der theoretischen Lebensweise eine „Heilsbedeutung“ zukomme. 16 Nachmetaphysisches Denken besteht demnach in der allmählichen Überwindung dieser drei Denkweisen durch eine immanent argumentierende Philosophie. Das Argumentationsmuster für eine kritische Philosophie zwischen Dogmatismus und Skeptizismus stammt von Kant. Neben dem Neukantianismus hat vor allem der sogenannte Kritische Rationalismus Karl Poppers und Hans Alberts versucht, Metaphysik und Skeptizismus zugleich zu attackieren. 13 Vgl. Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/M. 1988; Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken, Berlin 2012. 14 Vgl. Jürgen Habermas: Auch eine Geschichte der Philosophie, I. Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen; II. Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen, Berlin 2019. 15 Vgl. Habermas: Auch eine Geschichte, I, 11; II, S. 768. 16 Vgl. Habermas: Nachmetaphysisches Denken, S. 36, sowie Georg Lohmann: „Nachmetaphysisches Denken“, in: H. Brunkhorst, H., R. Kreide und C. Lafont (Hg.): HabermasHandbuch, Stuttgart 2009, S. 356–358. 12
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Alle drei Kernmerkmale der Metaphysik sieht Habermas in der Geschichte des metaphysischen Denkens von Platon über Augustinus bis zu Hegel und Heidegger in unterschiedlichen Gewichtungen am Werk, ebenso aber auch im modernen Szientismus, der den theoretischen Blick von nirgendwo aus der metaphysischen Tradition übernehme. 17 Die Geschichte des nachmetaphysischen Denkens dagegen sei die Geschichte des zunehmenden Verzichts auf solche starken Annahmen. Eine sich mehr und mehr de-transzendentalisierende Vernunft habe gelernt, sich selbst mehr und mehr zu bescheiden und die Grenzen des menschlichen Wissens immer schärfer in den Blick zu bekommen. Die Geschichte dieses Denkens führt aus Habermas’ Sicht von der „Aufklärung“ bei den griechischen Sophisten 18 über den spätmittelalterlichen Nominalismus und die Reformation (einschließlich des protestantischen Naturrechtsdenkens) zur Philosophie der Aufklärung, die aus seiner Sicht Kant und den Kantianismus mit Marx und der Kritischen Theorie verbindet. Die interne Komplexität dieser (Re-)Konstruktion der Philosophiegeschichte kann hier nicht im Detail gewürdigt werden. Deutlicher als in früheren Arbeiten stellt Habermas jetzt heraus, dass seine Deutung der Menschheitsgeschichte im Allgemeinen und der Philosophiegeschichte im Besonderen auf einer evolutionstheoretischen Hypothese beruht. Aus seiner Sicht gründen sich die Basisstrukturen menschlicher Gemeinschaft, wie wir sie kennen, auf einer holistischen Ur-Praxis, die er als den „sakralen Komplex“ bezeichnet. 19 Diese Praxis denkt er sich als archaische Form der gemeinschaftlichen Kontingenzbewältigung und der ursprünglichen Stabilisierung von Formen der Kommunikation und Kooperation. Aus ihr sieht er die zunehmend ausdifferenzierten Praxen der artikulierten und schließlich propositional gegliederten Sprache, der Mythologie und Religion, der Ethik und Politik, des Rechts, des Selbstbewusstseins, der Wissenschaft und schließlich der menschlichen Kultur als Gesamtheit menschlicher Praxis hervorgehen. Mythos und Ritual sind aus seiner Sicht die ersten unterscheidbaren Elemente dieser proto-religiösen Praxis; aus ihr gehen, so die Annahme, der religiöse Kultus und die archaische Theologie hervor, wobei die Priester eine Doppelrolle als praktische Mittler zwischen Menschen und Göttern und als Hüter des arkanen Wissens über das Heilige spielen. Habermas sieht die Metaphysik aus der Mythologie, d. h. der archaischen Theologie, hervorgehen; für ihn steht der metaphysische Theoretiker in der Tradition des archaischen Priesters. Demnach erbt die Metaphysik von der archaischen Mythologie die 17 18 19
Vgl. Habermas: Auch eine Geschichte, I, S. 473. Ebd., S. 454. Vgl. ebd., S. 177–246.
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Nicht-Unterscheidung theoretischer und praktischer Fragen oder, anders ausgedrückt, die Einheit von „Schöpfungs- und Heilsgeschichte“: Schließlich hängt mit diesem praktischen Sinn der theoretischen Weltdeutung auch der Unfehlbarkeitsanspruch zusammen, mit dem religiöse und metaphysische ‚Wahrheiten‘ auftreten. Daraus erklärt sich die dogmatische Denkform der ‚starken Theorien‘. Mit dem Anspruch auf infallible Wahrheiten reichen die performativen Gewissheiten aus der Lebenswelt in den Bereich des expliziten Weltwissens hinein. 20
Mit anderen Worten: Das metaphysische Denken ist ein Relikt archaischer, quasi-mythischer Denkformen, das im Zuge einer zunehmenden Säkularisierung und Immanentisierung der Philosophie nach und nach überwunden wird. Für Habermas ist der metaphysische Impuls für die Geschichte der Philosophie wichtig gewesen, doch der Impuls als solcher ist im Grunde vor- und außerphilosophisch. Es ist bemerkenswert, dass Habermas die auf Karl Jaspers zurückgehende, aber besonders in den vergangenen Jahrzehnten lebhaft geführte Debatte über das sogenannte ‚Achsenzeit-Theorem‘ als Alternative zu seiner eigenen Geschichtsdeutung durchaus erwähnt, ohne aber dessen eigentliche Pointe zu berücksichtigen. Vertreter dieses Theorems gehen davon aus, dass der Durchbruch des Monotheismus im antiken Judentum, vor allem bei den alttestamentarischen Propheten, sowie in der griechischen Philosophie, die buddhistische Kritik des indischen Polytheismus und die Entstehung einer rein immanenten Weisheits- und Klugheitslehre bei Konfuzius und Laotse verschiedene, kausal unverbundene Ausdrucksformen eines kognitiven Durchbruchs sind, der kulturübergreifend zu einer De-Sakralisierung politischer Herrschaft und einer Universalisierung der Moral führt, beides häufig vermittelt durch die Etablierung eines transzendenten, menschlicher Verfügbarkeit entzogenen Gottes und die damit einhergehende Relativierung menschlicher Macht. Autoritäre, religiös begründete Herrschaftsformen werden so delegitimiert, und moralische Verantwortung wird entgrenzt. Aus Sicht der Achsenzeit-Theoretiker sind talmudisches Judentum, Christentum, Römisches Recht und Islam dann systematische Entfaltungen dieser Entmystifizierung durch Transzendenzbezug. Achsenzeit-Theoretiker sehen die Entstehung der Metaphysik in der antiken griechischen Philosophie denn auch gerade nicht als eine Fortsetzung archaischen Heilsdenkens, sondern als deren kritische Durchbrechung und Überwindung mit den Mitteln begrifflicher Genauigkeit und methodischer
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Ebd., S. 474.
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Strenge. 21 Habermas sieht die Achsenzeit dagegen nicht als Bruch mit der archaischen Vergangenheit der Menschheit, sondern als deren Fortsetzung und Steigerung.
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Es ist nicht unsere Aufgabe, diesen Historikerstreit zu entscheiden oder zu schlichten. Beschränken wir uns also auf die Metaphysik und ihre Geschichte. Es besteht kein Zweifel, dass die Geschichte der Metaphysik spätestens mit dem Lehrgedicht des Parmenides beginnt. 22 Parmenides unterscheidet begrifflich zwischen Sein (einai) und Natur (physis) und eröffnet so die Möglichkeit einer philosophischen Fragestellung, die noch allgemeiner ist als die scheinbar universale Frage nach der Natur. Die von Habermas kritisierte „Gleichsetzung von Sein und Denken“ geht auf ihn zurück, 23 steht aber, anders als Habermas meint, gerade nicht für Idealismus, sondern für das Basispostulat jeder Philosophie: den Gedanken, dass der Gegenstand philosophischen Denkens ein Gegenstand möglichen Wissens ist. Idealismus reduziert das Sein auf das Denken. Parmenides verpflichtet das Denken dagegen auf das Erfassen des Seins und begründet damit nicht etwa den Idealismus, sondern den metaphysischen Realismus. 24 Das Sein, die Wirklichkeit selbst ist hier bereits als kritisches Korrektiv irregeleiteten Denkens angesprochen. Irregeleitetes Denken ist noch immer Denken, aber es handelt sich um ein Denken, das sein Ziel nicht erreicht. Dies ist der Grundgedanke der Metaphysik, der von Platon und Aristoteles radikal weiterverfolgt wird, während die Stoa ihn weit weniger konsequent verfolgt und beispielsweise niemals klar zwischen Physik und Metaphysik unterscheidet. Aristoteles ist der erste Philosoph, der eine systematische Eine umfangreiche Rekonstruktion der Achsenzeit-Debatte findet sich in Hans Joas: Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Berlin 2017. Habermas nennt diese Debatte „revisionistisch“; Habermas: Auch eine Geschichte, I, S. 82. 22 Parmenides: Lehrgedicht, Griechisch und Deutsch von Hermann Diels, Berlin 1897. Vgl. dazu Pirmin Stekeler-Weithofer: Philosophiegeschichte, Berlin; New York: de Gruyter 2006, S. 151–170. 23 „τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστιν τε καὶ εἶναι“ – „Denn denken und sein ist dasselbe.“ (Parmenides, Lehrgedicht., S. 32/33). 24 Wenn dagegen der sogenannte Spekulative Realismus die Möglichkeit jeglicher Korrelation zwischen Sein und Denken negiert und, darauf aufbauend, eine Ontologie der radikalen Kontingenz des Seins formuliert, ist das letztlich nicht mehr als eine fundamentale Inkohärenz. Vgl. Quentin Meillassoux: Après la finitude. Essai sur la nécessité de la contingence, Paris 2006. 21
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Grundlegung der Metaphysik verfasst, einen Text, der über Jahrhunderte hinweg als Standardwerk und sogar als Lehrbuch der Metaphysik als philosophischer Disziplin gedient hat. Spätestens mit diesem Text ist die Metaphysik als eigenständige Kerndisziplin philosophischen Denkens etabliert, als sogenannte „Erste Philosophie“, die es mit den allgemeinsten und wichtigsten Gegenständen der Philosophie zu tun hat, dem Sein und den ersten Ursachen des Seins. Interessant für unsere Zwecke ist, dass Aristoteles selbst bereits eine historische Reflexion der Genese der Ersten Philosophie in seine systematische Begründung ihrer Berechtigung und Notwendigkeit einbaut. Das erlaubt es uns, seine Sicht auf die (Vor-)Geschichte dieser Disziplin mit der Sichtweise Habermas’ zu vergleichen. Wie Habermas geht bereits Aristoteles davon aus, dass die theoretischen Wissenschaften im Allgemeinen und die Metaphysik im Besonderen ein relativ hohes Niveau kultureller Entwicklung voraussetzen. Anders als für Habermas ist für Aristoteles der Ursprung der Metaphysik aber nicht mit Mythologie und religiöser Praxis verbunden, sondern mit der Entstehung der Wissenschaft. Als deren Voraussetzung macht er eine gewisse gesellschaftliche Arbeitsteilung und die Möglichkeit von Muße aus, d. h., einer freien Tätigkeit, die nicht notwendig oder nützlich für den Lebensunterhalt und für praktische Belange ist. Als daher schon alles Derartige (Lebensnotwendige) erworben war, da wurden die Wissenschaften gefunden, die sich weder auf das Angenehme noch auf die notwendigen Bedürfnisse des Lebens beziehen, und zwar zuerst in den Gegenden, wo man Muße hatte. Deshalb bildeten sich in Ägypten die mathematischen Künste (Wissenschaften) aus, weil dort dem Stande der Priester Muße gelassen war. 25
Aristoteles sieht wie Habermas einen Zusammenhang zwischen der priesterlichen Lebensform und der Genese der Metaphysik. Anders als Habermas sieht er den Grund dafür aber keineswegs in einer quasi-sakralen Bedeutsamkeit des metaphysischen Denkens, sondern in der Tatsache, dass die ägyptische Priesterkaste eine intellektuelle Elite formte, der man das Recht zugestand, theoretische Studien zu treiben, die nicht notwendig ihrer Amtstätigkeit zugutekamen. Einen Zusammenhang zwischen Mythologie und Erster Philosophie, wie ihn Habermas annimmt, stellt Aristoteles nicht grundsätzlich in Abrede, doch seine Rekonstruktion dieses Zusammenhangs ist der bei Habermas diametral entgegengesetzt. Ist bei Habermas die Mythologie eine Versprachlichung rituAristoteles: Metaphysik, übers. von Hermann Bonitz, bearb. von Horst Seidl, Hamburg 1989, 981 b. 25
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eller Praktiken und Vorstellungen, die der kollektiven Bewältigung existentieller Angst dienen, so betont Aristoteles gerade die quasi-explanative Kraft der Mythen, die das Staunen erregen, weil sie die menschliche Aufmerksamkeit auf das ausrichten, was noch nicht verstanden wurde und was gerade nicht im Rahmen der „lebensweltlichen Gewissheiten“ als selbstverständlich angesehen werden kann. Aristoteles entdeckt daher in der Liebe zu Mythen einen proto-philosophischen Impuls: (Deshalb ist der Freund der Mythen auch in gewisser Weise ein Philosoph; denn der Mythos entsteht aus Wunderbarem.) Wenn sie [= die ältesten Philosophen; HT] daher philosophierten, um der Unwissenheit zu entgehen, so suchten sie das Erkennen offenbar des Wissens wegen, nicht um irgendeines Nutzens willen. Das bestätigt auch der Verlauf der Sache; denn als so ziemlich alles zur Annehmlichkeit und (höheren) Lebensführung Nötige vorhanden war, da begann man diese Art der Einsicht zu suchen. 26
Damit führt Aristoteles den Ursprung der Philosophie im Allgemeinen und der Ersten Philosophie im Besonderen auf den irreduziblen Wissensdurst des Menschen zurück, der in der Vernunftnatur des Menschen selbst gründet, aber erst in methodisch geordneter Weise gestillt werden kann, wenn anspruchsvolle kulturelle Rahmenbedingungen erfüllt sind. Das Ziel des Wissenserwerbs ist aber nicht denkbar ohne den kritischen Impetus, zwischen wahren und unwahren Aussagen zu unterscheiden. Denn als Wissender kann nur bezeichnet werden, wer nicht bloß zufällig eine wahre Überzeugung hat, sondern diese auch begründen und falsche Überzeugungen mit Gründen zurückweisen kann. Darin liegt der Sachgrund für die platonische Definition des Wissens als gerechtfertigter wahrer Überzeugung. 27 Dieser kritische Impetus ist für jeden haltbaren Wissensanspruch unabdingbar; er schließt die Bereitschaft zur Selbstkritik ein, die Tugendhat als intellektuelle Redlichkeit bezeichnet. 28 Besonders wichtig ist eine solche kritische Haltung aber in theoretisch anspruchsvollen Bereichen des Denkens, in denen man sich nur mit Mühe orientieren kann und leicht Irrtümern anheimfällt, und dazu gehört nach der aristotelischen Bestimmung ohne Zweifel die Metaphysik. In diesem Sinn ist die Metaphysik eine philosophische Disziplin, in der Ebd., 982. Platon, „Theaitetos“, in: Werke in acht Bänden, übers. von Friedrich Schleiermacher, hrsg. von Gunther Eigler, Darmstadt 1970, 201 c. Die Grenzen dieser Wissensdefinition werden bereits von Platon selbst in diesem Text erörtert; sie wurden nicht erst von Edmund Gettier entdeckt. 28 Vgl. Tugendhat, „Retraktationen zur intellektuellen Redlichkeit“, in: ders., Anthropologie, S. 85–113. 26 27
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starke Theorien erforderlich sind, aber der von Habermas damit assoziierte Unfehlbarkeitsanspruch verbietet sich der Sache nach von vornherein. Eine Theorie kann zugleich ‚stark‘ im Hinblick auf die beanspruchte Reichweite sein (das muss eine Theorie sein, die das Sein des Seienden bestimmen soll) und ‚schwach‘ durch die Anerkennung der prinzipiellen Revidierbarkeit jeder Theorie, und eine gehaltvolle metaphysische Theorie muss beide Merkmale miteinander verbinden. Metaphysik ist in diesem Sinne immer auch Metaphysikkritik, nämlich die Kritik verfehlter metaphysischer Thesen, was die Korrektur verfehlter eigener Thesen einschließt. Aristoteles hat diese Form der metaphysischen Kritik an Metaphysik bereits selbst in seiner Genealogie der Metaphysik vorgeführt, indem er eine detaillierte Kritik der (proto-)metaphysischen Theorien der Vorsokratiker, der Pythagoräer und Platons formuliert. Die Kritik ist dabei immer auch eine Anerkennung der wissenschaftlichen Leistung der Vorgänger: Die Vorsokratiker haben die Materie als Fundamentalursache des Seins entdeckt und die Bedeutsamkeit von Wirkursachen erkannt, 29 während Parmenides das Sein deutlich vom Werden zu unterscheiden gelehrt hat. 30 Gestützt auf die Pythagoräer 31 hat Platon die Formen entdeckt, 32 und Aristoteles schreibt sich selbst die Erkenntnis der Finalursachen zu, daneben aber eben auch die erforderliche Synthese all dieser Teileinsichten in das Sein des Seienden, die allerdings erst durch die Leistungen der Vorgänger ermöglicht wurde. 33 Nun ist die interne Metaphysikkritik nicht die einzige Aufgabe der Metaphysik. Noch wichtiger ist ihre Kritik verfehlter religiöser und wissenschaftlicher Behauptungen, sofern solche Behauptungen nämlich metaphysisch unhaltbar sind. Die Grundform entsprechender metaphysischer Einwände ist denn auch ‚So kann es nicht sein‘. In diesem Sinne spricht sich z. B. Thomas von Aquin gegen die Astrologie als eine prognostische Wissenschaft aus (da die Himmelskörper aus unbelebter Materie bestehen, können sie keine handlungsdeterminierende Macht auf den immateriellen freien Willen der Menschen ausüben), 34 während René Descartes sein Plädoyer für den metaphysischen Dualismus auf den Nachweis der Selbstwidersprüchlichkeit des materialistischen Monismus gründet (ein denkendes Wesen kann sich selbst kohärent als immateriell beschreiben, aber nicht als rein materiell, weil sich im Vgl. Aristoteles: Metaphysik, 983 b-985 b. Vgl ebd., 986 a. 31 Vgl. ebd., 985 b-986 b. 32 Vgl. ebd., 987 a-988 b. 33 Vgl. ebd., 988 b und allgemein zur generationsübergreifenden Arbeitsteilung und zur Pflicht zur Dankbarkeit gegenüber früheren Denkern 993 b. 34 Vgl. Thomas von Aquin: Summa Theologiae, I-II, q. 9, a. 5, in c. 29 30
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letzteren Fall Inhalt und Form der Beschreibung widersprechen). Der Gedanke, dass der materialistische Monismus in der Philosophie des Geistes auf einem Kategorienfehler beruht, greift der Cartesianer Edmund Husserl auf, der von der ‚Widersinnigkeit naturalistischer Reduktionen‘ spricht. 35 In diese Traditionslinie gehört auch das auf Saul Kripke und James Ross zurückgehende Argument gegen funktionalistische Theorien des Geistes, das auf den Kategorienfehler hinweist, der darin besteht, mechanischen Apparaten, z. B. Computern, kognitive Leistungen wie Denkakte, Berechnungen oder Beweise zuzuschreiben. Apparate können geistige Tätigkeiten stützen und innerhalb gewisser Grenzen auch simulieren, aber nicht selbst ausführen, weil ihnen die dazu nötige Fähigkeit abgeht zu verstehen, was sie tun. Das für die Paradedisziplin des Funktionalismus, die Theorie formaler Rationalität und formalen Regelfolgens, gezeigt zu haben ist das Verdienst von Kripke und Ross. 36 Die religionskritische Seite der Metaphysik ist ebenso alt wie die Disziplin selbst. Sie reicht von der Polytheismuskritik von Xenophanes (den Aristoteles als den Lehrer des Parmenides ansieht) 37 und Anaxagoras bis zu Platon und zu Aristoteles selbst über die Kritik des theologischen Dualismus, etwa im Manichäismus oder der frühchristlichen Gnosis, 38 bis hin zur Kritik eines philosophie- und wissenschaftsfeindlichen Fideismus und Irrationalismus bei Hegel und Schelling. Damit sind nur einige Stichworte aus der langen Geschichte der metaphysischen Religionskritik genannt. Wichtig ist es dabei vor allem, auf den mäßigenden Einfluss einer solchen Kritik an religiösem Radikalismus und Fanatismus aufmerksam zu machen. So richtet sich die metaphysische Zurückweisung der Gnosis (einschließlich ihres Revivals in der Vgl. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, Nachwort (1930), Husserliana V, hrsg. von Marly Biemel, Den Haag: Nijhoff 1971, S. 154. Der von Gilbert Ryle für die Philosophie des 20. Jahrhunderts fruchtbar gemachte Begriff des Kategorienfehlers wird hier im strengen Sinn metaphysischer Kategorien verwendet. 36 Vgl. die bisher unveröffentlichte Dissertation von Antonio Ramos Díaz, Mind and Formal Structures. On the Kripke-Ross Argument Against Naturalizing Formal Understanding, Leuven 2019. 37 Vgl. Aristoteles: Metaphysik, 986 b. 38 Der theologische Dualismus nimmt an, dass es zwei gleichmächtige göttliche Prinzipien gibt, die Kräfte des Guten und die des Bösen, des Lichtes und der Finsternis, und dass Engel und Menschen sich für eines dieser beiden Prinzipien entscheiden müssen. In der Gnosis nimmt diese Lehre die Gestalt der These an, dass Satan der Schöpfer (Demiurg) der materiellen Welt ist, der sich der Mensch nur durch Verneinung des Leiblichen entziehen kann. Das metaphysische Hauptargument gegen den Dualismus ist die These, dass das Böse nur Privation des Guten sein kann und mithin kein eigenständiges Prinzip. Dass es daneben auch starke dogmatische Gründe für die christliche Theologie gibt, den Dualismus als Häresie zu verwerfen, steht auf einem anderen Blatt. 35
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Katharer-Bewegung) gegen eine radikale Leib- und Naturfeindlichkeit, welche in letzter Konsequenz alle Formen des guten gemeinsamen Lebens an der Wurzel zerstört. Die Kritik des Fideismus ist immer auch die Kritik eines blinden und tendenziell gewaltbereiten religiösen Fundamentalismus. Dass ein guter Gott denen, die an ihn glauben, nichts intrinsisch Böses und Unmoralisches gebietet, ist ein Einwand gegen den religiösen Radikalismus, den ein Gläubiger nicht einfach vom Tisch wischen kann, und formulieren lässt er sich nur vom Standpunkt der philosophischen Theologie aus, die eine Teildisziplin der Metaphysik ist. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch Schellings Interpretation der biblischen Geschichte von Abraham, dem Gott befiehlt, seinen Sohn und Stammhalter Isaak zu opfern, eine Gräueltat, die in letzter Sekunde durch einen Engel des Herrn verhindert wird. Während Kierkegaard die Erfahrung Abrahams als eine Erfahrung des Konflikts zwischen ethischer Pflicht und religiöser Notwendigkeit deutet, sieht Schelling in dieser Erzählung eine Parabel vom Übergang einer Kultur, in der Menschenopfer als schrecklich, aber notwendig angesehen werden, zu einer Kultur, in der das Opfern von Menschen ein für alle Mal kategorisch ausgeschlossen wird, wobei der Engel des Herrn als Gebieter und Verkünder dieses neuen, humaneren Zeitalters auftritt. Abraham, der Stammvater des Volkes Israel, begründet so ein Volk, das seinem Gott keine Menschen opfert. Unter den Völkern des Alten Orients steht es damit lange Zeit allein. 39 Es ist wichtig, sich die Grundlagen kritischer Metaphysik klarzumachen. Im Unterschied zu einer bloß dogmatischen Zurückweisung bestimmter wissenschaftlicher Behauptungen oder religiöser (oder politischer) Forderungen ist metaphysische Kritik auf Argumente angewiesen. Verweise auf Autorität und Tradition genügen nicht; der Grund für Kritik muss in der Sache selbst liegen. Der Ausgangspunkt solcher Kritik ist die Unstimmigkeit der kritisierten Behauptung oder Forderung und ihrer Voraussetzungen. Ein Aufruf zur Verneinung der Leiblichkeit kann keinesfalls den Weg zu einem besseren Leben weisen, da Leiblichkeit zu den Grundbedingungen unseres, des menschlichen Lebens gehört. 40 Sollte ein Gott Gewalt gegen Unschuldige fordern, dann verdiente er keine Verehrung und keinen Gehorsam. 41 Eine solche Kritik geht insofern über den Nachweis bloß interner Inkohärenzen bestimmter Behauptungen und Begründungen hinaus, als sie auch die Akzeptabilität der gemachVgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Urfassung der Philosophie der Offenbarung, hrsg. von Walter E. Ehrhardt, Hamburg 1992, 59. Vorlesung. 40 Insofern enthält das apostolische Bekenntnis zur Auferstehung des Leibes auch eine anti-gnostische Pointe. 41 Variationen dieses Arguments finden sich in Platons Dialog Euthyphron und in der Politeia. 39
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ten Voraussetzungen in den Blick nimmt, und anders als eine auf bloße Begriffsanalyse gestützte Kritik (mit der sie sich überschneiden kann), geht metaphysische Kritik auch über den Hinweis auf begriffliche Konventionen hinaus. Metaphysisches Denken wird seit jeher als ‚spekulativ‘ gekennzeichnet, wobei Spekulation keineswegs arkan im Sinne von Habermas’ Kritik ist. Spekulatives Denken ist nicht das Eigentum einer privilegierten Kaste, sondern jedem und jeder zugänglich, aber theoretisch anspruchsvoll. Metaphysisches Denken kann nicht auf bloßen Annahmen und Setzungen beruhen; derlei ist ohne Wert für das erstrebte Ziel. Eine auf bloße Annahmen gestützte Kritik wäre in nichts von der bloß dogmatisch gestützten Ablehnung einer Position verschieden. Spekulatives Denken und spekulativ gestützte Kritik sind dagegen auf einem hohen Niveau von Allgemeinheit synthetisch; sie bringen die begrifflichen Grundlagen sinnvollen Denkens mit den gesicherten Beständen empirischen Wissens und menschheitlicher Erfahrung zusammen. In der Zusammenschau ergibt sich eine kohärente Theorie, die aber gerade keine in sich geschlossene, gegen Kritik immune Weltsicht, kein ‚Weltbild‘, ist, sondern eine für Forschung und Revision offene Struktur, welche die Gegenstandsbereiche menschlichen Wissens ordnet und in ihrer Einheit als Seinsbereiche begreift. Entgegen einem verbreiteten empiristischen und pragmatistischen Vorurteil ist die Grundeinsicht in die Fallibilität menschlicher Wissensansprüche immer schon Teil der Geschichte der Metaphysik gewesen, ebenso aber die realistische Grundeinsicht, dass es nicht grundsätzlich unmöglich ist, das Seiende denkend so zu erfassen, wie es ist. Wer diese Grundeinsicht ablehnt, entzieht damit zugleich jedem eigenen Wahrheits- und Wissensanspruch den Boden und muss sich als radikaler Skeptiker jeglichen Urteilens und Behauptens enthalten.
3. Kritik ohne Metaphysik?
Die oben angeführten Beispiele einer metaphysischen Kritik an verfehlten wissenschaftlichen Behauptungen und religiösen und politischen Forderungen deuten bereits einen weiteren wichtigen Zusammenhang an, nämlich den zwischen Metaphysik und Ethik. Der dabei leitende Gedanke ist, dass die Natur der Sachen dem menschlichen Umgang mit ihnen, ihrer Nutzung und ihrem Verbrauch ethische Grenzen setzt. Dieser Gedanke ist angesichts der ökologischen Probleme einer auf massenhaften Ressourcenverbrauch ausgerichteten globalen Ökonomie wie der unseren von ungebrochener Aktualität. Eine Wirtschaftsweise, welche die Grundlagen höheren Lebens, das mensch-
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liche eingeschlossen, auf mittlere Sicht stark gefährdet, kann nicht oder nur mit schlechter Metaphysik gerechtfertigt werden. Aber auch und gerade im Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen entfaltet metaphysische Kritik als Grundlage eines ethischen Universalismus ihr kritisches Potential. Auf der Grundlage der metaphysischen Einsicht, dass eine gemeinsame menschliche Natur alle Menschen über Rassen-, Sprach- und Kulturgrenzen hinweg verbindet, lässt sich so ein Gebot moralischer Achtung aller Menschen formulieren, das die Fremden und die Feinde einbezieht, ebenso die Un- und Andersgläubigen, die Häretiker und Klassenfeinde. Niemand darf im Namen einer politischen Idee, einer Utopie, eines angenommenen Mehrheitsnutzens oder wegen abweichenden Denkens seiner Freiheit und seines Eigentums beraubt, misshandelt oder gemordet werden, und selbst wer seinerseits an anderen Menschen böse handelt, hat ein Recht auf eine Strafe, deren Schwere der Schwere des Vergehens entspricht. Das gerechtigkeitstheoretische Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Strafe ist im Unterschied zur rein sozialtechnologischen Idee, dass Strafen vor allem abschreckend wirken sollen, ebenfalls metaphysisch begründet: Eine Strafe soll das Recht wiederherstellen und nicht neues Unrecht in die Welt bringen, wie es eine ungerechte Bestrafung tut. Die metaphysische Disziplin, in welcher die handgreiflichen normativen Konsequenzen metaphysischen Denkens untersucht werden, ist das Naturrecht, dessen Geschichte bis zu Platon, Aristoteles und der Stoa zurückreicht und das im 20. Jahrhundert zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte geführt hat. Die leitende Frage ist dabei stets die nach der Begründung normativer Ansprüche eines jeden Menschen als Person, unabhängig von seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinschaft. In der Neuzeit hat naturrechtliches Denken häufig seinen Ausgangspunkt bei einem imaginierten ‚Urzustand‘ der Menschheit vor der Bildung politischer und rechtlich verfasster Gemeinschaften gesucht, u. a. bei Hobbes, Locke, Rousseau, Kant und dann auch bei Rawls. Die dabei leitende Hoffnung war stets, aus einem solchen Gedankenexperiment Aufschlüsse über die Grenzen legitimer Herrschaft zu gewinnen. Aber diese ‚protestantische‘ Denktradition ist nur ein möglicher Ansatz naturrechtlichen Denkens neben anderen. Grundlegend geht es stets um den Gedanken, dass die menschliche Natur nicht nur dem zwischenmenschlichen Miteinander überhaupt normative Grenzen setzt (das ist das Thema einer metaphysisch begründeten allgemeinen Ethik), sondern speziell auch dem politischen und rechtlichen Umgang mit Menschen, sowohl was die Bürger eines bestimmten Staatswesens angeht als auch die Bürger anderer Staaten, Flüchtlinge und Staatenlose eingeschlossen. Dabei geht es keineswegs um die Legitimierung von Macht und Ausbeutung als solcher, wie es ein altes marxistisches Vorurteil gegen das ‚bürgerliche‘ Naturrechtsdenken behauptet,
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sondern vielmehr um deren Begrenzung. Machtansprüche, auch solche, die sich auf geltendes positives Recht stützen und dem Mehrheitswillen einer Bevölkerung entsprechen, bedürfen der Kontrolle und Zähmung, und der politischen und rechtlichen Zähmung muss die intellektuelle Zähmung stets vorausgehen. Dabei geht es nicht darum zu behaupten, dass Rechte in einem ‚dritten Reich‘ idealer Gegenstände immer schon existierten, sondern zu fragen, welche Rechte ein Mensch als Mensch zugesprochen zu bekommen verdient, als Grenze und Korrektiv bloß konventioneller Rechtssetzungen und bloß faktischer Normakzeptanz. Das zu leisten ist die Aufgabe naturrechtlichen Denkens. 42 Auch im Naturrechtsdiskurs, vor allem in seinen katholischen und protestantischen Spielarten, zeigt sich erneut die mäßigende Kraft metaphysischer Reflexion, diesmal auf dem Feld des Politischen. 43 Die grundsätzliche Legitimität von Eigentum und Herrschaft ist damit aber anerkannt, gegen die radikalmarxistische und anarchistische Zurückweisung dieser Institutionen. Naturrechtliches Denken verwirft diesen Radikalismus als naturwidrig und im schlechten Sinne utopisch, lässt aber zugleich Raum für eine Debatte über naturrechtliche Grenzen des Eigentums. Wir hatten diese Überlegungen mit der anti-metaphysischen Annahme begonnen, dass kritisches Denken immer auch anti-metaphysisch sein müsse, zumindest in der Philosophie. Diese Annahme hat sich inzwischen als unhaltbar erwiesen, weil die Metaphysik selbst als kritische Disziplin verstanden werden muss. Damit kehrt sich die anfängliche Fragestellung um: Zu fragen ist nun, ob und inwiefern fundierte philosophische Kritik ohne metaphysische Grundlage auskommen kann. Diese Frage kann hier nicht abschließend beantwortet werden. Sehr wohl lässt sich aber anhand zweier paradigmatischer Überlegungen die Fragwürdigkeit der Idee einer metaphysikfreien Kritik herausarbeiten. Bleiben wir auf dem Feld des naturrechtlichen Denkens, das für derartige Debatten das reichhaltigste Beispielmaterial bereithält. Auf die Bedeutung des Naturrechtsdenkens für den heutigen Menschenrechtsdiskurs wurde oben schon hingewiesen. In der gegenwärtigen politischen Philosophie dominieren Dass naturrechtliches Denken auch missbraucht werden kann wie Lockes Theorie des Eigentumserwerbs durch Arbeit für die Landnahme der Europäer in Nordamerika, steht auf einem anderen Blatt. Daraus ergibt sich ein Einwand gegen Lockes Theorie, nicht aber gegen die naturrechtliche Denkform als solche, die bis heute sehr wirksam als Argument für den Schutz indigener Völker in Nord- und Südamerika eingesetzt wird. 43 Vor diesem Hintergrund ist und bleibt es erstaunlich, dass ein sich selbst katholisch nennender Denker wie Carl Schmitt die Freund-Feind-Unterscheidung zur Grundlage des Politischen machen will, ohne die naturrechtliche Zähmung dieser Entgegensetzung mit zu bedenken. 42
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aber Bestrebungen, die Universalität der Menschenrechte gerade nicht naturrechtlich, sondern ‚ohne metaphysischen Ballast‘ zu begründen. Eine zentrale Rolle spielt dabei der von Kant so hervorgehobene Begriff der menschlichen Würde. Aber wie lässt sich ohne metaphysische Annahmen begründen, dass allen Menschen bloß als Menschen die gleiche Würde als Personen und als Träger universaler Rechte zukommt? Der nahezu weltweiten Akzeptanz, ja Selbstverständlichkeit des Menschenrechtsgedankens, der Geläufigkeit, mit der Menschen aus allen Gegenden der Welt mittlerweile solche Rechte einfordern und deren Verletzung anprangern, steht die frappierende Unsicherheit über ihre überzeugende philosophische Begründung gegenüber. Diese Situation ist erstaunlich und beunruhigend, zumal so mancher gutgemeinte Versuch einer metaphysisch deflationären Rechtfertigung der Menschenrechte nolens volens zu ihrer Unterminierung beiträgt. Am meisten verbreitet in der gegenwärtigen Literatur ist sicher noch immer der Versuch, Menschenrechtssetzungen als das Ergebnis geteilter rationaler Präferenzen zu deuten, die dann zur Grundlage dezisionistischer Zuschreibungen von Rechten ohne Ansehen der Person werden. 44 Doch kollektive Präferenzen sind wandelbar; warum sollte es da einer Präferenz für Menschenrechte anders ergehen? Und mit welchem Recht kann man ihre Achtung auch Menschen vorschreiben, die sie nicht teilen? Noch weniger überzeugen können fiktionalistische Ansätze, die Menschenrechte als nützliche Rechtsfiktionen beschreiben. Wie lässt sich der Nutzen einer solchen Fiktion nichtzirkulär begründen, d. h., ohne vorauszusetzen, was erst zu beweisen ist, dass die Annahme solcher Rechte ein hohes Gut ist? Es ist deutlich, dass nicht-metaphysische Menschenrechtstheorien diese Rechte in der Regel als entgrenzte Bürgerrechte verstehen, die ihrerseits als konventionelle Setzungen verstanden werden. Das erklärt auch die verbreitete Annahme, dass Menschenrechts- und Kosmopolitismusdiskurs irgendwie zusammenhingen. Eine beachtliche Prominenz hat ferner der Versuch einer genealogischen Begründung der Menschenrechte als der gewollten „Sakralisierung der Person“ erlangt, wobei die Geschichte des Menschenrechtsdiskurses selbst und der in sie eingehenden Erfahrungen an die Stelle einer naturrechtlich-metaphysischen Begründung tritt. 45 Dabei setzt aber der Rekurs auf Erfahrungen von Unrecht, die in einer solchen Geschichte eine zentrale Rolle spielen, schon voraus, was ebenfalls zu zeigen wäre, dass es sich dabei um echtes Unrecht und Vgl. Eva Weber-Guskar: Würde als Haltung. Eine philosophische Untersuchung zum Begriff der Menschenwürde, Paderborn 2016. 45 Vgl. Hans Joas: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Frankfurt/M. 2011. 44
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nicht bloß um subjektive Empörung gehandelt hat. Vorausgesetzt ist mithin eine tragfähige Unterscheidung zwischen tatsächlichem und vermeintlichem Unrecht. Ohne eine solche Unterscheidung wird sich keine robuste und überzeitlich kohärente Konzeption von Menschenrechten formulieren lassen, und eine bloß voluntaristische Sakralisierung von Personen ließe sich ebenso voluntaristisch auch wieder zurücknehmen oder relativieren. Beunruhigend ist diese Begründungsunsicherheit auch wegen der gegenwärtigen Tendenz zu einer inflationären Forderung nach immer neuen Menschenrechten, wobei neben einem Recht auf ein globales Grundeinkommen und einem Recht auf Entschädigung für Folgen des Klimawandels derzeit vor allem radikale Erweiterungen von Diskriminierungsverboten auf der Tagesordnung des politischen Aktivismus stehen. Man mag darin eine Steigerung der moralischen Sensibilität für Ungerechtigkeiten sehen, aber es scheint auch nicht abwegig, darin vielmehr den Ausdruck eines richtungslos gewordenen Strebens nach einer Maximierung von Rechten zu sehen, das seinen Ursprung in der Unsicherheit über die normativen Grundlagen menschlicher Rechte hat. Ein weiteres Beispiel für eine Kritik ohne Metaphysik ist die Forderung nach der rechtlichen Implementierung von Tierrechten nach dem Vorbild von Menschenrechten. Diese Forderung hat in den vergangenen Jahrzehnten auch unter Philosophen viele Anhänger gefunden. 46 Dem naheliegenden rechtsphilosophischen Einwand, dass Träger von Rechten zumindest potentiell auch Träger von Pflichten sein können müssen, wird üblicherweise mit dem Hinweis auf Kinder, Demente und geistig Behinderte weggewischt, die ebenfalls Träger von Rechten sind, ohne zugleich und im gleichen Maße Träger von Pflichten zu sein. Verteidiger der Idee von Tierrechten gehen von dem wertvollen Impuls aus, tierisches Leben in seiner Eigenart zu achten und ihm unnötige Gewalt und Misshandlung zu ersparen, geleitet sicher auch von der Unruhe über die oben angesprochenen ökologischen Probleme, die sich zu einem großen Teil auf Mangel an Respekt vor der belebten und unbelebten Natur und ihrer Eigengesetzlichkeit zurückführen lassen. Der naturrechtliche Widersinn einer Konstruktion abstrakter Tierrechte, die, verglichen mit den schon bestehenden und fortzuentwickelnden Instrumenten des Tierschutzes, viel radikaler sind, aber notwendig vage bleiben, wird häufig nicht bemerkt. Es lässt sich sehr gut begreifen, wie der Kerngedanke der Tierrechtsdebatte in einer missverstandenen Menschenrechtsdebatte entstehen konnte. Wenn am Anfang nämlich der Gedanke steht, dass auch Menschenrechte letztlich nicht mehr sind als eine willkürliche, aber gutgemeinte Setzung, dann liegt Vgl. z. B. Sue Donaldson und Will Kymlicka: Zoopolis. A Political Theory of Animal Rights, Oxford 2011. 46
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die Annahme nicht mehr so fern, dass sich solche Rechte ebenso willkürlich auf nichtmenschliche Lebewesen ausdehnen lassen, wenn dies nur in guter Absicht geschieht. Evolutionistische Leugnungen einer Wesensdifferenz zwischen Menschen und nichtmenschlichen Lebewesen spielen dabei eine beachtliche Rolle. Dass eine solche neue Kategorie universaler Rechte dem Anliegen des Tierschutzes nicht nutzt, aber das Fundament des Menschenrechtsdenkens noch weiter aushöhlt und am Ende den Begriff universaler Rechte bedeutungslos macht, scheint eine reale Gefahr. Am Anfang steht abermals ein Mangel an metaphysischen Grundlagen. Ähnliche Beispiele aus weiteren ethischen Debatten der Gegenwart ließen sich hinzufügen.
4. Konklusion
Die voranstehenden Überlegungen waren der Frage gewidmet, inwiefern eine kritische Philosophie notwendig metaphysikkritisch ist. Entgegen einem von Hume und Kant prominent vertretenen Vorurteil hat sich erwiesen, dass Metaphysik immer auch selbst metaphysikkritisch gewesen ist und sein musste. Wenn das eine haltbare These ist, dann bedeutete es, dass Kant den sachlichen Beitrag seiner transzendentalen Kritik an der traditionellen Metaphysik zu deren Transformation in eine kritische Disziplin überschätzt hätte. Umgekehrt schärft die Betrachtung zeitgenössischer Formen philosophischer Kritik, die sich entweder nicht auf metaphysische Grundlagen stützt oder diese sogar explizit als ideologieverdächtig ablehnt, den Blick für kritische Haltungen, die selbst drohen, orientierungs- und richtungslos zu werden. Gegen Hume und Kant kann man jedenfalls festhalten: An fruchtlosen philosophischen Debatten, die vorwiegend ideologisch geführt werden und in denen die prägnanteste Rhetorik die Oberhand über das gute sachliche Argument davonträgt, ist nicht und war nicht die Metaphysik schuld. Im Gegenteil, ihr Fehlen, der Mangel an Interesse für die Sachen selbst und die ihnen eigene Natur, begünstigt den Verfall der Philosophie in publikumswirksame Sophistik.
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Rekonstruktion, Destruktion, Dekonstruktion Metaphysikkritik und kritische Metaphysik bei Pirmin StekelerWeithofer, Martin Heidegger und Jacques Derrida
1. Kritische Metaphysik
Die Frage, was Metaphysik ist, was metaphysische Wissensansprüche auszeichnet und wie diese Wissensansprüche gerechtfertigt und zugleich auch kritisiert werden können, hat unmittelbare Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Philosophie, ihre Rolle in der intellektuellen Kultur der Gegenwart und die Orientierungsleistungen, die von ihr erwartet werden können. 1 Es ist insoweit nicht verwunderlich, dass die Auseinandersetzung mit der Metaphysik und ihrer Kritik, wie sie in der westlichen Philosophie vor allem bei Kant, dann bei Hegel, im Grunde aber schon seit Platon artikuliert worden ist, ein Leitmotiv im philosophischen Werk von Pirmin Stekeler-Weithofer darstellt. 2 Ein zentrales Ergebnis dieser Auseinandersetzung ist die Unterscheidung der Metaphysik als System „transzendenter“ und dogmatischer Erkenntnisansprüche von einem rekonstruktiv und selbstreflexiv operierenden metaphysischen Unternehmen, das als Projekt der vernünftigen Artikulation von Praxisformen in Verbindung mit einer selbstreflexiven und in einem guten Sinn „spekulativen“ Verortung unserer selbst im System von Geist und Kultur zu verstehen ist. Der Begriff der „Metaphysik“, so argumentiert Pirmin Stekeler-Weithofer schon in Sinn-Kriterien, beschreibt in einem negativen, bereits kritisch gewendeten Sinn den „objektstufigen“ Entwurf eines systematischen Gesamtbildes der Welt oder eine über das manifeste Sein von empirisch erkennbaren Gegenständen der Natur hinausreichende Theorie einer ihnen eigentlich zugrunde Vgl. Pirmin Stekeler-Weithofer: „Wie soll man heute die Philosophie verteidigen?“, in: Hans-Jörg Sandkühler (Hg.): Philosophie, wozu?, Frankfurt/M. 2007, S. 40–65. 2 Vgl. stellvertretend für viele Texte Pirmin Stekeler-Weithofer: Sinn-Kriterien: Die logischen Grundlagen kritischer Philosophie von Platon bis Wittgenstein, Paderborn 1995, S. 21–23 et passim, sowie ders.: „Metaphysics and Critique of Metaphysics“, in: Michael N. Forster und Kristin Gjesdal (Hg.): The Oxford Handbook of German Philosophy in the Nineteenth Century, Oxford 2015, S. 569–593. 1
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liegenden, für uns jedoch „transzendenten“ Hinterwelt. 3 Metaphysische Weltbilder in diesem Sinne begeben sich, wie vor allem Kant in seiner kritischen Philosophie gezeigt hat, in ein unglückliches Konkurrenzverhältnis zu den (Natur-)Wissenschaften, denen sie aufgrund ihrer überschwänglichen, unbegründbaren und daher letztlich immer willkürlichen sowie dogmatischen Erkenntnisansprüche nur unterliegen können. Objektstufige Metaphysik dieser Art findet sich zeitgenössisch unter anderem in szientistischen Weltbildern und technizistischen Deutungen des Geistes etwa im Physikalismus, in einem (evolutionsbiologisch informierten) Naturalismus und – so könnte man hinzufügen – auch in modischen Spekulationen über die Möglichkeit einer technisch herstellbaren künstlichen Überintelligenz. 4 Eine kantianische Zurückweisung der „transzendenten“ Metaphysik als überschwängliche und dogmatische ‚Glaubensphilosophie‘ darf nicht zur Folge haben, dass wir den Begriff und das Projekt der Metaphysik endgültig verabschieden, denn die Aufgabe des Begriffs und des Projekts „Metaphysik“ würde nur dazu führen, dass wir uns unbewusst und unkontrolliert umso mehr in transzendent-metaphysische Begriffe und Bilder verstricken. 5 Eine solche Zurückweisung benötigt vielmehr – wiederum im Anschluss an Kant und dann vor allem an Hegel – ein positives Verständnis von Metaphysik als logischsinnkritische Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit begründeter Aussagen und Erkenntnisse, auf die darin vorausgesetzten generischen Formen, materialbegrifflichen Implikationen, ‚Defaultnormen‘ und begrifflichtheoretischen Idealisierungen sowie auf die mit deren (Selbst-)Explikation ein-
Vgl. dazu und zum ganzen folgenden Abschnitt Stekeler-Weithofer: „Metaphysics and Critique of Metaphysics“, S. 570 ff.; ders.: Sinn-Kriterien, S. 21 ff.; ders: „Wie soll man heute die Philosophie verteidigen?“, S. 40 ff. 4 Siehe dazu Catrin Misselhorn: Grundfragen der Maschinenethik, 3. Aufl., Ditzingen 2019, S. 201–222. 5 Ob es, wie von Jürgen Habermas vorgeschlagen, dann dennoch ein „nachmetaphysisches Denken“ (vgl. Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken, Bd. 1 u. 2, Berlin 1988 u. 2012) geben kann und inwieweit sich dieses von Stekeler-Weithofers Projekt kritischer Metaphysik als metastufiger Präsuppositionsanalyse unterscheidet, ist eine Frage, der hier nicht nachgegangen werden kann. Unbeschadet einer offensichtlichen Antipathie teilt StekelerWeithofer mit Habermas wesentliche philosophische Grundüberzeugungen und Interessen, wenn man beispielsweise an die Fokussierung des „Sinns“ als philosophischen Grundbegriff, an die Ablehnung des praxistranszendenten Weltbildes des szientistischen Naturalismus, an das beiden gemeinsame Interesse an der vor allem auch sprachphilosophisch zu begreifenden Logik generischer Formen und Normen ebenso wie die bei beiden zu beobachtende Faszination für das Verhältnis von Philosophie und (jüdisch-christlicher) Religion denkt (vgl. dazu Pirmin Stekeler-Weithofer: Sinn, Berlin 2011). 3
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hergehenden perspektivischen Vereinseitigungen und ‚blinden Flecken‘. 6 Die Prinzipien, Formen und Gründe unseres Wissens über ‚Sein‘ und ‚Natur‘ sind nach dieser Deutung von Metaphysik nicht selbst objektstufige Gegenstände unserer Erkenntnis, sondern Gegenstände einer selbst- und wissenschaftskritisch verfahrenden, sinnanalytischen und metastufigen Reflexion von transzendentalen Präsuppositionen menschlicher Rede-, Erkenntnis- und Urteilspraxis in ihrem Gesamtzusammenhang. 7 Erhellend ist dabei die Einsicht, dass unterschiedliche rhetorische, aber auch methodische Strategien dieser Art von kritischer Metaphysik möglich sind, wie Pirmin Stekeler-Weithofer zunächst im Anschluss an Axel Honneths Systematisierung verschiedener Kritikstrategien in der Kritischen Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule (und darüber hinaus bei Foucault), 8 dann noch einmal in anderer Weise in seinem Überblick über verschiedene methodische Verfahrensweisen einer „Kritik der reinen Theorie“ ausführt. 9 Hierbei zeigt sich eine Präferenz für ein – bereits bei Hegel in vorbildlicher Weise praktiziertes – „rekonstruktives“ Verfahren der Explikation von Formen und Normen des „Geistes“ aus ihrer historischen Entwicklung im Sinne einer Fortschrittsgeschichte. Dieses Verfahren wird ergänzt durch das sinnkritische Projekt einer „Dekonstruktion“ ebensolcher rekonstruktiv gewonnener Einsichten im Sinne eines „Abtragens von Schichten, die den Blick auf die Verfassung gegenwärtigen Denkens und
Vgl. Pirmin Stekeler-Weithofer: Kritik der reinen Theorie. Logische Differenzen zwischen Wissenschaft und Weltanschauung, Tübingen 2018, v. a. Kap. 2 u. 3 sowie 8, 9, 13 u. 17. 7 Stekeler-Weithofer: Sinn-Kriterien, S. 21 f.; ders.: „Metaphysics and Critique of Metaphysics“, S. 570 ff. 8 Axel Honneth: „Rekonstruktive Gesellschaftskritik unter genealogischem Vorbehalt. Zur Idee der ‚Kritik‘ in der Frankfurter Schule“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48.5 (2000), S. 729–737. 9 Pirmin Stekeler-Weithofer: „Zur Dekonstruktion gegenstandsfixierter Seinsgeschichte bei Heidegger und Derrida“, in: Andrea Kern und Christoph Menke (Hg): Philosophie der Dekonstruktion. Zum Verhältnis von Normativität und Praxis, Frankfurt/M. 2002, S. 17–42; ders: Kritik der reinen Theorie, S. 199–203. Unterschieden werden können dabei eine aufgeklärte Reflexion der „offenbarten“ Anerkennbarkeit von Entwicklungen der Formen und Normen gemeinsamer Praxis, eine durch allgemeine und reziproke Rechtfertigung begründete „Konstruktion“ von Formen und Normen, wie sie gegenwärtig bspw. im ‚Kantianischen Konstruktivismus‘ von John Rawls oder von Rainer Forst und Seyla Benhabib vertreten wird, sowie die „Rekonstruktion“ historischer Entwicklungen im Modus einer apologetischen Fortschrittserzählung oder – spiegelbildlich dazu – einer pessimistischen Verfallsgeschichte. Ergänzend gehören hierzu auch die reflexionslogische Unterscheidung von „Sach- und Redebereiche[n] in einer übersichtlichen, holistischen, kategorialen Ordnung“ (ebd., S. 201) sowie die sinnkritische Analyse und Bewertung totalisierender (meist religiöser oder kryptoreligiöser) Weltbilder. 6
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Handelns verdecken“, 10 und unter das so unterschiedliche methodische Zugänge zu einem metaphysikkritischen oder auch nur antimetaphysischen Philosophieren wie Heideggers Fundamentalontologie (aber auch seine späteren seinsgeschichtlichen Analysen), 11 Derridas Dekonstruktion und Foucaults Genealogie subsumiert werden. Obwohl solche ‚groben‘ Charakterisierungen prinzipiell berechtigt sind, weil nur sie klare und deutliche Unterscheidungen ermöglichen, die uns im Denken orientieren, und auf die Gefahr hin, dass eine zu feingliedrige Analyse den Blick für das Wesentliche auch zu verstellen und in die Irre zu führen vermag, 12 möchte ich im Folgenden in einem längeren Kommentar oder eigentlich nur einer überlangen Fußnote zu dem skizzierten Metaphysikverständnis Pirmin Stekeler-Weithofers vorschlagen, mit Blick auf Heidegger und Derrida zwischen einem „destruktiven“ und einem „dekonstruktiven“ Zugang zur Metaphysikkritik zu differenzieren. Derridas Dekonstruktion, so meine These, ergänzt die metaphysikkritische Tradition des „langen 19. Jahrhunderts“ 13 um die Einsicht, dass der Abbau des szientistisch-naturalistischen oder eben im schlechten Sinne transzendent-metaphysischen Glaubens an einen unabhängig von den Formen und Normen unserer Bezugnahme auf Welt und Wirklichkeit gegebenen ‚Ursprung‘ das ‚Ursprungsdenken‘ selbst nicht vermeiden kann. Folglich gibt es keinen Ausweg aus der ‚Metaphysik der Präsenz‘, der tatsächlich auf ihren Abbau und nicht bloß auf ihre Dekonstruktion hinausliefe. Mir scheint, dass Pirmin Stekeler-Weithofer diese Einsicht in seiner Lesart der „De(kon)struktion“ Heideggers und Derridas zumindest implizit selbst artikuliert, wenn er beispielsweise die unvermeidlichen „Artikulationsprobleme“ jeder philosophischen Reflexion von Praxisformen oder auch die „partielle Umkehrung“ des Heidegger’schen Projekts einer Kritik der abendländischen Episteme in Derridas Privilegierung der essenziell schematisierenden und daher epistemischen Form der Schrift anspricht. 14 Dennoch möchte ich im Folgenden versuchen, die Differenz zwischen einem an Hegels geistphilosophischer „Rekonstruktion“ bzw. dann auch an Heideggers „Destruktion“ Stekeler-Weithofer: „Zur Dekonstruktion gegenstandsfixierter Seinsgeschichte bei Heidegger und Derrida“, S. 19. 11 Vgl. hierzu die brillante Auslegung des metaphysikkritischen Grundgehalts von Heideggers Spätphilosohie in Pirmin Stekeler-Weithofer: Was heißt Denken? Von Heidegger über Hölderlin zu Derrida, Bonn 2004. 12 Vgl. Stekeler-Weithofer: „Wie soll man heute die Philosophie verteidigen?“, S. 41. 13 Stekeler-Weithofer: „Metaphysics and Critique of Metaphysics“, S. 575 f. 14 Stekeler-Weithofer: „Zur Dekonstruktion gegenstandsfixierter Seinsgeschichte bei Heidegger und Derrida“, S. 21 f. 10
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der abendländischen Metaphysik orientierten Verständnis kritischer Metaphysik und Derridas „Dekonstruktion“ der „Metaphysik der Präsenz“ stärker zu konturieren, um die Einsätze der Debatte zwischen „Rekonstruktion“, „Destruktion“ und „Dekonstruktion“ noch deutlicher hervortreten zu lassen.
2. Destruktion vs. Dekonstruktion
Der Ausgangspunkt meiner Analyse ist eine zeichentheoretische Überlegung. Wie Derrida in seinem berühmten Text über die différance gezeigt hat, enthält die Differenz zwischen Signifikant und Signifikat sowohl auf der Ebene des Signifikats wie auf der Ebene des Signifikanten die Unterscheidung zwischen „dem Sinnlichen“ und „dem Intelligiblen“, zwischen einer nicht sinnlich gegebenen Form oder Idee und ihrer sinnlich erfahrbaren Verkörperung. 15 Die Verschränkung von sinnlichen und intelligiblen Differenzen ermöglicht den Bezug auf das „transzendental[e] Signifikat“ als einen Gehalt bzw. einen Referenten, der nicht erst durch diesen Bezug konstituiert wird. 16 Symptomatisch ist dafür beispielsweise, dass die Linguistik nach Derrida die „Differenz zwischen Signifikant und Signifikat – also die Idee des Zeichens – ohne die Differenz zwischen Sinnlichem und Intelligiblem nicht aufrechterhalten [kann], ohne gleichzeitig den grundlegenderen und tiefer eingebetteten Verweis auf ein Signifikat beizubehalten, das als Intelligibles ‚bestehen‘ kann, noch bevor es ‚hinausfällt‘ und vertrieben wird in die Äußerlichkeit des sinnlichen Diesseits“. 17 Dieses „transzendentale Signifikat“ ist als ein erster, vor jeder Symbolisierung, Versprachlichung, Bezeichnung und Vermittlung bereits gegebener Gehalt zu verstehen, der die Möglichkeit des Verstehens, ja die Sinnhaftigkeit von Vollzügen überhaupt garantiert: „Als Ausdruck reiner Intelligibilität verweist es auf einen absoluten Logos, mit dem es unmittelbar zusammengeht.“ 18 Die Rede von einem „transzendentalen Signifikat“, von „reiner Intelligibilität“ und von dem „absoluten Logos“ soll anzeigen, 19 dass die normative BeurteiJacques Derrida: „Die différance“, in: ders.: Randgänge der Philosophie, 2. Aufl., Wien 1999, S. 31–56: S. 34 (Übersetzung modifiziert, M. W.); vgl. auch Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt/M. 2004, S. 28 [im Folgenden abgekürzt zitiert mit Gr]. 16 Gr, S. 38. 17 Gr, S. 28. 18 Ebd. 19 Ich vernachlässige hier und im Folgenden die theologischen Konnotationen, die in Derridas Ausdrucksweise selbstverständlich mitschwingen. Nach Derrida wurzelt die durch die moderne Linguistik Ferdinand de Saussures und Roman Jacobsons geprägte Unterscheidung von Signifikant und Signifikat in der mittelalterlichen Unterscheidung von signans und 15
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lung sprachlicher Äußerungen auf einen nicht-sinnlichen Maßstab verweist, der die Richtigkeit der Vollzüge, ihr Gelingen und Misslingen und damit die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Verständlichkeit festlegt. Heideggers Projekt in Sein und Zeit lässt sich als Versuch verstehen, die Idee, ein solcher Maßstab sei außerhalb der Vollzüge menschlicher Praxis gegeben, als unhaltbare Annahme des metaphysischen Denkens zu auszuweisen. Nicht ein außerhalb der Vollzüge des Daseins bestehendes ‚Seiendes‘ (das die Frage aufwürfe, wie wir es unabhängig von unseren Vollzügen bestimmen und erkennen können), sondern die zeitliche Strukturiertheit der endlichen Vollzüge menschlicher Subjekte ist als Grundlage der Ontologie anzusehen. Demgegenüber begreift die abendländische Metaphysik, zumindest nach Heideggers Deutung, das Seiende aus der ‚Anwesenheit‘ bzw., in den Worten Derridas, als „transzendentales Signifikat“, außersprachliche ‚Gegenwart/Anwesenheit/ Präsenz (présence)‘. 20 Im Abbau dieser Idee besteht das Moment der „Destruksignatum und kann sich von dem ursprünglich theologischen Gedanken, dass die Sinnhaftigkeit und Erfahrbarkeit der Welt letztlich durch das Wirken eines unendlichen göttlichen logos garantiert wird, nicht ganz frei machen. „Das Zeichen und die Göttlichkeit sind am gleichen Ort und zur gleichen Stunde geboren. Die Epoche des Zeichens ist ihrem Wesen nach theologisch“ (ebd.; vgl. auch Gr, S. 124 f.). Nicht nur aus diesem Grund behauptet Derrida, dass ein enger Zusammenhang zwischen der Dekonstruktion und einem philosophisch sehr spezifischen, religionsbezogen jedoch unspezifischen, paradoxen und antidogmatischen Konzept des Glaubens besteht. Er wird durch den Begriff des „Messianischen ohne Messianismus“ artikuliert, der eine Struktur der Verknüpfung von Allgemeinem und Besonderem beschreibt, die die Beziehung zwischen einem Subjekt und seinem „anderen“ auf so unterschiedlichen Ebenen wie der Sprechakttheorie, der Sozialontologie, der Gesellschaftstheorie und des religiösen Glaubens charakterisiert (siehe Jacques Derrida, „The Villanova Roundtable. A Conversation with Jacques Derrida“, in: John D. Caputo [Hg.]: Deconstruction in a Nutshell: A Conversation with Jacques Derrida, New York 1996, S. 22–25, sowie Jacques Derrida: „Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der ‚Religion‘ an den Grenzen der bloßen Vernunft“, in: ders. und Gianni Vattimo [Hg.]: Die Religion, Frankfurt/M. 2001, S. 9–106). Die philosophisch-theologischen Aspekte von Derridas Philosophie müssen hier ebenso wie das Konzept des „Messianischen“ weitgehend unberücksichtigt bleiben. Vgl. hierfür die umfassenden Arbeiten von Hent de Vries: Philosophy and the Turn to Religion, Baltimore MD 1999; ders.: Religion and Violence. Philosophical Perspectives from Kant to Derrida, Baltimore MD 2002; Tilman Beyrich: Ist Glauben wiederholbar? Derrida liest Kierkegaard, Berlin 2001 sowie die Darstellung im Kommentar des Herausgebers John D. Caputo in ders. (Hg.): Deconstruction in a Nutshell, bes. Kap. 6, die allerdings schon dazu tendiert, die Grenze zwischen einer religionsphilosophischen und einer krypto-religiösen Deutung von Derridas Schriften zu überschreiten. 20 Hier und in den folgenden Passagen ist die Übersetzung von „la présence“ schwierig. Das Wort kann im Deutschen mit „die Gegenwart“, „die Präsenz“, „die Anwesenheit“ und „die Vorhandenheit“ übersetzt werden. Derrida nutzt diese Übersetzungsschwierigkeit explizit als Mittel der philosophischen Explikation, da sie mit einem Grundgedanken von Heideggers Ansatz einer phänomenologischen Ontologie korrespondiert: „In Sein und Zeit und in
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tion“ in seiner Ontologie. 21 In Sein und Zeit will Heidegger zeigen, dass der „Sinn des Seins“ in Wirklichkeit nicht durch den Bezug auf „Seiendes“ als außerhalb dieser Vollzüge Gegebenes erklärbar ist, sondern dass das Sein vielmehr umgekehrt durch die Zeitlichkeit praktischer Vollzüge konstituiert wird. Der „Sinn des Seins“ – so lautet die Grundthese – muss „in der Zeitlichkeit“ gesucht werden.22 Davon unterscheidet sich die von Heidegger inspirierte Dekonstruktion Derridas zumindest in dem Punkt, dass sie das damit verbundene Projekt des Abbaus der Metaphysik mit guten Gründen zurückweist, sodass es neben der sprachlichen Differenz zwischen „Destruktion“ und „Dekonstruktion“, die nur im Prozess der Übersetzung und Rückübersetzung zwischen der deutschen und der französischen Sprache begründet sein mag, auch eine sachliche Differenz zwischen Heidegger und Derrida gibt. 2.1 Die Kritik des „vulgären Zeitbegriffs“
Heidegger verfolgt in Sein und Zeit das Projekt einer „phänomenologischen Ontologie“, dessen Ziel darin besteht, ein philosophisches Verständnis der Strukturen des Seins „phänomenologisch“, das heißt ausgehend von dem Verständnis, durch das sie dem „Dasein“ begegnen, zu erschließen. 23 Fundamental für dieses Projekt ist die Unterscheidung „ontischer“ Strukturen, die das Seiende betreffen, das dem Dasein durch das Verständnis, das es von ihm hat, Kant und das Problem der Metaphysik ist es schwierig, wenn nicht gar unmöglich, streng zwischen der Präsenz als Anwesenheit und der Präsenz als Gegenwärtigkeit (Präsenz im zeitlichen Sinn von Vorhandenheit) zu unterscheiden. In den von uns angeführten Texten werden sie ausdrücklich einander assimiliert. Die Metaphysik bezeichnet demnach die Bestimmung des Sinnes von Sein als Präsenz gleichzeitig in beiderlei Sinn.“ (Jacques Derrida: „Ousia und gramme. Notiz über eine Fußnote in Sein und Zeit“, in: ders.: Randgänge der Philosophie, 2. Aufl., Wien 1999, S. 57–92: S. 89 [im Folgenden teilweise in modifizierter Übersetzung zitiert mit der Sigle „OuGr“]) Die deutsche Ausgabe von „Ousia und gramme“ gibt den Ausdruck „présence“ bevorzugt mit „Anwesenheit“ wieder, was mit Heideggers Übersetzung von Aristoteles’ Begriff der „ousia“ als „Anwesen“ korrespondiert. Die Übersetzungsprobleme lassen sich jedoch nicht durch eine einzige Lösung, die den anderen Varianten prinzipiell überlegen wäre, beheben. Ich verzichte hier deshalb darauf, Derrida-Zitate und meinen Text künstlich terminologisch zu vereinheitlichen, sondern versuche, die am besten zum Kontext passende Lösung zu wählen. Immer, wenn in dieser Arbeit von „Anwesenheit“, „Gegenwart“ oder „Präsenz“ die Rede ist, sind die anderen Übersetzungsmöglichkeiten jeweils mitzu(be) denken. Für den Ausdruck „le présent“ bevorzuge ich die Wiedergabe mit „das Präsens“, obwohl auch eine Übersetzung mit „die Gegenwart“ möglich wäre. 21 Martin Heidegger: Sein und Zeit, 17. Aufl., Tübingen 1993, S. 22 ff. [im Folgenden abgekürzt zitiert mit der Sigle „SuZ“]. 22 Vgl. SuZ, § 5–8, S. 15–40. 23 SuZ, § 7, S. 27–39.
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begegnet, von „ontologischen“ Strukturen, die das Dasein und sein jeweiliges „Seinsverständnis“ betreffen. Heidegger behauptet, dass die „ontologischen“ Strukturen des Daseins gegenüber den „ontischen“ Strukturen des Seienden insofern primär sind, als das Verständnis des Seienden (als Inbegriff von allem, was ist) durch sie bestimmt wird. Das Selbstverhältnis des einzelnen Daseins sowie seine Beziehung zur Welt sollen nicht, wie in der Wissenschaft, aus gesetzmäßigen Zusammenhängen in der Welt erklärt werden. Vielmehr gilt umgekehrt, dass sie vom „Seinsverständnis“ des Daseins her expliziert werden müssen, in dem sie verwurzelt sind. 24 Die fundamentalontologische Phänomenologie Heideggers versteht sich damit (um einen zentralen Begriff im philosophischen Ansatz Pirmin Stekeler-Weithofers zu verwenden) als eine Konstitutionsanalyse der Strukturen, in denen sich das Dasein in seinem Verhalten zu sich und zur Welt bewegt. 25 Sie deckt in der Analyse des Selbst- und Weltverhältnisses des Daseins ein ursprüngliches Verstehen von Sinn auf, das von seinen zeitlichen Strukturen her zu erläutern ist. 26 Zunächst will Heidegger in Sein und Zeit deshalb ein zureichendes Verständnis des Faktums entwickeln, dass der Zugang zu Seiendem durch dieses Verstehen vermittelt ist. 27 Wir müssen hier nicht nachvollziehen, wie Heidegger die Analytik des Daseins im Einzelnen entfaltet. Wesentlich ist vor allem das Ergebnis, das er im zweiten Abschnitt des ersten Teils von Sein und Zeit unter der Überschrift „Dasein und Zeitlichkeit“ vorstellt. Hier argumentiert Heidegger, dass die „Zeitlichkeit des Daseins“ die grundlegende Struktur darstellt, die die Klärung der Frage nach dem „Sinn von Sein“ ermöglicht. 28 Dasein ist als Sich-Entwerfen auf Möglichkeiten zu bestimmen. Die Bedeutung eines Vollzugs ist deshalb davon abhängig, wie sich das Dasein in seinem „Entwurf “ versteht. 29 Die darin begriffenen Möglichkeiten sind als Sinnpotenziale zu begreifen, die sich dem Dasein in einem konkreten Moment seiner Lebensgeschichte bieten. Das Dasein ist insofern zeitlich verfasst, als diese Sinnpotenziale von der GeSuZ, § 4, S. 11–15. Zum Begriff der „Konstitutionsanalyse“ vgl. Stekeler-Weithofer: Kritik der reinen Theorie, S. 452–459. 26 SuZ, § 18, bes. S. 84–88, und § 31, S. 142–148. 27 SuZ, § 2, S. 5–8. 28 SuZ, S. 231 und 235. 29 SuZ, § 31, hier bes. S. 145 f. Günter Figal deutet Heideggers Begriff des „Entwurfs“ als Gesamtheit noch nicht realisierter und näher bestimmter Möglichkeiten, aus denen sich dann durch ein ausdrückliches thematisches Ergreifen „Projekte“ konkretisieren können (vgl. Günter Figal: Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, Frankfurt/M. 1988, S. 169 f.). Einige Seiten später präzisiert Figal diese Deutung dahingehend, dass die im „Entwurf “ erschlossenen Möglichkeiten zwar an sich selbst keine Projekte seien, „aber prinzipiell […] doch jede Verhaltensmöglichkeit als Projekt gefaßt werden“ könne (ebd., S. 174). 24 25
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schichte und den Zielen abhängen, mit denen es in seiner gegenwärtigen Existenz verwoben ist. 30 Auf diese Weise ist es als Entwurf in seiner zeitlichen und verzeitlichenden Strukturiertheit zu verstehen. Nehmen wir zunächst den in die Zukunft gerichteten Aspekt der Zeitlichkeit des Daseins in den Blick, den Heidegger als „Sich-vorweg-sein“ des Daseins in der „Sorge“ bezeichnet. 31 Dieses „Sich-vorweg-sein“ wurzelt Heidegger zufolge im „Vorlaufen“ in die Möglichkeit des eigenen Todes. 32 Der eigene Tod ist der Punkt, an dem die Bindung an Projekte und die Bezogenheit auf Zukünftiges abbricht. Er ist eine Möglichkeit, in der alle anderen Möglichkeiten des Verstehens und Handelns definitiv an ein Ende kommen. Er konstituiert die Endlichkeit des Daseins, das heißt die Notwendigkeit, sich zu seiner eigenen Existenz zu verhalten. Der Bezug auf den eigenen Tod begründet sein „eigenstes Seinkönnen“, weil durch ihn erst vollkommen durchsichtig wird, dass sich das Dasein über die kontingenten Pläne und Ziele, die es in seinem Leben verfolgt, mit sich selbst identifiziert und dass es darüber hinaus keine Substanz gibt, in der sein Selbstbezug gegründet ist. Erst in der Konfrontation mit dem eigenen Tod gewinnt das Dasein sein Selbstverhältnis, eröffnet sich ihm die Möglichkeit des Bezugs auf sich selbst als einzigartiges, unverwechselbares Individuum (die Möglichkeit „eigentlicher Existenz“). 33 Es kann hier dahingestellt bleiben, ob die Eigentlichkeit des Daseins wirklich ausschließlich im „Sein zum Tode“ gründet. 34 Zunächst einmal ist nur die Beobachtung von Belang, dass Weltbezug und Selbstbezug des Daseins in SuZ, § 31, bes. S. 145 f., § 41, bes. S. 194 f. und § 64, S. 323–331. SuZ, S. 191–193 und 325. „Sorge“ ist der Titel für das Verhalten des Daseins zu faktisch vorgegebenen Gegenständen und Möglichkeiten, das heißt zugleich für sein Selbst- und sein Weltverhältnis. „Das Sein des Daseins besagt: Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt-) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden). Dieses Sein erfüllt die Bedeutung des Titels Sorge, der rein ontologisch-existenzial gebraucht wird.“ (SuZ, S. 192) 32 SuZ, S. 262. 33 SuZ, S. 262 f. 34 SuZ, §§ 51–53, S. 252–266. Vgl. die Kritik von Figal: Martin Heidegger, S. 221–233 mit Verweis auf weitere Literatur, und ähnlich dazu Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. Bd. 3: Die erzählte Zeit, München 1991, S. 108 f. Ein besonderes Problem von Heideggers Begriff des „Seins zum Tode“ besteht darin, dass der Tod eine Möglichkeit darstellen soll, die als „unüberholbare“ und „unbezügliche“ jedem Dasein je selbst zugrunde liegt, zugleich aber keine „Wirklichkeit“ hat (vgl. SuZ, S. 258–264 f.). Es ist schwer zu verstehen, dass eine Möglichkeit, die für das Dasein unwirklich bleiben muss, den Selbstbezug stiftet. Figal und Ricœur argumentieren meines Erachtens überzeugend dafür, dass die Möglichkeit des eigentlichen Selbstseins des Daseins angesichts seiner Endlichkeit ebenso in den Phänomenen der Angst und des Gewissens zu erkennen ist (vgl. dagegen aber Ralf Becker: Sinn und Zeitlichkeit. Vergleichende Studien zum Problem der Konstitution von Sinn durch die Zeit bei Husserl, Heidegger und Bloch, Würzburg 2003, S. 154 f. [Fn. 50]). 30 31
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einem zeitlichen Entwurf auf die Zukunft hin begründet sind. 35 Die Vollzüge des Daseins beruhen demnach auf einer komplexen Einheit zeitlicher Bezüge. 36 Verstehen impliziert einen Bezug auf Vergangenes. Es richtet sich in die Vergangenheit, insofern eine Situation nur im Zusammenhang mit ihrem kontingenten Gewordensein (in ihrer „Faktizität“ bzw. „Geschichtlichkeit“) verständlich sein kann. 37 Zugleich bezieht sich das Verstehen aber immer auch auf Zukünftiges. Handlung und Situationen werden erst aus einer bereits in der Gegenwart prospektiv vorgenommenen fiktiven Rückschau verständlich, in der mögliche Handlungsverläufe und deren Folgen in den Blick genommen und beurteilt werden. Die Zugänglichkeit von Sinn setzt folglich eine komplexe „ekstatisch-horizontal[e] Einheit“ der drei zeitlichen Momente Gewesenheit, Gegenwart und Zukunft voraus. 38 Heidegger nennt diese Momente die drei „Ekstasen der Zeitlichkeit“ und macht damit deutlich, dass es sich um drei zusammengehörige Aspekte einer einheitlichen Struktur handelt. 39 Die Einheit der drei Ekstasen ist die Bedingung der Möglichkeit für das Verstehen von Sinn. 40 SuZ, S. 329. Dasein ist ontologisch in der Zeitlichkeit verwurzelt. Daraus ergibt sich für Heidegger die Notwendigkeit einer „Wiederholung der existenzialen Analyse“ der Seinsverfassung des Daseins als seine „‚zeitliche‘ Interpretation“ (SuZ, S. 331). Vgl. auch Martin Heidegger: Die Grundprobleme der Phänomenologie (Marburger Vorlesung Sommersemester 1927) (Gesamtausgabe, Bd. 24), Frankfurt/M. 1975, S. 374–379 [im Folgenden abgekürzt zitiert mit „GdPh“]. 37 SuZ, S. 328 und 332. 38 SuZ, S. 326 und 360. 39 SuZ, S. 329. 40 Vgl. die Wiederholung der „Analytik des Daseins“ im vierten Kapitel des zweiten Abschnitts von Sein und Zeit (SuZ, §§ 67–71, S. 334–371). Die Einheit der Zeit kommt unter anderem in Heideggers Übersetzung und Interpretation der Zeitdefinition, die Aristoteles in seiner Physik gibt, zum Ausdruck: „Dieses Gegenwärtigen zeitigt sich in der ekstatischen Einheit eines gewärtigenden Behaltens. Gegenwärtigend das ‚damals‘ behalten, bedeutet: jetzt-sagend offen sein für den Horizont des Früher, das heißt des Jetzt-nicht-mehr. Gegenwärtigend das ‚dann‘ gewärtigen, besagt: jetzt-sagend offen sein für den Horizont des Später, das heißt des Jetzt-noch-nicht. Das in solchem Gegenwärtigen sich Zeigende ist die Zeit. Wie lautet demnach die Definition der im Horizont des umsichtigen, sich Zeit nehmenden, besorgenden Uhrgebrauchs offenbaren Zeit? Sie ist das im gegenwärtigenden, zählenden Verfolg des wandernden Zeigers sich zeigende G e z ä h l t e , so zwar, daß sich das Gegenwärtigen in der ekstatischen Einheit mit dem nach dem Früher und Später horizontal offenen Behalten und Gewärtigen zeitigt. Das ist aber nichts anderes als die existenzial-ontologische Auslegung der Definition, die Aristoteles von der Zeit gibt: […] ‚Das nämlich ist die Zeit, das Gezählte an der im Horizont des Früher und Später begegnenden Bewegung‘.“ (SuZ, S. 420 f.; Sperrung i. Orig., M. W.) Die Übersetzung von Hans Günter Zekl in der Ausgabe der Philosophischen Bibliothek lautet: „Denn eben das ist Zeit: Die Meßzahl von Bewegung hinsichtlich des ‚davor‘ 35 36
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Am Ende des zweiten Abschnitts von Sein und Zeit hebt Heidegger die Zeitlichkeit des Daseins gegen ein „vulgäres“ Verständnis von Zeit ab, das die Geschichte der Metaphysik von Aristoteles bis Hegel dominiert habe. In diesem Verständnis wird die Zeit als unendliche Folge von jeweils gegenwärtigen Zeitpunkten verstanden. In seiner Kritik an diesem „vulgären Zeitbegriff “ argumentiert Heidegger, dass die Zeit als Einheit der drei Ekstasen gegenüber ihrem „vulgären“ (Miss-)Verständnis ursprünglich sei. 41 Der „vulgäre Zeitbegriff “ setzt demnach die ursprüngliche Einheit der drei zeitlichen „Ekstasen“ unerkannt bereits voraus und verdeckt zugleich ihre fundierende Rolle. Stattdessen wird die Zeit als eine Abfolge von Jetzt-Punkten, die „sind“ oder in denen Seiendes „ist“, verstanden: „Und so zeigt sich denn für das vulgäre Zeitverständnis die Zeit als eine Folge von ständig ‚vorhandenen‘, zugleich vergehenden und ankommenden Jetzt.“ 42 Aus diesem Grund „verfügt [der vulgäre Zeitbegriff, M. W.] gar nicht über den Horizont, um so etwas wie Welt, Bedeutsamkeit, Datierbarkeit sich zugänglich machen zu können.“ 43 Das Selbst- und Weltverhältnis des Daseins lässt sich nicht als ursprünglich zeitliches Verhältnis verstehen und transparent machen, wenn Zeit ausschließlich im Sinne des „vulgären Zeitbegriffs“ verstanden wird. Der „vulgäre Zeitbegriff “ hat freilich nicht nur den Makel, dass er nicht basal ist und ein philosophisches Verständnis wesentlicher Aspekte des Zeitphänomens unmöglich macht. Er gerät zudem in eine Aporie, die von Aristoteles zu Beginn seiner Zeitabhandlung in der Physik dargestellt wird. Konzipiert man die Zeit als gerichtete Abfolge von Zeitpunkten, die vom (Noch-) Nichtsein in der Zukunft zur Existenz in der Gegenwart und dann weiter zum (Schon-)Nichtmehrsein in der Vergangenheit hinübergleiten, dann lässt sich nicht mehr verstehen, dass die Zeit eine kontinuierliche und keine diskrete Größe darstellt. Denn zukünftige, gegenwärtige und vergangene Zeitpunkte könnten nur dann bruchlos ineinander übergehen, wenn diese Zeitpunkte sowohl gleichzeitig (gegenwärtig) als auch nicht gleichzeitig (vergangen, gegenwärtig und zukünftig) wären, was ihrem Begriff widerspricht. 44 Heidegger bemerkt mit Blick auf diese Aporie:
und ‚danach‘.“ (Aristoteles: Aristoteles’ Physik. Vorlesung über die Natur, Erster Halbband: Bücher I(Α)–IV(Δ), übers., mit einer Einleitung und Anmerkungen hrsg. von Hans Günter Zekl, Hamburg 1987: IV, 219b) Für eine Erläuterung von Heideggers Übersetzung vgl. Figal: Martin Heidegger, S. 307–312. 41 SuZ, S. 405. 42 SuZ, S. 422. 43 SuZ, S. 423. 44 Aristoteles: Physik, IV, 218a.
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In der ontologischen Orientierung an einem ständig Vorhandenen sucht man das Problem der Kontinuität der Zeit, bzw. man läßt hier die Aporie stehen. […] Die Gespanntheit der Zeit wird nicht aus der horizontalen Erstrecktheit der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit verstanden […]. Daß in jedem noch so momentanen Jetzt je schon Jetzt ist, muß aus dem noch „Früheren“ begriffen werden, dem jedes Jetzt entstammt: aus der ekstatischen Erstrecktheit der Zeitlichkeit, die jeder Kontinuität eines Vorhandenen fremd ist, ihrerseits aber die Bedingung der Möglichkeit des Zuganges zu einem vorhandenen Stetigen darstellt. 45
An der Oberfläche stimmen Derrida und Heidegger somit darin überein, dass das „vulgäre“ Verständnis der Zeit sachlich verfehlt ist, da das Sinnverstehen eine „ekstatische Einheit“ zeitlicher Vollzüge im Sinne von Heideggers ursprünglichem Zeitbegriff voraussetzt. 46 Allerdings, und dies ist auf den ersten Blick vielleicht überraschend, unterscheidet Derrida sein Projekt einer „Dekonstruktion“ und Kritik der „Metaphysik der Präsenz“ gleichwohl kritisch von Heideggers Projekt einer „Destruktion“ der traditionellen Ontologie mit ihrem Verständnis des Seienden als zeitlos Anwesendes. 47 Die philosophische Pointe dieser Unterscheidung soll nun genauer expliziert werden. 2.2 Die Unausweichlichkeit der Metaphysik
Derridas Kritik der Metaphysik ist in Heideggers Projekt einer Destruktion der abendländischen Metaphysik und ihrer Ontologie vorbereitet. Dieses Projekt beruht auf der Diagnose, dass die Metaphysik das Seiende zeitlich als ‚gegenwärtige‘ Anwesenheit oder Präsenz bestimmt, anstatt sie von der zeitlichen
SuZ, S. 423 f. Im dritten Abschnitt des ersten Teils von Sein und Zeit wollte Heidegger zeigen, dass die im ersten und zweiten Abschnitt aufgedeckte Struktur der Zeitlichkeit auf einer ursprünglichen Temporalität des Seins basiert, die die Grundlage der Ontologie darstellt. Heidegger hat dieses im Entwurf einmal vorhandene Buch bekanntlich nie veröffentlicht, aber die Vorlesung aus dem Sommersemester 1927 über die Grundprobleme der Phänomenologie als Versuch einer Ausarbeitung dieses dritten Abschnitts bezeichnet (vgl. dazu FriedrichWilhelm von Herrmann: Heideggers „Grundprobleme der Phänomenologie“. Zur „Zweiten Hälfte“ von „Sein und Zeit“, Frankfurt/M. 1991, bes. S. 13–31). In dieser Vorlesung kommt er zwar nicht an das selbst gesetzte Ziel, die ekstatische Einheit der Zeitlichkeit von einer noch grundlegenderen „Temporalität“ her zu verstehen. Dies bleibt dann aber ein wichtiger Aspekt in seiner Thematisierung der „Seinsgeschichte“ bis hin zu dem späten Vortrag mit dem Titel „Zeit und Sein“. Vgl. dazu Figal: Martin Heidegger, S. 334–361. 47 Jacques Derrida: Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, Frankfurt/M. 2003, S. 202– 204, dort Fn. 39. 45 46
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Erstrecktheit der drei Ekstasen des Zeitlichen her zu denken. 48 Dies bildet den Grundzug der abendländischen Metaphysik: Aber um zu sein, um ein Seiendes zu sein, darf nichts von Zeit affiziert werden, darf nichts (Vergangenheit oder Zukunft) werden. An der Seiendheit [étantité], an der ousia, teilzuhaben, bedeutet mithin Teilhabe am Gegenwärtig-Seienden [étant-présent], an der Präsenz des Präsens [présence du présent] oder, wenn man so will, an der Gegenwärtigkeit [présentité]. Das Seiende ist das, was ist. Ousia wird demnach vom esti her gedacht. Der Vorrang der dritten Person Indikativ Präsens erweist sich hier in seiner ganzen geschichtlichen Bedeutung. Das Seiende, das Präsens, das Jetzt, die Substanz und das Wesen sind in ihrem Sinn an die Form des Partizip Präsens gebunden. 49
Das Primat der „Anwesenheit“, „Gegenwärtigkeit“ oder „Präsenz“ im Seinsverständnis der abendländischen Philosophie lässt es dann als zwingend erscheinen, die Zeit als Abfolge von je gegenwärtig anwesend „seienden“ Zeitpunkten zu deuten. Und daraus folgt das Problem, wie die jeweils gegenwärtig anwesend seienden Zeitpunkte in einen kontinuierlichen Fluss von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft integriert werden können. Wie gerade gesehen, argumentiert Heidegger in diesem Rahmen, dass die aristotelische Zeitaporie aus dem ontologischen Verständnis des Seienden als zeitlos ständig Vorhandenes entspringt. Aristoteles stellt sich, wie Derrida schreibt, mit seiner Bestimmung der Natur (physis) der Zeit in den „Horizont der Metaphysik“, der dadurch charakterisiert ist, dass „die Metaphysik die Zeit, ausgehend von einem in seiner Beziehung zur Zeit bereits stillschweigend im voraus bestimmten Seienden, denken zu können glaubte“. 50 Damit aber wird ihr Seinscharakter verfehlt, denn die Zeit ist etwas, „von dem aus sich das Sein des Seienden anzeigt, und nicht etwas, dessen Möglichkeit sich ausgehend von einem bereits konstituierten (und insgeheim zeitlich vorbestimmten) Seienden als anwesend Seiendem (im Indikativ, als Vorhandenheit) ableiten ließe als Substanz oder Objekt“. 51 Vgl. OuGr, S. 71–76. Derrida behauptet in diesem Abschnitt seines Texts, dass der Umstand, dass das Seiende in der Metaphysik mit dem gegenwärtig Anwesenden identifiziert wird, als Verfehlen der Frage nach der Beziehung zwischen Zeit und Sein verstanden werden muss. Es handelt sich um ein Verfehlen, weil die Frage bereits in der traditionellen Metaphysik enthalten ist. Nach Derridas Deutung trifft dies insbesondere auf die zu Beginn der Zeitabhandlung von Aristoteles aufgeworfene und von ihm als „exoterische Aporie“ der Zeit bezeichnete Überlegung zu, „ob sie zum Seienden gehört oder zum Nichtseienden“. (Aristoteles: Physik, IV, 217b) 49 OuGr, S. 65; vgl. auch OuGr, S. 75 f. 50 OuGr, S. 71. 51 OuGr, S. 72. 48
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An dieser Stelle darf allerdings nicht unterschlagen werden, dass schon Aristoteles in der Zeitabhandlung der Physik einen Vorschlag macht, wie die Aporie vermieden werden kann. Nur deshalb kann Heidegger die aristotelische Definition der Zeit metaphysikgeschichtlich als unvollkommene Vorwegnahme seines eigenen „ekstatisch-horizontalen“ Zeitbegriffs deuten. Lässt sich Derridas These vom Primat der Anwesenheit, Gegenwärtigkeit oder Präsenz bei Aristoteles (und in der Folge in der gesamten abendländischen Metaphysik) also überhaupt halten? Es ist ein genauer Blick auf die von Derrida quasi als Paradigma der traditionellen Metaphysik beschriebene „exoterische Aporie“erforderlich, um einer Antwort auf diese Frage auf die Spur zu kommen. In ihrem Kern ergibt sich die Aporie daraus, dass die vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Zeitpunkte eine Einheit bilden müssen, um innerhalb eines kontinuierlichen Zeitablaufs erscheinen zu können. Zudem sind die gegenwärtigen Zeitpunkte in dem der Aporie zugrunde liegenden und letztlich sowohl von Aristoteles als auch von Heidegger und Derrida kritisierten „vulgären“ Denkmodell gleichermaßen durch Anwesenheit bzw. Präsenz und Abwesenheit bzw. Nicht-Präsenz gekennzeichnet, je nachdem, ob sie gerade aktuell gegenwärtig oder vergangen bzw. noch zukünftig sind. Aus diesem Grund resümiert Aristoteles, dass die Zeit, wenn man von diesem Denkmodell ausgeht, „nun also entweder überhaupt nicht wirklich ist oder nur unter Anstrengungen und auf dunkle Weise“. 52 Wie bereits erwähnt, besteht das Problem darin, dass noch zukünftige, schon gegenwärtige und bereits vergangene Zeitpunkte gleichzeitig nebeneinander bestehen müssen, wenn die Zeit überhaupt kontinuierlich verlaufen soll. Dies scheint aber unmöglich zu sein, weil zwei verschiedene Zeitpunkte nicht zugleich sein können. 53 Nichtsdestoweniger erscheint die Zeit als aus gegenwärtigen und zukünftigen „Jetzt“ zusammengesetzt: Ein Jetzt kann als gegenwärtiges und anwesendes Jetzt [comme maintenant actuel et présent] nicht mit einem anderen Jetzt als solchem koexistieren. Ko-Existenz hat nur in der Einheit ein und desselben Jetzt Sinn. Das ist der Sinn selbst, in dem, was ihn mit der Gegenwart verbindet [en ce qui l’unit à la présence]. Man kann nicht einmal sagen, dass die Ko-Existenz zweier verschiedener und gleichermaßen gegenwärtiger Jetzt unmöglich oder undenkbar ist: Die Bedeutung der KoExistenz und der Gegenwart selbst wird durch diese Grenze konstituiert. Nicht mit einem anderen (ihm gleichen) Jetzt ko-existieren zu können, kommt dem Jetzt nicht als ein Prädikat zu, vielmehr macht dies sein Wesen als Gegenwart [comme présence] aus. Das Jetzt, die gegenwärtige Präsenz des Präsens [la présence en acte 52 53
Aristoteles: Physik, IV, 217b; vgl. dazu OuGr, S. 74. Aristoteles: Physik, IV, 218a.
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du présent] besteht in der Unmöglichkeit mit einem anderen Jetzt, das heißt einem Anderen-das-ihm-gleich-ist [un-autre-même-que-soi], zu koexistieren. Das Jetzt ist (im Indikativ Präsens) die Unmöglichkeit mit sich zu koexistieren: mit sich, das heißt mit einem anderen sich, einem anderen Jetzt, einem anderen Selben, mit einem Doppel. Aber wir haben bereits bemerkt, dass diese Unmöglichkeit, kaum daß sie besteht, sich widerspricht, sich als die Möglichkeit des Unmöglichen erweist. Um zu sein, was sie ist, impliziert diese Unmöglichkeit in ihrem Wesen [dans son essence], daß das andere Jetzt, mit dem ein Jetzt nicht koexistieren kann, in gewisser Weise auch dasselbe oder auch ein Jetzt als solches sei; und mit dem, was mit ihm nicht koexistieren kann, koexistiert. Die Unmöglichkeit der Koexistenz läßt sich nur ausgehend von einer Koexistenz oder einer gewissen Simultaneität des Ungleichzeitigen [simultanéité du non-simultané] feststellen, wo die Alterität und die Identität des Jetzt zusammen in dem in sich unterschiedenen Element eines Selben [dans l’élément différencié d’un certain même] als vorhanden behauptet werden. Auf Lateinisch ließe sich sagen: das cum und das co der Ko-Existenz haben nur von ihrer Unmöglichkeit her Sinn, und umgekehrt. Das Unmögliche (die Koexistenz zweier Jetzt) erscheint nur in einer Synthese (dieses Wort auf neutrale Weise verstanden, indem sie keine Position, keine Aktivität und kein Agens impliziert). Wir sprechen hier von einer gewissen Komplizenschaft oder Ko-Implikation, welche zugleich mehrere gegenwärtige Jetzt unterhält [maintenant ensemble plusieurs maintenants actuels], von denen man das eine vergangen und das andere zukünftig nennt. Das unmögliche Zusammen-Vorhandensein [co-maintenance] von mehreren gegenwärtigen Jetzt ist möglich als Vorhandensein [maintenance] von mehreren gegenwärtigen Jetzt. Zeit ist der Name für diese unmögliche Möglichkeit. 54
Nach Derridas Deutung geht Aristoteles davon aus, dass die Zeit nichts Seiendes ist, weil sie als Jetztfolge die Momente des vergangenen und zukünftigen Jetzt enthält, die als Nicht-Seiende untrennbar mit dem gegenwärtig präsenten bzw. anwesenden Jetzt verbunden sind, insofern eines in das andere übergeht. Die besondere Pointe dieses Gedankens ist freilich, dass damit schon ein bestimmtes Verhältnis zwischen Zeit und Sein (und auch zwischen Zeit und Nichts als Negation des Seins) gedacht wird. Dies zeigt sich wie in einem Brennglas in der von Aristoteles selbst ins Spiel gebrachten Analogie und Disanalogie zwischen Zeit und Linie (gramme). 55 Die Zeit scheint einer Linie zu ähneln, weil sie ebenso aus vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Jetzt-Punkten zusammengesetzt zu sein scheint, wie diese aus Punkten zusammengesetzt ist, die ein Kontinuum bilden. Andererseits sind Zeit und Linie disanalog, weil die Jetzt-Punkte im Unterschied zu den geometrischen Punk54 55
OuGr, S. 78 f. OuGr, S. 82–84.
