Orientdiskurse in der deutschen Literatur [1. ed.] 9783895285554, 9783849816957


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German Pages 364 [363] Year 2023

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Klaus-Michael Bogdal: Orientdiskurse in der deutschen Literatur
Meinolf Schumacher: Die Konstituierung des ‚Heiligen Landes‘ durch die Literatur
Kai Kauffmann: ‚Bilderrede‘
Andrea Polaschegg: Von chinesischen Teehäusern zu hebräischen Melodien
Monika Schmitz-Emans: Orientalisches bei Jean Paul
Hendrik Birus: Goethes Annäherung an das Ghasel und ihre Folgen
Ulrike Stamm: Die hässliche Orientalin
Wolfgang Behschnitt: Aladdin und der romantische Dichter
Mounir Fendri: Die Entdeckung des maghrebinischen Orients
Dalia Salama: Georg Ebers’ Roman »Eine ägyptische Königstochter«
Uwe Lindemann: Der Basar als Gebilde des hochkapitalistischen Zeitalters
Sargut Şölçün: Literarische Entdeckung türkischer Mentalität
Georg Stauth: Hellmut Ritter in Istanbul – Migration und spiritueller ‚Orientalismus‘
Klaus-Michael Bogdal: Maschinen im Morgenland
Claudia Ott: »Tausendundeine Nacht« – eine westöstliche Geschichte
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Orientdiskurse in der deutschen Literatur [1. ed.]
 9783895285554, 9783849816957

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Klaus-Michael Bogdal (Hg.)

Orientdiskurse in der deutschen Literatur

AISTHESIS VERLAG Bielefeld 2007

–––––––––––––––––––––––––––––––

Tagung und Druck wurden gefördert durch den DAAD und die Universität Bielefeld.

Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© Aisthesis Verlag Bielefeld 2007 Postfach 10 04 27, D-33504 Bielefeld Satz: Germano Wallmann, www.geisterwort.de Alle Rechte vorbehalten Print ISBN 978-3-89528-555-4 E-Book (PDF) 978-3-8498-1695-7 www.aisthesis.de

Inhalt Klaus-Michael Bogdal Orientdiskurse in der deutschen Literatur. Vorwort .................

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Meinolf Schumacher Die Konstituierung des ‚Heiligen Landes‘ durch die Literatur. Walthers Palästinalied (L. 14,38) und die Funktion der europäischen Kreuzzugsdichtung .......................................

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Kai Kauffmann ‚Bilderrede‘. Zur Beziehung von Theorien des Sprachursprungs und einer Poetik des Orientalismus bei Rousseau und Herder ........

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Andrea Polaschegg Von chinesischen Teehäusern zu hebräischen Melodien. Parameter zu einer Gebrauchsgeschichte des deutschen Orientalismus ............................................................................

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Monika Schmitz-Emans Orientalisches bei Jean Paul .....................................................

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Hendrik Birus Goethes Annäherung an das Ghasel und ihre Folgen ............... 125 Ulrike Stamm Die hässliche Orientalin. Zu einem Stereotyp in Reiseberichten des 19. Jahrhunderts .... 141 Wolfgang Behschnitt Aladdin und der romantische Dichter. Adam Oehlenschlägers Aladdin-Drama als dänische und deutsche Orientphantasie ................................................... 163 Mounir Fendri Die Entdeckung des maghrebinischen Orients ......................... 183

Dalia Salama Georg Ebers’ Roman Eine ägyptische Königstochter. ‚Pharaonisierendes‘ im 19. Jahrhundert ................................... 201 Uwe Lindemann Der Basar als Gebilde des hochkapitalistischen Zeitalters. Über das Verhältnis von Orientalismus, Geschlechterpolitik, Konsum- und Modernekritik zwischen 1820 und 1900 ........... 243 Sargut Şölçün Literarische Entdeckung türkischer Mentalität – Eine Übersicht und eine paradigmatische Textbetrachtung ..... 273 Georg Stauth Hellmut Ritter in Istanbul – Migration und spiritueller ‚Orientalismus‘ .............................. 293 Klaus-Michael Bogdal Maschinen im Morgenland. Der Orient nach der Entdeckung des Öls ................................. 329 Claudia Ott Tausendundeine Nacht – eine westöstliche Geschichte ........... 351

Klaus-Michael Bogdal

Orientdiskurse in der deutschen Literatur Vorwort Das aktuelle Verhältnis zum Islam – und nun nach den Anschlägen, Entführungen und Übergriffen auf Botschaften auch zu den arabischen Ländern – ist von Angst und Misstrauen geprägt: Angst in erster Linie vor gewalttätigen, das Gastrecht missbrauchenden islamistischen Gruppen, und Misstrauen gegenüber einer fremden Religion. In dieser Situation ist es schwierig, aber unverzichtbar, einen Dialog zu führen. Ein wirklicher Dialog setzt gegenseitige Achtung und Kenntnis voraus. In der deutschen Literatur existiert seit langem eine produktive Form der Auseinandersetzung mit den Kulturen des Orients, islamischen wie nicht-islamischen, die von einem großen Respekt vor deren Leistung geprägt ist. Es ist der Islamismus, der nicht nur den Dialog und den geistigen Austausch attackiert, sondern ebenso die eigenen Kulturen, die sich wie überall dynamisch zu lebensweltlicher Vielfalt entwickelt haben. Wegen ihres kulturellen Einflusses sind in islamischen Ländern häufig Schriftsteller und Künstler heftigen Angriffen ausgesetzt, auch in laizistischen Staaten wie Ägypten, Algerien oder Syrien. Als die Taliban die Buddha-Statuen zerstörten, griffen sie die Kultur ihres eigenen Landes und ein Symbol islamischer Toleranz an, das übrigens in den Berichten deutscher Orientreisender schon früh als ein solches wahrgenommen worden ist. Zu den Voraussetzungen eines Dialogs zählt, wenn wir an die Türkei, Ägypten, den Iran oder den Libanon denken, die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Religion und Kultur. Die Ineinssetzung stellt ein orientalistisches Klischee dar und hindert an der Wahrnehmung nicht-islamischer kultureller Traditionen sowohl der Antike als auch der Moderne des 20. Jahrhunderts. Die Tagung im Internationalen Begegnungszentrum der Universität Bielefeld, deren Ergebnisse in diesem Buch präsentiert werden1, setz1

Für die Korrektur der Manuskripte ist Dominik Madecki und Jennifer Pavlik zu danken.

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Klaus-Michael Bogdal

te konsequent und erfolgreich auf den Dialog der Kulturen. Geführt wurde er von Literaturforscherinnen und -forschern, die die andere Kultur nicht geringschätzen, sondern im Gegenteil genau um ihre Bedeutung in der Vergangenheit und Gegenwart wissen. Nicht unerwähnt sollte bleiben, dass sich hier nicht, wie in Talkshows und Brennpunktsendungen, alarmbereite Experten für das Wesen des ‚Orientalen‘ oder des ‚Westens‘ geäußert haben, sondern Experten für deutsche Literatur, zuständig für die Kritik von Vorurteilen und Klischees, besonders für solche, die die Literatur hervorgebracht hat. Neugier und sachkundige Debatte sind die Basis für gegenseitiges Verstehen. Wer verstehen will, muß vorher das Fremde erfahren haben. Dazu gehört auch, dass die Vorstellungen aufgegeben werden müssen, Kulturen seien geschlossene, homogene Systeme, für die die innere Kohärenz entscheidend ist, und Identität sei ein Ergebnis von Exklusion. Erst dann ist es möglich, transkulturelle Prozesse nicht asymmetrisch zu denken. „Es gibt zwischen Europa und der arabischen Welt eine gemeinsame Geschichte, schon in vorislamischer Zeit wurde zwischen beiden Ufern des Mittelmeers ein Dialog geführt“2, bemerkte 2002 einer der berühmtesten Intellektuellen des arabischen Raums, der Lyriker Adonis in einem Interview mit einer deutschen Zeitung. Das Orientbild in der deutschen Literatur unterscheidet sich deutlich von dem, das sich unter den Bedingungen kolonialer Herrschaft in der englischen und französischen Literatur herausgebildet hat. Für letzteres hat der Palästinenser Edward W. Said, der bis zu seinem Tod in New York Literaturwissenschaft lehrte, den Begriff „Orientalismus“ geprägt.3 Die deutsche Literatur schwankt in der Darstellung zwischen Abwehr und Faszination. Zu ersten Kulturkontakten kommt es unter den denkbar ungünstigen Bedingungen der Kreuzzüge. Aber trotz der religiös motivierten gewaltsamen Konfrontation wird der ‚Orient‘ in einem positiven Sinn als höfische Welt, die auf vielen Gebieten zum Teil über ein überlegenes Wissen verfügt, wahrgenommen. In den 2

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„Die Poesie der Freiheit. Ein Gespräch mit dem syrischen Lyriker Adonis über den Islam und Europa“, in: Die ZEIT, Nr. 41 vom 2.10.2002, S. 43. Said, Edward W. Orientalism. Western Conceptions of the Orient. London 1978. Dt.: Orientalismus. Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1981. Vgl. auch die umfassende Ausstellung, die 1989 im Martin-Gropius-Bau im Rahmen des Festivals der Weltkulturen stattfand: Europa und der Orient. 800-1900. Hg. Gereon Severnich/Hendrik Budde. Gütersloh/München 1989.

Orientdiskurse in der deutschen Literatur

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Türkenkriegen allerdings verfestigen sich die Feindbilder vom grausamen ‚Muselmann‘. Daniel Kaspar von Lohensteins Tragödie Ibrahim Bassa (1673) z.B. präsentiert das Bild eines blutrünstigen orientalischen Despoten. Aber schon im 17. und 18. Jahrhundert beginnt das positive Interesse an ‚morgenländischer‘ Literatur und Philosophie zu wachsen und einen Einfluss auf die deutsche Literatur auszuüben. Nicht zuletzt die Übersetzungen der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht (zuerst ins Französische 1704ff.) wecken ein nicht mehr abreißendes Interesse an einem ins Märchenhafte stilisierten Orient. Ein erster Höhepunkt interkulturell motivierter Rezeption ist sicherlich Goethes West-östlicher Divan. In der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts finden wir beides: Bilder des Orients, die den Kampf der Kulturen und Religionen schüren, und Entwürfe zivilisatorischer Gemeinsamkeiten. Die 26. Sure des Koran lautet: „Dem Dichter folgen jene, die vom rechten Weg abgekommen sind.“ In den Beiträgen folgen wir den Spuren jener Dichter von Walther von der Vogelweide bis zu Arnim T. Wegner, die einen Weg in die Kulturen, Literaturen und Länder des ‚Orients‘ gefunden haben, manchmal als Reisende, manchmal in der dichterischen Imagination. Bielefeld im April 2007

Meinolf Schumacher

Die Konstituierung des ‚Heiligen Landes‘ durch die Literatur Walthers Palästinalied (L. 14,38) und die Funktion der europäischen Kreuzzugsdichtung 1. Die Kreuzzüge des hohen Mittelalters1 sind im Bewusstsein der Gegenwart erstaunlich präsent. Sie rühren weltweit das Kinopublikum in dem monumentalen Streifen Kingdom of Heaven (USA 2005, dt. Königreich der Himmel ) des Gladiator-Regisseurs Ridley Scott. Sie ziehen viele Besucher in Ausstellungen wie Saladin und die Kreuzfahrer, in der Zeugnisse der Kreuzfahrerkultur solchen der orientalischen Welt ausgewogen gegenüber gestellt werden.2 Aber die Kreuzzüge vergiften allein schon durch das Nennen des Wortes die Beziehungen zwischen den Ländern des vorderen Orients und denen des Westens: Die Äußerungen von George W. Bush zeigen dies immer wieder. Die historische Forschung ist sich der problematischen Funktion der Kreuzzüge durchaus bewusst, was besonders deutlich das Buch The Making of Europe von Robert Bartlett zeigt, das in der deutschen Fassung noch prägnanter betitelt ist als Die Geburt Europas aus dem Geist der Gewalt.3 Nach Bartlett ist durch das Aufbauen eines gemeinsamen Feindes bei den Kreuzzügen ein Gemeinschaft stiftendes 1

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Dazu im Überblick Nikolas Jaspert. Die Kreuzzüge. 2. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2004. Vgl. Saladin und die Kreuzfahrer (Kat. Halle/S. 2005/06). Hg. Alfried Wieczorek/Mamoun Fansa/Harald Meller. Mainz: von Zabern, 2005. Merkwürdigerweise scheint an dem Katalogband kein Germanist beteiligt zu sein; die Kreuzzugsdichtung und ihre Erforschung bleiben entsprechend ausgeblendet. Robert Bartlett. The Making of Europe. Conquest, Colonization and Cultural Change 950-1350. Princeton: Princeton University Press, 1993; Ders. Die Geburt Europas aus dem Geist der Gewalt. Eroberung, Kolonisierung und kultureller Wandel von 950 bis 1350. München: Kindler, 1996.

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Meinolf Schumacher

Bewusstsein von Europa überhaupt erst entstanden.4 Ohne die Kreuzzüge gäbe es demnach kein Europa. Das wäre ein recht illusionsloses Selbstverständnis von Europa, zumal im Vergleich zu den emphatischen Europa-Konzeptionen der Romantiker.5 Gegenüber einer solchen europäischen Innensicht wird in diesem Beitrag untersucht, wie der Blick nach außen gerichtet wurde, nicht auf die muslimischen Gegner (als Imagologie der Feinde, das wäre ein anderes Thema), sondern auf das räumliche Ziel der Kreuzzüge, auf Palästina. Es geht um Fragen wie: Weshalb hielt man das Land Palästina überhaupt für ein heiliges Land, um das es zu kämpfen lohnte? Wie hat man dies im Mittelalter begründet? Und welche Rolle spielt die Dichtung dabei? Zur Betrachtung dieses Palästinadiskurses der mittelalterlichen Literatur bietet sich eines der prominentesten Werke der europäischen Kreuzzugsdichtung6 an: das Palästinalied von Walther von der Vogelweide.7

2. Walthers Palästinalied ist heute nicht nur in der Literaturwissenschaft bekannt. Wohl von keinem anderen mittelalterlichen Lied sind im

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Vgl. Stefan Hohmann. „Türkenkrieg und Friedensbund im Spiegel der politischen Lyrik. Auch ein Beitrag zur Entstehung des Europabegriffs“. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 28 (1998). H. 110. S. 127158. Vgl. Europa. Analysen und Visionen der Romantiker. Hg. Paul Michael Lützeler. 2. Aufl. Frankfurt a.M./Leipzig: Insel, 1993. Dazu zuletzt: Wolfgang Haubrichs. „Kreuzzugslyrik“. Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2. Berlin/New York: de Gruyter, 2000. S. 340-342. Als Textsammlung immer noch geeignet ist Kreuzzugsdichtung. Hg. Ulrich Müller. Tübingen: Niemeyer, 1969. Zum Autor zusammenfassend Horst Brunner [u.a.]. Walther von der Vogelweide. Epoche – Werk – Wirkung. München: Beck, 1996; Thomas Bein. Walther von der Vogelweide. Stuttgart: Reclam, 1997; Manfred Günter Scholz. Walther von der Vogelweide. Stuttgart/Weimar: Metzler, 1999; Gerhard Hahn. „Walther von der Vogelweide“. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. Aufl. Bd. 10. Berlin/New York: de Gruyter, 1999. Sp. 665-697.

Die Konstituierung des ‚Heiligen Landes‘ durch die Literatur

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Augenblick so viele Einspielungen auf dem Markt wie von diesem.8 Eine Benefiz-CD Palästinalied für Kinderkrankenhäuser in Israel und in den Palästinensergebieten fasste im Jahr 2002 die Interpretationen dieses Lieds durch immerhin 20 Bands zusammen.9 Wenn man von einigen noch aus dem Mittelalter stammenden Weihnachtsliedern wie Es kommt ein Schiff geladen oder In dulci jubilo absieht, dann lässt sich sagen: Zumindest im populären Musikbereich wird mittelalterliche Lieddichtung zurzeit durch Walthers Palästinalied geradezu repräsentiert. Das lässt sich wohl nicht allein mit dem Hinweis auf den aktuellen Kreuzzugs-Boom erklären; denn andere Kreuzlieder – auch so bedeutende wie die von Hartmann von Aue oder vom Tannhäuser – werden außerhalb von mediävistischen Lehrveranstaltungen kaum je erwähnt. Ein wichtiger Grund für die aktuelle mediale Präsenz dürfte in der Tatsache liegen, dass dies das einzige Walther-Lied ist (und wohl das erste mittelhochdeutsche überhaupt), von dem wir die Melodie wirklich kennen und sie nicht nur über Kontrafakturen oder über die späteren Meistersingeraufzeichnungen erschließen müssen: Das Münstersche Fragment Z (Münster, Staatsarchiv, Ms. VII 51) enthält die vollständige Melodie in reproduzierbarer Choralnotation10; die Musiker von heute müssen also nicht neu komponieren, und wir können die zeitgenössische Präsentation wenigstens an einem Zipfel greifen. Das Palästinalied verspricht ‚authentisches‘ Mittelalter in der Musik. Insgesamt ist das Lied in sechs Handschriften erhalten, was für einige Popularität auch im Mittelalter spricht. Die Strophen erscheinen in unterschiedlicher Anzahl und Anordnung; alle Fassungen haben jedoch denselben Liedeingang.

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Ich nenne nur die Gruppen In Extremo, Corvus Corax, The Mediaeval Baebes, I Ciarlatani, Estampie, Ensemble Perceval, Pilgrimage. Neu aufgelegt werden die alten Aufnahmen der Gruppen Bären Gässlin oder Ougenweide. Vgl. http://www.vanlangen.de/palestinalied.html Walther von der Vogelweide. Die gesamte Überlieferung der Texte und Melodien. Hg. Horst Brunner/Ulrich Müller/Franz Viktor Spechtler. Göppingen: Kümmerle, 1977. S. 293f. (Nr. 189f.); vgl. ebd. S. 54*-56*. Vgl. auch die Abbildung im Internet: http://www.yale.edu/german/whobrey/ waltherms.html.

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Meinolf Schumacher

Ich zitiere zunächst den Text des Liedes (in der Präsentation nach Ingrid Kasten) und lasse jeder Strophe eine eigene Prosaübersetzung folgen, die allerdings vorliegende Übertragungen berücksichtigt.11 1. Alrêrst lebe ich mir werde, sît mîn sündic ouge siht daz reine lant und ouch die erde, der man sô vil êren giht. ez ist geschehen des ich ie bat: ich bin komen an die stat dâ got menschlîchen trat.

2. Schoeniu lant rîch und hêre, swaz ich der noch hân gesehen, sô bist duz ir alle êre. waz ist wunders hie geschehen! daz ein magt ein kint gebar hêre über aller engel schar, was daz niht ein wunder gar?

3.a Hie liez er sich reine toufen, daz der mensche reine sî. dô liez er sich hie verkoufen, daz wir eigen wurden frî. anders waeren wir verlorn. wol dir, sper, kriuze und dorn! wê dir, heiden! deist dir zorn.

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Jetzt erst bekommt mein Leben einen Sinn, da ich nämlich, obwohl ein Sünder, mit eigenen Augen das reine (heilige) Land und die reine Erde erblicke, denen man so viel Ehre zuspricht. Es hat sich mir das erfüllt, um das ich immer gebeten habe: Ich bin an den Ort gekommen, an dem Gott als Mensch gewandelt ist. Was ich auch immer an schönen, reichen und edlen Ländern gesehen habe, das übertriffst du [Heiliges Land] an Ehre. Was ist hier nicht Erstaunliches geschehen! Dass eine Jungfrau ein Kind zur Welt brachte, erhabener als alle Engel (oder nach anderer Fassung: Herr über alle Engel), war das nicht wirklich ein Wunder? Hier (in diesem Land) ließ er sich, der rein war, taufen, damit (auch) der Mensch rein werde. Hier ließ er sich später [durch Judas] verkaufen, damit wir, die wir Leibeigene waren, freigekauft würden. Sonst wären wir verloren gewesen. Gelobt seien die Lanze, das Kreuz und die Dornenkrone! Aber wehe dir, du Heide, dir gereicht das zum Verderben.

Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters. Hg. Ingrid Kasten. Übers. Margherita Kuhn. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1995. S. 510-515 (Nr. 210); vgl. auch: Deutsche Gedichte des Mittelalters. Hg. Ulrich Müller. Stuttgart: Reclam, 1993. S. 179-181 (Nr. 55); Walther von der Vogelweide. Werke. Gesamtausgabe. Hg. Günther Schweikle. Bd. 2: Liedlyrik. Stuttgart: Reclam, 1998. S. 469-479.

Die Konstituierung des ‚Heiligen Landes‘ durch die Literatur 4. Dô er sich wolte über uns erbarmen, dô leit er den grimmen tôt, er vil rîch über uns vil armen, daz wir komen ûz der nôt. daz in dô des niht verdrôz, dâst ein wunder alze grôz, aller wunder übergnôz. 5. Hinnen fuor der sun zer helle von dem grabe, da er inne lac. dêst der vater ie geselle, und der geist, den nieman mac sunder scheiden: ez sî ein, sleht und ebener danne ein zein, als er Abrahâme erschein. 6. Dô er den tievel alsô geschande, daz nie keiser baz gestreit, dô fuor er her wider ze lande. dô huop sich dô der juden leit, daz er hêrre ir huote brach, und daz man in sît lebendic sach, den ir hant sluoc und stach.

7. Dar nâch was er in dem lande vierzic tage: dô fuor er dar dannen in sîn vater sande. sînen geist, der uns bewar, den sant er hin wider zehant. heilic ist daz selbe lant: sîn name der ist vor got erkant.

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Als er, der Reiche, sich über uns Arme erbarmen wollte, erlitt er hier einen grausamen Tod, damit wir aus der Not befreit würden. Dass er das auf sich genommen hat, das ist ein großes Wunder, das alle andern Wunder übertrifft.

Der Sohn fuhr von hier aus zur Hölle, und zwar vom Grab aus, in dem er gelegen hatte. Er war immer gleichberechtigt mit dem Vater und dem Heiligen Geist, untrennbar, er ist ein einziger, und er ist grader und glatter als der Stab, der Abraham erschienen war. Nachdem er dem Teufel auf eine Weise blamiert hatte, wie niemals ein Kaiser zuvor kämpfte, kam er zurück auf die Erde. Da begann das Leiden der Juden darüber, dass er, der Herr, ihre Bewachung (am Grabe) durchbrach, und dass man denjenigen dann lebendig sehen musste, den sie zuvor selbst getötet hatten. Danach war er vierzig Tage in diesem Land, dann ging er dorthin, von wo aus sein Vater ihn geschickt hatte. Seinen (Heiligen) Geist, den schickte er sogleich zurück, damit er uns beschütze. Dieses Land ist (wirklich) heilig. Gott selbst hat ihm seinen Namen gegeben (oder: Gott kennt ihn genau).

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Meinolf Schumacher

8. In daz lant hât er gesprochen einen angeslîchen tac, dâ der weise wirt gerochen und diu witwe klagen mac und der arme den gewalt, den man hât mit in gestalt. wol im dort, der hie vergalt!

9. Unsere lantrehter tihten vristet dâ niemans klage; wan er wil dâ zestunt rihten, so ez ist an dem lesten tage. und swer deheine schulde hie lât unverebenet, wie der stât dort da er pfant noch bürgen hât! 10. Ir lât iuch [des] niht verdriezen daz ich noch gesprochen hân. sô wil ich die rede entsliezen kurzwîlen und ouch wizzen lân: swaz got mit der welte ie [wunders hie noch ie] begie, daz huop sich dort und endet hie. 11. Kristen juden und die heiden jehent daz diz ir erbe sî. got müeze ez rehte scheiden dur die sîne namen drî. Al diu werlt [diu] strîtet her: wir sîn an der rehten ger: reht ist, daz er uns gewer.

Er hat einen Angst einflößenden Gerichtstermin in diesem Land angesetzt (anberaumt), an dem auch eine Waise ihr Recht findet sowie eine Witwe und ein Armer Anklage erheben können, wegen der Gewalt, die sie erleiden mussten. Demjenigen wird es dort gut gehen, der hier bereits gebüßt (seine Schuld bezahlt) hat. Sprüche wie die unserer Landrichter können dort niemandes Klage verschleppen. Denn er will da sofort richten, wenn der letzte Tag angebrochen ist. Und (denkt daran): Wer hier eine Schuld ungebüßt lässt, wie der dort dann weder Ausgleichszahlungen noch Bürgen haben wird. Nun verzeiht es mir, dass ich hier (so ausführlich) gesprochen habe. Ich will meine Rede damit schließen (oder: erklären), dass ich euch noch kurz wissen lasse: Was Gott jemals mit der Welt [an Wunderbarem] getan hat, das begann hier, und das endet hier auch. Christen, Juden und Heiden behaupten jeweils, das sei ihr Erbe. Gott muss diesen Streit um seiner drei Namen willen entscheiden. Die ganze Welt liegt darüber im Kampf. Wir (die Christen) begehren Gerechtigkeit; und die Gerechtigkeit besteht darin, dass er unsere Ansprüche akzeptiert.

Zwei Manuskripte, E und Z, schieben noch eine Plusstrophe ein (nach der 2. bzw. nach der 4. Strophe):

Die Konstituierung des ‚Heiligen Landes‘ durch die Literatur

Mê dann hundert tûsent wunder hie in disem lande sint, dâ von ich niht mê besunder kann gesagen als ein kint wan ein teil von unser ê. swem des niht genuoge, der gê zuo den juden, die sagent im mê.

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Mehr als hunderttausend erstaunliche Dinge gibt es hier in diesem Land, von denen ich im Einzelnen nicht mehr sagen kann, als ein Kind das könnte (also nichts) – außer einiges von unserem Glauben (oder: von unserem Recht). Wem das nicht reicht, der kann zu den Juden gehen; die werden ihm dann schon mehr dazu sagen.

3. Wenn man – wie es die ältere Forschung gern tat – dieses Lied autobiographisch verstand, dann wollte man ihm entnehmen, dass Walther von der Vogelweide an einem Kreuzzug teilgenommen hat.12 Die Frage war höchstens, an welchem; davon hing dann die Datierung des Liedes ab. Eine solche biographische Deutung ist heute aus der Mode gekommen, doch würde sie manches erklären: Walther ist mit seinem Kreuzfahrerheer nach langen Entbehrungen endlich in Palästina angekommen und gerät nun ins Schwärmen. Das hat gewiss seinen Reiz, doch geht es aus dem Text nicht hervor. Ausgehen können wir – wie in allen Walther-Liedern – zunächst nur von einem Rollen-Ich.13 Das heißt: Walther von der Vogelweide gestaltet in diesem Lied die Aussagen eines Menschen, der nach Palästina gekommen ist, und der nun begründet, warum das für ihn so beglückend ist, gerade an diesem Ort zu sein. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und es ist ja nicht gerade wenig, wenn jemand sagt, sein ganzes Selbstwertgefühl („Alrêrst lebe ich mir werde“, 1,1) hänge vom Sehen dieses einen Landes ab, zumal sogleich hinzugefügt wird, dass er dazu gar nicht würdig sei

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Günther Jungbluth. „Walthers Abschied“. Walther von der Vogelweide. Hg. Siegfried Beyschlag. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1971. S. 514-538, zählte das Palästinalied deshalb zur „Erlebnisdichtung“! (S. 533f.). Vgl. z.B. Meinolf Schumacher. „Die Welt im Dialog mit dem ‚alternden Sänger‘? Walthers Absagelied ‚Frô Welt, ir sult dem wirte sagen‘ (L. 100,24)“. Wirkendes Wort 50 (2000). S. 169-188.

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Meinolf Schumacher

(‚mein sündiges Auge‘, 1,2).14 Mit dieser Demutsformel sind die Selbstaussagen des Ichs in diesem Lied fast schon an ihr Ende gekommen: Die erste Strophe bestätigt noch die Erfüllung aller seiner Wünsche, und die zweite Strophe lobt in Unüberbietbarkeitstopik das Heilige Land gegenüber allen ‚schönen, reichen und edlen Ländern, die ich bisher gesehen habe‘ (2,1f.). Danach taucht ein Ich nur noch als das eines vortragenden Sängers in der Publikumsanrede der Strophe 10 auf, und in entsprechender Unsagbarkeitstopik in der Plusstrophe. Das Ich kennzeichnet sich nicht weiter, weder namentlich noch standesbezogen, es sagt nicht, ob es als unbewaffneter Pilger vorzustellen ist oder als bewaffneter Kreuzfahrer. Es ordnet sich nur durch das ‚wir‘ in Strophe 11 eindeutig den von Juden und „heiden“ unterschiedenen Christen zu. Sie alle ‚kämpfen‘ („strîten“) um dieses Land, beanspruchen es als ihr ‚Erbe‘. Bis auf diese letzte Formulierung ‚die ganze Welt liegt darüber im Kampf‘ finden wir in diesem Lied eigentlich keinen Hinweis darauf, dass es sich auf die Kreuzzüge bezieht. Und auch dieser Hinweis ist noch etwas unsicher, denn das mhd. Verb „strîten“ kann prinzipiell auch einen reinen Rechts‚streit‘ meinen, es schließt die Anwendung von Waffengewalt nicht notwendig mit ein. Es sind also weder eine konkrete Person noch ein konkreter Anlass auszumachen; wohl aber ein konkretes Land, um das es geht. Auch dies wird freilich nicht mit Namen genannt, sondern umschrieben als ‚reines Land‘ und als die Stelle, „dâ got mennischlîchen trat“ (1,7). ‚Rein‘ ist ein Vollkommenheitsattribut, das in religiösen Kontexten mit ‚heilig‘ identisch sein kann (wie in 7,6 „heilic ist dasselbe lant“).15 Und ‚treten‘ ist ein Verb, das – so trivial es klingt – notwendig an die Bewegung von Füßen gebunden ist. Was dieses heilige Land auszeichnet, ist also, dass Gott dort als Mensch zu Fuß unterwegs war. Er hat es mit seinen Füßen berührt. Da ‚Gott‘ sich hier auf den inkarnierten Gottessohn Jesus Christus beziehen muss, ist damit das Land Pa14

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Zu den sündigen Augen: Gudrun Schleusener-Eichholz. Das Auge im Mittelalter. München: Fink, 1985. S. 797-826; vgl. Meinolf Schumacher. Sündenschmutz und Herzensreinheit. Studien zur Metaphorik der Sünde in lateinischer und deutscher Literatur des Mittelalters. München: Fink, 1996. S. 271-273. Biblische Grundlage dafür ist vielleicht Zach. 2,16 (Vulgata 2,12): ‚Der Herr aber wird Juda in Besitz nehmen; es wird sein Anteil im Heiligen Land sein‘ (Vulgata „et possidebit Dominus Iudam partem suam in terra sanctificata“).

Die Konstituierung des ‚Heiligen Landes‘ durch die Literatur

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lästina recht genau bestimmt, denn die vielen Orte, welche die Evangelien vom Leben Jesu nennen, liegen alle dort.16 Die für heutigen Geschmack beinahe komisch klingende Formulierung „dâ got mennischlîchen trat“ ist keineswegs eine originelle Erfindung Walthers. Ähnliches findet sich, wie die Forschung längst nachgewiesen hat, auch sonst in dieser Zeit17, z.B. in einem Schreiben des Stauferkaisers Friedrich II. vom 21. August 1215, in dem er sein Versprechen bestätigt, „das Heilige Land, jenes Land also, das die Füße des Herrn berührten, jenes Land, in dem der Herr unser aller Heil wirkte, aus den Händen der Feinde des Kreuzes Christi“ zu reißen.18 Dem entspricht ziemlich genau Walthers Palästinalied. Das Land ist heilig, 1. weil Gott es mit seinen Füßen berührt hat, und 2. weil Christus hier alle seine Heilstaten vollbracht hat (oder, so muss man hinzufügen, vollbringen wird). Und diese Heilstaten Christi schlüsselt Walther in den weiteren Strophen genauer auf (möglicherweise nach dem mnemotechnischen Siebenerschema der Sieben Siegel der Apokalypse).19 Die Geburt von einer Jungfrau preist Strophe 16

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Mit einer Ausnahme freilich: der Flucht der heiligen Familie vor Herodes nach Ägypten. Wenn der kleine Jesus da schon laufen konnte, dann hat er streng genommen wohl auch das Land Ägypten mit seinen Füßen ‚getreten‘, doch dass Ägypten hier mitgemeint ist, das dürfte eher unwahrscheinlich sein. Vgl. Nikolas Jaspert. „‚Wo seine Füße standen‘. Ubi steterunt pedes eius. Jerusalemsehnsucht und andere Motivationen mittelalterlicher Kreuzfahrer“. Kein Krieg ist heilig. Die Kreuzzüge (Kat. Mainz 2004). Hg. HansJürgen Kotzur. Mainz: von Zabern, 2004. S. 173-185; Belege auch bei Schupp. Septenar und Bauform Studien zur ‚Auslegung des Vaterunsers‘, zu ‚De VII Sigillis‘ und zum ‚Palästinalied‘ Walthers von der Vogelweide. Berlin: Erich Schmidt, 1964. S. 110-112. Kaiser Friedrich II. in Briefen und Berichten seiner Zeit. Hg. Klaus J. Heinisch. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1968. S. 34f.; vgl. Karl Bertau. Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter. 2 Bde. München: Beck, 1972/73. S. 1099; Wolfgang Haubrichs. „Grund und Hintergrund in der Kreuzzugsdichtung. Argumentationsstruktur und politische Intention in Walthers ‚Elegie‘ und ‚Palästinalied‘“. Philologie und Geschichtswissenschaft. Demonstrationen literarischer Texte des Mittelalters. Hg. Heinz Rupp. Heidelberg: Quelle & Meyer, 1977. S. 17-62; Theodor Nolte. Walther von der Vogelweide. Höfische Idealität und konkrete Erfahrung. Stuttgart: Hirzel, 1991. S. 119-122. Vgl. Volker Schupp. Septenar und Bauform. (wie Anm. 17). S. 101-157.

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2. Die Taufe Jesu im Jordan durch Johannes erscheint in Strophe 3 in einem paradox anmutenden Analogieargument als stellvertretende Sündenbefreiung der Menschheit (‚der Reine lässt sich reinigen, damit die Unreinen rein werden‘).20 Diese Argumentationsstruktur, die aus der christlichen Tauftheologie seit Ambrosius stammt, wird sogleich auf das andere große metaphorische Heilsmodell des Christentums übertragen: Nach der Reinigung vom Sündenschmutz nun die Erlösung, der Loskauf, die ‚Redemptio‘ von der Unfreiheit der Sünde. Und der exegetische Ansatz dafür ist der Verrat durch Judas für dreißig Silberlinge (Mt. 26,14f.), also ein Ver-Kauf.21 Damit ist in der dritten Strophe der Beginn der Passion Christi angesprochen, für welche die ‚Arma Christi‘, die Marterwerkzeuge, eine traditionelle Form der ‚Repräsentatio‘ sind.22 Dem Sterben wird die Strophe 4 gewidmet. Anstelle einer ausführlichen Beschreibung der Grablegung wird in 5 das genannt, was zwar in einem Vers des Apostolischen Glaubensbekenntnisses vorkommt, aber überhaupt keine biblische Grundlage hat, dafür jedoch um so effektvoller im mittelalterlichen Theater und in bildender Kunst dargestellt wurde: der Höllenabstieg Christi, bei dem er die Gerechten des Alten Testaments aus der Gewalt des Teufels befreite.23 Das geschah vom Grabe aus, also von Palästina. Dass dies ein triumphaler Sieg über den Teufel war, dem dadurch Schande bereitet wurde, sagt der Anfang von Strophe 6, in der die Auferstehung Christi dann in stark antijüdischer Diktion berichtet wird. Dem Pfingstereignis ist die siebte Strophe gewidmet. Wenn die achte und die neunte Strophe schon vom Jüngsten Gericht handeln, dann fällt das durchaus 20 21

22

23

Vgl. Schumacher. Sündenschmutz (wie Anm. 14). S. 494-502. Dazu u.a. Leopold Kretzenbacher. „Verkauft um dreißig Silberlinge. Apokryphen und Legenden um den Judasverrat“. Schweizerisches Archiv für Volkskunde 57 (1961): S. 1-17; Hans Blumenberg. Matthäuspassion. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1988. S. 186-191 („Die Silberlinge“). Dazu u.a. Robert Suckale. „Arma Christi. Überlegungen zur Zeichenhaftigkeit mittelalterlicher Andachtsbilder“. Ders. Stil und Funktion. Ausgewählte Schriften zur Kunst des Mittelalters. München/Berlin: Deutscher Kunstverlag, 2003. S. 15-58; vgl. Ulrich Ernst. Intermedialität im europäischen Kulturzusammenhang. Berlin: Erich Schmidt, 2002. S. 164-166, 197f. Dazu u.a. Elisabeth Lucchesi Palli, „Höllenfahrt Christi“. Lexikon der christlichen Ikonographie. Bd. 2. Rom [u.a.]: Herder, 1970. Sp. 322-331; Ernst Koch. „Höllenfahrt Christi“. Theologische Realenzyklopädie. Bd. 15. Berlin/New York: de Gruyter, 1986. S. 455-461.

Die Konstituierung des ‚Heiligen Landes‘ durch die Literatur

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nicht aus dem heilsgeschichtlichen Rahmen heraus. Denn zum einen wird das Anberaumen des Gerichts als etwas Vergangenes erzählt (8,1 „In daz lant hât er gesprochen…“). Und zum andern umfasst Heilsgeschichte immer auch das Zukünftige; so enthalten mittelalterliche Weltchroniken meistens ein Kapitel über das kommende Gericht (nur haben manche Historiker in ihren Editionen diese Kapitel fortgelassen, weil das ja nicht Geschichte sei). Die Verbindung zu Palästina besteht hier im unausgesprochenen Wissen, dass nach dem Propheten Joel (4,2; Vulgata 3,12) das Weltgericht im Tal Josaphat stattfinden soll, also in der Nähe von Jerusalem. Strophe 10, die nicht ganz vollständig überliefert ist, fasst dem rhetorischen ‚brevitas‘-Prinzip entsprechend die Heilsrelevanz dieses Landes noch einmal kurz zusammen. Und die 11. Strophe formuliert den daraus folgenden Erbschaftsanspruch der Christen gegenüber den zwei anderen großen Religionen, wobei „heiden“ eine übliche mhd. Bezeichnung für Muslime ist (die nicht notwendig den Aspekt der Religionslosigkeit enthält wie im späteren Missionsdiskurs).24

4. Wenn wir vorläufig zusammenfassen wollen, was im Palästinalied über das Land Palästina ausgesagt wird, dann müssen wir sagen: nichts Geographisches. Nicht einmal die Namen fallen, nicht ‚Palästina‘, nicht ‚Jerusalem‘. Sogar bei der Taufe wird das Hydronym ‚Jordan‘ nicht genannt. In der (von der Überlieferung her problematischen) Plusstrophe werden zwar die vielen ‚Wunder‘ des Landes gepriesen, worunter man im Mittelalter auch Sehenswürdigkeiten verstand, aber an keiner Stelle des übrigen Liedes erfährt man, worin sie bestehen könnten. Nichts wird erwähnt, was man dort unbedingt gesehen haben müsste, was man besuchen sollte, auch keine heilenden Quellen oder wundertätigen Marienbilder. Völlig offen bleibt, was heute – also zur Zeit Walthers – Besonderes dort wäre; der gegenwärtige Zustand Palästinas ist so gut wie uninteressant. Umso wichtiger 24

Zur Begriffsgeschichte vgl. Ludwig Hödl. „Heiden, -tum“. Lexikon des Mittelalters. Bd. 4. München/Zürich: Artemis, 1989. Sp. 1011-2013; Reinhart Koselleck. Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1979. S. 229-244.

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ist seine Heilsbedeutung. Andere Länder mögen schön, reich und edel sein, in diesem Land ist und wird alles geschehen, was Gott mit den Menschen vorhat. Das mag dieses Land adeln, das mag es rein und heilig machen; es begründet aber kaum, weshalb man dort persönlich anwesend sein sollte, weshalb es so beglückend ist, dort zu sein. Die entsprechenden biblischen Stellen kann man auch zuhause lesen; und Kataloge der Heilstaten Christi findet man in jedem Katechismus. Nur um es nicht so weit zum Weltgericht zu haben, wenn der Jüngste Tag gerade einbrechen sollte? Das kann es doch nicht sein. Wie kommt es zu einer solchen theologischen Aufladung des Raumes? Sie setzt ja voraus, dass es einige Orte in dieser Welt gibt (und einige Zeiten und auch einige Dinge), die heiliger sind als andere. Das ist offenbar religionsgeschichtlich altes Erbe. Doch das frühe Christentum hatte damit recht radikal gebrochen: Nicht im sakralen Raum erweist Gott seine Präsenz, sondern in gläubiger Gemeinschaft. Jesus sagt in einer berühmten Stelle, ‚wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen‘ (Mt 18,20). Er sagt nicht, wo jemand sich an meinem Grab aufhält oder an meiner Krippe, da bin ich ihm besonders nah. Es ist wichtig, dass eine Gemeinde zusammenkommt, wie klein auch immer. Wo sie sich zusammenfindet, ist nach diesen Aussagen vollständig unwichtig. „Damit war die Idee der heiligen, lokal ausgegrenzten Orte zerstört“, sagt der Religionshistoriker Arnold Angenendt zu dieser religionsgeschichtlichen Revolution, die auch die heiligen Zeiten betraf; aber Angenendt fügt sogleich hinzu: „Das Mittelalter kehrte indes wieder zur Heiligkeit von Ort und Zeit zurück.“25 Ein entscheidender Schritt dahin war wohl die Einführung des Ritus der Kirchweihe. Damit wurde das Christentum in dieser Hinsicht wieder eine Religion von vielen, damit war es akzeptabel für religiöse Mentalitäten, wie sie in vielen Teilen der Welt vorherrschen. Aber man kann das gar nicht deutlich genug sagen: Im Sinne der Evangelien braucht sich niemand aus religiösen Gründen auf den Weg zu machen, muss niemand unterwegs sein, auch nicht zu heiligen Stätten, es reicht völlig aus, dass er zuhause betet, oder wo auch immer er sich gerade aufhält. Und deshalb wäre es im Sinne des Frühchristentums auch irrelevant, wer in Jerusalem herrscht, und ob derjenige, der dort regiert, allen Pilgern freien Zutritt 25

Arnold Angenendt. Grundformen der Frömmigkeit im Mittelalter. München: Oldenbourg, 2003. S. 85.

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gewährt oder nicht. Im Sinne der Evangelien hätte es nicht nur keine Wallfahrten, es hätte auch keine Kreuzzüge geben müssen. Aber es hat sie gegeben. Betrachtet man das mittelalterliche Wallfahrtswesen, dann stellt man fest, dass heilige Orte, zu denen man pilgerte, in aller Regel durch heilige Dinge bestimmt waren; durch Reliquien, meist die Gebeine von Heiligen, oder Teile davon, zur Not noch durch Gegenstände, die eng mit den Heiligen verbunden waren. Durch das heilige Ding wird auch der Ort heilig, an dem es sich befindet. Sakrales Ding und Aufbewahrungsform und -ort bedingen einander. Die ethnologische Begründung dafür hat vor kurzem Karl-Heinz Kohl in seinem Buch über die Macht der Dinge geliefert.26 Wer nach Santiago pilgerte, der reiste zum Grab des hl. Jakob, wer nach Köln fuhr, der machte sich auf den Weg zu den Weisen aus dem Morgenlande im Dreikönigsschrein. Wurden die Gebeine eines Heiligen von einem Ort zum andern gebracht, dann lenkte das die Pilgerströme sofort um, ja man pilgerte sogar zur Reiseroute der Gebeine, an der dann entsprechende Wunder geschahen (was eine eigene literarische Gattung hervorrief: die ‚Translatio‘).27 Bei den Pilgerfahrten nach Jerusalem hatte man ein ganz spezielles Problem: Das Grab Jesu, zu dem man pilgern wollte, war leer! Nun ist die Osterbotschaft von der Auferstehung gewiss der Kern des Christentums. Doch für eine so reliquienbezogene Religiosität wie der des Mittelalters war es durchaus ein Problem, dass ausgerechnet von ihrem Gründer nicht ein Knöchelchen übrig geblieben war. Mit der Osterüberlieferung hat sich das Christentum selbst um den wichtigsten heiligen Ort dieser Religion gebracht: um das Grab ihres Stifters. Der Bedarf danach war aber durch die genannte religionsgeschichtliche Entwicklung gegeben. Es musste also Ersatz geschaffen werden. Ein gewisser Ersatz war seit dem 4. Jh. sicher die Grabeskirche; aber sie litt immer darunter, ein leeres Grab zu beherbergen, denn zu einem leeren Grab machte sich normalerweise kein mittelalterlicher Pilger auf den Weg. Und gekämpft hätte er dafür erst recht nicht. Auch mit Gegenständen, die in direktem Kontakt mit Je26

27

Karl-Heinz Kohl. Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte. München: Beck, 2003. Vgl. z.B. Hedwig Röckelein. Reliquientranslationen nach Sachsen im 9. Jahrhundert. Über Kommunikation, Mobilität und Öffentlichkeit im Frühmittelalter. Stuttgart: Thorbecke, 2002.

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sus gestanden hatten, die man stattdessen in Jerusalem hätte verehren können, stand es nicht besser. Das Kreuz war, wie man wusste, von der hl. Helena mit nach Byzanz genommen worden; seitdem wurden Partikel davon in ganz Europa verbreitet. Das Schweißtuch der Veronika, den heiligen Rock, sogar die Hosen des hl. Josef, in die das Jesuskind eingewickelt war, ließen sich in Europa besichtigen, teilweise gleich mehrmals. Und was aus so kostbaren Reliquien wie dem Abendmahlskelch und der Heiligen Lanze geworden war, davon handelte eine eigene literarische Gattung: die Gralsepik.28 So ist verständlich, dass die ersten Kreuzfahrer in Palästina kaum etwas vorfanden, was in irgendeiner Weise an Jesus von Nazareth erinnert hätte.29 Aleida Assmann hat gewiss recht, wenn sie über Palästina sagt: „Die Kreuzzüge sind ein Religionskrieg um diesen Gedächtnisort.“30 Zugleich wird man aber hinzufügen müssen, dass dieser Gedächtnisort erst immer wieder neu geschaffen werden musste. Wie konnte das geschehen? Eine Möglichkeit dazu hätte darin bestanden, ein wirkmächtiges Kultbild zu errichten, etwa eine monumentale Statue mit Christus am Kreuz auf Golgatha. Zumindest das spätmittelalterliche Christentum war ja nicht gerade zurückhaltend mit heiligen Bildern, die jeweils einen heiligen Ort konstituierten, zu dem man pilgerte (und wo entsprechende Wunder wie an einem Grabe geschahen). Insbesondere bei Marienbildern ist das teilweise heute noch so.31 Doch bei Bildern Gottes, ja selbst bei Bildern Christi war man selbst in Hochzeiten christlicher Bilderverehrung sehr zurückhaltend. Zu einem wundertätigen Kruzifix als Gnadenbild zu pilgern, das kam doch eher selten vor. Hans Belting hat jüngst das Problem für die monotheistischen Religionen noch einmal deutlich benannt: Statt eines Kultbildes kam als Medium im Grunde nur die Schrift in Frage.32 Nun ist man zu heiligen Büchern zwar ebenfalls nicht gepilgert, doch mit der Schrift, mit der 28

29

30

31

32

Vgl. z.B. Volker Mertens. Der Gral. Mythos und Literatur. Stuttgart: Reclam, 2003. Vgl. Jürgen Krüger. „Das Ziel der Kreuzzüge: Die Grabeskirche“. Saladin und die Kreuzfahrer (wie Anm. 2). S. 31-35, hier: S. 31. Aleida Assmann. Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck, 1999. S. 307. Vgl. Klaus Schreiner. Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin. München/ Wien: Hanser, 1994. S. 249-293 („Macht und Ohnmacht der Bilder“). Hans Belting. Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen. München: Beck, 2005.

Die Konstituierung des ‚Heiligen Landes‘ durch die Literatur

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Heiligen Schrift, der Bibel, konnte man begründen, weshalb es sich bei den Orten in Palästina um heilige Orte handelt, denn sie stehen darin. Wenn die Kreuzzugsliteratur die Heiligkeit dieser Orte hervorheben wollte, um damit ein Motiv zu geben, dorthin zu fahren, dann musste sie diese biblischen Ereignisse nacherzählen oder zumindest anzitieren, denn sie waren ja über die Lesungen der Perikopen im Gottesdienst auch jedem Analphabeten bekannt.33 Durch die Kreuzzugsliteratur wurde Palästina somit zu einer weitgehend literarischen Topographie.34 Dabei hatte es wenig Sinn, sonstige Schönheiten oder Sehenswürdigkeiten aufzuzählen, denn deshalb hätte sich niemand auf eine so weite und gefährliche Reise gemacht. Man konnte auf Aussagen über das reale Palästina seiner Zeit letztlich verzichten. Und kaum jemand macht das so konsequent wie Walther von der Vogelweide in seinem Palästinalied, in dem er nicht einmal den Namen dieses Landes nennt. Es zeigt auf sehr extreme Weise, worin eine der wichtigsten Funktionen der Kreuzzugsdichtung besteht: Es geht darum, ein Vakuum zu füllen. Um es etwas überspitzt zu formulieren: Die Kreuzzugsdichtung legt literarisch den auferstandenen Herrn in sein leeres Grab zurück. Sie schafft damit durch die Literatur das Heilige Land.

5. Es ist also eine literarisch vermittelte Theologie des Ortes, die in diesem Lied entwickelt wird. Alle wichtigen Heilstaten Gottes haben an 33

34

Vgl. Meinolf Schumacher. „Perikope“. Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. Berlin/New York: de Gruyter, 2003. S. 43-45. Zu neueren Diskussionen vgl. Sigrid Weigel. „Zum ‚topographical turn‘. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften“. KulturPoetik 2 (2002). S. 151-165. Vgl. Raum und Landschaft in der Erzählkunst. Hg. Alexander Ritter. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1975; Friedmar Apel. Deutscher Geist und deutsche Landschaft. Eine Topographie. München: Siedler, 2000; aus anderer Perspektive: Mireille Schnyder. Topographie des Schweigens. Untersuchungen zum deutschen höfischen Roman um 1200. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2003. Speziell zum Palästinalied jetzt Haiko Wandhoff. „Eine Pilgerreise im virtuellen Raum. Das ‚Palästinalied‘ Walthers von der Vogelweide“. Kunst der Bewegung. Kinästhetische Wahrnehmung und Probehandeln in virtuellen Welten. Hg. Christina Lechtermann/Carsten Morsch. Bern u.a.: Peter Lang, 2004. S. 73-89.

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dieser Stelle stattgefunden oder werden hier stattfinden. Das Verweisen auf das Handeln Gottes macht Palästina zum Heiligen Land; es ist offensichtlich das bevorzugte Land des Herrn, ein Ort besonderer Gottesnähe. Deshalb ist es für einen gläubigen Menschen so beglückend, hier zu sein, die Erfüllung seines Lebens. Aber warum sollte das nur für den Christen gelten? Weshalb wird das den Angehörigen der andern Religionen nicht zugebilligt? Das Stichwort ist ‚erbe‘. Es gibt drei Erbanwärter für das Land des Herrn, da drei Religionen darum kämpfen, die einzig richtige zu sein. Dieser Streit um den rechten Glauben wird gleichsam auf dem Rücken des Landes Palästina ausgetragen. Achten wir noch einmal auf die 11. Strophe: „got müeze ez rehte scheiden“! Da Gott sich entscheiden muss, wem das Heilige Land zusteht, muss er auch entscheiden, wer seine rechten Verehrer sind. Durch diese Theologie des Ortes ist das Schicksal Palästinas eng an die Kontroverstheologie zwischen den Religionen geknüpft. Die Möglichkeit, dass vielleicht alle Religionen Recht haben könnten, oder dass man diese Frage, weil nicht entscheidbar, auf sich beruhen lassen könnte, wird hier nicht erwogen. Darin liegt ein grundlegender Unterschied etwa zur ‚Ringparabel‘ in Lessings Nathan der Weise (III,7).35 In einer durch die Religion so stark dominierten Kultur wie der mittelalterlichen konnte man die Entscheidung nicht wie in der Literatur der Aufklärung der religiösen oder ethischen Praxis überlassen, da wollte man es sofort wissen, am besten von Gott gleich selbst.36 Und wenn die Theologie so eng an einen Ort, an ein Land, 35

36

Dazu u.a. Karl-Josef Kuschel. ‚Jud, Christ und Muselmann vereinigt‘? Lessings ‚Nathan der Weise‘. Düsseldorf: Patmos, 2004; vgl. Nathan und seine Erben. Beiträge zur Geschichte des Toleranzgedankens in der Literatur. Festschrift für Martin Bollacher. Hg. Oxana Zielke. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005. Dazu u.a. Ulrich Müller. „Toleranz im Mittelalter? Eine Skizze zu den Beziehungen zwischen dem christlich-lateinischen Okzident und dem islamischen Orient“. Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 20 (1994). S. 209236; Rüdiger Schnell. „Die Christen und die ‚Anderen‘. Mittelalterliche Positionen und germanistische Perspektiven“. Die Begegnung des Westens mit dem Osten. Hg. Odilo Engels/Peter Schreiner. Sigmaringen: Thorbecke, 1993. S. 185-202. – Die Diskussion darüber hat sich meist an der sog. ‚Toleranzrede‘ der Gyburg in Wolframs Willehalm (306,4-310,29) entzündet; die neueste Forschung bei Martin Przybilski. „Giburgs Bitten“. Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 133 (2004). S. 49-60.

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gebunden war, dann entschied sich dort auch, wer in dieser Sache im Recht ist. So lässt sich verstehen, weshalb man es unerträglich fand, dass die Vertreter der konkurrierenden Religion dort herrschten. In einem Zeitalter, in dem es Gottesurteile gab, musste man sich fragen, ob Gott sich nicht vielleicht doch für die andere Seite entschieden hatte, wenn das Kampfglück auf der anderen Seite war. Um dies Lügen zu strafen, um vielleicht auch solche Gedanken gar nicht erst aufkommen zu lassen, war ein erfolgreicher Kreuzzug notwendig. Die geradezu beschwörende Formel am Schluss ‚Wir haben die richtigen Ansprüche‘ ist damit einmal eine Aufforderung an Gott ‚Lass uns siegen!‘. Aber sie richtet sich wohl auch an die Kreuzfahrer: ‚Lasset uns siegen!‘ Es steht unser Glaube auf dem Spiel. So etwas macht nicht gerade tolerant. Aber ist denn noch nicht gesiegt? Walther, oder wer auch immer hier ‚ich‘ sagt, ist doch schon da. Das ist vielleicht nicht ganz konsequent, doch ein wirksamer literarischer Kunstgriff. Nach Karl Bertau „hat der Dichter die erwünschte Zukunft als bereits erlebte Vergangenheit dargestellt und damit das Ziel nur umso dringlicher vor Augen gerückt“.37 Vielleicht sollte man besser sagen: ‚als erlebbare Gegenwart‘. Walther stellt offenbar das Glück eines erfolgreichen Kreuzfahrers dar, um ihn überhaupt erst zur Kreuzfahrt zu bewegen. Damit rückt das Lied ganz in die Nähe der Kreuzpredigt – auch wenn es keinen ausdrücklichen Aufruf enthält. Um am Schluss thesenhaft Bilanz zu ziehen: Obwohl das Heilige Land in der Kreuzzugsdichtung als weitgehend literarische Topographie erscheint, ist es doch das reale Land Palästina, auf das sie sich bezieht. Durch sie wird dieses Land religiös und emotional so sehr aufgeladen, dass man nicht nüchtern nach politischen Kompromissen suchen kann, wer wann und wo Zutritt hat (so etwas müsste sich ja eigentlich auch durch Verhandlungen ohne Blutvergießen regeln lassen). Es geht vielmehr darum, mit Recht an diesem Ort sein zu können, nicht nur von anderen geduldet. Denn dadurch, als legitimer ‚Erbe‘ dieses Landes zu gelten, erweist sich auch, der legitime ‚Erbe‘ Gottes zu sein; es zeigt sich, dass die eigene Religion die richtige ist, nicht die konkurrierenden monotheistischen Religionen, nicht das Judentum und nicht der Islam. Es steht beim Kampf um Palästina demnach mehr auf dem Spiel als nur der Besitz eines Landes; es geht im37

Bertau. Deutsche Literatur (wie Anm. 18 ). S. 1099.

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mer um den Wahrheitsanspruch der eigenen Religion. Und wo religiöser Grundsatzstreit die Triebfeder für Politik ist, da ist es meist schlecht um den Weltfrieden bestellt – damals und heute leider auch.

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Kai Kauffmann

‚Bilderrede‘ Zur Beziehung von Theorien des Sprachursprungs und einer Poetik des Orientalismus bei Rousseau und Herder Wenn ich im Folgenden ein Konstrukt bei Jean-Jacques Rousseau und Johann Gottfried Herder herausarbeite, das dieser als ‚Bilderrede‘ bezeichnet hat, so geht es mir um den engen Zusammenhang von Theorien des Sprachursprungs und einer Poetik des Orientalismus. Dass die Konzeption der ‚Bilderrede‘, die von Rousseau als tropischer Ausdruck menschlicher Leidenschaften, von Herder als symbolischer Ausdruck religiöser Empfindungen aufgefasst wird, in die philosophischen und ästhetischen Diskurse des 18. Jahrhunderts eingebunden ist, d.h. eben nicht einfach als Topos in anderen diskursgeschichtlichen Formationen weiterleben kann, wird abschließend ein allerdings nur kursorischer Vergleich mit der Poetik von Goethes West-Östlichem Divan und Hegels Vorlesungen über die Ästhetik andeuten.

1. Andrea Polaschegg geht in ihrem Buch Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert von zwei Grundthesen aus. Erstens grenzt sie gegenüber der – von Edward Said fälschlich als europäisch verallgemeinerten – französischen und englischen Diskurstradition einen deutschen Orientalismus ab. Und zweitens unterscheidet sie innerhalb des deutschen Orientalismus zwischen zwei Entwicklungsphasen, indem sie einen „linguistic turn“ an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert behauptet, der „die ästhetische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Morgenland auf eine neue epistemische Grundlage stellt und ihr eine andere Richtung gibt“.1 Mit dem „linguistic turn“ ist hauptsächlich gemeint, dass sich „bei aller Kontinuität orientalischer Motive und Topoi die 1

Andrea Polaschegg. Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin/New York 2005. S. 143.

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Kai Kauffmann

Verfaßtheit des Morgenlandes“ ändere, nämlich der Orient auch zu einem spezifischen Modus des literarischen Sprechens mit „orientalischen Erzählformen, orientalischer Metaphorik, orientalischem Versbau“ etc. werde.2 Zugespitzt formuliert: In der eigentümlich deutschen Tradition – und nur hier – beginne sich an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert – und erst dann – eine spezifische Poetik des Orientalismus zu entwickeln. Gegen diese doppelte These lassen sich historische Einwände erheben. Wenn Polaschegg die Eigenarten des deutschen Orientalismus im 19. Jahrhundert unter anderem aus der hermeneutischen Tradition der protestantischen Bibelkritik herleitet, so kommt sie selber nicht um den Oxforder Bischof Robert Lowth herum, dessen Werk De sacra Poesi Hebraeorum schon 1753 in Latein und 1787, unter dem Titel Lectures on the Sacred Poetry of the Hebrews, in Englisch erschienen war. Polaschegg entgeht auch nicht, dass eben dieser Lowth jenen Aspektwechsel innerhalb und außerhalb der theologischen Wissenschaft eingeleitet hatte, der es „erlaubte, die alttestamentlichen Texte als Poesie zu lesen“.3 Und sie kennt die direkte Rezeption in Deutschland, etwa bei Moses Mendelssohn, der die bahnbrechende Leistung Lowths schon 1757 in einer über 60 Seiten umfassenden Rezension der Allgemeinen Deutschen Bibliothek würdigte4, oder bei Johann David Michaelis, der 1758/61 das lateinische Werk mit eigenen Anmer2 3 4

Ebd., S. 146 u. 151. Ebd., S. 163. Wiederabgedruckt in: Moses Mendelssohn. Gesammelte Schriften. Bd. 4: Rezensionsartikel in Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste (1756-1759). Bearbeitet v. Eva J. Engel. Stuttgart /Bad Cannstatt 1977. S. 20-86. Zu Beginn heißt es dort: „So viele Köpfe von je her mit der heiligen Schrift, mit diesem göttlichen Schatze von Erkenntniß und Gottesfurcht, beschäfftiget haben; so vielfältig sie übersetzt, erklärt, und bald philosophisch, bald theologisch erläutert worden ist; so wenig hat man sich Mühe gegeben, uns die Quelle der Schönheit zu zeigen, die an derselben von Kennern der Grundsprache nicht genug bewundert werden kann. Man lieset den Homer, Vergil und die übrigen Schriften der Alten; man zergliedert alle Schönheiten, die darinn enthalten sind, mit der größten Sorgfalt, und giebt sich alle Mühe unsern Geschmack nach ihrem Muster zu bilden; aber selten bekümmert man sich um die Regeln der Kunst, nach welchen jene göttliche Dichter, unter den alten Hebräern, die erhabensten Empfindungen in uns rege machen, und unmittelbar den Weg nach unserm Herzen zu treffen wissen.“ (Ebd., S. 20).

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kungen herausgab.5 Will man dem von Lowth begründeten Diskurs der Bibel-Poetik gerecht werden, zu dem in Deutschland unter anderem eine intensive Beschäftigung mit den Psalmen gehörte6, so muss man seine Filiationen und Kontexte im 18. Jahrhundert verfolgen7, bevor man ihn mit den von Polaschegg untersuchten Diskursen des Orientalismus im 19. Jahrhunderts vergleichen kann. In jedem Fall lässt sich die These vom „linguistic turn“ um 1800 nicht ohne Einschränkungen und Differenzierungen aufrecht erhalten. Aus diesen Gründen setze ich im nächsten Abschnitt bei Lowth an und gehe von da aus zu Herder über, dessen Geist der Ebräischen Poesie ich allerdings auch vor dem Hintergrund von Rousseaus Essais sur l’origine des langues und Herders eigener Abhandlung über den Ursprung der Sprache analysiere. Die Leitthese der folgenden Abschnitte ist, dass Herder die rhetorischen Bibelanalysen Lowths und die philosophischen Sprachreflexionen Rousseaus in einer Poetik alttestamentlicher Dichtung verbindet, die kulturgeschichtlich zwar nicht am Ursprung, aber doch in der „Kindheit“ der Menschheit situiert wird.8 Diese bis in die Einzelheiten religiöser Symbolik ausgear5

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8

Vgl. Smends Studie „Lowth in Deutschland“. Epochen der Bibelkritik. Hg. Rudolf Smend. München 1993. S. 43-62. So übersetzte Mendelssohn die Psalmen (erschienen 1783) und auch das Hohelied (erschienen posthum 1788) neu. Vgl. dazu grundlegend: Dieter Gutzen. Poesie der Bibel. Beobachtungen zu ihrer Entdeckung und ihrer Interpretation im 18. Jahrhundert. Phil. Diss. Bonn 1972. Vgl. auch Grit Schorch. „Das Erhabene und die Dichtkunst der Hebräer. Transformationen eines ästhetischen Konzepts bei Lowth, Mendelssohn und Herder“. Hebräische Poesie und jüdischer Volksgeist. Die Wirkungsgeschichte von Johann Gottfried Herder im Judentum Mittel- und Osteuropas. Hg. Christoph Schulte. Hildesheim 2003. S. 67-92. Vgl. ferner Cord-Friedrich Berghahn. Moses Mendelssohns ‚Jerusalem‘. Ein Beitrag zur Geschichte der Menschenrechte und der pluralistischen Gesellschaft in der deutschen Aufklärung. Tübingen 2001. Bes. S. 68-119. Vgl. Johann Gottfried Herder. Schriften zum Alten Testament. Hg. Rudolf Smend. Frankfurt a.M. 1993. S. 690 u. S. 919. Über die Frage, wie nahe das Hebräische am Ursprung der menschlichen Sprache überhaupt ist, unterhalten sich die beiden Gesprächspartner „A.“ und „E.“ im Geist der Ebräischen Poesie: „A. Die Ebräische Sprache halten Sie doch nicht für die älteste Sprache unter der Sonne, die Sprache des Paradieses, die Mutter aller Sprachen der Erde – E. Wie könnte sie das, wenigstens in ihrem jetzi-

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beitete Poetik korrespondiert eng mit den zahlreichen Versuchen in der europäischen Literatur des 18. Jahrhunderts, unter Rückgriff auf die Bibelsprache eine ‚heilige Poesie‘ wieder zu erschaffen. Doch zu den Übersetzungen eines Josef Hammer-Purgstall aus dem Persischen und den Nachdichtungen Johann Wolfgang von Goethes im West-Östlichen Divan führt weder philosophisch noch ästhetisch ein direkter Weg.

2. In der Einleitung zu seinem Werk, einer Folge von „Lectures“, beruft sich Robert Lowth auf die antiken Grundsätze des ‚prodesse et delectare‘ und ‚docere et movere‘, um den Einsatz poetischer Mittel im Alten Testament zu begründen und damit auch seine eigene Analyse dieser Mittel zu legitimieren. Lowth erinnert daran, dass es von jeher die eigentliche Aufgabe von Dichtung gewesen sei, der Religion zu dienen: „This indeed appears to have been the original office and destination of Poetry; and this it still so happily performs, that in all other cases it seems out of character, as if intended for this purpose alone.“9 Er scheut sich nicht davor, wesentliche Teile des Alten Testaments – die Propheten und die Psalmen, das Hohelied und das Buch Hiob – als Dichtungen zu bezeichnen, weil in ihnen die religiösen Inhalte durch poetische Formen und Figuren vermittelt würden. Seine Analysen folgen der Schulmethode der Rhetorik, beschränken sich aber fast ausschließlich auf den formalen Bereich der elocutio. So arbeitet der erste Teil der „Lectures“ den figurativen Stil und die poetische Bildlichkeit des Alten Testaments heraus, indem der für alle Bücher der

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gen Zustande sein? Ihre Wurzeln sind alle geregelt und zweisylbig; in ihren Grundfäden ist sie schon eine sehr gebildete Sprache. Menschen, die Jahrtausende leben, müssen einen andern Bau, andre Organe, mithin auch eine andre Sprache gehabt haben; offenbar ist das niedre Asien, wo diese Völkerstämme wohnen, (nicht Kaschmire oder der Ganges) Klima zu dieser Mundart. Indessen halte ich sie für eine Tochter der Ursprache, und zwar für eine der ältesten Töchter.“ (ebd., S. 919f.) Das rhetorische Changieren zwischen ‚fast noch ursprünglich‘ und ‚schon gebildet‘ ist schon bei Rousseau typisch für den kulturphilosophischen Diskurs über den Ursprung der Sprache. Robert Lowth. Lectures on the Sacred Poetry of the Hebrews. Translated by G. Gregory. 2 vol. London 1787, hier: vol. 1. p. 36.

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Heiligen Schrift charakteristische Gebrauch von Metaphern, Allegorien, Vergleichen und Personifikationen geschildert wird. Dabei deutet Lowth in mehreren Abschnitten an, dass es, erstens, eine typische Bildlichkeit des Alten Testaments gebe und dass, zweitens, diese Bildlichkeit aus der Landesnatur Israels sowie dem Lebensalltag, der Religion und der Geschichte der Hebräer hergeleitet werden könne. Doch bleibt es Herder überlassen, die ‚Bilderrede‘ als ein Metaphernund Symbolsystem zu beschreiben und dieses im Bedingungs- und Bedeutungszusammenhang der hebräischen Kultur auszulegen. Im zweiten Teil seiner Lectures weist Lowth die Propheten, die Psalmen, das Hohelied und das Buch Hiob unterschiedlichen Gattungen der Dichtkunst zu, nämlich der Sentenz, der Elegie, der Ode, der Idylle und der Tragödie, womit Analogien zur griechisch-römischen Antike hergestellt werden. Im Durchlauf der Gattungen macht er eine folgenreiche Entdeckung, die Entdeckung nämlich, dass der so genannte Parallelismus das beherrschende Stilprinzip der hebräischen Poesie überhaupt ist: The poetical conformation of the sentences, which has been so often alluded to as characteristic of the Hebrew poetry, consists chiefly in a certain equality, resemblance, or parallelism between the members of each period; so that in two lines (or members of the same period) things for the most part shall answer to things, and words to words, as it fitted to each other by a kind of rule or measure.10

Diese Erkenntnis, die Lowth durch die rhetorische Analyse des Alten Testaments gewonnen hat, wird in der Rezeption seines Werkes zu einem allgemeinen Topos des Orientalismus. Die fortgesetzte Parallelisierung von Satzstrukturen und Bildelementen, deren Spielraum sich von der synonymen Wiederholung bis zur antithetischen Verkehrung erstreckt, gilt am Ende des 18. Jahrhunderts als charakteristisch für alle Sprachen und Dichtungen des Morgenlands. Auch in Herders Geist der Ebräischen Poesie wird der Parallelismus, jenes „simpelste Ebenmaß in Gliedern der Gedichte, Bildern und Tönen“, als das ursprüngliche Prinzip der orientalischen Poesie gefeiert: „Bei Übersetzungen aus Orient aber lasse man ihn: mit ihm verlöre sich ein großer Teil der ursprünglichen Einfalt, Würde und Hoheit der Sprache.“11 10 11

Ebd., tom. 2, p. 34. Herder. Schriften zum alten Testament (wie Anm. 8). S. 684 u. S. 687.

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Generell meint Herder in diesem Werk, dass sich seine Aussagen über die hebräische Poesie transferieren ließen, denn „phönicisch, arabisch, chaldäisch, hebräisch ist im Grunde [d.h. für ihn: vom Ursprung her] nur Eine Sprache“.12 3. Herder hat seit den 1760er Jahren immer wieder an großen Werken über das Alte Testament gearbeitet, die allerdings stets Fragment blieben. Nach der Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts von 1774 erschienen die beiden Bände Vom Geist der Ebräischen Poesie in den Jahren 1782/83.13 In einem vorangestellten Entwurf des Buchs beschreibt Herder sein Vorgehen. Zu Beginn sollten die drei Hauptstücke untersucht werden, auf die sich die Poesie der Hebräer ‚in ihrem Ursprunge‘ gründe: Zuvörderst das Poetische im Bau und Reichtum ihrer Sprache: sodann die Urideen, die sie von den ältesten Zeiten empfangen hatten, und die gleichsam eine so erhabne als simple poetische Kosmologie sind: Drittens die Geschichte ihrer Väter bis auf ihren Gesetzgeber, und was in ihr Grund zur Auszeichnung sowohl des ganzen Volks, als besonders der Schriften und Poesien derselben gewesen.14

Am Alten Testament möchte Herder zeigen, dass die Poesie der Hebräer die „Morgenröte der Aufklärung der Welt gewesen, und wirklich noch jetzt eine Poesie der Kindheit unsres Geschlechts“ sei. Das Hebräische soll als eine nahe am natürlichen Ursprung stehende Sprache erscheinen, in deren einfachen Formen und Bildern sich basale Anschauungen und Empfindungen der Menschheit ausdrücken, freilich schon moduliert durch die besonderen Lebensbedingungen und Geschichtsüberlieferungen eines morgenländischen Volkes: Man sieht in ihr die frühesten Anschauungen, die simpelsten Vorstellungsarten der menschlichen Seele, ihre einfachste Bin12 13

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Ebd., S. 677. Bereits der Titel erweist Lowth eine Referenz und verknüpft ihn programmatisch mit Montesquieu, durch dessen Esprit des lois die kulturgeschichtliche Argumentationsmethode Herders angeregt ist. Herder. Schriften zum Alten Testament (wie Anm. 8). S. 663.

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dung und Leitung. Wenn ein Mensch nichts von ihrem wunderbaren Inhalt glaubte, die Natursprache in ihr müßte er glauben, denn er würde sie fühlen; die ersten Anschauungen der Dinge müßten ihm lieb werden: denn er würde an ihnen lernen. Ihm rückte in ihr die früheste Logik der Sinne, die einfachste Analytik und Moral, kurz die älteste Geschichte des menschlichen Geistes und Herzens vor Augen; – wenn es Poesie der Kannibalen wäre, hielten Sie sie zu diesem Zweck nicht Aufmerkens wert?15

Herder analogisiert die Poesie der Hebräer mit anderen „Natursprachen“ ungebildeter Völker und bezeichnet sie einmal pointiert als „Mundart morgenländischer Huronen“.16 Das ist nicht nur eine witzige Anspielung auf die in den Diskursen des 18. Jahrhunderts viel zitierte Figur des ‚edlen Wilden‘, sondern auch ein ernst zu nehmender Verweis auf Rousseaus Theorie über den natürlichen Ursprung der Sprache.

4. Rousseau hatte in seinem 1751 publizierten Discours sur les sciences et les arts einen Exkurs zum Ursprung der Sprache unternommen, dessen Ansatz in dem wahrscheinlich gleichzeitig entstandenen Essai sur l’origine des langues ausgearbeitet worden ist. Obwohl mir nicht bekannt ist, ob Herder diesen erst 1781 postum herausgegebenen Essai kannte, als er im folgenden Jahr Vom Geist der Ebräischen Poesie schrieb, möchte ich genauer auf Rousseaus zweite Schrift eingehen, weil sich hier eine ähnliche Auffassung des Orientalismus abzeichnet. Zunächst aber kurz zum Discours von 1751 und dem eingeschobenen Exkurs: Dort vertritt Rousseau die – besonders von Condillac entwickelte – Theorie, dass die menschliche Sprache aus dem natürlichen Schreien entstanden und ursprünglich der individuelle Ausdruck von starken Empfindungen gewesen sei. Das heißt, Rousseau begreift sie primär als Artikulation von Affekten, welche erst im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung durch die Logik von Begriffen verdrängt worden sei. Auf diesen Grundsatz werden dann im Essai sur l’origine des langues weitere Bestimmungen aufgebaut: 15 16

Ebd., S. 690f. Ebd., S. 673.

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Kai Kauffmann Waren die ersten Motive, welche die Menschen zum Sprechen bewegten, die Leidenschaften, so waren seine ersten Ausdrucksweisen Tropen. Die bildhafte Sprache entstand zuerst, die eigentliche Bedeutung fand man zuletzt. Die Dinge wurden mit ihrem wahren Namen nur benannt, wenn man sie in ihrer wirklichen Gestalt sah. Zunächst redete man nur in poetischer Sprache, auf vernunftgemäße Betrachtung verfiel man erst viel später.17

Eine solche Sprache drückt also Affekte von Menschen (im Verhältnis zur Umwelt) aus, indem sie poetische Figuren wie z.B. die Metapher und andere Tropen gebraucht. Eine Reihe wichtiger Tropen, die freilich nur im philosophischen Denkmodell der Ursprache vollständig versammelt sind, wird wenig später aufgezählt: Diese Sprache enthielte viele Synonyme, um ein und dasselbe durch seine verschiedenen Bezüge auszudrücken […]. Sie enthielte viele Steigerungswörter, Verkleinerungsformen, zusammengesetzte Wörter und Füllwörter, um den Absätzen eine Kadenz zu verleihen und den Sätzen eine entsprechende Rundung zu geben. Sie würde zahlreiche Unregelmäßigkeiten und Abweichungen aufweisen und die grammatikalische Analogie zugunsten des Wohlklangs, der schönen Rede, der Harmonie und der lautlichen Schönheit vernachlässigen. Anstelle von Argumenten enthielte sie Sentenzen, sie würde überreden, ohne zu überzeugen, und schildern, ohne zu raisonnieren. Sie würde in mancher Hinsicht der chinesischen Sprache, in andrer der griechischen und in wieder anderer der arabischen ähneln.18

Im Zusammenhang mit unserem Thema des Orientalismus interessiert natürlich besonders, dass Rousseau hier wie an vielen Stellen auf poetische Tropen des Arabischen hinweist. Gleich zum Tropus „viele Synonyme“, der nicht von ungefähr an erster Stelle genannt wird, merkt er an: „Man sagt, daß es im Arabischen mehr als tausend verschiedene Wörter für Kamel und mehr als hundert für Schwert gibt, usf.“19 Ganz ähnlich wird Herder in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache den poetischen Reichtum an Synonymen in allen – wörtlich – „wilden Sprachen“ illustrieren, habe doch „der Araber für Stein, Kamel, Schwert, Schlange (Dinge unter denen er lebt!) so viel 17

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Jean-Jacques Rousseau. Sozialphilosophische und Politische Schriften. München 1981. S. 171. Ebd., S. 173f. Ebd., S. 173.

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Wörter“.20 Dieses „man sagt“ ist einer der Gemeinplätze, mit denen Rousseau, wie später auch Herder, argumentiert, wenn er die orientalischen Sprachen auf Grund ihrer poetischen Tropen als vergleichsweise ursprünglich erweisen will. Neben den Syllogismen, einer Spielart des schon von Lowth analysierten Parallelismus, gehören in Rousseaus Essai, wie später auch in Herders Schriften, die tönende Stimmhaftigkeit und der freie Wortrhythmus der Sprache zu den poetischen Kennzeichen von Ursprünglichkeit. Und wenn Rousseau gegen Ende des Essai darüber räsoniert, dass das Menschengeschlecht in den warmen Ländern entstanden und sich von dort aus in die kalten verbreitet habe21, dann beschreibt er die „südländischen Sprachen“ mit genau diesen Merkmalen von Ursprünglichkeit und spielt sie gegen die „nördlichen“ aus. Auch in diesem Argumentationszusammenhang dienen die Sprachen der „Orientalen“ als Musterbeispiel: Das Französische, das Englische und das Deutsche sind die privaten Sprachen der Menschen, die einander helfen, derer, die mit kühlem Kopf vernünftig miteinander reden, oder der hitzigen Leute, die sich erzürnen. Die Gottesdiener hingegen, welche die heiligen Mysterien verkünden, die Weisen, die den Völkern Gesetze geben, die Oberhäupter, die die Menge mitreißen, müssen arabisch oder persisch sprechen. Unsere Sprachen gelten geschrieben mehr als gesprochen, und man liest uns mit größerem Vergnügen, als man uns zuhört. Im Gegensatz dazu büßen die orientalischen Sprachen geschrieben Leben und Wärme ein. Die Bedeutung liegt nur zur Hälfte in den Worten, ihre ganze Kraft steckt in den Tönen.22 20

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Johann Gottfried Herder. Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Hg. Hans Dietrich Irmscher. Stuttgart 2001. S. 68. An dieser Stelle sei nicht nur auf das Nachwort (ebd., S. 137-175), sondern auch auf die Auswahlbibliographie (ebd., S. 135f.) hingewiesen, in der Forschungsliteratur zu Herders Abhandlung und der Diskursgeschichte verzeichnet ist. Vgl. auch den entsprechenden Kommentar in der Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags: Johann Gottfried Herder. Frühe Schriften 1764-1772. Hg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt a.M. 1985. S. 1274-1328. Vgl. Rousseau. Sozialphilosophische und Politische Schriften (wie Anm. 17). S. 185. Ebd., S. 201. (Für Rousseau ist das Türkische eine nördliche Sprache.) Eine entsprechende Gegenüberstellung findet sich in Vom Geist der Ebräischen Poesie. Vgl. Herder. Schriften zum Alten Testament (wie Anm. 8). S. 679f.

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Und einige Sätze weiter: Jemand, der lächelnd im Koran blättert, nur weil er ein wenig arabisch lesen kann, hätte sich, hätte er Mohammed ihn selbst verkünden hören in dieser beredten und rhythmischen Sprache, mit dieser wohltönenden und überzeugenden Stimme, welche das Ohr noch vor dem Herzen verführt und unentwegt die Sätze durch die Töne der Begeisterung belebt, zu Boden geworfen und ausgerufen: ‚Großer Gottgesandter Prophet! Führ uns zum Ruhm und zum Martyrium.‘23

Hervorzuheben ist hier die enge Verknüpfung von poetischer Form und religiöser Funktion, die Rousseau bei allen Sprachen des Orients, den älteren wie den jüngeren, gegeben sieht.

5. Die von Herder 1772 veröffentlichte Abhandlung über den Ursprung der Sprache soll bloß gestreift werden, da die dort – im Anschluss an die Sprachreflexionen der so genannten Fragmente von 1766/176824 – entwickelte Theorie in sich voller Spannung ist und nur teilweise mit der Konstruktion übereinstimmt, die dem Geist der Ebräischen Poesie zugrunde liegt. Zwei Theorieansätze stehen sich gegenüber. Zu Beginn der Abhandlung nimmt Herder mit Condillac und Rousseau an, dass das natürliche, mit dem Tier gemeinsame Schreien der Ursprung der menschlichen Sprache ist. Auch entdeckt er die Reste dieses ‚Geschreis der Empfindungen‘25 in jenen Ausrufen, von denen gerade die „ältesten morgenländischen Sprachen“ voll seien: „In ihren Elegien tönen […] jene Heul- und Klagetöne, eine fortgehende Interjektion der Natursprache; in ihren Lobpsalmen das Freudengeschrei“26, 23

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Rousseau. Sozialphilosophische und Politische Schriften (wie Anm. 17). S. 201. Die erste Sammlung der Fragmente Über die neuere deutsche Literatur (1. Ausgabe 1766; 2. Ausgabe 1768) weist in der umgearbeiteten Ausgabe von 1768 schon deutlich auf die Abhandlung über den Ursprung der Sprache voraus. Vgl. den Abschnitt „Die Bildung unserer Sprache“. Herder. Frühe Schriften (wie Anm. 20). S. 598-649, bes. S. 605-615. Vgl. Herder. Abhandlung über den Ursprung der Sprache (wie Anm. 20). S. 16. Ebd., S. 9.

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welches sich bei allen wilden Völkern finde. In einer überraschenden Wendung der Argumentation verwirft Herder jedoch die Theorie vom natürlichen Ursprung und leitet nun die Sprache aus einem nur dem Menschen gegebenen Zustand ab, den er den Zustand der Besonnenheit nennt. Dieser ist dadurch ausgezeichnet, dass der Mensch nicht mehr nur – wie das Tier – durch sinnliche Wahrnehmungen und die damit verbundenen seelischen Empfindungen affiziert wird. Vielmehr werden diese durch die reflektierende Tätigkeit der Vernunft verarbeitet, und zwar so, dass aus den Eindrücken ein bezeichnendes Merkmal des jeweiligen Gegenstands ausgewählt und zur Grundlage eines Begriffs gemacht wird. Herders Beispiel ist das den Menschen anrührende Blöken des Schafes, dessen Laut zum Namen ‚das Blökende‘ werde. Der Clou der Argumentation besteht darin, dass die sinnliche Wahrnehmung des Dinges und die seelische Empfindung des Menschen über den Laut in das Wort eingehen und so noch ein Rest von ursprünglicher Naturerfahrung im abgeleiteten Begriff nachhallt. Herder favorisiert nun Sprachen, die kulturgeschichtlich genau am Übergang vom direkten Ausdruck der Wahrnehmungen und Empfindungen zu den reflektierten Begriffen der Vernunft stehen. Und zu diesen, wie er sagt, poetischen Sprachen gehört selbstverständlich das Hebräische und, allerdings in depotenziertem Maß, das Arabische.

6. Die so gefasste Theorie vom Ursprung der Sprache lässt sich, wenn auch mit einer Verschiebung der Akzente, in Herders Werk Geist der Ebräischen Poesie wiedererkennen. In den einleitenden Kapiteln der beiden Teile werden aus dem Axiom, die ursprüngliche Sprache beruhe auf der Verbindung von ‚Bild und Empfindung‘ – man beachte, dass hier die Vernunft wieder in den Hintergrund gerät – die allgemeinen Prinzipien der Dichtkunst und die besonderen Charakteristika des Hebräischen abgeleitet. Es heißt dort: „Die erste Dichtkunst war also ein Wörterbuch prägnanter Namen und Ausdrücke voll Bilder und voll Empfindung; ich wüßte nicht, bei welcher Poesie der Erde dieser Ursprung reiner ins Auge fiele, als bei dieser“27, nämlich der hebräischen. Und, in einer religiös aufgeladenen Formel, die Anschauung 27

Herder. Schriften zum Alten Testament (wie Anm. 8). S. 963.

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und Verlautung, Eindruck und Ausdruck, Systole und Diastole zusammenzieht: „Bild der Sache im Atem der Empfindung; […] das ist, dünkt mich, der Geist der Ebräischen Sprache“.28 Bezeichnet Herder die hebräische Poesie noch kürzer als „Bilderrede“29, so ist damit auch jene Poetik von typischen Tropen und Gattungen gemeint, die schon Lowth im Alten Testament nachgewiesen hatte. Doch gibt es bei der Behandlung der Tropen und Gattungen bedeutende Unterschiede zu Lowth. Erstens setzt Herder die Tropen mit den Wortarten der Grammatik in Verbindung, wobei diese Wortarten nach seiner Theorie unterschiedliche Entfernungen zum Ursprung der Sprache besitzen: Verben sind ursprünglicher als Nomina, Pronomina ursprünglicher als Adjektive und so weiter. Zweitens stellt Herder die nach Wortarten gereihten Tropen in einen Zusammenhang mit bestimmten Qualitäten und Funktionen der Poesie. In der fiktiven Form des Dialogs, die Herder für den ersten Teil des Werks gewählt hat, fragt der eine Gesprächspartner den anderen: „Was halten Sie einer poetischen Sprache, sie möge Huronen oder Otahiten zugehören, am notwendigsten? Nicht wahr, Handlung, Darstellung, Leidenschaft, Gesang, Rhythmus?“30 In der folgenden Argumentation werden die nach Wortarten gereihten Tropen der hebräischen Poesie den genannten Qualitäten und Funktionen der Sprache zugeordnet: kraft- und stimmvolle Verben drücken Handlung aus, synonyme und personifizierte Nomina dienen der Darstellung, zahlreiche Pronomina artikulieren Leidenschaft, die fortgesetzten Parallelismen im Satz-, Vers- und Strophenbau heben die Sprache in die höhere Sphäre von Gesang und Rhythmus. Diese Klassifikation von Tropen wird in der Einleitung des zweiten Teils durch eine Systematisierung der hebräischen Poesie nach Dichtungsarten ergänzt, die Herder folgendermaßen zusammenfasst: Wir haben jetzt Stufenweise eine Reihe Gattungen der Dichtkunst betrachtet, die alle vom ‫משל‬, der Rede voll Bild und Empfindung ausgingen: denn das siehet ein jeder, daß auch die Personendichtungen, die Fabelzüge, Rätsel, Sinnsprüche, end28 29

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Ebd., S. 680. Ebd., S. 977. Allerdings differenziert Herder hier zwischen „Bilderrede“ und „Gesang“, um zwei Gattungen der hebräischen Poesie zu kennzeichnen (mit „Gesang“ sind v.a. die Psalmen gemeint). Doch bleibt die „Bilderrede“ die Essenz des Gesangs, denn mit der Musik bekommt sie nur eine höhere Harmonie. Ebd., S. 673.

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lich die eigentlichen Dichtungen nicht nur selbst zum ‫ משל‬gehören, sondern auch so verschieden vorkommen können, als dies sich modifizieren läßt.31

Hinzu kommen noch musikalische Gattungen der hebräischen Poesie, besonders die chorischen Lob- und Klagegesänge der Psalmen, die Lowth als Ode und Elegie bezeichnet hatte. Die dritte und sicherlich bedeutendste Differenz besteht darin, dass Herder nicht, wie Lowth, aus dem Alten Testament eine Poetik abstrahiert, sondern genau umgekehrt die zu Beginn umrissene Poetik durch die Lektüre der heiligen Schrift konkretisiert. Die in den beiden Einleitungen genannten poetischen Formen werden wieder mit kulturellem Leben erfüllt, indem Herder in den eigentlichen Hauptteilen die Bücher Moses und der Propheten, die Psalmen Davids und andere Gesänge Schritt für Schritt durchschreitet und sie dabei kommentiert und interpretiert. Die Tropen der hebräischen Poesie, etwa bestimmte Metaphern, werden derart auf die geographischen und klimatischen Lebensbedingungen (‚Naturgeschichte‘), die religiösen Weltanschauungen, die genealogischen Stammesgeschichten, die moralischen Sittenverhältnisse (‚Geschichte der Kultur‘) des Volkes Israel bezogen, dass sie tatsächlich als prägnante Anschauungs-, Empfindungs- und Ausdrucksformen dieser frühen Kultur des Morgenlands zu erkennen sind. Herder bringt sie wieder zum Sprechen. Dies sei nicht an dem bekannten Parallelismus des Himmels und der Erde illustriert, aus dem Herder, wie schon in der Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts, die gesamte Schöpfungsgeschichte der Bibel und mit ihr das ganze Welt- und Menschenbild der Morgenländer entfaltet.32 Als Beispiel diene stattdessen ein wichtiger Metaphernund Symbolkomplex der hebräischen Poesie, die Bildlichkeit der Wüste, die von Herder natur- und kulturgeschichtlich auf Moses’ Auszug aus Ägypten und die Durchquerung des Sinai zurückgeführt wird: Überall tönt die Wüste Arabiens durch: ein Fels ist Gott: ein brennendes, verzehrendes Feuer. Hornissen gehen vor ihm her, die er auf die Völker Kanaans sendet. […] Seine Rachengel sind Seraphim, feurige Schlangen, die er selbst auf sein Volk sendet; und immerdar erhebt er seine Hand durch die Himmel und schwört: ich bin Jehovah! der Eine! dein Gott, abtrünniges 31 32

Ebd., S. 976. Vgl. ebd., S. 706-710.

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Kai Kauffmann Israel und lebe ewig. – Die größten Poesien und Bilder in Psalmen und den Propheten sind aus diesem Zuge Moses durch die Wüste, aus seinen Wundern, Reden, insonderheit aus seinem letzten Liede genommen: denn dies Lied ist […] gleichsam die Urweissagung, das Vorbild und der Kanon der Propheten.33

Für Herder ist wichtig, dass die poetische Bildlichkeit der Wüste, in der sich das religiöse Verhältnis zwischen dem einen, zürnenden Gott Jehovah und seinem abtrünnigen Volk Israel ausdrückt, dass diese Bildlichkeit aus Urerfahrungen entstanden ist, die man an dieser Stelle wohl unter dem Begriff ‚mythisch‘ subsumieren darf. Ebenso wichtig ist aber, dass die in Mose 1-5 ausgebildete Metaphorik und Symbolik zum Vorbild einer religiösen Dichtung wird, die durch die Wiederholung dieser Bildlichkeit die Erinnerung an die hebräische „Urwelt“34 lebendig hält. Für Herder sind die Bücher des Alten Testaments das Idealmodell einer dichterischen Tradition, weil dort die poetischen Tropen der Sprache die Rückbindung an den mythischen Ursprung des Volks immer wieder herstellen und so als das wichtigste Organ eines kulturgeschichtlichen Kreislaufs fungieren.

7. Zum Abschluss sollen einige Überlegungen die von Herder entworfene Ursprungspoetik der hebräischen Dichtung noch stärker in der Diskursgeschichte des 18. Jahrhunderts verorten und gegenüber dem Orientalismus des 19. Jahrhunderts abgrenzen. Eine erste Reflexion: Herder sagt an vielen Stellen, die Tropen der hebräischen Dichtung seien typisch für alle Sprachen des Morgenlands. An anderen differenziert er jedoch zwischen der vergleichsweise „rohen Sprache“35 des Hebräischen und dem verfeinerten Arabischen oder Persischen. In der Logik seiner Argumentation liegt nun, dass das Arabische und das Persische zwar die Tropen der orientalischen Tradition weiterverwenden, diese jedoch den engen Rückbezug zum mythischen Ursprung einbüßen und damit an kulturellem Sinn verlieren. Im Vergleich zu den gebildeten Sprachen des Abendlands 33 34 35

Ebd., S. 932. Ebd., S. 774. Vgl. ebd., S. 689.

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erscheinen das Arabische und das Persische freilich immer noch als ursprünglicher und poetischer. Dennoch könnte hier eine Kritik an orientalischen oder orientalisierenden Dichtungen ansetzen, die entweder die traditionellen Tropen gebrauchen, ohne an einen mythischreligiösen Ursprung zu erinnern, oder aber sich ganz anderer Stilmittel bedienen. Jedenfalls kann man sagen, dass Herders Modell der hebräischen Poesie nicht mit der um 1800 einsetzenden Rezeption der persischen Dichtung eines Hafis und dem Konzept des West-Östlichen Divan von Goethe vereinbar ist.36 Eine zweite Reflexion: Dass Herders Vorstellungen an spezifische Diskurse des 18. Jahrhunderts gebunden sind, zeigen nicht nur die Vergleiche der hebräischen Poesie mit den Dichtungen Homers und Ossians37, aus denen bestimmte Stellen als analoger – obgleich durch andere Natur- und Kulturbedingungen gebildeter – Ausdruck von mythisch-religiöser Ursprünglichkeit aufgefasst und dort, wo sie mit dem Geist der Hebräischen Poesie korrespondieren, in die Reihe der von Herder übersetzten und kommentierten Psalme eingefügt werden.38 36

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Wenn Herder im Geist der Hebräischen Poesie z.B. einen „Lobgesang aus dem Persischen“ übersetzt, bindet er ihn an die religiöse Tradition der Psalmen zurück. Vgl. ebd., S. 713f. Hier kann ich nur pauschal auf die Darstellungen von Homer und Ossian in früheren Schriften Herders, besonders in den Fragmenten Über die neuere deutsche Literatur und den Kritischen Wäldchen, hinweisen, die natürlich ihrerseits in einem umfassenden Diskurs-Kontext stehen. Bereits in der ersten Sammlung der Fragmente setzt sich Herder mit dem Ursprung der Sprache auseinander und charakterisiert unter anderem Homer als Beispiel für eine „Sprache in ihrer Kindheit“; wichtig ist, dass er hier zwischen den ältesten Sprachen und Dichtungen kaum kulturelle Unterschiede macht: „Die ältesten Sprachen haben eine Art von sinnlicher Gestaltung, so wie noch die Sprachen der Völker beweisen, die in ihrem Jugendalter der Bildung leben: Klima und Zone kommen hier noch nicht in Betrachtung; denn sowohl die heißen Morgenländer, als die wilden Amerikaner bestätigen, was ich sage. Alles erinnert uns an den Morgen der Welt, das eine Nation sich ihre Sprache nach Zunge, Ohr und Auge bildete: und für Ohr und Auge sprach.“ (Herder. Frühe Schriften [wie Anm. 20]. S. 609 u. S. 611.) Die Zusammenstellung von Dichtungen aus so unterschiedlichen Ländern, Völkern und Zeiten, die auf den ersten Blick der Kulturphilosophie Herders zu widersprechen scheint, lässt sich als ein Verfahren interpretieren, jene Analogien und Korrespondenzen deutlich zu machen, in denen der gemeinsame, im Akt der göttlichen Schöpfung liegende Ursprung der

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Wenn Herder wiederholt das Versepos Paradise lost in eigener Übersetzung zitiert, wird deutlich, dass er ähnlich wie John Milton und andere, von diesem Dichter beeinflusste Autoren des 18. Jahrhundert, versucht, unter Rückgriff auf die Sprache des Alten Testaments eine ‚heilige Poesie‘ wiederzuerschaffen. So ist es nicht erstaunlich, dass auch der Name Klopstock häufiger fällt. Denn: Es wäre unbillig, hier den Namen des Mannes zu verschweigen, der uns Deutschen zuerst den wahren Ton des Ebräischen Psalms näher gebracht hat, Klopstock. Die simpelsten seiner Oden, insonderheit in aufgelösten Zeilen, sind Töne aus Davids Harfe: viele seiner Lieder und die kunstlosesten Gesänge der Empfindung in seinem Messias haben unsrer Sprache eine Einfalt und Wahrheit des lyrischen Gesanges eigen gemacht, die wir bei unsern glänzenden Nachbarn vergeblich suchen dörften.39

An diese Sätze schließt das von Herder selbst verfasste Gedicht über die Nachahmung der alten Ebräischen Dichtkunst an, in dem das im „alten Deutschen Barden-Hain“ sitzende Ich nicht mehr die für immer abgestorbenen Geister und Töne von Ossian und Orpheus beschwört, sondern in der wieder und wieder belebten Tradition der Psalm-Dichtungen und -Umschreibungen die bildende Kraft zu „höherm heiligen Gesang“ sucht: Er schwand im Schimmer des Abendrots, / und neue Stimmen erwachten um mich, / von Ottfrieds rauhen Tönen an, / bis der mächtige Luther kam. // Und Kleist! und wer den Gottesgesang / aus Davids Harf’ ergriff: / Ich hörte singen Allvaters Lied / in Klopstocks Herzenston.40

Herder findet genau die Tropen, die zu seiner Ursprungspoetik der hebräischen Dichtung gehören, bei Klopstock wieder. Umgekehrt klingen seine eigenen Übertragungen und Nachdichtungen alttestamentlicher Psalmen, die in das Werk Vom Geist der Ebräischen Poesie eingeschaltet sind, an Klopstock an. Auch Herder zielt mit den Übersetzungen und Nachdichtungen auf die Schaffung einer ‚heiligen Poesie‘, obwohl er genau weiß, dass die Übertragung der hebräischen

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Menschheit durch die Divergenzen der Kulturgeschichte hindurch zum Ausdruck kommt. Herder. Schriften zum Alten Testament (wie Anm. 8). S. 1214. Vgl. ebd., S. 1216.

‚Bilderrede‘

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Ursprache des Morgenlands in die deutsche Bildungssprache des Abendlands ein kulturgeschichtliches Paradox ist. Eine dritte und letzte Reflexion: Wenn Herders Vorstellungen so sehr an die sprachphilosophischen und poetologischen Diskurse des 18. Jahrhunderts gebunden sind, darf man fragen, ob es überhaupt Entwicklungslinien zum späteren Orientalismus gibt. Eine Verbindung gibt es sicherlich, nämlich die Verbindung zur ‚neuen Mythologie‘ der Frühromantiker. Darauf kann und will ich nicht mehr eingehen. Ansonsten sehe ich eher Trennendes. So interessiert sich die oben erwähnte Rezeption der persischen Lyrik um 1800 nicht mehr für eine ‚heilige Poesie‘ des kulturellen Ursprungs, sondern im Gegenteil für die weitgehend säkulare Dichtung einer gebildeten und verfeinerten Gesellschaft. Zwar stellt der Geschichtsphilosoph Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik noch einmal einen Bezug zwischen der morgenländischen Poesie und der dortigen Religion her, doch fehlt in seinem Begriff der symbolischen Kunstform gerade das für Herder entscheidende Moment der prägnanten Anschauung und Empfindung ursprünglicher Menschlichkeit.

Literatur Berghahn, Cord-Friedrich. Moses Mendelssohns ‚Jerusalem‘. Ein Beitrag zur Geschichte der Menschenrechte und der pluralistischen Gesellschaft in der deutschen Aufklärung. Tübingen 2001. Gutzen, Dieter. Poesie der Bibel. Beobachtungen zu ihrer Entdeckung und ihrer Interpretation im 18. Jahrhundert. Phil. Diss. Bonn 1972. Herder, Johann Gottfried. Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Hg. Hans Dietrich Irmscher. Stuttgart 2001. Herder, Johann Gottfried. „Die Bildung unserer Sprache“. Frühe Schriften 1764-1772. Hg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt a.M. 1985. S. 598-649. Herder, Johann Gottfried. Frühe Schriften 1764-1772. Hg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt a.M. 1985. Herder, Johann Gottfried. Schriften zum Alten Testament. Hg. Rudolf Smend. Frankfurt a.M. 1993. Lowth, Robert. Lectures on the Sacred Poetry of the Hebrews. Translated by G. Gregory. 2 vol. London 1787. Mendelssohn, Moses. Gesammelte Schriften. Bd. 4: Rezensionsartikel in Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste (1756-1759). Bearbeitet v. Eva J. Engel. Stuttgart/Bad Cannstatt 1977.

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Polaschegg, Andrea. Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin/New York 2005. Rousseau, Jean-Jacques. Sozialphilosophische und Politische Schriften. München 1981. Schorch, Grit. „Das Erhabene und die Dichtkunst der Hebräer. Transformationen eines ästhetischen Konzepts bei Lowth, Mendelssohn und Herder“. Hebräische Poesie und jüdischer Volksgeist. Die Wirkungsgeschichte von Johann Gottfried Herder im Judentum Mittel- und Osteuropas. Hg. Christoph Schulte. Hildesheim 2003. S. 67-92. Smend, Rudolf. „Lowth in Deutschland“. Epochen der Bibelkritik. Hg. ders. München 1993.

Andrea Polaschegg

Von chinesischen Teehäusern zu hebräischen Melodien Parameter zu einer Gebrauchsgeschichte des deutschen Orientalismus Der Orientalismus, der deutsche zumal, ist ein seltsames Phänomen.1 Mit schwer kalkulierbarem Eigensinn treten im Laufe der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte diskontinuierlich Bezugnahmen auf das Morgenland auf, nehmen heterogenste Gestalt an, besetzen ganze diskursive Felder, dynamisieren ästhetische Produktion und kulturelle Kommunikation, um dann wieder zu verschwinden. Da kleidet sich etwa im Jahre 1821 der gesamte preußische Hofstaat in prachtvolle orientalische Gewänder, inszeniert sich vor aufwendig gestalteter Kulisse und den Augen der Berliner Untertanen als indo-persische Hochzeitsgesellschaft nach literarischer Vorlage2 und schafft auf diese 1

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Zur Geschichte des deutschen Orientalismus literarischer Provenienz vgl. nach wie vor: Diethelm Balke. „Orient und Orientalische Literaturen“. Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Begr. v. Paul Merker und Wolfgang Stammler. Hg. Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr. Bd. 2. Berlin 1955. S. 816-869. Als Geschichte des Rassismus liest den deutschen Orientalismus – trotz des suggestiven Plurals im Titel mit transhistorischgeneralisierender Tendenz – Todd Kontje. German Orientalisms. Ann Arbor: Univ. of Michigan Press, 2004. Einzelne literaturgeschichtliche Schlaglichter werfen die Studien: Andrea Fuchs-Sumiyoshi. Orientalismus in der deutschen Literatur. Untersuchungen zu Werken des 19. und 20. Jahrhunderts von Goethes „West-östlichem Divan“ bis zu Thomas Manns „Joseph“-Tetralogie. Hildesheim: Olms, 1984 und Ludwig Ammann. Östliche Spiegel. Ansichten vom Orient im Zeitalter seiner Entdeckung durch den deutschen Leser 1800-1850. Hildesheim: Olms, 1989. Im Folgenden beziehe ich mich auf die historische und systematische Darstellung des deutschen Orientalismus in: Vf. Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin/ New York: de Gruyter, 2005. Zu diesem höfischen Festspiel nach dem orientalistischen Versepos Lalla Rookh des Iren Thomas Moore vgl. die Darstellung von Carl Herzog zu Mecklenburg. Erinnerungen an Berlin. Festspiele. o.O. u. J. S. 150-172; zu den Einzelheiten s.u.

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Weise ein monarchisches Bildarsenal morgenländischer Provenienz, das in den darauf folgenden Jahren vielfach ästhetisch multipliziert wird, um dann in Vergessenheit abzusinken. Da beginnt im 17. Jahrhundert China die Aufmerksamkeit von Gelehrten, Künstlern und absolutistischen Herrschern magnetisch anzuziehen, nimmt auf zahllosen Dramen- und Opernbühnen, in frühneuzeitlichen Gärten und aufwendigen Stichwerken mannigfaltige Gestalt an, entfaltet beachtliche ästhetische, wissenschaftliche und politische Faszinationskraft3, um sich im ausgehenden 18. Jahrhundert in die hintersten Winkel des künstlerischen und öffentlichen Interesses zurückzuziehen. Da erobert um 1800 Indien die Denk- und Vorstellungswelten von Wissenschaft und Literatur in den deutschen Ländern, schreibt sich in ästhetische Programme, philosophische Entwürfe und nationale Genealogien ein, animiert Regierungen dazu, trotz fehlender realpolitischer oder ökonomischer Interessen indologische Lehrstühle einzurichten und mit Sanskrit-Druckmaschinen auszustatten4, um in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Liebhaberei Einzelner zu schrumpfen. Und während der Orientalismus auf diese und ähnliche Weise Kulturgeschichte schrieb, blieben zugleich weite Bereiche der deutschen Literatur und Kultur über Jahrhunderte völlig frei von jeder erdenklichen Form der Bezugnahme auf den Orient. Wichtige Epochen der Literatur- und Ästhetikgeschichte etwa bieten dem analytischen Blick keinerlei Anhaltspunkt für ein Wirken morgenländischer Imagination, scheinen sie sogar konstitutiv auszuschließen. So sucht man Orientalia im Naturalismus ebenso vergeblich wie in Lyrik und Drama des Expressionismus, und auch der Bühnenraum des Bürgerlichen Trauer3

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Vgl. dazu: Willy Richard Berger. China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung. Köln/Wien: Böhlau, 1990; China und Europa. Chinaverständnis und Chinamode im 17. und 18. Jahrhundert. Ausstellung vom 16. September bis 11. November 1973 im Schloss Charlottenburg, Berlin. Hg. Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten. Berlin 1973. Leslie Amos Willson. A Mythical Image. The Ideal of India in German Romanticism. Durham N.C.: Duke Univ. Press, 1964; Raymond Schwab. The Oriental Renaissance. Europe’s Rediscovery of India and the East 1680-1880. New York: Columbia Univ. Press, 1984; Ernst Windisch. Geschichte der Sanskrit-Philologie und Indischen Altertumskunde. I., II. Teil sowie nachgelassene Kapitel des III. Teils. Um ein Namen- und Sachverzeichnis zum III. Teil erweiterter, ansonsten unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1917, 1920 und 1921. Berlin/New York: de Gruyter, 1992.

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spiels hat sich nie bis ins Morgenland erstreckt. Die Repräsentation politischer Herrschaft im Verlauf der Neuzeit vollzog sich zum überwiegenden Teil ohne jeden orientalistischen Bezug, die Geschichte der deutschen Malerei hat bis zum Beginn der klassischen Moderne kaum je auf Orientalismen zurückgegriffen5, und auch wissenschaftliche Faszinationskraft konnten die Völker, Länder und Sprachen des Ostens nur zu bestimmten Zeiten in bestimmten Konstellationen entfalten. Die ästhetische, wissenschaftliche oder gesellschaftliche Hinwendung zum Morgenland hat in der deutschen Kulturgeschichte also offenbar den Status einer Option, die realisiert werden kann, aber keinesfalls realisiert werden muss. Bestimmt von Regeln, die sich der unmittelbaren Einsicht entziehen, treten orientalistische Figurationen im historischen Prozess auf, besetzen Räume, lösen sich wieder auf oder werden überhaupt nicht ins Werk gesetzt. Eben dies macht die Geschichte des deutschen Orientalismus zu einer handfesten wissenschaftlichen Herausforderung, der sich die literatur- und kulturwissenschaftliche Forschung bislang allerdings nur selten gestellt hat. Dabei hat es in den vergangenen Jahren keineswegs an einer Beschäftigung mit dem Thema gemangelt, denn seit dem Erscheinen ihrer initialen Metaerzählung – Edward W. Saids Studie Orientalism aus dem Jahre 1978 – schreibt die kritische Orientalismusforschung internationale Erfolgsgeschichte.6 Tatsächlich haben nur wenige Forschungsgebiete die diversen Paradigmenwechsel und ‚turns‘ in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften der vergangenen drei Jahrzehnte so unbeschadet überstanden wie die wissenschaftliche Beschäftigung mit Orientbildern in westlichen Diskursen der Vergangenheit und Gegenwart, die sich seit den 1990er Jahren auch in der deutschen Forschungslandschaft zunehmend weiter Verbreitung erfreut. Im Rückgriff auf nahezu das gesamte zuhandene Spektrum literatur- und kulturwissenschaftlicher Methoden und Ansätze7 hat die hiesige Forschung während der 5

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Im Vergleich mit der französischen Malerei des 19. Jahrhunderts ist der malerische Orientalismus in Deutschland ein marginales Phänomen. Vgl. dazu die Studie: Erika Günter. Die Faszination des Fremden. Der malerische Orientalismus in Deutschland. Münster: Lit, 1990. Eine „Kleine Geschichte der Orientalismusforschung“ findet sich in Vf. Der andere Orientalismus (wie Anm. 1). S. 10-27. Dass die Orientalismusforschung gleichwohl nicht in eine Vielzahl miteinander methodisch inkompatibler Fragmente zerfällt, sondern sich tatsächlich zu einer wissenschaftlichen Landschaft fügt, hat seinen Grund unter

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vergangenen Jahre aus dem historischen Text- und Bildmaterial ein buntes Panorama des deutschen Orientalismus herausgearbeitet. Von Wolfram von Eschenbach bis Ernst Jünger, vom Motiv des orientalischen Teppichs bis zur Gender-Ordnung der Reiseliteratur, von den Chinoiserien in der Gartenarchitektur bis zu Adaptionen arabischer und persischer Dichtung reichen inzwischen die Gegenstände der wissenschaftlichen Auseinandersetzung, dank derer eine kaum zu überblickende Vielzahl von Rezeptionslinien, Bildern, Motivkomplexen und Darstellungsmodi des Orients in den deutschen Literaturen, Künsten und Diskursen sichtbar geworden ist. Diese zunehmende Sichtbarkeit des deutschen Orientalismus kann indes eine bemerkenswerte Absenz nicht überblenden, von der meine nachfolgenden Überlegungen ihren Ausgang nehmen. Die Rede ist vom Fehlen einer grundlegenden Frage auf dem Feld der Orientalismusforschung, deren Absenz zugleich auf eine neuralgische methodologische Lücke dieses Forschungszusammenhangs hinweist. Sie lautet: Warum gibt es überhaupt einen deutschen Orientalismus in Vergangenheit und Gegenwart und nicht vielmehr keinen, und warum gibt es ihn in seiner jeweiligen Gestalt und nicht vielmehr in einer anderen? So Leibnizsch diese Frage anmuten mag, so Luhmannsch ist sie gemeint. Sie nimmt den eingangs skizzierten Umstand in den Blick, dass sich das Auftreten von Orientalismen weder von selbst versteht, also keiner irgendwie gearteten Notwendigkeit folgt, noch zu allen Zeiten und in allen diskursiven Zusammenhängen tatsächlich gegeben war. Und sie richtet das Augenmerk auf jene Mechanismen und Funktionsweisen hiesiger Diskurse, die einen Orientalismus hervorgebracht sowie seine je spezifische Gestalt bestimmt haben. Dass eine systematische Auseinandersetzung mit den Existenzbedingungen des deutschen Orientalismus in der Forschung bislang fehlt – und zwar trotz seiner nicht allein potentiellen, sondern äußerst realen Absenz in weiten Teilen ästhetischer, kultureller und politischer Kommunikation während der vergangenen 400 Jahre –, hat verschiedene Ursachen, auf deren Spur sich die folgenden Seiten setzen wollen. Denn diese Ursachen, so will ich zeigen, gehen letztlich auf eine besondere Komplexität des Phänomens Orientalismus zurück, dessen anderem in einer Reihe axiomatischer Grundannahmen, auf denen der überwiegende Teil der Beiträge zum Thema zumeist implizit fußt und die ich andernorts ausführlich dargestellt habe. Vgl. ebd., S. 9-59.

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Bearbeitung die geistes- und kulturwissenschaftliche Methodologiebildung vor keineswegs kleine Herausforderungen stellt. Diese Herausforderungen sichtbar zu machen und methodologische Strategien zu ihrer Bewältigung zu entwickeln, hat sich der vorliegende Beitrag zur Aufgabe gemacht.

