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German Pages [745] Year 2020
Whitehead Studien Whitehead Studies
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Spyridon Koutroufinis
Organismus als Prozess Begründung einer neuen Biophilosophie
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495820896
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B
Spyridon A. Koutroufinis Organismus als Prozess
VERLAG KARL ALBER
A
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Whitehead Studien Whitehead Studies
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Herausgegeben von Godehard Brüntrup (München) Christoph Kann (Düsseldorf) Franz Riffert (Salzburg)
https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Spyridon A. Koutroufinis
Organismus als Prozess Begründung einer neuen Biophilosophie
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Spyridon A. Koutroufinis Organism as Process Foundations for a New Biophilosophy The present study was written with the intent of opening up new ontological dimensions to the debate concerning the nature of the organism, which broaden the horizons of contemporary biological science. Various traditions from the natural sciences and Naturphilosophie are further developed and synthesized into a novel theory of the organism. Organismic genesis is contemplated in light of the process of individual ontogenesis and its most dramatic phase, embryogenesis. The ontogenetic theme also gives rise to the problem of organismic self-maintenance, which exists both for multicellular and unicellular life. In the synthesis here proposed, foundational principles of Alfred North Whitehead’s and Henri Bergson’s process ontologies find new integration in the concept of the organism. From the unicellular to the most highly-developed of organisms, subjective interiority is awarded in degrees to all life forms, wherein experience is granted a central role in the ontogeny and self-maintenance of the organism. Finally, a vision for a future process metaphysics is sketched in which essential elements of the ontologies of both thinkers are brought together.
The Author: Spyridon A. Koutroufinis was born in Thessaloniki/Greece in 1967. He studied mechanical engineering with additional studies in theoretical physics in Germany. In 1994 he was awarded a doctorate in philosophy of science from the Humboldt University of Berlin. In 2009 he passed the post-doctoral Habilitation examination at the Technical University (TU) Berlin, qualifying him for full professorship within the German academic system. Since 2010, he has been an associate professor of philosophy at the TU Berlin. Between 2012 and 2014 he was a Visiting Associate Professor and Research Scholar at the University of California, Berkeley. He has specialised in biophilosophy, classical and process metaphysics, and theory of complexity.
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Spyridon A. Koutroufinis Organismus als Prozess Begründung einer neuen Biophilosophie Die vorliegende Untersuchung wurde verfasst, um der Diskussion zum Wesen des Organismus neue ontologische Dimensionen zu eröffnen, die den weltanschaulichen Horizont der gegenwärtigen Biowissenschaften erweitert. Unterschiedliche naturwissenschaftliche und naturphilosophische Traditionen werden weitergedacht und zu einer neuen Theorie des Organismus synthetisiert. Organismisches Werden wird in Bezug auf die Ontogenese des Individuums und vor allem ihre dramatischste Phase, die Embryogenese, betrachtet. Zur ontogenetischen Thematik gehört zwangsläufig auch die Problematik der Selbsterhaltung des Organismus, die auch für einzellige Lebewesen besteht. In der hier vorgeschlagenen Synthese werden Grundgedanken der Prozessontologien von Alfred North Whitehead und Henri Bergson auf eine neue Weise in die Idee des Organismus integriert. Von den Einzellern bis zu höchst entwickelten Organismen wird jedem Lebewesen in abgestufter Form subjektive Innerlichkeit zugesprochen, wobei dem Erleben eine zentrale Rolle für die Ontogenese und Selbsterhaltung des Organismus zukommt. Überdies wird eine zukünftige Prozessmetaphysik skizziert, in der essentielle Elemente der Ontologien beider Denker miteinander integriert werden.