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ten einer Linie sich gegenseitig in ihrem Sein bzw. Nicht-Sein aufheben oder vernichten. Die Disanalogie lässt erkennen, dass das Sein im Kontext des „vulgären Zeitbegriffs“ von der Gegenwart her gedacht wird. Die Zeit ist nichts Seiendes, weil sie die Momente des „noch nicht“ und „schon nicht mehr“ enthält, die selbst abwesend bzw. nicht-seiend sind. Es ist dieses Verständnis des Verhältnisses von Seiendem und Zeit, das die Metaphysik der Zeit nach Derrida von Aristoteles bis in die Gegenwart (und, wie wir sehen werden, sogar noch das Denken Heideggers) prägt: 56 Denkt man das Nichtseiende als Nicht-Gegenwärtiges und das Seiende als Gegenwärtiges [pour penser le non-étant comme non-présent et l’étant comme présent], hat man sich schon, ohne es zu bemerken, im Sinn-Horizont der Zeit bewegt. Um die Zeit als Nicht-Gegenwärtiges und Nicht-Seiendes [comme non-présent et nonétant] bestimmen zu können, hat man das Seiende als gegenwärtig Seiendes zeitlich bestimmt [déterminé l’étant comme étant-présent]. […] Das Seiende ist NichtZeit, die Zeit Nichtseiendes insoweit, als man schon insgeheim das Seiende als gegenwärtig und die Seiendheit (ousia) als Gegenwart bestimmt hat [déterminé l’étant comme présent, l’étantité (ousia) comme présence]. 57
Gegen diese Deutung kann man fragen, ob es Aristoteles denn nicht gelingt, die Aporie aufzulösen, indem er die Zeit als „Meßzahl von Bewegung hinsichtlich des ‚davor‘ und ‚danach‘“ 58 bestimmt. Im Lichte dieser Definition ist ein gegenwärtiger Zeitpunkt (das gegenwärtig präsente bzw. anwesende „Jetzt“) als ein Zeitintervall zu verstehen, das aus einer kontinuierlichen Bewegung herausgegriffen und durch ein „davor“ und ein „danach“ abgegrenzt wird. 59 Zeitpunkte werden vor dem Hintergrund einer Bewegung individuiert, die eine Veränderung in ihrer zeitlichen Einheit charakterisiert. 60 In dieser Deutung von Aristoteles’ Zeitkonzeption wird die Zeit nicht wie in der von ihm aufgeworfenen Aporie als unendliche Folge von sich selbst präsenten JetztPunkten verstanden, sondern auf eine Differenz von Zuständen „davor“ und „danach“ zurückgeführt, die den Anfangs- und Endpunkt einer Bewegung in Um den Gedankengang nicht unnötig zu verkomplizieren, vernachlässige ich im Folgenden Derridas Analyse der Parallelen von Aristoteles’ Zeitphilosophie in Physik IV und Kants Analyse der Zeit als „Form des inneren Sinns“ in der Kritik der reinen Vernunft. Vgl. dazu OuGr, S. 69 und 72 f. 57 OuGr, S. 74. 58 Aristoteles: Physik, IV, 219b. 59 Das „Jetzt aber, ebenso wie das Fortbewegte, ist gewissermaßen eine Einheit der Zahl. Und die Zeit ist also auf Grund des Jetzt sowohl zusammenhängend, wie sie (andererseits) auch mittels des Jetzt durch Schnitte eingeteilt wird.“ (ebd., 220a) 60 Vgl. Sebastian Rödl: Kategorien des Zeitlichen. Eine Untersuchung über die Formen des endlichen Verstandes, Frankfurt/M. 2005, Kap. 5. 56
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ihrer zeitlichen Einheit markieren. 61 Die Bedingung der Möglichkeit des zeitlichen Bezugs auf einen bestimmten Zeitpunkt ist das Vermögen, ein zeitliches Intervall aus einer Bewegung (sei diese die passive Bewegung eines Dings, die aktive Selbstbewegung eines lebendigen Individuums oder das Entstehen und Vergehen von Individuen einer Art) herauszugreifen. Es ist offensichtlich, dass die Zeit in diesem Verständnis nicht als etwas begriffen werden kann, das ‚über das Seiende kommt‘, sondern dass sie ein internes Strukturmoment von Bewegung und Ruhe darstellt, das das Sein von Gegenständen als solches charakterisiert. 62 Dieses Zeitverständnis rehabilitiert auch die Analogie zwischen Zeit und Linie: Das Herausgreifen eines Bewegungsintervalls als Jetzt muss nicht in Analogie zur Bestimmung eines Punktes auf einer Linie, sondern kann stattdessen in Analogie zum Herausgreifen einer Strecke aus einer Linie gedeutet werden, wenn man voraussetzt, dass die herausgegriffene Strecke nicht als diskrete Einheit, sondern als Teil eines Kontinuums (der kontinuierlich verlaufenden Bewegung) begriffen wird. 63 In diesem Sinne lässt sich die Zeit durchaus als Linie beschreiben, die aus potenziell unendlich vielen und unendlich kleinen Intervallen zusammengesetzt ist, ohne dass sich daraus ein Widerspruch ergibt. 64 Heideggers Behauptung, dass Aristoteles bereits denselben ‚ursprünglichen‘ Begriff der Zeit als ‚Einheit‘ der drei zeitlichen ‚Ekstasen‘ im Blick gehabt habe, den Heidegger in Sein und Zeit und den Grund-
OuGr, S. 73 und 82. Aristoteles: Physik, IV, 219b. Alexander Aichele argumentiert, dass Aristoteles neben diesem Begriff der bestimmten Bewegung eine ontologisch vorgängige, kategorial unbestimmte sowie anfangs- und endlose Bewegung annimmt, die als atemporale basale ontologische Realität von jeder Form von Gegenständlichkeit (verstanden als Bereich des kategorial bestimmbaren Seienden) unterschieden ist. Da zeitliche Verhältnisse nur auf der Ebene kategorial bestimmter Gegenstände und ihrer Zustände bestehen und es auch nicht mein primäres Ziel darstellt, unterschiedliche Interpretationen von Aristoteles’ Physik gegeneinander abzuwägen, möchte ich diesen Punkt hier nicht weiter verfolgen. Vgl. Alexander Aichele: Ontologie des Nicht-Seienden. Aristoteles’ Metaphysik der Bewegung, Göttingen 2009, bes. S. 191–222. 63 In seiner Interpretation der Analogie von Zeit und Linie stimmt Derrida weitgehend mit Heideggers Position in Die Grundprobleme der Phänomenologie überein, obwohl er Heideggers Vorlesung zum Zeitpunkt der Publikation seines Aufsatzes noch nicht kennen konnte. Vgl. GdPh, S. 336–361, zur Analogie von Jetzt und Punkt sowie Zeit und Linie bes. S. 351 f. 64 Wie groß oder klein das Jetzt-Intervall gewählt wird, ist nämlich davon abhängig, wie das „davor“ und „danach“ bestimmt wird. Das Intervall kann sehr groß gewählt werden („jetzt schreibe ich meine Doktorarbeit, davor habe ich studiert, danach werde ich als Wissenschaftler arbeiten“), aber auch immer weiter verkleinert werden, da es in einer als Maß der (per se kontinuierlichen) Bewegung konzipierten Zeit keine Zeitquanten gibt. 61 62
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problemen der Phänomenologie darstellt, erscheint in dieser Perspektive als überzeugend. Wenn diese Überlegung richtig ist, dann artikuliert bereits die aristotelische Zeitabhandlung die Idee, dass die Zeit nichts Seiendes ist, sondern lediglich die Bedingung der Möglichkeit der Wahrnehmung der Veränderung bzw. Bewegung von Seiendem darstellt. 65 Damit wird der Aporie zwar die Grundlage entzogen. Anders als es scheinen mag, überschreitet die aristotelische Zeitdefinition aber nicht die Grenzen der Metaphysik der Präsenz. 66 Denn unbeschadet des Umstands, dass sie sich, wie bereits erläutert wurde, „nicht einfach mehr von der Gegenwart (von dem vorhanden Seienden in Gestalt von Vorhandenheit und Gegenwärtigkeit) beherrschen lassen“ 67 will, nimmt die Bestimmung der Zeit als Bedingung der Möglichkeit der Wahrnehmung von Bewegung immer noch das Verständnis des Seins als Präsenz, nun bestimmt als gegenwärtig sich vollziehende Bewegung, in Anspruch. 68 Auch in diesem Zeitverständnis „wird das Aristotelische Paar Zeit-Bewegung von der ousia als Gegenwart [comme présence] her gedacht“. 69 Es lohnt sich, Derridas Argument für diesen Punkt ausführlich zu zitieren: Im Gegensatz zur dynamis („Bewegung“, „Potenz“) ist ousia als energeia Gegenwart [présence]. Die Zeit, die das Nicht-mehr und das Noch-nicht enthält, ist ein Kompositum. Die Energie verbindet sich hier mit der Potenz. Aus diesem Grund Vgl. OuGr, S. 72 f. Dort heißt es unter anderem: „In der aisthesis vereint Aristoteles Zeit und Bewegung.“ (OuGr, S. 73) 66 „So verbleibt die Destruktion der Metaphysik gewissermaßen innerhalb der Metaphysik als bloße Entfaltung ihres Beweggrundes.“ (OuGr, S. 72) Sie „vertritt also den Standpunkt der traditionell gesicherten metaphysischen Ordnung und in eins damit als uranfängliche Ambiguität den ihrer eigenen Kritik.“ (OuGr, S. 73) 67 OuGr, S. 73. 68 Das Sein als Präsenz ist – in Heideggers Worten – als das „Anwesen“einer Substanz zu interpretieren, die in ihrer Bewegung sich selbst gleich, das heißt substanziell identisch und einheitlich bleibt. Sebastian Rödl bringt denselben Gedanken auf den Punkt, wenn er zusammenfassend feststellt: „Die Einheit der sich bewegenden Substanz in dem, was immer anders ist (erst ist sie so, dann ist sie so), und die Einheit des Jetzt der Bewegung in den verschiedenen Jetzt, in denen die Bewegung beginnt und endet („das davor“ und „das danach“, wie Aristoteles sagt), sind zwei Seiten einer Struktur. So wie nur durch die Einheit des Bewegten verschiedene Zustände Zustände derselben Substanz sind, so sind nur durch das eine Jetzt der Bewegung die verschiedenen Jetzt der sie begrenzenden Zustände Glieder einer zeitlichen Folge.“ (Rödl: Kategorien des Zeitlichen, S. 172; vgl. auch ebd., S. 170–172) Die Einheit der Bewegung wiederum ist zurückzuführen auf die im Vollzug bereits gegenwärtige Bewegungsform: „Die merkwürdige, in sich ausgedehnte Gegenwart der Bewegung […] gründet darin, daß in der laufenden Bewegung ihre Form und also ihr durch diese bezeichnetes Ende anwesend ist.“ (ebd., S. 173) 69 OuGr, S. 75. 65
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ist sie nicht, wenn man diese Übersetzung wählen will, „in actu“; und aus diesem Grund ist sie nicht ousia (subsistierendes oder substantielles, wenn man so übersetzen will, Seiendes). Die Bestimmung der Seiendheit (ousia) als energeia oder entelecheia oder als Vollzug und Abschluss [fin] der Bewegung ist von der Bestimmung der Zeit nicht zu trennen. 70
Die Zeit ist kein Seiendes (ousia), weil sie ontologisch von einer Bewegung abhängig ist, die aktuale Wirklichkeit hat. 71 Zugleich aber bildet das Jetzt eine untrennbare Einheit mit den jeweils ‚abwesenden‘ bzw. nur potenziell wirklichen Momenten der Vergangenheit und Zukunft. Der Zeit kann Sein somit nur in einem gegenwärtigen Vollzug zugesprochen werden, der beständig aus einem bloß potenziellen Vollzug (der Zukunft) in eine nicht mehr wirkliche und nur noch potenziell (nach-)vollziehbare Wirklichkeit (der Vergangenheit) übergeht. 72 Wie gesagt, ist ein gegenwärtiger Zeitpunkt in diesem Verständnis ein Intervall oder eine Strecke, die man aus dem Kontinuum der Bewegung herausgreifen kann. Das Jetzt ist das Dazwischen zwischen „davor“ und „danach“ der Bewegung. Die Zeit zählt daher streng genommen nicht einzelne Jetzt-Punkte – was, wie oben erläutert wurde, das Problem aufwürfe, dass diese Punkte zugleich „Anfang und Ende“ von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft darstellen würden –, sondern Intervalle, die durch die Endpunkte (eschata) einer Linie abgegrenzt werden, die mit dem „davor“ und dem „danach“einer Bewegung identifiziert werden. 73 Das eigentlich zugrunde liegende Seiende (die ousia) ist die Bewegung, die die Zeit als ihr Maß quantitativ bestimmt. Die Reflexion auf die Struktur des „Jetzt“ als Gegenwart enthält somit die Idee, dass die Bewegung immer weitergehen muss, sodass ein jedes Jetzt zugleich Ende (des Vorhergehenden bzw. des „davor“) und Anfang (des Zukünftigen bzw. des „danach“) darstellt. Wenn das Jetzt als Zeitpunkt nicht zugleich Ende und Anfang sein würde, das heißt, wenn es nicht jeweils durch „davor“ und „danach“ begrenzt wäre, würde die Zeit zum Stillstand kommen. Die von Derrida zur Explikation dieses Zusammenhangs fokussierte Metapher ist die Schließung der Zeit zu einem Kreis: Doch würde dies [die Zeit in Analogie zur gramme als eine in actu existierende Linie zu denken, M. W.] in eins damit bedeuten, Zeit und Bewegung vom Telos OuGr, S. 75. Vgl. die Anmerkung zur Übersetzung von „présence“, oben Fn. 20. Vgl. Walter Mesch: Reflektierte Gegenwart. Eine Studie über Zeit und Ewigkeit bei Platon, Aristoteles, Plotin und Augustinus, Frankfurt/M. 2003, Kap. 7, S. 343–385, hier bes. S. 364. Meschs Interpretation ist unabhängig von Derrida, gelangt aber interessanterweise an vielen Stellen zu ähnlichen Ergebnissen (vgl. bes. ebd., S. 364–377). 72 OuGr, S. 84. 73 Aristoteles: Physik, IV, 220a. 70 71
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einer vollendeten gramme her zu denken, welche in actu vollständig anwesend ist und das Lineament einbringt, indem sie es in einem Kreis tilgt. Die Immobilisierung von Bewegung und die Gleichsetzung von Anfang und Ende durch den Punkt können nur in der Berührung der Endpunkte abgebrochen werden und wenn sich die endliche Kreisbewegung unendlich erneuert und unendlich das Ende im Anfang und den Anfang im Ende wiederholt. In diesem Sinne hebt der Kreis die Grenze des Punktes nur in der Entfaltung seines Vermögens (sa puissance) auf. Die Metaphysik begreift die gramme zwischen Punkt und Kreis und zwischen Vermögen (puissance) und Akt (Gegenwart [présence]) etc. 74
Wenn die Bewegung sich ‚immobilisiert‘, stirbt die Zeit. Die Idee der Zeit verweist damit nicht nur auf die Idee einer potenziell gegenwärtigen Zukunft, sondern setzt die Idee einer zukünftig aktuellen, sich im Vollzug befindenden Gegebenheit, das heißt in anderen Worten einer Gegenwart, Anwesenheit bzw. Präsenz dieser zukünftigen Gegenwart voraus. Damit sie im gegenwärtigen Jetzt potenziell gegeben sein kann, muss der Übergang zwischen diesem potenziellen Gegebensein und dem Gegebensein in einem aktuellen Vollzug als aktual gegeben gedacht werden. Er muss sich beständig vollziehen, wenn ausgeschlossen werden soll, dass die Zeit einmal aufhört und sich damit selbst destruiert, was qua Voraussetzung nicht geschehen kann. Wenn sich dies aber so verhält, kann die Zeit als unendlich lange, kontinuierlich verlaufende Linie (gramme) gedacht werden. Obgleich sie aus der Perspektive des je gegenwärtigen (anwesenden/präsenten) Jetzt nur potenziell existiert, ist diese gramme aus der Perspektive der Ontologie als aktual vollzogene Wirklichkeit zu verstehen. Umgekehrt erscheint jedes Jetzt als Zeitpunkt, der aus einem kontinuierlichen Verlauf herausgegriffen wird, als nur potenziell wirkliche Unterteilung eines real existierenden Kontinuums. Anderenfalls würde die Zeit ja, wie oben gezeigt wurde, in ein diskontinuierliches Aggregat von Jetzt-Atomen zerfallen, deren Zusammenhang nicht mehr erklärt werden kann, und es wäre OuGr, S. 84. Derrida bezieht sich – ohne explizit darauf zu verweisen – wohl auf die folgende Passage in Aristoteles’ Physik, in der Aristoteles die Frage diskutiert, ob die Zeit einmal enden könnte: „Geht es also einmal mit ihr [der Zeit, M. W.] zu Ende? Oder nicht, wenn es doch Bewegung immer gibt? Ist sie also eine (je) andere oder (kehrt) die gleiche (Zeit) oftmals wieder? Klar ist: Wie die Bewegung, so auch die Zeit; wenn nämlich ein und dieselbe (Bewegung) einmal wiederkehrt, so wird auch die Zeit eine und dieselbe sein, andernfalls jedoch nicht. Da das Jetzt Ende und Anfang von Zeit (darstellt), nur nicht von dem gleichen (Stück), sondern des Vergangenen Ende, Anfang des Bevorstehenden, so mag wohl, wie der Kreis an der gleichen Stelle irgendwie Gekrümmtes und Hohles (vereint), so auch die Zeit sich stets am Anfang und am Ende verhalten. Deswegen erscheint sie als je verschieden; das Jetzt ist ja nicht Anfang und Ende des gleichen (Stücks); sonst wäre es ja zugleich und in gleicher Hinsicht das Gegenteil von sich selbst. Und so hört (die Zeit) also nie auf; sie ist ja immer (wieder) am Anfang.“ (Aristoteles: Physik, IV, 222a–b) 74
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auch nicht mehr verständlich, wie es möglich ist, dass ein gegenwärtiges Jetzt in kleinere Jetzt-Punkte unterteilt werden kann. Das ontologische Denken über die Zeit nimmt, soweit es den hier gebahnten aristotelischen Überlegungen folgt, die Unterscheidung zwischen Akt bzw. Vollzug (energeia) und Potenzialität bzw. Vermögen (dynamis) in einer Weise in Anspruch, die impliziert, dass der Akt bzw. der Vollzug der Bewegung gegenüber der Potenzialität, dem Vermögen (dynamis), ontologisch primär ist, obwohl die zukünftige Gegenwart bzw. Präsenz in jedem Vollzug eben nur potenziell enthalten ist. 75 Wir können nun als Zwischenergebnis festhalten, dass die Zeit die Metaphysik der Präsenz unterläuft, indem sie sich als unendliches Spiel des Aufschubs der Präsenz erweist. Schon Aristoteles’ Analyse der „exoterischen Aporie“ zeigt, dass die Zeit durch ein unaufhebbares Spiel der Verzeitlichung des Seins und des Aufschubs der Präsenz (bzw. der Anwesenheit oder der Gegenwart) gekennzeichnet ist. Heidegger greift diesen Gedanken in Sein und Zeit und den Grundproblemen der Phänomenologie auf. Derridas Beitrag zu dieser Diskussion besteht darin zu zeigen, dass das Spiel der Verzeitlichung und des Aufschubs des Seins untrennbar mit der höherstufigen Idee der Aktualität bzw. des Vollzugs des Zeitablaufs verknüpft ist, die „im Horizont einer Eschatologie oder Teleologie […], und kraft des Kreises als Hindeuten auf eine Archäologie“ 76 gedacht werden muss. Dieser Verweis auf eine „Teleologie“ oder „Eschatologie“ lässt ebenso wie Derridas Behauptung, dass die gramme die Spur der Zeit „in einem Kreis tilgt“, eine starke und eine schwache Auslegung zu. 77 Mir scheint, dass Derrida die OuGr, S. 78 f. Derrida sieht in diesem Gedanken das Grundprinzip von Hegels Dialektik: „Es ließe sich sagen, daß die Dialektik stets nur die exoterische Aporie wiederholt, indem sie sie behauptet und indem sie die Zeit zur Behauptung der Aporie macht. […] Diese dialektische Handhabung wird schon – und daran wird sich nichts ändern – von der Unterscheidung von Vermögen und Akt beherrscht, so daß die Gegensätze sich auflösen, sobald dem Zusammenhang, in dem man sie betrachtet, als Vermögen oder als Akt Rechnung getragen wird. Aber diese Unterscheidung von Vermögen und Akt verläuft offensichtlich nicht symmetrisch, denn sie wird selbst von einer Teleologie der Anwesenheit oder vom Akt (energeia) als Anwesenheit (ousia, parousia) beherrscht.“ (OuGr, S. 77 f.; vgl. auch OuGr, S. 68 und 76) Derridas différance kommt als ein verzeitlichender und verräumlichender Prozess Hegels Dialektik als Prozess der differenzierenden Anreicherung des Denkens mit dem, was von ihm zunächst ausgeschlossen ist, sehr nahe. Zugleich unterläuft sie aber die von Derrida in Hegels Dialektik diagnostizierte „Teleologie“ (bzw. „Onto-Theologie“) zugunsten einer Logik des unendlichen Aufschubs der „Anwesenheit“ bzw. „Präsenz“. Hält man es wie Pirmin Stekeler-Weithofer für plausibler, Hegels „spekulative“ Methode sinnanalytisch zu deuten (vgl. Stekeler-Weithofer: „Metaphysics and Critique of Metaphysics“, S. 574 f. und 578, und ders.: Sinn, S. 22), rücken Hegel und Derrida vermutlich noch enger zusammen. 76 OuGr, S. 85. 77 Vgl. dafür die ausführliche, aber auch schwierige Interpretation bei John Protevi: Time 75
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Entscheidung zwischen diesen beiden Auslegungen in der Schwebe hält. In der starken Lesart bedeutet die Behauptung, dass die gramme sich zu einem Kreis schließt, eine Rückkehr der Zeit zu einem vergangenen Zeitpunkt. Ihre teleologische bzw. eschatologische Geschlossenheit und Vollendung bestünde in einer Art ewiger Wiederkehr des Gleichen. Das Telos der von der Zeit gemessenen Bewegung wäre demnach die Rückkehr in sich selbst, die Teleologie oder Eschatologie wäre deshalb zugleich Archäologie. Obwohl einige Kommentatoren diese Lesart explizit vertreten, 78 erscheint sie mir durch den Text weniger gedeckt als die schwache Lesart, der zufolge Aristoteles mit der Anspielung auf einen kreisförmigen Verlauf nur sagen will, dass kein Ende der Zeit denkbar ist, weil „davor“ und „danach“ jeweils als in sich unterschiedene Bewegungsphasen vorausgesetzt werden müssen, wenn es Zeit gibt. „Anfang“ und „Ende“ der Zeit können nie identisch sein, sodass die Zeit unendlich fortschreitet. 79 Eine Kreisbewegung findet hier nur insofern statt, als die Zeit sich in jedem Augenblick als „Dazwischen“ der differierenden Momente von „davor“ und „danach“ erneut aufspannt. Die „Kreisbewegung […] stellt in einer anderen Konfiguration dasselbe System wieder her“. 80 Die immer wiederkehrende Differenzierung von „davor“ und „danach“ in der zeitlich erfassten Bewegung entspricht dem Muster eines systematischen Zusammenhangs von Bestimmungen, in dem diese unterschieden werden und zugleich eine höherstufige Verbindung eingehen. 81 and Exteriority. Aristotle, Heidegger, Derrida, Cranbury NJ 1994, Kap. 3 und dort bes. S. 78, 83, 98 und 101–104. 78 So der Herausgeber und Übersetzer von Aristoteles’ Physik in der Meiner-Ausgabe in einer Anmerkung zu dieser Stelle (vgl. Aristoteles: Physik, S. 268 [Anm. 147 zu Buch IV]). 79 Vgl. Ursula Coope: Time for Aristotle. Physics IV. 10–14, Oxford 2005, S. 80 f. Nach Coope lässt sich Aristoteles’ Position zur Frage der Linearität oder Zirkularität der Zeit mit aus dem Text der Physik geschöpften Belegen allerdings kaum eindeutig bestimmen. Auch im aristotelischen Textkorpus insgesamt finden sich nach Coope nur einige wenige Hinweise, die auf eine lineare Zeitkonzeption hindeuten. 80 OuGr, S. 85. 81 Nach Derridas Lesart folgen Hegels Dialektik und Heideggers Zirkel des Verstehens dem gleichen Muster, und deshalb werden sie an dieser Stelle auch explizit erwähnt: „Die Kritik an der Handhabung oder Bestimmung irgendeines dieser Begriffe innerhalb des Systems kehrt stets wieder zurück […] zur Kreisbewegung und stellt in einer anderen Konfiguration dasselbe System wieder her. Läßt sich diese Bewegung, die nicht voreilig als eitle Wiederholung verurteilt werden sollte und die etwas Wesentliches mit der Denkbewegung zu tun hat, von dem Hegelschen Kreis der Metaphysik oder Onto-Theologie und in eins damit von dem Zirkel, den in gewisser Weise zu betreten Heidegger uns oft als Aufgabe vorstellt, unterscheiden?“ (OuGr, S. 85) Hegel bezeichnet das Ganze der Philosophie in der Einleitung zur Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften als einen „Kreis von Kreisen […], deren jeder ein nothwendiges Moment ist, so daß das System ihrer eigenthümlichen Elemente die
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Unabhängig von dieser Unklarheit sollte nun verständlich sein, dass Derrida mit guten Gründen Heideggers Position widerspricht, dass die Metaphysik der Präsenz (verstanden als Primat einer Ontologie des Vorhandenen als gegenwärtig ‚Anwesendes‘) eine von der Verfallsform des „vulgären Zeitbegriffs“ abgeleitete, ontologisch sekundäre und uneigentliche Idee darstellt. Vielmehr ist die „vulgäre“ Orientierung an der Idee des Seins als Gegenwart, Anwesenheit oder Präsenz bereits in der ursprünglichen zeitlichen Verfassung des Seins enthalten. 82 Obwohl die Zeitlichkeit des Seins die Bewegung der Spur und der différance hervorbringt, die die Metaphysik der Präsenz unterläuft, sind beide untrennbar miteinander verknüpft: 83 Der Sinn der Zeit wird vom Präsens [à partir du présent] her, als Nicht-Zeit, gedacht. Das kann gar nicht anders sein. Niemals ließ sich Sinn (als Wesen, als Bedeutung der Rede, als Ausrichtung der Bewegung zwischen einer arche und einem telos) in der Geschichte der Metaphysik anders denken als ausgehend von der Gegenwart [à partir de la présence] und als Gegenwart [comme présence]. Der Begriff des Sinns wird durch das ganze System von Bestimmungen beherrscht, das wir hier aufdecken. Und immer, wenn die Frage nach dem Sinn gestellt wird, kann dies nur in der metaphysischen Einschließung [clôture métaphysique] geschehen. Es wäre also aussichtslos, sagen wir es trocken und rasch, die Frage nach dem Sinn (der Zeit oder von was auch immer) der Metaphysik oder dem System der sogenannten „vulgären“ Begriffe entreißen zu wollen. Dasselbe würde folglich auch für die Seinsfrage gelten, wenn sie (wie zu Beginn von Sein und Zeit) als Frage nach dem Sinn von Sein bestimmt würde […]. Schon in ihrem Ausgangsganze Idee ausmacht, die ebenso in jedem einzelnen erscheint“ (GW 19, 41). Zu Heideggers „Zirkel des Verstehens“ vgl. die berühmten Passagen in SuZ, S. 152 f. und 314 f. 82 Aus diesem Grund habe ich in meinen Ausführungen das Adjektiv „vulgär“ in Anführungszeichen gesetzt. Derrida schreibt entsprechend vorsichtig: „Einen ‚vulgären Zeitbegriff ‘ gibt es wohl gar nicht. Der Zeitbegriff gehört in allen Teilen zur Metaphysik und nennt die Herrschaft der Gegenwart [présence] beim Namen. Daraus ist zu schließen, daß das ganze System metaphysischer Begriffe in ihrer Geschichte durchgehend die sogenannte ‚Vulgarität‘ dieses Begriffs entwickelt (was Heidegger gewiß nicht bestritten hätte); aber auch, daß sich ein anderer Zeitbegriff nicht als sein Gegensatz behaupten läßt, gehört die Zeit doch zur metaphysischen Begrifflichkeit. Bei dem Versuch diesen anderen Begriff hervorzubringen, würde man schnell gewahr[,] daß man ihn nur mit Hilfe anderer metaphysischer oder onto-theologischer Prädikate konstruiert.“ (OuGr, S. 87) 83 Unterstützung findet Derridas Deutung in der Diskussion der aristotelischen Aporie und ihrer Heidegger’schen Interpretation bei Ricœur: Zeit und Erzählung, S. 139–156, bes. S. 143 f. Ricœur stellt resümierend fest: „Die logische und ontologische Priorität, die Aristoteles der Bewegung gegenüber der Zeit zuweist, scheint mir unvereinbar zu sein mit jedem Ableitungsversuch, der die sogenannte vulgäre Zeit als Nivellierung der Zeit des Besorgens hinstellen will. Etwas an der Bewegung sein und etwas an der Sorge sein scheinen mir zwei prinzipiell unvereinbare Bestimmungen zu sein.“ (ebd., S. 144)
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punkt als Frage nach dem Sinn ist sie an den Diskurs (Lexik und Grammatik) der Metaphysik gebunden, deren Destruktion sie unternimmt, und Heidegger würde dies zweifellos anerkennen. In gewisser Weise ist die Frage nach dem Sinn, wie Bataille zu bedenken gibt, das Projekt, den Sinn zu bewahren, „vulgär“. Er gebraucht ebenfalls dieses Wort. 84
Anders als Heidegger meint, kann der „vulgäre Zeitbegriff “ nicht in einer Weise auf einen das Existenzial der „Sorge“ fundierenden ‚ursprünglichen‘ Zeitbegriff zurückgeführt werden, die erlaubt, den „vulgären Zeitbegriff “ als defizitäres Verständnis des ursprünglichen Verhältnisses von Zeit und Sein zu verstehen. 85 Vielmehr verweist schon die Idee des Sinns eines Vollzugs aufgrund seiner zeitlichen Verfassung auf die Idee der Präsenz, Gegenwart oder Anwesenheit des Seins. Der Grund dafür ist darin zu suchen, dass die Zeit als Einheit der drei Momente des Nicht-mehr, Jetzt und Noch-nicht selbst als Nicht-Seiendes verstanden werden muss. Die Einheit der Zeit als Einheit dieser drei Momente lässt sich nicht denken, ohne dass das Moment der Gegenwart als seiend, das heißt als Präsenz oder Anwesenheit, gedacht und von den Momenten der Vergangenheit sowie der Zukunft als Nicht-Präsenz oder Abwesenheit unterschieden wird. Da der Begriff der Zeit, wie wir gesehen haben, als Maß der Bewegung auf ein „subsistierendes oder substantielles […] Seiendes“ (eine ousia, die der Bewegung ihr Gesetz und ihre Vollendung vorgibt) verweist, das als gegenwärtig wirksam, präsent und anwesend (als energeia) begriffen werden muss, gibt es im Rahmen einer ontologischen Fragestellung nach dem Sinn von Sein oder dem Sinn von Zeit keine Möglichkeit, dem „System der vulgären Begriffe“ zu entkommen. Die Zeitlichkeit des Sinns ist untrennbar mit einem Bezug auf die Idee des Seins als gegenwärtig Präsentes oder Anwesendes verknüpft. Einerseits muss das Sein im Horizont eines Allgemeinen als eine „Teleologie“ oder „Eschatologie“ gedacht werden, das in ihm „gegenwärtig“ ist, sodass es jederzeit an ein System metaphysischer Begriffe gebunden ist. Dieser unüberwindbare Bezug auf die „Metaphysik der Präsenz“ wird andererseits durch ein Spiel von Unterscheidungen konstituiert, das auf einer différance beruht, die als „Spur der Spur“ zwar jedes vor dieser Konstitution gegebene, anwesende oder präsente Sein überschreitet, sich aber nicht positiv artikulieren lässt, ohne ein System OuGr, S. 75. Die Bemerkung, dass Heidegger Derridas These von der Unhintergehbarkeit der Metaphysik „zweifellos anerkennen“ würde, bezieht sich vermutlich auf Heideggers Position nach der ‚Kehre‘. In der Grammatologie formuliert Derrida denselben Gedanken etwas vorsichtiger in Form einer Frage: „Da der Sinn des Seins sich als Geschichte niemals außerhalb seiner Bestimmung zur Präsenz vollzogen hat, war er dann nicht schon seit je in die Geschichte der Metaphysik als Epoche der Präsenz eingeschlossen?“ (Gr, S. 248) 85 Vgl. SuZ, § 3, S. 8–11. 84
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metaphysischer Begriffe, das heißt ein teleologisch-eschatologisches Denken der „Präsenz“, in Anspruch zu nehmen. 86 Im nächsten Abschnitt möchte ich das Argument, das Derrida zu dieser These führt, noch einmal unabhängig von Derridas Prämissen diskutieren. 2.3 Das Scheitern der metaphysikkritischen Reduktion
Dass Derridas Kritik an Heideggers metaphysikkritischer Reduktion oder Destruktion plausibel ist, lässt sich auch unabhängig von Derridas Ausführungen mithilfe einer exemplarischen Diskussion eines Einzelaspekts von Heideggers Zeitphilosophie begründen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass Heidegger nicht überzeugend erklären kann, wie die „vulgäre“ Idee der Unendlichkeit des Zeitverlaufs aus der „ekstatischen“ Zeitlichkeit der „Sorge“ hervorgeht: 87 Bleibt nicht der Gegensatz von ursprünglich und abgeleitet metaphysisch? Ist nicht die Frage nach der arche überhaupt, wie vorsichtig dieser Begriff auch immer eingeschränkt werden mag, die „wesentliche“ Operation der Metaphysik? Gesetzt den Fall, es gelänge, ungeachtet aller schwerwiegenden Bedenken, ihn von jeder anderen Herkunft abzuheben, gäbe es nicht schon einigen Platonismus in dem Verfallen? Warum wird der Übergang von einer Zeitlichkeit in die andere als Fall bestimmt? Und warum wird die Zeitlichkeit als eigentliche oder als uneigentliche gekennzeichnet, sobald jede ethische Besorgnis aufgehoben wurde? […] Wir haben die Frage nach dem Gegensatz, der den Begriff der Zeitlichkeit strukturiert, herausgehoben, weil die ganze existenziale Analytik auf ihn zurückführt. 88
Ich möchte diesen Gedanken mit Bezug auf Heideggers Diskussion des „vulgären Zeitbegriffs“ im Folgenden kurz ausführen, weil dies die eben vorgestellte Kritik Derridas an der Idee einer „Destruktion“ der Metaphysik verdeutlicht und unterstützt. Um zu zeigen, wie die „vulgäre“ Idee der Zeit aus der ursprünglichen Zeitlichkeit entspringt, muss Heidegger erklären, wie die Unendlichkeit des Ablaufs der Zeit, das heißt das Phänomen, dass die Zeit scheinbar nie an ein Ende kommt, in etwas Endlichem, nämlich der Endlichkeit des Daseins, verwurzelt ist. Denn weder verfügt das Dasein in seinem ontologischen Charakter als „Sorge“ schon über die Idee einer unendlichen Wiederholung von „Anfang“ und „Ende“ der Zeit im „Jetzt“, noch fällt es in eine unabhängig von ihm konstituierte Zeit. Anders ausgedrückt: Heidegger lehnt erstens ein Zeitverständnis ab, das die Linearität und Objektivität der Zeit als 86 87 88
Vgl. OuGr, S. 90–92. Vgl. SuZ, §§ 46–53, S. 235–300. OuGr, S. 88.
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deren ontologisch zentrale Merkmale bestimmt, und er behauptet zweitens, dass der Zeitbegriff den Begriff eines unendlichen Zeitkontinuums nicht notwendig in sich enthält. Daraus ergibt sich als Konsequenz, dass die Vorstellung eines unendlichen, objektiven und über das einzelne Dasein hinausgehenden Zeitverlaufs allein auf Grundlage der endlichen Zeitlichkeit der „Sorge“ erklärt werden muss. 89 Nun stellt sich das Problem, dass intuitiv zunächst nicht einzusehen ist, wie die Unendlichkeit und die Objektivität des Zeitverlaufs als wesentliche Merkmale des „vulgären Zeitbegriffs“ als ‚Privativa‘, das heißt als von dem im Sein des Daseins verwurzelten ‚ursprünglichen‘ Zeitbegriff abgeleitete Begriffe, verstanden werden können. 90 Heideggers Argument für die Abgeleitetheit des „vulgären Zeitbegriffs“ geht von der Beobachtung aus, dass die Zeit im „vulgären“ Verständnis „als Vorhandenes aufgefaßt“, um die Bezüge der „Bedeutsamkeit“ und „Datierbarkeit“ beschnitten und die „ekstatisch-horizontale Verfassung der Zeitlichkeit […] nivelliert“ werde. 91 Weil diese Beobachtung für sich genommen aber nicht ausreicht, um die Begründungslast zu tragen, ergänzt er seinen Hinweis auf den „nivellierten“ Charakter des „vulgären Zeitbegriffs“ durch die Behauptung, dass die Unendlichkeit der Zeit im „vulgären Zeitverständnis“ in der ‚Verfallenheit‘ an das ‚Man‘ gründet: „Man kennt nur die öffentliche Zeit, die, nivelliert, jedermann und das heißt niemandem gehört.“ 92 Im Hintergrund dieses Arguments steht der Kontrast zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit des Daseins als zweier existenzieller Modi seines Selbstbezugs. 93 Offensichtlich kann dieser Hinweis jedoch noch nicht den Vorrang des Heidegger’schen Zeitlichkeitskonzepts gegenüber dem „vulgären Zeitbegriff “ begründen. Heidegger vermag zwar zu zeigen, dass das „vulgäre“ Zeitverständnis den Zeitbegriff verkürzt, indem es ihn um phänomenologisch wesentliche Dimensionen (Bedeutsamkeit, Datierbarkeit, Gespanntheit und Öffentlichkeit) „Man kann – was in ‚Sein und Zeit‘ gezeigt ist – deutlich machen, daß die Endlosigkeit der vulgären Zeit nur deshalb dem Dasein in den Sinn kommen kann, weil die Zeitlichkeit selbst in sich ihre eigene wesenhafte Endlichkeit vergißt. Nur weil die Zeitlichkeit im eigentlichen Sinne endlich ist, ist die uneigentliche Zeit im Sinne der vulgären Zeit unendlich. Die Unendlichkeit der Zeit ist nicht etwa ein Vorzug der Zeit, sondern ein Privativum, das einen negativen Charakter der Zeitlichkeit charakterisiert.“ (GdPh, S. 386 f.) Vgl. auch SuZ, S. 235: „Die Zeitlichkeit des Daseins bildet ‚Zeitrechnung‘ aus. Die in ihr erfahrene ‚Zeit‘ ist der nächste phänomenale Aspekt der Zeitlichkeit. Aus ihr erwächst das alltäglich-vulgäre Zeitverständnis. Und dieses entfaltet sich zum traditionellen Zeitbegriff.“ 90 Vgl. SuZ, S. 420–428. 91 SuZ, S. 422. 92 SuZ, S. 425 f. 93 Vgl. dazu Markus Wolf: Gerechtigkeit als Dekonstruktion. Zur kulturellen Form von Recht und Demokratie nach Jacques Derrida, Konstanz 2019, Kap. 4. 89
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beschneidet. 94 Aber daraus folgt nicht, dass eine phänomenologische Analyse der Zeit über den „vulgären Zeitbegriff “ hinausgehen und auf die Zeitlichkeit des Daseins rekurrieren muss, weil die Vorstellung eines ‚präsenten‘, unendlichen Zeitkontinuums in dieser Hinsicht eine sekundäre, abgeleitete Idee darstellt. 95 Selbst wenn wir annehmen, dass es richtig ist, dass das Dasein in der ‚Verfallenheit‘ an das ‚Man‘ der eigenen Endlichkeit ausweicht und sich in seinem Zeitbewusstsein lediglich am „vulgären Zeitbegriff “, der die semantischen Aspekte der Zeiterfahrung und die existenzielle Bedeutung der Endlichkeit des Daseins nivelliert, orientiert, ist damit noch nicht gezeigt, dass der Begriff der unendlichen Zeit aus dieser Nivellierung entspringt. Es ist hier immer noch ein Argument nötig, um den existenzial-ontologischen Vorrang des ursprünglichen, in der Endlichkeit des Daseins wurzelnden Zeitbegriffs zu begründen. Einen Hinweis auf ein solches Argument gibt § 81 von Sein und Zeit. Dort behauptet Heidegger, dass die Gerichtetheit der Zeit im „vulgären“ Zeitverständnis aus dem „öffentliche[n] Widerschein der endlichen Zukünftigkeit der Zeitlichkeit des Daseins“ 96 entspringt: Weil das Dasein im Sichvorweg zukünftig ist, muß es gewärtigend die Jetztfolge als eine entgleitend-vergehende verstehen. Das Dasein kennt die flüchtige Zeit aus dem „flüchtigen“ Wissen um seinen Tod. […] An sich ist, und gerade im ausschließlichen Blick auf den Jetztfluß, nicht einzusehen, warum die Abfolge der Jetzt sich nicht einmal wieder in der umgekehrten Richtung einstellen soll. Die Unmöglichkeit der Umkehr hat ihren Grund in der Herkunft der öffentlichen Zeit aus der Zeitlichkeit, deren Zeitigung, primär zukünftig, ekstatisch zu ihrem Ende „geht“, so zwar, daß sie schon zum Ende „ist“. 97
Das Dasein kann in einem zeitlichen Sinn allerdings nur ‚zum Ende sein‘, wenn mit dem ‚Ende‘ nicht einfach seine Endlichkeit angesprochen ist, sondern ein zeitliches ‚Zu-Ende-gehen‘, wobei das Ende, der Tod, notwendig als ‚später‘ verstanden werden muss. Mit dem ‚späteren‘ Ende ist aber die Vorstellung einer einsinnigen Zeitrichtung schon vorausgesetzt. In seiner Erklärung will Heidegger auf einen Zirkel hinaus: Die Erfahrung des existenziellen Bezogenseins auf das eigene „Ende“ impliziert, dass die Zeit in Vergangenheit, Vgl. GdPh, S. 379–390. Vgl. dazu auch die komplexe Argumentation bei Ricœur: Zeit und Erzählung, S. 142– 156. Ricœur trifft eine Unterscheidung zwischen einer phänomenologischen und einer kosmologischen Zeitvorstellung, die nach seiner Auffassung im abendländischen Denken irreduzibel und aporetisch aufeinander bezogen sind. 96 SuZ, S. 425. 97 SuZ, S. 425 f. 94 95
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Gegenwart und Zukunft geordnet ist, und muss zugleich als Ursprung dieser Ordnung verstanden werden. Der Bezug auf den eigenen Tod (das „Zum-Endesein“) setzt die einsinnige Gerichtetheit der Zeit voraus und stellt zugleich ihren Ursprung dar. 98 Allerdings lässt sich der Zirkel auch umkehren, denn man könnte mit dem gleichen Recht argumentieren, dass der Zeitablauf einsinnig ist, weil die Lebensgeschichte des endlichen Daseins aus einem unendlichen Zeitganzen ‚privativ‘ herausgegriffen wird und deswegen notwendig anfangen und zugrunde gehen, das heißt „im Horizont des ‚früher‘ und ‚später‘“ verstanden werden muss. Dass die Zeitrichtung nicht umkehrbar ist, mag der Endlichkeit des menschlichen Daseins (bzw. der Endlichkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens) entspringen. Daraus folgt aber nicht, dass die Idee der unendlich linear und einsinnig gerichtet verlaufenden Zeit aus dem ‚Zu-seinem-Ende-sein‘ des Menschen in seiner je eigenen Existenz abgeleitet ist. Umgekehrt könnte die Endlichkeit der menschlichen Existenz auch aus der einsinnigen Gerichtetheit der linear verlaufenden Zeit entspringen. Dass die Endlichkeit des Daseins und die Einsinnigkeit der Richtung des Zeitverlaufs zusammenhängen, ist vom Standpunkt der Existenzialanalyse aus zwar naheliegend, aber der Verweis auf die Endlichkeit der zeitlichen Bezüge des Daseins vermag für sich genommen noch nicht zu begründen, dass die Vorstellung von einer unendlichen Zeit das „Sein-zum-Tode“ des Daseins zum Fundament hat. 99 Somit bleibt unbegründet, dass der „vulgäre Zeitbegriff “ sekundär gegenüber der sich ‚ekstatisch-horizontal erstreckenden‘ Zeiterfahrung des Daseins ist. Dann aber scheitert die „Destruktion“ des „vulgären Zeitbegriffs“ an ihrem eigenen Anspruch, zu erklären, wie der „vulgäre Zeitbegriff “ aus der existenzialen Zeitlichkeit des Daseins hervorgeht. Im Unterschied zu Heideggers Methode der „Destruktion“ erhebt Derridas „Dekonstruktion“ keinen Anspruch auf eine solche Reduktion. 100 DekonstrukEs sollte klar sein, dass es sich nicht um einen logisch anstößigen Zirkelschluss handelt, sondern um einen hermeneutischen Zirkel, der das vorontologische wie das ontologische Verstehen gleichermaßen charakterisiert. Vgl. zu diesem Zirkel als philosophischer Methode SuZ, §§ 32 und 63, bes. S. 152 f. und 314 f. 99 Die Einsinnigkeit der Zeitrichtung hängt begrifflich offensichtlich nicht so sehr mit dem existenziellen „Sein zum Tode“ des Daseins, sondern mit der Endlichkeit des menschlichen Verstandes zusammen. Mit Kant könnte man darauf aufmerksam machen, dass die Einsinnigkeit der Zeitrichtung nicht nur darin gründet, dass die Zeit eine reine Form der Anschauung des endlichen Verstandes ist, sondern darin, dass sie mit dem Grundsatz des reinen Verstandes zusammenhängt, dass keine Wirkung ohne Ursache ist und jede Ursache mit ihrer Wirkung einsinnig zeitlich verknüpft ist. 100 Es lässt sich nur spekulieren, ob der nicht veröffentlichte dritte Abschnitt des ersten Teils von Sein und Zeit, zu dessen Kernbestand eine Lehre von „horizontalen Schemata“ hätte 98
Rekonstruktion, Destruktion, Dekonstruktion
tion bedeutet zu zeigen, dass das Dekonstruierte auf etwas basiert, das zu ihm selbst entweder in einem Verhältnis der Ableitung oder der Äußerlichkeit zu stehen scheint. Sie insistiert auf der Unmöglichkeit, die Spannung aufzulösen, die aus diesem vermeintlichen Widerspruch resultiert. Anstatt das „System der sogenannten ‚vulgären‘ Begriffe“ 101 abzubauen, kann die Dekonstruktion als das philosophische Projekt gelesen werden, seine Geltung in Frage zu stellen, ohne seine Unvermeidlichkeit zu bestreiten.
3. Schlussbemerkung
Im Lichte der vorangegangenen Ausführungen lässt sich Derridas „Dekonstruktion“ der „Metaphysik der Präsenz“ von Heideggers Projekt der „Destruktion“ ihres vorhandenheitsontologischen Selbstmissverständnisses auf der Grundlage einer quasi pragmatistischen Ontologie reiner Vollzugsformen nicht nur deutlich unterscheiden, sondern auch als eigenständige Reflexionsstufe kritischer Metaphysik im Sinne Pirmin Stekeler-Weithofers verstehen. Derrida zeigt, dass eine metaphysisch-metaphysikkritische Philosophie, soweit sie sich im Modus von „Rekonstruktion“ und „Destruktion“ vollzieht, in dem Maße immer auch misslingt, wie es ihr gelingt, gegenstandsontologische Selbstmissverständnisse und verdinglichende Schematisierungen von Formen und Normen gemeinsamer Praxis abzubauen. Lernt die kritische Metaphysik sich im „langen 19. Jahrhundert“ von Kant bis Heidegger als Projekt der Aufdeckung der Selbstwidersprüche und Aporien objektstufiger transzendenter Metaphysik zu verstehen und sich als metastufige Reflexion auf die Formen und Normen gemeinsamer Praxis zu begründen, so thematisiert Derridas „Dekonstruktion“ die unvermeidlichen präsenzmetaphysischen Voraussetzungen kritischer Metaphysik selbst. Kritische Metaphysik vermag die Aporien und Widersprüche objektstufiger Metaphysik durch den Verweis auf ihren ‚Ursprung‘ in den Formen und Normen gemeinsamer Praxis zu überwinden, allerdings nicht ohne Verweis auf wiederum verdinglichende ‚präsenzmetagehören sollen, die der ursprünglichen Zeitlichkeit des Daseins noch vor dem „vulgären Zeitbegriff “ entspringen, eine Lösung präsentiert hätte und ob in der damit verbundenen Artikulationsschwierigkeit nicht ein Grund für die (stärkere) Hinwendung zum seinsgeschichtlichen Denken nach Sein und Zeit zu suchen ist. Vgl. dazu Theodore Kisiel: The Genesis of Heidegger’s Being and Time, Berkeley CA 1993, S. 444–451 sowie mit negativer Beurteilung Sabrina Dittus: Heidegger und das Paradox des Subjekts, Würzburg 2015, Kap. 5– 7 und Takashi Nakahara: „Versuch einer Rekonstruktion von ‚Zeit und Sein‘“, in: HeideggerJahrbuch 7 (2013), hrsg. von Alfred Denker und Holger Zaborowski, S. 419–432. 101 OuGr, S. 75.
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physische‘ Schematisierungen. Weder in der Form eines dialektischen Prozessierens von Widersprüchen zwischen Praxisformen und deren verdinglichenden Schematisierungen noch in der Form einer Klärung intentional-pragmatischer Vollzugsvoraussetzungen vermag sich kritische Metaphysik zu einem „Zirkel“ absoluter (Selbst-)Begründung und transparenten (Selbst-)Verstehens zu schließen. Aufgrund des daraus resultierenden Moments der „Unentscheidbarkeit“ 102 in der metastufigen Artikulation, Beurteilung und Kritik der in unseren theoretischen und praktischen Vollzügen präsupponierten Formen und Normen bedarf die kritische Metaphysik neben der geistphilosophischen „Rekonstruktion“ und der seinsgeschichtlichen „Destruktion“ auch der ursprungskritischen „Dekonstruktion“ als eines sinnkritischen Unternehmens, in dessen Vollzug sie sich selbst produktiv des-orientiert.
Vgl. Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, Frankfurt/M. 1991, S. 49–53, und zur Interpretation dieses in Derridas Spätwerk prominenten, aber oft missverstandenen Begriffs Wolf: Gerechtigkeit als Dekonstruktion, S. 260–264. Die von Derrida in Gesetzeskraft an der Praxis des Rechtsurteils entwickelte Urteilslogik ist auch für die Problematik der begrifflichen (auch philosophischen) Kritik relevant (vgl. dazu ebd., S. 238– 244). 102
Christoph Hubig
Realität – Wirklichkeit – Virtualität Erinnerungen an Hegel angesichts der naiven Rede von „Virtual Reality“ in der Simulation Technology und der Entwicklung cyber-physischer Systeme
1. Zur Problemlage
Wenn es um zentrale Herausforderungen unserer Gegenwart geht, werden (u. a.) die Transformationsprozesse hin zu einer immer umfassenderen Digitalisierung und – im selben Atemzug – „Virtualisierung“ genannt. Unter diesen Titelworten werden Entwicklungen in allen Bereichen der Gesellschaft zusammengeführt, in denen unter Einsatz der Informationstechnologien eine „Erweiterung“, „digitale Verdopplung“ oder gar „Substitution“ unserer „analog“ verfassten Lebenswelt erstrebt und realisiert werden. Was sollte an einer solchen Rede naiv sein, wenn doch in den einschlägigen Kommunikationszusammenhängen die Beteiligten wissen, was gemeint ist, und sich dieses Einverständnis auch in die spezielleren Fragestellungen fortzuschreiben scheint? So stellt sich beispielsweise die CHI Conference on Human Factors in Computing Systems 2021 unter dem Thema „Realistische digitale Welten“ der Forderung, dass „virtuelle Realitäten“ in Zukunft realer und immersiver werden sollten und „noch deutlich wahrnehmbare Unterschiede zwischen der virtuellen und echten Realität“ zu überwinden seien: indem z. B. durch ControllerErweiterung qua komprimierter Luft Widerstände und Rückstöße simulierbar werden (um z. B. Schwindelgefühlen bei virtuellen Zugfahrten vorzubeugen) oder durch taktiles Feedback bezüglich der Rauheit von Oberflächen ein „realistischer“ Eindruck verschafft wird. Ferner werden z. B. Systeme entwickelt, die ein leichtes elektrostatisches Feld erzeugen, um die Anwesenheit einer anderen Person (auch in Gestalt eines Avatars) besser zu simulieren und damit auch (primär) unbewussten Dimensionen unserer Personenwahrnehmung zu entsprechen. Oder es werden virtuelle Umgebungen als Labor inszeniert, indem Szenarien der echten Welt in virtuelle Realitäten übertragen und in komplett kontrollierbaren Versuchsumgebungen getestet, gesteuert und geregelt werden können. „Virtuelle“ medizinische Eingriffe sollen an „Tangibles“ eingeübt werden, die „die displays durchbrechen“, wobei „die physische Trennung
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Schritt für Schritt“ aufgehoben werde, oder es wird die Konstruktion und Optimierung eines Treppenlifts in einer virtuellen Welt vorgenommen, in der er in der Treppenumgebung, in die er zu integrieren ist, erscheint. Im Zuge der Perfektionierung von Schweißsimulatoren oder Flugsimulatoren, in denen ohne Materialverbrauch und Risiken für Leib und Leben Lernen und weiteres Probehandeln stattfinden kann, werden diese immer „realistischer“. 1 Von den neuen Welten des Gaming-Bereichs oder einem „second life“ ganz (d. h. gerade nicht) zu schweigen. Die einschlägigen Diskurse werden getragen von der Unterscheidung zwischen „echter“ und „virtueller“ Realität, wobei letztere nach klassischer Definitionen auch mittelbar ein Bild dessen vermittelt, was mit ersterer gemeint ist: Wenn unter „virtual“ im generellen Sinne „being an effect, but not in form or appearance“oder „not physically existing as such but made [ …] to appear to do so [ …] in essence or effect although no formally or actually“ 2 gemeint ist, dann wird deutlich, dass eine nicht virtuelle Realität als physische gefasst ist (so wie wir ja auch von „physischen“ Konferenzen im Unterschied zu „virtuellen“ Konferenzen sprechen). Diese physische Realität möge dann in dem Sinne „echt“ (ad quem) sein, dass die „Perfektion“ des Bezugs virtueller Realitäten auf sie zum Qualitätsmaßstab wird, dem Anspruch einer „authentischen“ Verdopplung der Welt genügt und ihre Apotheose in der Rede vom „digitalen Zwilling“ findet. Dieser wird in einer digitalen Welt aus Daten, Modellen und Algorithmen in abbildender oder erweiternder Absicht der physischen Welt zur Seite gestellt, als digitaler Repräsentant eines materiellen oder immateriellen Objekts aus der realen Welt, und umfasst nicht nur Dinge wie Halbzeuge, Werkzeuge oder technische Systeme, sondern auch Geschäftsabläufe oder Menschen mit ihren Konsumprofilen, medizinischen Daten, ihren Neigungen und Fähigkeiten, aber auch komplexe Sachlagen wie die Entwicklung einer Verkehrssituation, wie sie autonome/vollautomatisierte Fahrzeuge simulieren, um die Risiken von Kollisionen zu minimieren oder Dilemma-Situationen zu vermeiden (was ihnen dann als „moralische Qualität“ zugerechnet wird, s. u.). „Die in der Parallelwelt der digitalen Zwillinge gewonnenen Erkenntnisse, etwa durch Mustererkennung oder Profilentwicklung, können in die analoge Welt zurückübertragen und für dortige Operationen genutzt werden“ 3. Karola Marky: Konferenz CHI: Virtuelle Realität – realistische digitale Welten, https:// www.heise.de/news/Konfernez-CHI-Virtuelle-Realitaet-Realistische-digitale-Welten6052226.html, abgerufen 22. 05. 2021. 2 Fink & Wagnalls Standard Dictionary, Int. Edition, Bd. 2, New York 1965, S. 1404; Oxford Dictionary, hrsg. von John Simpson und Edmund Weiner, Oxford 2003, S. 824. 3 Armin Grunwald: „Digitalisierung als Prozess“, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik. Wirtschaftsethik und Digitalisierung, 2 (2019), S. 121–145: 123 f. 1
Realität – Wirklichkeit – Virtualität
Bereits die auf den ersten Blick funktionierende (metaphorische) Rede vom digitalen Zwilling sollte freilich dazu herausfordern, hier in reflektierender (und in nuce philosophischer) Absicht zu intervenieren und den gesamten Prozess zu problematisieren. „Digitaler Zwilling“ suggeriert nämlich – mit Blick auf „echte“ (eineiige) Zwillinge, die aber einander eben nicht repräsentieren – eine Übereinstimmung in der Verfasstheit (manifeste Eigenschaften, Dispositionen und Entwicklungstendenzen) und verharmlost einen gravierenden Unterschied: Digitale Zwillinge sind gemacht, und zwar unter bestimmten Selektionsstrategien, Kriterien, Indikatoren, für die eine bestimmte Sensorik (im weitesten Sinne) die Observablen liefert. Digitale Zwillinge sind und bleiben immer Stereotype und Profile, auch wenn sie unter dem Datenhunger der Konzerne und zunehmender Komplexität der Algorithmen scheinbar immer „individueller“, spezifischer und personalisierter werden. Denn es werden immer nur diejenigen Merkmale eruiert, die für bestimmte Operationen der analogen Welt, in die sie zurückübertragen werden, genutzt werden können. Jeder digitale Zwilling ist und bleibt Produkt einer Funktionalisierung. Das muss nicht schlecht sein, ja mag in bestimmten Kontexten durchaus als erwünscht und als zielführend gelten, verdeckt aber den Blick darauf, dass die Architektur der Sensorik und die Strategie der Verarbeitung der Daten auf einem Gestaltungsvorgang beruhen, dessen Treiber bestimmte Interessen sind, die eine bestimmte Form der „Rückübertragung“ in analoge Kontexte prägen. Es entstehen dann Bestätigungsirrtümer, wenn etwa im Zuge eines „predicitve policing“ auf Basis der Diagnose einer Gefährdungslage dichtere Kontrollen und weitere Vorsorgemaßnahmen stattfinden, in deren Lichte entsprechende Delikte augenfällig werden, was wiederum die Profilierung affirmiert, oder wenn in einer „Filterblase“ das Profil meines Ichs als digitaler Zwilling in seiner Attraktivität erhöht wird, weil die Absenz von Irritationen und Widerstandserfahrungen im Zuge der Rückübertragung in die analoge Welt durchaus als Gratifikation, eben attraktiv, empfunden wird und sich auf diesem Wege selbst bestätigt. Dieses „Gemachtsein“ des „digitalen Zwillings“ ist auch im Felde der Simulation Technology und der cyber-physischen Systeme präziser und differenzierter freizulegen. Freilich scheint mit dem Verweis auf schlecht eingesetzte Metaphern und unterkomplex bzw. vage konturierte Grundbegriffe nicht immer ein Grund für eine philosophische Intervention gegeben. Denn solcherlei könnte seitens der Praktiker sozusagen schmunzelnd konterkariert werden mit Bemerkungen wie „so genau haben wir das nicht gemeint“ oder „für unsere Zwecke sind solche Begrifflichkeiten völlig hinreichend“ oder „in praktischer Absicht funktioniert ja unsere Kommunikation“. Es wäre hier zunächst eine Kritik aufzurufen, wie sie beispielsweise Peter Janich anbringt: So bemängelt Janich am
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Jargon der Informatik oder der molekularbiologisch/bioinformatisch aufgestellten Genforschung und Gentechnik, dass deren Rede von Kommunikation und Information sowie die in diesem Sprachspiel enthaltenen Sprechweisen von Codieren, Entschlüsseln, Transkribieren, Translatieren/Übersetzen bis hin zu Identifizieren, Erkennen, gar Entscheiden in Frage zu stellen sind, weil ihre „Subjekte“ (Zellen oder Zellbestandteile, signal- und datenverarbeitende Systeme oder Teile von diesen) nicht mit Bedeutung und Geltung umgehen können; einschlägigen Kausalprozessen und deren formalen Strukturen werde man nicht mit einer Terminologie gerecht, die auf anthropomorphen Metaphern basiert und suggeriert, dass hier humananaloge Vollzüge stattfänden. 4 Dieses Monitum wäre m. E. zunächst durchaus zu relativieren, sofern es den Jargon in den Forschungs- und Entwicklungslabors betrifft. Dort gelingt eine solche Kommunikation durchaus, und eine verzerrende Wirkung falsch eingesetzter Metaphern schreibt sich nicht in die Zeitigung empirischer Befunde und funktional erfolgreiche technischen Entwicklungen fort – aber eben nur, was die empirische und die funktionale Seite betrifft. Gravierend und überzeugend wird die Kritik Janichs dort, wo in erweiterter theoretischer Absicht biotischen und/oder informationstechnischen Entitäten humananaloge Leistungen zugeschrieben werden und sie als Modelle im Sinne von Modellen von … (als Instantiierungen oder als abstrakte Schemata einer solchen Leistungserbringung) erscheinen. Denn mit diesem Schachzug eröffnet sich nun die Option, menschliche Leistungen naturalistisch/physikalistisch auf solche Prozesse zu reduzieren, die nun weitergehend als Modelle für … den Menschen und seine Aktivitäten einzusetzen sind. Der Mensch mit seinen Sinn- und Geltungsansprüchen wird dann zum Element in solchen Prozessen und nicht mehr zu einer Entität, die sich zu solchen Prozessen verhält, als technisches und moralisches Subjekt, das sich eben nicht mehr im Felde eines rudimentären „Erkennens“ (technologischer oder biotischer „Kognition“) als Zuordnung von Zeichen zu Referenten bewegt, sondern im Modus des Anerkennens unter seinen Sinn- und Geltungsansprüchen mit solchen Zuordnungen umgeht. Zwar können die elaborierten Systeme durchaus auch Modelle ihres eigenen Zustands bilden und immer höherstufiger repräsentieren („Selbstmodelle“ mit allen Paradoxien der Selbstbezüglichkeit, wenn man sie rein repräsentationalistisch fasst), aber nicht ein Selbstbewusstsein von sich als Subjekt des Umgangs mit Repräsentationen gewinnen. 5 Jenes ist der Ansatzpunkt anmaßenPeter Janich: Kultur und Methode. Philosophie in einer wissenschaftlich geprägten Welt, Frankfurt/M. 2006, S. 372–375. 5 Christoph Hubig: „Verschmelzung von Technik und Leben. Begriffsklärungen an der Schnittstelle von Mensch und technischem System“, in: Stephan Herzberg, Heinrich Watzka 4
Realität – Wirklichkeit – Virtualität
der Universaltheorien oder -utopien transhumanistischer Provenienz („Der Mensch soll sich in einer ihm überlegenen KI ein- oder unterordnen“). Was diese theoretischen und praktischen Konsequenzen der Investition jener problematischen Terminologie betrifft, kann Janichs Kritik an den einschlägigen Naturalismen und Reduktionismen nicht hart genug ausfallen. Diese Kritik teilt Pirmin Stekeler-Weithofer mit Janich. Eine Bezugnahme auf die Ergebnisse seiner Arbeit ist jedoch auch und gerade unter einem anderen Aspekt weiterführend: U. a. in seinem bewundernswert klaren und dichten Lexikoneintrag „Realität/Wirklichkeit“ zeichnet Stekeler-Weithofer die verschlungenen Entwicklungslinien der einschlägigen Terminologie nach, reflektiert diese in Hegelscher Radikalität und verbindet sie entsprechend mit einer Kritik an bestimmten Modellierungen von „Realität“, wie sie in Ausprägungen eines empiristischen Realismus vorfindlich sind.6 Wir werden sehen, dass sich die gesamte problemgeschichtliche Hypothek, die hier freigelegt wurde, im Feld der Virtual Realities, basierend auf Simulationen, sowie in cyber-physischen Systemen fortschreibt. Darauf werde ich im nachfolgenden Abschnitt eingehen. Hierbei werden terminologische Irritationen offensichtlich, die nicht bloß mit dem Verweis auf falsche Metaphern zu bereinigen sind. Vielmehr erscheint mir eine Erinnerung an die Entwicklung der Konzepte von „Realität“ und „Wirklichkeit“ bei Hegel geboten, als bestes Beispiel für Orientierung durch Kritik – Kritik als Vollzug des Unterscheidens in Ansehung von Grenzen beim Unterschiedenen, die reflektierbar sind – mittels derer man jenen Irritationen begegnen kann: bei Hegel im Wesentlichen mit seiner Unterscheidung zwischen dem Reellen, dem Realen und dem Wirklichen. Im Lichte seines Ansatzes lassen sich dann Anregungen gewinnen, wie ein Umgang mit bestimmten technischen Entwicklungen im Feld der „Virtual Reality“ zu rechtfertigen wäre.
2. Virtual Realities und/oder „Virtual Actualities“
Fokussiert man in Absicht einer terminologischen Klärung von „Virtual Reality“ das „virtual“ und sucht hier Anhaltspunkte aus der Begriffsgeschichte und aus dem gegebenen Sprachgebrauch zu gewinnen, wird man kaum belastbare oder durchgehaltene sortale Unterscheidungen vorfinden. Was könnte (Hrsg.), Transhumanismus. Über die Grenzen technischer Selbstverbesserung, Berlin/Heidelberg 2020, S. 145–160. 6 Pirmin Stekeler-Weithofer: „Realität/Wirklichkeit“, in: Enzyklopädie Philosophie, hrsg. von Hans Jörg Sandkühler, Bd. 3, Hamburg 2010, S. 2221–2230.
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der Rede vom „Virtuellen Samstag“ (einem Wochentag vor einem Feiertag), von einer „Virtuellen Geburtstagsfeier“ oder einer „Virtuellen Konferenz“ als informationstechnisch erzeugtem Anwesenheitsraum, von einer „Virtuellen Leber“ als „Virtuellem Objekt“ virtueller „Interventionen“ (s. u.), vom „Virtuellen Unternehmen“ entweder als Repräsentation einer organisatorischen Einheit physisch getrennter Elemente, die Kommunikations-, Steuerungs- und Regelungsvollzüge erlaubt, oder als reines Konstrukt einer nicht physisch existierenden Einheit zwecks Probehandeln, Ableitung von Entwicklungsszenarien etc. gemeinsam sein? Oder der Rede von „Selbstmodellen als einer neuen Art von ‚virtuellen Organen‘“, wobei „die zeitgenössische Begeisterung für das Vordringen des Menschen in künstliche virtuelle Welten übersieht, dass wir uns immer schon in einem biologisch generierten Phenospace befinden: innerhalb einer durch mentale Simulation erzeugten virtuellen Realität“, so Thomas Metzinger, 7 oder einer Bezeichnung des Mediums als „reiner Virtualität“ (Niklas Luhmann) 8, schließlich von „virtuellen Dingen“, die sich „nach Gesetzen, die nicht unbedingt die sind, die aus der Wirklichkeit bekannt sind“ verhalten (Lambert Wiesing) 9, oder von „virtual worlds [that] have real consequences“ (Don Haider) 10. Angesichts dieser Gemengelage schlage ich vor, terminologische Ansprüche zunächst zurückzustellen und mit dem Konzept des Inbegriffs zu arbeiten, unter dem, wie Edmund Husserl es vorgeschlagen hat, kategorial inhomogene Elemente jeweils unter einem „gemeinsamen Interesse“ versammelt werden können. 11 Freilich scheinen hier zwei unterschiedliche Interessen eine Rolle zu spielen. Unter diesen Interessen finden Entwicklungen statt und mit Blick auf diese Interessen werden die Begrifflichkeiten unterschiedlich pointiert: erstens das Interesse an einer technisch (im weitesten Sinne) realisierten Relationierung von materiellen und/oder immateriellen Objekten, Ereignissen oder Zuständen, die sonst unverbunden geblieben wären, was Repräsentationsbeziehungen, (Wechsel-)wirkungen, Zugänglichkeit solcher RepräsentaThomas Metzinger: „Philosophische Perspektiven auf das Selbstbewusstsein: Die Selbstmodell-Theorie der Subjektivität“, in: Werner Greve (Hrsg.): Psychologie des Selbst, Weinheim 2000, S. 317–336 (überarb. Online-Version www.blogs.uni-mainz.de, S. 11, abgerufen 10. 05. 21); Thomas Metzinger: Subjekt und Selbstmodell, Paderborn 1999, S. 243. 8 Niklas Luhmann: „Die Form der Schrift“, in: Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.): Schrift, München 1993, S. 349–366: S. 356. 9 Lambert Wiesing: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt/M. 2005, S. 121. 10 Don Haider: Living Virtuality. Researching New Worlds, New York 2009, S. 134. 11 Edmund Husserl: Philosophie der Arithmetik. Ges. Werke XII, hrsg. von Lothar Eley, Den Haag 1970, S. 23, 74. 7
Realität – Wirklichkeit – Virtualität
tionen und Optionen des Umgangs mit Repräsentationen und Wirkungen betrifft; zweitens das Interesse an einer Konstitution neuer Entitäten bis hin zu „Welten“, ebenfalls (wie auch sonst) technisch induziert. Beide Entwicklungen können sich wechselseitig fördern oder destruieren. Was die erwähnten Beispiele betrifft, handelte es sich beim „Virtuellen Samstag“ um ein sozialtechnisch (unter Regeln und Konventionen) induziertes Phänomen der Verbindung, beim „virtuellen Meeting“ um ein realtechnisch induziertes Phänomen der Verbindung, was auch für das „virtuelle Unternehmen“ gilt, sofern es sich nicht um eine realtechnisch und intellektualtechnisch induzierte artifizielle Konstitution handelt. Die Rede vom Medium als „reiner Virtualität“ akzentuiert stärker das erste Interesse, ebenso die Rede von einem (intellektualtechnisch induzierten) virtuellen Selbstmodell bei Metzinger, während die „virtuelle Welt“ eines Second Life oder einer Game-Umgebung stärker dem zweiten Interesse verhaftet ist. Die misslichen Unschärfen, die einen solchen Versuch der Unterscheidung zweier Interessen prägt, hat freilich ein Gutes: Sie verweist nämlich implizit auf Gehalte an Konstitutivität, die bei den Realisierungen auf der ersten Linie mitgeführt werden müssen (z. B. kontrafaktisch artifizielle Modellierungen, mittels derer Simulationen „realistischer“ gemacht werden können, s. dazu unten), und umgekehrt zeigt sich bei der Konstitution neuer artifizieller Welten regelmäßig deren Verwiesenheit auf Elemente einer „realen“ Realität als Gesamtheit von Vorstellungen darüber, was der Fall ist oder sein könnte. Ohne diese wären die „neuen“ Virtualitäten überhaupt nicht mehr verständlich und zugänglich; ein Umgang mit ihnen wäre nicht mehr möglich. Das spricht zum einen gegen eine sortale Unterscheidung zwischen realer und virtueller Realität – es geht um Unterschiede an … –, birgt zum anderen jedoch (neben der ausstehenden Klärung von „Realität“) sofort ein weiteres begriffliches Risiko: Wenn wir uns nämlich darüber vergewissern, dass alle Weltverhältnisse technisch i. w. S. (realtechnisch, intellektualtechnisch und sozialtechnisch) vermittelt sind, liegt es nahe, das Kind mit dem Bade auszuschütten und im Sinne eines naiven Idealismus (wie ihn Hegel kritisiert) alles als erzeugte virtuelle Realität (s. o. Metzinger), als Simulacrum (Jean Baudrillard) 12 oder als Neukonstruktion von „Natur“ überhaupt zu bezeichnen. Francis Bacons programmatische Formulierung von einer „vexatio naturae artis“, einer Verzerrung der Natur durch Technik 13, die das Paradigma experimenteller, interventionistischer Naturwissenschaft eingeläutet hat, wäre freilich überreizt, wenn sie als jene „Alles-oder-nichts-These“ interpretiert Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, München 1991, S. 85. Francis Bacon: Distributio Operis, The Works of Francis Bacon IV, hrsg. von James Spelding, Stuttgart 1963, S. 23. 12 13
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würde. Denn eine „vexatio“ setzt eine Instanz voraus, deren Widerstandsfähigkeit gegenüber allen technischen Interessen einer Überformung und Funktionalisierung vorausgesetzt bleiben muss, damit ein technischer Erfolg als solcher, als Gelingen, sich überhaupt abheben kann von einem blinden Hin- und Hergeworfensein zwischen Virtualitäten oder Simulationen oder Simulacra, deren Kontingenz keine Grenze mehr gesetzt wäre. Bevor ich angesichts dieser Problemlage die Arbeit, die Hegel an den einschlägigen Grundbegrifflichkeiten vorgenommen hat, geltend machen will, schlage ich in vorbereitender Absicht vor, die Simulation Technology und den Einsatz von cyber-physischen Systemen genauer (jenseits ihrer schlagwortartigen Charakterisierung) zu betrachten, und zwar in Ansehung der dort tatsächlich vorfindlichen Vollzüge, über die das „Virtuelle“ an den erzeugten „Virtual Realities“ durchaus ersichtlich wird. Als Ziel computerbasierten Simulierens wird üblicherweise angeführt, die Wirkungsverläufe in komplexen Systemen besser zu „verstehen“ (bzw. zu erklären) und/oder „leistungsfähige“, „belastbare“ Prognosen über zukünftiges Systemverhalten zu gewinnen. Die Leistungsfähigkeit wird in solchen Zusammenhängen oftmals fokussiert auf die Bereitstellung von Planungsgrundlagen für technisches Handeln. Damit wird in Verbindung gebracht, dass die virtuellen Realitäten immer „realistischer“ werden sollen. Wie wäre eine Rückbindung an eine „reale“ Realität zu verstehen? Die übliche, aber fragwürdige Schematisierung der Simulation suggeriert einen gerichteten Prozess, der verschiedene Abschnitte durchläuft: die (physikalisch-)qualitative Modellierung, die mathematische Modellierung, die numerisch-appromixative Modellierung (Diskretisierung, Zellgröße, Polynomgrad), die Realisierung der Algorithmen in einem Code/Implementierung, ggf. stark vereinfacht, die Verifikation dieses Codes, die Validierung (mit Kalibrierung und Justierung der Parameter), die Visualisierung (und neuerdings – s. o. – eine „Taktilisierung“) zur Erreichung hinreichender Performanz anschauungsbasierter Disponibilität bis hin zur Möglichkeit einer Interaktion in Echtzeit zwecks virtuellem oder simulationsbasiert-prognosegeleitetem realem Probehandeln. Hierbei zeigt sich eine Problematik bereits bei den ersten Schritten, die sich in den weiteren Schritten fortschreibt: Es werden unterschiedlichste Typen durchaus explizit kontrafaktischer Modelle eingesetzt, um erfolgreiche Prognoseleistungen zu erzielen und einen technischen Umgang mit und auf Basis der simulierten Systeme gelingen zu lassen. So operiert z. B. ein Modell der Dichte-Funktional-Theorie mit nur drei Freiheitsgraden, sieht von den Wechselwirkungen zwischen den Elementarteilchen ab und steigert dadurch seine Voraussagekraft, während die Erklärungskraft abnimmt 14; in 14
Johannes Lenhard: „Kann Technik die Naturgesetze verändern? Zu den technischen
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der Strömungslehre wird die kontrafaktische Annahme, dass sich die Viskosität des Mediums in der Umgebung einer sich mit Überschallgeschwindigkeit ausbreitenden Schockwelle extrem erhöhe (artificial viscosity), für die Konstruktion seit über 50 Jahren erfolgreich eingesetzt 15, was sich in ihrer Eignung für Simulationsmodelle fortschreibt; im Feld der Medizin wird für Simulationen im Vorfeld einer geplanten Nierensteinzertrümmerung zwecks Optimierung der einzusetzenden Strategie Gewebe als „Wasser plus Dämpfungsfaktor“ modelliert. 16 Ähnliches gilt für Multi-Agenten-Simulationen des Segregationsverhaltens in Ballungsräumen, die auf explizit kontrafaktischen Annahmen beruhen und dennoch eine hohe Prognoseleistung erbringen 17. Eine Kontrafaktizität i. e. S. in pragmatischer Absicht zieht sich durch die weiteren Simulationsstufen und betrifft die Auswahl an Näherungsverfahren, Vereinfachungen bei der Codifizierung, Visualisierungsstrategien in pragmatischer Absicht. Erfahrungen des Gelingens oder Misslingens beim Einsatz der Simulationen für technisches Handeln führen zu Modifizierungen auf allen Stufen des Simulationsprozesses, der im Rahmen von großen und kleineren (Binnen-)iterationsschleifen mit Blick auf die Ziele der Simulation „optimiert“ wird. Das gibt einen guten Grund ab, für die Simulation Technology eine pragmatische Wahrheitstheorie geltend zu machen. 18 Was bedeutet es nun, wenn in diesem Kontext von Kontrafaktizitäten (Vereinfachungen, Aussparungen, „falschen“ naturgesetzlichen Zusammenhängen etc.) im Abgleich mit „virtuellem“ oder „realem“ Probehandeln oder im Abgleich der Simulationen untereinander (Konvergenz, Stabilität etc.) eine Simulation als „realistischer“erachtet wird als eine andere? Ein letztes Beispiel mag Erfolgsbedingungen fundamentaler Gesetze“, in: Ding und System. Jahrbuch Technikphilosophie, hrsg. G. Gamm, P. Gehring, Ch. Hubig, A. Kaminski und A. Nordmann, Zürich und Berlin 2015, S. 171–186. 15 E. J. Caramana. M. J. Shashkov, P. P. Whalen: „Formulations of Artificial Viscosity for Multi-Dimensional Shock Wave Computations“, in: Journal of Computational Physics 144 (1988), S. 70–97. 16 Kerstin Weinberg: „Modelling and numerical simulation of kidney damaging side effects in shock wave lithotripsy“, in: 8th World Congress on Computational mechanics WCCM8, hrsg. von Bernhard A. Schrefler und Umberto Perego, CIMNE, 2008. 17 Niels Gottschalk-Mazouz: „Toy Modelling: Warum gibt es (immer noch) sehr einfache Modelle in den empirischen Wissenschaften?“, in: Die Reflexion des Möglichen. Zur Dialektik von Handeln, Erkennen und Werten, hrsg. von Peter Fischer, Andreas Luckner und Ulrike Ramming, Münster 2012, S. 17–30. 18 Christoph Hubig/Andreas Kaminski: „Outlines of a Pragmatic Theory of Truth and Error in Computer Simulation“, in: Michael M. Resch, Andreas Kaminski, Petra Gehring (Hrsg.), The Science and the Art of Simulation I. Exploring – Understanding – Knowing, Stuttgart 2017, S. 121–136.
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die Beantwortung dieser Frage vorbereiten: Angesichts ganz unterschiedlicher Besserungswirkungen bei der Verabreichung von Medikamenten oder der Implementation von Produkten der Medizintechnik hat sich eine „personalisierte“, „individualisierte“ Medizin zur Aufgabe gemacht, Stoffwechselreaktionen und Blutfluss an virtuellen Organen zu messen und zu testen, letztlich – so die Vision – an einem Modell des gesamten Organismus. 19 Zunächst konzentriert man sich auf den Hauptumschlagsplatz, die „virtuelle Leber“. Es geht um eine integrative Multiskalenmodellierung der unterschiedlichen Organisationsund Funktionsebenen partiell geschädigter Lebern zwecks Simulationen der Reaktion bei Gabe einer Wirkstoffdosis für schnelle oder langsame Stoffwechsler. Als Modell für … wird (mit Blick auf den Modellierungs- und Rechenaufwand) die Leber einer Maus gewählt, für die ein Modell von …, nämlich des Blutflusses und der Stoffwechselreaktion, für eine hierauf beruhende Simulation auf Basis von 50.000 virtuellen Würfeln für jeweils 3.000 Zellen erstellt wird. Als Validierungsinstanz der Prognosen gilt die reale Mäuseleber, die dann ihrerseits wieder als Modell für …, nämlich die Simulation einer personalisierten Dosisgabe für den Menschen und diese dann wiederum als Modell für … die reale Dosisgabe im Rahmen eines ärztlichen Handlungsschemas gelten soll. Analog sucht man personalisierbare Herzmodelle von der patientenspezifischen Anatomie und der elektrischen Aktivität entlang der Muskelfasern zu gewinnen, die dann als Modelle für die Platzierung virtueller Elektroden zwecks Tests einer virtuellen Wirkung dienen sollen, z. B. bei Herzschrittmachern. Im Wechsel zwischen Modellen von … und Modellen für …, von Repräsentationen und bewerteten Wirkungen soll der Anschluss von virtueller Realität an „reale Realität“ bewerkstelligt werden. Spätestens an dieser Stelle sollte nun deutlich werden, dass die angeführte Unterscheidung zwischen „realer Realität“ und „virtueller Realität“ noch unscharf ist. Denn „Realität“, vorläufig – s. o. – gefasst als „alles, was der Fall ist“, also immer repräsentiert auf Basis von Wahrnehmung, Begrifflichkeit, Modellierung, umgreift natürlich auch das Simulationsgeschehen mit seinen Wirkungen, worauf sich wieder höherstufig Repräsentationen aufbauen lassen. Umgekehrt werden Wirkungen, die doch irgendwie „real“ sind, ausgespielt, um Realitäten (wahrgenommene, identifizierte, modellierte) zu desavouieren und durch „echte“ a limine zu ersetzen. Dies freilich – folgt man dem Jargon – mit der Grenze, dass „fiktive Wirklichkeiten“, also bloß vorgestellte (die uns aber doch bewegen, ängstigen, ermutigen etc. können), zu unterscheiden seien von „wirklichen Wirklichkeiten“, wobei eine Untergruppe dieser die soSilvia von der Weiden: „Blutflussmessungen im virtuellen Organ“, in: VDI Nachrichten 35/36, 28. August 2015. 19
Realität – Wirklichkeit – Virtualität
genannte „wirkliche Virtualität“ ausmachen soll (wie etwa in einem in strategischer Absicht zugeschnittenen virtuellen Kontext, in dem z. B. eine virtuelle Kleideranprobe stattfindet, die zu einem „realen“ Verkaufserfolg führen soll) 20. Es zeichnet sich ab, dass in einer ersten Differenzierung zwischen einem adverbialen Gebrauch und einem adjektivischen Gebrauch von „real“ und „virtuell“ unterschieden werden muss. Ersterer ließe sich umschreiben als „realitätsbasiert“ oder „virtualitätsbasiert“, letzterer mag zur Unterscheidung von Realitätstypen dienen, muss aber markiert werden bezüglich seiner Objektoder Höherstufigkeit. „Realitätsbasiert“ oder „virtualitätsbasiert“ lässt sich aber auch und gerade auf die Zeitigung von Wirkungen beziehen, wobei wir wieder bei dem eingangs erwähnten philosophischen Grundproblem angekommen sind. Und schließlich bleibt die Frage, wie der Kandidat für die Zuschreibung von „Realität/real“ und „Wirklichkeit/wirklich“ terminologisch zu belegen wäre (wir werden sehen, dass hierfür Hegel „reell“ anbringt). Die Rede von „wirklicher Virtualität“ findet sich nun, was nicht überrascht, im Kontext der Beschreibung des Prozessierens von cyber-physischen Systemen. Da hier nicht der Raum für eine ausführliche Darstellung gegeben ist, mag (neben den bereits erwähnten Beispielen des Flugsimulators, des Schweißsimulators oder der Tangibles Displace beim virtualitätsbasierten Operieren) das vollautomatische/„autonome“ Fahrzeug dienen. Cyber-physische Systeme (CPS), ausgestattet mit Sensorik, Software mit Kapazität für Simulationen, mechanischen Komponenten (Aktoren) und Anbindung an das Internet, über die die Einbettung in weitere Kontexte und die Vernetzung mit anderen CPS gewährleistet ist, operieren mit unterschiedlichem Grad an operativer und strategischer „Autonomie“ in der realen Welt. Ihr Knowhow an Diagnoseleistung, Typisierungsleistung und Simulations-/Antizipationsleistung ist, was die Grundarchitektonik betrifft, extern determiniert, entwickelt sich aber nichtdeterministisch qua maschinellem Lernen unter Belohnungsfunktionen selbstständig weiter, auch und gerade was die Regeln des Prozessierens selbst betrifft. Es ist in diesem rudimentären Sinne „autonom“ (selbstgesetzgebend), natürlich nicht im moralischen Sinne, weil das Prozessieren auf der Verknüpfung von Repräsentationen basiert, nicht auf Akten der Anerkennung einer normativen Gültigkeit der Verknüpfung. Es verbleibt also im Bereich (bzw. der Simulation) vorstellenden „Denkens“, letzteres uneigentlich, weil das „Subjekt“, die Maschine sich dabei nicht mitdenkt, sondern nur Repräsentationen seiner Zustände, nicht aber seine Aktivität des Repräsentierens als RepräsenEdgar Fleisch/Markus Dierkes: „Betriebswirtschaftliche Anwendungen des Ubiquitous Computing – Beispiele, Auswirkungen und Visionen“, in: Friedemann Mattern (Hrsg.): Total vernetzt. Szenarien einer informatisierten Welt, Berlin, Heidelberg, New York 2003, S. 146 f. 20
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tation gewinnen kann. Gegen die These, dass solche Systeme, wenn der Entwicklungsstand einer Hochautomatisierung erreicht ist, menschlichen Subjekten aufgrund der Verarbeitungsgeschwindigkeit von Informationen, der Vollständigkeit der Erfassung des Kontextes, erfolgreicher Simulation der Interaktionsprozesse (und ihrer Ergebnisse), der beteiligten Agenten sowie des Rückgriffs auf einschlägige Wissensbestände in Echtzeit zur Verarbeitung der Informationen auch moralisch überlegen sei, wird regelmäßig eingewendet, dass in moralisch-dilemmatischen Situationen das „Abwägen“ auf den Horizont rein mechanisch prozessierender utilitaristischer Kalküle reduziert sei. Insbesondere für ein autonomes Fahren wird dies angeführt. Dabei wird freilich übersehen, dass sich dieses Argument zum Bumerang entwickelt: Denn da moralische Dilemmata per definitionem nicht auflösbar sind, betrifft dieses Problem auch natürliche Personen in vergleichbarer Situation. Aus deontologischer Perspektive scheint hier der Definitionsbereich moralisch gerechtfertigten Handelns nicht mehr gegeben. Freilich folgt aus eben einer solchen deontologischen Perspektive die unbedingte Pflicht, die Entstehung moralischer Dilemmata, also die Preisgabe unserer Moralität, soweit es in der eigenen Kraft liegt, zu verhindern. Auf diesen Punkt beziehen sich dann Argumentationslinien, die den Systemen hierzu eine höhere operative Fähigkeit zuschreiben, „moralisch-adäquate“ Entscheidungen zu treffen. Denn aufgrund ihrer erweiterten Multi-Sensorik und der höheren Verarbeitungsgeschwindigkeit der „Brainware“ seien die Systeme in weit höherem Maße in der Lage, die Entstehung moralischer Dilemmata (hier: unvermeidbare Kollisionen) simulationsbasiert zu antizipieren und alle mittel- und kurzfristig disponiblen Prozesse, die auf eine solche Situation hinauslaufen könnten, so zu beeinflussen, dass deren Entstehungsrisiko minimiert wird. Wenngleich nicht als moralische Subjekte (als die sie in der Theorie „artifizieller Kognitionen“ angesehen werden), könnten sie doch als moralsimulierende Systeme auch als anschließbar an die Simulation deontologisch fundierter Moralität erachtet werden. Denn sie seien eben nicht auf eine situative Entscheidung unter einem strikten Entscheidungskalkül eingeschränkt, sondern könnten quasi analog zu den von Kant angeführten uneigentlichen Pflichten oder gar Tugendpflichten unter einschlägigen Dispositionen in diejenigen Entwicklungsprozesse intervenieren, die überhaupt erst zu der Entstehung entsprechender Dilemmata führen. So weit die Utopie als diejenige einer „wirklichen“ Virtualität, die als „Virtual Actuality“ neben einer „Virtual Reality“ als Kandidat weiteren Bestimmens auftreten können müsste. Die bisher explorierten begrifflichen Unsicherheiten veranlassen uns nun, hier die Überlegungen von Hegel einzubringen, weil dessen Arbeit an Begriffen des Reellen, der Realität und der Wirklichkeit, begleitet von einer prä-
Realität – Wirklichkeit – Virtualität
zisen Unterscheidung eines adverbialen von einem adjektivischen Gebrauch, eine weitere Klärung orientieren kann.
3. Erinnerung an Hegel
Die terminologische Gemengelage, die bislang exploriert und exemplifiziert wurde, erschwert die Beantwortung der beiden Grundfragen, die sich in der Diskussion durchhalten: „Was von dem, was uns als virtuelle Realität vorstellbar oder vorgestellt wird, ist oder wird wirklich?“ und „Welche Wirkungen, die wir im Kontext virtueller Wirklichkeit erfahren, haben überhaupt eine und, wenn ja, welche Grundlage/Fundamentierung in der Realität?“ Erschwert wird die Beantwortung solcher Fragen in den aufgezeigten konkreten Fällen dadurch, dass terminologische Klärungen ausstehen, in zu geringem Maße differenziert ausfallen und Höherstufigkeiten des Einsatzes der „Termini“ ignorieren. Mit klaren Definitionen hier Abhilfe zu schaffen führt insofern nicht weiter, als diese in ihrer „Willkür“ und „Zufälligkeit“ gegeneinander auszuspielen sind, einer Willkür, die sich in die Argumentationslinien fortschreibt, wenn die einschlägigen Begriffe dort als Mittelbegriffe des Schließens auftreten (sollen). Wer dies behauptet und in aller Radikalität kritisiert, ist eben – Hegel. Alternativ fordert er, den Begriff (bzw. den jeweiligen Begriff ) in den jeweiligen Konstellationen „arbeiten“ zu lassen („Arbeit des Begriffs“), diese Arbeit im Lichte von Irritationen und Widerständigkeiten, die beim Umgang mit der Begrifflichkeit (Bestimmungen, Einsatz der Begrifflichkeit) entstehen, zu rekonstruieren (Phänomenologie des Geistes) 21 und zu begründen (Wissenschaft der Logik) 22 und schließlich auf dieser Basis ein reflektierendes Verhältnis zur Begrifflichkeit einzunehmen, das Bestimmen im unendlichen Prozess des Begreifens immer weiter zu bestimmen, als „Arbeit am Begriff “, stetige Reflexion. Diese Arbeit findet bekanntlich im Dreischritt statt, vom An sich über das Für sich zum An und für sich als Stufen der „Bewegung“ des Begriffs: Auf der ersten Stufe des An-Sich-Seins sei dieses „als eine abstrakte Weise, den Begriff auszudrücken, zu nehmen“ (WL I, 109), abstrakt in dem Sinne, dass der Begriff Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, hrsg. von Hans Friedrich Wessels und Heinrich Clairmont, Hamburg 1988, nachfolgend zit. als PhG. 22 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik I/II, hrsg. von Hans-Jürgen Gawoll, 2. Aufl., Hamburg 2008 (I, Die Lehre vom Sein), 1999 (I, Die Lehre vom Wesen), 2003 (II, Die Lehre vom Begriff ), nachfolgend zit. als WL. In der „Lehre vom Begriff “ findet sich Hegels Kritik an der „Zufälligkeit“ und der „Willkür“ des Einsatzes von Mittelbegriffen (II, 3. Kap. A.a). 21
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als das „individualitätslose Allgemeine“ (PhG 210) ausgesagt wird, etwas als einem möglichen „Anders-Sein und dem Sein-für-Anderes entnommen“ (WL I, 107). Jenseits jeglicher inhaltlicher Konkretion ist er bloß „innerlich“ (WL I, 64), unmittelbar gesetzt als Kandidat und mit dem Anspruch des Bestimmens, angesichts der „Nacht“ seiner Möglichkeit. Auf der zweiten Stufe, dem Für sich, wird der Begriff nun als bestimmter ausgedrückt, erhält das „Sein-fürAnderes“ als Beschaffenheit isoliert und für sich gesetzt (WL I, 112), bleibt jedoch nicht weniger abstrakt, hier jedoch im Sinne von „einseitig“: „Gegen diese Freiheit, die jeden beliebigen Inhalt in das allgemeine passive Medium [ …] einlegt, so gut als einen anderen, hilft es nichts zu behaupten, dass ein anderer Inhalt eingelegt werden sollte; denn welcher es sei, jeder hat den Makel der Bestimmtheit an ihm“ (PhG 348). Das „Innerliche“ wird durch die Einnahme eines „äußeren“ Verhältnisses abgelöst (als Übergang von der „setzenden Reflexion“ zur „äußeren Reflexion“). Wird diese Äußerlichkeit nun in Ansehung ihrer Grenzen reflektiert, ist die Stufe des An und für sich erreicht: das Gesetztsein als Gesetztsein gesetzt und damit weiterer Bestimmung zugänglich (WL II, 12). Es ist hier nicht der Ort, weitere Charakterisierungen dieses Dreischritts zu versammeln, ihren Einsatz im Gesamtzusammenhang des Hegelschen Systems zu belegen und diese Form eines sich selbst reflektierenden spekulativen Idealismus von einem subjektiven oder objektiven Idealismus abzugrenzen. Vielmehr soll gezeigt werden, wie aus der Arbeit der Begriffe „Realität“ und „Wirklichkeit“ bzw. einer Arbeit an diesen Begriffen Orientierung in der bisher vorgeführten terminologischen Gemengelage erzielt werden kann. Dabei kann auch nur angedeutet werden, wie der Begriff oder das Begriffliche überhaupt in seiner Relationierung zu den Begriffen der Realität und der Wirklichkeit letztendlich seinen eigenen Begriff gewinnt – als „absolute“ und „notwendige“ Wirklichkeit. Realität kann ein vieldeutiges Wort zu sein scheinen, weil es von verschiedenen, ja entgegengesetzten Bestimmungen gebraucht wird. Im philosophischen Sinne wird etwa von bloß empirischer Realität als einem wertlosen Dasein gesprochen. Wenn aber von Gedanken, Begriffen, Theorien gesagt wird, sie haben keine Realität, so heißt dies, dass ihnen keine Wirklichkeit zukomme; an sich oder im Begriffe könne die Idee einer platonischen Republik z. B. wohl wahr sein, der Idee wird hier ihr Wert nicht abgesprochen und sie neben der Realität auch belassen. Aber gegen sogenannte bloße Ideen, gegen bloße Begriffe gilt das Reelle als das allein Wahrhafte. – Der Sinn, in welchem das eine Mal dem äußerlichen Dasein die Entscheidung über die Wahrheit eines Inhaltes zugeschrieben wird, ist ebenso einseitig, als wenn die Idee, das Wesen oder auch die innere Empfindung als gleichgültig gegen das äußerliche Dasein vorgestellt und gar für umso vortrefflicher gehalten wird, je mehr es von der Realität entfernt sei (WL I, 99).
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Wir treffen also hier vier Kandidaten an, die zu bestimmen sind: das Reelle/ äußerliches Dasein, gegenübergestellt dem Ideellen/auch „innere Empfindung“, das Reale/die Realität und die Wirklichkeit. Wenngleich Hegel in einer Fußnote anmerkt, dass er im Sprachgebrauch keinen Unterschied von „reell“ und „real“ sehe (WL I, 137), so finden wir doch in seinen eigenen Argumentationslinien hier die deutliche Unterscheidung, dass es sich beim Reellen als Gegenstand eines vorstellenden Denkens um etwas handelt, für welches vermeint wird, dass es als ein Substanzielles unmittelbar zu wissen sei und ihm in diesem Sinne die Eigenschaft zugeschrieben wird, reell zu sein (z. B. PhG 56). Analoges gilt für (bloße) „Idee“ und „ideell“, die hier klar adjektivisch konnotiert sind. Im Unterschied hierzu werden „Realität“ und „Wirklichkeit“ eher adverbial konnotiert, „reales Wissen“ als Gestalt der Bezugnahme (PhG 56) oder „reale Wirklichkeit“ als möglicherweise, zufälligerweise oder notwendigerweise wirkend.23 Dieser grammatische Unterschied erlaubt, jenseits einer formal sortalen Unterscheidung diese vier Pole aufeinander zu beziehen, und zwar dahingehend, wie der Realitätsbegriff aus der Vorstellung des Reellen und der Wirklichkeitsbegriff aus dem Begriff der Realität hervorgeht. Diese Entwicklung soll nachfolgend kurz skizziert werden, wobei auf den einschlägigen Stufen der Entwicklung auf Leistungen abgehoben wird, die zur Klärung und Orientierung angesichts der erwähnten problematischen terminologischen Gemengelage einsetzbar sind. Im Modus unmittelbarer sinnlicher Gewissheit beziehen wir uns auf etwas einzelnes Reelles, das wir aus unserem Erlebnisstrom herauszulösen vermeinen, in dem wir uns qua Ostension darauf beziehen (dieser, dieses, hier und jetzt). Der sprachliche und physische Aufweis von etwas als reell im Zeigen erbringt aber noch keinen eindeutigen subjekt- und situationsunabhängigen Objektbezug aufgrund der ständig situativ sich ändernden Verfasstheit des Gezeigten und der Vielheit der Zeigeoptionen, sodass als einziges noch übrig bleibt, „dass unsere Meinung, für welche das Wahre der sinnlichen Gewissheit nicht das Allgemeine ist [ …] allein [ …] noch übrig [ …] bleibt [ …]“ (PhG 65). Insofern kann das in diesem Sinne Reelle nicht das allein Wahrhafte sein. Freilich ist ein solchermaßen Reelles Voraussetzung dafür, dass das Bewusstsein aufgrund jener Irritationen sich zur Mannigfaltigkeit der Welt in ein vergewisserndes Verhältnis setzen muss. Über bloßes unmittelbares Reagieren, „Naturverhalten“ (WL I, 11) hinaus muss es sich der Gültigkeit des Herauslösens des Eindrucks vergewissern, was im Zuge seiner bloßen Vorstellung (resultativ) nicht möglich ist. Der Prozess der Vorstellung selbst ist zu themaVgl.: Christoph Hubig: „Möglichkeit“, in: Enzyklopädie Philosophie, hrsg. von Hans Jörg Sandkühler, Bd. 2, Hamburg 2010, S. 1642–1650. 23
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tisieren; dies geschieht in der Wahrnehmung. Sie erbringt ihrer selbst bewusste Vorstellungen; sie sucht sinnliche Allgemeinheiten zu gewinnen (PhG 74), die sich, als Eigenschaften, am Reellen als wesentlich darstellen (im Unterschied zu Täuschungen als bloß akzidentiellen). Auf diese Weise wird Realität vom Reellen gesondert, ein Real-Sein vom bloß ständig wechselnden Eindruck. Es entsteht eine „ideelle“ Vorstellung, die sich von der unbewussten Vorstellung des Reellen abhebt (PhG 80), die Vorstellung von einem „Ding“ im realen Prozess der Wahrnehmung als erster Realität des Wissens. Doch bleibt diese nicht unirritiert, vergleiche unser oben erwähntes Beispiel von der Bewegung im Zug: Nicht nur revoltiert der unbewusste Organismus gegen den Eindruck der Zustandsveränderung überhaupt bei virtuellen Zugfahrten, sondern bereits in der nicht digitalen Welt bleibt die Frage, ob ich mich bewege oder das wahrgenommene Gegenüber, unbeantwortet, solange nicht die Vorstellung eines Wirkens von Kraft investiert wird. Als Realität wird dann ausgezeichnet, was mit einer entsprechenden Modellierung (ihrerseits als Vorstellung) übereinstimmt; in einer virtuellen Welt wird die Vorstellung von der Übereinstimmung mit dieser Vorstellung mit technischen Mitteln evoziert, indem nun auch die Kraftwirkung simuliert wird. Es wird deutlich, dass „Realität“ nicht eine Eigenschaft des Dinges oder des Ereignisses ist, sondern adverbial das Prozessieren charakterisiert, unter dem die Vorstellung des Wahrgenommenen als wahr ausgezeichnet wird. Das erlaubt, die Unterscheidung zwischen „realer“ Realität und „virtueller“ Realität in den Prozess zu verlegen und nicht auf der Ebene von Eigenschaften des Dings oder Ereignisses zu verorten. „Realistischer“ (im Jargon) würde eine virtuelle Realität dann, wenn das Bewusstsein den Modus seiner natürlichen Wahrnehmung von dem einer technisch induzierten Wahrnehmung nicht mehr unterscheiden kann, mithin der Wahrnehmung kein „Nehmen“ mehr zugrunde liegt, sondern ein „Widerfahren“ einer vorgeblichen Nehmung, die – contradictio in adjecto – keine mehr ist: Die involvierten Subjekte bauen eine Wahrnehmung über etwas von dritter Seite Wahrgenommenes und Modelliertes auf, eine Realität höherer Stufe, welche vermeintlich etwas Reelles verarbeitet. Dieses ist aber doch bereits als Realität vorgestellt; wir werden sehen, dass Hegel dieser Realität den Status vernünftiger Wirklichkeit absprechen würde, weil für die Betroffenen die Wirkung nicht mehr rekonstruierbar und erklärbar ist (s. u.). Hier kann eine Kritik ansetzen, sofern jener Effekt nicht aus pragmatischen und/oder hedonistischen Gründen erwünscht ist. Jedenfalls gelingt es weder dem rein natürlichen Bewusstsein noch der bewussten Wahrnehmung, sowohl dem positiven Inhalt als auch der Form seines Zustandekommens zugleich gerecht zu werden. Es entsteht die „bewusste Einsicht in die Unwahrheit des erscheinenden Wissens“ (PhG 56) als Einsicht in
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die fehlende Notwendigkeit dieses Wissens (das eben auch anders sein kann). Zwar gilt die Wahrnehmung als formprüfendes „Werkzeug“ (PhG 54), steht jedoch vor dem Dilemma, dieses Werkzeug als etwas zu erachten, was der Erkenntnis hinzugetan wurde, nach seinem Abzug aber die Erkenntnis selbst aufhebt. „Realität“ lässt sich nur begreifen als „Realität des Erkennens“, sofern jenes Spannungsverhältnis selbst charakterisiert wird (oder thematisierbar bleibt, was ein Problem für die technisch induzierte virtualisierte Wahrnehmung ist). Wenn nun Modellierung, Theoriebildung und auf dieser Basis testbare Wahrnehmungsergebnisse unter der Tätigkeit des Verstandes beigesteuert werden, ist hier zwar eine Instanz des Abgleichs zwischen trügerischen oder wahren Wahrnehmungen in Sicht; freilich operiert diese Instanz ihrerseits im Modus von Vorstellungen, die quasi als Schiedsrichter über Vorstellungen disponieren. Wenn „Kraft“ (PhG 84) und „Gesetze“ über Kräfteverhältnisse (PhG 92) und auf diese Weise ein An-und-Für-Sich-Sein das Zusammenführen des Anspruchs der sinnlichen Eindrücke als gewiss (An sich) und der Einlösung dieses Anspruchs durch Bestimmung der Eindrücke als wesentlich oder unwesentlich (Für sich) erbringen sollen, führt dies in eine neue „Beliebigkeit“, nämlich der Bildung der Modelle als jeweiliges „Spiel der Kräfte“, solange die Modellierungen der Kräfte nicht ihrerseits bezüglich ihrer Wahrheit zu unterscheiden sind. Dass die Verstandestätigkeit dies nicht leistet, ist daran ersichtlich, dass Kraft durch ihre Wirkung und Gesetze durch ihre Konkretion in der Kraft erklärt werden sollen (PhG 84), wo doch die Wirkung zu erklären ist. Im rein vorstellenden, theoretischen Denken findet sich daher keine hinreichend bestimmte Realität des Erkennens – dies spiegelt sich auch und gerade in den Auseinandersetzungen um die Rolle von Modellen in der Virtualitätsdiskussion. Es fehlt ein Begriff (im buchstäblichen Sinne als Ausdruck des Begreifens) von Realität, der diese als Charakterisierung praktischer Tätigkeit und als Arbeit fasst, in der das Bewusstsein Gegenstände (und dabei sich selbst) bildet, indem es mit den Wirkungen dieser Bildungen umgeht. Verbleibt es auf jener Stufe, erscheint dem bloß vorstellenden Bewusstsein „das Wahre“ immer als etwas anderes als es selbst (PhG 103) – solange es seiner selbst nicht als Subjekt einer solchen Tätigkeit bewusst ist: als Selbstbewusstsein (im Unterschied zu „Selbstmodell“. s. o.). Erst auf dieser Stufe wird Realität zu einer „seienden Bestimmtheit“ (WL I, 99), bleibt nicht mehr ein rein Ideelles, welches ein Seiendes außer sich als Gegenstand zu bezeichnen suchte. Und erst eine Bestimmung der Realität durch den Begriff als Ergebnis des (manifesten) Begreifens unter einem Anspruch, der jetzt als Begehren auftritt (Herr-Seite des Selbstbewusstseins), dem anerkennend die Arbeit folgt (Knecht-Seite des Selbstbewusstseins) ermöglicht die Erfahrung der Wirklichkeit als Hemmung der Begierde und einer Widerständigkeit des Gegenstandes.
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Dieser stellt die Setzung einer realen Möglichkeit der Wirklichkeit (als An sich) im Begehren auf den Prüfstand und macht dabei die Erfahrung, dass „sein [ …] Gegenstand seinem Begriffe nicht entspricht“ (PhG 114). Das Selbstbewusstsein begegnet dabei der „bewusste[n] Wirklichkeit des Daseins“ (PhG 115), freilich zunächst als einer „reale[n] Wirklichkeit“, die „zunächst das Ding von vielen Eigenschaften, die existierende Welt“ ist: „Was wirklich ist, kann wirken; seine Wirklichkeit gibt etwas kund durch das, was es hervorbringt“ (WL I, 385). Damit wird der Bereich des bloßen Vorstellens, des Ideellen, überschritten. Beim Versuch, hier bestimmte Wirkungen als notwendig auszuzeichnen, stößt das Selbstbewusstsein in seiner Tätigkeit auf das Problem, dass gesetzliche Zusammenhänge, die als vorgestellte eine solche Notwendigkeit modellieren, in doppelter Weise noch zufällig sind: Sie können bei vergleichbarer Erklärungs- und Prognoseleistung auch anders sein, also an dieser Leistung nicht gemessen werden, und sie beschreiben in ihrer Wenn-dann-Form eine Wirksamkeit, die vom Gegebensein der Antezedenzbedingungen abhängt. Etwas als real wirklich zu begreifen, setzt voraus, eine Kenntnis, Überprüfung und Gestaltung derjenigen Umstände zu erreichen, aus deren Gegebensein die Wirklichkeit der Sache notwendig folgt (WL I, 387 f.). „Wirklichkeit“ zeichnet etwas als „Realität“ dahingehend aus, dass Transparenz der Umstände und die Macht, über diese zu disponieren, gegeben sind. Einerseits ist also das Reale in adverbialer Konnotation eines seiner selbst bewussten Erkennens Voraussetzung einer Charakterisierung der „Wirklichkeit“ als nicht bloß zufälliger Wirklichkeit, mithin notwendiger Wirklichkeit; andererseits ist Wirklichkeit als Titelwort (ebenfalls adverbial) Inbegriff wirkender Tätigkeit, die nicht mehr bloß im Identifizieren, Vergleichen und Modellieren von Vorstellungen besteht. Es ist dies der Punkt, an dem Hegel über den immer noch vorstellenden Verstand hinaus das Vermögen der Vernunft als Vermögen des sich begreifenden Tuns geltend macht. Sein berühmtes (und zu Unrecht berüchtigtes) Diktum aus der Rechtsphilosophie „Das Wirkliche ist vernünftig und das Vernünftige ist wirklich“ drückt eine „allgemeine begriffliche Wahrheit, geradezu als eine Tautologie“ aus. „Der Satz besagt, dass die Wirklichkeit die vernünftige Erklärung der Realität“ ist. Freilich sieht man dies „insbesondere dann nicht, wenn man Wirklichkeit mit Aktualität oder auch nur mit Realität identifiziert und nicht auf Hegels Rekonstruktion der systematischen Unterscheidung zwischen der Wirklichkeit der energeia und der Realität der Phänomenwelt achtet“ 24.
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Stekeler-Weithofer: Realität/Wirklichkeit, S. 2225.
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Es ist dies die Anschlussstelle für eine reflektierte pragmatische Wahrheitstheorie 25 und zugleich der Punkt, von dem aus die Forderung an die Verwendung der einschlägigen Titelwörter in der Virtualitätsdiskussion ergehen kann, neben einer sorgfältigen Kennzeichnung objektstufiger oder höherstufiger Verwendung von „Realität“ diese ihrerseits dahingehend zu differenzieren, dass sie relationiert wird zur Verfasstheit und zum Stand des Bewusstseins derjenigen, die mit ihr umgehen: Ist das „Realistische“ als Reelles, welches bestimmte reale Wirklichkeiten der Simulationen und des Prozessierens cyber-physischer Systeme als Eindruck vermitteln, eines, welches eine reflektierende Durchdringung als Realität den betroffenen Subjekten verwehrt („Performanz“ des Virtuellen), oder ist sie eine, die zumindest on demand ihren Status als Realität des jeweiligen Typs von Wirklichkeit (mögliche, wirkliche, notwendige) abduktiv zu rekonstruieren erlaubt? Gleichen die Subjekte, die die Virtualisierungsprozesse informationstechnologisch induzieren, die Leistungen dieser Prozesse bloß vergleichend im Rahmen von Vorstellungen ab 26 oder beziehen sie das Wirken-Können oder reale Wirkungen als zufällige oder deren Notwendigkeit (als ihre Beherrschung) in den Prozess der Validierung mit ein? Dies betrifft insbesondere die Unvollständigkeit oder (besten Wissens) Vollständigkeit der Kontextualisierungen („aware context“): Wirklichkeiten (einschließlich virtueller Wirklichkeiten) unterscheiden sich dann von Konzeptualisierungen von „Realität“ (einschließlich virtueller Realität) dadurch, dass sie im Hegelschen Sinne „spekulativ“ sind: dass sie ihre Verfasstheit dem Selbstbewusstsein erschließen und dieses die Spuren seiner Aktivität in ihnen finden kann, es sich gleichsam in ihnen zu „spiegeln“ vermag. Subjekt dieses Geschehens ist die tätige Vernunft, die sich hier als eigentliche „Substanz“ artikuliert. Solcherlei hat mit „Idealismus“ im Sinne eines Verharrens im Ideellen nichts mehr zu tun. Vielmehr ist Vernunft dann die „Formeinheit des inneren und äußeren [ …] Begriffs“ (WL I, 381). Sie ist eine Reflexion-in-sich (WL I, 391) auf die (1) Bedingtheit von Setzungen überhaupt, (2) von deren „äußerer Reflexion“ (WL I, 381) und schließlich (3) als bestimmendes Tun, das das Verhältnis ersterer und letzterer zum Thema macht („bestimmende Reflexion“).
Vergl. Oliver Schlaudt: Was ist empirische Wahrheit? Perspektiven pragmatischer Wahrheitstheorie zwischen Naturalismus und Kritizismus, Frankfurt/M. 2014, II. 26 So etwa beim Umgang mit konkurrierenden Simulationen im Zuge von Konvergenztests, ihrer Auszeichnung nach Maßgabe der Stabilität in wiederholten Durchläufen oder nach Maßgabe von Konsistenz und Kohärenz in Ensemble-Situationen, vgl. Wissenschaftsrat: Bedeutung und Weiterentwicklung von Simulationen in der Wissenschaft, Positionspapier Berlin 2014. 25
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Aspekte ihrer inhaltlichen Ausgestaltung finden sich neuerdings (prosaischer formuliert) in den Forderungskatalogen im Kontext einer Regulierung der KI in ethischer Absicht. Zentrale Werte, wie sie hier angeführt werden, zielen genau auf die Voraussetzungen, die jene Reflexionsmöglichkeit gewährleisten und das Selbstbewusstsein als sich bestimmendes Bewusstsein entwicklungsfähig halten. 27 Dass dies nur über Aushandlungsprozesse bezüglich der Kriterien und Indikatoren für die Bewertung von Virtualisierungstechnologien zu erreichen ist, verweist auf eine Dimension, die Hegel als die einer „realen Sittlichkeit“ – hier eben auch wieder in adverbialer Verwendung – bezeichnet hätte. 28 Eine irreale bzw. bloß virtuelle Sittlichkeit ist eben keine und wird auch nicht (a limine) erreichbar durch die Simulation moralischen Verhaltens, wie sie bisweilen cyber-physischen Systemen implementiert werden soll, welche dadurch aber nicht zu moralischen Subjekten werden. Denn sie verfügen nicht (hegelsch gesprochen) über eine sich wechselseitig anerkennende Herr-Seite und Knecht-Seite eines Selbstbewusstseins, sondern können ihre Tätigkeit nur in „Selbstmodellen“, also im Modus immer höherstufiger Vorstellungen gewinnen. Dabei scheitern sie an den Schranken (und den daraus resultierenden Paradoxien) von Selbstbezüglichkeit, die ihr Zustandekommen im Modus der Repräsentation immer als blinden Fleck mit sich führen muss. Moralisch-autonome (also im Modus der Anerkennung ausgezeichnete) Vorgaben bleiben diesen Systemen immer extern. Allenfalls strategische oder operative normative Vorgaben können die Systeme auf der Basis von Belohnungsfunktionen beim maschinellen Lernen aus eigener Kraft (und in diesem eingeschränkten Sinne „autonom“) herausbilden.