Die Antwort ohne Frage: Saids Orientalismusbegriff und die Folgen Eine entscheidende Ursache für die fehlende Auseinandersetzung der Orientalismusforschung mit den Bedingungen für die Existenz ihres Gegenstandes liegt in dem Umstand begründet, dass die Frage, warum es einen deutschen Orientalismus überhaupt gibt, forschungsgeschichtlich bereits beantwortet war, bevor sie hätte gestellt werden können. Schon auf der ersten Seite von Saids Orientalism, gleichsam als Initialformel der wissenschaftlichen Gründungsurkunde der Orientalismusforschung, findet sich jene Antwort, zu der nie eine Frage formuliert werden sollte, und deren initiale Stelle im Text ihren axiomatischen Charakter bereits andeutet. „[T]he Orient is“, so steht zu lesen, „one of [Europe’s] deepest and most recurring images of the Other. In addition, the Orient has helped to define Europe (or the West) as its contrasting image, idea, personality, experience.“8 Saids Annahme zufolge lag und liegt die Aufgabe – genauer: der Zweck – des Orientalismus und damit auch der Grund für seine Existenz und Produktivität in westlichen Diskursen also darin, durch die Schaffung eines orientalischen ‚Anderen‘ europäische Identität zu konstituieren und zu stabilisieren; und zwar „the idea of European identity as a superior one in comparison with all the non-European peoples and cultures.“9 Somit beantwortet Said die ungestellte Frage nach Gründen und Bedingungen für die Existenz eines europäischen Orientalismus auf der grundsätzlichsten aller denkbaren Ebenen, indem er eine Kausalbeziehung zwischen den (als nahezu seinsnotwendige Größe gefassten) Bedürfnissen Europas und dem europäischen Orientalismus herstellt: Weil Europa sich eine Identität schaffen muss oder schaffen 8

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Edward W. Said. Orientalism. Western Conceptions of the Orient. With a new Afterword. London: Penguin Books, 1995. S. 1f. Ebd., S. 7.

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will, die sich selbst als überlegene Kultur wahrnimmt, braucht es den Orient als Gegenfolie, dessen Zweck wiederum darin besteht, Europa zu seiner – im Wortsinne – exklusiven Identität zu verhelfen. Angesichts der Axiomatik der Saidschen These und ihres alle historischen und nationalen Differenzen transzendierenden Gültigkeitsanspruchs kann es nicht Wunder nehmen, dass in der personell breit angelegten und inzwischen ein gutes Vierteljahrhundert währenden internationalen Debatte um Orientalism eine ganze Reihe kritischer Stimmen auf die Unhaltbarkeit dieser Funktionsbestimmung des Orientalismus hingewiesen haben.10 Nicht zuletzt die germanistische Forschung meldete Zweifel an. Und sie tat dies vor allem mit Verweis auf die fehlende Plausibilität dieser Meta-Erklärung angesichts des konkreten Materials – etwa eines literarischen Orientalismus aus der Feder Herders, Rückerts, Goethes, Hofmannsthals oder Thomas Manns.11 Eine methodologische Auseinandersetzung mit dem Verfahren der Saidschen Funktionsbestimmung des Orientalismus, mit seiner Annahme einer kausallogischen Beziehung zwischen einer als wesenhaft gesetzten Größe ‚europäischer Identität‘ und dem Auftreten des Orientalismus, hat jedoch nicht stattgefunden. Und es wurden bislang auch keine alternativen Erklärungsmodelle für die Existenz und Gestalt des deutschen Orientalismus entwickelt.

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11

Anders als Saids Studie selbst ist es der fundierten internationalen Kritik an Orientalism – trotz ihrer dreißigjährigen Tradition und internationalen Dimension – bislang nicht gelungen, in den Wahrnehmungshorizont der deutschen Literatur- und Kulturwissenschaften zu rücken, wo Orientalism noch immer konsequent als Neuerscheinung gelesen wird. Einen Überblick über die Debatte bieten u.a.: Edward Said. A Critical Reader. Hg. M. Spinker. Oxford: Blackwell, 1993; Orientalism. A Reader. Hg. A. L. McFie. Edinburgh: Edinburgh Univ. Press, 2000; Jürgen Lütt/Nicole Brechmann/ Catherina Hinz/Isolde Kurz. „Die Orientalismus-Debatte im Vergleich. Verlauf, Kritik, Schwerpunkte im indischen und arabischen Kontext“. Gesellschaften im Vergleich. Forschungen aus Sozial- und Geschichtswissenschaften. Hg. Hartmut Kaelble/Jürgen Schriewer. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 1998. S. 511-567; Fred Halliday. „‚Orientalism‘ and its critics“. British Journal of Middle Eastern Studies. 20 (1993). H. 2. S. 145-163. Vgl. exempl.: Ammann. Östliche Spiegel (wie Anm. 1). S. 44f. Anm. 88; Fuchs-Sumiyoshi. Orientalismus in der deutschen Literatur (wie Anm. 1). S. 12ff.

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Dass Saids Hypothese einer übergeordneten Zweckgerichtetheit des europäischen Orientalismus trotz aller grundlegenden Einwände letztlich doch der Weg in den wissenschaftlichen Common Sense gelang – und sei es auch nur in der Form einer latenten Misstrauenshermeneutik gegenüber jeder Form westlicher Bezugnahmen auf den Orient –, hat seine Ursache indes nicht allein in der bislang fehlenden methodologischen Kritik dieser Funktionsbestimmung, sondern ist überdies der höchst effektiven Begriffspolitik Saids geschuldet. Im Zuge seiner Definition des Phänomens ‚Orientalism‘ hat der Literaturwissenschaftler nämlich auch eine äußerst wirkmächtige Umdeutung des Begriffs ‚Orientalism‘ vorgenommen. Dieses Wort, das im Englischen bis dato allein orientalische Eigenarten, Modi und Stile bezeichnete, sowie die Orientalistik als Wissenschaft vom Orient12, erfuhr auf den ersten Seiten von Orientalism zunächst eine definitorische Erweiterung, die den Begriff als Bezeichnung für „a style of thought based upon an ontological and epistemological distinction made between ‚the Orient‘ and (most of the time) ‚the Occident‘“13 bestimmte sowie als „a Western style for dominating, restructing, and having authority 12

13

Vgl. dazu die lexikalische Zusammenschau Fuchs-Sumiyoshi. Orientalismus in der deutschen Literatur (wie Anm. 1). S. 3ff. Im Deutschen findet sich diese Doppelbedeutung nicht. Ältere Lexika führen unter dem Lemma ‚Orientalismus‘ Einträge wie „Eigentümlichkeit der orientalischen Sprachen“ oder „morgenländische Spracheigenheit“ bzw. „Eigenthümlichk. u. Wesen der Orientalen; orientalische od. orientalische Weise“ bzw. „Eigenthümlichkeit und Wesen der Orientalen; orientalische u. orientalisierende Weise.“ (in der Reihenfolge der Zitate: Joh. Christ. Aug. Heyse’s Fremdwörterbuch. Durchaus neu bearb. u. bis auf ca. 90.000 Worterklärungen erw. v. Prof. Dr. Carl Böttger. Leipzig 121894. S. 605; Dr. Friedrich Erdmann Petri’s Handbuch der Fremdwörter in der deutschen Schrift- und Umgangssprache. 24. Auflage der von Dr. Emanuel Samostz neu bearb. u. vielfältig verm. 13. Aufl. Leipzig o.J. S. 606; Fremdwörterbuch von Daniel Sanders. 2 Bde. Leipzig 1871. Bd. 2. S. 141; Fremdwörterbuch mit etymologischen Erklärungen und zahlreichen Belegen aus Deutschen Schriftstellern von Joseph Kehrein o.O. 1876 (Nachdr. Wiesbaden 1969). S. 476). Neuere Lexika definieren ‚Orientalismus‘ – wenn überhaupt – als „das sich bes. in Gemälden, Aquarellen und Zeichnungen v.a. des 19. Jh. manifestierende ausgeprägte Interesse an oriental. Szenerien“. (Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden. Mannheim 191991. Bd. 16. Sp. 268). Said. Orientalism (wie Anm. 8). S. 2.

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over the Orient“.14 Ihre schlagende Evidenz und Wirkungskraft verdankte diese Begriffsneubestimmung allerdings der sprachmaterialen Eigensinnigkeit des Wortes ‚Orientalism‘, genauer: seiner morphologischen Endung ‚-ism‘, die Said klug kalkuliert in den Dienst seiner Sache stellte: Im Deutschen wie im Englischen besitzt diese Endung die Funktionsbedeutung ‚Orientierung an‘ oder ‚Übernahme von‘ und ist unter anderem zur Bezeichnung künstlerischer Strömungen (‚Expressionismus‘), religiöser und weltanschaulicher Bekenntnisse (‚Humanismus‘), wissenschaftlicher Denksysteme und Lehren (‚Platonismus‘) oder von Sprachanleihen (‚Latinismus‘ oder ‚Anglizismus‘) in Gebrauch.15 Durch Saids Arbeit am Begriff ‚Orientalism‘ aber hat sich das große Bedeutungsspektrum des Derivats ‚-ismus‘ zu einer einzigen morphologischen Bedeutungskomponente verdichtet: zur Markierung einer Ideologie. So ist ‚Orientalismus‘ zum ersten Mal in seiner Begriffsgeschichte in assoziative Nähe zu Termini wie ‚Kapitalismus‘, ‚Totalitarismus‘, ‚Antisemitismus‘ gerückt und konnte sich aus dieser assoziativen Verbindung nie mehr vollständig lösen. Gestützt durch einen aktuellen Sprachgebrauch, der die Endung ‚-ismus‘ tatsächlich vor allem zur (meist abwertenden) Markierung von Ideologemen verwendet, fand Saids proklamierter Ideologieverdacht gegenüber jeder Form des Orientalismus somit seine Evidenz im ‚-ismus‘ des Wortes ‚Orientalismus‘ selbst. Nicht zuletzt dank dieser erfolgreichen Begriffspolitik hat sich in der Forschung seit den frühen 1980er Jahren das Saidsche Axiom einer hegemonialen Funktion des Orientalismus zu jener Selbstverständlichkeit verfestigt, in deren Licht sich offenbar jede Auseinandersetzung mit der Frage nach den Gründen für sein Auftreten erübrigte: In hübscher Tautologie gab der Begriff selbst die Antwort, indem er mit seinem ideologischen Vorgriff jenes Phänomen definierte, das zu seiner Antwort passte. Nun haben die vergangenen dreißig Jahre beredtes Zeugnis von der enormen Suggestivkraft dieses Orientalismusbegriffs sowie von seinen bemerkenswerten Rückwirkungen auf das Verständnis des Phänomens abgelegt. Und so scheint es angezeigt, die Verengung der Perspektive durch das ideologische Apriori noch einmal explizit aufzuheben und, 14 15

Ebd., S. 3. Vgl. dazu den Überblick von Jürgen Werner: „Zum -ismus“. Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung. 33 (1980). S. 488-496.

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der Funktionsbedeutung der ‚-ismus‘-Endung im Deutschen entsprechend, eine Begriffsdefinition anzubieten. Mit ‚Orientalismus‘ seien hier und im Folgenden also drei Phänomenbereiche und Phänomenebenen bezeichnet: 1. sämtliche Akte der Bezugnahme auf den Orient: seine Thematisierung und Darstellung ebenso wie seine motivisch-metaphorische Aktualisierung; 2. die Effekte solcher Bezugnahmen, also die performative Genese dessen, was als ‚Orient‘ begriffen wird (vulgo: seine ‚Konstruktion‘); 3. der hiesige Gebrauch orientalischer Elemente, also die Übernahme orientalischer Stile, Modi und Formen oder der praktische Umgang mit orientalischen Artefakten resp. Gütern – vorausgesetzt, sie finden tatsächlich als orientalische Stile und Güter Verwendung. Verzichtet man aber auf das ideologische Apriori und begreift unter Orientalismus jene Akte und Effekte von Bezugnahmen auf den Orient sowie die Übernahme orientalischer Elemente – und Saids kalkulierte Begriffsumdeutung ist kein hinreichender Grund, dies nicht zu tun –, dann verflüchtigt sich auch die Evidenz der genannten Funktionsbestimmung des Orientalismus recht schnell, und die hier bereits aufgeworfene Frage steht in ihrer ganzen Länge wieder im Raum: Warum gibt es überhaupt einen deutschen Orientalismus in Vergangenheit und Gegenwart und nicht vielmehr keinen, und warum gibt es ihn in seiner jeweiligen Gestalt und nicht vielmehr in einer anderen?

Die Frage ohne Antwort: Funktionalistische Analyse und die Grenzen der Repräsentation Nun kann aber der – wahlweise als infantil oder philosophisch wahrnehmbare – Gestus dieser Frage nicht darüber hinweg täuschen, dass sie einen gedanklich-analytischen Perspektivewechsel vollzieht, der sie in die Nähe einer bestimmten Methodologie rückt. „Die funktionalistische Methode“, so schreibt Niklas Luhmann in seinem Aufsatz „Funktion und Kausalität“, „soll gerade die Feststellung begründen, dass etwas sein oder auch nicht sein kann, dass etwas ersetzbar ist.“16 16

Niklas Luhmann. „Funktion und Kausalität“. Ders. Soziologische Aufklärung 1. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme. Opladen: Westdeutscher Verlag, 61991. S. 9-30, hier: S. 15.

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Luhmann entwickelt seinen funktionalistischen Forschungsansatz dezidiert als eine Methodologie, die das faktische Vorkommen von Handlungen oder sozialen Tatbeständen nicht als notwendige Wirkung von Ursachen begreift, sondern als Lösung eines spezifischen Problems, für das es immer auch eine begrenzte Anzahl anderer Lösungsmöglichkeiten gegeben hätte. Im Unterschied zu kausaltheoretisch begründeten Verfahren unterstellt diese Methode der Faktizität von Handlungen und sozialen Tatbeständen also nicht ein allein durch sie erfülltes Bedürfnis oder einen Zweck innerhalb des Systems. Stattdessen vergleicht sie die beobachteten Faktizitäten mit denkbaren anderen, aber nicht umgesetzten Möglichkeiten der Problemlösung im je konkreten Zusammenhang. Luhmanns äquivalenzfunktionaler Ansatz versteht soziale Gegenstände somit als zwar gegebene, aber keineswegs notwendige Realisation von Handlungen, sucht dabei nach jenen Bezugsproblemen, welche die funktionale Leistung dieser Handlungen bestimmen, und nimmt von diesen Bezugsproblemen aus das Spektrum an äquivalenten Lösungsmöglichkeiten in den Blick, aus dem das System die beobachtbare Variante gewählt hat. Mit Hilfe der äquivalenzfunktionalen Methode werden jeder soziale Tatbestand und jede Handlung wahrnehmbar als eine Möglichkeit zur Problemlösung unter anderen, wobei sich das Bezugsproblem oftmals erst erschließt, wenn eine Lösungsmöglichkeit bereits funktional geworden ist. Die Funktion ist keine zu bewirkende Wirkung, sondern ein regulatives Sinnschema, das einen Vergleichsbereich äquivalenter Leistungen organisiert. Sie bezeichnet einen speziellen Standpunkt, von dem aus verschiedene Möglichkeiten in einem einheitlichen Aspekt erfaßt werden können.17

Indem sie alle beobachtbaren Tatbestände und Handlungen in Bezug zu „abstrakte[n], aber spezifische[n], genau zu präzisierende[n] Bezugsprobleme[n]“18 setzt, macht Luhmanns funktionale Methode diese Tatbestände und Handlungen vergleichbar mit all jenen, die dasselbe Bezugsproblem hätten lösen können. „Das Vergleichenkönnen“, so lässt sich das epistemologische Potential dieses Ansatzes zusammenfassen, „vermittelt einen Erkenntnisgewinn dadurch, daß es vom Ge17 18

Ebd., S. 14. Niklas Luhmann. „Funktionale Methode und Systemtheorie“. Ders. Soziologische Aufklärung 1. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme. Opladen, 6 1991. S. 31-53, hier: S. 36.

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genstand distanziert. Es setzt seinen Gegenstand in das Licht anderer Möglichkeiten.“19 Die Leibnizsche Frage nach den Gründen für das Vorhandensein und die spezifische Gestalt des Orientalismus zu stellen, bedeutet also – in der Terminologie Luhmanns –, nach den Funktionen des Orientalismus zu fragen und durch den Vergleich mit anderen, funktionsäquivalenten Möglichkeiten seine besondere Leistung sichtbar zu machen. Dem Orientalismus wird somit nicht – wie in der Nachfolge Saids geschehen – ein Zweck unterstellt, der überzeitlich und transdiskursiv sein Auftreten und seine Gestalt kausal begründet hat.20 Stattdessen soll im Folgenden eine Methodologie entwickelt werden, die den Orientalismus als einen Gegenstand sichtbar macht, der in Bezug auf einen spezifischen Problemzusammenhang funktional ist und sich zu anderen, funktionsäquivalenten Realisationsmöglichkeiten in Beziehung setzen lässt. Dieser Forschungsansatz hat den Vorteil, dass er die Ergebnisse seiner Untersuchung – ‚der Orientalismus dient der Stabilisierung einer europäischen Identität als überlegene Kultur‘ – nicht schon in seinem Ansatz enthält und sich daher auch nicht jenem Spott Nietzsches aussetzt, der da lautet: „Wenn Jemand ein Ding hinter einem Busche versteckt, es eben dort wieder sucht und auch findet, so ist an diesem Suchen und Finden nicht viel zu rühmen.“21 Stattdessen ermöglicht es die Luhmannsche Methode, den Orientalismus vom Schein der Notwendigkeit zu befreien und die Frage nach seinen jeweiligen Funktionen tatsächlich als offene Frage zu stellen. Dass sich die Frage nach den konkreten Funktionen der Akte, Effekte und Elemente orientalistischer Bezugnahmen in der Orientalismusforschung bislang nicht hat durchsetzen können, hat seinen Grund indes nicht allein in besagtem Vorverständnis des Phänomens ‚Orientalismus‘. Vielmehr zeichnet sich im Fehlen dieser Frage eine methodologisch-systematische Problematik ab, die den spezifischen Bereich der Orientalismusforschung übersteigt und auf eine grundsätzliche 19 20

21

Ebd. Gegen den kausallogischen Rückschluss von einer vorgefundenen Leistung auf einen (übergeordneten) Zweck richtet sich Luhmann dezidiert. Vgl. Niklas Luhmann. „Funktion und Kausalität“ (wie Anm. 16). S. 15. Friedrich Nietzsche. „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873)“. Ders. Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. III. Abt. Bd. 2. Nachgelassene Schriften 1870-1873. Berlin/New York: de Gruyter, 1973. S. 367-384, hier: S. 371.

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Schwierigkeit momentaner geistes- und kulturwissenschaftlicher Theoriebildung verweist, weshalb ihr zumindest kurz unsere Aufmerksamkeit gelten soll. Die Rede ist von der perspektivischen Unvereinbarkeit der Frage nach der Funktion des Orientalismus mit dem Paradigma semiotischer Repräsentation, aus dem die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Orientalismus bis heute die methodischen Parameter ihrer Analysen gewinnt. Angesichts ihres theoriegeschichtlichen Erbes aus dem ‚linguistic turn‘ der Geistes- und Sozialwissenschaften im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts und ihrer dezidiert de-ontologisierenden Programmatik versteht es sich für die kritische Orientalismusforschung dabei zwar von selbst, die von ihr untersuchten Repräsentationen des Orients nicht als (mehr oder minder korrekte) Abbilder einer außersprachlichen Wirklichkeit zu begreifen, sondern als wirklichkeitsstiftende ‚Konstruktionen‘. Dieses Credo formuliert schon Said, wenn er in seiner Einleitung zu Orientalism schreibt: [T]he phenomenon of Orientalism as I study it here deals principally, not with correspondence between Orientalism and Orient, but with the internal consistency of Orientalism and its ideas about the Orient […] despite or beyond any correspondence, or lack thereof, with a „real“ Orient.22

Die omnipräsente Bild-Metaphorik der Orientalismusforschung, jene in keinem Beitrag zum Thema fehlende Rede vom „Orientbild“23, von „portraits“ oder „images of the Orient“24, vom „Bild“ des Islam25, der 22 23

24 25

Said. Orientalism (wie Anm. 7). S. 5. Nina Berman. Orientalismus, Kolonialismus und Moderne. Zum Bild des Orients in der deutschsprachigen Kultur um 1900. Stuttgart/Weimar: Metzler, 1996; Ute Warenga. „Orientbilder der deutschen Geographie des 19. und 20. Jahrhunderts“. Beziehungen zwischen Orient und Okzident. Interdisziplinäre und interregionale Forschungen. Ergebnisse des Symposiums Graz, 3. bis 6. September 1992. Hg. Manfred Büttner. Teil 1. Bochum: Brockmeyer, 1992. S. 185-210; Yvonne Hüdepohl. Das Bild des Orients und sein Auftritt in den Künsten. Ein Beitrag zum Exotismus des 19. Jahrhunderts. Diss. Berlin 1989. Kontje. German Orientalisms (wie Anm. 1). S. 64, 96 u.ö. Karin Hörner. „Das Islam-Bild der Deutschen – von Goethe bis KarlMay“. Die Welten des Islam – neunundzwanzig Vorschläge, das Unvertraute zu verstehen. Hg. Gernot Rotter. Frankfurt a.M.: Fischer, 1993. S. 206-10; 230-31.

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Chinesen26, der Türken27, der Araber28, Ägyptens29 oder Indiens30 in westlichen Diskursen, zeugt jedoch von einer analytischen Perspektive, die nach wie vor von Parametern semiotischer Repräsentationslogik bestimmt ist. Zwar richtet sich das analytische Interesse der Orientalismusforschung nicht auf eine abbildtheoretisch begriffene „correspondence“ zwischen einer realweltlichen Größe Orient und seinen diskursiven Repräsentationen. Doch auch die von Said vorund eingeschlagene Blickrichtung auf die „internal consistency of Orientalism and its ideas about the Orient“ lässt unschwer erkennen, dass es sich dabei letztlich allein um einen Richtungswechsel der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit innerhalb derselben repräsentationslogischen Fahrrinne handelt, die den Orientalismus (oder die Orientbilder) in Relation zum Orient (oder dem Abgebildeten) stellt – auch wenn das Abgebildete als Konstruktion und Effekt orientalistischer (Re-)Präsentation gedacht wird. So bahnbrechend dieser Blickrichtungswechsel für das politische Projekt einer De-Essentialisierung des Orients auch (gewesen) sein mag, so konsequent hat die ihm noch immer inhärente Repräsentationslogik die Frage nach den Bedingungen für das Auftreten oder Verschwinden von Orientbildern und für die Funktion des jeweiligen Orientalismus verhindert. Schließlich arbeitet eine Forschung, die sich über die Auseinandersetzung mit existierenden Orientbildern und der ‚internen Logik des Orientalismus‘ bestimmt, ausschließlich an Präsenzen, an diskursiven Faktizitäten, deren potentielles Nichtvorhandensein sie schlicht nicht sehen kann, weil ihre Analysen erst dort beginnen, wo sich besagte Bilder tatsächlich zeigen und Orientalismus beobachtbar wird. Indem aber das potentielle Nichtvorhandensein ihres Gegenstandes im toten Winkel der bisherigen Orientalismusforschung liegt, gerinnt zugleich die Existenz 26 27

28

29

30

Berger. China-Bild und China-Mode (wie Anm. 3). Cornelia Kleinlogel. Exotik – Erotik. Zur Geschichte des Türkenbildes in der deutschen Literatur der frühen Neuzeit (1453-1800). Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 1989. Claus Peter Haase. „Literarische und geschichtliche Wurzeln des Araberbildes der Deutschen“. Deutsch-Arabische Beziehungen. Hg. Karl Kaiser/ Udo Steinbach. München/Wien: Oldenbourg, 1981. Aegypten-Bilder. Akten des Symposiums zur Ägypten-Rezeption. Augst bei Basel, vom 9.-11. September 1993. Hg. Elisabeth Staehelin/Bertrand Jaeger. Fribourg/Göttingen: Univ. Verl. u.a., 1997 ( = OBO 150). Willson. A Mythical Image (wie Anm. 4).

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von Orientalismen in westlichen Diskursen zu einer Selbstverständlichkeit und entzieht sich dem analytischen Zugriff sowie entsprechenden Erklärungsversuchen. Die Suche nach den Funktionen des Orientalismus, seines Auftretens und seiner konkreten Gestalt, richtet den Blick dagegen auf jene spezifischen Problemzusammenhänge, zu deren Lösung er jeweils beiträgt und die selbst nicht Teil des Orientalismus sind, sondern jener Diskurse und Systeme, innerhalb derer er in Gebrauch genommen wird. So fruchtbar und letztlich unverzichtbar semiotische Analysen für die Erforschung des Orientalismus und seiner Geschichte auch sind, kann die Antwort auf die Frage nach seinen Funktionen innerhalb semiotischer Parameter einer Repräsentations- und Konstruktionslogik nicht gefunden werden. Es bedarf anderer methodologischer Konzepte, die jene Gebrauchskontexte und Verwendungszusammenhänge in den Blick zu nehmen erlauben, innerhalb derer Orientalismen jeweils produktiv geworden sind, und die somit auch die Gründe für deren Produktivität sichtbar machen können. Denn eben diese konkreten Problem- und Gebrauchszusammenhänge – so die erste heuristische Grundannahme dieses Beitrags – bestimmen, ob, wann und in welcher Form der Orient in deutschen Diskursen Gestalt gewonnen hat. Und da es keine übergeordnete Notwendigkeit für hiesige Diskurse gab oder gibt, Orientbilder zu generieren und fortzuschreiben, lautet die zweite heuristische Grundannahme meines Beitrags, dass Orientalismus in den Kommunikationszusammenhängen, in denen er tatsächlich präsent ist, auch bestimmte Funktionen erfüllt, weil er in Ermangelung solcher Funktionen nicht da wäre. Wie wenig selbstverständlich Bezugnahmen auf den Orient in deutschen Diskursen gewesen sind und wie diskursspezifisch das Spektrum von Faktoren, welche die Präsenz oder Absenz von Orientalismen bestimmt haben, sei an einem ersten Beispiel illustriert. Es stammt aus der Feder von Karl Philipp Moritz und damit eines Autors, dessen literarischer (Nach-)Ruhm auf nichts weniger gründet als auf einem ausgeprägten literarischen Orientalismus. In seinem ebenso poetologischen wie psychologischen Roman Anton Reiser lässt Karl Philipp Moritz seinen Erzähler kontinuierlich über Bedingungen und Möglichkeiten einer Autonomieästhetik nachdenken, an deren Anspruch und Wirklichkeit der Protagonist mit seinen literarischen Ambitionen konsequent scheitert und sich vor den Augen des Erzählers und der Leser des Romans als notorischer Dilettant ausweist. Als deutliches Indiz

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und „schlimmes Zeichen“ für einen solchen literarischen Dilettantismus wertet es der Erzähler in diesem Zusammenhang, wenn junge Dichter ihren Stoff sehr gerne aus dem Entfernten und Unbekannten nehmen; wenn sie gern morgenländische Vorstellungsarten und dergleichen bearbeiten, wo alles von den Szenen des gewöhnlichen nächsten Lebens der Menschen ganz verschieden ist; und wo also auch der Stoff schon von selber poetisch wird.31

Unabhängig davon, ob diese Erzählerstimme mit ihren Worten die literaturgeschichtliche Sachlage des ausgehenden 18. Jahrhunderts tatsächlich angemessen wiedergibt, lässt sie sich in jedem Fall als repräsentativ für eine bestimmte poetologische Position jener Zeit lesen. Und aus Sicht dieser Position besteht eine der Funktionen literarischer Bezugnahmen auf den Orient offenkundig darin, durch die Außerordentlichkeit des Stoffs dilettantischen Jungdichtern einen poetischen Wirkungsraum zu eröffnen, den sie aus eigenem künstlerischen Vermögen nicht hätten schaffen können. Dem kritischen Blick dieses Betrachters präsentiert sich somit der Rückgriff auf Morgenländisches als deutlicher Ausweis literarischer Stümperhaftigkeit angehender Autoren, die den entlegenen Stoff für sich arbeiten lassen im Vertrauen auf dessen poetische Effekte. Dreierlei lässt sich aus der Passage des Anton Reiser ablesen: Zunächst wird der literarische Orientalismus zwar als zeitgenössisch latentes, keineswegs aber selbstverständliches Phänomen präsentiert. Ferner lässt sich eine starke Abhängigkeit der Funktionen des Orientalismus von der Eigengesetzlichkeit des literarischen Diskurses, seiner Poetologien und poetischer Praktiken erahnen. In wissenschaftlichen Diskursen dagegen, in der Philologie oder Geographie beispielsweise, wären dagegen Bezugnahmen auf das „‚Entfernte‘ und ‚Unbekannte‘“ des Orients wohl weit eher als Ausweis eines besonderen Forscherdrangs denn als Indiz für Dilettantismus gewertet worden. Und drittens schließlich wird angesichts dieses Textbeispiels eine Absenz von Orientalismen in der Literatur vorstellbar, die nicht allein von einem mangelnden persönlichen Interesse der Autorinnen und Autoren an morgenländischen Dingen herrührt, sondern womöglich in einer poe31

Karl Philipp Moritz. Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Mit den Titelkupfern der Erstausgabe. Hg., erl. u. mit einem Nachw. vers. v. ErnstPeter Wieckenberg. München: dtv, 21994. S. 358.

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tologischen Programmatik ihre Ursache hat, die eine Orientierung am „gewöhnlichen nächsten ‚Leben‘ der Menschen“ verlangt. In der Perspektive einer Forschung, die den Orientalismus in Parametern der Repräsentation oder Konstruktion untersucht, bleiben diese Dimensionen des Phänomens jedoch unsichtbar, und – entscheidender noch – das Phänomen selbst wird nicht erklärbar; sein Vorhandensein ebenso wenig wie seine Gestalt. In Parametern der Imagologie lässt sich die bemerkenswerte Prominenz orientalisierender Bauwerke im aufgeklärt-absolutistischen Garten ebenso wenig erklären wie das Aufkommen und Abflauen jener Übersetzungswelle morgenländischer Dichtung, die um 1800 für einige Jahrzehnte den deutschen Buchmarkt überrollt. Es wird nicht verständlich, warum der nicht eben als verschwenderisch verschriene preußische Staat in den 1820er Jahren für die Bonner Universitätsneugründung in eine Maschine zum Druck von Sanskrit-Texten investiert, die im Lande kaum eine Handvoll Gelehrter lesen konnte, oder der Berliner Hof wenig später auf eine orientalische Selbstinszenierung als Mittel herrschaftlicher Repräsentation zurückgreift. Die Gründe und Bedingungen für diese Auftritte und Wirkungsweisen des deutschen Orientalismus liegen somit bislang im Dunkeln. Und es würde sicherlich nicht so viele fehlende Antworten geben, wenn im analytischen Paradigma der Repräsentation die entsprechenden Fragen hätten gestellt werden können oder eine konsistente methodologische Alternative zur Hand gewesen wäre. Wenn im Folgenden die im Untertitel des Beitrags angekündigten „Parameter zu einer Gebrauchsgeschichte des deutschen Orientalismus“ entwickelt werden sollen, dann bildet Luhmanns funktionale Methode für dieses Unterfangen den systematischen Grundstock. Mit ihr lässt sich jener Perspektivwechsel vollziehen, der den Blick aus der repräsentationslogischen Engführung auf die Faktizität orientalistischer Gegenstände löst, ihn auf die jeweiligen Verwendungszusammenhänge des Orientalismus lenkt, nach alternativen Realisationsmöglichkeiten fragt und auf diese Weise seinen Funktionen auf die Spur kommen kann. Da diese Funktionen allerdings, wie Luhmann selbst immer wieder betont hat, nur in Bezug auf historisch und gesellschaftlich spezifische Probleme bestimmt werden können, und da der Orientalismus – verstanden als Akte und Effekte der Bezugnahme auf den Orient sowie Übernahme orientalischer Elemente – überdies ein Sinngeschehen darstellt, das selbst kein System ist und mit einem

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systemtheoretischen Instrumentarium auch nicht analysiert werden kann, ist die methodologische Arbeit mit Luhmann allein also noch keineswegs getan. Um die entscheidenden Faktoren und Ebenen zu extrapolieren, die für den Gebrauch des Orients in deutschen Diskursen zu verschiedenen Zeiten bestimmend geworden sind, Grenzen und Möglichkeiten des Orientalismus abgesteckt und seine jeweilige Gestalt geprägt haben, bedarf es somit eines feiner abgestimmten methodologischen Instrumentariums. Der nun folgende Rundgang durch die Auslage der geistes- und kulturwissenschaftlichen „Theorie-Apotheke“32 hat zum Ziel, verschiedene Ansätze zu einem solchen vorläufigen methodologischen Instrumentarium zusammenzustellen. Dabei steht nicht der Anspruch der Herstellung theorieimmanenter Konsistenz im Zentrum, sondern es soll darum gehen, gerade das Potential theoretischer Multiperspektivik zu nutzen, um die Aspektvielfalt und Eigensinnigkeit des Orientalismus sichtbar zu machen und mit Blick auf sie besagte ‚Parameter einer Gebrauchsgeschichte des Orientalismus‘ zu entwickeln. Dass es sich dabei trotz des gedanklichen Einstiegs über Luhmann um Parameter einer Gebrauchs- und nicht einer Funktionsgeschichte des Orientalismus handelt, liegt zunächst an der großen assoziativen Nähe des Begriffs ‚Funktion‘ sowohl zu ‚Zweck‘ als auch – zumal im post-kolonialen Diskussionskontext – zu ‚Funktionalisierung‘. Da der hier zu entwickelnde Ansatz jedoch gerade bemüht ist, das kulturgeschichtliche Phänomen ‚Orientalismus‘ aus dem falschen Vorverständnis zu befreien, es verfolge einen übergeordneten Zweck und würde den Orient zu diesem Zweck funktionalisieren, erscheint die Rede von einer ‚Funktionsgeschichte des Orientalismus‘ kontraproduktiv. Darüber hinaus setzt Luhmanns Funktionsbegriff implizit ein (soziologisch begründetes) Konzept von Operativität voraus, das sich weder innerhalb der Orientalismusforschung mit ihrer semiotischen Grundausrichtung noch in den Literatur- und Kulturwissenschaften von selbst versteht und das entsprechend überhaupt erst einmal in den Blick genommen werden muss, bevor nach den ‚Funktionen‘ gefragt werden kann. Die Perspektive einer Gebrauchsgeschichte – im Unterschied zu der einer Repräsentationsgeschichte – tut eben dies, indem sie auf die Verwendungszusammenhänge des Orientalismus 32

Jochen Hörisch. Theorie-Apotheke. Eine Handreichung zu den humanwissenschaftlichen Theorien der letzten fünfzig Jahre, einschließlich ihrer Risiken und Nebenwirkungen. Frankfurt a.M.: Eichborn, 2005.

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blickt und den Orient als Sinneinheit betrachtet, die in hiesigen diskursiven Kontexten operativ in Gebrauch genommen wird.

Gebrauch und Geschichte Orientalismus als Sinngeschehen zu begreifen, das nicht durch – richtige oder falsche, positive oder negative – Bilder des Orients, sondern durch seine Verwendungszusammenhänge bestimmt wird, geht als methodischer Ansatz zunächst auf das gedankliche Erbe Ludwig Wittgensteins zurück. Schließlich ist es Wittgenstein gewesen, der dem Begriff ‚Gebrauch‘ terminologische Kontur verliehen und ihn – nicht zuletzt Dank seiner Virtuosität bei der Formulierung von Kernsätzen – in wissenschaftlichen Umlauf gebracht hat: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch“, so lautet das prominent gewordene Merksatzfragment aus Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen 33, das die praxiologische Perspektive seiner Sprach(spiel)philosophie auf den Punkt bringt.34 Bedeutung – so die Wittgensteinsche Grundeinsicht – entsteht allein in sprachlichen Verwendungszusammenhängen und kann entsprechend nur von diesen Verwendungszusammenhängen aus analysiert werden. Dieser handlungstheoretische Perspektivenwechsel einer Beschäftigung mit Sprache und Sinn, der den Blick von der Repräsentationsbeziehung zwischen Wort und Gegenstand weg lenkt, ihn stattdessen auf den Gebrauch der Wörter richtet und hier nach den Entstehungsbedingungen von Bedeutung sucht, markiert die für eine Gebrauchsgeschichtsschreibung des Orientalismus grundlegende analytische Wende. Hierin besteht der entscheidende Beitrag, den das Wittgensteinsche Theorem für die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Orientalismus leisten kann. Darüber hinaus lässt sich seine Sprachspieltheorie allerdings nicht fruchtbar machen. Die Grenzen der Produktivität Wittgensteins für die Entwicklung einer gebrauchsgeschichtlichen Methode liegen in seiner konsequent kommunika33

34

Ludwig Wittgenstein. „Philosophische Untersuchungen“. Ders. Werkausgabe Bd. 1. Tractatus logico-philosophicus, Tagebücher 1914-1916. Philosophische Untersuchungen. Neu durchges. v. Joachim Schulte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1984. § 43. S. 262. Zur Einordnung Wittgensteins in den sprachphilosophischen Zusammenhang vgl. das Kapitel „Kontext“ in: Joachim Schulte. Chor und Gesetz. Wittgenstein im Kontext. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1990. S. 146-161.

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tionssituativen Perspektive auf Sprachspiele begründet, in der Konzentration auf den handelnden Gebrauch von Wörtern im Moment ihrer (mündlichen) Äußerung. Dagegen bleibt die historische Dimension des Sinngeschehens, die Vorgeschichte des Gebrauchs von Wörtern – einschließlich ihrer schriftlichen Tradierung – als bedeutungsbestimmender Faktor außerhalb der Betrachtung. Da aber eben diese Dimension für die methodische Konturierung einer Gebrauchsgeschichte des Orientalismus konstitutiv ist, muss der weitere Gang durch die „TheorieApotheke“35 zunächst zu jenen Regalen führen, in denen die historisch perspektivierenden Ansätze aufgereiht sind. Was dabei als erstes ins Auge fällt, ist die lange Reihe jener Modelle, die sich seit den 1970er Jahren vor allem in der Geschichts- und Sprachwissenschaft unter dem Label ‚Begriffsgeschichte‘ versammelt haben. Vom gleichen ‚linguistic turn‘ beschwingt, dem auch die kritische Orientalismusforschung ihre Existenz verdankt, betraten die Vertreter der Begriffsgeschichte die methodologische Bühne mit dem Ansinnen, die etymologische Wortgeschichte durch eine Analyse der historischen Verwendung von Begriffen zu ersetzen und auf diesem Wege zu einer neuen Form der Ideen- und Sozialgeschichtsschreibung zu gelangen.36 Diese doppelte Perspektive auf Begriff und Geschichte hat den Blick geöffnet für das, was in Geschichts- und Sprachwissenschaft seither „historische Semantik“ heißt.37 Dass diese methodologischen Ansätze für eine Gebrauchsgeschichte des Orientalismus wichtige Fingerzeige enthalten, liegt auf der Hand: Zumal angesichts der zentralen Erkenntnis der Orientalismusforschung, dass ‚Orient‘ eine semantische Größe ist, die durch Akte der Bezugnahme konstituiert wird, verspricht ein begriffsgeschichtlicher Zugang wichtige Einsichten.38 Wenn die Geschichte des Orientalismus dennoch in der Geschichte des Begriffs ‚Orient‘ keineswegs aufgeht und damit auch die Begriffs35 36

37

38

Hörisch. Theorieapotheke (wie Anm. 32). Die berühmteste Manifestation dieses Ansatzes besteht in dem achtbändigen Lexikon: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon der politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. Otto Brunner/Werner Conze/ Reinhart Koselleck. Stuttgart: Klett-Cotta, 1972-1997. Historische Semantik und Begriffsgeschichte. Hg. Reinhart Koselleck. Stuttgart: Klett-Cotta, 1978; Dietrich Busse. Historische Semantik. Stuttgart: Klett-Cotta, 1987. Ein erster, wenngleich keineswegs hinreichender, Versuch findet sich in Vf. Der andere Orientalismus (wie Anm. 1). S. 63-101.

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geschichte nur einen Teil der Orientalismusgeschichte erhellen kann, dann ist das durch den Umstand bedingt, dass der Begriff ‚Orient‘ ein gesamtes Paradigma bezeichnet, das eine nicht unbeträchtliche Anzahl anderer Begriffe umfasst: ‚Indien‘ etwa, ‚die Levante‘ und ‚China‘, ‚die Türken‘, ‚die Ägypter‘ und ‚die Hebräer‘, den ‚Buddhismus‘ oder den ‚Islam‘. Der Gebrauch all dieser Begriffe, deren Liste sich problemlos um einige Meter verlängern ließe, hat die historische Semantik von ‚Orient‘ in mindestens demselben Maße bestimmt wie es dessen eigene Begriffsgeschichte getan hat und müsste entsprechend in seiner Gesamtheit Teil einer stimmigen begriffsgeschichtlichen Analyse sein. Doch selbst wenn ein solch ambitioniertes Projekt wissenschaftspraktisch ins Werk zu setzen wäre, wie sich das mit Blick auf die Versprechen „makrosemantischer“ und „tiefensemantischer“ Modelle der Linguistik zumindest theoretisch vorstellen ließe39, fehlt diesen semantikgeschichtlichen Zugängen noch immer eine entscheidende Reflexionsebene, ohne die sich Orientalismusgeschichte als Gebrauchsgeschichte nicht schreiben lässt. Wie die oben angerissene Passage aus dem Anton Reiser bereits angedeutet hat und wie es auch in verschiedenen Einzelstudien zum Orientalismus immer wieder sichtbar geworden ist, wurde und wird der hiesige Gebrauch des Orients wesentlich mitbestimmt durch die unterschiedlichen diskursiven Kontexte seiner Verwendung: Die Aktualisierung von Orientalismen in der Literatur wird offenbar von anderen diskursiven Gesetzmäßigkeiten geregelt – von poetischen Programmen, von Gattungskonventionen oder den Gesetzen des literarischen Marktes – als Bezugnahmen auf den Orient im Rahmen des politischen Diskurses, dessen orientalistische Optionen sich wiederum von denen der Wissenschaften unterscheiden.40 Wenn es etwa Friedrich 39

40

Mit dem Ausblick auf diese Modelle schließt der methodengeschichtliche Überblick von Dietrich Busse und Wolfgang Teubert. „Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt? Zur Methodenfrage der historischen Semantik“. Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik. Hg. Dietrich Busse/Fritz Hermanns/Wolfgang Teubert. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1994. S. 10-27. Hier und im Folgenden ist mit dem Begriff ‚Diskurs‘ institutionalisierte Rede gemeint im Sinne der Foucaultschen Definition von ‚Diskurs‘ als „eine[r] Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören“ (Michel Foucault. Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1973. S. 156).

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Rückert und August von Platen unternehmen, den Formenkanon der deutschen Lyrik durch das persische Ghasel zu erweitern und dafür von Heinrich Leberecht Immermann und Heinrich Heine rhetorisch Prügel beziehen41, dann wurden die Grenzen und Möglichkeiten des Orientalismus dabei von gänzlich anderen Regeln bestimmt als sie etwa bei Debatten des Frankfurter Bundestages über die maghrebinische Piraterie griffen.42 Und wenn sich schließlich um 1800 in Deutschland eine eigene Wissenschaft vom Orient auszudifferenzieren beginnt und damit erstmalig ein institutionalisiertes orientalistischen Fachwissen von einem nichtformalen Wissen über das Morgenland geschieden und unterschieden wird43, dann verändern sich dadurch die Bedingungen des deutschen Orientalismus in einer Reichweite, die sich der begriffs- und semantikgeschichtlichen Beobachtung notwendig entzieht. Ausschließlich mit dem Instrumentarium der historischen Semantik, die letztlich nur einen Kontext – den historischen – kennt, ist Orientalismus in seiner Abhängigkeit von den verschiedenen Formen institutionalisierter Rede und Praxis also nicht analysierbar. Und so kann eine Gebrauchsgeschichtsschreibung auf die theoretische Perspektive und das methodische Handwerkszeug der historischen Diskursanalyse nicht verzichten. Besonders der Foucaultsche Ansatz (bzw. dessen Weiterentwicklung innerhalb der germanistischen Lite41

42

43

Vgl. dazu den Beitrag von Hendrik Birus in diesem Band sowie ferner: Hartmut Bobzin. „Platen und Rückert im Gespräch über Hafis“. August Graf von Platen. Leben, Werk, Wirkung. Hg. Ders./Gunnar Och. Paderborn u.a.: Schöningh, 1997. S. 103-121; Vf. „Unwesentliche Formen? Die Ghasel-Dichtungen August von Platens und Friedrich Rückerts. Orientalisierende Lyrik und hermeneutische Poetik“. Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Hg. Steffen Martus/Stefan Scherer/Claudia Stockinger. Bern u.a.: Peter Lang, 2005 (= Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik N.F. Bd. 11). S. 271-294. Vgl. dazu den Beitrag von Mounir Fendri in diesem Band sowie dessen Studie: Kulturmensch in „barbarischer“ Fremde. Deutsche Reisende im Tunesien des 19. Jahrhundert. München: Iudicium, 1996. Vgl. dazu den auf breiter Materialbasis aufruhenden, methodisch jedoch sehr problematischen wissenschaftsgeschichtlichen Versuch von Sabine Mangold: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“. Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart: Franz Steiner, 2004 (= PALLAS ATHENE. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte. Bd. 11).

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raturwissenschaft)44, der den analytischen Blick für die Eigengesetzlichkeit und die spezifische Operativität institutionalisierter Diskursensembles geschärft hat, bietet hier die entscheidenden Anregungen. Er ermöglicht einerseits, auf hochrahmiger Ebene nachzuvollziehen, in welchem Verhältnis Epistemwechsel – wie etwa der Beginn eines „Zeitalters der Geschichte“45 – und Orientalismus zueinander stehen46, und öffnet somit eine epochengeschichtliche Perspektive auf den Gegenstand. Andererseits erlaubt die historische Diskursanalyse eine Reflexion jener Dimensionen orientalistischer Praxis, die von den Formations- und Organisationsprinzipien der einzelnen Diskurse abhängen; seien dies nun die Parameter verschiedener Wissenschaften – der Philologie, der Geographie, der Historiographie oder Ethnologie –, die jeweils einen Orient bestimmten Zuschnitts zu ihrem Gegenstand gemacht haben, seien es ästhetische Regelsysteme oder politische Logiken. Allerdings haben bereits die Vertreter der im Anschluss an Foucault entwickelten semiotischen Diskursanalyse darauf hingewiesen, dass der diskurshistorische Zugang eine für sämtliche Sinnzusammenhänge entscheidende Dimension nicht in den Blick nimmt: Der Foucaultsche Ansatz fragt nicht nach den materialen Trägern diskursiv 44

45

46

Die Rede ist hier also nicht von den kommunikationstheoretisch ausgerichteten Diskurstheorien wie der anglo-amerikanischen ‚discourse analysis‘ oder dem von Jürgen Habermas etablierten Ansatz, welche jene speziellen Regulative und Operativitäten institutionalisierter Rede nicht mit reflektieren, die für eine Gebrauchsgeschichte des Orientalismus von so großer Bedeutung sind. Zur Differenzierung der verschiedenen Diskurstheorien vgl. den Überblick: Ute Gerhard/Jürgen Link/Rolf Parr. „Diskurstheorien und Diskurs“. Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hg. Ansgar Nünning. Stuttgart/Weimar: Metzler, 1998. S. 95-98. Über das Spektrum diskurstheoretischer Ansätze in der Literaturwissenschaft informieren nach wie vor: Jürgen Fohrmann/Harro Müller. Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt a.M. 1988. Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 121994. S. 269ff. Dass es sich dabei tatsächlich um eine Wechselbeziehung handeln kann, der Orientalismus also nicht allein in Abhängigkeit von Epistemwechseln gestanden, sondern sie seinerseits mit initiiert hat, deutet sich bereits in Foucaults Überlegungen zur Bedeutung der Frühindologie bzw. der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft für die Ausbildung einer tiefenstrukturellen Ordnung der Dinge an. Vgl. ebd., S. 342-359.

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generierter und organisierter Bedeutung, ist also blind für die teils beträchtliche Eigensinnigkeit etwa des Sprachmaterials in Form von Metaphern, Metonymien und Symbolen47 oder unterschiedlicher Medien. Eine gebrauchsgeschichtliche Perspektivierung des Orientalismus lässt jedoch recht schnell deutlich werden, wie maßgeblich die jeweilige materielle und mediale Form – mit Sybille Krämer gesprochen: „die Verkörperung“48 – des Orients auf diskursive Ordnungen und Prozesse Einfluss nimmt. Besonders augenscheinlich wird dies in Anbetracht orientalischer Güter und Artefakte – Kaffee und Tee etwa, Seide, Porzellan und Damast, Zimt, Nelken, Pantoffeln, Diwane oder Teppiche –, die als Metonymien des Morgenlandes in hiesige Verwendungszusammenhänge Eingang fanden und deren konkreter Gebrauch für bestimmte Bedeutungsdimensionen des Orients nicht ohne Folgen blieb. Wenn etwa die Verwendung morgenländischer Importwaren wie Porzellan, Teppiche und Seide während der Frühen Neuzeit auf den Kontext monarchischer Hofhaltung beschränkt war, dann steht zu erwarten, dass dies die hiesige Konnotation des Orients mit ‚Pracht‘ und ‚Luxus‘ maßgeblich geprägt hat. Allerdings beschränkt sich die Medien- und Materialgebundenheit des Orientalismus nicht auf (mehr oder minder handgreifliche) Gebräuche orientalischer Dinge und Stoffe, sondern erstreckt sich auch auf Bereiche, die herkömmlich als das angestammte Feld orientalistischer Repräsentationen begriffen werden: So verlieh eine Verkörperung des Orients in visuellen Medien wie dem Bühnenbild oder der Gartenarchitektur diesem Morgenland nicht allein ein spezifisches Gepräge, sondern eröffnete und begrenzte auch das Spektrum orientalistischer Operationen, die hier möglich oder eben unmöglich waren. Der im Szenenbild realisierte Orient etwa musste gleich im doppelten Sinne den Gesetzen des Augenscheins folgen: Zunächst war er aisthetisch auf die Dimension des Sichtbaren beschränkt, auf orientalische Architektur und Landschaft 47

48

Dezidiert zu diesem Punkt: Jürgen Link. „Warum Foucault aufhörte, Symbole zu analysieren. Mutmaßungen über ‚Ideologie‘ und ‚Interdiskurs‘“. Anschlüsse. Versuche nach Michel Foucault. Hg. Gesa Dane/Wolfgang Eßbach/Christa Karpenstein-Eßbach/Michael Makropoulos. Tübingen: edition diskord, 1985. S. 105-114. Sybille Krämer. „Sprache – Stimme – Schrift. Sieben Gedanken über Performativität als Medialität“. Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Hg. Uwe Wirth Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2002. S. 323-346, hier: S. 345.

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also, die wiederum auf eine Weise dargestellt werden mussten, welche den morgenländischen Schauplatz als morgenländischen Schauplatz unmittelbar erkennbar und sinnfällig machte. Diese spezielle Operativität des Orients im Bildmedium unterscheidet sich merklich von jenen orientalistischen Handlungsoptionen, wie sie sich in sprachliche Medien – zumal in der Poesie – eröffneten, die z.B. „orientalische Klänge“ hörbar machen oder einen „morgenländischen Ton“ anschlagen konnten.49 Wenn man Orientalismus als Sinngeschehen begreift, das – wie jedes Sinngeschehen – auf wahrnehmbare Verkörperungen des Sinns angewiesen ist, weil uns „Geist, Ideen, abstrakte Gegenstände, Formen immer nur […] in Gestalt von Inkorporationen“50 zugänglich sind, und wenn man ferner in Rechnung stellt, dass diese jeweiligen Verkörperungen stets über ein hohes Maß an materialem und medialem Eigensinn verfügen, dann muss eine gebrauchsgeschichtliche Betrachtung des Orientalismus notwendig eine mediengeschichtliche Perspektive im gerade skizzierten Sinne beinhalten. Sie erlaubt es nicht zuletzt, die für Wittgensteins Konzept des Gebrauchs so zentrale performative Dimension von Sinnzusammenhängen methodologisch zu konkretisieren und auf andere mediale Realisationen als das Sprachspiel im engeren Sinne – etwa auf Bild- oder Schriftmedien – zu übertragen. Mit den genannten methodologischen Aspekten aus Praxeologie und Begriffsgeschichte, aus historischer und semiotischer Diskursanalyse sowie einer medientheoretisch ausgerichteten Performanztheorie ist das methodologische Arzneischränkchen einer gebrauchsgeschichtlichen Erforschung des Orientalismus mittlerweile so weit gefüllt, dass die wesentlichen Ebenen und Dimensionen des Phänomens in den analytischen Blick genommen werden können.

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Zur Medien- und Gattungsgebundenheit des literarischen Orientalismus und den Konsequenzen für die dabei realisierten Spielarten orientalischer Alterität oder Fremdheit vgl. Vf. Der andere Orientalismus (wie Anm. 1). S. 143-200. Krämer. Sprache – Stimme – Schrift (wie Anm. 48). S. 345.

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Orientalistische Gebrauchsgeschichten Ein orientalistisches Großereignis wie die eingangs genannte Hofinszenierung des Jahres 1821 in Berlin beispielsweise ließe sich mit diesem methodologischen Arzneischränkchen in Reichweite auf folgende Weise gebrauchsgeschichtlich perspektivieren: Zunächst einmal wäre der hier aktualisierte Orientalismus in Relation zu denjenigen Sujets zu stellen, die ihn hätten ersetzen können. Der indischpersische Orient des preußisch-höfischen Festspiels Lalla Rookh könnte etwa durch den Vergleich mit anderen Ausgangsstoffen höfischer Inszenierung der Zeit funktionale Kontur gewinnen – im Vergleich mit dem Mittelalter, wie es in dem 1829 zu Ehren Charlottes von Preußen alias Zarin Alexandra Feodorowna veranstalteten Ritterspiel Das Fest des Zaubers der weißen Rose51 realisiert wurde, oder mit der griechischen Mythologie wie in der Hofinszenierung Die Weihe des Eros Uranios anlässlich der Heirat des Prinzen Friedrich von Preußen mit der Prinzessin Wilhelmine Luise von Anhalt-Bernburg 1818.52 In eine Reihe mit diesen funktionsäquivalenten Sujets gestellt, träten diejenigen Aspekte des indo-persischen Orients hervor, die im frühen 19. Jahrhundert das Potential zur inszenatorischen Aufwertung der preußischen Monarchie besaßen – das Moment mythisch-herrschaftlicher Genealogie etwa oder der Aspekt repräsentativer orientalischer Hofhaltung in Verbindung mit einer poetisierten Lebenswelt. Ferner wäre die konkrete Topik des in Szene gesetzten Lalla RookhMorgenlands mit Blick auf den diskursgeschichtlichen Kontext zu analysieren und die Frage zu beantworten, welche politischen, wissenschaftlichen, ästhetischen oder religiösen Gemengelagen und Figurationen mit dem Morgenland um 1800 verbunden waren und in der Performanz des Hoffestes umgesetzt worden sind. Dabei könnte sich die Wahl gerade des indo-persischen Orients zum Schauplatz der preußischen Hofinszenierung als Effekt der sprach- und mythenver51

52

Vgl. dazu: Walter Bußmann. Zwischen Preußen und Deutschland. Friedrich Wilhelm IV. Eine Biographie. Berlin 1990. S. 86ff.; ausführlich: GerdH. Zuchold. Der Zauber der weißen Rose. Das letzte bedeutende Fest am preußischen Hofe. Tradition und Bedeutung. Berlin: Universitätsbibliothek der Freien Univ. Berlin, 2002. Claudia Sedlarz. „Die Hierodulen des Eros Uranios. Hirts Inszenierungen von Hoffesten“. Ders. Aloys Hirt. Archäologe, Historiker, Kunstkenner. Hannover: Wehrhahn, 2004. S. 191-216.

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gleichenden Forschungen im frühen 19. Jahrhundert erweisen, die das Germanische in direkter Verwandtschaftslinie auf den indischen Orient zurückführten, und die inszenatorische Verschränkung dieses Morgenlandes mit dem preußischen Hof würde somit als wirkmächtiger Konstitutionsakt nationaler Tradition sichtbar. Und schließlich könnten die medialen Eigengesetzlichkeiten in den Fokus der Untersuchung rücken, welche den Transformationsprozess eines orientalistischen Versepos in Festzüge und lebende Bilder einer Hofinszenierung, deren multimediale Verbreitung über Kupferstiche, Porzellanteller und -vasen und deren endliche Verwandlung in eine Oper53 bestimmt und damit auch dem jeweils realisierten Orient seinen spezifischen Möglichkeitsraum eröffnet haben. Dieser Möglichkeitsraum könnte sich abzeichnen als einer, dessen ästhetische Produktivität und identitätsstiftendes Vermögen an die Sichtbarkeit des Morgenlandes geknüpft sind und zugleich jede Form interkultureller Befremdung aufhebt. Dabei ist die gebrauchsgeschichtliche Zugangsweise nicht auf die Beschäftigung mit orientalistischen Einzelereignissen beschränkt, sondern lässt sich auch für die Auseinandersetzung mit höherrahmigen Figurationen wie etwa dem Aufstieg und Fall des chinesischen Orients zwischen dem 17. und dem Beginn des 19. Jahrhunderts fruchtbar machen. Die beginnende Faszination für alles Chinoise im literarischen und philosophischen Spätbarock, die zahllosen chinesischen Tee- und Drachenhäuser in den Parks des 18. Jahrhunderts samt der Prominenz chinesischer Sujets auf der deutschen Theater- und Opernbühne der Zeit und die Vielzahl anti-chinesischer Polemiken um 1800 werden in einer gebrauchsgeschichtlichen Betrachtungsweise lesbar als Effekte eines Prozesses, der in erster Linie durch medien- und wissensgeschichtliche Faktoren bedingt und bestimmt war durch die gesellschaftliche und weltanschauliche Verortung der orientalistischen Akteure: So lässt etwa die Dominanz des Visuellen in der ästhetischen Realisation des chinoisen Orientalismus in Bühnen- und Gartenarchitektur, in Malerei, Porzellan- und Tapetenkunst die funktions53

Nurmahal oder Das Rosenfest von Caschmir. Lyrisches Drama in zwei Abtheilungen mit Ballet nach dem Gedicht Lalla Rukh des Th. Moore bearbeitet von E. Herklots. Musik von Spontini. Berlin 1822. Vgl. dazu: Sieghart Döhring. „Spontinis Berliner Opern“. Studien zur Musikgeschichte Berlins im frühen 19. Jahrhundert. Hg. Carl Dahlhaus. Regensburg: Gustav Bosse, 1980 (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts. Bd. 56). S. 469-489.

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äquivalente Nachbarschaft der frühneuzeitlichen Chinoiserien zu der gleichzeitig prominenten Ägyptomanie erkennen54, die in analogen kulturellen Praxen und kommunikativen Zusammenhängen auftrat. Diese Funktionsäquivalenz kann wiederum die enge Verbindung beider Facetten des Orientalismus zu rationalistisch-universalistischen Welt- und Wissenschaftsmodellen sowie zu politischen Utopien absolutistischer Provenienz erkennbar machen, was es schließlich erlaubt, die romantische Sinophobie als anti-rationalistischen und absolutismus-kritischen Akt kultureller Kommunikation zu dekodieren.55 Ist der Blick einmal auf solche gebrauchsgeschichtlichen Zusammenhänge des Orientalismus scharf gestellt – und diese Zusammenhänge zeichnen sich recht schnell ab, sobald Fragen nach den Bedingungen und Möglichkeiten orientalistischer Bezugnahmen und Praktiken im Vordergrund stehen und die repräsentationslogische Paralyse durch heraufbeschworene ‚Orientbilder‘ aufgelöst ist –, dann wird es möglich, Regelhaftigkeiten in der Geschichte des Orientalismus auszumachen, die selbst nichts weniger als exotisch sind. Dann kann sich etwa zeigen, dass die Tendenz des ‚romantischen Orientalismus‘, den Orient zu poetisieren, die Lyrik zum orientalistischen Ereignisraum zu wählen und das Morgenland – im Unterschied zum visuellen Orientalismus der Frühen Neuzeit – zum Klingen zu bringen, im Mündlichkeitsparadigma um 180056 einen nicht minder konstitutiven Ausgangspunkt hat als in einer innerorientalistischen Verschiebung der Faszination von Ägypten und China hin zu den Indern, Persern und Hebräern57 oder in der Ausdifferenzierung einer philologischen Orientalistik. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, lassen sich Herders Konzept Vom Geist der Hebräischen Poesie, August von Platens deutsche Adaptationen der persischen Ghaselform, Friedrich Rü54

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Zur Geschichte und Systematik der Ägyptomanie vgl. James Stevens Curl: EGYPTOMANIA. The Egyption Revival, a Recurring Theme in the History of Taste. Manchester/New York: Manchester Univ. Press, 1994; Staehelin/ Jaeger. Aegypten-Bilder (wie Anm. 29). Vgl. dazu: Berger. China-Bild und China-Mode (wie Anm. 3); China und Europa (wie Anm. 3). Friedrich A. Kittler. Aufschreibesysteme 1800-1900. 3. vollst. überarb. Aufl. München: Fink, 1995. Zum innerorientalistischen Völkertausch sowie zur Entdeckung des Morgenlands durch die deutsche Lyrik vgl. Vf. Der andere Orientalismus (wie Anm. 1). S. 143-200.

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ckerts poetisierte Koranübersetzung und selbst Heinrich Heines Hebräische Melodien sowie Annette von Droste-Hülshoffs Klänge aus dem Orient als signifikante Realisationsformen eines spezifischen – medial, diskursiv und funktional bestimmten – Orientalismus lesen; als eigensinnige – also weder historisch determinierte noch erratische – Be- und Verarbeitungen des Morgenlandes. So wenig eine gebrauchsgeschichtliche Perspektive auf den deutschen Orientalismus mit einfachen Antworten auf schwierige Fragen locken und so wenig sie die Sehnsucht nach universalen Aussagen zu einer ‚europäischen‘ – und das meint in der Regel: einer transhistorischen und transnationalen – Orientrezeption stillen kann, so konkret ist ihr Erkenntnisversprechen: Mit ihrer Hilfe wird der deutsche Orientalismus als eminenter Bestandteil der deutschen Kulturgeschichte sichtbar, wodurch sich die Chance bietet, ihn jenseits fragloser polisch-korrekter Dogmatik und auch jenseits nicht minder fragloser Marginalisierung durch die philologische Forschung als ein Phänomen in den Blick zu nehmen, das erklärt werden will und erklärt werden kann. Als Ausgangspunkt einer erkenntnisorientierten wissenschaftlichen Auseinandersetzung scheinen das keine ungünstigen Voraussetzungen zu sein.

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Orientalisches bei Jean Paul 1. Vorspiel auf dem Divan „Ein Mann, der des Orients Breite, Höhen und Tiefen durchdrungen, findet daß kein deutscher Schriftsteller sich den östlichen Poeten und sonstigen Verfassern mehr als Jean Paul Richter genähert habe,“ so schreibt Goethe in seinem Abschnitt über „Vergleichung“, welcher (unter dem Obertitel „Besserem Verständniß“) zusammen mit einer ganzen Reihe anderer Paratexte den Divan-Gedichten beigefügt ist.1 Der Orient-Spezialist, den Goethe hier zitiert, ist Joseph von Hammer (1774-1856, später Hammer-Purgstall, Orientalist, Übersetzer und Diplomat). In dessen Geschichte der schönen Redekünste Persiens mit einer Blütenlese aus zweyhundert persischen Dichtern (Wien 1818), einer der wichtigen Quellen für den Divan-Dichter, hatte es geheißen: So haben wir Deutschen einen Jean Paul, dessen Muse sich aus dem Orient nach dem Occident verirrt, und um als Fremdlinginn unerkannt zu bleiben, die Larve des Witzes und der Laune vorgenommen zu haben scheint, dessen Phantasie deutscher Poesie wohl als Kronjuwele, aber deutscher Cultur und Bildung nicht als Gemeingut angehört.2 1

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Johann Wolfgang Goethe. West-Östlicher Divan. Studienausgabe. Hg. Michael Knaupp. Stuttgart: Reclam, 1999. Abschnitt „Vergleichung“. S. 350353, hier: S. 350. Goethes vergleichender Hinweis auf den ‚orientalischen‘ Zug des Jean Paulschen Œuvres fällt umso mehr ins Gewicht, als er zuvor (woran er selbst erinnert) „bey dem Urtheil über Schriftsteller alle Vergleichung abgelehnt“ hat (Ebd.). Joseph von Hammer. Geschichte der schönen Redekünste Persiens mit einer Blütenlese aus zweyhundert persischen Dichtern. Wien: Heubner und Volke, 1818. S. 27; zit. in: Goethe. West-Östlicher Divan (wie Anm. 1). S. 896 (Kommentar). Goethes anerkennendem Urteil zufolge zeugen die Werke Hammers „von einem verständigen, umschauenden, einsichtigen, unterrichteten, ausgebildeten und dabey wohlwollenden, frommen Sinne. Ein so begabter Geist blickt, nach eigentlichst orientalischer Weise, munter und kühn in seiner Welt umher, erschafft die seltsamsten Bezüge, verknüpft das Unverträgliche, jedoch dergestalt, daß ein geheimer ethischer

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Dass die „Umgebung eines Beduinen und unsers Autors“ (Jean Paul), wie Goethe betont, an sich wenig gemeinsam haben, provoziert besonders zur Frage nach der Grundlage des von Hammer angestellten Vergleichs. Goethe setzt zu einer Antwort an, indem er Jean Pauls Vokabular sichtet und eine Kollektion von Wort-Fundstücken aus dessen Werken zusammenträgt: Barrieren-Traktat, Extrablätter, Cardinäle, Nebenreceß, Billard, Bierkrüge, Reichsbänke, Sessionsstühle, Prinzipalcommissarius, Enthusiasmus, Zepter-Queue, Bruststücke, Eichhornbauer, Agioteur, Schmutzfink, Incognito, Kolloquia, kanonischer Billardsack, Gypsabdruck, Avancement, Hüttenjunge, Naturalisations-Acte, Pfingstprogram [sic], Maurerisch, Manual-Pantomime, Amputirt, Supranumerar, Bijouteriebude, Sabbaterweg u.s.f.3

Nicht etwa, dass es sich bei diesen verbalen Fundstücken um besonders ‚orientalisch‘ klingende Wörter, gar um Lehnwörter, oder um solche Ausdrücke handelte, die inhaltlich auf den Orient Bezug nähmen, nicht auch, dass Goethe sie (etwa wegen ihrer Komposita-Form oder wegen der von ihnen erzeugten Assoziationen) zum Anlass nähme, Jean Paul einen ‚orientalischen‘ Schreib- oder Denkstil zuzuschreiben. Er findet vielmehr ein reichlich überraschendes tertium comparationis: Jean Pauls Schriften, durch welche das Lesepublikum mit derlei ihm bisher ungeläufigen Wörtern nebst deren wenig oder gar nicht allgemein geläufigen Denotaten bekannt wird, sind für Goethe das deutsche Gegenstück zu den orientalischen Karawanen, welche fremdartige und heterogene Handels- und Gedankengüter in einem weitläufigen Territorium ausbreiten.4 Der Verdacht, Goethes Bemühung um den Nachvollzug von Hammers Bemerkung über Jean Paul und seine beteuerte Zuversicht, dem Dichterkollegen „die zugespro-

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Faden sich mitschlinge, wodurch das Ganze zu einer gewissen Einheit geleitet wird.“ (Goethe. West-Östlicher Divan (wie Anm. 1). „Vergleichung“. S. 350). Goethe. West-Östlicher Divan (wie Anm. 1). S. 351. „Wenn nun diese sämmtlichen Ausdrücke einem gebildeten deutschen Leser bekannt sind, oder durch das Conversations-Lexicon bekannt werden können, gerade wie den Orientalen die Außenwelt durch Handels- und Wallfahrts-Caravanen; so dürfen wir kühnlich einen ähnlichen Geist für berechtigt halten, dieselbe Verfahrungs-Art auf einer völlig verschiednen Unterlage walten zu lassen.“ (Goethe. West-Östlicher Divan (wie Anm. 1). S. 351).

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chene Orientalität genugsam bestätigt zu haben“5, habe einen eher spielerischen, um nicht zu sagen: ironischen Charakter, drängt sich auf. Durchaus plausibel klingt zwar die Zuordnung des Jean Paulschen Vokabulariums zu einem Zeitalter der heterogenen und teilweise bereits stark spezialisierten Wissensdiskurse. Aber der Vergleich eines Schriftstellers, der sich bei den Sondersprachen dieser Wissensdiskurse für seine eigenen Texte bedient und so auch das Publikum belletristischer Texte mit entsprechenden Ausdrücken vertraut macht6, hat mit einer Beduinenkarawane wenig Zwingendes. Angesichts der Tatsache, dass die Beduinen aus europäischer Sicht als Naturvolk gelten, Jean Pauls ‚Handelsware‘ aber gerade einer zivilisatorischen Spätzeit entstammt, hinkt dieser Vergleich sogar auf mindestens einem Bein merklich. Er beruht letztlich auf der Übertragung eines Konzepts – des Konzepts der Zersplitterung und Zerstreuung im Raum – von einer auf eine ganz andere Sphäre: nämlich von der karawanendurchzogenen Wüste als dem Lebensraum zerstreuter nomadischer Stämme auf die weitläufigen ‚Gelände‘ der modernen Zivilisation. Goethe verknüpft also höchst Unterschiedliches mittels eines sprachlich-metaphorischen Zwischenglieds und es darf angenommen werden, dass er um die Affinität eines solchen Verfahrens zu von Jean Paul theoretisch beschriebenen und schriftstellerisch praktizierten Verfahrensweisen wusste.7 Kann anlässlich jener so labilen metaphorischen Brücke zwischen zwei einander sehr entfernten Relaten (pointiert gesagt: zwischen Wüste und Zivilisation) von einer Beweiskraft der These über Jean Pauls ‚orientalischen‘ Stil auch nicht die Rede sein, so spricht andererseits gerade die Metaphorizität des vorgeblichen Arguments als solche für sich – und dies mag ein Indiz dafür sein, wo Goethe am ehesten Kompatibilitäten zwischen Jean Paulschem und ‚orientalischem‘ Stil annimmt. Vordergründig scheint Goethes Text 5 6

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Goethe. West-Östlicher Divan (wie Anm. 1). S. 352. Goethe konzediert „unserm so geschätzten als fruchtbaren Schriftsteller […], daß er, in späteren Tagen lebend, um in seiner Epoche geistreich zu seyn, auf einen, durch Kunst, Wissenschaft, Technik, Politik, Kriegs- und Friedensverkehr und Verderb so unendlich verklausulirten, zersplitterten Zustand mannigfaltigst anspielen müsse“ (Goethe. West-Östlicher Divan (wie Anm. 1). S. 351f.). Zum Thema Metaphorik vgl. Jean Paul. „Vorschule der Ästhetik“. Werke. Abt. I. Bd. 5. Hg. Norbert Miller. 4. Aufl. München: Hanser, 1980. S. 7514, hier: IX. Programm. § 50. S. 184-189.

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dem doppelten Bedürfnis zu entspringen, (a) Hammers Bemerkung über Jean Paul als ‚verirrten‘ Orientalen zu plausibilisieren und aus diesem Anlass zudem (b) nachdrücklich Anerkennendes über den seinerzeit in den Xenien als „Chinese in Rom“ titulierten Jean Paul zu sagen. Schon der Versuch, Hammers Diktum zu bekräftigen, wirkt nun aber eher halbherzig – denn die Metaphernbrücke ist ja labil, und zudem lässt sich Goethe im Folgenden dann auch mindestens ebenso weitläufig über Unterschiede zwischen dem „poetischen und prosaischen Verfahren“, damit aber über einen entscheidenden Unterschied zwischen orientalischer Lyrik und Jean Paulscher Romankunst aus.8 Auch das Lob Jean Pauls klingt reichlich ambig; es besagt bei genauerer Betrachtung, dass man einem Autor, von dem man sich sympathetisch berührt fühlt, alles mögliche nachsieht, selbst die Manier, dem Leser dauernde Sprachrätsel aufzugeben und Heterogenstes zu verklausulierten Gebilden zu fügen.9 Und damit wäre dann wiederum der Blick auf eine für Jean Paul in Goethes (und nicht nur in Goethes) 8

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Wenn „Poeten“, also Verfasser von Texten in gebundener Sprache, durch Metaphern oder Vergleiche verrätselte Texte verfassen, so verzeiht der Leser noch „die kühnste Metapher […] wegen eines unerwarteten Reims“ und freut sich über die „Besonnenheit des Dichters, die er, in einer so nothgedrungenen Stellung, behauptet“ (Goethe. West-Östlicher Divan (wie Anm. 1). S. 352); die Versform stiftet also eine zusätzliche und kompensatorische Kohärenz, wo inhaltlich Disparates verbunden wird. Anders im Fall der Prosa, wo die sprachliche Form keine zusätzliche Synthese im Feld der disparaten Dinge erzeigt: „Der Prosaist […] hat die Ellebogen gänzlich frey und ist für jede Verwegenheit verantwortlich, die er sich erlaubt; alles was den Geschmack verletzen könnte kommt auf seine Rechnung.“ (Ebd.). „Ist es ein Mann, wie Jean Paul, als Talent von Werth, als Mensch von Würde, so befreundet sich der angezogene Leser sogleich [die Rede war zuvor von stilistischer „Verwegenheit“, von „Geschmacksverletzungen“, von Vermischungen des „Schicklichen“ mit dem „Unschicklichen“!]; alles ist erlaubt und willkommen. Man fühlt sich in der Nähe des wohldenkenden Mannes behaglich, sein Gefühl theilt sich uns mit. Unsere Einbildungskraft erregt er, schmeichelt unseren Schwächen und festiget unsere Stärken. Man übt seinen eigenen Witz, indem man die wunderlich aufgegebenen Räthsel zu lösen sucht und freut sich in und hinter einer buntverschränkten Welt, wie hinter einer andern Charade, Unterhaltung, Erregung, Rührung, ja Erbauung zu finden.“ (Goethe. West-Östlicher Divan (wie Anm. 1). S. 352f.).

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Augen charakteristische Verfahrensweise gelenkt – auf eine indirekte und betont umständliche Weise, die als solche Beachtung verdient: Wenn Goethe – in Abweichung von seiner buchstäblichen Argumentation – Jean Pauls bilderfreudigen Stil und sein zu Neologismen tendierendes Vokabularium als das betrachtet, was bei einem ansonsten so stark der westlichen Zivilisation verbundenen Autor als ‚orientalisch‘ gewürdigt werden könnte, dann kleidet er seine Bemerkung zu Jean Paul hier selbst ostentativ in ein metaphorisches und verklausuliertes Gewand.10 Der Leser ist eingeladen zur „Vergleichung“.

2. Imaginäre Topographien und Topographien des Imaginären Die Welt in der Gehirnkammer Setzt man sich mit der Frage nach Jean Pauls möglichen Beziehungen zum Orient auseinander, so sollte man sich vor Augen halten, dass dessen poetologischer Topographie zufolge die eigentliche Welt im Innern des imaginierenden, insbesondere des träumenden und des schreibenden Ichs liegt. „Ich finde“, so schreibt der Erzähler-Biograph namens Jean Paul, im Hesperus an seinen Korrespondenten Knef, „die beste Welt bloß im Mikrokosmus ansässig, und mein Arkadien langt nicht über die vier Gehirnkammern hinaus […]“.11 Das ‚Unbewusste‘ gilt ihm als das „wahre innere Afrika“.12 In seinem kurzen 10

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Dass es ansonsten mit dem Versuch, Hammers Diktum zu plausibilisieren, nicht so ernst ist, deutet neben dem relativierenden Einleitungsabschnitt (der ja die zuvor abgelehnte „Vergleichung“ zwischen Schriftstellern in Erinnerung ruft) auch der letzte Abschnitt an, der in seiner möglichen Selbstbezüglichkeit schließlich sogar doppelbödig klingt: „Dieß ist ohngefähr was wir vorzubringen wußten, um jene Vergleichung zu rechtfertigen; Uebereinstimmung und Differenz trachteten wir so kurz als möglich auszudrücken; ein solcher Text könnte zu einer gränzenlosen Auslegung verführen.“ (Goethe. West-Östlicher Divan (wie Anm. 1). S. 353). Welcher Text gemeint ist, belässt der Satz in der Schwebe: Der Text Hammers? Ein Text im Stil Jean Pauls? Jean Paul. „Hesperus“. Werke. Abt. I. Bd. 1. Hg. Norbert Miller. München: Hanser, 1960. S. 471-1236, hier: S. 509. „Wir machen aber von dem Länderreichtum des Ich viel zu kleine oder enge Messungen, wenn wir das ungeheure Reich des Unbewußten, dieses

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Roman über den Schulmeister Maria Wutz schildert Jean Paul einen Helden, der sich aus Armut alle seine Bücher selbst schreibt und dafür von den unerschwinglichen Büchern der anderen Autoren nur die Titel entlehnt. Wenn der zeitlebens nie über seinen Geburtsort Hinausgekommene dabei auch Beschreibungen entlegener Länder und Kontinente verfasst, so glaubt er sich dabei durchaus im Recht. Zum einen kommt es so zu keinen lästigen Behinderungen der Phantasie durch einengendes Faktenwissen.13 Zum anderen gibt es für Wutz gar keinen Unterschied zwischen äußerer und innerer Wahrnehmung. Jede IchMonade trage – so Wutz auf die Leibniz’sche Lehre von der harmonischen Beziehung zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos – die ganze Welt in sich.14 Wutz ist ein Sonderling – aber seine Marotten verweisen auf Jean Pauls Imaginationslehre, in deren Horizont die Bücher und die Schreibblätter die Orte sind, wo ‚Welt‘ entsteht und sich entfaltet. Er mache sich „aus jedem Blatt eine Welt“, so bekennt der Erzähler im „Achten Reise-Anzeiger“ der Palingenesien. „Und

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wahre innere Afrika, auslassen. Von der weiten vollen Weltkugel des Gedächtnisses drehen sich dem Geiste in jeder Sekunde immer nur einige erleuchtete Bergspitzen vor und die ganze übrige Welt bleibt in ihrem Schatten liegen; […].“ (Jean Paul. „Selina“. Werke. Abt. I. Bd. 6. Hg. Norbert Miller. München: Hanser, 1963. S. 1105-1236, hier: S. 1182). „[…] da unser Enzyklopädist nie das innere Afrika oder nur einen spanischen Maulesel-Stall betreten, oder die Einwohner von beiden gesprochen hatte: so hatt’ er desto mehr Zeit und Fähigkeit, von beiden und allen Ländern reichhaltige Reisebeschreibungen zu liefern […] erstlich deswegen, weil auch andre Reisejournalisten häufig ihre Beschreibungen ohne die Reise machen […].“ (Jean Paul. „Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal“. „Die Unsichtbare Loge.“ Werke. Abt. I. Bd. 1. Hg. Norbert Miller. München: Hanser, 1960. S. 422-462, hier: S. 427). Reisebeschreibungen seien, so heißt es, „überhaupt unmöglich auf eine andre Weise zu machen“ als in der Phantasie, „angesehen noch kein Reisebeschreiber wirklich vor oder in dem Lande stand, das er silhouettierte: denn so viel hat auch der Dümmste noch aus Leibnizens vorherbestimmter Harmonie im Kopfe, daß die Seele […] – insgesamt seßhaft auf dem Isolierschemel der versteinerten Zirbeldrüse – ja nichts anders von Südindien oder Europa beschreiben können, als was jede sich davon selber erdenkt und was sie, beim gänzlichen Mangel äußerer Eindrücke, aus ihren fünf Kanker-Spinnwarzen vorspinnt und abzwirnt. Wutz zerrete sein Reisejournal auch aus niemand anders als aus sich.“ (Jean Paul. Maria Wutz (wie Anm. 13). S. 427).

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die Karten meiner schönsten idealischen Welt sind für andere so leer und ihre Landkarten der wirklichen so entgegengesetzt wie Seekarten, auf denen gerade das Land durch leere Räume angedeutet und nur Meerestiefen und Ströme und Ankergründe abgezeichnet sind.“15 Imagination und Erfahrung sind unauflöslich verwoben. Die „natürliche Magie der Einbildungskraft“ ist überall wirksam. Welche OrientKompetenz und welches Interesse am Orient lassen sich von einem Autor erwarten, für den sich die entscheidenden Erlebnisse auch des kulturell Fremden im eigenen Kopf abspielen? Nun bezeichnet der Name ‚Orient‘ samt seinem deutschen Äquivalent ‚Morgenland‘ eine unbestimmte, aber erhebliche Zahl von Ländern und Kulturen. Neben dem fernen Orient, zu dem auch China und Indien gerechnet wurden, ist der vordere Orient für das MorgenlandBild der Goethezeit bedeutsam, und neben der islamischen Welt, neben der Geschichte und der Kultur von Arabern, Persern und Türken, wird auch die Welt des südlichen und südöstlichen Mittelmeerraums vom Begriff des ‚Orients‘ umspannt. Neben den auf Erfahrungen und Quellenstudien beruhenden Kenntnissen weniger Spezialisten über die reale Geschichte der vorderorientalischen und fernöstlichen Reiche steht – weiter verbreitet – eine komplexe Vorstellungswelt märchenhaft-phantastischer Prägung. Gallands Übersetzung der Märchen aus 1001 Nacht, erschienen im frühen 18. Jahrhundert, hatte hierauf maßgeblichen Einfluss genommen. Wichtige – auch für Jean Paul bedeutsame – Vermittler von Orient-Vorstellungen sind für die Jahrzehnte um 1800 Wieland und Herder. Der Name Wielands steht dabei eher für den märchenhaften Orient, das ‚Dschinnistan‘ der Phantasie, der Herders eher für das philologisch-ästhetisch motivierte Interesse am Außereuropäischen und seinen verschiedenen Kulturen. Jean Paul, so soll im Folgenden gezeigt werden, beteiligt sich am Orient-Diskurs seiner Zeit in dem Sinn, dass er über diesen reflektiert, statt ihn einfach fortzuschreiben. Seine Verweise auf ‚Orientalisches‘ sind bewusst als solche arrangierte Anspielungen auf Topoi, Bilder, Denkweisen und kollektive Imaginationen – insofern ist sein Orientdiskurs fast immer ein Metadiskurs. In seinen frühen Schriften stellt Friedrich Richter, wie unser Autor da noch heißt, gelegentlich Überlegungen zum Vergleich der ver15

Jean Paul. „Palingenesien“. Werke. Abt. I. Bd. 4. Hg. Norbert Miller. München: Hanser, 1962. S. 717-923, hier: Achter Reise-Anzeiger. S. 891.

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schiedenen Religionen an, wie es einem prägenden Interesse seiner Zeit entspricht und für einen Studenten der Theologie besonders nahe liegt. Ungewöhnliches hat Richter zu diesem Thema nicht zu sagen. In der Vielzahl existierender Religionen sieht er die kulturelle und geistige Vielfalt der verschiedenen Völker gespiegelt, die ihrerseits unter anderem von historischen, von klimatischen und von physiologischen Bedingungen abhängig ist.16 Die Forderung nach einer einheitlichen Religion für alle kann dem nicht gerecht werden. Urteile über Religionen und Kulte sollten die Rahmenbedingungen miteinbeziehen, unter denen sie praktiziert werden.17 Insbesondere weichen die Phantasien der Angehörigen verschiedener Religionen hinsichtlich des Paradieses voneinander ab – je nach kulturspezifischen Glücksvorstellungen.18 Der junge Autor stellt seine Überlegungen Über die 16

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Vgl. Jean Paul. „Über die Religionen in der Welt“ (Übungen im Denken 1780). Werke. Abt. II. Bd. 1. Hg. Norbert Miller/Wilhelm Schmidt-Biggemann. München: Hanser, 1974. S. 62-69, hier: S. 64f.: „Die Religion ist der Weg, den die Vorsehung geht, den Menschen zu vervollkommnen, seinen Verstand aufzuklären und sein Herz zu bessern. Sie geht mit iedem Individuum einen andern; eben deswegen ist die Menge der Religionen so gros. Tausend verschiedne Völker trägt die Erde – und tausend verschiedne Religionen giebt’s. Jedes kleine Volk in Nordamerika hat fast eine andre Religion; und eigentlich betrachtet hat jedes Individuum seine eigne, individuelle Religion. / Sie ändert sich mit dem Klima ab. Der Morgenländer hat nicht die Religion, die der Abendländer verert – wer an dem Nordpol wont, glaubt nicht eben das, was der behauptet, der am Südpol ist. Es ist war, man kan ein Christ sein in Lapland, und einer in Indien. Aber man ist nicht der Christ im eisigten Lapland, der man im brennenden Indien ist. Die verschiedne Wärm’ oder Kälte des Klima’s, seine Feuchtheit oder Trokkenheit haben verschiednen Einflus auf den Menschen, der dies Klima bewont – der Blutumlauf ist entweder geschwinder oder langsamer – die Gefässe sind mer oder weniger gespant – kurz der Körper ist in iedem Klima anders, die Sel’ ist also auch verschieden – die Folg’ ihrer Ideen, die Stärke der Neigungen u.s.w. ist nicht in iedem Klima dieselbe. Sol die Religion dieselbe sein […]?“ „Wo ich eine Religion vereren sehe, die ich für falsch erkenne, so denk’ ich: eben diese Religion ist die beste zu dieser Zeit, an diesem Ort, bei diesen Umständen. Eine andre dahin versetzt, würde nicht diese Wirkung, diese dem Ganzen heilsame Wirkung tun.“ (Ebd., S. 66). Ebd., S. 1076-1082. Hier: S. 1081: „Der Satz von einem Leben nach dem Tode ist bey aller seiner Verunstaltung eben so nützlich wie der vom Daseyn Gottes. Jedes Volk bildet sich seinen Himmel nach dem Theil der

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Religionen der Welt übrigens unter ein Lessingsches Motto.19 Weisheit, so die in allen Schaffensphasen immer wieder artikulierte Überzeugung Jean Pauls, ist nicht an die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kulturkreis gebunden. Ein nichtchristlicher Weiser wird in einem gleichnamigen Text der frühen Phase zum Anlass der Reflexion. Das späte Freiheits-Büchlein enthält noch einen Abschnitt zum Thema ‚Philosophieren über die Religion‘. Hier heißt es u.a. im Sinne der Lessingschen Version der Ringparabel: Religion ist etwas anders als Religionsmeinungen; es gibt nur eine Religion, aber unzählige Religions-Meinungen. […] / […] / Der Kern der Religion, ihr geistiges Herzblut und Gehirnmark, welches fortpulsiert unter den zufälligen Herzbeuteln und Gehirnhäuten aller Landes-Regionen, ist von allen Bestreitungen der letztern unabhängig und lebt bloß von der Sitte und vom Herzen.20

Ein wichtiges Stück ‚Orient‘, das auch etwa die Vorstellungen Herders, Hamanns und Goethes von ‚Orientalischem‘ stark mitgeprägt hat, ist die Welt des Alten und des Neuen Testaments. Diese ist immerhin ein Stück ‚Orient‘, mit dem sich Jean Paul intensiv und professionell auseinandergesetzt hat; schließlich hat er Theologie studiert und sein theologisches Wissen in seine Texte immer wieder einfließen lassen – besonders gern das abseitige.

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Erde, den es bewohnt; […]. Jedes muß also im Himmel eine andre Glückseligkeit suchen, weil jedes eine andre auf der Erde kennt […]. Der alte deutsche schränkte seine Wünsche blos auf einen Himmel ein, der seinen Durst mit vortreflichem Biere stillte, das er aus den Händen schöner Mädchen bekam, und aus den Hirnschädeln seiner Feinde trank. […] Wenn ein Sokrates für einen Himmel stirbt, wo er Tugend und Weisheit erwartet; so stirbt ein Muhammedaner für das Paradies, das ihm die größten Wollüste der Sinne verspricht, und der Negersklave für das Land, das ihm seine Bekannten und seine alten Freuden wieder giebt.“ Vgl. den Aufsatz: Jean Paul. „Über die Religionen in der Welt“ (wie Anm. 18); dieser steht unter dem Motto: „‚Gott hätte bey allem seine Hand im Spiele: Nur bey unsern Irrthümern nicht?‘ Leßing“ (Ebd., S. 1076). Jean Paul. „Jean Pauls Freiheits-Büchlein; oder dessen verbotene Zuneigung an den regierenden Herzog August von Sachsen-Gotha; dessen Briefwechsel mit ihm; – und die Abhandlung über die Pressefreiheit“. Werke. Abt. II. Bd. 2. Hg. Norbert Miller/Wilhelm Schmidt-Biggemann. München: Hanser, 1976. S. 808-875. Sechster Abschnitt. Philosophieren über die Religion. S. 848-850, hier: S. 848f.

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Wo ist aber Jean Pauls spezifischer Ort innerhalb des breiten Spektrums an Orient-Bildern und Orient-Konzepten, das von einem wissenschaftlich motivierten, durch Historismus und Kulturalismus geprägten breitgefächerten Trend zur Erforschung orientalischer Quellen, Sprachen und Lebensformen bis hin zur nicht minder breit gefächerten Produktion orientalisierender Phantasien, zur Erfindung morgenländischer Paradiese, zur vor allem literarischen Ausformulierung höchst märchenhafter Orientvorstellungen reichte? Jean Paul, der ob seines Stils von seinen zeitgenössischen wie auch von späteren Lesern durchaus als ‚arabesk‘ wahrgenommen werden mochte, hat keinen seiner Texte im Orient spielen lassen. Auch ‚orientalische‘ Charaktere trifft man in seinen Werken – eine später noch vorzustellende Figur ausgenommen – nicht, es sei denn, man rechne zum ‚Orientalischen‘ eine Handvoll Juden wie den Hauswirt Mendel, der die Hinterlassenschaften seines verstorbenen Mieters als Auswahl aus des Teufels Papieren drucken lässt – Figuren, deren Äußerungen ihre Vertrautheit mit dem Alten Testament sowie mit der Welt des jüdischen Volksglaubens belegen – oder auch Gestalten wie den ‚Ledermenschen‘ Kain im fragmentarisch gebliebenen Komet-Roman, die offenbar intertextuelle Abkömmlinge von Figuren des Alten Testaments sind. Wie aus dem biblischen Imaginationsraum herbeizitiert wirken auch Jean Pauls Engelsgestalten – aber etwas ‚Orientalisches‘ im spezifischeren Sinn haftet ihnen dabei nicht an. So vielfältig die gelehrten Anspielungen Jean Pauls auf Altes und Neues Testament, auf deren theologische Deutungsgeschichte, auf theologisch nutzbar gemachtes Wissen über die biblische Welt, auf Propheten und andere biblische Gestalten sowie auf den jüdischen Dämonenglauben sind – verglichen mit Hoffmann und Hauff entwickelt er keine spezifischen Orient-Phantasien. Und so wichtig Jean Paul die Auswertung theologischer, philologischer und anderer Quellen für seine Einfälle und Anspielungen ist, so wenig lässt sich sein Interesse an Informationen auch aus dem Orient doch mit Goethes einlässlichen Studien der arabischen und persischen Kultur analogisieren. Jean Pauls Phantasie ist nicht ‚exotistisch‘ in dem Sinne, in dem seit dem späteren 18. Jahrhundert Vorstellungen des ‚Exotischen‘ entwickelt und ausdifferenziert werden.21 Und Jean Pauls gelegentliche, wenn auch insgesamt 21

Vgl. dazu: Rolf Trauzettel. „Exotismus als intellektuelle Haltung“. Mein Bild in deinem Auge. Exotismus und Moderne: Deutschland – China im

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zahlreiche Anspielungen auf Gestalten, Dokumente, Gebräuche, Orte und Objekte aus den ‚morgenländischen‘ Kulturkreisen entziehen sich der Etikettierung als ‚orientalistisch‘ im Sinne der Kritik Edward Saids am westlichen „Orientalismus“ schon deshalb, weil sie nicht auf ein ihnen zugrundeliegendes diskursiv erzeugtes Weltbild schließen lassen.22 Bayreuth und sein Lustschloss ‚Fantaisie‘ sind aus der Perspektive von Figuren, die in ‚Kuhschnappel‘ wohnen, schon fremd und phantastisch genug; wer in einer dörflichen Welt namens ‚Elterlein‘ groß geworden ist, fühlt sich von Residenzstädten, die etwa ‚Haßlau‘ heißen, hinreichend beeindruckt. Dass die Differenzen zwischen verschiedenen Ländern, Kulturen und Nationen nicht zu Jean Pauls zentralen Themen gehören (nur sehr gelegentlich, etwa anlässlich einer Besprechung von Madame de Staëls De l’Allemagne, äußert er sich über die Nationalcharaktere von Deutschen und Franzosen) liegt insbesondere an der zentralen Bedeutung, die eine andere Dichotomie als die des kulturell Vertrauten und des kulturell Fremden in seiner Gedankenwelt besitzt: die zwischen Endlichem und Unendlichem, Sinnlich-Materiellem und Intelligiblem. Angesichts des Abgrundes, der die Körper- von der Geisterwelt scheidet, sind Fragen der Kostümierung, des ‚settings‘, zweitrangig. Der Name „Ostindien“ kann allerdings als Chiffre für ein fernes, fremdes Reich gelten; dann aber geht es, wie Jean Paul betont, nicht um ein geographisch-konkretes Land, sondern um eine imaginierte Welt, ein Land der Sehnsucht, der Träume oder der verklärten Erinnerungen – und so genüsslich man sich in dieses „Ostindien“ der Phantasie versenkt, so groß ist dabei doch auch die Gefahr der Überspanntheit.23

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20. Jahrhundert. Hg. Wolfgang Kubin. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1995. S. 3f. Vgl. Edward Said. Orientalismus. Übers. Liliane Weissberg. Frankfurt a.M. u.a.: Ullstein, 1981. (Orig.: Orientalism. London u.a.: Routledge & Paul, 1978). Jean Paul. Ideen-Gewimmel: Texte & Aufzeichnungen aus dem unveröffentlichten Nachlaß. Hg. Thomas Wirtz/Kurt Wölfel. Frankfurt a.M.: Eichborn, 1996. S. 272. Nr. 1633: „Ostindien in der blütejungen Phantasie. // O das ist das Land, wo wir an Winterabenden oder auf einem hohen Berg, wo uns die ausgedehnteste Gegenwart nicht genug thut, die Rabatten des Paradieses hinsezen. ‚Sanfte weisgekleidete, weise Menschen wandeln da – hohe Blumen werden um sie bewegt und Schmetterlinge decken sie mit breiten Flügen [!] zu – ach die Sonne steht so unbewölkt, das Blau so ewig

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Die von Herder und vielen seiner Zeitgenossen artikulierte Überzeugung vom jeweils spezifischen Charakter verschiedener Völker zu verschiedenen Zeiten teilt Jean Paul ausdrücklich – ebenso wie die Auffassung, hier könne es keine absoluten und ahistorischen ästhetischen oder kulturellen Normierungen geben. In der Vorschule wie in anderen Schriften spricht er vergleichend von den „Griechen“, den „Römern“ und den „Neuern“, und im IV. Programm der Vorschule (§ 16) heißt es insbesondere, man schildere mit einem Volk „zugleich dessen Poesie“. Nationalcharakter und Nationalpoesie bedingen und prägen einander also wechselseitig, und schon differente klimatische Verhältnisse wirken sich auf den „Normann“ und den „Araber“ unterschiedlich aus.24 Autoren, die orientalische und andere Kulissen schieben, um ihre Leser zu beeindrucken, treffen beim Erzähler „Jean Paul“ auf milde Ironie – etwa jene „gute[n] Romanenschreiber“, die „aus Dinten- und Druckerschwärze“ entsetzliche Tyrannen kreieren und sie „entweder in Italien oder im Orient“ auf erdachte Throne setzen.25 Als aufgeblasener Dilettant karikiert wird in der Unsichtbaren Loge der mit dem Erzähler selbst rivalisierende Hofmensch Oefel, der an einem Roman arbeitet, welcher „eine kurze Enzyklopädie für Erbprinzen und Kronhofmeister“ werden soll und den Titel „Der Großsultan“ trägt.26 – Kritisch, wenn auch durchaus nachsichtig, würdigt der Verfasser der Vorschule die Neigung vor allem junger Autoren, sich den Reizen des Unbestimmten hinzugeben und die Schauplätze ihrer Erfindungen „in fremde Länder und Zeiten ohne Individualität, nach Griechenland und Morgenland“ zu verlagern; er selbst plädiert demgegenüber in der Vorschule für eine Rückbindung der poetischen Phantasie an sinnliche Erfahrungen, vor allem an die eigene Zeit.27 Und wenn am Ende

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hel – kein Hunger kein Frost komt zu den Menschen, Früchte und Sonne sind überal – und so liegt immer ein Jünglingsland um den Frohen – er lebt von Liebe zu Liebe, von Frühling zu Frühling –‘“ (aus dem Heft „Dichtungen 2“. 1797). Jean Paul. „Vorschule der Ästhetik“ (wie Anm. 7). IV. Programm. § 16. S. 68. Jean Paul. „Hesperus“ (wie Anm. 11). Vierte Vorrede. S. 1095. Jean Paul. „Die unsichtbare Loge“. Werke. Abt. I. Bd. 1. Hg. Norbert Miller. München: Hanser, 1960. S. 7-469, hier: 19. Sektor. S. 170. Vgl. Jean Paul. „Vorschule der Ästhetik“ (wie Anm. 7). I. Programm. § 2. S. 33.

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des Jubelsenior in einer Vision von einem „persischen Tal“ die Rede ist, „glühend von Nelken und Lilien und Narzissen und rauchend von hängenden Blumen-Gärten auf Pfirsichstämmen“28, so handelt es sich hier nur um ein Bild in einer ganzen Sequenz von Bildern, die in schneller Folge am Erzähler (und am Leser) vorbeifliegen, um das vielfältige Geschehen auf dem schnelllebigen und der Zeitlichkeit verfallenen Erdkreis zu symbolisieren, die Eindruckskraft landschaftlicher und historischer Prospekte, die flüchtig und eilig am Betrachter vorbeiziehen, wo immer dieser stehe. Ein Orient aus Wissensbrocken Da Jean Paul, der auf die tragende Bedeutung seiner Exzerpt- und Ideensammlungen für die eigenen poetischen Werke selbst wiederholt hingewiesen und eine abundante Fülle von Texten verschiedenster Wissensgebiete ausgewertet hat, um als Erzähler wie als Ästhetiker, Essayist und Lehrer der Pädagogik auf unterschiedlichste Ideen, Tatsachen oder Theorien heterogenster Provenienz anzuspielen, findet sich auch ein nicht unerheblicher Bestand an ‚orientalischen‘ Anspielungen in seinen Werken – allerdings verstreut wie Meteoriten, nicht einmal wie Mosaiksteine, denn aus einem Gesamtbild des ‚Orients‘ oder ‚Morgenlandes‘ sind sie weder hervorgegangen noch für ein solches bestimmt.29 28

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Jean Paul. „Der Jubelsenior“. Werke. Abt. I. Bd. 4. Hg. Norbert Miller. München: Hanser, 1962. S. 409-559, hier: S. 558. In einem pädagogisch-didaktischen „Extra-Blatt“ in der Unsichtbaren Loge, in dem es um den Stundenplan und vor allem um das Sprachenstudium von Zöglingen geht, berichtet der Erzähler, der zugleich Hofmeister seines Protagonisten Gustav ist, von einer Art Memory-Spiel mit Wissenselementen: „Ich gewöhnte meinen Gustav an, die Ähnlichkeiten aus entlegnen Wissenschaften anzuhören, zu verstehen und dadurch selber zu erfinden. Z.B. alles Große oder Wichtige bewegt sich langsam: also gehen gar nicht die orientalischen Fürsten – der Dalai Lama – die Sonne – der Seekrabben; […]. – Oder: verhehlt wurde der Name Jehovas – der orientalischen Fürsten – Roms und dessen Schutzgottes – die sibyllinischen Bücher – die erste altchristliche Bibel – die katholische – der Vedam etc. Es ist unbeschreiblich, welche Gelenkigkeit aller Ideen dadurch in die Kinderköpfe kommt. Freilich müssen die Kenntnisse schon vorher da sein, die man mischen will.“ (Jean Paul. „Die unsichtbare Loge“ (wie Anm. 26). 16. Sektor. S. 135). Die Passage hat zweifellos selbstbezüglichen Charakter.

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Wollte man Jean Pauls zur Vergleichungs- und Erfindungskunst eingesetzte ‚orientalische‘ Sammlung von Wissensbruchstücken grob sortieren, so könnte man drei Gruppen von einschlägigen Stellen bilden: (1) Bekundungen gelehrten Wissens aus Interesse am Entlegenen, (2) humoristische Vergleiche möglichst disparater Dinge sowie (3) Anlässe zur Selbstbeschreibung des Erzählers in seiner Eigenschaft als ‚Regisseur‘ seines Materials sowie seiner Leser. Eine klare Grenzziehung ist jedoch nicht möglich. Eine kleine Kollektion aus Lese-Früchten mag Jean Pauls papiernen Orient illustrieren: (1) Bekundungen gelehrten Wissens spiegeln insbesondere Jean Pauls Interesse an Kuriosa. Wie der Leser erfährt, glauben angeblich „alle orientalische Dynasten und Hospodars […], alles, worüber ihr Zepter reicht, besonders Weiber, sei ihnen verfallen […]“.30 Persische Könige müssen ganze Provinzen einsetzen, um den Gürtel ihrer Gattinnen zu bezahlen, und weitere für deren Halsschmuck. Schnell ist die Justiz „im despotischen Orient“.31 Türkische Minister legen, wenn sie ihren Sultan verlassen „die Hand an den Kopf […], um zu fühlen, ob er noch auf dem Halse sitze“.32 Der Feldherr Kambyses siegte bei der Eroberung Pelusiums gegen die ägyptischen Gegner, „weil er unter seine Soldaten heilige Tiere, Katzen u.s.w., mengte, auf welche die ägyptische Garnison nicht zu schießen wagte und an die sie statt der Pfeile Gebete abschickte“.33 Im „Morgenland“ ehrt man „Verrückte als Heilige“ und hält das, was sie sagen, „für eingegeben“ – ein Umstand, den Jean Paul im Zusammenhang mit seiner Kritik an der zeitgenössischen Literatur und ihrem „poetischen Tollkirschenfest“ in Erinnerung ruft.34 Bei den Arabern hat das Schwert „dreihundert Namen“.35 Einem „marokkanischen Gesandten am Wiener Hof“ gefiel das Stimmen der Instrumente besser als die Oper, die man gab – und für den Erzähler des Siebenkäs verweist dies gleichnishaft auf das gegenwärtige Zeitalter, „wo das Orchester die Instrumente der Weltge30

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Jean Paul. „Das Kampaner Tal“. Werke. Abt. I. Bd. 4. Hg. Norbert Miller. München: Hanser, 1962. S. 561-716, hier: S. 669. Jean Paul. „Palingenesien“ (wie Anm. 15). Achter Reise-Anzeiger. S. 895. Jean Paul. „Der Jubelsenior“ (wie Anm. 28). S. 449. Jean Paul. „Die unsichtbare Loge“ (wie Anm. 26). 1. Sektor. S. 45. Anm. 1. Ebd. Vorrede zur zweiten Auflage. S. 19. Jean Paul. „Palingenesien“ (wie Anm. 15). Fünfter Reise-Anzeiger. S. 833.

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schichte erst zu einem künftigen Konzerte stimmt, wo mithin noch alles unerhört ineinander schnarrt und pfeift […]“.36 Der „rohe Araber“ fordert Reisenden, die er ausraubt, nicht nur ihr Geld, sondern auch noch „einen Schenkungsbrief“ ab, um sich seiner Beute zu versichern.37 Die Deutschen stammen von den Persern ab, „diesen größten Freunden sowohl der Reinheit als der Hunde“; daran erinnert der Fibel-Erzähler, der zugleich eine Parallele zwischen seinem Hund Alert und den prophetischen Wappentieren der Propheten Bileam und Muhammed zieht, von denen „jeder einen Esel hat“.38 Im XV. VorschulProgramm, „Fragment über die deutsche Sprache“ wird darauf hingewiesen (und rigiden Sprachpuristen, die den Zustrom von Fremdwörtern verhindern wollen, entgegengehalten), dass die Benutzer der deutschen Sprache noch einiges „von der griechischen Sprache – und dann von der persischen noch haben und fortsprechen“.39 Die deutsche Sprache, so heißt es hier in leicht ironischem Anschluss an mittlerweile obsolete Sprachursprungstheorien auch, sei „(wie jede) nur eine verrenkte hebräische“.40 Gelegentlich liest man auch Phantastisches über einen märchenhaften Orient – aber nur gelegentlich: „Nach Chardin schmilzt der Geierfalke in Persien mit seinem auf den Schnee gebauten Horst […]“.41 In Ost-Indien lassen sich Vampire auf Schlafenden nieder, deren Stirn nicht bedeckt ist, und lecken sie blutig.42 36

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Jean Paul. „Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs“. Werke. Abt. 1, Bd. 2. Hg. Norbert Miller. 3. neubearb. Aufl. München: Hanser, 1971. S. 7-576, hier: S. 24. Jean Paul. „Titan“. Werke. Abt. I. Bd. 3. Hg. Norbert Miller. München: Hanser, 1961. S. 7-830, hier: S. 60. Jean Paul. „Leben Fibels, des Verfassers der Bienrodischen Fibel“. Werke. Abt. I. Bd. 6. Hg. Norbert Miller. München: Hanser, 1963. S. 365-562, hier: S. 544. Jean Paul. „Vorschule der Ästhetik“ (wie Anm. 7). XV. Programm. § 84, S. 312. Ebd., S. 313. Jean Paul. „Palingenesien“ (wie Anm. 15). „Offener Brief an Leibgeber“. S. 730. Anm. 1. Vgl. Jean Paul. „Jean Pauls Biographische Belustigungen unter der Gehirnschale einer Gräfin“. Werke. Abt. I. Bd. 4. Hg. Norbert Miller. München: Hanser, 1962. S. 261-407, hier: „Dritte Biographische Belustigung“. S. 311.

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(2) Humoristische Vergleiche disparater Dinge haben meist eine satirisch-kritische Funktion. Fürstliche Paläste sollten – so der Erzähler der zweiten Biographischen Belustigung in Anspielung auf leere fürstliche Kassen – groß und einfach sein wie die ersten griechischen und ägyptischen Tempel und sie sollten ‚leer‘ bleiben können wie diese.43 Über den bereits in einer frühen Satire geschilderten „Maschinenmann“, den ‚mechanischen‘, seelenlosen „Genius“ des 18. Jahrhunderts, und das von ihm benutzte „Beträdlein der Kalmuken“ erfahren wir, letzteres heiße „Kürüdü“ und sehe „wie eine Kinderklapper aus […]: die Betformeln sind in einer Kapsel an einem beweglichen Stiele aufgerollet – und sie drehen heisset beten“.44 An Orten, wo noch das Tischgebet Gesichter und Hände in Verlegenheit setzt, sollte man zum Betrad greifen und so das Dankgebet vom Bratenwender zugleich mit dem Braten drehen lassen.45 Die Satire zielt auf seelen- und gedankenlos dahingeplapperte Gebete und die mechanische Demonstration von Frömmigkeit. Andere Orient-Vergleiche ergeben sich aus Beobachtungen des Ehelebens: Dass „in den arabischen Märchen alle Bezauberungen und Entzauberungen durch Besprengen mit Wasser geschehen“, ruft der Erzähler der Unsichtbaren Loge in Erinnerung, um zu plausibilisieren, warum die Tränen, die im Auge einer Braut noch bezaubernd wirken, in dem einer Ehefrau eher ernüchternde und störende Effekte haben.46 Während Sultane in ihren Harems „physisch Stumme und Zwerge“ als Diener begehren, wünscht sich der Erzähler im Hesperus in seiner gedachten Rolle als Fürst ironisch „moralische“ Stumme und Zwerge als unkomplizierte Untertanen.47 Die Geburt von Pferden edler Abstammung wird in Arabien durch Anwesende bezeugt und testiert – für den Verfasser der Teufelspapiere ein gutes Argument zugunsten „unzähliger Taufzeugen“ – respektive ein Argument gegen gängige Praktiken aufgeblasener Selbstinsze-

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Ebd., „Zweite Biographische Belustigung“. S. 294. Jean Paul. „Auswahl aus des Teufels Papieren (1789) und Vorstufen“. Werke. Abt. II. Bd. 2. Hg. Norbert Miller/Wilhelm Schmidt-Biggemann. München: Hanser, 1976. S. 9-567, hier: „3. Zusammenkunft, X. Der Maschinen-Mann nebst seinen Eigenschaften“. S. 450, Anm. Vgl. ebd., S. 450. Vgl. Jean Paul. „Die unsichtbare Loge“ (wie Anm. 26). 1. Sektor. S. 46. Vgl. Jean Paul. „Hesperus“ (wie Anm. 11). S. 1020.

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nierung.48 Wie die Perser nach Strabo den Göttern „von den Opfertieren nur die Seele darbrachten“, so will der Humorist Worble im Komet-Roman, der ein magnetisches Gastmahl veranstaltet, bei dem die Gäste den Genuss von Speisen mittels Hypnose nur suggeriert bekommen, seinen Zuhörern „ebenso Geistiges am Gastmahle“ auftischen – ein Scherz, dessen satirisches Potential der Dummheit von Leichtgläubigen und der Macht der Redekunst gilt.49 Worble erinnert übrigens auch daran, dass „nach dem Koran in jenem Leben die Speisen durch die Schweißlöcher abgehen“.50 Kirchenstühle, in denen die Kirchgänger am liebsten schlafen, sowie einschläfernde Predigten, werden in Anspielung auf den Opiumschlaf der „Türken“ beschrieben; in Konstantinopel, so erfährt der Leser, habe man „besondere Buden und Sitze für die Opiumesser, aber nur neben den Moscheen […]“.51 Wer zukünftigen Schmerz durch Furcht und vergangenen Schmerz durch Erinnerung in die Gegenwart hineinholt und so ‚verewigt‘, gleicht den Ägyptern, die „Krokodile zugleich ernähren und einbalsamieren“.52 Nicht immer ist also der Vergleich mit ‚Orientalischem‘ satirisch gemeint – und nicht immer kritisch. Ein äußerlich unzugänglicher Mensch wie Doktor Fenk erinnert den Erzähler der Unsichtbaren Loge an „viele indische Bäume“, weil sich bei ihm „unter äußern Stacheln und dornigem Laub die weiche kostbare Frucht des menschenfreundlichsten Herzens versteckte“.53 Ein Mensch, der trotz seines Kummers mit Begeisterung spricht, erinnert an den Glauben der Perser, demzufolge die Nachtigall „allemal mit einer gegen einen Dorn gekehrten Brust zu schlagen pflegt“.54 48

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Vgl. Jean Paul. „Auswahl aus des Teufels Papieren“ (wie Anm. 44). „1. Zusammenkunft. VIII. Brief über die Unentbehrlichkeit unzähliger Taufzeugen“. S. 200. Jean Paul. „Der Komet oder Nikolaus Marggraf. Eine komische Geschichte“. Werke. Abt. I. Bd. 6. Hg. Norbert Miller. München: Hanser, 1963. S. 563-1036, hier: S. 611. Ebd., S. 610. Jean Paul. „Die Unsichtbare Loge“ (wie Anm. 26). 51. Sektor. S. 389. Jean Paul. „Museum“. Werke. Abt. II. Bd. 2. Hg. Norbert Miller/Wilhelm Schmidt-Biggemann. München: Hanser, 1976. S. 877-1048, hier: Vorrede. S. 881. Jean Paul. „Die Unsichtbare Loge“ (wie Anm. 26). 1. Sektor. S. 40. Jean Paul. Biographische Belustigungen (wie Anm. 42). „Dritte Biographische Belustigung“. S. 313.