Der Autor: Spyridon A. Koutroufinis wurde 1967 in Thessaloniki/Griechenland geboren. Er studierte in Deutschland Ingenieurswissenschaften mit einem Zusatzstudium der Theoretischen Physik. 1994 promovierte er in Wissenschaftsphilosophie an der Humboldt-Universität Berlin zu Problemen der Selbstorganisationstheorie. 2009 wurde er an der Technischen Universität Berlin habilitiert, wo er seit 2010 als Privatdozent für Philosophie tätig ist. Zwischen 2012 und 2014 war er Visiting Associate Professor und Research Scholar an der University of California, Berkeley. Er hat sich systematisch auf die Biophilosophie, die Prozessphilosophie, die klassische Metaphysik und die Komplexitätstheorie spezialisiert.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48914-7 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82089-6
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Gewidmet meinen Lehrern Hans Poser, Reiner Wiehl, Gernot Falkner, Terrence W. Deacon und Karl-Friedrich Wessel als Ausdruck tiefster Dankbarkeit und größter Achtung
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Inhalt
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
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Einleitung: Die Erhebung einer neuen Biophilosophie . . . . . . . . . . . 1. Die Aufgabe dieser Untersuchung als Spurensuche nach den Eigenheiten des Organismus . . . . . . . . . . . . . . . 2. Biophilosophie, Philosophie der Biologie, Theoretische Biologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Struktur der vorliegenden Untersuchung . . . . . . . Kapitel I: Über das Wesen und die Geschichte des OrganismusBegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Leben als zweckmäßiges und anti-entropisches Werden . . 1.1 Die Begriffe ›Organismus‹ und ›Lebewesen‹ . . . . . . . 1.2 Eigenschaften der Organismen . . . . . . . . . . . . . 1.2.a Selbsterhaltung und Selbsterzeugung . . . . . . . 1.2.a.1 Metabolismus . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.a.2 Räumliche Selbstbegrenzungen . . . . . . 1.2.a.3 Geordnete Formveränderung und Beweglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.a.4 Selbstregulierte hierarchische Organisation 1.2.a.5 Verletzbarkeit und Regenerationsfähigkeit . 1.2.b Verschiedene Formen der Vermehrung . . . . . . 1.2.c Beziehung zu anderen Organismen und Evolutionsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.d Erregbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29 29 33 43
46 46 49 53 53 53 54 54 55 55 56 56 57
9 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Inhalt
1.3
1.4 2. 2.1 2.2 2.3
2.4
2.5
3.
1.2.e Besondere materielle Zusammensetzung . . . . . 1.2.f Sterblichkeit und zeitliche Selbstbegrenzung einiger Lebewesen: Tod . . . . . . . . . . . . . . Zum Wesen der organismischen Ordnung . . . . . . . . 1.3.a Zweckmäßigkeit als durchgehende innere Kohärenz – jenseits kausaler Dualismen . . . . . . . . . . . 1.3.b Anti-entropisches Werden und das DarwinClausius-Dilemma . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.c Sind beide Wesensmomente gleichberechtigt? . . . Teleologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Geschichte des Organismus-Verständnisses als Kampf der Konzepte Seele und Materie . . . . . . . . . . . . . . Antike: Vom Hylozoismus zur Aristotelischen Teleologie . Vom Aristotelismus des 15. zum Mechanizismus des 17. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen zwei Extremen: Vitalismus und Physikalismus im 18 und 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.a Jenseits von Vitalismus und Physikalismus: Die organismische Zweckmäßigkeit nach Kant . . 2.3.b Aristoteles und der Vitalismus . . . . . . . . . . Vom späten 19. Jahrhundert bis 1950: Neophysikalismus vs. Neovitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.a Der Neovitalismus von Hans Driesch . . . . . . . 2.4.b Theorie offener Systeme und Organizismus . . . . Nach 1950: Teleonomie – die antimetaphysische Teleologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.a Teleonomie im Rahmen der Programmmetapher . 2.5.b Jenseits der Programmmetapher: Teleonomie als Selbstorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . Hat die Biologie ihre eigene ›Seele‹ ausgetrieben? . . . . .