Sebastian Hallensleben, Carla Hustedt, Christoph Hubig et al. (AIEI Group): From Principles to Practice. An Interdisciplinary framework to operationalise AI Ethics, Frankfurt/ M. 2020 (auch: www.ai-ethics-impact.org). Es sind dies die Werte „Transparency“/„Accessability“, „Accountability“, „Justice“/„Participation“ sowie „Privacy“/„Control“ (n. a.). 28 Ebd. S. 16. 27
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Denken als Probehandeln
1. Wie können wir Gedanken in Handlungen umsetzen?
Tiere, schreibt Pirmin Stekeler-Weithofer in einem Handbuchartikel über das Denken, können „nicht im vollen Sinne handeln“, weil sie nicht denken können. Er präzisiert seine These wie folgt: [Tiere] können nicht eine laute oder leise Handlungsbeschreibung (qua Grundsatz oder Maxime der generischen Handlung) so in ein Tun umsetzen, dass die Erfüllung der in der Maxime artikulierten Bedingungen auf bewusste, und das heißt potentiell gemeinsame, Weise auf ihre Richtigkeit kontrolliert wird oder kontrolliert werden könnte. 1
Im vollen Sinne handeln bedeutet demnach, eine Handlungsbeschreibung auf bestimmte Weise in eine Tat umzusetzen. „Wie aber“, fragt Stekeler-Weithofer an anderer Stelle, „setzen wir das Überlegen und Intendieren im Handeln um?“ 2 Aristoteles vergleicht die Umsetzung von Gedanken in Taten bekanntlich mit dem Ziehen einer Schlussfolgerung. Er fragt: Wie kommt es, dass ein Denkender mal handelt, mal nicht handelt, sich bewegt, mal aber nicht bewegt? Dies scheint auf ähnliche Weise zu geschehen wie bei denen, die über Unbewegliches nachdenken und schlussfolgern. Aber dort ist das Ziel eine theoretische Betrachtung (denn wenn man die beiden Prämissen denkt, denkt man die Konklusion und setzt sie zusammen), hier aber wird die Konklusion aus den beiden Prämissen die Handlung. 3
Beim theoretischen Schließen, sagt Aristoteles hier, besteht kein Unterschied zwischen dem Zusammendenken der Prämissen und dem Einsehen der Konklusion. Die Prämissen verbinden zwei Terme mit demselben Mittelterm, und Pirmin Stekeler-Weithofer: „Denken“, in: A. G. Wildfeuer und P. Kolmer (Hg.): Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Freiburg 2011, S. 502. 2 Pirmin Stekeler-Weithofer: Denken. Wege und Abwege in der Philosophie des Geistes, Tübingen 2012, S. 156. 3 Aristoteles: De Motu Animalium 7, 701a8–13. Übersetzungen sind generell von mir. 1
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wenn man diese Verbindung herstellt, dann denkt man bereits den in der Konklusion ausgedrückten Gedanken. Beim praktischen Schließen, sagt Aristoteles, wird die Konklusion, die aus dem Zusammendenken der Prämissen entsteht, eine Handlung. Es ist nicht ganz klar, ob er damit eine Gemeinsamkeit oder einen Unterschied hervorheben will. Vielleicht will er sagen, dass das Denken der praktischen Prämissen ganz genau so bereits das Ausführen einer Handlung ist, wie das Denken der theoretischen Prämissen bereits das Denken der Konklusion ist. Plausibler scheint aber, hier einen Unterschied zu sehen. Wenn die Konklusion beim praktischen Schluss eine Handlung ist und also mehr als ein Gedanke, dann kann sie nicht bereits durch das Denken der Prämissen erreicht worden sein. Klaus Corcilius geht davon aus, dass sich Handlungen grundsätzlich von Gedanken unterscheiden. Handlungen sind ihm zufolge Bewegungen, Gedanken dagegen Propositionen. Da Bewegungen grundsätzlich anders strukturiert sind als Propositionen, können sie nicht buchstäblich aus Propositionen folgen. Daraus schließt Corcilius, dass Aristoteles in De Motu Animalium gar keine Form des Schließens beschreibt, sondern einen Kausalzusammenhang, der einem Schluss in seiner Struktur ähnelt. 4 Sebastian Rödl und Eric Marcus vermeiden diese Konsequenz, indem sie Handlungen als Gedanken fassen. Rödl erklärt, dass die Konklusion eines praktischen Schlusses ein Gedanke sei, der zugleich eine Bewegung ist: „that practical reasoning concludes in an action means that it concludes in a thought that is a movement“. 5 Marcus schreibt, dass Handlungen eine Sorte von Gedanken seien: „acting-for-a-reason is a distinctive sort of thought“. 6 Wenn es Gedanken gibt, die zugleich Bewegungen sind, dann eignen sie sich hervorragend zur Vermittlung zwischen Denken und Tun. Als Gedanken können sie aus Gedanken folgen, und als Bewegungen können sie Handlungen sein. Die These, dass Handlungen Gedanken sind, kann man dadurch motivieren, dass man Handlungen als Manifestationen des Denkens fasst. Marx sagt bekanntlich, dass das Produkt menschlicher Arbeit nichts anderes sei als vergegenständlichte Arbeit. 7 Da Marx alle menschliche Lebenstätigkeit als eine Form der Arbeit auffasst, liegt es nahe, auch menschliche Handlungen als gegenständliche Resultate von etwas aufzufassen, das selbst nicht derart gegenständlich ist. So, wie eine Ware vergegenständlichte Arbeit ist, könnte man Klaus Corcilius: Streben und Bewegen, Berlin 2008, S. 313. Sebastian Rödl: Self-Consciousness, Cambridge MA 2007, S. 19. 6 Eric Marcus: Rational Causation, Cambridge MA 2012, S. 91. 7 Karl Marx: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte, in: Marx Engels Werke, Bd. 40, Berlin 1968, S. 511–2. 4 5
Denken als Probehandeln
dann eine Handlung als einen veräußerten Gedanken auffassen. Das muss man wörtlich nehmen, um den philosophischen Nutzen zu sehen. Es geht nicht nur darum, dass eine Handlung das wahr macht, was ein Gedanke beschreibt. Die Idee ist, dass Absicht und Handlung so etwas wie verschiedene Aggregatzustände ein und derselben Sache sind. So wie das Produkt der Arbeit als solches nichts anderes ist als Arbeit „in geronnenem Zustand“, 8 so wäre eine Handlung nichts anderes als ein Gedanke in sozusagen verfestigter Form. Michael Quante sieht in Marx’ Rede von der geronnenen Arbeit einen Spezialfall dessen, was er Hegels „Vergegenständlichungsmodell des Handelns“ nennt. 9 Meines Wissens sagt Hegel nirgends einfach und geradeheraus, dass Handlungen vergegenständlichte Gedanken seien. Immerhin beschreibt er das Handeln aber als „Äußerung des Willens“, 10 und er sagt, dass in Sprache, Arbeit und Handlung „das Innere selbst … ausbricht“. 11 Und er betont dabei eben das, worauf es auch Rödl und Marcus ankommt: Der Inhalt des vorgestellten Zwecks, sagt er, unterscheide sich in nichts vom Inhalt der ausgeführten Handlung. 12 Hegel hebt aber auch hervor, dass der Gegenstand des Tuns, die vollbrachte Tat, „nicht mehr Zweck, dessen das Tuende unmittelbar als des seinigen sich bewußt ist, sondern […] aus ihm heraus und für es als ein Anderes ist“. 13 Wie er in den Grundlinien schreibt, ist die Handlung, „als der in die Äußerlichkeit gesetzte Zweck, den äußerlichen Mächten preisgegeben, welche ganz anderes daran knüpfen, als sie für sich ist, und sie in entfernte, fremde Folgen fortwälzen“. 14 Es gibt also natürlich einen Unterschied zwischen einem vorgestellten Zweck und seiner Umsetzung: Das Tun also, als vollbrachtes Werk, hat die doppelte, entgegengesetzte Bedeutung, entweder die innere Individualität und nicht ihr Ausdruck oder als Äußeres eine von dem Innern freie Wirklichkeit zu sein, welche ganz etwas anderes ist als jenes. 15
Karl Marx: Das Kapital I (Marx Engels Werke, Bd. 23), Berlin 1962, S. 65. Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte. Kommentar von Michael Quante, Frankfurt/M. 2015, S. 236. Vgl. Ernst Michael Lange: Das Prinzip Arbeit, Frankfurt/M. 1980, S. 123. 10 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, (Werke [Suhrkamp], Bd. 7), Frankfurt/M. 1986, § 113, S. 211. 11 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes (Werke [Suhrkamp], Bd. 3), Frankfurt/M. 1986, S. 235. 12 Ebd., S. 295. 13 Ebd., S. 295. 14 Hegel: Grundlinien § 118, S. 218. 15 Hegel: Phänomenologie, S. 235. 8 9
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Im Zuge ihrer Ausführung zerfällt eine Handlung demnach in eine innere Absicht und eine äußere Bewegung. Absicht und Bewegung sind einander entgegengesetzt: Die Absicht ist nicht ihr Ausdruck, und die Bewegung ist eine von der Absicht freie und ganz andere Wirklichkeit. Von diesen beiden Dingen muss man erst einmal zeigen, dass sie derart zusammengehören, dass man von einem Gedanken sprechen kann, der zugleich eine Bewegung ist. Das betrifft auch Anscombes Slogan, „I do what happens“. 16 Sie meint damit, dass das, was wir über unser eigenes Handeln ohne Beobachtung wissen können, im Erfolgsfall eben dasselbe sein muss, was wir auch beobachten können. Wie sie aber sofort hinzufügt, macht gerade das ihren Slogan mysteriös. Denn Wissen ohne Beobachtung kommt offenbar ganz anders zustande als Wissen durch Beobachtung, und die beiden Formen des Wissens unterliegen sehr verschiedenen Standards. Um den Anschein zu widerlegen, die beiden Formen des Wissens müssten also auch ganz verschiedene Gegenstände haben (wie etwa Gedanken einerseits und Bewegungen andererseits), muss man zeigen, dass und wie sie denselben Gegenstand haben können. Anscombe tut das unter anderem durch eine Diskussion des praktischen Schließens.
2. Wie können wir Handlungen in Gedanken Proben?
Ich möchte nun vorschlagen, die Fragerichtung umzukehren. Statt zu fragen, wie eine Handlung die Umsetzung unseres Denkens sein kann, sollten wir fragen, wie und warum man eine Handlung im Denken vorwegnehmen kann. Das ist die Frage, von der Stekeler-Weithofer zu Beginn seines Artikels über das Denken sagt, dass sie das Denken zum Thema der Philosophie macht: Gemeinsam ist diesen [lebensweltlichen] Vorstellungen vom Denken ein Vorausberechnen und Vorhersagen, selbst dort, wo man eine Absicht ausdrückt, indem man etwa sagt, man (ge)denke, dieses oder jenes zu tun. Das Denken als Phänomen und Begriff wird insbesondere dadurch zum Thema der Philosophie, dass wir darüber nachdenken, wie dieses Vorhersagen möglich wird. 17
Die philosophische Auseinandersetzung mit dieser Frage könnte ihren Anfang bei einer These nehmen, die Freud in Angst und Triebleben (1933) wie folgt formuliert:
16 17
Elizabeth Anscombe: Intention, Cambridge MA 2000, § 29, S. 53. Stekeler-Weithofer: Denken (2011), S. 492; vgl. Stekeler-Weithofer: Denken (2012), S. V.
Denken als Probehandeln
Das Denken ist ein probeweises Handeln mit kleinen Energiemengen, ähnlich wie die Verschiebungen kleiner Figuren auf der Landkarte, ehe der Feldherr seine Truppenmassen in Bewegung setzt. 18
Freud geht es hier nicht darum, einen logischen Zusammenhang zwischen Gedanken und Handlungen zu begründen. Sein Ziel ist, den Hörern seiner Vorlesung seinen Gebrauch des Verdrängungsbegriffs durch den Hinweis schmackhafter zu machen, dass das ganz normale Denken dem Verdrängen ähnelt. Denn in beiden Fällen geht es ihm zufolge darum, die unmittelbare Äußerung eines Triebes zu verhindern. Bei der Verdrängung blockiert das Ich einen Trieb, den es nicht integrieren kann, und beim Denken hemmt das Ich einen Trieb, bis es eine Verwendung für ihn hat. Freud greift hier auf eine Theorie des Denkens zurück, die er schon im Entwurf einer Psychologie (1895) entwickelt hatte. Grob gesagt sieht er dort das Gehirn als Organ an, das die unmittelbare Abfuhr von Bewegungsimpulsen hemmt. Wenn ein Wunsch und eine Wahrnehmung unmittelbar zusammenpassen, wenn also das Gewünschte unmittelbar greifbar ist, ist eine sofortige Umsetzung der Wunschenergie in Bewegungen angemessen. Wenn Wunsch und Wahrnehmung einander aber nur teilweise entsprechen, ist es oft besser, die Wunscherfüllung erst einmal zu hemmen und dafür zu sorgen, dass die Wahrnehmung dem Wunsch genauer entspricht. 19 Dafür sorgt in Freuds späteren Schriften das Realitätsprinzip. Die Energie, deren Abfuhr derart gehemmt wird, kann nun dafür verwendet werden, mögliche Handlungsabläufe zu antizipieren, durch die Wahrnehmung und Wunsch in Übereinstimmung gebracht werden können, so dass als Resultat dieses Handelns das Gewünschte unmittelbar erreichbar ist. Das wirkliche Handeln besteht dann in einer verstärkten Energieabfuhr, die denselben Weg nimmt wie das Denken: Das Handeln können wir uns nun aber nicht anders vorstellen als die Vollbesetzung jener Bewegungsbilder, die beim Denkvorgang hervorgehoben worden sind, […] 20
Die Idee ist hier also bereits, dass eine Handlung deshalb die Umsetzung eines Gedanken sein kann, weil der Gedanke nichts anderes war als eine Vorwegnahme dieser Handlung. In der Traumdeutung (1900) spricht Freud dann auch 18
Sigmund Freud: Angst und Triebleben, in: Gesammelte Werke, Bd. XV, London 1940,
S. 96. Sigmund Freud: Aus den Anfängen der Psychoanalyse. Frankfurt: Fischer Verlag 1950, S. 334. Zur Vorgeschichte vgl. Malcolm Macmillan, „Nineteenth-Century Inhibitory Theories of Thinking: Bain, Ferrier, Freud (and Phineas Gage)“, History of Psychology 3(3), 2000, 187– 217. 20 Ebd., S. 384. 19
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von probender Denkarbeit, 21 und in den Formulierungen über die zwei Prinzipien (1911) schreibt er, das Denken sei „im wesentlichen ein Probehandeln mit Verschiebung kleinerer Besetzungsquantitäten, unter geringer Verausgabung (Abfuhr) derselben“. 22 In Die Verneinung (1925) beschreibt er das Denken zudem als „motorisches Tasten“. 23 Wenn das Denken ein Erkunden und Ertasten eines Bewegungsspielraums ist, dann ist leicht einzusehen, wie etwas zugleich ein Gedanke und eine Bewegung sein kann. Denn Handlungen und Gedanken müssen dann Vorgänge derselben Art sein. Erstens müssen sie, wenn Freud recht hat, einander in ihrer Struktur hinreichend ähneln. Denn der Feldherr bewegt seine Figuren, um zu ermitteln, wie sich seine Soldaten am besten bewegen sollten. Wenn er dies ermittelt hat, dann wird er die Truppen in eben der Weise in Bewegung setzen wollen, die er mit den Figuren ausprobiert hat. Damit das funktioniert, müssen die Figuren zwar nicht den Soldaten ähneln, aber die Anordnung und Bewegung der Figuren muss sich durch eine bestimmte Anordnung und Bewegung der Soldaten eindeutig nachbilden lassen. Wenn das Denken sich also so zum Handeln verhält, wie sich die Anordnung und Bewegung der Figuren zur Anordnung und Bewegung der echten Truppen verhält, dann sollten Gedanken die Struktur von Handlungen aufweisen. Gedanken müssen dann, wie Freud sagt, in erster Linie Bewegungsbilder sein. Zweitens: Wenn das Denken ein probeweises Handeln ist, dann sind Gedanken Handlungen (nämlich probeweise Handlungen). Nicht etwa deshalb, weil wir bei jedem Denken so etwas wie Denkhandlungen ausführen, sondern deshalb, weil jedenfalls die Gedanken, um die es hier geht, das Handeln proben und weil man eine Sache dadurch probt, dass man eben diese Sache probeweise realisiert. Wenn das so ist, dann ist ein Gedanke in demselben Sinn eine Handlung, in dem eine Theaterprobe eine Aufführung ist. Und das bedeutet: Wenn Gedanken logisch aus anderen Gedanken folgen können, dann müssen auch Probehandlungen logisch aus anderen Probehandlungen folgen können. Und wenn das so ist, dann sollte das daran liegen, dass die Handlungen, die da geprobt werden, in entsprechender Weise auseinander logisch folgen können. Es muss also eine Logik des Handelns geben, die der Logik des Denkens entspricht. Wenn Freud recht hat, sollte diese Logik des Handelns sogar das Vor-
Sigmund Freud: Traumdeutung (Gesammelte Werke, Bd. II), London 1942, S. 605. Sigmund Freud, Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens, in: Gesammelte Werke, Bd. VIII, London 1943, S. 233. 23 Sigmund Freud, Die Verneinung, in: Gesammelte Werke, Bd. XIV, London 1948, S. 14. 21 22
Denken als Probehandeln
bild der Logik des Denkens sein. Denn das Ziel des Denkens ist es dann ja, die Logik des Handelns zu antizipieren. Das alles würde gut zu dem passen, was Aristoteles in Buch Zeta der Metaphysik über das handlungsvorbereitende Denken sagt: Da dies Gesundheit ist, muß, wenn Gesundheit sein soll, jenes vorliegen, zum Beispiel Gleichmaß, und wenn dieses [sein soll], dann auch Wärme. [Der Arzt] denkt auf diese Weise immer weiter, bis er die Reihe zu etwas hingeführt hat, das er schließlich selbst hervorbringen kann. 24
Hier wird nicht etwa eine Handlung aus Wünschen und Überzeugungen hergeleitet, sondern es werden Zwecke andern Zwecken untergeordnet. 25 Da diesen Zwecken (z. B. der Wärme) aber unmittelbar diejenigen Handlungen entsprechen, durch die sie erreicht werden können (also das Erwärmen), werden hier letztlich verschiedene Handlungstypen aufeinander bezogen. 26 Eine Weise, den Patienten zu heilen, ist, Gleichmaß herzustellen; eine Weise, dies zu tun, ist, den Patienten zu wärmen, und das wiederum kann durch Massage erreicht werden. 27 Also ist Massieren, in diesem Kontext, eine mögliche Weise des Heilens. Das ist ein Zusammenhang zwischen Handlungstypen und ihren Teilen. Dass die Handlungsformen des Massierens, Erwärmens und Heilens sich derart zueinander verhalten, wird durch ein probendes Erkunden von Handlungsoptionen ermittelt. Das hat auch Anscombe im Sinn, wenn sie sagt, dass der praktische Syllogismus letztlich dieselbe Ordnung beschreibt, die sie in § 23 von Intention schildert. 28 Nur weil, in ihrem Beispiel, eine bestimmte Armbewegung in einem bestimmten Kontext in der Tat dasselbe ist wie das Pumpen von Wasser, kann man sich vorab oder im Nachhinein überlegen, dass das Ziel des Wasserpumpens durch diese Armbewegung erreicht werden kann. Das betrifft möglicherweise nicht alle Formen des Denkens. Es dürfte gut sein, darauf wenigstens einmal hinzuweisen. Wie Aristoteles ja auch betont, denken wir oft über unbewegliche Dinge nach, welche nicht durch unser Handeln beeinflussbar sind. Diese Art des Denkens wird man vielleicht dadurch zu einer Form des Probehandelns machen können, indem man es als Probesprechhandeln rekonstruiert. Es ist aber nicht klar, wozu das gut sein sollte. Warum sollten wir alle Formen des Denkens auf einen einfachen Nenner bringen? Darum soll es hier jedenfalls nicht gehen. Hier soll es um das handlungs24 25 26 27 28
Aristoteles: Metaphysik Z 7, 1032b6–8. Vgl. Stekeler-Weithofer: Denken (2012), S. 176. Ebd., S. 155. Vgl. Aristoteles: Metaphysik Z 7, 1032b26. Anscombe: Intention § 42, S. 80.
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vorbereitende Denken gehen und um die Frage, ob sich die logische Struktur von Handlungen aus der logischen Struktur dieser Form des Denkens herleitet oder umgekehrt.
3. Handlungsschemata
An dieser Stelle sollten wir kurz fragen, warum es eigentlich eine Logik des Denkens geben kann. Einfach gesagt ist das so, weil Gedanken eine formale, bei Austausch des Inhalts wiederholbare Struktur aufweisen. In einem einfachen Gedanken der Form „Dieses ist (nicht) so und so“ wird zum Beispiel etwas von etwas gesagt oder verneint. Solche Gedanken zerfallen in zwei Teile: das, wovon etwas gesagt wird („Dieses“), und das, was davon gesagt oder verneint wird („so und so“). Diese Teile verbinden wir in einem einfachen Gedanken auf eine bestimmte Weise, die dann den realen Verhältnissen entsprechen kann oder nicht. Entsprechendes gilt für komplexe Gedanken, deren Teile Gedanken sind. Wenn Handlungen in gleicher Weise in Teile zerlegbar wären, die dann durch den Vollzug dieser Handlungen aufeinander bezogen werden, dann wäre schon viel gewonnen. Freuds Beispiel legt nahe, dass es so ist. Der Feldherr kann eine Kriegshandlung nur deshalb planen, weil diese Handlung als solche in Teile und Strukturen zerlegbar ist, die sich in einer Weise zueinander verhalten, die man mit Figuren auf einer Karte antizipieren kann. Allgemeiner gilt, dass wir unsere Handlungen nur deshalb in Gedanken proben können, weil sie in handelnde Personen und wiederholbare Handlungsformen zerlegbar sind, so dass andere Personen Handlungen derselben Form ausführen können. Drei Weisen der Formgebung sind hier relevant. Erstens gibt es Handlungen, in denen ein Gegenstand in gewisser Weise geformt wird. Die Handlung besteht dann darin, diesen Gegenstand zu einem einzelnen Fall einer allgemeinen Form zu machen. Zweitens gibt jede handelnde Person dem, was sie tut, eine gewisse Form. Sie tut etwas, das im Prinzip auch andere Handelnde tun könnten. Um diese Art der Formgebung geht es zum Beispiel Annette Baier, wenn sie sagt, dass Handlungen immer Ausübungen von Kompetenzen sind. 29 Handlungen unterscheiden sich unter anderem dadurch von beliebigen Bewegungen, dass sie ein- und ausgeübt, gelernt und gelehrt werden können und also prinzipiell Fälle wiederholbarer und übertragbarer Handlungsformen
29
Annette Baier: Postures of the Mind, Minneapolis 1985, S. 13.
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sind. 30 Drittens gibt sich jede handelnde Person durch ihr Handeln selbst als Fall einer allgemeinen Form zu erkennen. Das meint Hannah Arendt, wenn sie schreibt, dass wir im Handeln uns selbst kommunizieren. 31 Wenn das so ist, dann stellt eine Handlung eine Beziehung „in der Sache“ her, wie Hans Aebli sagt, die ein Gedanke dann auch im Denken herstellen kann. 32 Im Denken bringen wir, unter anderem und etwas vereinfachend gesagt, einzelne Dinge, Bewegungen, oder Personen unter allgemeine Formen. In einer Handlung wird eine allgemeine Handlungsform dadurch realisiert, dass eine einzelne Person (oder eine Gruppe einzelner Personen) sie umsetzt, und manchmal wird zudem ein einzelner Gegenstand mit einer allgemeinen Form versehen. Das Denken ist, so gesehen, eine höher entwickelte Form dessen, was wir im Handeln tun. Denn Kombinieren kann man ja auch konkrete Dinge und Bewegungen, nicht nur Worte oder Begriffe. Die Fähigkeit zu denken beruht dann im Grunde auf der Fähigkeit, Dinge und Formen miteinander zu verbinden, also etwa mit Puppen zu spielen, Schuhe anzuprobieren, Kochrezepte zu variieren, oder Tanzschritte nachzuahmen. Diese Fähigkeit, allgemeine Strukturen von einem konkreten Kontext auf einen anderen zu übertragen, üben wir nicht nur im Denken, sondern auch im Handeln aus. Aebli geht deshalb so weit, Handeln als kognitiven Prozess zu bezeichnen: Die einfachsten kognitiven Prozesse, die wir noch nicht Denken nennen, stellen nichts anderes als ein bewußtes, d. h. aufmerksames Wahrnehmen und Handeln dar. 33
Wenn Aebli in diesem Kontext vom bewussten und aufmerksamen Handeln spricht, dann kann er nicht meinen, dass dieses Handeln bereits von einem Denken begleitet ist. Denn es geht ihm ja um Prozesse, „die wir noch nicht Denken nennen“. Wenn er von „kognitiven“ und „bewussten“ Vorgängen spricht, meint er wahrscheinlich im weiteren Sinne Prozesse, in denen wir Dinge mit Dingen kombinieren und dadurch Einzelfälle als Fälle derselben allgemeinen Form behandeln, oder eine allgemeine Form im Einzelnen umsetzen. Solches Kombinieren erfordert eine Art Möglichkeitssinn. Ebenso wie die handelnde Person mit dem Kontrast zwischen einer allgemeinen Form und ihren einzelnen Instanzen umgehen können muss, kann sie auch erst dadurch überhaupt Dinge mit Formen oder mit anderen Dingen kombinieren, dass sie einen Kontrast zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen sieht und als
30 31 32 33
Vgl. Stekeler-Weithofer: Denken (2012), S. 104. Hannah Arendt: The Human Condition, Chicago 1958, S. 176. Hans Aebli: Denken: Das Ordnen des Tuns, Stuttgart 1980–81, Bd. II, S. 312. Ebd., Bd. I, S. 20.
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solchen behandelt. 34 Und dass sie diesen Kontrast als solchen behandelt, kann durchaus wörtlich verstanden werden: Sie repräsentiert ihn noch nicht notwendig explizit im Denken, sondern orientiert sich an ihm im Handeln. Wir werden also sagen wollen, dass wir unser Handeln deshalb im Denken planen und kontrollieren können, weil die Art von Denken, die hier relevant ist, ihren Ursprung in der Antizipation von Handlungen hat und weil Handlungen auch dann, wenn sie noch nicht aus Gedanken resultieren, in wiederholbare Strukturen und deren jeweilige Bestandteile zerlegbar sind. Aebli sagt genauer, worum es sich bei diesen Strukturen und Bestandteilen handelt: Handlungen, sagt er, sind Verwirklichungen von Handlungs-Schemata durch einzelne „Teilnehmer“. Zu den Teilnehmern zählt er dabei die handelnde Person x, aber zum Beispiel auch ein Werkzeug w, das sie verwendet, das Material m, das sie bearbeitet, und das Produkt p, das sie erzeugt. Das Schema H verbindet diese Einzeldinge dann so zu einem Ganzen, wie es auch ein mehrstelliges Prädikat tut: H (x,w,m,p). 35 Man kann ein solches Schema als Diagramm darstellen, und man kann x,w,m und p als Platzhalter behandeln, an deren Stelle man unter bestimmten Bedingungen andere Dinge setzen kann. Eine andere Person kann das Gleiche tun, dieselbe Person kann ein anderes Material verwenden, und so weiter. Wenn man so ersetzt, bleibt die allgemeine Struktur der Handlung erhalten. Eine solche kombinatorische Leistung kann man „in der Sache“ vollbringen, indem man wirklich ein Ding an die Stelle eines anderen setzt, bevor man dann lernt, dieselbe Leistung schneller, flexibler und gefahrloser im Denken zu vollbringen. Dieser Gedankengang ist dem folgenden Einwand ausgesetzt: Wenn Aebli vom bewussten und aufmerksamen Handeln spricht, dann verrät er, dass man eben doch erst dann zwischen Handlungs-Schemata und Teilnehmern unterscheiden kann, wenn man das, was man tut, vorab im Denken repräsentiert. Um diesem Einwand zu begegnen, werden wir zeigen müssen, dass und wie es auch ohne das Denken zu einer praktischen Unterscheidung zwischen Schemata und Teilnehmern kommen kann. Dabei könnte eine Überlegung helfen, die Donald Davidson unter dem Stichwort „Triangulation“ ins Spiel bringt.
Jean Piaget und Bärbel Inhelder: The Growth of Logical Thinking from Childhood to Adolescence, New York 1958, S. 254. 35 Aebli: Denken, Bd. I, Kap. IV. 34
Denken als Probehandeln
4. Triangulation
Davidsons Grundgedanke ist, dass man durch soziale Koordination und Interaktion bestimmte Fähigkeiten erwerben und praktizieren kann, die zwar eine wesentliche Vorstufe des Denkens darstellen, aber selbst noch kein Denken sind: There is a pre-linguistic, pre-cognitive situation I can describe which seems to me to constitute a necessary condition for thought and language, a condition that can exist independent of thought, and can therefore precede it. Both in the case of non-human animals and in the case [of ] small children, it is a condition that can be observed to obtain. The basic situation is one that involves two or more creatures simultaneously in interaction with each other and with the world they share; it is what I call triangulation. It is the result of a threefold interaction, an interaction which is twofold from the point of view of each of the two agents: each is interacting simultaneously with the world and with the other agent. To put this in a slightly different way, each creature learns to correlate the reactions of the other with changes or objects in the world to which it also reacts.36
Davidson betont zwar, dass es so etwas wie eine Ontologie, in der sich etwa Handelnde und ihre Werkzeuge explizit von den Handlungen unterscheiden ließen, in die sie verwickelt sind, erst für solche Wesen geben kann, die über eine Sprache verfügen, die wenigstens so ausdrucksstark ist wie die Prädikatenlogik. 37 Es stimmt auch, dass man den Umstand, dass eine Handelnde y an die Stelle einer Handelnden x treten kann, erst mit den Mitteln einer solchen Sprache repräsentieren kann. Dass man so etwas erst mit den Mitteln einer hinreichend komplexen Sprache darstellen kann, bedeutet aber nicht, dass man es nicht bereits vorher tun und lernen kann. Vielleicht lernen wir also durch Triangulation, mit wiederholbaren und kombinierbaren Handlungsformen umzugehen, und vielleicht lernen wir erst in einem weiteren Schritt, diesen Umgang mit Handlungsformen im Denken zu antizipieren. Stekeler-Weithofer sieht das möglicherweise nicht so. Er schreibt: Bevor wir handeln können, müssen wir die Handlung in ihrem Typus nicht bloß praktisch kennen, sondern beurteilen können. Dazu muss sie außerhalb der bloßen Aktualisierung vorzugsweise sprachlich repräsentiert werden können.38
Donald Davidson: “The Emergence of Thought”, in: Erkenntnis 51.1 (1999), S. 7–17, S. 12. Ebd., S. 17. 38 Pirmin Stekeler-Weithofer: „… und schreib getrost ‚Im Anfang war die Tat‘“, in: Thomas Mohrs, Andreas Roser und Djavid Salehi (Hg.), Die Wiederkehr des Idealismus? Frankfurt/M. 2004, S. 301. 36 37
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Es ist nicht ganz klar, ob er damit sagen will, dass nur solche Personen handeln können, die das, was sie tun, bereits auch selbst sprachlich artikulieren können. Er könnte genauso gut meinen, dass alles das, was man im Handeln tut, im Prinzip auch irgendwann von irgendjemandem sprachlich artikuliert werden kann. Und das auch nur vorzugsweise, d. h. andere Medien der Artikulation sind denkbar. Insbesondere könnte das Handeln selbst ein Medium sein, in dem die Strukturen des Handelns artikuliert werden können. Das tun wir ja beim Puppen- und Rollenspiel. Anscheinend hält Stekeler-Weithofer aber die Repräsentation, wie auch immer sie erfolgt, für unverzichtbar. Dazu würde die Definition des Probehandelns passen, die Hans Ueckert vorschlägt: Probehandeln ist, ganz allgemein betrachtet, das gedankliche Durchspielen von Handlungsmöglichkeiten an anschaulich gebundenen Vorstellungsinhalten oder ‚mentalen Modellen‘. 39
Es ist aber durchaus fraglich, ob man zum Probehandeln wirklich mentale Modelle braucht. Wenn wir, wie Heidegger so schön zeigt, kein mentales Modell des Züricher Hauptbahnhofs brauchen, um in Zollikon an ihn zu denken, 40 dann brauchen wir auch keines, um denkend den Handlungsspielraum zu erkunden, den er bietet. Heideggers Hinweis ist wichtig. Es ist bekanntermaßen ein Vorurteil, dass wir nur das erleben und begreifen können, was wir durch mentale Stellvertreter repräsentieren können. Dass eine solche Annahme im Fall der Wahrnehmung keinen Sinn macht, ist schon länger klar. Wenn wir eine Sache wahrnehmen, dann tun wir das nicht dadurch, dass wir eine mentale Repräsentation dieser Sache betrachten. Wir tun es einfach dadurch, dass wir eben diese Sache betrachten. Heidegger geht einen Schritt weiter, indem er sagt, dass wir nicht einmal dann, wenn wir uns eine Sache vorstellen, eine mentale Repräsentation dieser Sache betrachten. Auch hier betrachten wir, wenn auch nicht in derselben Weise wie bei der Wahrnehmung, die Sache selbst. Entsprechendes sollte auch beim Probehandeln gehen. Ein Handlungsspielraum kann uns einfach dadurch gegeben sein, dass wir uns handelnd und probehandelnd in ihm selbst, und nicht in einer ihn vertretenden Simulation, zurechtfinden. In dieser Weise können Handlungsschemata bereits dann schon als solche verfügbar sein, wenn wir sie wiederholt und flexibel ausüben können. Wir können dann mit ihnen umgehen, ohne sie symbolisch zu artikulieren. Die Hans Ueckert „Denken als Probehandeln“, in: W. Schönpflug (Hg.), Bericht über den 36. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Berlin 1988, Göttingen 1989, S. 385. 40 Martin Heidegger: Zollikoner Seminare (Gesamtausgabe, Bd. 89), Frankfurt/M. 1987, S. 87. 39
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Artikulation eines Handlungsschemas wäre dann einfach dasselbe wie seine wiederholbare Ausführung. Das scheint auch Stekeler-Weithofer an einer Stelle so zu sehen: Und doch sprechen wir in der Regel erst dann davon, dass einer die Handlung X ausführt, wenn er in der Lage ist, sein Tun als Aktualisierung des Handlungsschemas X zu verstehen – was er uns natürlich auch ‚exemplarisch‘, etwa durch Vorführungen, und nicht bloss ‚verbal‘ zeigen könnte. 41
Das ist der Verdacht, dem ich hier nachgehe. Wir können auch durch Vorführungen unter Beweis stellen, dass wir ein Handlungsschema als solches verstehen. Das Medium, in dem uns dieses Schema gegenwärtig ist, kann einfach das Handeln selbst sein. Es könnte also durchaus so sein, dass wir zuerst das probeweise Handeln lernen und später dann den Umgang mit sprachlichen oder anderweitig symbolischen Repräsentationen. Damit zurück zu Davidson. Wir lernen den Umgang von Handlungsschemata, indem wir lernen, andere in bestimmter Weise nachzuahmen. Und was wir praktisch können müssen, um andere Handelnde nachzuahmen oder zu vertreten, ist das, was Davidson als Triangulation bezeichnet. Das heißt: wir müssen Beziehungen eingehen können, die zwischen wenigstens drei Elementen bestehen, nämlich (1) uns selbst, (2) einer Sache und (3) einer anderen Person, die sich auf dieselbe Sache bezieht. Im Fall der Wahrnehmung müssen wir uns zum Beispiel auf eine Person beziehen können, die dieselbe Sache wahrnimmt wie wir. Auf diese Weise können wir dann gegebenenfalls zwischen subjektiven Eindrücken und objektiven Erscheinungen unterscheiden. Was das Handeln angeht, ermöglicht unser Bezug auf andere Subjekte keine Unterscheidung zwischen subjektiver Vorstellung und objektiver Realität, sondern genau die Unterscheidung, auf die es uns hier ankommt: die Unterscheidung zwischen wiederholbaren, lehrund lernbaren Handlungs-Schemata und den Teilnehmern, die diese Schemata jeweils realisieren. Denn wenn wir sozusagen praktisch triangulieren, behandeln wir die zweite Person nicht als eine, die dasselbe wahrnimmt wie wir, sondern als eine, die dasselbe tut wie wir. Dazu müssen wir eine Beziehung eingehen können, die zwischen (1) uns selbst, (2) anderen Handelnden und (3) einer Handlungsform besteht, die wir selbst und die anderen gleichermaßen realisieren können. Was wir dadurch verobjektivieren, ist die Handlungsform. Wenn Davidson recht hat, muss man nicht bereits denken können, um zu triangulieren. Also muss man nicht denken können, um das zu können, was Aebli als bewusstes Handeln bezeichnet. Aebli stiftet vielleicht ein wenig Ver41
Stekeler-Weithofer: Handlung, Sprache und Bewusstsein, S. 258.
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wirrung, indem er fraglos davon ausgeht, dass die Prädikatenlogik (die er als Aussagenlogik bezeichnet) die logische Form von Handlungen beschreibt. Wenn wir etwas vorsichtiger sind, dann beginnen wir zwar mit der Idee, dass einzelne Handlungen sich ungefähr so zu lernbaren Schemata verhalten, wie sich Prädikate zu den Dingen verhalten, auf die sie zutreffen. Wenn wir das Denken als Probehandeln auffassen wollen, sollten wir aber nicht davon ausgehen, dass erst das sprachlich verfasste Denken, die Anwendung von Prädikaten auf Dinge, diese Struktur ermöglicht. Prädikation und Aussage sind gegenüber dem Verhältnis von Handlungsform zu Handlung sekundär. Sie bilden dieses Verhältnis ab, aber das bedeutet nicht, dass das Verhältnis selbst eines der Prädikation ist. Handlungen sind nicht buchstäblich propositional strukturiert. Sie sind sozusagen, mit Hector-Neri Castañeda gesprochen, praktitional strukturiert. 42 Die propositionale Struktur der Rede leitet sich aus der ursprünglicheren praktitionalen Struktur des Handelns ab. Die Aussage ist, wie Heidegger sagt, ein „abkünftiger Modus der Auslegung“. 43
5. Empraktisches Formenwissen
Was folgt aus all dem für die Frage, wie unser Handeln und Denken zusammenhängen? Ich habe für die These plädiert, dass Handlungen ebenso wie Gedanken eine logische Struktur aufweisen, da sie in wiederholbare Handlungs-Schemata und deren Teilnehmer zerlegt werden können. Ich habe außerdem darauf hingewiesen, dass die Fähigkeit, solche Schemata zu wiederholen, nachzuahmen und zu variieren, zwar soziale Interaktion und Koordination voraussetzt, aber noch keine sprachliche oder symbolische Repräsentation. Nach dem, was ich gesagt habe, liegt es nahe, anzunehmen, dass die prädikative Form von Gedanken letztlich auf der Wiederholbarkeit von Handlungen beruht und nicht umgekehrt. In jedem Fall besteht dadurch, dass eine (bewusste und aufmerksame) Handlung immer die Umsetzung eines allgemeinen Schemas darstellt, eine direkte Analogie zwischen dem Umstand, dass eine Handelnde x eine Handlung H ausführt, und der Behauptung, dass x die Handlung H ausführt. Deshalb kann Castañeda auch in beiden Fällen mit Recht von einer kopulativen Verknüpfung sprechen. 44 Wenn ich Stekeler-Weithofer richtig verstehe, hat er das auch schon immer so gesehen. Wer ihn kennt, der hat das schon geahnt: Wie der Igel im Märchen Hector-Neri Castañeda: „The Twofold Structure and the Unity of Practical Thinking“, in: Myles Brand und Douglas Walton (Hg.), Action Theory, Dordrecht 1976, S. 106. 43 Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1967, S. 153. 44 Castañeda: The Twofold Structure, S. 108. 42
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ist Stekeler-Weithofer immer schon da gewesen, wo sich unsereins mühsam hinargumentiert. Er schreibt: Es ist […] zwar richtig, dass der Mensch ein Lebewesen (animal ) ist, das besondere geistige Fähigkeiten hat. Es sind diese Fähigkeiten aber im wesentlichen solche des Lernens, an gemeinsamen Handlungsformen teilzunehmen. Alles Geistige ist am Ende Formenreproduktion. 45
Nun legt Stekeler-Weithofer mitunter auch nahe, dass man einen Handlungsspielraum nur dann erkunden kann, wenn man ihn symbolisch repräsentiert, und dass jede solche Repräsentation letztlich eine Form von Sprachgebrauch ist: Einen Zugang zu Möglichkeiten gibt es nur über die Sprache bzw. den symbolischen Gebrauch von Bildern. Dabei ist der Umgang mit reproduzierbaren Bildern durchaus, wie im Cartoon, als eine Variante des Sprachgebrauchs zu deuten. 46
Vielleicht ist er mir hier noch einen Schritt voraus. Dass der symbolische Gebrauch von Bildern eine Variante des Sprachgebrauchs ist, möchte ich nicht bestreiten. Mir scheint aber, dass man Möglichkeiten auch einfach dadurch erkunden kann, dass man sie ausprobiert. Das kann man natürlich nur in dem Maße, in dem man dasselbe mehrmals tun kann, denn wenn man das nicht könnte, könnte man immer nur die Wirklichkeit ausprobieren. Man muss also Handlungsformen als solche behandeln und reproduzieren können. Aber das kann man, wie Stekeler-Weithofer gerne sagt, vielleicht auch empraktisch, also ohne symbolischen Gebrauch von Bildern. Wenn Stekeler-Weithofer ansonsten Recht hat, dann bliebe es dennoch dabei, dass Tiere nicht im vollen Sinne handeln können. Denn dann können sie, anders als Davidson meint, nicht wirklich triangulieren: Bei Tieren, zum Beispiel, gibt es nach allem, was wir wissen, keine Praxis des gemeinsam kontrollierten Perspektivenwechsels, […]. 47
Es ist natürlich wichtig, auf den engen Zusammenhang zwischen Sprechen, Denken und Handeln hinzuweisen. Wenn das Ziel des Denkens das Erkunden von Handlungsspielräumen ist, dann kann es dieses Ziel nur sehr unvollkommen, und in vielen Fällen gar nicht, ohne symbolische und sprachliche Repräsentation erreichen. Man kann offenbar nicht alles mit echten Dingen ausprobieren, bevor man es tut. Und natürlich kann man ohne Sprache nicht das 45 46 47
Stekeler-Weithofer: Denken (2012), S. 60. Ebd., S. 74 und 218. Ebd., S. 180.
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Boris Hennig
Rechtfertigen und Begründen von Handlungen proben, und das gehört zur höheren Handlungskompetenz dazu. 48 Ohne Sprache kann man also nicht im vollen Sinne denken und also nicht im vollen Sinne handeln. Wozu ist es gut, dennoch (probeweise) ein Primat des Handelns vor dem Denken zu behaupten? Wenn man das Denken als Probehandeln fasst, kann man besser verstehen, wie das Handeln aus dem Denken folgen kann. Wenn wir etwas proben, dann müssen wir es natürlich nicht auch ausführen. Also folgt die Ausführung einer Handlung nicht logisch aus ihrer gedanklichen Erprobung. Auf die Generalprobe muss keine Uraufführung folgen. Wenn der praktische Schluss von Probehandlungen zu tatsächlich ausgeführten Handlungen führt, dann ist er offenbar nicht logisch zwingend. Es ist aber nicht so, wie Corcilius meint, dass die Prämissen und die Konklusion des praktischen Schlusses radikal voneinander verschiedene Phänomene sind. Wenn die Prämissen die Konklusion proben, dann müssen sie unter Formerhalt in die Konklusion überführbar sein. Die Prämissen (Gedanken) und die Konklusion (Handlung) müssen auf dieselbe Weise logisch strukturiert sein. Wenn Gedanken Probehandlungen sind, ist das ohne weiteres einsehbar. Probe und Ausführung können sogar ganz nahtlos ineinander übergehen. Wir können den Bau eines Hauses zuerst in Gedanken proben, dann auf einem Blatt Papier und dann durch Anfertigen eines Modells, dann sogar durch Anfertigen eines exakt baugleichen Prototyps. Wir können uns sogar erst im Nachhinein, etwa bei einer Filmaufnahme, entscheiden, eine Probe zur Ausführung zu erklären. Wenn Gedanken Probehandlungen sind, dann können wir vielleicht ebenfalls derart im Handeln selbst denken, dass wir einen Gedanken, also eine probeweise Handlung, im Nachhinein zur vollbrachten Tat erklären. Wir können, wie Kleist sagt, unsere Gedanken beim Sprechen verfertigen, also erst einmal drauf los sprechen, bis wir gefunden haben, was wir eigentlich sagen wollen. 49 Wenn es eine Logik des Handelns gibt, die nicht auf eine des Denkens zurückgeht, dann kann man nicht nur das so genannte praktische Schließen und Wissen besser verstehen, sondern vielleicht auch die Rede von Formen des Wissens, die sich gar nicht sprachlich artikulieren lassen. Platon hat solche Formen des Wissens im Sinn, wenn er sich einerseits am handwerklichen Können orientiert und andererseits behauptet, dass man das, worauf es in der Philosophie ankommt, nicht aufschreiben kann. Wie Wolfgang Wieland und jetzt auch Catherine Rowett betonen, geht es Platon um eine Art Wissen, Ebd., S. 174. Heinrich von Kleist, „Ueber die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“, in: Nord und Süd 4 (1878), S. 3–7. 48 49
Denken als Probehandeln
die deshalb nicht aufgeschrieben werden kann, weil sie gar nicht propositional strukturiert ist. 50 Um diese Form des Wissens zu verstehen, müssen wir natürlich einen Schritt über Aebli hinausgehen und die Idee zurückweisen, dass sich Praxisformen immer irgendwie mit Mitteln der Prädikatenlogik beschreiben lassen. Der Kerngedanke wird dann zwar bleiben, dass die Logik des Denkens sich aus der des Handelns ableitet. Er würde aber ergänzt durch den Hinweis, dass die Logik des Denkens die des Handelns nicht immer ganz und nicht immer adäquat abbilden kann. Wenn das so ist, dann ist das praktische Können, dessen sprachliche Artikulation Sokrates von Experten wie Laches oder Euthyphro verlangt, nicht im Sprechen und nicht im sprachlich verfassten Denken artikulierbar. Deshalb bleiben die sokratischen Dialoge, oberflächlich betrachtet, ergebnislos. Die Art von Wissen, um die es hier geht, ist sozusagen rein empraktisch und überhaupt nicht durch Repräsentationen sprachlich oder anderweitig symbolisch vermittelt oder vermittelbar. Wer es hat, beherrscht direkt die Logik einer bestimmten Art des Handelns, kennt sich also innerhalb bestimmter Handlungsspielräume aus, ohne sie dazu im Denken repräsentieren zu müssen (oder das auch nur zu können). Wenn Wieland Recht hat, dann stehen Platons Formen für diese Art von Wissen.
Wolfgang Wieland, Platon und die Formen des Wissens, Göttingen 1982; Catherine Rowett, Knowledge and Truth in Plato, Oxford 2018. 50
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Sebastian Rödl
Kant’s Indirect Proof of Transcendental Idealism
N
o one has done more than Pirmin Stekeler-Weithofer to unlock, for contemporary philosophical thought, the potential of Hegel’s writings and to open up the space in which that potential can unfold. He has done so not as a scholar of Hegel, although he knows more of Hegel than any scholar. I have learned from him that it is only when you dare to say, intentione recta, what you think you have understood reading Hegel – instead of saying: for Hegel …, and what can I do about that? – that there is any point in reading Hegel. I say “dare” because it is a form of courage and thereby of freedom. It is to be a token of my gratitude for his teaching when, in the reflections below, I try to follow his example.
Pure knowledge and absolute knowledge
Pure knowledge, in its naïve conception, is absolute knowledge: it is knowledge that is nothing other than what it knows. Kant rejects this naïveté asserting that thought is incapable of being knowledge through itself. I shall consider the idea of pure knowledge in order then to discuss why Kant limits pure knowledge and therewith knowledge to appearances. This limitation is the Lehrbegriff, the doctrinal concept, of transcendental idealism. Kant presents the Transcendental Dialectic as an indirect proof of this doctrinal concept. I suggest that Hegel is right in seeing the Dialectic to provide, instead, an indirect refutation – a reductio ad absurdum – of transcendental idealism, thus recovering naïveté, or absolute idealism.
The concept of judgment
In judging I understand myself to judge. It is not that, on the one hand, I judge that things are so and, on the other hand, understand that I do that. Rather,
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Sebastian Rödl
judging that things are so and understanding myself so to judge are one act of the mind: I understand myself to judge what I, thereby, judge. A judgment is its own comprehension as a judgment. There is not, first, this reality, judgment, and then comprehension of it as a judgment. It follows that the concept of judgment does not signify something that is as it is anyway, independently of being understood in this concept. It does not signify, as we may put it, a given nature. Rather, the nature of judgment is nothing but what it is understood to be in judgment, in its concept. The concept of judgment is contained in any judgment. Hence, the power of judgment, the intellect, supplies this concept from itself. Indeed, we can identify the power of judgment with the concept of judgment. I judge whatever I judge through the concept of judgment. Every judgment originates in this concept, which thus is nothing other than the intellect. In judging I understand myself to judge. So I understand what it is to judge. My understanding may be inarticulate. But when I articulate it, I articulate a comprehension contained in any judgment. We may call it the self-understanding of judgment in order to register that it is internal to what it understands: judgment. We may undertake to say what it is to judge by specifying the form of judgment, the form it bears as judgment. A table of the forms of judgment would then be a physiognomy of the intellect, the power of judgment. The table would presume to represent the self-understanding of judgment, the understanding of what it is to judge that is at work in every judgment. The concept of judgment is contained in any judgment. Now to judge is to use concepts. So any use of any concept, as such, is a use of the concept of judgment. Hence the concept of judgment is not one concept alongside other concepts. Any concept is only in and through the concept of judgment. The concept of judgment is not a concept, but the concept. It is not a particular universal, but universality itself. I shall return to this.
The category, the concept of the object
Kant derives, from the form of judgment, the category, the concept of an object überhaupt. This is straightforward. As I understand myself to judge, I understand what I judge to be something judged. So I understand it to be something that is such as to be judged. I think what I judge through the concept of judgment, and that is, through the concept of an object of judgment. The concept of the object of judgment is none other than the concept of judgment. Hence, what we said about the latter holds of the former: the intel-
Kant’s Indirect Proof of Transcendental Idealism
lect supplies the concept of its object from itself. Again, we can identify that concept, the category, with the intellect. Kant describes the category, that is, the concept of what is such as to be judged, the concept of an object of judgment, as the concept of an object überhaupt. When we spoke of the concept of an object of judgment, it may have seemed that we speak of a certain kind of object, distinguished from other kinds: what can be judged in contrast to what is not an object of judgment. But this is a mistake. When we use the phrase “the object of judgment”, the qualification “of judgment” does not indicate a kind, or feature, but rather the impossibility of any limitation. The object of judgment is: the object, simpliciter, or überhaupt. This is so because the concept of the object of judgment is none other than the concept of judgment. This concept, we found, is not a particular concept next to other concepts. It is the concept. And therefore the concept of an object of judgment is not the concept of a particular kind next to other kinds. It is universality itself, as I said. The concept of the object of judgment, that is the concept of the object, thinks a totality: what cannot be embedded in a whole that is larger than it; what is such that the idea of something outside it, or other than it, falls to the ground. We use various words to signify the object of judgment, that totality: being, what is, reality, the facts, the world, the objective world. The particular words are insignificant. The concept of judgment, being inside any judgment, cannot receive its determinacy, its content, from a given nature of judgment, a nature that is as it is whether or not it is comprehended in this concept. Insofar as the concept of judgment has any determination at all, the intellect, or reason, must supply it from itself. Judgment can be determinate only in the manner of determining itself. If judgment had a given nature, then this nature would circumscribe, within what is, or reality, or the world, a part of it that was suited to be apprehended in judgment. Since judgment has no given nature, the object of judgment is not limited in this way. The object of judgment is illimitable. The concept of judgment, and that is, the concept of what is such as to be judged, does not signify a given nature. Judgment, and that is, the object of judgment, is nothing other than what it is comprehended to be in judgment. Hence, the object of judgment can be limited only in the concept of this limit. But the concept of a limit is as such the concept of what is beyond the limit. Hence, in and through this concept, the object of judgment has always already transcended any limitation. The original infinity of thought, the illimitability of its object, resides in the fact that thought is for itself its own concept. The concept of judgment, being inside any judgment, cannot receive its content from a given nature of judgment, I said. Indeed, it cannot receive it
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from anything given at all. This may be taken to indicate that it has no content, that it is empty. I shall return to this. But it is worth noting here that this appears to make no sense, and cannot stand without further commentary. For if the concept of judgment is empty, then judgment is nothing. But we know this is false; we know it in judging. This accounts for the attractiveness of thinking that judgment has a given nature; it is something, not nothing. But we saw that judgment cannot be something either. We know that, too, in judging. In the concept of the object of judgment, that is, the concept of the object simpliciter, or überhaupt, we think totality: the unembeddable, the illimitable. As the concept of the object is a concept, the totality is articulated; it is a unity of many. In the concept of judgment, we think unity of all judgments; in the concept of the object, we think unity of everything that is. In this concept, we unite everything real. This unity, whether we think of it as the unity of judgments or the unity of what is such as to be judged, is an original unity. There is no step from judging something to bringing it to the unity of all judgments. Rather, judging itself is thinking one’s judgment through the concept of judgment, thus comprehending it in a unity of all judgments. And there is no step from thinking something to be real to thinking it comprehended within the unity of reality. Rather, thinking something to be real is thinking it through the concept of something real, thus comprehending it in the unity of everything real. The unity of reality, or the world, is nothing other than the self-comprehension of judgment. In judging, I comprehend myself to judge, and this means that I judge what I do through the concept of an object of judgment. Thus judging is placing what is judged in the unity of reality. It may seem that this defines only what it is to judge something real. It does not say anything about what it is to be real. But this overlooks the identity of the concept of judgment and the concept of an object of judgment. In virtue of this identity, what it is to judge is nothing other than what it is to be such as to be judged. If judging is understanding oneself to judge, then this informs what it is to be an object of judgment. As judging something is nothing other than understanding oneself to judge it, the object of judgment is such that apprehending it is nothing other than comprehending it through the concept of an object of judgment. Hence, to be an object of judgment is to be placed within the unity of everything that is such as to be judged.
Kant’s Indirect Proof of Transcendental Idealism
Pure knowledge as knowledge knowing itself
I only spoke of judgment, not of knowledge: judging that things are so, I understand myself to judge that. However, in understanding myself to judge what I do, I understand myself to know it. Understanding myself to know is not a distinct act of the mind from the judgment, which I thus take to be knowledge. In judging, I take myself to know that things are as, thereby, I judge them to be. Judging that things are so, I understand myself to know that things are as, thereby, I judge them to be. Judging that things are so is nothing other than taking myself to know that things are so. It follows that, if my judgment is knowledge, then I know that. For the thought that I know things to be as I judge them to be is this very judgment. So if the latter is knowledge, then so is the former. Conversely, my judgment cannot be knowledge unless I know it to be knowledge. Knowledge, as such, knows itself to be that, knowledge. As judgment understands itself to be knowledge, its understanding of what it is to judge is an understanding of what it is to know. And the concept of what is such as to be judged is the concept of what is such as to be known. This concept is a priori knowledge. So the self-comprehension of knowledge that every act of knowledge is is a priori knowledge of the object of knowledge. In knowing something, I know myself to know it, and thus know what I know to be something known. Knowing myself to know, I know what it is to know. And knowing what it is to know, I know what it is to be such as to be known. I know what is, or the object, as such. An account of knowledge is the exposition of a priori knowledge. For, first, an account of knowledge can only say what I know knowledge to be in knowing what I do. For knowledge is nothing other than what I know it to be in knowing. And what I know in any knowledge I know a priori. Second, an account of what it is to know settles what it is to be such as to be known. It explains what it is to be an object of knowledge, and that is, what it is to be, simpliciter. An account of knowledge puts into words the a priori knowledge of what is through which it is understood to be such as to be known. So an account of knowledge, as such, is a priori knowledge of the object.
The limit of pure knowledge as a limit of self-knowledge of knowledge
The intellect, we said, is the concept of judgment; equivalently, it is the concept of the object. Judgment is nothing other than what it is known to be in judgment. The nature of judgment is the concept, and that is, the knowledge of
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it that judgment itself is. Reality is nothing other than what it is known to be in judgment. The nature of reality is the concept, and that is, the knowledge of it that judgment itself is. The intellect is nothing other than this knowledge. So the intellect, being the principle of judgment, is the principle of being. This— absolute idealism—is the naïve, natural, thought of thinking and being. It is a naïve thought, the most naïve thought. It is the thought at work in any thought. Philosophy is the explicit announcement of that thought. Philosophy is absolute idealism. Therefore, and only therefore, it may be the rejection of absolute idealism. Kant rejects absolute idealism. And this is to say that he excludes that there is such a thing as judgment knowing itself to be knowledge. The notion that we cannot, in judgment, comprehend our judgment to be knowledge, is the doctrine that we know only appearances. To this I now turn. Naïveté, or absolute idealism, says: The nature or principle of judgment is nothing other than the nature or principle of what is insofar as it is. Kant’s accout of pure knowledge says something that is weaker in two ways: the conditions of the possibility of experience are nothing other than the conditions of the possibility of the objects of experience. This is weaker, first, because it speaks only of conditions of the possibility, not of a principle of actuality. And it speaks only of objects of experience, as opposed to what is as such. The two respects in which Kant’s a priori knowledge is weaker—it is knowledge only of conditions of possibility, and only of objects of experience —spring from a common source. That source is the doctrine with which Kant begins both the Transcendental Aesthetic and the Transcendental Logic: thought does not relate to the object directly. That is, the actuality of its object is not internal to thought. Thought, as thought, does not include the actuality of anything. The consciousness of something as actual, as such, is sensory, not intellectual. If judgment does not relate to the object directly, then the concept of the object that judgment supplies from itself is not knowledge of anything. It is not knowledge of anything not because it is subjective, a determination of the subject, as opposed to the object. It is not knowledge because it is empty. Judgment relates to an object only through sensibility. And therefore the concept of the object überhaupt has a content only through sensibility. In the Transcendental Deduction Kant shows how the concept of the object überhaupt can be used to think something. It can be used to think what is given in intuition, for it is possible to think a priori what is given in intuition: we can think purely what is given in intuition as we think it exclusively according to its form as something given in intuition, that is, if we think it as temporal and spatial. So the pure concept in this use of it comes to be a pure time determination: the pure concept of something given in time and space.
Kant’s Indirect Proof of Transcendental Idealism
The pure concept, in this application, has received its content from the character of our sensibility. It is a determination of what is given to us, as given to us: a determination it exhibits as given to our sensibility. And this is the form of sensibility. Thus sensibility gives something to the intellect, gives it something to think purely, without affection, without sensation. And now the concept of an object is the concept of the object of experience. And not only this. In the pure thought of the object of experience, only a condition of its possibility is thought: its form. Not its actuality. For this is recognized only through sensation. So both of these forms of weakening of a priori knowledge reflect the assertion that thought is empty, or does not relate to the object directly, or through itself. So now we have pure knowledge, but only of appearances. For the pure concept with its pure content provided by the forms of sensibility is knowledge only of what can be given in experience according to our forms of sensibility, space and time. The concept of an object is not, through itself, knowledge. It is empty. It is knowledge as it is used to think what is given through our sensibility, thinking it purely, and that is, solely according to the form in which it is given. The forms of our sensibility provide the pure content of the concept of an object, which thereby is the concept of a possible experience. Now this is already transcendental idealism: we have pure knowledge only of appearances, for we have a priori knowledge only of their form, which reflects the form of our sensibility. Kant presents the Transcendental Aesthetic as the direct proof of transcendental idealism. But it is dubious whether the Transcendental Aesthetic can prove transcendental idealism without the assertion that thought does not relate to the object directly. Now Kant presents a further proof of transcendental idealism, an indirect proof. It is the Transcendental Dialectic. In order to appreciate the Transcendental Dialectic as an indirect proof of transcendental idealism, we need to forget what we are already supposed to know from the Transcendental Aesthetic: that the objects of the senses are only appearances. We need to pretend that we have, in our pure knowledge of the object of experience, knowledge of what is, the world, reality. When we think of our pure knowledge, of our concept of what is such as to be known, in this way, then we recognize that we run into a contradiction. This is the indirect proof. Let us follow this proof through the course of the Third Antinomy. We think that what is, as such, is such as to owe its existence to a condition, residing in something else, which equally is. Now it is clear that if something is, then all its conditions are as well. We cannot think something to be, and yet hold open the question whether all its conditions are. Of course, we may not
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know all these conditions. But we have settled that they are, as we judge that the thing is whose conditions they are. Now we have two ways of determining what we thus think to be: all the conditions of something that, as we think, is, which conditions therefore, we think, are. First, we think that there is something that does not owe its existence to a condition, but exists through itself. But now this thing does not conform to our concept of what is as such. For this was the concept of something that owes its being to something else. So, second, we think that there is no such thing, and that the series of conditions is infinite. But now we see that nothing that is can ever provide for the conditions of anything being. So, again, the concept falls apart. We comprehend ourselves to know something, comprehending what we know to be an object of knowledge, and that is, an object überhaupt. But as we try to articulate this concept, we fall apart. Using the concept in this way, as the concept, simply, of an object, reveals that this concept destroys itself. In other words, we see, if this is how we determine the concept of an object überhaupt, then this concept negates itself. Thereby such an object reveals itself to be a mere appearance. In this concept of an object, which now is seen to be mere appearance, we cannot think the unity of the object. We cannot think the world. There is no world of appearances. Appearances are appearances precisely because they do not constitute a world. We resolve the problem by seeing that the concept of an object überhaupt is the mere form of possible experience. This is to say, it is not knowledge of anything actual at all. Rather, it is a rule according to which we successively conjoin one experience with another. This rule, which requires us to look for a condition, is not based on knowledge that there is a condition. So this rule has merely subjective necessity. This means that the rule is not knowledge; its necessity is not the necessity of things being as they are thought to be in the rule. But why is it still a necessity? The rule is an analogon of the ideal of reason, which ideal is precisely the presumed knowledge that the antinomies show to be impossible. This ideal is the ideal of a priori knowledge as knowledge of what is: the concept of what is such as to be known, the concept of the object überhaupt. That concept, not as empty, but as knowledge. This, Kant says, is not and cannot be. Yet this concept is internal to any judgment, for any judgment comprehends itself to be knowledge. In this way it places itself in a system of knowledge and places what is known in the totality of what is. But this system is not knowledge and that totality is not known. This means that the judgment’s conception of itself as knowledge is not knowledge. Yet it cannot but comprehend itself through the idea of itself as knowledge. The neces-
Kant’s Indirect Proof of Transcendental Idealism
sity of the rule resides in this, that it reflects an idea which cannot be abandoned, as it is nothing other than the self-comprehension of judgment as knowledge. If, and to the extent that, I deny that the intellect itself is, indeed is nothing other than, a priori knowledge of what is, and thus is the ultimate principle of all reality, I deny, deny to the relevant extent, that I understand myself to know what I know. A limitation to a priori knowledge is, as such, a limitation to the self-comprehension of knowledge. And since knowledge as such understands itself to be knowledge, a limitation of the self-comprehension of knowledge is a limitation of knowledge. Specifically, if it be said that we have a priori knowledge only of appearances, then this asserts a limitation of our self-comprehension as knowing what we know. Knowledge of appearances is lacking in self-comprehension. And therefore it is lacking as knowledge. For knowledge comprehends itself. When it is said that we have knowledge only of appearances, not of things in themselves, it is easy to come away with the notion that these are different kinds of things. While each is such as to be known, we know only the first kind of thing: appearances. We do not know the second kind of thing: things in themselves. Here our knowledge is thought to be limited in the sense that its object is limited. This may be thought not to compromise the standing of our knowledge as knowledge insofar as it relates to its limited object, appearances. Our knowledge of appearances is knowledge all right. It is just that it does not extend to a certain kind of thing: things in themselves. It is good to recover the sense of the absurdity of this way of speaking: knowledge of appearances. Appearance contrasts with reality; and reality is the object of knowledge. That knowledge is only of appearances is to say that it is lacking as knowledge. We cannot ascertain such a lack from outside the knowledge so lacking. For then our recognizing our knowledge to be lacking would constitute superior knowledge, knowledge not so lacking, and thus contradict its own claim. Nor can the thought that our knowledge is lacking be self-comprehension. It makes no sense to say that, in knowing what we do, we know our knowledge to be lacking. The recognition of a lack in our knowledge must be internal to our knowledge as the recognition of the frustration of its desire to comprehend itself. The Transcendental Dialectic is to be this recognition. In this way it is an indirect proof that we know only appearances. In any other context this view would be immediately recognized as impossible. Suppose someone said: “There is the thought that there must be, and hence that there is, a naturalist account of the emergence of life. Yet we can see that experience is such as to be unable ever to deliver such a naturalist
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account. Hence the thought in question is not even potentially knowledge. However, this thought, which is incapable of being knowledge, is internal to experience; it is internal to any judgment of nature. Therefore this thought is reduced to function as a rule that prescribes that we seek a naturalist account of the emergence of life. This rule is merely subjectively necessary. It is not based on knowledge that there is or can be what we seek, because there is no such knowledge. That it is subjective, however, is not to be understood psychologistically. For, this would entail that the rule is bogus. Rather, it is subjectively necessary in that it is the manner in which a thought that is necessary to experience is operative in experience.” I would say, if you can give no grounds for thinking that there is a naturalist account, indeed, if you maintain that there is no such thing as sufficient grounds for thinking this, then it is perfectly in order for me to forget about your rule. How can I seek what I understand is such that there is no such thing as having it? If you now give the Kantian explanation, you in effect say that we know only appearances. But the point just made can serve as a reductio ad absurdum of this explanation. The absurdity of the transcendental idealist resolution of the dialectic provides an indirect refutation of transcendental idealism. The refutation of transcendental idealism does not refute the claim that the objects of the senses are merely appearances. Of course they are. Everybody knows that. In recognizing the contradiction in thinking of objects of the senses as reality, or the world, we determine our concept of reality, or what is. We determine it in such a way that we see that reality, that of which the appearance is an appearance, is above the opposition that constitutes the contradiction. This is Hegel’s reading of the antinomy. Developing it is a task for a different occasion.
Kathi Beier
Orientierung an Wahrheit Vorarbeiten zu einer Taxonomie intellektueller Tugenden
Einleitung
In seinem Buch Denken schlägt Pirmin Stekeler-Weithofer ein Verständnis des Begriffs dieser Tätigkeit vor, das an Platon angelehnt ist. „Denken“, so heißt es dort, „ist ein legein des logos des eidos, Auslegung der Artikulation einer Struktur.“ 1 Wenn man den Gedanken hinzunimmt, dass Denken in Begriffen stattfindet, dann wird schnell klar: Wer denkt, legt begriffliche Strukturen aus und versucht, seine eigenen Gedanken begrifflich strukturiert zu artikulieren. Sind nun die Begriffe unstrukturiert, wird das Denken unscharf. Um Begriffe strukturiert verwenden zu können, bedarf es taxonomischer Ordnungen, denn jeder Begriff ist Teil eines ganzen Begriffsgerüsts. Insofern sich die Philosophie um das richtige Verständnis von Begriffen bemüht, gehören Taxonomien also zu ihrem genuinen Geschäft. Die so genannte Tugendepistemologie bemüht sich um ein Verständnis intellektueller Tugenden. Eine Taxonomie sucht man dort allerdings vergeblich. Das ist, wie ich im Folgenden zeigen möchte, ein Problem. Man könnte denken, dass die Frage nach der Systematik intellektueller Tugenden längst beantwortet ist – und zwar von Aristoteles, also gleich zu Beginn der langen Geschichte des philosophischen Nachdenkens über die Tugenden. Während Platon keine klare Unterscheidung von Arten der Tugend vorgenommen hat und überdies zu zeigen versuchte, dass die einzelnen Tugenden letztlich allesamt mit der Weisheit identisch sind, sind die Überlegungen von Aristoteles hierzu differenzierter. Aristoteles versteht unter der menschlichen Tugend eine erworbene hexis, die das der Seele eigentümliche Vernunftvermögen vervollkommnet und dadurch die tugendhafte Person und das, was sie tut, gut macht. Tugenden lassen den Menschen gut denken und gut handeln. Da Vernunft und Begehrungsvermögen voneinander verschieden sind, gibt es für Aristoteles zwei Arten der Tugend: dianoetische Tugenden Pirmin Stekeler-Weithofer: Denken. Wege und Abwege in der Philosophie des Geistes, Tübingen 2012, S. VIII. 1
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vervollkommnen das Denken, indem sie den vernünftigen Seelenteil auf das Wahre ausrichten, ethische Tugenden das Begehren, indem sie es auf das Gute ausrichten. Das Denkvermögen lässt sich noch einmal in zwei Formen unterteilen. Da ist zum einen das theoretische oder wissenschaftliche Denken, durch das wir notwendige, invariante Wahrheiten erkennen; zum anderen gibt es das praktische, deliberative Denken, durch das wir kontingente, handlungsrelevante Wahrheiten erkennen. Und weil theoretisches Denken zwei grundlegende Leistungen umfasst, nämlich eine wahre Auffassung von den Prinzipien und das richtige Schlussfolgern aus diesen, gibt es für Aristoteles hier zwei Tugenden: Weisheit (sophia) und Wissen (epistēmē ). 2 Auch das praktische Denken umfasst zwei basale Vermögen, von denen das eine, das Erkennen von allem, was dem guten Leben zuträglich ist, durch die Tugend der Klugheit (phronēsis), und das andere, das Wissen von dem, was nicht von Natur entsteht, durch die Tugend der Geschicklichkeit (technē ) vollendet wird. Klarer kann man sich eine Taxonomie intellektueller Tugenden kaum vorstellen. Die 2-plus-2-Struktur, die Aristoteles präsentiert, ist nicht nur begrifflich und methodisch kohärent, sondern beantwortet neben der Frage nach der Ordnung der intellektuellen Tugenden auch die nach ihrer Anzahl gleich mit. Aber es gibt alternative Vorschläge. So hat etwa Thomas von Aquin, der das Tugendverständnis des Aristoteles grundsätzlich teilt, auf eine fünfte intellektuelle Tugend hingewiesen, den Glauben (fides). Thomas zufolge ist er ein Habitus der spekulativen Vernunft, der es uns ermöglicht, die von Gott geoffenbarten und die ewige Glückseligkeit betreffenden Wahrheiten zu erfassen. Die Tugend des Glaubens sei nötig, weil die Einsicht in diese Wahrheiten die natürlichen menschlichen Vermögen übersteige. 3 Thomas plädiert also für eine 2-plus-2-plus-1-Struktur. In der jüngeren Vergangenheit hat Bernard Williams neben der ethischen Tugend der Aufrichtigkeit (sincerity) die intellektuelle Tugend der Sorgfältigkeit oder Genauigkeit (accuracy) in die Diskussion eingebracht. 4 Williams bezeichnet sie zwar nicht ausdrücklich als eine intellektuelle Tugend, aber es ist Im Zusammenhang seiner Diskussion der theoretischen dianoetischen Tugenden erwähnt Aristoteles auch die intuitive Vernunft (nous); vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik (im Folgenden NE) VI 6, Berlin/Boston 2020. Es scheint mir aber klar zu sein, dass er sie nicht als Tugend versteht. 3 Für Thomas ist der Glaube in dreifacher Hinsicht eine göttliche Tugend: Er hat Gott zum Gegenstand, wird uns allein durch Gottes Gnade zuteil und ist nur durch göttliche Offenbarung zugänglich, dokumentiert in der Heiligen Schrift (vgl. Thomas von Aquin: Summa Theologiae I-II, quaest. 62, art. 1, Salzburg 1940, S. 243). 4 Vgl. Bernard Williams: Truth and Truthfulness. An Essay in Genealogy, Princeton 2002, Kap. 6. 2
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klar, dass er sie in diesem Sinne versteht, denn sie habe mit einem „Verlangen nach Wahrheit um ihrer selbst willen“ zu tun. 5 Die Tugend der Sorgfältigkeit im Denken sei nötig, weil das Bilden von Überzeugungen anfällig sei für Bequemlichkeit und Selbstmanipulation, etwa dafür, lieber das zu glauben, was angenehm ist, als der unangenehmen Wahrheit ins Auge zu sehen. Sorgfältigkeit, so Williams, schützt uns vor einem falschen Einfluss des Lustprinzips und damit nicht zuletzt vor Selbsttäuschung und Wunschdenken. Scheinbar haben Aristoteles und Thomas diese Gefahr unterschätzt. Braucht es also eine sechste intellektuelle Tugend? Im Anschluss an Williams hat Ernst Tugendhat für eine siebte Tugend votiert, die intellektuelle Redlichkeit. Er hat mehrere Anläufe gebraucht, um genauer zu bestimmen, was er darunter verstehen will. 6 Letztlich definiert er sie als eine „Haltung der Offenheit für Gründe, die gegen die eigene Meinung sprechen“. 7 Williams’ Sorgfältigkeit, so Tugendhat, sorge für eine bestimmte Qualität der eigenen Meinungen, dafür, dass diese einigermaßen begründet sind. Intellektuelle Redlichkeit sei dagegen dann nötig, wenn man „auf das Bewusstsein des eventuellen Nichtvorhandenseins dieser Qualität“ reagieren müsse. Tugendhat bezeichnet sie daher auch als „Disposition zu einer Dynamik“. Gehört auch sie zum Katalog der intellektuellen Tugenden? Wenn sie dazugehört, dann muss der Glaube wieder gestrichen werden. Davon jedenfalls ist Tugendhat überzeugt. Wer etwa an die Existenz Gottes glaube, sei entweder naiv oder intellektuell unredlich, weil er es ablehne, sich die „überwältigende Evidenz“ klarzumachen, die einen solchen Glauben ausschließe. 8 Tugendhat hält religiösen Glauben für eine Form des Wunschdenkens. 9 Man sieht: Es gibt eine gewisse Dynamik in den Versuchen, Ordnung und Anzahl der intellektuellen Tugenden zu bestimmen. Diese Dynamik verschärft sich mit den Überlegungen von Linda Zagzebski, die man auch die Elisabeth Anscombe der Epistemologie nennen könnte. Anscombe hatte im 20. Jahrhundert für eine Renaissance der aristotelischen Tugendethik gesorgt. Zagzebski hat den Tugendbegriff ins Zentrum der EpisEbd., S. 126. Vgl. Ernst Tugendhat: Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie, München 2003, S. 79–85, insbesondere Fußnote 1 auf S. 85, sowie Anthropologie statt Metaphysik, München 2007, S. 91–94. 7 Tugendhat: Anthropologie, S. 98. 8 Ebd., S. 112. 9 Vgl. ebd., S. 192–193. Zur Kritik an dieser These vgl. u. a. Heiko Schulz: „Kann ein religiöser Mensch intellektuell redlich sein? Kritische Erwägungen zu einer These Ernst Tugendhats“, in: Gerald Hartung, Magnus Schlette (Hrsg.): Religiosität und intellektuelle Redlichkeit, Tübingen 2012, S. 229–247. 5 6
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temologie gerückt. In ihrem Buch Virtues of the Mind von 1996 argumentiert sie dafür, zentrale erkenntnistheoretische Begriffe wie den des Wissens oder den einer gerechtfertigten Überzeugung auf die intellektuellen Tugenden zurückzuführen. Ausgehend von einem mehr oder weniger aristotelischen Tugendverständnis zählt sie die meisten der bisher genannten Qualitäten zu den intellektuellen Tugenden, einschließlich derer, die Wunschdenken und Selbsttäuschung verhindern. Aber sie nennt darüber hinaus eine ganze Reihe weiterer Kandidaten. Hier ist eine Auswahl: Vertrauen, Sensibilität für Details, intellektuelle Demut, kognitive Integration, intellektuelle Tapferkeit, intellektuelle Ausdauer, Aufgeschlossenheit (open-mindedness), intellektuelle Integrität, Gründlichkeit bei der Einschätzung von Evidenz, intellektuelle Fairness, Originalität und Kreativität, intellektuelle Flexibilität und introspektive Aufmerksamkeit (eine Tugend, die eine Person dazu befähigt, die Verbindungen zwischen ihren Überzeugungen zu sehen). Spätestens hier wird deutlich, dass das Problem der Systematik intellektueller Tugenden noch nicht gelöst ist. Zumindest scheint es viele verschiedene Kandidaten für eine Liste intellektueller Tugenden zu geben ebenso wie verschiedene Möglichkeiten, sie zu ordnen. Es lohnt sich also, die Frage noch einmal ganz neu aufzunehmen. Was ist eine intellektuelle Tugend? Gibt es verschiedene Arten intellektueller Tugend? Wenn ja, worin besteht der Unterschied? Wie lassen sich die einzelnen intellektuellen Tugenden voneinander abgrenzen und strukturieren? Auf der Suche nach den Grundlagen einer Taxonomie intellektueller Tugenden möchte ich bei Zagzebskis Vorschlag beginnen, die intellektuellen als ethische Tugenden zu verstehen (Abschnitt 1). Weil dieser Vorschlag viele Probleme aufwirft, wende ich mich anschließend zwei anderen, ebenfalls nicht unproblematischen Ansätzen zu, der werttheoretischen Ableitung der Tugend (Abschnitt 2) sowie dem Versuch, eine Ordnung der Tugenden über die der Laster zu gewinnen (Abschnitt 3). Am Ende zeige ich, warum wir eine Taxonomie intellektueller Tugenden brauchen (Abschnitt 4) und welche Grundprinzipien wir dafür beachten sollten (Schluss).
1. Ein erster Versuch: Intellektuelle Tugenden als ethische Tugenden
Linda Zagzebski war nicht die erste, die den Tugendbegriff im Feld der modernen Erkenntnistheorie für unverzichtbar hielt. Aber sie war die erste, die eine brauchbare Definition des Begriffs der intellektuellen Tugend vorgelegt hat. Davor wurde dieser Begriff entweder nicht weiter erläutert oder so unspezifisch verwendet, dass auch bloße Vermögen, z. B. ein gutes Seh-, Hör- oder
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Erinnerungsvermögen, dazuzählten. 10 Und sie war die erste, die die gesamte normative Epistemologie als einen Zweig der Tugendethik betrachtete. So wie dort sollte ihr zufolge auch hier der Tugendbegriff grundlegend sein. Das meint sie ausdrücklich nicht im Sinne einer „Moralisierung“ unseres gesamten Lebens, also nicht als Verengung des Theoretischen auf das Ethische. Vielmehr sei das Ethische so weit zu verstehen, dass es auch die normativen Aspekte kognitiver Tätigkeiten umfasse. Eine reine Tugendtheorie, so Zagzebski, könne die Grundlage epistemischer und ethisch-moralischer Bewertung sein. 11 Wie man in der Tugendethik die Richtigkeit einer Handlung auf moralische Tugenden zurückführe, so müsse man das Wahr-Sein und das GerechtfertigtSein von Überzeugungen von den intellektuellen Tugenden her verstehen. Eine Überzeugung ist Zagzebski zufolge dann gerechtfertigt, wenn eine Person, die durch eine intellektuelle Tugend motiviert ist und ihre kognitive Situation so versteht, wie sie ein Tugendhafter verstehen würde, sie hätte. 12 Wahr ist sie, wenn sie deswegen mit der Wirklichkeit übereinstimmt, denn Wissen definiert Zagzebski als „kognitiven Kontakt mit der Realität, der aus Akten intellektueller Tugend hervorgeht“. 13 Zagzebskis Verständnis des Tugendbegriffs kommt dem von Aristoteles sehr nahe, ihr Verständnis der intellektuellen Tugenden jedoch nicht. Das führt nicht zuletzt beim Versuch einer Taxonomie zu etlichen Problemen. Der Begriff der menschlichen Tugend im allgemeinen Sinne, so Zagzebski, habe fünf wesentliche Merkmale. Erstens sei eine Tugend eine Vollkommenheit (excellence), und zwar eine Vollkommenheit der Seele. Etwas moderner ausgedrückt könne man die Tugend auch „a deep trait of a person“ nennen. 14 Zweitens müsse eine Tugend relativ mühsam und über einen längeren Zeitraum hinweg erworben und internalisiert werden, was sie von natürlichen Vermögen (capacities) unterscheidet und dafür sorgt, dass sie schließlich zu einer festen Charaktereigenschaft wird, zu einer „zweiten Natur“. Drittens
Vgl. Ernest Sosa: Knowledge in Perspective, Cambridge 1991, S. 271, und John Greco: „Virtue Epistemology“, in: Jonathan Dancy, Ernest Sosa (Hg.): A Companion to Epistemology, Oxford 1992, S. 520. Auf diese Idee kann man kommen, wenn man wie die so genannten „virtue reliabilists“, zu denen Greco und Sosa gehören, externalistisch bzw. konsequenzialistisch denkt. Dann ist alles eine Tugend, was zu Wissen oder wahrem Glauben führt. Vgl. dazu auch John Greco, Jonathan Reibsamen: „Reliabilist Virtue Epistemology“, in: Nancy Snow (Hrsg.): The Oxford Handbook of Virtue, Oxford 2018, S. 725–746. 11 Linda Trinkaus Zagzebski: Virtues of the Mind. An Inquiry into the Nature of Virtue and the Ethical Foundations of Knowledge, Cambridge 1996, S. 258. 12 Ebd., S. 241. 13 Ebd., S. xv. 14 Ebd., S. 89 und 135. 10
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sei sie, im Unterschied zu den erworbenen Fähigkeiten (skills), intrinsisch wertvoll. Fähigkeiten dienten den Tugenden, da sie der tugendhaften Person helfen, im Handeln effektiv zu sein; Tugenden sind den Fähigkeiten also psychologisch vorgängig. Viertens sei eine Tugend zwar kein Gefühl, habe aber eine motivationale und damit eine emotionale Komponente. Tugendhafte Personen zeichneten sich nämlich durch Dispositionen zu bestimmten Motiven aus, und unter einem Motiv versteht Zagzebski eine Emotion, die eine Handlung initiiert und lenkt. Fünftens schließlich sei Tugend ein Erfolgsbegriff, denn wenn eine Person nicht verlässlich die Ziele erreicht, die durch ihre Motive bestimmt sind, könne man sie nicht tugendhaft nennen. Wer permanent daran scheitert, tapfer zu handeln, wenn Tapferkeit erfordert ist, ist eben nicht tapfer. Diese fünf Merkmale finden sich allesamt in Zagzebskis Definition des Begriffs der Tugend wieder: „A virtue, then, can be defined as a deep and enduring acquired excellence of a person, involving a characteristic motivation to produce a certain desired end and reliable success in bringing about that end.“ 15 Zagzebski glaubt, dass ihre Definition im Großen und Ganzen an Aristoteles anschließt. Es fallen einem jedoch schnell zwei Unterschiede ins Auge. Zum einen spricht sie zwar von der menschlichen Tugend als einer Vollkommenheit der Seele, aber anders als Aristoteles interessiert sie die menschliche Seele gar nicht. Der Begriff wird sofort in eine „moderne“ Sprache übersetzt, die, wie mir scheint, nur vermeintlich äquivalent ist. Die Vernachlässigung einer „überzeugenden Philosophie der Psychologie“, wie sie Anscombe 1958 für das Projekt einer neo-aristotelischen Ethik eingefordert hatte, 16 teilt Zagzebski zwar mit vielen modernen Tugendethikerinnen und Tugendethikern. Das wirkt sich meines Erachtens aber wie in der Ethik auch in der Epistemologie nachteilig aus. Ich komme darauf gleich zurück. Neben dem ersten ist es zum anderen das vierte Merkmal der Definition, das Zagzebskis Tugendverständnis vom aristotelischen unterscheidet, denn es schließt eher an David Hume an. Tugenden sind Dispositionen zu bestimmten Motiven; das sieht auch Aristoteles so. Doch gegen Aristoteles und mit Hume scheint Zagzebski zu glauben, dass nur Affekte bzw. Emotionen handlungsleitend sind. Deswegen ist ein Motiv für sie notwendig eine Emotion. Weil zum Beispiel eine faire Person die Gleichbehandlung von Menschen liebt, sei sie motiviert, sich für Verhältnisse einzusetzen, in denen Menschen gleichbe-
Ebd., S. 137. G. E. M. Anscombe: „Die Moralphilosophie der Moderne“, in: Katharina Nieswandt, Ulf Hlobil (Hrsg.): G. E. M. Ascombe Aufsätze, Berlin 2014, S. 148. 15 16
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handelt werden. Und wer aufgeschlossen ist, werde aus Freude (delight) an der Entdeckung neuer Wahrheiten dazu bewegt, alte Überzeugungen zu überprüfen und sie bei Bedarf zu revidieren. 17 Was zum Handeln bewegt, sind also Affekte und Emotionen, und die gehören bei Hume wie bei Aristoteles zum sinnlichen Begehren. Dass darüber hinaus auch vernünftige Vermögen handlungsleitend und zielbestimmend sind, bestreitet Hume. Zagzebski scheint ihm darin zu folgen. Das zeigt sich in ihrer Unterscheidung der ethischen von den intellektuellen Tugenden. Zagzebski vertritt in diesem Zusammenhang eine bemerkenswerte These. Sie ist der Auffassung, dass es sich dabei nicht um zwei Arten von Tugend handelt, sondern dass die intellektuellen Tugenden den ethischen untergeordnet sind. Sie schreibt: „[I]ntellectual virtues ought to be treated as a subset of the moral virtues in the Aristotelian sense of the latter.“ Und: „Intellectual virtues are best viewed as forms of moral virtue.“ 18 Das passt zu Hume, denn wenn nur Emotionen handlungsleitend sind, und wenn nur die ethischen Tugenden unmittelbar mit Emotionen zu tun haben, dann können intellektuelle Tugenden nur dann zum Handeln motivieren – und damit Tugenden im Sinne von Zagzebskis Definition sein –, wenn sie ihrer Form nach eigentlich ethische Tugenden sind. Zu Aristoteles passt dieser Gedanke allerdings nicht. Das weiß Zagzebski auch. Deswegen versucht sie in einem ersten Schritt, die von Aristoteles angeführten Argumente für eine Artunterscheidung der Tugenden in ethische und intellektuelle zu entkräften. Entscheidend ist das Argument, das Aristoteles am Ende des ersten Buches der Nikomachischen Ethik ausführt. Darin schließt er von der Erfahrung, dass Menschen willensschwach und willensstark handeln können, also von der Existenz von Unbeherrschtheit (akrasia) und Beherrschtheit (enkrateia), auf eine bestimmte Struktur der menschlichen Seele und von dort aus auf die beiden Arten der Tugend. Seine Grundüberlegung ist folgende: Neben den vegetativen Vermögen, die Ursache von Ernährung und Wachstum sind und mit Vernunft nichts zu tun haben, haben wir Menschen auch Vermögen, die nicht als solche vernünftig sind, sich aber vernünftig lenken lassen, nämlich die Vermögen des Begehrens. Dass es diese Vermögen gibt und wie sie zur Vernunft stehen, wird offenbar, wenn wir unbeherrschte und beherrschte Menschen betrachten. Wer unbeherrscht ist, folgt seinem sinnlichen Begehren wider seine vernünftige Einsicht. Bei Beherrschten kämpft das Begehren mit Vgl. Zagzebski: Virtues of the Mind, S. 131. Beide Zitate Zagzebski: Virtues of the Mind, S. 139. Ähnlich formuliert findet sich diese These auf S. xiv und S. 77. Auf S. 256 heißt es: „Epistemic evaluation just is a form of moral evaluation.“ 17 18
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der Vernunft, ordnet sich ihr letztlich aber unter. Bei einer mäßigen, also tugendhaften Person, stimmt es dagegen in allem mit der Vernunft überein. Daraus schließt Aristoteles, dass es in der menschlichen Seele zwei der Vernunft zugängliche Bestandteile geben muss. Der eine ist Sitz der begehrenden Vermögen, die zumindest in dem Sinne vernünftig sind, dass sie sich von der Vernunft lenken und formen lassen. Der andere ist Sitz des Denkvermögens, der Vernunft selbst. „Auch die Tugend (aretē )“, so Aristoteles schließlich, „wird diesem Unterschied entsprechend aufgeteilt. Wir nennen die einen von ihnen rationale (dianoētikē ), die anderen ethische (ēthikē ) Tugenden.“ 19 Weisheit (sophia) sei z. B. eine rationale Tugend, Mäßigkeit (sōphrosynē ) eine ethische. Zagzebski überzeugt diese Argumentation nicht. Der mögliche Konflikt zwischen Vernunft und Begehren sei deshalb kein ausreichender Beleg, weil Aristoteles aus der Tatsache, dass eine Begierde (desire) mit einer anderen in Konflikt geraten könne, auch nicht schlussfolgere, dass sie verschiedenen Seelenteilen zuzuordnen seien. 20 Dieses Gegenargument wird von ihr in einer Fußnote allerdings gleich wieder zurückgenommen. Darin stellt sie zu Recht fest, dass Begierden Aristoteles zufolge gar nicht miteinander konfligieren können; höchstens lassen sie sich nicht zugleich befriedigen, aber das ist ein anderes Problem. In Konflikt geraten kann eine Begierde, so Aristoteles, nur mit einer Entscheidung (prohairesis), und die ist etwas Vernünftiges (vgl. NE III 4: 1111b10–17). Der mögliche Konflikt zwischen Vernunft und Begehren ist also ein echter Konflikt und damit ein starkes Indiz dafür, dass wir es tatsächlich mit artverschiedenen Kräften in der menschlichen Seele zu tun haben. Zagzebskis Gegenargumentation geht damit ins Leere. 21 Um positiv zu zeigen, dass die intellektuellen Tugenden eine Unterart der ethischen bilden, schaut Zagzebski in einem zweiten Schritt auf die den beiden Gruppen von Tugenden jeweils zugrundeliegende Motivation. Nur ein Unterschied in dieser Hinsicht, so ihre These, könne relevant sein. Während nun alle intellektuellen Tugenden Motivationen zum Wissen seien, seien alle sonstigen Aristoteles: NE I 13 (1103a3–6). Vgl. Zagzebski: Virtues of the Mind, S. 143. 21 Das gilt auch für ihre weiteren Argumente, die von anderen Autoren aufgegriffen werden, u. a. von Michael S. Brady: „Moral and Intellectual Virtues“, in: Nancy Snow (Hrsg.): The Oxford Handbook of Virtue, Oxford 2018, S. 783–799. Dazu zählt das Argument, dass die beiden Tugendarten deshalb nicht streng voneinander unterschieden werden könnten, weil sie eng miteinander verbunden seien; gutes Denken ist auf den sinnlichen Seelenteil und die Kontrolle unseres Begehrens auf den vernünftigen Seelenteil angewiesen. Das ist richtig und wird auch schon von Aristoteles so gesehen (vgl. NE VI 13). Doch um feststellen zu können, dass zum guten Denken und Handeln jeweils zwei verschiedene Dinge zusammenkommen müssen, muss man sie zunächst voneinander unterscheiden – z. B. so, wie Aristoteles das tut. 19 20
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ethisch-moralischen Tugenden durch die Motivation zum Guten vereint; und Wissen, so Zagzebski, sei eine Form des Guten. 22 Diese These lädt zu vielen grundsätzlichen Reflexionen ein, ja sie scheint direkt ins Feld der allgemeinen Güter- und Werttheorie zu führen, zur Lehre von den Transzendentalien, ihrer Verschiedenheit und Konvertierbarkeit usw. Ich erspare mir diese Reflexionen hier. Zagzebski tut das auch. Stattdessen interessiert mich die Frage: Was bedeutet Zagzebskis Vorschlag für eine Taxonomie der intellektuellen Tugenden? Beim Versuch der Beantwortung dieser Frage stößt man sowohl auf struktureller wie auf inhaltlicher Ebene auf viele offene Fragen. Strukturell stellt sich die erste Frage beim Blick auf die höchste Gattung. Für Zagzebski ist die menschliche Tugend gleichbedeutend mit der ethischen Tugend (im aristotelischen Sinn). Ist die intellektuelle Tugend dann eine Art oder eine Unterart? Verhält sie sich wie eine Art zur Gattung, weil es neben der menschlichen Tugend keine andere Tugend gibt? Oder verhält sie sich wie eine Unterart zur Art, weil die menschliche Tugend nur eine unter mehreren Tugendarten ist, verschieden z. B. von den Tugenden der Tiere? Zagzebski spricht von einem „subset“. Ob sie das im Sinne von Art oder Unterart meint, bleibt offen. Was auch immer sie meint, sie ist mit einer zweiten Frage konfrontiert: Kann etwas eine Art oder Unterart sein, wenn es keine weitere Art oder Unterart gibt? Welchen Sinn hat es, die intellektuellen Tugenden als eine Form der ethischen zu verstehen, wenn offen ist, ob es noch andere Formen ethischer Tugend gibt? Tapferkeit z. B. ist eine ethische Tugend, für Aristoteles wie für Zagzebski. Inwiefern kann, wie Zagzebski behauptet, intellektuelle Tapferkeit eine Form der ethischen Tapferkeit sein, wenn nicht feststeht, dass es auch noch andere Formen gibt, z. B. ästhetische Tapferkeit? Ein solcher Begriff bliebe immerhin in Zagzebskis Logik, denn auch das Schöne kann man als eine Form des Guten verstehen. 23 Ästhetisch tapfer wären z. B. avantgardistische Künstler, die um des Schönen willen riskieren, arm zu sterben Vgl. Zagzebski: Virtues of the Mind, S. 166–168. Um den Zirkel zu vermeiden, der entsteht, wenn man die intellektuellen Tugenden über die Motivation zum Wissen definiert und das Wissen über die intellektuellen Tugenden, drückt sich Zagzebski auch so aus: „the individual intellectual virtues can be defined in terms of derivatives of the motivations for truth or cognitive contact with reality“ (S. 168). 23 In diese Richtung geht der Vorschlag von Cameron Boult, Christoph Kelp, Johanna Schnurr und Mona Simion: „Epistemic Virtues and Virtues with Epistemic Content“, in: Christoph Kelp, John Greco (Hrsg.): Virtue Theoretic Epistemology. New Methods and Approaches, Cambridge 2020, S. 42–57. Ihnen zufolge lassen sich Normen und dann auch Tugenden darüber klassifizieren, mit welchem Typ eines Gutes oder Wertes sie assoziiert werden: Versprechen zu halten sei ein moralisches Gut, Schönheit ein ästhetisches und Wissen eben ein epistemisches. 22
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oder ihre gesellschaftliche Anerkennung als Künstler zu verlieren. Zagzebski erwähnt neben den intellektuellen Tugenden kein einziges anderes „subset“ ethischer Tugenden. Inwiefern bilden die intellektuellen Tugenden dann überhaupt ein „subset“? Offen bleibt auch, ob sich die intellektuellen Tugenden ihrerseits in verschiedene Unterarten gliedern. Würde Zagzebski mit Aristoteles die theoretisch-intellektuellen Tugenden, die zum Erfassen ewiger Wahrheiten motivieren, als eine Unterart betrachten, die praktisch-intellektuellen Tugenden als eine zweite? Und wie viele partikulare intellektuelle Tugenden gibt es eigentlich? Zagzebski betont, dass es schwer sei, die begrifflichen Grenzen der individuellen Tugenden zu bestimmen, sowohl innerhalb der Gruppe der intellektuellen als auch in der der anderen ethischen Tugenden. 24 Ihre Liste intellektueller Tugenden ist deswegen auch nicht mehr als eine Aufzählung möglicher Kandidaten und Beispiele. Auf eher inhaltlicher Ebene stellen sich ähnlich viele Fragen. Wenn die intellektuellen Tugenden Formen der ethischen Tugend im Sinne des Aristoteles sind, müssten sie dann nicht allesamt zwischen zwei Lastern stehen? Zagzebski ordnet etliche der intellektuellen Tugenden, die sie nennt, tatsächlich in das von Aristoteles bekannte Dreier-Schema ein. Die intellektuelle Tapferkeit z. B. sei die Mitte zwischen dem Zuviel an Furcht, also dem Laster der intellektuellen Feigheit, und dem Zuwenig an Furcht, also dem intellektuellen Übermut (rashness). 25 Aber funktioniert das auch bei Einsicht (insight), Klugheit, intellektueller Ehrlichkeit, intellektueller Fairness und Aufgeschlossenheit, einigen von Zagzebskis weiteren Beispielen intellektueller Tugenden? Bei anderen Posten auf ihrer Liste ist fraglich, ob es sich überhaupt um Tugenden handelt, etwa bei Neugier (curiosity) oder Originalität. Neugier als Motivation, jederzeit vielerlei wissen zu wollen, scheint eher ein Laster zu sein. Originalität ist dagegen eher eine Fähigkeit, d. h. ethisch neutral. Kurz gesagt: Mir scheint, dass wir mit Zagzebski beim Versuch, eine taxonomische Ordnung der intellektuellen Tugenden zu finden, nicht weit kommen. Es stellt ganz sicher eine Errungenschaft dar, mit einer Definition des Tugendbegriffs zu arbeiten, die beide Arten von Tugend umfasst, ethische und intellektuelle. Aber der Vorschlag, die intellektuellen als ethische Tugenden zu verstehen, ist nicht gut begründet, nicht gut ausgeführt und auch nicht sehr plausibel. Er führt uns weder zu einer Systematik der ethischen noch der intellektuellen Tugenden.
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Vgl. Zagzebski: Virtues of the Mind, S. 168. Vgl. ebd., S. 152.
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2. Ein zweiter Versuch: Zwei distinkte Wertkategorien, zwei Gattungen der Tugend
Ein völlig anderes, nämlich werttheoretisch begründetes Tugendverständnis verteidigt Christoph Halbig. 26 Halbig ist anders als Zagzebski weder ein Tugendethiker noch ein Tugendepistemologe und verglichen mit ihr auch viel radikaler in seiner Zurückweisung von Aristoteles. Wie Aristoteles hält er ethische und intellektuelle Tugenden allerdings für distinkte, gleichrangige Genera. Im Sinn einer rekursiven Werttheorie versteht Halbig die Tugenden als „intrinsisch wertvolle Einstellungen zu anderen intrinsischen Werten“. 27 Für ihn ist die Axiologie der Schlüssel zur Ontologie der Tugenden. Damit schließt er an Überlegungen von Thomas Hurka an, der jedoch, anders als Halbig, diesen Tugendbegriff innerhalb einer konsequentialistischen Ethik verteidigt. Hurka geht von drei intrinsisch wertvollen Basisgütern aus: Lust (pleasure), Wissen (knowledge) und Erfolg bzw. Leistung (achievement); Schmerz (pain), falschen Glauben (false belief ) und Scheitern (failure) betrachtet er als Basisübel. 28 Alle angemessenen Reaktionen auf diese Basisgüter und -übel sind seiner Theorie zufolge ihrerseits intrinsisch gut, alle unangemessenen Reaktionen intrinsisch schlecht. Das heißt: Wenn x intrinsisch gut ist, dann ist auch x um seiner selbst willen zu lieben intrinsisch gut (und x um seiner selbst willen zu hassen intrinsisch schlecht); und wenn x intrinsisch schlecht ist, dann ist auch x um seiner selbst willen zu lieben intrinsisch schlecht (und x um seiner selbst willen zu hassen intrinsisch gut). 29 Der intrinsische Wert oder Unwert bleibt mit jeder rekursiven Anwendung erhalten. Genauso wie z. B. jemandes Liebe zum Wissen intrinsisch gut sei, sei es auch die Liebe, die ein anderer dieser Liebe gegenüber empfindet. 30 Die Tugenden setzt Hurka schließlich mit den intrinsischen Gütern jenseits der Basisgüter und die Laster mit den intrinsischen Übeln jenseits der Basisübel gleich. Diesem Tugendverständnis schließt sich Halbig im Grundsatz an, auch wenn er sich in etlichen Punkten von Hurka absetzt. So glaubt Halbig, dass die Liste von Basiswerten eher lang ist, weil z. B. auch dem Schönen ein irreduzibel eigenständiger Wert zukomme. Er plädiert anders als Hurka für eine 26
Vgl. Christoph Halbig: Der Begriff der Tugend und die Grenzen der Tugendethik, Berlin
2013. Ebd., S. 18 und S. 50. Vgl. Thomas Hurka: Virtue, Vice, and Value, Oxford 2001, S. 12 respektive S. 15. 29 Vgl. ebd., S. 13 und S. 16. 30 Vgl. ebd., S. 15: „Loving the good of knowledge is intrinsically good, as is loving the love of that good.“ 27 28
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Pluralität sowohl der Arten von Objekten, auf deren Wert sich Tugenden und Laster beziehen (neben Sachverhalten z. B. auch Personen), als auch der Weisen angemessener Reaktionen darauf (neben dem Lieben und Fördern z. B. auch das Achten). Im Gegensatz zu Hurka hält er Tugenden und Laster zudem für robuste Charaktermerkmale bzw. stabile Dispositionen; das verbindet ihn mit Zagzebski. 31 Anders als diese würde er die Tugenden allerdings nicht als Vollkommenheiten „der Seele“ bezeichnen, weil er die aristotelische Seelenlehre für zu voraussetzungsreich und die platonische für heute weitgehend obsolet hält. 32 Obwohl Halbig wie Zagzebski Aristoteles für die Weise, wie dieser die Unterscheidung der beiden Arten von Tugend herleitet, kritisiert, übernimmt er nicht ihre These von der Unterordnung der intellektuellen unter die ethischen Tugenden. Er argumentiert vielmehr für eine Gleichrangigkeit „beider Genera von Tugenden“. Entscheidend ist für ihn das formale Ziel, auf das tugendhafte Personen gerichtet seien. Bei den ethischen Tugenden handele es sich um praktische Einstellungen, „deren formales Ziel das Gute bildet“; die dianoetischen Tugenden stellten dagegen „Haltungen dar, die sich in Einstellungen äußern, die am formalen Ziel des Wahren orientiert sind“. 33 Die Unterschiedlichkeit dieser Wertkategorien begründe die Distinktion der zwei Gattungen der Tugend. Während also Zagzebski von den Motiven her denkt und Wissen als eine Form des Guten betrachtet, klassifiziert Halbig über formale Ziele und höchste Werte und stellt das Gute neben das Wahre. Das führt zu einer Frage, die sich bei der Diskussion von Zagzebskis Position schon angekündigt hat, jetzt aber ins Zentrum rückt: Wie verhält sich das Gute zum Wahren und zum Wissen? Und wie verhält sich das Wissen zum Wahren? Sind die verschiedenen intellektuellen Tugenden durch ihren Bezug zum Wissen oder zum Wahren vereint? Realisiert Wissen den Wert des Wahren oder den davon verschiedenen Wert des Guten? Weil Halbig sich den Tugenden und Lastern werttheoretisch nähert, sind diese Fragen für ihn eigentlich von entscheidender Bedeutung. Jeder, der die Ontologie der Tugenden, und damit auch ihre Taxonomie, axiologisch begründet, braucht erstens eine umfassende Systematik der Werte und zweitens eine klare Auffassung davon, wie sich aus der axiologischen Ordnung die tugendontologische ergibt. Halbig aber hat, was die Werttheorie betrifft, nicht mehr als grobe Hinweise anzubieten. Wir erfahren von ihm zwar, dass das Gute und das Wahre grundlegende Werte sind, aber wir erfahren nicht, ob sich die Liste grundlegender Werte 31 32 33
Vgl. Halbig: Begriff der Tugend, S. 96–101. Vgl. ebd., S. 79 und S. 175–176. Ebd., S. 78; vgl. auch S. 55–56.