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(3) Anlässe zur Selbstbeschreibung findet der Erzähler in ‚orientalischen‘ Bildern und Vergleichen meist unter humoristischem Vorzeichen. Im Hesperus wird angespielt auf „Muhameds Reise durch alle Himmel“, die sich in kürzestem Zeitraum abgespielt habe.55 Ähnlich wie andere Flugträume, so besitzt auch dieser über die Beziehung zur Imaginationsthematik einen poetologischen Sinn. Ein rezeptionsästhetisch akzentuierter ‚Orient‘-Brocken etwa ist die ironische Behauptung, dass „der ungekünstelte, einfältige, natürlich-rohe Geschmack nicht nur der richtigste, sondern auch der ist, der (wie die Orientaler sowohl als die alten nördlichen Völker beweisen) brennende dicke Farben, Quodlibets-Bilder und mäßige Übertreibung zu genießen weiß“; ein solcher Geschmack sei auch vom breiten Lesepublikum zu erwarten; zuvor war die Rede von „Bombast“.56 Eher sentimental als humoristisch klingt die Selbstbeschreibung des Siebenkäs-Vorredners, der davon berichtet, wie er seiner Freundin Johanne Pauline nach dem Einschlafen ihres romanfeindlichen Vaters endlich etwas erzählen darf, um „ihr dadurch ein blühendes glimmendes Morgenland zu zeigen“.57 Wo es in Jean Pauls Texten bei der Wahl von Schauplätzen um ungewöhnliche Kulissen geht, dann allein, um die Kulissenhaftigkeit des jeweiligen Settings zu unterstreichen. Im „dritten Hirten- oder Zirkelbrief“ des Jubelsenior spricht der Erzähler von den „sonderbarsten Translokationen“, die er gern „mit dreierlei Menschen“ vornehme: „mit Brobdignaks, mit Lilliputanern und mit mir als dem Gulliver“, also mit großen Menschen, kleinen Menschen und mit sich selbst: „ich versetze sie wie eine algebraische Größe mit allen Zeiten und Räumen und sehe dann nach, ob ich sie noch kenne“.58 Den Geist Friedrichs des Großen habe er entsprechend transloziert: an die „Zahnküste“, „in ein arabisches Zelt“ und „in eine Sennenhütte“ – aber nicht auf die Orte selbst kommt es bei solchen Gedankenspielen ja an, 55

56 57 58

Jean Paul. „Hesperus“ (wie Anm. 11). S. 840. Arabische Historiker berichten von Mohammed, das Tier Borak habe ihn aus dem Tempel zu Mekka durch die sieben Himmel zum Thron Gottes getragen. Laut Edward Gibbon. The History of the Decline and Fall of the Roman Empire. (A new edition. Bd. 9. Leipzig: Teubner, 1829. Kapitel 50. S. 241f.) soll dies ein Zehntel einer Nacht lang gedauert haben. Vgl. dazu die Anm. zu Jean Paul. „Hesperus“ (wie Anm. 11). S. 840,1 auf S. 1292. Jean Paul. „Palingenesien“ (wie Anm. 15). Dritter Reise-Anzeiger. S. 792. Jean Paul. Siebenkäs (wie Anm. 36). S. 25. Jean Paul. „Der Jubelsenior“ (wie Anm. 28). S. 467f.

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sondern auf die Charaktere, wobei sich Friedrich als ein „Visthnu in seinen zehn Menschwerdungen“, d.h. als besonders gestaltungsfähig erwies.59 Der Erzähler-Biograph auf den Molukken Die Erzählerfigur, die den Leser der Jean Paulschen Romane mit den Geschichten der verschiedenen Protagonisten vertraut macht, tritt unter dem Namen des Autors ‚Jean Paul‘ auf und berichtet immer wieder von den Voraussetzungen, Rahmenbedingungen und Intentionen, welche mit der Abfassung des jeweiligen ‚Lebensberichts‘ verbunden sind, von den der entstehenden ‚Biographie‘ zugrundeliegenden Materialien, aber auch vom eigenen Leben, von Materialrecherchen, Schreibsituationen, vom eigenen Befinden und vom eigenen Ort. Der Erzähler des ersten Romans Die unsichtbare Loge hat, wenn auch als eher marginale Figur, an den geschilderten Ereignissen teil; er wirkt zeitweilig als Hofmeister und Vertrauter seines Helden Gustav. Er nennt sich Jean Paul oder (wegen eines Klumpfußes) auch das „Einbein“. Schauplatz wichtiger Teile der Handlung sind die „Scheerauische[n] Molukken“; sie liegen in einem Teich, der als künstliches ostindisches Meer im verkleinerten Maßstab beschrieben wird.60 So wie man einen Teich bei Bayreuth, den „Brandenburger Weiher“, aus Gesundheitsrücksichten trockengelegt hat, so wurde auch der „Scheerauische Weiher“ künstlich umgestaltet. Innerhalb dieses Weihers befindet sich, durch landschaftsgestalterische Maßnahmen erzeugt, eine „Diözes von Inseln“, darunter die Inseln „Banda, Sumatra, Zeylon und das schöne Amboina“; man nennt die Inseln auch „die großen und kleinen Molukken“.61 Nicht aus Korallenriffen entstanden, wie ihre gleichnamigen Vorbilder, wurden die Molukken künstlich aufgeschüttet: „Sumatra, die großen und die kleinen Molukken wurden bloß in kleinen Partien auf unzähligen Schubkarren und Leiterwagen an die Küsten herbeigeschoben“: Als „Ingredienzien einer hübschen Insel“ befanden sich jeweils „Steine, Sand, Erde“ auf den Schubkarren.62 59 60

61 62

Ebd., S. 468. Vgl. Jean Paul. „Die Unsichtbare Loge“ (wie Anm. 26). 18. Sektor. S. 146149. Ebd., S. 146. Ebd., S. 146f.

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Der Scheerauische Fürst, der als typisch Jean Paulscher Duodezherrscher stets Anlass hat, an seine Kasse zu denken, treibt auf den scheerauischen Molukken Gewürzhandel, und seine Gewürzinseln sind besser als die „holländischen“, also die ostindischen Kolonien, da man die Gewürze fertig aus Amsterdam kauft und ihr Heranreifen nicht erst abzuwarten braucht. Allerdings werden auf den künstlichen Inseln aus importierten exotischen Samen auch neue Gewürze gezogen; immer „käuet der scheerauische Leser Erzeugnisse aus Molukken, die vor seiner Nase sind“.63 Indem der Fürst den angeschütteten Hügeln Inselrechte gibt und sich selbst das Monopol des Gewürzhandels sichert, zieht er aus dem Etikettierungsspiel mit diesen Inseln kommerziellen Gewinn. Ich brauch’ es nicht zu verteidigen, daß unser Fürst – da die russische Kaiserin Dörfern das Stadtrecht gibt – Schutt-Hügeln das Inselrecht erteilt, oder daß er ihnen ostindische Namen schenkt, da jeder Tropf von Schiffer bei der größten Insel, die er noch dazu mehr entdeckt als macht, Patenstelle vertreten darf. Unser Sumatra ist über ¼ Quadratviertelstunde groß und hat hauptsächlich Pfeffer – die Insel Java ist noch größer, aber noch nicht fertig – auf Banda, das dreimal so groß als der Konzertsaal ist, liefert die Natur Muskatnüsse, auf Amboina Gewürznelken – auf Teidor steht ein artiges Landhaus […] – die kleinen Molukken, die in den Weiher hineinpunktiert sind, kann ich samt ihren Produkten in die Westentasche stecken, sie haben aber ihr Gutes.64

Über den Scheerauer Teich als das verkleinerte Double des ostindischen Ozeans kreuzt eine Handelsflotte, die sogenannte „Gewürzflotte“; mancher holt seinen Bedarf auch auf einem Floß „aus Ostindien“.65 Der dreiundfünfzigste „Sektor“ heißt auch „Geburttags- oder TeidorsSektor“. Hier wird anlässlich der Schilderung einer idealisierten Landschaft wieder mit den Namen „indischer Ozean“ und „Teidor“ gespielt.66 „Der indische Ozean war ein lärmender Marktplatz wie ein sinesischer Strom, überall bewegte sich auf ihm Freude, Leben und Glanz […].“ Die Figuren gehen spazieren, „von Birkenblättern und 63 64 65 66

Ebd., S. 148. Ebd., S. 148f. Ebd., S. 149. Jean Paul. „Die Unsichtbare Loge“ (wie Anm. 26). 53. Sektor. S. 401.

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indischen Wellen angefächelt“67; es handelt sich um einen jener Spaziergänge befreundeter, verwandter Seelen, wie sie bei Jean Paul wiederholt geschildert werden; sie führen durch eine idealisierte, dabei an konkrete Topographien angelehnte Landschaft. Der Erzähler des zweiten großen Romans, Hesperus, identifiziert sich selbst mit dem der Unsichtbaren Loge. Nach dem ersten Kapitel, das aus zunächst unerläuterten Gründen nur „Hundposttag“ heißt, bricht die erzählte Geschichte zunächst ab. Der Erzähler meldet sich zu Wort, um, wie auch in anderen Jean Paulschen Werken üblich, über die Rahmenbedingungen seines Erzählens zu berichten. Er hat sein Material, das er erzählerisch gestalten soll, von einem Spitz zugetragen bekommen (daher der Name „Hundposttag“), nun aber fehlen ihm die Informationen für die Fortsetzung des Erzählerberichts. Und so stellt er fürs erste sich selbst vor: Er wohne, so heißt es, „im Grunde am Äquator; denn ich wohne auf der Insel St. Johannis, die bekanntlich in den ostindischen Gewässern liegt, die ganz vom Fürstentum Scheerau umgeben sind.“68 Schon in der Unsichtbaren Loge, so bringt der Erzähler in Erinnerung, habe er das Publikum mit den topographischen Verhältnissen vertraut gemacht, deren Besonderheit darin liegt, dass Örtlichkeiten in einem fiktiven deutschen Fürstentum die Namen exotischer Schauplätze tragen, so dass mit der Nennung des deutschen Ortes (der Insel St. Johannis, der Inselgruppe der „Molukken“ und des „ostindischen Ozeans“) stets zugleich auch auf die gleichnamigen Orte in der Ferne angespielt ist. In diese Loge [so schreibt der Erzähler über seinen Romanerstling] hab’ ich nun den außerordentlichen Teich gesetzt, welcher unter dem Namen ostindischer Ozean bekannter ist, und in den wir Scheerauer die wenigen Molukken und andere Inseln hineingefahren und -geflastert [sic] haben, auf denen unser Aktivhandel ruht. Während daß die unsichtbare Loge in eine sichtbare umgedruckt wurde, haben wir wieder eine Insel verfertigt – das ist die Insel St. Johannis, auf der ich jetzt hause und spreche.69

Der die Materialien zur entstehenden Erzählung heranschaffende Spitzhund durchschwimmt mit seiner Post den „indischen Ozean“, 67 68 69

Ebd., S. 403. Jean Paul. „Hesperus“ (wie Anm. 11). S. 506. Ebd., S. 506.

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steigt auf St. Johannis an Land und kriecht die „Küste“ des Erzählers herauf, um diesen zu beliefern.70 Dass der Hesperus-Verfasser nicht nur die Erzählerfigur ‚Jean Paul‘ beibehält, sondern auch dessen Beziehung zu einer Gruppe winziger Inseln, die nach einem Archipel im ostindischen Ozean benannt wurde, deutet bereits auf die poetologische Signifikanz dieser erfundenen ‚Molukken‘ hin. Anderes kommt dazu: Sie sind künstliche Gebilde, Elemente einer Kunst-Landschaft, die nicht aus der planen Nachbildung eines Urbildes entstanden ist, sondern mit dem echten ostindischen Ozean eher auf metaphorischer Ebene verbunden ist: als Raum der Kommunikation und des ‚Warenhandels‘ – mit Ideen. St. Johannis entstand – wie ausdrücklich erwähnt wird – gerade, während die Unsichtbare Loge gedruckt wurde71, und diese Insel, deren Namen bereits zum Ausdruck bringt, dass sie von Johann Paul Friedrich Richter erfunden wurde, erscheint damit als Parallelprojekt eines Buches, das in übertragenem Sinn der Wohn- und Wirkungsort ‚Jean Pauls‘ ist. Der künstliche Ozean trennt die ‚ostindischen Inseln‘ weniger, als dass er sie verbände – und das insulare Dasein des Erzählers isoliert ihn nicht, sondern qualifiziert ihn in seiner guten Erreichbarkeit (ein schwimmender Post-Hund ist nicht überfordert) gerade zum Kommunikationszentrum. Die Idee, den Erzähler der ersten beiden großen Romane zum Bewohner einer Insel zu machen, die wie auch ihre Nachbarinseln durch ihren Namen das verkleinerte Double einer Insel im ostindischen Ozean ist, ist ebenso signifikant wie ein zweiter, ebenfalls in beiden Romanen verwendeter Einfall: Der Erzähler selbst hat sich am Ende des ersten nämlich als heimlicher Fürstensohn erwiesen und als mit diversen Figuren seiner Geschichte verwandt. Verweist seine Identität als Mitglied einer fürstlichen Familie (unter anderem) metaphorisch auf 70

71

Im ersten Brief, den der Spitzhund gebracht hat, wird der Erzähler als jemand angesprochen, der „mit Kaisern und Königen Verkehr“ habe; in einer Fußnote stellt er aber klar: „Außer mit den zwei Kaisern Silluk und Athnach und den vier Königen Sgolta, Sakeph Katon etc. bin ich weiter mit keinem umgegangen; und das nur als Primaner, weil wir Juristen mit Teufels Gewalt hebräisch lernen mußten; worin eben die gedachten sechs Potentaten als Akzente der Wörter vorkommen. Vielleicht meint aber der Briefsteller die großen, scharfen, gekrönten Akzente der Völker.“ (Ebd., S. 507). Ebd., S. 506.

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die Regentschaft des Autors im Reich seiner Imaginationen, so wird mit dem Bild des Archipels in Ostindien eher die Relation zwischen poetisch gestalteter Welt und historisch-realer Welt fokussiert: Erstere existiert nicht unabhängig von letzterer, aber sie ist auch kein bloßes Abbild. Die Beziehung zwischen wirklicher und romaninterner ‚künstlicher‘ Welt wird durch Namen, also sprachlich gestiftet; diese erlauben es ja, durchaus Unterschiedliches miteinander zu verknüpfen und einander wechselseitig zur Metapher werden zu lassen. Das Molukkenreich des humoristischen Erzähler-Biographen ‚Jean Paul‘ ist das konzeptuelle Pendant zu einem nicht minder ‚künstlichen‘ und von der Phantasie regierten paradiesischen ‚Morgenland‘: dem Reich der auf Erden unerfüllbaren Wünsche und Phantasien. Auf der künstlichen Insel St. Johannis kann man als Autor immerhin leben und schreiben, das imaginierte Paradies aber ist dem sehnenden Menschen unerreichbar. Dennoch oder eben deshalb gehören beide Ortschaften – die Enklave des Schriftstellers und das von allen irdischen Beschränkungen freie Paradies der Einbildungskraft – als komplementär zusammen, ebenso wie der Humorist und der weltabgewandte ‚hohe Mensch‘. Was sie miteinander verbindet, ist ihre in Imaginationen bekundete Distanz zum Alltäglichen und Trivialen, doch wo sich der hohe Mensch in ein Refugium von Ideen und Träumen zurückzieht, da verkehrt der Humorist, dem Endlichen und dem Unendlichen gleichermaßen zugewandt, zwischen den Welten; seine Topographie eröffnet Verkehrswege wie ein schiffbarer Ozean, und sei dieser auch künstlich und klein. Der Ozean des Erzählers, in dem seine Bücher als Inseln liegen, lädt nicht nur Spitzhunde, sondern vor allem Leser zur Durchquerung ein. Dass mit dem Bild des Gewürzhandels für den Jean Paul-Leser noch weitere Konnotationen aufgerufen werden, sei nur erwähnt: Zu Gewürztüten geformt werden in frühen satirischen Texten, aber auch im Leben Fibels vorzugsweise Makulaturblätter, die die Produkte schriftstellerischer Arbeit tragen; Gewürztüten stehen – wie auch Papierdrachen, Vogelscheuchen und andere papierne Objekte – für das ‚materielle‘ Substrat literarischer Erzeugnisse, auf welches diese von banausischen Nicht-Lesern allerdings auch nur allzu gern reduziert werden. Ohne Tüte freilich kein Gewürzhandel, so wie ohne die materielle Grundlage von Papier und Tinte keine Kommunikation zwischen Autor und Leser möglich ist – und gelegentlich werden recycelte Makulaturblätter, bereits zu Tüten degradiert, für die Jean Paulschen Er-

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zähler sogar zu willkommenen Informationsträgern, und die Krämerläden von Kolonialwarenhändlern erfüllen eine analoge Funktion wie Bibliotheken. Vom Versickern des Stroms ‚morgenländischer‘ Sehnsüchte in ‚holländischer Erde‘ Die Sehnsucht des hohen Menschen nach einem ‚Morgenland‘ und die spezifische Akzentuierung, die der alles Irdische verachtende hohe Mensch der Idee des Morgenländischen geben, kommen explizit in einem Brief zum Ausdruck, den in der Unsichtbaren Loge die Figur Ottomar verfasst. Ottomar hat Vernichtungsvisionen, er selbst, von Zuständen des Scheintodes heimgesucht, steht dem Totenreich näher als den Lebenden und kritisiert das Treiben der Welt stoisch und konzessionslos. In seinem Brief an einen Freund „herrscht und tobt“, wie es der Erzähler „Jean Paul“ ausdrückt – „ein Geist, der wie ein Alp alle Menschen höherer und edler Art drückt und oft bewohnt“.72 In radikaler Indifferenz gegenüber dem verachteten Leben ist Ottomar jeder Ort gleich viel und gleich wenig wert; jeder eignet sich als Projektionsfläche der Sehnsucht – und keiner ist dabei mehr als bloße Projektionsfläche. Wo immer der Mensch ist, er sehnt sich laut Ottomar nach anderem.73 Die mit dem Stichwort ‚Morgenland‘ aufgerufenen Phantasien und Sehnsüchte sind aus Ottomars Sicht in doppelter Hinsicht in seinem Leben Erzeugnisse von Missverständnissen gewesen: vordergründig ein sprachliches, da er sich als Kind alles, was im Osten – gen ‚Morgen‘ – lag, als ‚morgenländisch‘ vorstellte, um bei Besuchen in Osteuropa dann nur von der Entdeckung enttäuscht zu werden, dass es dort ähnlich trist zuging wie anderswo auch; hintergründig ein fundamentaleres Missverständnis, welches darin lag, das unter dem Namen „Morgenland“ gedachte Reich der Sehnsucht für erreichbar zu halten. Genau dies ist es nämlich nicht; auf Erden führt 72 73

Jean Paul. „Die unsichtbare Loge“ (wie Anm. 26). 25. Sektor. S. 217. „[…] wenn mich […] unter meiner Haustüre wieder über die Berge hinüberverlangt: so denk’ ich: in den Guadiana- und in den Wolgastrom sieht das nämliche lechzende Menschenherz hinein, das in dir neben dem Rheine seufzet, und was auf den Alpen und auf den Kaukasus steigt, ist, was du bist, und wendet ein sehnendes Auge nach deiner Haustüre herüber.“ (Ebd., S. 217f.)

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kein Weg zu einem idealen Ziel; das Ende aller denkbaren Wege ist immer nur ein neuer Ort, von dem man sich fortsehnt. Was wollt’ ich denn haben, wenn ich in meiner Kindheit auf dem Stein meines Torwegs saß und sehnend dem Zug der langen Straße nachsah und dachte, wie sie fortliefe, über Berge schösse, immer immerfort…? und endlich? … Ach alle Straßen führen zu nichts, und wo sie abreißen, steht wieder einer, der sich rückwärts herübersehnt. – Was wollt’ ich denn haben, wenn mein kleines Auge sonst auf dem Thein mitschwamm, damit er mich hinnähme in ein gelobtes Land, in welches alle Ströme, dacht’ ich, zögen, ach sonst, wo ich nicht wußte, daß er, wenn er manches schwere Herz getragen, neben manch zerquetschten Gestalt vorbeigebrauset, die nur er von ihren Qualen erlösen konnte, daß er dann wie der Mensch sich zersplittere und zertrümmert einsickere in holländische Erde? – Morgenland, Morgenland! auch nach deinen Auen neigte sich sonst meine Seele wie Bäume nach Osten: – „Ach wie muß es da sein, wo die Sonne aufgeht!“ dacht’ ich; und als ich mit meiner Mutter nach Polen reiste und endlich in das nach Morgen liegende Land und unter seine Edelleute, Juden und Sklaven trat ….74

Für Ottomar verlagert sich das ‚morgenländische‘ Reich konsequent von der Erde fort; „Morgenland“ ist ein anderer Name für ‚U-topia‘. „Weiter gibts aber auf dieser optischen Kugel kein Morgen-Sonnenland als das, welches alle unsere Schritte weder entfernen noch erreichen.“75 Jean Pauls Porträt seines an der Welt verzweifelnden Utopisten ist unter anderem ein poetischer Beitrag zur Psychologie der Morgenland-Träumer. In „holländische Erde“ sickere der Rhein, von dem er als Kind geglaubt habe, er fließe ins ‚gelobte Land‘, so bemerkt Ottokar ernüchtert, und zuvor hatte der Erzähler einleitend die „Menschen höherer und edler Art“ den „holländischen Geistern“ gegenübergestellt.76 Das Adjektiv „holländisch“ oder „niederländisch“ steht hier und an diversen Stellen (etwa bei der Klassifizierung von Roman- oder Malstilen) für das ‚niedere‘ Genre77, das dem Idealischen 74 75 76 77

Ebd., S. 218. Ebd., S. 218. Vgl. ebd., S. 217. Vgl. den Vorschul-Paragraphen „Der poetische Geist in den drei Schulen der Romanenmaterie, der italienischen, der deutschen und niederländischen“ (Jean Paul. „Vorschule der Ästhetik“ (wie Anm. 7). XII. Programm.

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entgegengesetzt ist, für die Bindung ans Irdische, die im Fall ‚niederländischer‘ Romane oder ‚niederländischer‘ Malerei als Stilzug ästhetisch gerechtfertigt sein mag78, wenn sie auch nie die entsprechende Kunst in ihrer höchsten Realisationsform charakterisiert. ‚Niederländisch‘ als Prädikat von Charakteren bezeichnet eine eher kritisch zu würdigende Erd-Bindung, handle es sich dabei nun um unreflektierten Egoismus und Materialismus oder (wie im Fall des durchtriebenen Katzenberger) um einen reflektierten und absichtsvoll kultivierten. Die bei Jean Paul durchaus komplexe Semantik des Wortfeldes um „Niederlande“ und „Niederländisches“ (bzw. „Holländisches“), die sowohl auf Ästhetisches, nämlich auf eine spezifische Stilebene, als auch auf Soziales und Anthropologisches, nämlich auf Verhaltensweisen und Charaktertypen, verweist, wirkt sich nun auch auf die Konnotationen aus, die mit dem Namen ‚Molukken‘ und der Nennung des ‚Ostindischen Ozeans‘ verbunden sind – ist doch damit, wie der Erzähler mit seinem Bericht über den fürstlichen Gewürzhandel nicht zu erwähnen vergisst, auf das holländische Kolonialreich angespielt – auf ein nicht-geographisches, sondern symbolisches Holland, das sich dem fernen ‚Morgenland‘ der ostindischen Inselwelt überlagert. Morgenland in Maienthal 1797 verfasst Jean Paul die (bereits zitierte) Notiz über „Ostindien in der blütejungen Phantasie“ als „das Land, wo wir an Winterabenden oder auf einem hohen Berg, wo uns die ausgedehnteste Gegenwart nicht genug thut, die Rabatten des Paradieses hinsezen“; hier wandeln „[s]anfte weisgekleidete, weise Menschen“, umgeben von „hohe[n] Blumen“, von Schmetterlingen und Früchten, bestrahlt von der Sonne, im ewigen Himmelsblau – ein „Jünglingsland“ der Liebe und des Frühlings, wo Hunger und Frost unbekannt sind.79 Jean Pauls in verschiedenen Werken dokumentierte Bemühungen um dieses Ostindien der Phantasie stehen unter dem doppelten Vorzeichen der Frage nach

78

79

§ 72. S. 253-257). Die räumliche Konnotation des Wortes ‚Niederlande‘ ist hier ebenso wichtig wie der kunsthistorische Umstand, dass die berühmtesten niederländischen Maler bevorzugt Genrebilder, Alltagsszenen und realistische Porträts schufen. Jean Paul nennt auch eigene Werke als niederländische Romane: „Wutz, Fixlein, Fibel“; vgl. ebd., S. 254. Jean Paul. Ideen-Gewimmel (wie Anm. 23). S. 272. Nr. 1633.

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einem ästhetischen und nach einem ethischen Ideal. Anlass der Reflexion hierüber sind vor allem Bildungsgeschichten und Gedanken über Erziehungsprozesse. Die unsichtbare Loge, aber auch der Hesperus und der Titan sind dem Genre des Bildungsromans verpflichtet. Entsprechend spielen Erzieher- und Mentorenfiguren maßgebliche Rollen. Wie Jean Pauls Romane prinzipiell und durchgängig mit kontrastiven Stimmungen arbeiten, so sind auch seine Erzieher- und Mentorenfiguren zu Konstellationen unterschiedlicher Charaktere gefügt. Ihre jeweils kontrastive Profilierung deutet zum einen auf unterschiedliche Akzentsetzungen und Leitideen bei der Darstellung von Bildungsprozessen, zum anderen aber auch auf ein unterschiedlich akzentuiertes Selbstverständnis des Autors Jean Paul hin. Denn – so meine den folgenden Überlegungen zugrundeliegende These – in den Erzieherfiguren spiegeln sich Beziehungen des Romans (oder allgemeiner: der Literatur) zu den Lesern. Nicht, dass Jean Paul ein im engeren Sinn didaktisches Literaturverständnis hätte – aber sein Schreiben steht im Zeichen der Überzeugung von der bildenden Kraft der Kunst. Offensichtlich ist die metapoetische Dimension der ersten Erzieherfigur im ersten Roman Die unsichtbare Loge: Der namenlose, vom Erzähler nur „der Genius“ genannte herrnhutische Jüngling, der mit dem kleinen Gustav mehrere Jahre in einer unterirdischen Erziehungshöhle verbringt, um diesen durch Abschirmung gegen Außenwelteinflüsse für ein höheres Menschentum zu bilden, erinnert an platonischchristliche Ideen (die Höhle wird auch Platonshöhle genannt), insbesondere die Zweiweltenlehre – wobei in der Unsichtbaren Loge die Zweiteilung der Welt ja eine ästhetische Inszenierung ist. Der Genius, eine engelhafte Gestalt, betreut Gustav nur während dessen früher Kinderzeit; danach wird das Kind zum Zweck weiterer Bildung der Oberwelt und ihren Bewohnern überantwortet. Allerdings nicht mentorenlos: Abgelöst wird der heimlich davongegangene Genius durch den Erzähler selbst, jenen auf den Scheerauischen Molukken wohnenden Autor, der bei Gustav die Stelle des Hofmeisters übernimmt – wobei er zugleich ja als Schriftsteller auftritt und damit als erste Jean Paulsche Figur in der Doppelrolle als Humorist und Erzieher agiert. Humorist und Mentor ist im Titan, dem ambitionierten Bildungsroman Jean Pauls, der weitaus wildere, zu Melancholie, Bitterkeit und skurrilen Einfällen neigende Schoppe. Sein Pendant ist der Grieche Dian, in dem sich ein antikes Bildungs- und Schönheitsideal verkörpert und der als die klassizistischste Figur Jean Pauls gelten kann.

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Im dazwischenliegenden Hesperus liegt die Humoristenrolle beim Erzähler selbst, der aber nicht als Erzieher tätig wird; die Hauptfiguren des Romans sind über das Zöglingsalter auch alle bereits hinaus. Aber der Protagonist Viktor trifft seinen ehemaligen Lehrer wieder, und diese Erzieher- und Mentorenfigur wird ausführlich porträtiert. Sie ist als vergeistigte Gestalt von gänzlich unhumoristischem Zuschnitt eine Art Bruder des Genius aus der Unsichtbaren Loge, der seinerzeit ins Unbestimmte davongezogen war. Viktors Lehrer Emanuel Dahore kommt aus Indien: Ausdrücklich als ‚großer Mensch‘ apostrophiert, ist er die einzige Orientalengestalt in einer Hauptrolle, ein Asket, der dem romantischen Figurentypus des morgenländischen Heiligen zumindest nahe steht.80 Östliches – oder genauer: ÖstlichWestliches – ist auch mit dem Titel des Romans konnotiert: Der Hesperus, auch Phosphorus oder Luzifer (!) genannt, ist morgens am Osthimmel, abends am Westhimmel zu sehen; sein Weg führt ihn also ungesehen von Ost nach West und (bei klarem Himmel) sichtbar wieder zurück.81 Dass verschiedene Menschentypen, insbesondere der weltabgewandte hohe Mensch und seine erdverhafteten Gegenstücke, zentrales Thema des Hesperus sind, deutet sich bereits in der Vorrede an.82 Der Hauptfigur Viktor ist es aufgegeben, einen Weg zu finden, der über die von edlen wie von „niederländischen“ Charakteren, von guten Menschen wie von herzlosen Egoisten bewohnte Erde führt, ohne dabei die sittlichen und ästhetischen Ideale zu vergessen oder zu verraten, die ihn seit seiner in England verbrachten Kindheit leiten. 80

81 82

Vgl. Jean Paul. „Hesperus“ (wie Anm. 11). S. 582. Der Erzähler kommentiert Emanuel mit den auf gelehrte Lektüren über den Orient hindeutenden Bemerkungen, „daß seine Seele noch das Echo seiner indischen Palmen und des Gangesstromes ist – daß der Gang der bessern entfesselten Menschen, so wie im Traume, immer ein Flug ist – daß er sein Leben nicht wie Europäer mit fremdem Tierblut düngt oder in gestorbenem Fleisch auswärmt, und das dieses Fasten im Essen (ganz anders als das Überladen im Trinken) die Flügel der Phantasie leichter und breiter macht – daß wenige Ideen in ihm, da er ihnen allen geistigen Nahrungsaft [sic] einseitig zuleitet (welches nicht nur Wahnsinnige, sondern auch außerordentliche Menschen von ordentlichen abtrennt), ein unverhältnismäßiges Gewicht bekommen müssen, weil die Früchte eines Baumes desto dicker und süßer werden, wenn man die andern abgebrochen […]?“ (Ebd., S. 606). Vgl. dazu: ebd., S. 489. Vgl. dazu: ebd., S. 487-489.

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Verkörpert gefunden hat er diese Ideale in der Gestalt seines damaligen Lehrers, den er aus den Augen verloren hat. Viktor hat bei Dahore insbesondere astronomische Kenntnisse vermittelt bekommen, und auch seine geliebte Freundin Klotilde erinnert sich ihres Unterrichts in Sternenkunde (den sie, wie sich später herausstellen wird, beim gleichen Lehrer wie Viktor erhalten hat) mit Rührung und Bewunderung. Ihr ist Dahore unter dem Namen Emanuel bekannt, den er – inzwischen als Lehrer an einer Stiftsschule wirkend – nun ohne Beifügung eines Familiennamens führt – und zwar mit der Erklärung, „am verfliegenden Menschen, an seinem so eilig versinkenden Stammbaum sei zwischen dem Geschlechtsnamen und Taufnamen der Unterschied zu klein“.83 Solche Gleichgültigkeit gegenüber dem ‚Äußeren‘, dem Stofflichen, dem Scheinhaften, findet ihre Entsprechung in Emanuels ganzer Verfassung. Seine „veredelte Seele“ nämlich lebt, wie Klotilde sagt, „in einem zerknickten Körper […], der schon tief ins Grab einhänge –“ und er ist dabei „der sanfteste und größte Mensch […], der noch aus Ostindien (seinem Vaterlande) gekommen“; nur einige „Sonderbarkeiten seiner Lebensart“ müssen toleriert werden.84 Diese Sonderbarkeiten deuten bereits an, wofür Emanuel steht: für eine poetische Sphäre jenseits der Alltagswelt, ja jenseits der endlichen und vermessbaren irdischen Territorien. Einige Jahre zuvor hat sich Emanuel um eine Stellung als Astronom und Nachtwächter beworben85 – um zwei Rollen also, die metaphorisch auf das Dichtertum verweisen, insofern sie beide die Hinwendung zu einer ‚anderen‘ Welt implizieren: zum Himmel, insofern dieser Gegenwelt des Irdischen ist, und zur Nacht, insofern sich mit dieser gerade für die romantische Autorengeneration komplexe Vorstellungen einer Sphäre verbinden, die der Tageswelt des Verstandes gegenübersteht. Während der Höfling und Weltmensch Matthieu das Interesse am Nachtwächter- und Astronomentum als Skurrilität abtut, versteht Viktor den Lehrer Klotildes (und d.h. den eigenen einstigen Lehrer) gut. Ein Eintrag Emanuels in Klotildes Stammbuch weist ihn als einen jener hohen Menschen aus, die sich, der Welt überdrüssig, nach dem Tod sehnen – anders als der von nihilistischen Anfechtungen heimgesuchte 83 84 85

Ebd., S. 546. Ebd., S. 546. Ebd., S. 546f. In einer Stiftsschule lehrt Emanuel des abends Astronomie, „seine geliebteste Wissenschaft“ (ebd., S. 686).

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Ottomar allerdings im Vertrauen auf ein Jenseits, in dem sich die körperlosen Geister verstorbener Freunde wiedertreffen. Emanuel ist die ‚unstofflichste‘ Gestalt Jean Pauls, eine Figur aus Licht und Licht-Bildern, deren Gedanken um ein transzendentes Paradies kreisen. Nicht aus irdischem Stoff gemacht (wenngleich zu einem historischen Urbild in Beziehung gesetzt86), sieht er alle irdischen Dinge sub specie aeternitatis, und er lebt weniger in der Gegenwart als in der Vergangenheit und der Zukunft, in zeitlichen Fernen, die der räumlichen Ferne seiner Herkunft und der Sehnsucht nach einer transzendenten Welt korrespondieren. Durch den Austausch von Briefen wird eine Anamnesis ausgelöst – mit der die ersehnte Wiederbegegnung liebender Seelen nach dem Tode unter irdischen Rahmenbedingungen ausnahmsweise antizipiert erscheint: Viktor trifft in Klotildes Lehrer seinen eigenen Lehrer wieder. Emanuel nimmt den einstigen Schüler, der ihn brieflich noch in Unkenntnis seiner Identität um seine Freundschaft gebeten hat, mit großer Wärme in seinem Haus zu Maienthal auf; er spielt zudem eine nicht unerhebliche Rolle für die nur gegen Widerstände durchsetzbare spätere Verbindung der Liebenden Klotilde und Viktor.87 86

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Im letzten Kapitel bekennt der Biograph „Jean Paul“, er habe die Charaktere seiner „Lebensbeschreibung“ von der „Wirklichkeit abgeschrieben“: Bei Emanuels Charakter habe er „an einen großen Toten“ gedacht, „einen berühmten Schriftsteller, der gerade am Tage, wo ich Emanuels Traum von der Vernichtung mit süßer schauernder Trunkenheit schrieb, aus der Erde ging und halb unter sie.“ (Jean Paul. „Hesperus“ (wie Anm. 11). S. 1232). Tatsächlich ist Emanuel in Erinnerung an Karl Philipp Moritz erfunden worden. In einem Brief an Moritz’ Bruder vom 12.8.1795 spricht Jean Paul ebenfalls von dieser Beziehung zwischen dem Verstorbenen und der Figur Emanuels, und er erwähnt die bittere Koinzidenz, dass der „Vernichtungstraum im 38. Kapitel“ gerade an Moritz’ Todesmorgen entstand (vgl. Anm. zu „Hesperus“. S. 1145,31ff. auf S. 1305f.). Das den Hesperus prägende und in einer Fülle von Spielformen auftretende Leit- und Kernmotiv ist das der zweiten Welt, die mit einer trügerischen, schmerzlichen oder auch nur banalen diesseitigen Welt kontrastiert. Dieses doppelte Ausgangsmotiv wird teilweise so entwickelt, dass nichts als die duale Grundstruktur die einzelnen Variationen miteinander verbindet. So wird der Kontrast zwischen ‚erster‘ und ‚zweiter‘ Welt auf die Dichotomie von Körper- und Geisterwelt projiziert. Neben dieser ontologischen Version des Zweiweltenmodells steht eine temporale: Mit der Gegenwart kontrastiert das Vergangene und das Zukünftige, das sich der

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Emanuels Blick umfasst das All und führt von dort in dessen Zentrum zurück: in die Seele des Einzelnen. Gerade anlässlich der Figur des Inders werden diejenigen für Jean Pauls Gedankenwelt programmatischen Ideen artikuliert, die um die Fremdheit des Menschen auf der materiellen Welt und seine Zugehörigkeit zu einer zweiten Welt kreisen. Dies betrifft insbesondere Ideen, welche die Beziehung zwischen einander seelenverwandten Menschen betreffen, Bilder der Trennung durch körperliche Gefängnisse und andere materielle Kontingenzen sowie komplementäre Bilder der Vereinigung und des Einklangs, wie sie von materiellen Substraten unbedingt, gleichwohl möglich sind. In immer neuen Bildern durchgespielt wird anlässlich der Gestalt des Ostindiers die Idee der Gleichgültigkeit alles Äußerlich-Stofflichen, in welches sich die Welt der Gedanken und Gefühle notgedrungen einkleidet, ohne doch je in ihm aufzugehen88 – und diese Idee lässt sich als selbstbezüglich interpretieren, insofern die Figur des Emanuel ein solches stoffliches Substrat zur Artikulation und zur Stimulation entsprechender Gedanken ist. Die Romanpassagen, in denen es um die Idee eines Rapports zwischen Individuen geht, die in ihre Leiber und ein Geflecht von Konventionen und Zwängen einge-

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Erinnerung und Hoffnung erschließt. Hinzu kommt – für die Romanhandlung von erheblicher Bedeutung – die Differenzierung zwischen verschiedenen Sphären der Gesellschaft: einerseits der Sphäre des Hofs und der ihn umgebenden konzentrischen Kreise, wo die Äußerlichkeit regiert, wo Rollen gespielt und die Masken der Konvention getragen werden, hinter denen sich dann im übrigen nicht mehr verbirgt als ein dem Äußerlichen verhaftetes Scheinleben substanzloser Akteure – andererseits die mit der bürgerlichen Sphäre zumindest zu vereinbarende, wenngleich erst in der Weltabgeschiedenheit auslebbare Sphäre des subjektiven Empfindens, das sich selbst genügt, gleichwohl aber zur Selbstverstärkung auf das eigene Echo in gleichgestimmten Seelen hofft. Als vierte Ebene der Entfaltung des Leitmotivs der ‚zwei Welten‘ erschließt sich von hier aus die psychologische: die Gegenüberstellung von Verstand und Weltklugheit auf der einen, von Empfindsamkeit und Imaginationsvermögen auf der anderen. Emanuel ist, wie sein Brief an Viktor bestätigt, ein Visionär der zweiten Welt. Den Hintergrund seiner Erdabgewandtheit bilden Todeserfahrungen und Todesahnungen bezüglich der eigenen Person. „[…] Sieh, diese Hand hat in Asien acht edle Augen zugeschlossen – mich überlebte kein Freund – in Europa verhüll’ ich mich – meine trübe Geschichte liegt neben der Asche meiner Eltern im Gangesstrom […].“ (Jean Paul. „Hesperus“ (wie Anm. 11). S. 603).

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sperrt sind und gleichwohl miteinander zu kommunizieren suchen, entwerfen (oder vielmehr: umreißen) unter anderem ein Ideal unbedingter Kommunikation. Die Beziehung dieses Ideals zur Wortsprache ist ambig, insofern auch diese mit der Welt der körperlich-materiellen Erscheinungen verbunden ist. Als Medium der Erinnerung und Antizipation sowie der metaphorischen Verklärung deutet sie auf die ‚zweite‘ Welt allerdings hin. Maienthal ist ein Dörfchen am Hang eines Berges; hier liegt ein englischer Park. In dessen „fünf blitzenden Teichen“ spiegeln sich, als Viktor hier eintrifft, „fünf dunklere Abendhimmel“. Emanuel wohnt am Ende des Dörfchens in einem blumenumrankten Haus, und dieses Haus steht „in der Umarmung eines Lindenbaums, der es durchwuchs“. In Emanuels Gesellschaft befindet sich ein schöner blinder Jüngling, der die Flöte spielt und der „Himmelpforten ein fliehendes schwebendes Elysium“ entlockt.89 Im Park zu Maienthal befindet sich unter einer Trauerbirke eine Äolsharfe, auf der der Wind spielt, durch deren Saiten also gleichsam die Natur selbst in Tönen spricht. Eine Grasbank und ein Grasaltar markieren Emanuels bevorzugten Aufenthaltsort. Viktor verliert sich hier in die Töne und „seine Seele wurde ihm zu einem Traum“.90 Den Berg nutzt Emanuel als „Sternwarte“.91 An einem Brunnen, dem „Abendbrunnen“, „hatte Emanuel seinen Zwischengarten. Denn er liebte als Indier physische Blumen wie poetische, und ihm war im Dezember ein Blumenbuch wie eine gewiegte Blumenau, und ein Nelkenblätterkatalog war für ihn die Hülse und Chrysalide des Sommers.“92 Die Topographie Maienthals mit seinen Klängen und Farben, Blumen und Landschaftselementen ist eine großangelegte poetologische Metapher. Weißgewandet wie ein Engel durchschreitet Emanuel die nächtliche und vom Mondlicht verklärte Landschaft. Er weissagt mehrmals, er werde in einem Jahr sterben, was sich auch so erfüllen wird. In Gesellschaft eines Blinden lebend, schließt Emanuel selbst nur zu gern die Augen vor der äußeren Welt. 89

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Ebd., S. 673, 674 und 675. Emanuels Zimmer wird als „Allerheiligstes“ beschrieben: „Das Zimmer war offen und rein – einige Blätter von genossenen Früchten lagen auf dem Tisch – um alle Fenster glühten Blumen – ein Sternrohr lehnte an der Wand – Reste einer orientalischen Kleiderkammer verkündigten den Indier.“ (ebd., S. 675). Ebd., S. 677. Ebd., S. 676. Ebd., S. 1065.

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Emanuels Tod gestaltet sich als Verklärungsszene, deren Kulisse von den Gestirnen gestaltet ist; „Totenstille“ liegt über der nächtlichen Erde, der Tod scheint „von Wolke zu Wolke zu gehen“.93 Sterbend sieht Emanuel in einer Vision den Tod selbst, aber auch seine verstorbenen Freunde. Die Schilderung von Emanuels Tod ist angelegt als ausführliche Phantasie über Jean Pauls große Themen, die Dichotomien von Sterblichkeit und Unsterblichkeit, irdischem und verklärtem Leben, Endlichkeit und Unendlichkeit, Körper- und Geisterwelt. Es sind die poetische Erscheinung und die poetische Ausdrucksweise Emanuels, die Viktor mehr überwältigen als „breite Thesesbilder, rationes decidendi und sententiae magistrales“.94 Emanuel wird in den Bildern und Gleichnissen beschrieben, wie Jean Paul sie auch für die Poesie verwendet. In Gedanken die Endlichkeit von Raum und Zeit transzendierend, steht Emanuel in virtueller Kommunikation mit allen Menschen, mit lebenden wie mit verstorbenen. Repräsentant eines bildhaften Denkens, ist er selbst ein Denkbild. Insbesondere gehört es zu seinen besonderen Fähigkeiten, erscheinende und spirituelle Welt als Einklang wahrzunehmen, wie der Erzähler im Rückgriff auf das Leibniz’sche Gedankenmotiv der prästabilierten Harmonie betont: „So war überall […] eine auffallende vorherbestimmte Harmonie zwischen der äußern Natur und seinem Herzen – er fand im Körperlichen leicht die Physiognomie des Geistigen und umgekehrt […].“95 Bezogen auf seine Neigungen, Kenntnisse, Gewohnheiten und Lebensverhältnisse ist der Inder gleichsam ganz aus Metaphern komponiert. Emanuel lebt von Wasser und Früchten; er züchtet Blumen, das Geäst der Linde, die sein Haus durchwächst, ist „das lebendige wachsende Deckenstück des Zimmers“, zwei zahme Grasmücken wohnen hier.96 Emanuel, der selbst auch ausdrücklich über die „Harmonie“ der Welt, über den „Einklang“ zwischen Mensch und Schöpfung meditiert, spricht, wie es ausdrücklich heißt, abgestimmt auf seine Weltsicht eine ‚poetische‘ Sprache: „Auch seine Seele schien, wie ein Brahmin, von poetischen Blumen zu leben, und seine Sprache war oft, wie seine Sitten, indisch, d.h. poe93 94

95 96

Ebd., S. 1131. Ebd., S. 685. Zu den Aussprüchen Emanuels gehören „Wahrheiten, die der Sprache alt und dem Herzen neu waren“, wie etwa: „Der Mensch geht wie die Erde von Westen nach Osten, aber es kommt ihm vor, er gehe mit ihr von Osten nach Westen, vom Leben ins Grab.“ (Ebd.). Ebd., S. 681. Ebd., S. 681.

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tisch.“97 Indisch-poetisch: das heißt hier ‚metaphorisch‘, denn für Emanuel stehen Inneres und Äußeres in Korrespondenz.98 Emanuel samt seiner Äolsharfe, seinen Rede-Blumen und seinen Harmonie-Vorstellungen ist eine Metapher der Metapher. In dieser Eigenschaft repräsentiert er die Idee einer im Medium poetischer Sprache vollzogenen Verklärung des Endlichen und Körperlichen. Emanuel selbst ist Büchern entstiegen. Jean Pauls ‚indische‘ Imaginationen wären nicht denkbar ohne Herder, der hier wie in vielen anderen Dingen sein maßgeblicher Impulsgeber gewesen ist. Herder ist es gewesen, der mit seinem idealisierten Indienbild dieses Land „zum Land der Sehnsucht für die Romantiker gemacht hat“, wie Ulrich Faust zu Recht konstatiert.99 Bei Herder, so Faust weiter, hätten „Sehnsucht und ideale Begeisterung“ kreativ gewirkt; vieles an seinen Ansichten über Indien beruhe auf Irrtümern, aber auf schöpferischen.100 Zu Herders Indienbild gehört als wohl wichtigste Komponente die Betonung der tiefen Religiosität der Inder. „Die meisten Denkmäler Indiens hat die Religion gestiftet: denn wir wissen, mit welcher Macht diese über alle Stämme des Volks noch jetzt herrschet.“101 Dass Jean Paul seinen Emanuel an einem Rasenaltar platziert und sich Jenseitsphantasien hingeben lässt, passt zu diesem Bild. Es ist ein Bild der hinduistischen Kultur, nicht der buddhistischen. In seiner Vorrede zu Majers Buch Zur Kulturgeschichte der Völker betont Herder im Mai 1798 das kulturgeschichtliche Interesse an „jene[r] sanfte[n] Nation, die Erfinderin keiner schädlichen und so vieler nutzbaren Künste, die Hindu. Alles was uns unter ihren Himmel versetzt, hat die Zauberkraft in sich, daß es uns sittsamer macht, und milder.“102. Der Herderspezialist Hoffmann bemerkt kritisch: „Seine grenzenlose Liebe zur Menschheit lässt ihn um so leichter idealisieren, Ebd., S. 681. Vgl. dazu: ebd., S. 681. 99 Ulrich Faust. Mythologien und Religionen des Ostens bei Johann Gottfried Herder. Münster: Aschendorff, 1977. S. 146. 100 Faust. Mythologien und Religionen (wie Anm. 99). S. 147. 101 Johann Gottfried Herder. „Ueber Denkmale der Vorwelt“. Herders Sämtliche Werke. Bd. 16. Hg. Bernhard Suphan. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1887. S. 51-83, hier: S. 68. 102 Johann Gottfried Herder. „Vorrede zu Friedrich Majers historischen Untersuchungen zur Kulturgeschichte der Völker. 1798“. Herders Sämtliche Werke. Bd. 20. Hg. Bernhard Suphan. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1880. S. 340-344, hier: S. 343. 97 98

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wozu er sich hingezogen fühlt, und so macht er das Leben der Hindus zu einer Schäferidylle voll paradiesischer Unschuld“.103 Im „Fragment einer Abhandlung über die Mythologie, besonders über die indische“104 heißt es über den Glauben der „Indier“ an die ständige Verwandlung alles Irdischen und ihre Gleichgültigkeit gegenüber der Gegenwart: Natürlich ists, daß diese hohen Ideen von der Wandelbarkeit aller Dinge, von ihrem ewigen Fortwälzen, Verschwinden und Wiederkommen die Gemüther derer, bei denen sie Wurzel gefaßt haben, äußerst gleichgültig gegen die kurze Spanne eines Menschenlebens und gegen alle das machen müße, was diese kurze Spanne darbeut [sic].105

Insbesondere legt Herder dar, wie nahe „der ganzen Indischen Vorstellungsart von Gott und der Welt die Lehre der Seelenwanderung lag“106 – und er bringt damit die Inder in Zusammenhang mit einem Thema, das Jean Paul zeitlebens beschäftigt hat. Nicht, dass sich der Christ und Theologe Herder zur Seelenwanderungslehre hinduistischer Prägung hingezogen gefühlt hätte. Aber er betont, welchen positiven Effekt sie auf die Gläubigen habe, wie sie Güte, Barmherzigkeit, Seelenruhe und Großmut befördere.107 Komplementärtopographien Molukken oder Maienthal: mit beiden Konzepten geht es um die für Jean Paul durchgängig zentrale Frage nach der Beziehung der Welten poetischer Imagination zur erfahrenen und erlebten Wirklichkeit. Diese Frage lässt sich – wie seine Romane auch zeigen – unterschiedlich akzentuieren: erstens als Auseinandersetzung mit dem Postulat der „Nachahmung“ (wie sie in der Vorschule ja auch explizit geführt wird), zweitens aber auch als Frage nach der lebenspraktischen Bedeutung P. Th. Hoffmann. Der indische und der deutsche Geist von Herder bis zur Romantik. Eine literarhistorische Darstellung. Tübingen: Laupp, 1915. Vgl. Faust. Mythologien und Religionen (wie Anm. 99). S. 149. 104 Der Text ist auf der Grundlage eines Manuskripts aus dem Herdernachlaß in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin abgedruckt in: Faust. Mythologien und Religionen (wie Anm. 99). S. 154-164. 105 Ebd., S. 159. 106 Ebd., S. 161. 107 Ebd., S. 171, S. 164. 103

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von Schreib- und Leseprozessen, nach dem also, was man den Sitz der Poesie im Leben nennen könnte. Hinsichtlich der ersten Frage bezieht Jean Paul in der Vorschule eine vermittelnde Stellung zwischen den Extrempositionen: Den auf plane Abbildlichkeit zielenden „poetischen Materialismus“ lehnt er ebenso ab wie den um Erfahrungsstoff unbekümmerten „poetischen Nihilismus“, und er votiert für einen Mittelweg, für den der verklärenden, transformierenden, das Endliche und das Ideale synthetisierenden Darstellung. Es ist hier nicht der Ort, die Ambiguitäten seines Programms ‚schöner Nachahmung‘ zu erörtern, die unter anderem daraus resultieren, dass es Jean Pauls eigenen Prämissen zufolge genaugenommen weder einen poetischen Materialismus noch einen poetischen Nihilismus geben kann; der VorschulVerfasser trägt den Schwierigkeiten einer Definition des Poetischen selbst im Übrigen durchaus Rechnung, indem er die Unzulänglichkeit abstrakter Begriffsbestimmungen betont und es am liebsten der Dichtung selbst überlasse zu beschreiben, was Dichtung ist.108 Wichtig für unseren ‚orientalischen‘ Zusammenhang ist die Nähe zwischen „poetischen Nihilisten“ und den Anhängern eines rein idealischen, imaginären ‚Morgenlandes‘ als den Verächtern des diesseitigen, irdischen, beengten Lebens. Gerade auf der Seite dieser ‚Morgenland‘-Träumer sind die hohen Menschen zu finden, die Repräsentanten des Idealen, die Genien und Ostindier, die Jean Paul aus seinem eigenen poetischen Kosmos ebenso wenig verbannen will wie nach seiner Überzeugung die Welt auf sie verzichten kann. So schnell Jean Paul mit den ‚poetischen‘ wie mit den lebenspraktischen ‚Materialisten‘ fertig ist, indem er sie als naive Sonderlinge humoristisch würdigt (etwa eine Figur wie Katzenberger) oder aber als Egoisten und Kleingeister kritisiert (wie diverse Philister und Hofmenschen, die in den verschiedenen Romanen auftreten) – so anhaltend und intensiv ist doch seine Auseinandersetzung mit Charakteren, die sich bewusst vom IrdischBedingten abwenden, und sei es sogar im Zeichen der Sehnsucht nach dem Tod. Philister, Hofmenschen, Egoisten aller Art mögen von den Molukken des Schriftstellers fernbleiben; die ‚hohen Menschen‘ hingegen sind für ihn als Kommunikationspartner wichtig (und zwar sowohl als Partner für den Romanautor wie auch für seine Protagonisten). Was ihm – als Erzähler – bleibt, ist ihnen im Inselreich seiner Bücher einen 108

Vgl. Jean Paul. „Vorschule der Ästhetik“ (wie Anm. 7). § 1. S. 30.

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Platz zuzuweisen. Dieses selbst aber liegt nicht im Äther und nicht in einem transzendenten ‚Morgenland‘; ‚Jean Pauls‘ Inselreich ist, wie in der Unsichtbaren Loge deutlich dargelegt wird, aus Steinen und Sand, aus konkreter Materie angeschüttet worden. Dass sich das ideale ‚Morgenland‘ der hohen Menschen und das ‚molukkische‘ Inselreich des humoristischen Erzählers untereinander komplementär verhalten, die Haltung des Letzteren also durch die der Ersteren ihrerseits sowohl relativiert als auch ergänzt wird, mag sich in einem Detail des topographischen Arrangements um den ‚ostindischen Ozean‘ und ‚Maienthal‘ andeuten: Ersterer, die Welt des humoristischen Erzählers, besteht aus einer Wasserfläche, in der sich Inseln erheben. Maienthal ist eine Frühlingslandschaft, in welche Teiche eingelassen sind. Die Poesie sei „die einzige zweite Welt in der hiesigen“ – diese Metapher wird in der Vorschule vorgeschlagen.109 Zwei Typen von „zweiten“ Welten werden in der Unsichtbaren Loge und im Hesperus (wie auch in anderen Werken Jean Pauls) nebeneinandergestellt, um gegeneinander abgegrenzt, aber auch in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit voneinander reflektiert zu werden: Kein „Maienthal“, über das der Leser je etwas hörte, wenn nicht auf einer „Molukke“ aus Erde ein Erzähler säße und schriebe; keine „Molukke“, deren Besuch der Mühe wert wäre, wenn hier nicht eine Zirkulation von Ideen, Wörtern und Geschichten ihren Ausgang nähme, unter denen die ‚ostindische‘ Ware die kostbarste ist.

Im Reich der morgenländischen Schriften E. T. A. Hoffmanns poetologische Erzählung Der goldne Topf handelt von der Initiation ins Reich der Schrift. Alltagswelt und poetische Gegenwelt im Goldnen Topf sind charakterisiert durch differente Schriften, Schreibstile und Schreibkulturen.110 Für „Dresden“ repräsentativ sind die Registratoren und Schulgelehrten, eine Sphäre des Gedruckten: „with books, documents, and the printed word“.111 Zu Ebd. L.C. Nygaard. „Anselmus as Amanuensis: The Motif of Copying in Hoffmann’s Der Goldne Topf“. Seminar. Journal of Germanic Studies 19,2 (1983). S. 79-104. 111 Ebd., S. 96. 109 110

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„Atlantis“ gehört das Musikalische und Onomatopoetische – und die geschlängelte Schrift, die der Student Anselmus als poetisch begabter Jüngling im Auftrag des Archivarius Lindhorst kopieren soll. Der Schreibprozess wird im Goldnen Topf zum Katalysator und zugleich zum Sinnbild des Prozesses poetischer Imagination. Schriftzeichen beleben sich vor den Augen des Kopisten, so wie sich in anderen Erzählungen Hoffmanns unter den Blicken der visionär begabten Figuren Bilder beleben. Welche Konnotation sich mit dem Bild der schlangenlinienförmigen Schrift verbinden, hat Günter Oesterle detailliert gezeigt.112 Dass Anselmus zuerst ein arabisches, dann ein indisches Manuskript abzuschreiben hat, ist ebenso signifikant wie die Tatsache, dass er in Phasen der begeisterten Arbeit die anzufertigenden Schriftzüge bereits wie mit kaum sichtbarer Tinte eingetragen auf seinem Blatt vor sich sieht. Weniger magisch geht es bei den Jean Paulschen Schreibern zu. Allerdings ist für Jean Paul der materiell-konkrete Schreibprozess ein nicht minder ergiebiges Substrat poetologischer Metaphern und Gleichnisse wie für Hoffmann. Mit orientalischen Schriften bekommen es seine Protagonisten nur selten zu tun, aber auch die Schilderungen dieser Begegnungen besitzen metapoetischen Charakter. Eine Geschichte über die Schriftstellerei ist das Leben Fibels, der angeblich ein weitverbreitetes Abc-Buch „gemacht“ und sich damit als Inbegriff des Autors qualifiziert hat. Die Beschreibung der Arbeit Fibels an diesem Abc-Buch ist insgesamt so gehalten, dass – ironisch – die schöpferische Leistung des vermeintlichen ‚Autors‘ hervorgekehrt wird: so als habe er nicht nur das sächsische Abc-Buch geschrieben, sondern gleichzeitig auch noch die Buchstaben als solche erfunden. Die trivialen Verse aus der Schulfibel werden vom Erzähler dem fiktiven Helden zugeschrieben und gewürdigt, so als seien es geniale Dichtungen. Den Kinder-, zumal den Weihnachtsfreuden des kleinen Gotthelf (oder „Helf“) widmet der Erzähler eingehende Schilderungen, wobei zu den größten Vergnügungen schon früh der Umgang mit Papier und Feder – das „Schreiben“ also, gehört. Helf erfindet etwa „neue willkürliche Alphabete“ und schreibt mit deren Lettern Texte,

112

Vgl. Günter Oesterle. „Arabeske, Schrift und Poesie in E.T.A. Hoffmanns Kunstmärchen Der goldne Topf“. Athenäum. Jahrbuch für Romantik 1 (1991). S. 69-107.

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die niemand versteht – „auch er nicht ohne Einsehen ins Alphabet“.113 Oder er liest, was immer er bekommen kann – und das ist vornehmlich Makulatur jeglicher Provenienz. Der Gewürz-Laden, wo man aus Altpapier Tüten dreht, ist seine „Lese-Bibliothek“ und ersetzt ihm die „allgemeine deutsche Bibliothek“.114 Wegen der Wahllosigkeit seiner Lektüre wird Fibel – so zumindest sein Biograph – „zu jenem Vielwisser, als welchen er sich im Abc-Buch überall durch Tierkunde, Erziehungs- und Sittenlehre, Poesie und Prose zeigt.“115 Fibels verehrungsvolle Obsession gilt sogar den Lettern, mit denen man Wäschestücke zeichnet, und er wünscht sich dringend eine „gelehrte Feder […], weil er so oft gelesen, daß aus einer gelehrten Feder so manches Buch geflossen“.116 Staats- und Adresskalender bieten ihm reichlichen Ersatz für die „Welt“. Auf die Bitten der naiven Mutter hin nimmt der Rektor der Landes-Universität bei einem Besuch im Dorf Fibels Inskription als „Student“ vor; der Scherz, den sich der Rektor erlaubt, wird von Mutter und Sohn so ernst genommen, dass sich Fibel fortan als Studiosus und mithin als halben Gelehrten betrachtet. Auch die Mahnung des Pfarrers, nun müsse er „alles lernen“, nimmt er beim Wort, so gut er es versteht: Er lernt alte Sprachen wie Griechisch, Hebräisch, Syrisch und Arabisch „lesen“, indem er sich mit deren Schriftzeichen vertraut macht.117 Vom Inhalt der solcherart abgelesenen Texte versteht er freilich nichts. Was er genießt, ist die äußere Gestalt der Buchstaben – und so gilt seine Verehrung letztlich allein der Schrift in ihrer „buchstäblichen“ Gestalt, während ihm die Bedeutung der Wörter fremd bleibt. Viel Mühe verwendet Fibel auch darauf, das Vaterunser in verschiedensten exotischen Sprachen auswendig zu lernen. Und er findet auf seine skurrile Weise hinter die babylonische Sprachverwirrung zurück. Der Pfarrer hatte ihn zu „allen gelehrten Sprachen und Studien“ ermahnt.118 Fibel nimmt diesen Rat wörtlich. Ostern, zentraler Termin im Kirchenjahr, wird auch für seine persönliche Heilsgeschichte zum Wendepunkt, und als „Studiosus“ erlebt er sein eigenes Pfingstwunder. Jean Paul. Leben Fibels (wie Anm. 38). S. 386. Ebd., S. 388. 115 Ebd. 116 Ebd., S. 389. 117 Ebd., S. 398. 118 Ebd., S. 396. 113 114

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Monika Schmitz-Emans Des Pfarrers Spaßrede, er müsse nun alles lernen, war Salbe für ihn. […] In der ersten Woche lernte er griechische Werke lesen […]; im zweiten Monate lernte er das Hebräische und las das Alte Testament in der Ursprache; – im dritten das Syrische; – im vierten und fünften das Arabische. Die sämtlichen Sprachlehren waren vom spaßhaft-gefälligen Pfarrer zu verleihen. In diesen vier Sprachen konnte er zum Erstaunen des ganzen Hauses jedes Buch lesen, das man ihm vorlegte; ja einmal assekurierte der Pfarrer öffentlich die Sache. Natürlicherweise verstand er nicht ein Wort von dem, was er vorlas; aber der Stoff ging ihn, wie einen Dichter, nichts an, sondern nur die Form. Desto reicher fiel sein reiner Genuß an den orientalischen Sprachen aus, weil deren Lettern-Formen und Selbstlauter-Untersätze sie weit über alle neueren Sprachen hoben. Indes wollte er sogar in Wörter-Gelehrsamkeit nicht zurückbleiben, sondern lernte aus einem alten guten Werke, das ich selber in meiner Jugend ohne Nutzen gelesen, in sieben Wochen das mexikanische, arabische, isländische, englische, dänische, grönländische, französische Vaterunser auswendig; dann in jeder spätern Woche wieder ein fremdes, kurz ein lingustisches Paternoster; so daß er schon vor Adelung im Mithridates ganz den nämlichen Sprachforschungs-Weg betrag [sic]. Dadurch setzte er sich instand, vor dem Essen bald als Hottentott, bald als Türke, bald als Franzose seine Andacht zu verrichten; dem Himmel selber, der alle Sprachen versteht, konnt’ es gleichgültig sein, welche er nehme.119

Die Idee, seinen Helden fremde Schriftsysteme einüben zu lassen und damit die Suggestion der Beherrschung der fremden Sprachen selbst zu verbinden, hat Jean Paul offenbar aus der eigenen Kindheitsgeschichte übernommen. In der Selberlebensbeschreibung berichtet er: „In einer lateinisch geschriebnen Grammatik der griechischen Sprache studiert’ ich durstig und hungrig das Alphabet und schrieb am Ende ziemlich griechisch, was nämlich die Handschrift anlangt.“120 Fibel macht sich seine Kenntnisse des Griechischen, Hebräischen, Syrischen, Arabischen später noch einmal zunutze. Er setzt nach Erfindung des Abc-Buchs in die Exemplare jeweils seinen eigenen Namen und den seines Wohnsitzes hinein. Dabei bedient er sich unter 119 120

Ebd., S. 398. Jean Paul. „Selberlebensbeschreibung“. Werke. Abt. I. Bd. 6. Hg. Norbert Miller. München: Hanser, 1963. S. 1037-1103, hier: S. 386.

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anderem der genannten Schriftsysteme. Fibel kann, strenggenommen, weder die orientalischen Texte entziffern, noch versteht er die orientalischen Texte. Dennoch ‚beherrscht‘ er aus seiner Sicht das, was er reproduzieren kann (entsprechend einer leicht modifizierten Form der These, dass die Erkenntnis einer Sache bedeute, sie machen zu können): Schriftzeichen auf Papier, Wortklänge bei der Rezitation. Wie sein Erfinder, dem das Materielle und Konkrete am Schreibprozess und am Umgang mit Manuskripten und Büchern stets viel bedeutet hat, liebt Fibel die materiell-konkrete Seite aller Schrift, da sie ihm als Projektionsfläche für seine Imaginationen mehr als hinreichend ist. „Gottes ist der Orient! / Gottes ist der Okzident! / Nord- und südliches Gelände / Ruht im Frieden seiner Hände“, so heißt es im West-Östlichen Divan 121; als Jean Paul Leser möchte man sagen: „Fibels ist der Orient! / Fibels ist der Okzident!“ Jean Pauls Orient-Diskurs ist ein Metadiskurs; sein Orient ist ein Orient aus Zeichen und Zitaten, künstlich wie die „Molukken“ in den frühen Romanen, aufgeschüttet aus zu diesen Zwecken an den Ort des Erzählens transportierter Materie. Aus den durch Benennung in einen artifiziellen „Orient“ verwandelten Inseln wird im Leben Fibels ein Gelände aus Schriftzeichen orientalischer Provenienz, das dem abschreibenden Helden Fibel jeden ‚authentischen‘ Orient perfekt ersetzt, weil es ihm den Orient ‚bedeutet‘. Die Geschichte Fibels wirft unter anderem einige Fragen auf, die gerade im Licht rezenter Literatur- und Texttheorien intrikater sind, als sie auf den ersten Blick erscheinen mögen: Wer ist Autor? Wem gehört die Schrift? Bezogen auf das Thema ‚Orientalismus‘ könnte man fragen: Wem gehört der Orient? Fibels Antwort lautet: Immer dem, der schreibt.

Literatur Faust, Ulrich. Mythologien und Religionen des Ostens bei Johann Gottfried Herder. Münster 1977. Gibbon, Edward. The History of the Decline and Fall of the Roman Empire. A new edition. Bd. 9. Leipzig 1829. Goethe, Johann Wolfgang. West-Östlicher Divan. Studienausgabe. Hg. Michael Knaupp. Stuttgart 1999. 121

Goethe. West-Östlicher Divan (wie Anm. 1). „Talismane“. S. 16.

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Herder, Johann Gottfried. „Ueber Denkmale der Vorwelt“. Herders Sämtliche Werke. Bd. 16. Hg. Bernhard Suphan. Berlin 1887. S. 51-83. Herder, Johann Gottfried. „Vorrede zu Friedrich Majers historischen Untersuchungen zur Kulturgeschichte der Völker. 1798“. Herders Sämtliche Werke. Bd. 20. Hg. Bernhard Suphan. Berlin 1880. S. 340-344. Hoffmann, Paul Theodor. Der indische und der deutsche Geist von Herder bis zur Romantik. Eine literarhistorische Darstellung. Tübingen 1915. Nygaard, L. C. „Anselmus as Amanuensis: The Motif of Copying in Hoffmann’s Der Goldne Topf“. Seminar. Journal of Germanic Studies 19,2 (1983). S. 79-104. Oesterle, Günter. „Arabeske, Schrift und Poesie in E. T. A. Hoffmanns Kunstmärchen Der goldne Topf“. Athenäum. Jahrbuch für Romantik 1 (1991). S. 69-107. Paul, Jean. „Auswahl aus des Teufels Papieren (1789) und Vorstufen“. Werke. Abt. II. Bd. 2. Hg. Norbert Miller/Wilhelm Schmidt-Biggemann. München 1976. S. 9-567. Paul, Jean. „Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs“. Werke. Abt. 1, Bd. 2. Hg. Norbert Miller. 3. neubearb. Aufl. München 1971. S. 7-576. Paul, Jean. „Das Kampaner Tal“. Werke. Abt. I. Bd. 4. Hg. Norbert Miller. München 1962. S. 561-716. Paul, Jean. „Der Jubelsenior“. Werke. Abt. I. Bd. 4. Hg. Norbert Miller. München 1962. S. 409-559. Paul, Jean. „Der Komet oder Nikolaus Marggraf. Eine komische Geschichte“. Werke. Abt. I. Bd. 6. Hg. Norbert Miller. München 1963. S. 563-1036. Paul, Jean. „Die unsichtbare Loge“. Werke. Abt. I. Bd. 1. Hg. Norbert Miller. München 1960. S. 7-469. Paul, Jean. „Hesperus“. Werke. Abt. I. Bd. 1. Hg. Norbert Miller. München 1960. S. 471-1236. Paul, Jean. Ideen-Gewimmel: Texte & Aufzeichnungen aus dem unveröffentlichten Nachlaß. Hg. Thomas Wirtz/Kurt Wölfel. Frankfurt a.M. 1996. Paul, Jean. „Jean Pauls Biographische Belustigungen unter der Gehirnschale einer Gräfin“. Werke. Abt. I. Bd. 4. Hg. Norbert Miller. München 1962. S. 261-407. Paul, Jean. „Jean Pauls Freiheits-Büchlein; oder dessen verbotene Zuneigung an den regierenden Herzog August von Sachsen-Gotha; dessen Briefwechsel mit ihm; – und die Abhandlung über die Pressefreiheit“. Werke. Abt. II. Bd. 2. Hg. Norbert Miller/Wilhelm Schmidt-Biggemann. München: Hanser, 1976. S. 808-875. Paul, Jean. „Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal“. „Die Unsichtbare Loge.“ Werke. Abt. I. Bd. 1. Hg. Norbert Miller. München 1960. S. 422-462.

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Paul, Jean. „Leben Fibels, des Verfassers der Bienrodischen Fibel“. Werke. Abt. I. Bd. 6. Hg. Norbert Miller. München 1963. S. 365-562. Paul, Jean. „Museum“. Werke. Abt. II. Bd. 2. Hg. Norbert Miller/Wilhelm Schmidt-Biggemann. München 1976. S. 877-1048. Paul, Jean. „Palingenesien“. Werke. Abt. I. Bd. 4. Hg. Norbert Miller. München 1962. S. 717-923. Paul, Jean. „Selberlebensbeschreibung“. Werke. Abt. I. Bd. 6. Hg. Norbert Miller. München 1963. S. 1037-1103. Paul, Jean. „Selina“. Werke. Abt. I. Bd. 6. Hg. Norbert Miller. München 1963. S. 1105-1236. Paul, Jean. „Titan“. Werke. Abt. I. Bd. 3. Hg. Norbert Miller. München 1961. S. 7-830. Paul, Jean. „Über die Religionen in der Welt“ (Übungen im Denken 1780). Werke. Abt. II. Bd. 1. Hg. Norbert Miller/Wilhelm Schmidt-Biggemann. München 1974. S. 62-69. Paul, Jean. „Vorschule der Ästhetik“. Werke. Abt. I. Bd. 5. Hg. Norbert Miller. 4. Aufl. München 1980. S. 7-514. Said, Edward. Orientalismus. Übers. Liliane Weissberg. Frankfurt a.M. u.a. 1981. (Orig.: Orientalism. London u.a. 1978.) Trauzettel, Rolf. „Exotismus als intellektuelle Haltung“. Mein Bild in deinem Auge. Exotismus und Moderne: Deutschland – China im 20. Jahrhundert. Hg. Wolfgang Kubin. Darmstadt 1995. S. 3f.

Hendrik Birus

Goethes Annäherung an das Ghasel und ihre Folgen Wie nahe hätte es gelegen, im Divan etwa die östliche Form des Ghasels vorzuführen. Aber jenes Wort von den hohlen Masken (aus dem Gedicht Nachbildung im Buch Hafis) gilt auch für sie, und so erscheinen nur einige wenige Abwandlungen, die kaum noch als solche kenntlich sind.1

Das Ghasel ist fraglos ein prominentes orientalisches Genre der Weltliteratur. Inwiefern eigentlich? Versteht man ‚Weltliteratur‘ als einen Sammelbegriff für alle literarischen Werke der Welt, so lässt sich eine erhebliche Anzahl lyrischer Texte vor allem (aber nicht nur) aus dem Nahen Osten, die im Lauf des letzten Jahrtausends entstanden sind, als Ghasel klassifizieren. Und bevorzugt man statt dieses quantitativen einen qualitativen Begriff von ‚Weltliteratur‘2, so ist das Ghasel zweifellos eines der wichtigsten lyrischen Genres, vergleichbar der antiken Ode und Elegie, dem Sonett aus der Renaissance oder dem romantischen Lied und ihren späteren Ausprägungen, dem einige der weltweit bedeutendsten Gedichte angehören. Beides aber war keineswegs Goethes Verständnis von ‚Weltliteratur‘, als er diesen Begriff 1827 prägte. Denn worum es ihm dabei ging, war nicht die Klassifikation oder das ‚ranking‘ literarischer Texte, sondern vielmehr die zunehmende Globalisierung der literarischen Kommunikation „aller zugleich Lebenden“, freilich „in steter Rücksicht auf das was uns vom Vergangenen übrig und bekannt ist“.3 Dabei interessierten Goethe im Hinblick auf fremdsprachige Literaturen vor allem die folgenden Fragen: 1

2

3

Wolfgang Kayser. Kleine deutsche Versschule. 24. Aufl. Tübingen/ Basel: Francke, 1992. S. 61. Vgl. Hendrik Birus. „Am Schnittpunkt von Komparatistik und Germanistik. Die Idee der Weltliteratur heute“. Germanistik und Komparatistik. DFG-Symposion 1993. Hg. Hendrik Birus. Stuttgart/Weimar: Metzler, 1995. S. 439-457, hier: 443f. Johann Wolfgang Goethe. „Flüchtige Übersicht über die Kunst in Deutschland“. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. [‚Frankfurter Ausgabe‘]. 40 Bde. Hg. Friedmar Apel/Hendrik Birus [u.a.]. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker, 1985-1999. I. Abt. Bd. 18. S. 809.

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Hendrik Birus 1. Ob sie die Ideen gelten lassen an denen wir fest halten und die uns in Sitte u Kunst zu statten kommen. 2. Inwiefern sie die Früchte unsrer Gelehrsamkeit genießbar finden und die Resultate derselben sich aneignen. 3. Inwiefern sie sich unsrer ästhetischen Formen bedienen. 4. Inwiefern sie das was wir schon gestaltet haben wieder als Stoff behandeln.4

Unser Rahmenthema Einstieg lässt sich also im Sinne der dritten Leitfrage konkretisieren: Ob und inwiefern sich Goethe dieser ästhetischen Form der orientalischen Poesie bediente? Nun war Goethe unbestritten einer der größten Meister des Verses in der deutschen Literatur; man lese nur in seinem polymetrischen Dramenfragment Pandora oder im Faust II. Und er hat mit seinen Römischen Elegien, den Venezianischen Epigrammen, den Sonetten, den Stanzen der „Urworte Orphisch“ oder den Terzinen „Bey Betrachtung von Schillers Schädel“ wesentlich zur Einbürgerung dieser Versformen im Deutschen beigetragen. Zugleich war er aber sehr wählerisch bei der Übernahme fremder Strophenmaße: So hat er sich – anders als etwa Hölderlin oder Platen – nie antiker Odenformen bedient; und ebenso hat er sich fast völlig der von den Romantikern gepflegten künstlichen Strophenformen aus der Romania enthalten.5 Endet doch das DivanGedicht „Nachbildung“ (FA I 3, S. 32) mit der Strophe: Zugemeßne Rhythmen reizen freylich, Das Talent erfreut sich wohl darin; Doch wie schnelle widern sie abscheulich, Hohle Masken ohne Blut und Sinn. Selbst der Geist erscheint sich nicht erfreulich, Wenn er nicht, auf neue Form bedacht, Jener todten Form ein Ende macht.

Diese Reserve galt lange Zeit sogar für die Form des Sonetts. Und als Goethe endlich um 1800 sein erstes – Das Sonett – dichtete, schloss er es mit den distanzierten Terzetten (FA I 2, S. 408): 4

5

Johann Wolfgang Goethe. „Schemata im Zusammenhang mit ‚Ueber Kunst und Alterthum‘ VI 3“ . Sämtliche Werke (wie Anm. 3). I. Abt. Bd. 22. S. 722. Vgl. Wolfgang Kayser. „Goethes Dichtungen in Stanzen“. Kunst und Spiel. Fünf Goethe-Studien. Hg. Wolfgang Kayser. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1961. S. 86-99, hier: 86.

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So möcht’ ich selbst in künstlichen Sonetten, In sprachgewandter Maßen kühnem Stolze Das Beste, was Gefühl mir gäbe, reimen; Nur weiß ich hier mich nicht bequem zu betten, Ich schneide sonst so gern aus ganzem Holze, Und müßte nun doch auch mitunter leimen.

Goethes zögernde Annäherung an das Ghasel erfolgte im Rahmen seines ganz persönlichen Dialogs mit einem eminenten, orientalischen Dichter – freilich keinem Zeitgenossen, sondern dem mehr als 400 Jahre vor ihm lebenden persischen Lyriker ¼āfiã. Ja, dieser Dialog fand nicht einmal direkt mit dem unter ¼āfiã’ Namen überlieferten Dīwān seiner Gedichte statt, denn Goethe konnte kein Persisch und bedurfte also eines Dolmetschers. Auch dies ist charakteristisch für das anbrechende Zeitalter der Weltliteratur. Denn während in der Antike und im Lateinischen Mittelalter, ja selbst noch in den folgenden Jahrhunderten die großen literarischen Werke auch international im Original – oder aber in freien volkssprachlichen Adaptationen – rezipiert wurden, war die Öffnung des literarischen Horizonts in Richtung auf Nord- und Osteuropa und auf den Nahen wie Fernen Osten unvermeidlich mit einer entschiedenen Aufwertung der literarischen Übersetzung verbunden. So war ¼āfiã durch eine soeben erschienene Gesamtübersetzung – Der Diwan des Mohammed Schemsed-din Hafis. Aus dem Persischen zum erstenmal ganz übersetzt von Joseph v. Hammer, Stuttgart u. Tübingen 1812/13 [vielmehr 1814] – in Goethes Blickfeld getreten. Doch die Herkunftsbezeichnung „Aus dem Persischen“ gilt nur cum grano salis. Vielmehr ist Hammers Formulierung ganz wörtlich zu verstehen: „Der Uebersetzer ist in die Fußstapfen Sudi’s getreten“.6 Denn wie die von Hammer jeder Gedichtübersetzung vorangestellten Transkriptionen der persischen Gedichtanfänge ganz türkisch gefärbt sind (z.B. gül und bülbül statt gol und bolbol ‚Rose und Nachtigall‘), so basierte seine Übersetzung weit weniger auf dem Originaltext als auf dem philologischen ¼āfiã-Kommentar des Bosniers Sūdī (Ende des 16. Jahrhunderts), in dem Einzelvers für Einzelvers zunächst im Original zitiert, dann türkisch erläutert und schließlich ins Türkische 6

[¼āfiã]. Der Diwan des Mohammed Schemsed-din Hafis. Übs. von Joseph v. Hammer. Stuttgart/Tübingen: Cotta, 1812/13 [vielmehr 1814]. Bd. 1. S. IVf.

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übersetzt wird. Dass sein West-oestlicher Divan auf einer so hybridisierten Grundlage erwachsen ist, hätte Goethe ein Jahrzehnt später geradezu als Musterfall weltliterarischen Austauschs goutiert – etwa im Sinne seiner letztmaligen Verwendung des Ausdrucks ‚Weltliteratur‘ anlässlich der „Übersetzung meiner letzten botanischen Arbeiten“: Ein paar Hauptstellen, welche Freund Soret in meinem Deutsch nicht verstehen konnte, übersetzt ich in mein Französisch; er übertrug sie in das seinige, und so glaub ich fest, sie werden in jener Sprache allgemeiner verständig seyn, als vielleicht im Deutschen. […] Dieß sind die unmittelbaren Folgen der allgemeinen Weltliteratur; die Nationen werden sich geschwinder der wechselseitigen Vortheile bemächtigen können.7

Noch weit entfernt von solcher spielerischen Versatilität verspürte Goethe bei Erscheinen von Hammers ¼āfiã-Übersetzung zunächst vor allem eine heftige ‚anxiety of influence‘8 gegenüber den „sämmtlichen Gedichten […] dieses herrlichen Poeten“: und ich mußte mich dagegen productiv verhalten, weil ich sonst vor der mächtigen Erscheinung nicht hätte bestehen können. Die Einwirkung war zu lebhaft, die deutsche Uebersetzung lag vor und ich mußte also hier Veranlassung finden zu eigener Theilnahme. Alles was dem Stoff und dem Sinne nach bey mir Ähnliches verwahrt und gehegt worden, that sich hervor und dies mit umsomehr Heftigkeit als ich höchst nöthig fühlte mich aus der wirklichen Welt, die sich selbst offenbar und im Stillen bedrohte, in eine ideelle zu flüchten, an welcher vergnüglichen Theil zu nehmen meiner Lust, Fähigkeit und Willen überlassen war.9 7

8

9

Goethe an Sulpiz Boisserée, 24.4.1831. Johann Wolfgang Goethe. Werke. [‚Weimarer Ausgabe‘]. 133 Bde. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar: Böhlau, 1887-1919. Repr. München: Deutscher Taschenbuch, 1987. IV. Abt. Bd. 48. S. 189f. Vgl. Hendrik Birus. „Goethes Idee der Weltliteratur. Eine historische Vergegenwärtigung“. Weltliteratur heute. Konzepte und Perspektiven. Hg. Manfred Schmeling. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1995. S. 5-28, hier: 26f. Vgl. Harold Bloom. The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry. Oxford/London/New York: Oxford University Press, 1975 [u.ö.]. Johann Wolfgang Goethe. „Tag- und Jahres-Hefte 1815“. Sämtliche Werke (wie Anm. 3). I. Abt. Bd. 17. S. 259f.

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Was so als „Gedichte an Hafis“ (an Christiane v. Goethe, 29.7.1814; FA II 7, S. 355) begann, wurde alsbald zu einer „Versammlung deutscher Gedichte mit stetem Bezug auf den Divan des persischen Saengers Mahomed Schemseddin Hafis“ (14.12.1814; FA I 3, S. 457), dann „West-Oestlicher Divan oder Versammlung deutscher Gedichte in stetem Bezug auf den Orient“ (24.2.1816; ebd., S. 549) und mündete schließlich in den West-oestlichen Divan. von Goethe (Stuttgart 1819). In welchem Maße Goethe dieses Unternehmen als einen Dialog mit seinem bewunderten Vorgänger ansah, zeigt vor allem sein nachgetragenes Divan-Gedicht „An Hafis“ (11.9.1818; FA I 3, S. 216218) sowie ein nicht in den West-oestlichen Divan aufgenommenes Gedicht, das sich nicht von ungefähr der Ghasel-Form annähert (22.12.1815; ebd., S. 605): Hafis dir sich gleich zu stellen, Welch ein Wahn! Rauscht doch wohl auf Meeres Wellen Rasch ein Schiff hinan, Fühlet seine Seegel schwellen Wandelt kühn und stolz Wills der Ocean zerschellen, Schwimmt’s, ein morsches Holz. Dir in Liedern, leichten, schnellen, Wallet kühle Flut, Siedet auf zu Feuerwellen; Mich verschlingt die Glut. Doch mir will ein Dünckel schwellen, Der mir Kühnheit giebt. Hab doch auch im sonnenhellen Land gelebt, geliebt.

Man mag den Abstand dieses Gedichts von der durch ¼āfiã auf einen Höhepunkt geführten Ghaselform kritisieren: das Fehlen des eröffnenden Šāh-bayt (aa), die Wiederkehr des Monoreims (qāfiya) in den un˛ geradzahligen Versausgängen (als Entsprechung zu den vorderen reimlosen Halbversen [miÈrā‘] des persischen Originals) statt in den geradzahligen Versausgängen (entsprechend den reimenden Langversen [bayt]), die Bindung der reimlosen Halbverse des Originals durch wechselnde Kreuzreime, schließlich den völligen Verzicht auf die Verwendung refrainartiger Überreime (radīf ).10 Zumeist war dies aber 10

„Es gibt […] im ‚West-östlichen Divan‘ auch kaum ein regelrechtes, geschweige denn ein formvollendetes Ghasel (entweder stimmt die Vertei-

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nicht etwa in einer Uninformiertheit Goethes begründet. Denn Hammer benennt in der „Vorrede“ zu seiner ¼āfiã-Übersetzung ganz klar die Grundregeln des Ghasels: [Es] haben die zwey Verse des ersten Beits oder Distichons, welches Schachbeit oder das Königsdistichon heißt, denselben Reim. In den folgenden reimen nur immer die zweiten Verse auf den Reim des ersten Distichons. Im Schlußverse nennt sich der Dichter immer mit seinem Beynamen.11

Und tatsächlich versuchte Hammer in der knappen Hälfte der von ihm übersetzten Ghaselen des ¼āfiã, diese Form auch im Deutschen zu wahren, allerdings mit einigen einschneidenden Modifikationen: (1) Bisweilen wird auf den eröffnenden Reim des Šāh-bayt verzichtet. ˛ (2) Die persischen Langverse werden oft in zwei deutsche Kurzverse geteilt; die persischen Distichen erscheinen so als reimlose Vierzeiler, deren letzte Zeilen aber durch einen Monoreim verbunden sind (xxxa | xxxa | …). (3) Anstelle des Endreims als bloße „Übereinstimmung des Auslauts unter Einschluß der Vokale“ (Band | Hand )12 werden von Hammer fast durchweg ‚identische Reime‘ (Freundinn | Freundinn)13, allenfalls ‚rührende Reime‘ (gefallen | vorgefallen | hereingefallen | herabgefallen)14 verwendet. Dadurch geht, wie Hammer selbst einräumt, „der gleiche Anklang des Reimes, welcher orientalischem Gehöre eine unerlässliche Schönheit dünkt, gänzlich verloren, und nur dort, wo im Originale alle Strophen mit einem und demselben Worte enden, kehrt auch in der Uebersetzung dasselbe Wort am Ende der Strophe wieder“.15 (4) Zwar wird von Hammer gelegentlich auch der radīf nachgebildet (z.B. alle zwei Verse: „Ist nicht umsonst“16 oder an

11 12

13 14 15 16

lung der Reime nicht, oder der Rhythmus hapert); die Einflüsse des Ghasels bei Goethe liegen mehr in der Bildersprache, in Witz und Ironie sowie in der Relativierung der konfessionellen Schranken.“ (Art. ‚Ghasel‘ [Johann Christoph Bürgel]. Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Hg. Klaus Weimar/Harald Fricke u.a. Berlin: de Gruyter, 1997. S. 722-724, hier: 723). [¼āfiã]. Der Diwan (wie Anm. 6). Bd. 1. S. 11. Christian Wagenknecht. Deutsche Metrik. Eine historische Einführung. München: Beck, 1981 [u.ö.]. S. 135. [¼āfiã]. Der Diwan (wie Anm. 6). Bd. 1. S. 56f. (Ghasel Ta 10). Ebd., S. 62-64 (Ghasel Ta 14). Ebd., S. VI. Ebd., S. 71 (Ghasel Ta 18).

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jedem Strophenende: „Wer ist es?“17 bzw. „Was ists?“18), doch dann fehlt stets der bei ¼āfiã einem solchen Refrain vorausgehende eigentliche Reim. Diese und andere Lizenzen von Hammers ¼āfiã-Übersetzung hatten für Goethe eine doppelte Konsequenz. Zum einen erhöhten sie seine Freiheit gegenüber dem bewunderten Vorbild; etwa, dass er antike, orientalische und zeitgenössische Vorstellungen mischte oder dass er sie mittels einheimischer Gedichtformen – von Romanzenstrophen bis zu Freien Rhythmen – artikulierte. Bemerkt doch schon Harold Bloom zu Goethe: „the linguistic distance allowed him to absorb and imitate Shakespeare without crippling anxieties.“19 Zum anderen weckten Hammers Untreue gegenüber Metrum und Reim als wesentliche Formmomente von ¼āfiã’ Lyrik wie auch das Ungenügen seiner vorangestellten Transkriptionen aus dem Persischen (samt den unübersehbar zahlreichen Druckfehlern!) Goethes Interesse am Original. So studierte er nicht nur seit Dezember 1814 William Jones’ Poeseos Asiaticae Commentariorum Libri Sex, die Fundgruben des Orients und andere neuere Orientliteratur, sondern lernte auch die arabische Schrift und wagte sich gemeinsam mit orientalistischen Fachleuten, wie dem 25-jährig an die Universität Jena berufenen Orientalisten Johann Gottfried Ludwig Kosegarten (1792-1860), an persische Gedichte. Wenn er drei von ihnen in arabischer Schrift und mit deutscher Übersetzung samt kommentierenden Erläuterungen im West-oestlichen Divan abdruckte, so war dies keine intellektuelle Hochstapelei. So kann man auch sicher sein, dass Goethe das persische Ghasel aus erster Hand kannte. Seine erste Annäherung an die Form des Ghasels (aaxaxaxa…) war das direkt an ¼āfiã gerichtete Divan-Gedicht „Nachbildung“ (7.12.1814; FA I 3, S. 32), das mit der Strophe beginnt: In deine Reimart hoff’ ich mich zu finden, Das Wiederholen soll mir auch gefallen, Erst werd’ ich Sinn, sodann auch Worte finden; Zum zweytenmal soll mir kein Klang erschallen, Er müßte denn besondern Sinn begründen, Wie du’s vermagst begünstigter vor allen. 17 18 19

Ebd., S. 93-95 (Ghasel Ta 32). Ebd., S. 97f. (Ghasel Ta 34). Harold Bloom. The Western Canon. The Books and School of the Ages. New York/San Diego/London: Harcourt Brace & Co., 1993. S. 209.

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Mit einer einzigen Ausnahme haben alle späteren ghaselartigen Gedichte Goethes mit diesem in formaler Hinsicht gemein, dass sie – ähnlich der eher improvisatorischen Qit‘ā (arab. ‚Bruchstück‘) – auf das eröffnende ‚Königs-Bayt‘ (aa) verzichten und dass sie die im Ghasel reimfreien Versschlüsse (xaxa…) durch Kreuzreime (abab…) binden. Und zugleich folgen sie thematisch der Forderung des zitierten ‚Meta-Ghasels‘: „Zum zweytenmal soll mir kein Klang erschallen, | Er müßte denn besondern Sinn begründen“ – einem antiformalistischen Postulat, das im Blick auf Baudelaire zur strukturalistischen These einer ‚semantischen Fundiertheit der Phänomene der formalen Distribution‘20 generalisiert worden ist. So bemerkte Goethe anlässlich von Platens Ghaselen ein halbes Jahrzehnt nach seinem endgültigen Verzicht auf diese Form: Es ist bei den Ghaselen das Eigentümliche, daß die eine große Fülle von Gehalt verlangen; der stets wiederkehrende gleiche Reim will immer einen Vorrat ähnlicher Gedanken bereit finden. Deshalb gelingen sie nicht jedem; diese aber werden ihnen gefallen.21

Welche ‚Fülle von Gehalt‘ vermochte nun Goethe zu ghaselartigen Gedichten zu provozieren? Sie sind fast durchgängig auf orientalische Vorstellungen bezogen oder zumindest durch orientalische Quellen angeregt und gehören daher zum West-oestlichen Divan und seinem unmittelbaren Umkreis. Wo dieser Zusammenhang gelöst ist – wie im „Wiegenlied dem jungen Mineralogen Wolfgang v. Goethe. Den 21 April 1818“ (FA I 2, S. 605f.) –, da verwischt sich auch formal der Unterschied zu ähnlichen Gedichtformen aus der Romania mit mehrfach wiederkehrendem Reim (Rondeau, Terzine, Sonett, Stanze etc.).22 20

21

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„Or, ces phénomènes de distribution formelle ont un fondement sémantique.“ Roman Jakobson/Claude Lévi-Strauss. „Les chats de Charles Baudelaire“. Poetry of Grammar and Grammar of Poetry. Hg. Stephen Rudy. The Hague/Paris/ New York: Mouton, 1981. (= Selected Writings, Bd. III.) S. 447-464, hier: S. 461. Johann Peter Eckermann. „Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens“, 21.11.1823. Goethe. Sämtliche Werke (wie Anm. 3). II. Abt. Bd. 12. S. 77f. Vgl. auch Eckermanns lobende Rezension der „Neuen Ghaselen von August Graf von Platen“. Goethe. Sämtliche Werke (wie Anm. 3). I. Abt. Bd. 21. S. 590f. So charakterisierte schon Friedrich Schlegel das Ghasel als „eine persische Dichtart, die sich sehr an die Glosse, Sestine und das Sonett anschließt und

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Fragt man aber nach dem Spektrum des je ‚besondern Sinns‘, so haben das zweite und dritte Gedicht dieses Typs spezifisch islamische Vorstellungen zum Ausgangspunkt: Der das „Buch Suleika“ krönenden „Lob- und Preis-Litaney“ auf die Geliebte – „In tausend Formen…“ (16.3.1815; FA I 3, S. 101f.) – liegt „der sogenannte Mahometanische Rosenkranz“ zugrunde, „wodurch der Name Allah mit neun und neunzig Eigenschaften verherrlicht wird“ (ebd., S. 171), und seine formale Entsprechung ist der identische Reim auf „dich“, in den ersten vier Strophen erweitert zum reichen Reim „(er)kenn’ ich dich“. Und das Gedicht „Ob der Koran von Ewigkeit sey?…“ (20.5.1815; ebd., S. 104f.) aus dem „Schenkenbuch“ nimmt gleich im ersten Vers Bezug auf einen zentralen Lehrgehalt des Korans; der identische Reim auf „sey“, je zweimal erweitert zum reichen Reim „von Ewigkeit sey“ und „geschaffen sey“, wie auch der zusätzliche Kreuzreim („frag’/weiß/zweifl’ ich nicht“, „Mosleminen Pflicht“, „kein Gedicht“, „Angesicht“), sind das formale Pendant zu dieser scherzhaften, monologischen Katechisierung. Das vier Tage nach dem letztgenannten verfasste Dialog-Gedicht „Da du nun Suleika heißest…“ (24.5.1815; ebd., S. 74f.) mit dem in ganz verschiedenen Wortverbindungen stehenden identischen Reimwort „seyn“ setzt den Dichter in einen direkten Bezug zu berühmten orientalischen Vorbildern: Hatem Thai (¼ātīm at-Óā’ī ) und Hatem · Zograi (at-Óuğrā’ī ). Und in ähnlicher Weise wird in dem bis zu die· sem Zeitpunkt entstandenen Huldigungsgedicht „An Schach Sedschan und seines Gleichen“ (ebd., S. 47) Herzog Carl August unter dem Namen Schach Sedschan (Šāh Šuğā‘) gefeiert. Ja, durch die Koppelung mit diesem Gedicht im „Buch der Betrachtungen“ wird das im selben Zeitraum verfasste Gedicht „Höchste Gunst“ (27.5.1815; ebd., S. 47f.) mit dem beziehungsreichen identischen Reimwort „gefunden“ orientalisch konnotiert. Wenn sich Goethe nach mehr als vier Monaten wieder der Ghaselform näherte, so knüpfte er damit an das Gedicht „Ob der Koran von Ewigkeit sey…“ an; freilich nicht an seine ‚seriöse‘ theologische Thematik, sondern an seine Funktion als Trinklied im Rahmen des „Schenkenbuchs“. Dass nun in dem aus ¼āfiã-Motiven gespeisten ‚Liebe und zwischen diesen allen ungefähr das Mittel hält“ (an August Wilhelm Schlegel, 15.1.1803. Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm. Hg. Oskar F. Walzel. Berlin: Speyer & Peters, 1890. S. 507).

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Wein‘-Gedicht „Sie haben wegen der Trunkenheit…“ (29.9.1815; ebd., S. 107) ständig – mit Ausnahme einer zentralen ‚Waise‘ – das Wort „Trunkenheit“ refrainartig wiederkehrt, lässt sich als scherzhafte Nachahmung der Redeweise eines Betrunkenen verstehen. Und ebenso, wenn in dem zehn Tage später verfassten und in Anreden an ¼āfiã kulminierenden Preislied auf den exzellenten 1811er-Wein – „Wo man mir Guts erzeigt uberall…“ (ebd., S. 597-599) – sein Name „Eilfer“ 37mal als Reimwort wiederholt wird. Beide Gedichte stellen zugleich Goethes stärkste formale Annäherung an das Ghasel dar: Das erste, indem seine geradzahligen Verse durch einen Monoreim („verklagt“, „gesagt“, „es tagt“ etc.) verbunden sind, während die ungeradzahligen analog zum radīf das eine Wort „Trunkenheit“ (dreimal expandiert zu „Betrunkenheit“ und einmal zu „Liebestrunkenheit“) wiederholen. Das Lied vom ‚Eilfer‘ aber, indem es – erst- und letztmalig bei Goethe – völlig auf die Reimbindung der ungeraden Verse verzichtet; allerdings hat er diese in einer zweiten, noch früher abbrechenden Version (ebd., S. 599f.) wieder in Kreuzreime verwandelt. Diese zweite Phase der Annäherung ans Ghasel endete mit dem eingangs zitierten Huldigungsgedicht „Hafis dir sich gleich zu stellen…“ (22.12.1815; ebd., S. 605) und dem Kreuzreim-Gedicht „Sprich! Unter welchem Himmelszeichen…“ (8.1.1816; ebd., S. 606), dessen Gestaltung der Liebesthematik zwar mit dem „Buch Suleika“ harmoniert, ohne doch spezifisch orientalische Motive aufzuweisen. Ähnliches gilt für die beiden untereinander themenverwandten Nachzügler dieses Formtyps: „Mit der Teutschen Freundschaft…“ (19.3.1818; ebd., S. 610) und „Haben Sie von deinen Fehlen…“ (bis August 1819; ebd., S. 342), deren letzter schließlich noch ins „Buch der Betrachtungen“ der ‚Ausgabe letzter Hand‘ des West-östlichen Divans aufgenommen worden ist. Endete so Goethes produktive Auseinandersetzung mit dem Ghasel spätestens zur Zeit der Drucklegung des West-oestlichen Divans, so begann damit zugleich die Fruchtbarkeit dieser Gedichtform innerhalb der deutschen Lyrik.23 Ermutigt durch Goethes Vorbild und zugleich sich seinen orientalischen Vorbildern stärker annähernd, verfasste Friedrich Rückert 1819 in Nachdichtungen aus dem Werk des persi23

Vgl. Hubert Tschersig. Das Gasel in der deutschen Dichtung und das Gasel bei Platen. Leipzig: Quelle & Meyer, 1907. S. 165; Diethelm Balke. Westöstliche Gedichtformen. Sadschal-Theorie und Geschichte des deutschen Ghasels. Phil. Diss. Bonn 1952 [Masch. vervielf.]. S. 198-201.

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schen Lyrikers Ğalālu’d-dīn Rūmī die ersten kunstgerechten Ghaselen in deutscher Sprache, die er mit dem selbstbewussten Mottogedicht eröffnete: DIE FORM DES GHASELS Die neue Form, die ich zuerst in deinen Garten pflanze, O Deutschland, wird nicht übel stehn in deinem reichen Kranze. Nach meinem Vorgang mag sich nun mit Glück versuchen Mancher Sogut im persischen Ghasel, wie sonst in welscher Stanze.24

Angeregt dadurch verfasste August von Platen seit dem 16.1.1821 eigene Ghaselen, die er bis 1823 in vier Sammlungen publizierte. Rückert versagte ihnen nicht seinen Beifall, beharrte aber darauf, der „erste deutsche Bändiger dieser morgenländischen Form“ gewesen zu sein25; woraufhin ihn Platen in der Einleitung zu seinen Nachbildungen aus dem Diwan des Hafis (1822) als „Rückert, dem wir die ersten Ghaselen verdanken“ apostrophierte.26 Wie aber Rückert seine Oestlichen Rosen (1821) mit dem kunstvollen Gedicht „Zu Goethe’s west-östlichem Diwan“ einleitete27, so bald darauf auch Platen seine Nachbildungen aus dem Diwan des Hafis mit einem „Prolog an Goethe“28 in Stanzenform. Denn sie waren ja von Goethe nicht nur zur kunstgerechten Nachahmung der Ghaselform angeregt worden, sondern auch zu ihrer freien Übertragung in westliche Strophenformen. So hat Platen zwar höchst virtuos eigene Ghaselen gedichtet, für seine Nachbildungen aus dem Diwan des Hafis 29 hingegen – nach dem Vorbild des 24

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Friedrich Rückert. „Lyrische Gedichte. Fünftes Buch: Wanderung. Dritter Bezirk: Ghaselen“. Gesammelte Poetische Werke in zwölf Bänden. Bd. 5. Frankfurt a.M.: Sauerländer, 1868. S. 200-285, hier: S. 200. Rückert an Platen, Mai 1821. August Graf von Platen. Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Hg. Max Koch/Erich Petzet. Leipzig: Hesse, o.J. Bd. 1. S. 472. „Rückert, dem wir die ersten Ghaselen verdanken“ (Platen. Sämtliche Werke. Bd. 7. S. 130-134, hier: S. 131). Platen. Sämtliche Werke (wie Anm. 25). Bd. 7. S. 130-134, hier: S. 131. Friedrich Rückert. Oestliche Rosen. Drei Lesen. Leipzig: Brockhaus, 1822 [eig. 1821]. S. 1-3; erheblich verkürzt und unter Ausgliederung der 44 Ghaselen in der „Zweyten Lese“ wurden die Oestlichen Rosen wiederabgedruckt in Rückerts Gesammelten Poetischen Werken (wie Anm. 24). Bd. 5. S. 286-367 (S. 286f.: „Zu Goethe’s west-östlichem Diwan“). Platen. Sämtliche Werke (wie Anm. 25). Bd. 7. S. 126-129. Ebd., S. 134-168. Vgl. Hartmut Bobzin. „Der Orient sey neubewegt…“ Platens Studium des Persischen und seine Ghaselen-Dichtung. „Was er

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West-oestlichen Divans – Schenken- und Suleika-Strophen gewählt.30 Denn (wie er in der „Einleitung“ betont): Die Form dieser Gedichte würde schon vermöge des Reims dem Übersetzenden ein unübersteigliches Hindernis in den Weg legen. Nur einmal habe ich versucht, eine Ghasele in dem ursprünglichen Reimgange nachzubilden […]; doch mußte ich auch hier von dem eigenthümlichen Versmaße des Originals abgehen.31

Umgekehrt setzte Platen seinen Ehrgeiz darein, seine eigenen Ghaselen immer „gediegener, gedankenreicher, kühner, in der Form vollendeter und entblößt von orientalischen Anspielungen“ zu gestalten, so dass man in ihnen „außer der Form, nichts eigentlich Orientalisches mehr darin finden werde“.32 Folgerichtig tragen seine Neuen Ghaselen von 1823 das selbstbewusste Motto: Der Orient ist abgethan, Nun seht die Form als unser an.33

Kein Wunder, dass sich sein Streit mit Heine ausgerechnet an dessen Zitierung von Immermanns „Xenion“ entzündete:

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wünscht, das ist ihm nie geworden“. August Graf von Platen 1796-1835. Hg. Gunnar Och. Erlangen: Universitäts-Bibliothek, 1996. S. 89-119, hier 104-106; und Bürgel. „Platen und Hafis“. August Graf von Platen. Leben – Werk – Wirkung. Hg. Bobzin und Och. Paderborn/München/Wien/Zürich: Ferdinand Schöningh, 1998. S. 85-102, bes. 88-101. Zur metrischen Terminologie vgl. Wagenknecht. Deutsche Metrik (wie Anm. 12). S. 67 u. 135. Dagegen Bürgel: „Platen hat […] in den 50 Nachbildungen immer die gleiche ihm aus der spanischen Lyrik bekannte Strophenform der Redondilla, ein vierhebiger Trochäus, in der Regel mit kreuzenden Reimen, übernommen und nur ein einziges weiteres Ghasel formstreng übertragen.“ (Bürgel. „Platen und Hafis“ [wie Anm. 29]. S. 90f.) Vgl. hierzu schon Tschersig. Das Gasel in der deutschen Dichtung (wie Anm. 23). S. 22, und Friedrich Veit. „Graf Platens Nachbildungen aus dem Diwan des Hafis und ihr persisches Original“. Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte 7 (1907). S. 257-309, 390-438, u. 8 (1908). S. 145-224, hier: S. 218. Platen. Sämtliche Werke (wie Anm. 25). Bd. 7. S. 131; hier auch die genannte „Ghasele nach Hafis“ (ebd., S. 168f.). Zitiert in: ebd., Bd. 3. S. 13f. Platen. Sämtliche Werke (wie Anm. 25). Bd. 3. S. 101.

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Von den Früchten, die sie aus dem Gartenhain von Schiras stehlen, Essen sie zu viel, die Armen, und vomieren dann Ghaselen.34

Anders als Platen verwendete Rückert das Ghasel mit unglaublicher Virtuosität in seinen Übersetzungen aus dem Persischen: zunächst aus dem Dīwān des Ğalālu’d-dīn Rūmī 35, dann auch aus denen Sa’dīs36, ¼āfiã’37 und Ğāmīs.38 Doch schon in der „Zweyten Lese“ seiner Oestlichen Rosen (1821) versammelte er nicht weniger als 44 eigene Ghaselen, zu denen noch die 24 Ghaselen der Sammlung Freimund 39 (1822) kamen, in denen orientalische Motive variiert werden. Doch auch bei Rückert findet in den 1834 entstandenen Kindertodtenliedern eine thematische und motivische Ent-Orientalisierung des hier mehr als zwanzigmal verwendeten Ghasels statt, das sich so zugleich kaum noch von anderen Spielarten der Rückertschen Reimkunst abhebt. Verallgemeinert heißt dies: Entweder das Ghasel bezieht sich weiterhin unverkennbar auf orientalische Themen und Motive und gerät damit seit Mitte des 19. Jahrhunderts ins Abseits des lyrischen Geschmacks; oder es tilgt all solche Anspielungen auf Orientalisches und verliert damit seine raison d’être als eigenständige Gedichtform. Angesichts dieses Dilemmas blieb dem Ghasel – anders als dem Sonett – nur ein kurzer, durch Goethes West-oestlichen Divan eröffneter Möglichkeitsspielraum in der deutschen Lyrik des 19. und

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38

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Heinrich Heine. „Reisebilder. Zweyter Theil. Die Nordsee 1826“. Sämtliche Werke. [‚Düsseldorfer Ausgabe‘]. 16 Bde. Hg. Manfred Windfuhr. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1973. III. Abt. Bd. 6. S. 166. Rückert. Gesammelte Poetische Werke. Bd. 5. S. 200-237. Friedrich Rückert. Aus Saadis Diwan. Auf Grund des Nachlasses hg. v. Edmund A. Bayer. Berlin: Lüstenöder, 1893. Friedrich Rückert. Ghaselen des Hafis. Hg. Herman Kreyenborg. München: Hyperion, 1926 (= Dichtungen des Ostens, Bd. 7); Vgl. die kommentierte Auswahl: Friedrich Rückert. Dreiundsechzig Ghaselen des Hafis. Eingel. Johann Christoph Bürgel, Hg. Wolfdietrich Fischer. Wiesbaden: Harrassowitz, 1988 (= Rückert zu Ehren. Eine Schriftreihe der RückertGesellschaft. Bd. 1). Friedrich Rückert. „Aus Dschamis Diwan“ Rückert-Nachlese. Sammlung der zerstreuten Gedichte und Übersetzungen Friedrich Rückerts. Hg. Leopold Hirschberg. 2 Bde. Weimar: Gesellschaft der Bibliophilen, 1910f., hier: Bd. 2. S. 371-397. Rückert. Gesammelte Poetische Werke. Bd. 5. S. 238-253.

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Hendrik Birus

frühen 20. Jahrhunderts.40 Der Rest waren mehr oder weniger glückliche, ja gelegentlich geniale Einzelfälle, vor allem im Feld der literarischen Übersetzung.

Literatur Balke, Diethelm. Westöstliche Gedichtformen. New York/San Francisco/ Bern/Frankfurt a.M./Paris/London 1991. Balke, Diethelm. Westöstliche Gedichtformen. Sadschal-Theorie und Geschichte des deutschen Ghasels. Phil. Diss. Bonn 1952 [Masch. vervielf.]. Birus, Hendrik. „Am Schnittpunkt von Komparatistik und Germanistik. Die Idee der Weltliteratur heute“. Germanistik und Komparatistik. DFG-Symposion 1993. Hg. Hendrik Birus. Stuttgart/Weimar 1995. S. 439-457. Birus, Hendrik. „Goethes Idee der Weltliteratur. Eine historische Vergegenwärtigung“. Weltliteratur heute. Konzepte und Perspektiven. Hg. Manfred Schmeling. Würzburg 1995. S. 5-28. Bloom, Harold. The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry. Oxford/London/New York 1975 [u.ö.]. Bloom, Harold. The Western Canon. The Books and School of the Ages. New York/San Diego/London 1993. Bobzin, Hartmut/Och, Gunnar (Hg.) August Graf von Platen. Leben – Werk – Wirkung. Paderborn/München/Wien/Zürich 1998. Bobzin, Hartmut. „Der Orient sey neubewegt...“ Platens Studium des Persischen und seine Ghaselen-Dichtung. „Was er wünscht, das ist ihm nie geworden“. August Graf von Platen 1796-1835. Hg. Gunnar Och. Erlangen 1996. S. 89-119. Bürgel, Johann Christoph. „Platen und Hafis“. August Graf von Platen. Leben – Werk – Wirkung. Hg. Bobzin und Och. Paderborn/München/ Wien/Zürich 1998. S. 85-102. Eckermann, Johann Peter. „Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens“, 21.11.1823. Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. [‚Frankfurter Ausgabe‘]. 40 Bde. Hg. Friedmar Apel/Hendrik Birus [u.a.]. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker, 1985-1999. II. Abt. Bd. 12. Goethe, Johann Wolfgang. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. [‚Frankfurter Ausgabe‘]. 40 Bde. Hg. Friedmar Apel/Hendrik Birus [u.a.]. Frankfurt a.M. 1985-1999. 40

Einen Überblick über dieses Feld gibt: Balke. Westöstliche Gedichtformen. Bes. S. 186-301 und Hülya Ünlü. Das Ghasel des islamischen Orients in der deutschen Dichtung. New York/San Francisco/Bern/Frankfurt a.M./ Paris/ London: Lang, 1991.

Goethes Annäherung an das Ghasel und ihre Folgen

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Goethe, Johann Wolfgang. Werke. [‚Weimarer Ausgabe‘]. 133 Bde. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887-1919. Repr. München 1987. ¼āfiã. Der Diwan des Mohammed Schemsed-din Hafis. Übs. von Joseph v. Hammer. Stuttgart/Tübingen 1812/13 [vielmehr 1814]. Heine, Heinrich. „Reisebilder. Zweyter Theil. Die Nordsee 1826“. Sämtliche Werke. [‚Düsseldorfer Ausgabe‘]. 16 Bde. Hg. Manfred Windfuhr. Hamburg 1973. Jakobson, Roman/Lévi-Strauss, Claude. „Les chats de Charles Baudelaire“. Poetry of Grammar and Grammar of Poetry. Hg. Stephen Rudy. The Hague/Paris/New York 1981. (= Selected Writings, Bd. III.) S. 447-464. Kayser, Wolfgang. Kleine deutsche Versschule. 24. Aufl. Tübingen/Basel 1992. Kayser, Wolfgang. „Goethes Dichtungen in Stanzen“. Kunst und Spiel. Fünf Goethe-Studien. Hg. Wolfgang Kayser. Göttingen 1961. S. 86-99. Koch, Max/Petzet, Erich (Hg.). August Graf von Platen. Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Leipzig o.J. Och, Gunnar (Hg.). „Was er wünscht, das ist ihm nie geworden“. August Graf von Platen 1796-1835. Erlangen 1996. Rückert, Friedrich. „Aus Dschamis Diwan“ Rückert-Nachlese. Sammlung der zerstreuten Gedichte und Übersetzungen Friedrich Rückerts. Hg. Leopold Hirschberg. 2 Bde., Weimar 1910. Rückert, Friedrich. Aus Saadis Diwan. Auf Grund des Nachlasses hg. v. Edmund A. Bayer. Berlin 1893. Rückert, Friedrich. Dreiundsechzig Ghaselen des Hafis. Eingel. Johann Christoph Bürgel, Hg. Wolfdietrich Fischer. Wiesbaden 1988. Rückert, Friedrich. Ghaselen des Hafis. Hg. Herman Kreyenborg. München 1926. Rückert, Friedrich. „Lyrische Gedichte. Fünftes Buch: Wanderung. Dritter Bezirk: Ghaselen“. Gesammelte Poetische Werke in zwölf Bänden. Frankfurt a.M. 1868. S. 200-285. Rückert, Friedrich. Oestliche Rosen. Drei Lesen. Leipzig 1822 [eig. 1821]. Rudy, Stephen (Hg.). Poetry of Grammar and Grammar of Poetry. The Hague/ Paris/New York 1981. Tschersig, Hubert. Das Gasel in der deutschen Dichtung und das Gasel bei Platen. Leipzig 1907. Ünlü, Hülya. Das Ghasel des islamischen Orients in der deutschen Dichtung. New York/San Francisco/Bern/Frankfurt a.M./Paris/London 1991. Veit, Friedrich. „Graf Platens Nachbildungen aus dem Diwan des Hafis und ihr persisches Original“. Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte 7 (1907). S. 257-309, 390-438, u. 8 (1908). S. 145-224. Wagenknecht, Christian. Deutsche Metrik. Eine historische Einführung. München 1981 [u.ö.].