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57 58 58 59 63 64 66 69 70 82 92 105 108 110 110 112 115 115 117 119
Inhalt
Kapitel II: Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge oder: ›Bewohnt‹ das Lebendige abstrakte Räume? . . 1. Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus: Lebewesen als wirkursächlich-kausale Systeme . . . . . . 1.1 Selbstorganisierte Strukturbildung bei dissipativen dynamischen Systemen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.a Die Begriffe ›System‹, ›Element‹, ›Relation‹, ›Struktur‹, ›Umgebung‹ und ›Ganzheit‹ . . . . . . 1.1.b Die Begriffe ›Zustandsraum‹, ›Phasenraum‹, ›Trajektorie‹ – Ausdrucksformen von Wirkursachen-Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.b.1 Die angenommene Identität des dynamischen Systems als Widerspiegelung seiner Gesetzmäßigkeit . . . . . . . . . . 1.1.b.2 Wirkursachen-Kausalität . . . . . . . . . 1.1.b.3 Zweckursachen-Kausalität und echte Teleologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.c Die Begriffe ›Entropie‹, ›Ordnung‹, ›Komplexität‹ . 1.1.d Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik . . . . 1.1.d.1 Entropiewachstum bei isolierten (abgeschlossenen) Systemen . . . . . . . . 1.1.d.2 Entropieerzeugung und Irreversibilität als objektive Phänomene . . . . . . . . . . . 1.1.d.3 Entropieerzeugung als Urform des Vergessens: der universelle Verlust der Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.e Abnahme der Entropie bei offenen nichtlinearen Systemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.e.1 Entfernung vom thermodynamischen Gleichgewicht durch eine Entropiepumpe . 1.1.e.2 Nichtlinearität . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.e.3 Stationäre dissipative Strukturen . . . . . 1.1.f Einige Beispiele für die Selbstorganisation von Strukturbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.g Zur Selbstorganisation chemischer Strukturbildung – Vorstufe der Modellierung organismischer Vorgänge . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.g.1 Kooperative Anregung . . . . . . . . . .
122 122 125 127
132
135 137 139 142 154 155 158
164 166 167 168 169 170
173 177 11
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Inhalt
1.1.g.2 Bistabile Stationarität . . . . . . . . . . . 1.1.g.3 Selbsterregte chemische Oszillationen . . . 1.1.g.4 Chemische Morphogenese . . . . . . . . . 1.1.h Strukturbildende Attraktoren – zwischen Monostabilität und deterministisch-chaotischer Instabilität . 1.1.i ›Materiale Gesetze‹ und ›Strukturgesetze‹ . . . . . 1.1.j Strukturgesetze – Emergenz – Komplexität . . . . 1.1.k Notwendige Bedingungen der Strukturbildung – oft übersehene Antezedensaussagen . . . . . . . . 1.1.k.1 Die Randbedingungen . . . . . . . . . . . 1.1.k.2 Die Anfangsbedingungen . . . . . . . . . 1.1.k.3 Die Kontrollparameter . . . . . . . . . . 1.1.k.4 Andere Bedingungen . . . . . . . . . . . 1.2 Organismen als selbstorganisierte Systeme . . . . . . . 1.2.a Organizismus und biosystemischer Emergentismus 1.2.b ›Modelle von‹ und ›Modelle für‹ etwas . . . . . . 1.2.c Systembiologie: Modelle für organismische Vorgänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.c.1 Signal-Netzwerke . . . . . . . . . . . . . 1.2.c.2 Genetische Netzwerke . . . . . . . . . . . 1.2.c.3 Metabolische Netzwerke . . . . . . . . . 1.2.c.4 Simulationen ganzer Zellen . . . . . . . . 1.2.d Zur Formalisierung der Embryo- bzw. Morphogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.d.1 Morphogene, Positionsinformation, morphogenetisches Feld . . . . . . . . . . 1.2.d.2 Reaktions-Diffusions-Modelle nach Turing . 1.2.e Trennung zwischen dynamischen und statischen Größen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kann die Theorie dynamischer Systeme Modelle von ganzen Organismen prinzipiell anbieten oder: Sind Lebewesen berechenbar? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Was zur Berechenbarkeit eines Organismus gehört . . . 2.1.a Was jede Modellierung von organismischer Autonomie erfüllen muss: Regulative Geschlossenheit . 2.1.b Organismen haben Umwelten. Physikalische Systeme haben Umgebungen . . . . . . . . . . .