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darin erschöpft. Überdies deutet Halbig an, dass sich das Gute dem Wahren wie auch umgekehrt das Wahre dem Guten unterordnen lässt. 34 Wir erfahren, dass die Basiswerte Spezifizierungen des Guten und des Wahren sind, aber nicht, welche und wie viele Basiswerte es gibt und welcher jeweils welchen Grundwert spezifiziert. Wissen ist eine Spezifizierung des Wahren und Lust eine des Guten. Ist der Nutzen eine weitere Form des Guten? Und wohin gehört das Schöne? Halbig belässt es bei der Formulierung der Frage: „Sind ästhetische Werte basale, oder lassen sie sich auf Lust und Wissen zurückführen?“ 35 Wir erfahren, dass sich auch die Basiswerte weiter spezifizieren lassen. So kann das Schöne offenbar eine Form der Lust oder des Wissens sein, und der Eigennutz, um den es Halbig zufolge einem mutigen Bankräuber geht, 36 scheint rein begrifflich eine Form des Nutzens zu sein. Aber wir erfahren nichts über weitere Spezifizierungen. Das ist schade, denn von den Basiswerten und ihren Arten sollen sich ja die verschiedenen Tugenden und Laster ableiten. Halbig versichert, dass die Liste der Basiswerte einerseits nicht zu kurz, d. h. vor allem länger als bei Hurka, andererseits auch nicht zu lang und „unüberschaubar“ sei. 37 Er präsentiert jedoch keine solche Liste. Sie gehöre in die allgemeine Werttheorie und liege daher außerhalb der Grenzen eines Buches über die Tugend. Eine werttheoretische Begründung der Tugendlehre hat also zwei Teile: erstens eine allgemeine Werttheorie und zweitens eine Tugendethik, die die Tugenden zu den so bestimmten Werten in Beziehung setzt. Im Unterschied dazu beinhaltet bei Aristoteles die Ontologie schon die Axiologie; zu wissen, was ein Kitharaspieler ist, sagt er, sei dasselbe wie zu wissen, was ein guter Kitharaspieler ist, und umgekehrt (vgl. NE I 6). Etwas ausführlicher als mit Blick auf die Werte ist Halbig bei den Tugenden und Lastern. Über ihre taxonomische Ordnung erfahren wir bei ihm mehr als bei Zagzebski, obwohl Halbig auf die ethischen Tugenden und Laster fokussiert ist. Deren interne Strukturierung wendet er jedoch auch auf die intellektuellen Tugenden an. Das hat einen Vor- und einen Nachteil, wie sich gleich zeigen wird. Zuvor sei erwähnt, dass Halbig, bevor er die Gattung der ethischen Tugenden von der der dianoetischen unterscheidet, klar macht, dass diese Tugenden von uns erworben werden müssen. Daraus folge, dass wir für sie verantwortVgl. ebd., S. 56. Die Orientierung am Guten setze die Orientierung am Wahren voraus, insofern z. B. eine mitfühlende Person wissen müsse, wer wirklich leidet und Mitgefühl nötig hat. Der Wert der Wahrheit wiederum könne den Wert des Guten spezifizieren, insofern z. B. eine ehrliche Person auch dann bei der Wahrheit bleibe, wenn das ihr Glück gefährdet. 35 Ebd., S. 175. 36 Vgl. ebd., S. 152. 37 Ebd., S. 54 und S. 175. 34
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lich sind und ihretwegen gelobt oder getadelt werden können. Natürliche Tugenden dagegen sind nicht erworben. Mit Aristoteles und gegen Hurka besteht Halbig auf diesem Unterschied, auch wenn er die natürlichen Tugenden mit Hurka und gegen Aristoteles als echte Tugenden zu betrachten scheint. Die Unterscheidung der erworbenen von den natürlichen Tugenden begründet er aber, soweit ich sehe, nicht axiologisch, sondern psychologisch: erstere gehörten zum Kern einer Person, letztere blieben an der Peripherie. 38 Wenn das stimmt, dann hat die von ihm vorgeschlagene taxonomische Ordnung einen Bruch. Denn dann ist alles, was unter die Gattung der erworbenen Tugend fällt, axiologisch abgeleitet, der Gattungsunterschied zwischen erworbenen und natürlichen Tugenden selbst aber nicht. Halbig kümmert sich im weiteren Verlauf nicht weiter um die natürlichen Tugenden. Es liegt aber die Vermutung nahe, dass alle Arten und Unterarten der erworbenen Tugend auch die Gattung der natürlichen Tugend strukturieren. Tapferkeit und Freigebigkeit, so Halbig, können als Tugenden natürlich und erworben sein. Das betrachte ich als nachteilig, denn in einer guten Taxonomie kommt jede Tugend genau einmal vor. Dieser Doppelstruktur begegnen wir im Feld der erworbenen Tugenden noch einmal. Hier differenziert Halbig auf axiologischer Grundlage zunächst, wie gezeigt, zwischen den ethischen und den dianoetischen bzw. intellektuellen Tugenden. Ethische Tugenden sind Orientierungen am Wert des Guten, intellektuelle am Wert des Wahren. Für Halbig ist Ehrlichkeit folglich eine intellektuelle Tugend. Sie lasse sich aber noch genauer der Spezies der substanziellen intellektuellen Tugend zuordnen. Die Unterscheidung zwischen substanziellen und strukturellen Tugenden, zwei „ontologisch distinkte[n] Spezies“, 39 nimmt er sowohl bei den ethischen als auch den intellektuellen Tugenden vor. Er rechtfertigt sie mithilfe des unterschiedlichen Bezugs auf bestimmte Werte und damit einhergehender spezifischer Arten von Gründen. Halbig schreibt: Wenn wir erfahren, dass jemand ehrlich gehandelt hat, erfahren wir damit zugleich, an welchen Gründen er sich orientiert hat, nämlich an solchen, die auf die Wahrheit ausgerichtet sind. Wenn wir hingegen erfahren, dass jemand mutig gehandelt hat, erfahren wir nichts über die Gründe, aus denen er gehandelt hat: Wir wissen nicht, um welchen Wert es ihm in seinem Handeln ging. […] Alles, was wir wissen, ist, dass der Mutige das, was er vor dem Hintergrund der für ihn bestehenden Gründe als insgesamt richtig erkannt hat, angesichts von Gefahren Vgl. ebd., S. 150. Ob damit die natürlichen Tugenden von der Gruppe der ethischen „ausgeschlossen“ (vgl. S. 146) oder bloß „unterschieden“ (S. 151) sind, bleibt unklar. 39 Ebd., S. 157. 38
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und der eigenen Angst vor diesen Gefahren tatsächlich ausgeführt hat. Wir wissen also um die Struktur eines solchen Handelns, nicht aber um die substanziellen Gründe, die es faktisch anleiteten. 40
Ob das wirklich stimmt, lasse ich hier offen. Mich interessiert die taxonomische Ordnung. Für Halbig gehören Gerechtigkeit, Hilfsbereitschaft und Wohltätigkeit zu den substanziellen ethischen Tugenden, während er Fleiß, Geduld und Authentizität ebenso wie Tapferkeit zu den strukturellen ethischen Tugenden rechnet. Doch es gibt noch eine weitere Ebene. Auf beiden Seiten könne man nämlich manche Tugenden als Kardinaltugenden herausheben und ihnen jeweils bestimmte andere Tugenden unterordnen. Wohltätigkeit sei beispielsweise eine kardinale substanzielle ethische Tugend, Freigebigkeit und Freundlichkeit deren untergeordnete Formen. Der Grund für diese Strukturierung ist werttheoretisch: Freigebigkeit und Freundlichkeit sind beide Orientierungen am Wohl anderer, sie spezifizieren dieses aber je anders, insofern der Freigebige etwas ihm Wertvolles opfere und der Freundliche ein höheres Maß an Sympathie für sein Gegenüber mitbringe. 41 Tapferkeit und Besonnenheit dagegen, so Halbig, sind aussichtsreiche Kandidaten für den Status struktureller ethischer Kardinaltugenden. 42 Geduld wäre dann vielleicht eine Spezifizierung der Tapferkeit usw. Weil sich Halbig auf die ethischen Tugenden konzentriert, führt er die Unterordnung der Einzel- unter die Kardinaltugenden und damit den Gedanken einer fortschreitenden Spezifizierung im Bereich der substanziellen und strukturellen intellektuellen Tugenden nicht aus. Eine solche Spezifizierung scheint ihm zufolge aber auch hier möglich zu sein. Bei den ethischen Tugenden ist sie nötig, so Halbig, um die Liste der Einzeltugenden zu strukturieren und im Ansatz zu erkennen, wie man die Frage nach der Abschließbarkeit der Liste beantworten könnte. Diese Frage stellt sich ebenso mit Blick auf die intellektuellen Tugenden, auch wenn Halbig hier neben der Ehrlichkeit nur die intellektuelle Offenheit, Tapferkeit, Sorgfalt und Hartnäckigkeit als Einzeltugenden nennt. 43 Es wird deutlich, dass Halbigs Klassifikationssystem viel ausgefeilter ist als das von Zagzebski. Das ist ein Vorteil. Ein Nachteil ist allerdings die mehrEbd., S. 152–153. Halbig spricht durchgängig von Mut, meint damit aber nicht den Affekt, sondern die Tugend der Tapferkeit. Außerhalb von Zitaten spreche ich dagegen lieber von Tapferkeit, wenn es um die Tugend geht. 41 Vgl. ebd., S. 170. 42 Vgl. ebd., S. 176. Tapferkeit kann aber auch eine intellektuelle Tugend sein; vgl. ebd., S. 81 und 82. 43 Vgl. ebd., S. 79–82. 40
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fache Doppelstruktur. Die Einteilung der erworbenen Tugenden wiederholt sich vermutlich vollständig bei den natürlichen Tugenden, und die Einteilung der ethischen erworbenen Tugenden ist dieselbe wie bei den intellektuellen. Das führt dazu, dass z. B. Tapferkeit als strukturelle Kardinaltugend eine natürliche und eine erworbene sowie jeweils eine ethische und eine intellektuelle Tugend sein kann. Wenn eine Tugend in einer Taxonomie viermal vorkommt, dann stimmt etwas mit der Taxonomie nicht.
3. Ein dritter Versuch: Erst die Laster, dann die Tugenden
Zagzebski und Halbig weisen im Zuge ihrer Analysen auf eine Überlegung hin, die auf Georg Henrik von Wright zurückgeht und sich auch bei Philippa Foot findet. In Foots Worten ausgedrückt geht es darum, Tugenden als „Korrektive“ zu verstehen, „wobei eine jede von ihnen einer bestimmten Versuchung entgegenwirkt oder ein spezifisches Motivationsproblem ausgleicht“. 44 Nur weil Angst und Luststreben bei uns Menschen oft motivational wirksam sind, so Foot, sind Tapferkeit und Mäßigkeit Tugenden. Auch gebe es „beispielsweise eine Tugend des Fleißes nur, weil die Faulheit eine Versuchung ist, und eine Tugend der Bescheidenheit nur, weil sich die Menschen so gern überschätzen. Die Hoffnung ist eine Tugend, weil auch die Verzweiflung eine Versuchung ist“. 45 Foot denkt vor allem an die ethischen Tugenden, wie man sieht. Für Zagzebski ist dieser Gedanken aus den oben erläuterten Gründen auch im Bereich der intellektuellen Tugenden relevant. Würde der menschliche Trieb nach Wissen natürlicherweise und unvermeidlich zum Erfolg führen, sagt sie, hätten wir keinerlei Bedarf an intellektuellen Tugenden. „But this motivation can be deficient or distorted in many ways, leading to intellectual vices.“ 46 Zagzebski beruft sich u. a. auf John Dewey, der auf bestimmte zu kultivierende Haltungen des reflektierten Denkens aufmerksam gemacht hat, nicht zuletzt auf die Aufgeschlossenheit bzw. Offenheit (open-mindedness), die er als Freiheit von Vorurteil, Parteilichkeit (partisanship) und dem Unwillen, neue Probleme zu bedenken, definiert. 47 Weder Dewey noch Foot, Zagzebski oder Halbig vertreten explizit die These, dass sich die Tugenden am besten über die ihnen entgegengesetzten Philippa Foot: „Tugenden und Laster“, in: Ursula Wolf, Anton Leist (Hrsg.): Philippa Foot. Die Wirklichkeit des Guten. Moralphilosophische Aufsätze, Frankfurt/Main 1997, S. 116. 45 Ebd., S. 117. Streng genommen ist Faulheit eigentlich keine Versuchung, sondern das Laster, der Versuchung des Nichtstuns nachzugeben. 46 Zagzebski: Virtues of the Mind, S. 170. 47 Ebd., S. 173. 44
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Laster bestimmen ließen. Eine solche These könnte aber an manche ihrer Formulierungen anknüpfen. 48 Der Gedanke dahinter wäre folgender: Nur wenn wir verstehen, was alles schiefgehen kann im Denken und Handeln, d. h. welche Einstellungen und Charakterzüge uns vom richtigen Denken und guten Handeln abhalten, können wir sehen, worin jeweils die Bestform besteht. Für den Versuch einer Taxonomie intellektueller Tugenden hieße das, den Weg dorthin über eine Ordnung der intellektuellen Laster zu gehen. Lassen sich die Versuchungen zum schlechten Denken möglicherweise leichter erkennen als die intellektuellen Vollkommenheiten? Wenn Tugenden auch im intellektuellen Bereich schlechte Denkhaltungen korrigieren, sind die intellektuellen Laster den Tugenden dann nicht epistemisch oder gar ontologisch vorgeordnet? Sollten wir also nicht besser mit einer Ordnung möglicher Denklaster beginnen und die der Tugenden davon ableiten? Da wir weder mit Zagzebski noch mit Halbig zu einer befriedigenden Taxonomie intellektueller Tugenden kommen, bietet sich dieser neue Gedanke für einen dritten Anlauf an. Er hätte den Vorteil, dass wir die intellektuellen Tugenden direkt über die Laster bestimmen könnten und nicht erst den „Umweg“ über einen allgemeinen Tugendbegriff oder eine Axiologie nehmen müssten. Dieser Weg scheint auch deshalb vielversprechend, weil sich die Philosophinnen und Philosophen im Bereich der Tugendepistemologie, anders als ihre Kolleginnen und Kollegen in der Tugendethik, viel und gerne mit den Lastern beschäftigen. Was mit Einzelanalysen einiger intellektueller Laster begann, 49 ist mittlerweile zu einem eigenen Forschungsfeld geworden, der so genannten „Vice Epistemology“. 50 Darunter ist ein Zweig der Erkenntnistheorie zu verstehen, der sich auf das Wesen (the nature), die Identität und die epistemologische Bedeutsamkeit intellektueller Laster konzentriert. Quassim Cassam, von dem diese Beschreibung stammt, 51 legt eine Priorität der intellektuellen Laster vor den Tugenden tatsächlich nahe, wenn er behauptet: „Indeed, So erklärt Halbig die Bewunderung ethischer Tugenden darüber, dass sie von jemandem erworben wurden, der auch lasterhaft hätte werden können: „Es ist eine Leistung, dieser Versuchung widerstanden […] zu haben.“ (Halbig: Begriff der Tugend, S. 150) Auch Hurka beginnt mit einer Kategorisierung der Laster, da diese „fundamentaler“ sei als bei den Tugenden (Hurka: Virtue, Vice, Value, S. 92). 49 Vgl. Miranda Fricker: Epistemic Injustice. Power and the Ethics of Knowing, Oxford 2007; Jason Baehr: „Epistemic Malevolence“, in: Heather Battaly (Hrsg.): Virtue and Vice, Moral and Epistemic, Chichester 2010, S. 189–213; Heather Battaly: „Epistemic Self-Indulgence“, in: Metaphilosophy 41 (2010), S. 214–234. 50 Vgl. zuletzt Quassim Cassam: Vices of the Mind. From the Intellectual to the Political, Oxford 2019; Ian James Kidd, Heather Battaly, Quassim Cassam (Hrsg.): Vice Epistemology, London 2021. 51 Vgl. Quassim Cassam: „Vice Epistemology“, in: The Monist 99 (2016), S. 159–160. 48
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when it comes to the epistemological predicament of human beings, vices are arguably more important.“ 52 Den Lastern scheint ein explanatorischer, vielleicht sogar ein ontologischer Vorrang zuzukommen. 53 Das würde auch erklären, warum etliche der diskutierten intellektuellen Tugenden negativ, d. h. als Vermeidung eines Lasters definiert werden. So bestimmt Michael Brady die intellektuelle Mäßigkeit (temperance, moderation) als Disposition, einer Überzeugung nicht allein deshalb anzuhängen, weil sie nützlich, z. B. tröstlich wäre; und intellektuelle Gerechtigkeit ist für ihn die Disposition, nicht einem Vorurteil (bias) zu erliegen. 54 Ergibt sich also aus den Erkenntnissen im Feld der „Vice Epistemology“ eine Systematik intellektueller Laster, die wir als Ausgangspunkt für eine Taxonomie der intellektuellen Tugenden nutzen könnten? Eine erste grundlegende Unterscheidung von Formen intellektueller Laster hat Heather Battaly vorgeschlagen. 55 Sie versteht unter einem intellektuellen Laster, grob gesagt, eine Disposition, die eine Person zu einer schlechten Denkerin macht. 56 Engstirnigkeit (closed-mindedness) ist eines ihrer zentralen Beispiele. Die basale Einteilung der intellektuellen Laster nimmt Battaly über die Arten von Ursachen vor, die zu schlechtem Denken führen. Schlechtes Denken könne erstens Resultat natürlicher, d. h. nicht erworbener Dispositionen sein. So führen etwa kognitive Handicaps oder ein sehr schlechtes Sehvermögen typischerweise zu falschen Überzeugungen. Je für sich genommen sind sie Ursache entweder der Produktion schlechter epistemischer Effekte oder des Verhinderns der Produktion guter epistemischer Effekte. Deswegen nennt Battaly diese Laster „effects vices“. Wirkungslaster, wie man im Deutschen sage könnte, sind instrumentell schlecht. Sie sind Laster im Sinne von Battalys Definition, auch wenn die lasterhafte Person für sie nicht verantwortlich gemacht und daher auch nicht getadelt werden kann. 57 Niemand kann etwas für seine vergleichsweise schlechte natürliche Ausstattung. Ebd., S. 159. Vgl. auch Sarah Wright: „Virtue Responsibilsm“, in: Nancy Snow (Hrsg.): The Oxford Handbook of Virtue, Oxford 2018, S. 747–764, die auf S. 759 schreibt: „If our aim in epistemology is to improve inquiry, uncovering intellectual vice can help us discover where we need improvement.“ 54 Vgl. Brady: Moral and intellectual Virtues, S. 794. 55 Vgl. Heather Battaly: „Varieties of Epistemic Vice“, in: Jonathan Matheson, Rico Vitz (Hrsg.): The Ethics of Belief, Oxford 2014, S. 51–76, sowie Battaly: „Closed-Mindedness as an Intellectual Vice“, in: Christoph Kelp, John Greco (Hrsg.): Virtue Theoretic Epistemology. New Methods and Approaches, Cambridge 2020, S. 15–41. 56 Vgl. Battaly: Closed-Mindedness, S. 21. 57 Diese Art der Laster korrespondiert also dem „virtue reliabilism“, d. h. dem Strang der Tugendepistemologie, der unter den intellektuellen Tugenden vornehmlich gute kognitive Vermögen und Fähigkeiten versteht. Battaly spricht deshalb auch von „reliabilist vices“. 52 53
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Schlechtes Denken könne zweitens Resultat eines schlechten epistemischen Charakters sein, d. h. von erworbenen Dispositionen, die in schlechten epistemischen Motiven und Werten gründen. Wer z. B. charakterlich engstirnig sei, messe dem Erhalt der eigenen Ansichten zu viel Wert bei und der Wahrheit sowie dem unabhängigen Denken zu wenig. Das führe zu einem Unwillen, sich ernsthaft mit relevanten anderen Optionen des Denkens zu beschäftigen. Weil wir für Erwerb und Besitz der intellektuellen Laster in diesem Sinne verantwortlich sind, bezeichnet Battaly sie als „responsibilist vices“. 58 Charakterlaster, wie man im Deutschen sagen könnte, sind ihr zufolge intrinsisch schlecht. Schließlich könne schlechtes Denken drittens Resultat eines schlechten epistemischen Charakters sein, für den die lasterhafte Person jedoch nicht verantwortlich gemacht werden kann, weil sie den Prozess des Erwerbs des Lasters nicht unter Kontrolle hat. Battaly denkt z. B. an Personen, deren Engstirnigkeit das Resultat schlechter äußerer Umstände ist, einer epistemisch feindseligen Umgebung etwa, in der man, wie in der Hitlerjugend oder beim IS, permanenter Indoktrination ausgesetzt ist. Dadurch würden nicht nur die Verhaltensweisen der Indoktrinierten beeinflusst, sondern auch ihre Haltungen und Dispositionen, also ihre epistemischen Motive und Werte. Die in diesem Sinne verstandenen intellektuellen Laster betreffen also nicht nur die Effekte, sondern auch den Charakter einer Person; deshalb sind sie keine Wirkungslaster. Sie sind aber auch keine reinen Charakterlaster, weil die lasterhafte Person für ihre Lasterhaftigkeit nicht zur Verantwortung zu ziehen ist. Battaly nennt diese Laster „personalist vices“, Laster im Sinne des Personalismus. 59 Es gibt gute Gründe, daran zu zweifeln, dass Wirkungslaster und Laster im Sinne des Personalismus überhaupt intellektuelle Laster sind. Aus denselben Gründen, aus denen es unplausibel erscheint, natürliche Begabungen wie ein gutes Seh- oder Erinnerungsvermögen als Tugenden zu betrachten, ist es auch unplausibel, angeborene Unvermögen zu den Lastern zu zählen. 60 Und wenn Diese Art der Laster korrespondiert dem „virtue responsibilism“, den u. a. Linda Zagzebski vertritt. Battaly spricht daher auch von „responsibilist vices“. 59 Zum Personalismus als dritter Form der „Virtue Epistemology“ vgl. Michael Slote, Heather Battaly: „Sentimentalist Virtue Epistemology: The Challenge of Personalism“, in: Nancy Snow (Hrsg): The Oxford Handbook of Virtue, Oxford 2018, S. 765–782. 60 Dazu gehört auch ein Verschwörungsglauben, wie ihn Quassim Cassam beschreibt, nämlich ein konspiratives Denken (in seinem Beispielfall über den 11. September), das nicht notwendigerweise erworben ist, keinen stabilen Charakterzug darstellt, das der Verschwörungstheoretiker selbst aber auch nicht einfach abstellen kann; vgl. Cassam: Vice Epistemology, S. 161–163 und S. 169. 58
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das Kriterium für diesen Ausschluss die Tatsache ist, dass wir nichts für unsere natürlichen Vermögen und Unvermögen können, dass also Besitz und Erwerb dieser Dispositionen nicht in unserer Hand liegen, dann sind auch Laster im Sinne des Personalismus keine intellektuellen Laster. Es scheint mir generell eine schlechte Idee zu sein, in die Definition einer Disposition den Gedanken aufzunehmen, wie sich diese unter ungünstigen Umständen darstellt. Darüber hinaus gilt ganz allgemein: je weiter und umfassender das Verständnis von intellektuellen Lastern ist, um so komplizierter wird es, sie taxonomisch zu ordnen. Wir sind also gut beraten, von einem engen Verständnis intellektueller Laster auszugehen, zu denen nur die Charakterlaster gehören. Damit könnte man auch das Problem vermeiden, dass ein Laster in der Taxonomie mehrfach vorkommt. Engstirnigkeit ist nur dann ein Laster, wenn man aus eigenem Versagen heraus engstirnig geworden ist. Damit ist für eine Taxonomie intellektueller Laster freilich noch nicht viel gewonnen. Das Ausschließen unplausibler Verständnisse hilft, den Begriff des intellektuellen Lasters zu schärfen. Es trägt aber nichts zur Ordnung der Laster bei. Der einzige Gedanke, den wir bei Battaly in dieser Hinsicht finden, ist die These, dass Dogmatismus eine Art (species) bzw. Teilmenge (sub-set) von Engstirnigkeit ist. 61 Dogmatisch sei eine Person, deren Unwille, sich ernsthaft mit relevanten anderen Optionen des Denkens zu beschäftigen, bereits bestehende Überzeugungen betrifft. Dogmatismus setze ein Dogma voraus, d. h. eine bestimmte Überzeugung, der man anhänge. Engstirnigkeit könne dagegen auch dann vorliegen, wenn man sich das erste Mal über etwas eine Meinung bildet. 62 Doch mehr als dieses eine Beispiel einer Unterordnung des einen unter ein anderes intellektuelles Laster gibt es bei Battaly nicht. Wie schon bei Zagzebskis Unterordnung der intellektuellen unter die ethischen Tugenden fragt sich deshalb auch hier, ob etwas eine Unterart sein kann, wenn offen ist, ob es noch andere Unterarten gibt. Um taxonomisch weiterzukommen, reaktiviert Ian James Kidd eine Idee aus dem europäischen Mittelalter. 63 Er entnimmt sie der historischen Abhandlung von Rebecca Konyndyk DeYoung über die Todsünden. 64 An deren Auflistung Vgl. Battaly: Closed-Mindedness, S. 15, 16 und 20. Gemäß Quassim Cassam: „Vice Ontology“, in: Social Epistemology Review and Reply Collective 6/11 (2017), S. 20–27, wird hier eine begriffliche Relation unterstellt: „it is built into the concepts of closed-mindedness and dogmatism that being dogmatic is a way of being closed-minded“ (ebd., S. 21). 63 Vgl. Ian James Kidd: „Capital Epistemic Vices“, in: Social Epistemology Review and Reply Collective 6/8 (2017), S. 11–16. 64 Vgl. Rebecca Konyndyk DeYoung: Glittering Vices. A New Look on the Seven Deadly Sins and Their Remedies, Grand Rapids, MI 2009. 61 62
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und Strukturierung waren erst die Einsiedler, später die Päpste und die Kirche generell interessiert, um sie besser bekämpfen zu können. Man stellte sich das wie einen Baum vor, so DeYoung: Als Wurzel galt der Stolz, aus dem die anderen Sünden emporwachsen. Rottet man die Wurzel aus, sterben auch die Triebe. Anders gesagt: Es gibt ein oder mehrere Hauptlaster (capital vices) und daneben deren Abkömmlinge (offspring or offshoot vices). Kidd fragt sich, ob eine solche Struktur nicht auch unter den intellektuellen Lastern besteht. Das könnte in der Tat ein weiterführender Gedanke sein. Kidd wendet ihn aber wieder nur auf das Verhältnis von Engstirnigkeit und Dogmatismus an. Nimmt man Battalys Analysen ernst, so glaubt er, dann könne man Engstirnigkeit als ein Hauptlaster betrachten. 65 Immerhin sieht er ein kleines Stück weiter als Battaly und Zagzebski, wenn er schreibt: „If the early theorists in the vice tradition are right, we would also need to show that closed-mindedness admits of other sub-vices […].“ 66 Doch darüber, welche das sein könnten, schweigt auch Kidd sich aus. So drängt sich der Eindruck auf, dass die „Vice Epistemology“ einen bunten Blumenstrauß verschiedener intellektueller Laster zusammenschnürt, in den immer wieder neue Stengel aufgenommen werden. Der Strauß ist sehr artenreich. In ihm finden sich Charakterzüge wie intellektuelle Feigheit, epistemische Arroganz und epistemische Unterwürfigkeit, angeborene Unfähigkeiten wie ein schlechtes Seh- oder Erinnerungsvermögen, Neigungen wie die zu Wunschdenken oder Prokrastination, Ursachen wie das Vorurteil und Wirkungen wie das konspirative Denken. Er enthält Exemplare wie die Engstirnigkeit, von der offengelassen wird, ob sie ein angeborenes Unvermögen, ein zu tadelnder Charakterzug oder unfreiwilliges Resultat kognitiv ungünstiger Lebensumstände ist. Und er enthält etliches, was vielleicht nur verschieden heißt, aber dasselbe ist – jedenfalls ist nicht leicht zu erkennen, was der Unterschied zwischen „epistemic carelessness“ und „epistemic insouciance“ oder zwischen „intellectual arrogance“ und „epistemic snobbishness“ sein soll. ZuZur Kritik daran vgl. Cassam: Vice Ontology, S. 24. Kidd: Capital Epistemic Vices, S. 15. Für eine ähnliche Idee von Hauptlastern und ihren Sprösslingen, jedoch so verstanden, dass die intellektuellen Laster aus allgemeinen persönlichen Charakterfehlern hervorgehen, vgl. Casey Swank: „Epistemic Vice“, in: Guy Axtell (Hrsg.), Knowledge, Belief, and Character. Readings in Virtue Epistemology, Lanham 2000, S. 195–204, S. 202: „Epistemic vices are not freestanding. They are, rather, […] facets or consequences of more basic and general defects in one’s personal character. […] The obvious suggestion is that the badness of epistemic vices consists in their being offshoots or manifestations of underlying personal vices. It is because they are natural (epistemic) symptoms of smallness, arrogance, and the like that closed-mindedness, aversion to uncertainty, and the rest are epistemic vices.“ 65 66
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dem ist umstritten, was überhaupt zum Strauß gehört, denn des Einen Laster ist des Anderen Tugend. Während einige auf den zweifelhaften Status der Neugier zumindest hinweisen, 67 wird sie von anderen zum Paradebeispiel einer intellektuellen Tugend erklärt, weil sie zu Wissen führe und damit epistemische Güter sichere. 68 Aufgeschlossenheit gilt den einen als klassisches Beispiel einer epistemischen Tugend, andere hinterfragen das. 69 Kurz: Wir haben es, wie Quassim Cassam es ausdrückt, eher mit einem Eintopf (hotchpotch) als mit einer einvernehmlichen Liste intellektueller Laster zu tun. 70 Wie ist unter solchen Umständen eine Taxonomie möglich? Vielleicht ließen sich mit viel Scharfsinn einzelne Elemente einer taxonomischen Ordnung der diversen intellektuellen Laster erkennen. Neben der schon erwähnten Unterordnung des Dogmatismus unter die Engstirnigkeit scheint z. B. die Engstirnigkeit ihrerseits eine Form von intellektueller Ungerechtigkeit zu sein, zumindest wenn diese das Gegenteil der intellektuellen Gerechtigkeit ist, wie Brady sie im Anschluss an Miranda Fricker versteht. Intellektuelle Ungerechtigkeit wäre dann die Disposition, sich von Vorurteilen (bias) leiten zu lassen, Engstirnigkeit eines ihrer vielen Gesichter. Battalys Beschreibung einer engstirnigen Person greift jedenfalls explizit auf Frickers Überlegungen zurück: wer engstirnig denke, spreche denen, die anderes für wahr halten als man selbst, jegliche Glaubwürdigkeit ab und den Brüdern und Schwestern im Geiste alle Glaubwürdigkeit zu. In dieser Ordnung wäre Tugendhats intellektuelle Unredlichkeit vielleicht eine Form des Dogmatismus im Sinne von Battaly und Kidd, insofern die intellektuell unredliche Person falsch auf das Nichtvorhandensein guter Gründe für ihre bereits bestehenden Überzeugungen reagiert. Doch diese mögliche Teilstruktur ist erstens weit entfernt von einer umfassenden Taxonomie der intellektuellen Laster. Und zweitens ist damit noch lange nicht die Frage beantwortet, wie man von einer möglichst umfassenden Systematik der intellektuellen Laster zu einer der Tugenden gelangen könnte. Das Grundproblem dieses Übergangs ist lange bekannt, schon Aristoteles zitiert es bloß: „Edel sind die Menschen auf nur eine Art, schlecht aber auf viele Weisen.“ (NE II 5: 1106b35) Übertragen auf die intellektuellen Tugenden und Laster heißt das, dass es unmöglich ist, über die unzähligen Weisen Vgl. Zagzebski: Virtues of the Mind, S. 148. Für Brady kann sie beides sein, ein Gefühl und eine intellektuelle Tugend; vgl. Brady: Moral and Intellectual Virtues, S. 786 und 788. 68 Vgl. Boult, Kelp, Schnurr und Simion: Epistemic Virtues, S. 54. 69 Allerdings haben sie dafür oft keine guten Gründe, siehe ebd., S. 56: „An open-minded mathematical genius might wrongly abandon worthwhile beliefs in the light of less qualified testimony.“ 70 Vgl. Cassam: Vice Ontology, S. 20. 67
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schlechten Denkens auf eine Ordnung der intellektuellen Tugenden zu schließen, weil das Schlechte eine Privation des Guten ist. Das bedeutet auch, dass wir keinen vorgängigen begrifflichen Zugang zu Lastern haben, da die Laster die Tugenden begrifflich voraussetzen. Das Vollkommene erklärt die Weisen des Unvollkommenen, nicht umgekehrt. Auch Quassim Cassam stellt schließlich fest: „Intellectual virtues are cognitive excellences, intellectual vices are cognitive defects.“ 71 Als solche sind die Laster den Tugenden logisch notwendig nachgeordnet.
4. Die Notwendigkeit einer Taxonomie
Eine Taxonomie intellektueller Tugenden ist keine bloße Option – nichts, was man, nachdem alle wichtigen Fragen geklärt sind, eventuell auch noch in Angriff nehmen könnte. Sie ist vielmehr von Beginn an notwendig, denn im Hintergrund des Begriffs der intellektuellen Tugend und des Begriffs jeder einzelnen intellektuellen Tugend steht eine taxonomische Ordnung. Gerade Epistemologen, denen es um Kriterien für gutes Denken geht, sollten an einer Taxonomie intellektueller Tugenden interessiert sein. Das gilt unabhängig davon, ob man einem „realistischen“ oder einem „nominalistischen“ Verständnis von Begriffsbestimmung anhängt. Dem realistischen Verständnis zufolge sind Begriffsbestimmungen Wesens- oder Realdefinitionen. Da diese Gattung (genus proximum) und Art (differentia specifica) des zu definierenden Begriffs benennen, setzen sie eine ontologisch verstandene Ordnung der Dinge notwendig voraus. Dem nominalistischen Verständnis zufolge gibt eine Begriffsbestimmung nur insofern einen Ausschnitt der Wirklichkeit wieder, als sie deutlich macht, wie der fragliche Begriff verwendet werden sollte, d. h. zu welchem begrifflichen Umfeld oder zu welchem „Sprachspiel“ er gehört und welche Ordnungsleistung er dort erbringt oder erbringen sollte. Doch auch hier wird von einer bestimmten begrifflichen Ordnung ausgegangen, die es zu erfassen oder festzulegen gilt. Deswegen muss auch hier geklärt werden, ob die intellektuellen Tugenden begrifflich unter die ethischen Tugenden fallen (sollen und können), wie Zagzebski glaubt, oder ob sie zu einem ganz anderen Redebereich gehören (sollen). Es ist sowohl für das realistische als auch für das nominalistische Verständnis wichtig zu entscheiden, ob intellektuelle Tugenden und Laster erworbene Charakterzüge sind, für die wir gelobt und getadelt werden können, oder ob sie zu einem weiten begrifflichen Kontext gehören, der auch angeborene kognitive Fähigkeiten und 71
Cassam: Vice Epistemology, S. 160.
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andere „thinking styles“ umfasst. 72 Wenn intellektuelle Tugenden nicht unter die ethischen Tugenden fallen, dann macht es einen Unterschied, ob Ehrlichkeit eine ethische Tugend ist, 73 oder ob sie, wie Christoph Halbig meint, zu den intellektuellen Tugenden gezählt werden muss. Es geht nicht beides zugleich, denn dann wäre ‚Ehrlichkeit‘ein äquivoker Terminus. Auch für die Tugend der Tapferkeit muss geklärt werden, ob es sie als ethische und als intellektuelle Tugend gibt oder nur als eine davon. Und hat der Begriff der intellektuellen Tapferkeit, wenn er überhaupt ein sinnvoller Begriff ist, zwei konträre Laster oder nur eines? Es mag, wie in den vorigen Abschnitten gezeigt, verschiedene Weisen geben, die intellektuellen Tugenden taxonomisch zu ordnen. Aber ohne Taxonomie kann es kein Verständnis dieser Tugenden geben. Unvollständige oder unplausible Taxonomien erschweren das Verständnis eines Begriffes. Das heißt umgekehrt: Um zu verstehen, was eine intellektuelle Tugend ist, muss man zumindest grob wissen, welche und wie viele es gibt. Dafür ist eine taxonomische Ordnung unerlässlich. Eine Taxonomie intellektueller Tugenden ist – wie jede Taxonomie – dann überzeugend, wenn sie zwei Probleme gar nicht erst aufkommen lässt. Das erste ist das Protagoras-Problem. Es besteht darin, dass man das Begriffsfeld der Tugend zu eng macht. Sokrates erliegt in Platons gleichnamigem Dialog dieser Gefahr, indem er versucht zu zeigen, dass die ethischen Tugenden auf die intellektuellen und letztlich auf eine einzige intellektuelle Tugend, die Weisheit, reduziert werden können. 74 Linda Zagzebski erliegt dieser Gefahr ebenfalls, indem sie alle intellektuellen Tugenden auf die ethischen reduziert. Es spricht vieles dafür, dass ethische und intellektuelle Tugenden nicht vollkommen unabhängig voneinander sind. Doch das heißt nicht, dass die einen die anderen begrifflich einschließen. Das zweite ist das Menon-Problem. Es besteht nicht in einer begrifflichen Reduktion, sondern im Gegenteil in einer unnötigen Vervielfältigung der Arten von Tugend oder einzelner Tugenden und Laster. Gefragt, was die Tugend sei, unterscheidet Menon in Platons Dialog bekanntlich die Tugend des ManQuassim Cassam: Vices of the Mind, definiert die intellektuellen Laster als „character traits, attitudes or thinking styles that prevent us from gaining, keeping or sharing knowledge“. 73 Vgl. u. a. Julia Driver: „The Conflation of Moral and Epistemic Virtue“, in: Metaphilosophy 34 (2003), S. 382. 74 Zwar behauptet auch Protagoras im Dialog, dass die Weisheit (sophia) von allen Tugenden die wichtigste sei (vgl. Platon: Protagoras 330a). Aber nur Sokrates setzt dazu an zu beweisen, dass Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Besonnenheit und Tapferkeit mit der Weisheit identisch sind. 72
Orientierung an Wahrheit
nes von der der Frau, die der Alten von der der Jungen usw. Auch das ist problematisch, wie Sokrates dem Menon ironisch zu verstehen gibt, „da ich nur eine Tugend suche und einen ganzen Schwarm von Tugenden finde“. 75 Das Begriffsfeld wird zu weit und unübersichtlich, der Begriff in der Folge unscharf. Das ist in der neueren Tugendethik und Tugendepistemologie mitunter bewusst intendiert. So beruht Martin Seels Liste von Tugenden und Lastern auf dem Gedanken einer unausweichlichen Ambivalenz dieser Begriffe. 76 Die Tugenden ließen sich ebenso gut als Laster und die Laster als Tugenden verstehen; die Frage nach ihrer Anzahl sei von vorneherein verfehlt. Andere lösen den Tugendbegriff eher unabsichtlich durch Fragmentierung auf, indem sie Tugenden nur für lokale, nicht für globale Charakterzüge halten. 77 Wer ehrlich im Kreis der Familie ist, so zeigten empirische Studien, ist dies nicht notwendigerweise auch im beruflichen Umfeld oder gegenüber Fremden. Oft geschieht die Vervielfältigung auch im Zuge einer begrifflichen Entdifferenzierung, wie oben erläutert. So zählen die so genannten „virtue reliabilists“ auch die physischen Vermögen zu den Tugenden und die physischen Unvermögen zu den Lastern; und Thomas Hurka bestreitet einen relevanten Unterschied zwischen natürlichen und erworbenen Tugenden und Lastern. Keiner der hier erwähnten Tugendepistemologen versucht sich ernsthaft an einer umfassenden Taxonomie, obwohl sie mittlerweile vereinzelt eingefordert wird, zumindest für die intellektuellen Laster. Doch eine Taxonomie der Laster setzt eine Taxonomie der Tugenden voraus. Diese brauchen wir nicht nur, um die intellektuellen Laster ordnen zu können. Wir brauchen sie auch unabhängig davon, d. h. an sich. Denn ohne eine taxonomische Ordnung der intellektuellen Tugenden ist weder der Begriff der intellektuellen Tugend noch der des intellektuellen Lasters verständlich.
Schluss
Da meine Überlegungen in diesem Beitrag überwiegend kritisch und negativ ausgefallen sind, möchte ich wenigstens zum Schluss auf einige Grundprinzipien verweisen, die man bei der Entwicklung einer Taxonomie intellektueller
75 76
Platon: Menon 72a. Vgl. Martin Seel: 111 Tugenden, 111 Laster. Eine philosophische Revue. Frankfurt/Main
2011. 77
2002.
Vgl. etwa John Doris: Lack of Character. Personality and Moral Behaviour, Cambridge
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Tugenden beachten sollte. Sie ergeben sich mehr oder weniger direkt aus den hier diskutierten Fehlern der bislang vorhandenen Ansätze. Eine Taxonomie intellektueller Tugenden sollte erstens von einem wohldefinierten Tugendbegriff ausgehen. Wohldefiniert ist der Begriff der Tugend dann, wenn er hinreichend allgemein ist. Das heißt zum einen, dass er in Ethik und Epistemologie gleich verwendet werden sollte. Das ist zurzeit nicht der Fall, denn Tugendepistemologen haben zum Teil ein viel weiteres Verständnis davon, was unter den Begriff der Tugend fallen kann. Und das heißt zum anderen, dass der Tugendbegriff als Gattungsbegriff verstanden werden sollte, sodass die ethischen und die intellektuellen Tugenden zwei verschiedene Arten bilden. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, diesen Artunterschied zu begründen. Aristoteles versucht es psychologisch, Christoph Halbig axiologisch. Für eher unplausibel halte ich den Versuch, die eine Art der Tugend auf die andere zu reduzieren, wie dies auf je unterschiedliche Weise Platons Sokrates und Linda Zagzebski tun. Wie auch immer die Arten der Tugend voneinander unterschieden werden, es scheint mir zweitens wichtig zu sein, dieses Kriterium in der gesamten Taxonomie durchzuhalten. Es sorgt für begriffliche Verwirrung, wenn etwa die natürlichen und die erworbenen Tugenden und Laster unter Rückgriff auf ein anderes Kriterium voneinander abgegrenzt werden als die ethischen und die intellektuellen Tugenden und Laster. Eine Taxonomie setzt Einheitlichkeit voraus. Uneinheitlichkeit zerstört die taxonomische Ordnung und damit die Einheit des Begriffs. Ein drittes Prinzip folgt aus der Erkenntnis, dass die Laster den Tugenden logisch nachgeordnet sind. Wenn sich die intellektuellen Laster überhaupt taxonomisch ordnen lassen, dann nur indirekt über eine Taxonomie der intellektuellen Tugenden. Dasselbe gilt für den allgemeinen Begriff des Lasters. Es ist problematisch, für den Begriff der Tugend ganz andere Kriterien zu verwenden als für den des Lasters. Wird der Begriff der intellektuellen Tugend z. B. so verstanden, dass dazu nur die Dispositionen gehören, für die wir verantwortlich sind, dann sollte nicht zu den Lastern auch das gehören, wofür wir nicht verantwortlich sind. Als viertes Prinzip gilt es zu beachten, dass eine Taxonomie intellektueller Tugenden möglichst vollständig sein sollte. Sie sollte vom summum genus bis zur infima species möglichst alle Arten und Unterarten enthalten. Das ist zugegebenermaßen nicht leicht zu bewältigen. Halbigs Verweis auf die Kardinaltugenden und Kidds Erinnerung an die „capital vices“ sind als Hilfen gedacht, den Schwarm der Tugenden und Laster in geordnete begriffliche Bahnen zu lenken. Wenig hilfreich ist dagegen die Unterordnung einer Art unter eine
Orientierung an Wahrheit
andere, die offen lässt, ob es überhaupt noch weitere Unterarten gibt und welche das sind. Ein fünftes und letztes Prinzip lautet kurz und knapp: Jede Tugend und jedes Laster sollten genau einmal in der Taxonomie vorkommen. Nur dann ist der Begriff der intellektuellen Tugend wirklich eindeutig. Wer die Tugend für wichtig hält, sollte vor Taxonomien von Tugenden und Lastern keine Angst haben.
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Negativität und Affirmation Die Dialektik der Befreiung
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ie Freiheit ist die Befreiung. Die Freiheit besteht in dem Prozess, sich zu verwirklichen; frei zu sein, heißt, frei zu werden. Der Grund dafür ist der Zusammenhang von Freiheit und Bewusstsein. Die Freiheit ist die Befreiung, weil die Freiheit darin besteht, sich ihrer selbst bewusst zu werden, und weil die Freiheit nur dadurch, dass sie sich ihrer selbst bewusst wird, wirklich wird. Das Bewusstsein der Freiheit ist nichts anderes als das Bewusstsein von der Selbstverwirklichung der Freiheit durch ihre Entgegensetzung zur Unfreiheit. Das Bewusstsein der Freiheit ist das Bewusstsein ihrer Negativität. Aber das lässt sich erst im zweiten Schritt verstehen (II.). Man versteht es nur richtig, wenn man es als den Schritt hinaus über das unmittelbare, affirmative Sein der Freiheit versteht. Dessen Bestimmung ist daher der erste Schritt (I.). Sich der Freiheit bewusst zu werden und sie darin als Befreiung, als negativ, zu verstehen, kommt danach, an zweiter Stelle. Daraus folgt zum Schluss (III.), dass das Freiheitsbewusstsein, indem es über das unmittelbare Freisein hinaus geht, zugleich auf das unmittelbare Freisein zurückblickt. Denn es ist „nicht nur ihr Scharfblick und ihre Stärke, es ist ihre besondere Fähigkeit zum Rückblick, welche die Eule zum Wappentier der Philosophie macht. Reflexion im Sinne eines reflectere animum bedeutet ja ursprünglich Rückwende der Aufmerksamkeit. Die Bedeutung ‚Spiegelung‘ ist historisch wie systematisch sekundär.“ 1
I. Das Sein der Freiheit
1. Wir sprechen die Freiheit zwei verschiedenen Gegenständen zu. Wir nennen zum einen etwas frei: eine Handlung, eine Entscheidung, ein Leben – je Besonderes; eine Lebensweise, eine Institution, eine Gesellschaft – etwas Allgemeines; einen Gedanken, ein Kunstwerk, einen Stil – etwas Objektives. Pirmin Stekeler-Weithofer: Philosophie des Selbstbewußtseins. Hegels System als Formanalyse von Wissen und Autonomie, Frankfurt/Main 2005, S. 43. 1
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Und wir nennen zum anderen jemanden frei: einen Einzelnen oder ein Kollektiv. Frei ist zum einen ein Vollzug und zum anderen ein Selbst. Aber frei sind beide nur in ihrer Beziehung. Denn ihre Beziehung verbindet den Vollzug und das Selbst nicht nur, sondern bringt sie hervor. Frei ist daher die Beziehung von Selbst und Vollzug, die sie ausmacht. Und dadurch – dadurch dass ihre Beziehung frei ist – sind es auch der Vollzug und das Selbst. Sie sind jeweils frei durch ihre Beziehung, in der sie sind, was – und vor allem wie – sie sind und in der sie daher auch nur jeweils – beide zusammen – frei sind. Die Freiheit ist daher weder innerlich noch äußerlich. Sie ist weder das subjektive Vermögen des Täters hinter der Tat noch eine Eigenschaft des Vollzugs, die empirisch beobachtet (und daher auch empirisch bestritten) werden kann. Sondern die Freiheit ist das Dasein des Selbst in den Vollzügen oder die Vollzüge als Dasein des Selbst. Die Freiheit ist das Darinsein des Selbst in den Vollzügen, die dadurch und in dem Sinne „seine“ Vollzüge sind, dass das Selbst in ihnen nur frei ist, wenn es in ihnen außer sich ist. Die Freiheitsbeziehung des Darinseins ist zugleich das Außensein oder Außersichsein des Selbst in den Vollzügen. Anmerkung: Adorno und Gadamer bezeichnen das freie Darin-als-außer-sichSein des Selbst in seinen Vollzügen mit demselben Ausdruck „Dabeisein“, der ebenso auf Hegels Freiheitsdefinition zurückführt wie Heideggers Begriff des Daseins (um eine entscheidende Silbe) erweitert. Dabei denken Adorno und Gadamer an fundamental verschiedene kulturelle Praktiken. Adorno beschreibt das Dabeisein des Subjekts an der avanciertesten informellen Musik, Gadamer an der Praxis des kultischen Fests. Adorno schreibt: „Der Begriff des musikalischen Subjekts wäre in sich zu differenzieren. Mit potentiellen Hörern hat er überhaupt nichts zu tun, alles mit dem Menschenrecht auf das, was Hegel Dabeisein nannte; dem Recht darauf, daß Subjektivität in Musik selbst, als Kraft ihres immanenten Vollzugs, gegenwärtig ist, anstatt von der losgelassenen ausgesperrt zu werden. Dies Recht involviert nicht die Hybris, den Aberglauben, das Subjekt könne die Musik rein von sich aus schaffen, in ihr sich abbilden, während es musikalisch in jedem Augenblick von der Musik gesetzt wird, der das Subjekt dort am meisten gehorcht, wo es am meisten sich anspannt.“ 2 Und Gadamer schreibt: „Das Fest ist nur, indem es gefeiert wird. Damit ist keineswegs gesagt, daß es subjektiven Charakters sei und nur in der Subjektivität der Feiernden sein Sein habe. Vielmehr feiert man das Fest, weil es da ist. Ähnlich galt auch für das Schauspiel, daß es sich für den Zuschauer darstellen muß, und doch ist sein Sein durchaus nicht bloß der Schnittpunkt von Erlebnissen, die Zuschauer haben. Vielmehr ist umgekehrt das Sein des Zuschauers durch sein ‚Dabeisein‘ bestimmt. Dabeisein ist mehr als Theodor W. Adorno: „Vers une musique informelle“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 16, Frankfurt/Main 1978, S. 538 f. 2
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bloße Mitanwesenheit mit etwas anderem, das zugleich da ist. Dabeisein heißt Teilhabe. […] Erst abgeleiteterweise bedeutet Dabeisein dann auch eine Weise des subjektiven Verhaltens, das ‚Bei-der-Sache-Sein‘.“ 3 Hegel spricht vom Dabeisein des Subjekts im Blick auf Sokrates. 4 Bei Hegel erscheint das Dabeisein also bereits als Inhalt und Gegenstand eines Gedankens und damit einer Forderung. Darauf verweist Adornos Rede von dem „Menschrecht“ aufs Dabeisein. Es entspricht dem „Recht des Subjekts, in der Handlung seine Befriedigung zu finden“, das „die subjektive Freiheit in ihrer konkretern Bestimmung aus[macht].“ 5 Das Dabeisein des Subjekts in seinen Vollzügen ist, als Freiheit, ein Sein, das ein Recht ist, das also gilt. Dazu unten, II.
2. Weil die Freiheit die Beziehung des Dabei- oder Darinseins des Selbst in seinen Vollzügen ist, erscheint die Freiheit: Weil das Selbst frei ist, indem es in seinen Vollzügen da ist, ist die Freiheit in den Vollzügen da. Die Freiheit kann daher erfahren und beschrieben werden. Man sieht den Vollzügen an, ob sie (und also das Selbst, das sie vollzieht) frei sind. So versteht die Ästhetik die Freiheit der freien Künste. Die Künste heißen frei, weil sie solche Vollzüge sind, deren Freiheit wir sehen und hören können oder in denen wir die Freiheit sehen und hören können. In ihnen zeigt sich, dass hier die Beziehung des Selbst und seiner Vollzüge ein freies Verhältnis ist. Das ist die Bestimmung des ästhetischen Scheins. Der ästhetische Schein ist der Schein der Freiheit, und der Schein der Freiheit ist die Schönheit. Die Schönheit ist daher die Präsenz der freien Beziehung. In der Schönheit wird die freie Beziehung von Selbst und Vollzug zur Eigenschaft des Vollzugs. Denn weil die freie Beziehung von Selbst und Vollzug darin besteht, dass das Selbst so in seinem Vollzug dabei oder darin ist, dass es darin außer sich ist, ist der Vollzug nicht darin frei, dass er der Ausdruck des Selbst ist – ein Ausdruck, der auf das Selbst als seinen Autor transparent ist –, sondern dass er selbständig gegenüber dem Selbst ist. Die Schönheit ist die Selbständigkeit des Vollzugs gegenüber dem Selbst als Außersichsein und daher – oder: so, auf diese Weise – das Dabeisein des Selbst.
Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 41975, S. 118. 4 „Die unendliche Subjektivität, Freiheit des Selbstbewußtseins ist im Sokrates aufgegangen. Ich soll schlechthin gegenwärtig, dabeisein in allem, was ich denke. Diese Freiheit wird in unseren Zeiten unendlich und schlechthin gefordert. Das Substantielle ist ewig, an und für sich; ebenso soll es durch mich produziert werden; dieses Meinige ist aber nur die formelle Tätigkeit.“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Geschichte der Philosophie, Bd. I, Frankfurt/ Main 1971, S. 442) 5 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, GW 14.1, § 121. 3
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Anmerkung: Das Schöne ist der Schein der Freiheit. Das wird auf zwei entgegengesetzte Weisen verstanden. Nach dem einen Verständnis ist die Freiheit eine Eigenschaft oder ein Vermögen des Subjekts, das darin zum Ausdruck kommen soll, dass die Gegenstände, die es durch seine Einbildungskraft produziert oder reproduziert, schön sind. Die Schönheit besteht hier darin, dass die Entsprechung von innerer Freiheit und äußerem Gegenstand im äußeren Gegenstand sichtbar wird. Schön ist demnach ein Gegenstand als transparenter Ausdruck eines inneren Vermögens. Dagegen wendet Hegel ein, dass sich so nicht nur die Schönheit des Gegenstands nicht verstehen lässt, sondern auch die Freiheit nicht. Die Freiheit kann nur in einem Gegenstand erscheinen (der dadurch schön wird), wenn dies ein Verhältnis „liberaler Art“ ist: ein Verhältnis nicht des Ausdrucks des Inneren, sondern der Selbständigkeit des Äußeren: „ein Gewährenlassen der Gegenstände als in sich freier und unendlicher.“ 6 Ein Gegenstand kann die Freiheit nur ausdrücken, wenn er sie nicht ausdrückt, sondern dem Ausdrücken und Ausgedrückten gegenüber frei ist; wenn also beide Momente „gegeneinander“ 7 frei sind. Dass das Schöne – nur – der Schein der Freiheit ist, heißt freilich zugleich, dass es sie nicht wirklich, nicht ihre Wirklichkeit ist. Die Freiheit der Selbständigkeit des Gegenstands bleibt im Schönen bloßer Schein. Wirklich werden kann sie nur, wo sie ihren eigenen Tod in Kauf nimmt.
3. So wie die Freiheit der Beziehung von Selbst und Vollzug in der Schönheit des Vollzugs erscheint, so wird sie auch, auf der anderen Seite, durch das Selbst in dieser Beziehung erfahren. Die Freiheit besteht darin, dass das Selbst in seinen Vollzügen da – darin oder dabei und außer sich – ist. Weil die Freiheit also eine Beziehung von Selbst und Vollzug ist, ist sie zugleich eine Selbstbeziehung: eine Beziehung des Selbst zu sich in seiner Beziehung zu seinen Vollzügen. Die Freiheit ist eine Beziehung zu einer Beziehung. Die Freiheit ist also ein Sein des Selbst – eine Weise des Selbst zu sein: in oder bei seinen Vollzügen – und eine Erfahrung des Seins des Selbst durch das Selbst. Das Selbst ist seine Beziehung zu seinen Vollzügen und es erfährt diese Beziehung. Sein Selbstsein in den Vollzügen ist seine Selbsterfahrung in den Vollzügen: Die Freiheit ist eine Selbsterfahrung. Wer frei ist, erfährt sich als frei. Diese Selbsterfahrung der Freiheit, die Erfahrung des (Darin- als Außersich-)Seins des Selbst in seinen Vollzügen als frei, ist aber nicht eine Meinung, die das Selbst über sein Sein hat. Sie ist vielmehr eine Selbsterfahrung, die dem freien Selbstsein immanent ist: eine Selbsterfahrung, die da ist, die verkörpert, gelebt, vollzogen ist. Das Sein der Freiheit und die Erfahrung der Freiheit, das
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. I, Frankfurt/Main 1970, S. 155. 7 Ebd., S. 156. 6
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Freisein und die Freiheitserfahrung fallen in eins. Die Freiheit ist die Erfahrung der Freiheit. 4. In ihrer unmittelbaren Gestalt ist die Selbsterfahrung der Freiheit ein Gefühl. Das Selbstgefühl der Freiheit ist die erste und intensivste Form ihrer Erfahrung. Wer frei ist, fühlt sich frei. Dieses Gefühl ist affirmativ: ein Gefühl der Lust oder Freude. Die Lust oder Freude ist die Bejahung im Gefühl, das Gefühl der – oder – als Bejahung. Indem das Selbst seine Freiheit fühlt und in seinem freien Dabeisein Lust empfindet, bejaht es sich also in seinen Vollzügen. Es bejaht in seiner lustvollen Freiheitserfahrung, wie es in seinen Vollzügen da, wie es darin und außer sich ist. Die Lust des Selbst an der Freiheit ist daher eine Lust des Selbst an sich selbst: eine Lust daran, dass und wie es in seiner Beziehung des Dabeiseins zu seinen Vollzügen ist. Sie ist also nicht eine Lust, die sich daraus ergibt, dass ein äußerer Gegenstand einen Mangel behebt, den das Selbst empfindet – so wie die Nahrung die als Hunger empfundene Leere des Magens buchstäblich füllt und dadurch ein Bedürfnis stillt (oder ein Interesse befriedigt). Die Lust der Freiheit ist eine interesselose Lust. Denn sie ist eine Lust des Selbst an seinem eigenen Zustand und daher eine ästhetische Lust, die das Selbst sich selbst macht (eben weil es außer sich, bei oder in seinen Vollzügen, ist). Anmerkung: Die Lust des Selbst an seiner Freiheit hat eine reflexive Struktur; sie ist eine Selbstreflexion des Selbst in unmittelbarer, affektiver Gestalt. So hat Descartes im Unterschied zu den körperlichen die Vernunftaffekte beschrieben. Er sagt von der „rein intellektuellen Freude“, dass sie „in der Seele allein durch ihre eigene Tätigkeit entsteht“ und daher „eine angenehme Emotion [ist], die in ihr selbst und durch sie selbst erregt wird.“ 8 Spinoza stellt entsprechend fest: „Wenn der Geist sich selbst und sein Thätigkeitsvermögen betrachtet, empfindet er Lust, und um so mehr, je bestimmter er sich und sein Thätigkeitsvermögen sich in der Phantasie vorstellt.“ 9 Spinozas Bestimmung geht weiter als Descartes’; die Vermögen, an deren Betätigung der Geist Lust empfindet, sind nicht auf die Vernunft beschränkt. Er teilt aber mit Descartes die aktivistische Verbindung von Betätigung und Lust: Die Lust ist Lust an der Macht und ihrer Steigerung. Indem Kant die Lust aufs Leben bezieht – „Lust ist die Vorstellung der Übereinstimmung des Gegenstandes oder der Handlung mit den subjektiven Bedingungen des Lebens“ 10 –, öffnet er den Weg, die Lust der Freiheit komplexer zu verstehen: als René Descartes: Die Leidenschaften der Seele, Hamburg 1996, § 91, S. 143. Baruch de Spinoza: Ethik, in: ders.: Werke, Bd. 2, Darmstadt 1967, Teil III, 53. Lehrsatz, S. 337. 10 Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg 1974, A 16, Fn. Allerdings setzt Kant das Leben hier noch, anders als in seiner späteren ästhetischen Bestimmung, „mit 8 9
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die Lust nicht nur an der eigenen Aktivität, sondern an dem Freiheitsverhältnis von Aktivität und Rezeptivität oder Passivität. Das freie Selbst ist in sich gebrochen; die Freiheit des Selbst ist sein Darin- als Außersichsein. Die Lust der Freiheit ist die Lust des Selbst an dieser Gebrochenheit: an der nicht-dualistischen Dualität des Selbst, die seine Freiheit ausmacht. (Weder der Rationalismus noch der Empirismus kann die Freiheit denken.) Das erklärt, weshalb die Lust der Freiheit die ästhetische Lust ist. 11
5. In seiner Lust der Freiheit bejaht sich das Selbst in seinem Freisein: Es bejaht, wie es in seinem freien Dabeisein in seinen Vollzügen ist. Der Grund dafür, dass das Selbst, das frei ist, Lust daran empfindet, besteht darin, dass diese spezifische, die freie Weise zu sein, dem Sein des Selbst entspricht (dass sie mit „den subjektiven Bedingungen des Lebens“ übereinstimmt). Die ästhetische Lust der Freiheit ist daher fundamental oder total. Sie bezieht sich nicht auf einzelne Züge, sondern den Grund oder das Ganze seiner Existenz. Das gilt nicht in dem Sinn, dass das Selbst in seiner Lust der Freiheit sein ganzes Leben, in allen Elementen, erfährt. In einem Vollzug frei zu sein heißt nicht, dass er sich sinnhaft in die Kontinuität oder gar die Narration eines Lebens einfügt; Freiheit heißt nicht Sinn. Die Totalität, auf die sich die Lust der Freiheit bezieht, ist nicht extensiv, sondern intensiv. In der Lust der Freiheit zeigt sich, wie die Existenz des Selbst in Wahrheit ist. Lust an der Freiheit zu haben, heißt also, dass die als frei erfahrene Weise des Dabeiseins des Selbst in seinen Vollzügen nichts weniger als seine Wahrheit ist: dass die freie Weise zu sein seine wahre Weise zu sein ist. In der Lust an der Freiheit erschließt sich dem Selbst, wie es in Wahrheit ist. Oder: In der Lust an der Freiheit sagt das Selbst, dass so zu sein, dass also frei zu sein, seine Wahrheit ist. Die Lust der Freiheit zu empfinden heißt (wie Perikles in einer seiner Totenreden sagt), „das Glück in der Freiheit [zu] sehen“. 12
II. Das Bewusstsein der Freiheit
6. Damit tut sich eine Differenz in der Freiheit auf. Sie ist zugleich Freisein und Bejahung dieses Seins im Freiheitsgefühl der Lust. Diese Bejahung ist, als ästhetische, ein affektiver Zustand und ein Urteil. Das Urteil der Lust über dem Vermögen der Kausalität einer Vorstellung in Ansehung der Wirklichkeit ihres Objekts (oder der Bestimmung der Kräfte des Subjekts zur Handlung, es hervorzubringen)“ gleich. 11 Martin Seel: „Aktive Passivität“, in: ders.: Aktive Passivität. Über den Spielraum des Denkens, Handelns und anderer Künste, Frankfurt/Main 2014, S. 240 ff. 12 Thukydides: Der Peloponnesische Krieg, Düsseldorf/Zürich 2002, II.43, S. 116.
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das freie Dabeisein des Selbst sagt, dass es so glücklich oder (ontologisch) richtig ist. Soweit die Lust am Freisein über das Freisein urteilt, tritt das Selbst darin aus seinem – bloßen, unmittelbaren – Dabeisein heraus. Die Lust daran, frei zu sein, steht auf der Grenze des Seins. Sie ist – einerseits – dem Freisein immanent; dass das Selbst in seinen Vollzügen frei ist, heißt immer schon, dass es daran, also an sich selbst in seinem Dabeisein, Lust empfindet. Und die Lust der Freiheit weist – andererseits – über das Freisein des Selbst hinaus. Das Selbstgefühl der Lust ist der Anfang des Selbstbewusstseins. Weil es kein Freisein ohne Freiheitsgefühl gibt, heißt Freisein Freiheitsbewusstsein. Freisein ist Sein und Bewusstsein vom Freisein, also das Andere des (Frei-)Seins. Denn das Bewusstsein der Freiheit, das in ihrer lustvollen Bejahung beginnt, tritt zugleich aus ihr heraus und ihr gegenüber: Das Bewusstsein ist transzendent, das Andere des Seins. Das Freisein entzweit sich durch seine lustvolle Selbstbejahung daher in sich selbst und sein Anderes: in Freisein und Bewusstsein vom Freisein. Diese Entzweiung in Freisein und Freiheitsbewusstsein entzweit zugleich beide Seiten in sich. Denn zum einen bringt das Freisein – indem es sich lustvoll bejaht, also selbst fühlt – selbst das Freiheitsbewusstsein hervor, das aus ihm heraus und ihm gegenübertritt; das Bewusstsein vom Sein beginnt im Sein. Zum anderen ist das Freiheitsbewusstsein Bewusstsein vom Sein. Das Freiheitsbewusstsein bleibt auf das Freisein zurückbezogen, über das es hinausgeht; es ist ebenso transzendent wie nachträglich oder sekundär. Anmerkung: Darin liegt die Differenz zwischen Gadamers und Adornos Bestimmungen des freien Dabeiseins (siehe oben, 1.). Gadamer erläutert das Dabeisein beim kultischen Fest als den Beginn der Theorie. Aber er versteht die Theorie – im griechischen Sinn – als die Einstellung des Zuschauers, der anschaut und verehrt. Die Theorie bleibt ihrem Gegenstand immanent. Zwischen dem freien Dabeisein und dem theoretischen Zuschauen gibt es keine Differenz. Nach Adorno hingegen geht das ästhetische Dabeisein durch sich selbst in ihr Gegenteil, das bewusste Begreifen, zuletzt: im philosophischen Denken, über. Dieser Übergang von freiem Dabeisein in das Bewusstsein der Freiheit ist aber keine Ersetzung. Er ist die eine Bewegungsrichtung einer Entzweiung, in der das Bewusstsein dem Sein, aus dem es heraustritt, gegenüberstehen bleibt und also in es zurückkehren muss (dazu unten, III.).
7. Mit der Doppelung in Sein und Bewusstsein wird die Freiheit negativ. Als Sein – das heißt: als eine Weise des Selbst, zu sein – ist die Freiheit affirmativ. Denn die Freiheit ist 1. das Dabeisein des Selbst in seinen Vollzügen, die 2. in seinen Vollzügen erscheint. Weil dies eine Beziehung des Selbst zu seinen Vollzügen ist, ist es 3. eine Beziehung des Selbst zu sich. Diese Beziehung ist 4. unmittelbar oder ein Selbstgefühl, das als ein Gefühl der Lust eine Bejahung des Gefühlten, des freien Dabeiseins des Selbst in seinen Vollzügen, ist. Diese
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Bejahung sagt 5., dass die Freiheit die Wahrheit des Selbst ist. Darin zeigt sich, dass die Bejahung urteilend und damit der Beginn des Bewusstseins, des Bewusstseins der Freiheit, ist, das schließlich 6. dem unmittelbaren Freisein als seinem Gegenstand gegenübertritt. Das Freiheitsbewusstsein ist die Negation des unmittelbaren Freiseins (dessen es sich bewusst ist). Das Freiheitsbewusstsein steht also dem unmittelbaren Freisein nicht äußerlich gegenüber. Das Bewusstsein beginnt vielmehr im Freisein. Denn weil das Freisein das Dasein des Selbst (in seiner Beziehung zu seinen Vollzügen) ist, ist dieses Sein auch für das Selbst da: in der unmittelbaren Selbstbeziehung, als Selbstgefühl, als ästhetische, reflexive Lust am eigenen Da- oder Sosein. Aber zugleich negiert das Freiheitsbewusstsein dieses Gefühl, und damit das unmittelbare Sein. Das Freisein ist noch unfrei – nicht wirklich frei. Wenn zum Freisein die Erfahrung der Freiheit gehört (und ohne diese Selbsterfahrung nicht frei ist), dann ist das unmittelbare Freisein noch nicht die Wirklichkeit der Freiheit; denn seine Selbsterfahrung ist ein bloßes Selbstgefühl, ohne Selbstbewusstsein. Das ist das negative, kritische Urteil, durch das das Freiheitsbewusstsein dem Freisein gegenübertritt und sich von ihm trennt. Das Bewusstsein der Freiheit ist selbst der Prozess vom Freisein zum Bewusstsein der Freiheit. Weil die Freiheit zum Bewusstsein der Freiheit werden muss, ist die Freiheit daher die Negation des unmittelbaren Freiseins. Und weil frei zu sein heißt, sich im Gefühl der Lust in seinem eigenen Sein zu bejahen, ist die Freiheit, indem sie zum Bewusstsein der Freiheit wird, die Negation der Selbstbejahung im Freisein. Anmerkung: Dies nennt Hegel „die Befreiung“. Die Befreiung ist die Freiheit als Prozess der Bewusstwerdung der Freiheit oder sie ist die Freiheit als Negation ihres affirmativ-unmittelbaren Seins – die Freiheit als Selbst-Negation: „In seiner Unmittelbarkeit ist der Geist aber nur an sich, dem Begriffe oder der Möglichkeit nach, noch nicht der Wirklichkeit nach frei; die wirkliche Freiheit ist also nicht etwas unmittelbar im Geiste Seiendes, sondern etwas durch seine Tätigkeit Hervorzubringendes. So als den Hervorbringer seiner Freiheit haben wir in der Wissenschaft den Geist zu betrachten. Die ganze Entwicklung des Begriffs des Geistes stellt nur das Sichfreimachen des Geistes von allen seinem Begriffe nicht entsprechenden Formen seines Daseins dar; eine Befreiung, welche dadurch zustande kommt, daß diese Formen zu einer dem Begriffe des Geistes vollkommen angemessenen Wirklichkeit umgebildet werden.“ 13
8. Die Negativität des Freiheitsbewusstseins hat zwei Seiten; der Schritt zum Bewusstsein der Freiheit durchbricht die bejahende Lust des Freiseins, und das Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Bd. III, Frankfurt/Main 1970, § 382 Z, S. 27. 13
Negativität und Affirmation
zeigt sich in zweifacher Hinsicht – in einem doppelten Akt der Unterscheidung. Zum einen unterscheidet sich das Freiheitsbewusstsein vom Freisein. Zum anderen unterscheidet das Freiheitsbewusstsein im Sein (von dem es sich unterscheidet) zwischen Freiheit und Unfreiheit. Beides geschieht in einem. Zum ersten: Das Bewusstsein der Freiheit zu gewinnen heißt, das in der Freiheitslust ebenso enthaltene wie versteckte Urteil – das Ja der Lust zum Sein; die Lust sagt ja: „Ja, es ist der wahre Zustand, der Zustand der Freiheit“ – ausdrücklich zu fällen. Oder es heißt, aufgrund der Lust am Freisein ein Urteil zu fällen. Da dieses Urteil aufgrund der Empfindung der Lust gefällt wird, kann es nur bejahend sein. Jedes Urteil aber steht in der Alternative von Ja oder Nein. Es ist eine Ja/Nein-Stellungnahme. Indem sich das Bewusstsein der Freiheit von dem Sein (und darin der Lust) der Freiheit unterscheidet, setzt es die Lust der Freiheit daher dem Zweifel und damit der Prüfung aus. Das Bewusstsein der Freiheit fragt, ob das lustvoll erfahrene Dabeisein des Selbst – zum Beispiel: im kultischen Fest – wirklich frei war. Oder schien es nur so? War es in Wahrheit die Lust der Unfreiheit? Diese Frage ist das Bewusstsein der Freiheit; das Bewusstsein der Freiheit ist die Frage nach der – wahren – Freiheit. In der prüfenden Frage des Freiheitsbewusstseins geht es daher nicht um Gewissheit und schon gar nicht um eine Theorie, eine Konzeption der Freiheit. Sondern um die „Wirklichkeit“ der Freiheit, die „wirkliche Freiheit“ (Hegel). Es geht in dem Schritt vom Sein zum Bewusstsein der Freiheit um die Verwirklichung der Freiheit. Daher ist mit der Unterscheidung des Bewusstseins vom Sein der Freiheit unmittelbar eine zweite Unterscheidung verbunden: die Unterscheidung von Freiheit und Unfreiheit. Die lustvolle Bejahung des Seins (oder Scheins?) der Freiheit im Bewusstsein zu prüfen, heißt, sie der Unterscheidung von Freiheit und Unfreiheit auszusetzen. Wenn – oder da – dies der Schritt ist, durch den die Freiheit wirklich wird, ist daher die wirkliche Freiheit die unterschiedene Freiheit: die Freiheit im Unterschied zur Unfreiheit. Genauer: Die wirkliche Freiheit ist die sich unterscheidende Freiheit. Die wirkliche Freiheit, die das Bewusstsein der Freiheit hervorbringt, ist die Freiheit, die sich von der Unfreiheit unterscheidet. Indem das Bewusstsein der Freiheit die Lust des bloßen, unmittelbaren Freiseins negiert, begreift es also das Freisein selbst als Negation: Das Freisein – so sagt das Freiheitsbewusstsein im Rückblick – war schon eine Negation der Unfreiheit, der Knechtschaft. Das Freiheitsbewusstsein sagt also zweierlei. Es sagt erstens: Nur ein freies Dabeisein, das sich nicht nur frei fühlt, sondern sich seiner Freiheit bewusst ist, ist wirklich frei. Und damit sagt es zweitens (und wichtiger noch): Nur ein freies Dabeisein, das die Negation der Unfreiheit ist, ist wirklich frei. Weil aber das freie Dabeisein als unmittelbar seiendes reine lustvolle Selbstbejahung ist,
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ist die Freiheit hier noch nicht als die Negation der Unfreiheit da; die Freiheit ist noch nicht die Negation, die sie ist. Nichts anderes heißt es zu sagen, dass die Lust des Freiseins noch nicht das Freiheitsbewusstsein oder noch nicht selbstbewusst ist. Sie ist noch nicht für sich die Negation, die sie an sich ist. Deshalb fallen die Wirklichkeit der Freiheit und das Bewusstsein der Freiheit in eins. Das Freisein wird nur – wirklich – frei, indem es über sich selbst hinaus zu dem Bewusstsein getrieben, dass es – in Wirklichkeit – die Negation der Unfreiheit ist. 9. Dass die Freiheit die Befreiung ist, gewinnt damit eine zweite, weiterreichende Bedeutung. Die erste Bedeutung ist (siehe oben, 7.): Die Freiheit ist selbst der Prozess, in dem das Selbstgefühl zum Selbstbewusstsein gelangt. Das Freiheitsgefühl der Lust, das das Selbst an seinem freien Dabeisein in seinen Vollzügen empfindet, ist noch unfrei, weil es bejaht, ohne zu urteilen. Erst das – aufgrund der Lust – bewusst gefällte Urteil der Freiheit, also das Freiheitsbewusstsein, kann wissen, ob das empfundene Freisein wirklich frei ist, und durch dieses Wissen die Freiheit verwirklichen. Die zweite Bedeutung der Behauptung, dass die Freiheit die Befreiung ist, ist, dass das Freisein damit – dadurch also, dass es zu Bewusstsein gelangt – zum Anderen der Unfreiheit wird. Das Bewusstsein von der Freiheit, das das bloße Freisein negiert, ist das Bewusstsein davon, dass frei zu sein heißt, die Unfreiheit zu negieren. Indem die Freiheit zu Bewusstsein gelangt, wird die Lust im Freisein daher als die andere Seite einer Erfahrung der Unfreiheit erschlossen. Im Rückblick der Bewusstwerdung erweist sich damit, dass die Selbstaffirmation der Freiheit immer schon negativ war. Der Schritt zum Freiheitsbewusstsein bringt rückwirkend die Negativität hervor oder heraus, die die verborgene Rückseite und Bedingung der lustvollen Selbstbejahung im unmittelbaren Freisein war. Indem die Freiheit zu Bewusstsein gelangt, verändert sich daher der Sinn der Bejahung, die die Freiheit ausmacht. Im Rückblick der zum Bewusstsein gelangten Freiheit geht die Bejahung im Freisein erst aus der Negation der Unfreiheit hervor. Die Bejahung der Freiheit – die die Freiheit ausmacht – erscheint dem Bewusstsein als das Resultat einer – sich selbst noch unbewussten – Negation der Negation. Die Retrospektion des Bewusstseins wirkt retroaktiv: Sie macht die lustvolle Affirmation negativ, das Freisein zum Freiwerden, die Freiheit zur Befreiung. Die Befreiung besteht nicht nur darin, dass die Freiheit zu Bewusstsein gelangt. Indem die Freiheit zu Bewusstsein gelangt, verändert sich vielmehr, was und wie sie ist: Die Freiheit selbst – die unmittelbar zu sein schien – wird zur Negation der Unfreiheit und damit zum Prozess der Befreiung.
Negativität und Affirmation
Anmerkung: Indem die Freiheit zum Bewusstsein gelangt, geht sie über das bloße Sein der Freiheit hinaus und setzt die Freiheit damit der Unfreiheit entgegen. So reformuliert Adorno die These von Hegels Geistphilosophie mithilfe von dessen Einsicht in die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft: „Erst an dem von ihm Getrennten und gegen es Notwendigen erwirbt das Subjekt, nach der Erkenntnis der Hegelschen Phänomenologie, die Begriffe Freiheit und Unfreiheit, die es dann auf seine monadologische Struktur zurückbezieht.“ 14 Die Freiheit wird erst wirklich frei – wirklich und frei oder frei weil wirklich –, wenn sie die Negation der Unfreiheit, also die Negation der Negation ist.
10. Die Freiheit ist wesentlich negativ; sie besteht in einem Akt der Negation; die Freiheit ist die Befreiung. Denn erst durch die Negation wird die Freiheit wirklich oder wird sie wirklich frei. Diese These hat – wie gesehen – zwei Bedeutungen. Der befreiende Akt der Negation ist erstens der Schritt über das Freisein hinaus zum Freiheitsbewusstsein und zweitens die Unterscheidung der Freiheit von der Unfreiheit. (Die Negation im ersten Sinn ist die Transzendenz des Bewusstseins gegenüber dem Sein, die Negation im zweiten Sinn ist der Akt der Kritik.) Beides hängt in doppelter Weise zusammen. Zum einen setzt der Schritt zum Freiheitsbewusstsein die Negativität des Freiseins frei. Er befreit das Freisein zu der Negativität, die es, an sich, ist (die Unmittelbarkeit seines Seins ist Schein). Indem es seiner selbst bewusst wird, wird das Freisein sich auch des Gegensatzes zur Unfreiheit bewusst, der es ausmacht – das heißt: des Gegensatzes zur Unfreiheit, der es allererst frei macht. Indem sich die Freiheit ihrer selbst bewusst wird, verändert sie sich daher zugleich; Selbstbewusstsein – sich seiner selbst bewusst werden – heißt Selbstveränderung. Die Freiheit wird als selbstbewusste zum Anderen der Unfreiheit und damit zum Anderen ihrer selbst: Sie wird anders, als sie unmittelbar war. Sie versteht sich, also die Freiheit, anders. Indem sie sich der Unfreiheit entgegensetzt, setzt sie sich sich selbst als nicht entgegengesetzter und sich nicht entgegensetzender entgegen. Die Freiheit, die zum Bewusstsein ihrer selbst gelangt, kritisiert das bloße Freisein. Das Freiheitsbewusstsein kritisiert das Freisein dafür, daß es nicht kritisiert und dadurch nicht wirklich frei ist. Indem die Freiheit zum Bewusstsein ihrer Negativität gegenüber der Unfreiheit gelangt, negiert sie sich selbst. Nicht negativ gewesen (oder geschienen) zu sein, erscheint ihr als Unfreiheit – eine Unfreiheit zweiter Ordnung: die Unfreiheit der Nicht-Negation der Unfreiheit. So wie also zum einen der Schritt zum Freiheitsbewusstsein rückblickend und rückwirkend die Negativität des Freiseins freisetzt, so beruht jener Schritt zum zweiten und in umgekehrter Richtung darauf, dass sich die Negativität 14
Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt/Main 1973, S. 219.
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des Freiseins zeigt. Der Schritt des Bewusstseins über das bloße, affirmative Freisein hinaus ist nicht ohne Grund und Antrieb; die Bewusstwerdung gründet in dem, über das sie hinausführt, indem sie sich darauf richtet. Denn das Selbst, das sich der Lust, frei zu sein, hingibt, muss über die Negativität der Freiheit nicht erst aufgeklärt werden. Das Freisein wird negativ geworden sein – seine Negativität ist ein retroaktiver Effekt des retrospektiven Bewusstseins – und es war es immer schon. Das Freisein erfährt seine Negation (und damit seine Negativität: es erfährt sich als Negation der Negation). Das Freisein erfährt seine Negation zuerst als eine Kraft von außen, in der Form der Privation, des Verschwindens und Sichauflösens der Freiheit. Das ist die Erfahrung, dass frei zu sein auch nicht sein kann; dass sie die Entgegensetzung der Unfreiheit erleiden kann und daher nur ist, indem sie sich ihr aktiv entgegengesetzt. Mit dieser „Drohung des Nichtseins“ 15 – des Nichtseins des Freiseins – beginnt der Schritt zum Freiheitsbewusstsein. Die kritische Entgegensetzung der Freiheit zur Unfreiheit ist ein retroaktiver Effekt ihrer Bewusstwerdung. Aber diese Retroaktion des Bewusstseins ist nicht erschaffend, sondern umwandelnd. Sie ist die Umwandlung der passiven in aktive, der erlittenen in ausgeübte Negativität. 11. Indem die Freiheit zum Bewusstsein von der Freiheit wird, wird das in der Lust bejahte Freisein negativ. Das Freisein wird zum Freiwerden, indem es die Unfreiheit (die es negiert) negiert. Darin besteht die Prozessualität – und damit die Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit – der Freiheit. Das bedeutet, dass die Freiheit sich aus ihrer Entgegensetzung zur Unfreiheit versteht. Daher hat die Freiheit auch eine je geschichtlich konkrete Bestimmung: Das abstrakte Schema „Die Freiheit ist Befreiung“ erweist sich als das Schema einer Konkretion. Die abstrakte, allgemeine Bestimmung „Die Freiheit ist Befreiung“ ermöglicht, ja, verlangt konkrete, besondere Beschreibungen. Das betrifft zuerst die jeweilige Erfahrung der Unfreiheit. Die Freiheit ist etwas anderes je nachdem, wie die Unfreiheit erfahren wird, die sie negiert. So macht es einen entscheidenden Unterschied, aus welcher Negationserfahrung heraus sich das Selbst seiner Freiheit bewusst wird: ob es die Erfahrung ist, dass die Freiheit von außen bedroht wird und gegen ihre Bedrohung behauptet werden muss; oder die Erfahrung, dass das Selbst seiner Freiheit beraubt wurde und sie wiedergewinnen muss; oder aber die Erfahrung, dass das Selbst seine Freiheit vergessen hat und es sich ihrer erinnern muss.
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S. 17.
Klaus Heinrich: Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen, Frankfurt/Main 1964,
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Bedrohung, Beraubung, Vergessen: diesen drei verschiedenen Erfahrungen der Unfreiheit entsprechen verschiedene Weisen, in denen sich die gegennegatorische Freiheitsbejahung, also die Setzung der Freiheit durch die Negation ihrer Negation in der Unfreiheit, vollzieht. Die Freiheitsbejahung ist entweder ihre Selbstbehauptung (gegen die Freiheitsbedrohung) oder ihre Wiederherstellung (gegen die Freiheitsberaubung) oder ihre Erinnerung und Neuentdeckung (gegen das Freiheitsvergessen). Und je nachdem, wie die Freiheit gegen welche Erfahrung der Unfreiheit negierend gesetzt wird, gewinnt die Freiheit einen je anderen Sinn. Die Freiheit wird anders verstanden, wenn sie sich gegen die Freiheitsbedrohung behauptet, wenn sie gegen die Freiheitsberaubung erkämpft und wiederhergestellt und wenn sie gegen das Freiheitsvergessen revitalisiert wird. Anmerkung: Adornos Freiheitsvorlesung erläutert, dass damit die Freiheit zu einem geschichtlichen Begriff, einem Begriff der Geschichtlichkeit, wird: „… so, wie die Reflexion auf Freiheit geschichtlichen Wesens ist, [so ist] Freiheit selber auch eine geschichtliche Kategorie […]. Die Konsequenz, die daraus zu ziehen wäre, bezieht sich aber auch in einer paradoxen Weise auf die innere Zusammensetzung des Freiheitsbegriffs selbst. Denn wenn tatsächlich die Freiheit und der Begriff der Freiheit derartig in das geschichtliche Bewusstsein fällt, derartig ein geschichtlich Konstituiertes und, wie ich Ihnen sagte, möglicherweise auch ein geschichtlich Vergängliches ist, dann wird dadurch die Freiheitsidee und die Freiheit selbst abhängig von eben der Welt, von dem Zustand der Welt, von dem sie ihrem eigenen Begriff nach ja gerade unabhängig sein soll, von dem Freiheit sich gesondert hat. […] Erst in der Entfaltung dieses Widerspruchs ist Freiheit überhaupt zu fassen: nämlich als die bestimmte Negation der jeweils konkreten Gestalt von Unfreiheit.“ 16
III. Affirmation und Negation
Die These lautet: Die Negation des unmittelbaren Freiseins durch das Bewusstsein der Freiheit ist zugleich die Entdeckung und Entfaltung der Negativität des Freiseins. Das heißt: Das Freisein wird durch das Freiheitsbewusstsein in eine Beziehung der Negation eingeschrieben. Es wird zu einem Akt der Negation. Die Freiheit ist nicht mehr unmittelbar, sondern gesetzt; nicht affirmativ, sich selbst bejahend, sondern negierend; nicht ein Zustand, sondern ein Akt. Indem sie zum Bewusstsein gelangt (und dadurch „wirklich“ wird), wird die Freiheit zur Befreiung. Theodor W. Adorno, Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit, Frankfurt am Main 2001, S. 338. 16
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In der Freiheit als Befreiung sind also zwei Akte der Negation – des Sichunterscheidens und -entgegensetzens – miteinander verbunden. Indem das Bewusstsein der Freiheit sich vom Sein der Freiheit unterscheidet, unterscheidet sich das Sein der Freiheit von ihrem Nichtsein, die Freiheit von der Unfreiheit. Beide Unterscheidungen sind überdies mit einer dritten verbunden. Denn indem sich das Freisein – dadurch, dass sich das Bewusstsein von ihm unterscheidet – von der Unfreiheit unterscheidet, unterscheidet sich das Freisein von und in sich selbst. Die Unterscheidung von der Unfreiheit ist dem Freisein nicht äußerlich. Also ist die Unfreiheit dem Freisein nicht äußerlich: Die Unfreiheit ist das innere Andere des Freiseins. Daher ist das Freisein, umgekehrt, auch das innere Andere der Unfreiheit (die sein inneres Anderes ist). Das Freisein ist das Andere der Unfreiheit, die es ist. Deshalb ist schließlich die Negation der Unfreiheit zugleich die Affirmation des Freiseins. Die Befreiung zur Negativität löst also die Affirmation nicht auf; sie bringt sie am Ende wieder hervor. Oder dass sich die Freiheit als Negation der Negation selbst hervorbringt, ersetzt nicht die anfängliche, unmittelbare Bejahung des Freiseins, sondern sie setzt sie – sie kehrt zu ihr zurück. Die Befreiung ist nicht die Auflösung des unmittelbar, lustvollen Freiseins – die Auflösung ihrer Bejahung in die Negation der Negation –, sondern seine Restitution. Die Negativität der Befreiung rettet die Affirmation des unmittelbaren freien Dabeiseins.
Benno Zabel
Die Realität der Freiheit und das Recht* Hegels nicht-ideale Gesellschaftstheorie
I. Hegels Realismus 1. Wissen und Metaphysik
Hegel entmystifiziert die Moderne zu einem Zeitpunkt, als sie sich ihrer Mythen noch kaum bewusst war. Das Projekt einer Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften ist nur vor diesem Hintergrund zu verstehen. Man möge Hegels Projekt vermessen und seine Sprache in Teilen unverständlich finden. Sehen sollten wir jedoch, dass Hegel einen signifikanten Beitrag im ideenpolitischen Kampf der Aufklärung und für eine tragfähige Theorie der Freiheit leisten wollte. Die Rede von einer Theorie, zumal von einer Theorie der Freiheit, besagt zweierlei: Zum einen sollen die Begriffe und Kategorien geklärt werden, mit Hilfe derer wir die normative Matrix unserer Lebensform erfassen können. Zum anderen geht es darum, diese Welt mit ihrer empirischen Vielfältigkeit genau auf diese Begriffe zu bringen. Denn nur dann, so Hegel, sind wir in der Lage, die Welt auch als die unsrige anzuerkennen. Das setzt aber voraus, dass philosophische und empirische Wissensressourcen produktiv aufeinander bezogen werden, so wie es etwa die Grundlinien mit Blick auf das Recht unternehmen. 1 Nun waren der Umgang der Wissenschaften untereinander und der Wissenstransfer zu keiner Zeit spannungsfrei. Das trifft besonders für eine Epoche zu, in der sich die sog. Einzelwissenschaften erst herausbildeten, um sich gleichzeitig von der philosophischen Wissenschaftskultur zu emanzipieren. Diese Epoche der großen Neuordnung des Wissens ist die Epoche Hegels. Und doch steht diese Neuordnung des Wissens am Ende einer langen Inkubationszeit, einer Krisen- und Problemgeschichte der Neuzeit, wie sie – beispielhaft – * Der vorliegende Text ist Pirmin Stekeler in Freundschaft gewidmet. Er wäre ohne die Gespräche und die Auseinandersetzungen mit seinem Denken so nicht vorstellbar. 1 Jüngst genauer analysiert bei Pirmin Stekeler-Weithofer: Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts. Ein dialogischer Kommentar, Hamburg 2021.
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von Rene Descartes oder Giambattista Vico reflektiert wurde. Die aus der Krisen- und Problemgeschichte erwachsenen Transformationsprozesse ließen sich nach verschiedenen Seiten weiter ausbuchstabieren, nach der politischen und kulturellen, der gesellschaftlichen und ökonomischen oder, wie es damals hieß, nach der naturphilosophischen und kosmologischen. Sichtbar würde dann, dass sich im Verlaufe des 18. Jahrhunderts ein Lebensform- und Gestaltungswissen des Menschen etablierte, das den tiefgreifenden mentalen und strukturellen Wandel der Gesellschaften zu registrieren begann. Die Ausdifferenzierung der Wissensgewinnung setzte aber nicht nur die traditionell dafür zuständigen Institutionen, die Akademien und die Universitäten, die aristokratische Bildungselite und die Kirchen, erheblich unter Druck. Sie höhlte auch die klassische Vorstellung einer einheitlichen metaphysischen Begründung des Wissens und der Wissenschaften aus. Metaphysik wurde immer öfter zum Inbegriff für eine dogmatische Natur- und Welterkenntnis, die keinen privilegierten Status besitzen konnte und der deshalb im Kontext einer bürgerlichen und sich formierenden Kommunikationsgesellschaft mit Skepsis oder sogar mit radikaler Ablehnung begegnet werden musste. Die Ausdifferenzierung, d. h. nun die Verselbständigung der Wissensgewinnung wird aber vor allem dort deutlich, wo die herkömmlichen Theorieangebote mit der zunehmenden Bedeutung von Erfahrungen für den Alltag des Einzelnen oder kollektiver Lebensformen konfrontiert wurden. Das ist für die experimentellen Naturwissenschaften unmittelbar einsichtig. Aber es gilt auch für die erst mit Wilhelm Dilthey so benannten Geisteswissenschaften (zu denen wir auch die Sozial- und Staatswissenschaften hinzuzählen können). 2 Individuen und Gesellschaften werden nicht mehr nur auf ein transzendentes Ziel hin verwaltet und geordnet. Das menschliche Leben, die vielfältigen sozialen Praktiken werden vielmehr perspektivisch gedacht, als empirische Phänomene ebenso wie als ethische oder politische Entwürfe. Als solche geraten sie aber zunehmend in den Sog funktioneller Deutungen und Wissensregime, etwa der Kameralwissenschaften, später der politischen Ökonomie, der Anthropologie, der Soziologie oder eben der Jurisprudenz. Diese Dynamik der Wissensordnungen und die neuartige Pluralisierung der Wissenschaftskultur sind vielfach untersucht und auch diskutiert worden. Sie ist inzwischen Teil einer interdisziplinär angelegten Wissenschaftsgeschichte, in die auch Hegels Theorie- und Wissenschaftskonzept gehört. Wir lassen es dabei bewenden. Denn uns geht es um etwas anderes. Nicht das Narrativ oder die globale Transformationsgeschichte einer Epoche ist hier Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Gesammelte Schriften Bd. 7, 8. Aufl., Göttingen 1992, S. 3–294. 2
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von Interesse, auch nicht des Rechts und der Rechtswissenschaft, sondern der interne Begründungsanspruch einer Theorie der Freiheit. Und genau das will die Rechtsphilosophie leisten. Aber was ist der Anspruch Hegels, wenn er sich mit der Materie des Rechts, des Staates oder der bürgerlichen Gesellschaft beschäftigt? Welcher Stellenwert kommt hierbei der Jurisprudenz, der Gesetzgebung und der Theorie wissenschaftlicher Rechtsfindung zu, wie sie das juristische Denken des 18. und frühen 19. Jahrhunderts maßgeblich beeinflussten? Formulieren wir es vorläufig so: Begründet werden soll die Idee eines bewussten Lebens, das als individuelles und kollektives real ist. Unter real versteht Hegel allerdings keine Beschreibung faktischer Zustände gesellschaftlichen Handelns und Urteilens. Eine der Moderne angemessene Theorie der Freiheit muss die Individualität der Gesellschaftssubjekte ernstnehmen, die Bedürfnisse und Interessen, das Erfahrungswissen und die konkreten Motivationen. Daran besteht kein Zweifel. Hegel will uns aber gleichzeitig davon überzeugen, dass dieses soziale Wissen der Subjekte in eine gemeinsame und gefestigte Praxis des politischen Zusammenlebens eingebettet ist, die die Gelingensbedingungen des je einzelnen Lebens ermöglicht, dadurch dem Gesellschaftssubjekt aber auch Gestaltungsmacht zuweist. Dafür hat sich heute der Begriff der Verfassung eingeprägt.Wie auch immer wir Verfassungen konkret bestimmen, schon für Hegel war unbestritten, dass sie in ihrem Doppelcharakter als gegeben und gemacht erkannt werden müssen: Wir erleben die politischen und rechtlichen Infrastrukturen als unabhängige Machtinstanzen, sollten uns aber bewusst sein, dass sie Resultate von kollektiven Entscheidungen sind, die wir selber mittragen. Was diese Differenz von ontologischer und epistemologischer Perspektive für eine Theorie der Freiheit bedeutet und inwiefern gesellschaftliche Veränderungsinteressen damit kompatibel sind, werden wir noch diskutieren. Moderne Gemeinwesen beruhen jedenfalls auf einer umkämpften und reflektierten Gründe-Geschichte. Wir sprechen von Rechten und fordern sie ein, weil wir nicht nur eine private Vorstellung von deren Bedeutung, Funktion und sozialer Wirkung haben, sondern weil es sich um ein allgemein respektiertes Wissen handelt und gerade darin, im wechselseitigen Anerkennen des Gründe-Repertoires, reale Freiheit zum Ausdruck kommt. Ähnliches gilt für die Pflichtensemantik und anderes mehr. Hegels spekulative Rede von Idee, Begriff, von Dasein der Freiheit oder objektivem Geist macht das Verstehen des skizzierten Theorierahmens nicht immer leicht. Im Folgenden soll es darum gehen, Hegels Freiheitsprojekt als Begründung reflexiven Rechts zu lesen, damit aber auch den nicht-idealen Charakter seiner Theorie zu rekonstruieren. Eine nicht-ideale Theorie der Freiheit klingt – auf Hegel bezogen – wie eine hemdsärmelige Provokation. Das liegt vor allem daran, dass häufig mit der
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Vorstellung einer abstrakten mystischen Ideenlehre hantiert wird, mit der man glaubt, den hegelschen Idealismus bestätigen oder denunzieren zu können. Das Missverständnis besteht darin, dass Hegel Ideen im Sinne von idealen Konstruktionen aufbieten würde (des Rechts, der Moral, der Sittlichkeit usw.), die dann in der Art eines deus ex machina Anwendung auf die faktischen Verhältnisse fänden. Dass Hegel anders verfährt, dürfte sich schon abzeichnen. Ideen artikulieren eine pfadabhängige Ordnungsform unseres Wissens, Handelns und Urteilens, denken wir an das Prinzip der Würde, der Subjektivität oder des Eigentums. Sie schweben nicht über unseren Köpfen. Sie sind vielmehr in den theoretischen Überzeugungen und anerkannten Praktiken eines freien Gemeinwesens immer schon präsent (für Hegel ist daher – er betont es immer wieder – nichts wirklicher als die Idee), weshalb es uns überhaupt möglich ist, uns kritisch oder affirmativ auf bestimmte Entwicklungen in Politik und Gesellschaft zu beziehen. Wenn das Wissen von der Idee, d. i. von dem Wissen der Menschen, daß ihr Wesen, Zweck und Gegenstand die Freiheit ist, spekulativ ist – formuliert Hegel in § 482 der Enzyklopädie – so ist diese Idee selbst als solche die Wirklichkeit der Menschen, nicht die sie darum haben, sondern [die] sie sind. 3
Aber Hegels Theorie der Freiheit ist nicht-ideal auch in der Weise, dass er die Realisierung der Rechtsform, d. h. der Normen und personalen Rollen, der Verfahren und Organisationsstrukturen des Rechtsstaates zum integralen Bestandteil seiner Rechtsphilosophie macht. Ob ihm das in allen Ausfaltungen gelungen ist, ist eine gesondert zu beantwortende Frage. Doch sollte die Einschätzung – egal wie sie ausfällt – nicht dazu führen, die generelle rechtsphilosophische Stoßrichtung zu ignorieren (und folglich die Logik des Begriffs). Denn Hegel sieht, dass die Rechtsform in freien Gemeinwesen nicht nur ein Nebenprodukt, ein lästiges Parergon selbstbewussten menschlichen Lebens ist. In der Rechtsform kristallisiert die für die Moderne typische Spannung zwischen individueller und kollektiver, zwischen negativer und positiver Freiheit; die Spannung zwischen Recht, Moral, Politik und die damit einhergehenden Aporien oder Vernunftzumutungen. Hegel versucht diese Spannung, die sich unverkennbar in das Leben der Gesellschaftssubjekte einschreibt, mit dem Konzept der Institutionen zu fassen und gleichzeitig einzuhegen. Institutionen markieren danach Relaisstationen des Wissens und handlungsleitende Vertrauensspeicher. Sie sind das Versprechen in die Vertrauenswürdigkeit
Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Gesammelte Werke (GW), Bd. 20, Hamburg 1992, § 482 Anmerkung, S. 477. 3
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einer zunehmend auf Immanenz und Kontingenz ausgerichteten Welt. Demgemäß heißt es in Bezug auf das Selbstverständnis freier Gemeinwesen: Die Institutionen machen die Verfassung, d. i. die entwickelte und verwirklichte Vernünftigkeit, im Besonderen aus, und sind darum die feste Basis des Staats, so wie des Zutrauens und der Gesinnung der Individuen für denselben, und die Grundsäulen der öffentlichen Freiheit. 4
Hegel ist ein Institutionentheoretiker avant la lettre (mit allen Fragen und Problemen, die sich daraus ergeben). Nicht nur, aber auch das verbindet ihn mit den juristischen Einzelwissenschaften seiner Zeit. Gesagt ist damit nicht, dass Staatswissenschaften und Jurisprudenz in die gleiche theoretische Kerbe hauen wie Hegel, ganz im Gegenteil. Aber juridisches Denken und die Art der Verwissenschaftlichung sozialer Aushandlungsprozesse entwickeln sich, worauf Harold Berman und Pierre Legendre eindringlich hingewiesen haben, 5 im Verlaufe der Formierungsgeschichte rational verwalteter Ordnungen. Das betrifft zunächst den gesamten Bereich der kirchlichen Jurisdiktion, weitet sich später auf das weltliche und vor allem staatliche Herrschaftsregime aus. Details sind hier nicht von Interesse. Wichtiger ist die Reflexivität, mit der es gelingt, ein Gewebe aus verbindlichen Normen und Status, Verfahren und symbolischer Kommunikation zu etablieren, das nicht nur die Subjektwerdung der Individuen, sondern auch diverse Disziplinareffekte bewirkt und zugleich bestehende Ordnungen stabilisiert (die Genealogie der Strafprozeduren ist dafür nur ein Beispiel). Dieses reflexive Wissen und die Praktiken, die in einer Dialektik Autonomie und Autorität hervorbringen, d. h. Freiheit und Unterwerfung reproduzieren, dokumentieren für Hegel das institutionelle Gedächtnis und die Eigenlogik des Rechts. Hegel ist sich nicht nur der Dialektik bewusst, die das institutionelle Dispositiv des aufgeklärten Rechts begründet, er weiß auch um die Ambiguität, die sich in die Kultur einschreibt. Das können wir vor allem dort beobachten, wo er sich eingehend mit der Rechtspflege beschäftigt (und die Verwerfungen der Rechtsgewalt im Ancien Régime mitreflektiert). 6 Was Hegel dennoch an dem Institutionenkonzept schätzt, ist sein heuristisches und legitimatorisches Potential: Das heuristische Potential zeigt sich daran, dass Herrschaftsgebilde wie der Staat als ein ausdifferenziertes Netzwerk aus normativ begründeten Sphären und funktionalen Agenturen (Recht, Ethik, Politik, Verwaltung, Bürokratie) rekonstruiert werden können, was dem Selbstverständnis der ModerHegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, GW, Bd. 14, 1, Hamburg, 2009, § 265, S. 211. Harold Berman. Recht und Revolution, Frankfurt/M. 1991, passim; Pierre Legendre: Das politische Begehren Gottes, Wien 2012, passim. 6 Hegel: Grundlinien, §§ 209–229. 4 5
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ne durchaus entspricht. Der legitimatorische Effekt ergibt sich daraus, dass mit der Institutionen-Semantik eine Vorstellung von einrichten/stabilisieren/ auf Dauer stellen aufgerufen wird, die in Handlungsfeldern der Sittlichkeit für Erwartungssicherheit und damit für normative Kohäsion sorgen kann. Das Institutionenkonzept ist nur ein Beispiel, aber es macht sehr deutlich, wie Hegel sich auch auf staats- und rechtswissenschaftliches Wissen stützt, ohne die Eigenlogik des Rechts und die Ideologie der Einzelwissenschaften einfach zu übernehmen. Vielmehr soll der Weltdeutungsanspruch des traditionellen oder juristischen Paradigmas relativiert werden, indem dieser Anspruch in das Gesamtwissen der sittlichen Lebenswelt eingebettet wird, also in das, was schon Heraklit mit seiner Rede vom ēthos anthrōpō daimōn vor Augen hatte. 7 Dieses Gesamtwissen ist bei Hegel der entmythisierte objektive Geist, der sich im Handeln und Urteilen der Subjekte, in der Moral, dem Recht und der Politik, reproduziert und in den Gelingensbedingungen individueller oder kollektiver Lebensentwürfe zur Geltung bringt. Aber wir haben schon erwähnt, dass diese Relativierung keinen bornierten Umgang des philosophischen Wissens mit anderen Wissensressourcen intendiert. Es geht gerade darum, die wechselseitige Abhängigkeit und Eigenständigkeit, die normative Kraft und die spezifische Funktionalität moderner Wissensordnungen anzuerkennen und zugleich Raum für Kritik und Krisenanalysen zu schaffen. Eine Wissenschaft vom Recht benennt das Prozesshafte und Perspektivische unserer realen Praktiken, unserer Sprache und damit der condition humaine. Womit Hegel, das nur am Rande, auch die fruchtlose Kontroverse, die sich aus der Polarisierung von Naturecht und Rechtspositivismus ergibt, unterläuft. Diese Realität überhaupt als Daseyn des freien Willens ist das Recht, welches nicht nur das beschränkte juristische Recht, sondern das Daseyn aller Bestimmungen der Freiheit umfassend zu nehmen ist […] Denn ein Daseyn ist ein Recht nur auf Grund des freien substantiellen Willens. 8
Hegels Umgang mit der sogenannten Rechtsstaatsmoderne ist – jenseits von diversen Pathosformeln – begriffsanalytisch und freiheitsgenealogisch. Eine Begriffsanalyse bezeichnet die rationale Rekonstruktion, die transzendentale Archäologie der normativ geordneten Welt, so, wie wir sie als Mitglieder freier Gemeinwesen einerseits vorfinden und wie wir sie andererseits durch unser performatives Handeln anerkennen oder kontrovers befragen. Die Freiheitsgenealogie verweist auf die Reflexionsgeschichte und die kohärenten Reflexionsstandards aller Prinzipien, Semantiken und Praktiken, die wir als Freiheits7 8
Heraklit: Fragmente, 11. Aufl., München 1995, 119. Hegel: Enzyklopädie, § 486, S. 479.
Negativität und Affirmation
garantien gebrauchen. Hegels Punkt ist das Universalitätsargument: Es kann keinen Begriff der Rechtsperson, des Gesetzes, des Vertrages usw. geben, der Menschen als Teilnehmer der Rechtsgemeinschaft ausschließt. Eine nichtideale Theorie der Freiheit muss die Realität des Rechts mit dem Universalismus der politischen Urteilskraft verbinden, was die Kritik geltenden Rechts und der vielfach in Anspruch genommenen Vernunft notwendig einschließt. 2. Realphilosophie und Realpolitik
Die Transformationsprozesse des 18. Jahrhunderts sind, daran besteht kein Zweifel, Resultat tiefgreifender Krisenerfahrungen, die sich auf das menschliche und gesellschaftliche Zusammenleben ebenso erstreckten wie auf Politik, Recht und Wissenschaft und progressive Verschiebungen erzeugen: Aus subalternen Individuen werden Gesellschaftssubjekte, aus Privilegien Rechte, aus der politischen Theologie eine Staatswissenschaft usw. Spätestens die bürgerlichen Revolutionen 1776 und 1789 markieren die neuen Kräfteverhältnisse, so etwa das neue Selbstbewusstsein des dritten Standes, für das Abbé Sieyès wie kein anderer steht, oder die Forderung nach einer partizipativen Herrschaftsform in der Nachfolge Rousseaus und der Federalist Papers. Nun wissen wir auch, dass der Umbau von Gemeinwesen – und nach Revolutionen zumal – mit erheblichen Konflikten einhergeht. Es sind nicht nur die hegemonialen Interessen alter und neuer Eliten, die die Lebensformen der Gesellschaftssubjekte auf den Kopf zu stellen drohen. Gerade die Grande Terreur der Jakobiner zeigt, wie der Kampf um das Politische eine „unbeugsame Gerechtigkeit“ (Robespierre) 9 auf den Plan rufen und – wie Hegel in seiner Einschätzung der Revolution betont – zu einer „Furie des Zerstörens“ werden kann. 10 Hegels Deutung beruht auf der philosophischen Einsicht, dass gesellschaftliche Veränderungen ihre produktive Kraft aus der Dialektik von Bestehendem und Neuem, von Leidenserfahrungen und Befreiung beziehen; dass sie aber scheitern müssen, wenn sie das emanzipatorische Potential des Politischen mit der Gewalt elitärer Selbstwirksamkeit verwechseln. „Nur indem er etwas zerstört, hat dieser negative Wille das Gefühl seines Daseins.“, heißt in § 5 der Grundlinien. In den gesellschaftlichen Umbrüchen der Epoche beobachten wir vor allem das, was wir als Krise der Aufklärung bezeichnen können. Die daraus folgenden Suchbewegungen müssen hier nicht im Detail diskutiert werden. Nur eines sollten wir nicht übersehen: Das revolutionäre Projekt politischer Maximilian Robespierre: Rede vor dem Nationalkonvent am 5. Februar 1794, in: ders., Ausgewählte Texte, Hamburg 1971, S. 587. 10 Hegel: Grundlinien, § 5 Anmerkung, S. 32. 9
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Emanzipation (das es im Ausgangspunkt war) wird nicht nur mit dem gegenrevolutionären Projekt einer neuen societas civilis konfrontiert, denken wir an Joseph de Maistre, Louis de Bonald oder an Edmund Burke. Mit mindestens ebenso großer Wucht versucht die Realpolitik die Deutungshoheit über den Ideenhaushalt der Transformationsgesellschaft zurückzuerobern. Die Politisierung der Theorie ist die Chance der Macht. Wir haben den Roman der Revolution beendet. Wir müssen mit ihrer Historie beginnen, unser Augenmerk nur auf das richten, was bei der Anwendung unserer Prinzipien real und möglich ist, und nicht auf das Spekulative und Hypothetische. Heute einen anderen Weg einzuschlagen, hieße zu philosophieren und nicht zu regieren. 11
Mit diesen Worten vor der Assamblé Nationale proklamiert Napoléon Bonaparte nicht nur die Einverleibung der Revolution, d. h. der gesellschaftspolitischen Selbstermächtigung, in das Projekt einer postrevolutionären Ordnung. Die Semantik zeigt auch bereits die Richtung und die Entwicklung an, die man heute in der Rückschau rekonstruieren kann: Die Mediatisierung des Politischen zugunsten einer – wie es jetzt heißt – verlässlichen Form des Regierens. Das deutliche Zeichen dafür ist die neue Macht des Gesetzes und der Gesetzgebung, die Bonaparte mobilisiert, die damit zugleich die Positivität als selbstreferentielle Kommunikationsform des Rechts etabliert. Die Genealogie der Rechtsstaatsmoderne verbindet sich mit einer Neujustierung der Rechts- und Staatswissenschaften. Was das bedeutet, sieht man daran, dass sie sich als Einzelwissenschaften zunehmend auf das positive Recht und die Verfassungsgrundsätze beschränken, andererseits aber mit ihrem arkanen Rechtsanwendungswissen den umfassenden Legitimitätsanspruch einer auf Kontingenz aufruhenden politischen Macht absichern sollen. Legitimation durch Verfahren (Niklas Luhmann) ist nicht erst ein Thema des 20. Jahrhunderts. Sie steht auch für ein Bedürfnis nach normativer Kohärenz und sozialer Orientierung an Epochenschwellen. Dementsprechend bemühen sich die Einzelwissenschaften vor allem um drei Rationalitätsgarantien juristischen Handelns: um eine Legitimität begründende Rechtsquellenlehre, um eine methodisch abgesicherte Reproduktion des Rechts und um eine Theorie gesellschaftswirksamer Gesetzgebung und Jurisprudenz. Die neue Form des Regierens, damit auch die neue Macht der Gesetzgebung und des positiven Rechts verweisen selbst wieder auf eine Dialektik, die Hegel dekonstruieren will. Denn mit dem, was hier als (juridische) RechtsquellenNapoléon Bonaparte: Pensées politiques et sociale, Paris 1996, S. 23 (deutsche Übersetzung bei Peter Sloterdijk, Der starke Grund zusammen zu sein, Frankfurt/M. 1998, S. 14). 11
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lehre bezeichnet wird, wird vor allem der Positivismus der Aufklärung sichtbar, der sich auch in der Wissenschaft vom Recht niederschlägt. Die Prädominanz des staatlichen Gesetzgebers und das Vertrauen in das positive Gesetz haben ihren Grund in wachsenden Ordnungs- und Regulierungserwartungen von Politik und Gesellschaft, aber auch in der Funktionsverschiebung solcher Begriffe wie Naturrecht, Gesetz oder Metaphysik. Dementsprechend konzipiert Savigny als Hauptvertreter der Historischen Rechtsschule ein Netzwerk aus drei Rechtsquellen: dem sogenannten Volks- oder Gewohnheitsrecht, dem Juristenrecht und schließlich dem Gesetz. 12 Indem Savigny die genetisch gewachsene Kultur, d. h. Sprache, Gebrauch, Sitte etc., zum primären Bezugspunkt des Rechts macht, formuliert er die vitalistische oder organische Seite des Rechts als bewusste Lebensform. Gleichzeitig geht er davon aus, dass diese bewusste Lebensform eingebettet ist in einen übergreifenden geschichtlichen Zusammenhang, es reproduziert sich im Durchgang durch die Geschichte. Recht verweist damit aber auf einen besonderen Seins- und Entstehungsgrund. 13 Dieser Seinsgrund des Rechts ist jedoch keine transzendentale Größe, kein apriorische Kategorie oder Resultat eines Vernunftwissens, sondern wird in den zeitvarianten Gegebenheiten, den Gewohnheiten und Interessen vorgefunden. Genau das ist ein Grund, warum sich Hegel zum Teil sehr scharf gegen die Positionen der Historischen Rechtsschule wendet. Denn während Hegel das Recht von einem gemeinschaftlichen Prozess des Urteilens her begreift, durch den es immer wieder neu zu Bewusstsein gebracht und kritisch ausformuliert werden muss, 14 geht es der Historischen Rechtsschule mit der Vergeschichtlichung des Rechts um die Bekräftigung einer „lebendigen“ Naturnotwendigkeit als ein inneres Prinzip. Eine solche Naturnotwendigkeit kennt kein Gestaltungsbewusstsein, sie ist eher blinde Teleologie, Narrativ oder unhinterfragte Tradition. Recht wird so aber mit einem Mythos des Gegebenen (Sellars) kurzgeschlossen, mit einem Positivismus, der allein das Autoritätsargument gelten lässt. Für Hegel ist das begriffsloses Denken, dem er das Konzept einer reflexiven Positivität entgegensetzt.