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Hendrik Birus

Walzel, Oskar F. (Hg.). Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm. Berlin 1890. Weimar, Klaus/Fricke, Harald (Hg.). Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Berlin 1997.

Ulrike Stamm

Die hässliche Orientalin Zu einem Stereotyp in Reiseberichten des 19. Jahrhunderts Die sinnliche Orientalin Die Orientalin wird im 19. Jahrhundert zu einem der zentralen Objekte des Orientalismus und seiner Phantasmagorien; in ihr verdichtet sich die Vorstellung des Orients als einer Welt von Sinnlichkeit, Geheimnis, Pracht und Exzess.1 Vor allem in der französischen Literatur wird sie zur zentralen Gestalt innerhalb einer „Traumwelt des Rausches und ekstatischer Visionen des Sinnengenusses und unerhörter Ausschweifungen.“2 Gustave Flaubert, Gérard de Nerval, Fürst Pückler-Muskau, Robert Burton und unzählige andere Autoren reproduzieren und modifizieren die Vorstellung einer naturhaft sinnlichen Weiblichkeit, die sich aus den Erzählungen von 1001 Nacht sowie der Tradition der arabischen und persischen Lyrik herleitet, aber auch von tendenziös gedeuteten Aspekten des Korans wie dem Bild der ‚glutäugigen houris‘, die den Gläubigen im Paradies erwarten, gespeist wurde. Zusätzliche optische Präsenz gewann die Orientalin außerdem durch die Malerei des Orientalismus, die mit der verführerisch-lasziven Odaliske das zentrale Objekt erotischen Begehrens schuf.3 Der Harem, das türkische Bad oder der Sklavenmarkt wurden dabei zu den bevorzugt gemalten Orten, an denen sich der Orient in exemplarischer Weise als Raum sinnlicher Reize und Erfüllungen erwies. Innerhalb der deutschsprachigen Literatur ist es vor allem Fürst Pückler-Muskau, der den Orient vornehmlich als Bühne erotischer Inszenierungen konstruiert. Beispielhaft dafür ist eine Passage in sei1

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Edward Said verweist darauf, dass orientalische Frauen von männlichen Autoren als „creatures of a male power-fantasy“ dargestellt werden: „They express unlimited sensuality, they are more or less stupid, and above all they are willing.“ Orientalism. New York 1994. S. 207. Karl-Heinz Kohl. „Cherchez La Femme d’Orient“. Europa und der Orient: 800-1900. Hg. Gereon Sievernich/Hendrik Budde. S. 356-368, hier: S. 360. Vgl. Lynne Thornton. Les orientalistes: peintres voyageur. Paris 1994.

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nem Reisebericht Semilasso in Afrika, in der er eine Szene beschreibt, die er während eines Spaziergangs durch das nächtliche Kairouan durch eines der erleuchteten Fenster wahrnimmt: Auf den Estrich gelagert und vorsichtig hinabblickend, sah ich unten einen Muselmann, auf seine Ottomane hingestreckt, behaglich rauchen, und zwei bis an den Gürtel fast nackte Weiber mit bloßen Füßen vor ihm tanzen, während einige Fackeln die artige Scene völlig klar erhellten. Beide Frauen waren hübsch und auch nicht zu übermäßig dick, und ich hätte ihnen gern noch länger zugesehen, wenn nicht der Klang eines fernen Schrittes mich gewarnt, nicht weiter von der verbotenen Frucht zu naschen.4

Hier finden sich in exemplarischer Weise verschiedene Aspekte des europäischen Blicks auf die Orientalin versammelt: der männliche Voyeurismus, der von dem Wissen um das Geheimnis und das für ihn geltende Blickverbot angestachelt wird, die Wahrnehmung der kolonisierten Frau als Lustobjekt, die Nachahmung der Position des orientalischen Patriarchen, und schließlich der Blick von oben in das Kellerzimmer, der deutlich auf die Überlegenheit des Europäers verweist. Die abschließende Anspielung auf den Topos des Sündenfalls verdeutlicht zudem durch die Gleichsetzung des Sehens mit einem Akt oraler Einverleibung, dass es sich bei dieser visuellen Lust um eine Form der Aneignung handelt. Diese Szene präsentiert einerseits die orientalischen Frauen als Objekte männlicher Lust und Schaulust, wobei diese, insofern sie einem zweifachen Blickregime, auch einer doppelten Unterordnung ausgesetzt sind. Andererseits wiederholt der Autor in dieser ‚Schlüssellochszene‘ die Position und den Blick des orientalischen Mannes und schlüpft für kurze Zeit in dessen Rolle. Er inszeniert sich somit als jemand, der von der männlichen Vormachtstellung profitiert und die damit verbundenen Privilegien ohne Zögern in Anspruch nimmt. Insofern zeigt sich hier, dass das Phantasma der sinnlichen Orientalin eng verbunden ist mit der Vorstellung eines patriarchalischen Systems, das von männlichen Autoren indirekt bejaht wird. 4

Fürst von Pückler-Muskau. Semilasso in Afrika. Band V. Stuttgart 1836. S. 16. Möglicherweise beruht diese Szene auf Vorbildern aus der orientalistischen Malerei, in der gerade solche Tanzszenen ein häufiges Sujet waren. Vergleiche bspw. das Bild Les Almées (1893) von P.L. Bouchard, abgebildet im Katalog Europa und der Orient. S. 359.

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Auch in den meisten von Frauen im 19. Jahrhundert verfassten Reiseberichten über den Orient ist die Figur der orientalischen Frau von zentralem Interesse; der Themenbereich ‚Orient und Weiblichkeit‘ gewinnt aber insofern zusätzlich an Bedeutung, als Frauen die Möglichkeit hatten, selbst einen Harem zu besuchen und daher quasi aus erster Hand über diesen unbekannten, magischen Ort berichten konnten. Allerdings widerspricht die Repräsentation der Orientalin in der Perspektive deutscher Autorinnen diametral dem aus männlichen Texten bekannten Topos, was zunächst nicht erstaunlich ist. Die von den Autorinnen geschaffenen Repräsentationen der fremden Frauen haben dabei den Charakter einer Antwort auf ein von männlichen Texten, Bildern und Phantasmagorien geschaffenes Bild. So schreibt Ida Pfeiffer über die meist verhüllten Frauen in Jaffa: „– [V]on Grazie im Gange, von Anmut in ihren Bewegungen und von Schönheit des Körpers oder Gesichtes, wie manche Schriftsteller behaupten, sah ich leider nichts – dagegen Schmutz und Armuth, und zwar mehr, als ich erwartete.“5 Das Bild der Orientalin wird damit zu einem umstrittenen Feld, auf dem die Frage des Geschlechterverhältnisses und der normativen Weiblichkeitskonzeptionen auf der Folie der Alterität verhandelt werden. Insofern erweist sich an dieser Stelle einmal mehr, dass es verschiedene ‚Orientalismen‘ gibt, die sich zwar in manchen Themenbereichen überschneiden, in anderer Hinsicht aber grundsätzlich unterscheiden.6 Für ein angemessenes Verständnis des Phänomens ‚Orientalismus‘ ist es aber entscheidend, dass auch diese anderen Versionen des Orientalismus berücksichtigt und beachtet werden. Aus diesem Grund soll im Folgenden ein für die Orientreiseberichte von Frauen bezeichnender Themenbereich, nämlich die Repräsentation der Orientalin, hinsichtlich der spezifisch weiblichen Perspektive untersucht werden. Fast alle Autorinnen kommen darin überein, den Glauben an die Schönheit der Orientalin widerlegen zu wollen– übrigens ganz im Gegensatz zu ihrer Repräsentation orientalischer Männer, von denen sie 5

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Ida Pfeiffer. Reise einer Wienerin in das Heilige Land. Vierte verbesserte Auflage. Erster Band. Wien 1845. S. 94. Edward Said bezeichnet in kritischer Absicht den Orientalismus als „an exclusively male province“, (Orientalism. S. 207), ohne zu bemerken, dass er selbst diese Einseitigkeit fortsetzt, indem er sich nur auf männliche Autoren bezieht. Dieses Defizit ist ihm von vielen Autoren – u.a. von Reina Lewis, Susan Zantop – vorgeworfen worden.

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immer wieder einzelne als auffallend schön beschreiben. Dies soll kurz an einigen Beispielen veranschaulicht werden. Eher neutral klingt die zunächst zitierte Äußerung von Marie Espérance von Schwartz, die im Jahr 1848 mit ihrem Mann das schon kolonisierte Algerien und Tunis bereist. Sie schreibt bei ihrem ersten Gang durch die Bazare von Tunis: „Die Frauen sind hier, wie ich bis jetzt bei allen orientalischen Völkern gefunden habe, eine sehr unerfreuliche Erscheinung.“7 Als die Autorin mit ihrem Führer Nebac durch das algerische Hinterland reitet und dort die Familie des Führers trifft, schreibt sie: „Eine Schwester Nebacs hatte kein übles Aussehen; sonst ist an diesen mit Lumpen und hier und da mit ächtem oder falschem Schmucke bedeckten tättowirten [sic!] Gestalten gar nichts zu sehen.“8 Sehr deutlich spricht die Autorin – in der Negation – hier aus, was die Orientalin in den Texten der meisten reisenden Europäerinnen darstellt: nämlich eine enttäuschende Sehenswürdigkeit. Auch Ida Pfeiffer, die wohl berühmteste deutsche Weltreisende des 19. Jahrhunderts, bestätigt diese Diagnose. Sie schreibt auf ihrer Reise ins Heilige Land über die Samariterinnen: Übrigens könnten sich alle vermummen, denn von schönen, reizenden Mädchen und Frauen ist wahrlich so wenig zu sehen, daß man sie wohl mit der Laterne suchen könnte. Sie haben alle braune, garstige Haut, struppige Haare und nicht so volle Gestalten, wie die Türkinnen.9

Am entschiedensten wendet sich Ida Gräfin Hahn-Hahn, die zum Zeitpunkt ihrer Orientreise schon eine bekannte Autorin war, gegen den Topos der schönen Orientalin. Als sie zum ersten Mal einen Harem besucht, äußert sie entsetzt: „so sah ich mich von einer Weiberschar umringt, vor der ich förmlich erschrack, so häßlich war sie.“10 Und über ihren Besuch des türkischen Bades schreibt sie: „Hauptsächlich war ich hingegangen, um, wo möglich, schöne Frauen zu sehen. Aber sie waren tout comme chez nous nicht schön nicht häßlich, sondern 7

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Marie Espérance von Schwartz. Blätter aus dem africanischen Reise-Tagebuche einer Dame. Zweiter Band. Braunschweig 1849. S. 41. Ebd., Erster Band. S. 417. Ida Pfeiffer. Reise einer Wienerin in das Heilige Land (wie Anm. 5). Zweiter Band. S. 6. Ida von Hahn-Hahn. Orientalische Briefe. Zweiter Band. Berlin 1844. S. 73.

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Mittelschlag: nämlich die jungen; die alten affrös.“11 Bei Hahn-Hahn wird zudem deutlich, dass sich die Abwertung des überlieferten Topos zu massiver Abwehr steigern kann, die die Anderen schließlich aus dem Bereich des Menschlichen selbst ausschließt, indem sie sie als „Fleischklumpen“ oder „plumpe braune Bären mit weißen Köpfen“12 bezeichnet. Schon die wenigen angeführten Beispiele dürften hinreichend deutlich machen, dass in Bezug auf die Figur der Orientalin ein grundsätzlicher Unterschied besteht zwischen den aus männlicher und den aus weiblicher Perspektive verfassten Reiseberichten. Auch wenn die verschiedenen abwertenden Äußerungen über die Orientalin im Einzelnen nicht von besonderer Bedeutung zu sein scheinen, bilden sie zusammengenommen doch einen Diskurs mit einheitlicher Stoßrichtung, dem es um eine Veränderung orientalistischer Stereotypen geht und der sich um den binären Gegensatz von schön und hässlich dreht. Bemerkenswert ist dabei, dass sich die Disqualifizierung der weiblichen Anderen zunächst nicht auf die kulturellen, religiösen oder rassischen Differenzen bezieht, sondern allein auf das Aussehen. Differenz wird also nicht durch die Hautfarbe markiert, aber doch am Körper festgemacht und zwar – in Übereinstimmung mit europäischen Weiblichkeitskonventionen – an einem nach europäischen ästhetischen Maßstäben bewerteten – Körper. Man könnte die von weiblicher Seite aus vorgenommene Abwertung der Orientalin entweder als weiblichen Konkurrenzneid vereinfachend psychologisieren, womit man aber weder der Komplexität des Problems noch der Besonderheit der jeweiligen Argumentation gerecht würde, oder als typisch europäischen Rassismus und Ethnozentrismus deuten, womit aber in diesem Falle noch nichts erklärt ist, da es sich hier doch andererseits um eine geschlechtsspezifische Form der Abwertung handelt, und somit um eine Thematik, bei der Paradigmen rassischer und sexueller Differenz zusammenspielen und sich überkreuzen. Dennoch sind diese Negativwertungen der Orientalin – das sei als These vorweggenommen – insofern Teil eines rassistischen Diskurses, als sie einerseits die anderen Frauen zur Masse homogenisieren und sie dabei andererseits als binären Gegensatz zu europäischer Weiblichkeit konstruieren. Zudem geschieht diese Dis11 12

Ebd., Erster Band. S. 188. Ebd., S. 188f.

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qualifizierung der Orientalin im Zusammenhang mit dem ab 1830 aufkommenden Kolonialismus, der wiederum zu einer Verstärkung rassistischer Denkmuster führt und in engem Zusammenhang steht mit der Entwicklung des wissenschaftlichen Rassismus.13 Die im Folgenden untersuchten abwertenden Repräsentationen der Orientalin, die Konstruktionen darstellen, d.h. in einem komplizierten Sinn vermittelt sind und keinesfalls als Beschreibungen mit einem unproblematischen faktischen Wert missverstanden werden dürfen, sind somit Teil jener mannigfaltigen Rassismen, die die europäische Geschichte bestimmen; spezifisch ist in diesem Fall die Tatsache, dass die Abwertung nicht einer rassisch bestimmten Menschengruppe insgesamt gilt, sondern vielmehr einem Geschlecht und einer als einheitlich gedachten Rasse und Kultur gleichermaßen. Der Erkenntnisgewinn betrifft hier die Tatsache, dass die Kategorien rassischer und sexueller Differenz tendenziell zusammenwirken und in bestimmten Zusammenhängen nicht getrennt betrachtet werden können.14 Es ist daher ein Desiderat der postkolonialen wie auch der feministischen Forschung, die Überschneidungen beider Kategorien in je spezifischen historischen Situationen zu analysieren. Bei der Untersuchung der Frage, welche vielfältigen – psychischen, sozialen und kulturellen – Funktionen diese geschlechtsspezifische Form der Abwertung hat, gilt es zu beachten, dass sowohl das Selbstverhältnis der Autorinnen wie auch historisch verbindliche Konzepte, in diesem Fall die Weiblichkeitskonzeptionen des 19. Jahrhunderts, eine die Wahrnehmung der Anderen präformierende Rolle spielen. Insofern wird es im Folgenden erstens darum gehen, welche Projektionen und Ängste an der Herstellung dieses Negativbildes beteiligt sind, und zweitens um die Frage, welche normativen Ordnungen und Diskurse dabei und dafür mobilisiert werden. Um auch die je unterschiedliche „Konstruktionslogik derartiger symbolischer Diskurse und Prakti13

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Philipp Sarasin datiert die Geburtsstunde des wissenschaftlichen Rassismus auf das Jahr 1850 mit dem Erscheinen von Robert Knox’ Buch The Races of Men. „Zweierlei Rassismus? Die Selektion des Fremden als Problem in Michel Foucaults Verbindung von Biopolitik und Rassismus“. Biopolitik und Rassismus. Hg. Martin Stingelin. Frankfurt a.M. 2003. S. 75. Diesen Gedanken entwickelt Anne McClintock in Imperial Leather. Race, Gender and Sexuality in the Colonial Contest. New York/London 1995. Siehe dazu bspw. S. 61.

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ken“15 zu entziffern, soll zunächst eine kurze Übersicht über wichtige Argumentationsmuster rassistischer Abwertung gegeben werden.

Argumentationsmuster rassistischer Abwertung Eine rassistische Aussage ist dadurch gekennzeichnet, dass aus einer Position der Überlegenheit heraus eindeutige und hierarchisierende Grenzziehungen gegenüber dem Anderen vorgenommen werden, die körperliche Merkmale als Bedeutungsträger, als „Zeichen innerhalb eines Diskurses der Differenz“16 einsetzen. Das dialektische Verhältnis jeder rassistischen Zuschreibung beinhaltet, dass das Eigene durch die Abwertung des Anderen erhöht und die Identität der eigenen Gruppe durch Zuschreibung negativer Charakteristika in Bezug auf die jeweils andere Gruppe gebildet wird; dies ist also nach Said jene „distanzierende Verkehrung“, bei der der oder das Andere zum Gegenbild des Eigenen wird, was dann zu einem „System der Spaltung der Welt in ihre binären Gegensätze“17 führt. Voraussetzung ist aber, dass die eine Seite teilhat an einer überlegenen Position, die zudem von bestimmten Institutionen gestützt und ermöglicht wird, die das Machtgefälle verwalten, organisieren und verbürgen. Insofern geschieht die rassistische Wertung in einem institutionell vorgegebenen Rahmen, der diese Form der Superioritätsvorstellung unterstützt. Die in einem solchen Zusammenhang gemachte und mitgeteilte Wahrnehmung stellt also nie eine bloß persönliche Aussage dar, sondern ist vielmehr Teil eines größeren Feldes, innerhalb dessen Grenzziehungen und Ausschlussfiguren vorgenommen werden. Zentrale Aspekte des Rassismus sind folglich Klassifikation, Hierarchisierung und das Vorhandensein einer hegemonialen Konstruktions- oder Definitionsmacht, die Rassen oder eindeutig abgetrennte Kulturen hervorbringt.18 15

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Clara Gallini. „Gefährliche Spiele. Symbolisch praktizierter Rassismus in der italienischen Popularkultur“. Theorien über Rassismus. Hg. Nora Räthzel. Hamburg 2000. S. 235-247, hier: S. 235. Stuart Hall. „Rassismus als ideologischer Diskurs“. Theorien über Rassismus (wie Anm. 15). S. 7. Ebd., S. 14. Anja Weiß. Rassismus wider Willen. 2001. S. 48. Man muss an dieser Stelle hinzufügen, dass man heute von einem kulturellen Rassismus spricht, der sich eben nicht auf Rassen, sondern auf Kulturen bezieht, die in analoger Weise als konstitutiv für Subjektivität angesehen werden.

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Häufig stellt sich der Betrachter dabei auch außerhalb der von ihm angewandten Bewertungskategorien, so dass die Maßstäbe, die er auf die anderen anwendet, ihn selbst nicht betreffen.19 Zentraler Punkt in psychoanalytischen wie auch materialistischen Analysen von Rassismus ist die Fokussierung des Moments von Transfer, der wie ein Angelpunkt die Abgrenzung wie auch den verdrängten Zusammenhang zwischen verschiedenen Gruppen bedingt. So schreibt Wieland Elfferding: „Die Verschiebung von Widersprüchen, Krisen auf ein anderes, näher zu beschreibendes Gebiet stellt also den ersten wichtigen Prozeß dar, der zur Herausbildung von Rassismus dient.“20 Während Elfferding gesellschaftliche Antagonismen als die den Rassismus bedingenden Ursachen sieht, verweisen andere Forscher stärker auf den psychologischen Aspekt einer Abwehr von Verdrängtem. Hilfreich für ein genaueres Verständnis dieses Prozesses von Transfer erscheint mir der Freudsche Begriff der Projektion. Projektion ist nach Freud in jedem Fall ein Mechanismus der Abwehr, „in der das Subjekt dem Anderen […] Qualitäten, Gefühle, Wünsche, die es ablehnt, oder in sich selbst verleugnet, unterstellt.“21 Wie Laplanche/Pontalis explizieren, gebraucht Freud diesen Begriff allerdings in zwei verwandten, aber nicht ganz identischen Bedeutungen. Im ersten Sinne transferiert das Subjekt einen tabuisierten und daher unbewussten eigenen Anteil oder Wunsch als Vorstellung nach außen, so dass es das, was es in sich verleugnet, im anderen wieder entdeckt. Im zweiten Sinne steht die Projektion eher für einen realen Ausstoßungsvorgang: das Subjekt stößt also das, was es nicht sein will, aus sich heraus und überträgt es auf andere. In diesem zweiten Sinne wäre Projektion eher ein „Nicht-Sein-Wollen“, im ersten Sinne ein „NichtWissen-Wollen“.22 Diese Unterscheidung von zwei Tendenzen ist insofern wichtig, als das, was man nicht ‚wissen‘ will, mehr den Bereich tabuisierter vorstrukturierter, kollektiver Imaginationen betrifft, während das, was man nicht ‚sein‘ will, eher auf den Bereich der Sub19

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Dieser Aspekt wird vor allem von den Whiteness Studies betont, die sich in den letzten Jahren, aus Amerika kommend, auch in Deutschland entwickelt haben. Wieland Elfferding. „Funktion und Struktur des Rassismus“. Theorien über Rassismus (wie Anm. 15). S. 43-55, hier: S. 43. Das Vokabular der Psychoanalyse. Hg. J. Laplance/J.-B. Pontalis. 3. Aufl. Frankfurt a.M. 1977. S. 403. Ebd., S. 407.

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jektkonstruktion und individueller Selbstbehauptung abzielt und sich in der Verschiebung von Ängsten oder unangenehmen Vorstellungen äußert. In den meisten Interpretationen rassistischer Wertungen gerät entweder nur die Verschiebung von tabuisierten Inhalten oder der Transfer von Ängsten in den Blick; das Fragmentarische und Unbefriedigende solcher Ansätze resultiert aber m.E. daraus, dass gerade das Ineinandergreifen beider Bewegungen für die Komplexität des Abwehrprozesses verantwortlich ist. Die Projektion ist aber auch deshalb so zentral für den Vorgang rassistischer Relationalität, da sie Voraussetzung der Abgrenzung ist: von dem, was man aus sich selbst ausgeschlossen und auf den anderen übertragen hat, muss man sich dann wiederum abgrenzen. Andererseits wird die Abgrenzung erst nötig, weil im Andern ein Eigenes erkannt wird; gäbe es nicht die Gefahr von Nähe, Ähnlichkeit oder Gleichheit, müssten keine Grenzziehungen vorgenommen werden. Projektion, Abgrenzung und Ausschluss werden folgerichtig zu den konstitutiven Momenten desjenigen Prozesses, der ethnisch/rassisch/ kulturell differente Ordnungen erzeugt und aufrechterhält. Wenn im Folgenden die Logik der Konstruktion, die der Figur der ‚hässlichen Orientalin‘ zugrunde liegt, untersucht wird, geht es mir immer auch darum, die oben skizzierte Struktur im Material selbst aufzuweisen.

Die hässliche Orientalin In ihrem ersten Reisebericht Reise einer Wienerin in das Heilige Land von 1845 schreibt Ida Pfeiffer über die Frauen in Jerusalem: In Jerusalem gehen die Weiber und Mädchen fast alle verschleiert. Nur in der Kirche und im Innern der Häuser ward mir das Glück zu Theil, die Sylphengestalten näher betrachten zu können. Unter den Mädchen fand ich manchen interessanten Kopf. Allein die Weiber von 26 bis 28 Jahren sind schon sehr verblüht und häßlich, so daß man in den tropischen Ländern immer eine sehr große Zahl garstiger Gesichter und nur hin und wieder gleich einem Meteor, etwas Hübsches hervorschimmern sieht.23 23

Ida Pfeiffer. Reise einer Wienerin in das Heilige Land (wie Anm. 5). Erster Band. S. 123.

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Signifikant ist an dieser Passage die abfallende Linie, die von der Menge der „Sylphengestalten“ über die vereinzelten interessanten Köpfe zu der allgemeinen Hässlichkeit hinführt, die in den „‚garstigen‘ Gesichter[n]“ ihren Höhepunkt findet. Mit der Idealisierung der Frauen als „Sylphengestalten“ werden diese sogleich in einen mythologischen Kontext gerückt, der in völligem Widerspruch steht zu Ida Pfeiffers sonstigem rhetorischen Duktus, wodurch der Topos der schönen Orientalin von Anfang an ein Stück weit ironisiert wird. Im Gegensatz zu der mit den „Sylphengestalten“ aufgerufenen Erwartung existiert die orientalische Schönheit innerhalb einer nicht unterscheidbaren Masse von Gesichtern nur als vereinzelter „Meteor[it]“. Die erstaunliche Metapher, die nicht zu dem ansonsten sachlichen Wortschatz Ida Pfeiffers passt, verdeutlicht die Seltenheit orientalischer weiblicher Schönheit, die – quasi extraterrestrisch – nur als Ausnahme innerhalb einer gleichförmig hässlichen Eintönigkeit auftaucht. Schon die ungewöhnliche Metaphorik wie auch die Dramaturgie dieser ganzen Szene machen deutlich, dass es sich hier nicht um Beobachtung, sondern um eine bewusste Konstruktion der orientalischen Frau mit pejorativer Absicht handelt. Entscheidend ist dabei, dass Hässlichkeit hier nicht nur als belangloses äußeres Merkmal vorgeführt wird, sondern als ein körperlich sichtbares Zeichen, das auch eine inhaltliche Wertung der nicht reizvollen und daher nicht interessanten Orientalin beinhaltet und beabsichtigt. Es herrscht insofern eine Logik der Evidenz, nach der das Wesen selbstverständlich und eindeutig am Äußeren ablesbar ist, im Sinne des ‚man sieht es doch‘. Hässlichkeit wird implizit als – eigentlich angemessener – Ausdruck einer defizienten Subjektivität gekennzeichnet. Dies zeigt sich auch daran, dass selbst dann, wenn die Autorin auf einer späteren Reise durch den Orient orientalische Schönheit findet und schildert, die äußerst sachlich gehaltenen Beschreibungen fast immer mit einer dezidierten Einschränkung enden; entweder verrät die Angewohnheit, die Haare mit Henna zu färben, schlechten Geschmack24, oder es fehlt in den „lieblichen Gesichter[n] […] Erregung oder Empfindung […] – Geist und Bildung, die Würze des Lebens“.25 Selbst wo die Autorin 24

25

Ida Pfeiffer. Eine Frau fährt um die Welt. Die Reise 1846 nach Südamerika, China, Ostindien, Persien und Kleinasien. Hg. Gabriele Habinger. 3. Aufl. Wien 1997. S. 236. Ebd., S. 237.

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die gesuchte Schönheit findet, wird diese als rein äußerlich und somit als Maske entlarvt, hinter der sich nichts dem äußeren Schein entsprechendes verbirgt. Diese Konstruktion der hässlichen Orientalin darf nicht als bloße Negation eines männlichen Phantasmas verstanden werden, denn dafür würde der Hinweis genügen, dass die schöne Orientalin von den Autorinnen nicht gefunden worden ist; es wird aber vielmehr die Hässlichkeit als eine neue, eigene Qualität beschworen, was eben darauf schließen lässt, dass es nicht nur um die Widerlegung eines vorgegebenen Topos geht, sondern dass bei dieser Form der Repräsentation Prozesse der Abgrenzung und der Projektion eine entscheidende Rolle spielen. Die Nähe zu den Anderen gleichen Geschlechts, die durch ihr optisches Verborgensein in abschreckender Weise jene eingeschränkte Handlungs- und Bewegungsmöglichkeiten verkörpern, vor denen die Autorin durch ihr Reisen und ihre damit verbundenen Infragestellung europäischer Weiblichkeitsnormen gerade geflohen ist, scheint so bedrohlich, dass nur deren entschiedene Disqualifizierung die Herstellung einer ethnisch klar abgegrenzten Ordnung zu ermöglichen scheint. Diese abwertende Einschätzung der Orientalin ist aber trotz dieser individuellen Begründungsstruktur insofern Teil eines rassistischen Diskurses, als sie die fremden Frauen als homogene Masse wahrnimmt, sie außerdem eine Dichotomisierung von schön und hässlich vornimmt, die keine Zwischenstufen kennt, und sie schließlich auf eine Gleichsetzung von Innerem und Äußerem abzielt. Doch in Ida Pfeiffers Darstellung deutet sich noch eine weitere Motivation für die Abwertung der Orientalin an. Deren Hässlichkeit wird nämlich durch die Metapher „verblüht“ mit dem allgemeinen Verdikt über den Orient in Verbindung gebracht, der zu dieser Zeit vornehmlich als alte, von daher abgelebte und erschöpfte Kultur dargestellt wurde. Pfeiffer überträgt hier eine Diagnose, die allgemein auf die orientalische Kultur angewandt wurde, auf die Frauen. Durch die Abwertung der orientalischen Frau werden gängige anthropologisch-historische Kategorien auf die einzelne Orientalin verschoben. Insofern bestätigt deren Hässlichkeit die bekannte Diagnose vom heruntergekommenen Zustand des osmanischen Reiches. Auch andere Autorinnen stellen einen impliziten Zusammenhang her zwischen der untergehenden osmanischen Kultur und den rasch ‚verblühenden‘ Orientalinnen, indem sie immer wieder auf die große

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Fragilität der orientalischen Schönheit verweisen. So entdeckt Maria Belli, eine Frankfurterin, die im Jahr 1845 allein nach Konstantinopel reist, bei ihrem Haremsbesuch eine einzelne Frau, die sie vor allem aufgrund der „wunderschöne[n] schmachtende[n] Augen als „unstreitig die Schönste“26 bezeichnet, die aber durch etwas zu rote Wangen auffällt, was mit einer Erkrankung erklärt wird und anscheinend dazu führt, dass die junge Frau zehn Jahre älter aussieht als sie eigentlich ist. Das nach ihrer Ansicht auffallend frühe Altern der orientalischen Frauen erklärt Belli dann mit ihren Lebensgewohnheiten: „Durch die heißen Bäder, welche die Türkinnen beinahe jeden Tag nehmen, verwischt sich wohl schnell die Blüthe der Jugend.“27 Bemerkenswerterweise ist es hier nicht die Natur, also weder das Klima noch die körperliche Konstitution der Orientalin, die zu diesem frühen Altern führt, sondern einzig ihr Verhalten und damit die kulturelle Ordnung, in der sie lebt. Insofern korrespondiert das Schicksal der Frauen in diesem raschen Dahinwelken dem auch von Maria Belli diagnostizierten „Fall des osmanischen Reiches“28, das nach ihrer Auffassung bald als morsches Gebäude zusammenbrechen wird. Da die orientalische Frau zu einem Gutteil mit der orientalischen Kultur überhaupt identifiziert wird, wird sie auch notwendig in einer ganz besonderen Weise dem degenerativen Prozess dieser Kultur zugeordnet, der im 19. Jahrhundert ein zentraler Diskussionsgegenstand von hoher epistemologischer Relevanz war.29 Auch die Berichte über den Harem lassen sich mehr oder weniger parallel zur Konstruktion der hässlichen Orientalin lesen. Allgemein lässt sich sagen, dass die Berichte über den Harem, der ja im männlichen Diskurs als positive, erotisierte Reizvokabel fungiert, die Funktion haben, die systematische Entzauberung des Bildes von der schönen Orientalin kausal zu verankern. Dies ist z.B. der Fall bei Ida Gräfin Hahn-Hahn: so sah ich mich von einer Weiberschaar umringt, vor der ich förmlich erschrack, so häßlich war sie. Der Besitzer dieses Ha26

27 28 29

Maria Belli. Meine Reise nach Constantinopel im Jahre 1845. Frankfurt a.M. 1846. S. 183. Ebd., S. 184. Ebd., S. 121. Siehe dazu: Sander Gilman. Difference and Pathology: Stereotypes of Sexuality, Race, and Madness. Ithaca 1985. S. 191-216.

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rems ist nicht beneidenswerth! Die Herrin wie die Sclavinnen sahen in höchstem Grade unsauber, nachlässig, recht widerwärtig aus, ganz als ob sie nach der hier herrschenden Sitte in ihren Kleidern geschlafen hätten – und zwar mehr als eine Nacht. Sie lärmten, lachten, schrien um mich herum, betrachteten mich, faßten meine Hände an – die Wilden der Südsee können nicht wilder in ihrer Neugier sein. Und dies war der Harem eines reichen und angesehenen Mannes! Aber der Harem macht stupid und roh, das ist gewiß.30

Die Beschreibung der depravierten Orientalinnen hat hier die Funktion, die desolate Verfassung der Institution und des Ortes Harem zu unterstreichen, wobei die Autorin den Ort des privilegierten männlichen Blicks für sich in Anspruch nimmt, um einerseits Weiblichkeit wie ein Mann zu bewerten, und andererseits rhetorisch den Besitzer des Harems mithilfe der Figur des Mitleids seinerseits abzuwerten. Indem sie die Orientalinnen als hässlich, wild, unsauber, neugierig, roh und dumm abqualifiziert, verleiht sie sich außerdem selbst die umgekehrten Attribute. Wildheit und Neugier als für Frauen unschickliche Eigenschaften werden dabei auf die weiblichen Anderen verschoben. Allerdings scheint es hier mehr die Unsauberkeit und das ungebärdige Verhalten zu sein als wirklich ein ästhetisch abstoßendes Äußeres, das negativ bewertet wird. Der Verhaltenskodex der adligen Autorin mag dazu beitragen, dass ein derartig lebhaftes Auftreten negativ prädiziert wird. Dabei ersetzt Hahn-Hahn den Topos der schönen, passiven Orientalin durch das Bild einer Menge hässlicher und lauter Frauen; insofern arbeitet sie an einer Veränderung der sedimentierten rassistischen Episteme und verschiebt in der Analogisierung von Südsee und Orient gewissermaßen die imaginäre Geographie des Orients. Indem sie den Orientalinnen aber Aktivität und Handlungsfähigkeit zuspricht, entlässt sie sie ein Stück weit, wenn auch sicherlich unbeabsichtigt, aus dem Status des passiven Objekts und trägt damit bei zu einer veränderten Perspektive auf die orientalische Frau. Als Folge dieser Begegnung führt die Autorin dann aus: Mir war ganz unheimlich zwischen dieser Bande zu Muthe und ich dankte meinem Gott als ich wieder zu meinen Begleitern gelangte. So eine Masse roher Weiber zu sehen, ist mir schreck30

Ida von Hahn-Hahn. Orientalische Briefe (wie Anm. 10). Zweiter Band. S. 73.

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Ulrike Stamm lich. Lieber sehe ich eine Heerde Kühe oder Schafe. Der Harem erniedrigt das Weib zum Vieh. Nimm nicht übel den starken Ausdruck, Herzensmama! ich kann’s nicht sehen, nicht denken ohne Empörung. Die Männer, die sich die Erlaubniß nehmen über Dinge zu schreiben, die sie nicht kennen, haben denn auch oft behauptet, die Orientalinnen fühlten sich gar nicht unglücklich im Harem. Desto schlimmer für sie! hat sich je eine Kuh auf der grünen Wiese unglücklich gefühlt? Der Harem ist eine Wiese, die den Bedürfnissen des animalischen Lebens genügt. Basta. Ich kann nicht darüber sprechen. Das Herz im Leibe kehrt sich mir um.31

Mit dem Hinweis auf das „‚Animalische‘“ wird hier wiederum ein Aspekt angesprochen, der im Eigenen verworfen und auf die fremden Frauen verschoben wird; hier ist es allerdings nicht mehr das Äußere, sondern das Verhalten der Frauen ebenso wie ihre Position im Harem, die sie auf ihr Animalisches reduzieren. In Übereinstimmung mit einer rigiden moralischen Ordnung wird hier Sinnlichkeit und Sexualität negativ konnotiert; die Kritik am Harem macht sich also nicht an der Einschränkung der Frauen und fehlenden Bewegungs- und Bildungsmöglichkeiten fest, sondern an der Konnotation dieses Raumes mit Sexualität. Auch darin wiederholt die Autorin die ambivalenten Weiblichkeitskonzeptionen ihrer Zeit, die zwar Weiblichkeit als naturhaft definierte, dies aber in einer pflanzenhaft passiven Weise deutete und so jede aktive sexuelle Regung auf Seiten der Frauen stigmatisierte. Obwohl die Autorin deutlich die Institution des Harems als Ursache für den desolaten Zustand der Orientalin erkennt und benennt, führt dies nicht zu Verständnis oder einer Andeutung von Solidarität. Vielmehr verstärkt an dieser Stelle ein eigentlich emanzipatives Anliegen die rassistische Abwertung, denn die Autorin kritisiert in diesem Zusammenhang die Reduktion der Frau auf Sinnlichkeit und Körperlichkeit. Dennoch erscheinen die Auswirkungen des Lebens im Harem so absolut, dass die Orientalin nicht nur mit dem „Vieh“ verglichen, sondern regelrecht mit der „Kuh auf der […] Wiese“ gleichgesetzt wird, auf die die Autorin nur mit einer Abwendung des „‚Herzens‘“ reagieren kann. Anders als dies in der Sekundärliteratur oft behauptet wird, benutzt Ida Gräfin Hahn-Hahn die Kritik an der Lage der Frauen im Orient also nicht, um die Verhältnisse im eigenen Land zu kritisieren, sondern bewertet im Folgenden die Lage der Frauen in 31

Ebd., S. 73f.

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Europa im Vergleich mit der der Frauen in Arabien sehr positiv. Dies ist umso bemerkenswerter, da sie sich ja sonst oft genug kritisch über die Einschränkungen der Frauen in Deutschland äußert. Die Begegnung mit der Wirklichkeit der orientalischen Frau führt also nicht zu einer Kritik an der allgemeinen Kolonisierung oder Unterdrückung der Frau; zu deutlich repräsentieren die ‚anderen‘ Frauen als Schreckbild – im Sinne jenes anfangs beschriebenen „Nicht-wissen-wollens“ in der eigenen Kultur tabuisierter Wertigkeiten, die hier mit den Begriffen des Animalischen und der Wildheit von Hahn-Hahn unumwundener und affektiver benannt werden, als dies bei anderen Autorinnen der Fall ist. In welchem Maß die Orientalin darüber hinaus aber auch zu einer Projektionsfläche eigener Ängste werden kann, zeigt sich noch vehementer an den folgenden zwei Passagen, in denen die Ausschlussfigur umschlägt in paranoide Bedrohungsbilder, die eine Steigerungsform rassistischer Abwehr darstellen.

Bilder gesteigerter Abwehr Durch den Rückgriff auf religiöse und mythologische Vorstellungen wird die Hässlichkeit der Orientalin noch einmal inhaltlich aufgeladen und verstärkt mit Bedeutungsgehalten versehen. Dies zeigt sich bspw. in der Beschreibung der im Bazar von Tunis beobachteten Frauen im Reisebericht von Marie Espérance von Schwartz: Die vom niedrigsten Stande sind in schmutzige, weiße, formlose Gewänder gehüllt, das ganze Gesicht, mit Ausnahme einer kleinen Spalte für die Augen, ist mit einem doppelten schwarzen Schleier, welcher von den Zügen auch gar nichts errathen läßt, bedeckt. Dieses kohlschwarze Gesicht, welches aus einem Faltenwalde von weißen Gewändern hervorsteht, giebt diesen Gestalten etwas Diabolisches, und erinnert mich an die Masken des römischen Carnevals. Eine reicher gekleidete Klasse von Frauen, die aber wie es heißt in einem etwas zweideutigen Rufe stehen, sind mir womöglich noch widriger. Diese sind nämlich in bunte, zuweilen seidene Gewänder gehüllt; quer über den Kopf tragen sie eine große buntgestreifte Schärpe, die sie, um zu verhindern, daß dieselbe ihnen über das Gesicht flattert, mit horizontal ausgestreckten Armen von sich

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Ulrike Stamm halten. […] Diese Frauen kommen mir wie ungeheure Fledermäuse vor.32

An die Stelle der sinnlichen Orientalin treten hier zunächst Gestalten, die teuflische Züge tragen und an die groteske Welt des Karnevals erinnern, womit wiederum ein Ausschluss aus dem Bereich des Menschlichen vorgenommen wird. Während der Vergleich mit dem Teuflischen ein Set von Vorurteilen wiederholt, die in einer gewissermaßen vagen Weise auf die Frauen appliziert werden, manifestiert sich im folgenden Teil der Beschreibung eine Steigerung. Die Verwandlung der Frauen in die der nächtlichen Welt zugehörigen Fledermäuse, die das Bedrohlich-Irritierende veranschaulicht, das diese Figuren für die europäische Autorin bergen, wiederholt nicht einfach ein abwertendes Stereotyp, sondern es handelt sich hier vielmehr um eine Momentaufnahme, die die fremde Frau in einer bestimmten Körperhaltung fixiert und diese eigentlich erklärbare und auch erklärte Haltung zum Zeichen einer grundsätzlichen und bedrohlichen Andersartigkeit einfriert. Dabei reduziert die Autorin – darin der Perspektive männlicher Autoren ähnlich – die fremden Frauen auf den visuellen Eindruck, den sie hervorrufen, nur dass dieser ein negativ-bedrohlicher ist. Zugleich gewinnt der Text gerade an dieser Stelle eine literarische Anschaulichkeit, die ihm häufig fehlt, wodurch die Eindrücklichkeit und Schlagkraft dieser rassistischen Fixierung umso stärker wird. Durch den Hinweis auf den zwielichtigen Ruf dieser Frauen wird zudem deutlich, dass die Abwehr hier auch der Verbindung von Weiblichkeit und Sexualität gilt; die Negativbesetzung der Orientalin verstärkt sich, je mehr diese zur Figuration des sinnlichen Orients wird und damit das verkörpert, was die Europäerin nicht sein will, nämlich eine auf ihren Körper reduzierte Figur. Besonders vehement ist die Geste des Ausschlusses im Werk Ida Gräfin Hahn-Hahns. Kennzeichnend für ihre rhetorische Strategie ist die Steigerung von negativen Wertungen; dies zeigt sich bspw. an ihrer eingangs schon zitierten Beschreibung des türkischen Bades: „Hauptsächlich war ich hingegangen, um, wo möglich, schöne Frauen zu sehen. Aber sie waren tout comme chez nous nicht schön nicht häßlich, 32

Marie Espérance von Schwartz. Blätter aus dem africanischen Reise-Tagebuche einer Dame (wie Anm. 7). Zweiter Theil. Braunschweig 1849. S. 41-42.

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sondern Mittelschlag; nämlich die jungen; die alten affrös.“33 In dieser kurzen Passage finden sich zwei Umschlagpunkte: zum einen die Negation der erwarteten Schönheit, die sich wiederum gegen ein überliefertes Orientbild richtet, wobei hier auch Lady Montagu mit ihrer Beschreibung des türkischen Bades zu den – nicht genannten – Gegnern gehört, zum andern der Umschlag von scheinbarer Gleichheit zu völliger Abwertung. Auffallend ist dabei die signifikante Verwendung des Französischen als Ort des rhetorischen Umschlags – so wird zunächst mit dem Ausdruck „tout comme chez nous“ jeder Unterschied zwischen den Frauen verschiedener Kulturen geleugnet, doch die Szene wird – durch den ebenfalls französisierenden Ausdruck „affrös“ – schlagartig zur Vorstellung einer absoluten, Abscheu erzeugenden Differenz transformiert. Fast nebenbei und als rhetorische Strategie regelrecht untergeschoben ereignet sich hier eine massive Abwertung der älteren orientalischen Frauen, wobei Hahn–Hahn an den Topos der ‚vetula‘, der hässlichen alten Frau, anknüpft, die als Auslöser von Ekel in der klassischen Ästhetik eine große Rolle spielt. Da die Frauen im Orient aber ‚bekanntermaßen‘ früh altern, bleibt die Unterscheidung in Junge und Alte letztlich ohne Belang; Hahn-Hahn spricht im Folgenden auch nur über die sogenannten Alten und Hässlichen. In der Fortsetzung dieser Szene greift die Autorin auf Elemente des Monströsen im Sinne des Deformierten zurück: Wie Fleischklumpen sehen sie aus, die sich nicht aufrecht halten können, und in sich selbst zusammen sinken. Aber Du kannst Dir nicht vorstellen was man für einen Wunsch hat, auf der Straße Frauen gewahr zu werden, statt dieser plumpen braunen Bären mit weißen Köpfen! Gott weiß daß die Frauen bei uns nicht sonderlich schön sind; aber daß sie, wie sie nun einmal sind, doch viel besser aussehen, als diese vermummten Gestalten, und das Leben auf den Straßen lustiger machen, das weiß man, sobald man hier ein Paar Tage umher gewandelt ist.34 33

34

Ida von Hahn-Hahn. Orientalische Briefe (wie Anm. 10). Erster Band. S. 188. Es sei hier nur angemerkt, dass sich möglicherweise hinter dieser massiven Abwehr auch verdrängte homosexuelle Wünsche verbergen; diese machten sich aber m.E. eher am imaginierten Raum des Harems oder des türkischen Bades fest als an einer konkreten Begegnung mit orientalischen Frauen, denn bei diesen Begegnungen überwogen Befremdung und gegenseitiges Unverständnis. Ebd., S. 188f.

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In dieser Passage überlagern sich die eingangs beschriebenen Aspekte rassistischer Wahrnehmung. Die Gegenüberstellung von westlichen und orientalischen Frauen spricht zum einen direkt aus, dass es bei der rassistischen Abwertung um eine Selbstaufwertung geht, im Sinne von: sie sind hässlich, dagegen sind wir dann doch schöner. Zugleich erweist sich der Aspekt des Ekels oder des Abscheus – wie dies William Jan Miller ausgeführt hat – zum einen als ein Instrument der entschiedenen sozialen Grenzziehung, die hier mit einer rassisch-kulturellen Grenzziehung zusammenfällt, zum andern als eine Kategorie, durch die die Grenze zwischen dem Moralischem und dem Ästhetischem verwischt wird, womit wiederum die Geste der Selektion nicht nur unmittelbare Evidenz beansprucht, sondern auch gerechtfertigt erscheint.35 Meines Erachtens findet hier aber außerdem eine Projektion in der vorher erwähnten zweifachen Bedeutung statt. So dienen die Orientalinnen einerseits als Bild dessen, was in der westlichen Kultur tabuisiert und ausgeschlossen wurde: durch sie wird nämlich der Körper in seiner Materialität sichtbar; diese Körper können nicht nach den Regeln der klassischen Ästhetik als glatte Oberfläche und daher schöne Form wahrgenommen werden, sondern sie präsentieren sich als formlose und erschreckende fleischliche Masse. Wie bedrohlich die Wahrnehmung von Nacktheit für die Autorin an dieser Stelle ist, verrät sich dadurch, dass ihr Blick sofort die Gestalten im Badehaus verlässt und auf die Straße wandert. Mit dieser Leugnung des Körpers in seiner Materialität wiederholt die Autorin die Perspektive einer normativen klassischen Ästhetik, verbunden mit einer prüden und körperfeindlichen Moral, die sich, wie u.a. Norbert Elias gezeigt hat, im Biedermeier durchgesetzt hat und hier auch von Ida Gräfin Hahn-Hahn offensiv vertreten wird. Die monströsen Körper der Orientalinnen werden zu Repräsentationen dessen, was die Autorin und mit ihr die europäische Kultur nicht wissen will vom eigenen Körper. Auch hier wird – wie zuvor in der Passage von Marie Espérance von Schwartz – dieses verworfene Eigene in seiner Bedrohlichkeit für einen kurzen Augenblick als Bild fixiert: in einer Momentaufnahme und in einer deutlichen Verschärfung der rassistischen Abwehr scheint die Vor-

35

William Jan Miller. Anatomy of Disgust. Cambridge, Mass. 1997.

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stellung eines monströsen weiblichen Körpers auf, der an der Grenze zum tierischen Körper angesiedelt ist. 36 Ebenso entscheidend für das Verständnis dieser Passage ist aber auch die eingangs erläuterte zweite Bedeutung der Projektion. So verkörpern diese Frauen ‚als bloße Fleischklumpen‘ die Vorstellung einer Person ohne Rückgrat, womit der auch eine europäische Frau ständig bedrohende Verlust an Selbstbehauptung und Selbständigkeit auf die Orientalinnen verschoben ist. Die literarischen Werke Ida Gräfin Hahn-Hahns zeigen in der Tat, dass für die Autorin das europäische Geschlechterverhältnis in mancher Hinsicht dem ‚orientalischen‘ Patriarchat in nichts nachstand. So sieht sie die Konvenienzehe, die für die meisten Frauen ihrer Zeit die Normalität war, als eine Art von Frauenkauf, der die Frau in die Lage einer Sklavin brachte. Ihre Protagonistin Gräfin Faustine in dem gleichnamigen Roman erhebt daher die Forderung, dass die Männer mit den Frauen „umgehen wie mit ihresgleichen und nicht wie mit erkauften Sklavinnen, denen man in übler Laune den Fuß auf den Nacken stellt und in guter Laune ein Halsband oder ähnlichen Plunder hinwirft.“37 Insofern steht die Orientalin genau für das, was die Europäerin nicht sein will und wird auch aus diesem Grund zu einem Objekt rassistischer Abwehr. Es amalgamieren sich also in der Disqualifizierung dieser Frauen beide Tendenzen der Projektion: sie werden sowohl zu Trägern der eigenen verworfenen, materiellen Körperlichkeit wie auch zur Verkörperung einer unselbständigen Weiblichkeit und beide Formen der Projektionen überlagern und verstärken sich gegenseitig.

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Der Unterschied zwischen den hier vorgestellten Formen rassistischer Abwehr wird bei Wieland Elfferding als dreistufiger Unterschied von Fremden-, Ausländerfeindlichkeit und Rassismus gefasst. So beschreibt er den rassistischen Diskurs in einer Weise, die genau auf die Hahn-Hahnschen Abwertungsfiguren passt: „Im ANDEREN konzentrieren sich nicht nur der Fremde und der Feind, sondern nun – rassistisch – der ekelerregend Häßliche, der auszusondernde Kranke und der zu liquidierende, ‚artfremde‘ Geschlechtskonkurrent.“ („Funktion und Struktur des Rassismus“. Theorien über Rassismus. Hg. Nora Rätzel. S. 47). Allerdings verweist Elfferding ganz richtig darauf, dass die Übergänge zwischen diesen verschiedenen Abgrenzungsweisen fließend sind. Ida von Hahn-Hahn. Faustine. Ein Roman aus der Biedermeierzeit. Hg. Arthur Schurig. Berlin 1919. S. 50.

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Bemerkenswert ist, dass diese Charakterisierung der Orientalin getragen und verstärkt wird von einem emanzipativen Verständnis von Weiblichkeit, wie es sich an Hahn-Hahns ebenfalls in diesem Zusammenhang gemachter Aussage zeigt: „ein Weib ohne Intelligenz ist kein Weib mehr.“38 Obwohl diese Aussage zunächst den Zweck hat, die Europäerinnen von den Orientalinnen abzugrenzen und letztere aus dem Bereich der Weiblichkeit auszuschließen, wehrt sich die Autorin damit doch auch gegen eine Festlegung der Frau auf ihr Äußeres, auf den Zustand eines schönen Objekts, und fordert dagegen – in Umkehrung der üblichen Konzeption der Geschlechtscharaktere – Weiblichkeit und Intelligenz zusammen zu denken. Es ist das Fatale, dass dieser emanzipative Ansatz, der aus der Position einer im 19. Jahrhundert benachteiligten und marginalisierten Gruppe erfolgt, in den Orientalinnen nur Zerrbilder des eigenen Verdrängten oder eigener Ängste wahrnehmen kann. Indem die Autorinnen aber in dieser Weise rassistische Diskurse aufnehmen und modifizieren, zeigt sich an ihnen, dass innerhalb von rassistischen Zuschreibungen – wie dies Ann Laura Stoler im Anschluss an Foucault gezeigt hat – „subjugated knowledges, disqualified accounts by those contesting unitary power“39 zum Ausdruck kommen. Insofern sich innerhalb dieser Rassismen vielleicht auch ein Widerstand gegen vorherrschende Diskurse der Weiblichkeit äußert, ist in diesen Disqualifizierungen der orientalischen Frau – wenn auch in verzerrter Form – eine defekte Form der Kritik an europäischen Weiblichkeitskonzeptionen und deren Normierungen verborgen.

Conclusio Die Autorinnen des frühen 19. Jahrhunderts entschieden sich also im wesentlichen für zwei Optionen: erstens entweder die der Inversion des Schönheitsthemas, indem sie im Gegensatz zu männlichen Autoren die Orientalin als hässliche Figur repräsentierten, dies allerdings mit ganz verschiedener Gewichtung, oder zweitens die völlige Ver38

39

Ida von Hahn-Hahn. Orientalische Briefe (wie Anm. 10). Erster Band. S. 177. Ann Laura Stoler. Race and the Education of Desire: Foucault’s history of sexuality and the colonial order of things. Durham 1995. S. 69.

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meidung des gesamten Themas, was nur bei Maria Schuber, einer österreichischen Leiterin einer Mädchenschule, die im Jahr 1847 bis 1848 alleine nach Ägypten und Palästina reiste, festzustellen ist.40 Maria Schuber entzieht sich sozusagen freiwillig der Suche nach der orientalischen Schönheit, da sie nicht über das Aussehen der Orientalinnen berichtet und – gleichsam im Sinne einer planvollen Heterotopie – keinen Besuch in einem Harem schildert, obwohl dies für sie leicht möglich gewesen wäre, zumal sie in Kairo mehrere Ägypter näher kennen lernt. Die Möglichkeit, die Schönheit der Orientalin offensiv zu akklamieren, wählten die Autorinnen aus vielfältigen Gründen nicht. Wie gezeigt, sind die Gründe für die Abwertung vielschichtig: Widerlegung männlicher Orientbilder, eine angesichts der Gleichheit des Geschlechts umso nötigere Abgrenzung und Grenzziehung zur Herstellung einer ethnisch differenten Ordnung, die Abspaltung eigener tabuisierter oder verdrängter Anteile und deren Übertragung – im Sinne des „Nicht-wissen-wollens“ – auf die Anderen, der Transfer eigener abgelehnter Vorstellungen – im Sinne des „Nicht-sein-wollens“ – auf die Anderen und schließlich die Ablehnung des von männlichen Texten geschaffenen sinnlichen Orients in seiner dominanten Figuration, der Orientalin. Hier zeigt sich, wie vielfältig und komplex die Gründe sind, die zur Entwicklung rassistischer Stereotypen und Abgrenzungen führen. Es erscheint dabei besonders fatal, aber auch aufschlussreich, nicht zuletzt für heutige Diskussionen wie bspw. über das Kopftuch, dass gerade emanzipative Bestrebungen zu einer Verstärkung des Rassismus führen können und dies auch bei einigen Autorinnen tun. Der Unterschied zwischen der männlichen und der weiblichen Perspektive liegt dabei vor allem darin, dass Autorinnen aus den hier analysierten vielfältigen Gründen jene Figur abwerten oder sogar dämonisieren, die im männlichen Blick gleichzeitig idealisiert und sexualisiert wird. Es handelt sich dabei auf beiden Seiten um eine vergleichbare, wenn auch gänzlich asymmetrisch ausgestaltete, Topographie der Gewalt.

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Maria Schuber. Meine Pilgerreise über Rom, Griechenland und Egypten durch die Wüste nach Jerusalem und zurück vom 4. October 1847 bis 25. September 1848. Graz 1850.

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Literatur Belli, Maria. Meine Reise nach Constantinopel im Jahre 1845. Frankfurt a.M. 1846. Elfferding, Wieland. „Funktion und Struktur des Rassismus“. Theorien über Rassismus. Hg. Nora Räthzel. Hamburg 2000. S. 43-55. Fürst von Pückler-Muskau. Semilasso in Afrika. Stuttgart 1836. Gallini, Clara. „Gefährliche Spiele. Symbolisch praktizierter Rassismus in der italienischen Popularkultur“. Theorien über Rassismus. Hg. Nora Räthzel. Hamburg 2000. S. 235-247. Gilman, Sander. Difference and Pathology: Stereotypes of Sexuality, Race, and Madness. Ithaca 1985. Hahn-Hahn, Ida von. Faustine. Ein Roman aus der Biedermeierzeit. Hg. Arthur Schurig. Berlin 1919. Hahn-Hahn, Ida von. Orientalische Briefe. Berlin 1844. Hall, Stuart. „Rassismus als ideologischer Diskurs“. Theorien über Rassismus. Hg. Nora Räthzel. Hamburg 2000. S.7-17. Kohl, Karl-Heinz. „Cherchez La Femme d’Orient“. Europa und der Orient: 800-1900. Eine Ausstellung des 4. Festivals der Weltkulturen Horizonte ’89. Hg. Gereon Sievernich/Hendrik Budde. München: Bertelsmann Lexikon Verlag, 1989. S. 356-368. Laplance, Jean/ Pontalis, Jean-Bertrand (Hg.). Das Vokabular der Psychoanalys. 3. Aufl. Frankfurt a.M. 1977. McClintock, Anne. Imperial Leather. Race, Gender and Sexuality in the Colonial Contest. New York/London 1995. Miller, William Jan. Anatomy of Disgust. Cambridge, Mass. 1997. Pfeiffer, Ida. Eine Frau fährt um die Welt. Die Reise 1846 nach Südamerika, China, Ostindien, Persien und Kleinasien. Hg. Gabriele Habinger. 3. Aufl. Wien 1997. Pfeiffer, Ida. Reise einer Wienerin in das Heilige Land. Vierte verbesserte Auflage. Wien 1845. Sarasin, Philipp. „Zweierlei Rassismus? Die Selektion des Fremden als Problem in Michel Foucaults Verbindung von Biopolitik und Rassismus“. Biopolitik und Rassismus. Hg. Martin Stingelin. Frankfurt a.M. 2003. Schuber, Maria. Meine Pilgerreise über Rom, Griechenland und Egypten durch die Wüste nach Jerusalem und zurück vom 4. October 1847 bis 25. September 1848. Graz 1850. Schwartz, Marie Espérance von. Blätter aus dem africanischen Reise-Tagebuche einer Dame. Braunschweig 1849. Stoler, Ann Laura. Race and the Education of Desire: Foucault’s history of sexuality and the colonial order of things. Durham 1995. Thornton, Lynne. Les orientalistes: peintres voyageur. Paris 1994. Weiß, Anja. Rassismus wider Willen. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 2001.

Wolfgang Behschnitt

Aladdin und der romantische Dichter Adam Oehlenschlägers Aladdin-Drama als dänische und deutsche Orientphantasie Adam Oehlenschlägers Name und Werk, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der deutschen Literatur und besonders auf den deutschen Bühnen durchaus präsent, sind im weiteren Verlauf des Jahrhunderts an den Rand der deutschen Literaturgeschichte geschoben bzw. aus ihr verdrängt worden. Hingegen wurde und wird er in Dänemark als Begründer der dänischen romantischen Literatur, ja als Portalfigur zum gesamten 19. Jahrhundert verehrt – allerdings unter bewusstem Ausschluss seines deutschsprachigen Werks, das als zweitrangig und unoriginell abgewertet wird. Diese Entwicklung ist eine Folge der Durchsetzung des nationalen Denkens in allen gesellschaftlichen Bereichen in diesem Zeitraum. Was zu Anfang des Jahrhunderts im mehrsprachigen und mehrkulturellen dänischen ‚Gesamtstaat‘, der neben Dänemark und Norwegen ganz Schleswig und Holstein umfasste, noch eine Option schien – nämlich zugleich und mit gleichem Recht und Anspruch dänischer und deutscher Autor zu sein –, hat der Nationalisierungsprozess, der die literarische Entwicklung und insbesondere die Literaturgeschichtsschreibung in Dänemark und in Deutschland geprägt hat, letztlich unmöglich gemacht.1 Die Ausgrenzung Oehlenschlägers aus der deutschen Literatur einerseits, seine Zurichtung zum dänischen Nationalautor andererseits, hat sein deutschsprachiges Werk literaturgeschichtlich zum Verschwinden gebracht. Erst in den letzten Jahren hat eine explizit transnationale Literaturforschung diese Ausschlüsse in Frage gestellt und eine Neubewertung von Oehlenschlägers deutschsprachigen Schriften 1

Ausführlich hierzu: Heinrich Anz. „Ich wage es, mich auch einen deutschen Dichter zu nennen“ und „Der Januskopf des Grenzgängers“ sowie: Andreas Blödorn. Zwischen den Sprachen. S. 180-201. Die Schicksale der Stücke Oehlenschlägers auf den deutschen Bühnen verfolgt: Leif Ludwig Albertsen. „‚Was kann von Nazareth Gutes kommen?‘ Oehlenschlägers deutsche Erfolge“. Meine Darstellung der literaturgeschichtlichen Zusammenhänge schuldet sich vor allem den Arbeiten von Heinrich Anz.

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und ihrer kulturüberschreitenden und -vermittelnden Dimension begonnen.2 In einem germanistischen Kontext scheint es gleichwohl sinnvoll, Oehlenschläger und sein Werk zunächst kurz zu präsentieren und seine Relevanz für die Frage nach der Funktion des Orientalischen in der Literatur des 19. Jahrhunderts deutlich zu machen.

Adam Oehlenschläger als dänischer und deutscher Autor Adam Oehlenschläger wurde 1779 in Kopenhagen geboren – ist also ein Generationsgenosse der deutschen Romantiker Fouqué und Arnim, Brentano und Kleist – und starb daselbst 1850 als gefeierter Nationalautor und Professor der Ästhetik. Seinen Durchbruch als dänischer Schriftsteller hatte er 1802 mit der Ausgabe seiner Digte 1803, die – stark beeinflusst durch die deutsche Frühromantik – die dänische Romantik begründeten. Ihnen folgten zwei Jahre später die Poetiske skrifter (1805), die unter anderem das Schauspiel Aladdin eller den forunderlige Lampe enthielten. Das Aladdin-Drama wiederum markiert Oehlenschlägers Debut als deutscher Autor. Er hat es selbst ins Deutsche übertragen – es wurde 1808 bei Cotta publiziert –, und für diese Übertragung gilt, was Oehlenschläger in seinen Lebens-Erinnerungen, die er 1829 der ersten deutschen Gesamtausgabe seiner Schriften beifügt, für alle seine deutschen Werke konstatiert: Es seien keine bloßen Übersetzungen, sondern Umarbeitungen von des Dichters eigener Hand. „Es ist also gewissermaßen eine verbesserte Ausgabe, und diese deutschen Umdichtungen sind ebenso original, wie die dänischen Dichtungen.“3 Charakteristisch sind für Oehlenschlägers Schaffen von Anfang an die engen Austauschbeziehungen mit der deutschen Literatur und für sein Leben die engen Kontakte zu deutschen Autoren, von Goethe und Jean Paul bis zu Tieck und Hebbel. Ebenso wie er sein Werk in Deutschland auf dem literarischen Markt zu platzieren suchte, vermittelte er in großem Maßstab die deutsche Literatur nach Dänemark.4 2

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Vgl. die im Literaturverzeichnis genannten Schriften von Heinrich Anz und Andreas Blödorn. Oehlenschläger. Schriften II. S. 177. Seine produktivsten Jahre verbringt er teilweise im Ausland, jedenfalls in intensivem Austausch mit den internationalen geistigen Strömungen (1802-

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Die Originalität auch der deutschen Schriften, die das obige Zitat aus den Lebenserinnerungen hervorhebt, war Oehlenschläger wichtig. Oehlenschläger positionierte sich in Dänemark und in Deutschland nicht nur in unterschiedlichen literarischen Zusammenhängen und Traditionen, sondern suchte auch seine Texte, sowohl was ihre literarische Gestalt als auch ihre Publikationsform betrifft, gezielt auf die je spezifischen Verhältnisse auszurichten. In der genannten Selbstbiographie von 1829 formuliert er programmatisch: „Ich wage es, mich auch einen deutschen Dichter zu nennen“.5 Heinrich Anz schlägt daher vor, Oehlenschlägers Werk konsequent als bi-kulturell zu denken: Der dänische und der deutsche Oehlenschläger – das ist gewolltermaßen nicht derselbe Autor. […] Wir haben Oehlenschlägers Werk jeweils in zwei Versionen, und das gilt nicht nur für die einzelnen Texte, sondern auch für das jeweilige Œuvre insgesamt.6

Versucht man, die Differenzen zwischen dem dänischen und dem deutschen Oehlenschläger auf wenige Schlagworte zu bringen, ergibt sich aus dem Blickwinkel der Rezeption und Wirkung ungefähr folgendes Bild: Der dänische Oehlenschläger ist der Begründer der Romantik und in deren Nachfolge des ‚Guldalder‘ in der dänischen Literatur. Über die Introduktion der deutschen Frühromantik in Dänemark hinaus ist seine wesentliche Leistung, die nordisch-germanische Vorzeit und Mythologie für die moderne dänische Literatur erschlossen zu haben, etwa in seiner Sammlung Nordiske Digte (von 1807) mit Dramen über Baldur und Hakon Jarl und der epischen Dichtung Thors Reise til Jothunheim in Nibelungenstrophen. Er war zu gleichen Teilen als Theoretiker und als Dramatiker bedeutsam, aber auch, in geringerem Maße, als Lyriker und Erzähler. Der deutsche Oehlenschläger erscheint in einem anderen Licht. Als er 1808 begann, auf Deutsch zu publizieren, war die Romantik längst etabliert. Und auch die germanische Vorzeit hatte mit Fouqué und Kleist schon ihre literarischen Vertreter gefunden. Hier wird Oehlen-

5 6

1810). Oehlenschläger schreibt selbst auf Deutsch, führende deutsche Autoren, u.a. Zacharias Werner, Friedrich Schleiermacher und A. W. Schlegel helfen ihm bei der sprachlichen Bearbeitung (Anz. „Ich wage es, mich auch einen deutschen Dichter zu nennen“. S. 35). Oehlenschläger. Schriften II. S. 177 (Hervorhebung im Original). Anz. „Der Januskopf des Grenzgängers“. S. 154.

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schläger vielmehr als Lyriker, Märchen-, Lust- und Singspieldichter, vor allem aber als Dramatiker in der Nachfolge Schillers verstanden7, der – auch wenn er sich mit dem Nordischen und dem Orientalischen exotisch-romantischer Stoffe bediente – um eine ethisch-moralische Einhegung der radikalromantischen Poesie bemüht war. Das verleiht seinem Werk (vor-)biedermeierliche Züge und führt dazu, dass etwa Wilhelm Grimm ihn geringschätzig als „ein Gemisch von Schiller, Tieck und Naturphilosophie“8 bezeichnen konnte. Von seinen Autorenkollegen teils wohlwollend (z.B. von Tieck und Jean Paul), teils eher abschätzig beurteilt, war Oehlenschläger beim Publikum, vor allem auf den deutschen Theaterbühnen, recht erfolgreich. Dies gilt für die nordische Liebesgeschichte von Axel und Walburga (dt. 1810) und das Künstlerdrama Correggio (dt. 1816), dem Tieck eine lange (kritische) Besprechung widmete, aber auch für das Aladdin-Drama.9 Dieses wurde noch im Jahr seines Erscheinens 1808 von Jean Paul einer wohlwollenden Rezension für würdig befunden. Jean Paul weist u.a. auf die deutsch-dänische Doppel-Autorschaft Oehlenschlägers hin und charakterisiert ihn mit folgender Metapher: Dank gebührt der Kraft, welche ohne einen Übersetzer, gleichsam auf eine Länder-Grenze gepflanzt, über zwei Nationen zugleich den Überhang seiner Blüten und Früchte ausbreitet.10

Wenn ich mich also im Folgenden mit der Funktion des Orientalischen bei Oehlenschläger befasse, ergibt sich eine doppelte Fragestellung: Welche Rolle spielt das Orientalische für den dänischen Oehlenschläger – und welche für den deutschen?

Der Orient in Oehlenschlägers dänischem Aladdin Oehlenschläger hat mehrere Schriften mit orientalischen Stoffen veröffentlicht: neben Aladdin die Dramen Fiskeren og hans datter (1816) und Trillingbrødrene fra Damaskus (1830), das Singspiel Faruk (1812) sowie die Märchenerzählung Aly og Gulhyndy (1811). Ich kon7 8 9 10

Anz. „Ich wage es, mich auch einen deutschen Dichter zu nennen“. S. 39. Zitiert nach: Anz. „Der Januskopf des Grenzgängers“. S. 155. Albertsen. „Was kann von Nazareth Gutes kommen?“. S. 134. Jean Paul. Sämtliche Werke. Abt. II. Bd. 3. S. 740.

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zentriere mich hier auf Aladdin als die literaturgeschichtlich produktivste dieser Schriften. In der dänischen Literaturgeschichte gilt Aladdin als das romantische Schauspiel per se: als Märchenspiel, in seiner episodischen Struktur, in der exotischen Stoffwahl ebenso wie in seiner formalen Gestaltung und seinem Ideengehalt, dem Loblied auf das Naturgenie, womit Aladdin auch als poetische Reflexion über den romantischen Dichter gelesen wird.11 Georg Brandes, der Vorkämpfer der Moderne in der skandinavischen Literatur, betont am Ende des Jahrhunderts (1886) in durchaus kritischem Rückblick auf die dänische Romantik die literatur- und geistesgeschichtliche Bedeutung des Dramas: „Aladdin ist der Ausgangspunkt für das neuere dänische Geistesleben, der Grundstein, über dem das Gebäude errichtet ist, das die dänische Literatur der ersten Jahrhunderthälfte ausmacht.“ [Aladdin er Udgangspunktet for nyere dansk Aandsliv, Grundstenen, over hvilken den Bygning er opført, som udgør dansk Literatur i dette Aarhundredes første Halvdel.]12 Oehlenschlägers Drama hat die bekannte Geschichte aus 1001Nacht zum Vorbild. Interessant für die auffällige Wirkungsgeschichte des Dramas in Dänemark ist aber nicht der Handlungsverlauf – Oehlenschläger hält sich im Wesentlichen an das Märchen13 –, sondern die besondere Gestaltung des Protagonisten: Oehlenschlägers Aladdin erscheint als Glückskind der Natur. Ihre Schätze fallen ihm mühelos in den Schoß. In einer der berühmtesten Szenen des Dramas (gerade sie findet sich übrigens nicht im Märchen) wetteifert Aladdin mit anderen Knaben darum, Orangen zu fangen, die ihnen zugeworfen werden. Nachdem er mühelos schon zwei erlangt hat, werden ihm die Hände gebunden. Da landet die dritte Orange von selbst in seinem Turban. Die Szene illustriert einen Orakelspruch, den Aladdins finstrer Gegenspieler, der afrikanische Zauberer, dem Oehlenschläger den Namen Noureddin gibt, in einem alten Buch findet: Naturens muntre Søn er Lykken næst Hvorefter Nattens Grubler flittig grunder, Naar Solen slukkes i det blege Vest, 11

12 13

Zum Erfolg des Schauspiels in Dänemark vgl. Oxfeldt. Nordic Orientalism. S. 10. Brandes. „Adam Oehlenschläger“. S. 201 [eigene Übersetzung]. Zu den Unterschieden zwischen Märchen und Drama vgl. Elberling. „Oehlenschläger og de østerlandske Eventyr“. S. 39ff.

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Wolfgang Behschnitt Det finder han med Lethed ved et Under. Fast ubegribeligt ham Lykken gaaer Imøde, mens han sødt og sorgfrit blunder. Der muntre Sohn des Lebens ist dem Glück’ Am nächsten; und wonach der Grübler ringt, Wenn bleich am Himmel glänzt der Sterne Blick, Dies wunderbar aus seinem Herzen springt. Das Glück ihm freundlich selbst entgegen gehet, Und – kaum es wissend – alles ihm gelingt.14

Diese Verse sind in der dänischen Rezeption wohl am häufigsten zitiert worden. Nicht dem kalten Verstand in seinem mühsamen Ringen, sondern der Naivität erschließen sich die Geheimnisse des Lebens. Daraus ist nicht nur ein romantisches Dichterbild konstruiert worden, sondern auch – im Zuge einer Rezeption des Dramas unter nationalen Vorzeichen – ein dänisches Selbstbild. Dies zeigt sich am anschaulichsten wiederum bei Georg Brandes in seinem kritischen Rückblick auf das Aladdin-Drama und seine Wirkungsgeschichte. Aladdin erscheint Brandes nicht als Verkörperung naiver Lebenskraft, sondern als selbstgenügsamer Phantast, der sich weigert, die Realität zur Kenntnis zu nehmen. Oehlenschlägers Verständnis des Naturgenies spiegele eine Seite des dänischen Volkscharakters – eine Vorliebe für das Naive, Sorglose, Begabte, Phantastische –, die im 19. Jahrhundert in den Auseinandersetzungen um Schleswig und Holstein fatale Folgen gezeitigt habe. Sorglos wie Aladdin selbst, in dessen Bild man sich so lange gespiegelt hatte, sah die dänische Nation nicht die drohende Gefahr. Deutschland schätzte man nicht hoch ein und verstand man nicht. Wie sollte Aladdin auch Faust begreifen! Er sah in ihm ja nur die hässliche, gelehrte Gestalt des Zauberers Nureddin. [Sorgløs som Aladdin selv, i hvis Billede man så længe hade spejlet sig, saa’ den danske Nation ikke den truende Fare. Tyskland vurderede man ikke højt og forstod man ikke. Hvor skulde Aladdin kunne begribe Faust! Han saa’ ham jo kun i den hæslige, lærde Troldmand Nureddins Skikkelse.]15 14

15

Oehlenschläger. Aladdin eller den forunderlige lampe. S. 37.; Oehlenschläger. Aladdin oder die Wunderlampe. S. 40. Brandes. „Adam Oehlenschläger“. S. 221 [eigene Übersetzung].

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Die Bedeutung der Aladdin-Figur für das dänische nationale Selbstbild ist in einer jüngst erschienenen Arbeit zum dänischen Orientalismus von Elisabeth Oxfeldt wieder hervorgehoben worden. In der Nachfolge von Brandes sucht sie die These zu begründen, im AladdinDrama sei ein nationaler Gegensatz von Dänentum (Aladdin) und Deutschtum (in der faustischen Figur des Noureddin) angelegt. Das Orientalische werde entsprechend für die dänische nationale Selbstkonstruktion gegenüber Deutschland funktionalisiert. As Oehlenschläger’s Aladdin and its reception history have shown, Danes incorporated the Orient into their nationalism but did so not through a binary system, involving only the national Self and the Oriental Other, but through a method of triangulation that allowed Denmark to construct its own national identity in opposition to Germany’s and in alignment with French ideals.16

Oxfeldt pointiert hier, dass die identitätskonstitutive Funktion des Orient-Diskurses nicht notwendig auf der binären Abgrenzung Okzident-Orient beruhen muss, sondern dass andere Funktionalisierungen möglich sind – hier die Inkorporierung eines Orient-Bildes ins nationale Selbstbild zum Zwecke der Abgrenzung von Nachbarnationen. Dass dies auch für den dänischen Orientdiskurs (wenigstens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts) zutrifft, erscheint plausibel. Die Fokussierung auf die nationale Identitätskonstitution gehört aber der späteren Wirkungsgeschichte des Dramas an und ist kaum auf das Aladdin-Drama im Kontext seiner Erstveröffentlichung 1805 zu beziehen – insbesondere angesichts des ausdrücklichen Bestrebens Oehlenschlägers, sich als Autor über die dänisch-deutsche Nationengrenze hinweg zu etablieren. Betrachten wir das Drama vor diesem Hintergrund, ergibt sich ein anders akzentuiertes Bild. Die Aladdin-Noureddin-Opposition wird nicht mit nationalen Grenzziehungen verbunden, sondern mit der Gegenüberstellung von romantischer Naturpoesie und rationalistischer Borniertheit. Damit schließt Oehlenschläger direkt an die Orientdiskurse an, die das 18. Jahrhundert dominiert haben: nur kehrt er die Aufklärungskritik an den morgenländischen Phantastereien, die sich auch in Dänemark häufig direkt auf die Popularität der Märchen aus 16

Oxfeldt. Nordic Orientalism. S. 53.

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1001-Nacht bezog17, um und wendet den Spieß aus romantisch-universalpoetischer Perspektive polemisch gegen den aufklärerischen Rationalismus. Das Orientalische steht bei Oehlenschläger in diesem Sinne für das Poetisch-Romantische und es ist ausdrücklich mit einem integrativen Weltbild verbunden. In diesem erscheint das höchste Glück als Vereinigung alles Partikularen, und zwar auch in seinen geographischen und kulturellen Dimensionen. Den oben zitierten Strophen über das Naturgenie geht nämlich eine Reflexion über die geographische Verteilung des Glücks voraus: Sælsomt er Lykkens Gaver rundt fordeelt, Som Funker er de spredt fra Syd til Norden, Og saare Faa besidde Lykken heelt. Seltsam sind die Gaben des Glücks verteilt, Wie Funken sind sie von Süden nach Norden verbreitet, Und nur sehr Wenige besitzen das Glück ganz.18

Betrachten wir diese Rätselstrophen genauer, die im Drama zentral positioniert sind und die im Epilog als Schlüssel zur Deutung bezeichnet werden, so zeigt sich, dass hier implizit auf die Aufgabe von Dichtung verwiesen wird. Denn der Orakel-Text, den der Zauberer Noureddin hier liest, wird selbst als ‚Gedicht‘ eingeführt, und zwar als eines, das sich auf der östlichen Seite des Saales befinde. Wer zuvor das Vorwort und den Prolog des Dramas gelesen hat, kann dies unschwer als eine metapoetische Anspielung deuten. Der Prolog stellt dem Schauspiel eine Poetologie der Vereinigung des geographisch Getrennten, hier explizit des ‚Morgenländischen‘ und des ‚Nordischen‘ voran. Die Sprecherin des Prologs ist Sanguinitas. Sie spricht zu Melancholia, der düster gestimmten Jungfrau des Nordens, und stellt sich als deren „ältere, muntere, morgenländische“ Schwester vor. Melancholia solle ihr, so heißt es, einen kurzen Besuch gestatten und sich für den Augenblick aus ihrer schwermütigen Betrachtung der nordischen Stoffe reißen: 17

18

Vgl. Svane. „Et blik i haremsspejlet“. S. 129; Elberling. Oehlenschläger og de østerlandske eventyr. S. 10. Oehlenschläger. Aladdin eller den forunderlige lampe. S. 36. Diese und die folgenden Zitate aus Oehlenschlägers dänischem Aladdin sind im Sinne einer möglichst wortgetreuen Übertragung von mir selbst übersetzt.

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Thi Nordens Kraft er uden Østens Ild Det samme som et hærdet Demant-Sværd, der mangler en varmblodig Muskel-Arm […]19 Denn die Kraft des Nordens ist ohne das Feuer des Ostens Dasselbe wie ein gehärtetes Diamant-Schwert, Dem ein warmblütiger Muskel-Arm fehlt […]

Die Kultur des Nordens bedarf also der Ergänzung durch das Orientalische, sie muss aus dem Orient verjüngt und veredelt werden. In diesem Sinne erscheint der Orient – das wäre eine erste, auf der Ebene der Selbstaussagen des Dramas angesiedelte Schlussfolgerung – in der Funktion eines Komplements: Die nordische Literatur braucht ihn, um ein ganzheitliches, sprich: romantisches Kunstideal realisieren zu können. Dieses Kunstideal zielt gleichwohl nicht auf eine transnationale Poesie (eine ‚Weltliteratur‘). Es ist definitiv im Nordischen verankert, und erst die nordische Identität macht das Komplement des Orientalischen notwendig.20 Die komplementäre Funktion des Orientalischen im romantischen Literaturkonzept wird zusätzlich durch das Vorwort bekräftigt, das Oehlenschläger seinen Poetiske Skrifter von 1805 voranstellte. Der zweite Band der Schriften enthält neben dem Aladdin-Drama die nordische Sage von Vaulundur. Im Vorwort sieht sich der Autor veranlasst, diese Kombination zu rechtfertigen: Der vollkommene Dichter, dessen Seelenkräfte durch Gleichgewicht und Harmonie ausgezeichnet seien, umfasse in seinem Werk das Ganze, also auch geographisch die ganze Welt. Vom einseitigen Künstler hingegen heißt es: „es kann nie die ganze Welt sein, die sich in seinem Werk bewegt, sondern nur einzelne Teile; und selbst diese werden nur borniert betrachtet, weil ihm der Überblick fehlt, der sie als Teile eines Ganzen sieht.“ [det kan aldrig længer blive den hele Verden, der bevæger sig i hans Værk, men

19 20

Ebd., S. 28 [eigene Übersetzung]. Damit sei nicht bestritten, dass sich in Oehlenschlägers Werk auch Texte finden, die eher einer eigentlich transnationalen Konzeption entsprechen, wie sie später Goethes Begriff der ‚Weltliteratur‘ bezeichnet. Andreas Blödorn hat in diesem Zusammenhang auf das Gedicht „Digterens Hiem“ (Des Dichters Heimat) von 1811 hingewiesen.

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kun enkelte Dele; og selv disse kun bornert betragtede, da han mangler den Circumspection, der seer dem, som Lemmer af det Hele.]21 Oehlenschläger geht darüber hinaus aber auch ausdrücklich auf die Funktion des Orientalischen ein: Manche Leser würden den Autor gewiss wegen Mängel des orientalischen ‚Kostüms‘, also der Milieuschilderung, kritisieren wollen. Oehlenschläger aber weist die Forderung nach ethnographischem Realismus mit bemerkenswert deutlichen Worten zurück. Es sei nicht die Absicht des Autors gewesen, ein statistisch genaues Bild der Staatsverfassung und des Tons in Persien wiederzugeben, sondern eine Dichtung zu schreiben, die sich um den Osten aus keinem anderen Grund bekümmerte, als weil er östlich war, das will sagen: voller Munterkeit, Feuer, Leidenschaft, Phantasie und Religion. [at give et statistisk troe Billed af Statsforfatningen, og Tonen i Persien, men at skrive et Digt, som ikke brød sig om Østen af anden Grund, end fordi den var østlig, det vil sige: fuld af Munterhed, Ild, Lidenskab, Phantasie og Religion.]22

Oehlenschläger interessiert sich also nicht für den statistisch-ökonomisch-historischen Diskurs der rationalistischen Reise- und Landesbeschreibungen. Die polemisch formulierte Tautologie, die er einer möglichen ethnographischen Lesererwartung entgegenstellt – die Rede vom ‚Östlichen‘ des Ostens – macht deutlich, dass ihn der Orient nur als poetische Welt interessiert23: als der Orient der Opern und Märchen des 18. Jahrhunderts. Der Orient, den vor ihm schon Tieck und andere für die romantische Literatur adaptiert hatten. Und er interessiert ihn 21

22 23

Oehlenschläger. Aladdin eller den forunderlige lampe. S. 17 [eigene Übersetzung]. Ebd., S. 18 [eigene Übersetzung]. So auch Marie-Louise Svane: „Der ‚Osten‘ war in diesem Sinne nur der passende Name und Spiegel für all die verborgenen und großen Kräfte, die es im Inneren des Menschen gab und die die Aufklärungsmoralisten zusammen mit den ‚Unwahrscheinlichkeiten‘ und ‚Unmöglichkeiten‘ der Märchen wegzensuriert hatten.“ (Svane. „Et blik i haremsspejlet“. S. 132; eigene Übersetzung.) Svane betont, dass zu diesen Kräften auch die erotischen gehören und stellt Oehlenschlägers ästhetischen Orient in den Zusammenhang einer „sexualmoralischen Kompensationsstrategie in einem größeren bürgerlichen Emanzipationsprojekt“ (Ebd., S. 137; eigene Übersetzung).

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als Kindheitswelt, womit die Kategorie der Naivität nicht nur auf den Helden, sondern auch auf das Schauspiel selbst appliziert wäre. Im Epilog (dieser fehlt in der deutschen Ausgabe) wird das Schauspiel ganz konkret ein Gemälde genannt, das der Autor in seiner Kindheit geschaut habe: „Halb verwischt von Staub und Tabak / Beschienen vom Licht eines Eisenleuchters!“ [Halv slettet ud af Støv og Røgtobak, / Beskint af Praasen i en Jerntraads-Stage!]24 Als kindliche Erinnerung aber, als Märchen und literarische Tradition erscheint der Orient – so möchte ich folgern – nicht in erster Linie als ein kulturell Fremdes, sondern als ein durchaus Vertrautes.

Der Orient als Alterität In diesem Zusammenhang ist es instruktiv, die Frage nach der Alterität des Orients genauer unter die Lupe zu nehmen. In ihrer Arbeit Der andere Orientalismus über, so der Untertitel, Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, hat Andrea Polaschegg eine meines Erachtens hilfreiche Unterscheidung vorgenommen.25 Die Alteritätsforschung, so Polaschegg, habe häufig versäumt zwischen der Relation des Eigenen zum Anderen und der des Vertrauten zum Fremden zu differenzieren. Dabei handele es sich um zwei unterschiedliche Dichotomien, die, das wird betont, mit zwei unterschiedlichen relationalen Operationen verknüpft seien. Das Eigene vs. das Andere stehe komplementär zueinander in einer Relation der Differenz. Ihr Verhältnis sei begründet durch die Operation der Abgrenzung und sei dadurch identitätskonstitutiv. Anders die Fremdheit: Das Fremde sei das nicht unmittelbar Verständliche, das Erklärungsbedürftige bis hin zum Rätselhaften – also eigentlich eine Kategorie der Hermeneutik. Der Gegensatz des Fremden sei also nicht das Eigene, sondern das Vertraute, die Relation zwischen den beiden Polen sei nicht die Differenz, sondern die Distanz: Während die system- und identitätserhaltende DIFFERENZierung zwischen dem ‚Eigenen‘ und dem ‚Anderen‘ über Operationen von Grenzziehung, Positionierung und Zuordnung funktioniert, entsteht die Relation zwischen dem ‚Vertrauten‘ und 24

25

Oehlenschläger. Aladdin eller den forunderlige lampe. S. 376 [eigene Übersetzung]. Polaschegg. Der andere Orientalismus. S. 41ff.

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Wolfgang Behschnitt dem ‚Fremden‘ durch die Dynamik zwischen hermeneutischer DISTANZnahme und verstehender Annäherung.

Im Kontext von Alteritätsbeziehungen würden also zwei ganz verschiedene Strategien sichtbar: Die eine läuft auf einer Achse mit den Endpunkten ‚das Eigene‘ und ‚das Andere‘, operiert nach Maßgabe der DIFFERENZ und dient der Konstitution von Identität, die andere läuft auf einer Achse mit den Endpunkten ‚das Vertraute‘ und ‚das Fremde‘, operiert nach Maßgabe der DISTANZ und durchzieht die Sphäre des Verstehens.26

Nun ist es zweifellos so, dass das Eigene oft genug als das Vertraute, das Andere als ein Fremdes erscheint. Dies ist aber kein notwendiger Zusammenhang, da die beiden Achsen von Alteritätsbeziehungen nicht systematisch verbunden sind. Verstehen führe also – ich folge weiterhin Polaschegg – keineswegs automatisch zur Aneignung. Ebenso wie das Andere – hier möchte ich Oehlenschlägers Aladdin als Beispiel nehmen – keineswegs immer als ein Fremdes erscheinen muss. In den Orientdiskursen des frühen 19. Jahrhunderts überkreuzen und überlagern sich die Achsen von Eigenem und Anderem, Vertrautem und Fremdem auf unterschiedlichste Weise. Gerade deswegen erscheint ihre systematische Unterscheidung hilfreich. Polaschegg sucht herauszuarbeiten, unter welchen historischen und diskursiven Voraussetzungen welche der beiden Achsen das Verhältnis zum Orient dominiert. Ihre Resultate sind in unserem Zusammenhang – ich komme auf Oehlenschläger zurück – interessant. Unter anderem konstatiert sie, dass in der Belletristik (im Gegensatz zu den am Anfang des 19. Jahrhunderts sich etablierenden wissenschaftlichen Diskursen über den Orient) die Achse ‚Eigenes‘ vs. ‚Anderes‘ dominiere. Und hier speziell in denjenigen literarischen Gattungen, in denen die Performativität des Gezeigten vor der Textualität des Diskursiven das Übergewicht habe, also etwa im Schauspiel und besonders in der Oper. Die oben zitierten Äußerungen Oehlenschlägers im Vorwort seiner Poetiske skrifter nun weisen ausdrücklich die mögliche Erwartung zurück, bei Aladdin gehe es um die verstehende Aneignung des Orients als eines Fremden, eines Rätselhaft-Erklärungsbedürftigen. Nein, hier geht es nicht um Distanz – das Märchen von Aladdin liegt ja ganz 26

Ebd., S. 43.

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nah, in der eigenen Kindheit –, sondern es geht um Differenz: um die Differenz von Nordischem und Orientalischem als Komplementen, die Vorwort und Prolog so entschieden exponieren. Und es geht damit um die Konstitution von Identitäten: die Konstitution des Autors als romantischer Dichter und zugleich als Exponent seiner nordischen Kultur.

Der Orient in Oehlenschlägers deutschem Aladdin und seinen weiteren ‚morgenländischen Dichtungen‘. Die Unterschiede zwischen der deutschen und der dänischen Fassung des Aladdin-Dramas sind bislang nicht im Detail herausgearbeitet worden. Diese Aufgabe wird dadurch verkompliziert, dass Oehlenschläger auch die deutsche Fassung von 1808 nochmals umgearbeitet hat, so dass sich die Textgestalt in den späteren Ausgaben, etwa den Schriften von 1829/30, deutlich von der Erstfassung unterscheidet. Auch im Rahmen dieses Aufsatzes muss ich mich auf wenige Punkte beschränken, wobei ich von der Erstfassung von 1808 ausgehe. Für die deutsche Fassung hat Oehlenschläger das Drama in zwei Teile geteilt und nennt das, was auf Dänisch schlicht ‚Et Lystspil‘ (ein Lustspiel) heißt, ‚Dramatisches Gedicht in zwei Spielen‘. Außerdem stellt er das Stück in einen anderen Rahmen. Es erhält ein anderes Vorwort, zudem fehlt der Epilog. Beide tragen zur ästhetischen Reflexion des Dramas wesentlich bei, ebenso wie zur Reflexion über das Orientalische. Diese Reflexionen finden sich dafür wenigstens teilweise in einem Widmungsgedicht an Goethe wieder, das den ersten Teil einleitet. Es dient der Selbstpräsentation des Autors – „Im Norden fern geboren“ – und seiner Sehnsucht nach dem „Feenlande, / Wo ew’ge Blumen stehn, / Wo Kraft und Schönheit gehn / Im Zauberbande“. Er verweist auf sein Grenzgängertum – „Wie ich nun groß geworden, / Fühlt ich mich bald in Süden, bald in Norden“ – und formuliert auch das Streben nach einer deutschen Autorschaft. Schon hab’ ich Viel gesungen Im Vaterlande; ernster, mehr gedrungen Steht auf der Scene Manch alter Norden-Held, Gerufen her vom Feld Durch Melpomene.

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Wolfgang Behschnitt Sie werden auch wohl kommen, Wenn Freund Aladdin freundlich aufgenommen.27

Eine ästhetische Reflexion ganz anderer Zielrichtung leitet darüber hinaus den zweiten Teil ein. In einem Prolog, der sich wiederum in der dänischen Fassung nicht findet, dankt Melancholia ihrer Schwester Sanguinitas für die „muntern Gaukeleien“ des ersten Teils, kündigt nun aber eine tragische Entwicklung an. „Denn ganz sein Leben durch geht nie ein Mensch / Auf Rosen, nicht der Glücklichste; bloß spielend / Gelangt kein Erdenkind zum Grabe hin.“28 Im Weiteren also würden Scherz und Ernst Hand in Hand gehen. – Das ist ein Aspekt, der in der dänischen Fassung nirgends expliziert wird. Dass er für Oehlenschläger wesentlich war, zeigt sich an den Änderungen, die er im Text selbst vorgenommen hat. Besonders auffällig ist, dass er im zweiten Teil, der ja die Prüfungen Aladdins zum Thema hat und, wie Melpomene im Prolog selbst sagt, eine tragische Entwicklung anbahnt, mehrere komische Szenen eingefügt hat. Es liegt nahe, dass Oehlenschläger mit dieser Änderung auf die ästhetische Diskussion über das romantische Schauspiel in Deutschland reagierte, u.a. direkt auf Tiecks Märchenspiele, für die in ihrem Bezug auf Gozzi und die Commedia dell’ arte unter anderem die Vereinigung von Scherz und Ernst charakteristisch ist.29 Jean Paul verweist in seiner Rezension des Dramas selbst auf die „Tieckische Weitschweif- und Weitläuftigkeit (besonders im Komischen) –“ und in bezug auf die Vereinigung von Scherz und Ernst schreibt er: „Er [Oehlenschläger] durfte sich dies als ein Schüler und Freund Shakespeare’s, Goethe’s und Gozzi’s erlauben.“30 Im deutschen Vorwort von 1808 weist Oehlenschläger auf die Genannten als Vorbilder und Bürgen für seine ästhetische Konzeption hin: auf Goethes Götz und Faust hinsichtlich der episch breiten Bauform des Dramas, auf Tiecks Octavianus hinsichtlich der dichteri27

28

29

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Oehlenschläger. Aladdin oder die Wunderlampe. Widmungsgedicht (unpaginiert). Ebd., S. 275f. Auch die Vorrede von 1808 nimmt explizit auf das „Possenhaft-Barokke“ im zweiten Teil des Stücks bezug und hebt die „schauerliche Seite“ hervor, die das Komische habe (Oehlenschläger. Aladdin oder die Wunderlampe. S. 12). Z.B. in Tiecks Opernlibretto Das Ungeheuer und der verzauberte Wald. Vgl. Feldmann. Die Fiabe Carlo Gozzis. 134ff. Jean Paul. Sämtliche Werke. Abt. II. Bd. 3. S. 736f.

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schen Verarbeitung des Volksmärchens, auf Gozzi hinsichtlich der Verwendung des orientalischen Stoffes. Der Autor sucht ganz ausdrücklich und mit exkulpatorischem Gestus den Anschluss an die deutsche literarische Tradition. Schon auf der ersten Seite betont er: „Die Art, ein Mährchen mit Wunder und Wirklichkeit, mit Ernst und Spaß gemischt, dialogisch darzustellen, ist in der deutschen Literatur nichts neues“.31 – Das Drama wird auf diese Weise gerahmt durch einen literarästhetischen Diskussionszusammenhang und abgesichert durch die Berufung auf Autoritäten. Dies wirkt sich auch auf den Status und die Funktion des orientalischen Stoffes aus: Mit den Namen Tieck und Gozzi ist er genauso wie die Form des Märchendramas selbstverständlich vorausgesetzt und muss nicht weiter begründet werden. Eine weitere wesentliche Änderung betrifft den Dramenschluss. Sie findet sich nur in der deutschen Erstausgabe von 1808 und wurde in späteren Ausgaben wieder rückgängig gemacht. Die dänische Fassung endet nach Aladdins Sieg über seine ruchlosen Widersacher mit einer doppelten Huldigung Aladdins. Ein Geisterchor würdigt die Vollendung seines geistig-moralischen Entwicklungsgangs, das Volk auf dem Platz vor dem Palast begrüßt ihn als neuen Herrscher. Und Aladdin beschließt das Drama mit einer religiös akzentuierten Reflexion auf sein Leben und auf die menschliche Existenz: „Ein kleines Spiel in der Hand der Ewigkeit. / Ein Wink, und sogleich sind wir der alte Staub! Was ist da menschliche Macht und Größe?“32 [Et ringe Spil i Evighedens Haand. / Et Vink, og flux vi er det gamle Støv! / Hvad er da menneskelig Magt og Storhed?] – In der deutschen Fassung hingegen werden Aladdin und Gulnare in die Höhle zurückversetzt, aus der er die Lampe einst holte und in die er sie nun zurückbringen wird. Von nun an braucht er die Macht der Lampe nicht mehr, unterwirft sich der göttlichen Weltordnung und Allahs Schutz. Die Höhle verwandelt sich dadurch in eine paradiesische Landschaft, die kristallenen Pflanzen und Früchte werden lebendig. In einem melodramatischen Schlusstableau, in dem die Lampe, verwandelt zur Morgensonne, vom Horizont das Zauberschloss beleuchtet, umarmen sich Aladdin und Gulnare mit dem gemeinsamen Ausruf: „O Seligkeit!“33 – Durch diese 31 32

33

Oehlenschläger. Aladdin oder die Wunderlampe. S. 1. Oehlenschläger. Aladdin eller den forunderlige lampe. S. 374 [eigene Übersetzung]. Oehlenschläger. Aladdin oder die Wunderlampe. S. 563.

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Epiphanie wird das Drama auf eine philosophisch-ästhetische Ebene gehoben, es wird zu einer romantisch-naturphilosophischen Allegorie. Dies entspricht dem Vorwort zur deutschen Erstausgabe (und auch dieses findet sich wie der geänderte Dramenschluss nicht in den späteren Ausgaben Oehlenschlägers). In diesem deutet Oehlenschläger seine Figuren naturphilosophisch und nennt als Anregung hierfür ausdrücklich Goethes Faust und Novalis.34 Das Drama in der deutschen Fassung wird dadurch mit einem philosophischen Ballast beschwert, der in unübersehbarem Gegensatz zur Aussage des dänischen Epilogs steht. In diesem wird das Schauspiel wie erwähnt mit einem alten Gemälde verglichen, gesehen mit Kinderaugen. Ausdrücklich ist vom „leichten Spiel“ [Det lette Spil] die Rede. Und es heißt: Har I opmærksomt læst det hele Digt, Betragtet Lampen i sit eget Lys, Og med sit eget Øie, mærket vel Hvad Noureddin saae i den gamle Bog, Hvad Ringens Aand forklared for Aladdin – Saa er det ey nødvendigt meer at pirre I Lampen med Forstandens Lysesax. Habt Ihr die ganze Dichtung aufmerksam gelesen, Die Lampe in ihrem eignen Licht betrachtet Und durch ihr eignes Auge, wohl bemerkt Was Noureddin in dem alten Buch sah, Was der Geist des Rings dem Aladdin erklärte – So ist’s nicht nötig, in der Lampe Noch lang mit der Schere des Verstandes herumzustochern.35

In der deutschen Fassung bzw. in deren Vorwort unternimmt dies nun der Dichter selbst – und er wird von Jean Paul, der ihn ansonsten wohlwollend bespricht, dafür wohl zu Recht kritisiert.36

Schluss Als Oehlenschläger 1808 mit Aladdin zum ersten Mal seinen Fuß auf den deutschen Buchmarkt setzte, ergab sich ein Begründungsproblem 34 35

36

Ebd., S. 8f. Oehlenschläger. Aladdin eller den forunderlige lampe. S. 375 [eigene Übersetzung]. Jean Paul. Sämtliche Werke. Abt. II. Bd. 3. S. 736.

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für die orientalische Stoffwahl, das sich von der dänischen Erstveröffentlichung 1805 deutlich unterschied. Über das genannte Faktum hinaus, dass sowohl die Romantik als auch die nordischen und die orientalischen Stoffe in der deutschen Literatur bereits etabliert waren, stellte sich die Frage, warum ein Autor, der „im Norden fern geboren“ war (vgl. das Widmungsgedicht), ausgerechnet mit einem orientalischen Schauspiel in Deutschland debütieren wollte. Warum sollte zuerst Aladdin und dann erst die „alten Norden-Held[en]“ kommen? Im dänischen Kontext begründete Oehlenschläger den orientalischen Stoff mit der Komplementfunktion im Sinne einer romantischen Ästhetik, die zugleich für seinen Status als nordischer Dichter konstitutiv war. Im deutschen Kontext ging es hingegen darum, seine Bi-Kulturalität zu betonen, „bald in Süden, bald in Norden“. Und das ist ein Projekt, das im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts – man denke an das Aufblühen des deutschen Nationalsinns im Kontext der napoleonischen Kriege – bereits mit fest etablierten nationalen Identitätskonzeptionen rechnen musste. Deswegen konnte Oehlenschläger nicht daran gelegen sein, die Dichotomie Orientalisch-Nordisch hervorzuheben und damit sich selbst als nordischen Dichter zu exponieren, was in Deutschland den Blick auf seine dänische Verwurzelung richten musste. Statt dessen wird im deutschen Zusammenhang der zweite Argumentationsstrang aufgenommen, der schon im Vorwort zur dänischen Erstveröffentlichung angelegt ist. Schon hier vertritt das Orientalische des Stücks zugleich das Märchenhaft-Poetische und das Naive, in jedem Fall aber das Romantische. Auch im deutschen Vorwort steht das Orientalische für ein Märchenhaft-Poetisches; allerdings wird dies nicht auf die kindliche Auffassung des orientalischen Märchens, eine naiv-poetische Schau, sondern auf die literarische Tradition des romantischen Märchenspiels bezogen. Für die Funktion des Orientalischen im deutschen Aladdin von 1808 bedeutet dies, dass der Orient noch weniger als in der dänischen Fassung als ein Fremdes, Rätselhaftes erscheint. Noch stärker ist er eingebunden in eine vertraute Ordnung der Dinge: in eine etablierte literarische Tradition, aber auch in ein universales naturphilosophisches System, in dem kulturelle, ja auch religiöse Differenzen als Partikularitäten aufgehoben sind im Ganzen. – So differenziert in Bezug auf die Gestaltung und Funktionalisierung der Orientbilder kann sich das Diskursgefüge des Orientalischen zu Beginn des 19. Jahrhunderts darstellen.

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In späteren deutschen Publikationen hat sich Oehlenschläger hingegen ganz offensiv der Rubrik des ‚Morgenländischen‘ bedient. 1831 veröffentlicht er bei Brockhaus zwei Bände Morgenländische Dichtungen, die die Schauspiele Die Fischerstochter und Die Drillingbrüder von Damask enthalten. Eine entsprechende dänische Ausgabe gibt es nicht. Es ist sicher nicht gewagt zu vermuten, dass für Titel und Zusammenstellung dieser deutschen Ausgabe marktstrategische Gründe ausschlaggebend waren. Bekanntermaßen liegt ein Höhepunkt der literarischen Orient-Mode in Deutschland in den 1820er Jahren.37 Die Morgenländischen Dichtungen sind nun nicht Goethe, sondern Tieck gewidmet. In der Eingangsstrophe nimmt der 52-Jährige ausdrücklich Bezug auf seine jugendlichen Anfänge mit und als Aladdin: „Zu meinen Kindermärchen kehr’ ich wieder,“ heißt es hier. Und: Nicht mehr Aladdin er die Lampe scheuert, Ein Fischer, harrt er an dem Strande dreist. Hat sich das hübsche Wunder doch erneuert? Zog er in seinem Netz hinauf den Geist? Und blühen wieder ihm des Orients Freuden? Das mag der liebe Leser selbst entscheiden.38

Literatur Albertsen, Leif Ludwig. „‚Was kann von Nazareth Gutes kommen?‘ Oehlenschlägers deutsche Erfolge“. Dänisch-deutsche Doppelgänger. Transnationale und bikulturelle Literatur zwischen Barock und Moderne. Hg. Heinrich Detering/Anne-Bitt Gerecke/Johan de Mylius. Göttingen: Wallstein, 2001. S. 134-146. Ammann, Ludwig. Östliche Spiegel. Ansichten vom Orient im Zeitalter seiner Entdeckung durch den deutschen Leser 1800-1850. Hildesheim: Olms, 1989. Anz, Heinrich. „‚Ich wage es, mich auch einen deutschen Dichter zu nennen‘. Situation und Selbstverständnis des literarischen Grenzgängers Adam Oehlenschläger zwischen dänischer und deutscher Literatur“. Begegnungen. Deutschland und der Norden im 19. Jahrhundert. Hg. Bernd Henningsen. Berlin: Arno Spitz, 2000. S. 19-47. Anz, Heinrich. „Der Januskopf des Grenzgängers. Adam Oehlenschlägers Stellung zwischen dänischer und deutscher Literatur“. Dänisch-deutsche 37 38

Vgl. Ammann. Östliche Spiegel. S. 5. Oehlenschläger. Morgenländische Dichtungen. Bd. 1. unpaginiert.

Aladdin und der romantische Dichter

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Doppelgänger. Transnationale und bikulturelle Literatur zwischen Barock und Moderne. Hg. Heinrich Detering/Anne-Bitt Gerecke/Johan de Mylius. Göttingen: Wallstein, 2001. S. 147-156. Blödorn, Andreas. Zwischen den Sprachen. Modelle transkultureller Literatur bei Christian Levin Sander und Adam Oehlenschläger. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2004. Georg Brandes. „Adam Oehlenschläger: Aladdin“. Samlede Skrifter. Danmark. Bd. 1. Anden Udgave, Kjøbenhavn/Kristiania: Gyldendalske Boghandel, 1919. S. 201-242. Elberling, Carl. Oehlenschläger og de østerlandske Eventyr. Kjøbenhavn: Thieles Bogtrykkeri, 1887. Feldmann, Helmut. Die Fiabe Carlo Gozzis. Die Entstehung einer Gattung und ihre Transposition ins System der deutschen Romantik. Köln/Wien: Böhlau, 1971. Paul, Jean. „Aladdin oder die Wunderlampe“. Sämtliche Werke. Hg. Norbert Miller. Abt. II. Bd. 3. München: Hanser, 1978. Oehlenschläger, Adam. Aladdin eller den forunderlige lampe. Et lystspil. Hg. Jens Kr. Andersen. Oehlenschläger Selskabet. 1978. Oehlenschläger, Adam. Aladdin oder die Wunderlampe. Ein dramatisches Gedicht. Amsterdam: Kunst- und Industrie-Comptoir, 1808. Oehlenschläger, Adam. Morgenländische Dichtungen. 2 Bde. Leipzig: F. A. Brockhaus, 1831. Oehlenschläger, Adam. Schriften. Zum erstenmale gesammelt als Ausgabe letzter Hand. Breslau: Max, 1829-30. Oxfeldt, Elisabeth. Nordic orientalism. Paris and the cosmopolitan imagination 1800-1900. Copenhagen: Museum Tusculanum Press, 2005. Polaschegg, Andrea. Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin/New York: de Gruyter, 2005. Svane, Marie-Louise. „Et blik i haremsspejlet. Oehlenschlägers romantiske orientalisme“. Europas andre. Fremmedfrygt i europæisk kultur. Hg. Mikkel Bogh u.a. København: Tiderne Skifter, 2005. S. 127-141.

Mounir Fendri

Die Entdeckung des maghrebinischen Orients Ein wichtiges Merkmal des Orientkonzepts, wie es die deutsche Dichtung seit dem Mittelalter mannigfaltig durchzieht, ist seine räumliche Unbestimmtheit. In der Regel wird jedoch dieser Orient, der „zusammenerträumte Poesie-Orient“, wie ihn Heinrich Heine bezeichnete1, der „Orient der Seele“, wie es seinerseits Paul Valery nannte2, im Wesentlichen mit der Kulturwelt des Islam identifiziert und daher überwiegend als ‚der islamische Orient‘ typisiert. Darin beanspruchen im Umriss erkennbare Räume den Mittelpunkt, die sich in erster Linie auf den arabischen bzw. arabisierten Nahen Osten, die Türkei und Persien beziehen. Von einem anderen, kulturell und historisch eng damit verwandten Raum, der nordafrikanischen Maghreb-Region, ist dahingegen wenig die Rede. Welche Stellung nimmt dieser Teil des ‚islamischen Orients‘ im orientalisierenden Kontext des deutschen Geistes ein? Eine augenfällige Tatsache ist zunächst die relative Nähe des nordafrikanischen Maghrebs zu Europa. In der Vorrede seiner Darstellung Der Maghreb – Nachbar Europa schreibt Alard von Schack: Als Westeuropäer sollten wir uns einmal klarmachen: so viele geographisch nahe Nachbarn haben wir gar nicht. […] So richtet sich unser Blick unwillkürlich in den warmen Süden, wo – nur 1

2

Heinrich Heine. „Aufzeichnungen“ (Zur Charakterisierung F. Freiligraths). H. Heine. Sämtliche Schriften in 12 Bdn. Hg. K. Briegleb. Bd. 11. München: Hanser, 1976. S. 648. „Damit das Wort Orient im Geist seine volle Wirkung entfalten kann, ist es vor allem wichtig, niemals selbst in jener unbestimmten Gegend gewesen zu sein, die sie bezeichnet. Man sollte durch Bilder, Berichte, Lektüren und einige wenige Dinge nur die ungenauesten, ungelehrtesten, ja verworrensten Kenntnisse haben. Nur so bereitet man sich einen guten Stoff zum Träumen. Man braucht dazu eine Mischung aus Zeit und Raum, aus Pseudowahrheiten und falschen Tatsachen, aus winzigen Details und unvollständigen Übersichten. Dort liegt der Orient der Seele.“ Paul Valéry. Vorwort zu R. Bezombes. L’exotisme dans l’art et la pensée. Paris 1953. S. VII. Zitiert nach: Ragnhild Gulrich. Exotismus in der Oper und seine szenische Realisation (1850-1910). Salzburg 1993. S. 9.

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Mounir Fendri durch das schmale Mittelmeer getrennt – in Nordafrika die westarabischen Länder liegen, der Maghreb, wie die Araber sagen.3

Der Blick war im Grunde schon früh dorthin gerichtet. Nachdem es über Jahrhunderte ein Teil des Römischen Reiches und Schauplatz weltbewegender Geschehnisse war, ist dieses Gebiet seit dem Einzug der muslimischen Araber im 7. Jahrhundert das Sprungbrett für ihre Feldzüge und Einfälle in Richtung des christianisierten Europas geworden. Dadurch etablierte und verfestigte sich im europäischen Weltbild nachhaltig seine Eigenschaft als Gefahrenzone und Feindesland. In seinen Vorlesungen über die Geschichte Nordafrikas hob August Ludwig Schlözer um 1775 die enge Verflechtung dieser Geschichte mit der europäischen im Mittelalter hervor: Doch außerdem ist die Nord-Afrikanische Geschichte auch, wie der Augenschein lehret, in die Süd-Europäische Geschichte des ganzen Mittel-Alters, so dichte eingeflochten, daß sie schon aus diesem Grunde eine neuere Bekanntwerdung unter uns verdient.4

Ungeachtet der grundsätzlich antagonistischen Natur der Beziehungen der europäischen Christenheit mit Nordafrika im Mittelalter konnten dennoch Handelsbeziehungen zustande kommen und wohl zu einer gewissen Image-Nuancierung beitragen. Davon legt schon die höfisch-ritterliche Epik des deutschen Mittelalters vielfach Zeugnis ab. Zahlreiche Stellen, etwa die sogenannten ‚Schneiderstellen‘ im Nibelungenlied, verweisen namentlich auf Marokko oder Libyen als Herkunftsländer der kostbaren Stoffe, die die Figuren auszeichnen und ihren hohen Stand bekräftigen. Mit der Ansiedlung der Hohenstaufen im mediterranen Süditalien rückte dasselbe Gebiet dem deutschen Bewusstsein in feindlicher wie friedlicher Hinsicht noch näher. Ein beliebtes Motiv, das eher in die südfranzösische und italienische Dichtung Eingang fand, die Abenteuer eines christlich-muslimischen Liebespaars auf den gegenüberliegenden, religiös verfeindeten Mittelmeerufern, taucht nun auch in der deutschen Dichtung auf. Zu erwähnen wäre hier die Erzählung Anmuthige Geschichte von dem Prinzen Gerbino und der Prinzessin Ro3

4

Alard von Schack. Der Maghreb – Nachbar Europas. Reiseeindrücke. Bonn 1986. S. 7. August Ludwig Schlözer. Summarische Geschichte von Nordafrika, namentlich von Marocko, Algier, Tunis und Tripoli. Göttingen 1773.