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178 180 182 183 186 187 190 191 192 192 192 193 193 204 206 207 214 222 227 228 230 232 236
239 241 244 248
Inhalt
2.2
2.3 3. 3.1
3.2
2.1.c Die Beschreibung eines Organismus in einem erweiterten Zustandsraum . . . . . . . . . . . . Regulative Geschlossenheit ist innerhalb der gegenwärtigen systemtheoretischen Formalismen nicht erreichbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.a Wissenschaftstheoretische und mathematische Bedenken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.a.1 Organismische Dynamik jenseits des Hempel-Oppenheim-Schemas . . . . . . . 2.2.a.2 Die Zweifel Stuart Kauffmans . . . . . . . 2.2.a.3 Der zentrale Unterschied zwischen Leben und Leblosem aus mathematischer Sicht . 2.2.b Regulative Geschlossenheit ist aus thermodynamischer Perspektive nicht berechenbar . . . . 2.2.c Kein ›Perpetuum Mobile der Selbstregulation‹ durch Wirkursachen-Kausalität . . . . . . . . . . 2.2.d ›Dynamische Tiefe‹ – ein der regulativen Geschlossenheit angemessenes Maß von Komplexität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Organismus-Problematik . . . . . . . . . . . . . . Auf der Suche nach ontologischen Alternativen zum systemtheoretischen Denken . . . . . . . . . . . . . . . Was vom biosystemischen Emergentismus übernommen wird: Die Wirkursachen-Kausalität begründet die physischen Möglichkeiten des organismischen Werdens . Die Grundsäulen der gesuchten Ontologie . . . . . . . . 3.2.a Organismisches Werden verlangt nach Bestimmung des Wesens der wirklichen Entitäten durch interne Relationen . . . . . . . . . . . . . 3.2.a.1 Wirkliche und abstrakte Entitäten . . . . . 3.2.a.2 Systemontologien – zwischen dialektischen Höhenflügen und naturwissenschaftlicher Sachlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.a.3 Das Wesen der wirklichen und der abstrakten Entitäten aus der Sicht gegenwärtiger naturwissenschaftlicher Systemontologien . 3.2.a.4 Die lineare Unabhängigkeit der Dimensionen abstrakter Räume und ihre ontologische Bedeutung . . . . . . . . . . . .
250
254 254 254 255 257 259 267
268 271 278
279 282
282 282
285
291
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Inhalt
3.2.a.5 Die Organismus-Problematik kann auf Universalien-Systeme übertragen werden . 3.2.a.6 Organismische Individualität durch Wesensinterdependenz der wirklichen Entitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.a.7 Das prozessuale Wesen der wirklichen Entitäten des Organismus . . . . . . . . . 3.2.b Die Wesensbestimmung der wirklichen Entitäten ist ein meta-physischer Prozess . . . . . . . . . . 3.2.b.1 Die Wesensinterdependenz der wirklichen Entitäten variiert nicht das Wesen der abstrakten Entitäten und findet nicht in der Raumzeit statt . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.b.2 Die Wesensinvarianz der materiellen Elemente und ihre doppelte Räumlichkeit . 3.2.b.3 Eine philosophische Ontologie des Organismus kann die Identität zwischen wirklichen Entitäten und materiellen Elemente aufgeben, ohne sie vollständig voneinander zu entkoppeln . . . . . . . . 3.2.b.4 Der Prozess: Ein metaphysisches Werden, das nicht durchgehend physisch manifestiert ist . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.c Leben als Sukzession(en) von Entscheidungen . . . 3.2.d Organismen als Subjekte – ZweckursachenKausalität jenseits der Substanzontologie . . . . . 3.3 Grundsätzlich verschiedene Arten des Werdens: Ablauf und Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.a Ablauf – das gesteuerte Werden . . . . . . . . . . 3.3.b Prozess – das sich selbst kreierende Werden . . . . 3.3.c Die Begriffe ›Werden‹ und ›Vorgang‹ . . . . . . . 3.4 Auf der Suche nach Prozessontologien des Organismus – jenseits des szientistisch-materialistischen ›Flachlands‹ . 3.4.a Alternative Auffassungen der Teil-GanzesBeziehung von Prozess und Organismus und ihre Affinität zur Quantenphysik . . . . . . . . . . .