Friedrich Carl von Savigny: System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, Berlin 1840, S. 35 ff., 50, 90. 13 Savigny: System des heutigen Römischen Rechts, S. 14–16. 14 Hegel: Schriften und Entwürfe, GW 15, S. 249: „Wo er – sc. der Geist – herkommt, – es ist von der Natur; wo er hingeht, es ist zu seiner Freiheit. Was er ist, ist eben die Bewegung selbst von der Natur sich zu befreien.“ 12
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II. Reflexive Positivität 1. Von der Schwierigkeit, Positivität zu denken
Positivität ist allgegenwärtig. Durch sie erlangt die Form ihre allgemeine Geltung. Aber wie wir bereits erwähnt haben, steht die Positivität am Beginn der Moderne auch für einen neuen Umgang mit Leben und Gesetz, Subjekt und Macht. Positivität verspricht nicht nur Ordnung und Rechtssicherheit, sondern garantiert Rechte und reguliert Freiheit. Positivität wird zu einem Leitbegriff rational verwalteter Gemeinwesen. Dennoch ist es bemerkenswert, mit welcher Vehemenz Hegel auf einer philosophischen Durchdringung der Positivität beharrt. Denn Begriffe wie Positivität, Form und Geltung werden nur selten umfassend behandelt (Kant und Fichte bemühen sich darum, aber ihre Entwürfe bleiben vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung dieser Zeit eher blass). Die Grundlinien, die, wie der Titel betont, Naturrecht und Staatswissenschaft verbinden wollen, formulieren insofern einen anderen Anspruch, als es die gängigen Rechts- und Naturrechtlehren tun, ganz abgesehen von den Moralphilosophien dieser Epoche. Denn in dem Maße, in dem die Form- und Begriffsanalyse nicht nur die informellen, sondern auch die formalisierten, d. h. gesellschaftlichen, politischen und juridischen Infrastrukturen in den Blick nimmt, in dem Maße muss sie gleichzeitig die Frage nach Bedeutung und Funktion der Positivität in der realen sittlichen Welt beantworten. Hegels Umgang mit der Positivität zielt einerseits auf eine kohärente Rekonstruktion legitimer Rechtsgesetzlichkeit. Andererseits, das sollten wir nicht aus den Augen verlieren, will sich diese Begründung von konkurrierenden Positionen der Kameral- und Policeywissenschaften absetzen, wie sie etwa von Joseph von Sonnenfels, Johann Heinrich Justi und anderen vertreten wurden. Kameral- und Policeywissenschaften stabilisieren mit ihrem theoretischen Instrumentarium den Ordnungs- und Regulierungsanspruch des frühmodernen Staates in Sachen Handel, Wirtschaft, Sicherheit und der allgemeinen Verwaltung des Gemeinwesens. Dementsprechend haben sie das Ziel, positives Recht und sonstige Vorschriften zu installieren, die effektive Interventionen in den individuellen und gesellschaftlichen Körper ermöglichen, sei es auf ökonomischem, medizinischem oder auf dem Gebiet der Sozialethik und des Kriminalrechts. Das Regelungskalkül dieser Wissenschaften bezieht sich damit auf ein Geflecht von gesellschaftlichen Beziehungen und Interessen – auf die Gesundheits- und Wohlstandserwartungen, auf die Eindämmung von Devianz, Begrenzung von Vulnerabilitäten usw. –; und darauf, diese Interessen zum Nutzen des Einzelnen und des Gemeinwesens auszumitteln.
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Gesetze und die gesamte Regelungskultur sind also Teil eines Regimes, das gerade nicht auf freiheitsmetaphysischen Prämissen aufruht, sondern die Natürlichkeit ins Zentrum sozialer Kontrolle stellt. Als solche biopolitischen Regimes hat sie Foucault in seinen Gouvernementalitätsstudien untersucht und dechiffriert. 15 Hegel hat sich bekanntermaßen schon sehr früh, namentlich im Naturrechtsaufsatz, gegen einen unreflektierten Empirismus der Rechtsund Gesellschaftstheorie gewandt. Es ist unschwer zu sehen, dass diese Kritik nun in besonderer Schärfe auch die Kameral- und Policeywissenschaften trifft. Hegels spekulativer Konter besteht darin, die Positivität als etwas Vernünftiges auszuweisen, zugleich aber die Paradoxien der Vernunft im Recht zur Sprache zu bringen. D. h.: Die Grundprinzipien des Rechts müssen in der Form des Gesetzes Geltung erlangen. Aber die geltenden Gesetze einer Rechtsverfassung können ihren Vernunftanspruch nicht selber einlösen. Im Gegenteil, sie sind auf eine autoritative Verwirklichung durch positive Rechtswissenschaft und Rechtsprechung (praktische Jurisprudenz) angewiesen. Positivität ist ein vernünftiges und vernunftloses Versprechen. Das Recht ist positiv überhaupt a) durch die Form, in einem Staate Gültigkeit zu haben […], b) Dem Inhalte nach erhält dies Recht ein positives Element α) durch den besonderen Nationalcharakter eines Volkes, die Stufe seiner geschichtlichen Entwickelung und den Zusammenhang aller der Verhältnisse, die der Naturnotwendigkeit angehören, β) durch die Notwendigkeit, daß ein System eines gesetzlichen Rechts die Anwendung des allgemeinen Begriffes auf die besondere von Außen sich gebende Beschaffenheit der Gegenstände und Fälle enthalten muß, – eine Anwendung, die nicht mehr spekulatives Denken und Entwicklung des Begriffes, sondern Subsumtion des Verstandes ist; γ) durch die für die Entscheidung in der Wirklichkeit erforderlichen letzten Bestimmungen. 16
Diese Sicht auf die Positivität des Rechts reflektiert sehr genau die Reserve, die die praktische und politische Philosophie gegenüber diesem Begriff und den Prozeduren hat. Sie reflektiert aber auch die Spannungen und Entwicklungen, die Hegels Denken der Positivität kennzeichnen. Denn Positivität – vielmehr der Umstand, dass sie für jegliche Lebensformen eminente Bedeutung hat – ist für Hegel seit seiner Berner und Frankfurter Zeit ein zentrales philosophisches Problem. Positivität erscheint vor allem in der frühen Rezeption Kants und Fichtes als das, was der Vernunft entgegengesetzt ist, als eine Chiffre für das Nicht-Autonome und Unfreie. Nirgends drückt sich für Hegel diese Entgegensetzung klarer aus als in der positiven Religion des Christentums. „Ein positiver Glauben ist ein solches System von religiösen Sätzen, das für uns des15 16
Michel Foucault: Die Geburt der Biopolitik, Bd. 2, Frankfurt/M. 2004, passim. Hegel: Grundlinien, § 3, S. 25.
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wegen Wahrheit haben soll, weil es uns geboten ist von einer Autorität, der unseren Glauben zu unterwerfen wir uns nicht weigern können.“ 17 Die christliche Religion, so schreibt Hegel in kantischer Diktion, kündigt uns das moralische Gesetz als etwas außer uns Bestehendes, als etwas Gegebenes an, und muß also trachten, ihm auf andere Art Achtung zu verschaffen. In den Begriff der positiven Religion könnte schon dies Merkmal aufgenommen werden, daß sie das Sittengesetz den Menschen als etwas Gegebenes aufstellt. 18
Dieser Widerspruch zwischen fremder Wahrheit und selbsthervorgebrachter Vernunft, zwischen der Positivität des moralischen Gesetzes und der menschlichen Freiheit markiert den Nullpunkt einer Argumentation, die Hegel spätestens mit der Phänomenologie des Geistes in eine radikale Dialektik hineintreibt. Die Frage, die zur alles entscheidenden wird (und die bis heute im Hintergrund vieler Debatten stehen dürfte) ist die nach der Teilhabe der Positivität an der selbsthervorgebrachten Vernunft. Maßgeblich für die Bestimmung der Teilhabe ist die an Lessing anknüpfende Differenzierung von Wesentlichem, Begrifflichem und Historisch-Zufälligem. 19 Hegels Antwort findet sich in der Logik. Denn es ist die Dialektik, die die bewegende Seele des wissenschaftlichen Fortgehens ausmacht, sie ist das Prinzip, „wodurch allein immanenter Zusammenhang und Notwendigkeit in den Inhalt der Wissenschaft kommt, so wie in ihm überhaupt die wahrhafte und nicht äußerliche Erhebung über das Endliche liegt“. 20 Und § 82 der Enzyklopädie präsentiert dann das Resultat dieser Dialektik, wenn es dort heißt: Das Speculative oder Positiv-Vernünftige faßt die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auf, das Affirmative, das in ihrer Auflösung und in ihrem Uebergehen enthalten ist. 21
Das Positiv-Vernünftige negiert das Historisch-Zufällige, aber nicht, um es abzuqualifizieren oder zu verdrängen, sondern um ihm die Bedeutung zuzuerHerman Nohl: Hegels theologische Jugendschriften, Frankfurt/M. 1907, S. 233. Ebd., S. 212. 19 Gotthold Ephraim Lessing: Beweis des Geistes, Sämtliche Schriften, Bd. XIII, 3. Aufl., Leipzig 1897, S. 5: „zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von nothwendigen Vernunftwahrheiten nie werden“. 20 Hegel: Enzyklopädie, § 81 Anmerkung, S. 119. 21 Hegel: Enzyklopädie, § 82, S. 120. Vgl. aber auch Adornos Seitenhieb, wonach in der Philosophie kein Positives zu erlangen sei, das mit ihrer Konstruktion identisch wäre. Unmittelbar, so Adorno, sei „das Nichtidentische nicht als seinerseits Positives zu gewinnen und auch nicht durch Negation der Negation“. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt/M. 1973, S. 148, 161. 17 18
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kennen, die es in einem auf reale Freiheit angelegten Leben, dem privaten wie dem gesellschaftlichen, haben kann. Wir sehen hier erneut den Kontrapunkt zur Historischen Rechtsschule: Dass jede menschliche Biographie, jede Gesellschaft notwendig die Seite des geschichtlichen Werdens, damit auch des Äußerlichen und Kontingenten an sich hat, muss eben auf den Begriff gebracht, philosophisch reflektiert werden. In Hegels Worten: „Das in der Zeit erscheinende Hervortreten und Entwickeln von Rechtsbestimmungen zu betrachten, – diese rein geschichtliche Bemühung, so wie die Erkenntnis ihrer verständigen Konsequenz, die aus der Vergleichung derselben mit bereits vorhandenen Rechtsverhältnissen hervorgeht, hat in ihrer eigenen Sphäre ihr Verdienst und ihre Würdigung und steht außer dem Verhältnis mit der philosophischen Betrachtung, insofern nämlich die Entwicklung aus historischen Gründen sich nicht selbst verwechselt mit der Entwicklung aus dem Begriffe, und die geschichtliche Erklärung und Rechtfertigung nicht zur Bedeutung einer an und für sich gültigen Rechtfertigung ausgedehnt wird.“ 22 Erst wenn diese Einsicht ins Bewusstsein tritt, wird sichtbar, inwiefern Positivität Freiheit verwirklicht und wo sie dieser entgegensteht. 23 Gerade das für das Recht zu klären, ist eine der Aufgaben der Grundlinien. 2. Autorität und Vernunft
Dem Begriff der Positivität und der Positivität des Rechts insbesondere stehen philosophische Theorien eher skeptisch gegenüber. Das war zu Hegels Zeiten nicht anders als heute (obwohl nicht zu bestreiten ist, dass sich durch die dominante Position des positiven Rechts die Problemlage zusätzlich verschärft hat). Positivität erweckte und erweckt immer den Verdacht, dass Legitimitätserfordernisse unterlaufen, Begründungen abgeschnitten, Ideologien der Weg bereitet oder – thematisch betrachtet – Macht und Herrschaft gegen Freiheit und Emanzipation ausgespielt werden soll. Auf der anderen Seite sehen wir aber mit dem Aufstieg der eindimensionalen Norm (Paolo Prodi) und einer selbstreferentiellen Rechtskultur ein zunehmendes Interesse der Rechtswissenschaft und der juristischen Eliten, den Begriff der Positivität mit einem entsprechenden Deutungsmonopol zu verbinden. Das ist wenig verwunderlich. Sind es doch die theoretisch und praktisch arbeitenden Jurist*innen, die den Begriff tagtäglich gebrauchen und ihn auch deshalb schätzen. Zudem gilt Positivität als Zeichen für eine funktionierende Rechtsstaatlichkeit. Denn sie ermöglicht auf Seiten der Rechtsanwender*innen und Betroffenen ein garan22 23
Hegel: Grundlinien, § 3 Anmerkung, S. 25. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion, 3. Teil, Hamburg 1995, S. 180 f.
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tiertes Maß an Rechtssicherheit. Die Folge ist eine theoretische Schieflage. Positivität wird zwar von juridischer Seite als Rechtsstaatskriterium und als Rechtsanwendungsgarantie ausbuchstabiert, eine damit korrespondierende Legitimationstheorie ist aber so gut wie nicht vorhanden. Die Naturrechtsdebatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts und die praktische oder Moralphilosophie der Gegenwart haben, so scheint es, andere Interessen. Hegels theoretische Auseinandersetzung mit der Positivität des Rechts – und mit dem Gesetz – nimmt sich also eines blinden Flecks der Philosophie an. Die Beschäftigung mit der Positivität des Rechts hat insofern eine doppelte Stoßrichtung: Zum einen geht es Hegel darum, den konkreten philosophischen Gehalt dieses Begriffs offenzulegen und für eine Philosophie freier Gemeinwesen fruchtbar zu machen. Zum anderen sollen damit aber auch die Grenzen der juridischen Betrachtung aufgezeigt und d. h. die eigenständigen Bereiche von philosophischer (spekulativer) und einzelwissenschaftlicher (rational-dogmatischer) Analyse betont werden. Hegel differenziert daran anknüpfend zwischen zwei Dimensionen rechtlicher Positivität, zwischen einer formellen und einer materiell-inhaltlichen. Die formelle Dimension soll die Geltungsstruktur und den Geltungsanspruch rechtlicher Normen rekonstruieren, die materielle hingegen Reichweite und Grenzen gesetzlicher Vernünftigkeit oder Richtigkeit verdeutlichen. Die formelle Seite der Positivität ist die Seite der Autorität. Nun tritt die Autorität beileibe nicht das erste Mal in solchen Begründungszusammenhängen auf. Prominent und wegweisend wurde sie bekanntermaßen von Hobbes eingeführt. Bei Hobbes hatte allerdings die Frage der Authoritas einen über den Geltungshorizont juridischer Regelungen hinausgehende Bedeutung (das äußert sich auch in der Kopplung von Recht und Zwang). War es doch eines der zentralen Anliegen, eine Kategorie zur Rechtfertigung politischer Herrschaft zu installieren. Autorität als Rechtfertigungskategorie sollte der Schlüssel zu einer von jeder Metaphysik gelösten, jedenfalls aber säkularisierten Gesellschaftstheorie abgeben. Das Verständnis und der Umgang mit dem positiven Recht ist eine Folge dieses Theorierahmens. 24 Denn jedwede Art von rechtlichen Regelungen und die darin eingespeiste Normativität sind Ausdruck des unbändigen Herrschaftswillens. Recht und Gesetz realisieren sich durch einen voluntaristischen Akt, dem auf der Seite der Individuen ein Unterwerfungshandeln entspricht. Kurz: Freiheit ist die Einsicht in unbedingten Gesetzesgehorsam. Auf diese Weise ermöglicht das Recht, so die Logik des Leviathan, eine in sich kohärente und friedliche OrdThomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Frankfurt/M. 1996, Kap. 17. 24
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nung. 25 Die theoretischen Prämissen und die Probleme dieses Projekts müssen wir hier nicht im Einzelnen erörtern (es ist oft genug getan worden), um dennoch zu sehen, inwiefern Hegel mit seinem Autoritätsbegriff auf die Traditionsbestände der Rechtsphilosophie antwortet und wie er sich von ihnen absetzt. Hegels Autoritätsargument adressiert zwei Eigenschaften des Gesetzes: Die erste Eigenschaft bezieht sich auf die Geltung der Norm. Die Geltungseigenschaft verweist darauf, dass jedes Gesetz als Bestandteil einer bestehenden Rechtsordnung normative Verbindlichkeit und faktische Durchsetzungsmacht besitzt. Normative Verbindlichkeit besagt, dass positive Gesetze generelle Gültigkeit beanspruchen können, das heißt von den Rechtssubjekten, aber auch von der Justiz, den Gerichten, der staatlichen Bürokratie usw. anerkannt werden sollen. Dagegen besagt faktische Durchsetzungsmacht, dass die Gesetze zugleich auf ein unmittelbares Befolgungsinteresse aller treffen und damit auch reale Wirksamkeit entfalten können. „Positiv“, so erläutert Hegel, „ist hier nicht dem Negativen entgegengesetzt, sondern positiv; es ist gesetzt, es gilt unmittelbar dem Begriff Idealismus entgegen.“ 26 Daraus folgt als zweite Eigenschaft des positiven Gesetzes seine grundsätzliche Unabhängigkeit von den Vernunft- oder Richtigkeitsvorstellungen des Einzelnen. Das Heilige des Rechts ist, daß es ein schlechthin Festes ist, was über die subjektive Meinung erhaben ist, es ist gegen diese Mauer, das subjektive Belieben muß sich unterwerfen. Dies ist die Notwendigkeit der Form des Positiven. 27
Unabhängigkeit heißt verlässliche Unverfügbarkeit. Das Gesetz darf nicht zur Verfügungsmasse partikularer Interessen werden. Diese Unabhängigkeit der Positivität bringt aber auch zum Vorschein, wie sich im geltenden Gesetz eine eigenständige und entfremdende Macht, eine juridische Gewalt und Gestaltungskraft entfalten kann. Denn das Gesetz ist ein Gesetztes, also gegen mich ein Äußerliches und wird von Anderen auf mich angewendet. Was so an mich kommt ist eine äußerliche Gewalt. Ich soll einer genauen, verständigen, abstracten Bestimmung, einer Regel gehorchen; ihr habe ich zu gehorchen. Sie ist mir äußerlich, und was sie von mir in Anspruch nimmt, kann nur eine mir äußerliche Seite sein; das Gericht kann nur eine solche Gewalt an mir ausüben. 28
Ebd., Kap. 21. Hegel: Grundlinien, GW, Bd. 14, 2, 2010, § 3 Notizen, S. 299. 27 Hegel: Nachschrift Griesheim, in: Karl-Heinz Ilting: Vorlesungen über die Rechtsphilosophie 1818–1831, Bd. 4, Stuttgart Bad-Cannstatt 1974, § 3, S. 83. 28 Hegel: Vorlesungsnachschrift Hotho (1822/23), GW 26,3, 2015, § 212, 213, S. 975. 25 26
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Vielleicht ist hier die Nähe zu Hobbes am größten. Das positive Gesetz erscheint als das dem Einzelnen Vorgegebene, als das Nichtänderbare und als ein Unterwerfungsinstrument. Nur ist damit, d. h. mit dem Geltungsanspruch des Gesetzes, auch die Ambivalenz der Autorität mit Händen zu greifen. Während Hobbes diese Ambivalenz ignoriert oder im Schatten des Leviathan verschwinden lässt, will Hegel diese Ambivalenz nur insofern akzeptieren, als damit ein besonderes Kennzeichen des positiven Rechts und der praktischen Rechtsanwendung betont werden kann: die Garantie von Rechtssicherheit. Diese Garantie der Rechtssicherheit ist zwar unmittelbar mit dem Äußerlichen der Positivität, mit dem „Zufällige[n] des Eigenwillens und anderer Besonderheit“ 29 verbunden, aber sie ist gleichzeitig ein Ausdruck für den rationalen, also verstandesgemäßen Umgang des Rechts mit Kontingenz. Der Gesetzgeber kann das Regime des Rechts nutzen, um das soziale Zusammenleben in konkreter Weise zu regeln. Damit schließt er nicht nur bestimmte andere Möglichkeiten aus. Er macht auch – für einen historischen Zeitabschnitt, seltener für eine ganze Epoche – deutlich, was er für regelungsbedürftig hält und was nicht. An dieser Stelle wird aber nur besonders klar, dass die „positive Rechtswissenschaft … eine historische Wissenschaft [ist], welche die Autorität zu ihrem Prinzip hat. Was noch übriges geschehen kann, ist Sache des Verstandes und betrifft die äußere Ordnung, Zusammenstellung, Konsequenz, weitere Anwendung u. dergl.“ 30 Die insofern auch offengelegte Ambivalenz oder sogar Aporie autoritativer Positivität kann für Hegel nur im Einzelfall aufgelöst oder zumindest normativ entdramatisiert werden. Aber auch dann zeigt sich, dass die Positivität einer materiellen oder inhaltlichen Dimension bedarf, um ein Garant rechtlicher Freiheitsverbürgung zu sein. Freiheitsgarantien können gerade nicht von Kontingenzerfahrungen abhängig sein. Ein Garant rechtlicher Freiheitsverbürgung kann die Positivität für Hegel also nur dann sein, wenn sie selbst als Allgemeines, als etwas gemeinsam Gewusstes, gedacht wird. In der spekulativen Semantik Hegels bedeutet das, dass die Bestimmung des positiven Rechts/Gesetzes von der Äußerlichkeit, der Zufälligkeit und der bloßen Erscheinung absehen muss. Was an sich Recht ist, ist in seinem objektiven Dasein gesetzt, d. i. durch den Gedanken für das Bewusstsein bestimmt, und als das was Recht ist und gilt, das Gesetz; und das Recht ist durch diese Bestimmung positives Recht überhaupt. 31
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Hegel: Grundlinien, § 212, S. 177. Ebd., § 212 Anmerkung, S. 177. Ebd., § 211, S. 175.
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Positivität ist eine Signatur sittlichen Bewusstseins. Dennoch verleugnet die rechtliche Positivität nicht ihre Geschichte; eine Geschichte, die als Geschichte eines Volkes, der sozialen Verhältnisse und politischen Infrastrukturen, das Rechtsdenken maßgeblich prägt. Aber auch hier gilt, dass jedes Verstehen von Geschichtlichkeit nur als begriffene Geschichte philosophische Bedeutung haben kann. Was Recht ist, erhält erst damit, daß es zum Gesetze wird, nicht nur die Form seiner Allgemeinheit, sondern seine wahrhafte Bestimmtheit […].Es ist darum bei der Vorstellung des Gesetzgebens nicht bloß das eine Moment vor sich zu haben, daß dadurch etwas als die für alle gültige Regel des Benehmens ausgesprochen werde; sondern das innere wesentliche Moment ist vor diesem anderen die Erkenntnis des Inhalts in seiner bestimmten Allgemeinheit. 32
Der Wille zur Positivität ist Ausdruck dessen, was wir den Ideenrealismus Hegels nennen können. Hegels Realismus, wir erinnern uns, beruht auf der Einsicht, dass jede der menschlichen Erfahrungen und Praktiken zugrunde gelegte Wirklichkeitsannahme immer schon theoretisch von uns geformt ist. Die Idee ist, wie Hegel in Anknüpfung an Platon formuliert, das verwirklichte eidos, der realisierte Begriff. 33 Hegels Theorie der Freiheit ist realistisch aber auch insofern, als er die Verwirklichung der Rechtsform, der Normen und personalen Rollen, der Verfahren und Organisationsstrukturen des Rechtsstaates, zum integralen Bestandteil seiner Rechtsphilosophie macht. Positivität, das können wir jetzt sehen, bezeichnet eine Schnittstelle innerhalb dieser Theorie eines spekulativen Realismus, insofern sie das Denken der Freiheit notwendig voraussetzt, andererseits aber die Möglichkeiten einer sozialen und gesetzlichen Wirksamkeit überhaupt erst erschließt. Diesen Aspekt hervorzuheben ist auch deshalb wichtig, weil er verdeutlicht, dass jede Rede über Recht, Positivität und Gesetz die Gesellschaft (und das Gemeinwesen als Ganzes) einbeziehen muss, in der Freiheit wirklich sein soll. Für Hegel war diese Einsicht selbstverständlich – und zugleich die größte Herausforderung.
Ebd., § 211 Anmerkung, S. 175 f. Pirmin Stekeler-Weithofer: Hegels Wissenschaft der Logik. Ein dialogischer Kommentar, Bd. 2: Die Lehre vom Wesen, Hamburg 2020, Einleitung. 32 33
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III. Das liberale Dilemma 1. Die Gesellschaft des Rechts
Die Gesellschaft ist der Topos der Moderne. Sie markiert bis heute den Machbarkeits- und Krisenhorizont freier Selbstverwirklichung. Das heißt, sie steht für Emanzipation und Entfremdung, für die Macht und die Ohnmacht des Subjekts, sie steht für den unheimlichen Sog der Bedürfnisse und die Produktivität des Narzissmus, sie steht aber auch für die Exzesse der Erschöpfung und die kollektiven Illusionen. Der Reiz moderner Gesellschaften macht gleichzeitig ihre Fragilität aus. 34 Das alles ist weitgehend bekannt und bekannt ist ebenso, dass Hegel eine eigenständige Rekonstruktion der disruptiven Dynamiken, der sozialen Kräfte und Kämpfe anbietet. Für das Verständnis der Rechtsphilosophie ist es aber wichtig zu sehen, dass die Gesellschaftssemantik in die logische Geographie des Rechts 35 eingebettet und auf ein spezielles Prinzipien- und Begriffsnetzwerk verpflichtet wird. Den Analyserahmen gibt § 182 der Grundlinien vor. Die konkrete Person, welche sich als Besondere Zweck ist, als ein Ganzes von Bedürfnissen und eine Vermischung von Naturnotwendigkeit und Willkür, ist das ein Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft, – aber die besondere Person als wesentlich in Beziehung auf andere solche Besonderheit, so daß jede durch die andere und zugleich schlechthin nur als durch die Form der Allgemeinheit, das andere Prinzip, vermittelt sich geltend macht und befriedigt. 36
Was Hegel mit diesem Analyserahmen erreicht, ist eine markante Vertiefung des Reflexionsniveaus (womit nicht gesagt ist, dass Hegels Analyse in allen Einzelheiten zugestimmt werden muss). Gesellschaft war zu seiner Zeit, wenn sie überhaupt eingehend untersucht wurde, vor allem eine Kategorie der Einzelwissenschaften, etwa der sich herausbildenden Ökonomie, der Geschichtswissenschaft oder der Anthropologie sowie der politischen Publizistik. Adam Ferguson, Adam Smith oder Thomas Paine stehen hier nur pars pro toto für unterschiedlichste Deutungen und Zeitdiagnosen. 37 Insofern kann man durchaus davon sprechen, dass es das Konzept einer Gesellschaft, das die Differenz Karl Polanyi: The great transformation, Frankfurt/M. 1978, 2. Teil. Den Begriff der logischen Geographie verwendet Pirmin Stekeler in seinem Grundlinien-Kommentar, dort in der Einleitung. Daran knüpfe ich hier an. 36 Hegel: Vorlesungsnachschrift Hotho, § 182. 37 Adam Ferguson: An Essay on the History of Civil Society, Cambridge 1995, Part III; Adam Smith, Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg 2010, S. 380; Thomas Paine, Political Writings, New York 1989, S. 57–264. 34 35
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von communitas und societas, von politischer und nicht-politischer Sphäre, betont, auch schon vor Hegel gab. Dennoch sind die fundamentalen Unterschiede nicht zu übersehen. Während Gesellschaft im ersten Zusammenhang empirisch und funktional zum Erkenntnisgegenstand erschlossen wurde, will Hegel die Dialektik von normativer Binnenstruktur und empirischen Epiphänomen offenlegen. Darauf verweisen die verwendeten Begriffe und Begriffspaare, denken wir an Besonderheit und Allgemeinheit, Erscheinung und Realität, Entzweiung und Abhängigkeit – oder auch an die Charakterisierung der bürgerlichen Gesellschaft als System „der in ihre Extreme verlorenen Sittlichkeit“. 38 Allerdings geht es nicht nur um das Durchexerzieren der logischen Form. Vielmehr wird so die Möglichkeit eröffnet, verschiedene wissenschaftliche Zugangsweisen zu koppeln, namentlich die ökonomische, die anthropologische und nicht zuletzt die (proto-)soziologische. Gegenüber den herkömmlichen Gesellschaftsanalysen hat das den entscheidenden Vorteil, dass die Perspektivität und Partikularität der jeweiligen Deutungen sichtbar wird und bleibt. Gerade an der von Max Weber maßgeblich beeinflussten soziologischen Tradition lässt sich gut beobachten, wie die Deutung von Gesellschaft und sozialer Interaktion aus sehr speziellen Blinkwinkeln erfolgt. Abgestellt werden soll bekanntlich auf den subjektiven Sinn, der dem eigenen und dem Verhalten anderer in typisierter Betrachtung beigelegt werden kann. 39 Gesellschaft kommt damit als eine Aggregation individuellen Verhaltens und damit verknüpfter Sinnzuschreibungen in den Blick, kurz: ohne Intentionalität keine gesellschaftliche Interaktion. Nun ist unbestritten, dass mit dem Hinweis auf die Intentionalität kooperativen Verhaltens eine konstitutive Seite gesellschaftlichen Handelns beschrieben wird. Aber dass mit der Intentionalitätssemantik das tiefe Wissen erfasst werden kann, das Gesellschaften rational agierenden Individuen abverlangen, ist zumindest zweifelhaft. Vor allem bleibt offen, wie die Individuen ihre sozialen Kompetenzen erwerben und woher sie die Gelingensbedingungen kennen, die sinnbezogenes Handeln zuallererst ermöglichen. Ähnlichen Einwänden sind auch behavioristische Gesellschaftsentwürfe ausgesetzt, wie sie von Georg Herbert Mead u. a. entwickelt (und jüngst durch verhaltensökonomische Modelle ergänzt) wurden. Zwar liegt hier der Schwerpunkt auf der Rollen- und Identitätsbildung und auf einer
Hegel: Grundlinien, § 184, S. 160. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1922, § 1, S. 5. Gemeint sei daher so Weber, „nicht etwa irgendein objektiv ‚richtiger‘oder ein metaphysisch ergründeter ‚wahrer‘ Sinn“ (a. a. O.). 38 39
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Berücksichtigung symbolisch vermittelter Praktiken. 40 Trotz allem ist fraglich, ob derartige Gesellschaftsentwürfe über oberflächliche oder idealisierte Bestimmungen von Geist, Identität und Gesellschaft hinauskommen. Das gilt jedenfalls dann, wenn das Gründe-Repertoire der handelnden Individuen und die rollen- und sinnstiftende Kraft der Lebenswelt, der sie angehören, mehr oder weniger ausgeblendet werden. Nun war Hegel weder die Gesellschaftstheorie Webers noch der Sozialbehaviorismus Meads bekannt. Aber er sieht die blinden Flecke, die empirisch und/oder funktional argumentierende Gesellschaftstheorien schon zu seiner Zeit hinterlassen. Wenn Hegel auf einer Form- und Begriffsanalyse beharrt, dann geht es zentral darum, die Zweischneidigkeit jeglicher Sozialformen, die Aporien der Freiheit/der Freiheitserwartungen und das implizite Wissen offenzulegen, auf das sich sämtliche Gesellschaftstheorien beziehen. Die bereits erwähnten Leitbegriffe der Besonderheit und Allgemeinheit, der Erscheinung und Realität, der Entzweiung und Abhängigkeit verweisen daher, erstens, auf die sozialen Erfahrungen, die Individuen in einer bürgerlichen Gesellschaft machen und die sie in unterschiedlichsten kulturellen Formen und Praktiken ausagieren. Hegel rekonstruiert die sozialen Erfahrungen der Gesellschaftssubjekte als eine frühe Gestalt der liberalen Marktordnung und damit als eine fragile Infrastruktur individueller Selbstverwirklichung. Hierfür stehen das „System der Bedürfnisse“, die „Art der Arbeit“ und das Problem der Kapitalbildung und Vermögensteilhabe. Wir sollten sehen, wie das Prinzip der Besonderheit zum Grund oder vielmehr zum Inbegriff individueller Lebensformen wird. Mit diesen Lebensformen können Individuen das Politische oder die res publica verdrängen, vielleicht sogar ignorieren. Aber als rationale Subjekte wissen sie auch, dass sie diese Lebensformen zerstörten, wenn sie sie nicht ihrerseits durch einen Prozess der Selbstreflexion hindurchtrieben. „Der Geist“, so schreibt Hegel in § 187 der Grundlinien, „hat seine Wirklichkeit nur dadurch, daß er sich in sich selbst entzweit, in den Naturbedürfnissen und in dem Zusammenhange dieser äußern Notwendigkeit sich diese Schranke und Endlichkeit gibt, und eben damit, daß er sich in sie hinein bildet, sie überwindet und darin sein objektives Dasein gewinnt.“ Und weiter: Der Vernunftzweck ist deswegen weder jene natürliche Sitteneinfalt, noch in der Entwickelung der Besonderheit die Genüsse als solche, die durch die Bildung erlangt werden, sondern daß die Natureinfalt, d. i. teils die passive Selbstlosigkeit, teils die Rohheit des Wissens und Willens, d. i. die Unmittelbarkeit und Einzelnheit, in die der Geist versenkt ist, weggearbeitet werde und zunächst diese seine
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Georg Herbert Mead: Geist, Identität, Gesellschaft, Frankfurt/M. 1978, S. 86.
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Äußerlichkeit die Vernünftigkeit, der sie fähig ist, erhalte, nämlich die Form der Allgemeinheit, die Verständigkeit. 41
Halten wir fest: Die Subjekte der Gesellschaft sind zerrissene Subjekte. Sie sind Subjekte der Differenz. Sie bewegen sich unaufhörlich zwischen Entfremdetsein und Selbstsein, Bedürfnis und Bildung, zwischen Rolle und Reflexion. Subjekte der Differenz benötigen eine Ambiguitätstoleranz. Die Begriffe und die Praktiken zeigen zweitens aber auch, dass diese Zerrissenheit und Differenz moderner Lebensformen nichts ist, was den Subjekten nur gegenüber steht, was nicht nur auf sie einstürmt, sie paralysiert. Im Gegenteil, dass die Subjekte die Differenzen erleben, aushalten und womöglich erleiden, zeugt von einer praktischen Urteilskraft, die – auch unter erheblichen Widerständen – das Ethos mobilisieren kann, aus dem heraus die Subjekte immer schon leben oder zu leben versuchen (und was Hegel Staat oder Gemeinwesen nennt). 42 Hegel will uns davon überzeugen, dass moderne Subjekte in verschiedenen normativen Welten heimisch werden, dass sie diese Welten gegeneinander abschirmen und verbinden können; auch wenn das immer wieder mit Friktionen und Überforderungen einhergeht, Scheitern eingeschlossen. Und er wirbt auf diese Weise für ein Freiheitsprojekt, das die individuelle und die gemeinschaftliche, exzentrische und inklusive Dimension menschlichen Handelns einbezieht. Aber was genau bedeutet das für die Gesellschaft des positiven Rechts? Betrachtet man Hegels Deutung ökonomischer Austausch- und Sozialbeziehungen (also die Konstellation, die heute mehrheitlich als soziale Marktwirtschaft beschrieben wird), dann ist die bürgerliche Gesellschaft vor allem eine Gesellschaft gesicherter, und doch konfliktträchtiger Rechtsverhältnisse, pointiert: die Freiheit des positiven Rechts ist eine versprochene und uneinlösbare. Die begriffliche und ethische Verdichtung der Rechtsstrukturen folgt allerdings einer für gegenwärtige Gesellschaftsentwürfe gewöhnungsbedürftigen Logik. Hegel bindet an dieser Stelle verschiedene Fäden seiner Begriffsanalyse zusammen: Ins Zentrum rückt hierbei die Frage, wie die rechtliche Freiheit der Person als reale gedacht werden kann. Als reale rechtliche Freiheit kann sie für Hegel aber nur dann begriffen werden, wenn sie im normativen Gewebe der Rechte und Gesetze, im Sozial- und Pflichtenstatus ihre prinzipielle Anerkennung findet. Hegels Konzeption ist insofern postrevolutionär und emanzipatorisch, als sie sich (hier in Übereinstimmung mit Kant) gegen jede willkürliche Form von Vorrechten und Ausnahmen wendet.
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Hegel: Grundlinien § 187 Anmerkung, S. 162. Ebd., § 142.
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Privilegien als Rechte eines in eine Korporation gefaßten Zweigs der bürgerlichen Gesellschaft, und eigentliche Privilegien nach ihrer Etymologie“, so erläutert § 252 Grundlinien, „unterscheiden sich dadurch voneinander, daß die letztern Ausnahmen vom allgemeinen Gesetze nach Zufälligkeit sind, jene aber nur gesetzlich gemachte Bestimmungen, die in der Natur der Besonderheit eines wesentlichen Zweigs der Gesellschaft selbst liegen. 43
Die postrevolutionäre Gesellschaft etabliert mit den Rechten eine eigenständige Machtposition des Individuums. Diese Machtposition in Gestalt von Rechten ist weder eine natürliche und vorgegebene, noch ist sie statisch und unveränderlich (was jedoch in den Naturrechts- und Staatswissenschaften dieser Zeit immer wieder behauptet wird). Sie artikuliert vielmehr ein Vermögen der Freiheitserweiterung, das die Rechtsfähigkeit der Person und das Selbstverwirklichungsinteresse des moralischen Subjekts zu einem Kraftzentrum verschmilzt. Mehr noch: Dieses Vermögen der Freiheitserweiterung wird zum Inbegriff für ein bürgerliches Selbstbewusstsein, mit dem die großen Begriffe der Moderne, Gleichheit und Universalität, nicht nur formell bekräftigt, sondern auch umfassend vergesellschaftet werden. „Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht, weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist.“ 44 Dieser Kommentar zur Gleichheits- und Universalitätsdebatte erscheint uns heute so selbstverständlich, dass sich Diskussionen eigentlich erübrigen. Aber Selbstverständlichkeiten können trügerisch sein, wie jeder weiß. Hegel verteidigt damit in einer Zeit, in der die politische Restauration die emanzipatorischen Entwicklungen bekämpft, die unmissverständliche Aussage der Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen. Es ist also daran festzuhalten, dass Menschen als Gattungswesen ohne jede Evaluierung hinsichtlich ihrer Leistungen Anerkennung und Schutz ihrer Interessen beanspruchen können. Womit aber auch klargestellt ist, dass es in egalitären Gesellschaften für die Zulassung zur freien Kooperation unter Gesellschaftssubjekten keine Diskriminierung oder Vorsortierung nach Herkunft, Nation, Religion etc. geben darf. Dennoch folgt Hegel der Spur liberaler Rechte- und Freiheitsbegründung nur bedingt. Vielleicht können wir sagen, er liest sie gegen den Strich und zeigt damit auch die Grenzen frühmodernen Rechts- und Staatsdenkens auf, wie es durch die einschlägigen Wissenschaften dieser Epoche mobilisiert wurde. 45 Zwar besteht Hegel darauf, dass eine Gesellschaft des Rechts ohne die PrinziEbd., § 252 Anmerkung, S. 197. Ebd., § 209 Anmerkung. 45 Für die zeitgenössische liberale Debatte etwa Carl von Rotteck: Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften, Bd. 1, 2. Aufl., Stuttgart 1840, Allgemeine Einleitung. 43 44
Negativität und Affirmation
pien der Person, des Eigentums und des Gesetzes nicht angemessen begriffen werden kann. Aber der von den Rechts- und Staatswissenschaften, wie auch von den Naturrechtslehren vertretenen Auffassung, dass diese Prinzipien nur aufgenommen, theoretisch durchdrungen und dann – nach Art wissenschaftlicher Selbstevidenz – in eine positive Gesetzesform gebracht werden müssten, widerspricht er vehement. Hegel greift seinerseits auf eine Einsicht zurück, die uns schon verschiedentlich begegnet ist: Recht und Rechte, objektive und subjektive Dimensionen der Freiheit stehen immer schon in einer dialektischen Abhängigkeitsbeziehung; die eine ist die Voraussetzung der anderen und umgekehrt. Sollen Gesellschaften reale rechtliche Freiheit hervorbringen, dann kann das nur gelingen, wenn die Verabsolutierung verschiedener Freiheitsansprüche, ob individuelle oder kollektive, negative oder positive, relativiert und gleichzeitig das Politische und Unpolitische der gesellschaftlicher Lebensverhältnisse zu Bewusstsein gebracht wird. D. h. Recht als Status, Anspruch, Gesetz oder Ordnung haben wir erst, wenn wir es gestalten und zu einem Teil sozialer und performativer Aushandlungsprozesse machen. Die Freiheit als Idealität des Unmittelbaren und Natürlichen ist nicht als ein Unmittelbares und Natürliches, sondern muß vielmehr erworben und erst gewonnen werden, und zwar durch eine unendliche Vermittlung des Wissens und des Wollens. 46
Im Kern geht also um die Dekonstruktion einer Freiheitsideologie und einer weitgehend unreflektierten Rechtsmetaphysik. Und doch geht es um mehr. Denn Hegel insistiert mit seiner Bestimmung von Freiheit als erworbene und gewonnene darauf, dass jeder Typus von Rechten, Menschenrechte, Bürgerrechte oder eben Grundrechte, wie wir heute sagen würden, von der veränderlichen Verfassungsarchitektur eines freien Gemeinwesens her gedacht werden muss; gerade auch dann, wenn sie als liberale ihre Bedeutung behalten sollen. Die Gesellschaft des Rechts haben wir daher in ihrem doppelten Rechtsbezug ernst zu nehmen: Recht erlangt nur durch die Gesellschaft und das Handeln der Gesellschaftssubjekte Realität. Aber diese Realität hat nur dann soziale Wirksamkeit, wenn dem Recht selbst eine ethische und politische Kraft innewohnt. Das Recht ist daher auch ein Netzwerk aus anerkannten Wissens- und Praxiskulturen, die der Gesellschaft erst einen über das subjektive Interesse (die subjektiven Rechte) hinausgehenden normativen Kompass vermittelt. Insofern beruht die Stabilität jedes freien Gemeinwesens und jeder noch so fragilen Gesellschaft zumal
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Hegel: Vorlesung über die Philosophie der Weltgeschichte, Bd. 1, Hamburg 1994, S. 117.
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auf dem Gehalt der geltenden Rechtsprinzipien, die in der Staatsgewalt ihre Wirklichkeit und Garantie haben. Diese Prinzipien sind die in den früheren Sphären entwickelten der Freiheit, des Eigentums und ohnehin der persönlichen Freiheit, der bürgerlichen Gesellschaft, ihrer Industrie und der Gemeinden und der regulierten, von den Gesetzen abhängigen Wirksamkeit der besonderen Behörden. 47
2. Sittlichkeit vs. Demokratie?
Hegels Begründung des Rechts ist immer wieder auf Kritik gestoßen. Für die einen markiert diese Theorie Tendenzen der Überinstitutionalisierung oder Verrechtlichung und damit den ganzen Juridismus Hegels. 48 Anderen wiederum ist Hegels Rechtskonzept zu wenig ausdifferenziert und vom Standpunkt einer demokratischen Rechts- und Verfassungstheorie zu metaphysisch. 49 Aber dass Hegel wenigstens in Umrissen die Struktur und auch den Strukturwandel freier Gesellschaften erfasst hat, lässt sich noch an der Rechts- und Gesellschaftstheorie ersehen, die Jürgen Habermas in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts skizziert. 50 In Habermas’ Diagnose steht dem Bedeutungsverlust der beiden einflussreichsten liberalen Naturrechtstraditionen, der kontinentaleuropäischen und der angelsächsischen, der Aufstieg des Rechts- und Sozialstaates, der sozialstaatlichen Massendemokratie gegenüber. Dieser Bedeutungsverlust des Naturrechts ist für Habermas gerade dem neu konfigurierten Verhältnis von Rechte-Subjekt, Gesellschaft und Staat geschuldet. „In der sozialstaatlich verfaßten Industriegesellschaft geht die Fiktion des vorpolitischen Charakters subjektiver Freiheitsrechte nicht mehr auf, ist die prinzipielle Unterscheidung von Menschen- und Bürgerrechten, die ja schon in den französischen Deklarationen fehlte nicht länger haltbar.“ 51 Und Habermas weiter: Niemand kann mehr erwarten, daß die positive Erfüllung der negatorisch wirkenden Grundrechte ‚automatisch‘ eintritt. Weil die Ausgrenzung staatsfreier Bereiche vom Entgegenkommen der der Gesellschaft immanenten Naturgesetze nicht mehr mit einer auch bloß annährend chancengleichen Teilhabe an sozialen Entschädigungen, einer chancengleichen Teilhabe an den politischen EinrichtunHegel: Enzyklopädie, § 544 Anmerkung, S. 518. Dieter Henrich: G. W. F. Hegel, Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20, Frankfurt/M. 1983, S. 30 und Axel Honneth: Leiden an Unbestimmtheit, Stuttgart 2001, S. 105; Daniel Loick: Juridismus, Berlin 2017, Kap. I. 49 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997, S. 186 ff., 868 ff. 50 Jürgen Habermas: „Naturrecht und Revolution“, in: Christoph Menke/Francesca Raimondi (Hrsg.), Revolution der Menschenrechte, Berlin 2011, S. 108–149, hier bes. S. 141 ff. 51 Ebd., S. 144. 47 48
Negativität und Affirmation
gen honoriert wurde, sind nicht etwa nur soziale Grundrechte und Vorbehalte hinzugetreten – vielmehr können die Menschenrechte selbst gar nicht mehr anders denn als politische Rechte interpretiert werden […]. Was indirekt durch Ausgrenzung nicht mehr gewährleistet werden kann, bedarf nun positiv der Gewährung: die Teilhabe an den sozialen Leistungen und die Teilnahme an den Einrichtungen der politischen Öffentlichkeit. 52
Selbstverständlich rekonstruiert Habermas die Gesellschaft der Spätmoderne, in der sich der Strukturwandel des Rechts und der Rechte unverkennbar zur Geltung bringt; die eine Transformation des Liberalismus (in seiner ökonomischen und politischen Dimension) ebenso erlebt hat wie eine Gesellschaftsaffinität des Rechts. Aber Habermas’ Rekonstruktion verweist auch auf die Zwiespältigkeit und die Dialektik des modernen Freiheitsprojekts: Rechtegewährung soll einerseits der individuellen und bürgerlichen Lebensform Raum und Realität geben. Andererseits stellt sich die Lebensform des Einzelnen – und damit auch soziale und politische Teilhabe – nicht mehr durch die gesellschaftlichen Verhältnisse allein her. Es ist gerade das Signum demokratischer Legitimität, dass selbst die Privatautonomie nur als Derivat einer politischen Gesamtverfassung begriffen werden kann. 53 Habermas will uns davon überzeugen, dass das revolutionäre Moment des Naturrechts, die Etablierung eines politischen Selbstbewusstseins der Gesellschaftssubjekte, in der „sozialstaatlichen Transformation des Rechtsstaates“ eingelöst worden, d. h. die Positivierung des Naturrechts in der „demokratischen Integration von Grundrechten aufgegangen“ ist. 54 Hegel hätte gegen die Integration des Rechts in eine politische Gesamtverfassung kaum etwas einzuwenden. Ganz im Gegenteil, das genau war seine mit der Zeit- und Krisendiagnostik verknüpfte These. In seiner Lesart verweist die politische Gesamtverfassung aber auf die guten und im gemeinschaftlichen Handeln und Urteilen präsenten Formen des Zusammenlebens, das objektive und subjektive Ethos, wenn man so will. Indem Habermas die Sittlichkeitssemantik durch eine diskursethisch-demokratische ersetzt, verändert er aber nicht nur die logische Geographie des Rechts. Es entsteht auch ein neues Problem. Denn woher kommt nun das ethisch-politische Gestaltungswissen, das das demokratische Handeln der freien Subjekte anleiten kann? Mit der These von der Gleichursprünglichkeit privater und öffentlicher Autonomie und, damit verbunden, mit der Verschränkung von Diskursprinzip und Rechtscode hatte Habermas zwar versucht, die Freiheits- und Rechts52 53 54
Ebd., S. 144 f. Ebd., S. 146. Ebd., S. 146 f.
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garantie als wechselseitig begründete auszuweisen. Ging es doch darum, zugunsten prozeduraler Rationalität Abschied von den metaphysischen Voraussetzungen des Rechts und des Rechtsstaates zu nehmen. 55 Im Gegenzug hat die kommunikative Vernunft aber ihrerseits mit einer Leerstelle zu kämpfen, die Hegels Idee einer ethischen und gemeinsam geteilten Ordnung gerade verhindern wollte. So bleibt vor allem offen, inwiefern die Annahme einer Gleichursprünglichkeit von privater und öffentlicher Autonomie die Sinnressourcen zu etablieren vermag, die für das politische Selbstbewusstsein, die, wie wir heute sagen, freiheitsverbürgenden Werte und Prinzipien moderner Gemeinwesen von Nöten sind. Habermas’ Vertrauen in die Infrastrukturen der sozialstaatlichen Demokratie korrespondiert zwar mit der universalisierenden Diskurskultur von Moral und Recht. Nur verfehlt die Verflechtung von Diskurs und Demokratie die emanzipatorische Wirkung, die ihr Habermas zubilligen will. Weil die Diskurstheorie des Rechts – d. h. auch des positiv gesetzten – für die Legitimation eines freien Gemeinwesens auf konkurrierende Autonomiesphären zurückgreifen muss, stehen sich nunmehr zwei Legitimationsdiskurse separat gegenüber. Diese Diskurse können erst durch eine Deutung der Grundrechte wieder verbunden werden, die die Rechtssubjekte als Adressaten und als Autoren verbindlicher Normen ansieht. Freilich bleibt Habermas die Antwort darauf schuldig, wie die Grundrechte Teil der universalen Begründung normativer Ordnungen und gleichzeitig Teil individualistischer Freiheitsausübung sein können. 56 Indem Habermas mit der zutreffenden Diagnose, dass für eine spätmoderne Freiheitsbegründung nicht mehr auf Elemente einer traditionellen Sittlichkeit zurückgegriffen werden kann (und dass wir heute auch keine monarchischen Regierungsformen verteidigen können), das Begründungsformat generell ad acta legt, landet er in einer „transzendentalpragmatischen Aporie“ und bremst die Dialektik aus, mit der Hegel jedenfalls versucht hatte, die Logik realer Freiheit zu bekräftigen. 3. Schluss oder hic rhodus, hic saltus
Kommen wir zu unserem Ausgangspunkt zurück: Die Logik realer sittlicher Freiheit ist keine abstrakte Vorstellung der Philosophinnen und Philosophen, sie ist kein machtvoller Mechanismus, der sich gegen die Gesellschaftssubjekte durchsetzt. Vielmehr artikuliert sich reale Freiheit in den Formen und Normen anerkannten Wissens und den Praktiken gerechten Urteilens. Wir sprechen also von allgemeinen Verhaltensstandards, an denen wir uns als Ein55 56
Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung, Frankfurt/M. 1992, S. 138–144. Ebd., S. 151–162, 670 f.
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zelsubjekte immer schon orientieren, die wir in unterschiedlichster Weise reflektieren, diskutieren oder fortbilden. Wenn Hegel die Rechtsverfassung und die darin eingelassenen Rechte als ein institutionelles Netzwerk, als einen normativen Kompass der Gesellschaft versteht und gegen Autonomiemodelle unterschiedlichster Provenienz positioniert, dann will er auch eine höchst differenzierte Sicht auf das Recht verteidigen, die in der rechtsphilosophischen Debatte aus dem Blick zu geraten droht. Das heißt erstens, das Recht hat die konflikthaften Lebensverhältnisse der Gesellschaftssubjekte einzuhegen und somit die sittlich indifferenten Partikularinteressen zu koordinieren. Das Recht ist als Institution zweitens Teil des sittlichen Gemeinwesens. Es ist daher ohne den politischen Gestaltungsprozess nicht möglich, aus dem es hervorgeht, und ist dennoch nur wirksam, wenn es unabhängig von den Interessen der Macht agiert. Als objektive und Kohäsionskräfte erzeugende Institution kann es drittens nur wirksam sein, soweit es als allgemeines und universales gedacht wird. Das schließt Kritik jederzeit ein: In der Reflexion des Rechts werden das Subjektive, Kontingente und Partikulare in ihrer Berechtigung, aber auch in ihrer Relativität zu den objektiven Gestalten der Freiheit bestimmt. Weil das Recht Teil eines reflexiven Prozesses, der Selbstbewusstwerdung des Geistes ist, wie es Hegel formulieren würde, ist es tief in die veränderliche Kultur der Freiheit eingebettet oder verstrickt. So konfrontieren uns die Inhumanitätserfahrungen des 19. und des 20. Jahrhunderts mit einer Krisenhaftigkeit freier Gesellschaften nie dagewesenen Ausmaßes. Diese Tatsache widerspricht nicht oder nicht notwendig der Freiheitsanalytik Hegels. 57 Denn genauso, wie jede Epoche die Freiheitsprinzipien (politische Teilhabe, Universalität, Gleichheit) im Horizont regionaler und globaler Krisenerfahrungen neu denken muss, so ist die Philosophie „ihre Zeit in Gedanken erfaßt“. 58 Wenn wir für ein neues oder verändertes Freiheitsregime plädieren, sollten wir dafür aber auch allgemein zustimmungsfähige Gründe vorlegen (denken wir nur an den Kampf um die Gleichstellung der Frauen). Nur dann aktualisieren oder transformieren wir die Form und die Idee der Freiheit. Nun kann man diese Idee als Ideologie ansehen und bekämpfen. Aber auch dann gilt: Hic rhodus, hic saltus. 59 Zeige, dass du uns mit deinen Vorschlägen überzeugen kannst, also ein ernstzunehmendes und allgemeines Anliegen hast. Marx hat das – wie so vieles – radikalisiert (das betrifft auch das VerständKritischer Christoph Menke: „Dialektik der Befreiung“, in: Hegel-Studien 52 (2018), S. 9–30. 58 Hegel: Grundlinien, Vorrede, XXI. 59 Ebd., Vorrede, XXI. 57
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nis Hegels und das, was wir hier reale Freiheit nennen) und auf die proletarischen Revolutionen angewendet, die stets von neuem vor der Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke zurückschreckten, „bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta!“ 60 Diesem Ruf der Verhältnisse mag man sich ob des bestehenden Leidens gar nicht entziehen können. Soll aber nicht noch mehr Leid geschehen, kommt es nicht nur darauf an, die Welt zu verändern, sondern dieses Verändern auch als Befreiung zu denken.
Karl Marx: „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, in: Marx-Engels Werke (MEW), Bd. 8, Berlin 1972, S. 115–123, hier S. 118. 60
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Philosophie des Pöbels
1. Für alle oder keinen
Eines der fundamentalen Prinzipien von Pirmin Stekeler-Weithofers Philosophie ist jene Grundmaxime des Verstehens und Interpretierens, die er „das Prinzip der Charity“ nennt. Allen ist Gehör zu schenken als Partnern im Gespräch, jenem wesentlich gemeinsamen Bemühen um das Wahre und das Gute: „Kein Tun und keine Äußerung eines Gesprächspartners (etwa auch eines Autors) [darf ] a priori oder auch nur vorschnell, ohne ernste Prüfung der Berechtigung seiner Abweichungen von üblichen Urteilen und Kriterien, für irrational oder unvernünftig, falsch oder böse erklärt werden.“ 1 Dies, so Stekeler-Weithofer, gehört zu den „ethischen Grundlagen der Vernunft.“ 2 Und es zeichnet seine philosophische Praxis aus, dass ihr dieses Prinzip in der Tat als eine Maxime zu Grunde liegt. Dies ist zweifellos eine Tugend, nicht nur im philosophischen Gespräch. Aber was genau ist das Verhältnis zwischen Ethik und Hermeneutik? Stekeler-Weithofers Formulierung des Prinzips scheint von allen Gegenständen und Formen des denkenden Bezugs zu abstrahieren. Es beansprucht Geltung im Theoretischen ebenso wie im Praktischen. Es liegt daher nahe zu fragen: Lässt sich dieses Prinzip zunächst in Abstraktion von allen Gegenständen der theoretischen und praktischen Vernunft als Möglichkeitsbedingung des Verstehens und Denkens überhaupt einführen, um es dann der Ethik zur spezifischen Anwendung übergeben? Oder hat das Prinzip nicht vielmehr seinen Ursprung in der Ethik: in einer moralischen Forderung der praktischen Vernunft, in dem immer schon ethischen Charakter unseres Verhältnisses zum Anderen? Vielleicht wird Stekeler-Weithofer diese Fragen als Ausdruck einer falschen Alternative zurückweisen wollen. Diese Zurückweisung würde sich jedoch der Tatsache stellen müssen, dass die Unterscheidung zwischen ethischen und anderen Themen, jedenfalls auf den ersten Blick, gerade zentral für die 1 2
Pirmin Stekeler-Weithofer: Philosophie des Selbstbewusstseins, Berlin 2005, S. 359 f. Ebd., S. 187.
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Geltung jenes Prinzips zu sein scheint. Nicht alle haben zu allem etwas zu sagen. Und wenn sie reden oder schreiben über das, wovon sie nichts verstehen, dann kommt es auf die Details ihrer Äußerungen nicht immer an. Nicht jede einzelne Verschwörungstheorie ist einer ernsthaften Prüfung zu unterziehen. Manchmal lässt man die Leute am besten einfach schreien. So zumindest scheint es Hegel zu sehen. In einer Bemerkung in den Grundlinien der Philosophie des Rechts ist zu lesen: Bei aller Öffentlichkeit der Erziehung kommt die Hauptopposition gewöhnlich von den Eltern her, und sie sind es, die über Lehrer und Anstalten schreien und reden, weil sich ihr Belieben gegen dieselben setzt. Trotzdem hat die Gesellschaft ein Recht, nach ihren geprüften Ansichten hierbei zu verfahren, die Eltern zu zwingen, ihre Kinder in die Schule zu schicken, ihnen die Pocken impfen zu lassen. 3
Wenn es um die Frage geht, was Pocken sind und was gegen sie hilft, dann zählt die geprüfte Ansicht der Experten und nicht das Geschrei der Leute. Nun könnte man denken, so verhielte es sich in allen Fragen. In dem Fall redeten am besten immer nur die Experten und man müsste auf das Geschrei der Leute gar nicht hören. Wäre dies Hegels Position, so hätte er jene Bemerkung nicht gemacht. Denn dann gäbe es kein Problem: keine Kollision zwischen dem Belieben der Eltern und dem Recht der Gesellschaft, die durch ein „trotzdem“ zu markieren wäre. Genau um diese Spannung aber geht es Hegel in jener Bemerkung: es geht um die Schwierigkeit, die „Grenze zwischen den Rechten der Eltern und der bürgerlichen Gesellschaft“ zu ziehen. Die Kollision, von der Hegel spricht, hat offenbar mit dem Umstand zu tun, dass nicht alle Gegenstände des Diskurses gleich zu behandeln sind. Im Geschrei der Eltern ist etwas angesprochen, das sich in seinem Status von der Frage unterscheidet, was gegen Pocken hilft. Aber worin genau besteht der Unterschied? Eine Dimension der fraglichen Differenz wird in der Nikomachischen Ethik beschrieben. 4 In Sachen der Gesundheit, so Aristoteles, reicht es, dem Rat der Ärzte zu folgen. Man muss nicht unbedingt selbst wissen, warum Rauchen schädlich ist oder wie genau eine Impfung funktioniert. Es mag einem gar an der Bildung oder dem Talent mangeln, die komplexen bio-chemischen Zusammenhänge zu überblicken, wenn man es versuchte. Für das gesunde Leben ist das nicht notwendig ein Problem. Gegeben die Kompetenz und Tugend der relevanten Experten, kann die Orientierung an ihrem Ratschlag völlig ausreichen, um gesund zu leben. Anders in Fragen des guten Lebens: hier kann man G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke in 20 Bänden, Frankfurt 1986, § 239 Zusatz. 4 Siehe Aristoteles: Nikomachische Ethik, Hamburg 1985, 1143b30–34. 3
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sich nicht auf die Autorität anderer berufen, selbst gegeben ihre Kompetenz und Tugend. Um ein gutes Leben zu führen, muss man selbst denken und, in der einen oder anderen Weise, selbst verstehen, warum jenes zu tun oder dieses zu unterlassen ist. Das gute Leben ist demnach nicht einfach ein Thema wie jedes andere. Dieser Gegenstand des Denkens unterscheidet sich vor anderen vor allem durch die Weise, wie er für das denkende Individuum ist, insofern er überhaupt für es ist. Während der Bezug auf die Gesundheit durch die Autorität eines anderen vermittelt sein kann, ist der Bezug auf das Gute ausschließlich selbstdenkend möglich. Das Gute, so könnte man das ausdrücken, ist in dieser Hinsicht eine Sache der Selbstbestimmung, der Autonomie, der Freiheit. Bei Aristoteles gilt diese Formel jedoch nur in qualifizierter Form. Die „praktische Weisheit“ – das selbstbestimmte Wissen vom Guten – ist hier das Privileg der Eliten. Das Gute selbst zu denken ist nicht für alle. Nicht nur, dass nicht jedes denkende Individuum es tatsächlich erkennt; selbst die Aufgabe, praktische Weisheit zu entwickeln, ist nur für einige. Aristoteles’ Konzeption einer wohlgeordneten menschlichen Gemeinschaft enthält bekanntlich die Idee von Subjekten, die ihrer Natur nach nur vermittels Unterwerfung unter einen Herrn am guten Leben des Ganzen teilhaben. Den sogenannten „natürlichen Sklaven“ fehlt es angeblich an dem Vermögen, jemals das Gute selbst zu denken. 5 Daher vollzieht sich das Leben, das ihrer Natur entspricht, als eines der Bestimmung durch die Autorität eines anderen. Dieser Teil der aristotelischen Ethik gilt auch unter Neo-Aristotelikern gemeinhin als problematisch. Es ist jedoch zu bemerken, dass das Problem nicht allein den Inhalt bestimmter ethischer Normen betrifft, sondern auch ihre Form: den Begriff der ethischen Norm selbst. Denn in der eben beschriebenen Hinsicht bleibt das Gute auch bei Aristoteles letztlich nur ein Thema wie jedes andere: genau wie bei anderen Gegenständen des Denkens, ist es auch bei diesem Gegenstand nicht wesentlich, dass er für alle ist, die auf die eine oder andere Weise mit ihm zu tun haben. Aus diesem Grund sagt Hegel, dass Aristoteles die „Idee der Freiheit“ nicht kennt. 6 Er kennt nur die Autonomie der Eliten und die Selbstständigkeit bestimmter Tätigkeiten: die Freiheit der Bürger und den autarken Charakter praktischer und philosophischer Erkenntnis. Freiheit ist nicht ein grundlegendes Merkmal von Menschen als solchen. Genau darin verbleibt der aristotelische Begriff der Freiheit, so Hegel, im Bereich des Natürlichen: alles hängt Siehe Aristoteles: Politik, Hamburg 2012, 1260a12. Siehe G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften III, Werke in 20 Bänden, Frankfurt 1986, § 482. 5 6
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davon ab, ob man mit den relevanten Talenten geboren ist. Richtig verstanden besagt die „Idee der Freiheit“, dass es die Bestimmung jedes Einzelnen ist, in Freiheit zu leben. 7 Der korrespondierende Begriff der Wirklichkeit des Guten unterscheidet sich so radikal von anderen Themen. Es ist nicht nur so, dass der Bezug auf diesen Gegenstand nur selbstdenkend möglich ist; es gehört auch zum Wesen dieses Gegenstands, dass er nur für einen sein kann, wenn er für alle ist. Die Erkenntnis dieses Gegenstands ist so zugleich die Anerkennung der Anderen. Dort, wo der Gegenstand des Denkens so bestimmt ist, kann man das Geschrei der anderen nicht einfach ignorieren: es ist unvermeidlich ein Problem für den eigenen Bezug auf diesen Gegenstand. Dieser Gedanke liegt der Schwierigkeit zu Grunde, um die es in der oben zitierten Passage geht. Hegels Diskussion dieser Schwierigkeit mündet im weiteren Verlauf dieses Textes in die Untersuchung jenes Widerspruchs in der Sittlichkeit, den er als das Problem des „Pöbels“ diskutiert. Unsere zentralen Fragen werden folgende sein: In welchem Sinn ist hier von einem Widerspruch zu sprechen? Und was hat die Philosophie dazu zu sagen? Wir werden argumentieren, dass Stekeler-Weithofers Herleitung des Prinzips der Charity es unmöglich macht, das sogenannte Problem des „Pöbels“ als das grundlegende philosophische Problem zu begreifen, als das Hegel es in den Grundlinien der Philosophie des Rechts entwickelt.
2. Verstand und Vernunft bei Stekeler-Weithofer
Selbstverständlich teilt Stekeler-Weithofer Hegels Kritik an Aristoteles’ Begriff des „natürlichen Sklaven“: auch er unterschreibt die „Norm der ethischen Universalität“. 8 Es wird sich allerdings zeigen, dass Stekeler-Weithofers Auffassung vom sittlich Guten in einem entscheidenden Punkt von Hegels Auffassung abweicht und darin eher einer Position ähnelt, die Hegel beispielsweise Kant zuschreibt und vehement kritisiert. In diesem Abschnitt wollen wir zunächst das stekeler-weithofersche Verständnis des Prinzips der Charity und der Norm der ethischen Universalität umreißen, um dann im nächsten Abschnitt die Unterschiede zu Hegel herauszuarbeiten. „Die antiken Völker, die Griechen und Römer, [hatten] sich noch nicht zum Begriff der absoluten Freiheit erhoben, da sie nicht erkannten, dass der Mensch als solcher, als dieses allgemeine Ich, als vernünftiges Selbstbewusstsein, zur Freiheit berechtigt ist. Bei ihnen wurde einer vielmehr nur dann für frei gehalten, wenn er als ein Freier geboren war. Die Freiheit hatte also bei ihnen noch die Bestimmung der Natürlichkeit.“ (G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften III, Werke in 20 Bänden, Frankfurt 1986, § 433 Zusatz.) 8 Stekeler-Weithofer: Selbstbewusstsein, S. 361. 7
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Stekeler-Weithofers Antwort auf die Frage nach den Quellen der Normativität ist grundsätzlich konstruktivistisch. Das gilt für Rechtsnormen 9, es gilt für ethische Prinzipien 10, ja es gilt für alles, woran wir als vernünftige Wesen uns im Urteilen und Handeln orientieren, – es gilt, heißt das, für alles Wissen überhaupt: Jedes Wissen ist als revidierbar und zeitbezogen zu begreifen. […] Wissen ist als allgemeines Wissen […] immer schon in einem fortlaufenden Prozess von hoffentlich vernünftigen generischen Problemlösungen eingebettet. 11
Nun gibt es allerdings ein fundamentales ethisches Prinzip, dem auch Stekeler-Weithofer eine Sonderstellung einräumt und bei dem er zögert, es schlichtweg als revidierbare, zeitbezogene Setzung zu begreifen: eben jene „vieldiskutierte Norm der ethischen Universalität“, die nach Stekeler-Weithofer besagt, dass [erstens] grundsätzlich alle biologischen Menschen insofern Personen sind, als sie in personale, und das heißt a fortiori, sittliche und rechtliche Verhältnisse zueinander treten können, dass diese Möglichkeiten zweitens in unserer Welt längst schon in einem je näher bestimmbaren Ausmaß realisiert sind, und dass es drittens einen breiten Basiskonsens darüber gibt, dass in einer humanen Welt kein möglicher Teilnehmer an personalen Verhältnissen, also kein vernünftiges Wesen, willkürlich ausgeschlossen werden soll.12
Das Universalitätsprinzip ist ein Prinzip ethischer Normativität. Anders als bei Spielregeln, Regeln der Etikette oder der Mode, sind ethische Normen insofern Vernunftprinzipien als es möglich sein muss, sie als vernünftig anzuerkennen. Zugleich können wir uns spezifisch ethische Normen unmöglich dadurch als vernünftig einsichtig machen, dass wir sie als Ratschläge zur klugen Optimierung unserer jeweiligen Privatinteressen verstehen. Ethische Normen schränken die Verwirklichung solcher Interessen gerade ein, und ihre Befolgung kann insofern als unklug erscheinen. 13 Ethische Normen als vernünftig anzuerkennen, heißt vielmehr, sich ihnen als Prinzipien der Orientierung an dem Guten – als Prinzipien einer „allgemein als gut anerkennbaren Ordnung
Pirmin Stekeler-Weithofer: Denken. Wege und Abwege in der Philosophie des Geistes, Tübingen 2012, S. 38. 10 Stekeler-Weithofer: Selbstbewusstsein, S. 361 f. 11 Stekeler-Weithofer: Denken, S. 46. 12 Stekeler-Weithofer, Selbstbewusstsein, S. 361 13 Siehe Pirmin Stekeler-Weithofer: Kritik der reinen Theorie, Tübingen 2018, S. 406 sowie Ders.: Philosophiegeschichte, Berlin 2006, S. 214. 9
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des Handelns“ 14 – zu unterwerfen und diese Unterwerfung sowie das entsprechende Handeln darin als gut sans phrase zu begreifen. Die Norm ethischer Universalität besagt nun, dass die Allgemeinheit jeder „allgemein als gut anerkennbaren Ordnung des Handelns“ als die unbeschränkte Allgemeinheit der Menschheit zu fassen ist. Zwar besteht StekelerWeithofer einerseits auch mit Blick auf diese „(Meta-)Norm der Universalität moralisch-sittlicher Beurteilungen“ darauf, dass sie kein „moralisches Naturgesetz“ ist und „keine absolut zivilisations- und zeitinvariante Geltung beanspruchen“ 15 kann. Andererseits aber scheint er den eigenen Konstruktivismus gerade zu unterlaufen, wenn er erklärt: Und doch ist die Gültigkeit des Universalitätsprinzips nicht etwa dadurch in Zweifel zu ziehen, dass man, wie mancher Anhänger eines ethischen Kommunitarismus, auf die europäische Genese besonders ihrer von theologischen Dogmatismen befreiten Fassungen hinweist. 16
Die faktische Anerkennung und weitestgehende Geltung auch des Universalitätsprinzips ist nach Stekeler-Weithofer eine historische, mithin zeitlich und räumlich bestimmte, Errungenschaft; aber seine normative Gültigkeit ist gerade nicht auf eine bestimmte Zeit oder Kultur beschränkt. Dass ethische Normen grundsätzlich für alle Menschen zu gelten haben und grundsätzlich von allen Menschen anzuerkennen sind, ist sogar mit Blick auf soziale Kontexte festzuhalten, in denen das Universalitätsprinzip gerade noch keine faktische Geltung besaß. Andernfalls ließen sich kulturelle Transformationen hin zu größerer Verwirklichung ethischer Universalität, wie etwa die Abschaffung von Menschenopfern oder eben die Einsicht in die Unhaltbarkeit der aristotelischen Behauptung der Gerechtigkeit des Eigentums an „natürlichen Sklaven“, nicht als der ethische Fortschritt begreifen, der sie sind. 17 Stekeler-Weithofer, Selbstbewusstsein, S. 361 [Hervorhebung: WG und MH] Ebd. 16 Ebd. 17 In diesem Sinne referiert Stekeler-Weithofer die einschlägigen Passagen aus Axel Hutters Narrative Ontologie (Tübingen 2017) zu Thomas Manns Joseph-Roman mit uneingeschränkter Zustimmung: „Abraham, Isaak, Jakob und Joseph werden dabei als Protagonisten einer Gott-, Sinn- und Wahrheitssuche dargestellt, die sich zwar im Prinzip fromm an ein tradiertes Narrativ des kanonisch Richtigen und Guten halten, dabei aber selbstbewusst Neuland betreten, wo klar wird, dass ein Festhalten am Buchstaben falsch, z. B. die überkommene Praxis des Menschenopfers keine gute Anerkennung des höheren Autorität des zukunftsoffenen Ganzen über das bloß subjektive Wünschen ist, dass andererseits rein pragmatische Arrangements mit vermeintlich natürlichen, auch politischen und ökonomischen, Notwendigkeiten ebenfalls abzulehnen sind.“ (Stekeler-Weithofer, Kritik der reinen Theorie, S. 406) 14 15
Philosophie des Pöbels
Diese Sonderstellung des Universalitätsprinzips in Stekeler-Weithofers Denken wirft zwei Fragen auf: Wie ist sie mit dem Konstruktivismus vereinbar? Und warum besteht Stekeler-Weithofer überhaupt auf ihr? Wäre er als Konstruktivist nicht gerade vielmehr zur kommunitaristischen Leugnung der Sonderstellung des Universalitätsprinzips verpflichtet? Wir beginnen mit der zweiten Frage; aus ihrer Beantwortung ergibt sich die Antwort auf die erste Frage dann von selbst. Die Norm der ethischen Universalität, so unsere Interpretation, ist ein moralisches Prinzip, das in der Form des Konstruktivismus bezüglicher ethischer Normen selbst liegt. Der ethische Konstruktivismus besagt, dass es keine materialen ethischen Normen geben kann, die nicht von uns Menschen selbst gesetzt worden sind. Weil ethische Normen aber Prinzipien der Orientierung an dem Guten sind, muss die Unterwerfung unter sie als schlechthin gut anerkannt werden können. Für den Konstruktivismus bezüglich ethischer Normen heißt das, dass die Tätigkeit des Setzens von materialen Normen als solche schlechthin gut sein muss. Was bedeutet das? Das Setzen materialer Normen, so Stekeler-Weithofer, findet nicht in normativer Leere statt, sondern ist wesentlich Weiterentwicklung vorgefundener normativer Setzungen: Jedes einzelne Verstehen und Begreifen und dann auch jede einzelne freie Handlung ist vermittelt und bedingt durch ein gemeinsames Wissen und Können, durch Bildung und Ausbildung. 18
Der Verweis auf die Abhängigkeit der Setzung einer neuen materialen ethischen Norm von den normativen Setzungen, deren Weiterentwicklung sie darstellt, kann jedoch nicht zugleich auch das sein, was erklärt, warum es sich bei einer neuen normativen Setzung um eine schlechthin gute Weiterentwicklung der bisherigen Setzungen handelt. An den bereits gesetzten Normen bloß als solchen kann sich ja nicht bemessen, ob es sich bei einer neuen normativen Setzung um eine gute oder schlechte Weiterentwicklung der alten handelt; andernfalls wäre die neue Setzung gerade nicht als neu, nicht als Weiterentwicklung des bereits Gesetzten, verstehbar. Der Maßstab, in dessen Licht sich die neue ethische Setzung als schlechthin gute Weiterentwicklung verstehen lässt, kann daher nur ein Maßstab sein, der in den bislang gesetzten Normen bloß als solchen noch nicht vollständig ausgedrückt ist. Nun ist dieser in den bisherigen ethischen Setzungen bloß als solchen noch nicht vollständig ausgedrückte Maßstab nur dann der Maßstab für das Gute, der er sein muss, wenn er selbst eine ethische Norm – und ihre Anerkennung damit als schlechthin gut – verstehbar ist. Zugleich besagt der Konstruktivis18
Stekeler-Weithofer, Selbstbewusstsein, S. 97.
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mus, dass es keine materialen Normen geben kann, die nicht von Menschen gesetzt worden sind. Unter Voraussetzung des Konstruktivismus kann der fragliche, in den bislang gesetzten ethischen Normen noch nicht vollständig ausgedrückte Maßstab daher selbst keine materiale ethische Norm sein. Die einzige nichtmateriale und insofern formale ethische Norm aber, die aus der Form des ethischen Konstruktivismus selbst heraus verständlich ist, ist eine Norm, die das Konstruieren materialer Normen an sich als schlechthin gut vorstellt. Der Konstruktivist, heißt das, muss den Maßstab, in dessen Licht neue ethische Setzungen als gute Weiterentwicklungen bereits gesetzter Normen verstehbar sind, als eine nichtmateriale, formale Norm verstehen, mit der diejenigen Weiterentwicklungen unserer normativen Setzungen als ethischer Fortschritt und insofern als schlechthin gut begriffen werden, die die Möglichkeiten und Vermögen ethischer Setzung, unsere Autonomie also, erweitern. – Und es ist offensichtlich, dass jede nicht selbst ethisch begründbare Beschränkung des Kreises der Menschen, die sich an der Setzung, also der Weiterentwicklung, materialer ethischer Normen beteiligen dürfen, genau eine solche Beschränkung der Möglichkeiten und Vermögen ethischer Normsetzung, eine Beschränkung der Autonomie also, und damit ethischen Rückschritt, bedeuten würde. So folgt die Norm ethischer Universalität aus dem ethischen Konstruktivismus selbst. Das Universalitätsprinzip ist demnach eine bestimmte Gestalt der formalen Norm der Autonomie: eine Norm, die in der Form des ethischen Konstruktivismus selbst liegt. Stekeler-Weithofer bringt diesen Charakter des Universalitätsprinzips dadurch zum Ausdruck, dass er sie „die (Meta-)Norm der Universalität moralisch-sittlicher Beurteilungen“ 19 nennt. Das Prinzip gilt als Norm, weil ein Rückfall hinter dasselbe, eine „Re-Barbarisierung menschlicher Lebensverhältnisse“ 20, immer möglich bleibt. Als Gestalt des formalen Prinzips der Autonomie aber ist das Universalitätsprinzip Meta-Norm für alle möglichen Setzungen materialer ethischer Normen und Bewertungen. Und eben dies erklärt die Sonderstellung dieses Prinzips im ethischen Konstruktivismus: seine normative Gültigkeit auch für soziale Kontexte, in denen es noch keine faktische Geltung besaß. Die kommunitaristische Leugnung dieser Sonderstellung ist somit, entgegen dem ersten Anschein, mit der Form des ethischen Konstruktivismus gerade inkompatibel. Aus dieser Antwort auf unsere zweite Frage ergibt sich folgende konstruktivistische Antwort auf unsere erste Frage – auf die Frage nach dem „Wie“ der Kompatibilität der Sonderstellung des Universalitätsprinzips mit dem Kon19 20
Ebd. S. 361. Stekeler-Weithofer: Denken, S. 39.
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struktivismus. Das Universalitätsprinzip ist nicht selbst eine materiale ethische Norm, sondern eine Gestalt der für den Konstruktivismus konstitutiven formalen Norm der Autonomie. Das erklärt den besonderen Charakter der normativen Gültigkeit dieses Prinzips. Aber dieser besondere Charakter seiner normativen Gültigkeit schließt nicht aus, dass es sich bei dem allgemeinen Bewusstsein oder Wissen – beziehungsweise bei dem allgemeinen deutlichen Bewusstsein oder Wissen – von diesem Prinzip sowie bei seiner allgemeinen faktischen Geltung um historische, zeitlich und räumlich bestimmte, Errungenschaften handelt. Stekeler-Weithofers terminologische Unterscheidung zwischen „metastufig geprüfter Gültigkeit“ und „objektstufiger Geltung“ 21 zielt genau auf diesen Punkt ab. Der historische Prozess der Konstruktion von Normen, der Setzung allgemeinen Wissens, so Stekeler-Weithofer, ist ein Prozess der Weiterentwicklung bereits gesetzter Normen. Das, was solche Weiterentwicklung je nötig macht, ist das Ungenügen eines jeweiligen Standes normativer Setzungen. Dieses Ungenügen zeigt sich, wenn Kollisionen bereits gesetzter Normen als Widersprüche aufstoßen. 22 Im Anschluss an Kant und Hegel nennt StekelerWeithofer die verinnerlichten Urteilskriterien der tradierten Ordnung Verstand und das Vermögen zu ihrer kritischen Überschreitung Vernunft: Rational oder (bloß) verständig heißt ein Handeln oder ein Reden, wenn es gewisse unterstellte Regeln einzuhalten imstande ist. […] Begriffen und damit autonom ergriffen werden die je so verfassten Orientierungen aber erst, wenn wir sie selbst als vernünftig einsehen können; und das heißt, wenn wir uns urteilend auch partiell außerhalb einer fixfertig vorgegebenen, tradierten Ordnung frei bewegen können. In diesem Sinne ist Vernunft freier Geist, der wesentlich in der Möglichkeit des Widerspruchs gegen bloße Rationalitäten besteht, gegen bloße Gebräuche oder bloß gesetzte Regeln. Allein die Möglichkeit dieser Negation des üblichen Verstehens und Verhaltens ermöglicht […] Entwicklung […]. 23
Mit Blick auf spezifisch ethische Normen deutet Stekeler-Weithofer Hegels Unterscheidung zwischen Sittlichkeit und Moralität als Gestalt der Differenz von Verstand und Vernunft, nämlich als terminologische Unterscheidung „zwischen einem Urteilen und einem zugehörigen Handeln, das sich am je Stekeler-Weithofer: Selbstbewusstsein, S. 358. „Wahrheits- bzw. Erfüllungsbedingungen und damit a fortiori die Kontrolle der Erfülltheit der Bedingungen, etwa auch in Befolgung gewisser schematischer Regeln, sind immer zu beziehen auf den jeweiligen Stand der Entwicklung der Kriterien. Widersprüche bilden dabei die einzig wirklich verfügbare Richtschnur für den Begriff der Wahrheit, nämlich als negative Ausgrenzung: Sie zeigen, dass irgendetwas nicht stimmt.“ (Stekeler-Weithofer: Selbstbewusstsein, S. 178) 23 Stekeler-Weithofer: Selbstbewusstsein, S. 356 f. 21 22
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vorgegebenen Ethos, dem realen Rahmen einer schon etablierten allgemeinen ethischen Kultur mit ihren allgemeinen Gesetzen, Institutionen, Praxisformen und durchaus auch Konventionen orientiert, und der selbstbewussten moralischen Beurteilung dieses Rahmens durch den je Einzelnen“. 24 Immer aber sind Verstand und Vernunft, Sittlichkeit und Moralität, aufeinander bezogen. Vernunft, die sich gänzlich von den tradierten, geltenden Urteilskriterien löst, führt in die „Orientierungslosigkeit des Skeptizismus“ 25 oder „in die Gefahr der moralischen Selbstüberhöhung des urteilenden Einzelsubjekts, im Extremfall zu – Robespierre“ 26. Moralisches Urteilen „existiert gar nicht, wenn keine sittliche Kultur vorausgesetzt und als Gegenstand kritischer Beurteilung ihr entgegengesetzt wäre“ 27. Denn: In der Unterscheidung zwischen Sitte und Moral, […] objektstufiger Geltung und metastufig geprüfter Gültigkeit, ist […] nur eine relative Differenz artikuliert. Sie ist aber wichtig, nicht zuletzt deswegen, weil ohne tradierte Orientierungen […] ein gemeinsames Urteilen und Handeln faktisch unmöglich wäre. Das wäre etwa so, wie wenn wir in theoretischer Hinsicht immer alles tradierte Wissen (qua Überzeugungssystem) selbst entdecken und überprüfen wollten. 28
Zusammen ergeben Verstand und Vernunft, tradierte Orientierungen und kritische Überschreitung, Sittlichkeit und Moralität, die Idee einer „freien Weiterentwicklung der Tradition“als eines „konkreten Guten“ 29, in dem die „scheinbar bloß konventionelle Tradition mit einer bloß scheinbar absoluten Autonomie [versöhnt]“ 30 sind. In jedem Fall aber verbietet es der Konstruktivismus, die beiden Seiten, die dieses konkrete Gute ausmachen, miteinander zu identifizieren. Dass Vernunft, das Vermögen der Prüfung „metastufiger Gültigkeit“, ohne Verstand, ohne die Verinnerlichung „objektstufiger Geltung“, nicht existieren kann, bedeutet für Stekeler-Weithofer gerade nicht, dass es einen Sinn gäbe, in dem diese Vermögen identisch sind. Ja für ihn kann es keinen solchen Sinn geben. Denn die Vernünftigkeit einer bestimmten normativen Weiterentwicklung kann sich, wie oben gezeigt, unmöglich an den bereits gesetzten normativen Orientierungen bemessen, die mit ihr überschritten werden. Aber auch die Tatsache, dass es in den alten Setzungen zu Kollisionen kam, und Weiterent24 25 26 27 28 29 30
Ebd. S. 337 Stekeler-Weithofer: Kritik der reinen Theorie, S. 2. Stekeler-Weithofer: Selbstbewusstsein, S. 352. Ebd. S. 337. Ebd. S. 358. Ebd. S. 343 Ebd. S. 97.
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wicklung nötig wurde, kann die Vernünftigkeit einer bestimmten normativen Weiterentwicklung nicht erklären. Vernunft, besagt der stekeler-weithofersche Konstruktivismus so, findet zwar ohne Verstand unmöglich Anwendung – und kann daher ohne diesen nicht existieren –, aber ist ihrem Begriff – ihrem Wesen – nach vom Verstand einfach verschieden. In diesem Sinne impliziert der Konstruktivismus Stekeler-Weithofers eine Zwei-Stämme-Lehre – eine Art von Hylemorphismus – des Ethischen. Stekeler-Weithofers nähere Charakterisierung des Prozesses der Konstruktion von Normen erhellt nun auch den inneren Zusammenhang des im Konstruktivismus gründenden Universalitätsprinzips mit dem Prinzip der Charity. Das Universalitätsprinzip ist Ausdruck der formalen Norm der Autonomie. Diese, das ist nun klar geworden, ist nichts anderes als die in der Form des Konstruktivismus selbst liegende Prinzip der Vernunft. Und es ist klar, dass Fortschritt im Lichte dieser formalen Norm nur möglich bleibt, wenn wir ganz fundamental offen bleiben: offen dafür, dass uns Kollisionen in bereits gesetzten ethischen Normen als Widersprüche aufstoßen, und offen für Vorschläge zu ihrer Behebung. Und eben diese Offenheit, die so fundamental ist wie das Prinzip der Autonomie formal, ist genau das, was das Prinzip der Charity von uns verlangt – jene „Grundmaxime jedes Verstehens und Interpretierens“ 31, „nach dem kein Tun und keine Äußerung eines Gesprächspartners […] vorschnell, ohne ernste Prüfung […], für irrational oder unvernünftig, falsch oder böse erklärt werden darf.“ 32 Wie hier gezeigt wurde, versteht Stekeler-Weithofer die Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft, zwischen objektstufiger Geltung und metastufiger Gültigkeit, in erster Instanz als völlig allgemein: Sein Konstruktivismus gilt ursprünglich für alle Formen von Wissen, nicht allein für ethisches Wissen, sondern für pragmatisches, technisches und theoretisches Wissen gleichermaßen. Damit ist auch die im einleitenden Abschnitt dieses Textes aufgeworfene Frage beantwortet, ob sich das Prinzip der Charity für Stekeler-Weithofer zunächst in Abstraktion von allen Gegenständen der theoretischen und praktischen Vernunft als Möglichkeitsbedingung des Verstehens und Denkens überhaupt einführen und dann im zweiten Schritt der Ethik übergeben lässt: Ja, genauso ist es.
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Ebd. S. 187. Ebd. S. 359 f.
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3. Die Einheit der Sittlichkeit bei Hegel
Die Lehre von der Zweistämmigkeit ethischen Wissens, so werden wir im folgenden Abschnitt argumentieren, ist Hegel fremd. In dieser Hinsicht ist Stekeler-Weithofers Position näher an Kant – beziehungsweise näher an der Auffassung, die Hegel Kant zuschreibt und zurückweist. Stekeler-Weithofer selbst präsentiert seine Lehre von der Zweistämmigkeit ethischen Wissens als die Hegelsche Lösung für das „Paradox des Selbstbewusstseins“, das im Kantischen System entsteht. Er schreibt: Es ist eben ein Paradox und zugleich eine tiefe Wahrheit, dass sowohl im Bereich des theoretischen Wissens wie des praktischen Handelns das einseitige Streben nach absoluter Sicherheit und Gewissheit ein vernünftiges, selbstbewusstes und gutes Leben am sichersten verhindert. Andererseits brauchen wir immer auch eine gewisse Sicherheit und Gewissheit im eigenen Urteil und ihre Vermittlung durch Regeln des Verstandes, da es sonst überhaupt keine Stabilitäten und Gemeinsamkeiten gäbe. Die Antwort auf dieses Paradox ist (so lese ich Hegel) der optimistische Glaube an die (relative) Vernünftigkeit der gemeinsamen menschlichen Verhältnisse. 33
Die Formulierung der Hegel zugeschriebenen Lösung wirkt etwas überraschend, wenn man an jene berühmten Passagen aus der Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts denkt. Dass das Vernünftige wirklich und das Wirkliche vernünftig ist, soll ja gerade keine Glaubensfrage sein. Die Wirklichkeit des Guten zu wissen, definiert nach Hegel den Standpunkt dessen, was er dort „Sittlichkeit“ nennt. Genau dies soll den sittlichen Standpunkt von der moralischen Perspektive unterscheiden, in der das Gute nur als bloßes Ideal erscheint, dessen Verwirklichung allenfalls Gegenstand des Glaubens und Hoffens ist. Hegels Kritik an Kant ist bekanntlich, dass dessen gesamte praktische Philosophie nicht über den Standpunkt der Moralität hinauskommt und in der Konsequenz die Wirklichkeit des Guten nicht als Gegenstand des Wissens zu denken vermag. Vor diesem Hintergrund erscheint Stekeler-Weithofers Formulierung der Antwort auf das Paradox des Selbstbewusstseins wie eine Art Kompromiss: die Wirklichkeit des Guten, die „Vernünftigkeit der gemeinsamen menschlichen Verhältnisse“, ist Gegenstand des praktischen Denkens, jedoch nur als eine „(relative) Vernünftigkeit“, gefasst im Modus „optimistischen Glaubens.“ Man also könnte also fragen, ob aus der Perspektive Hegels die vorgeschlagene Lösung nicht letztlich eine Art moralisierende oder kantianisierende Ver-
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Stekeler-Weithofer: Selbstbewusstsein, S. 362 f.
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zerrung dessen darstellt, was Hegel in der Rechtsphilosophie „Sittlichkeit“ nennt. Wir möchten behaupten, dass es sich so verhält. Im Rahmen von Stekeler-Weithofers Theorie wird der Begriff des optimistischen Glaubens an die Vernünftigkeit der gemeinsamen menschlichen Verhältnisse als eine weitere Formbestimmung des Konstruktivismus eingeführt. Die Pflicht zur Charity, so die These, geht einher mit einer Pflicht zur Hoffnung: einem „vernunftkonstitutiven“ Optimismus. Genauso wie der Konstruktivismus die Formalität der Norm der Autonomie und die Fundamentalität der Offenheit der Charity verlangt, verlangt er eine praktische Orientierung auf zukünftige normative Weiterentwicklungen, die ihren Grund unmöglich in den tradierten normativen Setzungen haben können, die darin überwunden werden sollen, – eine Orientierung, die in diesem Sinne grundlos und daher mit Recht als Hoffnung zu charakterisieren ist. Stekeler-Weithofer selbst stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die Lehre von einer vernunftkonstitutiven Hoffnung den Grundgedanken der kantischen Postulatenlehre aufgreift: Es ist hier immer ein gewisses Maß an Vertrauen in die Bereitschaft der anderen a priori vorausgesetzt. Dieses Vertrauen ist selbst nichts anderes als der Glaube daran, dass die Vernunft zumindest partiell wirklich ist. Nur auf der Basis dieses Vertrauens ist Hoffnung nicht unberechtigt, dass die weitere Entwicklung wirklich vernünftig sein kann. Die Einsicht, dass eine solche Art des Optimismus vernunftkonstitutiv ist, hat der nur scheinbar nüchternere Kant in seinem Postulat einer ausgleichenden Gerechtigkeit Gottes noch metaphorisch (manche meinen: metaphysisch) zum Ausdruck gebracht. 34
Das Gleiche ist von dem Verweis auf den Fortschritt der Vernunft zu sagen. Auch dieser findet sich im Kantischen System: in der Form zur Pflicht zur unendlichen Arbeit am Selbst und dem damit verbundenen Postulat von der Unsterblichkeit der Seele. Nun ist es Stekeler-Weithofers These, dass sich die in der kantischen Postulatenlehre enthaltenen Einsichten im Anschluss an Hegel von dem „metaphorischen“ oder „metaphysischen“ Ballast des kantischen Systems befreien und so gewissermaßen vom Kopf religiöser Spekulation auf die Füße einer wirklich nüchternen Analyse der konstitutiv sozialen Verfasstheit des Denkens und Handelns stellen lässt. Denn nach Stekeler-Weithofers Rekonstruktion steht im Zentrum von Hegels Kantkritik die Zurückweisung der Illusion einer individualistischen Verzerrung des Autonomiebegriffs: „In Hegels Darstellung,“ schreibt StekelerWeithofer, „gesteht Kant dem Einzelnen zu viel an moralischer Beurteilungskompetenz zu“. 35 Richtig verstanden, so argumentiert Stekeler-Weithofer wei34 35
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ter, kann es moralisches Selbstbewusstsein nur vor dem Hintergrund einer gemeinsamen sozialen Praxis geben. Der vernunftkonstitutive Glaube an den Fortschritt der Vernunft ist daher kommunikationstheoretisch zu fassen. An die Stelle der Vorstellung von einer unendlichen Arbeit am Selbst tritt die Idee des unendlichen Prozesses der Perfektion des Gemeinwesens. Stekeler-Weithofers Lehre von der Zweistämmigkeit ethischer Erkenntnis präsentiert sich so als Behauptung von zwei Dimensionen des Sozialen: Einerseits bedarf es der konkreten Standards und Urteilskriterien der intersubjektiv geteilten Sitte. Andererseits kann sich die ethische Haltung nicht in dem bloßen Beherrschen überkommener Standards erschöpfen; sie weist notwendig über die tradierte Ordnung hinaus: und zwar in Form des Streits um ihre richtige Reform – oder, wie Stekeler-Weithofer ausdrückt, in Form der „Bemühung um eine Lösung in einer möglichst gemeinsam getragenen Neuordnung der Bewertungen von Handlungen“. 36 Man könnte sich darüber streiten, inwieweit die These von der konstitutiven sozialen Verfasstheit des Denkens und Handelns von Kants eigener Auffassung abweicht. 37 Dies soll jedoch hier nicht unser Thema sein. Entscheidend für unsere gegenwärtigen Zwecke ist die strukturelle Parallele: Was Stekeler-Weithofer mit Kant teilt, ist die These, dass sich die Wirklichkeit des Guten nur als unendlicher Progress der Verbesserung denken lässt; und in beiden Fällen geht dies einher mit einer Unterscheidung von zwei Quellen oder Stämmen des ethischen Wissens. Und es ist genau diese Struktur, die Hegel kritisiert. Man könnte denken, dass das Gegenteil der Fall ist. Hegels eigene praktische Philosophie kann leicht als Variante der Lehre von der Zweistämmigkeit erscheinen. Schließlich definiert er zu Beginn der Einleitung seiner Rechtsphilosophie den Begriff des „konkreten Willens“ in seiner „Einzelheit“ als die „Einheit“ zweier „Momente“: der „absoluten Allgemeinheit“oder „Unbestimmtheit des Ichs“ auf der einen Seite und die „Besonderung des Ichs“ auf der anderen Seite. 38 Das erste Moment beschreibt das unendliche Reflexionsvermögen des Ichs: das Vermögen des Willens, jede Bestimmung zu negieren – von jedem bestimmten Zweck zurückzutreten und zu fragen, ob er sie sich zu eigen machen möchte. Das zweite Moment beschreibt die Bestimmtheit des Willens: seine Beschränktheit im Verfolgen spezifischer Zwecke. Nach Hegel sind beiEbd. S. 359 f. Kants Ausführungen zum „ethischen gemeinen Wesen“ im Dritten Hauptstück der Religionsschrift (Immanual Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Hamburg 2017) könnten Zweifel an dieser These wecken. 38 Siehe G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, GW, Bd. 14, 1, Hamburg, 2009, §§ 5–7. 36 37
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de begriffliche Moment notwendig, um den freien Willen zu verstehen. Denn ein Wille, der sich keinen bestimmten Zweck setzt, ist bloßes Vermögen, bloße Möglichkeit und als solches kein wirklicher Willen. Und ein Wille, der von vorneherein durch einen gegebenen Zweck definiert wäre, könnte diesen Zweck nicht als den eigenen – und sich so nicht als frei – verstehen. Dies ist eine abstrakte Gestalt jener Schwierigkeit, die Stekeler-Weithofer in Begriffen von Verstand und Vernunft, tradierter Sitte und Moralität diskutiert. Nun ist es allerdings so, dass Hegel es ausdrücklich für unzureichend erklärt, den Willen als die Kombination zweier getrennter Elemente zu definieren. Genau dies, so Hegel, ist der Fehler von Kant und Fichte: nicht über die Unterscheidung der beiden genannten Momente hinauszukommen: „Die Unterscheidung und Bestimmung der zwei angegebenen Momente findet sich in der Fichteschen Philosophie, ebenso in der Kantischen.“ 39 Der entscheidende „Schritt [der] spekulativen Philosophie“ bestehe hingegen darin, begreiflich zu machen, dass und in welchem Sinn die beiden Momente trotz ihrer Unterschiedenheit identisch sind. Der konkrete freie Wille, so Hegel, verlangt die Identität der beiden Momente: „die in sich reflektierte und dadurch zur Allgemeinheit zurückgeführte Besonderheit – Einzelheit, die Selbstbestimmung des Ich.“ 40 Hegels illustriert die Form der konkreten Einheit des Willens mit der empfindungsmäßigen Gestalt der Freiheit, die wir im Gefühl der Liebe erfahren. Ich liebe dich, nicht jene; aber gerade in dieser Beschränkung, in dieser Besonderheit, bin ich unbeschränkt, allgemein; so, erst so, weiß ich mich als mich selbst und bleibe bei mir als der Einzelne, der ich bin. Genau in der Beschränkung auf dich bin ich unbeschränkt.41 In der Liebe und in der Freiheit überhaupt ist es nicht bloß so, dass die Unbeschränktheit ohne die Beschränkung, das Vernunftmäßige ohne das Verstandesmäßige, nicht existieren kann, dass das Bewusstsein „metastufiger Gültigkeit“ ohne Bezug auf „objektstufige Geltung“ ins Leere liefe. Die Idee der Freiheit zu begreifen, so Hegel, verlangt, die Verschiedenheit ihrer Momente als ihre Identität zu begreifen: Die Beschränktheit ist hier Unbeschränktheit; deshalb und nur deshalb, so und nur so, ist die Unbeschränktheit hier eben tatsächlich nicht Beschränkung, sondern wirkliche Unbeschränktheit. Genau dies wird jedoch durch Stekeler-Weithofers Zweitstämmigkeitslehre ausgeschlossen. Es gibt hier keinen Sinn, in dem jene beide Momente „identisch“ genannt werden können. Und ganz gleich in welcher spezifischen Ge39 40 41
Hegel, Grundlinien, § 6. Ebd., § 7. Siehe Hegel, Grundlinien, Frankfurt 1986, § 7 Zusatz.
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stalt die Lehre von der Zweistämmigkeit auftreten mag, das Problem ist letztlich immer das Gleiche: Insofern die beiden Momente in keinem Sinn identisch sind, stellt sich die Frage nach dem Grund ihrer Einheit. Solange es keine Antwort auf diese Frage gibt, kann die Wirklichkeit dieser Einheit – also der freie Wille, der gute Wille, die vernünftige Gemeinschaft – kein Gegenstand des Wissens, sondern nur einer des Glaubens und der Hoffnung sein. In den Grundlinien der Philosophie des Rechts diskutiert Hegel eine Reihe von Gestalten der Zweistämmigkeit und verwirft jede. Die gleiche Dialektik führt zu seiner Definition des Begriffs der modernen Sittlichkeit. Sittlichkeit wird definiert als Einheit zweier Gestalten von Verstand und (negativ-dialektischer) Vernunft, nämlich als Einheit von abstraktem Recht und Moralität. Für sich genommen sind beide „einseitig“ und letztlich unmöglich: abstraktes Recht und Moralität sind nur zwei begriffliche Momente der Idee der Sittlichkeit. Im Gegensatz zu Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat sind sie keine Sphären – keine Elemente der Realität – der Sittlichkeit. Das bedeutet, dass die Sittlichkeit keine bloße Kombination von abstraktem Recht und Moralität ist, dass ihre Einheit also nicht bloß in der existentiellen Abhängigkeit des einen Moments vom anderen liegen kann. Die Einheit der Sittlichkeit, so Hegel, ist vielmehr die Einheit von Momenten, die gerade dadurch verschieden sind, dass sie jeweils das Ganze der Sittlichkeit – und insofern identisch – sind: Indem diese Einheit des Begriffs des Willens und seines Daseins, welche der besondere Wille ist, Wissen ist, ist das Bewusstsein des Unterschieds dieser Momente der Idee vorhanden, aber so dass nunmehr jedes für sich selbst die Totalität der Idee ist und sie zur Grundlage und Inhalt hat. 42
Und nur weil die Einheit der Sittlichkeit nicht bloß in der existentiellen Abhängigkeit des einen Moments vom anderen liegt, haben wir es hier mit einer Einheit zu tun, die die Frage nach ihrem Grund nicht offenlässt. Und eben deshalb, und nur deshalb, ist in dieser Einheit die Vernünftigkeit wirklich und die Wirklichkeit der Vernunft „Objekt des Wissens“ 43, nicht bloß Objekt von Glaube und Hoffnung. Im Lichte dieser inhaltlichen Differenz wird zudem deutlich, dass StekelerWeithofers eigene Verwendung und seine Deutung der hegelschen Begriffe „Sittlichkeit“ und „Moralität“ auch terminologisch von Hegels eigener Verwendung dieser Begriffe in der Enzyklopädie und den Grundlinien abweicht. 44 An-
Hegel: Grundlinien, § 143. Ebd., § 147. 44 Die interessante Frage, ob nicht vielleicht der Jenenser Hegel diese Begriffe noch ähnlich wie Stekeler-Weithofer verwendet, soll uns hier nicht beschäftigen. 42 43
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ders als Stekeler-Weithofer versteht Hegel unter „Sittlichkeit“ hier nicht allein die Verstandesseite der Einheit des Prozesses, der das Ethische ist, sondern das Ganze des Ethischen selbst, und er beschreibt diese Einheit als Einheit von Momenten, deren Verschiedenheit als Momente dieser Einheit erst dadurch verständlich wird, dass jedes derselben zugleich auch das Ganze ist.