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sina, die sich unter den im 19. Jh. rehabilitierten deutschen Volksbüchern erhalten hat.5 Wie in der provençalischen Erzählung Aucassin et Nicolette geht es hier um die Liebe eines edlen Helden aus der Christenheit, nämlich des Enkels des Normannenkönigs Wilhelm II. von Sizilien, für eine muslimische Prinzessin aus Nordafrika – hier wie dort die schöne Tochter des Königs von Tunis – und um dessen Kampf bis zur ‚Erlösung‘ der Angebeteten aus ihrer ‚heidnischen‘ Umwelt und ihrem ‚falschen‘ Glauben. Das gleiche Motiv, mit Tunis als Schauplatz, findet sich später noch in der Oberon-Dichtung wieder, wie sie von Martin Wieland um 1780 literarisch märchenhaft und von Carl Maria von Weber etwa fünf Jahrzehnte später musikalisch feenhaft ausgestaltet wurde. Im selben Zusammenhang wäre noch ein Drama – man könnte es zu Recht als ‚Toleranzdrama‘ bezeichnen – August von Kotzebues aus dem Jahr 1787 zu erwähnen, Der Eremit auf Formentera, das gleichfalls von der Liebe zwischen einem christlichen Spanier und der Tochter eines maghrebinischen Potentaten und von der Überwindung des Glaubensgegensatzes durch Liebeskraft, weise Einsicht und menschlichen Edelmut handelt. Dem alten Handlungsmotiv, das sich in einer vom alten, Jahrhunderte langen christlich-muslimischen Konflikt beherrschten Tradition einbettet, wird insofern ein bemerkenswert neuer Geist eingehaucht, der der sich damals im Zuge der Toleranzaufforderung der Aufklärung abzeichnenden Wende im IslamBild Vorschub leistet. Angesichts der Macht der Liebe und der Rechtschaffenheit des andersgläubigen Liebhabers seiner Tochter willigt der muslimische Vater, bezeichnenderweise ein „algierischer Seeräuber“, in die Ehe zwischen beiden ein, und auf die Frage, wer den Segen über diesen Bund spreche, erwidert er: „Den spreche ich […] Euch segne der Gott der Türken! Euch segne der Gott der Christen! Euch segne unser – unser Gott!“.6 Ein Jubelchor stimmt ein und beschließt das sogar aus gegenwärtiger Sicht immer noch ideale Happy End mit dem Gesang: Ja gewiß! Wir sind einander Alle, alle gleich! Juden, Türken, Christen, Heiden, Wandeln, ohne sich zu neiden, 5 6

Vgl. O. L. Wolff. Volksbücher. Bd. 44. Leipzig: O. Wigand. A. von Kotzebue. „Der Eremit auf Formentera. Ein Schauspiel mit Gesang in 2 Aufzügen“. Theater von A. v. K. Bd. 1. Wien und Leipzig 1840. S. 66.

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Mounir Fendri Hand in Hand in’s Himmelreich! D’rum so ziehet hin in Frieden! Unser aller Gott mit Euch! Unser Glauben ist verschieden, Uns’re Herzen sind sich gleich.7

Die Wahrnehmung Nordafrikas als Feindesland, um mit dem chronologischen Überblick fortzufahren, erhärtet sich im deutschen Bewusstsein wieder im 16. Jahrhundert, als der türkische Einfluss – im Rahmen der großen osmanisch-christlichen Auseinandersetzung um die Herrschaft im Mittelmeerraum – mit dem Korsarenchef Kheyreddin Barbarossa daselbst Fuß fasste. Vordergründig um diesen zu bekämpfen, unternahm Karl V. seinen berühmten Feldzug gegen Tunis im Sommer 1535. Seinen eklatanten Sieg feierten die zeitgenössischen Deutschen als großen Sieg ihres Kaisers. Ein dichterischer Niederschlag der Freude, die diese als Kreuzzug konzipierte Unternehmung in Deutschland hervorrief, findet sich etwa in Hans Sachs’ lyrischem Werk. In mindestens drei langen Gedichten rühmte der Meistersänger von Nürnberg in überschwänglich panegyrischem Ton den kaiserlich-christlichen Sieg über die Mohren und Türken.8 Der gleichzeitige Paroxysmus der Türkengefahr mit der Belagerung Wiens (1529) erhöhte das Interesse für diese Geschehnisse und lenkte den Blick auf den nordafrikanischen Schauplatz, den man fortan zur Welt des verhassten Türkentums zurechnet. Bis ins 19. Jahrhundert hinein hallt der Nordafrika-Vorstoß Karls V. in der deutschsprachigen Dichtung vielfach wider. Im episch langen „Heldengedicht“ Tunisias des Österreichers Johann Ladislaus Pyrker (1772-1848) z.B. wird ihm ein imposantes literarisches Denkmal gesetzt. In zwölf „Gesängen“ rühmt der Dichter die Waffenthaten des Kaisers / Carol, die er vollbracht auf dem wogenden Meer’ und dem Festland,/ Als er vom schmählichen Joch tunisischer Räuber die Christen/ Lös’te mit Siegers Hand, Europa’s zagenden Völkern/ Frieden errang, und dem Meer’ erkämpfte die heilige Freiheit.9 7 8

9

Ebd., S. 66f. Es handelt sich um folgende Gedichte aus dem Jahr 1535 : „Von dem kaiserlichen sieg in Aphrica“, „Des kaisers krigszug in Aphrica“ und „Historia von dem kaiserlichen sieg in Africa in königreich Tunis“. J. L. Pyrker. „Tunisias. Ein Heldengedicht in zwölf Gesängen“. Pyrker’s Sämmtliche Werke. Bd. 1. Stuttgart und Tübingen 1855. S. 7.

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Fünfzig Jahre vor Pyrker, um noch ein Beispiel zu nennen, hatte sein Landsmann Johann von Sternschütz das Thema Karl V. in Afrika zu einem ‚heroischen Trauerspiel in 5 Aufzügen‘ verarbeitet.10 Über die angeführten Beispiele hinaus hat die Nordafrika-Politik von Kaiser Karl V. mit dem Höhepunkt des Jahres 1535 weitere nennenswerte Spuren in der deutschen Literatur hinterlassen und stellt damit ein ausschlaggebendes Moment im Kontext einer noch fälligen, gründlichen Auseinandersetzung mit dem deutschen Maghreb-Bild dar. Auf diesen Themenkomplex sollte meines Erachtens Schillers Figur „Muley Haßan. Mohr von Tunis“ in Die Verschwörung des Fiesko zu Genua (1782) zurückgeführt werden. Wie aus Pyrkers historisierender Dichtung nachträglich hervorgeht, war der damalige tunesische König Muley Hassan der unmittelbare Auslöser für die Tunis-Expedition Karls V. gewesen, indem er des Kaisers Hilfe gegen die eigenen Widersacher anforderte. Im soeben erwähnten Stück von Sternschütz wird „Muley Assem, ein nordafrikanischer Mohr“, so die Regieanweisung, und „der rechtmäßige König von Tunis“, in Übereinstimmung mit der historischen Realität, von den eigenen Glaubensgenossen als Verräter geächtet und verstoßen.11 Auch wenn Schiller dieses Stück aus dem Jahr 1772 gekannt hätte, sollte seine Dokumentation hierzu selbstverständlich eher in Geschichtsquellen gesucht werden.12 In welchem Ansehen der historische Muley Hassan in der deutschen Geschichte zu Schillers Zeit stand, ergibt sich allerdings schon aus der bereits angeführten, 1775 publizierten Nordafrika-Vorlesung von August Ludwig Schlözer. Hier heißt es: Mahmed, der damalige Abuhafsische König des Landes, ernannte von seinen 34 Söhnen den Hassan, einen der Jüngsten, zu seinem Nachfolger. Dieser vergiftet seinen Vater, damit ihn die Ernennung nicht gereuen möchte; und erwürgte seine Brüder, so viel er davon habhaft werden konnte. Hassan warf sich A. 1535 dem K. Karl V in die Arme. Dieser lief selbst, unter dem Segen des Papstes und der Erwartung der Christenheit, von Barcellona aus: in Cagliari sammelte sich eine Flotte von 10

11 12

Vgl. Uta Sadji. Der Mohr auf der deutschen Bühne des 18. Jhs. Salzburg 1992. S. 174ff. Vgl. ebd. Nachweislich benutzte Schiller u.a. die 3-bändige deutsche Ausgabe von William Robertsons Geschichte der Regierung Kaiser Carls des V. Braunschweig 1770-71.

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Mounir Fendri 500 Schiffen; diese setzten sich den 16 Jul. in Bewegung, und landeten glücklich bei Tunis.13

Ferner notierte Schlözer: „Hassan nahm seinen Thron wieder ein, der mit Blut und Leichen umgeben war.“14 Entsprechend musste der tunesische Meuchelmörder in Schillers Drama laut Regieanweisung „[e]in confiszirter Mohrenkopf“ und von der „Physionomie“ her als „eine originelle Mischung von Spitzbüberey und Laune“ ausfallen.15 Ich möchte an dieser Stelle, da die Rede von Schiller ist, bei dem sich eine schöpferische oder gar passive Orient-Faszination kaum nachweisen lässt, auf eine Äußerung hinweisen, die seine nüchterne Haltung zur Welt des Orients bekräftigt und seine geringe Meinung vom zeitgenössischen muslimischen Menschen und von der außereuropäischen Welt überhaupt zur Geltung bringt. Es handelt sich um einen Brief an Goethe vom 26. Januar 1798, in dem Schiller im Anschluss an die Rezeption von Volneys und Niebuhrs Ägypten- und Arabien-Reiseberichten kommentiert, er empfehle dieselbe Lektüre „jedem [Europäer], der bei den jetzigen schlechten politischen Aspekten den Mut verliert“. Denn, so Schiller weiter, „erst so sieht man welche Wohltat es bei alledem ist, in Europa geboren zu sein.“ Hier allein, „in einem so kleinen Teil der Welt“, so seine Überzeugung, sei „die belebende Kraft im Menschen wirksam“, während „jene ungeheuren Völkermassen“ – also in erster Linie die von den genannten Autoren betrachteten Gesellschaften – „für die menschliche Perfektibilität ganz und gar nicht zähle.“16 13 14 15

16

A. L. Schlözer (wie Anm. 4). S. 66. Ebd. Vgl. zu dieser Figur Schillers: G. Kettner. „Der Mohr in Schillers Fiesko“. Deutsche Vierteljahrschrift f. Lit.Geschichte. III. 1890. S. 556-573. Zitiert nach: Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Hg. H. G. Gräf/A. Leizmann. Frankfurt a.M. 1964. S. 432f. Im selben eurozentrischen Sinne und in derselben Epoche hatte sich etwa der Göttinger Professor „für Weltweisheit“ Christoph Meiners geäußert, indem er in seinem Grundriß der Geschichte der Menschheit (1785) feststellte, dass „die Europäischen Nationen selbst im Zustande der Wildheit und Barbarey sich so sehr von den Wilden und Barbaren der übrigen Erdtheile durch ihre höhern Tugenden, durch ihre grössere Empfänglichkeit gegen Aufklärung, durch ihre Verfassung, Gesetze, und Art zu kriegen, durch ihr Betragen gegen Weiber, Sclaven und überwundene Feinde auszeichnen.“ (Lemgo 1785, Vorrede unpaginiert).

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In eben dieser Zeit war Schiller im Übrigen immer noch mit seinem unvollendeten Drama Die Malteser, das den Malteser oder Johanniter Orden im Kampf gegen Türken und Mauren als Helden in den Vordergrund stellt, befasst. Damit bot sich zugleich wohl auch eine Gelegenheit, mit dem nordafrikanischen Raum in geschichtlicher und aktueller Hinsicht in Berührung zu kommen. Wie er seinen Quellen entnehmen und aus der Aktualität, wie sie in der zeitgenössischen Presse ein breites Echo fand, erfahren konnte, war der eifrige Kampf dieses christlichen Ritterordens aus der Kreuzzugsära in hohem Maße gegen die nordafrikanischen Moslem, die sogenannten ‚Barbaresken‘, ausgerichtet. Ungeachtet der Erfolge Karls V., dem der Orden die Insel Malta als „Grenzposten des christlichen Europas gegenüber Afrika, der Barbareiküste“ verdankte, entwickelte sich im 16. Jahrhundert das gegen die europäisch-christliche Schifffahrt ausgerichtete nordafrikanische Korsarenwesen, hier als legitimer Glaubenskampf zu See, dort als schändliche Seeräuberei verstanden, zu einem wesentlichen Faktor und Identifikationsmerkmal im Verhältnis zwischen dem christlichen Europa und dieser Region. Erst mit der Einnahme Algiers durch französische Truppen im Jahr 1830 konnte diese abträgliche, für anhaltende Spannung sorgende Aktivität als endgültig überwunden betrachtet werden. So lange, also über drei Jahrhunderte blieb sie nördlich des Mittelmeers das Hauptkennzeichen in der europäischen Wahrnehmung des Maghrebgebietes und der Einschätzung seiner Bewohner. Auch im Mittelmeer fernen Deutschland hat dieses Bild lange geherrscht und markante Spuren hinterlassen.17 Schon infolge ihrer Interessen am Mittelmeerhandel musste die deutsche bzw. hanseatische Schifffahrt in Konflikt mit dem nordafrikanischen, dem sogenannten ‚barbaresken‘ Korsarenwesen geraten und dessen Nachteile empfindlich spüren. In der deutschen Seefahrtgeschichte gilt dies als Hauptgrund dafür, dass der deutsche Seehandel im Mittelmeerraum um die Mitte des 18. Jahrhunderts zum Erliegen kam.18 Über Wirkung der nordafrikanischen Korsaren und ihr Treiben wurde die deutsche Öf17

18

Vgl. Mounir Fendri. Kulturmensch in barbarischer Fremde. Deutsche Reisende im Tunesien des 19. Jahrhunderts. München 1996. S. 43ff. Ludwig Beutin. Der deutsche Seehandel im Mittelmeergebiet bis zu den napoleonischen Kriegen. Neumünster 1933. S. 41. Siehe auch: Ernst Baasch. Die Hansestädte und die Barbaresken. Kassel 1897.

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fentlichkeit durch die Medien tagtäglich mit Nachrichten versorgt. Korrespondenzartikel aus den verschiedensten Mittelmeerhäfen berichteten regelmäßig hierüber und sorgten somit für anhaltende Ressentiments und ein permanent negatives Bild der nordafrikanischen Länder und ihrer Gesellschaften. In diesem Sinne kannte man sie damals vornehmlich als ‚Barbareskenstaaten‘, eine Bezeichnung, die oft gern mit ‚Raubstaaten‘ vertauscht wurde. Offensichtlich leitete sich ‚Barbaresken‘ vom Toponym ‚Berberei‘ ab, der sich auch im deutschen Gebrauch für Nordafrika seit dem Mittelalter als ‚Barbaria‘ durchgesetzt hatte; wahrscheinlich unter französischem Einfluss, wie die Verwendung des Ortsnamen „Barbarie“ in Konrad von Würzburgs Epos Partonopier und Meliur zu beweisen scheint.19 Weitere Belege finden sich vielfach in der Sammlung der Historischen Volkslieder der Deutschen von Rochus von Liliencron, etwa im epischen Gedicht über Herzog Ludwig von Baiern, wo der weitläufige exotische Schauplatz außer Indien, Kathei und Trebisund auch „das kunigreich von Barbarei“ umfasst.20 Was aber ursprünglich, wohl im Hinblick auf die ‚Berber‘, wie die Urbevölkerung unter griechischem dann römischem Einfluss genannt wurde, eher als sachliche Ortsbezeichnung mit ethnischem Bezug einging, gewann im 18. Jahrhundert, im Zeitalter der Aufklärung, zwangsläufig die negative Konnotation der Kulturlosigkeit und Zivilisationswidrigkeit.21 Das solchermaßen im deutschen wie westeuropäischen Intellekt tief verankerte Negativbild Nordafrikas erhielt und tradierte sich im 19. Jahrhundert weiter und half substanziell, dessen koloniale Unterwerfung ideologisch zu legitimieren und sie als zivilisatorische Wohltat gelten zu lassen. Es würde im gegebenen Rahmen zu weit führen, auf diesen Gegenstand, das deutsche Maghrebbild im 18. Jahrhundert im Spiegel der Literatur, erschöpfend einzugehen. Es sei aber noch auf ein weiteres Stück des bereits zitierten, 1819 verstorbenen Lustspieldichters August von Kotzebue hingewiesen. Es heißt Der Harem und spielt im „Harem“ des „Vezir des Dey von Tunis“. Dieser, Mustapha, kehrt aus 19 20

21

Vers 13340: von Barbarie dar gezogt / was der künec schône… Rochus von Liliencron. Die historischen Volkslieder der Deutschen. Bd. 1. Leipzig 1865. S. 516. Vgl. M. Fendri. „Kultur und Barbarei im Konzept der deutschen Aufklärung im Lichte dreier Maghreb-Reisen“. KulturPoetik. Bd. 2/2. 2002. S. 198-212.

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einer diplomatischen Mission in Europa zurück und ist willens, die orientalischen Haremssitten über Bord zu werfen und sich in Sachen Geschlechterbeziehung dem europäischen Modell zu verpflichten. Er wird von seinem „Haremswächter“ Culluru mit folgenden, in vieler Hinsicht aufschlussreichen Worten begrüßt: Culluru. Sprecht, ist es wahr? Nennt man da drüben uns Barbaren? Weil wir ein Völkchen sind von muthigen Korsaren? Und weil ein jedes Schiff zu kapern uns beliebt, Zu dem der Säbel ein unstreitig Recht uns gibt?

Darauf antwortet der frisch aufgeklärte Bey-Minister: Man nennt uns allerdings Barbaren, blos deßwegen. Mir war es lächerlich, denn in Europa hegen Die Christen gleichen Geist; ein räuberisch’ Geschlecht! Das Recht des Stärkeren ist auch dort das einz’ge Recht. Wer Pulver hat, und Geld, und Sklaven unter Waffen, Der kann auch dort, wie hier, was ihm beliebt sich schaffen. Da wird geplündert und geraubt nach Herzenslust, Und wer nicht geben will, zu dem spricht man: du musst. Kurz, lieber Culluru, ich hab’ es nun erfahren: Die E u r o p ä e r sind die eigentlichen B a r b a r e n.22

Mit Kotzebues Stück und dem typischen Haremmotiv gehen wir vom 18. ins 19. Jahrhundert, gleichzeitig vom überwiegend abstoßend ‚barbaresken‘ zum mehr und mehr orientalisch-attraktiven Maghreb über. Der Übergang war zunächst nicht einfach. Die Belastung war groß, das ‚Barbareskentrauma‘ saß tief. Ein Jahrzehnt nach Algiers Fall konnte sich Heinrich Laube, als er bei einem Algier-Besuch 1839 der Stadt vom Schiffsdeck her ansichtig wurde, „der Vorstellung nicht entschlagen, Algier sei noch Korsarennest, wir seien Christensklaven, denen der Anblick ihres Grabes bevorstehe“.23 Noch lange ins 19. Jahrhundert hinein hallt die Reminiszenz an das ‚barbareske‘ Nordafrika in 22

23

A. v. Kotzebue. „Der Harem. Ein Lustspiel in einem Aufzuge“. Theater von A.v.K. Bd. 24. Wien/ Leipzig 1841. S. 229f. H. Laube. „Französische Lustschlösser. Die Kaschba“. H. Laubes Gesammelte Werke. Hg. H. H. Houben. Bd. 34. Leipzig 1909. S. 265. Vgl. M. Fendri. „Emanzipation-Zivilisation-Kolonisation. Die Eroberung Algeriens im Urteil der Vormärz-Intelligenz. Am Beispiel Heinrich Laubes“. Reisen, Entdecken, Utopien. Hg. A. Bhatti/H. Turk. Bern: P. Lang, 1998. S. 41-53.

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der deutschen Dichtung wider. Vielfach finden sich entsprechende Spuren in der in Anschluss an Goethes Divan aufgeblühten orientalisierenden Dichtung. So in Ferdinand Freiligraths „Piratenromanze“, in der eine Strophe besagt: Auf dem weiten Mittelmeere Gilt des Muselmanns Gesetz! Pfeilschnell rudert die Galeere, Sklaven braucht der Markt von Fez! 24

Im früheren Gedicht „Der Scheik am Sinai“ ließ Freiligrath übrigens, wohl unter dem Einfluss von Victore Hugos Les Orientales, den Fall Algiers aus muslimischem Empfinden her einfühlsam beklagen.25 Und noch 1874 veröffentlichte der Hanseat Emanuel Geibel im Erstlingsband der Deutschen Rundschau eine packende Ballade, die den Angriff eines aus Kreta mit reicher Fracht zurücksegelnden deutschen Schiffs durch „fuchsgesichtige“, mit „Rattenzöpfen“ versehene, „negerhafte“ tunesische Piraten vor Augen führt.26 Die für den deutschen Reiseverkehr bis 1830 nur schwer zugängliche Heimat dieser ‚Piraten‘ konnte man sich insofern zunächst nur mit finsteren Farben ausmalen. Einen aufschlussreichen Anhaltspunkt aus der deutschen Dichtung über das bislang dominante Image ergibt sich etwa aus Heinrich Heines um 1820 entstandenem Jugenddrama Almansor, welches vor dem Hintergrund von Granadas Fall spielt. Die Entscheidung eines ‚maurischen‘ Protagonisten, bei der Zwangsalternative zwischen Taufe oder Exil ins nördliche Afrika die erstere zu wählen, ließ der Dichter u.a. damit begründen, dass er, „der gute Aly“, „nicht/ Zurück ins dunkle Land der Barbarei“ wollte, wo seine (Adoptiv-)Tochter „im Frauenkäfig/ Des strengen Morgenlands hinwelken“ würde.27 Zwar überwog bei Heine hier die – von Herder stark geförderte – Faszination der arabisch-andalusischen Kultur, des „edlen Maurentums“, wie es Heine nennt28, die ihn das potenzielle Exil24 25

26

27 28

F. Freiligraths Werke. Hg. J. Schwerin. 1. T. Gedichte. Berlin. S. 43ff. Vgl. Meno Spann. Der Exotismus in F. Freiligraths Gedichten. Diss. Marburg 1928. Emanuel Geibel. „Eine Seeräubergeschichte. Erzählung des alten Steuermanns.“ Deutsche Rundschau. Bd. 1. 1874. S. 339-42. H. Heine. „Almansor“ (wie Anm. 1). Bd. 1. S. 317. Vgl. Mounir Fendri. Halbmond, Kreuz und Schibboleth. Heinrich Heine und der islamische Orient. Hamburg 1980.

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land mit düsterem Blick erfassen ließ. Doch zu dieser Zeit konnte sein Nordafrika-Bild gewiss nur dem damals allgemein herrschenden, von der wieder belebten ‚Barbaresken‘-Debatte beeinflussten verpflichtet sein. So war es wohl kein Zufall, dass er, Heine, seinen ebenfalls in dieser Zeit verfassten Briefen aus Berlin eine Anleihe bei Kleists Der Prinz von Homburg als Motto voranstellte, die den Inbegriff krassester Despotie aus der ‚Barbaresken‘-Welt herholt: Seltsam! Wenn ich der Dey von Tunis wäre, Schlüg ich bei so zweideut’gem Vorfall Lärm. (V,2)

Wie angedeutet, ist eine entscheidende Wende erst mit Algiers Fall 1830 eingetreten. Mit der erfolgten Überwindung der wesentlich mit dieser Stadt verknüpften ‚Barbareskengefahr‘ verlor das nordafrikanische Gebiet nach und nach von seinem üblen Leumund als berüchtigte, unwirtliche und zivilisationsfeindliche Gegend und wurde als exotisch anziehendes Reiseziel zugänglicher und immer begehrter. Die Anreize waren vielfältig. Es war zunächst Afrika, das man lange noch undifferenziert als ‚Wunderland‘ und ‚Inbegriff des Fremdartigen‘ auffasste. Es war für das humanistisch geschulte Bildungsbürgertum die ehemalige römische Provinz, wo sich markante Ereignisse der Antike abgespielt haben, an die noch sehens- und bewundernswerte Spuren erinnern. Es war aber auch ein Stück Orient, mit dem französischen Brückenschlag noch näher gerückt, zudem noch relativ im ursprünglichen Zustand, befand man, ‚unverfälscht‘, wie es nunmehr in den Reiseberichten oft hieß. Im Unterschied zur sich mehr und mehr europäisierenden Türkei; oder zu Ägypten, das mit Muhammad Ali, und als Hauptschauplatz der ‚Orientalischen Frage‘, immer stärker in den Sog der internationalen Politik hineingeriet. Dadurch beschleunigte sich der Trend zur Banalisierung und Entmythisierung des türkischen und nah-östlichen Orients, was die Umschau nach neuen Zielen der Orientsuche begünstigt haben könnte.29 29

Als hervorragender Kenner der Maghreb-Länder des 19. Jh.s schreibt der berühmte Orientreisende Heinrich von Maltzan in Sittenbilder aus Tunis und Algerien (Leipzig 1869, S. 4): „Hier [in Tunis, im Unterschied zu Algier] tritt dem Ankömmling auf den ersten Blick durchaus nichts Europäisches entgegen. […] Alles dieß trägt noch unverfälscht den einheimischen Stempel, wie wir dergleichen in der Türkei und Ägypten jetzt umsonst suchen. Dieses ächtorientalische Bild“.

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Mit wirksam bei der ‚Orientsuche‘ oder ‚Sehnsucht‘ in dieser Zeit war sicherlich der übergreifende Prozess von Industrialisierung und Technisierung Westeuropas mit den bewusstseins- und mentalitätsverändernden Begleiterscheinungen von Fortschrittsglauben und Zivilisationsrausch. Gerade dies hatte jedoch auf der anderen Seite die Sehnsucht nach der ‚guten alten Zeit‘ gefördert und das exotistische Bedürfnis gefördert. Die ‚gute alte Zeit‘, das war in der Vorstellung von vielen die vorindustrielle Epoche, die man nun vornehmlich im ‚Orient‘ vorzufinden wähnte, da hier, wie es in den einschlägigen Reiseberichten oft hieß, die Zeit stehen geblieben zu sein schien. Zusätzlich zu seiner Einbettung in der Tradition des ‚islamischen Orients‘ zeichnete sich der neu entdeckte Maghreb durch seine ‚afrikanische‘ Komponente aus, die den exotischen Reiz durch damit verbundene Stereotypen steigerte. Als typische landschaftliche Requisiten und Merkmale erschienen vor allem Palmen, die, so Fürst Pückler, „den Hauptreiz der afrikanischen Gegenden ausmachen“30, „schneeweiße“ bekuppelte Heiligenkapellen und Kamele; oder auch und besonders das „Völkergemisch“, das „den Straßen ein buntes Gepräge“ verliehe. Es imponierte und faszinierte das schillernde Bazarleben, wie es noch Elias Canetti in den 50er Jahren in Marrakesch erlebt und geschildert hatte. Es mutete, so bezeugten und verraten uns heute die erhaltenen Berichte der Reisenden, in hohem Grade orientalisch an, und doch empfand man es als eigentümlich. Noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die selbstverständliche Verwechselung von Afrikanischem und Orientalischem bei der Wahrnehmung dieser nordafrikanischen Fremde üblich. Am Beispiel folgender Tunisreise-Notiz aus dem Jahr 1882: „Aber wir sind nicht nach Afrika gekommen, um Politik zu treiben, sondern um des Orients Farbenreiz auf uns wirken zu lassen. Und wie umgiebt uns der auf Schritt und Tritt!“31 Aus dieser Verschmelzung, in der zwei Pole aus der Tradition der europäischen Exotik zusammenfließen, ergab sich ein reizvolles Neuartiges, das man, bis das Wort „maghrebinisch“ auch in den europäischen Sprachgebrauch Eingang fand, gelegentlich mit dem vielschichtigen Attribut ‚maurisch‘ wiedergab.

30

31

Herrmann von Pückler-Muskau. Semilasso in Afrika. Bd. 4. Stuttgart 1836. S. 269. Robert Davidson. Vom Nordcap bis Tunis. Berlin 1884. S. 161.

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Inzwischen, seit der Wende von 1830, haben zahlreiche Besucher dazu beigetragen, die relativ unferne Maghrebregion als lohnendes Ziel für Orientsuchende und Exotikjäger zu rühmen. Durch Text, als Brief oder publizierter Reisebericht, oder auch durch malerische Bilder. Denn seit Eugène Delacroix und bis August Macke und Paul Klee sind Maler, auch deutsche, in beträchtlicher Menge in Tanger, Algier und Tunis gelandet und mit reichem Ertrag an Impressionen und Darstellungen aus dem maghrebinischen Orient für Ausstellungen, Galerien und Buch- und Zeitschriftenillustrationen heimgekehrt. Da viele deutsche Maler nach Tunis aus italienischen Häfen kamen, ist man versucht, die nunmehrige Tunis-Reise als Verlängerung, als institutionalisierte Fortsetzung der traditionellen Italien-Reise anzusehen. Bevor direkte Linien südeuropäische Häfen mit Tunis verbanden, führte der Weg dahin zunächst lange über Algier. Das rasche Überhandnehmen des französischen Einflusses im Stadtbild und in anderen Lebensbereichen enttäuschte die Orient-Erwartungen der Reisenden und motivierte viele zu einem nicht geplanten Tunis-Besuch. Als er tunesischen Boden betrat, notierte Fürst Pückler 1835: Bisher hatte Alles, was ich von Afrika gesehen, immer eine starke französische Beimischung gehabt, daß ich mich noch halb in Europa glauben konnte. Biserta […] war die erste Stadt, wo dieser heimathliche Anklang ganz wegfiel und mir Alles wie eine wahrhaft neue Welt erschien.32

Besonders exaltiert hatte sich hierzu eine Hamburgerin, die es nach der Nordafrika-Reise 1848 zu einem bescheidenen literarischen Ruhm brachte, geäußert. Von Algier als Orient-Versprechung enttäuscht, kam sie, eine gewisse Marie von Schwartz (Pseudonym: Elpis Melena), nach Tunis, um befriedigt festzustellen: Wahrlich, ich habe genug von Tunis gesehen, um zu erkennen, daß diese Stadt einen ganz andern unverfälschten Charakter trägt, als Alles, was wir bis jetzt in Africa gesehen haben.33

Da sie die Reise, wie so viele auch, mit einer von 1001 Nacht berauschten Phantasie antrat und in Tunis in den Genuss eines Besuches im „Harem“ des damaligen Landesfürsten kam, ist ihr das Tunis-Erlebnis 32 33

Pückler-Muskau (wie Anm. 30). Bd. 3. S. 3. M. E. v. Schwartz. Blätter aus dem africanischen Reisetagebuch einer Dame. Bd. 2. Braunschweig 1849. S. 76.

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zur wunderbaren Erfüllung eines Traumes geworden. „Ja“, so konnten die zeitgenössischen Leser mit Neid oder Belustigung erfahren, ich reise jetzt getrost von Tunis ab, denn ich trage mit mir das Bewußtsein fort, daß es eine Spur jenes Orient giebt, welcher unserer Einbildung in unseren Kinderjahren durch die feenhaften Erzählungen der unerschöpflichen Scheherazade eingeprägt wurde.34

Solche Schwärmerei, die in der alten Tradition des deutschen und allgemein westlichen ‚Poesie-Orients‘ wurzelt, und in der besonders seit 1830 möglich gewordenen Begegnung eines vermeintlich ‚echten‘, ‚unverfälschten‘ Orients neue Nahrung findet, durchzieht in aller Variante die Zeugnisse der deutschen Maghreb-Reisenden, über das 19. Jahrhundert hinaus, bis zum Ersten Weltkrieg. Ein Musterbeispiel von ergreifender Schönheit bietet sich mit Rainer Maria Rilke, der bei einem abendlichen Spaziergang in der Medina, der Altstadt von Tunis Ende 1910, die ursprüngliche, echtorientalische Weihnachtsstimmung erfasst oder erlebt zu haben glaubte: In den Souks kommt manchmal so ein Augenblick, da man sich Weihnachten vorstellen kann: die kleinen Nischen hängen so voll bunter Sachen, die Stoffe sind so reichlich und überraschend, das Gold glänzt so versprechend auf, als sollte man es morgen geschenkt bekommen, und wenn dann abends dem allem gegenüber eine einzige Laterne brennt und sich bewegt, aufgeregt gleichsam von der Gegenwart alles dessen, mit dem sich ihr Licht einläßt, dann geht Tausendundeine Nacht in alles über, was in einem je Erwartung, Wunsch und Spannung war, und Weihnachten ist nicht so undenkbar.35

Erlauben Sie mir zum Schluss noch einen Standpunkt zu äußern. Als maghrebinischer Germanist liegt mir besonders viel an der Erforschung des Gegenstands dieser Tagung, der Orient-Diskurse in der deutschen und allgemein europäischen Kultur. Über den literatur- und kulturwissenschaftlichen Zweck hinaus sehe ich daran eine vernünftige Form im Dialog der Kulturen, den ich als Auslandsgermanist mit ‚orientalischem Hintergrund‘ für sinnvoll halte. Dass das gegenwärtige Verhältnis zwischen dem Westen und der Welt des Islam, zumal 34 35

Ebd., S. 117. R. M. Rilke an Clara Rilke. Tunis am 17.12.1910. Briefe. Bd. 1. Wiesbaden 1950. S. 93f.

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seit dem ominösen 11. September, keinen erfreulichen Befund aufweist, liegt meines Erachtens, und unter mannigfaltigen Ursachen, an einem Defizit in der Wahrnehmung der geschichtlichen Entwicklung dieses Verhältnisses seit dem 7. Jahrhundert. Die allgemein vertraute Chronik der Beziehungen zwischen dem westlichen Europa und der Welt des Islam zeigt sich als vorwiegend von einer einzigen Kette blutiger Zusammenstöße und feindseliger Auseinandersetzungen gekennzeichnet. Was man hier und dort von den Berührungen und großen Begegnungen beider Welten im Verlauf der Jahrhunderte im Besonderen und vordergründig weiß, von Muhammads Auftreten und dem sogenannten ‚Siegeszug des Islam‘ im Namen Allahs, bis zum jüngsten Afghanistan- und Irakkrieg, über Kreuzzüge, Türkengefahr und Kolonisation, scheint dem Recht zu geben. Jahrhundertlang konnte man in diesem Verhältnis nichts anders als einen schier ununterbrochenen ‚Kampf zwischen Halbmond und Kreuz‘ erblicken. Neuerdings verwendet man dafür die Formel „Kreuzzug und Djihad“.36 Es ist auf jeden Fall, wie der Italiener Franco Cardini das von ihm brillant untersuchte Verhältnis „Europa und der Islam“ treffend umschrieb, die „Geschichte eines Missverständnisses“.37 So erscheint mir auch hier Vergangenheitsbewältigung als gemeinsame Aufgabe erforderlich. Auch hier, im Verhältnis zwischen unseren beiden Kulturwelten, gilt es zukunftsorientiert, „die Kluft zu schließen, die die Geschichte aufriss.“38 Angesichts der gegenwärtigen Situation, die durch das beunruhigende Aufkeimen einer negativen Haltung gegenüber dem ‚Westen‘ auf der einen, und von überzogenem Misstrauen gegenüber dem Islam auf der anderen Seite, gekennzeichnet ist, kann es nur ratsam sein, die Geschichte der Beziehungen zwischen der islamischen Welt und dem Westen neu zu befragen und sie als identitätsstiftendes und -prägendes Kulturgut der kritischen Überprüfung zu unterwerfen, um die Kausalitäten sachlicher und kontextuell gerechter herauszustellen und die Vielfalt der Verbindungslinien und Beziehungsfacetten hervorzuheben und für ihre Vermittlung neue Wege zu suchen. 36

37

38

Vgl. z.B. Bassam Tibi. Kreuzzug und Djihad. Der Islam und die christliche Welt. München 2001. Franco Cardini. Europa und der Islam. Geschichte eines Missverständnisses. München 2000. Siehe Fachdienst Germanistik. Nr. 12/Dez. 2003. S. 6.

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Literatur Baasch, Ernst. Die Hansestädte und die Barbaresken. Kassel 1897. Beutin, Ludwig. Der deutsche Seehandel im Mittelmeergebiet bis zu den napoleonischen Kriegen. Neumünster 1933. Cardini, Franco. Europa und der Islam. Geschichte eines Missverständnisses. München 2000. Davidson, Robert. Vom Nordcap bis Tunis. Berlin 1884. Fachdienst Germanistik. Nr. 12/Dez. 2003. Fendri, Mounir. „Emanzipation-Zivilisation-Kolonisation. Die Eroberung Algeriens im Urteil der Vormärz-Intelligenz. Am Beispiel Heinrich Laubes“. Reisen, Entdecken, Utopien. Hg. A. Bhatti/H. Turk. Bern 1998. S. 41-53. Fendri, Mounir. Halbmond, Kreuz und Schibboleth. Heinrich Heine und der islamische Orient. Hamburg 1980. Fendri, Mounir. Kulturmensch in barbarischer Fremde. Deutsche Reisende im Tunesien des 19. Jahrhunderts. München 1996. Fendri, Mounir. „Kultur und Barbarei im Konzept der deutschen Aufklärung im Lichte dreier Maghreb-Reisen“. KulturPoetik. Bd. 2/2. 2002. S. 198212. Freiligrath, Ferdinand. Werke. Hg. J. Schwerin. 1. T. Gedichte. Berlin. Geibel, Emanuel. „Eine Seeräubergeschichte. Erzählung des alten Steuermanns.“ Deutsche Rundschau. Bd. 1. 1874. S. 339-342. Gräf, Hans Gerhard/Leizmann, Albert (Hg.). Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Frankfurt a.M. 1964. Heine, Heinrich. „Aufzeichnungen“ (Zur Charakterisierung F. Freiligraths). Heinrich Heine. Sämtliche Schriften in 12 Bdn. Hg. K. Briegleb. Bd. 11. München 1976. Kettner, Gustav „Der Mohr in Schillers Fiesko“. Deutsche Vierteljahrschrift f. Lit. Geschichte. III. 1890. S. 556-573. Kotzebue, August von. „Der Eremit auf Formentera. Ein Schauspiel mit Gesang in 2 Aufzügen“. Theater von August von Kotzebue. Bd. 1. Wien/Leipzig 1840. Kotzebue, August von. „Der Harem. Ein Lustspiel in einem Aufzuge“. Theater von August von Kotzebue. Bd. 24. Wien/Leipzig 1841. Laube, Heinrich. „Französische Lustschlösser. Die Kaschba“. Heinrich Laubes Gesammelte Werke. Hg. H. H. Houben. Bd. 34. Leipzig 1909. Liliencron, Rochus von. Die historischen Volkslieder der Deutschen. Bd. 1. Leipzig 1865. Maltzan, Heinrich von. Sittenbilder aus Tunis und Algerien. Leipzig 1869. Meiners, Christoph. Grundriß der Geschichte der Menschheit. Lemgo 1785. Vorrede unpaginiert. Pückler-Muskau, Herrmann von. Semilasso in Afrika. Bd. 4. Stuttgart 1836.

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Pyrker, János László. „Tunisias. Ein Heldengedicht in zwölf Gesängen“. Pyrker’s Sämmtliche Werke. Bd. 1. Stuttgart und Tübingen 1855. Rainer Maria Rilke an Clara Rilke. Tunis am 17.12.1910. Briefe. Bd. 1. Wiesbaden 1950. Sadji, Uta. Der Mohr auf der deutschen Bühne des 18. Jhs. Salzburg 1992. Schack, Alard von. Der Maghreb – Nachbar Europas. Reiseeindrücke. Bonn 1986. Schlözer, August Ludwig. Summarische Geschichte von Nordafrika, namentlich von Marocko, Algier, Tunis und Tripoli. Göttingen 1773. Schwartz, Marie Esperance von. Blätter aus dem africanischen Reisetagebuch einer Dame. Bd. 2. Braunschweig 1849. Spann, Meno. Der Exotismus in Ferdinand Freiligraths Gedichten. Diss. Marburg 1928. Tibi, Bassam. Kreuzzug und Djihad. Der Islam und die christliche Welt. München 2001. Valéry, Paul. Vorwort zu R. Bezombes. L’exotisme dans l’art et la pensée. Paris 1953. S. VII. Zitiert nach: Gulrich, Ranghild. Exotismus in der Oper und seine szenische Realisation (1850-1910). Salzburg 1993.

Dalia Salama

Georg Ebers’ Roman Eine ägyptische Königstochter ‚Pharaonisierendes‘ im 19. Jahrhundert So werdet ihr über Nacht Ägyptologen, kennt das geheimnisvolle Land am Nil, wie die besten Gelehrten, und es kostet euch nicht die geringste Mühe.1

Die altägyptische Kultur hat in besonderer Weise das Interesse der Menschen geweckt und seit zwei Jahrhunderten die Phantasie beflügelt. Seit der Entzifferung der Hieroglyphen im Jahre 1822 wird die Geschichte und Kultur der Pharaonen zum inspirierenden Stoff vieler Dichter. Ein neues literarisches Phänomen, ein neues Genre der epischen Literatur entstand: der pharaonisierende Roman. Parallel zu den Neuentdeckungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen, die man auf dem Gebiet der Ägyptologie zu machen begann, wuchs auch immer mehr das Verlangen, dieses dem zeitgenössischen Publikum weiter zu vermitteln. So verfassten vornehmlich Ägyptologen die reichhaltige Literatur. Einer der bedeutendsten auf diesem Gebiet ist Georg Ebers, der als Ägyptologe und Dichter in Vergessenheit geraten ist, obwohl seine Wirkung durch sein dichterisches Werk weit reichender war, als für einen Gelehrten üblich ist. Seine Romane werden nicht mehr aufgelegt, und in der Ägyptologie ist sein Name fast nur mehr im Zusammenhang mit dem nach ihm benannten Papyrus2 geläufig.3 1

2

3

Kritikus. „Georg Ebers und sein neuester Roman“. Die Literatur. Monatshefte für Dichtkunst und Kritik I (1880). Hg. Max Strempel. S. 38-49, hier: S. 44. Bei dem ‚Papyrus Ebers‘ handelt es sich um einen medizinischen Papyrus, den Ebers auf seiner zweiten Ägyptenreise (1873) erworben hat. 1875 erscheint der Papyrus in einer zweibändigen Ausgabe in Folioformat unter dem Titel: „Papyrus Ebers. Das hermetische Buch über die Arzneimittel der Alten Ägypter in Hieratischer Schrift. Herausgegeben, mit Inhaltsangabe und Einleitung versehen von Georg Ebers. Mit einem hieroglyphisch-lateinischen Glossar von Ludwig Stern.“ (Neudruck, Osnabrück 1987). Erst 1994 befasst sich Hans Fischer eingehend mit Georg Ebers als Ägyptologen und Dichter: Hans Fischer. Der Ägyptologe Georg Ebers. Eine

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Dieser Aufsatz hofft damit einen Beitrag zu leisten, das Verdienst von Georg Ebers als Dichter des 19. Jahrhunderts, durch den die ägyptologischen und historischen neu entdeckten Sachkenntnisse ihren Weg zum damaligen Publikum finden, wieder in Erinnerung zu rufen. Gleichzeitig soll auf die Entstehung des pharaonisierenden Romans im Rahmen der Ägyptenrezeption aufmerksam gemacht werden. Als Beispiel wird uns dabei Ebers’ pharaonisierender Roman Eine ägyptische Königstochter dienen. Doch bevor ich mich mit dem Roman auseinandersetze, möchte ich einen kurzen Überblick zu den Voraussetzungen, die zu der Entstehung dieser Gattung beigetragen haben, werfen, wobei ich mich damit begnügen muss, auf Anhaltspunkte hinzuweisen, die erklären sollen, was zur pharaonisierenden Erzählliteratur4 in der Neuzeit geführt hat.

Voraussetzungen für die pharaonisierende Erzählliteratur Historisch gesehen fanden die ersten europäischen Berührungen mit der ägyptischen Kultur um 30 vor Chr. statt. Von 30 v. Chr. bis 640 n. Chr. war Ägypten römische Provinz. Durch die Teilung des römischen Reichs in Ost und West fiel Ägypten an Ostrom (Byzanz), welches das Land ausgeplündert hat. In dieser Zeit nahm die Rezeption Ägyptens in Europa konkrete Formen an. Ägyptische Denkmäler kamen nach Europa, vor allem nach Italien. So wirkte in der römischen Epoche Ägyptens einerseits die hellenistisch-römische Porträtkunst auf die in Enkaustik (Wachsmalerei) gemalten Mumienporträts des 1. bis 4. Jahrhunderts n. Chr., andererseits wurden zahlreiche ägyptische Kunstwerke nach Italien und darüber hinaus in den gesamten

4

Fallstudie zum Problem Wissenschaft und Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert. Wiesbaden 1994. Siehe dazu auch bei ihm zum Forschungsstand S. 1-10. (Kurztitel: Fischer. Ebers Fallstudie). Vgl. dazu auch El-Schere’is wertvolle Dissertation, die sich mit der Kulturgeschichte des alten Ägyptens in Verbindung mit der deutschsprachigen Erzählliteratur im 19. und 20. Jahrhundert beschäftigt: Marwa Muhammad Wagdy El-Schere’i. Altägyptische Stoffe und Motive in der deutschen Dichtung des 19. und 20. Jahrhunderts. Kairo 2005. (Kurztitel: El-Schere’i. Altägyptische Stoffe und Motive).

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provinzialrömischen Bereich entführt.5 Neben den in Italien gefertigten mehr oder weniger gelungenen Stilimitationen waren vor allem gerade diese verschleppten Kunstobjekte die ersten Aegyptica, mit denen die gelehrte europäische Welt des Humanismus sowie der Renaissance- und Barockzeit in Berührung kam. Die erste Form der Wahrnehmung dieser ägyptischen Kultur war also das ‚Auge‘, das ‚Sehen‘. Diese Betrachtungsstufe dauerte Jahrhunderte an, bis mit der Entschlüsselung der Hieroglyphen und damit durch die Geburt der Ägyptologie im 19. Jahrhundert die zweite Stufe erreicht wurde: die ‚geistige Interaktion‘. Man begann mit der Erfassung des bis dahin unfassbaren historischen Stoffes.

Goethe und die ägyptische Kultur Die Distanzierung Goethes von der ägyptischen Kultur und seine Hinwendung zum antiken Erbe kann aus diesem Kontext heraus verstanden werden. Für ihn besaß Ägypten keine Bildungsmacht im Sinne von Schillers ethischer und ästhetischer Bildungstheorie. Die Abkehr Goethes von Ägypten wird in der wissenschaftlichen Forschung damit erklärt, dass bis dahin die ägyptischen Dinge ins grenzlos Allgemeine und vorläufig in keiner Weise Bewältigte hinausgestoßen waren, und damit für Goethe auch nicht den Rang einer Bildungsmacht behaupten und – jedenfalls – noch nicht auf einer denkbaren neuen Ebene wiedergewinnen konnten, weshalb sie ihm buchstäblich zu Kuriositäten wurden.6 Goethe meint dazu: Chinesische, Indische, Ägyptische Altertümer sind immer nur Curiositäten; es ist sehr wohlgethan, sich und die Welt damit bekanntzumachen; zu sittlicher und ästhetischer Bildung aber werden sie uns wenig fruchten.7

5

6

7

Vgl. Arne Eggebrecht. Das alte Ägypten. 3000 Jahre Geschichte und Kultur des Pharaonenreiches. München 1986. S. 447. Vgl. Siegfried Morenz. Die Begegnung Europas mit Ägypten. Mit einem Beitrag von Martin Kaiser: „Herodots Begegnung mit Ägypten“. Berlin 1968. S. 162. (Kurztitel: Morenz. Begegnung Europas mit Ägypten). Wilhelm Meisters Wanderjahre. Buch 3. S. 1f. Zitiert nach: Morenz. Begegnung Europas mit Ägypten (wie Anm. 6). S. 162.

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So steht die Einstellung Goethes Ägypten gegenüber unter der Einwirkung Herders, der ein echtes ‚maßstabgerechtes Begreifen‘ für die Universalgeschichte forderte.8 Die Basis für jenes ‚maßstabgerechte Begreifen‘, das Herder im Umgang mit geschichtlichen Phänomenen fordert und welches das Ägyptenbild im Europa des 19. Jahrhunderts bei aller Vielfalt und allem Verfehlen so grundlegend anders erscheinen lässt als in den früheren Jahrhunderten, wird mit dem Feldzug Napoleons 1798 gelegt. Die französische Expedition in Ägypten hatte bedeutende kulturelle Folgen, die für die Entdeckung der altägyptischen Kultur auf einer wissenschaftlichen Grundlage entscheidend waren, denn durch die Entdeckung von seit Jahrhunderten vergessenen Denkmälern und Zeugnissen aus der Zeit der Pharaonen wurde die Voraussetzung für eine neue Wissenschaft geschaffen: die Ägyptologie.9

Die Geburt der Ägyptologie Vorbereitet durch Vivant Denons Voyage dans la Basse et Haute Égypte (1802) sowie das vielbändige Werk Description de l’Égypte, das die Ergebnisse der wissenschaftlichen Tätigkeit der Franzosen in Ägypten vorlegte, trat die Ägyptologie ins Leben, als es François Champollion im Jahre 1822 gelungen war, durch Textvergleich zwischen der griechischen, demotischen und hieroglyphischen Inschrift auf dem 1799 bei Schanzarbeiten gefundenen ‚Stein von Rosette‘ die Hieroglyphen zu entziffern. Mit dieser Entdeckung wurde der Anstoß gegeben, die Denkmäler der ägyptischen Kultur, nicht zuletzt durch Anschaffungen ins Heimatland, ins europäische Bewusstsein zu rücken und aus ihrem Geist heraus verstehen zu lernen. Dank Champollions durchgeführter ägyptologischer, philologischer und archäologischer Studien hat man endlich erkannt, dass die Kultur Ägyptens sowohl reich an historischem Material als auch an ästhetischen Stoffen und Motiven ist. Damit spricht die altägyptische Kultur alle Menschen der Welt an. Hätte Goethe eine Sammlung über „Alt8 9

Vgl. ebd., S. 131ff. Vgl. Rawhia Riad Abdel-Noor. Ägypten in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. Bogumil Golz – Max Eyth – Georg Ebers. Diss. München 1986. S. 16ff. (Kurztitel: Abdel-Noor. Ägypten in der dt. Literatur).

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ägyptische Märchen“10 bekommen, hätten diese auf seine Arbeit vermutlich genauso gewirkt wie Tausendundeine Nacht.

Fundamente der altägyptischen Ethik Besonders erwähnenswert ist, dass auch in der altägyptischen Literatur der ‚Mensch‘ mit seiner Suche nach ethischen Werten im Diesund Jenseits im Mittelpunkt steht. Eberhard Otto weist in seinem Buch zum Wesen und Wandel der ägyptischen Kultur auf einen altägyptischen Grabtext hin, dessen Grundidee zu einem der wichtigsten Antriebe der Literatur gehört, nämlich die Orientierung des Menschen zum Guten. So heißt es da: „Das Richtige wird immer stärker zum Rechten, zum Guten. Prüfstein wird neben dem richtigen Handeln die richtige Gesinnung.“11 Hervorzuheben dabei ist, dass die eigentlichen Fundamente der altägyptischen Ethik, wie aus der Forschung ersichtlich, zunächst nicht auf religiös fundierten Wertmaßstäben beruhen, sondern auf einem die gesellschaftlichen Zustände erhaltenden, das geordnete menschliche Zusammenleben fördernden Verhalten. Erst allmählich und stufenweise verfolgbar verinnerlicht sich der Inhalt der Lehren und tritt damit in ein positives Verhältnis zur Religion. So findet man erst in der 26. Dynastie auf der Statue eines Beamten folgende religiös fundierte Inschrift: „Jeder Edle, der den Menschen Nützliches tut und die Art dessen übertrifft, der ihn erzeugt hat, den lässt Gott auf Erden dauern.“12 Den Ägyptern verdankt die ganze Menschheit viele ethische Begriffe, die zur Entstehung einer Kultur beigetragen haben, deren Hauptelemente Schrift und Kalender, Ordnung und Organisation, logisches und induktives Denken, Selbstverständliches und Systematisches, Kausalität und Abstraktes, Fröhlichkeit und Trauer, Lokalisierung und Kosmisches, Rationales und Mythisches, Sünde und Buße, 10

11

12

Siehe dazu: Altägyptische Märchen. Übertragen und überarbeitet von E. Brunner-Traut. Köln 1983, und Dieselbe. Altägyptische Tiergeschichte und Fabel. Gestalt und Strahlkraft. Darmstadt 1980. Eberhard Otto. Wesen und Wandel der ägyptischen Kultur. Berlin – Heidelberg – New York 1969. S. 62. Otto. Wesen und Wandel der ägypt. Kultur (wie Anm. 11). S. 62.

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Weltordnung und Weltanschauung, Weltschöpfung und Weltende und nicht zuletzt Wissen und Gewissen sind.13

Ägyptenmode – Ägyptomanie im Europa des 19. Jahrhunderts Die im gesamten Europa ausgelöste Ägyptenmode des 19. Jahrhunderts oder so genannte ‚Ägyptomanie‘ konkretisierte sich in drei synchronen, jedoch vom thematischen Ansatz her verschiedenen Möglichkeiten der Ägyptenrezeption.14 So befasste sich eine Tendenz mit der Darstellung des islamischen, ‚orientalischen‘ Ägypten und reiht sich damit mit dem voreingenommenen Blick des Europäers auf das exotische, geographisch Ferne und ethnisch Andere von Land und Leuten zum Phänomen des Exotismus und, genauer noch, zur OrientMode ein. In der zweiten Rezeptionsart wird das zeitgenössische Ägypten, der tatsächliche Zustand der Ruinen, die Europäisierung Kairos und die Touristen, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unabdingbar zum Erscheinungsbild des Landes gehören, geschildert. Die dritte Rezeptionsart, die so genannte ‚historistische‘ Ägyptomanie, die nach wie vor das pharaonische Ägypten, jedoch nun unter dem neuen Gesichtspunkt der Rekonstruierbarkeit der Vergangenheit sucht und damit in geistige Verwandtschaft zum Historismus tritt, erwächst im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts aus der Symbiose von Kunst und Ägyptologie, wobei es die Ägyptenrezeption der Architekten, Maler und Dichter war, die vom Kenntniszuwachs der ägyptologischen Forschung und der Systematisierung der Ägyptologie profitierte. Neben Jean-François Champollion (1790-1832) haben deutsche Ägyptologen, Pioniere wie Lepsius, Brugsch, Ebers und Ermann15 dazu beigetragen, die ägyptologischen und historischen Sachkenntnisse weit und breit zu publizieren. Den Künstlern wurden somit die Möglichkeit geboten, bei ihrer historisierenden Art der Ägypten-Darstellung sowohl auf ägyptologisches Sachwissen, als auch auf die in 13 14

15

Vgl. El-Schere’i. Altägyptische Stoffe und Motive (wie Anm. 4). S. 28. Vgl. dazu im folgenden: Martina Haja. „Die Gesichter des Sphinx. Aspekte der Ägyptomanen Malerei im 19. Jahrhundert“. Ägyptomanie. Europäische Ägyptenimagination von der Antike bis heute. Hg. Wielfried Seipel. Wien 2000. S. 145. Vgl. Abdel-Noor. Ägypten in der dt. Literatur (wie Anm. 9). S. 37ff.

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Ausstellungen und in den Museen von Paris, London und Berlin in reicher Zahl vorhandenen Objekte sowie auf bei Ägypten-Reisen selbst Gesehenes zurückzugreifen. Die Ägyptenmode wirkte sich verständlicherweise zunächst hauptsächlich auf die Architektur aus. In der Größe der altägyptischen Baukunst liegt der frühe optische Einfluss der altägyptischen Kultur auf das Europa des 18. und 19. Jahrhunderts begründet. Dabei spiegeln die ägyptischen Kunstwerke in den bildenden Künsten Europas keine exotische Welt wider und drücken keine Demontage der Vergangenheit aus, sondern sind vielmehr Wegweiser zum eigenen Ausdrucksmittel der Künstler.16 Doch schon bald folgten die musischen und schriftstellerischen Künste: Die Oper und Literatur wird von der ägyptischen Kultur inspiriert. Die Zauberflöte von W. A. Mozart (1791) ist hier zu nennen. Die Handlung spielt in der ägyptischen Umwelt17 und zeigt Pyramiden, Palmen und den Weisheitstempel der großen Göttin. Wie auch Mozarts Die Entführung aus dem Serail wurde Die Zauberflöte in der Sprache des Volkes geschrieben. Die berühmte Oper Aida von Verdi sollte dabei nicht unerwähnt bleiben. Hier geht es aber nicht nur um die ägyptische Kulisse, sondern vielmehr um die Verarbeitung eines historischen Stoffes. In der Oper, die der Khedive Ismail aus Anlass der Eröffnung des Suezkanals 1869 in Auftrag gab, geht es um die Liebesgeschichte zwischen Aida und Radames zu Zeiten des Krieges zwischen Äthiopien und Ägypten.

Altägyptische Stoffe und die deutsche Literatur Auch die deutsche Literatur wurde vom ägyptischen Stoff angeregt. Das alte Ägypten als Kulturland, aus dessen Quellen Dichter und Schriftsteller schöpferische Werke gestalten, ist vor dem Beginn der Ägyptologie relativ unbeachtet geblieben. Im Vergleich zur 2. Hälfte 16

17

Vgl. Norbert Miller. „Ägyptische Träume und Alpträume bei Jean-Laurent Le Geay und Giovanni Battista Piranesi“. Seipel. Ägyptomanie (wie Anm. 14). S. 213ff. Dieses ist dadurch mitbedingt, dass der Orient im allgemeinen und Ägypten im Besonderen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts große Mode war.

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des 19. Jahrhunderts hat die Zeitspanne vom Ende des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts keine sehr große ägyptozentrische literarische Produktion geschaffen. Altägyptische Motive lassen sich nur in wenigen Werken feststellen. Die Berichte berühmter antiker Geschichtsschreiber über Ägypten wie Herodot, Strabon, Diodor und Plutarch, die Ägypten besucht und detailliert beschrieben hatten, waren die primäre Vorlage, auf die zurückgegriffen wurde. Die Berichte dieser antiken Geschichtsschreiber waren es auch, die die Sichtweisen der späteren Ägypten-Reisenden prägten. Morenz weist beispielsweise auf den Einfluss der ägyptischen Motive, auf Lessings Interesse an der Mensa Isiaca und auf Schiller in seiner Ballade vom „Ring des Polykrates“18 hin. Auch Herodots Motiv vom Meisterdieb 19 gilt als Vorlage für literarische Produkte von deutschen Dichtern wie z.B. „Der Schatzturm“ von Hans Sachs, „Rhampsinit“ von Heinrich Heine, Der Meisterdieb der Gebrüder Grimm und Das Schatzhaus des Königs von Wilhelm Walloth.

Historismus im 19. Jahrhundert Doch vor allem für die Europäer des 19. Jahrhunderts war die ägyptische Kultur von großer Bedeutung, wie Betrachter der Entwicklungsphasen des europäischen Geistes erkennen können. Das 19. Jahrhundert war das Zeitalter der Wissenschaft und Umgestaltung und damit die Zeit verschiedener Tendenzen und weit reichender Wandlungen in ganz Europa. Es war das Zeitalter der geistigen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Gegenwart, dem traditionellen Geistesgut 18

19

Vgl. dazu Morenz. Begegnung Europas mit Ägypten (wie Anm. 6). S. 180. Schiller fängt hier die Weisheit des Saitenkönigs Amasis, dass ein Übermaß an Glück gefährlich sei und durch ein Opfer an die Götter kompensiert werden müsse, in seiner Ballade ein, folgt damit Herodot und greift ein Motiv auf, das schon die Antike bewegt hat und auch ins neue Testament eingedrungen ist. Dieses Motiv wird immer noch aus verschiedenen Perspektiven behandelt. Erich Kissing zeichnet als Maler Illustrationen aus dieser Geschichte, E. Hillgenberg schreibt eine Erzählung aus dem alten Ägypten unter dem Titel Der Schatz des Rhampsinit, 1951, das Motiv wird verfilmt: Hudson Hawk – Der Meisterdieb u.a. Vgl. dazu: El-Schere’i. Altägyptische Stoffe und Motive (wie Anm. 4). S. 36.

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und den neu durchbrechenden Kräften. Um Antworten auf aktuelle soziale und politische Zeitfragen zu geben, galt es als kulturelle Notwendigkeit, die Ergebnisse aller Bereiche der Wissenschaft heranzuziehen. Man entfernte sich im 19. Jahrhundert nach und nach von der metaphysischen Deutung des Seins. Der Mensch war auf der Suche nach historischen Erkenntnissen, um die Gegenwart zu bereichern. In diesem Wandlungsprozess entstand der Begriff ‚Historismus‘. Die Geschichtswissenschaft richtete sich entschieden nach den Ergebnissen und Erfahrungen vergangener Zeiten und setzte sich mit ihnen auseinander.

Der pharaonisierende Roman als Sonderform des historischen Romans In der Dichtung verbreitete sich der „historische Roman“20, der zu einer Lieblingslektüre der Leser des 19. Jahrhunderts wurde. Zu beobachten dabei ist, dass vor 1875 fast die Hälfte aller Romane auf geschichtlichen Stoffen des 18. Jahrhunderts und der Zeit Napoleons beruhten, während nach der Reichsgründung das Interesse an dem Geschehen und den Zuständen der unmittelbaren Vergangenheit in großem Maße nachlässt. Mit der politischen Einigung verändert sich die Funktion einer Orientierung an der Geschichte. Nun sollte bei der Realisierung des erreichten Zustandes an der Historie das feste Fundament des neuen Staates aufgewiesen werden, d.h. die geschichtliche Kontinuität durch lange Zeiten, denn der bürgerlichen Gesellschaft, die sich als Träger der Nation auszuzeichnen weiß, geht es um Ideal und Gesinnung, um Erziehung der Jugend vor allem, um öffentliche Wirksamkeit und Wirklichkeit des neuen Reichsgedankens und um seine Verankerung in der Geschichte.21

Dies hatte zur Folge, dass man vor allem auf frühere Perioden der Geschichte zurückgriff, wobei man zugleich die anderen kulturellen Traditionen neu entdeckte. 20

21

Siehe im Folgenden zum Historischen Roman: Hartmut Eggert. Studien zur Wirkungsgeschichte des deutschen historischen Romans (1850-1875). Frankfurt a.M. 1971. Ebd., S. 91.

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Ein weiterer Grund für die Wahl älterer historischer Epochen zum Stoff von Neudichtungen wird in der Forschung mit der Tatsache erklärt, dass es zum einen viel leichter ist, Idealisierungen an entlegenen Perioden der Geschichte vorzunehmen, als an der eigenen und zum anderen damit, dass sich im Gefolge historischer Idealbildung der Rekurs auf die Wurzeln der humanistischen Traditionen in den Bereichen der antiken Kulturen, wie der griechischen, römischen und seit Champollion nun auch der ägyptischen Kultur, anbietet. In diesem Zusammenhang nahm der pharaonisierende Roman, als Sonderform des historischen Romans, unter den Romantypen des 19. Jahrhunderts einen bevorzugten Raum ein. Georg Ebers’ dichterische Verarbeitung der neuesten ägyptologischen Erkenntnisse seiner Zeit zu dem ‚pharaonisierenden‘ Roman Eine ägyptische Königstochter gilt als Wegbereiter dieses Genres und wird zum Anreger vieler Künstler im 19. Jahrhundert. Anhand ausgewählter Textbeispiele an Fabel, Figuren sowie kultur- und religionsgeschichtlichen Schilderungen soll beobachtet werden, auf welche Art und Weise und mit welcher dichterischen Intention Ebers den pharaonischen historischen Stoff für die Leser des 19. Jahrhunderts rezipiert und verarbeitet.

Ebers’ Eine ägyptische Königstochter als Professorenroman Ebers’ Roman Eine Ägyptische Königstochter wird in der literarischen Forschung zu den so genannten „Professorenromanen“22 gezählt und immer wieder in Besprechungen mit den Werken eines Barthélemy und Becker, den früheren Vertretern dieser Gattung verglichen. Der französische Abbé Jean-Jacques Barthélemy, Philosoph, Altertumskundler und Philologe, (1716-1795) verfasste den Roman Voyage du jeune Anacharsis en Grèce vers le milieu du quatrième siècle avant l’ère vulgaire, in dem die Reisen und Abenteuer des Titelhelden in Griechenland geschildert werden. Dem Roman wird eine Einleitung vorangestellt, in der Informationen zu Sitten, Kunst und Kriegen der Griechen ausgebreitet werden. Am Fuße jeder Seite finden sich Belegstellen antiker Schriftsteller, am Ende jedes Bandes Exkur22

Siehe dazu: Otto Kraus. „Der Professorenroman“. Zeitfragen des christlichen Volkslebens IX. Heft 4. Heilbronn 1884.

Georg Ebers’ Roman „Eine ägyptische Königstochter“

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se über Philosophie und Theologie. Der 7. Band enthält Tabellen von Jahreszahlen, Monatsbezeichnungen, griechischen Kolonien, Magistraten von Athen, auf 33 Seiten umfangreiche Literaturangaben, ein Stichwortverzeichnis von 179 Seiten und ein Lexikon geographischer Begriffe von 41 Seiten, die mit Karten von Griechenland begleitet werden. Dazu kommen Pläne der Schlachten von Salamis, Platää u.a., von Städten wie Byzanz oder Athen, Grund- und Aufrisse der Akropolis, von Delphi, Olympia, von einem Theater, von Häusern und Abbildungen von Medaillen und Münzen.23 Dieser Roman wird in der Forschung nicht nur als ein frühes Beispiel für den historischen Roman betrachtet, sondern als Urtyp des späteren ‚Professorenromans‘. Der Autor geht nicht nur in die Vergangenheit, sondern ist mit der Zeit seines Sujets auch außerliterarisch ‚professionell-professoral‘ verbunden, wobei als Handlung – auch diese sollte historisch belegt sein – hier eine „Bildungsreise“ eines „Barbaren“ in ein altes Kulturland dient.24 Als Nachfolger im deutschen Sprachraum wird Wilhelm Adolf Becker (1796-1846), Professor für klassische Archäologe in Leipzig, mit seinen zwei Romanen: Gallus oder römische Szenen aus der Zeit Augustus. Zur Erläuterungen der wesentlichen Gegenstände aus dem häuslichen Leben der Römer 25und Charikles. Bilder altgriechischer Sitten zur genauen Kenntnis des griechischen Privatlebens26 angesehen. Obwohl Becker einerseits im Aufbau seiner Werke deutlich an Barthélemys anknüpft, kritisiert er aber dessen Personengestaltung: Seine Figuren gleichen nur zu oft antiken Statuen im französischen Staatskleide mit Spitzenmanschetten; es sind Gemälde von Le Brun oder Coypel, in denen die subjektive Auffassung des Künstlers allen Charakter des antiken Motivs verwischt hat, und die geistreiche Behandlung des Einzelnen kann für den verfehlten Ausdruck des Ganzen keine Entschädigung gewähren.27 23 24 25

26

27

Vgl. dazu: Fischer: Ebers Fallstudie. (wie Anm. 3). S. 262. Vgl. ebd., S. 262. Wilhelm Adolf Becker. Gallus oder römische Szenen aus der Zeit Augustus. Zur Erläuterungen der wesentlichen Gegenstände aus dem häuslichen Leben der Römer. 2 Teile. Leipzig 1838. Derselbe. Charikles. Bilder altgriechischer Sitten zur genauen Kenntnis des griechischen Privatlebens. 2 Teile. Leipzig 1840. Becker. Charikles (wie Anm. 26). Bd. 1. VII.

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Becker dient die Romanhandlung, die eher nebenher entstanden ist, wie er selbst betont, als Anlass, ein Kultur- und auch sozialgeschichtliches Panorama zu entrollen, wobei die darstellenden Szenen „wirklich ein Bild des griechischen Lebens“ bieten, „gleichsam ein Panorama der Sitten vor Augen“28 stellen sollten. Das ganze Werk, so Becker, sei ein Mosaikbild, „fast ganz aus Fragmenten griechischer Schriftsteller zusammengesetzt.“29 Ebers ist in seiner Darstellungsweise und in seiner Vereinigung von Kenntnissen der Literatur, Historie und Archäologie deutlich von seinen Vorgängern beeinflusst. Jedoch muss hier herausgestellt werden, dass Barthélemy und Becker mit ihrer romanhaften Gestaltung zwar gattungsmäßig Neuland betreten, geographisch jedoch im eigenen Kulturkreis bleiben, da sie in eine zwar vergangene, aber den gebildeten Zeitgenossen nicht fremde Zeit, nämlich die griechisch-römische Antike zurückgehen.

Vorläufer des pharaonisierenden Romans Erst der Entwicklungsroman von Abbé Jean Terrasson: Séthos, histoire ou vietrée de monuments ancdotes de l’ancienne Egypte, der 1731 in Paris erschienen war und 1777 von Matthias Claudius unter dem Titel: Geschichte des egyptischen Königs Sethos. Aus uebrig gebliebenen Monumenten des alten Egyptens gezogen. Uebersetzt aus einem griechischen Manuscript herausgegeben wurde, lässt sich als erster pharaonisierender Roman betrachten, der „den Anstoß für freimaurerischen Ägyptenmystizismus und Ägyptophilie“30 gibt. Dem tugendhaften Helden, einem „Heiden“, werden „schlechte Menschen, und Menschen von einer schwachen und wankenden Tugend“ gegenüber gestellt. Die „Erdichtung“ soll anhand der Geschichte belehren und nützen, indem ein breites kulturgeschichtliches Panorama entrollt und ein Wissenskosmos dargestellt wird. Auch in den beigefügten Anmerkungen findet man kulturgeschichtliche Schilderungen und Erklärungen. Im Vorwort weist der Autor auf das Vorbild von M. de Scuderis Le grand Cyrus und Fénelons Les Aventures de Télémaque 28 29 30

Ebd. XIV. Ebd. XV. Fischer. Ebers Fallstudie (wie Anm. 3). S. 265.

Georg Ebers’ Roman „Eine ägyptische Königstochter“

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hin. Letzterer spielt kurzzeitig in Ägypten, denn der Held Telemach besucht dieses Land auf seinen Reisen. Bei Terrasson jedoch ist Ägypten der Hauptschauplatz. Bedeutend dabei ist, dass die belehrende moralische Absicht des Verfassers nun erstmals an den Ägyptern demonstriert wird, wenn dabei auch immer wieder die vertrauteren Griechen und Römer zu Vergleichen herangezogen werden.31

Entstehung von Ebers’ Roman Eine ägyptische Königstochter In Deutschland wird der Ägyptologe und Archäologe Georg Ebers mit seinem 1864 erschienenen Roman Eine ägyptische Königstochter 32 als Pionier des pharaonisierenden Romans angesehen und ihm damit die Priorität einer professionell-wissenschaftlichen Behandlung des Stoffes zugeschrieben. In einer Autobiographie schildert der 1837 in Berlin geborene Wissenschaftler und Dichter, der ursprünglich Jura studieren wollte, wie er sich während eines mehrjährigen Krankenlagers unter Anleitung seines Lehrers Richard Lepsius mit Hieroglyphen zu beschäftigen begann. Nach der Genesung widmete er sich ganz der neuen Wissenschaft, habilitierte 1865 und wurde 1869 Professor in Jena, 1870 in Leipzig. Zwei große Ägyptenreisen in den Jahren 1869/70 und 1872/73 vervollständigten seine Studien. Der zu untersuchende dreibändige Roman Eine ägyptische Königstochter nimmt zusammen mit seinem Roman Uarda (1893)33 eine Sonderstellung im Schaffen von Ebers ein. Diese beiden Romane sind die einzigen, die mit umfangreichen wissenschaftlichen Anmerkungen ausgestattet sind und auf die, wie aus der Forschung bestätigt, die Bezeichnung ‚Professorenroman‘ zutreffen kann.

31 32

33

Vgl. ebd., S. 265. Georg Ebers. Eine ägyptische Königstochter. Berlin 1997. (Alle Zitate aus dieser Ausgabe werden mit der Sigle ‚K‘ versehen). Georg Ebers. Uarda. Roman aus dem alten Ägypten in 3 Bänden. Stuttgart 1893.

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Handlung und Inhalt Die Handlung der Ägyptischen Königstochter ist zeitlich am Ende der 26. Dynastie Ägyptens (525 v. Chr.) angesiedelt und behandelt den Untergang des Pharaonenreiches.34 Zwei Soldaten, der elegante junge Athener Phanes und der ältere, derbe Spartaner Aristomachus, die einst im Dienst des Pharao Amasis standen, erreichen das Haus der berühmten Rhodopis, die wegen ihrer Anmut, Klugheit und Beredsamkeit wie eine Göttin verehrt wird, in Naukratis. Seit dem Tode ihres reichen aus Lesbos stammenden Ehemannes Charaxus, lebt die schöne Witwe nun allein mit ihrer jungen Enkelin Sappho auf Nau34

Mit den Herrschern der 26. Dynastie, deren Hauptstadt Sais im westlichen Teil des Deltas lag, begann die Saitenzeit: „Dieser Name wurde der Epoche der XXVI. Dynastie gegeben, während Sais die Hauptstadt Ägyptens war. Von 664 bis 525 v. Chr. machten die aus Sais stammenden Herrscher Psammetich I., Necho, Psammetich II., Apries und Amasis Ägypten wieder zu einem einheitlichen und blühenden Staat, nachdem er von der 13. bis 24. Dynastie in Kleinstaaten zerstückelt und politisch schwach war. Neben einer neuen Politik, deren Beziehung zu den Griechen die Grundlage der Macht (dank der Söldner) und des Reichtums (durch die Handelsbeziehungen) darstellten, ist bei den Ägyptern der Saitenzeit eine Hinwendung zum Archaismus festzustellen, ein Zeichen ihrer Dekadenz.“ (Guy Rachet. Lexikon des Alten Ägypten. Darmstadt 1999. S. 311). Da die griechischen Söldner Psammetich I. zum Thron und zu seiner Loslösung von der assyrischen Oberhoheit verhalfen, gab er ihnen „große Ländereien, die die Grundlage für spätere griechische Kolonien bildeten (zum Beispiel Naukratis im Westdelta). Er schickte eine große Zahl ägyptischer Knaben zu den neuen Kolonisten, damit sie die griechische Sprache erlernten und in Zukunft beim Verkehr mit auswärtigen Handelsleuten als Dolmetscher dienen könnten. So kamen unter seiner Regierung die Ägypter zum erstenmal mit den Griechen in nähere Fühlung, die von nun an eine führende Rolle im Nillande spielten. Besonders förderten sie seine Handelspläne. Die Griechen durchfuhren damals schon das Mittelmeer nach allen Richtungen und wetteiferten mit dem alten Handelsvolk der Phöniker.“ (Emil Nack. Ägypten und der vordere Orient im Altertum. Wien 1977. S. 197). Diese Periode endete mit Psammetich III., der nach einem einzigen Regierungsjahr (526-525) den Thron Ägyptens verlor, d.h. nur ein Jahr nach dem Ende der friedlichen und aufblühenden Regierungszeit von Amasis von 570 bis 526 v. Chr. Psammetich III. verlor bekanntlich die Schlacht von Pelusion gegen den Perserkönig Kambyses. (vgl. dazu: Guy Rachet. Lexikon des Alten Ägypten. Darmstadt 1999. S. 36).

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kratis. Ihr prächtiges Haus ist ein Sammelplatz bedeutender Persönlichkeiten, besonders jedoch aus Griechenland. Phanes kommt zu dem viel besuchten Haus der Rhodopis, um sich von ihr zu verabschieden, da er fliehen muss, weil er ein Dutzend Katzen im Nil ertränken ließ. Nach ägyptischem Glauben hat er damit ein Verbrechen begangen, da die Katze als Gottheit verehrt wird. Fünf Tage später kommen persische Gesandte ins Land. Der Perserkönig Kambyses schickt seinen Bruder Bartja, um für ihn um die Hand der ägyptischen Königstochter Nitetis anzuhalten. Im Gefolge ist auch der erfahrene ehemalige König von Lydien, Krösus. Da Ägypten Frieden braucht, willigt Amasis in die Vermählung seiner Tochter Nitetis mit dem Perserkönig Kambyses ein. Bei einem Besuch bei Rhodopis lernen sich Bartja und ihre Enkelin Sappho kennen und verlieben sich. Aber auch Tachot, die Schwester der Nitetis, hat ein Auge auf Bartja geworfen. Der zweite Teil des Romans beginnt mit der Schilderung des langen königlichen Brautzugs in Persien, wo besonders Bartja, der die zukünftige Braut seines Bruders begleitet, vom Volk umjubelt wird. Aus Eifersucht auf seinen vom Volk verehrten und geliebten Bruder, schickt ihn Kambyses an die Front in den Kampf. Nitetis fühlt sich in der Fremde einsam und verachtet das Eunuchenwesen. Eine tiefere Neigung hegt sie zu Kassandane, der blinden Witwe des Cyrus, und zu Atossa, der Schwester des Kambyses, die Nitetis’ Anmut und Klugheit bewundern. Auch Kambyses ist von der selbstbewussten Ägypterin beeindruckt. Er verliebt sich in sie, weist ihr separate Gemächer fern von seinem Harem zu und erhebt sie zu seiner Hauptfrau. Als er bemerkt, dass auch Nitetis ihm Liebe entgegenbringt, kündigt er die Trauung an. Zur Hochzeitsfeier kehrt der siegreiche Bartja zurück. Aber all diese glänzenden Feierlichkeiten können die unglückliche Nitetis nicht umstimmen, da sie traurige Nachrichten aus der Heimat, die zunehmende Erblindung ihres Vaters, die Krankheit ihrer Schwester Tachot, die unglücklich in Bartja, dessen Herz Sappho gehört, verliebt ist, zu hören bekommt. Als beim Hochzeitsschmaus der glückliche König die Verlobung des Bartja mit der jungen Sappho ausruft, fällt Nitetis in Ohnmacht, da sie weiß, was das für ihre leidende Schwester zu bedeuten hat. Dies erleichtert die Intrige des Eunuchen Boges, der verbreitet, dass Bartja eine Beziehung zu Nitetis hat. Dadurch gelingt es ihm, den eifersüchtigen Perserkönig bis zum Wahnsinn zu reizen

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und Nitetis als Ehebrecherin zum Tode zu verurteilen. Als Phanes jedoch die Verleumdung entlarvt, ist es schon zu spät. In ihrem unüberwindlichen Schmerz über diese Schmach hatte Nitetis ein heimlich mitgebrachtes Gift genommen und stirbt langsam dahin. Im dritten Teil wird gezeigt, wie erschüttert der König durch den Tod seiner Gattin ist. Besonders schmerzlich ist für ihn die Enthüllung des Phanes und des ägyptischen Augenarztes Nebenchari, der am persischen Hof weilt, dass seine Gattin nicht die Tochter des Amasis, sondern des gestürzten Hophra ist. Voller Zorn und Wut über diesen Betrug beschließt der Perserkönig, gegen die Ägypter zu Felde zu ziehen. Darius, Bartja und Zopyrus gehen nach Ägypten, um den Feind auszukundschaften. Bartja macht sich auf den Weg zu Sappho, um sie zu heiraten und trifft unterwegs die kranke Tachot wieder, die sich gerade in ihrer Sänfte zu ihrem sterbenden Vater nach Hause tragen lässt. Bald darauf stirbt auch sie. Nach dem Tode der beiden Königstöchter verfällt das Pharaonenreich, denn auch Psammitik stirbt in der Schlacht gegen die Perser. Die siegreichen persischen Heere besetzen das Nilland. Immer noch von großer Eifersucht und Rachedurst geplagt, lässt der inzwischen fast wahnsinnig gewordene Perserkönig seinen Bruder Bartja heimlich umbringen. In Begleitung von Kassandane und Atossa lebt die unglückliche Sappho am persischen Hof mit ihrer Tochter Parmys, glaubt noch an die Wiederkehr des Gatten und lebt in Erinnerung an die ägyptische Königstochter: Im Sommer bewohnte Sappho die hängenden Gärten zu Babylon und dachte dort oftmals in den Gesprächen mit Kassandane und Atossa an die unschuldige, liebenswerte Urheberin so vieler für große Reiche und edle Menschen verhängnisvollen Ereignisse, die ägyptische Königstochter. (K 471)35

Historischer Stoff und freier Umgang mit den Quellen Ebers wollte, wie man den Romanplänen seiner wissenschaftlichen Arbeiten und Forschungen entnehmen kann, den historischen Stoff in seinem Roman nicht nur als Folie bzw. Kulisse fungieren lassen, in 35

Im zehnten Kapitel, das Ebers noch anhängt und das für den Fortgang der Handlung ohne Belang ist, wird der Tod Kambyses’ und der Regierungsantritt seines Nachfolgers Darius beschrieben.

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die eine fiktionale Handlung eingebettet ist, als „ein in kulturhistorischer Beziehung der Wahrheit möglichst nahe kommendes Bild“36, sondern wählt auch für die Handlung historisch überlieferte Ereignisse als Grundlage, da er „[d]ie Szenerie der hier geschilderten Ereignisse […] der Wirklichkeit nachzuzeichnen […] versucht.“37 Die Hauptquelle, auf die sich Ebers dabei stützt, ist das Werk Herodots38 (um 485-425 v. Chr.), dessen Weltgeschichte die Auseinandersetzung Asiens und Europas, den Kampf der Perser und Griechen, zum Thema hat.39 Historisch gesehen ist dieser Zeitraum reich an Ereignissen. Ebers schildert das „staatliche und private Leben der drei Weltmächte“40 – gemeint sind die Ägypter, Griechen und Perser, deren historische Exponenten die Pharaonen Amasis und sein Sohn Psammetich III. mit Familie, der Perserkönig Kambyses mit Familie, die Griechin Rhodopis, der Athener Phanes und andere sind. In der Haupthandlung des Romans entnimmt Ebers sowohl die bekannte Geschichte Herodots von der untergeschobenen Prinzessin Nitetis, die Amasis als eigene Tochter ausgibt und dem Kambyses als Gemahlin schickt (diesen Betrug nennt Herodot als Grund für die persische Eroberung Ägyptens im Jahre 525 v. Chr.) als auch weitere Handlungselemente. Bei Herodot heißt es wie folgt: Gegen diesen Amasis nun zog Kambyses, der Sohn des Kyros zu Felde, […] und zwar aus folgendem Grund. Er hatte einen Herold nach Aigypten geschickt und Amasis um seine Tochter 36 37 38

39

40

Ebers. Uarda (wie Anm. 33) (Vorwort). Ebd. In zweiter Linie die wesentlich später verfassten Werke von Diodorus von Sizilien. Die wenigen Einzelheiten in Namensgebung und Zeitangaben, bei denen Ebers von Herodots Darstellung abweicht, hat er in den Fußnoten erwähnt. Herodot, „Vater der Geschichtsschreibung“ (Cicero), gilt, aus Mangel an ägyptischen Quellen, als Vermittler der historischen Vorlage. So schreibt Emil Nack: „Die Geschichte der Saitenzeit ist uns vor allem von Herodot mit großer Ausführlichkeit überliefert, dessen Ägyptenreise (um 445) nur etwa 200 Jahre nach dem Herrschaftsbeginn der Saiten erfolgte. Die ägyptischen Quellen berichten nichts über diese Zeit.“ Vgl. Nack. Ägypten im Altertum (wie Anm. 34). S. 193f. Georg Ebers. „Mein Erstling ‚Eine ägyptische Königstochter‘“. Die Geschichte meines Erstlings. Hg. Karl Emil Franzos. Stuttgart/Berlin 1894. S. 185-191, hier: S. 188.

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Dalia Salama gebeten. Er bat auf Betreiben eines aigyptischen Mannes, der dies aus Groll gegen Amasis betrieben hatte, weil er ihn unter allen Ärzten in Aigypten von seiner Frau und seinen Kindern getrennt und an die Perser damals herausgegeben hatte, als Kyrus zu Amasis schickte und um einen Augenarzt bat, der der beste im ganzen Aigyptenland sei. Darum also grollte der Aigyptier und trieb ihn durch seinen Rat an, indem er empfahl, Kambysis solle Amasis um seine Tochter bitten, damit er, wenn er sie gebe, dadurch betrübt werde, oder wenn er sie nicht gebe, Kambyses zum Feind bekomme. Amasis war über die Macht der Perser ungehalten und in Furcht, doch wusste er nicht, ob er sie ihm geben oder verweigern solle. Er wusste nämlich wohl, dass Kambyses sie nicht zu seiner Gemahlin, sondern als Nebenfrau haben wollte. Indem er dies bedachte, tat er folgendes. Vom früheren König Apries war noch eine sehr schöne und sehr hübsche Tochter namens Nitetis allein vom ganzen Hause übriggeblieben. Dieses Mädchen also stattete Amasis mit Gewändern und Goldschmuck aus und schickte es zu den Persern als seine Tochter. Einige Zeit danach, als Kambyses sie begrüßte und mit ihrem Vatersnamen anredete, sprach das Mädchen: „König Amasis hat dich hintergangen! Du weißt es nicht. Er hat mich schön ausgeschmückt und mich zu dir geschickt und dir als seine Tochter gegeben. In Wahrheit bin ich die Tochter des Apries, den jener ermordet hat, nachdem er sich gegen ihn als einzigen Herrn mitsamt den Aigyptern empört hatte.“ Dieses Wort also und diese Schuld, die jener auf sich geladen hatte, führten Kambyses, den Sohn des Kyrus, schwer erzürnt nach Aigypten.41

Diese Stelle aus Herodot ist die Quelle, aus der Ebers einen dreibändigen Roman gestaltet. Man kann daraus ersehen, dass die tatsächlichen historischen Einzelheiten dürftig sind. Die überreiche Phantasie von Ebers brauchte einen großen Aufschwung, um dicke Bücher daraus zu gestalten. Weiterhin muss bemerkt werden, dass Ebers das historische Material, das er seinen Romanen zugrunde legt, durchaus frei verwendet, abändert, zeitliche Verschiebungen daran vornimmt, denn die poetische Wahrheit ist für ihn eine andere als die historische. So schreibt er im Vorwort zur 2. Auflage der Königstochter:

41

Herodot. Hist. III. 1. (Zitiert nach: Fischer. Ebers Fallstudie [wie Anm. 3]. S. 277).

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219

[…] ich bin dem „Vater der Geschichte“ nicht blindlings gefolgt, bin namentlich bei der Entwickelung der Charaktere meine eignen, von den Grundsätzen der Psychologie vorgezeichneten Wege gewandelt und habe die Resultate der Hieroglyphen und Keilschriftentzifferung überall zu Rathe gezogen.42

Aus diesem Grund legt Ebers Herodots Angaben ziemlich frei aus, um die ziemlich kurze Erzählung Herodots für den zeitgenössischen Leser logisch und nachvollziehbar zu gestalten. Fischer43 weist auf mehrere von der Geschichte abweichende Aspekte hin, von denen die Überbrückung des Altersunterschiedes zwischen den Töchtern Nitetis und Tachot einen der wichtigsten darstellt. Da die Geschichte, so Fischer, gegen Ende der 44jährigen Regierung des Amasis und vor der persischen Eroberung Ägyptens spielt, kann Ebers die Regierungszeit des Amasis nicht verkürzen, um Nitetis, die Tochter des Vorgängers, jung zu halten, ohne auch gegen seine wissenschaftlichen Maxime zu verstoßen, da die relativen und absoluten Zahlen der Regierungszeiten der saitischen Pharaonen auch der Wissenschaft damals schon genau bekannt sind. Der natürliche Altersunterschied zwischen den Töchtern Nitetis und Tachot musste deshalb aufgehoben werden, denn „Amasis würde kaum gewagt haben, dem Großkönige von Persien eine vierzigjährige Jungfrau zum Weibe anzubieten.“44 Ebers macht das geschickt, indem er den Pharao Apries, den von Amasis gestürzten Vorgänger, so lange mit seiner Frau in der Gefangenschaft seines Nachfolgers leben lässt. So werden bei Ebers die beiden Königinnen, die entthronte und die regierende, gleichzeitig schwanger und demzufolge die beiden Königstöchter gleich alt. Da aber die entmachtete Königin im Kindbett stirbt, beschließen Amasis und seine griechische Frau Ladice, das elternlose Kind mit dem eigenen Kind Tachot als Zwillingsschwester aufzuziehen und sie als eigene Tochter auszugeben.45 42

43 44 45

Eine ägyptische Königstochter. Historischer Roman von Georg Ebers. Vorrede zur zweiten Auflage 1864. (Zitate aus dem Vorwort aus: http:// gutenberg.spiegel.de/ebers/aegypt/aegy001.htm, da in der Taschenbuchausgabe das Vorwort nicht vorhanden ist.) Vgl. im Folgenden dazu: Fischer. Ebers Fallstudie (wie Anm. 3). S. 277f. Ebd. Vgl. ebd., S. 278.

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Auch die Beziehung zwischen Nitetis und Kambyses, über die bei Herodot kaum berichtet wird, muss Ebers den Erfordernissen eines Romans entsprechend inszenieren. So verlieben sich beide Partner ineinander und heiraten aus Liebe. Beeindruckt von der emanzipierten Ägypterin, erhebt sie Kambyses zu seiner Hauptgemahlin, was dann auch die Haremsintrige gegen sie auslöst. Als Pendant zum tragischen Heldenpaar Nitetis-Kambyses wird von Ebers eine Liebesgeschichte zwischen Bartja und der fiktionalen Figur der Sappho erdichtet, die als den Erfordernissen des Romans entsprechend fungiert.

Durch den „hellenischen Vorhof […] nach Ägypten“ Beim Aufbau seines dreibändigen Romans, in dem der historischen Grundlage nach Ägypter, Griechen und Perser gegenwärtig sind, gibt Ebers vor, seinem Lehrer Lepsius, dem „Vater der deutschen Ägyptologie“ (1810-1884), zu folgen. So schreibt er in der Vorrede zur zweiten Auflage: Seinem Winke gemäß hab ich meinen […] Stoff so disponiert, daß ich den Leser zunächst, gleichsam einleitend in einen griechischen Kreis führe, dessen Wesen ihm nicht ganz fremd zu sein pflegt. Durch diesen hellenischen Vorhof gelangt er vorbereitet nach Aegypten, von dort nach Persien und endlich wieder zum Nile zurück. Er soll sein Interesse gleichmäßig auf die genannten Völker vertheilen.46

Die griechische Exposition und die Schilderung der umliegenden Kulturen in der Königstochter spiegeln den Stand der Ägyptologie zu der damaligen Zeit wider: Ägypten selbst ist noch relativ unbekannt, man beginnt sich erst über römische und griechische Quellen, wie Herodot, der ägyptischen Kultur anzunähern. Lepsius rät Ebert sogar, den Anteil des ägyptischen Kolorits noch weiter zu reduzieren, da er die ägyptische Kultur für zu „spröde und typisch“ hält, als dass sie dem „ungelehrten“ Publikum gefallen könnte.47 Wenn ich meinem Roman trotzdem den Namen der ägyptischen Königstochter gegeben habe, so geschah es, weil durch das 46 47

Königstochter: Vorrede (wie Anm. 42). Georg Ebers. Die Geschichte meines Lebens vom Kind bis zum Manne. Stuttgart 1893. S. 509.

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Schicksal der Nitetis das Wohl und Weh aller anderen handelnden Personen bedingt wird, und diese also als der Mittelpunkt des Ganzen betrachtet werden darf.48

Figurengestaltung: Krösus – Amasis – Nitetis – Tachot Obwohl Ebers bei der Zeichnung seiner Figuren immer wieder versucht hat, den Quellen zu folgen und griechische und ägyptische Überlieferung in Einklang zu bringen, da er beide als Autorität anerkennt, kann man hier trotzdem feststellen, dass die griechische Kultur in Ebers’ Roman mehr ist als der ‚Vorhof‘, durch den der Leser nach Ägypten geführt wird. Sie bildet das Ideal, von dem aus sämtliche Romanfiguren gemessen werden.49 So fungiert der entmachtete König Krösus, der aus seinem ihm widerfahrenen Schicksal gelernt hat, als weiser Berater des persischen Königs. Als Schüler von Pythagoras, dem größten griechischen Gelehrten, sucht er immer nach dem Kompromiss und setzt seinen Verstand geduldig in allen Lebensfragen ein. Die hellenische Kultur kann die ägyptische bereichern, weil König Amasis den Griechen wohlgesonnen ist, sehr im Unterschied zu den ägyptischen Priesterkasten, die alles Fremde ablehnen und den Ausländerhass schüren.50 Krösus entpuppt sich als der Philosoph im Roman, was sich an unterschiedlichen Stellen im Text zeigt. So philosophiert er über das Glück: Liegt denn das Glück im Besitz? […] Ist denn das Glück überhaupt ein Besitz? Das Glück ist doch nur eine Vorstellung, ein Gefühl, welches die neidischen Götter dem dürftigen öfter gewähren als dem Mächtigen, dessen klarer Blick von prunkenden Schätzen geblendet wird, der immer in Niederlagen bluten muß, weil er sich der Kraft bewusst, viel zu erlangen, stets unterliegt im Kampf um den Besitz aller Güter, die er zu besitzen wünscht und nie zu erlangen vermag. (K 55f.)

Erwähnenswert ist auch seine Ansicht zu den verschiedenen Glaubensrichtungen. Auf die Frage der Königstochter Nitetis, ob sie denn 48 49

50

Königstochter: Vorrede (wie Anm. 42). Vgl. Edgar Bracht. „Georg Ebers oder Glanz und Elend des deutschen Historismus“. Nachwort zu (K) (wie Anm. 32). S. 536. Ebd., S. 536.

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nun am Hofe Persiens ihren ägyptischen Göttern abschwören muss, beschließt Krösus seine Vorlesung, die er Nitetis diesbezüglich hält, mit den Worten: […] bedenke wohl, daß nicht die ägyptischen, nicht die griechischen und nicht die persischen Götter abgesondert voneinander die Welt regieren, sondern daß sie alle eins sind und eine unteilbare Gottheit, so verschieden man sie auch benennt und darstellt, die Geschicke aller Völker und Menschen leitet. (K 173f.)

Da der Glaube der alten Ägypter an mehrere Götter für das Publikum des 19. Jahrhunderts nicht akzeptabel ist, lässt Ebers Krösus, als ‚aufgeklärter‘ Vertreter einer anderen Religion, in ökumenischer Art und Weise für Toleranz plädieren. Krösus erscheint somit als der unentbehrliche humane Ratgeber hinter dem Thron, dessen Macht ausschließlich auf Wissen und Weisheit gründet und dem alle Freunde wie Feinde großen Respekt bezeugen. Auch bei der Darstellung des ägyptischen Königs Amasis findet man den Einfluss der griechischen Kultur. Grundlage für diese Figur war für Ebers die Beschreibung Herodots sowie ein altägyptisches Wandgemälde: Bei der Charakteristik des Amasis bin ich der meisterhaften Schilderung des Herodot gefolgt, welche durch das von Rosellini auf einem alten Denkmale gefundene Bild dieses Königs bestätigt wird.51

Da sich zum äußeren Erscheinungsbild des Amasis keine Angaben bei Herodot finden, kann sich Ebers nur auf das auf dem Denkmal gefundene Bild stützen. Nach diesem Vorbild beschreibt er den König folgendermaßen: Sein Antlitz war wohlgeformt, aber voller Falten. Aus seinen kleinen, blitzenden Augen leuchtete ein frischer Geist und seine übervollen Lippen wurden fortwährend von einem schalkhaften, neckischen, oftmals spöttischen Zuge umspielt. Die niedrige, aber breite Stirn des Greises und sein großer, schön gewölbter Schädel bezeugten die Kraft seiner Intelligenz. (K 54)

51

Königstochter: Vorrede (wie Anm. 42).

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aufbau in sich zusammen nachvollziehbar und logisch sein, weshalb Ebers einige Änderungen vornahm. An den oben genannten Beispielen zur Figurendarstellung und ihrer Handlungsweise kann man erkennen, dass trotz Ebers’ genauesten Quellenstudiums, die von ihm geschilderten historischen Persönlichkeiten nicht Abbilder, sondern Idealisierungen der Urbilder sind. Die Romangestalten, die nicht historisch belegt sind, sind meistens Sprachrohr des Erzählers. Er pflanzt in ihnen Lebensweisheiten und Aussagen über den Menschen hinein oder gebraucht sie, um Verknüpfungen zu erstellen. Diese Art der Darstellung ist bedingt durch Ebers’ Ansicht, […] daß die Grundzüge des menschlichen Wesens, die Triebfedern der Handlungen unserer Gattung jederzeit und überall sich im ganzen gleich geblieben seien; was aber im Kreise der […] darzustellenden Kulturvölker an Sitten, Gebräuchen, religiösen und sittlichen Anschauungen sich abweichend von der unseren gestaltet hatte, konnte leicht berücksichtigt werden.60

Obwohl diese Ansicht im wesentlichen eine richtige Erkenntnis birgt, wird sie doch kritisiert und die damit verbundene historische Kulisse in Frage gestellt. Es war Ebers, so merkt Wilhelm Bölsche hier ziemlich zugespitzt an: […] absolut gleichgültig, ob er von Krösus erzählte oder von Karl V., von den Persern des Cambyses oder von den Legionen Hadrians. Er hätte in ganz genau demselben Tone auch einen Roman bei den Chinesen oder bei den Eskimos spielen lassen, wenn er gerade stofflich durch seine Studien darauf geführt worden wäre.61

Auch die Übertragung von Anschauungen und Charakterzügen seiner Zeit in altägyptisches Milieu wurde von Literaturkritikern aufs heftigste kritisiert, denn Ebers verarbeitet hier nicht nur allgemein menschliche Probleme, sondern trägt in die Personen seiner Romane Züge hinein, die den Menschen des 19. Jahrhunderts, aber nicht den geschilderten Persönlichkeiten eignen können. Über die Figuren dieses Romans schreibt er: 60 61

Ebers. Mein Erstling (wie Anm. 40). S. 188. Wilhelm Bölsche. „An der Mumie von Georg Ebers“. Hinter der Weltstadt. Friedrichshagener Gedanken zur ästhetischen Kultur. Leipzig 1901. S. 123.

224

Dalia Salama mir die zürnende, stolze Schar der Vermittler zwischen Mensch und Gottheit die ewige Ruhe im Grabe gönnen wird! (K 59)

Das Priestertum wird in Frage gestellt und seine Glaubwürdigkeit angezweifelt. Deutlich wird aber auch, wie Ebers die zu beschreibende Situation benutzt, um seinen Antiklerikalismus zum Ausdruck zu bringen. Die Priester werden als herrschsüchtige, intrigante und bevormundende Personen beschrieben, die nicht davor zurückschrecken, um ihrer selbst Willen sogar Land und König zu verraten. Nicht mal unter seiner eigenen Dienerschaft kann sich Amasis sicher fühlen: Jene Knaben […] sind die größte Plage meines Lebens. Sie leisten mir Sklavendienste und gehorchen meinen leisesten Winken […] gerade in dieser Hingebung, welche kein Herrscher ohne zu beleidigen zurückweisen kann, liegt eine feine und listige Berechnung. Jeder dieser Jünglinge ist mein Hüter, mein Wächter. Ich mag keine Hand ohne ihr Vorwissen zu rühren, und rühre ich sie, so wird es noch in derselben Stunde den Priestern hinterbracht. (K 59f.)

Als der „griechisch Denkende“ (K 60) bleibt Amasis trotzdem in seinem „innersten Wesen ein Ägypter“ (K 60). So findet in Amasis also die Spannung zwischen griechischer und ägyptischer Kultur ihren Ausdruck, eine Zustandsschilderung des Landes, das in allen Bereichen wie Militär, Religion, Sitten und Gebräuchen zwischen Griechen und Ägyptern gespalten ist. Aus Amasis wird demzufolge kein homogener Charakter, sondern er erscheint brüchig, zerrissen und schwankend, was genau Ebers künstlerische Absicht ist, nämlich im Bild des Königs den ‚Charakter‘, d.h. den Zustand des Landes in einer bestimmten historischen Epoche vorzuführen, da die Aufgabe eines historischen Romans darin besteht, historischen Stoff in die Handlung und Kulturschilderungen in seine Charaktere zu verlegen.53 Auch Nitetis, die ägyptische Königstochter, von Amasis und der Griechin Ladice großgezogen, vereint im Gefüge des Romans die Vorzüge der griechischen und ägyptischen Kultur in einer Person. Nur von Herodot überliefert, wird sie von Ebers durch ihre körperlichen Merkmale als echte Ägypterin charakterisiert, die schwarze Haare hat und die „volle Flechte an ihrer linken Seite, das Zeichen ägyptischer Fürstentochter“ (K 143) trägt. Die Zweisprachigkeit der Familie findet sich auch bei Nitetis, die griechisch spricht, was plausibel wird 53

Vgl. ebd., S. 311.

Georg Ebers’ Roman „Eine ägyptische Königstochter“

225

durch die griechische ‚Mutter‘. Die Tatsache, dass Amasis sie dem persischen König Kambyses zur Heirat anbietet, löst zwar am Ende Katastrophen und Kriegszüge aus, aber lange Zeit kann Nitetis mit ihrem hellenisch beeinflussten Wesen den ungestümen Perser gleichsam domestizieren. Im Gegensatz zu Nitetis ist Tachot ägyptisch nicht überliefert. Bei Herodot wird jedoch eine Tochter des Amasis, allerdings ohne Namen, genannt, um die ja Kambyses wirbt. Da die Mutter eine Griechin ist, unterscheidet Tachot sich schon äußerlich deutlich von ihrer „Zwillingsschwester“ Nitetis: Tachot war blond und blauäugig, klein und zierlich gebaut. Während Nitetis, groß und voll, mit schwarzen Haaren und Augen, durch jede Bewegung erraten ließ, dass sie einem königlichen Hause entstammte. (K 65)

Im Unterschied zu Nitetis fehlt Tachot die „Majestät des Wesens“. Sie ist sanft, blass und stirbt schließlich an gebrochenem Herzen in einem euphorischen Glückstaumel an der „romantischen“ Krankheit des 19. Jahrhunderts.54

Eigenschöpfungen aus ägyptologischen Kenntnissen Im Gegensatz zu den meisten Handlungsmotiven, die sich von Herodot herleiten lassen, gibt es auch Eigenschöpfungen Ebers’, die auf seinen ägyptologischen Kenntnissen basieren. Indem Ebers immer wieder kulturgeschichtliche Beobachtungen einfließen lässt, kommt sein ägyptologisches Wissen zum Vorschein. An einer Szene im sechsten Kapitel der Königstochter kann diese Tatsache besonders gut demonstriert werden. In dieser stellt nämlich Psamtik, der Thronfolger, seinem Vater Amasis die rhetorische Frage, wann Ägypten denn am größten war und beantwortet sie selbst mit folgenden Worten: „Damals, als wir allen Fremden ohne Ausnahme die Pforten unseres Landes verschlossen und, auf eigenen Füßen stehend, der eigenen Kraft vertrauend, nach den uralten Gesetzen unserer Väter lebten. Jene Zeiten haben gesehen, wie der große Thumes und Ramses mit unseren Waffen die Welt unterjochten, jene Zeiten haben gehört, wie alle Völker Ägypten das erste, größte 54

Vgl. ebd., S. 305.

226

Dalia Salama Land der Erde nannten. Amasis erwiderte darauf: „Ägypten war niemals so blühend und groß wie jetzt! […] An den Ufern des Nil erheben sich zehntausend volkreiche Orte, kein Fuß breit Landes ist unbebaut, kein Kind in Ägypten entbehrt der Wohlfahrt, des Rechtes und Gesetzes, kein Bösewicht kann sich den wachen Augen der Obrigkeit entziehen. […] So steht es um Ägypten! Den Flitterstaat eitlen Ruhmes bezahlte es einst dem Ramses mit blutigen Tränen. Das echte Gold wahrhaftigen Bürgerglückes und friedlicher Wohlfahrt schuldet es mir und meinen Vorgängern, den saitischen Königinnen!“ (K 74)

Offensichtlich wird hier Ebers politisch-historisches Wissen einbaut. Parallel zu Ägyptens politischer Stellung in der Konstellation der Weltmächte, stellt Ebers hier auch den inneren Zustand des Landes zwischen Überfremdung oder Befruchtung durch das Ausland dar. Genauso gelingt es Ebers auch, seine Kenntnisse über die Einstellung der alten Ägypter zu Leben und Tod zu vermitteln, wenn er beschreibt, dass die Ägypter das frömmste aller Völker sind und die Hauptsorge eines jeden echten Ägypters das Leben nach dem Tod ist, wofür man sich im Diesseits zu verantworten hat. So sagt Amasis: Habe ich auch manches Hellenische angenommen, so bleibe ich dennoch im innersten Wesen Ägypter. […] Soll ich mir um der kurzen Lebenstage willen, die langen Jahrtausende des Todes verderben? (K 60f.)

Den ägyptischen religiösen Vorstellungen gemäß wird die Balsamierung als Vorraussetzung für das Weiterleben der Seele im Jenseits geschildert; auch die im Ausland gestorbene Nitetis muss „ihrem letzten Wunsch gemäß in ägyptischer Weise“ (K 337) balsamiert werden. Ebers lässt jedoch Amasis ergänzen, dass die Ägypter keineswegs nur dem Jenseits zugewandt sind und es kaum ein freudigeres Volk gibt: Du würdest irren, wenn du alle Ägypter für finstere Menschen hältst […]. Zwar fordert unsere Religion ein ernstes Gedenken an den Tod. Du wirst aber kaum ein anderes Volk finden, das so gern scherzt, so selbstvergessen und ausschweifend feiert wie das meine […]. (K 59)

Besonders die Vergöttlichung der Tiere bei den Ägyptern wird von den Griechen und Persern verurteilt, wobei Ebers geschickt die Missbilligung innerhalb der Handlung entstehen lässt, um so die überhebli-

Georg Ebers’ Roman „Eine ägyptische Königstochter“

227

che Haltung des Besserwissens des Nachgeborenen gegenüber den Alten zu vermeiden: Spottet nicht dieser Tieranbeter, welche ich nicht verstehe und dennoch schon darum tief bewundere, weil mir Pythagoras, der Meister alles Wissens, versichert hat, die in den Lehren der Priester verborgene Weisheit sei so ungeheuer wie die Pyramiden. (K 432)

Gleichzeitig versucht Ebers in einer Anmerkung die ablehnende Meinung der Griechen zu begründen: Wir wissen zwar, daß die ägyptische Priesterweisheit in hohem Ansehen bei den Griechen stand; viele Stellen in den Klassikern zeigen aber, daß die älteren Griechen und Römer, die nur die bizarren äußeren Formen der ägyptischen Religion sahen, dieselbe in der Tat für abgeschmackt hielten. Später haben namentlich die Neuplatoniker den Lehren der Priesterschaft von Heliopolis, Theben etc. vieles entnommen. (K 478)55

Großer Respekt und Anerkennung seitens Ebers’ wird dem alten Ägypten, dessen hoher Wohlstand betont wird, entgegengebracht. Ägypten ist ein Zentrum der Wissenschaft, denn viele Ausländer kommen dorthin, um „zu Heliopolis Astronomie und ägyptische Weisheit zu studieren.“ (K 17) Die Ägypter sind überlegene Ärzte, die, wie auch bei Herodot, ins Ausland geschickt werden. Große wissenschaftliche Erkenntnisse, Lehren und Erfindungen, die erlernenswert sind, werden den alten Ägyptern zugesprochen: Wieviel Neues habe ich von den Alten erlernt! […] die ganze Geschichte des Himmels und der Erde ist ihnen bewußt. Ihre Gesetze sind ein Quell der Weisheit, und die Einrichtungen ihres Staates den Bedürfnissen des Landes mit hohem Geiste angepaßt. […] Der Grund ihres Wissens beruht in dem Gebrauch der Zahlen, mit deren Hilfe es allein möglich ist, die Sternenbahnen zu berechnen, das Bestehende genau zu bestimmen und zu begrenzen, ja sogar, durch Verlängerung und Verkürzung der Saiten, die Töne zu regeln. […] diejenigen Erfahrungen aber, deren Grundlagen die Zahlen bilden, bleiben ewig unumstößlich. Wer kann bestreiten, daß zweimal zwei vier ausmacht? Die Zahlen bestimmen fest und sicher den Inhalt alles Seins, je-

55

Anmerkung (20).

228

Dalia Salama des Sein ist gleich seinem Inhalt, darum sind die Zahlen das wahre Sein, das Wesen aller Dinge! (K 432)

Exkurs in die ägyptische Mythologie Ebers betont nicht nur den fortschrittlichen Wissensstand der Ägypter, sondern gibt auch einen Einblick in die ägyptische Mythologie. So widmet er sich in einem größeren zusammenhängenden Abschnitt dem Mythos von Isis und Osiris. In diesem ca. 4 Seiten umfassenden Bericht eines Zuschauers, der für die Handlung ohne Belang ist, wird ein nächtliches Fest auf dem heiligen See im Neith-Tempel zu Sais beschrieben, wobei nicht der Mythos selbst, sondern die „Darstellung der Schicksale des Osiris und seiner Gattin Isis“ (K 435) geschildert wird: Vor mir lag ein spiegelblanker, von schönen Bäumen und bunten Blumenbeeten umgebener See, auf dessen Flächen goldene Boote schwammen […] Inmitten dieser Kähne schwamm ein herrliches, großes Schiff, dessen Bord von Edelsteinen glänzte. […] Im Hinterteil des Schiffes stand, unter einem von Rosen, Efeu und Lotusblumen gebildeten Dach, eine schneeweiße Kuh mit goldenen Hörnern, über deren Rücken sich eine purpurne Decke breitete. Der Mann war Osiris, der Knabe am Steuer Horus, der Sohn des Götterpaares, die Kuh das heilige Tier der unsterblichen Frau. (K 435)

Um den belehrenden Sinn dieses Exkurses in die ägyptische Mythologie zu vervollständigen, begnügt sich Ebers nicht nur damit, diese Schilderung in mehreren Anmerkungen zu kommentieren, sondern gibt durch den Mund der Rhodopis, einer der Zuhörerinnen, folgende Interpretation des Mythos: Isis scheint mir die gütige Erde zu sein, Osiris die Feuchtigkeit oder der Nil, welche dieselbe fruchtbar machen, Horus der Frühling, Typhon die alles versengende Dürre. Letztere vernichtet den Osiris oder die Feuchtigkeit. Die gütige Erde, der Zeugungskraft beraubt, sucht wehklagend den geliebten Gatten, den sie im kühleren Norden, wohin der Nil sich ergießt, wieder findet. Endlich ist Horus, die junge Triebkraft der Natur, erwachsen und besiegt Typhon oder die Dürre. Osiris war, wie die Fruchtbarkeit, nur scheintot, entsteigt der Unterwelt und beherrscht mit seiner Gattin, der gabenreichen Erde, von neuem

Georg Ebers’ Roman „Eine ägyptische Königstochter“

229

das gesegnete Niltal. […] Die Geschichte des Götterpaares versinnbildlicht aber nicht nur das Leben der Natur, sondern auch das der Menschenseele, die, wenn der Leib gestorben, wie der erschlagene Osiris, niemals fortzuleben aufhört. (K 439)

Deutlich erkennbar ist, wie der ethische Gehalt und die moralischen Maxime der ägyptischen Frömmigkeit, das Gemeinsame, Zeitüberspannende aller Kulturen und Völker betont und hervorgehoben wird.

Ägypter – Griechen – Perser im Kulturdialog Ebers lässt in seinem Roman die drei großen Kulturen der Ägypter, Griechen und Perser aufeinander treffen, was die Möglichkeit eröffnet, Vergleiche zu ziehen und Rangordnungen zu zeichnen. Als besonders geeignet, um ein veranschaulichendes Beispiel zu geben, bietet sich die Diskussion um die Stellung der Frau in der Gesellschaft, die an mehreren Stellen des Romans aus verschiedenen Perspektiven, je nach Kulturkreis, betrachtet und diskutiert wird. In vielen Äußerungen der Perser, die gewohnt sind, sich mehrere Frauen zu halten, kann man eine gewisse Geringschätzung den Frauen gegenüber beobachten: Man wählt die Frauen doch nur wie Nüsse nach dem Aussehen der Schale. Wer mag wissen, ob ein guter, ein verdorbener oder vielleicht gar kein Kern darin steckt. (K 238)

Zwar wird von den Griechen die Polygamie der Perser als Unsitte verworfen, doch zeigt sich auch hier eine abwertende Auffassung den Frauen gegenüber, die durch den Griechen Hipponax durch folgende Aussage untermauert wird: An zweien Tagen nur kann dich ein Weib erlaben, Am Tag der Hochzeit und – am Tag, wo sie begraben. (K 87)

Auch in Griechenland werden die Frauen in Unmündigkeit, Abhängigkeit und Unwissenheit gehalten. Nachdem die jungen Mädchen in ihrer Kindheit […] von den Müttern zur Arbeit am Webstuhl und Spinnerocken angehalten, werden sie in das stille Haus eines ihnen unbekannten Gatten geführt. Der hat vor lauter Arbeit und Sorgen kaum Zeit, das Frauengemach zu betreten. Nur wenn die nächs-

230

Dalia Salama ten Freunde und Verwandten bei dem Gatten verweilen, darf sich die Frau, aber selbst dann nur schüchtern und zaghaft, zu den Männern gesellen, um etwas von der Welt draußen zu hören und zu lernen. […] In Ägypten ist es anders. Hier gestattet man den erblühten Mädchen den ungezwungenen geselligen Verkehr mit den Männern. Jüngling und Jungfrau lernen sich bei zahlreichen Festen kennen und lieben. Die Frau wird nicht die Sklavin, sondern die Freundin des Mannes. Eines ergänzt das andere. (K 86f.)