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304
309 312 313
314 316
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Inhalt
Kapitel III: Ontogenetisches Werden im Lichte der Lebens- und Prozessphilosophie von Henri Bergson . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung: Der philosophische Ort Bergsons . . . . . . . . . . 1. Die Konzeption der Dauer als heterogenes Kontinuum . . 1.1. Konkrete bzw. heterogene und abstrakte bzw. homogene Kontinua . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 ›Succession pure‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 ›Durée‹ als Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.a Die Gedächtnis-Konzeption Bergsons ist jenseits der Spur- und Abdruck-Metapher . . . . . . . . . 1.3.b Die Gewesenheit der ›vergangenen‹ Dauer . . . . 1.4 Der Selbstvollzug der Dauer unterliegt nicht dem Möglichkeit-Wirklichkeit-Modus des systemischen Werdens – Bergsons Ablehnung der ontologischen Relevanz von Universalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Die Zweckursachen-Kausalität im Rahmen der Prozessmetaphysik Bergsons . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die naturphilosophische Relevanz der Dauer . . . . . . . 2.1. Die Natur – ein Kunstwerk, das seine eigenen Möglichkeiten hervorbringt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 ›Élan vital‹ : spirituelles, biologisches und kosmologisches Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.a Der spirituelle und biologische Sinn von ›Leben‹ im Evolutionismus Bergsons . . . . . . . . . . . . . 2.2.b Die lebendige Ewigkeit und ihre Emanation zu weltlichen Dauern . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.c Die protomentale Aktivität der Materie als zeitlichheterogene Kontinuität . . . . . . . . . . . . . . 2.2.d Die doppelte Heterogenität des konkreten Kontinuums der Dauern eines Lebewesens . . . . . . . 2.3 Die Bergson’sche Modallogik . . . . . . . . . . . . . . 2.3.a Das Paar Virtualität–Aktualisierung . . . . . . . 2.3.b Jenseits der Limitation von Möglichkeiten . . . . . 3. Ontogenese als Aktualisierungsprozess . . . . . . . . . . 3.1 Die doppelte Irreversibilität aller Aktualisierungsprozesse 3.2 Der ›élan vital‹ differenziert sich zum Organismus . . .
335 335 336 338 342 343 344 347
349 352 354 355 359 360 363 366 371 373 374 376 378 378 380
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Inhalt
3.3 Die Organismus-Problematik auf der Grundlage der Bergson’schen Ontologie und die Annahme eines biologischen Gedächtnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Individuelles organismisches Gedächtnis: Folge der biographischen Zeitlichkeit des Organismus . . . . . . . . 3.5 Das überindividuelle, meta-physische Gedächtnis der Embryogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.a Kann der meta-physische Organismus sich auch als gleichzeitig existierende Lebewesen aktualisieren? . 3.5.b Die meta-physische Leiblichkeit des Menschen in der alternativen Medizin . . . . . . . . . . . . . 4. Einige Probleme der Metaphysik Bergsons . . . . . . . . . Kapitel IV: Die Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads und die Ontogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung: Allgemeines über Whitehead und die Prozessphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Leitmotiv der Metaphysik Whiteheads: eine Brücke zwischen Subjektivität und Materialität jenseits alt-metaphysischer Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die Zweckursachen und das universelle anti-entropische Agens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Jenseits des Subjektivismus – wider die ›Bifurcation of Nature‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Die Whitehead’sche Metaphysik als Gedankenschema . . 1.3.a Das kosmologische Gedankenschema als revidierbare Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.b Philosophie als Kritik der Abstraktionen . . . . . 1.3.c Jenseits der Substanzontologie . . . . . . . . . . 2. Das kosmologische Gedankenschema . . . . . . . . . . . 2.1 Das erste metaphysische Prinzip: Kreativität . . . . . . . 2.2 Entitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.a ›Actual entities‹ : elementarste Fakten und wirklich Seiende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.a.1 Pansubjektivismus, mental-physische Bipolarität und Atomizität . . . . . . . . .
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384 386 392 394 396 398
407 407
412 414 418 421 424 428 430 432 432 437 439 440
Inhalt
2.2.b
2.2.c
2.2.d 2.2.e
2.2.f
2.2.a.2 Interne Relationalität und Prozessualität als Folgen der Abkehr von der Substanzontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.a.3 Beispiele für ›actual entities‹ . . . . . . . . 2.2.a.4 Pluralismus mit einem monistischen Moment . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.a.5 Das ontologisch-subjektivistische Prinzip . 2.2.a.6 Wesensbestimmung als Entscheidung und ›stubborn fact‹ . . . . . . . . . . . . . . . ›Eternal objects‹ : universelle Formen und abstrakte Entitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.b.1 Abstrakte Entitäten als Grundlage der Erneuerung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.b.2 Die statische interne Relationalität der ›eternal objects‹ zueinander – ihr ›Reich‹ ist ein System . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.b.3 Beispiele für ›eternal objects‹ . . . . . . . ›Prehensions‹ : die internen Relationen . . . . . . 2.2.c.1 Was prehendiert wird: ›actual world‹ und ›universe‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.c.2 Ein neues Verständnis von Kausalität – jede ›actual entity‹ hat ihre Umwelt . . . . 2.2.c.3 Formaliter-objectivé . . . . . . . . . . . . 2.2.c.4 Physische, begriffliche und hybride; positive und negative ›prehensions‹ . . . . 2.2.c.5 Physischer und mentaler Pol . . . . . . . 2.2.c.6 Jenseits der einfachen Lokalisierung . . . . 2.2.c.7 Prehensivität und Superjektivität . . . . . ›Subjective form‹ : die private Seite der ›prehension‹ … . . . . . . . . . . . . . . . . . . ›Propositions‹ : konkrete Möglichkeiten . . . . . . 2.2.e.1 Konforme und nicht-konforme ›propositions‹. . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.e.2 Nähe und Distanz zu Freges Begriff des ›Gedankens‹ . . . . . . . . . . . . . . . . ›Nexūs‹ : konkrete Wirklichkeiten und öffentliche Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.f.1 ›Society‹ : ›nexus‹ sozialer Ordnung . . . .