4. Das Problem des Pöbels
Der Unterschied zwischen diesen beiden Auffassungen des Ethischen – als Zusammenspiel zweier zwar existentiell voneinander abhängiger, aber in ihrem Wesen einfach voneinander verschiedener Vermögen bei Stekeler-Weithofer oder als Einheit von Momenten, deren Verschiedenheit als Momente dieser Einheit sich gerade ihrer Identität verdankt, bei Hegel – zeigt sich auch in der Weise, wie diese beiden Philosophen Widersprüche in der ethischen Praxis verstehen. In der Sache des guten Lebens gilt für Hegel nicht weniger als für Stekeler-Weithofer und Kant: das Gute ist für alle, allen muss zugehört werden, und alle sollen hoffen. Bei Hegel aber, anders als bei Stekeler-Weithofer und Kant, wird die relevante Kommunikationsgemeinschaft nicht über den Vorgriff auf die Zukunft, auf die Weiterentwicklung der Sitten, auf jene noch zu findende Neuordnung gemeinsam getragener Handlungsbewertungen bestimmt. In der Konsequenz sind Hoffen-Können und Etwas-zu-hörendes-zusagen-Haben eben gerade nicht unabhängig von den materiellen Bedingungen des sittlich Guten und von der besonderen sozialen Situation einer Person innerhalb der sittlichen Gemeinschaft. Dies wird insbesondere in Hegels Diskussion jener Schwierigkeit deutlich, die er das Problem des „Pöbels“ nennt. Für Hegel ist dieses Problem nicht nur Ausdruck eines Widerstreits zwischen zwei verschiedenen Prinzipien, sondern ein Selbstwiderspruch der Sittlichkeit. Wir möchten behaupten, dass nur, wenn das „Pöbel“-Problem so gefasst wird, Hegels Charakterisierung – wie auch seine Behauptung der Unlösbarkeit – desselben verständlich oder gar plausibel werden können. Zunächst scheint Hegel das Problem des „Pöbels“ als ein rein ökonomisches Problem darzustellen. Die bürgerliche Gesellschaft produziert aus ihrer inneren Dynamik heraus Armut unter ihren Mitgliedern. Der durch den freien Markt freigesetzte technische Fortschritt führt dazu, dass sich die relativ stabilen Kompetenzanforderungen, wie sie sich etwa in den traditionellen Handwerkskünsten herausgebildet hatten, zunehmend auflösen, verflüssigen oder diversifizieren und auf diese Weise an Relevanz verlieren, womit die entsprechend Ausgebildeten unfähig werden, ihren Lebensunterhalt durch Ausübung dieser Kompetenzen zu verdienen. In etwa so beschreibt Stekeler-Weit-
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hofer das hegelsche „Pöbel“-Problem in seinem Kommentar zu dessen Rechtsphilosophie. 45 Nun gibt es jedoch einen Aspekt von Hegels Diskussion des Problems, den diese Rekonstruktion nicht erklären kann. Seltsamerweise nämlich scheint Hegel dieses Problem als unlösbar darzustellen. Und es ist durchaus nicht unmittelbar klar, warum es das sein sollte. Entsprechend meldet Stekeler-Weithofer Zweifel an der vermeintlichen Unlösbarkeit an und legt nahe, dass eine wohlwollende Lesart Hegel gerade nicht auf die Unlösbarkeitsthese verpflichten würde. 46 Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass die vermeintlich wohlwollende Lesart der Komplexität ihres Gegenstandes nicht gerecht wird. Die Unlösbarkeitsthese ist zentral für Hegels dialektische Bestimmung der Wirklichkeit derjenigen Sittlichkeit, die er in den Grundlinien beschreibt. Hegel diskutiert drei Kandidaten für eine Lösung des sogenannten Pöbelproblems und weist alle als unzureichend zurück. Die nächstliegende Lösung scheint die Versorgung der Armen durch den Staat zu sein. Dazu ist der Staat laut Hegel verpflichtet. Dennoch sieht er darin keine Lösung für das Problem des „Pöbels“, wie er es versteht, weil staatliche Versorgung dem „Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft“ widerspricht, dass jede Person durch eigene Arbeit für sich selbst sorgt. 47 In der Konsequenz verlören die so Versorgten ihre „Ehre“ als bürgerliche Subjekte. Um diesen Effekt zu vermeiden, könnte der Staat versuchen, mehr Arbeit zu schaffen. Dies, so Hegel, beschleunigt jedoch den technischen Fortschritt und damit den Verfall des Wertes der erworbenen Kompetenzen auf dem Arbeitsmarkt. Sinnvoll, so Hegel, wäre einzig die Versorgung der Bedürftigen in den „Korporationen“ – in den Innungen, Zünften, und dergleichen –, denen sie kraft ihrer Kompetenzen angehören. Denn allein so könnten sie ihre Ehre erhalten. 48 Die Schwierigkeit mit diesem Vorschlag besteht laut Hegel jedoch darin, dass der durch den technischen Fortschritt im Kapitalismus beschleunigte Verfall des Wertes der erworbenen Kompetenzen auf dem Arbeitsmarkt notwendigerweise mit der Auflösung der traditionellen Korporationen einhergeht. Hegel schließt daraus auf die Unlösbarkeit des Pöbelproblems im Rahmen der modernen oder bürgerlichen Sittlichkeit, die in den Grundlinien beschrieben wird. Er bringt dies in der Formel zum Ausdruck, dass „bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug“ ist. 49 Siehe Pirmin Stekeler-Weithofer: Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts. Ein dialogischer Kommentar, Hamburg 2021, Kommentar zu §§ 244–246 und § 253. 46 Ebd., Kommentar zu § 245. 47 Siehe Hegel: Grundlinien, § 245. 48 Ebd., § 253. 49 Hegel: Grundlinien, § 245. 45
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Hegels Argument für die Unlösbarkeitsthese hängt offensichtlich von dem Gedanken ab, dass es sich für ein Mitglied eines modernen Gemeinwesens ziemt, sich seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen: von der Idee der „Ehre, durch eigene Tätigkeit und Arbeit zu bestehen.“ 50 Aber warum ist diese „Ehre“ so wichtig? Was verliert, wer sie verliert? Für Hegel ist das Problem des „Pöbels“ nicht bloß eine Frage der Armut: Bedürftigkeit allein macht noch keinen „Pöbel“. Das Entscheidende sei die „Gesinnung“. Denn der Verlust jener Ehre, für sich selbst zu sorgen, führe zu einem Verfall der Sitten: zu „Arbeitsscheu, Bösartigkeit und de[n] weiteren Laster[n], die aus solcher Lage und dem Gefühl ihres Unrechts entspringen.“ 51 Man könnte dies leicht als Ausdruck einer moralistischen Verachtung der Armen deuten. Aber das hieße, Hegel gründlich misszuverstehen. Um die Dialektik seiner Überlegungen nachvollziehen zu können, gilt es, nach jenem „Gefühl des Unrechts“ zu fragen, das Hegel zufolge den „Pöbel“ charakterisiert. In einer zentralen Passage beschreibt er die „Pöbelhaftigkeit“ als das „Bewusstsein der Rechtslosigkeit unter Voraussetzung des Rechts“. 52 Armut bloß als solche ist nicht das, was den Pöbel ausmacht. Denn Bedürftigkeit bloß als solche ist noch keine Quelle von Rechten. Schließlich kann uns auch die Natur in Armut und Bedürftigkeit stürzen, aber die Natur hat keine Pflichten gegenüber den Menschen. Und eben genau darin unterscheidet sich die moderne Gesellschaft von der Natur: „Gegen die Natur,“ so Hegel, „kann kein Mensch ein Recht behaupten, aber im Zustand der Gesellschaft gewinnt der Mangel sogleich die Form eines Unrechts, was dieser oder jener Klasse angetan wird.“ 53 Nur unter Bedingungen der modernen Gesellschaft – einer Gesellschaft, die sich kraft ihrer arbeitsteiligen Struktur und ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit gewissermaßen zwischen jeden einzelnen Menschen und dessen einst unmittelbare Abhängigkeit von der Natur schiebt und die, als von Menschen getragene, nun tatsächlich Trägerin von Pflichten gegenüber jedem so von ihr abhängigen Einzelnen ist – hat der Mensch einen Anspruch, ein Recht, darauf, sich selbst versorgen zu können. Ebendiese Gesellschaft, durch die die Menschen ein Recht auf Subsistenz haben, ist es jedoch, die ebenjene Armut hervorbringt und die Armen ebenjener Ehre beraubt, auf die sie, gerade dank eben dieser Gesellschaft, nun wirklich Anspruch haben. Hegel schreibt: Ebd., § 244. Ebd., § 241. 52 G. W. F. Hegel: Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20. Aus einer Nachschrift, D. Henrich (Hg.), Frankfurt 1983, § 244. 53 Ebd. 50 51
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Wer dürftig ist, gehört noch nicht zum Pöbel. Was den Pöbel ausmacht, ist eigentlich die Gesinnung, das Gefühl der Rechtlosigkeit, und die Erzeugung des Pöbels setzt voraus einen Zustand in der bürgerlichen Gesellschaft, in dem jeder Rechte hat; in der bürgerlichen Gesellschaft hat jeder den Anspruch, durch seine Arbeit zu existieren; erlangt er nun durch seine Tätigkeit dies Recht nicht, so befindet er sich im Zustand der Rechtslosigkeit, er kommt nicht zu seinem Recht, und dies Gefühl ist es, das diese innere Empörung hervorbringt. Dann macht der Mensch sich selbst rechtlos und hält sich auch von den Pflichten entbunden, und dies ist dann der Pöbel. 54
Dies erklärt zugleich, warum die Lösung des Pöbelproblems, wenn es denn eine gäbe, nur in den Korporationen liegen könnte. Die Korporationen spielen in der Hegelschen Sittlichkeit die entscheidende Rolle der Vermittlung zwischen dem einzelnen Haushalt und dem Allgemeinen des Staates. Das Kennzeichen der Sittlichkeit ist, dass sich der Einzelne im Allgemeinen des Staates anerkannt findet als handelndes Subjekt. Dies, so Hegel, ist nur möglich, wenn der Einzelne gerade wegen seiner spezifischen, seiner besonderen Tätigkeit im Allgemeinen anerkannt wird. So erst wird das Handeln des einzelnen Subjekts – in welchem dieses ja ohnehin seine Besonderheit hat – als eine Tätigkeit verständlich, die über die Reproduktion der privaten bzw. familiären Existenz hinausgeht: als „allgemeine Tätigkeit“, wie Hegel das ausdrückt. 55 Mit seiner charakteristischen professionellen Tätigkeit trägt der Einzelne zur Reproduktion des Ganzen des Gemeinwesens bei. Diese allgemeinen Zwecke der individuellen professionellen Tätigkeit werden artikuliert in den Korporationen mit ihren Kriterien der Kompetenz und „Ehre“. Das Verhältnis zwischen dem einzelnen Individuum und dem Allgemeinen, das der Staat ist, ist so durch das Besondere der Korporationen vermittelt und wird von den Einzelnen darin als stabil so vermittelt gewusst. So und nur so, erklärt Hegel, kann das Individuum die Wirklichkeit des Guten wissen und darin sein Selbstbewusstsein haben. Der Verlust der „Ehre, durch eigene Tätigkeit und Arbeit zu bestehen“ ist deshalb für Hegel gar nichts anderes als der Wegfall der Vermittlung zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinem, durch die das Individuum sich als konkreter Wille, als handelndes Subjekt anerkannt sehen kann. Aus diesem Grund Ebd. „[E]s ist notwendig, dem sittlichen Menschen außer seinem Privatzwecke eine allgemeine Tätigkeit zu gewähren. Dieses Allgemeine, das ihm der moderne Statt nicht immer reicht, findet er in der Korporation. Wir sahen früher, dass das Individuum für sich in der bürgerlichen Gesellschaft sorgend, auch für andere handelt. Aber diese bewusstlose Notwendigkeit ist nicht genug: zu einer gewussten und denkenden Sittlichkeit wird sie erst in der Korporation“ (Hegel: Grundlinien, Frankfurt 1985, § 255 Zusatz) 54 55
Philosophie des Pöbels
ist die Existenz des Pöbels für ihn ein Selbstwiderspruch in der Sittlichkeit: in einem einzigen Zug bestimmt die bürgerliche Gesellschaft als solche die Bedingungen, unter denen allein die Einzelnen sich im Allgemeinen finden können, und sorgt zugleich dafür, dass eben dies einer Klasse von Individuen nicht gelingen kann. Dies ist ein Widerspruch in der Sittlichkeit selbst, weil die Wirklichkeit des Guten nur ist, insofern sie für alle ist. Genau dieser Selbstwiderspruch lässt sich in Stekeler-Weithofers System nicht denken. Denn das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen ist hier immer nur äußerlich vermittelt. Stekeler-Weithofers kommunikationstheoretische Grundlegung der Ethik kennt nur einerseits das unvermittelte, unmittelbare Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinwesen, zwischen Einzelnem und Allgemeinem, und andererseits das Besondere, ohne das jenes Verhältnis zwar nicht existieren könnte, das es in seinem Wesen jedoch unberührt lässt. Bei Stekeler-Weithofer gibt es eine Weise, wie das Allgemeine schon vor seiner Anwendung auf das Besondere und damit unabhängig vom Besonderen für den Einzelnen ist. Darin ist das Allgemeine nur abstrakt für den Einzelnen. Und genau diese Abstraktheit spiegelt sich im Prinzip der Charity, das ja ebenfalls von allem Inhalt – von allen Unterschieden zwischen den Personen – abstrahiert. Es gilt für alle in gleicher Weise. Und alle sind demnach auch gleichermaßen verpflichtet zum Glauben an die Vernünftigkeit der gemeinsamen menschlichen Verhältnisse und zur Hoffnung auf ihre Verbesserung. In einer Hinsicht stimmt Hegel dem freilich zu. Die fragliche Hinsicht ist genau die, die er unter dem Titel des „Standpunktes der Moralität“ diskutiert. Und hier liegt auch für ihn der Sinn, in dem der „Pöbel“ tatsächlich als „böse“ zu beschreiben ist. Aber zugleich unterscheidet er die Menschen, die er als „Pöbel“ bezeichnet, von denen, die er „Verbrecher“ nennt. Die Schlechtigkeit des hegelschen Verbrechers liegt allein bei ihm. Die Boshaftigkeit des Pöbels liegt auch bei ihm; aber weil sie sich zugleich der Struktur der bürgerlichen Gesellschaft verdankt, liegt sie nur bei ihm, indem sie zugleich auch bei uns allen liegt. 56 Hinter diesen unterschiedlichen Weisen, das Problem des „Pöbels“ zu fassen, stehen radikal unterschiedliche Auffassungen von Gemeinschaft. Während bei Stekeler-Weithofer die Gemeinschaft durch den Vorgriff auf zukünftige gemeinsame Lösungen definiert ist, schließt Hegel die weitere Entwicklung der Sitten gerade vom Gegenstandbereich der Rechtsphilosophie aus. In Hegels Bemerkungen zur „selbstsüchtige[n] Seite des Gewerbes“ (Hegel, Grundlinien, § 253) und zur „Verdorbenheit der Reichen“ (Hegel, Vorlesung, § 244) sind als Artikulationen dieser Dialektik zu verstehen. 56
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der Perspektive des Rechts beziehungsweise der Sittlichkeit kann daher das Verständnis der Wirklichkeit des Guten – also das Verständnis der „Vernünftigkeit der gemeinsamen menschlichen Verhältnisse“ – nicht von einem Vorgriff auf die zukünftige Weiterentwicklung der Sitten abhängen. Die Wirklichkeit des Guten, so wie Hegel sie versteht, liegt nicht in seinem Kommen, sondern in seiner Gegenwart. Die ethische oder sittliche Haltung im hegelschen Sinne weist nicht über das Bestehende hinaus, sondern besteht in seiner Anerkennung. Dies hat Konsequenzen für den Status von Spannungen oder Widersprüchen in der sittlichen Gemeinschaft. In der jüngsten amerikanischen Geschichte sind oft Varianten des folgenden Sprechaktes zu hören. Das Eingeständnis, dass Formen der Diskriminierung bestimmter Gruppen systemischen Charakter haben, wird mit dem Satz verbunden: ‚This is not who we are!‘. Das „wir“ in diesem Satz weist über die tatsächlichen gesellschaftlichen Widersprüche hinaus. Es wird nicht durch seine Aktualität definiert, sondern durch seine Potentialität: durch das Vermögen, eines Tages gemeinsam getragene Lösungen für diese sowie für alle anderen gesellschaftlichen Widersprüche zu finden. Mit diesem Vorgriff auf die Zukunft bestimmt sich die gegenwärtige Gemeinschaft als unendlich großartig. Es ist so ganz leicht zu behaupten: ‚We are greatest country on earth: there is nothing we can’t do if we do it together!‘. Ein solches „wir“ ist immer schon über sich selbst hinaus; es ist abstrakt. Das „wir“ der Hegelschen Sittlichkeit hingegen ist durch seine Aktualität bestimmt. Nicht, dass Hegel keine gesellschaftlichen Widersprüche sehen würde; im Gegenteil. Sie haben jedoch einen ganz anderen Status bei ihm. Aus der Perspektive der Hegelschen Sittlichkeit wäre zu sagen: ‚This, with all these contradictions, is who we are‘. Dies wäre kompatibel mit der Feststellung, dass die Widersprüche gelöst werden „müssen“, wenn es weiter eine Sittlichkeit geben soll. Die Frage, ob dies gelingen wird oder kann, ist für Hegel aber unmöglich eine praktische Frage. Es ist keine Frage, zu der wir uns in der Perspektive der bestehenden Sittlichkeit, unserer Wirklichkeit, unserer Gegenwart, praktisch verhalten können, – sei es handelnd, hoffend oder glaubend. Nicht, dass wir uns nicht sorgen müssten – im Gegenteil: das müssen wir. Dies anzuerkennen aber bedeutet eben, mit Hegel, die Widersprüche in ihrer Radikalität und Tiefe – in ihrer Notwendigkeit – zu begreifen. Und genau deshalb ist der „Pöbel“ ein Problem für die Philosophie.
Christian Schmidt
Transzendenz und Geschichte
D
ie Rede von Gott und anderen transzendenten Gegenständen gehört zum Schwierigsten in der Philosophie. Regelmäßig verführt sie ganze Interpretationsschulen dazu, die philosophische Deutung eines Textes abzubrechen und ihn stattdessen dem Genre des religiösen Glaubensbekenntnisses zuzuschlagen. Diese Praxis des Lesens führt aber nicht nur häufig in die Irre mythischer Erzählungen, die für bare Münze genommen werden, statt sie auszudeuten. Sie verschließt auch den Zugang zu einem entscheidenden Aspekt menschlichen Handelns. Dieser Aspekt ist das Verhältnis von lokalen Praktiken und überzeitlichen, die lokalen Gegebenheiten transzendierenden Normen. Solche Normen gehen aus Praktiken hervor, indem sie auf eine eigene Weise gerechtfertigt werden. Anschließend leiten sie ihrerseits die Praktiken, auf die bezogen sie entwickelt wurden. Die Aufgabe, dieses komplexe Verhältnis zu reflektieren, ist eine der zentralen Bestimmungen der Philosophie und der Grund dafür, dass sich auch im Werk zweifellos säkularer Denker wie Spinoza oder Hegel die Rede von Gott finden lässt. Die Unermüdlichkeit, mit der Pirmin Stekeler-Weithofer die Rolle der transzendenten Redegegenstände für die Orientierung menschlichen Handelns und die Praktiken der Erzeugung solcher Gegenstände am Beispiel der Mathematik ausführlich dargestellt hat und sie vor allem in seinen besonders detailliert ausgearbeiteten Interpretationsvorschlägen zu Platon und Hegel betont, ist nicht sein kleinstes und sicher ein bleibendes Verdienst. 1 Dabei ist die Mathematik nur das Paradigma, das schon in der frühen griechischen Philosophie herangezogen und ausführlich diskutiert wurde, um eine Praxis zu beschrei-
Vgl. Pirmin Stekeler-Weithofer: Formen der Anschauung. Eine Philosophie der Mathematik, Berlin 2008; ders.: Grundprobleme der Logik. Elemente einer Kritik der formalen Vernunft, Berlin und New York 1986, Kap. 1 und 2; ders.: Philosophie des Selbstbewußtseins. Hegels System als Formanalyse von Wissen und Autonomie, Frankfurt/M. 2005; und das noch nicht abgeschlossene Projekt dialogischer Hegelkommentare mit den im Meiner Verlag Hamburg bereits erschienenen Bänden zur Phänomenologie des Geistes (2 Bd. 2014), der Wissenschaft der Logik (3 Bd. 2019–21) und den Grundlinien der Philosophie des Rechts (2021). 1
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ben, die in der Lage ist, Normen herzustellen und sich mithilfe dieser Normen selbst zu stabilisieren. Die Herstellung und Begründung handlungsleitender Normen beschränkt sich aber nicht auf die mathematisch-wissenschaftliche Rede, mit ihren der Zeit enthobenen Zusammenhängen und Gegenständen. Sie ist, wie ich im Folgenden zeigen will, auch die Voraussetzung für die Entwicklung von Geschichtsbewusstsein, denn bei dieser Entwicklung spielt die Herstellung von Transzendenz eine entscheidende Rolle. Es ist daher kein Zufall, dass für die Herausbildung des Geschichtsbewusstseins religiöse Erzählungen einen wichtigen Rahmen bildeten – ein Umstand, der nicht dazu verführen sollte, wie Löwith und andere zu glauben, beim Geschichtsbewusstsein selbst handle es sich um eine missverstandene religiöse Bewusstseinsform.
1. Spontaneität und Rahmung
Das Gefühl der Geschichtlichkeit ist nicht zu allen Zeiten anzutreffen und es ist auch nicht da, wo es anzutreffen ist, immer gleich. Dieses Gefühl ist folglich selbst eine geschichtliche Tatsache. Es setzt voraus, dass die Menschen eine Vorstellung davon haben, wie sich die gegenwärtigen sozialen Verhältnisse von einer künftigen gesellschaftlichen Ordnung unterscheiden. Die Arten, wie ein solcher Unterschied gedacht werden kann, sind vielfältig. So werden beispielweise zyklische Geschichtsvorstellungen von der Erwartung geprägt, dass innere Prozesse die historischen gesellschaftlichen Formen dynamisieren und so dazu führen, dass sich diese mit einer mehr oder weniger unausweichlichen Zwangsläufigkeit auseinander entwickeln. Das bekannteste Beispiel für einen solchen Kreislauf, an das zu erinnern hier genügen mag, ist das Übergehen von Regierungsformen samt der ihnen eigentümlichen Verfallsvarianten ineinander, die schon Platon beschrieben hat und die von Polybios zur These eines vollendeten Kreislaufs verbunden wurden. 2 Vgl. Polybius: Historiae, VI, 4–9. Polybius beschreibt den Kreislauf zwar, setzt aber wie Platon und Aristoteles darauf, ihn mithilfe einer Verfassung zu durchbrechen, die aus Elementen der verschiedenen Regierungsformen zusammengesetzt ist und so den zwangsläufigen Verfallsprozessen entgeht. Jedoch bemerkt Platon im 8. Buch der Politeia anhand des Beispiels des Übergangs von der Aristokratie zur Timokratie: „Schwer zwar ist es, dass ein so eingerichteter Staat in Unruhe gerate; aber weil allem entstandenen doch Untergang bevorsteht, so wird auch eine solche Einrichtung nicht die gesamte Zeit bestehen, sondern sich auflösen.“ (546a) Es ist diese Vergeblichkeit des menschlichen Bemühens, dem ewigen Kreislauf von Schöpfung und Zerstörung zu entgehen, die die vormodernen von den modernen Geschichtskonzepten trennt. 2
Transzendenz und Geschichte
Diese Erzählung ließe sich – auch wenn die Details von Autor zu Autor leicht variieren – idealtypisch in etwa so rekonstruieren: Eine Monarchie wird durch die unkontrollierte Macht des Alleinherrschers früher oder später zur Tyrannei. Die unerträgliche Willkür des Tyrannen schweißt eine Gruppe von aristoi zusammen, die den Tyrannen ablösen. Deren Reichtum, Privilegien und Gewinnstreben wiederum verwandelt die Herrschaft der Besten über kurz oder lang in eine Herrschaft der sich bereichernden Wenigen – eine Oligarchie. Diese Aneignung des Staates durch eine Minderheit führt zu Aufständen der Vielen und so zur Demokratie. Aber die Schwankungen im kollektiven Fühlen des demos lassen auch diese Regierungsform in ein Stadium des Verfalls übergehen. Sie wird zur Herrschaft des Mobs – Ochlokratie, die ihrerseits den Ruf nach einem starken Führer entstehen lässt, der das Chaos beendet und den Kreis schließt. Moderne Vorstellungen von Geschichte, wie sie im 18. und besonders 19. Jahrhundert geläufig wurden, ersetzten die Notwendigkeit, die den Kreislaufvorstellungen und selbst den Versuchen, sie zu unterbrechen, innewohnt, durch menschliches Handeln. Selbstverständlich spielte auch in den Kreislaufversionen der Geschichte menschliches Handeln eine Rolle, aber die modernen Versionen der Geschichtsphilosophie sind insofern anders, als nun das Handeln der Menschen – zumindest potenziell – den Gang der Geschichte bewusst in eine Richtung zu lenken vermag, die von den Handelnden aktiv bejaht wird. (In einigen dieser Vorstellungen muss die Geschichte sogar aktiv in die Hand genommen werden, um sie zu vollenden.) Die Menschen führen also nicht mehr bloß Gesetze oder Schemata geschichtlicher Entwicklungen aus, die sich aus der institutionellen Logik gesellschaftlicher Verhältnisse ergeben. Sie sind vielmehr in der Lage, solchen Logiken entgegenzuwirken und bewusst ganz neue Institutionen zu schaffen. Menschen diese Fähigkeit zuzuschreiben, bedeutet auch, sie als Handelnde anzusehen, die mit einer Spontaneität ausgestattet sind, die es ihnen erlaubt, jene gesellschaftliche Ordnung zu überwinden, die sie allererst zu handlungsfähigen Subjekten herangebildet hat. Paradoxerweise setzt Handlungsfähigkeit, die für geschichtliches Handeln notwendig ist, voraus, dass gemeinschaftlich geteilte Formen des Handelns von den Einzelnen erworben wurden. Der Erwerb dieser Subjektivität vollzieht sich, wenn Handlungsformen gesellschaftlich geteilt und weitergegeben werden. Das geschieht in der Regel, indem eine bestehende Handlungsgemeinschaft neue Mitglieder einfach in ihre Praktiken miteinbezieht. Das Soziale ist so gesehen ein System von Praktiken, das die Fähigkeit hat, sich zu reproduzieren und in sich ein Moment der Selbststabilisierung trägt. Geschichte ist aus dieser Perspektive – anders als in den Kreislaufmodellen – gerade keine inhärente Eigenschaft des Sozialen. Um
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eine gegebene gesellschaftliche Ordnung zu überwinden, bedarf es vielmehr einer anderen Ursache – und das, obwohl alles menschliche Handeln Ausfluss des Sozialen ist. Die Erfindung der Geschichte im emphatischen Sinn – also in dem Sinn, in dem Menschen die Geschichte mit Bewusstsein selbst machen und sich auch als treibende Kraft der Geschichte erkennen – beruht deshalb auf der Zuschreibung von Spontaneität, die damit eine erhebliche konzeptionelle Last zu tragen hat. „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“. 3 Dieses Zitat ist nur eine besonders berühmt gewordene Formulierung eines Problems, das sich aus der konzeptionellen Last ergibt, die mit der Zuschreibung eines geschichtlichen Handlungsvermögens der Menschen einhergeht. Karl Marx – von dem das Zitat stammt – entwickelt im Fortgang seines Textes Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte eine eigene Idee, was es bedeutet, Geschichte zu machen. Hier soll es aber nicht darum gehen, diese marxsche Konzeption der Geschichte in ihren Details nachzuvollziehen und zu diskutieren. Vielmehr möchte ich nur eine Beobachtung hervorheben, die Marx an der zitierten Stelle macht. Von dieser Beobachtung ausgehend lässt sich nämlich das Verhältnis von Erzählung und Transzendenz erläutern, das seinerseits hilft, den Rahmen zu bestimmen, in dem Spontaneität nicht länger als das ganz andere der sozialen Formen gedacht werden muss: „[W]enn [die Menschen] eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen.“ 4
Marx nennt zwei Beispiele (ich werde gleich noch weitere zitieren) für solche Bezüge auf die Vergangenheit, die das spontane Handeln rahmen und ihm damit eine Sicherheit geben, ohne die es – auch wenn Marx selbst anderer Ansicht ist – wahrscheinlich kaum möglich wäre: 5 Luther, der auf den Apostel
Karl Marx: „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, in: ders. und Friedrich Engels: Werke, Bd. 8, Berlin 1960, S. 111–207, hier S. 115. 4 Ebd. 5 Vgl. zur kritischen Auseinandersetzung mit Marx bezüglich dieses Punktes Harold Rosenberg: The Tradition of the New, London 1970. 3
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Paulus verweist, und die Französische Revolution, die als Wiedergeburt der Römischen Republik inszeniert wurde. Es ist wichtig zu betonen, dass in beiden Fällen die Bezüge auf die Vergangenheit Bezüge auf eine Tradition sind, die durch Texte übermittelt wurde. Die Bezüge entstehen also nicht durch eine unmittelbar erlebte geschichtliche Erfahrung, sondern vermittelt durch kanonische Texte, aus denen die Akteure Handlungsweisen und Argumentationsschemata ableiten. Für Marx waren solche Aneignungen immer Verkleidungen, unter denen die Handelnden ihre wahren Motive verbargen, ihren Griff nach der Macht und den Versuch, Herrschaft zu institutionalisieren. Doch angesichts der konzeptuellen Last, die die Spontaneität auch bei Marx zu tragen hat, ist es – wie bereits bemerkt – ratsam, die Rolle zu überdenken, die solche Erzählungen spielen, wenn es darum geht, bewusst neue Formen des gesellschaftlichen Lebens hervorzubringen. So hat Michael Walzer bei verschiedenen Gelegenheiten sein Erstaunen beschrieben, als er miterlebte, wie in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Bürgerrechtsbewegung im Süden der USA nicht von säkularen Gewerkschaften angeführt wurde, sondern von Baptistengemeinden, für die die biblische Exodusgeschichte – die Erzählung vom Auszug der Israeliten aus der ägyptischen Knechtschaft – der entscheidende Bezugspunkt war. Walzers Erstaunen ist nicht ungewöhnlich. Es entstammt selbst einer langen Tradition des an Hegel anschließenden Denkens, für das die bewusste Gestaltung der Geschichte und Religion im Widerspruch zueinander standen. Bruno Bauer – einer der herausragenden Vertreter des Linkshegelianismus, der gemeinsam mit Marx die zweite Auflage von Hegels Vorlesungen zur Philosophie der Religion bearbeitete – war ein entschiedener Kritiker jeglicher Religion. Es war aber insbesondere der jüdische Glaube, den er mit einer Abkehr von gesellschaftlicher Veränderung ganz allgemein und dem starrsinnigen Festhalten an überkommenen Regeln gleichsetzte. 6 Aus einer an Bauer angelehnten Perspektive sind religiöse Erzählungen, die geschichtlichen Wandel antreiben, zumindest ein Missverständnis, wenn nicht gar ein offener Widerspruch in sich. Ausgehend von der Erfahrung des Gegenteils schrieb Walzer unter anderem sein bekanntes Buch Exodus und Revolution, in dem er nachzeichnet, welche entscheidende Rolle der Bezug auf die Exodusgeschichte schon in den politiVgl. Bruno Bauer: Die Judenfrage, Braunschweig 1843, S. 79, wo es unter anderem heißt: Wer am jüdischen Glauben zur Zeit Bauers noch festhalte, „läugnet die Geschichte, ihren Fortschritt, er führt einen Vertilgungskrieg gegen die Geschichte“. Zur detaillierten Diskussion von Bauers Position und ihrer Bedeutung für die Diskurse bis zur Gegenwart vgl. Christian Schmidt und Lutz Fiedler (Hg.): Postsäkulare Politik? Emanzipation, jüdische Erfahrungen und religiöse Gemeinschaften heute, Göttingen 2021. 6
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schen Debatten von Florenz während der Renaissance und in der englischen Revolution spielte. 7 Ich will hier auch diese historischen Bezugnahmen und regelrechten reenactments nicht erneut darstellen, sondern mich stattdessen mit der Frage beschäftigen, warum sich ganz entgegen den Überzeugungen Bauers gerade biblische Erzählungen für gesellschaftliche Bewegung als so überaus praktisch erwiesen haben, die auf grundlegende gesellschaftliche Veränderungen zielten, und vor allem wie diese biblischen Erzählungen das Bewusstsein der Geschichtlichkeit ganz generell erzeugen.
2. Von außen hereinbrechende Transzendenz: Versprechen und Bund
Geschichtsbewusstsein ergibt sich in den biblischen Erzählungen schon aus der Konstruktion des Pentateuchs. Die Geschichte des Exodus geht über die Chronologien und genealogischen Aufzählungen hinaus, durch die die gegenwärtigen Generationen mit den Vor- und Urvätern der Israeliten verbunden werden. Solche Chronologien müssen von Geschichte im engeren und eigentlichen Sinn unterschieden werden, weil in ihnen keine Entwicklung erzählt wird. Sie bewahren vielmehr Erinnerungen an die Vergangenheit, die für die Gegenwart Orientierung bieten, wenn sie als Beschreibungen des Verhaltens gedeutet werden, das in Fällen von im Grunde zeitlosen – das heißt, jederzeit wieder auftreten könnenden – moralischen und religiösen Problemen entweder angemessen oder verfehlt ist. Und in der Tat funktionieren viele religiöse Erzählungen genau so. Sie enthalten Geschichten, die als Parabeln die Reflexion darüber anregen, was ein frommes oder generell angemessenes Verhalten in dieser oder jener Situation ausmacht, und sollen so zu einer sittlich gelungenen Lebensführung beitragen. Das Pentateuch hingegen ist keine bloße Sammlung von Beispielen und Anekdoten. Es ist auf die Konzepte „Versprechen“ und „Bund“ aufgebaut, die gemeinsam ein Gefühl der Zukünftigkeit und sogar der Geschichte entstehen lassen, wobei Geschichte das Überwinden von gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen meint. Bereits am Anfang, im Buch Genesis, sorgen die Versprechen Gottes für ein gewisses Gefühl von Zukünftigkeit, wenn auch noch nicht von Geschichte. Die Erzählungen vom Bund Gottes mit den biblischen Urvätern bringen noch nicht jene Transzendenz hervor, die – wie ich zu zeigen hoffe – im Zentrum dessen steht, was zum langlebigen Einfluss der biblischen Erzählungen führte. Aber die frühen Vorgeschichten eines Bundes
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Michael Walzer: Exodus und Revolution, Berlin 1988.
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mit Gott bereiten den Boden für eine religiöse Gemeinschaft, die mit einem ihr eigenen Geschichtsbewusstsein ausgestattet ist. Dieses Geschichtsbewusstsein ist das Ergebnis eines Bundes, den Gott mit dem Volk Israel eingeht. Schon bei den Urvätern hat Gott nicht einerseits befohlen und bestimmt und andererseits Land und zahlreichen Nachwuchs versprochen. Vielmehr fordert Gott im Gegenzug für seine Versprechungen, „dass du den Herrn, deinen Gott, fürchtest, dass du in allen seinen Wegen wandelst und ihn liebst und dem Herrn, deinem Gott, dienst von ganzem Herzen und von ganzer Seele, dass du die Gebote des Herrn hältst und seine Rechte“. 8 Ein solcher Bund unterscheidet sich von der gewaltsamen Durchsetzung des göttlichen Willens. Er ist die wechselseitige Übereinkunft zwischen Gott und den Urvätern, später dann zwischen Gott und Israel als Kollektiv. Es handelt sich mithin um einen Akt der wechselseitigen Selbstbindung, in dem beide Seiten als Handelnde anerkannt sind. Im Hinblick auf diesen Charakter ist es bedeutsam, dass die erste Erwähnung des Bundes in der biblischen Erzählung erfolgt, nachdem die Sintflut die Erde bereits zerstört hat. Von Noah und seinen Söhnen wird in dieser Situation noch nicht allzu viel verlangt. Sie dürfen kein menschliches Blut vergießen und „das Fleisch nicht [essen] mit seinem Blut, in dem sein Leben ist“. 9 Entscheidend an der Geschichte ist aber, dass Gott ganz unabhängig vom Verhalten der Menschen erklärt, „dass hinfort nicht mehr alles Fleisch verderbt werden soll durch die Wasser der Sintflut“. 10 Damit wird symbolisch die Freiheit Noahs, seiner Söhne und von deren Nachkommen eingeräumt. Was immer sie tun, Gott wird sie nicht vernichten. Er mag – wie im Fall von Sodom und Gomorrah – das Leben von Sündern und sogar ganzer Städte auslöschen, aber er wird nicht das Leben auf der Erde oder die Menschheit als Ganze zerstören. Nur unter dieser Vorbedingung wird ein Bund möglich, der das freie Handlungsvermögen der menschlichen Gegenspieler Gottes respektiert. Da aber der Bund, den Gott nach der Sintflut eingeht, durch seine einseitige Erklärung in Kraft gesetzt wird, ist noch vollkommen unklar, welche Rolle Noah, seine Söhne und deren Nachkommen als Bundesgenossen in diesem Pakt zu spielen haben. Das gilt auch noch für die Erneuerung dieses göttlichen Versprechens gegenüber Abraham und seinen Nachkommen. Der Bund ist an diesen Stellen noch kein Bund im eigentlichen Sinn des Wortes. Er ist eher ein Versprechen, eine auf nachfolgende Generationen ausgedehnte Vergütung für 8 9 10
Dtn 10, 12/13. Gen 9, 4. Gen 9, 11.
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gelebte Frömmigkeit und die Treue zu Gott, die die Urväter bereits bewiesen haben. Die Transzendenz ist in diesen Geschichten von Gottes Beziehung zu den Urvätern folglich keine Transzendenz, die ein Geschichtsbewusstsein hervorrufen könnte. Gott wird vielmehr als überwältigende, von außen in das Geschehen hereinbrechende Macht dargestellt. So heißt es auch noch in Exodus 15, 3: „Der Herr ist der rechte Kriegsmann“. Aber an dieser Stelle – im Lobgesang Mose – ist die von außen hereinbrechende Macht Gottes eine vernichtende Gewalt, die die Feinde der Israeliten bedroht. Sie stellt also das Noah und Abraham gegebene Versprechen nicht infrage. Die inneren Verhältnisse im Bund sind in der Exoduserzählung hingegen von anderer Art. Da der Eid, den Gott gegenüber Noah und Abraham schwor, noch gilt, sind Gewalt und Vernichtung nicht die treibenden Kräfte, die den Bund mit Gott motivieren. Vielmehr ist der Bund die gesellschaftliche Form, die der Übergang von der ägyptischen Knechtschaft zur Freiheit im gelobten Land angenommen hat. Er ist genaugenommen das, was die Israeliten überhaupt erst aus einem Sippenverband zu einem Volk macht. Vor dem Hintergrund der allgemeinen vorherrschenden bibelwissenschaftlichen Überzeugung, dass die Texte des Pentateuchs in einer Zeit bearbeitet und kanonisiert wurden, als die Staaten Israel und Judah bereits aufgehört hatten zu existieren und die Israeliten in babylonischer Gefangenschaft waren, wird der Zusammenhang von Bund und Selbstverständnis als ein Volk nur umso deutlicher. 11 Jedoch konnte sich unter den Bedingungen der Niederlage und der sich an die Niederlage anschließenden Vertreibung kein Gottesbild bewähren, in dem Gott die Gottheit einer Stadt oder eines Staates gewesen wäre. Die Figur Gottes musste umgestaltet werden, damit sich mit ihr eine Gruppe identifizieren konnte, für die es sonst ganz natürlich gewesen wäre, sich den Kulten und der Kultur der herrschenden Gesellschaft einfach anzuschließen, um in dieser Gesellschaft aufzugehen. Zwar finden sich im Text viele Stellen, an denen Gott als mächtigste aller Ortsgottheiten dargestellt wird, aber das bloße Lob von Gottes überwältigender Macht und Stärke in Kriegszeiten erzeugt in Zeiten der Niederlage kaum einen hinreichenden Zusammenhalt. Die Innovation nach der Zerstörung des Staates, der die natürliche Heimstätte einer Haupt- oder sogar ausschließlich verehrten Gottheit gewesen wäre, war der Übergang zu einem einzigen Gott
Vgl. zum bibelwissenschaftlichen Konsens in der Frage der Datierung des Pentateuchs Uwe Becker: „Von der Staatsreligion zum Monotheismus. Ein Kapitel israelitisch-jüdischer Religionsgeschichte“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 102 (2005) 1, S. 1–16. 11
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mit keinerlei Göttern neben ihm. Diese Einzigartigkeit macht Gott einerseits zur universellen Ursache von allem, was es in der Welt gibt oder in ihr geschieht – es gibt schlichtweg kein konkurrierendes Prinzip mehr –, andererseits wird so die Last für Sieg und Niederlage, für Glück und Unglück ganz allgemein auf die Menschen verschoben. Wenn sogar der Persische König Kyros II. ein Werkzeug des göttlichen Willens werden kann, ein, wie es in Jesaja 45, 1 heißt, „Gesalbter“ – also ein König wie Saul und David, ein „Messias“, in der königlichen Bedeutung, die dieses Wort in der hebräischen Bibel hat –, dann hat Gott nicht nur aufgehört, irgendeine Art von Nationalgottheit zu sein, er wird vielmehr nach und nach zu einem allgemein wirksamen Prinzip, das unter ganz verschiedenen gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnissen seine Wirksamkeit entfaltet und dazu nicht einmal anerkannt werden muss. „[I]ch [rief ] dich bei deinem Namen und gab dir Ehrennamen, obgleich du mich nicht kanntest. […] Ich habe dich gerüstet, obgleich du mich nicht kanntest“, sind die Verse, die in Jesaja 45 direkt an Kyros II. gerichtet sind. 12 Das Volk aber, das im Gegensatz zu Kyros II. Gott kennt, das Volk also, das in den Bund eingetreten ist, ist aufgrund seines Wissens zumindest potenziell ein „heiliges Volk“ 13. Es wird zu einem „Königreich von Priestern“, 14 wobei die anarchistischeren Lektüren dieser Textstellen, wie sie sich etwa bei Martin Buber finden, 15 betonen, dass ein solches Königreich eigentlich gar kein Königreich sei. Die Stelle des Herrschers wird in dieser Gemeinschaft von Gott eingenommen, was bedeutet, dass sie in Wirklichkeit leer bleibt. Diese Leere wird insbesondere dadurch gesichert, dass es keinen Vertreter Gottes gibt, der das Recht hätte, dessen Willen allgemeinverbindlich auszulegen. Folglich muss die Gemeinschaft ihren Zusammenhalt unabhängig von einem König oder einer anderen tatsächlich anwesenden Autorität bestimmen, die diesen Zusammenhalt symbolisieren und gewährleisten könnte. Das Volk Israel hat damit seinen Weg aus der Knechtschaft in die Freiheit selbst zu finden. Die Menschen müssen ihre Geschichte selbst machen.
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Jes 45, 4/5. Ex 19, 6. Ebd. Vgl. Martin Buber: Königtum Gottes, Heidelberg 1956.
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3. Interne Transzendenz und die externe Garantie des Guten
Wie allgemein bekannt ist, dauerte der biblischen Erzählung zufolge der Übergang zwischen Knechtschaft und Freiheit vierzig Jahre – ungefähr eine Generation. Erst danach war ein erneutes Ansiedeln, das heißt die Neugründung von Institutionen, die nicht als bloße Provisorien gedacht waren, sondern bleiben sollten, überhaupt möglich. Dieses lange Zwischenstadium in der verhältnismäßig kleinen Wüste zwischen Ägypten und dem verheißenen Land legt es nahe, dass der Übergang erst nach der erfolgreichen Flucht aus Ägypten begann. Der Grund für diesen unerwartet späten Beginn der Befreiung, die erst einsetzt, nachdem die Flucht bereits gelungen ist, liegt darin, dass Herrschaft und Unterdrückung keine bloß äußerlichen Existenzbedingungen sind. Sie dringen in das Denken und Fühlen der Beherrschten und Unterdrückten ein und werden zum Bestandteil einer umfassenden Lebensform. Die sprichwörtlichen „Fleischtöpfe“ Ägyptens 16 symbolisieren die Sicherheit, die solche Lebensformen trotz all des Elends und Leidens – das ebenfalls mit ihnen einhergeht – bieten. Eine der Erzählstrategien, um die verinnerlichten Formen der Knechtschaft zu überwinden, ist, den Zustand der Unterdrückung wieder und wieder ins Gedächtnis zu rufen. Ein solches Eingedenken bringt nicht aus sich selbst heraus neue gesellschaftliche Beziehungsformen hervor (wenn man einmal vom Verbot der Sklaverei unter den Israeliten absieht) 17, aber es erhält die Motivation aufrecht, nach neuen Lebensformen zu suchen. Die Strategie selbst zielt darauf, einige der festgefügten sozialen Bindungen aufzubrechen, indem die alte Lebensweise und der überkommene Gehorsam gegenüber traditionellen Autoritäten abgelehnt werden. Eine solche Strategie hat ihre Schwachpunkte. Ab und an scheint sie ein Wunder zu benötigen, um das hungrige Volk zu ernähren. Doch die wahre Botschaft hinter den Wundergeschichten ist, dass das Vertrauen auf das Kommen einer neuen und besseren Lebensform gerechtfertigt ist – einer Lebensform, die in der Lage ist, alle Bedürfnisse zu befriedigen, auch wenn es keine Blaupause für den Zustand der Freiheit gibt und geben kann, durch die alle Befürchtungen und Zweifel von vornherein ausgeräumt werden könnten. Dieses Vertrauen ist die abstrakte Idee des Guten. Sie ist eine notwendige Vorbedingung für jeden ernsthaft gewollten Übergang von einer sozialen Ord-
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Vgl. Ex 16, 3. Vgl. z. B. Lev 25, 39–42 und 54/55.
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nung A zu einer sozialen Ordnung B, bei dem unklar ist, wie die Ordnung B im Detail aussehen wird. Nur die Idee des Guten, in diesem abstrakten Sinn, erlaubt es Menschen, sich auf einen Weg mit unbekanntem Ziel zu begeben. Es ist daher kein Zufall, wenn die Exoduserzählung in der Bibel auf paradigmatische Weise Geschichte als die Geschichte Gottes mit dem Volk Israel einführt. Geschichte im emphatischen Sinn der bewussten und gewollten Verwirklichung von Freiheit braucht Transzendenz, denn sie ist von der Idee des Guten und ihrer Garantiefunktion abhängig. Allerdings ist dabei Transzendenz wesentlich von der äußerlichen Macht einer allmächtigen Gottheit oder den Prinzipien einer überwältigenden Natur verschieden. Die Selbstveränderung des heiligen Volkes, dieses Tun des Volkes selbst, bildet den Kern des mit Gott geschlossenen Bundes. An verschiedenen Stellen der Exoduserzählung wird ein Problem beschrieben, das sich aus der Verquickung der Selbstveränderung mit einer transzendenten Instanz ergibt, die diese Selbstveränderung von außen garantiert. Diese Gefahr besteht darin, dass die abstrakte Idee des Guten durch einen zufälligen Inhalt konkretisiert wird. Oberflächlich betrachtet wird diese Gefahr in der Exodusgeschichte einseitig ikonoklastisch ausbuchstabiert. Die Episode vom Goldenen Kalb widmet sich der Ersetzung des abstrakten Gottes durch eine den Sinnen zugängliche Gottheit. 18 Es liegt daher nahe, die Zerstörung des Goldenen Kalbs als Verteidigung gegen den Aberglauben an transzendente Wesen zu interpretieren – seien es nun Gottheiten oder die Natur selbst –, die sinnlich erfahren werden können. Aber eine solche Beschreibung der Gefahr, die mit der Behauptung einhergeht, die Natur oder die Idee des Guten erkannt zu haben, wird von der anschließenden Erzählung der von den Leviten durchgeführten Säuberungen konterkariert. Diese Säuberungen waren ein brutaler Massenmord, bei dem von jedem Leviten ausdrücklich gefordert wurde, „seinen Bruder, Freund und Nächsten“ zu erschlagen. 19 Dieser Teil der Geschichte scheint nun die Gefahr in der Tat auf eine viel dramatischere Weise zu illustrieren als die ekstatische Orgie zur Feier eines Pseudogotts. Sieht man von der Brutalität des Aktes ab, dann ist die Aufforderung an die Leviten aber eine Aufforderung zur Loslösung aus den alten sozialen Banden, die der Übergang zu einer neuen Ordnung erfordert. Sie findet ein späteres Echo, wenn Jesus im Matthäusevangelium gegen alle familiale Pietät zu einem Jünger, der gerade den eigenen Vater beerdigen will, sagt: „Folge du mir und
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Vgl. Ex 32. Ex 32, 27.
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lass die Toten ihre Toten begraben!“ 20 Ohne eine solche Überwindung der bestehenden Bindungen ist das Erreichen einer neuen Lebensform kaum vorstellbar. Die Geschichte der levitischen Säuberung beweist durch die Verknüpfung der Bereitschaft, soziale Bindungen zugunsten der Selbsttransformation aufzugeben, mit dem Umschlag dieser Bereitschaft in die fanatisierte Ermordung derjenigen, die vom neuen Weg abweichen, nichtsdestotrotz, dass Pseudogott und Gott gleichermaßen dazu geeignet sind, sich auf eine von außen kommende Transzendenz zu berufen und so die spezifische Geschichtlichkeit der Exoduserzählung zu verfehlen. Eine solche von außen kommende Transzendenz stellt zwar eine ewige Ordnung der Verhältnisse dar, die von früheren gesellschaftlichen Ordnungen und den ihnen zugrunde liegenden Prinzipien nicht adäquat berücksichtigt wurde – sie ist insofern eine Quelle der Kritik. Aber eine derartige ewige Ordnung könnte niemals zu einer kollektiven Suche nach dem Übergang zur Freiheit und damit zu einem Geschichtsbewusstsein führen. Im Gegenteil, das Konzept der Freiheit würde angesichts einer solchen, ihr äußerlichen Transzendenz in sich zusammenfallen. Das prekäre Geschichtsbewusstsein, das in der hebräischen Bibel seinen Ausdruck findet, hängt also gerade davon ab, dass es die gute Ordnung in der Schwebe hält. Die neue Lebensform ist das Versprechen eines künftigen, besseren, aber noch selbst unbekannten Zustandes. Als auf diesen Zustand ausgerichtete Lebensform erlaubt sie aber auch ohne vollständige Kenntnis des Guten die Kritik an der Knechtschaft und an Verhaltensweisen, die diese konservieren und befördern. Das Verhältnis von Geschichte und Transzendenz verkompliziert sich jedoch durch den Umstand, dass das abstrakte Konzept der Freiheit konkretisiert werden muss, um überhaupt Wirksamkeit entfalten zu können. Wenn die Idee des Guten in dem Glauben besteht, dass es eine Lebensform gibt, die besser ist als die Knechtschaft, dann schreitet die Geschichte durch die Bemühungen voran, eine solche Lebensform Wirklichkeit werden zu lassen. Die Notwendigkeit, der Idee des Guten eine konkrete Bedeutung zu verleihen und der neuen Lebensform einen konkreten Inhalt zu geben, steht in beträchtlicher Spannung dazu, diese wirkmächtigen Inhalte nicht als „das Gute“ schlechthin darzustellen. Ein weiterer Konflikt, der sich aus dieser Spannung ergibt, wird in der Erzählung des Streits zwischen Korah und seinen Anhängern mit Moses dargestellt. Korah und seine Anhänger werfen Moses vor, er beanspruche eine ungerechtfertigte Macht und Herrschaft über das Volk: „Ist’s nicht genug, dass 20
Mt 8, 22.
Transzendenz und Geschichte
du uns aus dem Lande geführt hast, darin Milch und Honig fließt, und uns tötest in der Wüste? Musst du auch noch über uns herrschen?“ 21 Die Anhänger Korahs wollen den rebellischen Geist gegen die ungerechtfertigten Autoritäten aufrecht erhalten. Sie bestehen auf der Gleichheit im Verhältnis zu Gott, die durch die Formel „ein Königreich von Priestern“ versprochen worden war. In der Erzählung werden sie aber ebenso hart bestraft wie jene, die das Goldene Kalb anbeteten. Nur dass es diesmal nicht Moses ist, der die Order gibt, ihr Leben mitleidlos auszulöschen, Gott selbst verurteilt und straft sie. Das ist ein wichtiger Unterschied. In der Episode mit dem Goldenen Kalb schützt Moses die Abstraktheit des neuen Glaubens. Aber wenn er selbst dafür angegriffen wird, sich die für Gott reservierte Rolle eigenmächtig anzueignen, dann muss es Gott sein, dem zugeschrieben wird, die Gegner Moses zerstört und so Moses Handeln bestätigt und anerkannt zu haben. Dieses Handeln ist nicht das Handeln eines politischen Anführers. Schon als Gott ihn zum ersten Mal anrief, hatte Moses betont, dass er sich nicht für geschaffen halte, die Rolle eines charismatischen Anführers auszufüllen: „Ach, mein Herr, ich bin von jeher nicht beredt gewesen, auch jetzt nicht, seitdem du mit deinem Knecht redest; denn ich hab eine schwere Sprache und eine schwere Zunge. […] Mein Herr, sende, wen du senden willst [aber nicht mich].“ 22 Doch der Auftrag Gottes für Moses ist nicht, eine politische Führungsrolle einzunehmen. Seine Mission gleicht eher der eines antiken Gesetzgebers. Moses muss der Gemeinschaft der Flüchtigen eine Gesetzesordnung zur Verfügung stellen. Aus diesem Grund gelten die Anschuldigungen Korahs und seiner Anhänger nicht nur als falsch, sondern sogar als ausgesprochen gefährlich. Sie untergraben, indem sie die Autorität von Moses unterminieren, die Autorität des Gesetzes, das er den Israeliten gab. Doch dieses Gesetz wurde nicht durch die Willkür eines Einzelnen dem Volk auferlegt. Es gilt als „heilig“, insofern es aufgrund seiner Allgemeinheit für die Gemeinschaft insgesamt anerkennbar ist. Das mosaische Gesetz ist das Gesetz der Freiheit. Es ist nicht nur transzendent, weil seine Legitimität durch den Geist aufrecht erhalten wird, der die Gemeinschaft verbindet, statt durch einen Einzelnen oder eine herrschende Klasse. Transzendent ist das Gesetz auch, weil seine Vorschriften den Zustand der realisierten Freiheit vorwegnehmen, in dem die Knechtschaft überwunden ist. Das Gesetz verweist auf die Zeit, in der die Versprechen Gottes schließlich erfüllt sein werden. 21 22
Num 16, 13. Ex 4, 10 und 13.
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Damit wird, was die Israeliten betrifft, der Respekt des Gesetzes und seine Befolgung zum Gegenstand des Bundes. Gott verspricht nicht mehr nur künftige Wohltaten, der Bund erfordert vielmehr vonseiten des Volkes ein entsprechendes Verhalten. Das „Gute“ ist nicht länger eine bloße Idee, die die abstrakte Möglichkeit einer anderen, besseren Lebensform zum Inhalt hat, sondern es erfordert jetzt die tätige Unterstützung durch die Menschen. Das „Gute“ bezeichnet also eine Transzendenz, die sich im Handeln der Gemeinschaft verorten lässt. Diese „interne“ Transzendenz erzeugt in Verbindung mit der „äußeren“ Transzendenz – der vom Handeln allein nicht gedeckten festen Überzeugung, dass der andere, bessere Zustand tatsächlich erreichbar ist – das Geschichtsbewusstsein.
4. Iterationen der Freiheit
Eine der zentralen Konsequenzen aus der Geschichtlichkeit, die in der narrativen Logik des Pentateuchs angelegt ist, ist die Möglichkeit des Scheiterns. Solange das Gute nur in der Versicherung bestand, dass Gott für das Wohlergehen des abrahamitischen Stammes sorgen wird, ist es eine reine Angelegenheit des Vertrauens. Jetzt aber, nachdem dem Volk im Bund eine aktive Rolle zukommt, wird das Gute zu einer Angelegenheit der Anstrengung und des tatsächlichen Vermögens. Berücksichtigt man die Zeit seiner Zusammenstellung, kann es nicht erstaunen, dass das Scheitern die Hauptsorge im Pentateuch ist. Sie reicht von der Vorhersage, dass die Israeliten den Bund mit Gott brechen werden, 23 und erstreckt sich bis in die Prophetenbücher, wo es bei Hosea sogar zur zwischenzeitlichen Aufkündigung des Bundes durch Gott selbst kommt: „ihr seid nicht mein Volk, so will ich auch nicht der Eure sein“. 24 Doch auch in letzterem Fall hat nicht Gott sein Volk im Stich gelassen, sondern das Volk Gott, indem es seinen Geboten nicht gehorchte. Geschichte in der hebräischen Bibel ist ein andauerndes Hin und Her zwischen Fortschritt und Abfall. Während Gottes Schwur gegenüber Noah, Abraham, Issak und Jakob zum Inhalt hatte, dass am Ende alles gut ausgehen wird, erinnern die Propheten fortgesetzt daran, dass auch alles in einer Katastrophe enden könne, wenn die Menschen nicht willens sind, ihren Teil der Bundesverpflichtung zu erfüllen. Einerseits ist das eine Erklärung – und in vielerlei Hinsicht auch eine Rationalisierung – des tatsächlichen Unglücks der nach Babylon Vertriebenen. 23 24
Vgl. Lev 26 und Dtn 28. Hos 1, 9.
Transzendenz und Geschichte
Andererseits ist es aber auch der Aufruf, die tätige Rolle bei der Gestaltung der Geschichte wieder aufzunehmen. Das Volk hat durch sein Handeln Gott im Stich gelassen, aber es kann immer wieder in den Bund zurückkehren, wenn es anders handelt. Kollektiv gesehen sind die Handlungen des Menschen weiterhin von Bedeutung. 25 Das Versprechen einer von Freiheit und Glück geprägten Zukunft ist entsprechend ein bleibender Antrieb der Geschichte. Das Wechselspiel von Verdammnis und Erlösung ist ein äußerst wirksames Mittel zur Bildung einer Gruppe, deren Ziel im grundlegenden Wandel gesellschaftlicher Beziehungen besteht. Die Geschichte des Exodus arbeitet, wie wir gesehen haben, mit der Erinnerung an den Zustand der ägyptischen Knechtschaft, um den angestrebten Freiheitszustand wie durch ein Negativ zu beschreiben. Die Propheten hingegen bedienen sich der Erinnerung an die Befreiung des Exodus. In einer Situation, in der erneut die Knechtschaft eingetreten ist, ist die Erinnerung an Aufbruch und Auszug von höchster Wichtigkeit. Die Rückkehr zu Gott darf deshalb nicht mit einer Rückkehr in gewohnte soziale Verhältnisse verwechselt werden. Sie ist vielmehr die Rückkehr zum Prozess der Befreiung. Als solche ist sie der Versuch einer Wiederholung. Vor diesem Hintergrund lässt sich dann auch die Logik der Erlösung angemessen beschreiben. Nicht zufällig ist der Messias eine Figur der Wiederkehr. Er verkörpert die Erinnerung an eine Befreiung, die nicht nur versprochen worden war, sondern bereits dabei war, verwirklicht zu werden. Der Messias – und das gilt auch für die Jesusfigur – ist deshalb immer ein Wiedergänger von Moses, der nun jene Ordnung errichten wird, in der alle Hoffnungen, die an die Befreiung geknüpft waren, aber bisher nicht erfüllt wurden, endlich erfüllt sein werden. 26 In dieser Rolle muss der Messias erneut die beiden Formen der Transzendenz verkörpern, die oben bereits angesprochen wurden. Der von außen kommende Aspekt der Transzendenz verbindet sich mit Vgl. Hos 2, 23 und viele andere Stellen in den Prophetenbüchern, wie etwa die Verschonung Ninives in Jona 3, 10. Auf individueller Ebene sieht die Sache allerdings anders aus, wie das dafür einschlägige Beispiel Hiobs zeigt. Hier lässt sich die Gnade Gottes nicht erzwingen, was eine der zentralen Einsichten ist, die von der Reformation wieder aufgenommen wurde. Umgekehrt bedeutet das aber auch, dass persönliches Unglück nicht automatisch als Konsequenz eines individuellen Fehlverhalten gedeutet werden darf. Vgl. zur Bedeutung der Hiobfabel für ein angemessenes Verständnis von Transzendenz Pirmin Stekeler-Weithofer: „Die Transzendenz der Wahrheit und der Gott des allgemeinen Blicks“, in: Rico Gutschmidt und Thomas Rentsch (Hg.): Gott ohne Theismus? Neue Positionen zu einer zeitlosen Frage, Münster 2016, S. 11–37, hier S. 23–28. 26 Explizit wird die Verbindung von Jesus zu Moses an zwei Stellen der Apostelgeschichte hergestellt (Apg 3, 22/23 und 7, 37), in denen Deuteronomium 18, 15 zitiert wird: „Einen Propheten wie mich wird dir der Herr, dein Gott, erwecken aus dir und aus deinen Brüdern; dem sollt ihr gehorchen.“ 25
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dem Messias, wenn dessen Kommen als quasi automatische Lösung aller menschlichen Sorgen und alles menschlichen Leidens erwartet wird. Der andere, interne Aspekt der Transzendenz besteht in der Bedeutung, die der Erwartung, Anerkennung und Annahme des Messias zukommt. Dieser Aspekt der Transzendenz mündet in die Forderungen nach Vorbereitung, Bereitschaft und Teilnahme des Gottesvolks. Entsprechend dieser beiden Aspekte hat der messianische Glaube einen Anteil, der das Gefühl und das Bedürfnis nach geschichtlicher Wirksamkeit abschwächt, und einen Anteil, der das Geschichtsbewusstsein verstärkt. Ohne den zweiten Anteil wäre die Hoffnung auf den Messias bloß die Erwartung einer wundersamen Erlösung, die sich in der Zeit, in der sie nicht erfüllt wird, mehr und mehr abnutzt. Der zweite Anteil hingegen führt zur Bildung messianischer Gemeinschaften, die die Erwartung durch einen Prozess der Selbsttransformation ergänzen. Wie Giorgio Agamben in dem Büchlein Die Kirche und das Reich ausgeführt hat, mussten die Paulinischen Gemeinden einen Effekt interner Selbsttransformation erfinden, als das zweite Kommen des Messias (die Wiederholung der narrativen Struktur ist auch hier unverkennbar) sich immer weiter verzögerte. Durch den Prozess der Selbsttransformation war es aber möglich, die Ordnung, die die Erlösung erst noch bringen sollte, vorwegzunehmen. Die christlichen Gemeinden mussten dazu zu sozialen Orten werden, an denen im Hier und Jetzt der Prozess der Selbsttransformation erlebt werden konnte. Die Erlösung durch den Messias hingegen wurde zum bloßen Abschluss einer bereits gelungenen Selbsttransformation. Dementsprechend ist die Zeit, die für diese Gemeinden entscheidend ist, nicht mehr irgendeine Zukunft in ungewisser Ferne, sondern immer das Jetzt. Die „Anwesenheit des Messias“, schreibt Agamben mit Bezug auf die paulinische Theologie, sei „ein schon, das auch ein noch nicht ist, eine Verzögerung, die kein Verschieben auf später ist, sondern ein Sprung, ein Bruch in der Gegenwart, der es uns erlaubt, die Zeit zu begreifen“. 27 Es ist dieses „schon, das auch ein noch nicht ist“, das die Spannung beschreibt, aus der das Geschichtsbewusstsein entsteht. Innerhalb der Gemeinde gelten bereits die neuen Regeln einer anderen Art, gemeinsam zu leben, die Regeln einer Lebensform, die noch nicht in Gänze möglich ist. Doch auch wenn das durch Solidarität geprägte Zusammenleben nur unvollkommen gelingen kann, erzeugt das Gemeindeleben doch Erfahrungen, durch die sich die kommende Form des gemeinsamen Lebens erahnen lässt, auch wenn das Leben außerhalb der Gemeinde und damit das Leben im Großen und Ganzen 27
Giorgio Agamben: Kirche und Reich, Berlin 2012, S. 23.
Transzendenz und Geschichte
noch durch andere Regeln bestimmt wird. Um der erfahrbaren Antizipation des neuen Lebens willen müssen die Gemeindemitglieder aber den kommenden, noch nicht in Gänze lebbaren Normen treu bleiben. Im Christentum hat es deshalb immer wieder Bewegungen gegeben, die die Erlösung in der Gegenwart suchten. Gegen die Institutionalisierungen des christlichen Glaubens bestanden sie auf der imitatio dei – der wiederholenden Nachfolge des exemplarischen Lebens von Jesus Christus, das als kompromisslose Hingabe an eine neue Lebensweise dargestellt wurde. Auch diese Bewegungen zehrten also von der spezifischen Figur der Wiederholung, die keine Rückkehr zu einem bereits verwirklichten Zustand meint, sondern die Wiederholung eines Bemühens.
5. Chance und Gefahr
Damit lässt sich nun auch die Frage beantworten, was die biblische Erzählung für Gruppierung, die die gesellschaftlichen Verhältnisse verändern wollen, so attraktiv macht. Wie sich gezeigt hat, ist das Geschichtsbewusstsein ein Effekt der Exoduserzählung des Pentateuchs, der seine Wirksamkeit auch noch im Zuge der Erwartung des Messias und sogar in der christlichen Erwartung seines zweiten Kommens bewahrt hat. Dieses Geschichtsbewusstsein beruht auf einer komplexen Art und Weise, sich zur Transzendenz ins Verhältnis zu setzen. Zunächst besteht eine Beziehung zu einer von außen kommenden Transzendenz, die die Subjekte historischer Wandlungsprozesse, die immer auch Subjekte einer Selbsttransformation sind, versichert, dass das Resultat des Prozesses der Gesellschafts- und Selbstveränderung keine Selbstzerstörung, sondern ein Fortschritt hin zu einer neuen, besseren Lebensform sein wird – obwohl dieser Prozess seiner Natur nach nicht vollkommen überschaubar sein kann. Dann aber beziehen sich diese Subjekte auch auf eine Transzendenz im Sinne einer Überwindung der herrschenden gesellschaftlichen Regeln und Beziehungen – eine Transzendenz hinsichtlich dessen, was in der Erzählung (ägyptische) Knechtschaft heißt. Diese zweite Transzendenz hängt vom Handeln der Menschen beziehungsweise der von ihnen gebildeten Gemeinschaften ab, die den Zustand der Befreiung oder Erlösung im Modus eines „schon, das auch ein noch nicht ist“ antizipieren müssen. Sie kommt deshalb nicht von außen, sondern ist dem Inneren des Transformationsprozesses eingeschrieben. Für Gruppierungen, die nach fundamentalen gesellschaftlichen Veränderungen streben, ergibt sich aus diesen biblischen Erzählungen eine starke Motivation, weil in ihnen die Handelnden eine Versicherung erfahren, dass ihre
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Mühen nicht vergebens sein werden. Zudem stellen sie ein Modell der Antizipation zur Verfügung, das die Ergebnisse der Veränderungen nicht bis zu einer Zeit aufschiebt, in der alle Schlachten geschlagen sind und der letzte Sieg errungen wurde. Vielmehr erlaubt es die Vorwegnahme der Befreiung, die Effekte des Wandels in dem sozialen Zusammenhang, der ihn vorantreibt, sofort und unmittelbar zu erleben. Jedoch ist die strukturelle Spannung zwischen den beiden Arten von Transzendenz – und das ist der entscheidende Nachteil der biblischen Verbindung von Transzendenz und Geschichte – äußerst instabil. Wie sich an jedem der bereits diskutierten Fälle zeigte, besteht immer die Gefahr, dass die komplexe Konstruktion auf die von außen kommende Transzendenz reduziert wird. Wenn das geschieht, werden willkürliche Prinzipien für verbindlich erklärt. Wer ihre Gültigkeit nicht anerkennt oder auch nur bezweifelt, wird zum Ketzer und in der Folge fast ausnahmslos mit Gewalt bekämpft. Zwar bieten die Wiederholungen und die wiederkehrenden Spannungen zwischen der erwarteten Erlösung und den tatsächlichen Schritten zu ihr hin im biblischen Narrativ einen gewissen Schutz vor dem Wunsch nach einem Abschluss des geschichtlichen Prozesses und damit vor solchen willkürlichen Setzungen. 28 Aber die Notwendigkeit, sich für eine neue Lebensform auf konkrete Regeln zu stützen, ist die tiefere Ursache dafür, dass Geschichte – die Selbsttransformation und Selbsterzeugung des gesellschaftlichen Lebens – eine gefahrvolles Unterfangen bleibt.
In diesem Sinne ist die bereits zitierte Verschonung Ninives eines der eindrucksvollsten Beispiele für die biblische Argumentation gegen das selbstgerechte Eifern. 28
Holm Tetens
„Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner“ 1 Eine etwas andere Lesart von Genesis 3
I
n unseren kulturellen Breiten kennt sie fast jeder: die Geschichte von Adam und Eva, genannt die Geschichte vom „Sündenfall“. Die mythische Erzählung von Adam und Eva hat sich tief in unser kulturelles Gedächtnis eingeschrieben. Es ist gut und unverzichtbar, dass wir in unseren Kulturen auch mythische Erzählungen teilen, sie sind oftmals tiefsinnige Sinnreservoire, aus denen wir schöpfen, wenn wir uns einen Reim auf das menschliche Leben zu machen versuchen. Aber die Erzählung von Adam und Eva hat heutzutage einen ausgesprochen schlechten Ruf und schweren Stand. In der mythischen Sündenfallgeschichte tauchen Vorstellungen und Ideen auf, die uns nur noch schwer verständlich sind oder die wir gar nicht mehr akzeptieren. Warum um alles in der Welt verbietet Gott den Menschen, vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen, was soll daran schlecht sein, Gutes und Böses unterscheidend zu erkennen? Wie kann es in einem von Gott perfekt geschaffenen Paradies überhaupt zu dieser peinlichen Panne kommen, an deren Ende die Vertreibung des ersten Menschenpaares aus dem Paradies steht? Warum wird das Essen vom Baum der Erkenntnis den Menschen als Kollektivschuld angerechnet und werden alle nachfolgenden Generationen dafür kollektiv in Haftung genommen? Warum schreibt der Text die Unterwerfung der Frau unter den Mann fest? Warum haben christliche Kirchen und ihre Theologen immer wieder Menschen mit dem Verweis auf die vermeintlich durch Adam und Eva in die Welt gebrachte „Erbsünde“ in Angst und Schrecken versetzt? Nein, die sogenannte „Sündenfallgeschichte“ ist für uns ein sperriger und in manchem schlicht inakzeptabler Text. Welchen Sinn für das menschliche Dasein vermag sie uns noch zu erschließen? Können, müssen wir die „Sünden-
Ursprünglich konzipiert als Kanzelrede im Rahmen der sogenannten Fastenpredigtreihe „Demut – Was uns zügelt“ am Berliner Dom am 29. März 2020, wegen Corona ausgefallen. 1
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Holm Tetens
fallgeschichte“ anders lesen? Versuchen wir den Text von Genesis 3 einmal anders zu lesen. Da hat also Gott eine Welt geschaffen und als krönenden Abschluss den Menschen als Teil dieser Welt. Der Mensch bekommt den Auftrag, diese Welt zu verwalten, sie in Ordnung zu halten, sie mitzugestalten. Gott selbst beurteilt seine Schöpfung ausdrücklich als gut. Ist damit nicht alles genauso, wie es sein soll? Ist damit nicht alles gut, eben paradiesisch perfekt? Nein. Keineswegs ist schon alles so, wie es sein soll. Stellen wir uns vor, der Mensch lebt zufrieden und fraglos im Einklang mit Gottes Geboten in diesem paradiesischen Garten Eden. So weit, so gut. Aber stellen wir uns weiter vor, der Mensch ist sich gar nicht bewusst, wie es um ihn steht. Er macht sich gar nicht klar, dass er in einer Welt lebt, die Gott geschaffen hat, dass auch er, der Mensch selber, ein Geschöpf Gottes ist. Solange der Mensch gewissermaßen in naiv unschuldiger Unwissenheit seine Tage zubringt, und sei es auch im Paradies, er jedoch gar nicht mitbekommt, wie es um ihn steht, bleibt der Mensch weit unter seinen Möglichkeiten, die damit verbunden sind, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde schuf. Es zeichnet den Menschen ja aus, dass er sich selbst denken kann, dass er seine besondere Stellung in der Welt erkennen und würdigen und sich zu ihr in Freiheit verhalten kann. Der Mensch soll nicht naiv selbstvergessen als Geschöpf Gottes leben, er soll sich seiner besonderen Lage auch bewusst sein und sie aus freier Einsicht würdigen, nicht als Marionette, nicht als Gedankenpapagei Gottes. Nicht von Ungefähr steht im Zentrum der von Gott geschaffenen Welt der Baum der Erkenntnis. Wie paradiesisch die Welt also auch sein mag, auf Seiten des Menschen steht noch Entscheidendes aus, solange der Mensch nicht in Selbsterkenntnis und Selbstbewusstwerdung seine ihm von Gott zugewiesene Stellung in der Welt erkennt. Lesen wir Genesis 3 doch einmal so, dass der Text die Selbstbewusstwerdung des Menschen thematisiert. Und zwar schildert Genesis 3, darin ungeheuer tiefsinnig, die Selbstbewusstwerdung des Menschen als ein riskantes Drama, als ein riskantes Drama für den Menschen, aber auch für Gott. Was ist riskant an der Selbstbewusstwerdung des Menschen, was macht die Selbstbewusstwerdung des Menschen für ihn und seinen göttlichen Schöpfer zum Risiko und damit zu einem Drama? Es ist im Grunde genommen ganz einfach. Wenn Menschen eine Sache vernünftig erkennen und sich ihrer bewusst werden, dann müssen sie sich auch ernsthaft mit der Möglichkeit auseinandersetzen, sie könnten sich irren und das Gegenteil der Sache könnte der Fall sein. Wer etwas für wahr hält, muss direkt oder indirekt gute Gründe haben, warum das Gegenteil nicht wahr sein kann. Das gilt für alles, worauf wir uns geistig bewusst und selbstbewusst
„Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner“
beziehen. Es gilt auch für unseren Bezug auf Gott. Soll ich vernünftig erkennen, dass ich ein Geschöpf Gottes bin, muss ich die Freiheit haben, auch das Gegenteil ernsthaft zu bedenken, es könnte falsch sein, dass ich ein Geschöpf Gottes bin, dass es Gott gar nicht gibt, dass ich selber Gott bin, dass ich ohne Gott auskomme und dergleichen mehr. Ich kann mir meiner selbst als Geschöpf Gottes nur bewusst werden um den Preis der Freiheit, das Gegenteil ernsthaft zu erwägen und möglicherweise am Ende auch anzunehmen und zu glauben. Ich kann mir meiner selbst als Geschöpf Gottes nur bewusst werden um den Preis der Freiheit, mich vom Gottesgedanken und von Gott loszusagen. Genau darauf hebt die Sündenfallgeschichte ab. Man sollte das Gespräch zwischen der Schlange und Eva als eine Selbstreflexion der Menschen deuten. Der Mensch soll in Freiheit erkennen, dass er Mensch und nicht Gott ist. Aber das erkennt er nur, wenn er innehält und überlegt, wie auch Eva im Gespräch mit der Schlange überlegt: „Einen Augenblick mal, stimmt denn das wirklich, dass ich nicht Gott bin? Kann ich nicht selber so klug werden wie Gott? Droht Gott nur mit dem Tod, weil er eifersüchtig auf seine Sonderrolle bedacht ist? Ist die Drohung mit dem Tod nur ein Trick Gottes, uns Menschen davon abzuhalten, uns durch den Verzehr der Früchte vom Baum der Erkenntnis die Augen öffnen zu lassen und selber zu erkennen, was gut und böse ist?“ Nicht dass Eva diese Gedanken ernsthaft erwägt, ist ein Problem und ist ihr vorzuwerfen, gar moralisch vorzuwerfen. Nein, diese geistige Freiheit zum grundsätzlichen Zweifel muss sie sich sogar herausnehmen. Problematisch wird es erst, wenn sie ernsthaft glaubt, was nicht der Fall ist, nämlich dass sie selbst Gott ist oder wie Gott sein kann. Die Selbstreflexion und Selbstbewusstwerdung des Menschen macht sich in der mythischen Erzählung fest an dem Verbot, nicht von den Früchten des Baumes der Erkenntnis zu essen. Dieses Verbot kann nicht so gemeint sein, dass der Mensch nichts von der Welt und sich selbst erkennen soll. Wir sollen nicht dumm und uns über unsere Lage in der Welt im Unklaren bleiben. Gott warnt nicht vor dem Baum der Erkenntnis. Der Baum der Erkenntnis hat in der von Gott geschaffenen Welt seinen legitimen Platz im Zentrum. Der Baum der Erkenntnis ist insofern nicht mit seinen Früchten identisch. Er hat nur auch verbotene Früchte, und Gott warnt uns, von ihnen zu essen. Sie zu essen, steht deshalb für den Fall, tatsächlich der Versuchung zu erliegen, sich von Gott loszusagen. Diese Versuchung aber, sich von Gott loszusagen, sich nicht als Geschöpf Gottes zu begreifen und zu akzeptieren, ist unweigerlich mit der Selbsterkenntnis und Selbstbewusstwerdung des Menschen verbunden. Das ist das Riskante, das Dramatische am Prozess der Selbstbewusstwerdung des Menschen.
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Adam und Eva essen von den verbotenen Früchten des Baumes der Erkenntnis. In der hier vorgeschlagenen Lesart ist das so zu übersetzen: Sie erliegen der Versuchung, sich nicht als Geschöpfe Gottes zu begreifen, sie erliegen der Versuchung, ernsthaft zu glauben, sie könnten ohne Gott leben und sie könnten die Rolle Gottes selber übernehmen. Es handelt sich nicht um ein einmaliges Ereignis einer mythischen unvordenklichen Vorzeit. Vielmehr ist es ein Vorgang, der uns allen wohl vertraut ist. Die Sündenfallgeschichte hebt auf die fundamentale anthropologische Tatsache ab, die die ganze Geistesgeschichte des Menschen durchzieht: Wir Menschen werden uns unserer selbst bewusst um den Preis, uns immer wieder auch ohne Gott zu denken und uns vom Gottesgedanken loszusagen. Es hat Folgen, in dieser Weise von unserer geistigen Freiheit Gebrauch zu machen. Das Wichtigste zuerst. Gott akzeptiert ausdrücklich, dass wir geistig zu freien und selbstverantwortlichen Wesen erwacht sind. Und er tastet nicht unsere geistige Freiheit an, auch wenn sich diese Freiheit gegen ihn richten kann und auch tatsächlich immer wieder richtet. Im biblischen Text kommt diese Anerkenntnis unserer geistigen Freiheit, die auch den Zweifel an Gott, ja die Leugnung Gottes einschließt, in einem Selbstgespräch Gottes zum Ausdruck – und das ist eine der aufregendsten Stellen in Genesis 3 –: „Siehe der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist.“ Von dieser Bewusstheit und Selbstbewusstheit der Menschen nimmt Gott nichts zurück. Von nun an ist sie die Grundlage der Gott-Mensch-Beziehung. Man fragt sich fast unwillkürlich, in welcher Gemütslage Gott uns als freie Wesen akzeptiert, auch wenn die Freiheit ausartet in der Anmaßung des Menschen, ohne Gott auskommen zu können. Ist ihm ein wenig unheimlich zu Mute? Könnte nicht auch Gott wie Sophokles sagen: „Ungeheuer ist viel, doch nichts ungeheurer als der Mensch“ 2? Dass Gott unsere geistige Freiheit, die sich auch immer wieder gegen ihn wenden kann, respektiert, wird bekräftigt durch die sogenannten Strafen, die in Wahrheit keine Strafen sind. In der Sündenfallgeschichte verbannt Gott die Menschen zur Strafe aus dem Garten Eden in eine Welt voller Dornen, Disteln, Schmerzen und vergeblicher Anstrengungen mit tödlichem Ausgang. Aber in Wahrheit ist das keine bloß äußerliche Bestrafung. Vielmehr mutet Gott uns zu, die Konsequenzen unseres Denkens und Wollens auch erst einmal in Kauf zu nehmen. Wir finden uns in einer Welt vor, wie wir sie offensichtlich denken und haben wollen, nämlich eine Welt ohne Gott, eine Welt, in der bestenfalls wir die Rolle Gottes glauben spielen zu sollen und zu können. Denn die 2
Sophokles: Antigone, 2. Akt, VV 332–333.
„Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner“
menschliche Erfahrungswelt ohne Gott zu denken und in ihr ohne Vertrauen in Gottes schöpferisches und heilsames Wirken zu leben, lässt die Welt zu einer prinzipiell prekären und am Ende hoffnungslosen Angelegenheit werden. Drei prekäre Merkmale dieser Welt sind offenkundig: Wir Menschen sind als Individuen wie als Gattung eine vorübergehende, randständige und bloß zufällige Episode in einem Universum, dem wir Menschen und unser Schicksal vollkommen gleichgültig sind. Unser Leben bricht als unvollendetes Fragment ab. Unsere Verstrickung als Täter und Opfer in die Übel und Leiden wird auf ewig unaufgeklärt und unaufgelöst bleiben. Auch der Tod ist eigentlich keine Strafe. „Und Gott der Herr sprach: Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, dass er nur nicht ausstrecke seine Hand und nehme auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich!“ 3 Der Tod wird hier ebenfalls nicht als Strafe gedeutet. Vielmehr fürchtet Gott die Folgen eines zeitlich unbeschränkten Lebens. Warum? In der Sündenfallgeschichte geht es um die Anmaßung des Menschen, selber Gottes Rolle übernehmen und die Welt von allen Übeln und Leiden erlösen zu können. Aber wir Menschen können uns nicht selbst erlösen. Solche Versuche enden in der Katastrophe. Gott müsste um das Heil der Welt fürchten, könnten Menschen zeitlich unbegrenzt in ihrer Hybris einer Selbsterlösung fortfahren. Daher ist drittens der Tod als Begrenzung menschlichen Trachtens eine konsequente Folge der Anmaßung des Menschen, auf Gott nicht angewiesen zu sein. Der Mensch muss und soll in Freiheit erkennen, dass er Mensch ist und nicht Gott. Gott ist Gott und Mensch ist Mensch. Das ist, wie Luther sehr prägnant sagt, die Summe des Glaubens. Dieser Glaube bedarf einer besonderen Demut. Denn, das ist die Quintessenz der tiefsinnigen Sündenfallgeschichte, unser geistiges Erwachen und unsere Selbstbewusstwerdung steht unter dem ungeheuren Diktum aus dem Munde Gottes: „Siehe der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist.“
3
Gen 3, 22.
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Susanne Herrmann-Sinai
Philosophieren als Übersetzen
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n Hegels Philosophie des subjektiven Geistes gibt es mehrere merkwürdig scheinende Erwähnungen von Mechanismus. Merkwürdig deshalb, weil Mechanismus beispielsweise in kompatibilistischen Theorien mit Determinismus konnotiert und damit als Gegenteil von Freiheit konzipiert ist. Freiheit als Selbstbestimmung ist aber laut Hegel selbst der eigentliche Motor der gesamten Philosophie des Geistes. In diesem Beitrag werde ich zunächst (1) am Beispiel des habituellen Zuhörens umreißen, inwiefern „Mechanismus“ ein notwendiger Zwischenschritt zur Selbstbestimmung ist. In einem zweiten Schritt (2) werde ich Hegels Begriff von „Mechanismus“ im Kontext seiner Philosophie des Geistes mit dem Begriff der „Hypernormalisierung“ parallelisieren, der auf den Linguisten Alexei Yurchak zurückgeht. Das erlaubt uns in einem dritten Schritt (3), Formen von Mechanisierung oder Hypernormalisierung in anderen Kontexten, z. B. der Philosophie, zu identifizieren. Wie schon im subjektiven Geist, sind solche Formen keineswegs eine Einschränkung der Freiheit des Geistes, sondern eine notwendige Bedingung der eigentlichen Selbstbestimmung. Schließlich möchte ich argumentieren, dass sowohl sprachliches als auch philosophisches Übersetzen diesen zweiten Schritt, den der eigentlichen Selbstbestimmung, der auf Mechanisierung bzw. Hypernormalisierung gegründet ist, bewusst machen können.
1. Mechanismus in der Philosophie des Geistes
Im § 410 der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (GW 20) heißt es: Die Gewohnheit ist wie das Gedächtnis ein schwerer Punkt in der Organisation des Geistes; die Gewohnheit ist der Mechanismus des Selbstgefühls wie das Gedächtnis der Mechanismus der Intelligenz. Die natürlichen Qualitäten und Veränderungen des Alters, des Schlafens und Wachens sind unmittelbar natürlich; die Gewohnheit ist die zu einem Natürlichseienden, Mechanischen gemachte Bestimmtheit des Gefühls, auch der Intelligenz, des Willens usf., insofern sie zum Selbstgefühl gehören. Die Gewohnheit ist mit Recht eine zweite Natur genannt
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Susanne Herrmann-Sinai
worden, – Natur, denn sie ist ein unmittelbares Sein der Seele, – eine zweite, denn sie ist eine von der Seele gesetzte Unmittelbarkeit, eine Ein- und Durchbildung der Leiblichkeit, die den Gefühlsbestimmungen als solchen und den Vorstellungs[und] Willensbestimmtheiten als verleiblichten (§ 401) zukommt.
Hegel diskutiert hier die Herausbildung einer Gewohnheit im Kontext der „fühlenden“ Seele. Die fühlende Seele bezieht sich auf sich selbst, indem sie etwas empfindet, bis sie erkennt, dass das Allgemeine der Empfindung nur die reproduzierbare Form des Aktes des Empfindens ist und sich durch diese Einsicht vom kontingenterweise gegebenen Inhalt der Empfindung befreit. Wir können das am Beispiel des Schrittes vom Klang einer Stimme zum Ton verdeutlichen, den Hegel im erwähnten § 401 der Enzyklopädie diskutiert. Der Klang einer Stimme löst eine Empfindung aus, die sich auf den Sprechenden bezieht. Jene Empfindung ist so ursprünglich mit einer Sympathie oder Antipathie gegenüber dem Sprechenden verbunden. 1 Sympathie und Antipathie stellen den affektiven Gehalt des Klangs einer Stimme dar, den der Hörende beim ersten Hören kontingenterweise assoziiert. Aber die Gewöhnung, die bei wiederholtem Hören eintritt, macht den Hörenden so vertraut mit dem Klang, dass der affektive Gehalt immer mehr zurücktritt. Als Beispiel kann man hier an ein Baby denken, das lallende Laute der emotionalen Hauptbezugsperson nachahmt, oder an jemanden, der Singen lernt und seine Stimme durch Anleitung trainiert.Was der Hörende schließlich hört, ist nicht mehr der affektive Gehalt, sondern allein der produzierte Klang, den er selbst reproduzieren kann. Hegel nennt diesen Schritt eine „Befreiung“, 2 denn durch das Zurücktreten des affektiven Gehalts kann sich der subjektive Geist in seinem eigenen Produkt – den selbst produzierten Klang – auf sich selbst beziehen. 3 Dieser Schritt im Prozess der Gewöhnung ist es, was Hegel „Mechanismus des Selbstgefühls“ nennt. 4 Wäre dies alles, was zur Gewöhnung innerhalb der „In dem Wohlklange derselben glauben wir daher die Schönheit der Seele des Sprechenden, in der Rauhigkeit seiner Stimme ein rohes Gefühl mit Sicherheit zu erkennen. So wird durch den Ton in dem ersteren Falle unsere Sympathie, in dem letzteren unsere Antipathie erweckt.“ (G. W. F. Hegel, Werke in 20 Bänden, Bd. 10: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes. Mit den mündlichen Zusätzen, Frankfurt: Suhrkamp 1986: § 401 Zusatz). 2 GW 20, § 410 Anm.: „Die wesentliche Bestimmung ist die Befreiung, die der Mensch von den Empfindungen, indem er von ihnen affiziert ist, durch die Gewohnheit gewinnt.“ 3 Vgl. Elisa Magrì: „The rules that we follow in habit are those that we have given ourselves in the originary act of learning, but we no longer need to recall them to perform the habitual action. Thus, the self constantly refers to itself without having itself as content of thought.“ („A Note on Some Contemporary Readings of Hegel’s Master-Servant Dialectic“. Cosmos and History: The Journal of Natural and Social Philosophy 12/1 (2016), S. 238–256: 253). 4 GW 13: Vorlesungen zur Philosophie des Geistes, S. 125 (97/98): „Hier ist die Allgemein1
Philosophieren als Übersetzen
Philosophie des Geistes zu sagen wäre, dann unterschieden wir uns wenig (aber doch ein wenig) von konditionierten Tieren. Diesem ersten Schritt folgt jedoch ein zweiter, in dem der Klang als potentieller Bedeutungsträger zur Verfügung steht und mit einem eigenen Inhalt bestimmt werden kann. Wenn Hegel später, innerhalb der Psychologie, vom Gedächtnis als „Mechanismus der Intelligenz“ spricht, erfahren wir, wie er den zweiten Schritt versteht. Dort diskutiert er, inwiefern die reproduzierte Form, durch die sich der Geist auf sich selbst bezieht, als Sprache bestimmt werden kann. Der gewohnte Klang erhält einen besonderen Inhalt, eine Bedeutung, die dem habituierten, von seinem ursprünglichen Gehalt befreiten Klang verliehen wird. 5 Dies ist eine Selbstbestimmung, weil der durch mechanische Wiederholung gewohnt gewordene Klang als ein Produkt des Geistes verstanden werden kann. Und dieses Produkt ist nicht nur das, durch das sich der Geist auf sich selbst bezieht, sondern es kann selbst wieder inhaltlich bestimmt werden. Um auf das Beispiel des Singenlernens oder Instrumentlernens zurückzukommen: Wenn ich Klavier spielen gelernt habe, dann muss ich beim Aktualisieren meiner Fähigkeiten nicht den Lernprozess reproduzieren oder mich bewusst an die Situationen erinnern, in denen ich die Bewegungen oder die Gesangstechniken gelernt habe. 6 Die Muskelbewegungen sind mir zur zweiten Natur geworden, was eine Befreiung von der Lernsituation oder einer Reihe von Lernsituationen darstellt. In einem zweiten Schritt steht es mir aber frei, den erzeugten Klängen einen Inhalt zu verleihen, wie bestimmte Emotionen, die ich mit der Musik aus teils kontingenten Gründen assoziiere. Viele wesentliche Zwischenschritte (Herausbildung von Zeichen, Symbolen und Namen sowie deren Bezug zum Angeschauten und der Tatsache, dass sowohl der gesprochene Laut als auch die Anschauung, auf die er sich bezieht in der Zeit sind 7) sind hier ausgelassen worden, die Hegel ausführlich bei seiner Diskussion der Herausbildung einer natürlichen Sprache behandelt. 8 Und selbstverständlich ist der Unterschied zwischen Musik und Sprache heit hervorgebracht, geht hervor vom einzelnen Fall. Dies enthält die Bestimmung, daß, was uns zur Gewohnheit werden soll, ein Wiederholtsein von Empfindungen ist, Gewohnheit zieht man sich durch Wiederholung zu, daß das Einzelne einer Allgemeinheit angeeignet ist.“ – Und S. 130 (104): „Was man aus Gewohnheit tut, tut man ohne Gedanken, mechanisch, […].“ 5 Lucia Ziglioli, „World of Representation and Thought: Hegel on Subjective Knowing“. Hegel’s Philosophical Psychology, ed. by S. Herrmann-Sinai and L. Ziglioli, Abingdon: Routledge 2016, S. 104–124: 113 ff. 6 Elisa Magrì, „The Place of Habit in Hegel’s Psychology“. Hegel’s Philosophical Psychology, 74–90: 79. 7 Vgl. GW 20, § 459. 8 Vgl. Ziglioli 2016.
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der, dass wir es bei natürlichen Sprachen nicht allein der kontingenten und individuellen Assoziation des Sprechers überlassen wollen, mit welchem Inhalt eine Lautfolge bestimmt wird. In beiden Fällen aber finden wir die Zweischrittigkeit von Befreiung durch mechanische Gewöhnung und Selbstbestimmung des Inhalts. Dennoch ist ein Missverständnis mit Bezug auf natürliche Sprachen zu vermeiden. Das bisher Gesagte könnte so verstanden werden, dass wir in einem ersten Schritt zunächst einer Konditionierung unterliegen (wie sie etwa auch bei Tieren möglich sein mag), in der wir uns mechanisch mit einer Lautfolge vertraut machen, um sie dann in einem zweiten Schritt erst inhaltlich subjektiv zu bestimmen. Mehrere Faktoren wären aber an diesem Bild problematisch, zum Beispiel, dass eine Konditionierung, die, wie im Fall tierischer Konditionierung, selbst nicht als Befreiung verstanden werden kann, nicht erklären kann, wie sie die Grundlage für eine spätere Selbstbestimmung sein mag. Um einem anderen Missverständnis vorzubeugen, dass die Selbstbestimmung des Inhalts beliebig sei, schreibt Richard Winfield: […] it would be a mistake to condemn Hegel for here reducing language to the ostensive reference of naming. Instead, what Hegel here provides is the elemental semiotic factor which individuals can and must possess before acquiring thought and language. Once individuals have given themselves this psychological product they are in a position to interact in terms of the commonly intuitable expressions they give to their signs in face of commonly perceivable objects. Only by having produced signs beforehand do they have something to ‘triangulate’ in the intersubjective process of baptising a communicably intelligible name, where individuals recognize one another, associating the same name with the same sort of object, and sustain that practice. 9
Wofür Winfield hier plädiert, ist, die Selbstbestimmung, von der Hegel spricht, nicht als einen subjektiven Akt zu begreifen, die in das Problem der Privatsprache münden würde, sondern als einen „Taufakt“. Auch wenn dies keine Metapher ist, die Hegel selbst verwendet, finde ich sie äußerst passend, um sowohl die Selbstbestimmung als auch das Element einer ihr vorhergehenden intersubjektiven Gemeinschaft zu fassen. Um es weniger biblisch zu formulieren, können wir die „Taufe“, von der Winfield spricht, als „selbstbestimmte Übersetzung“ begreifen. Sie ist selbstbestimmt, weil der Gehalt des Namens nicht durch das bestimmt ist, was zum Klang zufällig beim Lernprozess mitassoziiert wurde. Warum aber soll sie eine „Übersetzung“ sein, wenn es doch hier um die Entstehung von Sprache gehen soll? Richard Winfield, “Hegel and the Origin of Language”, in: Hegel’s Philosophical Psychology, S. 91–103: 98. 9
Philosophieren als Übersetzen
Die Überlegungen der Psychologie wie auch der gesamten Abschnitte des subjektiven Geistes beruhen auf dem Ausblenden der Komplexität real existierender Sprachpraxen. Denn es ist klar, dass diese Überlegungen schon von einem sprachkompetenten Autor angestellt und aufgeschrieben worden sind. Von dieser Sprachkompetenz abstrahiert Hegel einerseits, indem er sich in die Perspektive des Sprachlerners begibt, setzt sie aber andererseits voraus, indem er diesen Bildungsprozess sprachlich formuliert. Hegel gibt in diesem Abschnitt keine Antwort auf die Frage nach dem historischen Ursprung von Sprache oder den ersten Moment der Sprachwerdung bei intelligenten Tieren. Aus begrifflichen Gründen können wir auf diese Frage keine philosophische Antwort im Sinne der Philosophie des Geistes geben. Denn jede philosophische Antwort auf diese Frage, die dem Sinn der Selbsterkenntnis, wie er für die gesamte Philosophie des Geistes einschlägig sein soll (GW 20, § 377), gerecht werden will, muss von einem bereits gebildeten Subjekt, das Teil einer objektiven und rationalen Welt ist, angestellt werden. Es gibt keine erstpersonale Perspektive auf die ersten Schritte des Sprachenlernens einer Erstsprache, wie Hegel sie scheinbar beschreibt, eine Perspektive, die zugleich die des Lernens wie auch die der Reflektion auf dieses Lernen wäre. Wir können uns jedoch sehr gut in das Erlernen einer Zweitsprache nach dem Erwerb einer Erstsprache hineindenken und in diesem Prozess sowohl Lernende als auch Reflektierende sein. 10 Und aus der philosophischen Reflexion darauf lässt sich womöglich Verschiedenes über den Spracherwerb überhaupt lernen. Aus diesem Grund halte ich den Begriff „selbstbestimmte Übersetzung“ an dieser Stelle für angebracht, um zu verstehen, wie genau Hegel den zweiten Schritt, der dem Mechanismus der Gewöhnung folgt, versteht. Beim Lernen einer Fremdsprache wird die Lautfolge [ˈæpl] (engl. apple) oder [jáblaka] (russ. яблоко) mit der Bedeutung von „Apfel“ getauft. Die Aufforderung des Lehrenden, die Lautfolge [jáblaka] zu wiederholen, weil es sich dabei um die Lautfolge der russischen Vokabel für „Apfel“ handelt, 11 entspricht dabei dem Stadium von Sympathie und Antipathie gegenüber den Sprechenden als der kontingente, affektive Gehalt des Klangs. Durch Wiederholung und Gewöhnung weicht dies der Bestimmung der Gemeinschaft der Lernenden mit deutscher Erstsprache, die Lautfolge selbst mit der schon in der bekannten BedeuDiese Überlegung unterstellt freilich eine klare Trennung zwischen Erst-/Muttersprache und Zweitsprache(n), die in der Realität nicht immer so gegeben sein muss. 11 Dass hier nur ein Wort gelehrt wird, soll nur das Argument vereinfachen. Tatsächlich ist der Anfang des Lernens einer Fremdsprache oft mit dem Lernen von holistischen „chunks“ oder „frozen phrases“ wie Grußformeln oder touristische Standardfragen erfolgreich. Auf den letzten Begriff werden wir weiter unten zurückkommen. 10
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tung zu assoziieren. Dem Element der Gewöhnung folgt die Selbstbestimmung. Die „Taufe“ einer Lautfolge mit einer bestimmten – in der Erstsprache schon bekannten – Bedeutung erfolgt so nicht im leeren Raum, sondern innerhalb einer schon existierenden sozialen Sprechergemeinschaft und somit als selbstbestimmte Übersetzung. Wenn diese Überlegungen plausibel sind, dann liegt im Begriff des „Übersetzens“ ein philosophisches Problem, das auf allgemeinerer Ebene adressiert werden kann. Das ist selbst kein neuer Gedanke, sondern mindestens so alt wie die die theoretischen Überlegungen, die die Übersetzungen von heiligen Texten begleitet haben, etwa F. Schleiermacher. Im Folgenden möchte ich aber nicht zur Hermeneutik sprechen, sondern den Begriff der „Hypernormalisierung“ des Anthropologen und Linguisten Alexei Yurchak heranziehen, der uns erlauben wird, Hegels Rede vom „Mechanismus“ innerhalb seiner Philosophie des Geistes auch auf andere Bereiche als den des Sprachenlernens anzuwenden und damit auch den Begriff der selbstbestimmten Übersetzung.
2. Hypernormalisierung
Yurchak untersucht anhand der späten Jahre des Sozialismus der Sowjetunion in seinem Buch Everything Was Forever, Until It Was No More. The Last Soviet Generation 12 die Rolle von Sprache in einer Diktatur. Öffentliche Sprache, die vor allem dazu diente, die Ideen sozialistischer Propaganda zu kommunizieren und im öffentlichen Bewusstsein zu manifestieren, sei demnach durch zwei Prozesse geprägt gewesen, die uns verstehen lassen, welche Rolle diese Sprache für Individuen und in ihrem Alltag spielte. Diese beiden Prozesse sind zum Ersten eine „performative Verschiebung“ (performative shift), zum anderen „Hypernormalisierung“ (hypernormalization). Für das Verständnis der performativen Verschiebung bedient sich Yurchak der Sprechakttheorie J. L. Austins 13 und dessen Unterscheidung zwischen der beschreibenden und der performativen Funktion eines Sprechakts. In der Entwicklung der Propagandasprache der sowjetischen Diktatur sei es ab einem bestimmten Zeitpunkt zu einem Stillstand im Vokabular gekommen, in dem Ideologie diskutiert wurde. Worte und Phrasen wurden schlicht wie-
Princeton University Press 2005. – Teile der hier vorgetragenen Argumentation sind bereits auf www.praefaktisch.de veröffentlicht worden. 13 How to do things with words (Harvard University Press 1962) bei Yurchak diskutiert ab S. 19. Austin differenziert diese binäre Unterscheidung später weiter. 12
Philosophieren als Übersetzen
derholt, Sätze versteiften (frozen) 14 und wurden nur neu angeordnet, so dass nach und nach die beschreibende, feststellende Ebene des Sprechaktes zugunsten der performativen Dimension zurücktrat. 15 Es sei wichtiger gewesen, dass etwas gesprochen wurde und dass ein Akt vollzogen wurde – wie der Wahlzetteleinwurf bei einer verpflichtenden Wahl mit nur einem Kandidaten – als was damit gesagt, ausgedrückt oder veranlasst wurde. Dies ist mit „performativer Verschiebung“ gemeint. Indem Yurchak die performative Verschiebung als Kategorie zum Verständnis der späten Jahre des Sozialismus betont, argumentiert er gegen zwei gleichermaßen simplifizierende Klischees. Das eine Klischee besteht darin, dass alle Bürger der Sowjetunion und ihrer Bruderstaaten die öffentliche Propaganda eins zu eins glaubten und internalisierten, das andere, dass eigentlich alle Leute in Opposition zur offiziellen Linie standen. Propagandasprache unter dem Blickwinkel der performativen Verschiebung zu analysieren, gestattet es Yurchak, einen Freiheitsspielraum auszuloten, der selbst in sozialistischen Diktaturen vorhanden war. In der Wiederholung, der Wiederaufführung, dem ständigen Vollzug bedeutungslos gewordener Propagandaphrasen liegt, so Yurchak, eine subjektive Freiheit, der er eine „enabling function“ 16 zuspricht und der sogar eine Kreativität innewohnen kann. Der zweite Prozess, die „Hypernormalisierung“, tritt dann ein, wenn die beständige performative Reproduktion der Propagandasprache zum Selbstzweck wird. Damit ist gemeint, dass die Fähigkeit, diese Sprachphrasen angemessen zu wiederholen, jemanden als „normalen“ Bürger auszeichnete. 17 Ob der Sprecher dabei aber die gemeinte Bedeutung der Lautfolge im Sinn hatte oder nicht, ist dabei eine ganz andere Frage. Wenn wir hier auf Hegels Formulierung der Gewöhnung als Mechanismus zurückgreifen, ist es leicht zu sehen, dass „performative Verschiebung“ und „Hypernormalisierung“ Begriffe derselben Kategorie sind. Der Mechanismus der Gewöhnung geschieht aus performativer Wiederholung. Von Hyper„[…] it became less important to read ideological representations for ‚literal‘ (referential) meanings than to reproduce their precise structural forms.“ (Yurchak 2005, S. 14) „the form of the ideological representations became fixed and replicated – unchanged from one context to the next.“ (S. 14) „This also made the constative dimension of discourse increasingly unanchored, indeterminate, and often irrelevant.“ (S. 25) „The normalized and fixed structures of this discourse became increasingly frozen and were replicated from one context to the next practically intact.“ (S. 26) 15 Ibid., S. 22. 16 Ibid., S. 27. 17 „Participating in these acts reproduced oneself as a ‚normal‘ Soviet person.“ (Ibid., S. 25) 14
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normalisierung spricht man dagegen, so möchte ich hier behaupten, wenn der für Hegel zweite wesentliche Schritt, der der selbstbestimmten Übersetzung oder „Taufe“, nicht geschieht. Von beiden Prozessen, sowohl der performativen Verschiebung als auch der Hypernormalisierung sowie der innewohnenden Kreativität gibt die Witzekultur der DDR ein Beispiel. Oft beruhte ihre Pointe auf dem Sprachspiel mit Propagandaphrasen, inszenierten Missverständnissen oder intendierter Umdeutung und Doppeldeutigkeit von gefrorenen Phrasen. Zugleich war die Witzkultur Ausdruck dessen, der hypernormalisierten Propagandasprache mit dem Ansatz einer selbstbestimmten Übersetzung zu begegnen. Es war der Versuch der Bedeutungstaufe in einem Kontext, der das eigentlich nicht erlaubte. Hier ein Beispiel: Eine ältere Frau in Berlin, die gerade erst angereist ist, fragt einen Passanten „Sagen Sie, wo ist denn hier das Prinzip?“ Der Passant fragt verwundert, was das sein soll. Darauf die Frau „Erich Honecker hat gesagt, in Berlin könne man im ‚Prinzip‘ alles kaufen.“
Der Erzähler dieses oder ähnlicher Witze bewies durch das Erzählen, dass er ein kompetenter Teilnehmer des sozialistischen Diskurses war und dass er den Mechanismus der Gewöhnung verstanden und vollzogen hatte. Zugleich stellte er die „gefrorenen Ausdrücke“ der sozialistischen Redenkultur über Warenmangel und über den Sonderstatus Berlins in einen neuen Kontext, der eine andere als die ursprünglich intendierte Inferenz zuließ. Und in dieser Neudeutung lag der Versuch einer selbstbestimmten Übersetzung, die Ausdruck subjektiver Freiheit ist, wie sie in einer Diktatur gerne unterbunden wurde. 18 Hypernormalisierte, öffentliche Sprache lässt sich in erster Linie durch den Verlust des beschreibenden Elements verstehen.Verliert die öffentliche Sprache dieses Element, sind Worte kein Medium mehr, in dem Bedeutungen öffentlich artikuliert und ausgetauscht werden können. Hypernormalisierte Sprache reduziert Äußerungen im intersubjektiven Dialog auf ein subjektives Vehikel, das zwar für den Moment des Sprechens seinen Zweck erfüllt – dessen Bedeutung jedoch nicht in einem intersubjektiven Diskurs entwickelt wird und lebendig bleibt. Denn ein solcher Diskurs wurde ja gerade unterbunden. Bedeutungen werden so rein subjektiv, jede Wahrheit bleibt eine gefühlte Wahrheit – das, was der Sprecher mit dem performativen Akt hier und jetzt zufällig verband. Dass in der performativen Verschiebung ein Element von (subjektiver) Freiheit liegt, würde Hegel nicht bestreiten. Und insofern gab es auch in sozialistischen Diktaturen Freiheit – die Freiheit, sich einen Witz auszudenken. Jedoch enthält sie nicht den Begriff objektiver Freiheit, der die Freiheit einschließt, politische Witze ungestraft erzählen zu können. 18
Philosophieren als Übersetzen
Eine selbstbestimmte Übersetzung zu unterbinden, resultiert daher im Verlust von Bedeutung und führt zur Reduktion von Sprechakten auf ihren performativen Aspekt. Insofern kann uns das Beispiel der Abwesenheit von selbstbestimmter Übersetzung darüber belehren, was passiert, wenn wir beim ersten Schritt, dem Mechanismus der Gewöhnung, stehenbleiben. Eine hypernormalisierte Einheitssprache wird zu einem Singsang und verliert jegliche Bedeutung, die jenseits bloß performativer Wiederholung liegt.