Als Kontrast dazu stehen die Frauen in Ägypten, die als selbständig, gebildet und regierungsfähig erzogen werden. Nitetis, als Repräsentantin, erinnert den Perser Kambyses daran, dass sie einem Land entstammt „wo das schwache Weib die Rechte des starken Mannes teilt“ (K 149). Diese Tatsache wird durch die Griechin Ladice, als Ehefrau eines Ägypters, nur bekräftigt, wenn sie die Behauptung aufstellt, dass „keine Frau so glücklich ist, wie das Weib eines Ägypters“ (K 86), die gleichzeitig mit dem Ausruf der Atossa, der jungen Schwester des Kambyses, bei den Schilderungen der Nitetis vom Leben der Frauen in Ägypten: „Beim Mithra, Mutter, ich möchte eine Ägypterin werden“(K 169), korrespondiert und damit unterstrichen wird. In diesem Sinne zeigt sich der freiere Geist Ägyptens im Vergleich zu den Griechen und Persern.

Ebers’ Roman als wissenschaftliche Referenz Ebers verdichtet sein ägyptologisches Basiswissen nicht nur in seinen Roman hinein, sondern versieht seine Königstochter mit umfangreichen Fuß- und Endnoten, in denen Wörter erklärt oder übersetzt, Götter und religiöse Jenseitsvorstellungen vorgestellt, aber auch das profane Leben mit Haus, Gastmahl, Jagd, Ärzten, Augenkrankheiten, Medizin, Chirurgie und Topographie beschrieben werden. Seiner eigenen Aussage nach sollten diese umfangreichen Anmerkungen folgenden Zweck erfüllen: Erstens […] dem Text erklärend zur Seite stehen, zweitens Bürgschaft leisten für die Sorgfalt, mit der ich bemüht gewesen war, das archäologische Detail in all seinen Einzelheiten treu nach den Denkmälern und Klassikern zu zeichnen; drittens aber

Georg Ebers’ Roman „Eine ägyptische Königstochter“

231

wünschte ich in ihnen den wissbegierigen Lesern einige Hilfsmittel zu eigenen Studien an die Hand zu geben.56

Der ausführliche Anmerkungsapparat wird in den darauf folgenden Auflagen der Königstochter immer wieder überarbeitet. Neue Erkenntnisse der Wissenschaft werden vor allem in den Fußnoten eingebaut, neue Standardwerke der Ägyptologie dem Literaturverzeichnis hinzugefügt und obsolet gewordene eliminiert. Auf Wissenschaftlichkeit bedacht, verbessert, erweitert und aktualisiert Ebers bis zu seinem Tode die Anmerkungen seines Erstlings von Auflage zu Auflage.57 Zu beobachten dabei ist, dass die griechischen und lateinischen Quellenangaben, die anfangs im Werk überwiegen, immer mehr durch ägyptische ersetzt werden. Fischer bemerkt dazu richtig: Die Ägyptologisierung der Anmerkung weg von der griechischrömischen Antike v.a. der Klassiker spiegelt die Emanzipation der ägyptologischen Wissenschaft und Ebers’ Weg vom Studenten zum Ordinarius.58

Da in dem Roman die Herkunft seiner Quellen von den Autoren der klassischen Antike jedoch in gewisser Weise immer noch spürbar bleiben, kann mit Recht behauptet werden, dass er vom Bild einer „ägyptologischen Mischkultur“ geprägt ist und damit den aktuellen Zustand der damaligen Ägyptologie signalisiert, die im Inbegriff war, sich von der Dominanz der klassischen Überlieferung zu befreien; Herodot ist relativiert, aber noch nicht außer Kraft gesetzt.59

Literaturästhetische Betrachtungen Obwohl Ebers bei der Gestaltung seines ägyptischen Romans auf große Wissenschaftlichkeit bedacht war, konnte er sie nicht auf allen Ebenen verwirklichen, da in einem dichterischen Werk die historischen Situationen und Figuren nicht einfach referiert werden können, sondern Charakterzüge tragen bzw. psychologisch, für den Leser verständlich, beglaubigt werden müssen. Genauso musste der Handlungs56 57

58 59

Ebers. Uarda (wie Anm. 33). Vorwort. Die Königstochter erlebt zwischen 1877 und Ebers’ Tod 1898 etwa 10 Auflagen! Fischer. Ebers Fallstudie (wie Anm. 3). S. 365. Vgl. ebd., S. 366.

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Dalia Salama

aufbau in sich zusammen nachvollziehbar und logisch sein, weshalb Ebers einige Änderungen vornahm. An den oben genannten Beispielen zur Figurendarstellung und ihrer Handlungsweise kann man erkennen, dass trotz Ebers’ genauesten Quellenstudiums, die von ihm geschilderten historischen Persönlichkeiten nicht Abbilder, sondern Idealisierungen der Urbilder sind. Die Romangestalten, die nicht historisch belegt sind, sind meistens Sprachrohr des Erzählers. Er pflanzt in ihnen Lebensweisheiten und Aussagen über den Menschen hinein oder gebraucht sie, um Verknüpfungen zu erstellen. Diese Art der Darstellung ist bedingt durch Ebers’ Ansicht, […] daß die Grundzüge des menschlichen Wesens, die Triebfedern der Handlungen unserer Gattung jederzeit und überall sich im ganzen gleich geblieben seien; was aber im Kreise der […] darzustellenden Kulturvölker an Sitten, Gebräuchen, religiösen und sittlichen Anschauungen sich abweichend von der unseren gestaltet hatte, konnte leicht berücksichtigt werden.60

Obwohl diese Ansicht im wesentlichen eine richtige Erkenntnis birgt, wird sie doch kritisiert und die damit verbundene historische Kulisse in Frage gestellt. Es war Ebers, so merkt Wilhelm Bölsche hier ziemlich zugespitzt an: […] absolut gleichgültig, ob er von Krösus erzählte oder von Karl V., von den Persern des Cambyses oder von den Legionen Hadrians. Er hätte in ganz genau demselben Tone auch einen Roman bei den Chinesen oder bei den Eskimos spielen lassen, wenn er gerade stofflich durch seine Studien darauf geführt worden wäre.61

Auch die Übertragung von Anschauungen und Charakterzügen seiner Zeit in altägyptisches Milieu wurde von Literaturkritikern aufs heftigste kritisiert, denn Ebers verarbeitet hier nicht nur allgemein menschliche Probleme, sondern trägt in die Personen seiner Romane Züge hinein, die den Menschen des 19. Jahrhunderts, aber nicht den geschilderten Persönlichkeiten eignen können. Über die Figuren dieses Romans schreibt er: 60 61

Ebers. Mein Erstling (wie Anm. 40). S. 188. Wilhelm Bölsche. „An der Mumie von Georg Ebers“. Hinter der Weltstadt. Friedrichshagener Gedanken zur ästhetischen Kultur. Leipzig 1901. S. 123.

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Was die handelnden Personen angeht, waren mir die meisten vertraut. Wie viele Züge der Mutter trug die schöne, würdige Greisin Rhodopis. Der König Amasis war mit Friedrich Wilhelm IV. verwandt, der Grieche Phanes hatte viel mit dem Präsidenten Seiffart gemein. Auch die Nitetis kannte ich, mit der Atossa hatte ich oft genug gescherzt, […] wie die handelnden Personen in den Dichtungen des allergrößten, […] Goethes, sollte keine der meinen ganz frei erfunden, aber auch keine das genau nachgezeichnete Porträt des Vorbilds sein.62

So entspricht die Schilderung der Saitenzeit als Epoche bürgerlichen Glücks unter einem gerechten Monarchen eher Ebers eigener Epoche. Ebers zeichnet nicht eigentlich ein Bild Ägyptens, sondern vielmehr ein Bild seines eigenen Landes und seiner eigenen Zeit zurückprojiziert auf das alte Ägypten, dessen Wahl als Schauplatz und Lieferant von Kulissen und Kostümen keine innere Notwendigkeit trägt. Statt den Versuch zu unternehmen, das alte Ägypten aus seinem Geist heraus zu verstehen und dementsprechend zu verarbeiten, scheint es hier offensichtlich nur als Kostüm oder Kulisse zu fungieren, was zeigt, dass Ebers in der dichterischen Umsetzung der pharaonischen Kultur noch ziemlich weit von jenem ‚maßstabgerechten Ergreifen‘ im Sinne von Herder entfernt ist. Beim näheren Hinschauen kann man aber auch erlesen, dass Ebers die Handlung seines Romans nicht in ein entferntes Land verlegt und die Gestalten in ein pharaonisch-antikes Gewand einkleidet, um eigene politische oder soziale Zustände zensurenfrei kritisieren zu können. Genauso wollte er, so kann man vermuten, bestimmt nicht zu aktuellen Themen in historischer Einkleidung Stellung nehmen. Tatsache ist aber, dass Ebers Probleme und Fragen der Gegenwart in seinem ‚heutigen Zeitverständnis‘ reflektiert, was den Roman nicht zu einem ‚pharaonischen‘, sondern zu einem ‚pharaonisierenden‘ Roman macht. Ebers selber macht daraus kein Geheimnis und gibt es offen zu, wenn er im Vorwort zur zweiten Auflage schreibt: Irrtümer äußerer Art lassen sich mit Fleiß und Aufmerksamkeit wohl umgehen, dagegen mochte und durfte ich mich nicht ganz frei machen von den Grundanschauungen der Zeit und des Landes, in denen meine Leser und ich geboren wurden; denn hätte ich rein antike Menschen und Zustände schildern wollen, so 62

Ebers. Geschichte meines Lebens (wie Anm. 47). S. 506.

234

Dalia Salama würde ich für den modernen Leser teils unverständlich, teils ungenießbar geworden sein […]. Die handelnden Personen werden demnach zwar Persern, Ägyptern usw. zwar ähnlich sehen können, man wird aber ihren Worten mehr noch als ihren Handlungen den deutschen Darsteller, den nicht immer über den Sentimentalitäten seiner Zeit stehenden Erzähler anmerken müssen, der im 19. Jahrhundert nach der Geburt Jesu Christi geboren wurde […].63

Ebers wollte also die alten Ägypter seinen Zeitgenossen ‚genießbar‘ machen, indem er Probleme und Fragen seiner Gegenwart in seinem Zeitverständnis reflektiert hat, was eigentlich verständlich ist, da Ebers Roman kein Geschichtsbuch ist, sondern Dichtung und jeder Autor meistens immer die Probleme und Fragen der Gegenwart nach seinem Zeitverständnis reflektiert. Was die neuesten wissenschaftlichen ägyptologischen Erkenntnisse anbelangte, die im Roman vermittelt wurden, so war Ebers darauf bedacht, sie exakt und genau dem damaligen Forschungsstand entsprechend, zu verkünden. Elke Blumenthal bemerkt hierzu, dass der moderne Leser befremdet wird durch […] das Missverhältnis zwischen der peinlich genau gezeichneten historischen Kulisse und den Personen, die als Menschen des 19. Jahrhunderts denken und handeln und oft nach dem Vorbild berühmter oder dem Verfasser nahe stehender Zeitgenossen gestaltet sind.64

Fischer korrigiert jedoch dazu richtig, dass weniger das „Missverhältnis“, der Abstand zwischen dem alten Ägypten und der Entstehungszeit der Romane, dem 19. Jahrhundert, befremdet, sondern eher der Abstand zwischen dem 19. Jahrhundert und dem 20. Jahrhundert.65

63 64

65

Königstochter: Vorrede (wie Anm. 42). Elke Blumenthal. Altes Ägypten in Leipzig. Zur Geschichte des ägyptologischen Museums und des Ägyptologischen Instituts an der Universität Leipzig. Leipzig 1981. S. 12. Vgl. Fischer. Ebers Fallstudie (wie Anm. 3). S. 379.

Georg Ebers’ Roman „Eine ägyptische Königstochter“

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Ebers’ Verdienst Doch muss Ebers trotzdem ein gewisses Verdienst zugesprochen werden. Obwohl selbst Ebers’ Schüler Adolf Ermann66 seinen Lehrer sowohl als Ägyptologe als auch als Schriftsteller diskreditierte, spricht er ihm doch ein Verdienst zu, wenn er betont, dass das alte Ägypten durch ihn dem deutschen Publikum um ein Vielfaches vertrauter geworden ist: Aber gut war es doch, daß unserem Volke die alten Ägypter so etwas vertrauter wurden. Die Scheu, die man auch in gebildeten Kreisen vor ihnen gehabt hatte, begann zu schwinden, und sie galten nicht mehr als ein seltsames Volk, das durch alle Jahrtausende hindurch unverändert geblieben sein sollte. Auch ein ‚Volk frommer Beter‘, das nur für Tempel und Gräber Interesse gehabt haben sollte, waren sie nicht mehr, und man begann zu ahnen, daß sie Menschen waren wie andere auch. Diese Erkenntnis angebahnt zu haben, ist das große Verdienst von Ebers.67

Ebers Verdienst ist es zweifellos, die Geschichte des alten Ägypten dem zeitgenössischen Publikum bekannt gemacht und als hochwertige Quelle künstlerischer Schöpfung legitimiert zu haben, die ebenso wie die bisher dem Abendland als Vorbild dienende griechisch-römisch Antike bestehen kann. Verständlich und verzeihbar sind demzufolge die strenge Ausrichtung nach moralischen, philosophischen und historischen Lehren sowie die Einkleidung der Charaktere und Ereignisse in zeitgenössische, also aus dem 19. Jahrhundert stammende Gedanken, denn gerade dadurch, so meint Fischer richtig: […] daß Ebers die Ägypter für seine Zeitgenossen genießbar machen wollte, hatte er sie zeitgebunden gemacht, während die altägyptische Kulisse dagegen heute noch zu bestehen und zu interessieren vermöchte!68

Obwohl Eine ägyptische Königstochter von der Literaturkritik als zu sehr mit Bildungsgütern überfrachtet und von den Wissenschaftlern 66

67

68

Adolf Ermann (geb. 1854) Professor und Direktor des Berliner ägyptischen Museums verfasste zahlreiche ägyptologische Werke und gab ab 1887 die Zeitschrift für ägyptische Sprache und Altertumskunde heraus. Adolf Ermann. Mein Werden und mein Wirken. Erinnerungen eines alten Berliner Gelehrten. Leipzig 1929. S. 256. Fischer. Ebers Fallstudie (wie Anm. 3). S. 379.

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als zu romanhaft kritisiert wurde, spornte der Publikumserfolg Ebers zu weiteren historischen Romanen an. So schreibt er noch vierzehn Werke, in denen er Stoffe aus verschiedenen Epochen der ägyptischen Geschichte von der pharaonischen bis zur islamischen Zeit behandelte. Zu erwähnen sind z.B. Uarda (1876), in der Ägypten unter der Herrschaft Ramses II. geschildert wird, oder Homo sum (1877), eine Darstellung der Konflikte christlicher Einsiedler und Asketen. Das Werk aber, mit dem sein Name bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts immer verbunden wurde, blieb Eine ägyptische Königstochter. Die Ägyptische Königstochter löste eine ganze Welle von ähnlichen Versuchen aus z.B. Wilhelm Walloths (1854-1932) Ägyptenroman Schatzhaus des Königs oder Der Kampf um die Cheopspyramide von Max Eyth.

Eine ägyptische Königstochter als Inspiration Auch das Theater wurde von Ebers Königstochter angeregt. So gelangt 1873 eine Dramatisierung der Ägyptischen Königstochter unter dem Titel: Nitetis. Dramatisches Gedicht in fünf Akten. Mit freier Benutzung eines Romans des Georg Ebers von Alfred Lindolf am Fürstlichen Hoftheater Detmold zur Uraufführung.69 Aber nicht nur Literatur und Theater, sondern auch die Malerei fand ihre Inspiration in der Ägyptischen Königstochter. Berühmte Künstler der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts schaffen für die so genannte EbersGalerie Gestalten aus den Romanen von Ebers allgemein und von der Königstochter im Besonderen. So malte Ferdinand Keller (1842-1922) die Nitetis.70 Auch der Düsseldorfer Philipp Groth-Johann (1841-1892) 69

70

Alfred Lindolf ist ein Pseudonym für Nikolaus Steglitz, (1833 geboren, Todesdatum unbekannt) ein deutscher Autor und Verfasser einer Reihe von Theaterstücken und Gedichten. In der Kritik wird Lindolfs Nitetis allerdings kaum als Zeugnis einer Ägyptenrezeption, sondern vielmehr als Ebers-Rezeption betrachtet, da der Autor nämlich die Handlung auf die kurze Zeitspanne des Zusammenseins der Nitetis mit Kambyses konzentriert, d.h. die Handlung gänzlich bei oder in Babylon spielt, wobei Ägypten nur in der Person der Königstochter und in Berichten und Briefen vergegenwärtigt wird. Vgl. dazu: Fischer. Ebers Fallstudie (wie Anm. 3). S. 385. Bei Keller sitzt Nitetis dekorativ im Phantasiegewand auf einer Bank in den Hängenden Gärten von Babylon. Sie stützt sich auf eine Löwenfigur,

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ließ sich von der Königstochter anregen und malte ein Bild von der Prinzessin Tachot, das ebenfalls in der Ebers-Galerie enthalten ist.71

Pharaonisierendes nach Ebers im Ausblick Die Tatsache, dass sich Künste gegenseitig inspirieren und in einer Art Wechselbeziehung zueinander stehen, ist klar und bewiesen. Die Beziehung zwischen Literatur und bildender Kunst im Falle Ebers’, dessen hauptsächliches Verdienst ist, die Ägyptologie im Kreise der Wissenschaft durchgesetzt, und ihr ebenso im breiten Publikum durch literarische und populärwissenschaftliche Arbeiten Aufmerksamkeit und Anerkennung verschafft zu haben, ebenso. Die gesamte pharaonisierende Rezeption ist von Beginn an als Kreislauf zu sehen, die besonders im 20. Jahrhundert im Zuge der reichen Ausgrabungen an Vielfalt gewann und dadurch wiederum ein umfassendes sich je nach

71

hinter ihr befindet sich ein Lamassu, beide sollen Ägypten und Persien symbolisieren. Der Block am rechten Bildrand trägt persische Reliefs, während die Tonvase im Ringständer ägyptische Malqata-Ware ist. Von der ägyptischen Tracht ist nur das Königskopftuch mit dem Uräus an der Stirn, der sie als ägyptische Königstochter ausweist, geblieben. Sie denkt an Ägypten. Es ist der Zeitpunkt dargestellt, an dem Nitetis, nachdem sie durch die Intrige ihrer persischen Gegner das Vertrauen des Kambyses verloren hat, in ihrem Palast gefangen gesetzt, resigniert wartet und entschlossen ist, dem Todesurteil des Königs durch Gift zuvorzukommen. „Dann ließ sie ihren Blick über die Ebene wandern. Da floß, dem Nil ähnlich, der Euphrat mit seinen gelblichen Wellen. Zahlreiche Dörfer schauten, wie in ihrer Heimat, aus den üppigen Saatfeldern und Feigengebüschen hervor.“ (K 272) Vgl. dazu: Fischer. Ebers Fallstudie (wie Anm. 3). S. 303. Es stellt die siechende Prinzessin dar. Nachdem Tachot anlässlich einer Prozession in der Menge völlig überraschend ihren geliebten, aber sie nicht wieder liebenden Bartja erblickt hat, lässt sie sich auf die Terrasse des Palastes tragen. „Vor dem Prachtbau des väterlichen Schlosses ruhend, umgeben von ihren sorglichen Sklavinnen – eben sind die Töne der Harfe der einen verklungen – sieht das kranke Königskind noch einmal in die Landschaft voll goldenen Sonnenscheins hinaus und dann wird es um sie dunkeln auf immer. Es ist ein unbeschreibliches wehmüthiges Bild des tief empfindenden Düsseldorfer Malers.“ Vgl. dazu: Richard Gosche. Georg Ebers. Der Forscher und Dichter. Halle/Leipzig 1878. S. 129.

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Erkenntnissen progressiv entwickelndes Bild von der Geschichte und Kultur des alten Ägyptens erschließt und vermittelt. Im Vergleich zum 20. Jahrhundert waren die pharaonisierenden Romane des 19. Jahrhunderts nicht zahlreich, da die Ägyptologie noch am Anfang stand. Die Fortsetzung der ägyptischen Forschung im 20. Jahrhundert und die erheblichen Fortschritte, die man in der Entschlüsselung der altägyptischen Texte und der Literatur erzielte, aber auch die neuen archäologischen Ausgrabungen wie die Entdeckung der Königsgräber im Tal der Könige, vor allem aber des Grabes von Tutenchamun mit seinen unberührten Schätzen, bringen eine besondere Faszination der ägyptischen Kultur mit sich. Die Ägyptomanie des 19. Jahrhunderts setzt sich fort, wobei ein noch umfassenderes und vielfältigeres Bild von der Geschichte und Kultur des alten Ägyptens im Laufe des 20. Jahrhunderts entsteht, die ihren Niederschlag im pharaonisierenden Roman des 20. Jahrhundert findet. Das pharaonische Ägypten als zentraler historischer Stoff wird in den pharaonisierenden Romanen reicher an Einzelheiten. Die Massenmedien, die im 20. Jahrhundert immer mehr an Einfluss gewinnen, vergrößern die Leserschichten, die sich für die altägyptische Kultur und die pharaonisierende Literatur interessieren. Durch die Erschließung weiterer Aspekte, Stoffe und Motive entstanden neben Bildender Kunst, Oper, Literatur, Theater und Malerei auch neue Formen wie Film, Ballett, Spiel, Computerspiele usw. Heute, im 21. Jahrhundert, stellt die Kultur der alten Ägypter mit ihrem endlosen Reichtum immer noch einen reichen Fundus für literarische und außerliterarische Werke dar und bietet unendliche Möglichkeiten zur Variation. Hätte man die erst kürzlich zum ersten Mal in Berlin ausgestellten ‚versunkenen Schätze Ägyptens‘72 zu Ebers’ 72

„Ägyptens versunkene Schätze“ wurden in einer Weltpremiere vom 13. Mai bis zum 4. September 2006 im Martin-Gropius-Bau in Berlin präsentiert. Etwa 500 Artefakte, die, bis auf einige wenige Ausnahmen, noch nie der Öffentlichkeit gezeigt wurden, werden nun erstmals ausgestellt. Sie liefern Erkenntnisse über 1.500 Jahre ägyptischer Geschichte (700 v. bis 800 n. Chr.). Der französische Unterwasserarchäologe Franck Goddio und sein Team haben seit Mitte der 1990er Jahre in Kooperation mit dem Supreme Council of Antiquities in Ägypten so sagenumwobene Orte wie den antiken Hafen von Alexandria und Abukir mit Teilen des Königsviertels erforscht. Die berühmte antike Stadt Herakleion und Teile der Stadt Kanopus gelegen im Meer vor Abukir, wurden von Franck Goddio wiederent-

Georg Ebers’ Roman „Eine ägyptische Königstochter“

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Lebzeiten entdeckt, hätten sie sicherlich einen Platz in seiner Dichtung gefunden, da in ihr pharaonische und griechisch-römische Stilrichtungen miteinander verschmelzen. Außerdem hätten diese Schätze aussagekräftig dafür plädiert, die pharaonische Kultur vor einem griechisch-römisch orientierten Publikum gleichzustellen und somit zu legitimieren. Die erlesene Qualität der im Hafen von Alexandrien geborgenen Kunstwerke bezeugen auf virtuose Weise, wie antike und pharaonische Kultur miteinander harmonieren. Besonders ausdrucksstark wird diese Idee in der Statue mit dem ‚durchnässten‘ Gewand verkörpert. Nach Angaben des Unterwasserarchäologen Franck Goddio handelt es sich aufgrund der untersuchten Eigenheiten des Stils und der Details wohl um die ptolemäische Königin Arsinoë II., die in Zwiegestalt, nämlich als dem Meer entsteigende Aphrodite und als „lebenspendende Isis“, wiedergegeben ist. In symbolischer Weise verweist diese wunderschöne Statue auf die Symbiose von hellenistischem und altägyptischem Formengut, indem sowohl „altorientalischer Ewigkeitspathos“ und „mediterrane antike Momenthaftigkeit“ vereint werden, dass man „neidvoll auf diese Synthese schaut, die unser klapperdürres Bemühen um ‚multikulturelle‘ Verfassung zur Stümperei macht.“73

73

deckt. Dabei stieß das Taucherteam unter anderem auf bedeutende Tempelanlagen mit Kultgegenständen. Die beiden einstigen Zentren wissenschaftlicher und religiöser Hochkulturen und des internationalen Handels traf vor über 1000 Jahren ein verheerendes Schicksal: Naturkatastrophen ließen sie im Meer versinken. Berühmt sind sie jedoch auch heute noch durch ihre enge Verbindung zu dem griechischen Gott und Helden Herakles, zu Helena und Paris, Alexander dem Großen und Kleopatra. Franck Goddios einzigartige Funde ermöglichen es, tiefgreifende und in mancher Hinsicht auch völlig neue Erkenntnisse über die ägyptische Geschichte zu gewinnen. Lange Zeit war Ägypten durch Eroberungen fremder Herrscherdynastien geprägt. Einflüsse aus Mesopotamien, Griechenland und Rom führten hier zu Verschmelzungen von kulturellen und religiösen Lebensformen, welche die Funde aus Herakleion, Kanopus und Alexandria deutlich belegen. Diese Vermischung der alten Kulturen entwickelte sich im Laufe der Jahrhunderte zu einem bedeutenden Fundament der heutigen westlichen Zivilisation. Aus: www.maerzmusik.de/de/aktuell/festivals/ 11_gropiusbau/mgb_04_programm Vgl. Dieter Bartetzko. „Als die Götter im Meer verschwanden“. www.faz.net. Versunkene Schätze. 11. Mai 2006.

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Gewiss werden auch diese wundervollen Funde und Schätze Ägyptens die Menschen weiterhin in Atem halten, sie mit ihren Geheimnissen betören und faszinieren und bestimmt wiederum zu weiteren literarischen und künstlerischen Werken anregen. Den Weg dafür geebnet hat Georg Ebers bereits mit seiner Ägyptischen Königstochter.

Literatur Abdel-Noor, Rawhia Riad. Ägypten in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. Bogumil Golz – Max Eyth – Georg Ebers. Diss. München 1986. Becker, Wilhelm Adolf. Charikles. Bilder altgriechischer Sitten zur genauen Kenntnis des griechischen Privatlebens. 2 Teile. Leipzig 1840. Becker, Wilhelm Adolf. Gallus oder römische Szenen aus der Zeit Augustus. Zur Erläuterungen der wesentlichen Gegenstände aus dem häuslichen Leben der Römer. 2 Teile. Leipzig 1838. Blumenthal, Elke. Altes Ägypten in Leipzig. Zur Geschichte des ägyptologischen Museums und des Ägyptologischen Instituts an der Universität Leipzig. Leipzig 1981. Bölsche, Wilhelm. „An der Mumie von Georg Ebers“. Hinter der Weltstadt. Friedrichshagener Gedanken zur ästhetischen Kultur. Leipzig 1901. Bracht, Edgar. „Georg Ebers oder Glanz und Elend des deutschen Historismus“. Nachwort zu Eine ägyptische Königstochter. Berlin 1997. Ebers, Georg. Die Geschichte meines Lebens vom Kind bis zum Manne. Stuttgart 1893. Ebers, Georg. Eine ägyptische Königstochter. Berlin 1997. Ebers, Georg. „Mein Erstling ‚Eine ägyptische Königstochter‘“. Die Geschichte meines Erstlings. Hg. Karl Emil Franzos. Stuttgart/Berlin 1894. S. 185-191. Ebers, Georg. Uarda. Roman aus dem alten Ägypten in 3 Bänden. Stuttgart 1893. Eggebrecht, Arne. Das alte Ägypten. 3000 Jahre Geschichte und Kultur des Pharaonenreiches. München 1986. Eggert, Hartmut. Studien zur Wirkungsgeschichte des deutschen historischen Romans (1850-1875). Frankfurt a.M. 1971. El-Schere’i, Marwa Muhammad Wagdy. Altägyptische Stoffe und Motive in der deutschen Dichtung des 19. und 20. Jahrhunderts. Kairo 2005. Ermann, Adolf. Mein Werden und mein Wirken. Erinnerungen eines alten Berliner Gelehrten. Leipzig 1929. Fischer, Hans. Der Ägyptologe Georg Ebers. Eine Fallstudie zum Problem Wissenschaft und Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert. Wiesbaden 1994. Gosche, Richard. Georg Ebers. Der Forscher und Dichter. Halle/Leipzig 1878.

Georg Ebers’ Roman „Eine ägyptische Königstochter“

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Haja, Martina. „Die Gesichter des Sphinx. Aspekte der Ägyptomanen Malerei im 19. Jahrhundert“. Ägyptomanie. Europäische Ägyptenimagination von der Antike bis heute. Hg. Wielfried Seipel. Wien 2000. Kraus, Otto. „Der Professorenroman“. Zeitfragen des christlichen Volkslebens IX. Heft 4. Heilbronn 1884. Kritikus. „Georg Ebers und sein neuester Roman“. Die Literatur. Monatshefte für Dichtkunst und Kritik I (1880). Hg. Max Strempel. S. 38-49. Miller, Norbert. „Ägyptische Träume und Alpträume bei Jean-Laurent Le Geay und Giovanni Battista Piranesi“. Ägyptomanie. Europäische Ägyptenimagination von der Antike bis heute. Hg. Wilfried Seipel. Wien 2000. Morenz, Siegfried. Die Begegnung Europas mit Ägypten. Mit einem Beitrag von Martin Kaiser: „Herodots Begegnung mit Ägypten“. Berlin 1968. Nack, Emil. Ägypten und der vordere Orient im Altertum. Wien 1977. Otto, Eberhard. Wesen und Wandel der ägyptischen Kultur. Berlin/Heidelberg/New York 1969. Rachet, Guy. Lexikon des Alten Ägypten. Darmstadt 1999.

Uwe Lindemann

Der Basar als Gebilde des hochkapitalistischen Zeitalters1 Über das Verhältnis von Orientalismus, Geschlechterpolitik, Konsum- und Modernekritik zwischen 1820 und 1900 1. Orientalismus und kapitalistische Ökonomie 1822 reist Ludwig Börne nach Paris. Besonders beeindruckt ist er von der Geschäftstüchtigkeit der Pariser Kaufleute. In seinen „Schilderungen aus Paris“, die bis 1824 in unregelmäßigen Abständen in Cottas Morgenblatt erscheinen, widmet er mehrere Teile dem Ausstellungswesen und Warenhandel der französischen Metropole. Im letzten Teil der „Schilderungen“ beschreibt Börne die seit 1801 regelmäßig stattfindende Industrieausstellung im Louvre, jenen frühen Vorläufer der späteren Weltausstellungen, die Walter Benjamin als „Wallfahrtsstätten zum Fetisch Ware“2 bezeichnet hat. Börnes Augenmerk liegt im 1

2

Der Titel des Vortrages ist in Teilen dem noch heute lesenswerten Artikel über die Warenhauskultur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Werner Sombart entlehnt: „Das Warenhaus ein Gebilde des hochkapitalistischen Zeitalters.“ Probleme des Warenhauses. Beiträge zur Geschichte und Erkenntnis des Warenhauses in Deutschland. Hg. Verband deutscher Waren und Kaufhäuser e.V. Berlin 1928. S. 77-88. An dieser Stelle möchte ich besonders Heiko Stullich für die teilweise schwierige Beschaffung des Textmaterials sowie für viele anregende Diskussionen zum Thema danken. Gleichfalls gebührt mein Dank Claudia Marciniec, die mir wichtige Hinweise zur Geschichte der europäischen Mode gegeben hat. Walter Benjamin. „Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“. Ders. Das Passagen-Werk. Hg. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1983. Bd. 1. S. 50. Vgl. Ingeborg Cleve. „Was können und sollen Konsumenten wollen? Die Formulierung moderner Leitbilder des Konsums als zentrales Problem des europäischen Ausstellungswesens im 19. Jahrhundert.“ Hg. Hannes Siegrist/Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka. Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert). Frankfurt a.M., New York 1997. S. 549-562 und Christoph Grunenberg. „Wunderland – Inszeniertes Spektakel der Warenpräsentation von Bon Marché bis Prada“. Hg. Max Hollein/Christoph Grunenberg. Shopping. 100 Jahre Kunst und Konsum. Schirn-Kunsthalle Frankfurt, 28.91.12.2002. Ostfildern-Ruit 2002. S. 17-37.

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Besonderen auf der Beschreibung der dort präsentierten Luxusgegenstände. Schließlich kommt er auf die Produkte der Parfümerieherstellung zu sprechen: Treten wir jetzt in den Bazar des Parfums des Herrn Mayer. Dort schimmert’s wie in einem Feenmärchen; es ist zum blind werden! […] Junge Mädchen, die sich nicht gern den Kopf anstrengen, können im Bazar des Herrn Mayer in weniger als einer Viertelstunde auf die angenehmste Weise die Geographie erlernen. Sie finden dort: Huile de Macassar, Poudre de Ceylon, Fluide de Java, Esprit de Portugal, Savon de Valence, Vinaigre de Malte, Huile de Cachemire, Graisse d’Ours de Canade, Rouge de Chine, Sachet de Perse, Bol de Chypre, Poudre de Florence, Poudre de Palma, und noch viele andere Dinge aus Europa, Amerika und Asien. Schade, daß Herr Mayer keine Produkte von den Südseeinseln und von Afrika hat, keinen Pâte de Botany-Baie, keinen Esprit de Maroc – an Absatz würde es ihm nicht fehlen, und seine geographische Belehrung würde hierdurch vollständiger werden.3

Wenige Jahre später wird sich Honoré de Balzac desselben Themas annehmen und in seinem Roman Histoire de la Grandeur et de la Décadence de César Birotteau (1838) ausführlich die Werbestrategien schildern, mit denen die Hauptfigur des Romans zum führenden Parfümeriehändler und -hersteller in Paris, später in ganz Mitteleuropa aufsteigt. Auch César Birotteau setzt wie Herr Mayer bei der Namensgebung seiner Produkte auf die diskursive Verschränkung von Luxus, Orient und Weiblichkeit.4 Den Erfolg von Birotteaus Kosmetikum ‚Pâte des Sultanes‘ verdankt sich, so der Erzähler, genau dieser diskursiven Konstellation: 3

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Ludwig Börne. Sämtliche Schriften. Hg. Inge Rippmann/Peter Rippmann. Düsseldorf 1964. Bd. 2. S. 183f. („XXVI. Die Industrieausstellung im Louvre/9. Parfümerie“). Hierbei handelt es sich um eine diskursive Konstellation mit langer Geschichte, die spätestens seit der Übersetzung von Tausend und eine Nacht durch Antoine Galland (1704-1717) nicht nur zu einem wichtigen Ideengeber für Literatur, Kunst und Architektur des 18. Jahrhunderts wird (vgl. Uwe Lindemann. Die Wüste. Terra incognita – Erlebnis – Symbol. Eine Genealogie der abendländischen Wüstenvorstellungen in der Literatur von der Antike bis zur Gegenwart. Heidelberg 2000. S. 124ff.), sondern vor allem nach der Jahrhundertwende auch andere Bereiche des sozialen und wirtschaftlichen Lebens mitbestimmt.

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A une époque où l’on ne parlait que de l’Orient, nommer un cosmétique quelconque Pâte des Sultanes, en devinant la magie exercée par ces mots dans un pays où tout homme tient autant à être sultan que la femme à devenir sultane, était une inspiration qui pouvait venir à un homme ordinaire comme à un homme d’esprit.5

Wie ein Kommentar zu Balzac nimmt sich Victor Hugos berühmter Ausspruch „Au siècle de Louis XIV on était helléniste, maintenant on est orientaliste“6 aus, der nicht nur den Wechsel in der kulturellen Orientierung Europas nach 1800 deutlich macht, sondern vor allem die diskursive Definitionsmacht anzeigt, die der Orient für das 19. Jahrhundert besitzt. Schon die Zitate aus Börne und Balzac weisen darauf hin, dass der ‚Orientalismus‘ – jene ambivalente Mixtur aus exotistischer Faszination, Überfremdungsangst und kolonialen Machtphantasien7 – im Kern das Selbstverständnis eines sich als modern begreifenden Europas betrifft. In diesem Sinne soll der „Orientalismus“ als diskursive Praxis verstanden werden, die es unter bestimmten Voraussetzungen ermöglicht, sogar spezifisch abendländische Phänomene als fremdbzw. andersartig zu kennzeichnen. Im Folgenden geht es mir allerdings weniger um eine Form des ‚Orientalismus‘, der in die ‚Ferne‘ schweift, um sich des ‚Eigenen‘ zu versichern, wie dies in der europäischen Literatur und Kunst des 19. Jahrhunderts vielfach der Fall ist, sondern um die handfesten diskursiven Beziehungen, die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts zwischen ‚Orientalismus‘, kapitalistischer Ökonomie, Geschlechterpolitik und Konsum- und Modernekritik entwickeln. Um diese, zumindest auf den ersten Blick aus recht heterogenen Elementen zusammengesetzte diskursive Konstellation beschreiben zu können, möchte ich die Karriere eines Begriffs verfolgen, der wie kaum ein anderer einen charakteristischen Aspekt der als orientalisch bezeichneten Kultur

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Honoré de Balzac. Histoire de la Grandeur et de la Décadence de César Birotteau [1838]. Ders. La Comédie Humaine. Scènes de la Vie Parisienne I. Hg. Marcel Bouteron. Paris 1935. Bd. 5. S. 351. Victor Hugo. Œuvres poétiques. Hg. Pierre Albouy. Paris 1964. Bd. 1. S. 580. Vgl. Edward W. Said. Orientalism. London 1978.

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verkörpert. In den Worten von William Makepeace Thackeray: „Walk into the Bazaar, and the East is unveiled to you.“8

2. Begriffsgeschichte Der Begriff ‚Basar‘ bzw. ‚Bazar‘, wie die ältere deutsche Schreibweise lautet, leitet sich aus dem Persischen her und ist inhaltlich äquivalent zu den Begriffen „sūq“ im Arabischen und „çarşi“ im Türkischen.9 Schon der dritte Band von Zedlers Universallexicon von 1733 verzeichnet die noch heute gültige Hauptbedeutung: Bazar […] bedeutet bey denen Morgenländern insgemein einen Marckt, und sonderlich bey denen Persern eine grosse, breite,

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William Makepeace Thackeray. Notes of a Journey from Cornhill to Grand Cairo. London 1846. S. 62. Vgl. Eugen Wirth. „Zum Problem des Bazars (sūq, çarşi). Versuch einer Begriffsbestimmung und Theorie des traditionellen Wirtschaftszentrums der orientalisch-islamischen Stadt.“ Der Islam. Zeitschrift für Geschichte und Kultur des islamischen Orients 51/2 (1974). S. 203-260 und 51/1 (1975). S. 6-46, hier 51/2, S. 203f. Der Begriff ‚Bazar‘ wandert, so die übereinstimmende Meinung der etymologischen Lexika, vermutlich über das Italienische in andere europäische Sprachen ein. Folgende Lexika wurden für die begriffsgeschichtlichen Analysen ausgewertet: Jacob Grimm/ Willhelm Grimm. Deutsches Wörterbuch. Bearb. v. Ludwig Sütterlin, Leipzig 1854-1960; Webster’s third new international dictionary of the English language, unabridged. With seven language dictionary. Chicago u.a. 1971; The Oxford English Dictionary. Oxford 1961; Walther von Wartburg. Französisches etymologisches Wörterbuch. Eine Darstellung des galloromanischen Sprachschatzes. Basel u.a. 1928; Friedrich Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. v. Walther Mitzka. 19. Aufl. Berlin 1963; Le Robert. Dictionnaire historique de la langue francaise. Hg. Alain Rey. Paris 1992; Grand Larousse universel. Hg. Patrice Maubourguet. Paris 1989-92; Albert Dauzat. Dictionnaire etymologique de la langue francaise. Avec un supplement lexicologique et un supplement chronologique. 10. Aufl. Paris 1938. Vgl. zum Basar als kulturspezifischem Aspekt: Walter M. Weiss/Kurt-Michael Westermann. Der Basar. Mittelpunkt des Lebens in der islamischen Welt. Geschichte und Gegenwart eines menschengerechten Stadtmodells. München 2000.

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lange, und aus nichts als Kram-Gewölben und Kaufmanns Läden bestehende Strasse.10

Ganz ähnlich heißt es wenige Jahre später im zweiten Band der Encyclopédie (1751): „Bazar ou Bazari, (Commerce) lieu destiné au commerce parmi les Orientaux, particulierement chez les Persans“.11 Einen aufklärerischen Akzent erhält der Artikel der Encyclopédie dadurch, dass er zum Schluss darauf hinweist, dass selbst Sklaven auf Basaren verkauft würden, was aber eine ‚barbarische‘ Handelspraxis sei.12 Mehr als ein halbes Jahrhundert später hat sich, zumindest in Deutschland, das Wissen um den Basar nicht vermehrt. Der achte Band der Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste von 1822 enthält kaum mehr Informationen als Zedlers Lexikon. So verwundert es nicht, dass im ersten Band des Grimmschen Wörterbuchs von 1853 ein Eintrag zu ‚Bazar‘ fehlt. Erst im fünften Band von 1865 findet man unter ‚Kaufhof‘ eine Erläuterung, wobei ‚Kaufhof‘ und ‚Bazar‘ synonymisiert werden: Kaufhof, m. bazar: auszer diesen märkten bieten die kaufhöfe, d.h. die plätze, wo alle kaufmannsgewölbe einer stadt zusammengestellt sind, eine art von immerwährender messe dar. sie sind ein gebrauch des orients und ganz der türkische basar.13

Im Gegensatz zum Deutschen (für das Englische und Italienische gilt für den gleichen Zeitraum dasselbe wie für das Deutsche) lassen sich für die Zeit zwischen 1820 und 1840 im Französischen bereits einige Bedeutungsverschiebungen beobachten. Neben der Hauptbedeutung ‚Orientalischer Markt‘ wird der Begriff ‚bazar‘ auch auf eine hetero10

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Johann Heinrich Zedler. Großes vollständiges Universal-Lexikon. Bd. 3. Photomechanischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig/Halle 1732-54. Graz 1961-64. Sp. 815. Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, publié par Diderot et d’Alembert. Bd. 2. Nachdruck der Ausgabe Paris 1751-80. Stuttgart/Bad Cannstatt 1966. S. 168. Im Folgenden wird in der Encyclopédie zudem zwischen zeitweiligen Märkten im Freien, die hauptsächlich Lebensmittel und Gebrauchsartikel verkaufen, und permanenten Märkten, die Preziosen aller Art veräußern, unterschieden. Ebd. Grimm. Wörterbuch (wie Anm. 9). Bd. 6. S. 1885. Das Zitat aus dem Grimmschen Wörterbuch stammt von Joachim Ritter aus Europa. Ein geographisch-historisch-statistisches Gemählde für Freunde und Lehrer der Geographie… nach den besten Quellen bearbeitet (Frankfurt a.M. 1811).

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gene Ansammlung von Dingen übertragen. So kann ‚bazar‘ zum Beispiel eine Wohnung bezeichnen, die unordentlich ist: „Quel bazar!“.14 Das Verb ‚bazarder‘ lässt sich erstmals 1846 nachweisen: ‚bazarder‘ heißt „vendre à vil prix“, also „losschlagen, zu Geld machen, billig verkaufen“.15 Was sich im Französischen abzeichnet, lässt sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch im Deutschen, Englischen und Italienischen beobachten: der Begriff ‚Basar‘ wird nicht nur zunehmend aus dem ökonomischen Kontext des Orients gelöst, sondern erhält zudem einen stark negativ wertenden Akzent. Dieser negative Akzent ist in dem angeführten Börne-Zitat, trotz der ironischen Erzählhaltung, noch nicht sichtbar. Der Parfüm-Bazar von Herrn Mayer richtet sich explizit an die galante und zahlungskräftige Welt. Das heterogene Moment einschließlich des Exotischen ist präsent, nicht aber jene pejorative Semantik, die den Basar per se als Ort eines radikal ‚Anderen‘ ausweist. Dies wird erst später geschehen. Das französische Verb ‚bazarder‘ deutet die Richtung an. Im Deutschen wird man später dafür Begriffe wie ‚Ramsch-‘ bzw. ‚Billigbasar‘ prägen. Es wäre aber eine unzureichende Beschreibung, wenn man für das 19. Jahrhundert den Schwerpunkt zu stark auf die pejorative Semantik von ‚Basar‘ legen würde, denn auf der anderen Seite geben sich, wie sich dies bei Börne andeutet, seit den 1820er Jahren zahlreiche Pariser Luxuswarenhandel den Namen ‚Bazar‘.16 Schon 1845 öffnet in Hamburg ebenfalls ein ‚Bazar‘. Hierbei handelt es sich um eine zwischen 1842-45 nach Pariser Mustern errichtete Passage mit etwa dreißig Einzelläden. Sie besteht bis 1881.17 1856 nennt sich eines der ersten 14

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16 17

So heißt es z.B. schon 1829 bei Balzac in La Maison du Chat-qui-pelote: „L’on eût dit que monsieur Guillaume avait eu en vue de faire un placement d’argent jusque dans l’acquisition d’un flambeau. Au milieu de ce bazar, dont la richesse accusait le désoeuvrement des deux époux, le célèbre tableau de Sommervieux avait obtenu la place d’honneur.“ Honoré de Balzac. La Maison du Chat-qui-pelote. Ders. La Comédie Humaine. Scènes de la Vie Privée I. Bd. 1. S. 17-71, hier: S. 58 (Hervorheb. U.L.). Le Robert (wie Anm. 9). Bd. 1. S. 198f. Später wird ‚bazar‘ zudem als Euphemismus für Bordell gebraucht, vgl. Wartburg. Wörterbuch (wie Anm. 9). Bd. 1. S. 302. Vgl. Le Robert (wie Anm. 9). Bd. 1. S. 199. Vgl. Tilman Osterwold. Schaufenster. Die Kulturgeschichte eines Massenmediums. Hg. Württembergischer Kunstverein. Stuttgart 1974. S. 26 und

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Pariser Warenhäuser ‚Bazar‘. Es ist der bis heute bestehende ‚Bazar de l’Hôtel de Ville‘. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts finden sich auch in Brüssel und Berlin Warenhäuser, die den Begriff ‚Bazar‘ im Namen führen. In Brüssel ist es der ‚Grand Bazar Anspach‘, in Berlin der ‚Kaiserbazar‘, der allerdings nur in den Jahren 1891/92 besteht.18 Für den Bereich des exklusiven Modewarenhandels darf der 1839 von Herrmann Gerson gegründete Berliner ‚Mode Bazar‘ nicht unerwähnt bleiben, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert europaweite Bekanntheit erreicht und seine Mode-Kreationen auch an Fürstenund Königshäuser liefert.19 Außerdem werden Mitte des 19. Jahrhunderts zwei Modezeitschriften gegründet, die den Begriff ‚Basar‘ im Titel führen: zum einen das von Ludwig von Schaeffer-Voit begründete Modemagazin Der Bazar, das von 1854 bis 1937 erscheint und sich an das gehobene deutschsprachige Bürgertum richtet20, zum anderen die führende viktorianische Modezeitschrift Harper’s Bazar, die von 1867 bis 1920 erscheint und den britischen Modegeschmack Ende des 19. Jahrhunderts maßgeblich prägen wird. Um 1900 wird der Begriff ‚Basar‘ im Französischen, Englischen und Deutschen zudem neutral verwendet als Synonym für die verschiedene Begriffe für Warenhaus: für ‚grand magasin‘ im Französischen, für ‚department store‘ und ‚emporium‘ im Englischen sowie für ‚Warenhaus‘, ‚Großmagazin‘ oder ‚Kaufhaus‘ im Deutschen. Die synony-

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19

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Hermann Hipp. „Geschichte am Jungfernstieg/History of Jungfernstieg.“ www.lebendiger-jungfernstieg.de/history_20jungfernstieg2.pdf (Screenshot, 22.11.2005). S. 11. Vgl. Walther C. Jäh. „Die Großbazare und Warenhäuser; ihre Berechtigung und ihre Besteuerung“. Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 24 (1900). S. 723-764, hier: S. 732. So avanciert Gerson schon 1842 zum Hoflieferanten der Preußischen Königin Elisabeth. Später kommen der russische Zar und die Königin von Schweden hinzu. Das 1849 im klassizistischen Stil errichtete Verkaufsgebäude des „Mode Bazars“ kann als Vorläufer der späteren Berliner Warenhäuser bezeichnet werden, wobei ein über „zwei Geschosse reichender Lichthof im Zentrum des Gebäudes“ einen Teil der auf zwei Etagen verteilten Verkaufsräume erschloss. Vgl. Berliner Chic. Mode von 1820 bis 1990. Hg. Christine Waidenschlager. Berlin 2001. S. 21. Vgl. 70 Jahre deutsche Mode. Kantate-Festgabe der Bazar-Gesellschaft Berlin zur Jahrhundertfeier der Gründung des Börsenvereins der deutschen Buchhändler zu Leipzig. Zur Geschichte einer deutschen Modezeitschrift. Berlin 1925.

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me Verwendung von ‚Basar‘ und ‚Warenhaus‘ wird im deutschsprachigen Raum sogar gesetzlich fixiert. Im Artikel 23 des Bayrischen Gewerbesteuergesetzes vom 9.6.1899 heißt es: Gewerbliche Unternehmungen, welche behufs gewinnbringender Verwertung größerer Betriebsmittel ihrem Geschäftsbetrieb eine außergewöhnliche Ausdehnung geben und durch die Art ihres Geschäftsverfahrens von den Grundsätzen und Formen, unter welchen die im Tarife enthaltenen Gewerbe ausgeübt zu werden pflegen, wesentlich abweichen, sind mit einer nach dem Geschäftsumfang steigenden Normalanlage zu belegen, welche unter Hinzurechnung der Betriebsanlage nicht unter einem halben Prozent und nicht über drei Prozent des Geschäftsumsatzes betragen soll. Zu den gewerblichen Unternehmungen der erwähnten Art zählen unter den angegebenen Voraussetzungen insbesondere: […] Warenhäuser, Großmagazine, Großbazare, Abzahlungs- und Versteigerungsgeschäfte, sowie Versandgeschäfte, durch welche Waren, die ihrer Beschaffenheit nach verschiedenen Gattungen angehören, oder als Erzeugnisse verschiedener Industriezweige oder Handwerksgeschäfte anzusehen sind, in größerem Umfange mittels Einzelverkaufs in offenen Verkaufsstellen feil gehalten oder im Wege des unmittelbaren Versandes an die Konsumenten zur Veräußerung gebracht werden.21

Aus den Erläuterungen zur Begriffsgeschichte dürfte bereits jetzt die in hohem Maße ambivalente Verwendung des Begriffs ‚Basar‘ im 19. Jahrhundert deutlich geworden sein. Um die diskursiven Rahmenbedingungen dieser Ambivalenzen rekonstruieren zu können, sollen im Folgenden einige ‚Basare‘ des 19. Jahrhunderts näher betrachtet werden. Zunächst sollen die Diskussionen um den in den 1810er Jahren gegründeten ‚London Bazaar‘ skizziert werden. Anschließend werde ich auf das bereits erwähnte Modemagazin Harper’s Bazar eingehen. Zum Schluss werde ich eine Reihe von um 1900 publizierten Schriften von Warenhausgegnern vorstellen.

21

Zit. nach M[agnus] Biermer. „Warenhäuser und Warenhaussteuer“. Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Hg. J[ohannes] Conrad/L[udwig] Elster u.a.. 3. Aufl. Jena 1911. Bd. 8. S. 590-615, hier: S. 607f. (Hervorheb. U.L.).

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3. Der ‚London Bazaar‘ 1816 funktioniert John Trotter, der als Lieferant der Englischen Armee während der Napoleonischen Kriege zu Geld gekommen war, sein früheres Lagerhaus am Soho Square (London) in einen – wie er es nennt – ‚Bazaar‘ um.22 Dieser ‚Bazaar‘ dient dazu, englischen Witwen und Waisen des Napoleonischen Krieges ein regelmäßiges Einkommen zu sichern, indem sie dort von ihnen selbst gefertigte Waren verkaufen können. Trotter verfolgt mit seinem Projekt jedoch nicht ausschließlich altruistische Ziele, da die Gebühren, welche die Witwen und Waisen täglich für ihre Stände zu entrichten haben, in seine eigene Tasche fließen. Das – wenn man so will – ‚wirtschaftliche‘ Konzept hinter dem ‚London Bazaar‘ könnte man als Mischform aus Wohltätigkeitsveranstaltung23, Jahrmarkt und gewerblichem Kleinhandel beschreiben. Trotters ‚Bazaar‘ besteht bis 1889. Das Konzept ist so erfolgreich, dass im selben Jahr in London noch weitere Basare ihre Pforten öffnen. Wenige Jahre später, 1823, findet man einen ähnlichen ‚Bazar‘ auch in Paris.24 Diese Vorgeschichte zu den späteren Warenhäusern bzw. „Großbazaren“ wäre vernachlässigenswert, wenn sie nicht bereits wichtige Merkmale der diskursiven Konstellation um 1900 aufweisen würde. Wie Gary Dyer anhand zahlreicher Quellen gezeigt hat, entzündet sich am ‚London Bazaar‘ eine scharf geführte Diskussion, die das Selbstverständnis der bürgerlichen Klasse Englands mit ihren moralischen und kulturellen Werten verhandelt: „This bazaar […] evoked images that the upper- or middle-class English observer feared – Eastern exoticism (in the name ‚bazaar‘), the marketplace, middle22

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Die im Folgenden gegebenen Informationen über den London Bazaar verdanke ich im Wesentlichen dem folgenden Artikel: Gary R. Dyer. „The ‚Vanity Fair‘ of Nineteenth-Century England: Commerce, Women, and the East in the Ladies’ Bazaar“. Nineteenth-Century Literature 46/2 (1991). S. 196-222. Vgl. auch Krista Lysack. „Goblin Markets: Victorian Woman Shoppers at Liberty’s Oriental Bazaar“. Nineteenth-Century Contexts 27/2 (2005). S. 139-155. Im ‚London Bazaar‘ scheint auch der Ursprung der späteren Wohltätigkeitsbasare zu liegen. Vgl. Konrad Gordon. Bazaars and Fair Ladies. The History of the American Fundraising Fair. Knoxville 1998. Vgl. Le Robert (wie Anm. 9). Bd. 1. S. 199.

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class women going into business“.25 Vor allem der letzte Aspekt, dass Frauen, die zu dieser Zeit in einer privaten, d.h. nicht-öffentlichen, häuslichen Sphäre lokalisiert sind, öffentlich Handel mit häuslich hergestellten Waren treiben, ist ein aus männlicher Sicht permanenter Skandal des ‚London Bazaar‘. Trotz der strengen Verhaltensregeln, auf dessen strikter Einhaltung Trotter achtet, um die Reputation und moralische Seriosität seiner Einrichtung zu verbürgen, ist sein ‚Bazaar‘ über Jahrzehnte hinweg immer wieder publizistischen Angriffen ausgesetzt. In verschiedenen Schriften (von Zeitungsfeuilletons über satirische Pamphlete und Bildsatiren bis zu Thackerays Vanity Fair, 1847-48) werden nicht nur die europäischen Orient-Stereotypen des 19. Jahrhunderts beispielhaft deutlich, sondern auch der diskursive Konnex zwischen bürgerlichem Exotismus und bürgerlicher Geschlechterpolitik. Edward Said und andere Forscher in seiner Nachfolge haben eindrücklich zeigen können, wie der Orient, zumal im 19. Jahrhundert, auf einige wenige diskursive Zuschreibungen reduziert wird, die sich um die Konstruktion eines von Europa radikal unterschiedenen ‚Anderen‘ bemühen, das zugleich aber als negative Folie der politischen, militärischen, kulturellen und moralischen Überlegenheit Europas dient: Der ‚Orient‘ wird als exzentrisch, rückwärts gewandt, sinnlich und passiv beschrieben – mit einer Tendenz zum Despotismus; der ‚Orientale‘ wird als feminin, schwach und nachgiebig charakterisiert und ist in besonderem Maße sinnlichen Genüssen ergeben. Der Basar als Bestandteil der ‚orientalischen Kultur‘ bringt zusätzlich einen ökonomischen Aspekt ins Spiel, der die angenommenen sinnlichen Vergnügungen des Orients (Schmuck, exotische Düfte, kostbare Kleidung und Teppiche, dienstbare Sklavinnen) als käuflich bzw. verkäuflich hinstellt. In diesem Rahmen bewegt sich die bürgerliche, das heißt männliche Kritik am ‚London Bazaar‘. Dort würden nicht nur die strikten Grenzen zwischen öffentlich und privat resp. häuslich sowie zwischen Männlichkeit, sprich Aktivität, und Weiblichkeit, sprich Passivität, unterlaufen, sondern es herrsche überdies ein spezifisch weibliches Moment des Sinnlichen und Lustvollen vor. Im ‚London Bazaar‘ verdichten sich Ökonomie, Orientalismus und Weiblichkeit zu einem ex25

Dyer. Vanity Fair (wie Anm. 22). S. 196f. Vgl. Gordon. Bazaars (wie Anm. 23). S. 36ff.

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plosiven Gemisch. Explosiv wird dieses Gemisch dadurch, dass die diskursiv längst miteinander verschränkten Bereiche des Orients und der Weiblichkeit um den spezifisch männlich konnotierten Bereich des Ökonomischen ergänzt werden und es auf diese Weise zu einer Vermengung des ‚Eigenen‘ (männliche Ökonomie) mit dem ‚Anderen‘ (weiblich konnotierter Orient und europäische Frau) kommt. Im ‚London Bazaar‘ wird ein Punkt erreicht, an dem die auf Dominanz ausgerichtete, männliche Geschlechterpolitik des 19. Jahrhunderts sowohl bezüglich des Orients als auch bezüglich Frauen im Kern in Frage gestellt wird, vor allem da sich durch die Verbindung von Frau und Ökonomie zwei zentrale Weiblichkeitsnarrative des 19. Jahrhunderts zu vermengen drohen: das der Hausfrau/Mutter und das der Prostituierten. Basare – so das stereotyp wiederholte Argument – würden nicht nur einer der elterlichen Kontrolle entzogenen Eheanbahnung des weiblichen Nachwuchses dienen, sondern gleichermaßen die halbweltlichen Aktivitäten des weiblichen Verkaufspersonals befördern.26

4. Mode und Orientalismus Völlig anders wird ab der Mitte des 19. Jahrhunderts jener Bereich wahrgenommen, in dem man mit der Verbindung von Orient und Weiblichkeit gute Geschäfte machen kann. Dies betrifft, wie eingangs angedeutet, insbesondere den Handel mit Luxusgütern wie Schmuck, Parfüm oder modischer Kleidung. Dabei geht es nicht bzw. nur am Rande darum, tatsächlich Luxuswaren aus dem Orient zu veräußern. Im Gegenteil, es wird vielmehr ein seit der Antike gepflegter OrientStereotyp (Stichwort: arabia felix)27 ökonomisch ausgebeutet, der den Ursprung vieler europäischer Luxusgüter und Genussmittel im Nahen und Fernen Osten ansiedelt, was, zumindest im 19. Jahrhundert, nur noch teilweise den tatsächlichen Handelswegen entspricht.28 Vor al26

27

28

Vgl. Dyer. Vanity Fair (wie Anm. 22). S. 197, 209 u.ö. sowie Gordon. Bazaars (wie Anm. 23). S. 2ff. Vgl. Herodot. Historien III. 107-113 u. Maurice Sartre. „Les arabes nomades d’Arabie du nord-ouest d’Alexandre au haut-empire“. Le désert. Image et réalité. Actes du Colloque de Cartigny 1983. Leuven 1989. S. 139. Dies wird schon von Balzac ironisch kommentiert. Vgl. Balzac. Birotteau (wie Anm. 5). S. 356.

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lem im Bereich modischer weiblicher Kleidung, die im 19. Jahrhundert fast ausschließlich in Europa hergestellt wird, ist der Orient nicht nur als Modeströmung, sondern schon in der teilweise bis ins 14. Jahrhundert zurückreichenden Benennung von exklusiven Stoffen präsent: Musselin, Chiffon, Atlas, Satin, Damast29, Crêpe de Chine sowie andere Seiden werden im 19. Jahrhundert bevorzugt für die Anfertigung repräsentativer Damenmode verwendet.30 Aber nicht nur Stoffe, die im Bereich exklusiver Modewaren verarbeitet und verkauft werden, produzieren bzw. reproduzieren die diskursive Verbindung von Orient und Weiblichkeit. Es ist auch der Begriff des ‚Bazars‘ selbst, der sich, wie geschildert, im Bereich des Luxus-Warenhandels um die Mitte des 19. Jahrhunderts auf breiter Front etabliert. In bewusster Umkehrung der Positionsbestimmungen, wie sie an den Diskussionen um den ‚London Bazaar‘ ablesbar sind, wird im Sinne einer kapitalistisch agierenden Ökonomie der diskursive Konnex von Weiblichkeit und Orient positiv besetzt und gerade jene sinnliche Verführungskraft betont, die der von der Angst vor dem ‚Anderen‘ kennzeichnete OrientDiskurs auszuschließen versucht. Dass diese positive Besetzung des Orients allerdings gewissen Regeln zu folgen hat, zeigt sich beispiel29

30

Musselin, benannt nach Mossul am Tigris, Chiffon von arab. schiff = durchsichtiger Stoff, Atlas, von arab. atlas = glatt; Satin, von arab. atlas zairtuni = glattes Gewebe aus Tsia-toung (arab. Zaytûn), einem chinesischen Ausfuhrhafen, Damast, benannt nach Damaskus (arab. dimašq ) in Syrien. In Émile Zolas Roman Au Bonheur des Dames (1883) findet sich hierzu eine bezeichnende Passage: „À la soie, la foule était aussi venue. […] C’était, au fond du hall, autour d’une des colonnettes de fonte qui soutenaient le vitrage, comme un ruissellement d’étoffe, une nappe bouillonnée tombant de haut et s’élargissant jusqu’au parquet. Des satins clairs et des soies tendres jaillissaient d’abord: les satins à la reine, les satins renaissance, aux tons nacrés d’eau de source; les soies légères aux transparences de cristal, vert Nil, ciel indien, rose de mai, bleu Danube. Puis, venaient des tissus plus forts, les satins merveilleux, les soies duchesse, teintes chaudes, roulant à flots grossis. Et, en bas, ainsi que dans une vasque, dormaient les étoffes lourdes, les armures façonnées, les damas, les brocarts, les soies perlées et lamées, au milieu d’un lit profond de velours, tous les velours, noirs, blancs, de coleur, frappés à fond de soie ou de satin, creusant avec leurs taches mouvantes un lac immobile […].“ Émile Zola. Au Bonheur des Dames. Préface de Jeanne Gaillard. Édition établie et annotée par Henri Mitterand. Paris 1980. S. 140f.

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haft an der Rechtfertigung des Zeitschriftentitels, wie man ihn in der ersten Ausgabe des Modemagazins Harper’s Bazar vom 2.11.1867 finden kann. Gleich zu Beginn heißt es: A Bazar, in Oriental parlance, is not a vulgar market-place for the sale of fish, flesh, and fowl, but a vast repository for all the rare and costly things of earth – silks, velvets, cashmeres, spices, perfumes, and glittering gems; in a word, whatever can comfort the heart and delight the eye is found heaped up there in bewildering profusion. Such a repository we wish Harper’s Bazar to be, combining the useful with the beautiful, and aiming to include every thing that will be interesting to the family circle, for whose use it is designed.31

Wenig später wird zudem auf „the celebrated Bazar of Berlin“ rekurriert, eines der führenden „European fashion journals“. Harper’s Bazar versucht also auf mehreren diskursiven Ebenen, jene Verdachtsmomente zu entkräften, die im Rahmen des negativ besetzten OrientDiskurses privilegiert werden. Zwar wird zunächst der bekannte diskursive Konnex von Orient, Luxus und Weiblichkeit hervorgehoben, dabei jedoch ausdrücklich die vulgäre Semantik des Begriffs als gewöhnlicher Fisch-, Fleisch- oder Geflügelmarkt zurückgewiesen. Zweitens wird ein autoritativer Bezug zu einer anderen renommierten Modezeitung mit demselben Titel hergestellt, womit nicht nur ein Teil der Beweislast bezüglich der Titelgebung an die früher gegründete Zeitschrift abgegeben, sondern zugleich auch eine Traditionslinie suggeriert wird, bei der Modezeitschriften eben den Titel ‚Bazar‘ tragen. Drittens richtet sich das Modemagazin nicht allein an die Frau, sondern – was entscheidend ist – an den „family circle“ insgesamt. So heißt es an späterer Stelle deutlicher: „Harper’s Bazar is designed to be a Family Journal, in the true sense of the word, and it is hoped that its literary merit will equal its practical utility.“32 Schließlich zeigt Harper’s Bazar durch den erläuternden Untertitel „Repository of Fashion, Pleasure and Instruction“, dass die gewöhnlich als transgressiv betrachteten Elemente Orient, Luxus und Weiblichkeit unter eine die Sinnlichkeit reglementierende Perspektive, nämlich „Instruction“, gestellt werden. Die Adressatinnen der Zeitschrift, die besser gestellten Bürgerfrauen, die sich die in der Zeitschrift präsentierten Luxuswaren 31 32

Harper’s Bazar vom 2.11.1867. S. 2. Sp. 1. Ebd., Sp. 2.

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und Modeartikel leisten können, werden also klar mit Bereichen identifiziert, die ihr gemäß des zeitgenössischen Geschlechtermodells zugewiesen sind. Die diskursive Strategie, die Harper’s Bazar mit der Rechtfertigung des Titels verfolgt, ist auf diese Weise eindeutig auf eine Eingrenzung bzw. eine Neutralisierung des ‚Anderen‘ ausgerichtet. Zugleich aber wird versucht, den zentralen diskursiven Konnex zwischen Weiblichkeit, Sinnlichkeit, Mode und Luxus zu retten. Dass dieses paradox anmutende Projekt diskurspraktisch gelingen kann, liegt daran, dass vom Magazin in keiner Weise die männlich dominierte Geschlechterpolitik in Frage gestellt wird. Es kommt, schon auf der medialen Ebene (man liest die Zeitschrift zu Hause!), zu einer Bestätigung der klaren Trennung zwischen männlich konnotiertem öffentlichen Raum und weiblich konnotiertem privaten Raum. Im Kreis der Familie ist es erlaubt, eine nicht nur unterhaltsame, sondern vor allem auch lehrreiche Modezeitschrift zu lesen, die sich zudem noch mit praktischen Fragen der Haushaltung befasst.33 Die potentiellen Gefahren des Orients werden also im Sinne der zeitgenössischen Geschlechterökonomie reterritorialisiert. Damit wird, zumindest diskursiv, gewährleistet, dass die transgressiven Energien des Orients und der Frau keine allzu feste Bindung eingehen. Wie aus den bisherigen Analysen ersichtlich ist, kreuzen sich im Begriff ‚Basar‘ verschiedenste Diskurse. Nicht nur die Polemik rund um den ‚London Bazaar‘, auch die Selbstrechtfertigung von Harper’s Bazar machen deutlich, dass die bürgerliche, das heißt männliche Kritik eine diskursive Strategie der Eindämmung des ‚Anderen‘ im ‚Eigenen‘ verfolgt. Dem ‚Anderen‘ werden lediglich bestimmte diskursive Räume zur Entfaltung zugestanden, die, aus der Distanz betrachtet, sogar reizvoll sein können. Grenzüberschreitungen sind lediglich von Seiten des ‚Eigenen‘ legitimierbar, nicht aber von der Seite des ‚Anderen‘ aus, da dies grundlegende, diskurspolitisch relevante Rede- und Verhaltensdispositive in Frage stellen würde: Heterogenes, Orientalisches, Luxuriöses und Weibliches wird nur unter der Bedingung gestattet, dass sich es dem Homogenen, Okzidentalen, Spartanischen und Männlichen unterordnet. Wo diese Hierarchie unterlaufen wird, 33

„Being intended largely for ladies it will devote a considerable space to the matters which fall particularly under their jurisdiction, such as dress, and household affairs.“ Ebd., S. 2. Sp. 1 (Hervorheb. U.L.).

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steht, wie im Folgenden gezeigt wird, die gesamte ‚Kultur des Abendlandes‘ auf dem Spiel.

5. ‚Bazar‘ als politischer Kampfbegriff Hervorragende Dichter und Denker haben hier und da in ihren Werken dem zweibeinigen Geschöpfe Mensch mancherlei Dummheit nachgewiesen und manche hanebüchene Grobheit gesagt. Der gröbste Mensch aber ist der Bazarist. Zwar sagt er seinen Mitmenschen keine Scheltworte ins Gesicht, das ist richtig. Aber die Sicherheit, mit der er auf die Leichtgläubigkeit und die Torheit des Publikums setzt, ist geradezu beleidigend für unsere sonst so empfindlichen Zeitgenossen.34

Dies schreibt 1903 ein anonym bleibender Autor35 in einer (in Anlehnung an Émile Zolas Roman Au Bonheur des Dames) mit Im Paradies der Damen betitelten Broschüre. Diese Broschüre setzt sich mit dem ökonomischen Aufstieg der modernen Warenhäuser auseinander, der – das Zitat deutet es an – nicht nur wirtschaftliches Unheil über 34

35

Im Paradies der Damen. 10. Aufl. Hamburg 1903. S. 13 (Hervorheb. U.L.) Laut Johannes Wernicke handelt es sich bei dem anonymen Autor um Emil Suchsland (vgl. Johannes Wernicke. „Der Kampf um das Warenhaus und die Geschichte des Verbandes Deutscher Waren- und Kaufhäuser e.V. bis Ende 1916“. Hg. Verband deutscher Waren und Kaufhäuser e.V. Probleme des Warenhauses. Beiträge zur Geschichte und Erkenntnis des Warenhauses in Deutschland. Berlin 1928. S. 13-44, hier: S. 17), der in der Zeit von 1903 bis 1910 zahlreiche Broschüren zum Thema Warenhaus verfasste, die teilweise in Auflagen von mehreren zehntausend Exemplaren erschienen: Los von den Konsumvereinen und Warenhäusern! Eine Mahnung und eine Bitte an alle Vaterlandsfreunde zur Erhaltung des gewerblichen Mittelstandes in Stadt und Land, als des Fundamentes unseres Staatswesens und unserer Kultur (1903), Schutz- und Trutzwaffen für den gewerblichen Mittelstand in seiner Notwehr gegen die Konsumvereine und Warenhäuser (1904), Die Klippen des sozialen Friedens. Ernste Gedanken über Konsumvereine und Warenhäuser (1904), Notwahrheiten über Konsumvereine. Eine Diskussionsrede vom Kampfplatz mit der Sozialdemokratie (41. bis 45. Tsd. 1905), Aus den Höhen und Tiefen der Arbeit am rauhen Stein (1910). Vgl. auch Ludwig Berekoven. Geschichte des deutschen Einzelhandels. 4. Aufl. Frankfurt a.M. 1988. S. 37.

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den mittelständischen Kleinhandel bringt, sondern die Grundlagen einer ganzen Kultur, hier der deutschen ‚Hochkultur‘, in Frage stellt: Wehe uns allen, wenn erst das Großkapital [der Warenhäuser und der sie finanzierenden Banken, U.L.] die übrige Konkurrenz besiegt und seine brutale Monopolherrschaft errichtet hat: Was angeblich klein angefangen, bedeutet alsdann Hunger und Sklaventum des ganzen Volkes! 36

Um 1900 findet man Äußerungen dieser und ähnlicher Art in zahlreichen Schriften, die sich mit dem ökonomischen Erfolg der Warenhäuser befassen. Vor allem in Deutschland37 nimmt die Diskussion nicht selten den Charakter einer systematisch organisierten Hetzjagd an, die – so im Fall von Oscar Tietz in München – sogar zu PersonenschutzMaßnahmen für einzelne Warenhausbesitzer führt.38 Es wird sowohl juristisch, politisch als auch bauschutzpolizeilich versucht, der weiteren Expansion der Warenhäuser Einhalt zu gebieten. Doch alle Maßnahmen laufen ins Leere, denn die Warenhäuser prosperieren bis zum Ersten Weltkrieg uneingeschränkt weiter.39 Wie erwähnt, wird um 1900 der Begriff ‚Warenhaus‘ vielfach synonym zu ‚Basar‘ gebraucht. Dies machen sich viele der Pamphletisten aus den Reihen der Warenhaus-Gegner zunutze, um – ähnlich den Vorhaltungen gegenüber dem ‚London Bazaar‘ – die Warenhäuser nicht nur als wirtschaftliche Gefahr, sondern als Bedrohung der eigenen Kultur hinzustellen. Im Vergleich zu den Auseinandersetzungen 36 37

38

39

Paradies der Damen (wie Anm. 34). S. 13 (Hervorheb. U.L.). Schon Zeitgenossen weisen auf die spezifische Situation in Deutschland hin. Weder in Frankreich noch in England oder Amerika entwickelt sich eine derart grundsätzliche Diskussion. Vgl. Franz C. Huber. Warenhaus und Kleinhandel. Berlin 1899. S. 75ff. Vgl. Nils Busch-Petersen. Oscar Tietz. Von Birnbaum/Provinz Posen zum Warenhauskönig von Berlin. Teetz 2004. S. 27. Zahllose Klagen gegen Warenhäuser wegen unlauteren Wettbewerbs, Betrugs oder falscher Maße und Gewichte werden bei Gerichten angestrengt; von den Landesparlamenten werden in fast allen Einzelstaaten des Deutschen Reiches zwischen 1900 und 1914 Warenhaussteuern beschlossen; von Seiten der Bauschutzpolizei wird versucht, mittels spezieller Bau- und Brandschutzverordnungen auch die räumliche Größe von Warenhäusern zu beschränken. Zu allen diesen Fragen vgl. die hervorragende Studie von Detlef Briesen: Warenhaus. Massenkonsum und Sozialmoral. Zur Geschichte der Konsumkritik im 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M./New York 2001.

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um den ‚London Bazaar‘ verschärft sich allerdings der Ton. So vermeidet Paul Dehn in seiner 1899 publizierten Schrift Die Großbazare und Massenzweiggeschäfte konsequent die Begriffe ‚Warenhaus‘ und ‚Großmagazin‘. Wie schon der Titel ankündigt, ist bei Dehn ausschließlich vom ‚Großbazar‘ die Rede. Dehn konzentriert sich in seinen Ausführungen einerseits auf die in seinen Augen dubiosen Geschäftspraktiken der ‚Großbazare‘: Das Entstehen dieser Großbazare hängt zusammen mit der Entwicklung des unlauteren Wettbewerbs in Gestalt von Nachahmungen aller Art, Qualitätsfälschungen, Quantitätsverkürzungen, Scheinausverkäufen und Scheinauktionen, Gelegenheits-, Reste- und Partiegeschäften. […] Allzu lange Zeit hat man diese Geschäftspraktiken ungehindert emporwuchern lassen.40

Andererseits geraten die Arbeitsbedingungen der Angestellten, die Beziehungen zwischen Warenhäusern und Industrie sowie die Auswirkungen der Warenhausgründungen auf den mittelständischen Kleinhandel in den Fokus der Polemik. Der Aufstieg der ‚Großbazare‘ habe nicht nur eine „Proletarisierung der Geschäftsgehilfen“41 und „Proletarisierung der mittleren Geschäftsleute“42 zur Folge, sondern zudem eine „Proletarisierung der Industrie“43, über welche die ‚Großbazare‘ in Fragen der Preisgestaltung und Lieferbedingungen längst die Kontrolle übernommen haben. In Nordamerika, wo die Entwicklung weiter als Europa fortgeschritten sei, könne man sehen, wohin dies in letzter Konsequenz führe: Was wird die Zukunft noch an ähnlichen Kulturfortschritten bringen? Am weitesten voran ist man in Nordamerika. Ein Großbazar John Wanamaker in New-York, kündigte Anfang Januar 1899 an: ‚Als besondere Anziehungskraft gilt noch die außergewöhnliche Orientalische Ausstattung im Erdgeschoß. Da ist ein wirklicher Bazar. Syrische Musik, – Orchester- und Vokal-Musik, – Stickereien von Damaskus, ein japanischer Maler, der türkische Pantoffelmacher, der syrische Filigran-Arbeiter, der Herr Chinese und die Frau Chinesin, der Japanese, – die letzteren sind Verkäufer – lauter lebenswahre, lebendige 40

41 42 43

Paul Dehn. Die Großbazare und Massenzweiggeschäfte. Berlin 1899. S. 5f. Ebd., S. 46. Ebd., S. 62. Ebd., S. 56.

260

Uwe Lindemann Vertreter ihrer Völker. Bei Wanamaker ist’s gut sein, für Unterhaltung ist gesorgt.‘ 44

Der ‚Großbazar‘ dient hier nicht mehr nur als Projektionsfläche der Gefahren, die vom Orient für die westliche Zivilisation und Kultur ausgehen. Bei Dehn ist das Warenhaus de facto zu einem Basar geworden und damit letztlich das, was es seiner wirtschaftlichen und kulturellen Bestimmung nach immer schon war. Am Ende des Textes wird Dehn deutlicher: Und wenn man diejenigen Spekulanten mustert, die diese Geschäfte [die Warenhäuser, U.L.] ins Leben rufen, so muß man sagen, daß hier auf orientalische Art ein Raubzug unternommen wird, wie er so dreist und umfangreich kaum jemals versucht worden ist. Deutschfremde Emporkömmlinge, unersättliche Spekulanten, nach Angabe Sachverständiger nur etwa 20 bis 30 Gründer, fast ausschließlich Juden sind es, die dahinter stehen, und unterstützt von der Kapitalskraft sog. Erster Banken mit erstaunlicher Skrupellosigkeit planmäßig und gewerbsmäßig das deutsche Geschäftsleben revolutionieren. 45

Während sich Dehn hauptsächlich auf wirtschaftliche Fragen konzentriert, liegt der Akzent in Im Paradies der Damen auf der destruktiven Kraft der ‚Großbazare‘ für die Kultur und Gesellschaft im Ganzen. Analog zu den Diskussionen um den ‚London Bazaar‘ wird in Im Paradies der Damen vor allem die moderne, sich um das Warenhaus herum konstituierende Konsumkultur kritisch betrachtet: Eines muß der Neid selbst den Warenhäuslern lassen: Sie kennen die Menschen, im besonderen diejenigen weiblichen Geschlechtes genau. Sie wissen, daß der Blick des Weibes – von Ausnahmen abgesehen – nur wenig die Oberfläche einer Sache durchdringt. Der Schein gilt mehr als das Sein. Darum hypnotisiert er die Käuferin vor dem Eintritt durch einen Blick in’s Schaufenster.46

Das Warenhaus wird als Ort der Verführung, des Amoralischen und der sozialen Transgression gekennzeichnet. Es ist ein Ort der bewuss-

44 45 46

Ebd., S. 38 (Hervorheb. U.L.). Ebd., S. 68 (Hervorheb. U.L.). Vgl. Im Paradies der Damen (wie Anm. 34). S. 13.

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ten Täuschung, Ausbeutung und Prostitution.47 Im Vergleich zur Selbstrechtfertigung von Harper’s Bazar, die durch die Fixierung der Frau auf den Bereich des Häuslichen eine Möglichkeit einer Kontrolle durch den Mann diskursiv verwirklicht, kann dies im öffentlichen Raum des Warenhauses bzw. ‚Großbazars‘ nicht mehr gewährleistet werden. Zwar ist im Zitat die Figur des „‚Warenhäuslers‘“ noch männlich konnotiert, doch dessen ökonomisches Ziel besteht gerade in einer Entfesselung der transgressiven Energien des Weiblichen: Willenlose Käuferinnen konsumierten nicht nur mehr als rational agierende oder gar Männer, sondern sie stehen immer in Gefahr, vollkommen die Kontrolle über ihr auf den Konsum gelenktes, transgressives Begehren zu verlieren. So versäumt es der anonyme Autor von Im Paradies der Damen nicht, das um 1900 vielfach diskutierte Thema der weiblichen Kleptomanie anzusprechen.48 Was in den Diskussionen um den ‚London Baazar‘ eine primär moralische Dimension besaß, verlagert sich, entsprechend zeitgenössischer sozialanthropologischer Auffassungen, ins Biologische und damit ins Pathologische. Schon 1893 schreibt Cesare Lombroso in seiner gemeinsam mit Guglielmo Ferrero verfassten Studie La donna delinquente, la prostituta e la donna normale (1893)49: 47

48 49

Vgl. hierzu auch folgendes Zitat aus demselben Text: „Das große Warenhaus übt schließlich bei einzelnen Naturen fast die gleiche Anziehungskraft aus, wie die Kirche auf andere ausübt. […] Bei manchen Frauen erreicht die Eingenommenheit für die eine oder andere dieser Karawansereien einen solchen Grad, daß es ihnen dabei ebenso unmöglich, ja sogar noch unmöglicher wird, einen regelmäßigen, manchmal täglichen Besuch im Bon Marché, Louvre oder Printemps zu versäumen, als den wöchentlichen Besuch in der Kirche. […] Das ist nicht mehr Phantasie, sondern Bedürfnis, das ist nicht mehr Zerstreuung, sondern Kultus, und in der Tat, die Art, in der die Versuchung in den großen Warenhäusern organisiert ist, ist über jeden Lobspruch erhaben, und Satan selbst hätte es nicht besser machen können.“ (Ebd., S. 32; Hervorheb. U.L.). Dieser Abschnitt ist selbst ein Zitat aus dem Berliner Tageblatt vom 7.2.1903. Der anonyme Autor zitiert voller Zustimmung den Zeitungsartikel. Ebd., S. 35. Der Text wurde unter dem Titel Das Weib als Verbrecherin und Prostituirte schon 1894 ins Deutsche übersetzt. Aus dieser (autorisierten) Ausgabe wird im Folgenden zitiert: Cesare Lombroso/Guglielmo Ferrero. Das Weib als Verbrecherin und Prostituirte. Anthropologische Studien, ge-

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Uwe Lindemann Der Ladendiebstahl ist seit der Entstehung der modernen Riesenbazare eine specifische Form der weiblichen Kriminalität geworden; die Gelegenheit zum Verbrechen liegt darin, dass hier zahllose Dinge vor weiblichen Augen ausgestellt sind und die Begehrlichkeit reizen, während die vorhandenen Mittel nur spärliche Einkäufe gestatten.50

Und schon früher heißt es in der gleichen Studie über die ‚Putzsucht‘ von Frauen: Das Weib hat dagegen dies Gefühl [der Eitelkeit, U.L.] allmählich erworben, indem die sexuelle Zuchtwahl das Bedürfnis hervorrief, ihre Reize in möglichst helles Licht zu setzen, – ein Bedürfnis, das ebenso egoistisch ist und demselben Mangel an Intelligenz entspringt, wie beim Wilden. So wünscht bei festlichen Gelegenheiten jede Frau, dass alle Männer sich ausschließlich mit ihr beschäftigen. […] Das Kleid ist quasi die Fortsetzung ihres Körpers – und deshalb sehen wir Frauen Morde begehen, um sich in den Besitz eines Halsbandes zu bringen.51

Entscheidend bei diesem Zitat ist nicht, dass bei Lombroso der ‚Orientale‘ durch den „Wilden“ ersetzt wird, sondern dass der geschlechterpolitische Diskurs von einem biologistischen Dispositiv begründet wird. Erst dies macht die diskursive Zuspitzung der Vorwürfe gegen den ‚Großbazar‘ in der Form möglich, wie sie bei Dehn und in Im Paradies der Damen zu finden ist. Nicht die Tatsache, dass der Orient um 1900 weiterhin eine zentrale diskursive Referenz für die Konstruktion eines vom ‚Eigenen‘ unterschiedenen ‚Anderen‘ darstellt, ist primär für diese Zuspitzung verantwortlich, sondern die Umstellung der Argumentationsmuster auf einen biologistischen Diskurs, der sich überdies wissenschaftlich belegen lässt. So unterminieren die Warenhäuser nicht mehr nur die gesellschaftliche Moral und bürgerlichen Geschlechterverhältnisse im öffentlichen wie im privaten Raum. Sie stellen vielmehr den Fortbestand des „Volkes“ generell in Frage, das den „Kampf ums Dasein“52 gegen die Großkapitalisten zu verlieren

50 51 52

gründet auf eine Darstellung der Biologie und Psychologie des normalen Weibes. Autorisierte Übers. v. H. Kurella. Hamburg 1894. Ebd., S. 459. Ebd., S. 154 (Hervorheb. U.L.). Im Paradies der Damen (wie Anm. 34). S. 26.

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droht. In der Schrift Zum Kampfe gegen die Waarenhäuser (1899) von A. Grävéll heißt es dementsprechend: Es muss in der ganzen Waarenhausfrage etwas stecken, was dem Empfinden unserer Volksseele zuwiderläuft, was die Massen, noch ehe sie über den eigentlichen Inhalt und Charakter der Frage aufgeklärt wurden oder sonst sich klar geworden sind, instinktiv gegen sie einnimmt. Mit einem Worte: Die Waarenhäuser müssen unserem Volke als etwas Fremdes, Feindliches erscheinen, das bekämpft, das ausgerottet zu werden verdient.53

Um 1900 bilden Kapitalismuskritik, Orientalismus, Antisemitismus, Geschlechterpolitik und sozialdarwinistisches Gedankengut eine – aus späterer Zeit betrachtet – unheilvolle diskursive Konstellation. Auch wenn schon zu diesem Zeitpunkt verschiedene Wissenschaftler darum bemüht sind, die Diskussion zu versachlichen54, zeigen die angestell53

54

A. Grävéll. Zum Kampfe gegen die Waarenhäuser! Eine Zeit- und Streitfrage. Dresden-Blasewitz 1899. S. 5; vgl. S. 10. Dankbar werden die Nationalsozialisten die hier vorgefertigten Argumentationsmuster übernehmen. So wird man bei Hans Buchner in Warenhauspolitik und Nationalsozialismus (1930) Folgendes lesen: „Vor kurzer Zeit erschien eine Jubiläumsschrift des Verbandes der Warenhäuser. Eine Mustergalerie von Charakterköpfen zeigte die dabei angefügte Photosammlung der Warenhauskönige. Da findet man sie beisammen, wie wenn sie einem Rasseforscher die Arbeit erleichtern wollten: die teils reinrassigen Typen der Schocken, Grünbaum, Knopf, Hirsch und die halben Talmiköpfe der Tietz, Wronker, Joske, Ury und wie sie alle heißen, die aus Birnbaum und von weiter östlich her kamen, von dort, wo der Kaftan und die Hängelocke bis auf diesen Tag zu unentbehrlichen Requisiten der Volkszugehörigkeit zählen […]. Sie haben in wenigen Jahren verstanden, durch ein sorgsam vertarntes Ramschsystem reich zu werden, den ehrlichen Kaufmann mit Schleuderpreisen zu schlagen, Handwerk und Gewerbe im weiten Umkreis an die Wand zu drücken, eine Inflation von Stapel- und Kellerwaren ins Werk zu setzen, die der breiten Masse durch schlau garnierte Vorspiegelung falscher Tatsachen oft die letzten Notpfennige aus der Tasche holt. […] Da stehen in den Großstädten die Prunkpaläste des halbwegs seßhaft gewordenen Hausiergeistes, die ebenso wie der Wanderjude in seinem Trödelladen einen bunten, mit Kaufreiz spekulierenden Krimskrams enthalten.“ Zit. nach: Konrad Fuchs. Ein Konzern aus Sachsen. Das Kaufhaus Schocken als Spiegelbild deutscher Wirtschaft und Politik 1901 bis 1953. Stuttgart 1990. S. 16-17. Vgl. Huber. Warenhaus (wie Anm. 37). Udo Baumgarten. Die Bedeutung der Warenhäuser für die deutsche Volkswirtschaft. Diss. Tübingen 1911

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ten Analysen, dass im Rahmen der Warenhausproblematik der Status der Moderne um 1900 insgesamt reflektiert wird – einer Moderne, die alle bisherigen kulturellen, sozialen, geschlechterpolitischen und ökonomischen Werte zu beseitigen droht. Der ‚Großbazar‘ steht hier als Pars pro toto für eine Logik umfassender Entgrenzung, der man offenbar nur mit einer umso schärferen Politik der Differenz begegnen kann.

6. Alles nur Literatur? Aus heutiger Sicht mag es erstaunen, mit welcher Vehemenz und mit welchem diskurspolitischen Aufwand um 1900 die Diskussion um das Phänomen des Warenhauses bzw. ‚Großbazars‘ geführt wird. Es konstituiert sich, wie skizziert, ein spezifischer Diskurs, der eine Vielzahl von anderen Diskursen zusammenführt und ein in hohem Maße eigenständiges System von Aussagenverkettungen und Autorpositionen entwickelt. Vor allem die Verschränkung von Orientalismus und Hochkapitalismus verdeutlicht die enorme Kraft des Warenhaus-Diskurses, Heterogenes im Sinne einer kritischen Selbstbeschreibung der Moderne zu homogenisieren.55 Ein zentraler Text, der diese Homogenisierungsleistung dieses Diskurses früh vorführt, ist der Roman Au Bonheur des Dames von Émile Zola. Bekanntlich versucht Zola in seinem Roman nicht nur die zahlreichen wirtschaftlichen, geschlechterpolitischen, kulturellen und sozialen Veränderungen zu beschreiben, die das moderne Phänomen des ‚Großbazars‘ mit sich bringt, sondern der Roman weist bereits jene diskursive Konstellationen auf, wie sie für die spätere Diskussion bestimmend sein werden, insbesondere vor dem Hintergrund der Orientalismus-Problematik.56 Mir geht es zum Schluss allerdings nicht darum, die Herkunft der verschiedenen, bei Zola vorfindbaren diskursiven Elemente zu klären oder die Unterschiede und Gemeinsamkeit zwischen der französischen Situation um 1880 und der deutschen um 1900 aufzuzei-

55

56

sowie Julius Hirsch. Das Warenhaus in Westdeutschland; seine Organisation und Wirkungen. Leipzig 1910. Obwohl, wie erwähnt, bereits früh ein diskursiver Konnex zwischen beiden Bereichen hergestellt wird, vgl. die Ausführungen zu Börne und Balzac im Fließtext. Vgl. Zola. Bonheur (wie Anm. 30). S. 123 u. S. 149f.

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gen. Der Roman soll vielmehr auf den diskursiven Status hin befragt werden, den er in Bezug auf die deutsche Diskussion einnimmt. Ich habe darauf hingewiesen, dass das Pamphlet Im Paradies der Damen fast wörtlich den Titel der deutschen Übersetzung57 von Zolas Roman übernimmt. Auch im Text selbst finden sich mehrere Würdigungen von Zolas Werk. So heißt es zum Beispiel: „In meisterhafter Weise zeichnet er [Zola, U.L.] die schillernde Außenseite der modernen Warenhauspaläste. Seinem scharfen Auge entgeht nichts. Gerade darum weiß er auch die furchtbar dunklen Schatten zu malen, die sie werfen.“58 Und später: „Was einzelne dieser Herren [die Warenhausbesitzer, U.L.] als Trostmittel über ihre eigene Misere an ‚Gefälligkeiten‘ seitens ihrer [weiblichen, U.L.] Untergebenen beanspruchen, mag man bei Zola nachlesen.“59 Bei Lombroso und Ferrero in der schon zitierten Studie La donna delinquente, la prostituta e la donna normale heißt es: Uebrigens hat Zola diese Form des Diebstahls [die Kleptomanie, U.L.] sehr wahrheitsgetreu in einem seiner Romane Au bonheur des dames beschrieben. Er beschreibt besonders anschaulich die Wirkung der Modenausstellungen im Frühjahre und Herbst, welche die Damen besuchen wie ein Ingenieur eine Maschinenausstellung […].60

Auch bei Dehn wird Zola erwähnt, jedoch in einen anderen Zusammenhang gestellt.61 Als letztes Beispiel (und diese Beispiele ließen sich fast beliebig vermehren) sei ein Artikel aus dem von Johannes Conrad und Ludwig Elster herausgegebenen Handwörterbuch der Staatswissenschaften angeführt. Hier heißt es im Artikel „Warenhäuser und Warenhaussteuer“ in der 3. Auflage des Lexikons von 1911: Es braucht nicht hervorgehoben zu werden, daß namentlich unsere Hausfrauen, mögen sie den unteren oder den oberen Klas57

58 59 60 61

Schon vor 1900 wurde Zolas Roman zweimal ins Deutsche übersetzt: Zum Paradies der Damen. Übers. v. Heinchen, Berlin 1890; Dass.: Armin Schwarz. (In: Die Rougon Macquart. Bd. 11. Budapest 1895). Paradies der Damen (wie Anm. 34). S. 9. Ebd., S. 42. Lombroso/Ferrero. Weib (wie Anm. 49). S. 460. Dehn fordert ein Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb mit Hilfe von Lockartikeln. Eines dieser Lockmittel sind Bücher von jugendgefährdenden Autoren, wie Émile Zola einer sei. Vgl. Dehn. Großbazare (wie Anm. 40). S. 21.

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Uwe Lindemann sen angehören, denen gegenüber wir Männer reine „Kaufdilettanten“ sind, besonders empfänglich für solche Ersparnisse im Einzelkaufe sind. Den Hausfrauen liegt ja in erster Linie der Detaileinkauf ob. Während zahllose Hausherren viel zu bequem sind, vielfach auch keine Zeit haben, anzuschreiben und zu rechnen, tun das die Frauen ausnahmslos. Man beobachte nur das börsenmäßige Verhalten der Damen in den Läden und auf den Wochenmärkten. […] Niemand hat dies Verhältnis der Damen zu den Händlern feiner geschildert als der erste der nationalökonomischen Romanschriftsteller. Emile Zola’s Romane werden auch dann noch einen bleibenden nationalökonomischen Wert haben, wenn seine krassen Sittenschilderungen durch noch naturalistischere überholt sind.62

Auch wenn Magnus Biermer, der Verfasser des Artikels, die „krassen Sittenschilderungen“ bei Zola kritisch kommentiert, dient ihm der Roman als Referenz für seine wissenschaftlichen Ausführungen. Bemerkenswert ist nicht allein, dass Zolas programmatische Anliegen bezüglich der Aufgabe und Funktion einer naturalistischen Literatur, wie er sie in Le roman expérimental (1880) entwickelt hat, offenbar auf fruchtbaren Boden gefallen sind und man fast geneigt ist, an die Richtigkeit von Zolas wissenschaftlicher Begründung von Literatur zu glauben, sondern wichtiger erscheint mir, dass bei Biermer wie bei den anderen Autoren abermals die homogenisierende Kraft des Warenhaus-Diskurses deutlich wird. In diesem Fall wird nicht einmal mehr deutlich zwischen Faktizität und Fiktionalität unterschieden. Anders ausgedrückt: Die Diskussion um das Warenhaus bzw. den ‚Großbazar‘ reproduziert diskursiv genau das, was sie ihm als einem Ort, in dem sich permanent soziale, ästhetische, ökonomische, geschlechtpolitisch relevante und – natürlich – kulturelle Grenzüberschreitungen ereignen, selbst unterstellt. Dies führt, wie bereits angedeutet, freilich nicht zu einer differenzlosen Wahrnehmung des Warenhauses bzw. ‚Großbazars‘. Im Gegenteil, man versucht vielmehr die Grenzüberschreitungen diskurspolitisch zu instrumentalisieren. Hierzu gehören auch bestimmte Textstrategien, die in fast allen Schriften anzutreffen ist, die sich um 1900 dieser Problematik widmen. Sie bestehen darin, in der ‚Analyse‘ der Warenhäuser bzw. ‚Großbazare‘ permanent bestimmte, nicht selten bei Zola entlehnte Topoi der Orts- und Figurenbeschreibung zu wiederholen. Daraus entwickelt sich eine regelrechte Topik 62

Biermer. Warenhäuser (wie Anm. 21). S. 596 (Hervorheb. U.L.).

Der Basar als Gebilde des hochkapitalistischen Zeitalters

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des Warenhauses bzw. ‚Großbazars‘, die sich zuletzt zu vergleichsweise statischen Argumentationsmustern verfestigen. Dabei ist auch Zolas Roman nur eine Durchgangsstation im Kontext einer längeren Diskursgeschichte, bei der, wie anfangs geschildert, schon im ‚Basar‘Begriff die diskursive Verbindung von kapitalistischer Ökonomie, Orientalismus und Weiblichkeit durchgespielt wird.63 Die Homogenisierungsstrategie, die auf diese Weise in den Schriften der deutschen Warenhausgegner verfolgt wird, zieht, wie angedeutet, konkrete politische Konsequenzen nach sich. Diese Strategie ist nicht allein deshalb so erfolgreich, weil es ihr gelingt, verschiedenste Diskurse ‚unter einem Dach‘ zu versammeln. Sie ist vor allem deswegen so wirksam, weil mit ihr eine permanente Typisierung vorgenommen werden kann und damit auf suggestive Weise bestimmte mit dem Orient verbundene Ängste auf die Modernisierung der kapitalistischen Ökonomie im 19. Jahrhundert sowie sich anbahnende Neudefinition bestimmter Weiblichkeitsnarrative übertragen werden können, wobei, entsprechend einer allgemeinen Tendenz zur Verwissenschaftlichung ‚weicher‘ Diskurse Ende des 19. Jahrhunderts, auf andere ‚härtere‘ Diskurse (wie Medizin, Recht und Sozialanthropologie) rekurriert wird. * Anhand der verschiedenen Etappen der Begriffs- und Diskursgeschichte des europäischen ‚Basars‘ wird deutlich, dass der Orientalismus nicht nur eine Frage der Wahrnehmung, Vereinnahmung oder 63

Bei Zolas Roman allerdings von einem ‚diskursbegründenden‘ Text zu sprechen, halte ich daher für übertrieben, obwohl dies die rezeptionsgeschichtliche Bedeutung des Textes zunächst nahe zu legen scheint. Wie aber anhand der Begriffsgeschichte von ‚Basar‘, den Diskussionen um den ‚London Bazaar‘ sowie an Harper’s Bazar gezeigt, sind die diskursiven Konstellationen bereits zu einem früheren Datum voll ausgeprägt, auch wenn sie noch nicht dezidiert an das Warenhaus geknüpft werden, das in Frankreich erst in den 1860er und 1870er Jahren, in England und Deutschland sogar noch etwas später seinen großen Aufschwung erlebt: Vgl. Michael B. Miller. The Bon Marché. Bourgeois Culture and the Department Store, 1869-1920. Princeton/New Jersey 1981 und H. Pasdermadjian. Das Warenhaus. Entstehung, Entwicklung und wirtschaftliche Struktur. Aus d. Engl. v. Heinrich Gombel. Köln: Opladen, 1954.

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Ablehnung des ‚Anderen‘ ist, sondern im Kern die Selbstdefinition der eigenen Kultur betrifft, und zwar in Bereichen, die dem Orient zunächst fern zu stehen scheinen. Was die Analysen zudem zeigen, ist, wie hilflos bestimmte Gruppen der bürgerlichen Gesellschaft den Entwicklungen der Moderne um 1900, hier des Warenhauses bzw. ‚Großbazars‘, gegenüberstehen und wie sehr sie ihre eigenen Rede- und Verhaltensdispositive in Frage gestellt sehen. Vor allem aber machen die Analysen sichtbar, wie flexibel und diskursiv verschiebbar der Begriff des ‚Basars‘ im Rahmen eines Orientkonzepts ist, das selbst von extremer Heterogenität und Ambivalenz geprägt ist. Wird der ‚Orient‘ im Kontext der beginnenden Ästhetisierung der Warenwelt in der Hälfte des 19. Jahrhunderts primär eingesetzt, um Aufmerksamkeitsressourcen im Hinblick auf bestimmte Luxusprodukte zu steigern, so ereignet sich um 1900 eine fast paradox anmutende diskursive Überkreuzung. Indem man das Warenhaus zum ‚Großbazar‘ stilisiert, wird es zugleich von einer Fremdheitserfahrung entlastet, die am ‚Orient‘ im Verlauf des 19. Jahrhunderts bereits in anderen, zumeist kolonialen Zusammenhängen abgearbeitet wurde. Das inkommensurabel ‚Andere‘ verwandelt sich so in ein lediglich ‚Fremdes‘, das man nun mit der eigenen Kultur diskursiv in Verbindung bringen kann.

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Uwe Lindemann

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Sargut Şölçün

Literarische Entdeckung türkischer Mentalität – Eine Übersicht und eine paradigmatische Textbetrachtung Die Inspirationsquelle des Titels geht auf den Essayband des 1980 verstorbenen französischen Germanisten Robert Minder zurück. Minders in diesem Band gesammelte Aufsätze setzen sich in erster Linie mit der deutschen Geschichte und Kultur auseinander, beleuchten sie vielseitig und kritisch und verdeutlichen dabei, wie erkenntnisreiche Perspektiven die Beschäftigung mit der Nationalliteratur für das komplexe Verständnis der jeweiligen Gesellschaft eröffnen und den Blick für ihre Mythologisierung und Ideologisierung schärfen kann. Wohl unter dem Einfluss der geleisteten Arbeit betont der Herausgeber des Essaybandes in seinem Nachwort, daß die Literatur […] eine durch kein anderes Medium zu ersetzende Quelle unserer Kenntnis von der Entstehung und Tradierung mentaler Verhaltensweisen des einzelnen und mehr noch großer gesellschaftlicher Gruppen ist.1

Wie die funktionelle Beschaffenheit der Literatur bei der Untersuchung der Mentalitäten in diesem Zitat versprachlicht wird, mag manchem Leser etwas übertrieben vorkommen. Abgesehen davon wird bei dieser Bezugnahme auf die Produktivität der Minderschen Vermittlungsarbeit auf die Wirksamkeit und Geschichtsträchtigkeit der in der Literatur hergestellten Zusammenhänge hingedeutet. Lesen wir den Herausgeber weiter: Als Gefäß menschlicher Erinnerung und Erfahrung gibt Literatur in Minders Verständnis Auskunft über die Befindlichkeit des Menschen in dieser Welt und über seine projektiven Träume, besitzt sie einen unschätzbaren Erlebniswert und vermittelt sie einen hohen Lustgewinn; Literatur kann aber auch das Gefäß abgeben für eine Talmi-Wirklichkeit, kann ein Transportmittel verlogener Bilder und falscher Sinnstiftung sein.2 1

2

Robert Minder. Die Entdeckung deutscher Mentalität. Hg. Manfred Beyer. Leipzig: Reclam, 1992. S. 367. Ebd.

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Auch hier fällt ein fast grenzenloses Vertrauen zur literarischen Wirkung auf – trotz der generalisierenden Aussage ist eine Relativierung der subjektiven Befangenheit notwendig, die aus den Attributen ‚unschätzbar‘ und ‚hoch‘ herauszuhören ist; und ‚verlogen‘ und ‚falsch‘ sind Adjektive, die sich außerhalb ihrer Kontextualität wie ahistorische Abstraktionen lesen. Allerdings macht uns die Stellungnahme auf die Ambivalenz des Erkenntniswertes an der Schnittstelle der literarischen Wirkung aufmerksam, was für mein Thema nicht ohne Bedeutung ist. Die Überwindung der Ambivalenz scheint mir möglich, wenn die Fragestellung nicht als Suche nach ‚historischer Wahrheit‘ in der Literatur formuliert, sondern die Literatur als Bestandteil der Geschichte untersucht wird. Somit bleibt auch ihr Beitrag zur so genannten historischen Wahrheit innerhalb legitimer Grenzen ihres Spezifikums. Und von dieser Möglichkeit ausgehend nehme ich einen Paradigmenwechsel vor: Mein Gegenstand ist nicht die einheimische Literatur, sondern die des Anderen, aus dessen Blickwinkel Bilder aus einer fremden Gesellschaft geliefert und Reflexionen über sie angestellt werden. Konkreter gesagt, die fremde Perspektive soll hier produktiv gemacht werden, damit sie uns Auskunft über die Befindlichkeit der Menschen in der orientalisch-anatolischen, nämlich in der türkischen Kultur und Geschichte gibt, sogar Einblick in das Unterbewusstsein des Durchschnittstürken ermöglicht. Zur kollektiven Mentalität in einer Gesellschaft vermag die fremde Perspektive im qualitativen Sinne mehr zu sagen als die Perspektive der einheimischen, kulturvertrauten Beobachter, die ihrem Wesen nach im Verdacht steht, die Abweichungen zu individualisieren. Die Außenperspektive des Fremden bedeutet eine grundsätzlich neue Einordnung des Blicks auf Selbstverständliches und Auffälliges, die einer eigenständigen Differenzierung des Wahrnehmungsapparats dient und ein literarisch vielschichtiges Erkenntnismittel zu bieten verspricht. Im Wechselspiel von Aufmerksamkeit und Vernachlässigung nach dem eigenen Normalitätsideal lässt die Außenperspektive die fremde Normalität nicht selten als ein Gegen-Bild gegen die einheimische Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit erscheinen. Dessen Grund liegt offensichtlich darin, dass sich die Außenperspektive auf das Typische konzentriert und eine starke Tendenz zur Verallgemeinerung des Abweichenden hat. Gerade das soll als spezifischer Beitrag der Literatur zur Geschichte betrachtet werden und nicht als ein Verstoß gegen die Regeln der Wahrheitssuche.

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Es liegt auf der Hand, dass das selektive Vorgehen der fremden Perspektive und ihre subjektiven Verzerrungen unvermeidlich auch ihr eigenes Selbstbild reflektieren. Jedoch ist mir diese Unvermeidlichkeit nur bedingt wichtig. Mein Erkenntnisinteresse richtet sich auf die subversive Stimme der fremdbildnerischen Texte, die weder einen diplomatischen noch interkulturellen Frieden bezweckt und der umstrittenen Völkerverständigung über die literarische Kultur kaum dienlich sein kann. Dabei stelle ich die Meinungen und Wertungen in den Vordergrund, die zwar völlig unterschiedlich sein können, durch deren Kombination jedoch konstante Elemente sowie variable Komponenten der kollektiven Einstellungen sichtbar werden, die mentalitätsgeschichtlich relevant sind. Darüber hinaus: Dass die literarische Subjektivität ideologisch unzuverlässig ist, ist keine kühne Hypothese. Die prinzipielle Zuneigung der Literatur zu den Details verwandelt die Historiographie in eine menschlich-konkrete Geschichte, wobei an die Stelle des Objektivitätsanspruchs der auf die Totalität setzenden Geschichtsbetrachtung Polyperspektivität und Polyvalenz treten. Gelingt es der literarischen Subjektivität, die teilweise unbewusst wirkenden Vorstellungsmuster zu enthüllen, die bestimmten Verhaltensund Denknormen zugrunde liegen, so können fremde Diskurse alternative Geschichtsbilder liefern, die kollektive Mythologisierungen in nationaler und religiöser Form entzaubern und kulturelle Identität in Frage stellen. Hierzu ist noch eine ergänzende Bemerkung nötig: Geschichtsbildende Momente der Kontinuitäten, in denen die Quantitäten an qualitativer Bedeutung gewinnen, sollen in und durch die Literatur zur Rede gebracht werden. Da aber die literarischen Texte zugleich nicht auf bloße Zeitdokumente zu reduzieren sind, ähnelt die philologische Erkenntnisarbeit einer Gratwanderung zwischen Perspektivismus und Objektivismus. „Es giebt nur ein perspektivisches Sehen,“ sagt Nietzsche, nur ein perspektivisches ‚Erkennen‘; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, je mehr Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser ‚Begriff‘ dieser Sache, unsre ‚Objektivität‘ sein.3 3

Friedrich Nietzsche. Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Stuttgart: Ph. Reclam jun., 1988. S. 118.

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In Nietzsches Auffassung kommt eine erkenntnistheoretische Erklärung zum Ausdruck, die auch für mein Vorhaben richtungweisend erscheint. Die herangezogenen Texte sollen in ihrer Anzahl und ihren Charakteristika insofern entsprechend sein, als am Ende ein zu verallgemeinerndes Bild von Lebenszusammenhängen, vom Denken und Fühlen der betreffenden Nation entsteht. Bei meinen Ausführungen werde ich mich auf Armin Theophil Wegners Essay Die Entzauberung des Ostens etwas stärker konzentrieren, der für meine Gesichtspunkte ein paradigmatisches Gewicht aufweist. Während des Ersten Weltkriegs hatte der expressionistische Dichter im Osmanischen Reich eine ihm völlig fremde Welt aus der Nähe kennen lernen müssen. Jahre später und aus einer räumlichen Distanz verarbeitete er seine Erfahrungen in einer bestimmten Form, deren aus der Gattungstheorie bekannte Merkmale seinen Text über das Inhaltliche hinaus unsere Aufmerksamkeit verdienen lassen. Vorher aber möchte ich im Folgenden einen historischen Spaziergang durch manche Stationen des Türken- und Türkeibildes in den westlichen Kontexten unternehmen. Der Überblick soll keine chronologische Bestandsaufnahme darstellen, sondern das bisher Gesagte veranschaulichen und den Stellenwert des Wegnerschen Essays innerhalb der Thematik beleuchten. An meinem Ausgangspunkt befindet sich ein kurzer Zeitungsbericht, der nicht aus der unmittelbaren Gegenwart stammt, aber auch nicht außerhalb unserer Zeitgeschichte liegt. Danach sind zwei Angehörige der US-Armee, die sich während des Golfkriegs im Haus von Walter Jens versteckt hielten, von einem amerikanischen Militärgericht in Nürnberg zu jeweils fünf Jahren Haft verurteilt worden. Jens protestiert vehement dagegen und bezeichnet das Urteil als eine ‚Ungeheuerlichkeit‘, das Strafmaß stehe ‚türkischen Verhältnissen‘ nicht nach.4 Der aufschlussreiche Vergleich hinkt zwar ein wenig, denn auf ein solches Delikt stand in der damaligen Türkei die Todesstrafe. Doch der Autor und Rhetorik-Professor muss wissen, wovon er redet. Um seiner Empörung Nachdruck zu verleihen, bedient sich Jens der Türkei als Reflexionsfläche der Negativität. Die ‚türkischen Verhältnisse‘ sind nicht nur eine Bezugnahme auf das jeweilige Zeitgeschehen, sondern haben auch eine Tradition. Der österreichische Dramatiker Franz Grillparzer (1791-1871) besaß ein ambivalentes Verhältnis 4

Der Tagesspiegel vom 25. Oktober 1991.

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zu seinem Land. In den Momenten, in denen er Österreich nicht mehr liebte, nannte er es „‚die‘ christliche Türkei“. Dabei war Grillparzer kein Revolutionär, hasste aber das Regime von Metternich genau so, wie er demokratische Umwälzungen fürchtete.5 Die Ähnlichkeit des metaphorischen Denkens bei Grillparzer und Jens, wenn es darum geht, sich vom Eigenen zu distanzieren und es zu verdammen, mag sicher auch mit der Aktualität zu tun haben. Die Wahrscheinlichkeit ist aber ziemlich hoch, dass sowohl Jens als auch Grillparzer ebenfalls vor dem Hintergrund historischen Wissens und nach einem Vorstellungsmuster reden. Es ist nämlich nicht unbekannt, dass die Türkei und die Türken, ja sogar überhaupt fast alles, was das Türkische betrifft, eine negativ besetzte Begrifflichkeit in der westlichen Gedankenwelt bilden. Als Inkarnation des Bösen, als Antichrist und Antithese sitzt das Türkeibild tief im europäischen Bewusstsein.6 Historisch betrachtet finde ich bei der Bedienung eines Feindbildes nichts Skandalöses. Das Feindbild ist eine Erscheinung des komplizierten Spannungsverhältnisses zwischen Eigenem und Anderem, zeugt von kollektivem Bedürfnis nach Selbstbestätigung und gehört in der modernen Welt zu den banalen Formen von kausalgesetzlich erklärbaren Negativitäten. Einen besonderen Zeugniswert und eine spezifische Aussagekraft erhält das Negative in den Stellungnahmen historischer Subjekte, in ihren fiktiven und nichtfiktiven Darstellungen, die in ihrer diskursiven Singularität das Objektive seiner Anonymität entledigen, das Bild des Anderen differenzieren und es auf diese Weise erlebbar machen. Eine lukrative Möglichkeit in dieser Hinsicht bieten uns die Briefe von Voltaire an die aus Stettin stammende Zarin Katharina II. während des russisch-türkischen Krieges, weil sich der Philosoph dabei immer wieder auf die Türken als Inkarnation der Antiaufklärung bezieht. „Die Barbaren“, schreibt er während dieser Korrespondenz zwischen 1763 und 1778, 5

6

Ernst Fischer. Von Grillparzer zu Kafka. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1975. S. 9. Im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg ist ein Türkenkopf zu sehen, der bei den ritterlichen Kampfübungen in alten Zeiten als Zielgegenstand diente. Und im Nürnberger Spielzeugmuseum gibt es eine Ecke, in der verschiedene Puppen ausgestellt sind, die in ihren Händen Gegenstände tragen, die ihren Beruf symbolisieren. Die Türkenpuppe mit Schnauzbart hat in der Hand ein breites Krummschwert als Berufsutensil.