445 453 460 461 465 468 470
471 474 481 486 492 493 494 497 501 507 510 513 514 516 518 519
17 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Inhalt
2.2.f.2 ›Enduring object‹ : zeitlicher ›nexus‹ personaler Ordnung . . . . . . . . . . . . 2.2.f.3 ›Corpuscular societies‹ : Bündel von ›enduring objects‹ . . . . . . . . . . . . . 2.2.f.4 ›Events‹ sind ›nexūs‹ . . . . . . . . . . . . 2.2.f.5 ›Societies‹ in ›societies‹ . . . . . . . . . . 2.3 Die Anatomie des Prozesses . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.a Zwei Arten von Prozessen: ›concrescence‹ und ›transition‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.b Prozessuale Teleologie – die offene Suche nach einem Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.c Die Phasen der ›concrescence‹ . . . . . . . . . . . 2.3.c.1 Die Phase der reinen Aufnahme und das ›initial aim‹ als ihr Grund . . . . . . . . . 2.3.c.2 Das Herz des Prozesses: die ergänzende Phase und die Entstehung des mentalen Poles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.c.3 ›Satisfaction‹ : der Abschluß des Prozesses und sein Öffentlich-Werden als doppelt verräumlichte Manifestation . . . . . . . 2.3.d ›Concrescence‹ als Epoché . . . . . . . . . . . . . 2.3.d.1 Die ›duration‹ ist keine ›durée‹ . . . . . . 2.3.d.2 ›Transition‹-Prozesse und makrophysikalische Zeit . . . . . . . . . . . . . 2.3.e Gott als Prozess, oder: der angeregte Anreger . . . 2.3.e.1 Gott als Garant der weltlichen Kontinuität . 2.3.e.2 Die zwei Naturen Gottes . . . . . . . . . 2.3.e.3 Die Folgenatur Gottes ist die einzige ›durée‹ der organischen Philosophie . . . . . . . . 2.3.e.4 Das göttliche Gedankenschema . . . . . . 2.4 Prehensivität und Kontinuität . . . . . . . . . . . . . . 2.4.a Physische Prehensivität als Grundlage des extensiven Kontinuums . . . . . . . . . . . . . . 2.4.b Gottes Folgenatur als universelles Gedächtnis . . . 3. Prozesse des Lebendigen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 ›Living society‹ – ›living occasions‹ – ›entirely living nexus‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.a Jenseits von Vitalismus – die ›living societies‹ sind nicht ›beseelt‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
521 524 526 527 528 529 531 535 535
538
543 547 550 552 555 556 558 562 566 568 568 570 575 577 579
Inhalt
3.1.b Eine Antwort auf die Organismus-Problematik: ›living occasions‹ als anti-entropisch wirksame Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.c Was aus der Organismus-Problematik für die qualitative und quantitative Beschaffenheit der ›living occasions‹ folgt . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.d Die ›living occasions‹ entscheiden sich zwischen realen Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.d.1 Die systemtheoretisch fassbare Dimension der ›living societies‹ . . . . . . . . . . . . 3.1.d.2 Die Whitehead’sche Verbindung von Potentialität und Kontinuität und ihre Ausweitung auf abstrakte Räumlichkeit . . 3.1.d.3 Der Whitehead’sche Entscheidungsprozess ist kein Bergson’scher Aktualisierungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.e Die Konzeption der ›living occasions‹ aus der Sicht der Quantenbiologie . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.e.1 Experimentell bestätigte und hypothetische biologische Quantenphänomene: Kandidaten für nicht bewusste ›living occasions‹ ? 3.1.e.2 Die Anatomie einer ›living occasion‹ vor dem Hintergrund biologischer Überlegungen einiger Gründerväter der Quantentheorie . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Das Leben und das Vakuum . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Wessen Gedächtnis füllt die kausalen Vakua der Ontogenese? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Zur Dialektik von entirely living nexus und living person – Originalität und Kanalisierung . . . . . . . . . . . . . 4. Gott und die Autonomie des Lebendigen – eine problematische Konstellation . . . . . . . . . . . . 5. Zusammenfassende Schlussbetrachtung . . . . . . . . . .