3. Selbstbestimmtes Übersetzen
Eine hypernormalisierte Einheitssprache findet sich nicht nur in Diktaturen, sondern beispielsweise auch im Beamtenjargon und kann dort als ein Zeichen entfremdeter Arbeit gelesen werden oder als Vorlage für Slapstick dienen. Aber sie kann sich auch in philosophischen Diskursen finden – vielleicht lädt die Sprache der Philosophie Hegels sogar besonders dazu ein, sie performativ zu reproduzieren. Dass sich die performative Verschiebung innerhalb philosophischer Diskurse finden kann, ist aber nicht per se ein schlechtes Zeichen. Denn auch hier lässt sich die Mechanisierung, die Gewöhnung an eine bestimmte Diskurssprache, als notwendiger Zwischenschritt zur selbstbestimmten Übersetzung begreifen. Die performative Wiederholung kann auch hier einen Lerneffekt und eine befreiende Wirkung haben. Es ist nur dann ein schlechtes Zeichen, wenn diesem ersten Schritt nicht der zweite folgt oder wenn selbstbestimmte Übersetzungen, die auch immer ein Wagnis sind, vom Diskurs gezielt unterbunden und sanktioniert werden. Fehlt dieser zweite Schritt, dann fehlt das Element der eigentlichen Selbstbestimmung, der Bewusstmachung des Taufaktes, die auf Mechanisierung bzw. Hypernormalisierung gegründet ist. So wie die Propagandasprache innerhalb einer Diktatur zu einem phonetischen Singsang zu werden drohte, so kann es zu einem philosophischen Singsang kommen. Ist also die kompetente Teilnahme am philosophischen Diskurs wie das Beherrschen einer Zweitsprache zu verstehen? Einiges spricht dafür; zum Beispiel, die oben erwähnte Strategie Hegels, innerhalb der Passagen des „subjektiven Geistes“ die Komplexität real existierender Sprachpraxen auszublenden und sowohl die Perspektive des Sprachlernenden als auch die des über das Sprachenlernen Philosophierenden einzunehmen. Zum Beherrschen einer Zweitsprache gehört aber eben auch die Fähigkeit zu übersetzen. Zwar kann es bei bilingualen Personen dazu kommen, dass sie sich flüssig in jeweils der einen oder der anderen Sprache ausdrücken können, ohne deshalb auch gute Übersetzer zu sein. Aber für das Denken dürfen die Sprachen nicht in getrenn-
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ten Abteilen existieren (GW 20, § 465). Wenigstens also darf es als eine philosophische Aufgabe begriffen werden, selbstbestimmtes Übersetzen in seiner Rolle als Bedeutungstaufe zu verstehen. Und insofern liegt im Begriff des „Übersetzens“ ein philosophisches Problem, das auf allgemeinerer Ebene adressiert werden kann. Während man technische Bedienungsanleitungen und juristische Texte mit Abstrichen größtenteils von einem Programm übersetzen lassen kann – weil diese Texte fast ausschließlich aus frozen phrases bestehen –, wird das bei philosophischen oder auch heiligen Texten schwieriger. Wir verlangen doch, dass die Übersetzerin selbst in der Lage ist, die Gedanken des Textes nachzuvollziehen, und geeignete Wörter in der Zielsprache gegeneinander abwägen kann, über deren Etymologie Kenntnis hat, gegebenenfalls in einer Fußnote erklären kann, warum eine Abweichung vorgenommen werden musste, oder Neologismen zu schaffen – wie im Fall Martin Luthers. Nicht ohne Grund gibt man selbst bei literarischen Übersetzungen der Übersetzerin eine Mitautorschaft und ein enger Kontakt und Austausch zwischen Autorin und Übersetzerin ist – und sei es über das Studium anderer Quellen – in jedem Fall geboten. Damit wäre gezeigt, dass eine Übersetzerin philosophischer Texte immer auch Philosophin sein muss. Gilt das aber auch umgekehrt und muss jeder Philosoph auch Übersetzer sein, um die Bedeutung der selbstbestimmten Übersetzung zu artikulieren? Ist Verstehen generell ein Übersetzen, wie Pirmin Stekeler-Weithofer 19 behauptet? Die These ist immerhin plausibel, zum Beispiel indem wir darauf hinweisen, dass eine Auseinandersetzung mit philosophiegeschichtlichen Texten, selbst wenn sie in einer von uns gesprochenen Sprache verfasst worden sind, trotzdem eine Übersetzung verlangen (wieder ist Hegels Philosophie ein gutes Beispiel für eine deutsch-deutsche Übersetzung 20). Eine andere Plausibilisierung kann durch einen Blick auf die zwei zentralen Bibelgeschichten zum „The reader has to support the text by reading it with charity. And this always means, at least in part, to interpret the text, i. e. to translate it into the language she, the reader, would have to use if she wanted to express the same thoughts (contents, meanings) in her situation, her time, given her language and her general knowledge. Correcting malapropisms, as we do it in spoken discourse as well, is only a minor point here. Taking possible changes of semantic systems of default inference including all sorts of connotations into account, is already a more serious matter.“ Pirmin Stekeler-Weithofer, „Understanding as Translation“, in: Translating Hegel: The Phenomenology of Spirit and Modern Philosophy (= Södertörn Philosophical Studies 13), Hg. Brian Manning Delaney & Sven-Olov Wallenstein. Stockholm 2012, S. 163–190: 163/64. 20 Vgl. Stekeler-Weithofer 2012, S. 169. 19
Philosophieren als Übersetzen
Thema Mehrsprachigkeit und Übersetzung gewonnen werden. Während die Geschichte des Turmbaus zu Babel 21 oberflächlich gesehen die Mehrsprachigkeit als eine Strafe Gottes einführt, lässt sie sich ebenso als ein Geschenk begreifen, das die Babylonier von der Hybris einer hypernormalisierten und bedeutungsleeren Einheitssprache befreit. Ebenso muss die Pfingstgeschichte 22 nicht als ein Fest der Universalsprache gelesen werden, sondern als ein Fest, das die Übersetzbarkeit einer universellen Idee in verschiedene natürliche Sprachen, in denen sie gepredigt werden kann, feiert. Über die Plausibilisierung hinaus können wir aber auch noch einmal darauf verweisen, was passiert, wenn sich Philosophen nicht auch als Übersetzer begreifen: Dann drohte eine hypernormalisierte Philosophie, die genauso bedeutungsleer würde wie die öffentliche Sprache in einer Diktatur oder wie die Hybris eines Turmbaus, der eine Identität mit einer universellen Idee verspricht und zum Scheitern verurteilt ist. Wenn die hier skizzierten Überlegungen Sinn machen, dann ist selbstbestimmtes Übersetzen essentiell für die Bedeutung in natürlichen Sprachen und die Bewusstmachung dieses Schrittes selbst eine philosophische Aufgabe. Auf die Frage nach dem Ursprung natürlicher Sprachen oder der damit verwandten Frage, warum es überhaupt eine Pluralität mehrerer natürlicher Sprachen gibt, lautet die den Überlegungen folgende Antwort: weil andernfalls selbstbestimmtes Übersetzen und somit die Bewusstmachung der Sinngebung nicht möglich wäre und dieser Schritt der Selbstbestimmung nicht begriffen werden könnte. Damit also Übersetzung – ein wesentlicher Akt menschlicher Selbstbestimmung – möglich ist, muss es eine Pluralität natürlicher Sprachen geben. Und sofern die hier gezogene Parallele zwischen der Pluralität natürlicher Sprachen und der Pluralität philosophischer Sprechweisen zutrifft, müsste man das Gleiche für die Sinngebung philosophischer Begriffe sagen dürfen, um sich immer wieder aus der Hypernormalisierung gefrorener Philosophiephrasen befreien zu können.
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Genesis 11, 1–9. Apostelgeschichte 2, 1–42.
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Einige sokratische Merkmale in Wittgensteins Philosophieverständnis 1
D
ieser Aufsatz gliedert sich in drei Teile: (1) Zunächst sollen Sie einen Test absolvieren, mit dem Sie Ihr Wissen über Sokrates und Wittgenstein unter Beweis stellen können, (2) im zweiten Teil werde ich die Frage diskutieren, warum die Behauptung, dass das Philosophieverständnis eines Philosophen sokratische Merkmale enthält, einst eine Tautologie war, und (3) im dritten Teil werde ich darüber nachsinnen, ob Wittgensteins Philosophie einige sokratische Merkmale enthält und warum diese Behauptung längst keine Tautologie mehr ist. Es bringt nichts, diesen Aufsatz zu lesen, wenn Sie nicht die Prüfung absolvieren wollen. Meine Vermutung ist aber, dass Sie erhebliche Schwierigkeiten haben werden, die Testfragen zu beantworten – selbst wenn Sie beide Philosophen gut kennen. Wenn dem so ist, dann wird sich Ihnen sicherlich auch jene Frage stellen, die der zweite Teil dieses Aufsatzes vorbereiten und der dritte Teil erörtern soll, nämlich warum es denn so schwierig ist, die Testfragen zu beantworten, und was dieser Umstand uns über Wittgenstein sagen kann?
1. Der Test: Sokrates oder Wittgenstein?
Der Test selbst besteht aus drei Teilen: (i) Am Anfang gibt es ein paar Übungsaufgaben, damit Sie sich warmlaufen und ein Gefühl für das Prüfungsformat bekommen können; (ii) dann folgt der eigentliche Test. (iii) Zum Schluss können Sie sich noch ein paar Zusatzpunkte verdienen. (Für den Fall, dass Sie ein paar oder alle drei Teile des Tests an jemanden delegieren möchten – beispielsweise um Ihre Studenten auf die Probe zu stellen oder um Ihre Freunde zu quälen –, finden sie alle Teile noch einmal übersichtlich – getrennt vom Es handelt sich hierbei um die Übersetzung einer verkürzten Fassung des englischen Textes „Some Socratic Aspects of Wittgenstein’s Conception of Philosophy“, erschienen in: Wittgenstein on Philosophy, Objectivity and Meaning, hrsg. von James Conant und Sebastian Sunday, Cambridge 2019. Übersetzt ins Deutsche von Robert Reimer. 1
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Haupttext – als Anhänge vor; ein vierter Anhang enthält die Antworten zu den Fragen und außerdem entsprechende Textverweise.) Die Aufwärmphase beginnt jetzt! Machen Sie sich bereit. Sie besteht hauptsächlich aus Zitaten. Das erste Zitat in dieser Phase des Tests handelt im Übrigen selbst von Tests: Für jedermann ist es leicht herauszufinden, ob ein Schuster gute Schuhe macht oder nicht. Leider gibt es kein Testverfahren dieser Art, um herauszufinden, ob ein Philosoph seine Arbeit richtig macht oder nicht.
Spricht hier Sokrates oder Wittgenstein? (Bitte merken Sie sich Ihre Antwort!) Nächstes Zitat: Ich erlaube dir, jedes Wort so zu definieren, wie du willst; solange du erklärst, worauf sich das Wort bezieht, das du benutzt.
Sokrates oder Wittgenstein? (Wenn Sie raten müssen, raten Sie ruhig.) Das dritte Zitat: Nenn mich einen Wahrheitssucher und ich will zufrieden sein.
Und wieder die Frage: Spricht hier Sokrates oder Wittgenstein? (Machen Sie nicht weiter, ehe Sie Ihren Tipp abgegeben haben!) Die drei Sternchen, die Sie im Anschluss an diesen Absatz sehen werden, bedeuten übrigens, dass bald die Antworten auf die Testfragen folgen. Lesen Sie also nicht weiter, ehe Sie es sich verdient haben! *** Nun schauen wir doch mal, wie Sie sich geschlagen haben. Die Antwortet auf die erste Frage lautet ‚Wittgenstein‘, die Antwort auf die zweite ‚Sokrates‘. 2, 3 Die Antwort auf die dritte Frage werde ich erst später kurz vor Ende des Textes preisgeben. Sie soll als Ausgangspunkt für die weitere Diskussion dienen.
Vergleichen Sie dazu die folgende Bemerkung aus den Philosophischen Untersuchungen § 79: „Soll man sagen, ich gebrauche ein Wort, dessen Bedeutung ich nicht kenne, rede also Unsinn? – Sage, was du willst, solange dich das nicht verhindert, zu sehen, wie es sich verhält. (Und wenn du das siehst, wirst du manches nicht sagen.)“ Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe (Band 1), Frankfurt/M. 1984. 3 Einige der Textstellen der Platonübersetzung von Friedrich Schleiermacher wurden leicht von mir verändert, um den stilistischen Unterschied zwischen seiner Übersetzung und den Passagen von (sowie über) Wittgenstein zu kaschieren. Die Originalübersetzungen von Schleiermacher finden Sie in Anhang IV. [Anm. d. Übers.] 2
Einige sokratische Merkmale in Wittgensteins Philosophieverständnis
Hier sind noch zwei weitere Testfragen: Mitten in einem seiner dialektischen Exkurse bemerkt der Philosoph, dessen Namen wir hier suchen: Tatsächlich haben wir etwas bewirkt, damit [unser Gesprächspartner] herausfinden kann, wie es mit dieser Sache steht. Denn jetzt will er es sicher gern verstehen, da er es nicht weiß.
Und hier ist ein zweites Zitat: Was [dein Gesprächspartner] auch kann, das überlass [deinem Gesprächspartner].
Welcher der beiden ist Sokrates, welcher ist Wittgenstein? (Und denken Sie daran, nehmen Sie sich Zeit und lesen Sie nicht weiter, bis Sie sich für eine Antwort entschieden haben!) *** Der erste ist Sokrates, der zweite Wittgenstein. Es folgen noch ein paar mehr Fragen zur Aufwärmung. Diesmal hören wir vier Exegeten, Schüler oder Kollegen, die jeweils etwas über einen der beiden Philosophen zu sagen haben: [E]r zeigt seinen Gesprächspartnern ein Abbild ihrer selbst. [E]r teilt sich in zwei Hälften, sodass es zwei [von ihm gibt]: der [eine], der schon im Voraus weiß, wie die Diskussion enden wird, und der [eine], der den ganzen dialektischen Weg mit seinem Gesprächspartner geht.
Bezieht sich dieses Zitat auf Sokrates oder Wittgenstein? Er befand sich in einem ständigen Kampf mit den tiefsten philosophischen Fragen. Die Lösung eines Problems führte ihn zum nächsten. [Er] war zu keinem Kompromiss bereit, er musste völlig verstehen.
Und dies? Auf Sokrates oder Wittgenstein? Es spricht für sich, dass jeder mitgerissen wurde, wenn die Leute über [ihn] redeten, ob es nun [jemand] war, der ein Loblied auf ihn sang, oder ob es seine Feinde waren, die über ihn herzogen.
Auf Sokrates oder Wittgenstein? [Er] hatte die ungewöhnliche Gabe, die Gedanken eines Menschen, mit dem er eine Diskussion führte, zu erraten. Während der Partner sich abmühte, um seinen Gedanken in Worte zu fassen, durchschaute [er], was [dieser] meinte, und legte es für ihn dar. Diese Fähigkeit [wirkte] manchmal unheimlich […].
Auf Sokrates oder Wittgenstein?
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*** Hier sind die Antworten auf die letzten vier Fragen in der entsprechenden Reihenfolge: Sokrates, Wittgenstein, Sokrates, Wittgenstein. Es folgen noch vier weitere Beispiele für Zitate von Exegeten, Schülern und Zeitgenossen, die jeweils etwas über einen von unseren beiden Philosophen zu sagen haben: Eine [seiner] Ansichten war, dass Philosophie […] nicht akkurat durch eine Vorlesung oder eine Abhandlung vermittelt werden kann.
Bezieht sich dieses Zitat auf Sokrates oder Wittgenstein? Wenn [er] sich […] ein Beispiel ausdachte, um irgendeinen Punkt deutlich zu machen, musste er selbst oft über das Absurde seiner Vorstellung lachen. Wenn aber irgendjemand von den [Zuhörern] zu kichern begann, wurde sein Ausdruck sofort streng […].
Und dieses? Auf Sokrates oder Wittgenstein? Die meisten der paradoxen Ansichten, die [ihm] zugeschrieben werden, basieren auf Sachen, die er […] jemandem gesagt hat oder denen er zugestimmt hat, allerdings zu einem jeweils anderen Zweck oder in einem anderen Kontext.
Auf Sokrates oder Wittgenstein? [Er] war kein Guru, dem man leicht folgen konnte, nicht zuletzt, weil Guru zu sein die Sache war, die er am wenigsten sein wollte. Dennoch überrascht es kaum, dass nach seinem Tod einige seiner Freunde sein herausragendes Werk weiterführen wollten. Da es aber keine leichte Sache war und immer noch ist, zu sagen, worauf sein Projekt in letzter Konsequenz eigentlich hinauslief, ist es ebenso wenig überraschend, dass sich [seine] Möchtegern-Nachfolger letzten Endes für ganz verschiedene Sachen einsetzten.
Und dieses? Handelt das Zitat von Sokrates und seinen Möchtegern-Nachfolgern oder von Wittgenstein und dessen Möchtegern-Nachfolgern? *** Und hier sind die Antworten auf die letzten vier Fragen in der entsprechenden Reihenfolge: Sokrates, Wittgenstein, Sokrates, Sokrates.
Einige sokratische Merkmale in Wittgensteins Philosophieverständnis
Damit endet die Aufwärmphase. Die eben gestellten Übungsaufgaben müssen reichen, um Sie auf den Hauptteil vorzubereiten. Jetzt geht es zum eigentlichen Test! Vergessen Sie nicht, Ihre Punkte zu zählen. Der eigentliche Test gliedert sich in sieben Teile. Jeder Teil beginnt mit einer Frage. Die Fragen sind durchnummeriert. Auf jede Frage treffen mindestens zwei Antworten zu, die im Übrigen recht naheliegend sind. Wenn Sie also nicht sofort auf die Antworten kommen sollten, dann fallen sie auch sofort durch den Test. In jedem der sieben Teile des Tests folgen einige weitere Nebenfragen auf die jeweilige Hauptfrage mit ähnlichem Schwierigkeitsgrad. Und hier kommt auch gleich die erste der sieben Hauptfragen. (Und vergessen Sie nicht: Diese Frage hat mindestens zwei Antworten, über die Sie eigentlich nicht lange nachdenken sollten.) 1. Welcher große Philosoph verbrachte zeit seines Lebens als Asket, verzichtete sowohl auf Wohlstand als auch auf Ruhm, betrachtete sich jedoch selbst nicht als Vorbild und legte diesen Lebensstil somit auch nicht seinen Freunden und Schülern nahe; stattdessen ermutigte er sie oft dazu, einen ordentlichen Beruf zu ergreifen und in eben die Welt einzutauchen, von der sich der gesuchte Philosoph selbst abgewendet hat? Nun zur ersten Reihe von Nebenfragen: Nachdem einer unserer Philosophen auf sein vergangenes Leben zurückgeschaut hat, zieht er folgende Bilanz: Mir sind all die Dinge gleichgültig, die den meisten wichtig sind, dazu gehören das Anhäufen von Reichtümern, eine florierende Hauswirtschaft, militärische Ehren, ein hoher sozialer Status und das Innehaben sonstiger Ämter […].
Ist das Sokrates oder Wittgenstein? Und als sein Kollege auf das Leben von einem unserer Philosophen zurückschaut, bemerkt er das Folgende: [E]ine ausgeprägte Einfachheit, manchmal sogar eine extreme Genügsamkeit, wurden charakteristisch für sein Leben.
Spricht er von Sokrates oder Wittgenstein? *** Das erste Zitat stammt aus Sokrates’ Verteidigungsrede vor Gericht; das zweite stammt aus der Feder eines berühmten finnischen Philosophen und
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handelt von Wittgenstein. (Sie bekommen Zusatzpunkte, wenn Sie erraten können, wer der berühmte finnische Philosoph ist.) Ich werde nun, im Prüfungsteil, damit beginnen, gelegentlich innezuhalten, um die gestellten Fragen zu kommentieren und um zu überlegen, welche Lehre wir eigentlich aus dem Umstand ziehen können, dass die Prüfungsfragen so schwer zu beantworten sind. Nach und nach wird sich auch die Struktur dieses Aufsatzes ändern, und ich werde mich in meinem Schreiben immer stärker einem Essay über Sokrates und Wittgenstein annähern. Und hier kommt schon die erste Anmerkung: Der springende Punkt unserer ersten Hauptfrage ist, dass in keinem der beiden Fälle – weder im Fall von Sokrates noch im Fall von Wittgenstein – unser Philosoph die Tugend der Genügsamkeit, nach der er sein Leben gerichtet hat, denjenigen aufdrängt, die von ihm das Philosophieren lernen wollen. Keinesfalls erachtet Sokrates die Bemühungen, Geld zu verdienen, über eine florierende und angesehene Hauswirtschaft zu verfügen, militärische Ehren zu erlangen, politische Ämter zu bekleiden oder sich all die anderen Statussymbole zu sichern, die für ein typisches, erfolgreiches Leben in der Athener Polis sprechen, als an sich schlecht. Sein bescheidener Lebensstil war nicht Ausdruck seiner philosophischen Grundsätze, im Unterschied zu vielen anderen späteren griechischen Philosophen. Sokrates predigte nie Abstinenz. Tatsächlich war er in der Lage, andere unter den Tisch zu trinken, wenn die Situation es gebot. Fühlte sich einer seiner Gesprächspartner zu einem bestimmten Gewerbe berufen, dann spornte Sokrates ihn dazu an, sein Engagement noch weiter zu steigern. Häufig ging es aber zunächst nur darum, seinem Gesprächspartner klarzumachen, worin eine solche Leistungssteigerung eigentlich bestehen könnte. Aus Sokrates’ Sicht stand das philosophische Leben nicht in Konkurrenz mit anderen Lebensstilen; vielmehr betrachtete er es als ein zentrales Moment jedes guten und erfüllten Lebens. Obwohl Wittgenstein diesem letzten Punkt sicherlich zugestimmt hätte, blieb sein eigenes Verhältnis zur philosophischen Lebensweise viel angespannter, als Sokrates’ Verhältnis jemals war. Im Unterschied zu Sokrates empfand sich Wittgenstein selbst nie als jemand, dem es von Natur aus leichtfällt, sich voll und ganz einem geistigen Leben hinzugeben. Er schien nie frei zu sein von den Herausforderungen, die der Alltag für ihn bereithielt, zum Beispiel für angemessene Kleidung oder ausreichend Essen und Geld zu sorgen. Im Gegenteil: Aus seiner Sicht waren all diese äußeren Güter Verlockungen und beständige Ablenkungen von dem Lebensweg, den er eigentlich verfolgen wollte. Manchmal empfand er sogar das Gemeinschaftsleben an sich als eine Plage, die seine Fähigkeit, intensiv Philosophie zu betreiben, erheblich beeinträchtigte. Gern zog er sich von Zeit zu Zeit und über mehrere Monate hinweg in
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entfernte Regionen Norwegens oder Islands zurück, um so sicherzustellen, dass er nicht von all den philosophischen Problemen abgelenkt wird, über die er sich mit Freude den Kopf zerbrach. Er verschenkte sein ererbtes Familienvermögen – er schmiss es den Leuten nahezu hinterher –, so dass man vermuten könnte, er fürchtete sich vor dem, was es ihm hätte antun können, wäre es in seinem Besitz geblieben. Es scheint fast so, dass er sich die Strenge eines einfachen Lebens mit aller Macht selbst auferlegte, anstatt sich auf natürliche Weise einer solchen Lebensweise hinzugeben. Wittgenstein ist bekannt dafür, immer dieselben Sachen getragen zu haben – besonders erwähnenswert ist hier sein graues Tweed-Jackett. Einst beschrieb er seine eigene Philosophie des Essens sinngemäß wie folgt: Es ist egal, was du isst, solange du immer das gleiche isst. 4 Dennoch, ebenso wie für Sokrates war auch für Wittgenstein keine dieser asketischen Lebensweisen Bedingung für ein gutes und erfülltes Leben, so wie er es seinen Schülern und Freunden nahelegte. Man kann sogar sagen, dass das Gegenteil der Fall ist. Mit großer Besorgnis darüber, wie die Philosophie jemandem schaden könne, der sich ihr vollumfänglich widmet – eine Besorgnis, der man wiederum bei Sokrates niemals begegnete –, ermutigte Wittgenstein einige seiner Schüler (sicherlich nicht alle von ihnen) dazu, sich von dem Vollzeitstudium der Philosophie abzuwenden und sich stattdessen ernsthafte Gedanken über eine Karriere als Arzt, Tischler oder Fachmann für ein anderes anerkanntes und angesehenes Gewerbe zu machen. Tatsächlich war Wittgenstein äußerst besorgt über die Auswirkungen, die die Philosophie auf die Seelen seiner Studenten haben kann, wenn sie sich hauptberuflich mit ihr befassen. Das ist tatsächlich ein Unterschied zwischen Sokrates und Wittgenstein, der jedoch leicht überschätzt werden kann. Schließlich war ‚Philosoph‘ zu Sokrates’ Zeiten noch nicht der vermeintliche Titel einer altbekannten Zunft. Sokrates musste sich also noch keine Sorgen darüber machen, was aus den Seelen seiner Studenten werden würde, wenn sie sich dafür entschieden, den Rest ihres Lebens nichts anderes als akademische Luft zu atmen. 5 Im alten Athen konnte sich noch keiner vorstel„Wittgenstein erklärte, es mache ihm nicht viel aus, was er esse, solange es immer das gleiche sei.“ Norman Malcom: Ludwig Wittgenstein. Ein Erinnerungsbuch. Originaltitel: Ludwig Wittgenstein, A Memoir by Norman Malcom, übers. von Claudia Frank, München und Wien 1969, S. 107. 5 Die Situation hatte sich nur zwölf Jahre nach Sokrates’ Tod entscheidend gewandelt, als Platon im Alter von vierzig Jahren, im Jahr 389 nach Christus, die Zeit als reif dafür empfand, die Akademie zu gründen. Aber schon nach ein paar Jahren kräftezehrender Arbeit in den engen Grenzen eines neuen Berufsfeldes, das er selbst mitbegründet hatte, wurde Sokrates wahrscheinlich der erste nach-sokratische Philosoph, der unter quälenden Zweifeln bezüg4
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len, dass der Lebensstil eines Philosophen der Lebensstil eines Mannes sein könnte, der im gegenwärtigen Japan auch als ein サラリーマン [sararīman] bekannt ist – also als ein ‚bezahlter Mann‘. Die einzige Karrieremöglichkeit, die im antiken Athen sowohl etwas mit der Tätigkeit eines Philosophen zu tun hatte, und zudem noch finanzielle Vergütung bot, bestand darin, als Sophist seine Geschäfte zu machen. Als solcher konnten Sie Geld für Ihre Dienste verlangen, aber Sie wären auch, zumindest nach Sokrates’ Ansicht, nicht mehr als das bloße Zerrbild eines Philosophen gewesen. 2. Welcher große Philosoph war vor allem berühmt für die Intensität, mit der er sich einer intellektuellen Überlegung hingab, wobei er dazu neigte, in einen Zustand der vollständigen Versunkenheit in ein philosophisches Problem zu verfallen – ein Zustand, in dem er die Welt um sich herum restlos vergessen konnte? Von unserem Philosophen wird zudem Folgendes ausgesagt: [W]enn er versuchte, einen Gedanken aus sich herauszupressen, verbat er sich mit einer entschiedenen Handbewegung jede Frage oder Bemerkung. Oft entstanden lange Pausen der Stille, in der man nur [ihn] gelegentlich murmeln hörte, während die anderen aufmerksam schwiegen. Während dieser Stille war [er] aufs Äußerste angespannt und aktiv. Sein Blick war konzentriert; sein Gesicht voll Leben; mit den Händen machte er auffallende Bewegungen; sein Ausdruck war ernst. Man war sich bewusst, dass man sich im Bereich höchster Ernsthaftigkeit, Vertiefung und Geisteskraft befand.
Ist das Sokrates oder Wittgenstein?
lich des Akademikerdaseins litt. Im siebten Brief finden wir diese Anmerkung: „[Ich empfand] es als äußerst peinlich vor mir selbst […], dass es mir selbst scheinen könnte, ich sei in allem geradewegs nur ein Gedanke und werde freiwillig niemals an irgendeine Tat herangehen.“ (Platon: Werke in acht Bänden, aus dem Altgriechischen von Friedrich Schleiermacher, hrsg. von Gunther Eigler, Darmstadt 1977, (Buch 5), 328c) Manchmal wird Sokrates und Wittgenstein nachgesagt, dass sie in dem folgenden Punkt nicht übereinstimmen: Während Sokrates dachte, dass der philosophische Lebensstil gut für jedermann ist, dachte Wittgenstein, dass er alles andere als gut war, zumindest für die meisten. Aber dieser Unterschied ist nur oberflächlich. Zwar muss durchaus eine Unterscheidung getroffen werden, die in diese Richtung geht, aber dafür braucht es mehr Feingefühl. Um eine weniger oberflächliche Version ihres Dissens zu formulieren, müssen wir zunächst zwischen der Tatsache, wie viel Wert Wittgenstein der philosophischen Lebensweise selbst beigemessen hat, und zwischen der Tatsache, wie viel er dem Akademikerdasein beigemessen hat, unterscheiden. Es ist nämlich alles andere als klar, ob Wittgenstein und Sokrates in Bezug auf das Letztere einander merklich widersprochen hätten, hätte Sokrates nur die Möglichkeit gehabt, über den Wert des Akademikerdaseins nachzudenken.
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Es war ihm etwas eingefallen, und er stand darüber nachdenkend von morgens an auf einer Stelle und, da er noch immer keinen Fortschritt gemacht hatte, ließ er nicht nach, sondern blieb weiter grübelnd stehen.
Gehört das erste Zitat zu Sokrates oder zu Wittgenstein? Und das zweite? *** Die zweite Passage geht übrigens wie folgt weiter. Jetzt wird klarer, wer gemeint ist: Nun wurde es Mittag, und die Leute merkten es und erzählten verwundert einer dem anderen, dass [er] vom Morgen an über etwas nachsinnend dastehe. Endlich, als es Abend war und man gespeist hatte, trugen einige Ionier […] ihre Schlafdecken hinaus […] teils, um auf ihn achtzugeben, ob er auch die Nacht über da stehenbleiben würde. Und er blieb stehen, bis es morgen wurde und die Sonne aufging; dann verrichtete er noch sein Gebet an die Sonne und ging fort.
Und die erste Passage geht so weiter. Damit sollte auch klar werden, wer dort gemeint ist: [Seine] Persönlichkeit beherrschte diese Zusammenkünfte. Ich glaube kaum, dass es unter den Anwesenden jemanden gab, der nicht auf diese oder jene Weise von ihm beeinflusst wurde. Wenige von uns vermochten sich davor zu bewahren, ihn zu kopieren und seine Eigenart, seine Bewegungen, den Tonfall, die Ausrufe nachzuahmen. Im Vergleich mit dem Original konnten diese Nachahmungen leicht lächerlich erscheinen.
Dieses Zitat ist übrigens Norman Malcom zuzuschreiben. Als Wittgenstein 1950 in die Vereinigten Staaten ging, um Norman Malcom an der Universität von Cornell zu besuchen, lud dieser alle seine Studenten in sein Haus ein, damit sie den großen Philosophen kennenlernen konnten. Einer von Malcoms Studenten war gerade nicht in der Stadt und kam somit erst spät am Abend. Ihm wurde gesagt, dass er sich sofort zu Professor Malcoms Haus aufmachen sollte, aber nicht, warum. Er rannte wie der Blitz. Mrs. Malcom ließ ihn schließlich eintreten. Als er gerade seine Schuhe an der Haustür auszog, fragte er sie: „Wer ist denn dieser Mann mit dem deutschen Akzent nebenan, der gerade Professor Malcom nachahmt?“ 6
Diese Anekdote wurde von Malcom an Peter Winch weitererzählt, der sie wiederum mit mir teilte. 6
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3. Von welchem großen Philosophen kann man sagen, dass seine Art und Weise, mit anderen zu diskutieren, mindestens ebenso intensiv war wie sein schon zuvor erwähntes Talent, vollständig und ungestört in Gedanken zu versinken? Über den von uns gesuchten Philosophen wird gesagt: Jede Unterhaltung mit [ihm] fühlte sich an, als würde ich den Tag des Jüngsten Gerichts durchleben. Es war grauenhaft. Alles musste ständig neu ausgegraben werden, in Frage gestellt und auf seinen Wahrheitsgehalt hin überprüft werden. Das betraf nicht nur die Philosophie, sondern das ganze Leben.
Ist das Sokrates oder Wittgenstein? [W]er [ihm] nahe genug kommt und sich mit ihm auf ein Gespräch einlässt, wird unvermeidlich, selbst wenn er zuerst von etwas ganz anderem gesprochen hat, von ihm so lange atemlos durch das Gespräch getrieben, bis er ihn so weit hat, dass er Rede und Antwort stehen muss: über sich selbst, wie er jetzt lebt und wie er vorher gelebt hat. Wenn [er] [seinen Gesprächspartner] aber erst einmal da hat, lässt er ihn meistens nicht mehr in Ruhe, bis er alles ausführlich unter die Lupe genommen hat.
Und hier? Sokrates oder Wittgenstein? *** Die erste Anmerkung stammt abermals aus der Feder des finnischen Philosophen, über den wir schon gesprochen haben und der sich hier wieder auf Wittgenstein bezieht. Die zweite Anmerkung handelt von Sokrates. 4. Welcher große Philosoph erhielt eine militärische Auszeichnung für Tapferkeit im Kampf? Schauen Sie sich die folgenden vier Zitate an: Du irrst dich […], wenn du glaubst, über Gefahr um Leben und Tod müsse derjenige nachdenken, der auch nur ein bisschen Wert hat […].
Welcher unserer zwei Philosophen sagte oder schrieb das? Und was würden Sie zu dem Folgenden sagen? Jetzt wäre mir Gelegenheit gegeben, ein anständiger Mensch zu sein, denn ich stehe vor dem Tod Aug in Auge.
Sokrates oder Wittgenstein?
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Und was ist mit dem Folgenden? [I]ch kann in zwei Stunden sterben, ich kann in einem Monat sterben oder erst in ein paar Jahren. Ich kann es nicht wissen und nichts dafür oder dagegen tun: So ist das Leben. Wie muss ich also leben, um in jedem Augenblick zu bestehen? Im Guten und Schönen zu leben, bis das Leben von selbst aufhört.
Welcher von beiden ist es? Und zum Schluss: [D]iejenigen, die sich mit Philosophie befassen, streben […] nach nichts anderem, als zu sterben.
Stammt dies von Sokrates oder von Wittgenstein? *** Das erste Zitat stammt aus Sokrates’ Verteidigungsrede. Die beiden mittleren Anmerkungen stammen von Wittgenstein und entstanden unter dem Eindruck einer ständigen Bedrohung. Wittgenstein diente damals als Soldat in der österreichischen Armee im ersten Weltkrieg und war an der Ostfront stationiert. Das vierte stammt aus dem Phaidon. Alle vier Fragen sollen Folgendes verdeutlichen: Die Parallele zwischen unseren beiden Denkern wird unterschätzt, wenn angenommen wird, diese bestehe lediglich aus der Tatsache, dass beide zufälligerweise unter die zwei folgenden Beschreibungen fallen: ‚großer Philosoph‘, ‚Soldat mit Auszeichnung‘. Jeder von beiden verstand das Schlachtfeld als Schmiede und Prüfung für ihr eigenes philosophisches Dasein. Lernen, gut zu sterben, betrachtete beide als Teil dessen, was es bedeutet, gut zu leben. 5. Die militärischen Auszeichnungen welches großen Philosophen wurden von denen, die ihn kannten, nur als ein äußeres, auffälliges Zeichen eines viel umfassenderen Vermögens zur Selbstbeherrschung und Selbstoptimierung angesehen? Welches der folgenden beiden Zitate handelt von Sokrates und welchen von Wittgenstein? Er war in jederlei Hinsicht überragend diszipliniert und ein Meister der Selbstbeherrschung. Vielleicht war das das Problem. Vielleicht erklärt das, warum er so unerreichbar hohe Erwartungen an andere stellte […].Von [ihm] wurde ausgesagt, dass ‚in der Stärke seines Charakters die Schwäche seiner Philosophie liegt‘.
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Es gab praktisch nichts, das er nicht außergewöhnlich gut konnte oder zumindest erlernen konnte, insofern es zu dieser Art von Dingen gehört, die überhaupt erlern- und beherrschbar sind und für die Training und Übung essenzielle Bestandteile des Lernprozesses sind.
Trifft das erste auf Sokrates oder auf Wittgenstein zu? Und das zweite – auf Sokrates oder auf Wittgenstein? *** Das erste handelt von Sokrates, das zweite von Wittgenstein. 6. Welcher große Philosoph schien die Leute in seiner Umgebung stets so zu bezaubern, dass er sie dabei entweder in seinen Bann zog oder vertrieb? Schauen Sie sich diese beiden Beispiele an. In welcher der Anmerkungen hören wir die Stimme von Alkibiades, der über Sokrates spricht? Es scheint, als könnte er gar nicht anders, als sie zu bezaubern. Einige fühlen sich davon abgestoßen, ebenso stark, wie andere sich davon angezogen fühlen. Diejenigen, die sich von ihm angezogen fühlen, verfallen schließlich in einen Taumel, der etwas an sich hat, das vielleicht sogar ‚Liebe‘ genannt werden kann. Das passiert Fischern, Bauern und Philosophen gleichermaßen. Ich wurde am empfindlichsten Ort, an dem nur einer gebissen werden kann, gebissen, denn am Herzen oder an der Seele bin ich verwundet von seinen philosophischen Reden, die sich an eine junge, ehrliche Seele […] heftiger als eine Natter festsaugen und sie […] zu allem bringen können […].
Nun, in welchem der beiden Zitate hören wie die Stimme von Alkibiades, der über Sokrates spricht? *** Von Alkibiades stammt die zweite Aussage; von Wittgensteins norwegischem Freund Knut Erik Tranøy die erste. 7. Welchem großen Philosophen wird oft die Fähigkeit nachgesagt, ein philosophisches Problem so angehen zu können, als begegnete es ihm zum ersten Mal? Und von welchem der beiden stammt dieses Zitat?
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[E]r sprach fast über alles und immer mit derselben Inbrunst. Er beeindruckte jedes Mal aufs Neue, indem er altbekannte Probleme in ein neues Licht rückte, als wäre er das erste Mal auf sie gestoßen, völlig losgelöst von den üblichen und überall verbreiteten Ansichten.
Von Sokrates oder von Wittgenstein? *** Antwort: Wittgenstein. Hier kommen nun die letzten fünf Prüfungsfragen des eigentlichen Tests: Unser erstes Zitat berührt zwei Fragen, die sowohl Sokrates und Wittgenstein immer wieder durch den Kopf gingen: Kann ich nur keine Schule gründen, oder kann es ein Philosoph nie?
Spricht hier Sokrates oder Wittgenstein? Ein ebenso regelmäßig wiederkehrendes Thema für beide ist die Frage, welche Hürden man nehmen muss, um vollständig das Vermögen zu erlangen, wahr zu sprechen – sowohl im Leben als auch in der Philosophie. Man kann nicht die Wahrheit sagen; wenn man sich noch nicht selbst bezwungen hat. Man kann sie nicht sagen; – aber nicht, weil man noch nicht gescheit genug ist. Nur der kann sie sagen, der schon in ihr ruht; nicht der, der noch in der Unwahrheit ruht und nur einmal aus der Unwahrheit heraus nach ihr langt.
Ist das Sokrates? Oder ist das Wittgenstein? Ein damit zusammenhängendes Thema, das beide nicht weniger intensiv beschäftigt, ist die äußerst verschlungene Beschaffenheit des Weges, den man in der Philosophie gehen muss, um zur Wahrheit zu gelangen. Einfach die Wahrheit gesagt zu bekommen, bringt dem Philosophen keinen Vorteil, wenn er noch nicht dafür bereit ist. Entsprechend sagt einer der beiden: Man muss beim Irrtum ansetzen und ihn in die Wahrheit überführen. D. h., man muss die Quelle des Irrtums aufdecken, sonst nützt uns das Hören der Wahrheit nichts. Sie kann nicht eindringen, wenn etwas anderes ihren Platz einnimmt. Einen von der Wahrheit zu überzeugen, genügt es nicht, die Wahrheit zu konstatieren, sondern man muss den Weg vom Irrtum zur Wahrheit finden.
Welcher von beiden ist es? Sokrates oder Wittgenstein?
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Unsere letzten beiden Zitate enthalten zwei philosophische Fragen: Und wenn jemand denkt, muss er dann nicht etwas denken? […] Und wenn er etwas denkt, muss dieses dann nicht wirklich sein? Und wer malt, sollte nicht etwas malen – und wer etwas malt, nichts Wirkliches?
Hat diese beiden Fragen Sokrates gestellt? Oder wurden sie von Wittgenstein gestellt? Wurde eine von ihnen von Sokrates gefragt und eine von Wittgenstein? Und wenn dem so ist, welche von wem? *** Hier nun Ihre fünf letzten Antworten: Wittgenstein, Wittgenstein, Wittgenstein, Sokrates, Wittgenstein. Damit endet der offizielle Teil unserer Prüfung. Bitte merken Sie sich Ihr Ergebnis. Beim Stellen und Beantworten der obigen Fragen habe ich oft auf Erinnerungen und andere biographische Texte zurückgegriffen, in denen Anekdoten über die beiden Philosophen erzählt werden, um so verdeutlichen zu können, wie stark die Ähnlichkeiten zwischen Sokrates und Wittgenstein doch sind. Diese Art und Weise, dasjenige darzustellen, was im Philosophieverständnis eines bestimmten Philosophen wesentlich ist, macht im Übrigen das Herzstück einer antiken Lehre aus, wie Philosophie als solche betrieben werden muss. Für die zeitgenössische Auffassung von Philosophie allerdings spielt dieser Ansatz, sich einem bestimmten Philosophieverständnis anzunähern, nicht einmal mehr eine Nebenrolle. Nun scheint Wittgenstein aber eine Ausnahme von der Regel zu sein. Für viele Rezipienten ist Wittgenstein eine Figur, zu deren Philosophieverständnis man sich nur dadurch wirklich Zugang verschaffen kann, dass man Anekdoten miteinbezieht und auf Methoden biographischer Analysen zurückgreift. Diese sind selbst eine Quelle für das philosophische Interesse geworden. Wir werden darauf gleich noch einmal zurückkommen. Bevor wir dies aber tun, wollen wir diesen ersten Teil des Aufsatzes mit den Zusatzaufgaben beschließen. Und wie so üblich am Ende einer Prüfung, sind die letzten Fragen etwas vertrackt. Ihre Aufgabe besteht also darin, zunächst herauszufinden, worin der Witz hinter diesen Fragen besteht. Hier sind drei Zitate von drei verschiedenen Autoren: [Er] verwendete eine sehr einfache Sprache und [war] sich sicher, dass nur wenige [ihn] verstehen werden. [Er] bemühte sich darum, Freundschaften mit Hilfe
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seiner Philosophie zu schließen, und [war] sich sicher, dass [er] von vielen zurückgewiesen wird.
Handelt das von Wittgenstein oder Sokrates? Eine Begegnung mit [diesem Philosophen] […] kann sehr verstörend sein, insbesondere weil sie einem nicht nur offenbart, dass die Realität nicht so ist, wie sie dir erschien, sondern weil du nicht mehr länger weißt, wie sie dir erschien. Es ist nicht so, dass deine Annahme fehlerhaft war oder dass nichts in der Welt deinen Wünschen entspricht; stattdessen verlierst du vollständig dein Verständnis, oder vielmehr: Dir wird plötzlich klar, dass du nie ein Verständnis dessen hattest, was du dir ursprünglich ‚gewünscht‘ hast oder was du ursprünglich ‚angenommen‘ hast, was im wahrsten Sinne des Wortes eigentlich zu dir allein gehören sollte.
Beschriebt dies eine Begegnung mit Sokrates oder eine mit Wittgenstein? Es ist kein Wunder, dass kein neues Wissen dem philosophischen Arbeiten hinzugefügt werden muss. Das einzige, was wir brauchen, ist, mit dem zu arbeiten, was wir schon längst wissen; denn die Probleme sind uns nicht äußerlich, sondern gerade ein Teil von uns selbst.
Bezieht sich diese Passage auf Sokrates oder Wittgenstein? Und wie sieht es mit dieser aus: Wenn es nun aber keine Lehrsätze zu erlernen gibt, geht es dann nur darum, sich Dinge abzugewöhnen? – Es ist wichtig, dass die Antwort hier ‚Nein‘ lauten muss. Dennoch […] gibt es nicht einen bestimmten Punkt, den es sich zu merken gilt.
Handelt das von Wittgenstein oder Sokrates? *** Im Grunde ist es leicht, sich ein paar Extrapunkte bei diesen Zusatzfragen zu verdienen, aber es ist weitaus schwieriger, alle Punkte abzuräumen, denn zu jedem der drei Fälle lautet die korrekte Antwort: Beide. Allen drei Autoren geht es darum, die Gemeinsamkeiten zwischen den Philosophieverständnissen von Sokrates und Wittgenstein hervorzuheben.
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2. Eine Zeit, als jede Philosophie ihre sokratischen Merkmale hatte
In der Antike war Sokrates der Maßstab für die Weisen. Gerade weil er nicht ein einziges Wort schrieb, ist es in seinem Fall unmöglich, eine scharfe Grenze zu ziehen zwischen dem Leben des Philosophen und seiner Arbeit, während eine solche Grenzziehung im Falle von zeitgenössischen Philosophen durchaus sinnvoll ist. 7 Sokrates’ Leben ist seine Arbeit und seine Arbeit ist sein Leben. Er war danach bestrebt, eine bestimmte Art von Leben zu führen – und dabei gleichzeitig ein Vorbild für diese Lebensweise abzugeben – nämlich das Leben eines Menschen, der die Weisheit liebt. Damit ist übrigens genau das beschrieben, worauf sich das Kompositum der beiden griechischen Wörter ‚philo-‘ und ‚sophia‘ bezieht. Es ist nicht möglich, Sokrates’ Philosophie unabhängig davon zu verstehen – also unabhängig vom Verständnis der Lebensweise, die er zu führen bestrebt war. Was das Beispiel von Sokrates unmittelbar einsichtig machen sollte, gilt ebenso – auch wenn es hier nicht ganz so offensichtlich ist – für Wittgenstein: Um einen Philosophen zu verstehen, müssen wir versuchen, die Beziehung zwischen seiner Philosophie und seinem Leben zu verstehen, damit wir dann diesen Lebensweg als etwas begreifen können, das intern mit seiner Philosophie verknüpft ist, das also Ausdruck seiner Philosophie ist, während umgekehrt die Art und Weise, wie er Philosophie betreibt, ein Ausdruck seines Verständnisses von der richtigen Lebensweise ist. Als Sokrates der Anschuldigung (die Jugend Athens verdorben zu haben), die gegen ihn erhoben wurde, begegnet; als er das Urteil des Gerichts, das gegen ihn verhängt wurde, akzeptiert; als er dann bewusst die Gelegenheit verstreichen lässt, aus dem Gefängnis zu fliehen; und wie er sich schließlich in seinen letzten Minuten verhält, als er den Schierlingsbecher trinkt und sich zum Sterben niederlegt: all diese Momente in seinem Leben sind ein Ausdruck für seine Philosophie, und die philosophische Haltung, mit der er über jede Handlung reflektiert, ist ein wesentlicher Bestandteil seiner Vorstellung davon, wie ein Leben gelebt werden sollte. Es ist unmöglich, Sokrates’ Auffassung von Philosophie zu verstehen, ohne gleichzeitig zu verstehen, welchen wichtigen Platz Philosophie in einem Leben wie diesem eingenommen hat – also in einem Leben, das Sokrates selbst zu führen bestrebt war. Als Aristoteles seine rhetorische Frage stellt, „Wer kann uns ein genauerer Maßstab und ein Richtpunkt für das Gute sein als der sittlich einsichtige Der zweite Teil dieses Textes orientiert sich sehr stark an meinem Aufsatz Philosophy and Biography, in: Wittgenstein: Biography and Philosophy, hrsg. von James C. Klagge, Cambridge 2001. 7
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Mensch?“ 8, ist er der erste in einer langen Reihe von Philosophen, die zumindest indirekt den prägenden Eindruck schildern, den die Figur des Sokrates in der gesamten antiken Philosophie hinterlassen hat. Wenn man sich die großen Schulen der hellenistischen Philosophie anschaut (die Skeptiker, die Stoiker, die Epikureer und die Neu-Platoniker), dann wird einem auffallen, dass sie alle versucht haben, Philosophie nach einem sehr breit gefassten ‚sokratischen Philosophieverständnis‘ (so würden wir es nennen) zu betreiben. Jede dieser Schulen bestärkt ihre Schüler darin, einen bestimmten Lebensstil zu verfolgen: nämlich das Leben der Weisen. Die Schulen unterscheiden sich zwar stark in ihrer Auffassung, worin eine solche Lebensweise eigentlich genau besteht. Doch jenseits dieser Unterschiede betrachten sie Sokrates als einen, der ein (mehr oder weniger angemessenes) Modell für diese Lebensweise vorgegeben hat. Man kann sagen, dass jede der philosophischen Schulen nicht nur mit jeder anderen um den Titel der einzig wahren philosophischen Auslegung kämpft, sondern auch darum, die verdiente Erbin und treueste Anhängerin der sokratischen Lebensweise zu sein. Philosophie, so verstanden, war nicht etwas, das man einfach lernen konnte, indem man beispielsweise bestimmte Bücher gelesen und eine Prüfung darüber abgelegt hat – vielmehr war es etwas, das man praktiziert hat. Sokrates’ Lebensweise war vorbildhaft für eine solche Praxis. Natürlich ging es im Laufe eines solchen Lebens auch darum, gegeneinander Argumente ins Feld zu führen bzw. abzuwehren, aber diese Diskussionen waren ein integraler Bestandteil all jener (wie Pierre Hadot sich ausdrückte) geistlichen Übungen (‚spiritual exercises‘), durch deren Ausübung man sich selbst transformieren sollte – also durch die Praxis dessen, was Wittgenstein ‚Arbeit an sich selbst‘ nannte. In all diesen Disziplinen der geistigen Ertüchtigung, die jeder der hellenistischen Philosophieschulen eigen waren, ging es letztlich darum, ein bestimmtes Telos zu befördern: Für die Skeptiker war dies das Telos der Ataraxia, also der Seelenruhe; für die Neu-Platoniker die ekstatische Vereinigung mit dem Kosmos; und so weiter. Das jeweilige Telos zu erreichen ist weder bloß eine theoretische Leistung in Abgrenzung zu einer praktischen noch umgekehrt: Es besteht vielmehr darin, sich selbst erfolgreich eine bestimmte Form zu geben, wobei dies zumindest teilweise dadurch gelingt, dass man seinem Leben eine bestimmte Form gibt. Beide Momente verwirklicht man wiederum dadurch, dass man eine gewisse Art der Einsicht erlangt. Im Hinblick auf viele kontroverse philosophische Streitpunkte gilt, dass, wenn die Epikureer geneigt wären, sich für sie einzusetzen, die Stoiker wieAristoteles: Der Protreptikos des Aristoteles, übers. von Ingemar Düring, Frankfurt/M. 1993, B39 (S. 47). 8
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derum dazu geneigt wären, das Gegenteil davon zu vertreten, und die Skeptiker sich schließlich entschieden dagegen wehren würden, eine Wahl zwischen den beiden – dem Original und dem jeweiligen Gegenteil davon – treffen zu müssen. Epikur selbst jedenfalls spricht für alle drei der wichtigsten Schulen, wenn er sagt: Leer ist die Rede jenes Philosophen, durch die kein einziges Leid eines Menschen geheilt wird. Denn wie die medizinische Kunst unnütz ist, wenn sie nicht die Krankheit des Körpers heilt, so ist auch die Philosophie unnütz, wenn sie nicht das Leid der Seele beseitigt. 9
Die Vertreter aller drei hellenistischen Schulen waren sich im Übrigen einig darin, dass dieses allgemeine Philosophieverständnis ursprünglich aus den Lehren des Sokrates stammt. Philosophie wird dabei als die Behandlung einer seelischen Krankheit verstanden, die passend mit der Methode verglichen werden kann, mit der ein Mediziner körperliche Krankheiten behandelt. Anthony Gottlieb fasst das Verhältnis der drei Schulen zu Sokrates wie folgt zusammen: Die neuen Denkschulen verdanken Sokrates mehr, als sie Platon oder Aristoteles verdanken. Es war Sokrates, der die praktische Relevanz der Philosophie betont hat. Im Kern sollte es nach Sokrates im Philosophieren darum gehen, deine Prioritäten und damit dein Leben zu ändern. Die hellenistischen Philosophen haben versucht, dieses Versprechen Sokrates’ zu halten. Insbesondere haben sie behauptet, die Art von Seelenfrieden und ruhiger Gewissheit herbeiführen zu können, die Sokrates unübersehbar besaß. 10
Während der hellenistischen und der römischen Ära war Philosophie eine Lebensweise, wie Hadot sie uns im nächsten Zitat näherbringen will: 11 Das bedeutet nicht nur, dass es sich dabei um einen bestimmten Typen moralischen Verhaltens gehandelt hat […] Vielmehr bedeutet es, dass Philosophie eine Zitiert von Porphyrios in seinen Briefen an seine Frau, Ad Marcellam 31. In: Die Hellenistischen Philosophen: Texte und Kommentare, Originaltitel: The Hellenistic Philosophers. Volume I: Translations of the Principal Sources and Philosophical Commentary, übers. von Karlheinz Hülser, hrsg. von Anthony Long und David Sedley, Stuttgart/Weimar 2000, S. 180. 10 Anthony Gottlieb: The Dream of Reason: A History of Western Philosophy from the Greeks to the Renaissance, New York 2000, S. 284. [Übers. von R. R.] 11 J. C. zitiert aus Philosophy as a Way of Life, hrsg. von Arnold I. Davidson, übers. von Michael Chase, Oxford 1995. Hierbei handelt es sich um eine Sammlung von Übersetzungen von Texten, die zum größten Teil aus Pierre Hadots Buch Exercices spirituels et philosophie antique stammen. Da es keine deutsche Übersetzung des französischen Originaltextes gibt, beziehe ich mich in meiner eigenen Übersetzung immer auf die englische Version. [Anm. d. Übers.] 9
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Weise des In-der-Welt-Existierens war, die in jedem Moment praktiziert werden sollte und dessen Ziel es war, das Leben des Einzelnen in seiner Ganzheit zu transformieren. Für die Menschen der Antike war das Wort philo-sophia – die Liebe zur Weisheit – gerade angemessen, um diesem Philosophieverständnis Ausdruck zu verleihen […]. Die Philosophie war eine Methode der geistigen Entwicklung, die eine radikale Neugestaltung und Umformung der Seinsweise des Einzelnen erforderte […]. Daher war Philosophie eine Lebensweise, die sich sowohl durch das Bemühen, Weisheit zu erlangen, auszeichnet, als auch durch das Ziel selbst, nämlich weise zu sein. Denn die wahre und ungetrübte Weisheit sorgt nicht einfach nur dafür, dass wir wissen: Sie sorgt dafür, dass wir auf eine andere Weise ‚sind‘. 12
Diesem Philosophieverständnis zufolge ist das Leben eines Philosophen der maßgebliche Ausdruck seiner Philosophie. Für einen solchen Philosophen sind seine Schriften (also dasjenige, was wir versucht sind als seine ‚Arbeit‘ zu bezeichnen) bloße Mittel, um das Gelingen seiner ‚Arbeit an sich selbst‘ zu erleichtern, die wiederum (richtig verstanden) die eigentliche philosophische Tätigkeit ausmacht. Dies hat natürlich Auswirkungen auf die Rolle, die Texte, in denen es darum geht, das Leben eines Philosophen darzustellen, in der philosophischen Grundlagenarbeit spielen können. Die Verwendung von Anekdoten und biographischen Hinweisen in griechischen und römischen Texten, welche sich auf das Leben von Philosophen beziehen, dienen nicht einfach nur dazu, den Text aufzupeppen, während es in diesem (insofern er den Anspruch hat, eine Philosophie zu entwickeln) eigentlich primär um etwas anderes gehen sollte. Das Gegenteil ist der Fall. Anekdoten über den Lebensstil eines Philosophen werden von den Alten als Mittel herangezogen, nicht nur, um den zu diskutierenden Lehrsatz zu veranschaulichen, sondern auch, um ihn zu beurteilen. 13
Pierre Hadot: „The Figure of Socrates“, in: Philosophy as a Way of Life, S. 265. Welche Rolle genau solche Anekdoten in den Schriften antiker Philosophie spielen sollten, ist eine heikle und komplizierte Frage. So viel scheint aber klar zu sein: Wenn jemand tatsächlich davon ausgeht, dass eine Betrachtung der Lebensweise eines Philosophen in irgendeiner Weise zu der Beurteilung der Stichhaltigkeit seiner philosophischen Thesen beitragen kann, dann wirkt sich das auf dessen Auffassung aus, welche Rolle und welche Geltung Ad-hominem-Argumente (also das, was wir bisher als Ad-hominem-Argumente bezeichnen) haben sollten. Unabhängig davon fällt es dem modernen Leser oft schwer, nicht von der Fülle scheinbar irrelevanter biographischer Details erschlagen zu werden, die in den Diskussionen antiker Philosophen über die Ansichten der jeweils anderen angeführt werden. Ihre Relevanz ist tatsächlich nur schwer einsichtig. Schauen Sie sich die Weise an, wie Aristoteles seine Auseinandersetzung mit den politischen Grundsätzen von Hippodamus einleitet – ein sehr amüsantes, aber dennoch passendes Beispiel: 12 13
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Arnoldo Momigliano drückt dies in The Development of Greek Biography wie folgt aus: Anekdoten [über Philosophen] dienten dazu, Lebens-, Denk- und Verhaltensweisen zu charakterisieren. Wenn Phainias von Eresos in seinem Buch über die Sokratiker behauptete, dass Aristippos der erste Sokratiker war, der für sein Studium bezahlt hat und Geld durch das Unterrichten verdiente, dann muss diese Bemerkung dazu gedient haben, die hedonistischen Neigungen von Aristippos zu charakterisieren oder vielleicht sogar abschätzig zu kommentieren. 14
Momigliano unterscheidet die Praxis der freien Einstreuung von Anekdoten von der antiken Praxis des eigentlichen Biographie-Schreibens (also von der Praxis eine historische Erzählung über den Lebenslauf einer Person anzufertigen, angefangen von der Geburt bis zum Tod). Nichtsdestotrotz, argumentiert Momigliano, haben die zwei verschiedenen Praxen zumindest dies gemeinsam: Beide wurden „im Allgemeinen von Philosophen als Waffe gegen verfeindete Schulen benutzt“. 15 Arnold Davidson drückt diesen Punkt wie folgt aus: Die Bedeutung der Philosophie verstanden als Lebensweise zeigt sich in der Aufmerksamkeit, die Biographien in den Arbeiten antiker Philosophien gezollt wird […]. Keineswegs war die philosophische Biographie in erster Linie dazu da, einem ein Verständnis des Autors und seiner Thesen zu ermöglichen; sie war nicht bloß ein Bericht dessen, was der Autor gesagt und gedacht hat. Vielmehr „[…] war sie in erster Linie ein Werkzeug philosophischer Kriegsführung […]“, da man jemandes Philosophie anhand der charakteristischen Lebensweise derer, die sie unterstützt haben, verteidigen oder diskreditieren konnte. 16
„Hippodamus aber, der Sohn des Euryphon aus Milet – der die Abteilung der Städte erfand [in einzelne Viertel] und den Piräus durchschnitt [mit ordentlichen Straßen], ein Mann, der in seinem Privatleben [jenseits seiner innovativen Leistungen] aus Eitelkeit ins Maßlose verfiel, dass er auf manche einen fast geckenhaften Eindruck machte, sowohl durch sein langes, wohlgepflegtes Haar, wie durch das Prahlen mit einem wohlfeilen Kleid, das er gleichmäßig im Sommer und Winter trug, der dann aber auch noch die Schwachheit hatte, als gründlicher Naturforscher gelten zu wollen –, dieser Hippodamus also war der erste, der, ohne praktischer Staatsmann zu sein, es unternahm, etwas über die beste Staatsverfassung zu sagen.“ Aristoteles: Politik, übers. von Eugen Rolfes, Hamburg 1995, 2.1267b22–30. Kann die Beobachtung, dass ein Philosoph sein Leben auf zu ‚vergeistigte und modische Weise‘ verbringt, Aufschluss über den Charakter seiner Philosophie geben? 14 Arnoldo Momigliano: The Development of Greek Biography, Cambridge MA 1971, S. 71. [Übers. von R. R.] 15 Ebd. S. 84. 16 Arnold Davidson, „Editor’s Introduction“, in: Philosophy as a Way of Life, S. 30. Das
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Die Rolle des eigentlichen Biographie-Schreibens in der antiken Philosophiepraxis (in Abgrenzung zum bloßen kämpferischen Einsatz von Anekdoten) war keineswegs auf die ausschließlich negative Funktion beschränkt, die Grenzen einer bestimmten philosophischen Richtung in ihrem Bemühen, das Leben gänzlich zu durchdringen, aufzuzeigen. Antike Biographien erfüllen auch eine wichtige positive Funktion: Sie bilden die fundamentale Darstellungsform der philosophischen Lebensweise selbst. Die Tradition der philosophischen Biographie, so verstanden, begann mit Platons und Xenophons jeweiliger Dokumentierung von Sokrates’ Leben. Die Praxis, die sich dieser Darstellungstechnik des individuellen Lebenslaufs widmet, spezialisiert sich dabei auf die Durchdringung des Lebens durch die Philosophie – etwas, worum jeder Mensch durch seine Lebensweise zwangsläufig mehr oder weniger bemüht ist. Diese Art des Biographie-Schreibens beschränkt sich keineswegs auf das Leben von Personen, die wir heute als Philosophen klassifizieren würden. Im antiken Griechenland und im alten Rom haben alle Biographien Anteile philosophischen Biographie-Schreibens, verhandeln also die philosophische Dimension des Lebens der jeweiligen Einzelperson. Jenes Dasein, das die antike Kunst des Biographie-Schreibens einzufangen versucht, wird somit (neben dem, was es sonst auszeichnet) zu der Verkörperung eines bestimmten Philosophieverständnisses. Die Biographie, so aufgefasst, ist eine Darstellung des Lebens einer Person – ob es sich dabei um das Leben eines Poeten, eines Staatsmannes, eines Generals oder eines Heiligen handelt – im Hinblick auf deren großartige, wenngleich auch oft großartig fehlerhafte Persönlichkeit. Was diese Darstellung hervorzuheben versucht, sind alle Etappen und Aspekte innerhalb eines solchen Lebenslaufs, die nachahmenswert sind, aber auch alle, die eher zu vermeiden sind – also sowohl das, was wegen seiner Vollendung ein musterhaftes Vorbild, und das, was wegen seiner Minderwertigkeit ein abschreckendes Beispiel abgibt. Die Biographie versucht den Aufstieg ihrer ‚Hauptfigur‘ bis an die Spitze ihres Erfolges zu beleuchten, während sie gleichermaßen unsere Aufmerksamkeit auf zweitrangige biographische Details lenkt, damit wir den gesamten Spannungsbogen – der vielleicht in einem tragischen Absturz endet – als eine Sammlung nicht bloß zufällig miteinander verknüpfter Momente begreifen können. 17 Momigliano argumentiert: Gerade weil der Sinn einer Lehre davon, wie zu leben ist, der durch solche Darstellungen eine Gestalt verliehen wird, darin besteht, ein Ideal zum Ausdruck zu bringen – und nicht nur eine historische Tatsache zu dokumentieren –, eingefügte Zitat stammt von Giuseppe Cambiano: La figuradel filosofo e le altre forme del sapere, in: Quaderni di Storia 37/d7 (1993), S. 81. 17 Ich reformuliere hier Bemerkungen aus meinem Aufsatz „Philosophy and Biography“.
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muss die Praxis des Schreibens von philosophischen Biographien in der Antike sorgfältig von der Praxis der Geschichtsschreibung abgegrenzt werden. So schreibt er: Die Sokratiker haben ihre Zeitgenossen zur Weißglut getrieben. Und sie treiben einen noch heute zur Weißglut. Am meisten frustrierend sind sie jedoch, wenn man sich ihnen aus dem Blickwinkel eines Biographen nähert. Wir mögen Biographien, wenn sie wahr oder falsch sind, ehrlich oder unehrlich sind. Wer aber kann diese Terminologie verwenden, um Platons Phaidon oder seine Verteidigungsrede zu beschreiben oder sogar Xenophons Erinnerungen an Sokrates? […]. Die Tatsache, die wir akzeptieren müssen, ist, dass das Biographie-Schreiben einen neuen Sinn bekommen hat, als die Sokratiker in die Grauzone zwischen Wahrheit und Fiktion vorgestoßen sind, was sehr verwirrend für einen professionellen Historiker ist. Wir werden nicht begreifen, was eine Biographie im vierten Jahrhundert war, wenn wir nicht anerkennen, dass sie entstanden ist, um eine oszillierende Zwischenstellung zwischen Fakt und Fantasie einzunehmen. Machen wir uns nichts vor. Angesichts eines Mannes wie Platon und eines kleineren, aber keineswegs einfacher gestrickten Mannes wie Xenophon handelt es sich hier gewiss um ein gewolltes Oszillieren. Die Sokratiker haben mit ihren Biographien experimentiert und die Experimente zielten darauf, die Möglichkeiten (vielmehr als die Wirklichkeiten) der einzelnen Lebensgeschichten einzufangen. Sokrates, die Hauptfigur ihrer Überlegungen, […] war weniger der reale Sokrates als vielmehr eine mögliche Version seiner selbst. Er war kein toter Mann, dessen Leben einfach nacherzählt werden konnte. Er war der Steuermann, der uns in noch unbekannte Gefilde steuern soll. […] Die Griechen und die Römer haben verstanden, dass das Schreiben über das Leben eines Mitmenschen nicht dasselbe ist wie Geschichtsschreibung […]. Indem sie das Schreiben von Biographien von der Geschichtsschreibung getrennt hielten, konnten die Griechen und die Römer dasjenige würdigen, das den Poeten, den Philosophen, den Märtyrer und den Heiligen ausmacht.“ 18
Was eine solche Darstellung eines Lebenslaufs hervorzuheben versucht, ist nicht – und konnte für das Altertum auch nie – unabhängig davon sein, was Philosophie ist. Plutarchs Schilderung des Lebensweges eines (sagen wir) bestimmten Staatsmannes oder Generals zielte in jedem Fall darauf ab, zu zeigen, wie die Philosophia ihren Ausdruck in diesem Lebensweg findet. Einen antiken Philosophen mit Sokrates zu vergleichen und dabei gewisse Ähnlichkeiten zwischen seinem Leben und dem von Sokrates festzustellen war für die antike Welt nichts Bemerkenswertes. Dass es da etwas in dieser Hinsicht zu bemerken gibt, war für die Menschen der Antike eine grammatische Wahrheit. In diesem Sinne schauten die nachfolgenden hellenistischen 18
Momigliano: The Development of Greek Biography, S. 46 und S. 104. [Übers. von R. R.]
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und römischen Philosophen auf Sokrates zurück als jemanden, der der Denkgeschichte eine unumkehrbare Zäsur bereitet hat. Cicero fasst sein Verständnis dieser historischen Situation wie folgt zusammen: „Aber von der alten Philosophie an bis zu Sokrates […] wurden die Zahlen und Bewegungen studiert und die Frage, woher alles käme und wohin es unterginge; ebenso erforschten sie aufmerksam die Größen, Abstände, Bahnen der Gestirne und alle Himmelserscheinungen. Sokrates hat als erster die Philosophie vom Himmel heruntergerufen, sie in den Städten angesiedelt […] und sie gezwungen, nach dem Leben, den Sitten und dem Guten und Schlechten zu forschen.“ 19
Ein Leben, das jeglicher sokratischer Merkmale ermangelte, wäre für einen Philosophen aus dem antiken Rom ein Leben gewesen, in dem die Philosophia selbst keinen Ausdruck hätte finden können. Die Behauptung, dass das Leben eines antiken Philosophen in keinerlei Weise dem von Sokrates ähnelte, wäre überhaupt nicht verständlich gewesen. Umgekehrt wäre die Behauptung, dass ein beliebiger antiker Philosoph, sagen wir Diogenes oder Epikur oder Seneca oder Cicero, danach strebte, eine bestimmte Form von Philosophie zu praktizieren, die Ähnlichkeiten mit der von Sokrates aufweist, ein Allgemeinplatz gewesen.
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Man könnte diesen letzten Punkt wie folgt umformulieren: Von einem antiken Philosophen zu behaupten, dass sein Philosophieverständnis sokratische Merkmale enthält, bedeutet eine grammatische Wahrheit zu behaupten. Etwas Entsprechendes über den durchschnittlichen, zeitgenössischen Philosophieprofessor zu sagen, bedeutet eine gehaltvolle und informative Aussage zu tätigen – eine, die sich als falsch erweisen kann. Vielleicht ging es in der Philosophie einst darum, eine bestimmte Art von Leben zu führen – vielleicht pflegte man zu dieser Zeit keinen Unterschied zu machen zwischen der Einsicht in die richtige Lebensweise, die eine bestimmte Philosophieschule ihren Anhängern auferlegte, und der Einsicht in die richtige Philosophie selbst. Aber vielleicht kann die Beziehung zwischen jemandes Lebensweise und dessen Philosophie für uns nicht länger das sein, was sie für das Altertum war. Uns wird gesagt, dass die Philosophen heutzutage die Weisen längst nicht mehr als akkuraten Maßstab für irgendetwas betrachten. Marcus Tullius Cicero: Tusculan Disputations, übersetzt von Olof Gigon, München 1970, Kapitel V, Vers 10. 19
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Heutzutage lernen wir uns in allen Fragen zunächst und zumeist von derjenigen philosophischen Theorie leiten zu lassen, die gut argumentiert ist; und man muss auch nicht weise sein, um eine mustergültige Anwendung einer solchen Theorie vorzulegen. Alles, was man sein muss, ist ein guter Philosoph. Dies bringt uns zu der folgenden Frage: Was können wir daraus schließen, dass selbst Gelehrte, die sowohl Sokrates als auch Wittgenstein gut kennen, Schwierigkeiten haben können, unsere Prüfungsfragen zu beantworten? Zweifellos können wir eine Menge an interessanten Dingen daraus schließen; nicht zuletzt kann es uns helfen zu erkennen, dass da etwas fundamental Irreführendes ist an einer gewissen, weitverbreiteten Karikatur von Wittgenstein. Demnach wird sein Philosophieverständnis oft so präsentiert, als stünde es im Gegensatz zu allen vorgängigen Auffassungen von Philosophie – als wäre es sein Ziel gewesen, allem und jedem, das sich vorher ‚Philosophie‘ genannt hat, ein Ende zu bereiten – als repräsentierte er eine besonders reine Verkörperung des Anti-Philosophen. Aber wenn jemand über Wittgenstein sprechen will – das heißt, wenn einer das Wort ‚Philosophie‘ benutzen will, um sich damit (was Wittgenstein übrigens auch tut) auf die Art von Tätigkeit zu beziehen, die er in seinen Schriften beispielhaft vorzuführen versucht –, dann ist die Behauptung, dass dieses Philosophieverständnis sokratische Merkmale enthält, wiederum eine grammatische Wahrheit. 20 Das lässt vermuten, dass Wittgenstein weitaus mehr von einem traditionellen Philosophieverständnis übernehmen möchte, als seine Klischeevorstellung des puren AntiPhilosophen eigentlich erlaubt. Dieser Umstand hängt wiederum notwendig mit dem Grund zusammen, warum uns die Examensfragen vor die Herausforderungen stellen, vor die sie uns gestellt haben. In einer Weise, die stark an die antiken Darstellungen der Überlegungen eines Philosophen erinnert, machen sich viele Ansätze, die einen Überblick über Wittgensteins Philosophie geben wollen, die Mühe, eine Fülle von Anekdoten und biographischen Details über Wittgensteins Leben zusammenzutragen. Wittgensteins Philosophie muss laut vielen Kommentatoren auf ähnliche Weise wie die von Sokrates und Pythagoras gehandhabt werden. Das liegt sicherlich nicht nur daran, dass Wittgenstein einen Lebensstil pflegte, der viel Anlass für Anekdoten bot, sondern auch daran, dass die fraglichen Anekdoten und Details für die Urheber solcher Kommentare hilfreich waren, um etwas über Wittgenstein als Philosophen ans Tageslicht zu bringen. Gewiss, er war Sebastian Grève argumentiert für diese Behauptung und bietet dabei eine detaillierte Exegese sowohl von Platons sokratischen Dialogen als auch von Wittgensteins Schriften in seinem Aufsatz „The Importance of Understanding Each Other in Philosophy“, in: Philosophy 90/2 (2015), S. 213–39. 20
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ein komischer Kauz, der ein ungewöhnliches Leben geführt hat; und ja, natürlich, Wittgensteins Leben hat viel Zündstoff anzubieten für die gelegentlichen, unterhaltsamen Abschweifungen. Aber die Urheber jener Kommentare über Wittgensteins Philosophie, um die es hier geht, haben gewiss nicht die Absicht abzuschweifen, wenn sie den fraglichen ‚Stoff ‘ aufbereiten; vielmehr meinen sie eine intime, wenn auch schwer fassbare Verbindung zwischen der Exzentrik von Wittgensteins Lebensstil und der Schwierigkeit seiner Überlegungen zu sehen. 21 Es ist aber zu bezweifeln, dass die meisten von ihnen sich auch nur vorstellen könnten, eine solche Verbindung zu sehen, wenn sie sich nicht durch etwas in Wittgensteins eigenen philosophischen Texten dazu ermutigt gefühlt hätten. Aber durch was? 22 Schauen Sie sich diese fünf Passagen von Wittgenstein an: 1. Es ist unmöglich wahrer über sich selbst zu schreiben, als man ist! 23 2. Nichts ist so schwer als sich nicht betrügen. 24 3. Wer in sich selbst nicht hinuntersteigen will […], bleibt natürlich auch mit dem Schreiben an der Oberfläche. 25 4. Die Arbeit an der Philosophie ist […] eigentlich mehr die Arbeit an Einem selbst. 26 5. Revolutionär wird der sein, der sich selbst revolutionieren kann. 27
Ich werde diese Anmerkungen als ‚sokratische Anmerkungen‘ bezeichnen. Zahllose ähnliche Passagen können überall verteilt in Wittgensteins Texten gefunden werden. 28 Eine solche Anmerkung könnte bei einer bestimmten Art Der Fall von Saul Kripke kann an dieser Stelle als nützlicher Kontrastpunkt dienen. Es gibt viele Anekdoten über Kripke, die auch in der heutigen philosophischen Gesellschaft noch erzählt werden. Aber niemand fühlt sich genötigt dazu, auch nur eine davon im Rahmen einer Analyse von Kripkes philosophischen Texten anzuführen. Ich diskutiere die Frage der Beziehung zwischen Philosophie und Biographie – und warum die Beziehung zwischen den beiden Bereichen im Falle einiger Philosophen wichtiger dafür ist, ein Verständnis ihrer Philosophie zu erlangen, als im Falle anderer – in meinem Essay „Philosophy and Biography“. 22 Der Rest des dritten Teils dieses Aufsatzes schöpft zu großen Teilen aus meinem Aufsatz „On Going the Bloody Hard Way in Philosophy“, in: The Possibilities of Sense: Essays in Honour of D. Z. Phillips, hrsg. von John H. Whittaker, Basingstoke 2002. 23 Ludwig Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen, in: Werkausgabe (Band 8), Frankfurt/ M. 1984, S. 496. 24 Ebd. S. 497. 25 Ludwig Wittgenstein: Portraits und Gespräche, hrsg. von Rush Rhees, Frankfurt/M. 1992, S. 238. Aus: Nachlass, MS-120, 72v. Wittgensteins Nachlass ist online einsehbar unter http:// wab.uib.no/wab_nachlass.page/. 26 Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen, S. 472. 27 Ebd. S. 513. 28 „Aber diese Textpassagen“, könnte jemand einwenden, „stammen hauptsächlich aus einem einzigen Werk: Vermischte Bemerkungen – jenes Werk, das Wittgenstein ausschließ21
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von Leserin als ein non-sequitur aufstoßen, wenn sie mit bestimmten Vorurteilen an die Lektüre des Textes herantritt. Wenn sie über eine solche Anmerkung stolpert, dann kann diese ihr als eine Abweichung vom eigentlichen Geschäft der philosophischen Arbeit erscheinen – als ein plötzlicher Exkurs zu einer ganz anderen und viel allgemeineren, methodischen Fragestellung. Aber wir sollten uns fragen: Was ist denn das eigentliche Geschäft? Wenn eine der fünf Bemerkungen, sagen wir, mitten in einer von Wittgensteins längeren philosophischen Überlegungen plötzlich auftaucht (bspw. da, wo er diskutiert, ob es mir möglich ist, ganz privat eine hinweisende Definition für etwas zu geben; ob es einer anderen Person möglich ist, meine Schmerzen zu haben; oder ob es eine Regel geben könnte, die jemand nur ein einziges Mal befolgt, etc.), würde das einen Themenwechsel bedeuten? Warum erscheinen diese ‚sokratischen Anmerkungen‘ mitten in Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen? Wenn solch eine Anmerkung inmitten einer von Wittgensteins Untersuchungen auftaucht, dann wird damit kein plötzlicher Themenwechsel eingeläutet.Wittgenstein unterbricht mit diesen Anmerkungen seine Überlegungen, um für einen Moment Abstand zu nehmen und eine bestimmte Schwierigkeit zu beschreiben, gegen die man ankämpfen muss, wenn man sich solchen philosophischen Überlegungen widmet. Daher wird man nicht verstehen, wovon diese Anmerkungen handeln, solange man nicht versteht, warum sie in dieser Art von Kontext innerhalb von Wittgensteins Arbeiten auftreten, in denen sie typischerweise auftreten. 29 lich ethischen, ästhetischen oder religiösen Themen widmet.“ Das ist aber nicht wahr. Wittgenstein hat nie ein solches Werk geschrieben. (Er hat es nicht einmal geplant.) Die Passagen, die in Vermischte Bemerkungen gesammelt sind, stammen alle aus Wittgensteins Nachlass. Hier sind die Nachweise für jede einzelne Passage: 1. MS-120, 51v. 2. MS-120, 141v. 4. MS112, 24r. 5. MS-165, 204. [Anm. d. Übers.] (Werfen Sie dazu einen Blick in die überarbeitete Ausgabe von Vermischte Bemerkungen, vor allem auf den neu hinzugefügten Anhang darin, der eine vollständige Liste der Manuskriptquellen enthält: Alois Pichler: Ludwig Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen: Liste der Manuskriptquellen, hrsg. von den WittgensteinArchiven an der Universität Bergen, 1991.) Die Textstellen aus Vermischte Bemerkungen, die hier zitiert sind, treten – wie viele Passagen aus Vermischte Bemerkungen – im Original, also in Wittgensteins Manuskripten, mitten in seinen Untersuchungen auf, nämlich dann, wenn er solche Fragen diskutiert wie „Was bedeutet es einer Regel zu folgen?“, oder „(…) ein Objekt zu benennen?“, oder „(…) die Bedeutung eines Wortes zu verstehen?“, usw. 29 Und um die polemische Pointe dieses Punktes etwas hervorzuheben: Man kann viele der Bemerkungen, die in Neuauflagen von Wittgensteins posthum veröffentlichten Texten wie Vermischte Bemerkungen erscheinen, nicht verstehen, wenn aufgrund eines angeblichen „close reading“ des Textes – also von „dem Werk“ – tatsächlich ganz und gar vernachlässigt wird, welche Art von Fragen Wittgenstein untersucht. Die Fragen, die den Großteil seiner Schriften ausmachen, sind folgender Art: „Was bedeutet es einer Regel zu folgen?“, oder „(…) ein Objekt zu benennen?“, oder „(…) die Bedeutung eines Wortes zu verstehen?“, usw.
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Wittgensteins Anmerkung (2), dass „nichts so schwer ist, als sich nicht selbst zu betrügen“, hebt weder eine Schwierigkeit des Philosophierens gegenüber einer Schwierigkeit des Lebens hervor noch umgekehrt. Jemandes Fähigkeit, Selbstbetrug im Philosophieren zu vermeiden, kann weder stärker noch schwächer ausgeprägt sein als seine Fähigkeit, einen Selbstbetrug in Dingen außerhalb der Philosophie zu vermeiden. Wittgenstein beschließt eine Überlegung über die Folgen, die die beinahe unausbleibliche Tendenz, „sich selbst zu belügen“, für das eigene Schreiben hat, mit folgender Bemerkung (3): „Wer in sich selbst nicht hinuntersteigen will […], bleibt natürlich auch mit dem Schreiben an der Oberfläche.“ Außerdem sagt er: „Wer sich selbst nicht kennen will, der schreibt eine Art Betrug.“ 30, 31 Wittgensteins Argument ist das folgende: Wenn du nicht willens bist, in dich hinunterzusteigen, dann bleibst du mit deinem Denken (und Schreiben) im Allgemeinen an der Oberfläche. A fortiori bleibst du in deinem Bemühen, Philosophie zu betreiben, oberflächlich. Folglich gilt, so schreibt Wittgenstein an Malcom in einem Brief vom 16. 11. 1944: „Sie können nicht ordentlich denken, wenn Sie sich nicht wehtun wollen.“ 32 Ist das eine Aussage darüber, wie man zu leben oder wie man zu philosophieren hat? „Wer in sich selbst nicht hinuntersteigen will […], bleibt natürlich auch mit dem Schreiben an der Oberfläche.“ Wittgenstein hat aber auch eine zu diesem Gedanken beinahe entgegengesetzte Position: Wenn jemand in seinem Denken und Schreiben oberflächlich bleibt, dann kann dies Aufschluss über den Charakter der Person geben, dessen Denken und Schreiben dies ist. Es ist, nach Wittgenstein, nicht nur möglich, Merkmale des Charakters einer Person in der Art und Weise, wie sie philosophiert, auszumachen; es ist sogar wesentlich für die Bildung jeder richtigen Einsicht in ihre Philosophie, dass man dazu in der Lage ist. Wenn Wittgenstein selbst auf seine Einsichtsfähigkeit zurückgreift und Urteile über die philosophischen Arbeiten anderer fällt, setzt er nie
Versucht man die Bemerkungen, die in dem Text Vermischte Bemerkungen gesammelt sind, in dieser Weise auszulegen, dann vernachlässigt man nicht nur ihren eigentlichen Zusammenhang, sondern letztlich auch, was für Wittgenstein Philosophie ist und wie diese Auffassung von Philosophie sich in seinem Philosophieren zeigt. 30 Ludwig Wittgenstein: Portraits und Gespräche, S. 238. Aus: Nachlass, MS-120, 72v. 31 Interessant in diesem Zusammenhang könnte für Sie auch die Anmerkung über die Beziehung zwischen dem Betrug an den anderen und dem Betrug an sich selbst sein, die Wittgenstein verschlüsselt zwischen seine ‚Notizen für die Philosophieverlesungen‘ (Notes for the ‚Philosophical lecture‘) einstreut: „Wenn du schon andere betrügst, dann betrüge wenigstens nicht dich selbst; und wenn du dich nicht selbst betrügst – warum solltest du dann die anderen betrügen?“ [Übersetzt von R. R.] Nachlass, MS 166, 12r. 32 Norman Malcom: Ludwig Wittgenstein. Ein Erinnerungsbuch, S. 55.
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sonderlich tief unter der Oberfläche an. 33 Lassen Sie mich diesen Punkt aber positiver und stärker im Geiste Wittgensteins formulieren: Die Seele einer Person zeigt sich in der Seele ihrer Philosophie, die sich wiederum in der Art und Weise zeigt, wie diese philosophiert. Und die andere Seite dieser Medaille – die Plutarch’sche Kehrseite sozusagen – könnte wie folgt formuliert werden: Die Seele der Philosophie einer Person zeigt sich darin, wie sie lebt. Dank der zahlreichen Bemerkungen über andere Denker, die Wittgenstein quer über seine Tagebücher streut und immer wieder in seinen aufgezeichneten Gesprächen fallengelassen hat, sind die vielseitigen Methoden, mit denen er selbst die Merkmale des Charakters einer Person in dem Charakter ihrer Philosophie sichtbar gemacht hat, äußerst lebendig dokumentiert. So sagt Wittgenstein über Frank Ramsay: „Die Unfähigkeit R’s zu wirklichem Enthusiasmus oder zu wirklicher Verehrung, was das selbe ist, widerte mich endlich mehr & mehr an.“ 34 Wittgenstein kommentiert hier eine Eigenheit Ramsays, die Rückschlüsse über sein Gemütsleben zulässt, welche sich wiederum (obwohl nicht ausschließlich) in der Art und Weise zeigt, wie er auf philosophische Probleme antwortet. Worum es hier letztlich geht, ist eine Art Mangel an Emotionalität, der weder bloß die Persönlichkeit betrifft noch bloß die philosophische Praxis, sondern vielmehr beides gleichermaßen (und in Wittgensteins Augen beides gleichermaßen verhängnisvoll). Maurice Drury hat einmal zu Wittgenstein gesagt: „Alles, was ich von William James gelesen habe, hat mir gefallen. Er ist so menschlich.“ Und Wittgenstein hat darauf erwidert: „Ebendeshalb ist er auch ein guter Philosoph; er war wirklich ein Mensch.“ 35 Dass James ein ‚echter Mensch‘ ist, hält Wittgenstein für ein Merkmal, das er als Leser von James’ philosophischen Schriften durchaus herauslesen kann. Und die Einschätzung, die er in dieser Hinsicht über James qua Person trifft, die trifft er keineswegs unabhängig von seiner Einschätzung über James qua Philosoph. Wenn Wittgenstein über A. J. Ayer bemerkt, dass „[er] zwar etwas zu sagen hat, aber er ist unglaublich seicht“ 36, dann ist das zunächst natürlich eine Bemerkung über die Seichtheit von Ayers Philosophie. Aber es ist eben nicht nur eine Bemerkung über die Qualität von Ayers philosophischen Bemühungen, und als solche entbehrt die Bemerkung auch nicht einer Einschätzung Das Herauslesen der Charaktermerkmale einer Person an der Art und Weise, wie sie philosophiert, ist wesentlich für das Vermögen, (wahre) Philosophie von dem zu unterscheiden, was Wittgenstein mit Vorliebe ‚(bloße) Klugheit‘ nannte – eine Unterscheidung, die vielen von Wittgensteins Urteilen über die Arbeiten anderer ‚Philosophen‘ zugrunde liegt. 34 Ludwig Wittgenstein: Denkbewegungen, Tagebücher 1930–1932/1936–1937, hrsg. von Ilse Sommavilla, Innsbruck 1997, S. 21. 35 Ludwig Wittgenstein: Portraits und Gespräche, S. 153. 36 Ebd. S. 219. 33
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der Seichtheit oder Tiefe des Gemüts derjenigen Person, von deren philosophischen Bemühungen sie handelt. 37 Ähnliches gilt, wenn Wittgenstein über den Anthropologen James Frazer das Folgende sagt: „Frazer ist viel mehr savage, als die meisten seiner savages.“ 38 Dies ist abermals ein Kommentar über den Menschen selbst wie auch über sein Denken. Wovon dieser Kommentar handelt, offenbart sich in Frazers Texten über die verschiedenen Lebensformen, die er studiert – und ein Teil dessen, was sich dort offenbart, betrifft auch die Frage, welche möglichen Weisen zu denken und zu leben Frazer verschlossen bleiben (und welche nicht). Wittgensteins Bemerkung (1), dass „es unmöglich ist wahrer über sich selbst zu schreiben, als man selbst ist!“, handelt gleichzeitig von einer charakterlichen und einer philosophischen Herausforderung: Wenn du nichts über dich selbst schreiben kannst, das wahrhaftiger ist, als du selbst bist, dann gilt auch, dass du nichts Philosophisches schreiben kannst, das wahrhaftiger ist, als du selbst bist. Für Wittgenstein sind beide Herausforderungen untrennbar – sie sind Momente ein und derselben Herausforderung. 39 Man kann, wenn man will, ‚Deutlichkeit‘ und ‚Klarheit‘ als Wörter betrachten, die sich auf Dinge beziehen, die Wittgenstein in der Philosophie erreichen will und für deren Durchsetzung er sich abmüht. Und man wäre gleichermaßen dazu berechtigt, unter den Wörtern ‚Ehrlichkeit‘ und ‚Anständigkeit‘ 40 Sachen zu verstehen, mit deren Umsetzung im eigenen Leben man ebenso zu kämpfen hat. Wenn Sie tatsächlich Philosophie betreiben, aber ganz entschieden nicht in dem Geist von Wittgenstein, dann werden diese beiden Herausforderungen Ihnen als völlig unabhängig voneinander erscheinen. Aber wenn Sie sich gerne als Interessant in dieser Hinsicht ist auch Ray Monks Rezension von Ben Rogers’ A. J. Ayer: A Life, in: The Sunday Times, June 13, 1999, Book Section, S. 12. 38 Ludwig Wittgenstein: „Bemerkungen über Frazers ‚The Golden Bough‘“, in: Synthese 17/3 (1967), S. 240. 39 Eine weitere damit verbundene doppelseitige ‚Schwierigkeit‘, die immer wieder in Wittgensteins Tagebüchern als ein für ihn dringliches Thema auftaucht, ist die Gefahr des Hochmuts (oder der Eitelkeit). Betrachten Sie die folgende Anmerkung: „Das Gebäude deines Stolzes ist abzutragen. Und das gibt furchtbare Arbeit.“ (Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen, S. 485) Aber diese „furchtbare Arbeit“ ist nach Wittgenstein sowohl persönlicher als auch philosophischer Natur. In einem der denkbaren Vorwörter, die er für ein mögliches Buch verfasst hat, schreibt Wittgenstein: „Ich möchte sagen ‚dieses Buch sei zur Ehre Gottes geschrieben‘, aber das wäre heute eine Schurkerei, d. h. Es würde nicht richtig verstanden werden. Es heißt, es ist in gutem Willen geschrieben und soweit es nicht mit gutem Willen, also aus Eitelkeit etc., geschrieben, soweit möchte der Verfasser es verurteilt wissen. Er kann es nicht weiter von diesen Ingredienzen reinigen, als er selbst davon rein ist.“ [Hervorgehoben von J. C.] Wittgenstein: Philosophische Bemerkungen, Vorwort. 40 Deutsch im Original. [Anm. d. Übers.] 37
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jemand sehen würden, der Philosophie in einem irgendwie wittgensteinianischen Geist betreibt – oder, wenn wir schon dabei sind, in einem sokratischen Geist –, dann werden diese beiden Herausforderungen für sie zu zwei Aspekten einer einzigen Herausforderung, wobei jeder Aspekt den jeweils anderen mitbestimmt. Als Wittgenstein seiner Schwester schreibt: „Nenn mich einen Wahrheitssucher und ich will’s zufrieden sein“ 41, dann beschreibt er den Charakter seines Bemühens mit einem Begriff, der für ihn sowohl ein philosophisches als auch ein ethisches Ideal ausdrückt. 42 Alles philosophische Denken und Schreiben hat für Wittgenstein dementsprechend seine ethischen Aspekte. Wittgenstein dachte, dass das, was – und noch wichtiger wie – wir denken, Aufschluss darüber geben kann, wer wir sind – und wie wir leben, und dass besser zu denken lernen (und, allem voran, seine Denkweise zu ändern) Teil des Lernprozesses ist, besser zu werden, das heißt, Teil davon ist, ein (wie Wittgenstein es nennt) „besserer Mensch“ zu werden. 43 Obwohl Wittgenstein in bestimmter Hinsicht als einer erscheint, der ‚keine Ethik hat‘ (und zwar dann, wenn ‚Ethik‘ einen Zweig der Philosophie meint, der seinen ganz eigenen Forschungsgegenstand hat 44), steht, in einer anderen Hinsicht, sein Denken und Schreiben auf jeder Seite seines Werkes unter einem ethischen Anspruch. 45 Und wenn Im Prüfungsteil habe ich das ‚’s‘ an dem Wort ‚will‘ im Originalwortlaut weggelassen. [Anm. d. Übers.] 42 Diese Bemerkung taucht in einem Brief an seine Schwester auf; ein Brief an Helene Salzer (geborene Wittgenstein), der zitiert wird in: Ludwig Wittgenstein, Sein Leben in Bildern und Texten, hrsg. von M. Nedo und M. Ranchetti, Frankfurt/M. 1983, S. 292. 43 Wittgenstein denkt in diesem Sinne nicht nur, dass die Mängel einer Person qua Person seine Vorstellungskraft und seine Fähigkeit zur Reflexion qua Philosoph beschränken; er denkt auch, dass die Praxis des Philosophierens ein mögliches Mittel darstellt, diese Mängel einer Person qua Person zu beseitigen. Darin besteht sowohl die Hoffnung als auch die Gefahr der Philosophie: Sein ganzes Leben hinweg bildet der Gedanke, dass durch die Entwicklung ihres philosophischen Gespürs eine Person grundlegend (zum Guten oder zum Schlechten) sich selbst als Person formt, einen wichtigen Ansporn für sein Vorhaben, Philosophie zu betreiben (das heißt, das zu betreiben, wovon er hofft, dass Philosophie es im besten Fall sein kann), aber auch einen wichtigen Grund, Philosophie zu fürchten (das heißt, das zu fürchten, was Philosophie im schlimmsten Fall einer Person antun kann). 44 Ich gehe hier davon aus, dass der Ausdruck ‚Ethik‘ in Wittgensteins Terminologie sich in keinem fundamentaleren Sinn auf einen unabhängigen Forschungsgegenstand oder einen separaten Fachbereich innerhalb der Philosophie bezieht als der Ausdruck ‚Logik‘ (oder ‚Grammatik‘). Für Wittgenstein betreffen Logik und Ethik jeweils, und jeweils unterschiedlich, eine allgegenwärtige Dimension des menschlichen Denkens und Handelns. 45 Eine Auseinandersetzung mit den Fragen, in welchem Sinne Wittgenstein nicht ‚eine Ethik‘ hat und in welchem Sinne sein Werk dennoch an allen Stellen von ethischen Belangen durchdrungen ist, bespreche ich in meinem Essay „What Ethics in the Tractatus is Not“, in: Wittgenstein on Ethics and Religion, hrsg. von D. Z. Philipps, New York 2002, S. 39–95. 41
Einige sokratische Merkmale in Wittgensteins Philosophieverständnis
man qua Biograph sich daran macht, sein Leben zu erforschen, dann wird man herausfinden, dass der Einfluss dieses selbstgesetzten Anspruchs sich gleichermaßen allgegenwärtig auf fast jeden Moment seines Lebens und auch auf sein Verständnis der Beziehung zwischen seiner Philosophie und seinem Leben auswirkt. So ein Philosoph wird ganz selbstverständlich Biographen anziehen. Wenn diese Biographen Wittgensteins Leben als das eine und seine Philosophie als das andere betrachten, dann werden ihre biographischen Erzählweisen notwendigerweise ein verzerrtes Bild nicht nur von seinem Leben, sondern auch von seinem Denken abgeben. Sie werden ein verzerrtes Bild der Lebensweise eines solchen Philosophen abgeben, da es kein Verständnis der Lebensweise eines solchen Menschen geben kann jenseits eines Verständnisses seines Denkens. 46 Und sie werden ein verzerrtes Bild seines Denkens abgeben, weil es unmöglich ist, das Denkens irgendeines zeitgenössischen Philosophen – und gewiss auch nicht das Denken von Wittgenstein – als bloße Funktion innerhalb seines Lebens zu verstehen, vor allem dann nicht, wenn das erforderliche Verständnis seines Lebens so betrachtet wird, als wäre es ohne Probleme zu kriegen, unabhängig von einem Verständnis seines Denkens. 47 Wittgenstein hatte weder die Absicht noch dachte er, er könnte die Herausforderung, die Art von Mensch zu werden, die er sein wollte, von der Herausforderung, die Art von Philosoph zu werden, die er sein wollte, trennen. Manchmal bekommt man eine Behauptungen der folgenden Sorte über Wittgenstein gesagt: Es gibt zwei verschiedene Dinge, die Wittgenstein tun wollte – eine bestimmte Art von Person und eine bestimmte Art von Philosoph zu In seiner Rezension von W. W. Bartleys Wittgenstein-Biographie in The Human World trifft es Rush Rhees auf den Punkt: „Solange du nicht weißt, welche Bedeutung seine [Wittgensteins] Arbeit für ihn selbst hat und welche der Dinge, denen er in seinem Werk Ausdruck verleihen will, ihm wesentlich sind – und solange du nicht weißt, welche Aspekte seiner Lebenssituation und seiner Beziehung zu anderen Menschen er für wichtig hält –, so lange kannst du nicht sagen, ob dieser oder jener […] Wunsch oder diese oder jene Tätigkeit maßgeblich oder eher unbedeutend ist für seinen Charakter und für sein Leben.“ [Übersetzt von R. R.] Rush Rhees: „Wittgenstein“, in: The Human World, 14. Februar 1974. 47 Diejenigen, die sich beispielsweise vorstellen, dass Wittgensteins homoerotische Empfindungen („Die Liebe, die nicht wagt, ihren Namen auszusprechen.“) [Übersetzt von R. R.] der Schlüssel für ein Verständnis von allem anderen in seinem Leben sein könnten, einschließlich seiner philosophischen Hauptbeschäftigungen, sind dazu verdammt, ein flaches und schiefes Bild seiner philosophischen Gedanken zu präsentieren. Ich erörtere, wie dies in den biographischen Abhandlungen über die Beziehung zwischen Wittgensteins Philosophie und seiner Sexualität passiert, die von W. W. Bartley und Bruce Duffy dargeboten werden, in meinem Aufsatz „Throwing Away the Top of the Ladder“, in: The Yale Review 79, 1991, S. 328– 64. 46
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werden –, aber er dachte, dass diese beiden Vorsätze irgendwie einander voraussetzen oder in einer bestimmten Weise miteinander verflochten wären. Dies trifft aber ebenso wenig auf Wittgenstein zu, wie es auf Sokrates zutrifft. Beide Vorsätze waren nicht „zwei verschiedene Dinge, die Wittgenstein tun wollte“. Es gibt hier nur eine Sache. Die Lebensweise, die zur Debatte steht, und die Denkweise, um die es geht, waren für Wittgenstein zwei verschiedene Momente ein und desselben einheitlichen Strebens, das Wittgenstein, so wie Sokrates lange vor ihm, ‚Philosophie‘ nannte. 48 Wenn dies richtig ist, dann können wir daraus folgende Lehre ziehen: Wir täten gut daran, nicht zu schnell von einer Beobachtung über Wittgensteins allgemein kritische Haltung gegenüber dem meisten, wofür die aktuelle akademische Philosophie steht, zu einer Behauptung über seine Haltung gegenüber der Philosophie als solcher überzugehen. Die Schwierigkeit unserer Prüfungsaufgaben legte nahe, dass wir Wittgenstein arg missverstehen, wenn wir ihm Verachtung gegenüber allem zuschreiben, wofür die Idee der Philosophie – so wie sie uns durch die Tradition, angefangen mit Sokrates, überliefert ist – gestanden hat. Es wird oft und leicht übersehen, dass Wittgensteins Dispute mit vielen verschiedenen zeitgenössischen Auswüchsen der Philosophie immer mit Blick auf die folgende Frage ausgetragen wurden: Wer hat und wer hat nicht das Recht, im Namen der Philosophie zu sprechen – zu behaupten, der wahre Erbe der grundlegendsten Bestrebungen dieser Tradition zu sein?
Wittgenstein, sowohl der frühe als auch der späte, verwendet die Wörter ‚Philosoph‘, ‚Philosophie‘ und ‚philosophisch‘ (unter anderem) in den folgenden zwei Bedeutungen: 1. um negativ die Art von Philosophieren zu bezeichnen, die er durch seine Praxis zu bekämpfen versucht – zum Beispiel: „Der entscheidende Schritt im Taschenspielerkunststück ist getan, und gerade er schien uns unschuldig“ (Philosophische Untersuchungen § 308); oder: „Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unsres Verstandes […]“ (Philosophische Untersuchungen, § 109). 2. Um positiv das, was er selbst tut, zu bezeichnen und dabei sein eigenes Philosophieren zu veranschaulichen – zum Beispiel: „Es gibt nicht eine Methode der Philosophie, wohl aber gibt es Methoden, gleichsam verschiedene Therapien.“ (Philosophische Untersuchungen, § 133); oder: „Was ich lehren will, ist: von einem nicht offenkundigen Unsinn zu einem offenkundigen übergehen“ (Philosophische Untersuchungen, § 464). Aus Wittgensteins Sicht hat jede dieser einander entgegengesetzten Bedeutungen des Wortes ‚Philosophie‘ gleichermaßen Anspruch darauf, die antike Bedeutung des Wortes zu beerben. Ich will mich hier jedoch nur auf seine Verwendungen des Wortes ‚Philosophie‘ nach der zweiten der beiden Bedeutungen beziehen. 48
Einige sokratische Merkmale in Wittgensteins Philosophieverständnis
Anhang 1 · Die Übungsaufgaben
1. „Für jedermann ist es leicht herauszufinden, ob ein Schuster gute Schuhe macht oder nicht. Leider gibt es kein Testverfahren dieser Art, um herauszufinden, ob ein Philosoph seine Arbeit richtig macht oder nicht.“ Spricht hier Sokrates oder Wittgenstein? 2. „Ich erlaube dir, jedes Wort so zu definieren, wie du willst; solange du erklärst, worauf sich das Wort bezieht, das du benutzt.“ Sokrates oder Wittgenstein? 3. „Nenn mich einen Wahrheitssucher und ich will zufrieden sein.“ Sokrates oder Wittgenstein 4. Mitten in einem seiner dialektischen Exkurse, bemerkt der Philosoph, dessen Namen wir hier suchen: „Tatsächlich haben wir etwas bewirkt, damit [unser Gesprächspartner] herausfinden kann, wie es mit dieser Sache steht. Denn jetzt will er es sicher gern verstehen, da er es nicht weiß.“ Sokrates oder Wittgenstein? 5. Unser Philosoph merkt an: „Was [dein Gesprächspartner] auch kann, das überlass [deinem Gesprächspartner].“ Sokrates oder Wittgenstein? 6. „[E]r zeigt seinen Gesprächspartnern ein Abbild ihrer selbst. [E]r teilt sich in zwei Hälften, sodass es zwei [von ihm gibt]: der [eine], der schon im Voraus weiß, wie die Diskussion enden wird, und der [eine] der den ganzen dialektischen Weg mit seinem Gesprächspartner geht.“ Wurde das von Wittgenstein gesagt oder von Sokrates? 7. „Er befand sich in einem ständigen Kampf mit den tiefsten philosophischen Fragen. Die Lösung eines Problems führte ihn zum nächsten. [Er] war zu keinem Kompromiss bereit, er musste völlig verstehen.“ Handelt dies von Sokrates oder Wittgenstein? 8. „Es spricht für sich, dass jeder mitgerissen wurde, wenn die Leute über [ihn] redeten, ob es nun [jemand] war, der ein Loblied auf ihn sang, oder ob es seine Feinde waren, die über ihn herzogen.“ Betrifft das Sokrates oder Wittgenstein?