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Sargut Şölçün verdienen, von einer Heldin bestraft zu werden, schon wegen der Geringschätzung, die sie bisher für die Damen hatten. Es ist klar, daß Leute, die die schönen Künste nicht achten und die ihre Frauen einsperren, ausgerottet werden müssen.7

Sie sind unwissend und „große Schweine“, die „das Menschenrecht“ verletzen (67); „es genügt nicht, sie zu demütigen, man muss sie für immer nach Asien verbannen.“ (68) Im Verlauf des Krieges zeigt sich Voltaire zunehmend radikaler: „Eure Kaiserliche Majestät geben mir das Leben wieder, indem Sie Türken töten.“ (90) Denn sie sind neben der „Pest“ eine der „beiden großen Geißeln der Menschheit“. (252) Die Sprache in diesen Briefen vermag den heutigen Leser zu befremden. Die Analyse des Voltaireschen Diskurses soll uns aber auf zwei Ebenen des Denkens hinweisen. Zum einen bringen diese Zeilen die konsequent aufklärerische Einstellung des Philosophen zum Ausdruck. Er spricht zum Beispiel nicht von vornherein vom Islam; sein Kriterium sind das andere Geschlecht und die schönen Künste, deren Prestige in der Gesellschaft für den rationalistischen Fortschrittsglauben und den Humanismus der geistigen Strömung relevant ist. Wer sie verachtet, erweist sich als Barbar, der nicht zu Europa gehören sollte; und das gilt nun eben für die Türken besonders, die sich seit dem 15. Jahrhundert auf europäischem Boden befinden. Zum anderen gibt Voltaire selbst zu, dass seine Mordlust mit seinen „Grundsätzen von Toleranz“ nicht übereinstimmt, und dass er so seine eigenen „Humanitätsprinzipien“ (133) verlässt, führt er auf die allgemeinmenschliche Widersprüchlichkeit zurück. Gerade durch dieses Eingeständnis scheint die Polarisation zwischen der persönlichen Ebene des Türkenhasses und der historisch-ideologischen Ebene überwunden zu sein, bei der es um die Ideale der Aufklärung geht. Die Grenze der Toleranz wird bestimmt durch die ersehnte Möglichkeit, die ehemals antiken und christlichen Gebiete des Osmanischen Reiches zu reeuropäisieren. Voltaires Zukunftsbilder weisen uns zwangsläufig auf die gemeinsame Vergangenheit von Türken und Europäern hin und einen Wendepunkt darin bildet nach Stefan Zweigs Darstellung in seinen Stern7

Katharina die Große/Voltaire. Monsieur – Madame. Der Briefwechsel zwischen der Zarin und dem Philosophen. Üb./Hg. Hans Schumann. Zürich: Manesse, 1991. S. 58. (Im Folgenden beziehen sich die Seitenangaben in runden Klammern in meinem Text auf diese Ausgabe).

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stunden der Menschheit die Eroberung von Konstantinopel durch die Osmanen im Jahre 1453. In einem flüssigen Stil erzählt Zweig die Belagerung und die Verteidigung der Stadt; durch seine stärkere Ausdrucksweise gewinnen gewisse Etappen dieses an Menschenleben und Material überaus aufwendigen Unternehmens an Anschaulichkeit, und die Details wiederum erhöhen die Dramatik der byzantinischen Niederlage. „Etwas ganz Unwahrscheinliches“8, das mitten im Krieg geschieht, fokussiert die Singularität des historischen Ereignisses auf einen Moment. Die türkischen Truppen entdecken nämlich zu ihrem Erstaunen, „daß eines der kleineren Tore des inneren Stadtwalls, die sogenannte Kerkaporta, durch ein unbegreifliches Versehen offen geblieben ist.“ (62) Diese „verhängnisvolle, vergessene Tür“ (65), die ironischerweise „in Friedenszeiten für die Fußgänger bestimmt“ (62) war, entscheidet das Weltgeschehen, wofür der Autor außer den „unerforschlichen Ratschlüssen“ (61) der Geschichte kein Erklärungsmodell bietet; denn es ist für ihn nicht innerhalb der Grenzen des Wahrscheinlichen zu begreifen. ‚Unwahrscheinlich‘, ‚unbegreiflich‘ und ‚unerforschlich‘ – Zweigs durch die verneinten Adjektive geprägter Stil signalisiert sein resultatives Denken. In der Tat, der schriftstellerische Erfahrungshorizont lässt ihn erkennen, dass mit den Türken in Europa „eine schicksalhaft zerstörende Gewalt hereingebrochen ist, die jahrhundertelang seine Kräfte binden und lähmen wird.“ (65) Darin erhält die offene Tür, die den Türken den ersten Schritt auf den genuin europäischen Boden ermöglicht, ihre tiefe tragische Symbolik, die Voltaires Verlangen historisch legitimiert. Erst im 19. Jahrhundert musste das Osmanische Reich seine militärisch und religiös begründete Verachtung der westlichen Welt aufgeben. Die Türken waren angewiesen auf die europäische Modernisierungshilfe für ihre Armee und bevorzugten dabei die preußischen Helfer, die bei ihren Ansprüchen auf die Kolonialisierung viel zurückhaltender agierten als die Engländer und Franzosen. Die Entsendung des Hauptmanns Moltke aus Berlin in die damalige Türkei war im Hinblick auf die Beziehungen zwischen beiden Staaten eine geschichtsträchtige Unterstützung. Es war der Beginn der Zusammenar8

Stefan Zweig. Sternstunden der Menschheit. Vierzehn historische Miniaturen. Hg. Knut Beck. 47. Aufl. Frankfurt a.M.: Fischer, 2000. S. 62. (Im Folgenden beziehen sich die Seitenangaben in runden Klammern in meinem Text auf diese Ausgabe).

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beit, die über das Bagdadbahn-Projekt hinaus mit der ‚Waffenbrüderschaft‘ des Ersten Weltkrieges ihren Gipfelpunkt erreichen sollte. Während seines Aufenthaltes in der osmanischen Türkei (18351839) verfasste Moltke mehrere Briefe, die mit ihrer formalen und inhaltlichen Vielfalt ein beachtenswertes Exempel der Reiseliteratur aufstellen. Ein türkischer Gouverneur ist, schreibt Moltke an einer Stelle anekdotenhaft, „erstaunt, daß ich mit dem Degen äße, so nannte er meine Gabel.“9 Dieses Beispiel ist vielsagend, sowohl für Moltkes Erfahrungen als auch für die paradoxe Situation, in der der zukunftsorientierte Sinn der Anwesenheit des Europäers unter den primitiven Menschen der Person selbst gegenübersteht, die bei allem Pflichtbewusstsein diesen Aufenthalt nicht selten wie eine Strafe erlebt. Weiterhin sind das eigenartige Verhältnis der Türken zum Zeitbegriff, ihre Reformunfähigkeit, ihre apathische, durch die Dichotomie von Schein und Sein bestimmte Lebensweise, ihr Untertanengeist und die Menschenfeindlichkeit des Islam die hervortretenden Gesichtspunkte, unter denen die orientalische Mentalität in Moltkes Briefen Gestalt annimmt. Nicht viel anders konstruiert sich das Bild der damaligen Türkei bei dem Südtiroler Orientalisten und Essayisten Jakob Philipp Fallmerayer, der das Land der Osmanen einmal kurz vor Moltke (18311834) und zweimal nach Moltke (1840 und 1848) besuchte. In seinen Fragmenten aus dem Orient redet er vom „eintönigen, freudlosen Leben der türkischen Städte“ und stellt fest, dass hier „Niemand schreibt, druckt und liest; dem Tier gleich trachtet der Mensch nur, wie er den Hunger stille und sich seine Brut vor den Griffen der überall lauernden Gewalt sicherstelle.“10 Der aufmerksame Leser wird sich neben dem Inhalt der Fragmente auch für die Stileigenschaften von Fallmerayer interessieren und unschwer beobachten können, wie nahtlos sich seine romantischen und intellektuellen Neigungen mit seinen politischen Reflexionen verbinden und wie aus dieser Verbindung seine Wahrnehmungsperspektive entsteht, die wiederum mit ihr in Korrelation zu bringen ist. 9

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Helmuth von Moltke. Unter dem Halbmond. Erlebnisse in der alten Türkei 1835-1839. Hg. Helmut Arndt. Tübingen und Basel: Erdmann, 1979. S. 218. Jakob Philipp Fallmerayer. Fragmente aus dem Orient. München: Bruckmann, 1963. S. 33.

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Dagegen erweist sich Moltke in seinen Briefen – selbst wenn er das Innenleben des Reiches von der Straße her zu zeichnen versucht – als der Mann von Realitäten und Taten. Es bedarf keiner langen Spekulation, um aus Moltkes Briefen auch seine geheime Mission herauszulesen. Neben der türkischen Armeereform und Herstellung der anatolischen Landkarten mussten ihn die Fragen beschäftigen, wie das sterbende Reich im Interesse der Zivilisation unter den westlichen Staaten aufgeteilt werden sollte und wie daraus eine deutsche Kolonie hervortreten könnte. Die Hoffnungen von Moltke haben sich bekanntlich nicht bewahrheitet, es hat aber über zwei Jahrzehnte nach dem Tod des preußischen Offiziers gedauert, bis die Deutschen und Türken den Ersten Weltkrieg gemeinsam verloren. Die Modalitäten der Aufteilung der osmanischen Gebiete unter den europäischen Großmächten ist auch bei Fallmerayer ein Thema, bei dem sich seine Realitätsbezogenheit in den Vordergrund stellt. Aber auch da, wo seinen Äußerungen Elemente des romantischen Gedankenguts wie Ursprünglichkeit und Naturnähe anhaften, erkennen wir seine Überzeugung von der technischen Beherrschbarkeit des Lebens als einer Errungenschaft der westlichen Zivilisation. Angesichts dieser Alternative stehen Moltke und Fallmerayer im positiven Verhältnis zur türkischen Gesellschaft nur unter den Gesichtspunkten christlicher Vergangenheit und natürlicher Schönheit dieses Erdteils; erst aus dieser Sicht erfüllen Vergangenheit und Gegenwart eine sinnstiftende Funktion. Dadurch geben beide zu verstehen, dass die Aufhebung des Osmanischen Reiches gleichbedeutend ist mit der Reanimierung von Natur und Geschichte. Beide Beobachter diagnostizieren die Unvereinbarkeit der orientalischen Mentalität mit Europas Zivilisation und Technik. Bezeichnenderweise glaubten die Türken spätestens mit der Gründung der Republik, das Gegenteil unter Beweis gestellt zu haben. Der an Europa orientierte neue Staat war eine nationale Errungenschaft und bedeutete für sie eine historische Chance, ihre Fähigkeit zu zeigen, jenes seit Mitte des 19. Jahrhunderts anvisierte kollektive Ziel zu erreichen. Ob es den Türken wirklich gelungen ist? Aus heutiger Sicht scheint die Frage jedoch immer noch umstritten. Die republikanische Erscheinung ist in den Augen nicht weniger Beobachter aus dem Westen im Grunde genommen nichts anders als ein fauler Kompromiss der türkisch-orientalischen Mentalität, der als solcher eine Ironie der Geschichte bildet. Die Mentalitätsfrage stellt sich in der Gegenwart, le-

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sen wir den Berliner Autor Peter Schneider, der sich während des muslimischen Opferfestes 1990 in Istanbul aufhält, als ein über die gewöhnliche Doppeloptik hinaus gehendes Problem: „Als ich ankam, fand ich eine Großstadt vor, die einer Arche Noah glich.“11 Offenkundig erlebt Schneider am Bosporus einen Anachronismus: Wie sollte es möglich sein, dass die Menschen, die an einem archaischen Ritual teilnehmen, dieselben sind, die die modernsten Geräte der Technologie handhaben können? So lässt sich Schneiders Fremderfahrung mit einer rhetorischen Frage paraphrasieren. Dennoch: Verglichen mit Voltaires Radikalität und der definitiven Aussonderung des Orientalen bei den Türkeireisenden Moltke und Fallmerayer, ebenfalls verglichen mit Zweigs Idiosynkrasie angesichts des türkischen Einbruchs in das Europa des 15. Jahrhunderts, zeichnet sich Schneiders Diskurs durch seinen Versuch aus, die paradoxe Konstellation zu verstehen. Es liegt sicherlich an der Zeit, an der historischen Erfahrung gegen Ende des 20. Jahrhunderts, bei der die veränderte Vorstellung von Wertsystemen immer noch eine Rolle spielt. Während sich die Außenperspektive zu dem Problem seiner Erscheinung entsprechend verhält, zeigt sie, dass es von bleibender Natur ist. Unter diesem Aspekt ergeben sich nun folgende Fragestellungen: Ob es die Mentalität der Türken ist, die die Kluft zwischen Europa und dem Orient historisch unüberbrückbar erscheinen lässt – oder: Ob es die irreversible Entwicklung der Geschichte ist, die die orientalische Mentalität als ein kontinuierliches Problem aufwirft. Diese Fragestellungen verweisen uns auf Armin T. Wegners Essay zurück, auf einen von der originellen Betrachtungsweise des Autors zeugenden Text, der mit seinem subjektiven Ausdruckswillen, mit seinen Kenntnissen, Motiven und Erkenntnissen Anhaltspunkte für die Gegenwart geben kann. Während des Ersten Weltkriegs war Wegner in der osmanisch-türkischen Armee als Sanitäter tätig. Er war ein Freiwilliger, wollte aber kein Kriegsheld werden, sondern als Expressionist auf der Suche nach einem neuen Leben etwas Besonderes erfahren und den Bedürftigen einfach helfen. Ungefähr zwei Jahre lang (1915-1917) geriet er mehrmals in Todesgefahr, überstand die Typhuskrankheit und wurde Zeu11

Aras Ören/Peter Schneider. Wie die Spree in den Bosporus fließt. Briefe zwischen Istanbul und Berlin 1990-1991. Berlin: Babel, 1991. S. 28.

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ge des türkischen Massakers an den Armeniern. Seine Aufzeichnungen und Briefe sowie seine Novellen, die stimmungsreiche, gefühlsmäßige und zum Teil lehrhafte Texte sind, die sich zum menschheitlichen Denken bekennen und intentional zur Gewaltlosigkeit aufrufen, veröffentlichte er gleich nach dem Krieg unter den Titeln Der Weg ohne Heimat, Im Hause der Glückseligkeit und Türkische Novellen. 1925 schrieb Wegner seinen erwähnten Essay, der den bedeutungsvollen Titel „Die Entzauberung des Ostens. Deutung der türkisch-orientalischen Seele“ trägt und seiner Textauswahl Das Zelt (1926) als Einleitung vorangestellt ist.12 Seit Wegners Rückkehr nach Deutschland waren acht Jahre vergangen; in dieser Phase der einschneidenden Ereignisse wie die Aufteilung des besiegten Osmanischen Reiches durch die Alliierten, der türkische Aufstand und die Gründung der Republik verlor er den Orient nicht aus den Augen – vor allem wegen der ungelösten armenischen Frage, für die er sich engagierte. Dieses Motiv war ganz gewiss nicht unwichtig für das Zustandekommen seines Essays, in dem er sich als jemand erweist, der einen guten Überblick über die türkische Geschichte erworben hat und die versteckten Ecken der Innenwelt der Orientalen beleuchten und interpretieren kann. Wegners Text hat einen zweiteiligen Titel, und dieser erweckt den Eindruck, im Folgenden gehe es darum, zu zeigen, warum die ursprüngliche Rätselhaftigkeit des morgenländischen Menschen nicht mehr gültig ist. Jedoch bleibt die Frage zunächst offen, ob die Befreiung vom Zauber die Auslegung des Zauberhaften ermöglicht oder umgekehrt. Jedenfalls verbirgt sich im Gesamttitel eine Wechselbeziehung, in der beide Substantivierungen zugleich Ursache und Wirkung voneinander sein können. Schließlich lässt der Titel vermuten, dass Wegners interpretative Arbeit eine analytische Grundlage hat, bevor sie eine oder mehrere Synthesen fokussiert. Sein Essay besitzt aber auch einen deskriptiven Charakter, wenn er den Leser in seine Erfahrungen in der osmanisch-türkischen Gesellschaft einführt und sich dabei auch des indirekten, assoziativen Weges bedient. Wegners essayistischer Spaziergang fängt mit einem Vergleich an. Verglichen wird der abendländische Geist mit der orientalischen See12

Armin T. Wegner. Das Zelt. Aufzeichnungen, Briefe, Erzählungen aus der Türkei. Eine Auswahl. Berlin: Büchergilde Gutenberg, 1926. S. 9-37. (Im Folgenden beziehen sich die Seitenangaben in runden Klammern in meinem Text auf diese Ausgabe).

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le anhand der Gotteshäuser beider Kulturen. Daraus ergibt sich mit der klaren Strukturiertheit des Ersteren und der bunten Rätselhaftigkeit des Letzteren ein bekanntes Bild der Trennung des Eigenen vom Unvertrauten, die für den ganzen Essay ein Leitgedanke bleibt. Die hermeneutischen Passagen werden immer wieder durch historische Betrachtungen und empirische Aussagen ergänzt, damit – um ein Beispiel zu geben – das ungesicherte Dasein als die Voraussetzung des Lebens im Orient mit den alltäglich zur Kenntnis genommenen „Zeugen der Vernichtung“ (13) auch einen geschichtlichen Rahmen erhält. Ebenfalls ist das Bild Konstantinopels als Tor zu Kleinasien als eine Passage zu verstehen, die zur europäischen Negation, somit zur morgenländischen Bejahung der „Stätte des Grauens“ führt, „in deren wüsten Räumen Armut, Krankheit, Verbrechen wohnen.“ (16) Nach einem flüchtigen, aber lakonisch fixierenden Blick hinter die anatolischen Kulissen setzt Wegner zu einem ethnologisch und kultursoziologisch anmutenden Parcours an, der sich in der zentralasiatischen Vergangenheit der Türken beginnend wieder in Richtung Europa, nach Konstantinopel, der Schwelle zum Westen, an der die entscheidende Differenzierung ausgesprochen wird, zurückbewegt. Dabei wird nachdrücklich ins Bewusstsein (des Lesers) gebracht, dass die Herkunft, die die Türken als Steppenvolk geprägt hat, ebenfalls ihren gegenwärtigen Nomadismus, ihre Unbeständigkeit und die Einförmigkeit ihres Alltags erklärt und ihr Verhältnis zur Natur, zum Gemeinschaftsleben sowie zur Religion bestimmt. Wegners Gedankenarbeit entwickelt sich dem Kausalprinzip gehorchend und stufenweise, wobei es die Querverbindungen sind, die zu einem Resultat führen. Daraus geht hervor, dass fast alles, was die türkische Lebensweise betrifft, durch die ursprüngliche Form des Hirten- und Reitervolkes definiert wird und auf das einzige Ziel der Selbsterhaltung gerichtet ist. Die Definition des Lebens als Selbsterhaltungstrieb reduziert das Menschliche auf das Elementarste, das dem Tier Ähnliche, dessen Existenz von seiner Fähigkeit abhängig ist, sich den Bedingungen des geographischen Raumes anzupassen. Die Langsamkeit, zum Beispiel, ist bedingt, wie Wegner das Zeitverständnis des Steppenvolkes begründet, durch diesen Existenzraum, in dessen Unendlichkeit der Mensch zu verschwinden droht. Die Verlangsamung des Lebens kann also nichts anderes sein als ein Phänomen des orientalischen Selbsterhaltungstriebs. Das Schneckenhaus, mit dem der Essayist das Nomadenzelt vergleicht, ist ein vielsagendes Bild,

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das vom Leser eine rezeptive Anstrengung verlangt. (vgl. 17) Es veranschaulicht nicht nur das Lebenstempo der Türken, sondern auch ihr negatives Verhältnis zur produktiven Arbeit. Am auffälligsten ist bei der Schnecke die Form ihres Ganges, der eher einem Warten gleicht als einer Bewegung. Die Metapher der Schnecke erweitert sich in den Augen des Lesers, wenn Wegner von der „beispiellosen Beherrschung der Form“ (18) in den zwischenmenschlichen Beziehungen der Türken redet. Ihre weltberühmte Gastfreundschaft, deren Reiz von ihrem Umgang mit der Form herrührt, stellt sich im Lichte der Wegnerschen Zusammenhänge nicht als eine auf den Gast bezogene Geste heraus. Hinter der Höflichkeit steckt vielmehr die Erwartung, „die gleiche Freigebigkeit“ (19) zu genießen, eben der Selbsterhaltungstrieb; und im Hinblick auf das ungesicherte Dasein der ewigen Nomaden scheint diese Zukunftskalkulation einen hohen Eventualitätsgrad zu haben. Nicht in produktiver Arbeit, aber in der Zerstörung scheinen die Türken beständig zu sein. Nicht allein ihr ursprünglicher Charakter als wildes Steppenvolk, sondern auch ihre Religion sollte sie mental (und körperlich) dazu prädestiniert haben. Es ist offensichtlich eine weitere Erscheinungsform des Selbsterhaltungstriebs, dass der Türke, der den Islam im eigenen Lande in erster Linie als Genügsamkeit ausübt, auf den Eroberungszügen aber „der blutigen Mondsichel seines Schwertes folgte“. (20) Die hiesige Variante des Bildes „der rote Halbmond, ein blutiger Regenwurm“13, das aus Wegners Sanitäter-Zeit stammt, akzentuiert die Übereinstimmung der herkunfts- und religionsbedingten Wesenszüge der Türken auf der negativen Ebene der Blutsymbolik. Ferner befasst sich Wegner mit dem Aussehen und den Gesichtszügen der Orientalen. Gemeint sind jedoch nicht die Eindrücke unmittelbarer Begegnung mit dem Fremdartigen, bei der üblicherweise seine äußerliche Erscheinung für die Urteilsbildung des Beobachters entscheidend ist. So oberflächlich ist sie bei Wegner nicht. Er bemüht sich um die Zusammenhänge und entdeckt mit durchdringendem Blick sogar, dass hinter diesen Gesichtern „das Ich mit seinen wilden Begierden kaum noch spürbar“ (22) ist. Er schreibt: Die Steppe hat dem Gesicht des morgenländischen Menschen jene rätselhafte Unbewegtheit verliehen, die dem Abendländer so leicht 13

Armin T. Wegner. Im Hause der Glückseligkeit. Aufzeichnungen aus der Türkei. Dresden: Sibyllen, 1920. S. 49.

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Sargut Şölçün als eine undurchdringbare Maske der Falschheit erscheint. Denn all jene uns überraschenden Triebe der Bestechlichkeit, der Verbitterung oder Grausamkeit, die oft unvermutet daraus hervorbrechen wie ein Tier aus der Höhle, ruhen nicht weniger dahinter verborgen als seine Tugenden, die uns entzücken. (22)

Hier ist nicht von einer individuellen Begegnung die Rede, sondern es kommt die Erfahrung, die die Masse betrifft, zum Ausdruck. Lesen wir den Essayisten weiter: „Aber nicht Zweideutigkeit, sondern eine schon zur Gewohnheit gewordene Beherrschung der Form sind die Ursache ihres unsichtbaren Seins.“ (22) Der Leser soll hier die Nuance merken: Nicht Wegners Erkundungen lassen das orientalische Leben in den Gesichtern widerspiegeln, es ist vielmehr ihre Darstellungsweise, die auf die Einprägsamkeit der materiellen und immateriellen Lebensbedingungen besonderen Wert legt. Aus dieser Sicht wäre es nur erstaunlich, wenn diese keine physiognomischen Wirkungen gehabt hätten. Ihre Feststellung weist wiederum auf die wesentlichen Merkmale der orientalischen Mentalität hin: Gewaltbereitschaft, Dichotomie von Schein und Sein und fehlende Individualität – Stichworte, die uns an die Eindrücke von Moltke und Fallmerayer erinnern. Wegners vielschichtige Gedankenbewegungen konzentrieren sich letzten Endes auf einen Punkt, von dem aus beinahe eschatologisch anzunehmen ist, dass die Türken keine andere Möglichkeit des DaSeins haben als ursprünglich zu bleiben. Die Fortsetzung ihres Lebens bedeutet eine Rückkehr zur Urwüchsigkeit, und in diesem Circulus vitiosus existieren sie, um ihn jedes Mal von neuem zu bestätigen (vgl. 34). Sie sind in dieser auf eigene Weise harmonischen Welt eingewurzelt, bis sie durch das „Eindringen europäischer Zivilisation“ (25), deren geistige und materielle Errungenschaften keinen Stillstand erdulden, zerstört wird. Mit dieser Konstatierung nimmt Wegners Essay etwa in seiner Mitte eine dramatischen Texten ähnelnde Wendung an. So wird veranschaulicht, dass das orientalische Wesen der Türkei ausgerechnet unter dem europäischen Einfluss noch deutlicher in Erscheinung tritt. Mit den vorangegangenen analytischen Überlegungen des Autors in engem Zusammenhang stehend, macht der historische Aspekt die Argumentationslinien überzeugender, die symptomatisch sind für die Insensibilität der türkischen Gesellschaft, den europäischen Geist zu begreifen. Dieses Zwischenergebnis unserer Textbetrachtung lässt zugleich erkennen, dass Wegners Essay auf beide Fragen, die oben formuliert wurden (ist es die orientalische Mentalität, die die Kluft

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zwischen den Türken und Europa nicht überwinden lässt? Oder ist es die historische Entwicklung, die die Mentalität der Türken als ein Hindernis dafür festschreibt?), eine bejahende Antwort gibt. Hier fällt dem Leser noch etwas Zusätzliches auf: Wegner meint, dass das türkische Reformwerk nichts anderes als eine „Maskerade“ (27) ist, die „die unschätzbaren Werte alter Bindung“ (26) vernichten sollte. Und weiter: – so ist gerade dieses unvermittelte Nebeneinander technischer Erfindungen neben uralten Sitten nicht weniger bezeichnend und reizvoll für die wahre Eigenart des heutigen Orients als der ständige Wettstreit der Farbenbuntheit mit der Verwesung des Todes. […] Die Entzauberung des Ostens hat begonnen.“ (29)

Die zitierten Worte zeigen eine vorsichtige Ambivalenz, die für die Wegnersche Wahrnehmungsperspektive keine völlig neue Erscheinung darstellt, und eine volkstümliche Sichtweise, die an dieser Stelle etwas unerwartet wirkt. Sie bilden innerhalb der Gedankenbewegung des Autors keine neue Wendung, aber doch eine leichte Biegung als Fortsetzung der bereits erwähnten. Was passiert, wenn neben das alte Orientbild ein neues, europäisch bereichertes gestellt wird? Da die Entstehung des Gesamtbildes über eine beinahe symmetrische Ergänzung der alten Widersprüchlichkeit erfolgt, ändert sich an der grundlegenden Negativität des Orients fast gar nichts. Wir wissen es inzwischen, immer wieder unterstreicht Wegner in einem klagenden Ton jene ewig neue Fortsetzung des Alten als die prinzipielle Invarianz des Orientalischen. Hier wird es im Wesentlichen wiederholt, die Antinomie in Kauf nehmend, dass der Orient auch bei seiner „Entzauberung“ nichts von seinem eigenartigen Reiz einbüßen sollte. Da aber in der „Entzauberung des Ostens“ eine neue Richtung der Klage durchschimmert, haben wir es hier weder mit einer echten Antinomie noch mit einem echten Frontwechsel zu tun, sondern mit einem gedanklichen Anpassungsmanöver. Hier stellt sich neben den Orientkritiker der Expressionist Wegner im geistigen Gewande des Zivilisationskritikers. In seinen früheren Aufzeichnungen (geschrieben 1915 und 1916) erwartete Wegner die „Entzauberung des Ostens“ vom militärischen Eingriff des Westens.14 1925 begreift er sie als eine fast vollendete Tatsache, befürwortet sie aber nicht bedingungslos – weniger aus um14

Vgl. ebd., 181f.

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weltfreundlichen Gründen als vielmehr deshalb, weil sich der westliche Einfluss nicht auf die Technik beschränkt und weil sich dabei auch der europäische „Gedanke des völkerschaftlichen Einheitsstaates“ (29) verbreitet, und das gerade in einem Erdteil, in dem verschiedene Nationalitäten ein anatolisches „Volkstum“ (31) bilden. Der Dichter zeigt also kein Verständnis für den Nationalismus, der ihm negative Vorbilder aus der europäischen Vergangenheit ins Gedächtnis zurückruft (vgl. 30). Zwischen seinen Zeilen lesen wir seine nahezu internalisierte Neigung, in der Gründung eines Nationalstaates einen Übergriff der Geschichte auf die Natur zu sehen (vgl. 30f. und 33; hier vor allem die besondere Bildkraft, die Wegners Sprache erreicht). In diesem Zusammenhang kann er sich auf die empirischen Tatsachen berufen, die bezeugen, wie „die völkische Eigensucht der Türkei“ (32) in der jüngsten Geschichte ein besonders blutiges Exempel des übersteigerten Nationalismus statuierte, indem sie ihre armenischen Landsleute völlig ausrotten wollte. Erleichtert wurde die Umsetzung der nationalistischen „Mordlust“ (33) durch den bis dahin geschilderten merkwürdigen Charakter des Orientalen, der, „wie er sich leichter dem Tode hingibt, auch leichter tötet.“ (34) Verstärkt wird diese Konstellation durch Wegners erneute Bezugnahme auf die „morgenländische[n] Seele, die nicht wie die unsere ein architektonischer Aufbau, sondern ein breitgewebtes Muster, die nicht ein Individuum, sondern ein Kosmos ist.“ (34) Die metaphorische Sprache der induktiven Blickrichtung deutet auf den Anfang des Essays und somit darauf, dass die Erkenntnisarbeit, auf diese Weise abgerundet, Zeugnis von sich selbst ablegt – als ginge ein Gerichtsverfahren allmählich zu Ende, bei dem mehrere Urteilsbegründungen angeführt, aber ein Urteil gemieden wird. Ein Urteil ist eine zukunftsorientierte Stellungnahme, und die Visionen des Essayisten sind bedingt durch seinen Verstehensprozess. Fest stehen für seine augenblickliche Denkphase, erstens, dass Europa, das das komplizierte Wesen der Türken nicht erkannt haben sollte, mitschuldig ist „an der selbstschänderischen Blutsucht des Orients“ (35), und zweitens, dass sich davon auch die gerade gegründete Republik der Türken nicht freisprechen kann. Ebenso wie die Jungtürken damals die Armenier ermordet hatten, versuchten die Führer des neuen Staates, zuerst die Griechen und dann die Kurden zu vernichten. Insofern verkörpert die neue Türkei einstweilen eine beinahe nahtlose Verlängerung des Sultanats (vgl. 36). Angesichts jenes den „großen Ausgleich der Erde“

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(37) bewirkenden Europa wird aber auch der Orient sicherlich nicht der gleiche bleiben. So explizit Wegner diese fremdbestimmte Eventualität auch zum Ausdruck bringt, so skeptisch lässt der Grundtenor seines Essays den Leser darüber werden, dass der Orientale wirklich in der Lage sein würde, zu einer modernen Entwicklung im eigenen Land beizutragen. Die Skepsis kommt nicht allein von der Prozessualität des essayistischen Denkens, sondern auch vom spürbaren Pessimismus des Essayisten selbst. Nichtsdestoweniger schließt Wegners Text mit einem Zukunftsbild, das auf die „Seele der Menschheit“ (37) setzt, die für ihn eine verbindende Kraft zwischen Ewigkeit und Vergänglichkeit, zwischen Gleichbleiben und Verändern darstellt. Ist darunter eine standhafte Gesetzmäßigkeit der Humanitas vorzustellen oder vielleicht nur eine wertfreie Dialektik? Auf jeden Fall unterscheidet diese universelle Sichtweise Wegner – bei aller Berührung der Erscheinungsformen der orientalischen Mentalität – von Moltke und Fallmerayer. Besonders erwähnenswert für die Gegenwart ist eine der prospektiven Fragen, die den Leser auf den Schlussteil des Essays vorbereitet: Wird der Bauer Anatoliens, wird der östliche Mensch, der sich zum Diener der Dinge machte, in das Triebwerk Europas gespannt, die Tatkraft haben, dem Rhythmus dieses Zeitalters zu folgen, das mit der Monotonie seiner eisernen Gebete ihm nicht wie einst erhebende Erlösung schenkt, sondern als Staub den unter seinen Rädern zermalmt, der nicht den Weg findet, handelnd sich selbst zu lenken?“ (36)

Die Frage lässt Wegner offen, wir kennen aber die spätere Entwicklung. „In das Triebwerk Europas gespannt“, fingen die Türken vierzig Jahre danach an, in Massen nach Europa, in erster Linie in die Bundesrepublik Deutschland zu kommen. Sie kamen nicht nur mit der Vorstellung von sich selbst als Bürger eines modernen Staates, der sich vermeintlich von seinem orientalischen Wesen verabschiedet hat, nicht nur mit ihrem Nationalismus und islamischen Fatalismus; sondern auch mit dem türkisch-deutschen Bild der ewigen ‚Waffenbrüderschaft‘ in ihren Köpfen. Die Begegnung mit den Deutschen war für sie eine historische und ideologische Enttäuschung; sie wussten nämlich nicht, dass sie die ‚Gastgeber‘ an eine Vergangenheit erinnerten, von der sich diese distanzieren wollten. Der nahe Kontakt mit den

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‚Gastarbeitern‘ aus der Türkei brachte andererseits neue Aspekte in die bundesdeutsche Literatur der 1970er Jahre, die – erinnern wir uns an die Namen wie Heinrich Böll, Max von der Grün, Günter Wallraff, ja sogar Siegfried Lenz – mit der Kritik an einheimischen Realitäten nicht zimperlich war. Anziehend war Anatolien vor der Immigration, als die Fremden noch in der Fremde waren, als jahrhundertealte Erde der Antike und des Christentums. Im Laufe der Zeit, während des über vier Jahrzehnte andauernden Zusammenlebens mit den anatolischen Bauern in Deutschland wurde ihre Heimat wieder zum alten Orient; und die zur orientalischen Mentalität gehörenden Bilder, die aus dem 19. und vom Anfang des 20. Jahrhunderts stammen, gewinnen nun durch manche – inzwischen selbstverständliche – Anomalien und Anomien des bundesrepublikanischen Alltags an Aktualität. Aber auch umgekehrt. Der Geist der Einwanderungsgesellschaft reproduziert sich bewusst oder unbewusst ebenfalls durch jene Überlieferungen, und die Literatur profitiert von diesem Spannungsverhältnis in hohem Maße. Verfolgen wir die literarische Linie unter diesem Aspekt, auf der wir – neben den schon erwähnten – Franz Werfels Die vierzig Tage des Musa Dagh (dt. EA: Wien/Berlin 1933), Elia Kazans Der Mann aus Anatolien (dt. EA: München, 1984) und Dido Sotirius Grüß mir die Erde, die uns beide geboren hat (dt. EA: Köln, 1985) ebenso antreffen wie Barbara Frischmuths Das Verschwinden des Schattens in der Sonne (dt. EA: Frankfurt a.M., 1973), Sten Nadolnys Selim oder Die Gabe der Rede (dt. EA: München, 1990), Edgar Hilsenraths Das Märchen vom letzten Gedanken (dt. EA: München, 1989), Wolfgang Koydls Gelobt sei der Hl. Staat. Türkische Tragikomödien (dt. EA: Wien, 2001) und Jeremy Seals Der Fez (dt. EA: Stuttgart, 1998) – sehen wir uns diese Texte genauer an, so können wir uns des reichen Ertrags jenes Spannungsverhältnisses vergewissern. Ebenfalls wird dabei deutlich, wie ästhetisch und historisch erkenntnisreicher die schriftstellerischen Beleuchtungen der kollektiven Einstellung der Türken durch die Erfahrungen aus der Literaturgeschichte und Immigration geworden sind. Zu den signifikanten Entdeckungen des türkischen Unterbewusstseins, die der Leser von Nadolnys Roman Selim oder Die Gabe der Rede bisweilen aus der Perspektive der Hauptfigur Alexander macht, leistet, um ein letztes Beispiel zu nennen, folgende Passage einen intellektuell gelungenen Beitrag:

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Am eindruckvollsten war aber doch immer wieder die Rolle des Staates, vor allem in den Köpfen […]. Alexander verstand jetzt, warum die Türken mit deutschen Beamten nicht zurechtkamen: diese vertraten, hin und wieder sehr pedantisch, die Belange der Allgemeinheit – für viele Menschen aus der Türkei noch ein unverständliches, nur als Schikane erklärbares Verhalten. Der türkische Hoheitsträger […] war nicht Vertreter jener notorisch unordentlichen und verdächtigen Allgemeinheit, sondern des sie in Schach haltenden Staatswesens. […] Alexander […] verstand sogar den merkwürdig aufsässigen Türken vor dem Polizeirevier in Charlottenburg. Sie taten nur, was sie in der Türkei nicht konnten, und weiß Gott, sie hatten Nachholbedarf!15

Abgesehen von der fragwürdigen Bevorteilung deutscher Beamter – ist es wirklich ein ‚Nachholbedarf‘, der vielleicht einem sympathischen Anarcho-Typ zuzutrauen wäre? Alexanders ironische Gutmütigkeit lässt eher vermuten, dass, was sich hinter der Rebellion des Türken versteckt, die Verachtung des Staates ist, der ihn doch nicht so behandelt, wie er es von seiner alten Heimat gewöhnt ist. Infolge der Migration musste sich die über mehrere Generationen hinweg nationalistisch und islamisch gedrillte Gesellschaft zum ersten Mal in ihrer Geschichte radikal zur Welt öffnen. Analog dem Bild ‚Wo gehobelt wird, fallen Späne‘: Was bei dieser Konfrontation heruntergefallen ist, bietet, in literarischer Form aufgefangen, noch ein vielseitiges Potential gegen ideologische Schönfärbereien der Globalisierung und verdient deshalb Aufmerksamkeit.

Literatur Fallmerayer, Jakob Philipp. Fragmente aus dem Orient. München 1963. Fischer, Ernst. Von Grillparzer zu Kafka. Frankfurt a.M. 1975. Katharina die Große/Voltaire. Monsieur – Madame. Der Briefwechsel zwischen der Zarin und dem Philosophen. Üb./Hg. Hans Schumann. Zürich 1991. Minder, Robert. Die Entdeckung deutscher Mentalität. Hg. Manfred Beyer. Leipzig 1992. Moltke, Helmuth von. Unter dem Halbmond. Erlebnisse in der alten Türkei 1835-1839. Hg. Helmut Arndt. Tübingen und Basel 1979. 15

Sten Nadolny. Selim oder Die Gabe der Rede. 2. Aufl. München: dtv, 1994. S. 468.

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Nadolny, Sten. Selim oder Die Gabe der Rede. 2. Aufl. München 1994. Nietzsche, Friedrich. Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Stuttgart 1988. Ören, Aras/Schneider, Peter. Wie die Spree in den Bosporus fließt. Briefe zwischen Istanbul und Berlin 1990-1991. Berlin 1991. Wegner, Armin T. Das Zelt. Aufzeichnungen, Briefe, Erzählungen aus der Türkei. Eine Auswahl. Berlin 1926. Wegner, Armin T. Im Hause der Glückseligkeit. Aufzeichnungen aus der Türkei. Dresden 1920. Zweig, Stefan. Sternstunden der Menschheit. Vierzehn historische Miniaturen. Hg. Knut Beck. 47. Aufl. Frankfurt a.M. 2000.

Georg Stauth

Hellmut Ritter in Istanbul – Migration und spiritueller ‚Orientalismus‘1 1. Müssen Orientalisten ‚Pilger‘ sein, die nach ‚Ursprung‘ und ‚Goldnen Zeitaltern‘ suchen, sich orientalische Kultur aneignen und in eignem Interesse uminterpretieren? Die Frage drängt sich auf, seit Edward Said das irrationale, exotisierende Orientbild des 19. und 20. Jahrhunderts als die Tat von modernen „Wallfahrern“ bezeichnete. Seit dem Erscheinen von Edward Saids Orientalismus gilt die europäische Wallfahrt zum Ort des kulturellen Ursprungs2 als das Mittel, den Orient zu domestizieren und zu kolonisieren. Was aber ist ein Orientalist? Hellmut Ritter, der erste Nachkriegsprofessor für orientalische Philologie an der Universität in Frankfurt3, der mehr als ein halbes Leben 1

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Dies ist die erweiterte Fassung eines zunächst auf Englisch im Mai 2004 am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen gehaltenen Vortrags. Er wurde in Teilen dann in Bielefeld auf Deutsch präsentiert, wozu Professor Bogdal mir dankenswerterweise die Gelegenheit gab. Herrn Bogdal und den Teilnehmern beider Tagungen, insbesondere auch den Professoren Ilber Ortayli und Faruk Birtek, Istanbul, bin ich für die erhaltenen Anregungen sehr dankbar. So muss es sich hier um den Zweitabdruck eines Aufsatzes handeln, der zuerst im Band ‚Istanbul‘. Geistige Wanderungen aus der ‚Welt in Scherben‘, Hg. Georg Stauth und Faruk Birtek (Bielefeld: transcript, 2006) erscheint. Darüber hinaus ist anzuzeigen, dass den Professoren Ewald Wagner, Gießen, und Leopoldo Waizbort, Sao Paulo, für emphatische Lektüre, vielfältige Hinweise, Anregungen, Korrekturen und Kritik mein besonderer Dank gebührt. In einer sonst oft sprachlosen Zeit sind ‚Rückmeldungen‘ dieser Art von unschätzbarem Wert. Das gilt uneingeschränkt auch für die Reaktionen Martin Vialons, Istanbul. Vgl. Edward Said. Orientalism. New York: Vintage, 1973. S. 166-197. Frankfurt, das war für Ritter offenbar dann ein trüber Ort in einer trüben Zeit, wenn man den Bericht von Notker Hammerstein hier als verbindlich ansehen darf. Ritter hatte lange für sich und seine private Bibliothek Unterkunft zu suchen, auch klagte Ritter über schlechte Arbeitsbedingungen. Horkheimer unterstützte ihn als Dekan und Rektor sehr. 1949 noch als außerordentlicher Professor berufen, wurde er 1953 bereits zum ordentlichen

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in Istanbul gelebt und gearbeitet hat, kann schlecht als ein ‚Wallfahrer‘ oder gar als Kulturkolonialist bezeichnet werden. Auch gehörte er nicht zu den Orientalisten, für die Residenz im Orient gewissermaßen die notwendige Voraussetzung für wissenschaftliche Arbeit oder persönliche Glaubwürdigkeit war. Ritter ließ sich auch nicht darauf ein, in Istanbul die orientalische Lebensweise zu imitieren.4 Ritter verstand sich – trotz aller Schwere – als Bürger in Deutschland, so wie er sich auch in Istanbul als moderner Bürger verstand. Ritter betrachtete die Zirkulation von orientalischen Ideen und die dortige Lebensweise als Fingerzeig für kulturelle Produktion und Kreativität, als Lehrstücke für die Korrektur westlichen Denkens, vage zeichnet sich in seinen begrifflichen Arbeiten ein den Orient, den Islam, einbeziehendes modernes Projekt ab, das tief im Hellenismus gründet. Ritters Karriere war – seine private Lebensorientierung als Homosexueller widersprach der damals, 1926, herrschenden öffentlichen Moral – nur im Ausland fortzuführen, vielleicht war er so zur sublimen Betrachtung und zur Befriedigung seiner Neugier am lebendigen Leben in der Sprache des Orients fähig. So kann Ritter durchaus als ein rastlos zwischen ‚Orient‘ und ‚Okzident‘ Wandernder und Suchender erscheinen. Die Problemlage der intellektuellen Migration zwischen Istanbul

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Professor ernannt und war zwei Jahre später Dekan der Philosophischen Fakultät. Ritter darf zumindest als ‚erregbar, kantig, und kauzig zugleich‘ bezeichnet werden. Anlässlich der Berufung von Adorno 1959 zum ordentlichen Professor kam es zu einer Konfrontation, die man durchaus als unfreundlichen und undankbaren, wenn nicht einen anti-semitischen Akt Ritters gegenüber einem Brücken bauenden, und sonst immer hilfreichen Horkheimer bezeichnen könnte. Ritter reichte noch im gleichen Jahr sein Emeritierungsgesuch ein und ging nach Istanbul zurück. Vgl. Notker Hammerstein. Die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von der Stiftungsuniversität zur staatlichen Hochschule. Bd. 1: 19141950. Neuwied u.a.: Metzner, 1989. S. 798-802, hier: bes. 801. (Ich folge auch hier dankbar einem Hinweis von Leopoldo Waizbort). Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass Martin Plessner, ein früherer Assistent (in Hamburg) von Ritter, und Traugott Fuchs, der Freund, beide Juden waren. Plessner scheint den Vorwurf des Anti-Semitismus, in seinem Nachruf widerlegen zu wollen. Vgl. Martin Plessner, Hellmut Ritter (18921971). In: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 122 (1971). S. 6-18. Vgl. etwa Saids Beschreibung des ‚Orientalismus‘ von Edward William Lane, ebd., S. 158-161.

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und Deutschland ist im Fall Hellmut Ritters einzigartig gezeichnet und hat doch paradigmatischen Charakter. Dies will ich mit den folgenden Ausführungen zeigen. Man hat Hellmut Ritter (1892-1971) einen der großen deutschen Orientalisten genannt, als einen, der für alles das steht, was groß, bleibend und gut sei in der deutschen Orientalistik.5 Dieses überragende Bild mag sich heute aus dem Abstand von mehr als drei Jahrzehnten nach seinem Tod relativiert haben, aber mir geht es nicht um die in den 26 Büchern, 100 Aufsätzen und 220 Buchbesprechungen dokumentierten Leistungen.6 Mehr als um das Lebenswerk dieses unbestreitbar großen Gelehrten der orientalischen Sprachen und Literatur, geht es mir um eine Annäherung an das gelebte Leben dieses besonderen ‚Exemplars‘ des deutschen ‚Orientalismus‘ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ritters Leben stellt eine exemplarische Verschlingung, ein in der Tat singuläres und damit zugleich paradigmatisches Moment des Zusammenspiels von modernem, wissenschaftlich bestimmtem Leben und orientalischer Lebenssehnsucht, eine spannungsgeladene Existenz zwischen positiver Wissenschaft und gelebter Imagination, dar.7 Es sind zunächst ein paar biographische Eckdaten anzumerken. Ritter stammt aus einer hessisch-protestantischen Pfarrersfamilie und ist der jüngere Bruder des in der Weimarer Republik früh berühmten Historikers und späteren Doyens der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft Gerhard Ritter (1888-1967).8 Ritter, der jüngere, hat bei 5

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Richard Walzer. „Hellmut Ritter, 27.2.1892-19.5.1971“. Oriens 23-24. 1970-71. S. 1-6, p.2. Ernst August Gruber. Oriens 18-19. 1965-1966. S. 5-32. Der Aufsatz von Th. Lier, indem er das Zusammenspiel zwischen Traugott Fuchs und Hellmut Ritter zumindest anzeigt und umschreibt, wie das Exil in Istanbul über Forschungsorientierung und intellektuelles Interesse bestimmte, ist hier vorbildlich. Vgl. Thomas Lier. „Hellmut Ritter in Istanbul 1926-1949“. Die Welt des Islams. 38. 1998. S. 334-385. Wie der junge Hellmut diesen überragenden Erfolg des älteren Bruders Gerhard Ritter, ein Vertreter der anti-demokratischen, konservativ-protestantischen Geschichtswissenschaft über den Zeitenwandel hinweg praktisch unangefochten, verarbeitet hat, ist ungewiss. Es kommt, wie wir weiter unten sehen werden, nie zu einer offenen Kritik. Für den heranwachsenden Orientalisten darf man vielleicht doch von einem wissenschaftlichen ‚Über-Ich‘ sprechen, ein Über-Ich, das man nicht bekriegen, dem man aber nur, vielleicht es auf andere Art überwindend oder auch imitierend entflie-

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Theodor Nöldecke in Straßburg und bei Carl Brockelmann in Berlin (später Halle/Leipzig) studiert und war danach an C. H. Beckers Kolonialinstitut in Hamburg, mit dem die offizielle deutsche Islamwissenschaft begründet wurde. Offenbar stand Ritter Becker sehr nahe, und als Becker (1876-1933) zunächst nach Bonn ging und dann zunehmend in die Bildungspolitik einstieg, überließ er – wenn auch nach außen hin nur als Mitherausgeber – Ritter die von ihm gegründete Zeitschrift Der Islam. Ritter war von 1920 an in Hamburg, wurde aber 1926 zur Aufgabe der Stelle dort gezwungen, als seine Neigung zur Homosexualität öffentlich wurde. Man darf annehmen, dass sich Ritters Beziehung zum Hamburger Kolonialinstitut nicht nur durch die Vermittlung Theodor Nöldeckes ergab, Ritter hatte mit Sicherheit schon 1915 von Istanbul aus Kontakt zum Hamburger Kolonialinstitut, war er doch in der Kriegszeit als Übersetzer für die deutsche Armee für Verbindungen mit der türkischen Regierung zuständig und mit der von Becker und Martin Hartmann als Komponente der deutschen Außenpolitik eingeführten „Islampolitik“ vertraut.9 Umgekehrt zeigte sich die Istanbuler Erfahrung als nützlich, Ritter konnte für eine Außenstelle aktiviert werden, als er aus Hamburg vertrieben wurde. Von 192710 bis 1949 war Ritter Leiter einer neu eingerichteten Zweig-

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hen konnte: Gerhard Ritter machte durchaus immer von seinem ‚Herrenanspruch‘ Gebrauch, so auch anlässlich seines Heidelberger Habilitationsvortrags, als er sich seinen Kollegen mit dem Eisernen Kreuz am Kragen präsentierte. Vgl. zur Politischen Geschichte G. Ritters: Gerhard Cornelißen. Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert. (=Schriften des Bundesarchivs 58). Düsseldorf: Droste, 2001; und Thomas Etzemüller. Sozialgeschichte als politische Geschichte. München: C. H. Beck, 2001. Vgl. Peter Heine, „Snouck Hurgronje versus C. H. Becker. Ein Beitrag zur Geschichte der angewandten Orientalistik“. Die Welt des Islams. XXIIIXXIV. 1984. S. 378-387. Faktisch wurde Ritter von seiner akademischen Position an der Universität Hamburg im August 1926 entlassen, als seine homosexuellen Neigungen öffentlich gemacht worden waren. Im Oktober 1926 nahm er seine Arbeit in Istanbul auf, zunächst mit einem auf 6 Monate befristeten Stipendium der ‚Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft‘, dann mit der Gründung der ‚Zweigstelle der DMG‘ betraut und deren Leiter. Beide Anstellungen waren dem Einfluss C. H. Beckers, der damals noch Preußischer Kulturminister in Berlin war, zu verdanken. Vgl. Lier 1998. S. 334-338.

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stelle der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft in Istanbul.11 1935 wurde er zum Professor an der von Atatürk gegründeten Universität Istanbul berufen. Im international weit verzweigten Netzwerk der damaligen Orientalisten machte sich Ritter einen Namen als ‚König der Istanbuler Bibliotheken‘, und in der Tat, einen Großteil seiner internationalen Anerkennung als Orientalist verdiente sich Ritter durch die Ausbeute des Reichtums der alten Bibliotheken des Osmanischen Reichs und die Verbreitung der Kenntnis über die Manuskript-Schätze an diesen Bibliotheken.12 Erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnte Ritter nach Deutschland zurückkehren, er übernahm 1949 den Lehrstuhl am Orientalischen Seminar der Universität in Frankfurt. Nach seiner Emeritierung in Frankfurt 1957 zog es ihn wieder nach Istanbul zurück. Eine schwere Krankheit trieb Ritter 1969 wieder nach Frankfurt, er lebte in Oberursel, wo er 1971 verstarb. Ritter war, so darf man aus dem Urteil eines amerikanischen Kollegen schließen, mit tiefer Sympathie voll im Leben und Denken des Orients verwurzelt, aber er blieb doch immer auch ein sehr deutscher Orientalist.13

2. Man kann Ritter also schlecht als ‚Wallfahrer‘ im Sinne Saids bezeichnen. Ritter war vor allem Philologe! Er galt als die Säule der deutschen orientalischen Philologie, der u.a. in der von ihm gegründe11

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13

Diese relativ ‚unmittelbare‘ Verbindung zum offiziellen Deutschland auch während der Zeit des Nazi-Regimes mag der Grund dafür sein, dass Ludmilla Hanisch Ritter aus „Ausgegrenzte Kompetenz. Portraits vertriebener Orientalisten und Orientalistinnen, 1933-45“ ausgegrenzt hat. Ritters Homosexualität war ja schon vor 1933 ein Grund für seine Ausgrenzung. Vgl. Hanisch, op. cit., in: Orientwissenschaftliche Hefte. 1. 2001. S. 15-141. Diese doppelte Orientierung von Ritters Arbeitsweise, einerseits die Edition und Auswertung von Istanbuler Handschriften, und andererseits die Vermittlung von Handschriftenmaterial an interessierte Kollegen der internationalen Orientalisten-Szene und deren uneingeschränkte Unterstützung bei der Materialsuche und Edition, trugen weitgehend zur Begründung von Ritters internationalem Gelehrtenruf schon in den 1930er Jahren bei. Für detaillierte Hinweise vgl. Lier, 1998. S. 339-344. „He was attracted by the east and felt deep sympathy with its life and thoughts: but he remained a German by heart“. Walzer. S. 6.

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ten Reihe der Bibliotheca Orientalis Istanbuler Handschriften kollationierte, editierte und einführend kritisch kommentierte, der aber auch eine wichtige Komponente orientalischer Kultur, die im Fluss des Alltagslebens, im praktischen Treiben des Volkes verankerte Ideenpflege hervorzuheben wusste. Einem in der modernen Anthropologie wurzelnden, inzwischen modisch gewordenen Paradigma folgend, möchte ich Ritter als singuläre Erscheinung behandeln, als ,Exemplar‘14, ja, als ein manifestes ‚Exemplar‘ der geistigen Orientwanderung der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, ein ‚Exemplar‘ das nach dem begrifflichen Potential zur Ost-West-Überbrückung sucht und beides, wissenschaftliches Zweckinteresse und vom Eigenen bestimmte Weltsuche miteinander verbindet. Ritters reale und zugleich spirituelle Migration an den Bosporus vereint eine rare und außergewöhnliche Gelehrtenexistenz mit empathischen Momenten des Lebens in der Fremde. Diese Verbindung aber konnte er erst im Übergang vom lebensbedingten Scheitern an der eigenen Kultur zur inneren Selbsterfahrung durch die ,Kultur des Andern‘ entwickeln. Ritters ‚Istanbul‘, das Migranten-Dasein des professionellen Menschen als Philologe, wie sein ‚anderes‘ Verständnis von praktischer Kultur als Kunst und sein Leben in einer orientalischen Künstlerwelt15, ist nicht einfach nur Ausdruck des ‚Orientalismus‘ seiner Zeit, sondern gründet in der individuellen Suche des Emigranten nach Kohärenz des Lebens hier wie dort. Ritter wandelte zwischen säkularem Protestantismus und islamischer Theologie, zwischen einer neo-romantisch beeinflussten Philologie, die sich zugleich als Kunst und Theorie verstand, und in Istanbul zwischen gewählten und gewachsenen Beziehungen und Affinitäten, hier wuchs dies alles zu einem ‚großen Projekt‘ heran. Vielleicht kann man diesen Typ des ‚Orientalisten‘ nur verstehen, wenn man weiß, dass Ritter ein harter Spracharbeiter war und dass das professionelle Ethos in sich auf Verständnis und richtige Interpretation der Sprache und der arabischen, persischen und türkischen Texte gerichtet blieb. Doch über das Pensum der konventionellen orientalischen Philologie und Islamwissenschaft hinaus, 14 15

Rodney Needham. Exemplars. Berkeley und Los Angeles 1885. Leider ist die enge Beziehung zu Traugott Fuchs, einem ganz anderen, dichtenden und malenden ‚Orientalisten‘ der Istanbuler Szene, zu wenig bekannt, um den Einfluss von Fuchs und der Istanbuler Künstlerszene auf Ritters Arbeit wirklich würdigen zu können. Erste Hinweise bei Lier op. cit.

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zeigt er sich – vielleicht unter den Einfluss des älteren Bruders, vielleicht durch den direkten oder indirekten Kontakt zu den großen Intellektuellen seiner Zeit – durchaus auch für unterliegende Theorie-Fragen der Soziologie und der Politischen Theologie aufgeschlossen. Dabei spielte, wie bei vielen anderen Orientalisten und Emigranten seiner Generation, ein großes Stück europäischer Kulturkritik eine Rolle. Namen wie Muhammad Asad, René Guénon und Otto Rescher stehen vielleicht für unterschiedliche Typen des kulturkritischen Konvertiten ein.16 Martin Plessner und Joseph Schacht repräsentieren unterschiedliche Typen des politisch bewussten Emigranten unter den deutschen Orientalisten und Islamwissenschaftlern. Andere teilten sicher die Idee, der „Dekadenz des Abendlandes“ oder dem „Europa in Scherben“ zu entkommen, suchten nach neuen ideologischen Visionen oder in Bruchstücken nach einer neuen wissenschaftlich begründeten Welt – etwa im Islam, im Zionismus. Ritter versuchte ein im eigenen Tun, an den Zeichen der Zeit gescheitertes Berufsleben in Istanbul neu zu gestalten, vielleicht aber auch ein persönliches, Kunstgestaltetes Leben im Orient neu zu erschaffen und zu erfüllen. Das sozio-politische Gesicht des deutschen Orientalismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist noch nicht gezeichnet worden, doch weiß man natürlich, wie sehr auch dieses Gesicht von den Schicksalen vor und zwischen den beiden Weltkriegen, vom Niedergang der Weimarer Republik und vom Faschismus geprägt ist. Kulturelle Extravaganz und Homosexualität waren im öffentlichen Leben dieser Zeit in Deutschland nicht, im Staatsdienst grundsätzlich nicht, geduldet. Darüber hinaus ist wichtig, dass Ritter im Schatten Carl Heinrich Beckers sich noch bis 1933, und vielleicht sogar noch danach, Hoffnungen auf einen Lehrstuhl in Deutschland machte. Becker, den Ritter einmal als „Generalstäbler der Wissenschaft“ be16

Die Tiefe, die solche Konversionen auch auf den modernen Islam-Diskurs hatten, etwa aber auch auf Neuformungen des Religionsbegriffs in Europa und Amerika, hatten und noch haben, lässt sich erstmals in Mark Sedgwicks Against the Modern World. Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century (Oxford: Oxford University Press, 2004) erahnen. Für den Einfluss „Istanbuls“ ist natürlich auch eine Figur wie Rudolf von Sebottendorf (1875-1945) von großem Interesse. Okkultist und Freimaurer, war er vor seiner ‚Flucht‘ nach Istanbul in München an der Gründung der Partei maßgeblich beteiligt, die Hitler zur NSDAP umformte. Vgl. Sedgwick. a.a.O. S. 65-67, 95-98.

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zeichnet hatte17, war bis zu seinem Tode einflussreich und hatte ja schon Ritters Anstellung in Istanbul vermittelt18, und Ritter hatte offenbar mit Istanbul nur an eine kurze Zwischenstation gedacht, wie aus einem 1933 von Martin Plessner stammenden Brief aus Jerusalem deutlich wird: […] dagegen warte ich sehr auf Nachricht von Ihnen und möchte wissen, was aus Ihnen wird. Sie haben doch sicher auch im heutigen Deutschland einflussreiche Freunde, die bereit waeren, sich fuer Sie einzusetzen, und vor allem Leute, die im Stande sind, der Regierung klar zu machen, dass Ihre Arbeit dort unentbehrlich und unersetzlich ist, und dass ein erheblicher Teil Ihres Wertes in ihrer ununterbrochenen Kontinuitaet liegt. Ich moechte Ihnen jedenfalls sehr wuenschen, dass alles beim alten bleibt.19

Wir kennen Ritters Antwort auf diesen Brief nicht. Er blieb in Istanbul und führte seine Studien in türkischer und persischer Literatur fort. Ich bin zu wenig Literaturwissenschaftler, um die tieferen psychologischen Herausforderungen, die eine als Scheitern begriffene Migration auf die Verinnerlichung von Arbeitsprozessen und -richtungen haben, einschätzen zu können, und wie sie sich auf das Forschen und Schreiben aus17 18

19

„Carl Heinrich Becker“. Der Islam. 24 (1937). S. 175-185, S. 184. Thomas Lier. „Hellmut Ritter in Istanbul 1926-1949“. Die Welt des Islams. 38. 1998. S. 334-385. Martin Plessner. Brief an Hellmut Ritter datiert vom 13. August 1933. House Abud, Ratisbonne, Jerusalem. In Sammelband Ritter III, Anhang zum Hasan al-Basri-Aufsatz, Orientalisches Seminar der J. W. GoetheUniversität Frankfurt am Main, Seminarbibliothek – AG 3/R390. Hinweisen über einen zweiten Rausschmiss Ritters im Juni 1933 nach Beckers Tod und die wirkliche Situierung seiner Pläne, nach Deutschland zurückzukehren, etwa auf Beckers Lehrstuhl in Bonn, wäre nachzugehen. S. a. Lier, 1998, S. 347. Dabei ist es sehr interessant zu wissen, dass es Repräsentanten des offiziellen Deutschlands in Istanbul für nötig hielten, Ritter vor Gerüchten, er sei ein Opfer des Nazi-Regimes, zu schützen. Solchen nazi-feindlichen Migranten konnte über die deutsche Botschaft der Pass entzogen werden, womit sie auch ihre Anstellung in deutschen wie türkischen Diensten automatisch verloren. Ritter wurde schließlich wieder im August 1933 an der ‚Zweigstelle‘ angestellt. Vgl. Lier, S. 349. Plessner wurde 1956 Nachfolger Ritters in Frankfurt und hat in seinem Nachruf ebenfalls Ritter vor Antisemitismusvorwürfen in Schutz genommen. Vgl. R. Kany, op. cit. S. 42.

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wirken. Sicher verdiente Ritters emphatische Analyse der „Bildersprache“20 und sein Meer der Seele 21, gerade in der Weise wie sie in dieser Zeit mit kleineren Arbeiten zu Legenden und mythologischen Topoi in den arabischen, persischen und türkischen Volksliteraturen verbunden waren22, einer literaturtheoretischen Würdigung. Hier treten, wie mir scheint, Formen der Sublimation und inneren Begrifflichkeit mit alltäglicher Lebenserfahrung in der Fremde in eine Verbindung, die sich im kulturellen Sinne als äußerst produktiv erweist. Vielleicht waren auch Verbindungen mit Hamburger Künstlern oder der Einfluss von Kulturtheoretikern wie Aby Warburg und Ernst Cassirer am Werk.23 In der Tat hat Ritter zeitweise auch an der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg gearbeitet.24 In Ritters Bearbeitung der Istanbuler Handschriften und der Entdeckung ‚orientalischer Lebensthemen‘ ist andererseits durchaus eine Kontinuität islamwissenschaftlicher Betrachtung in der Tradition Ignaz Goldzihers und C. H. Beckers zu spüren. Dabei sind auch Fragen und Theorieeinsichten gewonnen worden, die sich auf das soziologische Denken der Zeit beziehen.25 20

21

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23

24

25

Hellmut Ritter. „Über die Bildersprache Nizamis“. Beiheft zu Der Islam. Berlin und Leipzig: Walter de Gruyter, 1927. Hellmut Ritter. Das Meer der Seele. Mensch, Welt und Gott in den Geschichten des Fariduddin Attar. Leiden: E. J. Brill, 1955. Engl. Übers.: The Ocean of the soul: man, the world and Gott in the stories of Farid alDin Attar. Transl. by John O’Kane with editorial assistance of Bernd Radtke. Leiden: E. J. Brill, 2003. E.g. „Die goldhaarigen Zwillingskinder. Ein libanesisches Märchen aus dem Volksmund“. Fabula. 10 (1969). S. 86-99. „Die Kreuzigung eines Knabens“; „Kindbeispiele aus ‘Amara“. 1942. Ritters ‚künstlerische Begnadung‘ war ja auch Gegenstand einer Beurteilung anlässlich seiner Wiedereinstellung durch den Präsidenten des DAI, Wiegand. Z. nach Lier. 1998. S. 346-7. Vgl. Roland Kany. Die religionswissenschaftliche Forschung an der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek. Bamberg: S. Wedel, 1989. S. 41: Hier auch die Erwähnung eines Vortags von Ritter 1921/22 an der Bibliothek (Hellmut Ritter. „Picatrix, ein arabisches Handbuch hellenistischer Magie“. Vorträge der Bibliothek Warburg 1921-22. S. 94-124; s.a. Hg. Hellmut Ritter. Das Ziel des Weisen. Leipzig/Berlin: Studien der Bibliothek Warburg, 1933). (Mit Dank folge ich hier einem freundlichen Hinweis von Leopoldo Waizbort). Im Leben der Orientalisten und Islamwissenschaftler spielt – vielleicht mehr als in den anderen Philologien – der Zugriff auf Handschriften eine

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Mein Interesse, an diesem ‚Exemplar‘ – es muss in aller Deutlichkeit gesagt werden – entspringt nicht nur meiner eigenen Doppelexistenz als Islamwissenschaftler und Soziologe, es tritt ein biographisches Moment hinzu: In der Frankfurter Seminar-Bibliothek, in der ich als junger Student arbeiten durfte, schwebte der ‚Geist‘ Hellmut Ritters gewissermaßen als abwesendes Zentrum. Die ‚Aura‘ dieser Bibliothek ist von Ritter beherrscht, ich meine dabei nicht nur die heute noch reichlich vorhandenen, seine Handschrift tragenden Karten im Handkatalog. Frankfurt, das war für mich der Widerspruch zwischen philologischer Islamwissenschaft und theorieorientierter Soziologie, von daher darf mich die Theorie-Seite des Werkes von Ritter gewissermaßen naturwüchsig interessieren. Zwei Aufsätze Ritters haben mein Interesse in besonderer Weise geweckt. Deutlich reagiert Ritter in diesen Aufsätzen – direkt oder indirekt – auf begriffliche Fragen, die vom Werk Max Webers beeinflusst sind. Beide Aufsätze versuchen Antworten auf Fragen der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen einerseits, und während und nach dem Zweiten Weltkrieg andererseits zu finden. Es geht um die Rolle von Ideologien in Ost und West. Besonders interessieren Ritter die Wirkungen von religiösen Ideen, kulturspezifische Begriffe des Sozialen und universelle Bedingungen des sozialen Handelns. Ritter geht von sehr spezifischen, mikrokosmischen Dingen aus, er fragt, wie Brüderlichkeit und Gemeinschaftssinn sich gegen scheinbar irrationale und sinnlose Kräfte und Prägungen in Staat und religiösen Institutionen behaupten, ja, einen universellen Charakter entfalten können. Diese beiden Aufsätze stelle ich in das Zentrum einer Betrachtung des orientalistischen Theorie-‚Exemplars‘ Hellmut Ritter: Es handelt sich erstens um den Aufsatz über Hasan alBasri in Der Islam von 1933, und zweitens um den Artikel über irrationale Solidaritätsgruppen und Ibn Khaldûns ‘asabiyya-Begriff, der geradezu schicksalhafte Rolle. Ich kenne das aus eigener Erfahrung, wie viel mehr noch müssen die Arbeitsinteressen und Forschungsmöglichkeiten von Ritter-Schülern und von ihm unmittelbar beeinflussten Orientalisten, wie etwa Joseph van Ess, Wolfhart Heinrichs, Rudolph Sellheim, Fuad Sezgin und Ewald Wagner (und davor Fritz Meier und Martin Plessner), von jenen schicksalhaften Zufällen bestimmt gewesen sein, die mit dem Hinweis auf, der Bereitstellung oder gar der apodiktischen Zuweisung von einzelnen Handschriften ins Rollen kamen. Hier eröffnet sich dem interessierten Kulturwissenschaftler ein weites Feld der reflexiven Betrachtung.

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im Oriens 1948, dem ersten Heft der von Ritter in Vorbereitung der Rückkehr nach Frankfurt gegründeten Zeitschrift erschien.26

3. Die Erscheinungsjahre der beiden Aufsätze markieren entscheidende Stadien im Entwicklungsgang des Wissenschaftlers Hellmut Ritter: 1933 – Machtübernahme durch die Nazis und Todesjahr Carl Heinrich Beckers – war für Ritter das Jahr der gewissermaßen definitiven Emigration; 1948 – das dritte Nachkriegsjahr – bezeichnet schon die bevorstehende Rückkehr nach Deutschland, eine neue Orientierungsphase im Westen, in Deutschland. Ritters ‚Weltbild‘ ist – wie dasjenige seines älteren Bruders – deutsch-konservativ. Die Emigration war nicht politisch erzwungen und immer auch von enger Zusammenarbeit mit deutschen Kollegen und Institutionen geprägt. Ritter war nicht, wie Auerbach und Spitzer und andere seiner Istanbuler Kollegen, vor der unmittelbaren Gefahr der faschistischen Verfolgung nach Istanbul 26

Herrn Prof. Ewald Wagner, meinem ehemaligen Lehrer am Seminar in Gießen, verdanke ich den bemerkenswerten Hinweis, wie die Arbeitsinteressen von Philologen sich ja doch häufig aus jenen „reinen Zufällen“ entwickeln können. Er mutmaßt, dass das Interesse Ritters an Hasan al-Basri einfach durch das Auffinden neuer Handschriften zu Hasan al-Basri in Istanbul geweckt wurde. Ihm scheint die Auswertung des Materials „recht dicht an dem zu bleiben, was Hasan al-Basri selbst sagen wollte.“ Er fügt dem hinzu: „Ich glaube im Meer der Seele lässt sich mehr ‚Ritter‘ finden als bei Hasan al-Basri.“ (Brief an den Autor vom 19. Februar 2005). Grundsätzlich stimme ich dem natürlich zu. Ich greife hier auf den BasriAufsatz zurück, um in doppeltem Sinne (Basri und Ritter) protestantische und neo-romantische Begriffsorientierungen anzuzeigen. Die im Meer der Seele entwickelte Sufismustheorie bleibt in diesen Orientierungen verankert, obwohl sie zugleich weit darüber hinaus weißt. Dankenswerterweise zeigt Herr Wagner, dass das Meer der Seele einen Sprengstoff eigner, ganz bedeutender Art darstellt. Diesen hier aufzugreifen, schien mir, würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Richtig ist, nimmt man den Pfad über Ritter erst einmal auf, dass man dann an Meer der Seele nicht vorbeikommt. Das klingt nach einer Auforderung und ist es auch! Bei Herrn Professor Wagner möchte ich mich an dieser Stelle auch für weitere Hinweise und freundliche Korrekturen an einem ihm in englischer Sprache vorgelegten Erstmanuskript bedanken!

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geflohen. Wie wir sehen werden, blieb auch seine auf kritisch moderne Weltoffenheit zielende Haltung in der Nachkriegszeit eher konservativ. Dass er im Sinne Stefan Georges an der Kleinschrift festhielt und in der Umschrift für das arabische ‚kh‘ das griechische ‚X‘ einführen wollte, war eher Ausdruck eines künstlerisch-rebellischen, wie Becker aber hellenistisch denkenden Einzel-Menschen, durch und durch von konservativem Individualismus geprägt. Hier liegt aber auch das subjektive Potential zu zurückhaltend politischer Distanzierung. Die intellektuellen Themen der Zeit, vom George-Kreis, vom Heidelberg der Webers beherrscht, der Zusammenhang von Tradition, Religion und wissenschaftlich-technischer Moderne, das waren auch Themen, die als unterliegende Folie sich in Hellmut Ritters Arbeit niederschlugen. In offenem Dialog treten Fragen dieser Art erst am Ende seiner Amtszeit als Professor in Frankfurt (1959) in einem anlässlich der von Gustave E. v. Grunebaum and Willy Hartner organisierten Tagung „Klassizismus und Kulturverfall“ gehaltenen Vortrag zu Tage. Ritter sprach hier explizit über ein Weber-Thema: die Rolle der religiösen Gelehrten bei der Ideenentwicklung des Islams. Weber war hierbei von der klassischen Islamwissenschaft inspiriert, er machte, sich auf die Resultate der Islam-Forschung im Deutschland des ausgehenden 19. Jahrhunderts stützend, die islamische Orthodoxie für den Kulturverfall im Orient verantwortlich. Ritter hebt dagegen einerseits die „wissenschaftliche“ Leistung der orthodox-islamischen Gelehrtenschicht – religiöse Intellektuellen ohne Amt und Kirche – hervor, anderseits weist er auch auf die relative Toleranz der orthodoxen Haltung gegenüber den Wissenschaften hin.27 Goldziher28 (und einer von Ritters Lehrer Theodor Noeldeke vorgegebenen ‚protestantischen‘ Richtung) folgend, hebt Ritter hervor, dass 27

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Hellmut Ritter. „Hat die religiöse Orthodoxie einen Einfluss auf die Dekadenz des Islams ausgeübt?“. Hg. Gustave E. v. Grunebaum/Willy Hartner. Klassizismus und Kulturverfall. Vorträge. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 1960. S 120-143. Ignaz Goldziher. „Die Stellung der alten islamischen Orthodoxie zu den antiken Wissenschaften“. Abhandlungen der königlich Preußischen Akademie der Wissenschaft. Jg. 15. no. 8. Berlin 1916. S. 3-46. Engl.: „The Attitude of Orthodox Islam Toward the ‚Ancient Sciences‘“ Studies on Islam. Transl. and Ed. by Merlin L. Swart. New York and Oxford: Oxford University Press, 1981. S. 185-215.

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die Wissenschaften in der Periode des klassischen Islams ihre Blütezeit hatten, auch wenn die islamische Orthodoxie sie in der säkularen, ja, heidnischen Kulturwelt verorteten. Nach Ritter förderte die Orthodoxie die Wissenschaften nicht, aber sie legte ihr auch keine Hindernisse in den Weg.29 Für Ritter sind die Beispiele der großen handschriftlich verfassten Kompilationen zur islamischen Geschichte etwa eines Ibn Asakir (Tarîkh Dimâshq) oder at-Tabari (Tarîkh) Beispiele einer übergroßen Arbeitsdisziplin der Gelehrten. Er folgt zwar Weber darin, dass man im Erwerbsleben dieser Schicht nicht von „innerweltlicher Askese“ sprechen kann, konstatiert aber, dass man von einer bewunderungswürdigen „Arbeitsaskese der Gelehrten“ sprechen müsse.30 Ritter hebt hervor, dass die Orthodoxie die säkularen Wissenschaften nicht behinderte, ja dass sie selbst große Anstrengungen zur gelehrten Arbeit förderten und selbst unternahmen. Ritter beendet seinen Vortrag mit einer zeitgeschichtlichen Replik, er stellt fest, dass heute islamische Gelehrte sich fast in einem Zustand „innerer Migration“ gegenüber der westlichen, „heidnischen Kulturwelt“ des wissenschaftlich-technischen Zeitalters befänden. Neue Errungenschaften und „Geschmackswerte“ werden vorgeschrieben, während das „religiöse Element“ der Kultur wie in einem externalisierten Naturpark konserviert wird.31 Ritter spricht von einer „biologischen Dekadenz“ der europäischen Kultur, von einer europäischen Selbstzerstörung der Kultur durch die Dominanz der Naturwissenschaften, ja, von der Rolle Europas als „Zerstörer anderer Kulturen“.32 Ich bringe vorweg diese Position Ritters aus dem Jahre 1960 nicht nur, um anzudeuten, wie sehr das innere Einfühlungsvermögen dieses ehemaligen intellektuellen Emigranten in Istanbul, Argumente vorbereitet, die erst später unter islamischen Intellektuellen in den 1970er Jahren ‚gang und gäbe‘ 29

30 31 32

Ritter. „Hat die religiöse Orthodoxie…“. op. cit. S. 140. Ritter bezieht hier, wie es scheint, eine Gegenposition zu dem wirkungsreichen französischen Religionsphilosophen Ernest Renan, der dem Islam und der Orthodoxie „Hass der Wissenschaft“ unterstellte. Vgl. Renan. „Der Islam und die Wissenschaft“. Vortrag gehalten in der Sorbonne am 19. März 1883. Basel: M. Bernheim, 1883. S. 23: „Was in der That den Muselmann wesentlich kennzeichnet, das ist der Hass der Wissenschaft […]“. Ebd. S. 141. Ebd. S. 142. Ebd. S. 143.

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wurden, sondern auch um anzuzeigen, dass Ritter mit Max Webers Theorie der Moderne gut vertraut war.

4. Wir dürfen mit einigem Recht behaupten, dass Ritters Themen schon in den 1920er und 1930er Jahren nicht nur durch innere Islamwissenschaftliche Entwicklungen und die Leistungen seiner Vorgänger in der älteren Generation wie etwa Theodor Noeldeke, Ignaz Goldziher und Louis Massignon (nicht zu vergessen ist auch der Einfluss der rein ‚sprach-positivistisch‘ ausgerichteten ‚Leipziger Philologie‘ der Fleischer-Schule) vorgezeichnet waren. Von Deutschland her war der Einfluss des protestantischen Elternhauses wichtig. Der deutsche Protestantismus, angeschlagen von Nietzsches Nihilismus-Vorwurf, reagierte in der Ära nach Nietzsche auf diese Kritik mit der Suche nach positiven protestantischen Lösungen. In den protestantischen Hochburgen Heidelberg, Tübingen, Marburg formierte sich ein neuer weltoffen intellektueller, bürgerlicher Konservativismus, der später vor der braunen Flut kapitulieren sollte – wenn nicht mit ihr zog. Die kulturkritischen Stimmungen des George-Kreises und die philosophischen Orientierungen, die in den intellektuellen und künstlerischen Zirkeln der frühen Weimarer Zeit vorherrschten und von Namen wie Ludwig Klages, Max Scheler und Martin Heidegger geprägt waren, beherrschten auch die Geisteswissenschaften. Man kann diese deutsche Stimmung der Zeit als eine Art neo-romantische Bewegung, als ‚Lebens‘- und ‚Liebes‘-zentriert bezeichnen, als eine Kultur-Welt, die mit der Realität des europäischen Nachkriegs-Modernismus fertig zu werden, und dabei eine spezifische authentisch deutsche Position zu finden suchte. Der junge Orientalist, der zum Soldaten, der Soldat, der in der Fremde wieder neu zum Orientalisten wurde, bewegte sich lebenspraktisch wie intellektuell im konservativen Feld der kulturellen Aufbruchstimmung nach dem Ersten Weltkrieg. Gemeinschaft, Brüderlichkeit, Geistigkeit waren Termini des Neo-Romantizismus Heidelberger Prägung, die in bürgerlichen Kreisen gegen die harte institutionelle Welt der Gesellschaft definiert wurden.33 Zweifellos spielte 33

Wie wenig der Neo-Romantizismus nur eine deutsche Kulturbewegung gewesen ist, obwohl ja doch von Nietzsche so umwerfend beeinflusst, ma-

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die Stimmung im Heidelberger Kreis der Webers, zu dem auch Carl Heinrich Becker schon in den Vorkriegsjahren zählte, eine Rolle und auch der ältere Bruder begann dort seine sehr erfolgreiche Karriere als deutscher Historiker.34 In den Spannungen solcher Strömungen stehen Ritters „Studien zur Geschichte der islamischen Frömmigkeit, I., Hasan al-Basri“; sie erschienen 1933 in Der Islam (der von Becker 1912 gegründeten Zeitschrift, die zunächst von R. Strothmann und später dann auch von Ritter selbst herausgegeben wurde).35 Der Aufsatz besteht aus vier thematisch getrennten Abschnitten: Es handelt sich erstens um Betrachtungen, Korrekturen und Ergänzungen zu den bis dahin vorliegenden Quellen zu Person und Werk Hasan al-Basris (st. 726), vor allem aber um eine kritische Besprechung der in Louis Massingnons Receuil 36 zusammengestellten Quellen, denen Ritter nun seine in Istanbul entdeckten weiteren Quellentexte gegenüberstellt und zugleich für diese die höhere Authentizität einklagt.37 Zweitens setzt sich Ritter mit Hasans religiösen Grundbegriffen vor allem der Frömmigkeit und des sinnvollen Lebens auseinander.38 Es folgt drittens eine Diskussion

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chen die in der angelsächsischen Literaturwelt bis heute so erfolgreichen Themen eines D. H. Lawrence sichtbar. Hier wird eine sehr transnationale Bedeutung der intellektuellen Themen des Neo-Romantizismus für das moderne Selbstverständnis deutlich, das in der überragenden Arbeit von Martin Green, The von Richthofen Sisters. The Triumphant and the Tragic Modes of Love. Albuquerque: University of New Mexico Press, 1974 angesprochen wird. Für orientalische Migrationen und ihre Bedeutung für kulturübergreifende Konstitutionen des modernen Bewusstseins sind solche Themen erst noch zu entdecken, obwohl, wie die jüngste Arbeit von Sedgwick, op.cit. 2004, zeigt, sie allenthalben unter der Oberfläche liegen. Zu Webers soziologischem Einfluss auf Becker, vgl. mein Islam und westlicher Rationalismus. 1993. S. 95-97. Der Aufsatz ist nicht in Liers Überblick von Ritters wissenschaftlichen Arbeiten in Istanbul aufgelistet, vgl. Lier. 1998. S. 349-355. Louis Massignon, Receuil de textes inédits concernant l’histoire de la mystique en pays d’Islam. Paris: Geuthner, 1929. Ritter. „Hasan al-Basri“. op.cit. S. 1-12. „eine Anschauung über die besondere Art seiner Frömmigkeit zu gewinnen, d.h. über die Form, in der er mit den Gegebenheiten der Religion, in der er aufgewachsen war, persönliches Leben zu gestalten suchte und zu gestalten lehrte, den Sinn des menschlichen Daseins begriff und deutete und ihm Zweck, Ziel und Aufgabe bestimmte.“ Ritter. Hasan. S. 12-53, hier: S. 12.

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von Hasans theologischer Begründung der Prädestination und des freien Willens. Ritter arbeitet auf Basis einer von ihm neu entdeckten Handschrift39 Hasans quietistische politische Position heraus. Es folgt schließlich viertens eine Edition des arabischen Textes dieser Handschrift.40 Es fällt auf, dass Ritter zunächst mit einer etwas kleinlich-umständlichen philologischen Herabsetzung von Louis Massignon wegen dessen, wie er meint, nachlässigen Umgangs mit den Quellen beginnt. Man kennt solche handwerkliche Kritik aus Hunderten von ZDMG Aufsätzen und Notizen der Zeit und kein minderer als auch Ignaz Goldziher durfte sich als Opfer solcher Angriffe verstehen.41 Doch hier werden mit der philologischen Kritik auch die eher synthetischen Fragen vorbereitet, die die Stoßrichtung des Ritter-Aufsatzes bilden. Ritter scheinen vor allem religionsvergleichende und religionstheoretische Aspekte des Frühislams zu interessieren. Erstaunlich dabei ist, dass er zwar ganz offensichtlich von Max Webers Protestantismusthese beeinflusst ist, dass er aber Webers fragmentarische Soziologie des Islams nicht zu kennen scheint.42 Ritters Weber-Perspektive bezieht 39

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„Hasan’s Standpunkt zu einem der zu seiner Zeit lebendigsten dogmatischen Probleme, dem Problem der Willensfreiheit, zu ermitteln und zu verstehen, wobei wir uns auf ein u. M. n. sehr wichtiges Dokument stützen, die Risale Hasan’s an ‘Abdalmalik“. Ebd., S. 12. Vgl. a. S. 53-66. Kataba ‘Abdalmalik b. Marwan ila al-Hasan al-Basri; Fa-kataba ilayhi alHasan al-Basri (RA‘a.). Ebd., S. 67-83. Vgl. Goldziher. Tagebuch. Hg. Alexander Schieber. Leiden 1978. passim; vgl. a. Robert Simon, Ignaz Goldziher. His Life and Scholarship as Reflected in his Works and Correspondence. Leiden/Brill/Budapest: Hungarian Academy of Sciences. Etwa S. 378, wo Goldziher sich solcher Attacken als „Fliegenfängerei“ erwehrt. Das ist durchaus verständlich, da Wirtschaft und Gesellschaft einem breiteren Publikum und besonders im Ausland noch nicht geläufig gewesen sein konnte. Die heutige Islamwissenschaft hat ihren Frieden mit Weber, wenn auch nur in Hinsicht auf seine These von der Bedeutung der Kriegerethik für den frühen Islam. Die verborgene Agenda von Webers ‚Protestantismus‘ und die missliche Übertragung der Begriffe seiner Religionssoziologie auf den Islam bleibt ein Problem. Vgl. Josef van Ess. Der Fehltritt des Gelehrten. Die ‚Pest von Emmaus‘ und ihre theologischen Nachspiele. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2001. S. 5; 381-392. Dabei wäre natürlich auch der Wirkungskreis von Webers Protestantismusthese im innerislamischen Diskurs der Moderne zu berücksichtigen.

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sich auf den spezifischen Fall Hasan al-Basri als ein Problem der Bedeutung des inneren religiösen Gefühls in Bezug auf eine soziale Haltung zur Welt. Sichtlich geht es ihm um die idealtypische Beschreibung eines sozialen Akteurs, dessen Denken vollständig von einer innerlichen Religiosität beherrscht ist.43 Ritter listet bei Basri jene religiös inspirierten Motive auf, die wie beim protestantischen Typ eine unmittelbare Gottesfurcht, eine unmittelbare, innere Gotteskommunikation, und damit auch eine unmittelbare Handlungsorientierung des Einzelnen voraussetzen. Hasan alBasri ist ein Typ der individuellen Religiosität, der – im Islam wie im Protestantismus – für die moralische Verantwortlichkeit des Einzelnen gegenüber Gott einsteht. Es geht hier um einen Gesinnungshandelnden, dessen Begriff von Frömmigkeit nur auf die Furcht vor Gott gebaut ist.44 Es ist vor allem nicht die sozial bedingte „Zugehörigkeit zur islamischen Gemeinde“45, sondern vielmehr die individuelle Verantwortung, in der der Mensch allein Gott gegenübertritt, die Verantwortlichkeit in „den letzen Dingen ganz allein“.46 Hier möchte man fast unmittelbar an Webers Beschreibung der Calvinisten denken, denn Ritter spricht von einer mentalen Haltung, einer „Gemütsstimmung“ der „Angst“ und „Trauer“, in der die „melancholische Natur“ des Hasan verhaftet ist.47 Hasan erscheint als der islamische Idealtyp des richtig moralisch Handelnden. Gottesfurcht führt zu einem ethischen Zustand und zu einer inneren Ernsthaftigkeit, durch die erst die Idee der eschatologischen Klassenlosigkeit des 43

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Der Katholik Massignon trifft die ganze Richtung dieses Ansatzes in der deutschen Islamwissenschaft, wenn er von Goldziher ausgehend, Becker als den Hauptvertreter einer Schule sieht, die die „Entwicklung des islamischen Dogmas durch Verinnerlichung“ zu verstehen sucht. Vgl. „L’amitié de C. H. Becker, arabisant et islamisant“. Carl Heinrich Becker. Ein Gedenkbuch. Hg. Louis Massignon. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1950. S. 114-116, hier: S. 114. Ritter. Hasan. S. 14. Ebd., S. 15. „Töricht, wer durch das Gefühl der Geborgenheit in der Menge der Mitmenschen sich darüber hinwegtäuschen läßt, daß er den letzten Dingen ganz allein gegenüber stehen wird“. Ebd., S. 16. Vgl. „melancholische Natur“, die der „heiteren Natur“ gegenüber steht. Ebd., S. 19.

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Menschen Gestalt annehmen kann. Im Gegensatz jedoch zur gesteigerten innerweltlichen Praxis der Calvinisten, gibt Hasans Vorstellung, dass das Diesseits nur ein Handeln im Schatten des Jenseits erlaube, nur eine sehr ambivalente diesseitige Orientierung vor. Ritter kann an dieser Stelle eine gravierende Differenz zur „innerweltlichen Askese“, die ja bei Weber den Drang nach „Außerweltlichkeit“ diesseitsorientiert sublimiert. Er weist auf Hasans Forderung nach guten Taten im „Hier“ hin, doch überwiegen die Momente einer absoluten – letztendlich quietistischen – Weltverneinung in Hasans Doktrin.48 Dies drückt sich auch in Hasans Armutsgebot und Zurückweisung jeden Reichtums aus.49 Es handelt sich nicht nur um ein rein asketisches Verhältnis zum Armutsgebot. Hasan liefert eine quasi theologische Begründung für die Forderung, jegliche ökonomische Tätigkeit über den bloßen Lebensunterhalt hinaus zurückzuweisen. Diese Haltung einer auf bloßem Lebensunterhalt gegründeten Wirtschaftsethik – mit dem späteren Sufi-Begriff des tawwakul umschrieben – misst sich am Maß der Lebenszufriedenheit (rida; Zufriedenheit) und steht in offenem Gegensatz zu der rastlosen Heilsungewissheit der Calvinisten. Es ist wichtig anzumerken, wie sehr Ritter Hasans Forderung nach Ausgleich und Lebensbalance betont, die mit dem Erlösung heischenden Asketismus Calvins nichts zu tun hat. Hasan steht gegen jede Haltung des interessegeleiteten Handelns zur Mehrung des Reichtums und die damit verbundenen bösen Taten.50 Ritter verdeutlicht dies am Beispiel des Koranlesens. Für Hasan ist das Koranlesen eine aktiv organisierte Zeit der Frömmigkeit, eine Frömmigkeit der guten Tat.51 Ritters Interpretation der Theologie Hasan al-Basris zielt auf die Darstellung einer Figur, die auf frappante Art Webers Idealtyp des Calvinisten ähnelt, zugleich aber sich in entscheidender Weise von ihm abhebt. Die außerweltliche Religiosität Hasans, die auf kontrolliertes ethisches Handeln zielt und in der Selbstversicherung einer inneren religiösen Haltung, orientiert an dem Weg aus der diesseitigen 48 49 50

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Ebd., S. 21-24. Ebd., S. 24-26. „Wer am ersten nach dem Reiche der Ewigkeit trachtet, dem wird das Diesseits von selber zufallen, wer aber nach dieser Welt trachtet, wird beide verlieren“. Ebd., S. 28. „Eine höchst aktive, auf das jenseits gerichtete und die Zeit auskaufende Werkfrömmigkeit“. Ebd., S. 29.

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Welt heraus ins Jenseits, ruht, hat ganz gegensätzliche lebenspraktische Wirkungen als die innerweltliche Askese der Protestanten – obwohl sie in ihrer theologischen Begründung dieser in vielem sehr ähnelt. Hier wie da geht es um ein – entpriesterlichtes – persönliches Verhältnis des Menschen zu Gott. Während der Calvinist darin seine Haltung zum gezielten Handeln begründet, geht es Hasan um eine Haltung des Herzens.52 Jenseits aller rituellen Formen der Selbstversicherung, erkennt Hasan nur die balancierende, religiös-ethische Selbstkontrolle, ja Selbstbeschränkung an (muhasaba).53 Dem Protestanten selbst aber ist aus dem Herzen gesprochen, wenn er erkennt, dass ‚innere Wahrheit‘ auch Hasans wichtigste Tugend ist. Es geht um die Ablehnung der im öffentlichen Posieren liegenden Lüge, ri‘a‘, um die offene Korrespondenz zwischen öffentlicher und privater oder verborgener Rede, von Innen und Außen, von innerer und äußerer Religion. Darin kann auch Ritter, der protestantische Pfarrerssohn, ein vergleichend anerkennendes Verhältnis zu Hasans Islam entwickeln. Er beschreibt die Einfachheit und Unmittelbarkeit von Hasans Forderung, den Menschen nach der Stimmigkeit ihres Tuns zu beurteilen, nicht nach ihren Worten. Große, berühmte Männer sind darin gleich, dass auch sie der Furcht vor der Vergänglichkeit und der Erfahrung der Nichtigkeit ihres oft gegensätzlichen Verhaltens unterliegen. Diese Kohärenzforderung beinhaltet – das hebt Ritter hervor – aber auch eine Selbstbehauptung des Menschen in der Betonung der Lebenslust, und auch der religiöse Mensch ist nach Hasan gefordert, die guten Sitten in Essen und Kleidung zu wahren.54 Dieses subjektive Um-Sich-Selbst-Kümmern, die Sorge um das eigene Leben, nicht das Ziel, Kontrolle über andere auszuüben, ist es, was Hasans Muslim von dem Protestanten Calvinscher Prägung unterscheidet. In diesem Zusammenhang verweist Ritter auf Hasans spätere Rolle als Leitfigur für die Futuwa-Bruderschaften mit ihrer Betonung der brüderlichen Gesinnung (uhuwa) und ihrem Altruismus. Ritter weist auf die im Islam weit verbreiteten Überlieferungen hin, die Hasans Großzügigkeit und immer auch auf Gegenleistungen bedachtes

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„Es heil, in gutem Zustande zu erhalten, ist das Ziel der religiösen Selbstkontrolle.“ Ebd., S. 31. Ebd., S. 32f. Ebd., S. 37-40.

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Verhalten preisen, und zeigt, wie sehr sie den ethischen Diskurs im Islam beherrschen.55 In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass Hasan nicht ohne Ironie den Munâfiq, den Heuchler, sich als einen, der sich im Wandel zwischen gelehrtem „Mann Gottes“ und reichem „Mann der Welt“ bewegt, vorstellte. Heuchler sind für ihn die ‘ulamâ, die den weltlichen Reichen dienen, um sich ihr Geld anzueignen, wo doch in der islamischen Frühzeit die weltlichen Reichen den ‘ulamâ dienten, um sich ihres Wissens zu bemächtigen.56 Für Ritter steht Hasan al-Basri auch als die Figur des Übergangs zwischen den Muslimen der ersten Stunde und der Ursprungsidee des Islams einerseits und den nachfolgenden Generationen andererseits. Noch ist Hasan durch das Ideal der ersten Gefolgsmänner des Propheten geprägt, sie stellen auch den Inbegriff seiner ‚Frömmigkeit‘ dar.57 In politischer Hinsicht bezieht Hasan letztlich für die moralische Idee des Propheten Stellung. Er argumentiert, dass letztlich auch die Herrscher der persönlichen Beziehung zu Gott und den Dingen des Jenseits unterworfen sind, auch wenn im Diesseits Gesellschaft und Religion dem Herrscher unterworfen sind. Hasan ordnet alle menschlichen und sozialen Probleme dem Standpunkt der Religion unter. Er trennt diese säkulare Dimension der Religion aber eindeutig von der Sphäre der Politik. Für Ritter steht Hasan als ein quietistischer apolitischer Begriff der Religion. Es ist nicht Aufgabe des religiösen Menschen, sich gegen ungerechte Herrschaft zu erheben. Der Wandel kommt von Gott allein und steht ‚sub specie eternitatis‘, er kommt durch göttliche Strafe oder Vergebung, nicht durch das Schwert.58 Ritter lässt sodann eine detaillierte Analyse von Hasans Theologie des Rechts und des Freien Willens folgen, die er mit der praktischen Haltung Hasans vergleicht. Es ist eindeutig die subjektive Haltung der religiösen Selbst-Kontrolle, mit der sich Hasan zwischen die verschiedenen politischen Strömungen seiner Zeit stellt. Diese Selbstbestimmtheit wird zu einer machtvollen Haltung des zivilen Verhaltens und der sozialen Regulierung: ‚sub specie eternitatis‘ steht der Einzelne und das ist eine zivile Alternative zu ‚Regierung‘ und ‚politischer Herr55 56 57 58

Ebd., S. 40-42. Ebd., S. 42-47. Ebd., S. 47-49. Ebd., S. 49-53.

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schaft‘. Ritter zeigt andererseits Hasan als politischen Pragmatiker, dessen Einfluss auf die Herrscher groß war, scheinbar gerade dadurch, dass er wenig darauf hinarbeitete, die Entscheidungen des Herrschers an seine eigenen Ideen zu binden.59 Zusammenfassend stellt Ritter die folgenden Prinzipien und Ideen Hasans heraus, die von entscheidender Wirkung für die spätere Entwicklung der islamischen Theologie waren: - Methode der Selbstkontrolle (bei Hasan ein religiös ethisches Moment, das später nur noch – wie Ritter meint – zur reinen Gefühlsmystik verkümmerte); - Brüderlichkeit und selbstaufopfernder Altruismus (erhält sich nach Ritter nicht nur im Sufismus, sondern auch in den Futuwwa-Orden) - Hasans Prinzip der Nichteinmischung in das politische Leben (das von Außen kommende ‚taghyir al-munkar‘ und das Abschwören des Schwertes wird von dem ‘amr bil-ma‘ruf wan-nahj ‘ani l-munkar‘ der religiösen Bekehrung der Mu‘tazila eingeholt); - Hasans Typ der Qadariyya – i.e. Vorherbestimmung, ja, jedoch nicht ohne Auflösung der persönlichen Verantwortung (wird aufgelöst in eine rein theologische Kategorie der Dogmatik); - Hasans Zurückweisung des rein ökonomischen Interesses und der weltlichen Zukunftsorientierung (wurde später zu einem großen Topos unter den religiösen Leuten in Bezug auf die religiösen Stiftungen). Es ist hervorzuheben, wie sehr die al-Basri-Studie Ritters letztlich an der Weberthese orientiert ist. Der Frühislam mit Hasan als Leitfigur, die inneren religiösen Motive der Zeit repräsentierend, erscheint als eine dem Protestantismus nahe kommende Religion, wenn sie auch zu anderen, weltabgewandten, aber durchaus lobenswerten Lösungen kommt. Dagegen stellt sich die spätere dogmatische Entwicklung als Abfall von diesen Prinzipien und Ideen und deshalb als Niedergang dar. Ritter sieht in Hasan al-Basri den Idealtyp eines energischen religiösen Intellektuellen mit beispielhafter ethischer Spiritualität. Doch weigert sich Hasan, weltliche Politik und das Verfolgen ökonomischer Interessen als moralisch vertretbar oder gar erstrebenswert zu betrachten. Man könnte sich sehr wohl fragen, ob hier nicht auch Motive aufgegriffen und verstärkt werden, die Ritter selbst betreffen: ein konservativer protestantischer Islamwissenschaftler, der zwischen ab59

Ebd., S. 56-64.

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soluter Hingabe an die Wissenschaft, neo-romantischer Lebensphilosophie und den politischen Wirren seiner Zeit hin und her gerissen wurde. Ritters Freund und Lehrer, das erfolgreiche ‚Vorbild‘ Carl Heinrich Becker, hat sich früh aus der Wissenschaft in die Politik gewagt. Ein Weltmann, den es mit den politisch Mächtigen in der deutschen Sozialdemokratie nach dem ersten Weltkrieg schrittweise in die Bildungspolitik zog, und sowohl als anerkannter Orientalist und Islamwissenschaftler, als auch als Bildungspolitiker genoss Carl Heinrich Becker hohe Anerkennung. Dem reinen Wissenschaftler Ritter, dem in dieser Zeit gewissermaßen von der Politik der Boden unter den Füßen hinweg gezogen wurde, blieb nur die Wissenschaft als Ideal. In der Zeit als Ritter den Basri-Aufsatz schrieb, machte er sich aber auch Hoffnungen auf den Lehrstuhl Beckers, der in Bonn verwaiste, während Becker durch den zunehmenden Machtzuwachs der Nazis aus dem Amt des preußischen Staatsministers für Bildung getrieben wurde.60 Aber Ritters ambivalent quietistisches Verhältnis zur Politik (das er in Basri wiederfindet), kann auch durch die Beziehung zu seinem älteren Bruder erklärt werden. Dieser war damals eine aufsteigende und später beherrschende Figur der deutschen Geschichtswissenschaft, dessen Erfolg so sehr mit der Politik des ‚neuen Reiches‘ verknüpft war, dass man ihn getrost als das protestantische Pendant zu dem Juristen und Staatswissenschaftler/Soziologen Carl Schmitt bezeichnen könnte. Gerhard Ritter hatte sein Lebenswerk dem historischen Diskurs über politische Theologie und Macht und dem Einfluss des Protestantismus bei der Begründung des modernen deutschen Staatswesens gewidmet. Er überlebte die Nazizeit und stand wieder als glanzvoller Doyen der bundesrepublikanischen Historie auf. Der emigrierte jüngere Bruder erscheint in der Basri-Studie eher als ein zwischen der Welt des frühen Islam und dem aufgeklärten Protestantismus hin- und her- schwankendes Schiff. Er war schon 1926 aus dem Amt vertrieben und gewissermaßen nach Istanbul zwangsversetzt worden, und widmet sich jetzt in den Wirren des politischen Umbruchs um 1933 der islamischen intellektuellen und moralischen Leitfigur Hasan al-Basri. Man könnte dies auch als eine zögerliche intellektuelle ‚Rückwanderung‘ vom Bosporus nach Deutschland betrachten: ‚neuer Geist‘; ‚neues Prophetentum‘, das gilt auch in der Basri-Studie als kulturproduktiv. Doch verhaftet 60

Ritter. „Carl Heinrich Becker“. Der Islam. 1937.

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Ritters Studie ganz apolitisch in einer Beschwörung von Hasan alBasris transzendenter Begründung von weltlicher Wahrheit, in einer inneren Kritik der ‚Männer der Welt‘, sie gipfelt in dem unterliegenden Glauben an die reine Wissenschaft als die neue gesellschaftliche Moral. Man könnte fast meinen, dass Ritter – wie in Deutschland Stefan George – das ‚neue Reich‘ nicht unterstützt, ihm aber geistig nichts entgegensetzt. Mir scheint aus heutiger Sicht noch ein anderer Aspekt der Ritterschen Basri-Studie wichtig. Auch hierin kommt ‚Rückwanderung‘ zum Ausdruck. Ritter betont die Verbindung von Religion und Selbstkontrolle, Selbstbeherrschung und ziviler Haltung. Er macht Basri darin zu einem einzigartigen und überragenden Exemplar eines ‚zivilen‘, ja, ‚zivilisierten‘ Islams. Das sind auch Grundlagen des modernen zivilen, ja auch des fundamentalistischen Islams, für die Hasan noch heute Gültigkeit hat. Hasans Forderung an den gläubigen Muslim, sich außerhalb des Feldes der politischen Öffentlichkeit zu bewegen und sich von den Menschen mit politischer und ökonomischer Macht zu unterscheiden, seine Theologie der Armut – das sind bleibende Themen im modernen Diskurs des Islams. Ritter weist damit auch auf innere Grundlagen für einen modernen Islam hin: Persönliche Verantwortung des Einzelnen, Selbstbeherrschung und Askese (auch wenn sie durch Entwicklungen nach Basri verloren gegangen sind) bleiben Grundlagen für einen modernen zivilen Individualismus. Ritter teilt mit Hasan al-Basri das Postulat der inneren und äußeren Wahrheit von Rede und Verhalten, das moderne Potential dieser Forderung liegt in der vergleichenden Perspektive: Hier der ‚reine‘, frühe Islam als kulturelle Erneuerung, dort die Protestantismusthese Max Webers.

5. Das Bild von der soziologisch inspirierten Wanderung Hellmut Ritters zwischen Ost und West über das brückenschlagende Istanbul kann durch einen zweiten Aufsatz von Ritter ergänzt werden, der kurz vor seiner ersten Rückkehr nach Frankfurt 1948 erschien. Es handelt sich um den Eröffnungsaufsatz des ersten Hefts von Oriens, der Zeitschrift der in Istanbul von Ritter gegründeten ‚International Society for Oriental Research‘ über „Irrational Solidarity Groups“, Gruppen irrationaler Solidarität. Zwischen diesem Ibn Khaldûn-Aufsatz und

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der referierten Basri-Studie liegen 15 Jahre, davon 12 Jahre faschistischer Herrschaft mit 6 Kriegsjahren. Für Ritter war dies eine Zeit der aktiven philologischen Kleinarbeit, kaum der Themen von umfassender sozialer oder philosophischer Bedeutung. Der Ibn Khaldûn-Aufsatz – wie Ritter zu erkennen gibt – war 1943 in Bebek, dem illustren Vorort am Bosporus – geschrieben und 1947 mit Zusätzen versehen worden. Während der Basri-Aufsatz von Religion handelte – deutlicher, sich mit der Frage, wie sich religiöse Doktrin auf soziales Handeln auswirkt, beschäftigte – geht es im 1948 publizierten Ibn Khaldûn Aufsatz um Macht, genauer um die Frage, was sind die bewegenden Kräfte, die an der Wurzel des historisch-politischen Prozesses liegen?61 Eine Frage, die sich seit Weber deutsche Geschichts- und Staatswissenschaftler immer wieder stellten. Weber hatte auf diese Frage einst mit einer modern fundamentalen Antwort reagiert: Kultur, mit ihren in den letzten Dingen wurzelnden Ideen und den sie tragenden Interessen! Hellmut Ritter beginnt seinen Aufsatz mit einer Replik auf ein 1940 erschienenes Werk seines älteren Bruders Gerhard über Machiavelli und Morus. Man kann Nietzsche kaum unterstellen, dass er seinen ‚Willen zur Macht‘-Begriff je überhaupt dezisiv auf politische Prozesse bezogen habe. Gerhard Ritter setzt aber genau den Willen zur politischen Macht als das Grundmotiv aller historisch-politischen Prozesse. Gerhard, der während des Zweiten Weltkriegs Geschichtsprofessor in Freiburg war und es auch nach Kriegsende blieb, bezieht sich nicht auf Nietzsche, sondern auf Machiavelli und baut von ihm ausgehend seine These von der Verschlungenheit von ‚Willen zur Macht‘ und Ideologie auf. Interessant ist, dass die 1947 erschienene Nachkriegs-Auflage des 1940 erstmals publizierten Werkes mit einem politisch modifizierten Titel versehen wurde: Aus dem einst bekräftigenden „Machtstaat und Utopie“ wurde nun kritisch die Parole „Dämonie der Macht“. Hellmut Ritter kritisiert an den Thesen seines Bruders, dass sie zu sehr auf die „wirklichen Machtinteressen“ gesetzt sind, auf den politischen Erfolg desjenigen, der mit der stärksten Lebenskraft für seine „egoistischen Interessen“, „die Durchsetzung seines eignen Willens“ kämpft, und der „seinen eignen Willen zur Macht“

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Ritter. „Irrational Solidarity Groups“. Oriens. S. 1. „What are the motive forces that are at the root of historico-political processes?“.

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mit dem Kampf für sein eignes Anliegen verbinden kann.62 Doch er arrangiert sich mit seinem Bruder, sanft merkt er an, dass über die bloße Kampfkraft und „organisierte Gewalt“ hinaus es zum politischen Erfolg auch einer weiteren, in Machiavellis virtù-Begriff angelegten Komponente bedarf, und hebt „ethische Vernunft“ und „öffentlichen Geist“ hervor.63 Mit dieser Replik auf ein Werk des älteren Bruders beginnt also der Aufsatz, des jüngeren, der als Orientalist fachlich an der Peripherie von Staatswissenschaft und Geschichte operiert. Gewissermaßen vom Ort der Verbannung her argumentiert der jüngere Bruder. Seine Analyse setzt an Ibn Khaldûns Begriff der ’asabiyya (Solidaritätsgefühl) an. Der Begriff des muslimischen Geschichtstheoretikers Ibn Khaldûn (1332-1406), das Verschlungensein von religiösen Ideen und historischer Entwicklung einschließend, ist heute zu einem der sensitivsten Elemente im Diskurs über Islam und Moderne geworden ist.64 Ritter 62

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Ebd. S. 2; Zitat aus: Gerhard Ritter. Machtstaat und Utopie. Vom Streit um die Dämonie der Macht seit Machiavell und Morus. München 1940, S. 32. Hellmut Ritter merkt kommentarlos an, dass der Nachkriegs-Neudruck des Buches mit einem neuen Titel versehen ist: Die Dämonie der Macht, Betrachtungen über Geschichte und Wesen des Machtproblems im politischen Denken der Neuzeit. Stuttgart 1947. Aus dem machtideologischen wird ein potentiell machtkritisches Denken angezeigt. Oh Wunder des Wandels! Im Gegensatz zwischen Machiavelli und Ibn Khaldun deutet sich eine Frontstellung der beiden Brüder an, die sicher viel über die ideengeschichtlichen Konfigurationen im konservativ-humanistischen Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aussagt: hier der nach innen instrumentalisierte, zur Macht treibende Neo-Romantizismus, dort der individualisierte, sublimierende Neo-Romantizismus, die Sehnsucht zum Anders-Sein oder das Anders-Bestimmtsein, das nach außen Fliehende oder ins Exil Getriebene. Gerhard Ritter war maßgeblich dann an der Rückkehr und Berufung seines Bruders nach Frankfurt beteiligt (Hammerstein, op. cit., S. 799). Der kleine ‚Brudermord‘, der sich hier vollzieht, könnte durchaus als das Vorspiel für den Angriff auf einen anderen Förderer bezeichnet werden, auf Max Horkheimer an der Frankfurter Philosophischen Fakultät. S. o. Fn 3. Ritter. „Irrational Solidarity Groups“. S. 3. Cf. Ernest Gellner, Muslim Society, CUP 1981; Aziz al-Azmah, Ibn Khaldun, Cairo: American University Press, 1984; vgl. a. Shmuel N. Eisenstadt. „Concluding Remarks: Public Sphere, Civil Society, and Political Dynamics in Islamic Societies“. The Public Sphere in Muslim Societies. Hg. Miriam Hoexter, Shmuel N. Eisenstadt und Nehemia Levtzion. New York:

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hebt die Ähnlichkeit zwischen Ibn Khaldûns Begriff der ‘asabiyya und Machiavellis virtú hervor. Beide bezeichnen das Momentum der Intensität und der Situation als die „emotionale Komponente“ der Machtbildung. Dabei ist für Ritter das Element des Zusammentreffens von Stammeszusammengehörigkeit (-Solidarität) und religiöser Propaganda nicht das vorherrschende. ‘Asabiyya steht bei Ritter für ein vielfach gelagertes Konzept, das Glaubwürdigkeit in der Gemeinschaft, Wille zur Verteidigung, Bereitschaft zur Selbstaufopferung, innere Geschlossenheit, gemeinsamer Wille zur Macht, nationale Leidenschaft, religiöser Fanatismus meint, kurz alles was das ‚Solidaritätsgefühl‘ fördert. In diesem Sinne wandelt sich der ‘asabiyya Begriff zu einer allgemeinen Dimension kollektiver Macht, ein Begriff, der sowohl religiös als auch ethisch beladen ist. Es verwundert daher nicht, wenn Ritter, wo er soziale Gruppen, im Zeichen der ‘asabiyya stehend, meint, nicht sich unmittelbar auf die Blutabstammungsgruppen Ibn Khaldûns bezieht65, sondern auf die Solidarität der „finer natures“, „two friends“, the „warm feeling of friendship“. Die exklusive Freundschaft steht bei ihm im Mittelpunkt. Erst an zweiter Stelle kommt er auf die Familiengruppe zu sprechen66, insgesamt aber stehen für ihn die verschiedenen Arten unmittelbarer sozialer Gruppen im Vordergrund, die sich auch im modernen sozialen und professionellen Leben, über Muster der ‚irrationalen‘ Solida-

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State University of New York Press, 2002. S. 139-162, insbes. S. 156ff.; Johann Arnason und Georg Stauth. „Civilization and State Formation in the Islamic Context: Re-reading Ibn Khaldûn“. Thesis Eleven. 76. Feb. 2004. S. 29-47. Vgl. a. Georg Stauth. ‘asabiyya, International Encyclopaedia of Sociology. Oxford: Blackwell, 2006. Ritter weist darauf gegen Ende seines Aufsatzes hin. Ritter. „Irrational Solidarity Groups“. S. 19-20. Ich bin nicht sicher, ob ich hier zu einseitig interpretiere – wie Leopoldo Waizbort anmerkt. Ritter fängt in der Tat „mit der Gesellschaft zu zweien“ an, und „nimmt den Weg von kleineren zu größeren Verbindungen“, doch hier liegt zunächst Ibn Khaldûn und nicht Simmel nahe, und es hätte wohl einigen interpretatorischen Aufwand erfordert, Ibn Khaldûns ‘asabiyya so unmittelbar und an erster Stelle auf das Gefühl der feineren Naturen, zweier Freunde etc. hin auszudeuten. Ritter entscheidet sich hier instinktiv für die Rang betonende Reihung, der Geist der exklusiven Freundschaft zuerst!