581
587 590 592
595
598 599
608
612 622 625 628 630 632
19 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Inhalt
Kapitel V: Zu einer neuen Biophilosophie des Organismus: Rück- und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kurze Rekapitulation: was auf prozessphilosophischem Weg erreicht wurde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Definition des Organismus ausgehend von seiner Phänomenalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die metaphysische Definition des Organismus und von ihr weiterführende Gedanken . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Entwicklung und Selbsterhaltung des Organismus aus prozessmetaphysischer Perspektive . . . . . . . . . . . 2. Organismische Zweckmäßigkeit als Resultat protomentaler Zwecktätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Zwecktätigkeit ist nicht Zwecksetzung . . . . . . . . . . 2.2 Die Urkognition der organismischen Prozesse . . . . . . 3. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Auf der Suche nach einer neuen Prozessphilosophie . . . 3.1.a Das Denken der Ontogenese als echte Selbstorganisation benötigt die Verbindung von Prehensivität und Emanativität . . . . . . . . . . 3.2 Organismische Selbstkenntnis – Umriss einer Erweiterung der metaphysischen Definition des Organismus . . 3.2.a Organismische Selbstkenntnis und Entropie . . . . 3.2.b Organismische Selbstkenntnis als Wesenstranszendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Prozessuale Universalien und kosmische ›Sprachen‹ . . .
640 640 641 643 644 649 651 652 653 656 657
657 660 666 672 672
Verzeichnis der Siglen und Abkürzungen . . . . . . . . . . . .
677
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
678
Namensindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
705
Begriffsindex
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711
20 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Danksagung
Aus der Perspektive der Philosophien von Whitehead und Bergson, denen ich mein Welt- und Menschenbild verdanke, bildet sich jeder Prozess als Resultat seiner wesensstiftenden (internen) Relationen mit seiner Umwelt heraus. Dies gilt natürlich und vor allem auch für die vorliegende Untersuchung, die aus dem unerschöpflichen Reichtum der Werke der beiden Denker schöpft. Sie ist die Verkörperung meiner langjährigen wesensbildenden relationalen Bindung an Menschen und Orte zweier Kontinente sowie an fundamentale Texte der abendländischen Philosophie und Wissenschaft. Diese Arbeit ist die revidierte und erweiterte Version meiner philosophischen Habilitation, die im Institut für Philosophie der Technischen Universität Berlin entstanden ist. Mein innigster Dank gilt meinem Mentor Hans Poser. Diese Schrift ist im Lichte seines tiefgründigen Wissens, ständiger Inspiration, Ermutigung und Herzlichkeit entstanden. Sehr viel verdanke ich auch dem leider 2010 verstorbenen Begründer der deutschsprachigen Whitehead-Forschung Reiner Wiehl, Gernot Falkner und Terrence W. Deacon. In endlosen Stunden fruchtbarer Diskussionen, in denen ich an ihrem gleichermaßen tiefen wie auch breiten Wissensschatz partizipieren durfte, haben sie mir wertvolle Einsichten in essentielle philosophische und biologische Denkweisen und Probleme vermittelt. Ihnen allen widme ich diese Schrift. Die Idee zu habilitieren geht auf den beherzten Zuspruch meines Doktorvaters Karl-Friedrich Wessel zurück, der mir den Weg in die Philosophie eröffnet und den kritischen Blick auf die Übertreibungen naturwissenschaftlicher Verallgemeinerungen gelehrt hat. Dafür bedanke ich mich herzlich bei ihm und widme ihm ebenfalls diese Schrift. Kristian Köchy und Thomas Gil bin ich besonders dankbar für ihren wichtigen Beitrag zur positiven Begutachtung meiner Habilitation. 21 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Danksagung