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9. „[Er] hatte die ungewöhnliche Gabe, die Gedanken eines Menschen, mit dem er eine Diskussion führte, zu erraten. Während der Partner sich abmühte, um seinen Gedanken in Worte zu fassen, durchschaute [er], was [dieser] meinte, und legte es für ihn dar. Diese Fähigkeit [wirkte] manchmal unheimlich […].“ Handelt das von Sokrates oder Wittgenstein? 10. „Eine [seiner] Ansichten war, dass Philosophie […] nicht akkurat durch eine Vorlesung oder eine Abhandlung vermittelt werden kann.“ Betrifft das Sokrates oder Wittgenstein? 11. „Wenn [er] sich […] ein Beispiel ausdachte, um irgendeinen Punkt deutlich zu machen, musste er selbst oft über das Absurde seiner Vorstellung lachen. Wenn aber irgend jemand von den [Zuhörern] zu kichern begann, wurde sein Ausdruck sofort streng […].“ Handelt das von Sokrates oder Wittgenstein? 12. „Die meisten der paradoxen Ansichten, die [ihm] zugeschrieben werden, basieren auf Sachen, die er […] jemandem gesagt hat oder denen er zugestimmt hat, allerdings zu einem jeweils anderen Zweck oder in einem anderen Kontext.“ Betrifft das Sokrates oder Wittgenstein? 13. „[Er] war kein Guru, dem man leicht folgen konnte, nicht zuletzt, weil Guru zu sein die Sache war, die er am wenigsten sein wollte. Dennoch überrascht es kaum, dass nach seinem Tod einige seiner Freunde sein herausragendes Werk weiterführen wollten. Da es aber keine leichte Sache war und immer noch ist, zu sagen, worauf sein Projekt in letzter Konsequenz eigentlich hinauslief, ist es ebenso wenig überraschend, dass sich [seine] Möchtegern-Nachfolger letzten Endes für ganz verschiedene Sachen einsetzten.“ Handelt das von Sokrates und seinen Möchtegern-Nachfolgern oder von Wittgenstein und dessen Möchtegern-Nachfolgern?
Anhang 2 · Der eigentliche Test
1. Welcher große Philosoph verbrachte zeit seines Lebens als Asket, verzichtete sowohl auf Wohlstand als auch auf Ruhm, betrachtete sich jedoch selbst nicht als Vorbild und legte diesen Lebensstil somit auch nicht seinen Freunden und Schülern nahe; stattdessen ermutigte er sie oft dazu einen ordentlichen Beruf zu ergreifen und in eben die Welt einzutauchen, von der sich der gesuchte Philosoph selbst abgewendet hat?
Einige sokratische Merkmale in Wittgensteins Philosophieverständnis
1a. „Mir sind all die Dinge gleichgültig, die den meisten wichtig sind, dazu gehören das Anhäufen von Reichtümern, eine florierende Hauswirtschaft, militärische Ehren, ein hoher sozialer Status und das Innehaben sonstiger Ämter […].“ Ist das Sokrates oder Wittgenstein? 1b. Und als sein Kollege auf das Leben von einem unserer Philosophen zurückschaut, bemerkt er das Folgende: „[E]ine ausgeprägte Einfachheit, manchmal sogar eine extreme Genügsamkeit, wurden charakteristisch für sein Leben.“ Redet er über Sokrates oder Wittgenstein?
2. Welcher große Philosoph war vor allem berühmt für die Intensität, mit der er sich einer intellektuellen Überlegung hingab, wobei er dazu neigte, in einen Zustand der vollständigen Versunkenheit in ein philosophisches Problem zu verfallen – ein Zustand, in dem er die Welt um ihn herum restlos vergessen konnte? 2a. „[W]enn er versuchte, einen Gedanken aus sich herauszupressen, verbat er sich mit einer entschiedenen Handbewegung jede Frage oder Bemerkung. Oft entstanden lange Pausen der Stille, in der man nur [ihn] gelegentlich murmeln hörte, während die anderen aufmerksam schwiegen. Während dieser Stille war [er] aufs Äußerste angespannt und aktiv. Sein Blick war konzentriert; sein Gesicht voll Leben; mit den Händen machte er auffallende Bewegungen; sein Ausdruck war ernst. Man war sich bewusst, dass man sich im Bereich höchster Ernsthaftigkeit, Vertiefung und Geisteskraft befand.“ Ist damit Sokrates oder Wittgenstein gemeint? 2b. „Es war ihm etwas eingefallen, und er stand darüber nachdenkend von morgens an auf einer Stelle und, da er noch immer keinen Fortschritt gemacht hatte, ließ er nicht nach, sondern blieb weiter grübelnd stehen.“ Wurde das von Sokrates oder von Wittgenstein behauptet?
3. Von welchem großen Philosophen kann man sagen, dass seine Art und Weise, mit anderen zu diskutieren, mindestens ebenso intensiv war wie sein schon zuvor erwähntes Talent, vollständig und ungestört in Gedanken zu versinken? 3a. „Jede Unterhaltung mit [ihm] fühlte sich an, als würde ich den Tag des jüngsten Gerichts durchleben. Es war grauenhaft. Alles musste ständig
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neu ausgegraben werden, in Frage gestellt und auf seinen Wahrheitsgehalt hin überprüft werden. Das betraf nicht nur die Philosophie, sondern das ganze Leben.“ 3b. „[W]er [ihm] nahe genug kommt und sich mit ihm auf ein Gespräch einlässt, wird unvermeidlich, auch wenn er von etwas ganz anderem zuerst angefangen hat zu reden, von diesem so lange atemlos durch das Gespräch getrieben, bis er ihn so weit hat, dass er Rede und Antwort stehen muss: über sich selbst, auf welche Weise er jetzt lebt und auf welche Weise er vorher gelebt hat. Wenn [er] [seinen Gesprächspartner] aber erst einmal da hat, lässt er ihn gewiss nicht mehr in Ruhe, bis er alles gut und gründlich untersucht hat.“ Betrifft das Sokrates oder Wittgenstein?
4. Welcher große Philosoph erhielt eine militärische Auszeichnung für Tapferkeit im Kampf? 4a. „Du irrst dich […] wenn du glaubst, über Gefahr um Leben und Tod müsse derjenige nachdenken, der auch nur ein bisschen Wert hat […].“ Welcher unserer Philosophen sagte oder schrieb das? 4b. „Jetzt wäre mir Gelegenheit gegeben, ein anständiger Mensch zu sein, denn ich stehe vor dem Tod Aug in Auge.“ Und dies? Sokrates oder Wittgenstein? 4c. „[I]ch kann in zwei Stunden sterben, ich kann in einem Monat sterben oder erst in ein paar Jahren. Ich kann es nicht wissen und nichts dafür oder dagegen tun: So ist das Leben. Wie muss ich also leben, um in jedem Augenblick zu bestehen? Im Guten und Schönen zu leben, bis das Leben von selbst aufhört.“ Sokrates oder Wittgenstein? 4d. „[D]iejenigen, die sich mit Philosophie befassen, streben […] nach nichts anderem als zu sterben.“ Ist das Sokrates oder Wittgenstein?
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5. Die militärischen Auszeichnungen welches großen Philosophen wurden von denen, die ihn kannten, nur als ein äußeres, auffälliges Zeichen eines viel umfassenderen Vermögens zur Selbstbeherrschung und Selbstoptimierung angesehen? 5a. „Er war in jederlei Hinsicht überragend diszipliniert und ein Meister der Selbstbeherrschung. Vielleicht war das das Problem. Vielleicht erklärt das, warum er so unerreichbar hohe Erwartungen an andere stellte […]. Von [ihm] wurde ausgesagt, dass ‚in der Stärke seines Charakters die Schwäche seiner Philosophie liegt‘.“ Ist hier Sokrates oder Wittgenstein gemeint? 5b. „Es gab praktisch nichts, das er nicht außergewöhnlich gut konnte oder zumindest erlernen konnte, insofern es zu dieser Art von Dingen gehört, die überhaupt erlern- und beherrschbar sind und für die Training und Übung essenzielle Bestandteile des Lernprozesses sind.“ Und hier? Sokrates oder Wittgenstein?
6. Von welchem großen Philosophen kann man den Eindruck bekommen, dass er die Leute in seiner Umgebung stets so bezaubert hat, dass sie entweder restlos in seinen Bann verfielen oder sich angewidert abwandten? 6a. „Es scheint, als könnte er gar nicht anders, als sie zu bezaubern. Einige fühlen sich davon abgestoßen, ebenso stark, wie andere sich davon angezogen fühlen. Diejenigen, die sich von ihm angezogen fühlen, verfallen schließlich in einen Taumel, der etwas an sich hat, das vielleicht sogar ‚Liebe‘ genannt werden kann. Das passiert Fischern, Bauern und Philosophen gleichermaßen.“ Sokrates oder Wittgenstein? 6b. „[I]ch, wurde ins Herz oder in die Seele gebissen […] von [seinen] philosophischen Reden […], die sich an eine junge, ehrliche Seele […] heftiger als eine Natter festsaugen und sie […] zu allem möglichen bringen können […].“ Sokrates oder Wittgenstein?
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7. Welchem großen Philosophen wird oft die Fähigkeit nachgesagt, ein philosophisches Problem so angehen zu können, als begegnete es ihm zum ersten Mal? 7a. „[E]r sprach fast über alles und immer mit derselben Inbrunst. Er beeindruckte jedes Mal aufs Neue, indem er altbekannte Probleme in ein neues Licht rückte, als wäre er das erste Mal auf sie gestoßen, völlig losgelöst von den üblichen und überall verbreiteten Ansichten.“ Wurde das über Sokrates oder über Wittgenstein gesagt?
Die Abschlussfragen des eigentlichen Tests
8a. „Kann ich nur keine Schule gründen oder kann es ein Philosoph nie?“ 8b. „Man kann nicht die Wahrheit sagen; wenn man sich noch nicht selbst bezwungen hat. Man kann sie nicht sagen; – aber nicht, weil man noch nicht gescheit genug ist. Nur der kann sie sagen, der schon in ihr ruht; nicht der, der noch in der Unwahrheit ruht und nur einmal aus der Unwahrheit heraus nach ihr langt.“ 8c. „Man muss beim Irrtum ansetzen und ihn in die Wahrheit überführen. D. h., man muss die Quelle des Irrtums aufdecken, sonst nützt uns das Hören der Wahrheit nichts. Sie kann nicht eindringen, wenn etwas anderes ihren Platz einnimmt. Einen von der Wahrheit zu überzeugen, genügt es nicht, die Wahrheit zu konstatieren, sondern man muss den Weg vom Irrtum zur Wahrheit finden.“ 8d. „Und wenn jemand denkt, muss er dann nicht etwas denken? […] Und wenn er etwas denkt, muss dieses dann nicht wirklich sein?“ 8e. „Und wer malt, sollte nicht etwas malen – und wer etwas malt, nichts Wirkliches?“
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Anhang 3 · Die Zusatzaufgaben
1. „[Er] strebte nach einer Philosophie, die Zustimmung bei allen finden würde […] verzweifelte schließlich daran einen Konsens nur mit einigen Freunden erreicht zu haben.“ Wer ist gemeint? Sokrates oder Wittgenstein? 2. „Eine Begegnung mit [diesem Philosophen] […] kann sehr verstörend sein, insbesondere weil sie einem nicht nur offenbart, dass die Realität nicht so ist, wie sie dir erschien, sondern weil du nicht mehr länger weißt, wie sie dir erschien. Es ist nicht so, dass deine Annahme fehlerhaft war oder dass nichts in der Welt deinen Wünschen entspricht; stattdessen verlierst du vollständig dein Verständnis, oder eher: Dir wird plötzlich klar, dass du nie ein Verständnis dessen hattest, was du dir ursprünglich ‚gewünscht‘ hast oder was du ursprünglich ‚angenommen‘ hast, was im wahrsten Sinne des Wortes eigentlich zu dir allein gehören sollte.“ Beschriebt dieses Zitat eine Begegnung mit Sokrates oder mit Wittgenstein? 3. „Es ist kein Wunder, dass kein neues Wissen dem philosophischen Arbeiten hinzugefügt werden muss. Das einzige, was wir brauchen, ist, mit dem zu arbeiten, was wir schon längst wissen; denn die Probleme sind uns nicht äußerlich, sondern gerade ein Teil von uns selbst.“ Wurde das über Sokrates oder Wittgenstein gesagt? 4. „Wenn es nun aber keine Lehrsätze zu erlernen gibt, geht es dann nur darum, sich Dinge abzugewöhnen? – Es ist wichtig, dass die Antwort hier ‚Nein‘ lauten muss. Aber […] es gibt auch nicht einen bestimmten Punkt, den es sich zu merken gilt.“ Und dieses: Wittgenstein oder Sokrates?
Anhang 4 · Antworten auf die Examensfragen (mit Verweisen) Die Übungsaufgaben
1. Wittgenstein. Karl Britton: „Portrait of a Philosopher“, in: Portraits of Wittgenstein, hrsg. von F. A. Flowers III, Bristol 1999, Volume 2, S. 209. [Übersetzt von R. R.] 2. Sokrates. Charmides, 163d-e. Platon: Werke in acht Bänden, (Buch 1) aus dem Altgriechischen von Friedrich Schleiermacher, hrsg. von Gunther Eigler, Darmstadt 1977. Die unveränderte Übersetzung lautet: „Ich aber will dir
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gern gestatten, jedes Wort zu nehmen, wie du willst; erkläre dich aber nur, worauf die jedes Wort beziehst, dessen du dich bedienst.“ [Anm. d. Übers.] Wittgenstein. Die Anmerkung taucht in einem Brief an seine Schwester, Helene Salzer, (geborene Wittgenstein) auf, datiert ‚Samstag [1934]‘. Siehe Wittgenstein: Gesamtbriefwechsel / Complete Correspondence: Innsbrucker Electronic Edition, hrsg. von A. Coda, G. Citron, B. Halder, A. Janik, U. Lobis, K. Mayr, B. McGuinness, M. Schorner, M. Seekircher, A. Unterkircher und J. Wang (Charlottesville: Intelex, 2004/2011), URL = hhttp://www.nlx. com/collections/166i. Sokrates. Menon, (Buch 2) 84b. Die unveränderte Übersetzung lautet: „Vielmehr haben wir vorläufig etwas ausgerichtet, wie es scheint, damit er herausfinden kann, wie sich die Sache verhält. Denn jetzt möchte er es wohl gern suchen, da er es nicht weiß […].“ [Anm. d. Übers.] Wittgenstein. Nachlass, MS-137, 134 b. Das Originalzitat aus Wittgensteins Nachlass lautet: „Was dein Leser auch kann, das überlass deinem Leser.“ [Anmerkung des Übersetzers: James Conant bezieht sich auf Culture and Value: A Selection from the posthumous Remains, hrsg. von G. H. von Wright in Zusammenarbeit mit H. Nyman, die überarbeitete Version des Textes stammt von A. Pichler, übersetzt von P. Winch, Oxford 1977/98, S. 88e.]. Sokrates. Pierre Hadot: „The Figure of Socrates“, in: Philosophy as a Way of Life, hrsg. von Arnold I. Davidson, übersetzt von Michael Chase, Oxford 1995, S. 149 und 153. Wittgenstein. Norman Malcom: Ludwig Wittgenstein. Ein Erinnerungsbuch. Originaltitel: Ludwig Wittgenstein, A Memoir by Norman Malcom. Aus dem Englischen von Claudia Frank. München und Wien 1960, S. 40. Sokrates. Anthony Gottlieb: The Dream of Reason: A History of Western Philosophy From the Greeks to the Renaissance, New York 2000, S. 133. [Übersetzt von R. R.] Wittgenstein. Malcom: Ludwig Wittgenstein. Ein Erinnerungsbuch, S. 72. Sokrates. Gottlieb: The Dream of Reason, S. 143. [Übersetzt von R. R.] Wittgenstein. Malcom: Ludwig Wittgenstein. Ein Erinnerungsbuch, S. 42. Sokrates. Gottlieb: The Dream of Reason, S. 155. [Übersetzt von R. R.] Sokrates. Ebd., S. 160. [Übersetzt von R. R.]
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Der eigentliche Text
1a. Sokrates. Des Sokrates Verteidigung, (Buch 2) 36b. Die unveränderte Übersetzung lautet: „[U]nbekümmert um das, was den meisten wichtig ist, um das Reichwerden, und den Hausstand, um Kriegswesen und Volksrednerei, und sonst um Ämter […].“ [Anm. d. Übers.] 1b. Wittgenstein. Georg Henrik von Wright: Wittgenstein, aus dem Englischen von Joachim Schulte, Frankfurt/M. 1990. 2a. Wittgenstein. Malcom: Ludwig Wittgenstein. Ein Erinnerungsbuch, S. 39. 2b. Sokrates. Das Gastmahl, (Buch 3) 220c. Die unveränderte Übersetzung des ersten Teils lautet: „Es war ihm etwas eingefallen, und er stand nachsinnend darüber von morgens an auf einer Stelle und, da es ihm nicht vonstatten ging, ließ er nicht nach, sondern blieb immer forschend stehen.“ [Anm. d. Übers.] 3a. Wittgenstein. Georg Henrik von Wright: „Autobiography“, in: The Philosophy of Georg Henrik von Wright, hrsg. von Paul Arthur Schilpp and Lewis Edwin Hahn, La Salle, Illinois 1989, S. 14. [Übersetzt von R. R.] 3b. Sokrates. Laches, (Buch 1) 187e. Die unveränderte Übersetzung lautet: „[W] er der Rede des Sokrates nahe genug kommt und sich mit ihm einlässt ins Gespräch, unvermeidlich, wenn er auch von etwas ganz anderem zuerst angefangen hat zu reden, von diesem so lange ohne Ruhe herumgeführt wird, bis er ihn da hat, dass er Rede stehen muss über sich selbst, auf welche Weise er jetzt lebt und auf welche Weise er das vorherige Leben gelebt hat; wenn [er] ihn aber da hat, dass er ihn dann gewiss nicht eher herauslässt, bis er dies alles gut und gründlich untersucht hat.“ [Anm. d. Übers.] 4a. Sokrates. Des Sokrates Verteidigung, 28b. Die unveränderte Übersetzung lautet: „Nicht gut spricht du […] wenn du glaubst, Gefahr um Leben und Tod müsse in Anschlag bringen, wer auch nur ein weniges Nutz’ ist […].“ [Anm. d. Übers.] 4b. Wittgenstein. Geheime Tagebücher, 1914–1916, hrsg. und dokumentiert von Wilhelm Baum, Wien 1991, Eintrag vom 13. 9. 14. 4c. Wittgenstein. Ebd., Eintrag vom 7. 10. 14. 4d. Sokrates. Phaidon, (Buch 3) 64a. Die unveränderte Übersetzung lautet: „[D]iejenigen, die sich auf rechte Art mit Philosophie befassen, mögen wohl […] nach gar nichts anderem streben als nur, zu sterben und tot zu sein.“ [Anm. d. Übers.] 5a. Sokrates. Gottlieb: The Dream of Reason, S. 154. [Übersetzt von R. R.] Das eingebettete Zitat stammt von Karl Joël: Der echte und der Xenophontische Sokrates, Berlin 1893, S. 256, welches wiederum von W. K. C. Guthrie aus Socrates (Cambridge 1971, S. 138) zitiert wurde.
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5b. Wittgenstein. Knut Erik Tranøy: „Wittgenstein in Cambridge 1949–1951: Some Personal Recollections“, in: Flowers III (hrsg): Portraits of Wittgenstein, S. 126. [Übersetzt von R. R.] 6a. Wittgenstein. Ebd. S. 128–129. [Übersetzt von R. R.] (Ich habe mir die Freiheit genommen, das Zitat in das Präsens zu übertragen, damit es besser den Zwecken dieser Prüfung genügt.) 6b. Sokrates. Das Gastmahl, 218a. Die unveränderte Übersetzung lautet: „[I]ch der ich noch empfindlicher gebissen bin, und am empfindlichsten Ort wo nur einer kann gebissen werden, denn am Herzen oder an der Seele oder wie man es nennen soll bin ich verwundet von den Reden der Weisheit, die sich an eine junge nicht unedle Seele, wenn sie sie einmal ergriffen, heftiger als eine Natter ansaugen und sie in Wort und Tat zu allem bringen können.“ [Anm. d. Übers.] 7a. Wittgenstein. Tranøy: Wittgenstein in Cambridge 1949–1951, S. 125. [Übersetzt von R. R.] 8a. Wittgenstein. Vermischte Bemerkungen, in: Werkausgabe (Band 8), Frankfurt/M 1984, S. 536. 8b. Wittgenstein. Ebd., S. 499. 8c. Wittgenstein. Bemerkungen über Frazers ‚The Golden Bough‘, in: Synthese 17/3 (1967), S. 234. 8d. Sokrates. Theaitetos (Buch 6), 189a. Die unveränderte Übersetzung lautet: „Und wer vorstellt, der sollte nicht Etwas vorstellen? […] Und wer etwas vorstellt, nicht Wirkliches?“ [Anm. d. Übers.] 8e. Wittgenstein. Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe (Band 1), Frankfurt/M. 1984, § 518; nach dem er die obige Passage aus dem Theaitetos zitiert. Die Zusatzaufgaben
1. Beide. Thomas Wallgren: „Radical Enlightenment Optimism: Socrates and Wittgenstein“, in: Wittgenstein and Plato Connections, Comparisons and Contrasts, hrsg. von Luigi Perissinotto and Begoña Ramón Cámara, New York 2013, S. 298. 2. Beide. Joel Backström: Before Being and Appearance; On Wittgenstein, Socrates, and the Morals of Metaphysics, unveröffentlichtes Manuskript, S. 2. 3. Beide. Niklas Toivakainen: Socrates Examining, Wittgenstein Investigating, unveröffentlichtes Manuskript, S. 14. 4. Beide. Sebastian Sunday Grève: „The Importance of Understanding Each Other in Philosophy“, in: Philosophy 90 (2015), S. 213–239.
Autorinnen und Autoren
Kathi Beier ist Assoziierte Junior Fellow am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt. Sie ist Autorin von Selbsttäuschung (2010) sowie etlicher Aufsätze zur modernen Tugendethik und den Tugendlehren von Aristoteles und Thoma von Aquin. Robert Brandom ist Distinguished Professor of Philosophy an der University of Pittsburgh. Zu seinen letzten Buchveröffentlichungen gehören: Heroism and Magnanimity: The Post-Modern Form of Self-Conscious Agency (2019) und A Spirit of Trust: A Reading of Hegel’s Phenomenology (2019). James Conant ist Chester D. Tripp Professor of Humanities, Professor of Philosophy, and Professor in the College at the University of Chicago sowie Alexander von Humboldt-Professor an der Universität Leipzig. Zu seinen letzten Veröffentlichungen zählen: Friedrich Nietzsche: Perfektionismus und Perspektivismus (2014), „Wittgenstein’s Critique of the Additive Conception of Language“ (2020) sowie The Logical Alien – Conant and His Critics (2020), herausgegeben von Sofia Miguens. Wolfram Gobsch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Universität Zürich. Zu seinen Veröffentlichungen gehören „Der Mensch als Widerspruch und absolutes Wissen: eine hegelianische Kritik der transformativen Theorie des Geistes“ (2017), „Philosophieren als Sterben: Selbsterkenntnis und Versöhnung bei Hegel (eine Annäherung)“ (2018) und „Autonomy and Radical Evil: A Kantian Challenge to Constitutivism“ (2019). Matthias Haase ist Assistant Professor am Department of Philosophy der University of Chicago. Zu seinen jüngeren Veröffentlichungen gehören „Geist und Gewohnheit: Hegels Begriff der anthropologischen Differenz“ (2017), „Knowing What I Have Done“ (2018) und „Anscombe on the Dignity of the Human Being“ (2021). Jonas Held ist wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für theoretische Philosophie an der Universität Leipzig. Zu seinen letzten Veröffentlichungen gehören Schlussfolgern (2020) und „Inference and the Act-Type Theory of Propositions“ (im Erscheinen).
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Autorinnen und Autoren
Boris Hennig ist Professor für Antike Philosophie an der Ryerson University in Toronto. Er hat zwei Monografien publiziert: Conscientia bei Descartes (2006) und Aristotle’s Four Causes (2019). Susanne Herrmann-Sinai ist Head of German an der Magdalen College School in Oxford sowie Associate Faculty Member an der Faculty of Philosophy der University of Oxford. Zu ihren Veröffentlichungen zählen Hegel’s Philosophical Psychology (Routledge 2016), herausgegeben zusammen mit Lucia Ziglioli, sowie „Musik und Zeit bei Kant“ (2009) und „Hegel on the Difference between Social Normativity and Normativity of Right“ (2020). Christoph Hubig ist emeritierter Professor für Praktische Philosophie sowie für Philosophie der wissenschaftlich-technischen Kultur an der Technischen Universität Darmstadt. Zu seinen Veröffentlichungen zählen: Die Kunst des Möglichen I. Technikphilosophie als Reflexion der Medialität (2006), II. Ethik der Technik als provisorische Moral (2007) und III. Macht der Technik (2015). Vojtěch Kolman ist Dozent für Logik an der Karls-Universitat Prag. Zu seinen letzten Veröffentlichungen gehören Zahlen (2016) sowie zahlreiche Aufsätze, etwa „Wittgenstein and die Meistersinger“ (2020); er ist Herausgeber von From Rules to Meanings. New Essays in Inferentialism (2018). Christoph Menke ist Professor für Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine letzten Buchveröffentlichungen sind: Kritik der Rechte (2015) und Autonomie und Befreiung (2018). Sebastian Rödl ist Professor für Philosophie mit Schwerpunkt Praktische Philosophie an der Universität Leipzig. Zu seinen letzten Veröffentlichungen zählen: Selbstbewusstsein und Objektivität. Eine Einführung in den absoluten Idealismus (2019), „Nature and the Good“ (2020) und „The force and the content of judgment“ (2020). Christian Schmidt ist wissenschaftlicher Referent am Humanities and Social Change Center an der Humboldt-Universität zu Berlin und Privatdozent am dortigen Institut für Philosophie. Zu seinen Veröffentlichungen zählen Karl Marx zur Einführung (2018) und der gemeinsam mit Lutz Fiedler herausgegebene Sammelband Postsäkulare Politik? Emanzipation, jüdische Erfahrungen und religiöse Gemeinschaften heute (2021).
Autorinnen und Autoren
Henning Tegtmeyer ist Associate Professor of Metaphysics and Philosophy of Religion / Hoofddocent metafysica en godsdienstfilosofie an der KU Leuven. Zu seinen Veröffentlichungen zählen Formbezug und Weltbezug. Die Deutungsoffenheit der Kunst (2006) und Gott, Geist, Vernunft. Prinzipien und Probleme der Natürlichen Theologie (2013). Holm Tetens war zuletzt von 1994 bis 2015 Professor für theoretische Philosophie an der Freien Universität Berlin. Zu seinen Veröffentlichungen zählen: Wissenschaftstheorie. Eine Einführung (2013) und Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie (2015). Markus Wolf ist akademischer Mitarbeiter am Institut für Philosophie und Sozialwissenschaften der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg. Zu seinen Veröffentlichungen gehören Gerechtigkeit als Dekonstruktion. Zur kulturellen Form von Recht und Demokratie nach Jacques Derrida (2019) sowie „Das Politische (in) der Dekonstruktion“ (2021). Benno Zabel ist Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen zählen u. a. „Institutionen“ (2021), Die Idee subjektiver Rechte (2020) und Die Ordnung des Strafrechts (2017).
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Verzeichnis der Schriften von Pirmin Stekeler-Weithofer
I. Monographien Grundprobleme der Logik. Elemente einer Kritik der formalen Vernunft. Berlin: de Gruyter, 1986. Hegels Analytische Philosophie. Die Wissenschaft der Logik als kritische Theorie der Bedeutung. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 1992. Sinn-Kriterien. Die logischen Grundlagen kritischer Philosophie von Platon bis Wittgenstein. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 1995. Was heißt Denken? Bonn: University Press, 2004. Philosophie des Selbstbewusstseins. Hegels System als Formanalyse von Wissen und Autonomie. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2005. Sprachphilosophie. Probleme und Methoden. (Zus. mit F. Kambartel). Stuttgart: Reclam, 2005. Philosophiegeschichte. Berlin: de Gruyter, 2006. Formen der Anschauung. Eine Philosophie der Mathematik. Berlin: de Gruyter, 2008. Sinn. Berlin: de Gruyter, 2011. Denken. Wege und Abwege in der Philosophie des Geistes. Tübingen: Mohr Siebeck, 2012. Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein dialogischer Kommentar. Bd. 1: Gewissheit und Vernunft. Hamburg: Meiner, 2014. Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein dialogischer Kommentar. Bd. 2: Geist und Religion. Hamburg: Meiner, 2014. Sprachphilosophie. Eine Einführung. München: C. H. Beck, 2014. Kritik der reinen Theorie. Tübingen: Mohr Siebeck, 2018. Hegels Wissenschaft der Logik. Ein dialogischer Kommentar. Band 1: Die objektive Logik, Die Lehre vom Sein. Hamburg: Meiner, 2019. Hegels Wissenschaft der Logik. Ein dialogischer Kommentar. Band 2: Die objektive Logik, Die Lehre vom Wesen. Hamburg: Meiner, 2020. Hegels Rechtsphilosophie. Ein dialogischer Kommentar. Hamburg: Meiner, 2021. Hegels Wissenschaft der Logik. Ein dialogischer Kommentar. Band 3: Die subjektive Logik, Die Lehre vom Begriff. Hamburg: Meiner, 2021. Hegels Realphilosophie. Ein dialogischer Kommentar zur Idee der Natur und des Geistes in der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“. Hamburg: Meiner, 2022.
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Verzeichnis der Schriften von Pirmin Stekeler-Weithofer
II. Aufsätze in Zeitschriften, Sammelbänden und Proceedings „Ist die dialogische Logik eine pragmatische Begründung der Logik?“. In: Conceptus 48 (1985), S. 37–50. „Anschauung, Norm und Ideal in der Geometrie“. In: G. Pasternak (Hrsg.): Philosophie und Wissenschaften: Das Problem des Apriorismus. Frankfurt/M.: Peter Lang, (1987), S. 149– 156. „Frege – ein Platonist?“. (Zus. mit W. P. Mendonça). In: Ratio 29, Heft 2 (1987), dt. S. 157– 169, engl. S. 96–110. „Handlung, Sprache und Bewusstsein. Zum ‚Szientismus‘ in Sprach- und Erkenntnistheorien“. In: Dialectica 41, Heft 4 (1987), S. 255–272. „Sind die Urteile der Arithmetik synthetisch a priori? Zur sprachanalytischen Interpretation einer vernunftkritischen Überlegung“. In: Zeitschrift für Allgemeine Wissenschaftstheorie 18, Heft 1/2 (1987), S. 215–238. „Zum Unterschied zwischen formalen und natürlichen Sprachen“. In: Germanistik und Deutschunterricht im Zeitalter der Technologie. Selbstbestimmung und Anpassung. Band 4, Neue Technologien und Medien in Germanistik und Deutschunterricht. Tübingen: Niemeyer, (1989), S. 72–80. „Ist der Gebrauch der Sprache ein durch Regeln bestimmtes Handeln?“. (Zus. mit F. Kambartel). In: A. v. Stechow, M.-T. Schepping (Hrsg.): Fortschritte in der Semantik. Ergebnisse aus dem Sonderforschungsbereich 99 „Grammatik und sprachliche Prozesse“ der Universität Konstanz. Weinheim: Wiley-VCH, (1989), S. 201–223. „Die (Selbst)Begrenzung mathematischen Denkens durch die Identifikation von Beweis und Deduktion“. In: Ethik und Sozialwissenschaften 1 (1990), S. 134–138. „Verstehen und Begreifen (Hegel)“. In: Zum Konservativismusproblem technischer Information und Rationalität“. Mitteilungen des Deutschen Germanistik-Verbandes 3, (1990), S. 19–25. „Willkür und Wille bei Kant“. In: Kant-Studien 81, Heft 3 (1990), S. 304–320. „Religionsphilosophie nach William James“. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 33, Heft 1 (1991), S. 74–87. „Syntaktik und Semantik in der Arithmetik und die Schranken Künstlicher Intelligenz“. In: Zeitschrift für Semiotik 13, Heft 3/4 (1991), S. 273–282. „Plato and the Method of Science“. In: History of Philosophy Quarterly 9 (1992), S. 359–378. „Verstand und Vernunft. Zu den Grundbegriffen der Hegelschen Logik“. In: Ch. Demmerling und F. Kambartel (Hrsg.): Vernunftkritik nach Hegel. Analytisch-kritische Interpretationen zur Dialektik. Frankfurt/M.: Suhrkamp, (1992). „Zu Hegels Philosophie der Mathematik“. In: Ch. Demmerling und F. Kambartel (Hrsg.): Vernunftkritik nach Hegel. Analytisch-kritische Interpretationen zur Dialektik. Frankfurt/ M.: Suhrkamp, (1992). „On the Concept of Proof in Elementary Geometry“. In: M. Detlefsen (Hrsg.): Proof and Knowledge in Mathematics. London/New York, Routledge, (1992). „Kultur und Autonomie. Hegels Fortentwicklung der Ethik Kants und ihre Aktualität“. In: Kant-Studien 84 (1993), S. 185–203.
Verzeichnis der Schriften von Pirmin Stekeler-Weithofer
„Pragmatische und logische Grundlagen der mathematischen Geometrie“. In: H. Stachowiak (Hrsg.): Handbuch Pragmatik 4. Hamburg: Meiner, (1993), S. 401–423. „Praktyczne implikacje logiki Heglowskiej“. In: B. Markiewicz (Hrsg.): O filozofii praktycznej. Warschau, (1993). „Was sind Modelle axiomatischer Theorien? Zum Problem der Konstitution konkreter mathematischer Strukturen“. In: H. Lenk und H. Poser (Hrsg.): Neue Realitäten. Herausforderung der Philosophie. Berlin: Akademie Verlag, (1993). „Ideation und Projektion. Zur Konstitution formentheoretischer Rede“. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42 (1994), S. 783–798. „Vernunft als sinnkritische Präsuppositionsanalyse“. In: V. Caysa, K.-D. Eichler (Hrsg.): Praxis, Vernunft, Gemeinschaft. Auf der Suche nach einer anderen Vernunft. Weinheim: Beltz Athenäum, (1994), S. 234–255. „Kants Kategorien als semantische Formen objektiver Urteile“. In: Actas del Primer Congreso International de Ontologia. Bellaterra, (1994). „Handlungen und Absichten“. In: Österreichische Ludwig Wittgenstein Gesellschaft (Hrsg.): Culture and Value. Philosophie und Kulturwissenschaften (Beiträge des 18. Internationalen Wittgenstein Symposiums). Kirchberg am Wechsel, (1995). „Idea, pojem, význam“. In: Filosofický Casopis 6, Rocník 43 (1995), S. 989–1006. „Metody i konzeptualnye alternatiwy istorii filosofii“. In: Istoria filosofii, Metody issledowanija, konzeptualnye alternatiwa opyt prepodawanija. Moskau, (1995). „Zum wissenschaftstheoretischen Status der Prototheorie“. In: E. Jelden (Hrsg.): Prototheorien – Praxis und Erkenntnis? Leipziger Schriften zur Philosophie. Leipzig: Universitätsverlag (1995), S. 9–15. „Schema, Form und Urteilskraft. Zur Dialektik von Rationalität und Vernunft“. In: Ch. Demmerling, G. Gabriel u. T. Rentsch (Hrsg.): Vernunft und Lebenspraxis. Frankfurt/ M.: Suhrkamp (1995), S. 52–78. „Dissens und Nachfrage“. In: A. Luckner (Hrsg.): Dissens und Freiheit – Kolloquium Politische Philosophie. Leipziger Schriften zur Philosophie, Band 2. Leipzig: Universitätsverlag, (1995), S. 197–216. „Hegel’s Logic as a Theory of Meaning“. In: Philosophical Investigations 19/4 (1996), S. 287– 307. „Metaphysische Dogmen im Streit um die Einheit der Wissenschaften“. In: H. J. Sandkühler (Hrsg.): Einheit des Wissens. Zur Debatte über Monismus, Dualismus und Pluralismus. Zentrum Philosophische Grundlagen der Wissenschaften, Schriftenreihe Band 17, (1996). „Ideologie, Macht und Sprache. Zu Versuchen, Wittgenstein mit der Kritischen Theorie in ein Verhältnis zu setzen“. In: G.-L. Lueken (Hrsg.): Wittgenstein und die Frankfurter Schule. Wittgenstein-Studies (1996). „Proofs and Arguments in Mathematics: Remarks on the Foundations of mathematics somehow in the spirit of Wittgenstein“. In: T. Childers, P. Kolár u. V. Svoboda (Hrsg.): Logica 95. Proceedings of the 9th International Symposium. Prag, (1996). „Texte und ihre Interpretation – Einige begriffliche Bemerkungen zur Hermeneutik“. In: V. Caysa u. K.-D. Eichler (Hrsg.): Philosophiegeschichte und Hermeneutik. Leipziger Schriften zur Philosophie, Band 5. Leipzig: Universitätsverlag, (1996).
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Verzeichnis der Schriften von Pirmin Stekeler-Weithofer
„Vernunft und Wirklichkeit. Zu Hegels Analyse reflektierender Urteile“. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 44, Heft 2 (1996), S. 187–208. „What is a meaningful name? Frege’s idea of a radical semanto-ontological analysis“. In: J. Perzanowski und A. Pietruszczak (Hrsg.): Logic and Logical Philosophy, Torun (1996), S. 151–173. „Philosophie der Sprache und die Methode der Sprachanalyse“. (Zus. mit F. Kambartel.) in: K. Lorenz et al. (Hrsg.): Handbuch Sprachphilosophie. Berlin: de Gruyter, (1996). „Zum Streit der Wahrheitstheorien“. In: K. Lorenz et al. (Hrsg.): Handbuch Sprachphilosophie. Berlin: de Gruyter, (1996). „Ideologie, Macht und Sprache. Zu Versuchen, Wittgenstein mit der kritischen Theorie in ein Verhältnis zu setzen“. In: Wittgenstein Studies 3 (1996). „Begriffliche Probleme des Naturalismus und Reduktionismus in einer Philosophie des Geistes“. In: Vereinheitlichte Welt. Dialektik 3 (1997), S. 69–82. „Review: Language, Mind and Epistemology: On Donald Davidson’s Philosophy, G. Preyer, F. Siebelt, A. Ulfig (Hrsg.)“. In: Philosophical Investigation 20/1 (1997), S. 85–90. „Zeichenkonzeptionen in der Mathematik der griechischen und römischen Antike“. In: R. Posner et al. (Hrsg.): Handbuch Semiotik (Art. Nr. 41), Band 13.1. Berlin: de Gruyter, (1997), S. 862–875. „Zu einer Interpretation von Platons Dialog ‚Parmenides‘“. In: G. Meggle und J. NidaRümelin (Hrsg.): Perspektiven der Analytischen Philosophie, Wolfganz Lenzen (Hrsg.): Band 14, Das weite Spektrum der analytischen Philosophie. Festschrift für Franz von Kutschera. Berlin: de Gruyter, (1997), S. 346–363. „Die Besonderheit der ersten Person“. In: W. R. Köhler (Hrsg.): Davidsons Philosophie des Mentalen. Paderborn: Ferdinand Schöningh, (1997), S. 197–216. „Einheit und Pluralität der Wissenschaft und ihres Gegenstandes“. In: H. J. Sandkühler (Hrsg.): Philosophie und Wissenschaften. Formen und Prozesse ihrer Interaktion. Bremen/Frankfurt/Berlin/New York: Verlag Peter Lang, (1997), S. 105–132. „Die (Un)Wahrscheinlichkeit des Verstehens“. Bemerkungen zur Indeterminiertheit des Begriffs ‚Bedeutung‘“. In: G.-L. Lueken (Hrsg.): Kommunikationsversuche. Theorien der Kommunikation. Leipziger Schriften zur Philosophie, Band 7. Leipzig: Universitätsverlag, (1997), S. 225–254. „Analogie als semantisches Prinzip“. In: G. Meggle (Hrsg.): Analyomen 2, Volume II: Philosophy of Language Metaphysics. Berlin/New York: de Gruyter, (1997), S. 262–289. „Frege und seine Nachfolger“. In: R. Posner et al. (Hrsg.): Handbuch Semiotik (Art. Nr. 102) Band 13.2. Berlin: de Gruyter, (1997), S. 2074–2095. „Philosophie und das Konzept der Öffentlichkeit“. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 45, Heft 2 (1997), S. 197–214. „What are Geometrical Forms?“ In: T. Childers, P. Kolár u. V. Svoboda (Hrsg.): Logica 96, Proceedings of the 10th International Symposium. Prag, (1997), S. 211–228. „Ambivalenzen der Okzidentalisierung“. In: D. Müller (Hrsg.): Ambivalenzen der Okzidentalisierung. Leipzig: Universitätsverlag, (1998), S. 11–23. „Das Subjekt des Handelns als Objekt der Reflexion“. In: W. Hogrebe (Hrsg.): Subjektivität. München: Fink Verlag, (1998), S. 147–166.
Verzeichnis der Schriften von Pirmin Stekeler-Weithofer
„Strukturprobleme gemeinsamen Handelns. Philosophische Bemerkungen zu Grundproblemen des methodischen Individualismus“. In: Comparativ: Sphären der „Geselligkeit“ 8, Heft 4 (1998), S. 63–90. „Formenanalyse und Begriffslogik in Platons Philebos und ihre Entwicklung bei Aristoteles und Leibniz“. In: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1 (1999), S. 46–74. „What is the Matter of Mind?“ In: G. Meggle und J. Nida-Rümelin (Hrsg.): Perspektiven der Analytischen Philosophie, Band 21, Actions, Norms, Values. Discussions with Georg Henrik von Wright. Berlin: de Gruyter, (1999), S. 171–189. „Zum Ort der Philosophie in den Wissenschaften“. In: R. Raatzsch (Hrsg.): Philosophieren über Philosophie. Leipziger Schriften zur Philosophie 10, Leipzig: Universitätsverlag, (1999), S. 177–202. „Verkehrte Welt, duale Sprache. Anstöße einer nicht-naturalistischen Philosophie des (Selbst-)Bewusstseins nach Kant“. In: H. J. Sandkühler (Hrsg.): Repräsentation, Denken und Selbstbewusstsein, Zentrum Philosophische Grundlagen der Wissenschaften, Schriftenreihe Band 20. Universität Bremen, (1999), S. 147–176. „Frege’s Logicist Platonism“. In: D. Anapolitanos, A. Baltas u. S. Tsinorema (Hrsg.): Philosophy and the Many Faces of Science. Lanham/Boulder/New York/London: Rowman & Littlefield Publishers, (1999), S. 24–39. „Wie bestimmen Sprachformen den Horizont einer Wissenschaft? Bemerkungen zur Vagheit und zur Norm der Exaktheit“. In: H. E. Wiegand (Hrsg.): Sprache und Sprachen in den Wissenschaften. Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Walter de Gruyter & Co. Anlässlich einer 250jährigen Verlagstradition. Berlin/New York: de Gruyter, (1999). „Vorwort“. In: K. Bal, V. Caysa u. P. Stekeler-Weithofer (Hrsg.): Philosophie und Regionalität. Wydawnictwo Uniwersytetu Wroclawskiego, (1999). „Zum Problem der Regionalität in der Philosophie“. In: K. Bal, V. Caysa u. P. Stekeler-Weithofer (Hrsg.): Philosophie und Regionalität. Wydawnictwo Uniwersytetu Wroclawskiego, (1999). „Bildgestütztes Folgern. Nietzsche und die metaphorische Tiefenstruktur von Sprache und Wissenschaft“. In: Dialektik, Zeitschrift für Kulturphilosophie (2000), S. 53–67. „Die Eule der Minerva oder: die Macht der Reflexion“. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie (2000), S. 63–78. „Kommunikatives Handeln und kooperatives Begreifen. Intentionalismus und sozialer Externalismus in Theorien des Sinnverstehens“. In: K. Neumer (Hrsg.): Das Verstehen des Anderen. Wittgenstein-Studien 1 (2000), S. 13–48. „Kritik der Erkenntnistheorie. Zur Logik von Gegenstandsbezug und Wahrheit bei Hegel (und Wittgenstein)“. In: A. Arndt und Ch. Iber (Hrsg.): Hegels Seinslogik. Interpretationen und Perspektiven. Hegel-Forschungen. Berlin: Akademie Verlag, (2000). „Nietzsches ontologiekritische Sprachpragmatik“. In: V. Gerhardt und R. Reschke (Hrsg.): Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft, Band 7. Berlin: Akademie Verlag, (2000). „Der Abschied von den großen Erzählungen und Hegels Strukturgeschichte der Vernunft“. In: M. Plümacher, V. Schürmann u. S. Freudenberger (Hrsg.): Herausforderung Pluralismus. Festschrift für Hans Jörg Sandkühler. Frankfurt/M.: Peter Lang, (2000).
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Verzeichnis der Schriften von Pirmin Stekeler-Weithofer
„Schlüsse, Folgen und Begründungen. Eine regellogische Perspektive auf die Grundlagen begrifflicher und empirischer Wahrheit“. In: G.-L. Lueken (Hrsg.): Formen der Argumentation. Leipziger Schriften zur Philosophie 11. Leipzig: Universitätsverlag, (2000). „Questions and Theses concerning (mental) Events and Causation“. In: J. Faye, U. Scheffler u. M. Urchs (Hrsg.): Things, Facts and Events. Poznań Studies in the Philosophy of the Sciences and the Humanities. Vol. 76, Amsterdam: Rodopi, (2000). „Einleitende Bemerkungen zum Thema: Nietzsches Sprachkritischer Pragmatismus“. (Zus. mit Volker Caysa). In: V. Gerhardt und R. Reschke (Hrsg.): Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft, Band 7. Berlin: Akademie Verlag, (2000). „Begierde und Absicht.“ Eine Disambiguierung der Belief-Desire-Theory der Handlungsgründe.“ In: Beiträge der Forschergruppe Kommunikatives Verstehen. Leipzig, (2000). „Erfahrung als Kultur“. Zur Wegbestimmung moderner Philosophie bei John Dewey“. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49/1 (2001), S. 117–132. „Schwerpunkt: Evolution“. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49/4 (2001), S. 533–536. „Evolution und Entwicklung. Zum Biologismus in den Humanwissenschaften“. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49/4 (2001), S. 571–585. „Vorsehung und Entwicklung in Hegels Geschichtsphilosophie“. In: R. Bubner und W. Mesch (Hrsg.): Die Weltgeschichte – das Weltgericht?. Stuttgarter Hegel-Kongress 1999. Stuttgart: Klett-Cotta, (2001), S. 141–168. „The Way of Truth. Parmenides’ Seminal Reflection on Logic, Semantics and Methodology of Science“. In: C. Féry und W. Sternefeld (Hrsg.): Audiatur Vox Sapientae. Studia grammatica, Band 52. Festschrift für Arnim Stechow. Berlin: Akademie Verlag, (2001), S. 450–472. „Beweise und philosophische Begründungen“. In: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1 (2002), S. 101–116. „Zur Überwindung von Mystifizierungen menschlicher Kognition. Logische Analyse von Sprechen und Verstehen“. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50/5 (2002), S. 800– 805. „Bedeutung und Weltbezug. Inferentielle Semantik bei Wittgenstein, Davidson und Brandom“. In: G. W. Bertram und J. Liptow (Hrsg.): Holismus in der Philosophie. Ein zentrales Motiv der Gegenwartsphilosophie. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, (2002), S. 94– 113. „Zur Logik des ‚Wir‘. Formen und Darstellungen gemeinsamer Praxis“. In: M. Gutmann, D. Hartmann u. W. Zitterbarth (Hrsg.): Kultur – Handlung – Wissenschaft. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, (2002), S. 216–240. „Handlung und Bedeutung. Ein methodenkritischer Diskurs“. (Zus. mit Georg Meggle) in: M. Siebel (Hrsg.): Kommunikatives Verstehen. Leipziger Schriften zur Philosophie 16. Leipzig: Universitätsverlag, (2002), S. 21–46. „Formallogische und materialbegriffliche Analysen. Philosophische Theoriekritik nach Wittgenstein“. In: M. Siebel (Hrsg.): Kommunikatives Verstehen. Leipziger Schriften zur Philosophie 16. Leipzig: Universitätsverlag, (2002), S. 47–68. „Sind Sprechen und Verstehen ein Regelfolgen?“ In: S. Krämer und E. König (Hrsg.): Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen?. Frankfurt/M.: Suhrkamp, (2002), S. 190–225. „Zur Pragmatik des Wahrheitsbegriffs“. In: G. Figal (Hrsg.): Interpretationen der Wahrheit. Tübingen: ATTEMPO, (2002), S. 223–257.
Verzeichnis der Schriften von Pirmin Stekeler-Weithofer
„Formen der Repräsentation und des Handelns nach Hegel“. In: H. J. Sandkühler (Hrsg.): Welten in Zeichen – Sprache, Perspektivität, Interpretation. Philosophie und Geschichte der Wissenschaften. Frankfurt/M.: Peter Lang, (2002), S. 143–168. „Stolz und Würde der Person. Grundprobleme der (Bio)Ethik in einer mit Nietzsche entwickelten Perspektive“. In: V. Gerhardt und R. Reschke (Hrsg.): Nietzscheforschung, Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft, Band 9. Berlin: Akademie Verlag, (2002), S. 15–29. „Die Kategorie der Quantität“. In: A. F. Koch und F. Schick (Hrsg.): G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Klassiker Auslegen, Band 27. Berlin: Akademie Verlag, (2002), S. 51–73. „Die holistische Verfassung von Praxisformen“. In: U. Baltzer und G. Schönrich (Hrsg.): Institutionen und Regelfolgen. Paderborn: Mentis Verlag, (2002), S. 59–79. „Hegels Naturphilosophie. Versuch einer topischen Bestimmung“. In: W. Jaeschke und L. Siep (Hrsg.): Hegel Studien, Band 36. Hamburg: Meiner, (2003), S. 117–145. „Philosophie der Mathematik nach Wittgenstein“. In: W. Lütterfelds (Hrsg.): Erinnerung an Wittgenstein. „Kein Sehen in die Vergangenheit?“. Wittgenstein-Studien 7 (2003), S. 193–215. „Zur Dekonstruktion gegenstandsfixierter Seinsgeschichte bei Heidegger und Derrida“. In: A. Kern und C. Menke (Hrsg.): Philosophie der Dekonstruktion. Frankfurt/M.: Suhrkamp, (2002). „Noumenal Will in Kant’s Theory of Action: Reasons and Causes as Intelligible Forms of Understanding“. In: Graduate Faculty Philosophy Journal 24 (2003), S. 45–73. „Normative Kulturentwicklung oder evolutiver Zivilisationsprozess? Eine Verteidigung der Vernunftphilosophie Kants und Hegels“. In: N. Psarros, P. Stekeler-Weithofer und G. Vobruba (Hrsg.): Die Entwicklung sozialer Wirklichkeit. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, (2003), S. 34–57. „Wahrheitswert- und Regellogik“. In: I. Max (Hrsg.): Traditionelle und moderne Logik. Leipziger Schriften zur Philosophie 15. Leipzig: Universitätsverlag, (2003), S. 99–127. „Semiotische Aspekte der Mathematik“. In: R. Posner et al. (Hrsg.): Handbuch Semiotik (Artikel Nr. 133), Band 13.3. Berlin: de Gruyter, (2003), S. 2569–2587. „Lebenswelt und Menschenzoo. Nietzsches Ethik des Überstiegs vom Bedürfniswesen zur authentischen Person“. In: V. Gerhardt und R. Reschke (Hrsg.): Ästhetik und Ethik nach Nietzsche. Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft. Band 10. Berlin: Akademie Verlag, (2003), S. 65–80. „Wir halten das Banner der Wahrheit“. Zu Herbert Schnädelbachs Lektüre von Brandom, Hegel und anderen ‚Idealisten‘.“ In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 29/2 (2004), S. 177–188. „Selbstbildung und Selbstunterdrückung. Zur Bedeutung der Passagen über Herrschaft und Knechtschaft in Hegels Phänomenologie des Geistes“. In: Dialektik, Zeitschrift für Kulturphilosophie 1 (2004), S. 49–68. „Plato and Parmenides on Ideal Truth, Invariant Meaning, and Participation“. In: W. Detel, A. Becker und P. Scholz (Hrsg.): Ideal and Culture of Knowledge in Plato. Akten der 4. Tagung der Karl-und Gertrud-Abel-Stiftung. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, (2004), S. 115–131. „Mathematisches und begriffliches Denken in Hegels Wissenschaft der Logik“. In: W. Neuser und V. Hösle (Hrsg.): Logik, Mathematik und Naturphilosophie im objektiven
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Verzeichnis der Schriften von Pirmin Stekeler-Weithofer
Idealismus. Festschrift für Dieter Wandschneider zum 65. Geburtstag. Würzburg: Königshausen & Neumann, (2004), S. 123–144. „… und schreib getrost ‚Im Anfang war die Tat‘“. In: T. Mohrs, A. Roser u. D. Salehi (Hrsg.): Die Wiederkehr des Idealismus? Festschrift für Wilhelm Lütterfelds zum 60. Geburtstag. Frankfurt/M.: Peter Lang, (2004), S. 281–303. „Categorical Forms in Objective Judgments. Limitations and Results of Kant’s Transcendental Logic“. In: C. Ferrini (Hrsg.): EREDITÀ KANTIANE (1804–2004). Questioni Emergenti e Problemi Irrisolti. Napoli: Bibliopolis, (2004), S. 71–105. „Gehört das Leben in die Logik?“ In: H. Schneider (Hrsg.): Sich in Freiheit entlassen. Natur und Idee bei Hegel. Hegeliana. Studien und Quellen zu Hegel und zum Hegelianismus. Frankfurt/M.: Peter Lang, (2004), S. 157–188. „A Second Wave of Enlightenment“. Kant, Wittgenstein and the Continental Tradition. In: M. Kölbel und B. Weiss (Hrsg.): Wittgenstein’s Lasting Significance. London/New York: Routledge, (2004), S. 282–302. „Das Vernünftige ist wirklich. Hegels Logik und die Notwendigkeit in der Entwicklung von Urteilskriterien“. In: T. Rentsch (Hrsg.): Philosophie – Geschichte und Reflexion, Dresdner Hefte für Philosophie. Dresden: THELEM, (2004). „Was ist Denken?“ In: Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologische Klasse, Band 139, Heft 2, Leipzig: Verlag der Sächsischen Akademie, (2004), S. 3–27. „Brandoms pragmatische Theorie der Bedeutung“. In: A. Fuhrmann und E. J. Olsson (Hrsg.): Pragmatisch Denken. Epistemische Studien. Heusenstamm: Ontos Verlag, (2004), S. 35–57. „Formen, Normen und Begriffe. Hegel und die apriorische Rolle generischen Wissens“. In: Ch. Halbig, M. Quante u. L. Siep (Hrsg.): Hegels Erbe. Frankfurt/M.: Suhrkamp (2004), S. 368–400. „Introduction“. In: Special issue of Pragmatics & Cognition 13/1, The Pragmatics of Making it Explicit. (2005), S. 3–6. „Formal truth and objective reference in an inferentialist setting“. In: Special issue of Pragmatics & Cognition 13/1, The Pragmatics of Making it Explicit. (2005), S. 7–37. „Flache Theorien der Intentionen und Kooperation“. In: M. Kober (Hrsg.): Soziales Handeln. Beiträge zu einer Philosophie der 1. Person Plural. Band 23, Interdisziplinäre Schriftenreihe des Humboldt-Studienzentrums der Universität Ulm. Ulm: Humboldt-Studienzentrum, (2005), S. 130–147. „Absicht und Begierde. Ambiguitäten in der Rede von den ‚Ursachen‘ eines Tuns“. In: P. Grönert und F. Kannetzky (Hrsg.): Sprache und Praxisform. Leipziger Schriften zur Philosophie 17. Leipzig: Universitätsverlag, (2005), S. 17–43. „Bildungsstufen personaler Kompetenz. Grundprobleme des methodischen Individualismus in Theorien des Geistes, des gemeinsamen Handelns und der Gesellschaft“. In: P. Grönert und F. Kannetzky (Hrsg.): Sprache und Praxisform. Leipziger Schriften zur Philosophie 17, Leipzig: Universitätsverlag, (2005), S. 163–222. „Zu einer prototheoretischen Begründung der klassischen Mengenlehre.“ In: V. Peckhaus (Hrsg.): Oskar Becker und die Philosophie der Mathematik. Neuzeit und Gegenwart. Philosophie in Wissenschaft und Gesellschaft. München: Wilhelm Fink Verlag, (2005), S. 299–324.
Verzeichnis der Schriften von Pirmin Stekeler-Weithofer
„Mathematical Thinking in Hegel’s Science of Logic“. In: K. Ameriks und J. Stolzenberg (Hrsg.): Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus/International Yearbook of German Idealism. Deutscher Idealismus und die analytische Philosophie der Gegenwart. Berlin: Walter de Gruyter, (2005), S. 243–260. „Was ist eine Praxisform? Bemerkungen zur Normativität begrifflicher Inhalte“. In: T. Rentsch (Hrsg.): Einheit der Vernunft? Normativität zwischen Theorie und Praxis. Paderborn: Mentis, (2005), S. 181–205. „The Question of System: How to Read the Development from Kant to Hegel“. In: Inquiry. An Interdisciplinary Journal of Philosophy 49/1 (2006), S. 80–102. „Kunst im Blickfeld der Philosophie“. In: Arbeitsblätter der Kommission für Kunstgeschichte, Literatur- und Musikwissenschaft 18–20 (2006), S. 42–61. „Warum ist der Begriff sowohl Urteil als auch Schluss?“. In: A. Arndt, Ch. Iber u. G. Kruck (Hrsg.): Hegels Lehre vom Begriff, Urteil und Schluss. Hegel-Forschungen. Berlin: Akademie Verlag, (2006), S. 24–47. „Dlaczego potrzebujemy Teorii Znaczenia opartej na Analizie Form Praktyki? Spór o systemowość – od Kanta do Brandom“. In: M. Potęjm und Z. Zwoliński (Hrsg.): 200 lat z filozofią Kanta. Genessis. Warszawa, (2006), S. 565–582. „Sprachkritik bei Kant, Hegel und Nietzsche“. In: K. Broese, A. Hütig, O. Immel u. R. Reschke (Hrsg.): Vernunft der Aufklärung – Aufklärung der Vernunft. Berlin: Akademie Verlag, (2006), S. 165–176. „Wer ist kreativ, mein Gehirn oder ich? Wie Ausdrucksweisen die Debatte um den freien Willen in die Irre führen“. In: G. Abel (Hrsg.): Kreativität. Kolloquienbeiträge. XX. Deutscher Kongress für Philosophie. Hamburg: Meiner, (2006), S. 667–690. „Vom Satzsubjekt zum Ich. The First Person in Grammar and Reality“. In: R. Bubner und G. Hindrichs (Hrsg.): Von der Logik der Sprache. Stuttgarter Hegel-Kongress 2005. Stuttgart: Klett-Cotta, (2005), S. 474–497. „Kategoriale Analyse von Erkenntnis und Selbsterkenntnis“. In: G. W. Bertram, D. Lauer, J. Liptow u. M. Seel (Hrsg.): Die Artikulation der Welt. Über die Rolle der Sprache für das menschliche Denken, Wahrnehmen und Erkennen. Frankfurt/M.: Humanities Online, (2006), S. 107–133. „Die Begrenzung der Mitbestimmung und ihre Folgen in der Umgestaltung des Bildungssystems“. In: B. Kremberg (Hrsg.): Mitbestimmung und Hochschule. Aachen: Shaker Verlag, (2006), S. 191–216. „From Individual Mind to Forms of Human Practice“. In: N. Psarros und K. Schulte-Ostermann (Hrsg.): Facets of Sociality. Heusenstamm: Ontos Verlag, (2007), S. 85–115. „Inferential Semantics in the Pragmatic Theory of Truth and Reference“. In: V. Kolman (Hrsg.): From Truth to Proof. Univerzita Karlova, Filozofická fakulta, katedra logiky, (2007), S. 19–43. „Die Kritik am empiristischen Idealismus bei Hegel und Wittgenstein“. In: J. Padilla Gálvez (Hrsg.): Idealismus und sprachanalytische Philosophie. Wittgenstein-Studien 13, Frankfurt/M.: Peter Lang, (2007), S. 45–58. „Die Rolle gemeinsamer Urteile für das freie Handeln“. In: Ch. Kanzian und E. Runggaldier (Hrsg.): Cultures. Conflict-analysis-Dialogue. Proceedings of the 29. International Ludwig Wittgenstein Symposium in Kirchberg am Wechsel 2006, Heusenstamm: Ontos Verlag, (2007), S. 221–247.
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Verzeichnis der Schriften von Pirmin Stekeler-Weithofer
„Philosophische Aspekte des (geistigen) Eigentums“. In: Comparativ. Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung, Heft 5/6. Leipzig: Universitätsverlag, (2007), S. 53–70. „Persons and Practices. Kant and Hegel on Human Sapience“. In: Journal of Consciousness Studies. Controversies in science and the humanities 14/5–6 (2007), S. 174–198. „Philosophische Dichtung: Hölderlins Mnemosyne“. In: B. Bowman (Hrsg.): Darstellung und Erkenntnis. Beiträge zur Rolle nichtpropositionaler Erkenntnisformen in der deutschen Philosophie und Literatur nach Kant. Paderborn: Mentis, (2007), S. 135–157. „Das Wesen der Technik ist nichts Technisches. Kooperation als Hintergrunderfüllung“. In: Ch. Hubig, A. Luckner u. N. Mazouz (Hrsg.): Handeln und Technik – mit und ohne Heidegger. Kultur und Technik, Band 7. Berlin: LIT VERLAG, (2007), S. 130–144. „Nietzsches Philosophie der authentischen Person“. In: N. Plotnikov und A. Haardt (Hrsg.): Personalität. Sprache der Philosophie im deutsch-russischen Dialog. Sammelband der Moskauer Tagung 2005. Moskau: Modest Kolerov Verlag, (2007), S. 94–109. „What Is Objective Probability?“. In: O. Tomala und R. Honzík (Hrsg.): The Logica Yearbook 2007. Prague: Filosofia, (2007), S. 237–249. „Die Freiheit ausführbarer Handlungen und die Spontaneität in einzelnen Ausführungen – Zu begrifflichen Verwirrungen in der Deutung der Libet-Experimente“. In: W. Lütterfelds (Hrsg.): Das Sprachbeispiel der Freiheit. Wittgenstein-Studien 16 (2007), S. 213–238. „Kompetenter Umgang mit analogischen Formen. Über Ernst Tugendhat: Anthropologie statt Metaphysik“ (Buchkritik). In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 2 (2008), S. 299–304. „Die Wirklichkeit des Guten. Hegels Kritik an Kants praktischer Philosophie“. In: Methodus. International Journal for Modern Philosophy 3 (2008), S. 46–68. „Ethik und philosophische Anthropologie.“ In: J. Mittelstraß (Hrsg.): Der Konstruktivismus in der Philosophie im Ausgang von Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen. Paderborn: Mentis, (2008), S. 133–154. „Die Wahrheit des Bewusstseins ist das Selbstbewusstsein. Hegels Weg zur konkreten Selbstbestimmung in der Enzyklopädie“. In: V. Caysa und K. Schwarzwald (Hrsg.): Experimente des Leibes. Wien/Berlin: Lit Verlag, (2008), S. 240–272. „Wie soll man heute die Philosophie verteidigen?“. In: H. J. Sandkühler (Hrsg.): Philosophie, wozu? Frankfurt/M.: Suhrkamp, (2008), S. 40–64. „Not ‚I say that P‘. but ‚„P“ says that p‘. Wittgenstein and Hegel on the identity of ‚the Notion‘ and ‚the I‘“. In: J. Padilla Gálvez (Hrsg.): Phenomenolgy as Grammar. Publications of the Austrian Ludwig Wittgenstein-Society. New Series. Heusenstamm: Ontos Verlag, (2008), S. 15–31. „Wertfreiheit und Wertbindung der Wissenschaften“. In: W. Fritzsche, L. Kreiser u. L. Zerling (Hrsg.): Wissenschaft und Werte im gesellschaftlichen Kontext. Beiträge zur Tagung der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, 20.–21. 10. 2006, Band 64, Heft 6, Leipzig: Verlag Sächsische Akademie der Wissenschaften, (2008), S. 881–86. „Nietzsches Philosophie der authentischen Person“. In: A. Haardt und N. Plotnikov (Hrsg.): Diskurse der Personalität. Die Begriffsgeschichte der ‚Person‘ aus deutscher und russischer Perspektive. München: Wilhelm Fink Verlag, (2008), S. 75–89. „La signoria dello spirito e la schiavitù del corpo. L’analisi hegeliana delle competenze dislocate nel corpo“. In: Revista di filosofia, 2. Bologna: il Mulino, (2008), S. 171–196.
Verzeichnis der Schriften von Pirmin Stekeler-Weithofer
„Amorologisches. Zur Einheit in der Vielfalt des Begriffes ‚Liebe‘“. In: O. Decker, T. Grave (Hrsg.): Kritische Theorie der Zeit. Springe: zu Klampen Verlag, (2008), S. 109–135. „Wer ist der Herr, wer ist der Knecht? Der Kampf zwischen Denken und Handeln als Grundform jedes Selbstbewusstseins“. In: K. Vieweg und W. Welsch (Hrsg.): Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp, (2008), S. 205–237. „Vernunft als Kritik an bloß wissenschaftlicher Aufklärung. Zu Hegels Aufhebung religiöser Denktraditionen“. In: E. Dirscherl und C. Dohmen (Hrsg.): Glaube und Vernunft. Spannungsreiche Grundlage europäischer Geistesgeschichte. Freiburg/Basel/Wien: Herder, (2008), S. 291–312. „Identität und Regionalität“. In: V. Caysa, B. Kozera u. J. H. Ulbricht (Hrsg.): Kultur – Nation – Europa, Nationalkulturelle Identitäten auf einem imaginären Kontinent. Frankfurt/ M.: Peter Lang, (2008), S. 79–86. „Formal truth and objective reference in an inferentialist setting“. In: P. Stekeler-Weithofer (Hrsg.): The Pragmatics of Making it Explicit. Amsterdam: J. Benjamin Publishers (2008), S. 7–34. „Zur Logik des ‚Aber‘. Allgemeines Erfahrungswissen in besonderer Anwendung auf empirische Einzelfälle“. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 34 (2009), S. 29–54. „‚Vermeidbares Desaster.‘ Das deutsche Akkreditierungswesen im Windschatten von ‚Bologna‘“. In: Forschung & Lehre 7 (2009), S. 500–501. „Die ‚Annalen der Naturphilosophie‘ (1901–1921) als Reflexion auf einen wissenschaftlichen Umbruch“. (Zus. mit Christian Schmidt) in: Mitteilungen der Wilhelm-OstwaldGesellschaft zu Großbothen e.V., 14. Jg., Heft 3 (2009), S. 20–33. „Brainworks. Über die Rolle von Philosophie und Geisteswissenschaft in der Strukturierung unserer Wissenslandschaft“. (Zus. mit Olaf Breitbach) in: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Heft 2 (2009), S. 20–48. „Stellungnahmen zur Stellungnahme. Mitglieder der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zur Beurteilung des Akademienprogramms durch den Wissenschaftsrat“ (Diskussion). In: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Heft 3 (2009), S. 127–140. „Hegel und die Romantik“. In: B. Frischmann und E. Millán-Zaibert (Hrsg.): Philologischhistorische Klasse, Innovation und Aktualität frühromantischer Philosophie. Paderborn: Ferdinand Schöningh, (2009), S. 39–49. „Zur Einleitung: Die ‚Annalen der Naturphilosophie‘ (1901–1921)“. (Zus. mit Christian Schmidt) in: P. Stekeler-Weithofer, H. Kaden u. N. Psarros (Hrsg.): Ein Netz der Wissenschaften? Abhandlungen der Sächs. Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Band 81, Heft 4, Sächsische Akademie der Wissenschaften, (2009), S. 9–22. „Das Vernünftige ist wirklich. Hegels Logik und die Notwendigkeit in der Entwicklung von Urteilskriterien“. In: T. Rentsch (Hrsg.): Zur Gegenwart der Philosophie. Theorie – Praxis – Geschichte. Dresden: Thelem, (2008), S. 385–407. „Philosophie, Wissenschaft und Demokratie: Bemerkungen zu Rorty, Kant und Wittgenstein“. In: Ch. Fehige, Ch. Lumer u. U. Wessels (Hrsg.): Handeln mit Bedeutung und Handeln mit Gewalt. Philosophische Aufsätze für Georg Meggle. Paderborn: Mentis, (2009), S. 71–91.
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„Teleologie als Organisationsprinzip. Zu Hegels Kritik an Kants (Krypto-)Physikalismus“. In: B. Sandkaulen, V. Gerhardt u. W. Jaeschke (Hrsg.): Gestalten des Bewusstseins. Genealogisches Denken im Kontext Hegels. Hegel-Studien, Beiheft 52, Hamburg: Meiner, (2009), S. 102–134. „Sittlichkeit als Verwirklichung der Idee des Guten“. In: T. Buchheim, V. Gerhardt, M. Lutz-Bachmann, H. Ottmar, P. Stekeler-Weithofer u. W. Vossenkuhl (Hrsg.): Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft. Freiburg/München: Verlag Karl Alber (2009), S. 362–380. „Natürliche Evolution und kulturelle Entwicklung“. In: A. G. Beck-Sickinger und M. Petzold (Hrsg.): Paradigma Evolution. Frankfurt/M.: Peter Lang, (2009), S. 33–46. „Forschung aus Tradition. Zur Bedeutung guter Editionen für systematische Philosophie und Wissenschaft“. In: R. Nutt-Kofoth, B. Plachta und W. Woesler (Hrsg.): editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft. Tübingen: Karl Niemeyer Verlag, (2009), S. 176–190. “Философия как Рефлексия“. In: Філософія спілкування. Філософія психологія соціальна комунікаця. Charkov: Verlag der Nationalen TU Charkov, (2009), S. 84–90. „1809 – 1909 – 2009. Zur Spannung zwischen Selbstverständnis und Realität akademischer Institutionen“. In: M. Rudersdorf, W. Höpken u. M. Schlegel (Hrsg.): Wissen und Geist. Universitätskulturen. Symposium anlässlich des 600-jährigen Jubiläums der Universität Leipzig, 11.-13. Mai 2009, Alte Börse, Leipzig. Leipzig: Universitätsverlag, (2009), S. 197–205. „Generisches Wissen in kategorialen Inferenzstrukturen: Zur Metaphysik des Begrifflichen“. In: V. Munz, K. Puhl und J. Wang (Hrsg.): Language and World Part Two: Signs, Minds and Actions. Proceedings of the 32th International Ludwig Wittgenstein-Symposium in Kirchberg am Wechsel. Heusenstamm: Ontos Verlag, (2009), S. 191–215. „Publikationsverhalten in der Philosophie“. In: J. Halfwassen, P. Stekeler-Weithofer u. B. Waldenfels (Hrsg.): Philosophische Rundschau. Eine Zeitschrift für philosophische Kritik 57/1 (2010), S. 1–13. „Was ist der Mensch?“. In: Universitätsjournal, Heft 4 (2010). „Auf dem Weg zur Sprache. Ausgangsorte und Richtungen der analytischen Philosophie“. In: J. Halfwassen, P. Stekeler-Weithofer u. B. Waldenfels (Hrsg.): Philosophische Rundschau. Eine Zeitschrift für philosophische Kritik 57/2 (2010), S. 179–204. Stellungnahme zum Thema: „Was bedeutet die Internationalisierung der Geisteswissenschaften für die Philosophie?“. In: Information Philosophie. Heft 2 (2010), S. 32–33. „The Computational Theory of Mind and the Decomposition of Actions“. In: Philosophical Topics 36/2 (2010), S. 63–86. „Der Gottmensch. Zur Philosophie der christlichen Religion“. In: Philokles. Zeitschrift für populäre Philosophie, Heft 17 (2010), S. 3–28. „Europäischer Bildungsraum – symbolpolitische Utopie oder zu verfolgendes Projekt? 40 Thesen zur unbewältigten Gegenwart unseres Schul- und Hochschulsystems“. In: P. Stekeler-Weithofer (Hrsg.): Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Heft 5 (2010), S. 18–33. „Editorial“. In: T. Borsche (Hrsg.): Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, Heft 3 (2010), S. 219–220.
Verzeichnis der Schriften von Pirmin Stekeler-Weithofer
„Explikation von Praxisformen.“ In: T. Borsche (Hrsg.): Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, Heft 3 (2010), S. 265–290. „Über die Seele bei Platon, Aristoteles und Hegel“. In: K. Crone, R. Schnepf u. J. Stolzenberg (Hrsg.): Über die Seele. Berlin: Suhrkamp, (2010), S. 210–230. „No digo yo que p, sino que ‚p‘ dice p. Wittgenstein y Hegel sobre la identidad de ‚la Noción‘ y ‚el yo‘“. In: J. Mariá Ariso (Hrsg.): El yo amenazado. Ensayos sobre Wittgenstein y el sinsentido. Madrid: Biblioteca Nueva, (2010), S. 171–188. „Die Frage nach dem Sinn“. In: S. Tolksdorf und H. Tetens (Hrsg.): In Sprachspiele verstrickt – oder: wie man der Fliege den Ausweg zeigt. Berlin: De Gruyter, (2010), S. 9–28. „Die soziale Logik der Anschauung.“ In: J. Bromand, G. Kreis (Hrsg.): Was sich nicht sagen lässt. Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion. Festschrift für Wolfram Hogrebe. Berlin: Akademieverlag, (2010), S. 235–256. „Subjektive Seele und Intersubjektiver Geist bei Hegel“. In: A. Arndt, P. Cruysberghs u. A. Przylebski (Hrsg.): Hegel-Jahrbuch 2010, Erster Teil. Berlin: Akademie Verlag (2010). „The Importance of Intuition“. In: M. C. Dias (Hrsg.): Filosofia da mente, ética e metaética. Rio de Janeiro: Editora Multifoco, (2010), S. 311–346. „Symbolische Regeln“. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 59/4 (2011), S. 623–627. „Bildung – jenseits der Finanzen. Strukturelle Gefahren in einer notwendigen Großinstitution“. In: R. Robra und M. Zimmermann (Hrsg.): Sachsen-Anhalt. Ein Land findet sich. Halle: Mitteldeutscher Verlag, (2011), S. 423–434. „Die Bedeutung der eigenen Sprache für das Denken. Zur Lage des Deutschen in der Philosophie“. In: H. Glück und S. Pretscher (Hrsg.): Wissen schaffen – Wissen kommunizieren. Wissenschaftssprachen in Geschichte und Gegenwart. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, (2011), S. 73–84. „Intuition, Understanding, and the Human Form of Life“. In: H. Ikäheimo und A. Laitinen (Hrsg.): Recognition and Social Ontology, Social and Critical Theory, Band 11. Leiden: Brill, (2011), S. 85–113. „Wissen und Begriff. Zum normativen Status generischer Sätze“. In: C. F. Gethmann, J. C. Bottek u. S. Hiekel (Hrsg.): Deutsches Jahrbuch Philosophie. Lebenswelt und Wissenschaft, Band 2. Hamburg: Meiner, (2011), Seite 410–430. „Denken“. In: P. Kolmer und A. G. Wildfeuer (Hrsg.): Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Band 1. Freiburg: Karl Alber Verlag, (2011), Seite 492–507. „Gesetz: I. allgemein“. In: P. Kolmer und A. G. Wildfeuer (Hrsg.): Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Band 2. Freiburg: Karl Alber Verlag, (2011), Seite 992–1007. „Die Frage nach dem Begriff. Was die analytische Philosophie von Hegel lernen könnte“. In: R. Hiltscher und S. Klingner (Hrsg.): Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Neue Wege der Forschung – Philosophie. Darmstadt: WBG, (2011), Seite 233–252. „Das Einzelne und das Allgemeine – Normen des Richtigen und ihre Anwendung im Inferentialismus“. In: Ch. Barth und H. Sturm (Hrsg.): Robert Brandoms expressive Vernunft. Historische und systematische Untersuchungen. Paderborn: Mentis, (2011), Seite 349–374. „Verstand und Vernunft. Entwicklung des Selbstbewusstseins in Hegels Phänomenologie des Geistes“. In: Archiwum. Historii Filozofii, hrsg. von Instytut Filozofii Socjologii Polskiej Akademii Nauk, Warschau, (2011), Seite 177–198.
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Verzeichnis der Schriften von Pirmin Stekeler-Weithofer
„Logik, Natur und Wissenschaft in der klassischen Deutschen Philosophie“. In: F. Rush und J. Stolzenberg (Hrsg.): Internationales Jahrbuch des deutschen Idealismus. Philosophie und Wissenschaft. Logik, Natur und Wissenschaft in der klassischen Deutschen Philosophie. Berlin: De Gruyter, Seite 317–336. „Nao „eu digo que ‚p‘“, mas sim „‚p‘ diz que ‚p‘“ Wittgenstein e Hegel sobre a identidade de „a Nocao“ e „o Eu“. In: J. Padilla Gálvez (Hrsg.): Fenomenologia como Gramàtica. Brasilien: Editora UnB, S. 21–44. „Hegel and the Analytic Tradition“. In: European Journal of Philosophy 20/1 (2012), S. 182– 187. „Philosophie, Wissenschaft und Weisheit aus begriffsgeschichtlicher Sicht“. In: Orientwissenschaftliche Hefte 29 (2012), S. 25–39. „Theologie im Gespräch mit empirischen Wissenschaften“. In: M. Petzoldt (Hrsg): Das Zeitliche des Daseins. Zur ontologischen Grundlage des Zeitbegriffs. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, (2012), S. 263–290. „Die Wiederkehr der Religion – und der Religionskritik“. In: M. Petzoldt (Hrsg.): Europas religiöse Kultur(en). Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, (2012), S. 171–190. „Offene Kreise. Fragen und Grenzen der Wissenschaft“. In: D. Becher & E. Schenkel (Hrsg.): Die Wissenschaft und das gute Leben als das Thema der Philosophie. Berlin: Peter Lang, 2012, Seite 33–51. „Against Quietism“. In: Wittgenstein-Studien 3 (2012). Berlin: de Gruyter, S. 233–244. „Regula et sententia convertuntur: on classified inferences in linguistic understanding“. In: Argumentos. Revista de Filosofía. No. 10 (2013), S. 72–96. „Das Ethos der Gemeinschaft und die Grundlagen des Rechts. Zu Hegels Analysen der Idee des Rechtsstaates im Blick von Theodor Litt“. In: B. Drinck, P. Gutjahr-Löser u. D. Schulz (Hrsg.): Vom Grund des Grundgesetzes. Theodor Litt Jahrbuch, Sonderband 4. Leipzig: Universitätsverlag, (2013), S. 55–81. „Erste und zweite Natur. Bemerkungen zu Hegels Analyse geistiger Bildung und Selbstformung“. In: P. Heuer, W. Neuser u. P. Stekeler-Weithofer (Hrsg.): Der Naturbegriff in der Klassischen Deutschen Philosophie. Würzburg: Königshausen & Neumann, (2013), S. 242. „Wirklichkeit als bewertete Möglichkeit“. In: R. Reschke (Hrsg.): Zum Problem allgemeiner Wahrheiten und möglicher Welten. Nietzscheforschung, Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft, Band 20, Heft 1. Berlin: Akademie Verlag, (2013), S. 117–139. „Der bewusstlose Geist der Religion und das philosophische Selbstbewusstsein. Kernthemen in Hegels Phänomenologie des Geistes“. In: A. Arndt, M. Gerhard u. J. Zuvko (Hrsg.): Hegel-Jahrbuch 2013. Hegel und die Moderne, 2. Teil. Berlin: Akademie-Verlag, (2013), S. 9–27. „Conceptual Thinking in Hegel’s Science of Logic“. In: W. Hanuszkiewicz (Hrsg.): Argument 3. Krakau: Uniwersytet Pedagogiczny, (2013), S. 445–474. „Zeitallgemeinheit und Zeitlichkeit im Weltbezug und Weltverlauf. Überlegungen zum Zeitbegriff im Anschluss an Hegel“. In: Philokles 20 (2014), S. 21–48. „Narration und Reflexion, Zum (Un)Philosophischen in Biographien von Philosophen“. In: Philosophische Rundschau 61, Heft 2 (2014), S. 123–145.
Verzeichnis der Schriften von Pirmin Stekeler-Weithofer
„Eine Kritik juridischer Vernunft“. In: H. Dreier und D. Willoweit (Hrsg.): Würzburger Vorträge zur Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie, Heft 48. Baden-Baden: Nomos Verlag, (2014). „Empirische Realität und generische Wirklichkeit. Zu metaphysischen Fehldeutungen materialbegrifflicher Sinnbestimmung“. In: M. Gabriel (Hrsg.): Der Neue Realismus. Berlin: Suhrkamp, (2014), S. 308–342. „Darstellungsformen gemeinsamen Handelns. Ihre Bedeutung für die Aufhebung von Dilemmata praktischer Vernunft“. In: C. Demuth und N. Schneidereit (Hrsg.): Interexistentialität und Unverfügbarkeit. München: Karl Alber, (2014), S. 60–86. „Hegels Logik als materialbegriffliche Strukturtheorie der Bedeutung“. In: A. F. Koch, F. Schick, K. Vieweg u. C. Wirsing (Hrsg.): Hegel – 200 Jahre Wissenschaft der Logik. Hamburg: Meiner, (2014), S. 339–357. „Conceptual Thinking in Hegel’s Science of Logic“. In: Instytut Filozofii Socjologii Polskiej Akademii Nauk (Hrsg): Archiwum Historii Filozofii. Warschau, (2014), S. 115–150. „Helden unserer Zeit? Zu Žižeks Aufhebung totalitärer Politik durch Ironisierung dichotomischer Logik“. In: Philosophische Rundschau 62, Heft 2 (2015), 172–184. „Schematische Regeln vs. Begründungen in der formalen Logik“. In: J. Mittelstraß und Ch. von Bülow (Hrsg.): Dialogische Logik. Münster: Mentis, (2015), S. 185–212. „Beredtes Schweigen und handelndes Unterlassen. Zur Bedeutung der Gelassenheit“. In: C. M. Flick (Hrsg.): Tun oder Nichttun – Zwei Formen des Handelns. Göttingen: Wallstein, (2015), S. 147–156. „Autonome Vernunft und Normbefolgung des Verstandes: Wie Hegel eine Unterscheidung Kants präzisiert“. In: M. Quante und B. Sandkaulen (Hrsg.): Hegel-Studien, Band 48. Hamburg: Meiner, (2015), S. 13–35. „Metaphysics and Critique of Metaphysics“. In: M. N. Forster und K. Gjesdal (Hrsg.): The Oxford Handbook of German Philosophy in the nineteenth century. Oxford: University Press, (2015), S. 569–593. „Über Metaphysik“. In: G. Betz, D. Koppelberg, D. Löwenstein u. A. Wehofsits (Hrsg.): Weiter Denken – über Philosophie, Wissenschaft und Religion. Berlin: de Gruyter, (2015), S. 227–248. „Eloquent silence and acting through inaction: on the meaning of calmness“. In: C. M. Flick (Hrsg.): To do or not to do, Inaction as a form of action. München: Convoco, (2015), S. 127–139. „Hegels Philosophie des Geistes“. In: U. Meixner und A. Newen (Hrsg.): Philosophiegeschichte und logische Analyse. Münster: Mentis, (2015), S. 66–86. „Zur gesellschaftlichen Funktion von Kunst“. In: D. Altenburg, P. Gülke (Hrsg.): Autonomie und Lenkung. Die Künste im doppelten Deutschland, Philologische Klasse, Band 84, Heft 1. Leipzig: Sächsische Akademie, (2015), S. 123–134. „Hegel wieder heimisch machen. Zur Beendigung des Vorhabens der Düsseldorfer Akademie, Hegels Gesammelte Werke herauszugeben“. In: Philosophische Rundschau 63, Heft 1 (2016), S. 3–16. „Die Idee der Natur. Hegels logische Übersicht über Wissen von der Welt“. In: W. Neuser und S. Lange (Hrsg.): Natur zwischen Logik und Geschichte. Beiträge zu Hegels Naturphilosophie. Würzburg: Königshausen & Neumann, (2016), S. 73–97.
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Verzeichnis der Schriften von Pirmin Stekeler-Weithofer
„Vom Selbstgewahrsein zur Selbstbestimmung. Aristoteles und Hegel zu einer sinnkritischen Anthropologie des Selbstbewusstseins“. In: W. Neuser und P. Stekeler-Weithofer (Hrsg.): Natur und Geist. Würzburg: Königshausen & Neumann (2016), S. 53–80. „Die Transzendenz der Wahrheit und der Gott des allgemeinen Blicks“. In: R. Gutschmidt und T. Rentsch (Hrsg.): Gott ohne Theismus? Neue Positionen zu einer zeitlosen Frage. Münster: Mentis, (2016), S. 11–37. „Rationality, Reason, and Wisdom. On the Significance of Meta-Philosophical Reflection in the Case of Ortega and Wittgenstein.“ In: A. Wagner und J. María Ariso (Hrsg.): Rationality Reconsidered. Ortega y Gasset and Wittgenstein on Knowledge, Belief, and Practice. Berlin/Boston: de Gruyter (2016), S. 31–47. „Hegels Vollendung von Kants Aufklärung“. In: H. Feger und G. Dell’Eva (Hrsg.): Die Philosophie des Deutschen Idealismus. Würzburg: Königshausen & Neumann (2016), S. 215– 241. „Plurale Metaphysik? Bemerkungen zu Markus Gabriels Neutralem Realismus“. In: T. Buchheim (Hrsg.): Philosophisches Jahrbuch: Jahrbuch-Kontroversen 2: Neutraler Realismus. Freiburg/München: Karl Alber (2016), S. 97–105. „Innovation durch Reflexion. Zum Beitrag der Philosophie für die Wissenschaftsentwicklung“. In: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Heft 17 (2017), S. 57–74. „Konstitutionen des Gegenstandsbezugs. Namen, Demonstrativ- und Personalpronomen bei Russell und Evans“. In: C. Misselhorn, U. Pompe-Alama u. U. Ramming (Hrsg.): Sprache, Wahrnehmung und Selbst. Neue Perspektiven auf Gareth Evans’ Philosophie. Münster: Mentis, (2017), S. 121–151. „Hegels Logik der Freiheit“. In: W. Neuser und P. Stekeler-Weithofer (Hrsg.): Idee, Geist, Freiheit. Hegel und die zweite Natur. Würzburg: Königshausen & Neumann, (2017), S. 11– 32. „Philosophical Oracles. Tropical forms in speculative reflections form Heraclitus to Heidegger“. In: E. Fantino, U. Muss, Ch. Schubert u. K. Sier (Hrsg.): Heraklit im Kontext. Berlin: deGruyter, (2017), S. 507–532. „God bless you. Zu Dieter Henrichs Sein oder Nichts. Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin“. In: S. Doering, M. Franz u. M. Vähler (Hrsg.): Hölderlin-Jahrbuch 2016– 2017, Band 40. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag (2017), S. 281–289. „Guido Kreis: Negative Dialektik des Unendlichen. Kant, Hegel, Cantor“. In: Philosophische Rundschau 65, Heft 1 (2018), S. 75–78. „Die Person und ihre Geschichten. Verstrickung und Entflechtung narrativer Ontologie“. Philosophische Rundschau 65, Heft 4 (2018), S. 273–289. „Denken der Macht – Ohnmacht des Denkens?“. In: K. Felgenhauer und F. Bornmüller (Hrsg.): Macht: Denken. Substantialistische und relationalistische Theorien – eine Kontroverse. Bielefeld: transcript Verlag, (2018), S. 47–59. „Subjectivity and Normativity in Colour-Distinctions“. In: M. Silva (Hrsg.): How Colours Matter to Philosophy. Heidelberg: Springer Verlag, (2018), S. 195–213. „Das monadologische Strukturmodell der Welt. Leibniz zwischen Descartes und Kant“. In: H. Nagel-Docekal (Hrsg.): Leibniz Heute Lesen. Berlin: de Gruyter, (2018), S. 25–53. „Vom Signal zur Sprache. Kooperationslogische Grundlagen begrifflichen Verstehens“. In: U. Dirks, A. Wagner (Hrsg.): Abel im Dialog. Berlin: de Gruyter, (2018), S. 263–288.
Verzeichnis der Schriften von Pirmin Stekeler-Weithofer
„Grundformen des kooperativen Handelns als Themen philosophisch reflektierter Sozialwissenschaft“. In: S. Zimmermann und C. Krijnen (Hrsg.): Sozialontologie in der Perspektive des Deutschen Idealismus. Berlin: de Gruyter, (2018), S. 223–242. „Wider den Glauben an Weltbilder. Sinnkritische Philosophie vs. Metaphysik des Empirismus und Naturalismus“. In: P. Richter, J. Müller u. M. Nerurkar (Hrsg.): Möglichkeiten der Reflexion. Festschrift für Christoph Hubig. Baden-Baden: Nomos Verlag, (2018), S. 31–52. „Mathematische Bildung vs. formalistische Generalisierung“. In: G. Nickel, M. Helmerich, R. Krömer, K. Lengnink u. M. Rathgeb (Hrsg.): Mathematik und Gesellschaft. Wiesbaden: Springer Verlag, (2018), S. 39–62. „Das Primat der Freiheit nach Leibniz, Hume und Kant: Zu Hegels Aufhebung des Kompatibilismus“. In: S. Josifovic und J. Noller (Hrsg.): Freiheit nach Kant. Leiden: Brill Verlag, (2018), S. 251–275. „The concept of reality, on Hegel’s disambiguation of energeia“. In: L. Illetterati und F. Menegoni (Hrsg.): Wirklichkeit, Beiträge zu einem Schlüsselbegriff der Hegelschen Philosophie. Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann, (2018), S. 59–78. „Mit Geist begabte Wesen. Grundbegriffe einer existenzialen Anthropologie“. In: Philokles. Zeitschrift für populäre Philosophie, Heft 23 (2019). „Autorität als Urheberschaft von Macht“. In: N. Knoepffler, K.-M. Kodalle u. T. Rudolph (Hrsg.): Autorität – Im Spannungsfeld von Theorie und Praxis. Würzburg: Königshausen & Neumann, (2019), S. 35–58. „Die Sittlichkeit der Person“. In: M. Spieker, S. Schwenzfeuer u. B. Zabel (Hrsg.): Sittlichkeit. Baden-Baden: Nomos Verlag, (2019), S. 49–70. „Conceptual Preconditions of Free Will“. In: K. von Stosch, S. Wendel, M. Breul u. A. Langenfeld (Hrsg.): Streit um die Freiheit. Paderborn: Ferdinand Schöningh, (2019), S. 95–111. „Angst und Sorge. Existenzlogische Voraussetzungen personalen Seins“. In: H. Seubert (Hrsg.): Neunzig Jahre Sein und Zeit. Freiburg: Karl Alber Verlag, (2019), S. 82–106. „Idealismus“. In: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, Dritter Band. Freiburg: Herder Verlag, (2019), S. 121–125. „Anwesen und Dawesen. Zum Unterschied zwischen den daseinslogischen Analysen Martin Heideggers und Oskar Beckers“. In: J. Sattler (Hrsg.): Oskar Becker im Phänomenologischen Kontext. Paderborn: Wilhelm Fink, (2019), S. 15–38. „Mathematische Existenz und Kontinuum bei Weyl, Becker, Brouwer und Lorenzen“. In: J. Sattler (Hrsg.): Oskar Becker im Phänomenologischen Kontext. Paderborn: Wilhelm Fink, (2019), S. 123–145. „Richard Wagners Philosophie der Liebe und ihr musikalischer Ausdruck. Zu Roger Scruton’s Death-devoted Heart“. In: Philokles. Zeitschrift für populäre Philosophie, Heft 22 (2020), S. 129–140. „Lohn der Angst“. In: Philosophische Rundschau 67, Heft 2 (2020), S. 91–95. „Helden und Wir“. In: Philosophische Rundschau 67, Heft 4 (2020), S. 279–297. „Klaus Vieweg: Hegel. Der Philosoph der Freiheit. Biographie“. In: Philosophische Rundschau 67, Heft 3 (2020), S. 272–276. „Wer besorgt unsere Interessen?“. In: M. Neubauer et al. (Hrsg.): Im Namen des Volkes. Tübingen: Mohr Siebeck (2021), S. 103–124.
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„Die Notwendigkeit der Rede von Gott nach der Aufklärung“. In: M. Kühnlein und H. Ottmann (Hrsg.): Religionsphilosophie nach Hegel. Berlin: Metzler / Springer, (2021), S. 3– 26. „Absolute Spirit in Performative Self-Relations of Persons“. In: M. F. Bykova und K. R. Westphal (Hrsg.): The Palgrave Hegel Handbook (2022), S. 109–132.
III. Herausgeberschaft Mitherausgeber Enzyklopädie Philosophie. Zus. mit H. J. Sandkühler. Hamburg: Meiner 1999; Neue Auflagen: 2010, 2021. Die Entwicklung sozialer Wirklichkeit. Auseinandersetzungen mit der historisch-genetischen Theorie der Gesellschaft. Zus. mit N. Psarros und G. Vobruba. Weilerswist: Velbrück, 2003. Erinnerungsort Leipziger Universitätskirche. Eine Debatte. Zus. mit M. Middell und Ch. Schubert, Beiträge zur Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Reihe B, Band 2. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2003. Geschichte der Philosophie in Text u. Darstellung. Gegenwart, Band 9. Stuttgart: Reclam, 2004. Pragmatics and Cognition. Amsterdam: Benjamin Publishers, 2005. The Pragmatics of Making it Explicit. Amsterdam: Benjamin Publishers, 2008. Ein Netz der Wissenschaften? Wilhelm Ostwalds „Annalen der Naturphilosophie“ und die Durchsetzung wissenschaftlicher Paradigmen. Zus. mit H. Kaden und N. Psarros, Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologischhistorische Klasse, Band 81, Heft 4. Leipzig: Sächsische Akademie, 2009. An den Grenzen der Wissenschaft. Die „Annalen der Naturphilosophie“ und das natur- und kulturphilosophische Programm ihrer Herausgeber Wilhelm Ostwald und Rudolf Goldscheid. Band 82, Heft 1. Leipzig: Sächsische Akademie der Wissenschaften, 2011. Was heißt Denken? Von Heidegger über Hölderlin zu Derrida. Wissenschaftliche Redaktion, Übersetzung aus dem Deutschen ins Russische, Anmerkungen und Nachwort „Pirmin Stekeler-Weithofer als Philosoph“ von Vladimir Abaschnik. Charkow: Verlag Savchook, 2011. Wittgenstein: Zu Philosophie und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Band 3. Hamburg: Meiner, 2012. Sprachphilosophie. Wörterbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft (Reihe WSK), Band 15. Berlin: de Gruyter, 2012. Der Naturbegriff in der Klassischen Deutschen Philosophie. Zus. mit P. Heuer und W. Neuser. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2013. Natur und Geist. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2016. Idee, Geist, Freiheit. Hegel und die zweite Natur. Zus. mit Wolfgang Neuser. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2017. Theatrum naturae et artium – Leibniz und die Schauplätze der Aufklärung. Zus. mit Daniel Fulda. Leipzig: Hirzel, 2019.
Verzeichnis der Schriften von Pirmin Stekeler-Weithofer
Ideeller und struktureller Wandel von Wissenschaft. Das Beispiel der Universität Leipzig 1809–1909–2009. Stuttgart: Steiner 2020.
IV. Lemmata in Enzyklopädien Historisches Wörterbuch der Philosophie „Logisches Produkt“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 7, 1989. „Partikularisator“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 7, 1989. „Präsupposition“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 7, 1989. „Quantor“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 7, 1989. „Quantifizierung“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 7, 1989. „Quantifikation“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 7, 1989. „Quantifikation des Prädikats“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, 1989. „Der mathematisch-physikalische Raumbegriff und seine philosophische Wirkungsgeschichte“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, 1992. „Regellogik/Satzlogik“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, 1992. „Relativitätstheorie“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, 1992. „Satz vom ausgeschlossenen Dritten“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, 1992. „Satz vom (ausgeschlossenen) Widerspruch“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, 1992. „Semantik/semantisch“ (zus. mit H. J. Schneider). In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, 1995. „Formale Sprache“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, 1995.
Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie „J. Searle“. In: J. Mittelstraß (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Band 3, P–So. Stuttgart/Weimar: Verlag J. B. Metzler, (1995), S. 744–745. „P. Geach“. In: J. Mittelstraß (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. 2. neubearbeitete u. wesentlich ergänzte Auflage, Band 3: G–Inn. Stuttgart/Weimar: Verlag J. B. Metzler, (2008), S. 25–26. „Geld“. In: J. Mittelstraß (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. 2. neubearbeitete u. wesentlich ergänzte Auflage, Band 3: G–Inn. Stuttgart/Weimar: Verlag J. B. Metzler, (2008), S. 61–64. „Gleichgewicht“. In: J. Mittelstraß (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. 2. neubearbeitete u. wesentlich ergänzte Auflage, Band 3: G–Inn. Stuttgart/ Weimar: Verlag J. B. Metzler, (2008), S. 146–147. „Grice, Herbert Paul“. In: J. Mittelstraß (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. 2. neubearbeitete u. wesentlich ergänzte Auflage, Band 3: G–Inn. Stuttgart/Weimar: Verlag J. B. Metzler, (2008), S. 214–215.
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Verzeichnis der Schriften von Pirmin Stekeler-Weithofer
„Hayek, Friedrich August“. In: J. Mittelstraß (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. 2. neubearbeitete u. wesentlich ergänzte Auflage, Band 3: G–Inn. Stuttgart/Weimar: Verlag J. B. Metzler, (2008), S. 305–306. „Homo oeconomicus“. In: J. Mittelstraß (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. 2. neubearbeitete u. wesentlich ergänzte Auflage, Band 3: G–Inn. Stuttgart/Weimar: Verlag J. B. Metzler, (2008), S. 438–439. „Idee (systematisch)“. In: J. Mittelstraß (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. 2. neubearbeitete u. wesentlich ergänzte Auflage, Band 3: G–Inn. Stuttgart/Weimar: Verlag J. B. Metzler, (2008), S. 519–522. „Inferentialismus“. In: J. Mittelstraß (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. 2. neubearbeitete u. wesentlich ergänzte Auflage, Band 3: G–Inn. Stuttgart/ Weimar: Verlag J. B. Metzler, (2008), S. 601–603.
Enzyklopädie Philosophie „Begriffslogik/Begriffsgeschichte“. In: H. J. Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie. Hamburg: Meiner Verlag, 1999. „Beweis“. In: H. J. Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie. Hamburg: Meiner Verlag, 1999. „Beweistheorie“. In: H. J. Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie. Hamburg: Meiner Verlag, 1999. „Deduktion“. In: H. J. Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie. Hamburg: Meiner Verlag, 1999. „Deduktion, transzendentale“. In: H. J. Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie. Hamburg: Meiner Verlag, 1999. „Determinismus/Indeterminismus“. In: H. J. Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie. Hamburg: Meiner Verlag, 1999. „Dialektik“. In: H. J. Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie. Hamburg: Meiner Verlag, 1999. „Ideation/Idealisierung“. In: H. J. Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie. Hamburg: Meiner Verlag, 1999. „Identifizierung/Unterscheidung“. In: H. J. Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie. Hamburg: Meiner Verlag, 1999. „Metaphysik/Metaphysikkritik“. In: H. J. Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie. Hamburg: Meiner Verlag, 1999. „Metasprache/Objektsprache“. In: H. J. Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie. Hamburg: Meiner Verlag, 1999. „Philosophie und Wissenschaft“. In: H. J. Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie. Hamburg: Meiner Verlag, 1999. „Präsupposition“. In: H. J. Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie. Hamburg: Meiner Verlag, 1999. „Realität/Wirklichkeit“. Zus. mit N. Psarros. In: H. J. Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie. Hamburg: Meiner Verlag, 1999.
Verzeichnis der Schriften von Pirmin Stekeler-Weithofer
„Semantik“. In: H. J. Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie. Hamburg: Meiner Verlag, 1999. „Tatsache/Sachverhalt“. In: H. J. Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie. Hamburg: Meiner Verlag, 1999. „Wahrhaftigkeit“. Zus. m. Joachim Fellsches. In: H. J. Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie. Hamburg: Meiner Verlag, 1999. „Wahrheit/Wahrheitstheorien“. Zus. mit Lothar Kreiser. In: H. J. Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie. Hamburg: Meiner Verlag, 1999.
V. Diverses „Rezension zu Helmut Gipper: Das Sprachapriori. Sprache als Voraussetzung menschlichen Denkens und Erkennens“ (Stuttgart-Bad Cannstatt: Fromann-Holzboog, 1987). In Kratylos 34 (1989), 14–17. „Philosophie in Leipzig: Neubeginn oder Kontinuität?“. In: Hochschule Ost, Leipzig (1993). „Ausbildungsprobleme an der Massenhochschule“. In: Hochschule Ost, Leipzig (1997). „Thesen zur Einführung von modularen Studiengängen, insbesondere eines Bakkalaureats“. In: DAAD (Hrsg.): Dokumentation und Materialien, Band 33 (1999). Tagungsdokumentation: Bachelor und Master in den Geistes-, Sprach- und Kulturwissenschaften (HRK). „Streit um Hegel. Eine Diskussion zwischen Pirmin Stekeler-Weithofer und Herbert Schnädelbach“. In: P. Moser (Hrsg.): Information und Philosophie, Heft 5 (2000), S. 70– 78. „Verstehen des Überlieferungsgeschehens“. Zum 100. Geburtstag von Hans Georg Gadamer. In: Universitätsjournal Heft 1 (2000). „Was der Bachelor bringt. Zur Internationalisierung des Studiums“. In: Universitätsjournal, Heft 3. Leipzig: Universitätsverlag, (2002). „Denken heißt Überschreiten“. In: Universitätsjournal, Heft 6. Leipzig: Universitätsverlag, (2002). „Erinnerung an das Ereignis und seine Verstellung durch das Monument: Die Debatte um den Wiederaufbau der Leipziger Universitätskirche 2003“. In: M. Middell, C. Schubert u. P. Stekeler-Weithofer (Hrsg.): Erinnerungsort Leipziger Universitätskirche. Eine Debatte. Beiträge zur Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Reihe B, Band 2. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, (2003). „Geist und Ort der Universität Leipzig“. In: M. Middell, Ch. Schubert u. P. Stekeler-Weithofer (Hrsg.): Erinnerungsort Leipziger Universitätskirche. Eine Debatte. Beiträge zur Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Reihe B, Band 2. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, (2003). „Zum Begriff des Krieges“. In: Philokles. Zeitschrift für populäre Philosophie Heft 1/2 (2003). „Wissensmanagement statt Bildung? – Ein kulturphilosophischer Zwischenruf “. (Zus. mit B. Kremberg) in: B. Wyssusek (Hrsg.): Wissensmanagement komplex. Perspektiven und soziale Praxis. Berlin: Erich Schmidt Verlag (2004), S. 291–308.
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„Theologie für Naturwissenschaftler. Konsekutive Studiengänge und Schlüsselqualifikationen“. In: Universitätsjournal Heft 3. Leipzig: Universitätsverlag (2004), S. 16–17. „Denker im (ins) Abseits?“ Interview. In: Universitätsjournal Heft 4. Leipzig: Universitätsverlag (2004), S. 2–3. Rezension zu Rifkin, Jeremy: „ACCES – Das Verschwinden des Eigentums. Warum wir weniger besitzen und mehr ausgeben werden“. In: Comparativ 14. Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung, Heft 4 (2004), S. 163– 167. „Ernst Blochs Utopie authentischer Bildung“. In: R. Hiller von Gaertringen (Hrsg.): Denken ist Überschreiten. Ernst Bloch in Leipzig. Ausstellungstexte I, Aufsätze, Universität Leipzig, Kustodie, 2004. „Einleitung: Denken heißt Überschreiten“. Kolloquium 4: Barrieren des Verstehens und Erklärens. In: W. Hogrebe (Hrsg.) in Verbindung mit J. Bromand: Grenzen und Grenzüberschreitungen. XIX. Deutscher Kongress für Philosophie, Sept. 2002. Berlin: Akademie Verlag (2004), S. 162–167. „Einleitung“. In: P. Stekeler-Weithofer (Hrsg.): „Gegenwart“ Band 9 der Reihe Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung. Stuttgart: Reclam (2004), S. 9–39. „Kunst im Blickfeld der Philosophie“. In: Arbeitsblätter der Kommission für Kunstgeschichte, Literatur- und Musikwissenschaft. Nr. 18–20, August 2005, (ersch. Mai 2006), Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, S. 42–61. „Ich denke, nicht das Gehirn! Ein längst fälliger Protest.“ Universitätsjournal, Heft 3. Leipzig: Universitätsverlag (2006), S. 7. „Vorwort“. In: B. Hennig (Hrsg.): „Conscientia“ bei Descartes. Freiburg/München: Verlag Karl Alber (2006), S. 9–13. „Ist die Idee der (deutschen) Universität am Ende?“. In: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Heft 1 (2008), S. 53–64. „Diskussionsbemerkungen zur geplanten Neufassung des Sächsischen Hochschulgesetztes (SHG)“. In: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Heft 1 (2008), S. 96–100. „Das Problem der Evaluation von Beiträgen zur Philosophie. Ein streitbarer Zwischenruf “ (Diskussion). In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 57/1 (2009), S. 149–158. „Publikationsverhalten in der Philosophie“. In: Publikationsverhalten in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen.“ Beiträge zur Beurteilung von Forschungsleistungen. Diskussionspapiere der Alexander von Humboldt-Stiftung 12 (2009), S. 36–41. „Zwischenrufe zur Wissenschafts- und Technologieentwicklung“. In: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Heft 17 (2017), S. 177–186. „Academic Freedom. The Global Challenge“. In: Comparativ (Rezension), Budapest: CEU Press (2019), S. 161. „Gefangen in Weltbildern“. In: Jahrbuch der Oper Leipzig (2017/18), S. 45–49.