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rität konstituieren. Bis hinauf zu den nationalen und religiösen Solidaritäts-Zirkeln.67 Dieser Übersetzung des ‘asabiyya-Begriffs in moderne Typen sozialer Solidarität folgend, kommt Ritter zu einer universalistischen Auslegung der wichtigsten Charakteristika „of a true irrational solidarity circle“ 68 in der jedoch gerade die negativen Aspekte der Begrenzung universeller Werte in den strikten Bindungen einer sozialen Gruppe vorherrschen. Hier seien einige von Ritters Beispielen genannt: Gegenseitige Hilfe und Opferbereitschaft ohne Erwartung einer unmittelbaren Gegenleistung, wahrer Altruismus, kann aber auch, wenn er sich nur auf die Gruppe selbst bezieht, dazu führen, Ungerechtigkeit gegenüber Dritten zu ignorieren. Es entsteht eine Art Doppelmoral, die zur Unterscheidung innerer und äußerer Sphären der Anwendung von Regeln und des Rechts führt.69 Die positiven emotionalen Werte und Gefühlsintensität innerhalb der Gruppe können leicht in Fanatismus und Wertverlust in der Einschätzung von objektiven Dingen führen. Innere Gruppengefühle können so auch zur Gefühlskälte, Indifferenz, Feindschaft, Hass und unbarmherzigem Verhalten gegenüber Dritten führen. Denn die Gruppe bestimmt, dass es keine externe Gültigkeit der Moral außerhalb des Solidaritätszirkels gibt, dessen Grenzen eben gerade durch die interne moralische Verbindlichkeit bestimmt sind.70 Während noch der ältere Bruder ganz im Sinne der herrschenden faschistischen Politischen Theologie, das Reich des Politischen und der Politiker allein als durch Freund-Feind-Bestimmungen definiert sieht, in denen ethische Gesetze ihre autonome Gültigkeit verlieren, argumentiert Hellmut Ritter, der Orientalist, dass das soziale Feld der Macht, auch von der Verantwortung gegenüber der irrationalen Solidaritätsgruppe – Verantwortung also auch nach außen – geprägt sein müsse. Diese politische Verantwortung ergebe sich auch aus 67

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Ritter. „Irrational Solidarity Groups“. S. 4-7. „associations mostly of male individuals who are bound together not by obligation based on legal contract, but by the feeling of their normal duty to help to each other and to stand by each other, a feeling generally combined with a proud consciousness of strength“. S. 5. Ebd., S. 7. Ebd., S. 10. Ebd., S. 11-13.

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der Stellung des Politikers als Exponent und als Begünstigter durch die Gruppe.71 Die für Hellmut Ritter, den Orientalisten, tragische Freund-Feind, Insider und Außenseiter Bewertung in den irrationalen Solidaritätsgruppen hat durchaus ihren moralischen Grund, so Ritter anerkennend, doch die absolute gut-schlecht, gerecht-ungerecht Trennung kann ein schweres Hindernis sein, objektives Wissen zu entwickeln. Das ist vor allem die Kritik an den Thesen seines Bruders über Machiavelli.72 Den Solidaritätsbegriff weiter reflektierend, zeigt Ritter auf, wie über sie sich in unterschiedlichen Graden vermittelnde Stärke, zugleich auch in Aggression, Rachezüge und Krieg umschlagen kann. Hier weist Ritter auf die Geschichte der Araber und des Islams hin, die Führerschaft Muhammads und ‘Umars während der Eroberungszüge. Er spricht von ‚reiner‘, nicht von ‚irrationaler‘ Solidarität. Doch zeigt er auch, wie Solidarität trotz ihrer großen legitimen sozialen Funktion oft sich auch mit weniger noblen Intentionen und Motiven vermischen kann. Einer klassischen Gegenüberstellung der Zeit folgend, sieht Ritter ‚Interessen‘ da am Werk, wo reine Gefühle im wirklichen Leben rar werden. Auf Ibn Khaldûn zurückkommend, zeigt Ritter, wie das Solidaritätsgefühl sich im praktischen Leben konstituiert: Blutabstammungsgruppen, unmittelbare soziale Interaktion, Reziprozitätsbindungen, Berufsgruppen, Nachbarschaften. In diesem Kontext ist ihm durchaus bewusst, wie sehr Abstammungsgruppen vorgestellt, ja ideologisch konstituiert sein können, und wie sehr gerade der subjektive Glaube an die gemeinsame genealogische Abstammung den Zusammenhalt der Gruppe befördern können: Den religiösen Bruderglauben im Islam erklärt er am Beispiel von Goldzihers Unterscheidung zwischen einer Periode der Stammeskämpfe in der Omayyaden-Zeit und der überragenden Bedeutung der religiösen Ideologie in der frühen AbbasidenZeit sowie ihrer Funktion für die Integration der nicht-arabischen Völker. Irrationale Solidaritätsmuster erkennt Ritter aber auch auf der Ebene gemeinsamer Erziehung oder in der kämpferische Solidarität unter Gründergenerationen gegenüber oberflächlichen Haltungen der

71 72

Ebd., S. 14-15. Ebd., S. 15.

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Nachfolge-Generation, die oft von strategischen Einzelinteressen beherrscht scheinen.73 Ritters soziologisch aufgeladener Überblick über mögliche Konstitutionsformen der Irrationalität hat einen ‚orientalischen‘ Begriff zur Grundlage: den ‘asabiyya-Begriff Ibn Khaldûns, der durch die Arbeiten von Ayad74 and Rosenthal75 wieder an Aktualität gewonnen hatte. Von diesem Begriff ausgehend blickt er keineswegs auf Entwicklungen in der orientalisch islamischen Geschichte, sondern er richtet die Perspektive nach Westen. Im vergleichenden Rückgriff auf die MachiavelliInterpretation seines älteren Bruders und das virtù-Konzept will er nun europäische Geschichte und das – es nie beim Namen nennend – faschistische Vorspiel zum Zweiten Weltkrieg. So sehr hier Weltoffenheit und begriffliche Universalität – gerade gegenüber dem Orient – eine Rolle spielen, so sehr lassen sich die apologetischen Momente gegenüber der kriegsinitiierenden Irrationalität nicht verleugnen. Weltoffenheit verbirgt sich hinter einem uneingeschränkten begrifflichen Positivismus, der virtù/‘asabiyya in zeitlose Begriffe von den eigentlich bewegenden Kräften der Geschichte, von kultureller Erneuerung, und zugleich von Instinkt-geleiteter menschlicher Nähe, überträgt. Allerdings, im Gegensatz zur mono-kausalen Machtperspektive eines Gerhard Ritter, versucht Hellmut Ritter mit Ibn Khaldûns Geschichtstheorie im Hintergrund aufzuzeigen, dass letztlich nur Vernunft und das Regime einer übernationalen, universellen moralischen Kraft, ein wirkliches Gegengewicht zu den destruktiven und negativen Wirkungen der irrationalen Solidarität möglich machen.

6. Der erste der hier herangezogenen Aufsätze, 1933 geschrieben, greift einen frühen islamischen Theologen auf und spiegelt ihn in Termini wider, die denen von Max Webers Darstellung Calvins gleichen. Es 73 74

75

Ebd., S. 26. M. Kamil Ayad. „Die Geschichts- und Gesellschaftslehre Ibn Halduns“. Forschungen zur Geschichts- und Gesellschaftslehre. 2. Heft. Stuttgart 1930. Erwin Rosenthal. „Ibn Khalduns Gedanken über den Staat. Ein Beitrag zur Geschichte der mittelalterlichen Staatslehre“. Beiheft 25 der Historischen Zeitschrift. München und Berlin 1932.

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geht um die soziale Wirkung religiöser Ideologen und Ideen. Ohne die Calvinismus-These Webers explizit zu nennen, stellt Ritter auf das Wirkungselement des absoluten Gottesbegriffs ab, den Gott, der im frühen Islam, wie im Calvinismus jenseits menschlichen Begreifens und Einflusses sich bewegt. Hasan al-Basris islamischer Begriff ist aber nicht nur Gottesangst, in der auch eine Form der moralischen Verantwortung des Einzelnen ruht, sondern auch ein Begriff des absoluten Willens für Gott und das Jenseits, der das Selbst als auf außerweltlicher Autonomie basierend konstituiert. Was aber kann der moderne Mensch mit dieser Jenseits-Willkür anfangen? Diese Frage stellt Ritter nicht, und er zeigt auch nicht auf, wie solche Ideen in sich weiter hätten entwickelt werden können, er zeigt nur, wie sie von der späteren Orthodoxie verfälscht und verraten wurden. Der Aufsatz von 1948 dagegen handelt über den ganz weltlichen Willen zur Macht, und aus Sicht der Nachkriegszeit behauptet er die Notwendigkeit, diesen durch religiöse Moral und Vernunft zu bändigen. In beiden Arbeiten schlingern die Argumente Ritters ambivalent zwischen kritischen und unkritischen Zugriffen auf den Zusammengang von Religion und Macht daher. Die Ambivalenz ergibt sich erst vollends durch Ritters Versuch, positivistisch die universelle Bedeutung konkreter Begriffskonstellationen, hier Grundkategorien des europäischen religiös begründeten Individualismus, dort die ‚orientalische‘, säkulare Absolutsetzung unmittelbarer instinktgeleiteter Sozialität, die freilich den Zwang zu religiöser Korrektur in sich birgt. Am Start seiner neuen Karriere in Frankfurt 1948 steht das neue Europa nach dem Faschismus – irrationaler Wille zur Macht und die Notwendigkeit ihn durch Vernunft und Moral zu bändigen – offensichtlich im Zentrum des Interesses. Auch hier schöpft der Orientalist aus der begrifflichen Erfahrung in der Welt des Orients: Ibn Khaldûns ‘asabiyya. 1933, mit der fachlichen Aussicht den Bonner Lehrstuhl Ritters zu gewinnen, geht es um die soziale Wirkung (Sprengkraft) religiöser Ideologie, eine innere protestantische Besinnung, die im Islam gewissermaßen unvollkommen bleibt, weil nur außerweltlich orientiert: die frühislamische Theologie Hasan al-Basris. Sprich: Sie kann uns helfen (notwendige) ideologische Absolutsetzungen zu verstehen, kritisch: auch ihre Verhinderung von weltlicher Vernunft. 1948 die Theorie eines arabischen, muslimischen Denkers einerseits als ein wichtiges Konzept, die universelle soziale und so auch moderne Bedeutung irrationaler Solidaritätsgruppen zu verstehen. Sprich: Ibn

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Khaldûn kann uns den Faschismus erklären helfen. Im analytischen Habitus aber unterscheiden sich die beiden Aufsätze grundlegend: Die Interpretation von Leben und Werk des Hasan al-Basri zielt auf ein tiefes einfühlendes philologisches Verständnis der dogmatischen Entwicklung im Frühislam. Ibn Khaldûn und ‘asabiyya im zweiten Aufsatz erscheinen als soziologische Begriffe der schicksalhaften Kraft auch moderner Irrationalität. Ja, zusammenfassend spricht er programmatisch von den rationalen Potentialen der „integration of the individual solidarities (of states) into a super-national solidarity rooted in the heart of man“.76 Dies stellt gewissermaßen eine neue universalistische Wende des Diskurses dar: Der islamwissenschaftliche Orientalist spricht von einer neuen internationalen Gemeinschaft der Gelehrten als dem korrektiven Moment der historischen Vernunft. Man kann beiden Aufsätzen eine gewisse soziologische und politische Aktualität nicht absprechen. Hasan al-Basris zivile Religion funktioniert als korrektives Element gegenüber absoluter weltlicher Herrschaft (obwohl sie ja doch den Makel des Quietismus birgt). Ibn Khaldûn erscheint als der islamische Theoretiker, der uns die Notwendigkeit zur Vernunft und Fortschritt im menschlichen Wissen im Umgang mit irrationaler Solidarität vermittelt. Im ersten Aufsatz überwiegt die Perspektive von West nach Ost: Private Religion, die sich in Weltlichkeit und Öffentlichkeit umsetzen müsste. Im zweiten Aufsatz die Perspektive von Ost nach West: der Zusammenhang von irrationaler Solidarität und Macht. Eine – im Osten verankerte – universelle Bedingung der Politik, die der Korrektur der Vernunft bedarf. In beiden Aufsätzen wird aus der Position der – fachlichen wie ideengeschichtlichen – Marginalität auf das Zentrum hin argumentiert, auf kulturelle Grundlagenerneuerung für welthistorische Entwicklung.

7. Ritters subtile intellektuelle Migration zwischen ‚Istanbul und Europa‘ – ich habe mich hier ganz auf das Soziologische und das heißt begrifflich Offensichtliche gestützt – signalisiert 1933 einen unpolitischen ‚Fach-Migranten‘, der mit seiner neuen Residenz im Orient auch seinen wissenschaftlichen Gesichtskreis erweitert und seine Re76

Ritter. „Irrational Solidarity Groups“. S. 42.

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putation erhöht. Mit seinem ambivalenten Aufsatz, auf Rückkehr in den Wirren der Zeit gerichtet, distanziert er sich nur sehr indirekt vom nationalsozialistischen Deutschland, er bleibt im Fach: Eine Studie zum Frühislam aus der man entnehmen kann, dass ein protestantischer Religionsbegriff nebst der von ihr inspirierten zivilen Religion, sich – trotz aller außerweltlichen Heilslogik – einem despotischen Gouverneur, dem zur Zeit Hasans, genauer von 694-714 den Iraq regierenden Hajjâj, wenn auch nicht widersetzen, so doch mit ihm leben kann. Der indirekte sublime Sprachhabitus ruht auf einer einfachen Denkfigur, die Parole lautet: An dem, was der ‚orientalische‘ Protestantismus im Frühislam falsch gemacht hat, kann der moderne Protestantismus eine Menge lernen! Anders verhält es sich mit dem Aufsatz von 1948 (man weiß eigentlich nicht so recht, warum Ritter an einer öffentlichen Darlegung interessiert ist, dass der Aufsatz bereits 1943 geschrieben, und jetzt erst noch ergänzt und erweitert worden ist? Um welche Teile, welche Thesen?). ‘Asabiyya ist ein Konzept ‚orientalischer‘ Geschichts- und Gesellschaftstheorie, das Ritter auf Deutschland, Europa, den Westen, die ganze Welt hin ausdeutet. Die anthropologische Verfassung bedingt die irrationale Solidarität als Wille zur Macht. Sie bedarf aber – auch das eine aus dem Orient gewonnene Parole – der Korrektur durch Moral und Vernunft. Aus der Sicht des geläuterten Konservativen bleiben irrational solidarity und virtú in der modernen Demokratie die primären Bewegungskräfte des Politischen. Wie die Machtformation, so ist aber auch die Notwendigkeit ihrer Korrektur universell angelegt. Das ist die aus dem Orient nach Europa gewendete Sicht: Es sind solche Mischungen und kulturüberschreitende Begriffserweiterungen, die zum bestimmenden Element in Ritters Ost-West-Philosophie werden. Die intellektuelle Migration des Orientalisten zwischen Istanbul und Europa – immer auch im altphilologischen Hellenentum verstrickt – hebt Ritters ‚Orientalismus‘ auf eine höhere Ebene der Suche nach Begriffen von neuer, universellen Kultur. Hier verbindet Ritter seinen konservativen Hellenismus mit der universalistischen Gelehrtenhaltung des geläuterten Deutschen. In einem Vortrag über ‚Sufismus‘ in Oxford und Cambridge, 1952 gehalten, sagt Ritter: It is the task of a science which deals with man, with his religious feelings and philosophical ideas, to listen to people far off in space and time, and to try to understand their ideas. We

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study these subjects in order to get out of the narrowness of our own world, in order to see how men of other countries and ages have struggled for the solution of problems and endeavoured to overcome the troubles, conflicts and affiliations which mankind has to face and will have to face in every place and at every time.77

Literatur Arnason, Johann/Stauth, Georg. „Civilization and State Formation in the Islamic Context: Re-reading Ibn Khaldûn“. Thesis Eleven. 76. Feb. 2004. S. 29-47. Ayad, M. Kamil. „Die Geschichts- und Gesellschaftslehre Ibn Halduns“. Forschungen zur Geschichts- und Gesellschaftslehre. 2. Heft. Stuttgart 1930. Cornelißen, Gerhard. Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert. (= Schriften des Bundesarchivs 58). Düsseldorf 2001. Eisenstadt, Shmuel N. „Concluding Remarks: Public Sphere, Civil Society, and Political Dynamics in Islamic Societies“. The Public Sphere in Muslim Societies. Hg. Miriam Hoexter, Shmuel N. Eisenstadt und Nehemia Levtzion. New York 2002. S. 139-162. Ess, Josef van. Der Fehltritt des Gelehrten. Die ‚Pest von Emmaus‘ und ihre theologischen Nachspiele. Heidelberg 2001. Etzemüller, Thomas. Sozialgeschichte als politische Geschichte. München 2001. Goldziher, Ignaz. „Die Stellung der alten islamischen Orthodoxie zu den antiken Wissenschaften“. Abhandlungen der königlich Preußischen Akademie der Wissenschaft. Jg. 15. no. 8. Berlin 1916. S. 3-46. Goldziher, Ignaz. Tagebuch. Hg. Alexander Schieber. Leiden 1978. Green, Martin. The von Richthofen Sisters. The Triumphant and the Tragic Modes of Love. Albuquerque 1974. Gruber, Ernst August. Oriens 18-19. 1965-1966. S. 5-32. 77

Helmut Ritter (1952). „Muslim Mystics Strife with God“. Oriens 5. S. 115, p. 15: „Es ist die Aufgabe einer Wissenschaft, die sich mit dem Menschen beschäftigt, mit seinen religiösen Gefühlen und philosophischen Ideen, Leuten zuzuhören, die in Raum und Zeit weit weg sind, und zu versuchen ihre Ideen zu verstehen. Wir studieren diese Subjekte, um aus der Enge unserer eigenen Welt herauszukommen, um zu sehen, wie Menschen anderer Länder und Zeitalter nach Problemlösungen gerungen haben, und wie sie sich vorgestellt haben, die Krisen, Konflikte und Anfechtungen zu überwinden, denen der Mensch überall und zu jeder Zeit zu begegnen hat. (GS).

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Hammerstein, Notker. Die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von der Stiftungsuniversität zur staatlichen Hochschule. Bd. 1: 1914-1950. Neuwied u.a. 1989. Hanisch, Ludmilla. „Ausgegrenzte Kompetenz. Portraits vertriebener Orientalisten und Orientalistinnen, 1933-45“. Orientwissenschaftliche Hefte. 1. 2001. S. 15-141. Heine, Peter. „Snouck Hurgronje versus C. H. Becker. Ein Beitrag zur Geschichte der angewandten Orientalistik“. Die Welt des Islams. XXIIIXXIV. 1984. S. 378-387. Kany, Roland. Die religionswissenschaftliche Forschung an der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek. Bamberg 1989. Lier, Thomas. „Hellmut Ritter in Istanbul 1926-1949“. Die Welt des Islams. 38. 1998. S. 334-385. Massignon, Louis. Receuil de textes inédits concernant l’histoire de la mystique en pays d’Islam. Paris 1929. Needham, Rodney. Exemplars. Berkeley und Los Angeles 1885. Ritter, Gerhard. Machtstaat und Utopie. Vom Streit um die Dämonie der Macht seit Machiavell und Morus. München 1940. Ritter, Hellmut. „Carl Heinrich Becker“. Der Islam. 24 (1937). S.175-185. Ritter, Hellmut. Das Meer der Seele. Mensch, Welt und Gott in den Geschichten des Fariduddin Attar. Leiden 1955. Ritter, Hellmut (Hg.). Das Ziel des Weisen. Leipzig/Berlin 1933. Ritter, Hellmut. „Hasan al-Basri“. Klassizismus und Kulturverfall. Vorträge. Hg.: Gustave E. v. Grunebaum und Willy Hartner. Frankfurt a.M. 1960. S. 120-143. Ritter, Hellmut. „Hat die religiöse Orthodoxie einen Einfluss auf die Dekadenz des Islams ausgeübt?“. Klassizismus und Kulturverfall. Vorträge. Hg. Gustave E. v. Grunebaum und Willy Hartner. Frankfurt a.M. 1960. S 120143. Ritter, Hellmut. „Irrational Solidarity Groups: A Socio-Psychological Study in Connection with Ibn Khaldûn“. Oriens 1. (1948). S. 1-44 . Ritter, Hellmut. „L’amitié de C. H. Becker, arabisant et islamisant“. Carl Heinrich Becker. Ein Gedenkbuch. Hg. Louis Massignon. Göttingen 1950. Ritter, Hellmut. „Muslim Mystics Strife with God“. Oriens 5 (1952). S. 1-15. Ritter, Hellmut. „Picatrix, ein arabisches Handbuch hellenistischer Magie“. Vorträge der Bibliothek Warburg 1921-22. S. 94-124. Ritter, Hellmut. „Über die Bildersprache Nizamis“. Beiheft zu Der Islam. Berlin und Leipzig 1927. Rosenthal, Erwin. „Ibn Khaldûns Gedanken über den Staat. Ein Beitrag zur Geschichte der mittelalterlichen Staatslehre“. Beiheft 25 der Historischen Zeitschrift. München und Berlin 1932. Said, Edward. Orientalism. New York 1973.

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Maschinen im Morgenland Der Orient nach der Entdeckung des Öls Auch die Mekkapilger jagen auf den eilenden Maschinen Europas dahin und ihre Glocke ist die Hupe.1 Armin T. Wegner, 1932

Einleitung Wer im 12., 16. oder 19. Jahrhundert in den Orient reist, weil er das Kreuz trägt, Handel treibt oder weil Forschergeist oder koloniale Eroberungsgelüste ihn leiten, lernt rasch, dass es sich um des Überlebens willen empfiehlt, bekannten, ausgetretenen Pfaden zu folgen: alten Handels- oder Pilgerwegen zumeist. Die Landschaft gibt den Rhythmus der Bewegung vor. Beschwerlichen, Kraft raubenden Reisen in geführten Gruppen oder Karawanen folgen längere, der Erholung dienende Aufenthalte an den Zielorten. Nicht wenige Reiseberichte, die vor dem 20. Jahrhundert geschrieben wurden, erzählen von einer allmählichen Veränderung der aus Europa gewohnten Raum-Zeit-Verhältnisse. Carsten Niebuhr, dem Pionier deutscher Orientreisender, gelingt es nicht, mehr als 5 Meilen am Tag zurückzulegen.2 Und Ulrich Jasper Seetzen, der den von einem engen Wegenetz durchzogenen Nahen Osten durchquert, benötigt zu seinem Leidwesen 7 Stunden von Jerusalem nach Hebron, und von dort nach „Kahira“, dem heutigen Kairo, 18 „Tagreisen“.3 Die durch topographische und klimatische Bedingungen erzwungene Langsamkeit zeigt Wirkung. Sie löst die europäische Ökonomie der Fortbewegung auf und zwingt den Reisenden eine ihnen fremde, in ihrer Wahrnehmung spezifisch orientalische Zeit auf. Auf die Einheimischen projiziert, entsteht das Bild des die wertvolle Ressource Zeit ignorierenden und vergeudenden Orientalen.4 1 2 3 4

Wegner 1932, S. 161. Niebuhr 1969. Seetzen 1855, S. 6. Dies verwundert zumindest im Blick auf die Pilgerreise, die auch im christlichen Kontext in eine andere Zeitdimension, die des ewigen Lebens, führen soll.

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Das Reisen auf den immer gleichen Routen begrenzt den Beobachtungshorizont und normalisiert5 die Wahrnehmung. Das entlang der bewährten Wege gesammelte und in den Reiseberichten dokumentierte und überlieferte Wissen über den Orient kann zwar immer wieder durch archäologische Funde, abenteuerliche Begegnungen mit fremden Volksstämmen, unbekannte Sitten und Gebräuche oder Nachrichten aus verbotenen Räumen wie religiösen Stätten oder Harems erweitert werden. Doch herrschen insgesamt vergleichende Langzeitbeobachtungen vor. Dieser Befund ermöglicht es uns, eine wichtige Differenz einzuführen. Europäische Reisende erfahren den Orient zwar als fremdartig, ja sie suchen dort oftmals aus unterschiedlichen Motiven diese Erfahrung. Aber er ist ihnen nicht fremd. Seit den Kreuzzügen, Pilger- und Handelsreisen speichern und ordnen die Europäer ihr Wissen über Geographie, Herrschaftsformen und Religion bis zur Alltagskultur und geben es über unterschiedliche Medien weiter. Es ist diese Langzeitbeobachtung, die es gegen Ende des 18. Jahrhunderts am Vorabend kolonialer Unterwerfung erleichtert, den Abstand zwischen Europa und dem Orient neu zu vermessen. Aus der Sicht der historisch denkenden Aufklärer erweist sich der Orient als modernisierungsresistente Weltgegend. Der Zivilisationsgrad einer Gesellschaft misst sich nun nach ihrer Fähigkeit zur Loslösung aus traditionellen religiösen, rechtlichen und politischen Bindungen, an ihrer Entwicklungsdynamik in den Bereichen Erziehung, Wissenschaft, Technik, Industrie und sozio-kulturell an ihrer Verbürgerlichung.6 Da sich all dies ‚seit Jahrhunderten‘ nicht zeigt, fällt der Orient aus der Sicht der Beobachter zivilisationsgeschichtlich rettungslos zurück. Die Bilder des ‚kranken Mannes am Bosporus‘ und des phlegmatischen, seine Lebenszeit vergeudenden Orientalen, der die einstigen Hochkulturen am Nil und im Zweistromland mit ihren technischen Meisterleistungen und Weltwundern verfallen lässt, drängen in den Vordergrund. Europäische Archäologen, die im 19. Jahrhundert den Monumenten vorislamischer Kulturen nachspüren, glauben, legitimiert durch den zivilisationstheoretischen Paradigmenwechsel von der abendländisch-christlichen Konstruktion zu einer welthistori-

5 6

Vgl. Link 2003 u. Parr 2003. Vgl. Koselleck 1989.

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schen7, die Schätze der Vergangenheit vor den Einheimischen in Sicherheit bringen und diese aus der kulturellen Erbfolge ausschließen zu müssen. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert erscheint der Orient aus der europäischen kulturimperialen Perspektive als Region ohne eigene Zukunft und ohne Vergangenheit. Was übrig bleibt ist die exotische Fremdheit einer unzugänglichen, unberechenbaren Welt. Im besten Fall ist dies eine imaginäre Welt aus tausendundeiner Nacht oder die als authentisch empfundene der Beduinen oder Tuaregs, der ‚wahren Araber‘.8

Die Entdeckung des Öls Mit der Entdeckung des Öls – Ende der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts werden die großen Ölfelder im Norden des Irak erschlossen – bricht die Moderne gewaltsam von außen in diese Weltgegend ein und verändert die Infrastruktur innerhalb kürzester Zeit. Man muss an die einfache ökonomische Tatsache erinnern, dass eine Steigerung industrieller Produktion, das Credo des kapitalistischen Europa, „Brennstoffe und Kraftumwandlungsmaschinen [erfordert], um Wärme in Energie zu verwandeln.“9 Der erste Modernisierungsschub erfolgte allerdings schon vor der Entdeckung des Öls. Mit dem Bau der Suez-Eisenbahn und des Suez-Kanals wurde ein arabisches Land Schauplatz einer herausragenden technischen Leistung. Ägypten gerät so früher als andere arabische Länder in den Sog globalisierter Handelsnetze: als einer der ersten Verlierer. Obwohl das Land für den 7

8

9

„Im Nahen und Mittleren Osten befanden sich die Schauplätze der biblischen Geschichten, die Zeugnisse und Überreste der ältesten bekannten Hochkulturen. Babylon und das Zweistromland galten als Ursprungsstätten einer kulturgeschichtlichen Wanderung, der die abendländische Neuzeit entscheidende Prägungen verdankte.“ (Honold 2002, S. 143). Schon für Niebuhr sind die Nomaden in seiner Beschreibung von Arabien die „wahren Araber […], welche ihre Freyheit jederzeit höher geschätzt haben, als Reichthümer und Bequemlichkeit, [sie] leben in abgesonderten Stämmen, unter Zelten, und beobachten [d.h. beachten] noch beständig die uralte Regierungsform, Sitten und Gewohnheiten ihrer Vorfahren. […] Sie sind alle gleichsam geborne Soldaten, und treiben zugleich die Viehzucht.“ (zitiert nach: Lindemann 2000, S. 39). Wolf 1986, S. 407.

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Bau 20 000 Fellachen zwangsverpflichtet, verfängt es sich in der von den Aktienspekulanten ausgelegten Schuldenfalle und wird unter englisch-französische Konkursverwaltung gestellt.10 Die Kanalzone wird zu einem exterritorialen, fremdverwalteten Gebiet, zu einer Schneise europäischen Fortschritts, die aus der Sicht der Kolonialmächte vom verderblichen Einfluss der Einheimischen geschützt werden muss. Erst das Öl schafft eine neue Vernetzung und zwingt den Ländern, auf deren Territorium es gefördert wird, den Rhythmus westlicher Industrialisierung auf – „mit samt seinen Beschleunigungs- und Verlangsamungsphasen, seinen Vorstößen und seinen Rückschlägen“.11 Das Öl betreibt auch die Maschinen, die es fördern, weitertransportieren und verarbeiten und jene motorisierten Vehikel, mit deren Hilfe man im 20. Jahrhundert zunehmend den Orient bereist: das Auto und das Flugzeug. Die neuen Verkehrsmittel erlauben es, und hier kehre ich zu meinen Ausgangsüberlegungen zurück, die seit Jahrhunderten gegangenen Wege zu verlassen und Land und Menschen auf eine veränderte Weise wahrzunehmen.12 Mich interessiert, ob der in der Langzeitbeobachtung gewachsene diskursive Grundbestand orientalistischer Stereotypen, Bilder und Motive vor diesem Hintergrund eine Entwertung erfährt, ob er transformiert und umcodiert oder ungebrochen fortgeführt wird und welche Beziehungen zu den veränderten nicht-diskursiven Bedingungen bestehen. Des Weiteren möchte ich untersuchen, inwieweit die unübersehbare Anwesenheit der Moderne, die sich nicht mehr im Import europäischer Lebensweise durch die Kolonialmächte erschöpft, als Bestandteil des Orients im 20. Jahrhundert zur Kenntnis genommen wird. 10 11 12

Vgl. Wolf 1986, S. 409. Ebd., S. 411. So der Befund von Oliver Simons zum Reisebericht des Oberpostmeisters Heinrich Stephan: „Das Land der Geschichte und Überlieferungen bereiste er als Verkehrstechniker, statt der ausführlichen Begehung ausgegrabener Ruinen sichtete Stephan mögliche Schienentrassen, Telegraphenlinien und schließlich den Suezkanal. Dem Reisebericht ist abzulesen, daß Stephan den Text eines Ingenieurs entwerfen wollte, der sich nicht an Denkmälern orientiert, sondern seinen pragmatischen Weg zur verkehrstechnischen Erschließung des Landes sucht.“ (Simons 2002, S. 244). Uwe Lindemann weist in seiner umfassenden Studie über Die Wüste darauf hin, dass die „flächenhafte Erkundung der Sahara“ (Lindemann 2000, S. 43) erst mittels des Autos und des Flugzeugs erfolgen konnte.

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Denn im Zuge der Kollaboration der einheimischen Eliten und später der antikolonialen und nationalen Befreiungsbewegungen werden die Maschinen zu einer wichtigen ökonomischen, politischen, militärischen und machtsymbolischen Ressource in den Unabhängigkeitskämpfen und in den folgenden nationalen Formierungsprozessen und schließlich in den internen Machtkämpfen. Die Auseinandersetzungen reichen vom Kampf um die Oberhoheit über den Suez-Kanal, die Eisenbahn- und Straßenbauprojekte des Schahs Reza Pahlewi in Persien in den Dreißigern und Vierzigern und der Luftwaffe König Husseins in Jordanien, einem Beduinenstaat, bis zu den angeblichen, auf Trucks durch die Wüste bewegten Geheimwaffen Sadam Husseins im Irak.

„Die Werte der Wüste sind verschwunden“ Beginnen möchte ich mit einem viel gerühmten und hoch geehrten Orientreisenden des 20. Jahrhunderts, dem 1910 geborenen, der britischen Kolonialbeamtenelite entstammenden Sir Wilfred Thesiger. Seine zahlreichen Reisen hat er als Alterswerk in einem opulent illustrierten Band Wüste, Sumpf und Berge 13 rückblickend dokumentiert. Thesiger gestaltet ihn zur Autobiographie eines Orientreisenden aus, der trotz einer Ausbildung an englischen Eliteinstitutionen niemals in Europa zu Hause war. Er inszeniert sich als Grenzgänger, der sich durch Begegnungen und Freundschaften einen eigenen transkulturellen Raum geschaffen hat. Seine Berichte stellen nach meinem Urteil eine Mischung aus ethnographischer Neugierde, eines am Rande des Dilettantismus sich bewegenden wissenschaftlichen Interesses, kolonialer Erkundung bzw. militärischer Ausspähung14, aber auch persönlicher Identitätssuche und – wenn man die über Jahrzehnte entstandenen Fotos genauer betrachtet – der Faszination an der jungen arabischen Männerwelt dar. Obwohl ihm als Militär die Infrastruktur der von ihm bereisten Länder wohl vertraut ist, wählt er für seine Erkundungen bewusst vormoderne Reiseformen, die ihn zu einer Anpassung an die Lebensweise der Einheimischen zwingen. Seine orientalische Camouflage wird schließlich zur Metamorphose. Für ihn ist das Fehlen be13 14

Thesiger 2000. Lord Jim und Kim sind die beiden einzigen Bücher, die er nach eigenem Bekunden immer wieder auf seinen Reisen mitnimmt.

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quemer Verkehrswege – Eisenbahnen, Schiffe, Autos, Fluglinien – und die Unzugänglichkeit eines Territoriums für Normalreisende ein entscheidender Reisegrund. Der ethnologische Purismus seiner Fotos, auf denen außer Handfeuerwaffen niemals Errungenschaften moderner Technik zu sehen sind, bestimmt auch insgesamt das Orientbild Thesigers. Seine Motivauswahl suggeriert die verborgene und bedrohte Existenz eines authentischen Orients, der nur noch in den unberührten nomadischen Beduinenkulturen der Wüste, bei den Sumpfbewohnern zwischen Euphrat und Tigris oder bei wenigen, in ‚unberührten‘ Gegenden siedelnden Bergvölkern Afghanistans zu finden ist. Es sind meist in vorstaatlichen Stammesverbänden lebende, streng hierarchische, kriegerische Gemeinschaften, die Thesiger in Abgrenzung zu den offeneren, ethnisch und sozial ausdifferenzierteren und von staatlichen Institutionen durchdrungenen nationalen Gebilden wie der Türkei, Ägypten oder dem Iran, zum wahren Orient erklärt: Alles was bei den Arabern zum Besten zählt, kam aus der Wüste. […] Die Wüstenbewohner hatten einen unbedingten Gottesglauben, der im Islam Ausdruck fand; sie hatten auch einen Gemeinschaftssinn, der sie untereinander verband: Sie waren Anhänger eines Glaubens. Aus der Wüste kam auch der Stolz der Araber auf ihre Rasse, ihre Großzügigkeit und ihr Sinn für Gastlichkeit; ihre Würde und ihr Gespür für die Würde anderer; ihr Humor, ihr Mut und ihre Geduld; ihre Sprache und ihre Leidenschaft für die Poesie. Aber sie sind ein Volk, dessen Bestes nur unter großen Entbehrungen zur Entfaltung kommt.15

Diese Zuschreibungen führen weit weg von rousseauistischen Vorstellungen über Naturvölker, die sich ihre ursprüngliche innere Harmonie bewahrt haben. Eher erinnern seine Formulierungen an die puritanischen Lebensführungskonzepte der Pilgerväter. Auch sind nietzscheanische Untertöne nicht zu überhören. Thesiger schreibt den ‚authentischen‘ Orient auf traditionelle Lebensformen von Menschen fest, die durch einen Gleichmut gegenüber der Zeit charakterisiert sind. Seine unermüdliche, der gleichen ‚großen Entbehrung‘ ausgesetzte Suche, erweist sich zugleich als Flucht vor einer als entartet diagnostizierten Moderne:

15

Thesiger 2000, S. 296f. Vgl. zur Rolle der Wüste die schon erwähnte Studie von Lindemann 2000.

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Die Araber, deren Leben ich in der Wüste und später in den Sümpfen teilte, waren nicht nur zufrieden, sie waren glücklich. Ihre Fröhlichkeit und ihren Mut werde ich nie vergessen. Nie habe ich unter ihnen einen depressiven oder neurotischen Menschen gesehen. Nun, da sie zu den Spitzenverdienern der Welt gehören, befürchte ich, daß viele die Langeweile ihres Reichtums nicht ertragen.16

So ist es nur folgerichtig, dass er 1946 als Höhepunkt seiner Unternehmungen eine Reise in das sogenannte ‚Leere Viertel‘ Rub al-Khali unternimmt, in der Gewissheit, dort nicht auf Spuren europäischer Zivilisation zu stoßen. Unter Verzicht auf jegliche technische Hilfsmittel passt er sich vollständig den Lebensbedingungen der dort ansässigen Stämme an: Wir würden hungern. Wir konnten wohl genug Wasser für zwanzig Tage tragen, wenn wir uns pro Tag auf einen knappen Liter beschränkten. Zwanzig Tage ohne Wasser war das Maximum, was die Kamele aushielten, wenn wir endlose Stunden durch die Sandwüste ritten, und auch das war nur möglich, wenn wir Weiden für sie fanden.17

Derartige Reisen sind angestrengte Inszenierungen, für die über jedes Requisit Rechenschaft abgelegt werden muss18, damit das Ziel, eine authentische Erfahrung bzw. die Einfühlung in das Fremde gelingen kann. Die Grenzüberschreitung ist eine Passage in eine andere Welt, in der der Reisende verschwindet. Für eine Rückkehr gibt es keine Garantien. Schutz bietet einzig die Beherrschung der kulturellen Codes der Einheimischen.19 Andere, gemäßigtere Formen lohnen sich aus der Sicht Thesigers nicht, wie einer Bemerkung zu seiner Persienreise zu entnehmen ist, es sei denn Unzugänglichkeit und Authentizität versprechen einen partiellen Gewinn:

16 17 18

19

Ebd., S. 298. Ebd., S. 43. Der Photoapparat fällt offensichtlich nicht darunter. Durch ihn wird die Erzählung beglaubigt. Man müsste genauer prüfen, ob hier nicht ein vergleichbares Muster wie bei Lawrence of Arabia vorliegt, einer Figur, bei der die Camouflage des Agenten und Spions nur schwer von der empathischen Teilhabe zu unterscheiden ist.

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Klaus-Michael Bogdal Die Reise war reine Schufterei durch ödes Land. Es fehlte das Gefühl der Kameradschaft, der Härte oder der Gefahr, das sie wirklich lohnenswert gemacht hätte. Trotzdem hatte ich mein Ziel erreicht, und die hinter mir liegenden Anstrengungen prägten mir Yazd, eine alte muslimische Stadt, die noch verhältnismäßig abgelegen und urtümlich war, intensiv ein.20

Der Gewinn für den ‚Extremreisenden‘ ist beträchtlich. Die singuläre Erfahrung der Erstbegegnung (vergleichbar der Erstbesteigung unzugänglicher Gebirgsgipfel) macht ihn zu einer nahezu uneinholbaren Autorität in Fragen ‚ursprünglicher‘ Lebensweisen. Thesiger reagiert daher abwehrend auf Entwicklungen, die sein folklorisiertes Bild des Orients zu zerstören drohen. Daneben begegnet er aber auch allen Bestrebungen ablehnend, die den politischen Hegemonieanspruch der selbst ernannten Schutzmacht England gefährden. Zwischen beiden Verhaltensweisen besteht ein nicht auf den ersten Blick zu entdeckender Zusammenhang. Die Beduinenstämme in ihrer traditionellen Lebensweise zu erhalten, bedeutet lokale, unterentwickelte Kulturen ohne politischen Gesamtvertretungsanspruch gegen nationale Befreiungsbestrebungen zu stärken. Man darf auch nicht vergessen, dass die britischen Handels- und Industriegesellschaften in erster Linie Verträge über die Ausbeutung von Bodenschätzen und die Errichtung von Handelsplätzen mit den lokalen Machthabern geschlossen hatten. Die Abwehr Thesigers reicht vom Spott über die Anpassung an die europäische Kleiderordnung bis zur Kritik an der verkehrstechnischen Erschließung der über Jahrhunderte unzugänglichen Gebiete und an den modernen Kommunikationsmedien: Während zu viele persische Kurden in ihren unpassenden europäischen Gewändern schäbig wirkten, trugen die Kurden im Irak die schönsten Stammesgewänder und Gewehre. Es wundert mich immer wieder, daß nationalistische Regierungen – die meisten unter ihnen dem Westen feindlich gesonnen – ihren Untertanen europäische Kleidung aufdrängen, sind es doch die am wenigsten kleidsamen Gewänder, die bislang erfunden wurden. Ich erinnere mich an meine Empörung in den 1930er Jahren, als ich das Taurusgebirge mit dem Zug durchquerte und eine Gruppe Nomaden auf ihren Kamelen erblickte, die sich genau an die von Kemal Atatürk erlassene Bekleidungsordnung 20

Thesiger 2000, S. 124.

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hielten. Ein Mann trug einen zerlumpten Smoking, ein anderer einen langen Anzug und einen Zylinder.21

Dass „die geplante Straße von Mazar-i-Sharif nach Herat noch nicht gebaut“22 war, empfindet er 1965 [sic!] auf seiner Afghanistan-Reise als Glück, die jemenitische Hauptstadt Sanaa lobt er 1977 anlässlich seiner Rückkehr nach Arabien, weil sie – trotz der Motorräder in ihren Straßen und der Fernsehantennen auf den Häusern – „bis dahin jeglicher Modernisierung widerstanden“23 habe. Schließlich erlebt Thesiger, der das Leere Viertel auf einem Kamelrücken durchquert hatte, die zu seinen Ehren erfolgende Einladung in den Oman als Apotheose moderner Verkehrstechnik, die den von ihm entdeckten ‚wahren‘ Orient dem Vergessen anheim gibt: Mir wurden Hubschrauber, Flugzeuge, Autos und Barkassen zur Verfügung gestellt. Ich wurde nach Salala geflogen, einst ein in die Länge gezogenes, arabisches Dorf, heute eine Stadt mit Verkehrsampeln. Von dort brachten mich Musallim bin Tafl und die Scheichs von Bait Kathir, eskortiert von vielen Fahrzeugen und über beschilderte Straßen, zuerst in die neue Stadt auf dem Jebel Qarra, danach zur Besichtigung des Flughafens der Stadt. Als ich 1945 nach Dhofar kam, war Bertram Thomas der einzige Europäer, der dieses Gebirge je überquert hatte.24

Die Entdeckung des Öls leitet für Thesiger das Ende der letzten authentischen, d.h. geschlossenen arabischen Stammesgesellschaften ein. Diese aus seiner Sicht intakten Gesellschaften erliegen der Moderne und geben sich selbst auf: 21 22

23

24

Ebd., S. 124. Ebd., S. 233. „Jeden Abend lagerten wir am Wegesrand, und ich blieb wach, um den Kamelglocken zu lauschen, während die Karawanen auf diesen uralten Routen weiterzogen. […] In Herat fiel mir neben unserem kein weiteres Auto auf. Dann aber kam der Bus, und ich reiste nach Mashad in Persien. Das war im Oktober 1965. Ich wäre gern in einem anderen Jahr nach Mazar-i-Sharif zurückgekehrt und hätte diese Reise zu Fuß zurückgelegt, doch ergab sich keine Gelegenheit mehr. Heute, da die Straße inzwischen fertiggestellt ist, donnern Lastwagen vorbei; Kamelkarawanen gibt es nicht mehr, ihre Glocken sind für immer verstummt.“ (ebd.) Ebd., S. 296. „Die Straßen in der angrenzenden Neustadt waren oft vom Verkehr verstopft. Alles änderte sich rasant.“ (ebd.) Ebd., S. 296.

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Klaus-Michael Bogdal Mit der Entdeckung und Ausbeutung der Öllager ist die Kultur der Beduinen in Arabien verschwunden; sie wurde innerhalb eines oder zweier Jahrzehnte so vollständig ausgelöscht wie das Leben der Prärie-Indianer Nordamerikas. Bin Kabina und bin Ghabaisha lebten noch in schwarzen Zelten und besaßen große Kamelherden, aber sie bewegten sich nur im Auto fort und verluden ihr Vieh und ihre Zelte in Lastwagen, wenn sie ihren Siedlungsplatz verlegten; ihre Söhne, die die strenge Disziplin der Wüste nie erfahren hatten, werden möglicherweise in den Städten Arbeit suchen.25

Für den konservativen Royalisten Thesiger, der im jemenitischen Bürgerkrieg den Norden unterstützt und berät, zerstören Industrialisierung und Infrastruktur nicht nur die dem Orient spezifische Lebensweise, sondern auch die von den Europäern bewunderten kulturellen Erscheinungsformen: Die Werte der Wüste sind verschwunden. In ganz Arabien hat das Transistorradio den Geschichtenerzähler ersetzt.26

„Die arabische Seele ist in ihrem Schlummer gestört“ Einen Teil des 1. Weltkriegs verbringt der Schriftsteller Armin T. Wegner, geboren 1886, als Sanitäter in der Türkei. Auch hier ist es wie bei Thesiger eine existentielle Grenzsituation – der gemeinsam erlittene Krieg –, die ihn aus seiner Sicht zu einem tieferen Verständnis des Landes und seiner Menschen führt. Er wird dort zum Beobachter des Genozids an den Armeniern. Darüber schreibt er u.a. den Erzählband Der Knabe Hüssein.27 Zurück in Deutschland, gehört er zu den wenigen, die sich politisch und publizistisch für die verfolgten Armenier einsetzen. Ende der Zwanziger und Anfang der Dreißiger unternimmt er längere Reisen in den Nahen und Mittleren Osten, über die er mit großer Publikumsresonanz berichtet. Die frühen Aufzeichnungen aus der Türkei 28 spüren auf der Ebene subjektiver Erfahrungen den Ursachen für die innere Schwäche des 25 26 27 28

Ebd., S. 297. Ebd., S. 298. Wegner 21921. Wegner 1920.

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Osmanischen Reichs nach und tasten sich an eine Einschätzung der durch den modernen türkischen Nationalismus bewirkten Veränderungen – der Schrift, der Kleiderordnung usw. – heran. Die spätere Reise in den Irak, der zu diesem Zeitpunkt nicht mehr Teil des Osmanischen Reichs ist, konfrontiert ihn mit einem unerwarteten Umbruch: Nun aber auf einmal ist alles verwandelt! Drüben aus den Hügeln von Naft Chane und Alwand ragen seit kurzem die Bohrtürme des Petroleums empor und die grau-weißen, aus Blech zusammengenieteten großen Öltanks. Es sind die Bohrtürme und Behälter der neuen ‚Chanekin Oil Company‘, einer englischen Gesellschaft, die heute ganz Mesopotamien mit Benzin und Petroleum versorgt, dem einzigen Feuerungsmittel dieses holz- und kohlenarmen Landes. Überall auf den Kreuzwegen der größeren Städte des Irak […] begegnet man ihren sauberen, mit allen neuesten Einrichtungen versehenen Tankstellen, mit ihren des Nachts elektrisch erleuchteten Füllpumpen nicht anders wie an den Plätzen der großen Städte Europas. Heute, wo Öl und Benzin die Welt regieren, wurde das kleine, weltverlorene Chanekin mit seinen unterirdischen Schätzen so plötzlich in die Anteilnahme der westlichen Welt gerückt, und man fragt sich, ob der so oft mit Unrecht als Vater aller Dinge gepriesene Krieg hier vielleicht wirklich einmal der schnellere Wegbereiter eines neuen Zeitalters geworden ist? Fünfzig Jahre hat man die Kabinette und Parlamente Europas mit den Plänen über die Zukunft Mesopotamiens und den Bau einer Eisenbahn von Konstantinopel nach Bagdad mit deutschem Gelde und durch deutsche Ingenieure vergeblich in Unruhe gesetzt. Nun aber, wo man endlich mit ihrer völligen Durchführung beginnt, haben Motor und Flugzeug die immer noch unvollendete Straße der Bagdadbahn längst überflügelt.29

Vor der Entdeckung des Öls sieht Wegner das Osmanische Reich in einem diffusen Zwischenraum, geprägt durch eine unheilvolle Tradition und die kritiklose Übernahme europäischer, vor allem französisch-aufklärerischer Kultur, der, so der Autor 1920, „der rückgratlose Orientale nicht widerstehen [konnte], und noch heute hängt seine kraftlose Dichtung urteilsschwach an dem westlichen Vorbild, ohne Scham ihren geistigen Ursprung verratend.“30 Bei seiner Tätigkeit in Krankenhäusern, Behörden und in der Armee stößt er immer wieder 29 30

Wegner 1932, S. 13f. Wegner 1920, S. 158.

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auf Zeichen des Stillstands und des Niedergangs. Wie in den meisten Reiseberichten, so ist auch bei Wegner die untergeordnete Stellung der Frau ein solches Symptom. Für ihn ist die Türkei zur Zeit des 1. Weltkriegs als ein Land, „das ohne Frauen war, wo Schönheit und Alter schwarzverhüllt, ein wandelndes Grabtuch, vorüberschritten“31, vom Untergang gezeichnet. Von überkommenen orientalistischen Stereotypen durchzogen ist die Beschreibung der Mentalität der Einheimischen. „Die stille Genügsamkeit“32, „bescheidenes Auftreten“33, „die unverdorbene menschliche Art“34, „Gastfreundschaft“35 und „rührende […] Einfalt“36 finden sich neben „stille[r] Ergebenheit dieser Menschen in ihr Schicksal“37 und „kraftloser Zufriedenheit“38, Schwerfälligkeit in technischen Dingen39, Unberechenbarkeit, Hochmut und Hass.40 Die unvollendete Moderne birgt, so Wegners Eindruck angesichts der Verfolgung und Vernichtung der Armenier, ein enormes Gefahrenpotential: Ich glaube, daß sie gutmütige und treue Hunde sind, die nie eine böse Handlung vollführen werden, solange sie einen gütigen Herrn haben, die aber, einmal in die Gewalt unrühmlicher Machthaber gestellt und an die blinden Triebe entschlafener Zeiten erinnert, mit der Blutgier gehetzter Tiere noch das Erhabenste zwischen ihren schuldlosen Zähnen zerreißen werden.41

Unberechenbar ist die Begegnung mit Menschen, die in einer in jeder Hinsicht geschlossenen Gesellschaft leben, wenn sie mit dem Fremden und Neuen unaufgeklärt und unvorbereitet konfrontiert werden. […] [E]s ist das Mißtrauen eines Unwissenden, das uns überall begegnet, eines halb gezähmten Tieres, das in allem Unbekannten Gefahr wittert, weil es nie weiß, ob die dargebotene Hand 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41

Ebd., S. 6. Ebd., S. 83. Ebd. Ebd., S. 82. Ebd. Ebd., S. 87. Ebd., S. 91. Ebd., S. 92. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 90. Ebd., S. 94.

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ihm zu fressen bringt oder ein tödliches Messer in ihrem Rockärmel verbirgt.42

Den Islam wertet Wegner in der Übergangsphase zwischen Tradition und Moderne als eine sich selbst entfremdete, erstarrte Religion, die in den politischen Machtkämpfen „zu unheiligen Zwecken mißbraucht“43 werde, und dessen Gesetze neben der Abgrenzung nach außen „als Verteidigung aller Willkürlichkeiten, die dem Grundsatz der Menschlichkeit widersprechen“44, dienen: Der Islam hat dieses Volk zur Höhe geführt, und ich glaube, daß es sein Schicksal ist, es wieder in den Abgrund zu reißen, mit allen alten Sitten und Künsten, für welche die Enkel seiner Schöpfer anfingen die Liebe und das Verständnis zu verlieren.45

Wegners Orientbild in den frühen Aufzeichnungen ist vom Kulturpessimismus der Zwischenkriegszeit gekennzeichnet, den er zu einer doppelten Verlustrechnung steigert. Der Orient existiert nicht mehr als authentische, mit sich selbst identische Kultur. Deshalb kann er für die Europäer als exotischer Fluchtraum keine Rolle mehr spielen. Vielmehr stellt er als krisenhafte Region einen globalen ‚Gefahrenherd‘ dar. Es fällt aber wegen des mörderischen Weltkriegs auch kein positiver Blick mehr auf Europa, das die Türkei „von Grund auf vergiftet“46 habe. Aufklärung und Modelle rationalen politischen und gesellschaftlichen Handelns seien, wie schon im Falle Japans47, in ihr Gegenteil umgeschlagen. Die mit Talent und Fleiß die Lehrsätze unseres Rechts, unserer Gerechtigkeit, den Geist des Soldatentums, die Mittel der Polizei, die Erfahrungen der Wissenschaft, die Erfolge der Technik, das Wesen unserer Verwaltung zu erlernen trachteten, nur um neue fruchtbarere Mittel der Unterdrückung darin zu finden […],48

42 43 44 45 46 47

48

Ebd., S. 156. Ebd., S. 165. Ebd., S. 166. Ebd., S. 167. Ebd., S. 159. Wegner spricht von „japanischer Lieblosigkeit“ (Ebd., S. 173) und meint wohl Undankbarkeit. Ebd.

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erweisen sich als allzu gelehrige Schüler Europas. Die sozialistische Perspektive taucht, obwohl Wegner sich für die russische Revolution zu begeistern wusste, noch nicht auf. Wegner prognostiziert, wie später Stefan Zweig für Brasilien, in einer nicht weiter begründeten Wende vage einen durch die Industrialisierung ermöglichten ‚dritten Weg‘: „Denn ich glaube, daß die Entzauberung des Orients kommen muß, ich glaube an die Zukunft dieses neuen Amerika.“49 Im Titel des Reiseberichts aus dem Jahr 1932 Maschinen im Märchenland wird diese Entzauberung programmatisch angesprochen. Die Reise mit der Eisenbahn nach Bagdad, wiewohl die Reisezeit von acht Tagen auf acht Stunden verkürzend, trennt den Reisenden während der Fahrt, über deren Verlauf er nicht bestimmen kann, vom Land, das er durchquert und schließt ihn in einem heimischen Raum en miniature ein.50 Mit ihren hellen Wagen, die den gleichen Weg in acht Stunden zurücklegen, durchrasen die weißen Wüstenzüge die leblose Ebene. Seine Zigarette rauchend, die letzte Nummer der in Bagdad gedruckten englischen Zeitung in der Hand, durchträumt der Reisende, in die geräumigen Polster oder die weichen Kissen seines Schlafwagens geschmiegt, die Strecke nicht anders als wie zwischen Kairo und Luxor oder zwischen London und Edinburgh.51

Die Zugfahrt erlaubt allenfalls einen Blick aus dem Abteilfenster52 auf die Elendsquartiere am Stadtrand von Bagdad, als der Zug seine Fahrt verlangsamt. Die mit dem Auto unternommen Reisen ermöglichen Beobachtungen aus der Nähe. Zunächst stößt er wieder auf Symptome des Stillstands, auf religiösen Fanatismus und Intoleranz. Angesichts des wachsenden Antisemitismus’ in Deutschland beobachtet Wegner mit erhöhter Aufmerksamkeit die Segregation der Religionen und die daraus resultierende fehlende Kooperation bei der Bewältigung der Zukunftsaufgaben: 49 50

51 52

Ebd., S. 182. Auch im Fernreisebus nach Damaskus, gegenüber dem er das einheimische Pilgerauto vorzieht, beobachtet er „die gelangweilten, nichts mehr bewundernden Gesichter Europas.“ (Ebd., S. 16). Ebd., S. 18. Zum Reisen im Zug vgl. Sturm 2002.

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[…] Die Feindschaft zwischen den Religionen und Rassen ist zu groß dafür. Ein schiitischer Derwisch wird keinen Apfel von einem Wagen essen, dessen Rad ein Sunnite auch nur berührt hat, obwohl doch beide an Mohammed glauben. […]53 […] Nein, daß ein Christ bei uns eine Jüdin heiratet…niemals könnte das geschehen.54

Zu seinem Bedauern haben sich auch die zahlreichen im Irak lebenden Juden, die in Bagdad seit Jahrhunderten in einem großen eigenen Viertel ansässig sind, der traditionellen orientalischen Lebensweise angepasst, „denn wie die Muhammedaner wollen auch die Juden hier keine Nahrung von Andersgläubigen empfangen, die ihnen in gleicher Weise als unrein gelten.“55 Anders als von den westeuropäischen Juden sind von ihnen keine Impulse für eine Modernisierung des Landes zu erwarten, da sie z.B. auch innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaft die Stellung der Frau unverändert ließen: Über ihren Kleidern tragen sie die gleichen plumpen Gewänder wie die Muhammedanerin, und es ist ein Zeichen, wie stark die Juden Mesopotamiens im Laufe der Jahrtausende die arabische Kultur annahmen, daß die Bagdader Jüdin sich sogar verschleiert. Der kleine starre viereckige Rahmen […] ist von allen verschiedenen Formen des Schleiers, denen man im Orient begegnet, sogar der häßlichste. Unförmig, gleich einem wandelnden Sack, der die Schritte der jüdischen Frau verzögert, ein gesichtsloses Wesen wie die Muhammedanerin […].56

Die exzessiven und extrovertierten Formen der Religionsausübung durch die irakischen Schiiten, Formen, die ihm aus der Türkei unbekannt waren, werden als eine Ursache der gesellschaftlichen und kulturellen Stagnation und der selbstzerstörerischen Auseinandersetzungen vermutet.57 53 54 55 56 57

Wegner 1932, S. 9. Ebd., S. 10. Ebd. Ebd., S. 63. So begegnen ihm immer wieder Szenen wechselseitiger Demütigung der Religionen: „Die Sunniten behaupten sogar, daß viele Perser in Bagdad diese Namen [der drei ersten Kalifen und Aischas – KMB] auf die untere Fläche der Schuhsohlen schreiben, um sie unausgesetzt in den Staub treten zu können.“ (Ebd., S. 120).

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Klaus-Michael Bogdal Nedschef gehört mit seiner Schwesterstadt Kerbela zu den größten Heiligtümern des schiitischen Islam. Hier ist die Hochburg des muhammedanischen Fanatismus, des rachsüchtigen Hasses gegen alle Andersgläubigen, und zugleich der sittlichen Verworfenheit und Bestechlichkeit.58

Die Eindrücke, die die Stadt dem Durchreisenden vermittelt, werden zu Bildern einer labyrinthischen Unterwelt verdichtet, die Abscheu und (Infektions-)Ängste auslösen. Überall schlug ein dumpfer, ekler Geruch aus den Winkeln der Gassen und aus den Kellern auf, die man in den Felsen gehauen hat. Viele diese Keller stehen untereinander in Verbindung, und in ihrer verschwiegenen Finsternis gehen nicht selten die furchtbarsten Verbrechen vor sich, die unsere abendländische Phantasie mit Schaudern erfüllen müssen. Jedes Haus besitzt einen Brunnen, in dem fauliges, ungesundes Wasser steht; […].59

Dass in diesem Klima aggressiver Abgrenzung sich an der untergeordneten Position der Frauen nichts ändert, veranschaulicht Wegner an Geschichten über einen Ehrenmord im arabisch-jüdischen Milieu60, über Misshandlungen von Ehefrauen61 und über die Folgen der Verhüllung.62 Im Reisebericht Wegners aus dem Jahr 1932 schwingt aber auch Enttäuschung über das langsame Tempo der Entwicklung und die kaum zu überwindenden Hindernisse mit.63 Die Reisebeobachtungen auf den „tausend Kilometern“ Wegstrecke führen zu einer stärkeren Distanz als sie in den früheren Aufzeichnungen über das Osmanische Reich zu spüren war. Orientklischees schlagen durch, wenn von „unnahbarer Ruhe und grübelndem Mißtrauen“64 der Einheimischen die Rede ist. Was fremd ist, soll auch in der Darstellung fremd erschei58

59 60 61 62 63

64

Ebd., S. 119. So wird die durch die Geistlichkeit legitimierte Form der Prostitution, die „Reiseehe“ als Beispiel für die Doppelmoral angeführt. (ebd., S. 124) Diese Praxis wird auch von Annemarie Schwarzenbach erwähnt (2002, S. 115). Wegner 1932, S. 124. Ebd., S. 133ff. Ebd., S. 138ff. Ebd., S. 141. Ata Türk, Schah Reza oder der irakische König sind nicht Personen, auf die der linke Sozialist und Demokrat Wegner seine Hoffnungen politisch gründen könnte. Wegner 1932, S. 17.

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nen. Die Erfahrungen und Beobachtungen fügen sich gedanklich zum Modell einer geschlossenen, von der allgemeinen Kulturentwicklung abgekoppelten Gesellschaft, von der sich der Typus der offenen europäischen Gesellschaft positiv abhebt. Der Orient ist ziellos, klandestin, unberechenbar und kommunikationsunwillig, die offene Gesellschaft effektiv, öffentlich, berechenbar und kommunikationsorientiert. Die Frage nach den Veränderungschancen, eine wichtige Motivation der Reise, bleibt unbeantwortet: Wann wird die westliche Zivilisation auch in das Dunkel dieser Seelen ein neues Licht bringen? Je abgeschlossener das Leben eines Volkes verlaufen ist, um so weniger wird es mit dem Ideal der menschlichen Gesellschaft übereinstimmen; denn eine Sittlichkeit, die ihr Dasein nur dem starren Herkommen verdankt, besitzt keine Anpassung, die ihr die Berührung mit anderen Völkern bringen kann. Die arabische Seele ist in ihrem Schlummer gestört. Sie regt sich im Schlaf, aber sie erwacht noch nicht.65

Die hellen Landschaften des Orients sind vergessen, wenn der aufklärerische Wille seine Leuchtkraft offenbart. Wegner greift auf eine okzidental-philosophische Metaphorik zurück, die wir schon in Platons Höhlengleichnis vorfinden.66 Die ‚arabischen Seelen‘ geraten angesichts des sie unwiderruflich erreichenden Fortschritts in einen gefährlichen Geschwindigkeitsbereich, „denn zurückgebliebene Länder haben stets die Neigung, mehrere Stufen des technischen Fortschritts ihrer Zeit zu überspringen.“67 Nur europäisierte Metropolen wie Bagdad scheinen dieser Rasanz gewachsen zu sein: Es besitzt heute drei Bahnhöfe, hat zahlreiche Automobile, an den Straßenecken stehen die großen sauberen Tankstellen der 65 66

67

Ebd., S. 141. Dort heißt es: „Wenn man ihn [den in der Dunkelheit gefesselten Menschen – KMB] nun aber von da an gewaltsam durch den holprigen und steilen Aufgang aufwärts schleppte und nicht eher ruhte als bis man ihn an das Licht der Sonne gebracht hätte, würde er diese Gewaltsamkeit nicht schmerzlich empfinden und sich dagegen sträuben, und wenn er an das Licht käme, würde er dann nicht, völlig geblendet von dem Glanze, von alledem, was ihm jetzt als das Wahre angegeben wird, nichts, aber auch gar nichts zu erkennen vermögen?“ (Platon. „Der Staat“. Werke. Bd. V. Hamburg 1988, S. 269). Wegner 1932, S. 35.

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Klaus-Michael Bogdal Chanekin-Oil-Company. Mächtige Motorpumpen strecken längs des Flusses die Eisenrohre ihrer breiten schwarzen Saugrüssel in die gelbe Tigrisflut. Vor den Toren der Stadt erhebt sich die erste Baumwollfabrik.68

Mit Hilfe dieser Infrastruktur kann der reisende Europäer nun wieder nach seinem Rhythmus leben und die störende orientalische Zeit eliminieren69, es sei denn, er ist ihr in Behörden, an Grenzen und in Herbergen wieder ausgeliefert. In den Reiseberichten aus dem 20. Jahrhundert häufen sich die Schilderungen solch empörender Zumutungen. Wie aber reagieren nun die als unberechenbar, ziellos und phlegmatisch wahrgenommenen Einheimischen auf die veränderte, von Verkehr und Technik eroberte Lebenswelt? Wegner entwirft ein Szenario der Übernahme westlicher Technik. Durch zweckentfremdende Re-Integration in traditionelle Lebensweisen und die Unterwerfung unter ‚orientalische‘ Charaktereigenschaften wird Technik letztlich ad absurdum geführt.70 Lesen wir, was Wegner über die Hauptstadt Bagdad berichtet: Sie hat ihre Verkehrspolizisten wie heute jede Großstadt der Welt, Automobile jagen vorüber, Pferdedroschken klappern, Krafträder lassen fauchend ihren Benzinschweif hinter sich. Der Motor donnert, die Hupe brüllt. Wenige Schritte abseits aber sitzen am Fluß noch immer Scharen von Arabern, um in der süßen Ruhe des Nichtstuns untätig auf das Wasser zu starren. Doch man glaube nicht, daß der Muhammedaner der Maschine feindlich gesinnt ist. Er, der jede Anstrengung scheut, die nicht die Lebensnot unentweichbar von ihm fordert, hat im Gegenteil eine besondere Vorliebe für jenes geheimnisvolle Zauberwerk, das die Menschen des Westens erfunden haben, um es für sie arbeiten zu lassen. Doch er sieht nicht ein Mittel darin, mit ihrer Hilfe seine Arbeit zu vervielfältigen, zu steigern und die Güter der Welt zu vermehren; für ihn ist sie ein Wunsch und eine Hoffnung – ihm die Arbeit abzunehmen. Im68 69

70

Ebd., S. 31. „Einst hatte ich Monate gebraucht, um bis in seine Mitte vorzudringen, nun sollte ich es zum ersten Male mit Hilfe des Motors und der Maschinen auf einer Strecke von mehr als tausend Kilometern in wenigen Tagen durchqueren!“ (Ebd., S. 21). „Der Araber ist in der kurzen Zeit nach dem Kriege ein ausgezeichneter Automobilist geworden; aber Wagen und Maschine halten nicht sehr lange in seinen Händen […].“ (Ebd., S. 31).

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mer hat er es ausgezeichnet verstanden, seine Frauen, seine Kinder sich für ihn rühren zu lassen, stets einen Weg zu finden, um zu Geld oder Nahrung zu gelangen, ohne sich selber dabei anzustrengen.71

In diesem Szenario besiegt die orientalische Mentalität ohne subversiv oder widerständig zu sein die okzidentale Technik und pervertiert sie in ihr Gegenteil. Nicht die Technik, sondern diese Mentalität, so Wegner, ist der Grund für das Verschwinden der Kultur des Orients. Die Menschen verändern sich in diesem Prozess nicht. Er erlebt die Araber im Irak und in Syrien, wie schon fünfzehn Jahre zuvor die Türken, als gleichgültig gegenüber den eigenen Werten. Sie fühlen sich ihrer Tradition und Kultur nicht mehr innerlich verbunden. Die alten Märchenerzähler sucht man in den Trinkhallen vergebens. Die Eseltreiber werden seltener; die Baumwollzupfer in den Basaren, die alten Handmühlen verschwinden. Die Maschine erobert Bagdad. In seinen weiten Mantel gehüllt aber sitzt der Araber Bagdads, Kopf an Kopf in den Kaffeehäusern, die Füße hochgezogen, und über seinen Halbschlummer tönt lauter und lauter der gequetschte, uns Nordländern so fremde arabische Gesang des Grammophons, während er schweigend den kalten Rauch seiner Pfeife vor sich hinbläst. Er braucht keine Pferde und Ochsen mehr, um das Wasser in seine Palmengärten zu pumpen, keine Kamele für Karawanen, keine Luftfächler und Musikanten. Die Maschine tut alles für ihn. Sie singt sogar.72

Sogar die Beduinen der Wüste erlernen „von Europa“ das Autofahren und „setzen sich an das Steuerrad des Automobils“73 und die schiitischen Pilger, mit denen er nach Damaskus zurückreist, beten bei einer Autopanne in der Wüste inbrünstig und ergeben zu Allah, Muhammed, Hussein und Ali.74 Die Hoffnung auf Modernisierung richtet sich nicht auf die Menschen Arabiens. „Hat sich daran [am orientalischen Despotismus, der Kluft zwischen Herrschern und Masse – KMB] durch Eisenbahnen, Rundfunk, Bohrtürme, Autos, Flugzeuge, durch lange europäische Männerhosen und seidenbestrumpfte Frauenbeine etwas Entscheiden71 72 73 74

Ebd., S. 29f. Ebd., S. 33. Ebd., S. 162. Ebd., S. 172.

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des geändert? Wir können es noch nicht wissen. Alles ist im Übergang,“75 fragt 1938 nach dem gleichen Wahrnehmungsmuster die Journalistin Margret Boveri in ihrem einflussreichen Buch über den Nahen Osten. Wegner gibt indirekt eine Antwort, indem er einen gewaltigen historischen Brückenschlag von den ersten Hochkulturen bis zur Gegenwart imaginiert. Die Europäer träumen hier von einer Renaissance des Orients, nicht die Araber: Denn der Wunsch, diese Fruchtgärten des alten Mesopotamien zu neuem Leben zu erwecken, gehört zu den schönsten Träumen der heutigen Menschheit. Mit den mächtigen Maschinen Europas, unseren viel weitgehenderen technischen Kenntnissen wäre es heute möglich, das Kinderparadies der Erde in noch viel vollkommenerem Umfange auf diese Lehmwüste zu zaubern als damals.76

Der europäische Reisende erhebt sich im doppelten Sinn des Wortes über das Land, um in einer panoramatischen Gesamtschau dessen gegenwärtige Verwahrlosung, Stagnation, Langsamkeit und Rückständigkeit, aber auch dessen großartige Vergangenheit zu erkennen. Mit Hilfe der Technik erreicht er, Hegels Weltgeist gleich, den höchsten Punkt, von dem aus der geschärfte Blick bis zu den Anfängen der Menschheitsgeschichte vordringt. Der Rhythmus der Moderne liefert die Begleitmusik zu dieser ‚Erhebung‘: Da liegt das unendliche Land mit seinen weglosen Ebenen, seinen Steinfeldern und Lehmwüsten, über die die Karawanen dahinkriechen, in deren ausgetrockneten Flußbetten selbst die Automobile stecken bleiben und über das unser metallener Vogel mit der Leichtigkeit einer Schwalbe hinstreicht. Das Rauschen seiner Flügel, das Sausen der Propeller erhebt sich donnernd über den finsteren arabischen Städten, den aus Ziegenhaaren gewebten Zelten der Nomaden, den uralten Marmorpalästen und phantastischen Märchengärten. Es ist die rhythmische Musik dieser Zeit.77

Dass die arabische Erde den Brennstoff geliefert hat, ist längst vergessen. Die Bohrtürme, Öltanks und Pipelines scheinen vom Erdboden verschwunden zu sein. 75 76 77

Boveri 1938, S. 480. Wegner 1932, S. 164. Ebd., S. 36-39.

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Literatur Aebli, Fritz (Hg.). Mit Schweizern rund um die Erde. Reiseerlebnisse und Abenteuer von Schweizern auf dem Weltmeer und in den vier Erdteilen. 2. abgeänderte Auflage. Aarau 1935. Ahmed, Saad Noah. Desert Quest. French and British writers in Arabia and North Africa 1850-1950. Diss. Urbana Illinois 1983. Bell, Gertrude. Miniaturen aus dem Morgenland. Reiseerinnerungen aus Persien und dem Osmanischen Reich 1892. Wien 1997. Berman, Nina. Orientalismus, Kolonialismus und Moderne. Zum Bild des Orients in der deutschsprachigen Kultur um 1900. Stuttgart 1997. Boveri, Margret. Vom Minarett zum Bohrturm. Eine politische Biographie Vorderasiens. Zürich/Leipzig/Berlin 1938. Brenner, Peter J. Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. 2. Sonderheft. Tübingen 1990. Fähnders, Walter/Rohlf, Sabine (Hg.). Annemarie Schwarzenbach. Analysen und Erstdrucke. Bielefeld 2005. Giedion, Sigfried. Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte. Frankfurt a.M. 1982. Honold, Alexander. „Nach Bagdad und Jerusalem. Die Wege des Wilhelminischen Orientalismus“. Kolonialismus als Kultur. Literatur, Medien, Wissenschaft in der deutschen Gründerzeit des Fremden. Hg. Alexander Honold/Oliver Simons. Tübingen u. Basel 2002. S. 143-166. Jost, Erdmut. Landschaftsblick und Landschaftsbild. Wahrnehmung und Ästhetik im Reisebericht 1780-1820. Freiburg i. Br./Berlin 2005. Khattab, Aleya. Das Ägyptenbild in den deutschsprachigen Reisebeschreibungen der Zeit von 1280-1500. Frankfurt a.M. u.a. 1982. Koselleck, Reinhart. Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeit. Frankfurt a.M. 1989. Lindemann, Uwe/Schmitz-Emans, Monika (Hg.). Was ist eine Wüste? Interdisziplinäre Annäherungen an einen interkulturellen Topos. Würzburg 2000. Lindemann, Uwe. Die Wüste. Terra incognita, Erlebnis, Symbol. Eine Genealogie der abendländischen Wüstenvorstellungen in der Literatur von der Antike bis zur Gegenwart. Heidelberg 2000. Link, Jürgen. „(Nicht)normale Lebensläufe, (nicht)normale Fahrten: Das Beispiel des experimentellen Romans von Sibylle Berg“. (Nicht) normale Fahrten. Faszinationen eines modernen Narrationstyps. Hg. U. Gerhard./ W. Grünzweig/J. Link/R. Parr. Heidelberg 2003. S. 21-36.

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Niebuhr, Carsten. Beschreibung von Arabien. Aus eigenen Beobachtungen und im Lande selbst gesammelten Nachrichten. Photomechanischer Nachdruck der Ausgabe Kopenhagen 1772. Mit einem Vorwort v. Dietmar Henze. Graz 1969. Parr, Rolf. „Vom ‚rasenden Stillstand‘ zur ‚Poetik der Widersprüche‘“. (Nicht) normale Fahrten. Faszinationen eines modernen Narrationstyps. Hg. U. Gerhard/W. Grünzweig/ J. Link/R. Parr. Heidelberg 2003. S. 85105. Röhricht, Reinhold/Meisner, Heinrich (Hg.). Deutsche Pilgerreisen nach dem Heiligen Lande. Berlin 1880. Schivelbusch, Wolfgang. Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Individualisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 2000. Schütz, Erhard/Gruber, Eckhard. Mythos Reichsautobahn. Bau und Inszenierung der „Straßen des Führers“ 1933-1941. Berlin 1996. Schwarzenbach, Annemarie. Winter in Vorderasien. Tagebuch einer Reise. Basel 2002. Seetzen, Ulrich Jasper. Reisen durch Syrien, Palästina, Phönicien, die Transjordan-Länder, Arabia Petraea und Unter Aegypten. Hg. und com. von Professor Dr. Fr. Kruse. Dritter Band. Berlin 1855. Simons, Oliver. „Dichter am Kanal. Deutsche Ingenieure in Ägypten“. Kolonialismus als Kultur. Literatur, Medien, Wissenschaft in der deutschen Gründerzeit des Fremden. Hg. Alaxander Honold/Oliver Simons. Tübingen u. Basel 2002. S. 243-262. Sturm, Hermann. „Das Abteil – eine Bildergeschichte“ Der Deutschunterricht. 54. Jg. H. 4. „Lesen-Reisen-Schreiben“. Seelze 2002. S. 56-67. Thesiger, Sir Wilfred. Wüste, Sumpf und Berge. Reiseberichte. Köln 2000. Wegner, Armin T. Im Hause der Glückseligkeit. Aufzeichnungen aus der Türkei. Dresden 1920. Wegner, Arnim T. Der Knabe Hüssein. Türkische Novellen. 2. Auflage. Dresden 1921. Wegner, Arnim T. Maschinen im Märchenland. Tausend Kilometer durch die mesopotamische Wüste. Berlin 1932. Wolf, Eric R. Die Völker ohne Geschichte. Europa und die andere Welt seit 1400. Frankfurt a.M./New York 1986.

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Tausendundeine Nacht – eine westöstliche Geschichte Weit, weit im Orient, irgendwo im Inselreich von Indien und China, irgendwann in der Sasanidenzeit oder auch viel früher, erhebt sich aus irgendeinem salzigen See oder Meer unter großem Krachen und gewaltigem Lärm eine schwarze Säule. Sie wächst bis an die Wolken, watet durch das Wasser und, indem sie das baumbestandene, grüne Ufer erreicht, verwandelt sich die Säule in einen riesenhaften, furchterregenden schwarzen Ifrit mit einer gläsernen Truhe auf dem Kopf. Der Ifrit setzt die gläserne Truhe unter einem der Bäume ab, öffnet sie mit vier Schlüsseln und hebt sein Opfer heraus, eine strahlend schöne Menschenfrau, die er in ihrer eigenen Hochzeitsnacht geraubt und dann in seine Truhe gesperrt und in den tosenden Tiefen des Meeres versenkt hat, damit diese Jungfrau nur ihm allein gehören soll. Dies ist die Geburtsstunde, gleichsam der Urknall von Tausendundeine Nacht. Denn die beiden, der Ifrit und die Jungfrau, sind auf der baumbestandenen Wiese am Ufer des salzigen Meeres nicht allein. Vom Wipfel des Baums herab beobachten zwei Könige, Schahriyar und Schahsaman, die Szene. Weil die beiden Brüder von ihren Ehefrauen betrogen worden waren, hatten sie sich aufgemacht, um jemanden zu suchen, dem das Schicksal noch härter zugesetzt hat als ihnen. Aus Angst vor der schwarzen Säule waren sie auf den Baum geklettert, wo sie sich zwischen den Blättern der Baumkrone verborgen halten. Natürlich entdeckt das Mädchen die beiden Männer, zwingt sie mittels der Drohung, sie werde den Ifrit wecken, der sich inzwischen schlafen gelegt hat, zur Liebe und löst so den Fluch, der auf den beiden Königen lastet: Endlich haben die beiden Brüder jemanden gefunden – nämlich den Ifriten – der noch viel unverschämter als sie beide betrogen wird. Schon achtundneunzig Männer hat die Jungfrau vor ihnen verführt und sie beide haben das Hundert voll gemacht. Vor lauter Wut beschließt nun König Schahriyar, nie wieder zu heiraten, es sei denn für eine einzige Nacht, und seine Frau am nächsten Morgen umzubringen, um vor ihrer Hinterlist in Sicherheit zu sein. Unbarmherzig wütet der traumatisierte König Schahriyar unter den Frauen in seinem Königreich – so lange, bis Schahrasad erscheint.

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Die ersten Spuren der Geschichte von Tausendundeine Nacht lassen sich nach Indien zurückverfolgen. Fast alle Motive der Rahmengeschichte sind in der Sanskritliteratur nachweisbar. Dennoch ist kein indisches Werk bekannt, das alle Motive genau wie Tausendundeine Nacht kombiniert und somit als direkte Vorlage gelten könnte. Wie gelangten diese Motive nun in die arabische Literatur? Die Brücke bildete offensichtlich das Pahlavi oder Pehlevi, das Mittelpersische, also die Sprache Irans vor der islamischen Eroberung und der Einführung des arabischen Alphabets. Eine persische Vorlage für Tausendundeine Nacht war im Umfeld der arabischen Literatur der ersten islamischen Jahrhunderte noch wohl bekannt. Sie hieß Hazār Afsānah (Tausend Abenteuer) und enthielt, wenn wir den arabischen Literaturwissenschaftlern des 10. Jahrhunderts Glauben schenken möchten, exakt die Rahmengeschichte von Tausendundeine Nacht, mit allen wesentlichen Protagonisten und Handlungssträngen. Man darf annehmen, dass dieses Werk bereits im 9. Jahrhundert aus dem Mittelpersischen ins Arabische übersetzt wurde. Auf seiner Reise durch die überaus reiche arabische Kultur und Literatur der Abbasiden-, Fatimidenund Mamlukenzeit zieht Tausendundeine Nacht wie ein Geschichtenmagnet immer mehr typisch arabische Erzählungen an: Liebes-, Kriminal- und phantastische Abenteuergeschichten, selbst ein umfangreicher ‚historischer Roman‘ wird inkorporiert. Es entstehen immer neue vollständige – also 1001 Nächte enthaltende – Versionen, oft in Form vielbändiger Handschriften, von denen dann auch Einzelbände bzw. -hefte in Umlauf geraten. Eine weitere, bedeutende Etappe der Reise von Tausendundeine Nacht führt die drei ersten Bände einer um 1450 geschriebenen arabischen Handschrift aus Aleppo (Nordsyrien) nach Paris und von dort wiederum in sämtliche Metropolen Europas und der Neuen Welt. Das Stichdatum für die Ankunft von Tausendundeine Nacht im ‚Abendland‘ ist 1704: In diesem Jahr erscheint der erste Band der berühmten Übersetzung des französischen Orientalisten Antoine Galland (16461715). Oft bis zur Unkenntlichkeit verwandelt und an den europäischen Geschmack angepasst, kommt Tausendundeine Nacht schließlich wieder zurück in die literarischen Kreise der arabischen Welt, um von dort aus erneut, nein, eigentlich zum ersten Mal, zu einem Anker für die kulturelle Identität erhoben zu werden. Der Grund für diesen weltweiten Erfolg einer Erzählidee liegt zuvorderst in der existentiellen, lebensrettenden Kraft der Geschichten

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aus Tausendundeine Nacht. Schahrasad erzählt ja um ihr Leben, und auch die Helden ihrer Geschichten erkaufen immer wieder ihr eigenes Leben oder das Leben eines anderen durch eine spannende Geschichte. Eine gute Geschichte ist in Tausendundeine Nacht allemal ein Leben wert, oder zumindest ein Drittel eines Lebens: „Ehrenwerter Satan und Krone der Könige der Dschinnen!“ sagt der erste Alte in der Geschichte vom Kaufmann und dem Dschinni, „wenn ich dir meine Geschichte mit dieser Gazelle erzähle und du sie spannend und aufregend findest, noch spannender als das, was dir mit diesem Kaufmann hier widerfahren ist, schenkst du mir dann ein Drittel seines Lebens und ein Drittel seiner Schuld?“ – „Einverstanden“, knurrt der Dschinni, und so kommt es zur Geschichte des ersten, zweiten und dritten Alten. Lebensrettend für Schahrasad, die Erzählerin all dieser Geschichten, wird das Erzählen durch zwei Kunstgriffe, nämlich erstens, indem sie die Geschichten schier uferlos ineinander verschachtelt fort spinnt und zweitens, indem sie die Erzählung immer an der spannendsten Stelle abbricht, etwa genau in dem Augenblick, als der „ehrenwerte Satan“ gerade sein Schwert zieht, um dem armen, unschuldigen Kaufmann den Kopf abzuschlagen. So wird Tausendundeine Nacht zum Prototyp des Cliffhangers und Schahrasad zur Urmutter der modernen Fernsehserie. Und damit dürfte ihr Erfolg hinlänglich erklärt sein. Schon die frühen arabischen Leser und Hörer von Tausendundeine Nacht dürfte außer dieser Spannung bereits eine Art exotischer, ja gleichsam orientalischer Charme gereizt haben, denn die Geschichte spielt ja, von Kairo, Bagdad oder Damaskus aus gesehen, im ‚Orient‘ und sie stammt, zumindest was die Rahmengeschichte betrifft, die wir eingangs gehört haben, auch von den Literaturen weit östlich der arabischen. Die Richtung des Flusses der Motive und Erzählungen verlief schon damals, auch im Bewusstsein des arabischen Publikums, von Osten nach Westen. Die einzelnen Erzählungen der Schahrasad aber stammten durchaus aus der Umgebung des arabischen Lesepublikums: sie spielen in Kairo oder Bagdad und viele von ihnen haben Parallelen in der zeitgenössischen arabischen Bildungsliteratur (adab). Schon damals hatte Tausendundeine Nacht also bereits eine Art interkulturellen, gleichsam west-östlichen Charakter. An drei Stationen werde ich versuchen, die Fährten der vielleicht größten und berühmtesten Geschichtensammlung der Weltliteratur ein wenig genauer zu betrachten: Sanaa 2004, Berlin 1820 und Beirut 1968.

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Sanaa 2004 Am Rande einer Konferenz arabischer Romanschriftsteller rund um den Nobelpreisträger Günter Grass hatte ich im Januar 2004 in der jemenitischen Hauptstadt Sanaa Gelegenheit, mit zwei wichtigen Zeitzeugen für Tausendundeine Nacht zu sprechen: Die jemenitische Wissenschaftlerin Raufa Hasan (Raÿūfa ¼asan) ist Professorin für Publizistik und Medienwissenschaft an der Universität Sanaa und Expertin für Orient- aber auch Okzident-Diskurse, namentlich die stereotypen Bilder, die in den westlichen Medien über den Orient produziert werden und umgekehrt. Der ägyptische Romancier und Feuilleton-Herausgeber Gamal al-Ghitani (Gamāl al-ĠÍÔānī) hat sich in den 1980er Jahren für die Rehabilitierung von Tausendundeine Nacht eingesetzt, als das Werk auf den Index der ägyptischen Zensurbehörde geraten war. Außerdem ist er Initiator der Neuauflage eines der berühmtesten vollständigen arabischen Drucke von Tausendundeine Nacht. Hören wir also einige persönlichen Erinnerungen an Tausendundeine Nacht: Raufa Hasan In meiner Kindheit wurden die Geschichten aus Tausendundeine Nacht noch erzählt, und zwar von den Frauen in unserem Stadtviertel. Damals gab es noch kein Fernsehen. Und wir Kinder hörten auch kein Radio. Das Radio war als Nachrichtenmedium den Erwachsenen vorbehalten. Stattdessen ließen wir uns Geschichten erzählen. Und das Zuhören, das haben wir wirklich geliebt. Gamal al-Ghitani Als ich ein kleiner Junge war, hörte ich zum ersten Mal von Tausendundeine Nacht, und zwar als verbotenes Buch. Erotik und andere unanständige Dinge kämen darin vor, sagte man. Genau das hat mich dazu gebracht, das Buch zu lesen. Raufa Hasan Ich bekam ein kleines Taschengeld, eben das, was auch meine Freunde bekamen und wovon meine Freunde immer Süßigkeiten kaufen gingen. Ich aber hatte eine Nachbarin, und wenn ich ihr mein Taschengeld gab, erzählte sie mir eine Geschichte. Ich wusste damals nicht, dass ihre Geschichten aus Tausendundeine Nacht kamen, ich war ja ein kleines Mädchen und hörte ihr einfach gerne zu. Aber es waren besondere Geschichten. Sie handelten von Dschinnen, und wie sie in die Behausungen der

„Tausendundeine Nacht“ – eine westöstliche Geschichte Menschen eindrangen, gruselige Geschichten, die mir Angst und Schrecken einjagten. Da war zum Beispiel die Geschichte vom Dschinni, der eine Jungfrau entführt hatte und sie wegen ihrer Untreue auf dem Grund des Meeres gefangen hielt. Er hatte sie in eine Truhe gesperrt, die Truhe nochmals in eine größere Truhe eingeschlossen, und diese in den Tiefen des Meeres versenkt. Immer, wenn er mit ihr zusammen sein wollte, zog er sie aus dem Wasser auf eine Insel und öffnete die Truhe mit vielen Schlüsseln. Aber wenn er dann nach ihrem Zusammensein eingeschlafen war, betrog sie ihn jedes Mal, obwohl sie nur wenige Minuten lang in Freiheit war. Und von jedem, mit dem sie den Dschinni betrog, nahm sie sich einen Ring oder eine Kette. Sie hatte schon einen ganzen Berg solcher Beutestücke gesammelt, die versteckte sie in ihrer Truhe, mit der sie wiederum in der zweiten Truhe eingeschlossen war. Das war so eine von den Geschichten, von denen ich später erfahren habe, dass sie aus Tausendundeine Nacht stammten. Als ich ein kleines Mädchen war, waren das für mich einfach böse Frauen. Diese Frauen hatten die Macht, Böses zu tun. Sie durchbrachen die vertrauten Gesetze und Normen auf beängstigende Art und Weise. Ich habe manchmal von diesen Geschichten geträumt und konnte danach die ganze Nacht nicht mehr einschlafen. Gamal al-Ghitani Ich erinnere mich noch genau: Ich war 10 Jahre alt. Mein Vater – Gott habe ihn selig – war des Lesens und Schreibens nicht mächtig. Da brachte ich eines Tages aus der Subeih-Buchhandlung bei der al-Azhar-Moschee ein Exemplar von Tausendundeine Nacht mit. Damals habe ich Tausendundeine Nacht gelesen, und ich glaube, das waren die goldenen Lesezeiten in meinem Leben. Denn ich las nicht nur, sondern ich erlebte, was ich las. Ich las von Schahrasad und sah sie vor mir, als würde sich dies alles wirklich vor meinen Augen abspielen. Raufa Hasan Als ich in die Schule kam, lebten wir in Ibb, einer Stadt im Jemen. In Ibb eröffnete damals ein ägyptisches Kulturzentrum, in dessen Bibliothek ein Angestellter arbeitete, der Kinder sehr gern hatte. Die Bibliothek lag nahe bei unserem Haus. Als ich zum ersten Mal dort hereinschaute, sagte der Bibliothekar: „Wenn du eine Geschichte liest und mir ihren Inhalt erzählst, gebe ich dir eine bestimmte Sorte Süßigkeiten.“ Ich las die erste Geschichte, um an die Süßigkeiten zu kommen. Sie schmeck-

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Claudia Ott ten so gut, dass ich sämtliche Bücher der Bibliothek las, darunter auch Tausendundeine Nacht. Der Titel fiel mir damals nicht sonderlich auf, ich hörte auch nicht bei jeder Nachtgrenze auf. Wenn mir die Geschichte gefiel, Schahrasad aber gerade eingeschlafen war und zu erzählen aufgehört hatte, las ich einfach weiter. Später kehrte ich nach Sanaa zurück. Ich lebte ein Jahr lang im Haus meiner Großeltern. Mein Großvater besaß Tausendundeine Nacht, und auch andere Bücher wie Kalila waDimna. Nun las ich all diese Geschichten von neuem, diesmal gemeinsam mit meinem Großvater und er erklärte mir ab und zu etwas, oder ergriff Partei für eine der Figuren in den Geschichten. Ich war nicht immer mit ihm einverstanden, und so stritten wir immer häufiger, bis mir mein Großvater schließlich verbat, Tausendundeine Nacht weiterzulesen. Aber da kannte ich das Buch schon fast auswendig.1

Anhand dieser Zeugnisse können wir zwei ganz unterschiedliche Arten von Erinnerungen an Tausendundeine Nacht nachvollziehen: Raufa Hasan erinnert sich an die mündliche Überlieferung, an die Geschichten erzählende Nachbarin, deren Geschichten sich nicht einmal als Teil von Tausendundeine Nacht zu erkennen geben. Gamal al-Ghitanis früheste Erinnerungen dagegen gelten einem Buch. Er kann sogar noch genau die Edition benennen, in der er Tausendundeine Nacht zum ersten Mal gelesen hat: den Druck des Verlagshauses ’Maktabat aÈ-Æubay½ aus Kairo, den er im Alter von 10 Jahren nach Hause brachte. Auch Raufa Hasan hat Tausendundeine Nacht später gelesen, bezeichnenderweise auf Veranlassung eines Bibliothekars im ägyptischen Kulturinstitut im Jemen. Aber auch ihr, wie schon Gamal alGhitani, wurde das Buch schließlich verboten. Zwei Fragen drängen sich angesichts dieser beiden Zeitzeugnisse auf: Ist das Nebeneinander von mündlicher und schriftlicher Überlieferung typisch für die arabische Geschichte von Tausendundeine Nacht ? Und war das Buch in der arabischen Welt schon immer anrüchig? Die Antwort lautet auf beide Fragen ‚ja‘. Wir besitzen sowohl Lese- als auch Vorleseexemplare von Tausendundeine Nacht, und schon die frühesten arabischen Sekundärquellen aus dem 10. Jahrhundert bezeugen uns, dass das Werk komplett schriftlich vorhanden war, eifrig gelesen und entliehen wurde. Gleichzeitig finden wir in densel1

Quelle: Claudia Ott. Erinnerungen an Tausendundeine Nacht. Sendung der Feature-Abteilung des RBB, 2004.

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ben und anderen arabischen Quellen abwertende, ja warnende Urteile über den Inhalt des Buches, und die Warnung, es Jugendlichen nicht als Bildungsliteratur zugänglich zu machen. Soviel zu Tausendundeine Nacht als Buch. Einzelne Geschichten daraus sind aber offensichtlich auch unabhängig davon mündlich weiterüberliefert worden und werden es zum Teil bis heute, wie wir von Raufa Hasan gehört haben. Typisch ist für diese Beobachtungen, dass die mündliche Überlieferung einzelner Geschichten eher in die Frauenwelt, die Überlieferung des ganzen Textes als Buch und dessen Rezeption eher in die Männerwelt gehört. Männliche Geschichtenerzähler, die für ein männliches Publikum vortragen, haben Tausendundeine Nacht, wenn sie es überhaupt im Repertoire hatten, wohl ausschließlich vorgelesen, nicht aber frei improvisierend und dadurch bei jedem Vortrag eine neue Version erzeugend. Bei einer Feldforschung über arabische Epik im Jahr 1997 wurden mir allerdings sogar von einem professionellen Vorleser gewichtige Bedenken an Tausendundeine Nacht mitgeteilt: Das Werk enthalte viel zu viele irrationale und offensichtlich unwahre Elemente: Dschinnen, Ifrite und so weiter. Was im Rahmen der Vorlesestunden für Männer vorgetragen werde, sei dagegen echte arabische Geschichte.2

Berlin 1820 Es ist hinlänglich bekannt, welch enormen Einfluss Tausendundeine Nacht auf die europäische Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts ausgeübt hat, und wie sehr dieser Einfluss der Übersetzung und Fortschreibung durch den französischen Orientalisten Antoine Galland zu verdanken ist. Galland hatte ja den Text nicht nur übersetzt, sondern stark bearbeitet und vor allem erheblich erweitert aus anderen schriftlichen und mündlichen Quellen. Es waren die Weiterübersetzungen der französischen Mille et une Nuit, deren Zauberkraft sich kein Bereich abendländischer Literatur und Kunst entziehen konnte. Ich möchte hier nur ein Beispiel für eine europäische Fortspinnung des Stoffes anführen, nämlich den anonymen West-Östlichen Serail – 2

Vgl. Claudia Ott. Metamorphosen des Epos. Leiden 2003. S. 191; Remke Kruk/Claudia Ott. „In the Popular Manner. SÍra Recitation in Marrakech anno 1997“. Oriente Moderno N.S. 2/2003. S. 443-451.

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Reisebericht eines Ungenannten, der 1820 in Berlin in drei Bänden erschien. Im Sommer 2005 ist ein Auszug aus diesem Werk in der Reihe ‚Zettels Archiv‘ neu ediert und kommentiert worden.3 Die kleine Neuedition unter dem Titel Takla Makan ist Anlass dafür, dass ich aus den zahllosen Beispielen für die europäische Nachwirkung von Tausendundeine Nacht gerade dieses Beispiel ausgewählt habe. Takla Makan ist eine Geschichte, die außer von Tausendundeine Nacht auch noch vom Reisebericht des Marco Polo und Daniel Defoes Robinson Crusoe beeinflusst worden ist. Der Inhalt ist folgender: Nach einem Sandsturm, der außer ihm seine gesamte Karawane vernichtet hat, rettet sich ein einsamer, verirrter und fast schon verdursteter Reiter schwer verletzt in eine unbekannte und noch nicht bewohnte Oase. Er vollzieht dort die berühmten sieben Schritte der Entwicklung der Zivilisation, wodurch er nicht nur sein Leben rettet, sondern auch die Oase kultiviert. Nachdem seine vitalen Grundbedürfnisse gestillt sind, erwacht die Begehrlichkeit nach geistiger Nahrung. Der Mann erinnert sich an seine Satteltasche, die ihm ein alter Mann kurz vor dem Aufbruch der Karawane in Kashgar zur Beförderung an einen Freund im fernen Dunhuang mitgegeben hat: Endlich war die Begierde, den Inhalt der Taschen kennenzulernen, übermächtig geworden. Nach mühseligen und qualvollen Stunden erreichte er den Ort seines Sturzes. Von dem Reitkamel lagen nur noch die kahlen Knochen verstreut umher, aber die Satteltaschen waren unversehrt. Er öffnete sie sogleich und fand sie mit Dutzenden von Schriftrollen angefüllt, mit Büchern also. Von nun an teilte er seine Zeit in die Pflege des Gartens und das Lesen der Schriftrollen. Geschichten waren darin aufgezeichnet, alte Geschichten, so alt, daß er, obwohl er in seinem früheren Leben als gelehrt gegolten hatte, nicht zu sagen gewußt hätte, wie alt sie sein könnten. Er las sie wieder und wieder, überflog sie bisweilen, studierte sie dann nochmals sorgsam, las sich selbst einige Abschnitte laut vor und begann nicht selten inmitten der Lektüre von vorn. So lernte er die Geschichten ganz und gar kennen und nahm sie in sich auf, als seien sie Teile seiner selbst.4 3

4

Takla Makan. Legende und Wahrheit am Rande der südlichen Seidenstraße. Hg. Burkhart Schaper. Langenhagen 2005. (Zettels Archiv; Pasticcio Nr. 28). Ebd., S. 11.

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Als eine vom Weg abgeirrte Karawane die Oase entdeckt, erzählt der inzwischen gealterte und erblindete Gärtner zum ersten Mal seine Geschichten. Im weiteren Verlauf der Erzählung kommen noch viele Karawanen durch seine Oase und allen erzählt der Alte nicht nur seine Geschichten, sondern hört sich auch die ihren an, in denen er immer öfter seine eigenen als Kern erkennt. Ihm wird klar: Die Geschichten, die ihm die durchreisenden Karawanenführer erzählen, sind nichts anderes als ein Fortspinnen seiner eigenen Geschichten, wie sie sich, nachdem er sie früheren Generationen von Karawanenführern erzählt hatte, an den Karawanenfeuern weiterentwickelt haben. Zum Schluss der Geschichte suchen den alten Einsiedler zwei Männer aus der Stadt auf schwarzen Araberpferden auf. Sie haben die Absicht, seine Geschichten aufzuzeichnen, um sie für die Nachwelt zu bewahren. Als der Alte ihnen seine ursprünglichen Schriftrollen zur Abschrift anbieten will, sind diese verschwunden, längst haben sie sich in Luft aufgelöst, sie existieren nur noch in seinem Gedächtnis. Nun lässt sich der Alte überreden, noch einmal vom Abend bis zum Morgen seine Geschichten zu erzählen. Danach verstummt er und nie wieder ist etwas von ihm zu hören. Sogar die Oase wird bald darauf von einer Wanderdüne verschlungen. Als aber die beiden Männer, in die Stadt zurückgekehrt, ihre Papiere vergleichen, stellen sie fest, dass sie beide völlig unterschiedliche Aufzeichnungen angefertigt haben. Der eine hat ein Register der Pflanzen des Gartens und lange Listen der Personen und Situationen der Geschichten angelegt. Der andere hat den Garten selbst in eine fern liegende Stadt versetzt und zum Schauplatz einer eigenen Geschichte gemacht. Die Namen und Städte in den Geschichten des Einsiedlers hat er durch andere, wahrscheinlicher klingende ersetzt. Die Geschichten des Alten aber konnte keiner von beiden dokumentieren. Dieses Ende ist lesbar als klassischer Stellvertreterstreit zwischen Katalog und Fiktion, zwischen positivistischen und idealistischen Wissenschaftspositionen. Nach Ansicht des Neuherausgebers von Takla Makan ist es dieser Grunddissens, den die ganze Geschichte parabelhaft transportieren soll.5 Für uns aber kann diese Geschichte, die ansonsten vor allem in der esoterischen Literatur bekannt ist, ein Licht auf die Weiterüberlieferung von Tausendundeine Nacht in Europa werfen: Hier wird eine Art Ursprungslegende für Geschichten 5

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wie die aus Tausendundeine Nacht entworfen, ähnlich wie in dem allerdings weit lebensnäheren historischen Roman The Arabian Nightmare von Robert Irwin.6 In beiden Ursprungslegenden aber – und das scheint mir für die abendländische Vorstellung von Tausendundeine Nacht ganz charakteristisch zu sein – greifen Mündlichkeit und Schriftlichkeit engstens ineinander.

Beirut 1968 Auf zweifache Weise wirkte und wirkt Tausendundeine Nacht in der modernen arabischen Literatur: Einmal als Erzählstoff, zum anderen als Erzähltechnik. Beide Aspekte konnte Tausendundeine Nacht in der arabischen Literatur aber erst nach dem Durchgang durch die europäische Phase der Überlieferung entfalten. Die Orientalistin Wiebke Walther spricht hier von dem sogenannten ‚Pizza-Effekt‘, „daß nämlich etwas, das in der Herkunftsregion nicht viel galt, dann im Ausland zu Ansehen gelangte, als Re-Import eine ganz andere Be- und im Fall von Tausendundeine Nacht in der modernen arabischen Literatur eine glänzende Aufwertung erfährt.“7 Arabische Autoren, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit europäischer Literatur intensiv in Kontakt traten, erfuhren verwundert, welch hohe Wertschätzung die europäischen Autoren Tausendundeine Nacht entgegen brachten. Erst hierdurch wurde Tausendundeine Nacht in der arabischen Welt salonfähig. Oft sind es gerade die Motive, die erst in den europäischen Bearbeitungen hinzugekommen waren, die nun besonders gern von arabischen Autoren aufgenommen werden: Der fliegende Teppich, Aladdin und die Wunderlampe, Ali Baba und die vierzig Räuber. Aber auch die Erzähltechnik aus Tausendundeine Nacht hat viele der modernen arabischen Romanciers inspiriert.8 Schließlich ist es auch das aus Tausendundeine Nacht in Europa entstandene romantische Orientstereotyp, das nun 6

7

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Robert Irwin. Der arabische Nachtmahr. Roman. Deutsch von Annemarie Schimmel. München 1988. Robert Irwin. Die Welt von Tausendundeine Nacht. Aus dem Englischen und für den deutschen Leser ergänzt von Wiebke Walther. Frankfurt a.M. 2004. S. 432. Vgl. Claudia Ott. „Tausendundeine Nacht als Kultbuch der arabischen Literatur“. Kultbücher. Hg. Rudolf Freiburg u.a. Würzburg 2004. S. 15-30, hier: S. 26ff.

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wieder durch die arabische Literatur durchgeführt wird und uns in Texten wie dem 1968 in Beirut erschienenen Gedicht „Etwas aus Tausendundeine Nacht “ entgegentritt. Sein Autor, der irakische Dichter Abdalwahhab al-Bayati (þAbd al-Wahhāb al-Bayātī) gilt als einer der Vorreiter der arabischen lyrischen Avantgarde, die seit 1950 unter dem Namen ‚Freie Dichtung‘ (aš-šiþr al-½urr) bekannt wurde. AlBayatis Leben und Werk ist ein Paradebeispiel für das geflügelte Wort über die moderne arabische Literatur: „Bagdad schreibt, Beirut druckt, Kairo liest“. Mehrere seiner Schriften, darunter der Diwan Der Tod im Leben erschienen in Beirut, obgleich er nie dort gelebt hatte. Nach Abschluss seiner Ausbildung zum Arabischlehrer in Bagdad unterrichtete Abdalwahhab al-Bayati an verschiedenen Bagdader Schulen und war daneben Mitarbeiter von aÝ-ÕaqÁfa al-ºadÍda (Neue Kultur), der Zeitschrift der irakischen Kommunistischen Partei. Dies war für die damals herrschende Monarchie ein Grund, ihn 1953 vom Staatsdienst zu suspendieren. Al-Bayati verließ den Irak und arbeitete in Kairo als Kulturredakteur der Zeitung al-Gumhūriyya. Nach dem Putsch von 1958 kehrte er nach Bagdad zurück, wo er Leiter der Abteilung Publikationswesen im irakischen Bildungsministerium wurde. 1959 ernannten ihn die neuen Herrscher zum Kulturattache der irakischen Botschaft in Moskau, doch entzog ihm das Baath-Regime 1963 die irakische Staatsbürgerschaft. Aufgrund einer Amnestie kehrte alBayati, der bis dahin in Kairo gelebt hatte, 1972 in den Irak zurück. Von 1980 bis 1990 war er wiederum Kulturattache, diesmal an der irakischen Botschaft in Madrid, anschließend ging er nach Jordanien, wo ihm die irakische Staatsbürgerschaft ein zweites Mal entzogen wurden. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in Jordanien und Syrien. Auf eigenen Wunsch wurde Bayati auf dem Friedhof des berühmten arabischen Mystikers Mu½yi d-Dīn Ibn þArabī in Damaskus begraben. In seinem Gedicht „Etwas aus Tausendundeine Nacht “, aus dem ich Ihnen zum Abschluss einen Auszug zitiere, wird Tausendundeine Nacht zum Sinnbild romantisierender Klischees über den Orient, die in scharfem Kontrast zu der trostlosen Realität in den arabischen Ländern stehen.

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Claudia Ott Etwas aus Tausendundeine Nacht (Abdalwahhab al-Bayati, deutsch von Wiebke Walther) Ich fliege jede Nacht auf meinem schwarzen Zauberflügelroß In ein Land, Freundin, das nie du sahst, und an dessen verlassenem Tor du nie wartetest in Einsamkeit. Ich trage mein Feuer, meine Asche hin zu des Märchenbergs Hang, Hülle mich ein in den Sternenumhang, Wartend in Fieber, Meine Wunde bedeckend mit Salz, über die Buchstaben vergießend meinen Tod Und die Trauer leerer religiöser Männerfeste. So häng ich an Dunkel und Wind, Berauscht vom Feuer des Lichts, Wickelte zum Turban des Fiebers Leichentuch. Auf meinem schwarzen Zauberroß Trag ich Ala ed-Dins Lampe Und versinke im singenden Morgen, dem trauernden, blassen. […] Ich stürze von des Todes Roß Und meinem Lager, als Toter im Haus, Halte in meiner Hand eine Zeitung, Alt und doch neu. Spöttisch lacht mein Nachbar, und das Radio hält in der Rede an. Da merkte Schehrezad, dass der Morgen begann. […]9

Von Indien über Persien und die arabische Welt nach Europa und wieder zurück in die Literatur der arabischen Länder – spätestens seit 1704 und den zahlreichen Fortschreibungen der französischen Mille et Une Nuit in den Literaturen Europas, die dann wieder in die arabische Literatur rücküberliefert wurden, sind in der Überlieferung von Tausendundeine Nacht „Orient und Okzident […] nicht mehr zu trennen“.10 Daher mag es dem Andenken J. W. von Goethes, des großen Liebhabers von Tausendundeine Nacht, nicht abträglich sein, Tausendundeine Nacht als eine ‚westöstliche Geschichte‘ zu bezeichnen. 9

10

Robert Irwin. Die Welt von Tausendundeine Nacht. Aus dem Englischen und für den deutschen Leser ergänzt von Wiebke Walther. S. 435f. Johann Wolfgang Goethe. „Zum ›Buch des Sängers‹ “. West-östlicher Divan. Hg. Hans-J. Weitz. Frankfurt a.M. 1974. S. 279 (Anhang: ‚Gedichte aus dem Nachlaß‘).

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Kehren wir endlich zurück an das baumbestandene Ufer des salzigen Meeres, so werden wir feststellen, dass der Ifrit inzwischen seine Jungfrau wieder in die Truhe gesperrt, dieselbe mit vier Schlössern gesichert und in den Wogen des Meeres versenkt hat – ganz ohne den zweifachen, ja hundertfachen Betrug bemerkt zu haben. Da sind wir wieder, von wo die Motive der Rahmengeschichte von Tausendundeine Nacht ihren Ausgang genommen hatten. Dort, wo Erzählen Leben rettet. Und nie wird diese Geschichte ihre Kraft verlieren, nie wird sie aufhören, zu immer neuen Geschichten zu führen, ganz im Sinne eines anderen großen Erzählers, der sagte: „überlebm wird Der, der noch aus jeder Cat'astrophe machen kann“ (Arno Schmidt).

Literatur Goethe, Johann Wolfgang. „Zum ›Buch des Sängers‹“. West-östlicher Divan. Hg. Hans-J. Weitz. Frankfurt a.M. 1974. S. 279 (Anhang: ‚Gedichte aus dem Nachlaß‘). Irwin, Robert. Der arabische Nachtmahr. Roman. Deutsch von Annemarie Schimmel. München 1988. Irwin, Robert. Die Welt von Tausendundeine Nacht. Aus dem Englischen und für den deutschen Leser ergänzt von Wiebke Walther. Frankfurt a.M. 2004. Kruk, Remke/Ott, Claudia. „In the Popular Manner. SÍra Recitation in Marrakech anno 1997“. Oriente Moderno N.S. 2/2003. S. 443-451. Ott, Claudia. Erinnerungen an Tausendundeine Nacht. Sendung der FeatureAbteilung des RBB, 2004. Ott, Claudia. Metamorphosen des Epos. Leiden 2003. Ott, Claudia. „Tausendundeine Nacht als Kultbuch der arabischen Literatur“. Kultbücher. Hg. Rudolf Freiburg u.a. Würzburg 2004. S. 15-30. Schaper, Burkhart (Hg.). Takla Makan. Legende und Wahrheit am Rande der südlichen Seidenstraße. Langenhagen 2005.

Hamid Tafazoli

Der deutsche Persien-Diskurs Zur Verwissenschaftlichung und Literarisierung des Persien-Bildes im deutschen Schrifttum Von der frühen Neuzeit bis in das neunzehnte Jahrhundert 2008, 612 Seiten, geb. € 48,ISBN 978-3-89528-600-1 Das Persien-Bild in der deutschen Literatur erweist sich im europäischen Kontext der frühen Neuzeit als eine Erscheinung, die ihre Schwerpunkte in merkantilen und moralisch-geistigen Prozessen hat. Sie werden hier aus kulturwissenschaftlicher Sicht erforscht. Als ebenfalls unerforscht galt Persien bisher in den Studien der Komparatistik, obschon dieses Land und seine Kultur in der Kulturund Geistesgeschichte Deutschlands frappierende Spuren hinterlassen haben. Hamid Tafazoli weist nach, dass das Zeitalter, in dem sich unser Denken in das Globale weitet, dem Grundgedanken der Aufklärung folgt, jedoch in einer anderen Dimension. Im Schrifttum des 18. Jahrhunderts nämlich bereitete Persien der Idee einer ästhetischen ,Weltvereinigung‘ einen fruchtbaren Boden. Heute sprechen wir von Interkulturalität und Transkulturalität, von Nationalität und Internationalität. Und dennoch stehen wir vor der Frage nach dem Eigenen und dem Fremden – nach Alterität und Identität. Unbedacht wird nach dem utopischen Raum gesucht, an dem sich das Eigene und das Fremde zu einem globalen Ganzen fügen. Wir suchen aber das Fremde, indem wir zu uns finden. Diese Reise geht nicht allein in die fern liegende Fremde, sondern auch in das unbekannte Eigene, das aber weniger im Reisenden selbst zum Tragen kommt als vielmehr im Raum der Ferne, den er bereist. HAMID TAFAZOLI studierte an den Universitäten Teheran, Münster, Hagen, Kassel und am Goethe-Institut Deutsche Philologie, Allgemeine Sprachwissenschaft, Indogermanische Sprachwissenschaft, Volkskunde und Deutsch als Fremdsprache. Promotion 2006 mit dieser Untersuchung, die mit dem Sibylle-Hahne-Preis für Geistes- und Sozialwissenschaften 2006 der Universität Münster ausgezeichnet wurde. Zur Zeit ist er Lehrbeauftragter am Germanistischen Institut und im Lehrgebiet Deutsch als Fremdsprache der Universität Münster.