Mein aufrechter Dank gilt auch John B. Cobb Jr., Philip Clayton, Pete A. Y. Gunter, Henry P. Stapp und Ernest Wolf-Gazo. Sie haben mir wichtige Inspirationen und Erkenntnisse geschenkt und meine Integration in die gegenwärtige prozessphilosophische Forschung, in der sie federführend sind, mit gutem Rat und entschiedener Tat gefördert. Olaf Wolkenhauer hat mir wichtige Einblicke in die systembiologische Forschung ermöglicht und mir eine beträchtliche Menge einflussreicher Literatur zur Verfügung gestellt. Dafür und für seine geistige Offenheit und Freundlichkeit sei ihm an dieser Stelle ausdrücklich gedankt. Seinem Kollegen Rainer Schimming verdanke ich einige wichtige Hinweise bezüglich der Besonderheit des organismischen Daseins. Dem leider zu früh verstorbenen Vordenker einer alternativen Begründung der Biologie, Wolfgang Friedrich Gutmann, und seinen Mitarbeitern verdanke ich die Sensibilisierung für die Wichtigkeit der Morphologie. Sein entschlossener Widerstandsgeist gegen einige sich selbst überschätzende biowissenschaftliche Ideologien und sein aufrechter Charakter sind ein leuchtendes Beispiel. Er bleibt unvergessen. Ilse Jahn beschenkte mich großzügig mit vielen Stunden intensiver Gespräche, in denen mir tiefe Einsichten in die Geschichte des biologischen Denkens zuteilwurden. Die Verbindung von Wissen, Weisheit und Güte, die sie so lebhaft verkörperte, ist ein weiterer intellektueller Leuchtturm für mich. René Pikarski und Manuel Clemens bin ich sehr dankbar für unzählige inspirierende Gespräche. Sie sind Lehrstunden für die Einübung von Intuition, im Bergson’schen Sinne dieses Wortes, in denen ich mit der belebenden Frische und Beweglichkeit des jugendlichen und schönen Geistes meiner beiden Freunde beschenkt wurde. Sie haben auch, zusammen mit Martin Klaus Günther, ein gewaltiges Engagement bei der kritischen Durchsicht des Manuskripts bewiesen. Ein großer Dank gilt auch meinen Freunden und Geistverwandten Tobias Müller und Barbara Muraca für die vielen schönen und belebenden Momente in von echter Prozessualität erfüllten Diskussionen. Für die Aufnahme dieses Buches in die Reihe »Whitehead Studien« möchte ich meinen Dank an die Herausgeber der Reihe Christoph Kann, Godehard Brüntrup und Franz Riffert aussprechen. Ihre mir gegenüber in langen und wichtigen Diskussionen beteuerte Anerkennung meiner Arbeit hat meinen Schöpfungsdrang beflügelt. Herzlich bedanke ich mich natürlich auch beim Karl Alber Verlag 22 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Danksagung
und insbesondere bei seinem Lektor Lukas Trabert, der mir mit seiner großen Geduld, Erfahrung und Hilfsbereitschaft bei der Veröffentlichung der vorliegenden Untersuchung zur Seite gestanden hat. Mein tiefer Dank gilt schließlich meinen Eltern Athanasios und Eleni Koutroufinis, die mich während des langen und schwierigen Prozesses der Entstehung und Reifung dieser Arbeit mit ihrem Zuspruch unterstützt haben.
23 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Vorwort
Die vorliegende Schrift verkörpert das Bestreben, eine moderne Theorie des Organismus auf der Basis verschiedener Prozessontologien einzuführen. Das Verständnis dieses Unterfangens setzt natürlich zuerst den Sinn der Wiederbelebung des organismischen Denkens voraus. Dies hat allerdings das moderne biologische Denken schon deutlich gezeigt. Denn nachdem die Theorie des Organismus für viele Jahrzehnte durch die Herrschaft der molekularbiologischen Genetik und der Evolutionstheorie scheinbar obsolet geworden war, erfährt sie gegenwärtig in der Biologie eine nicht zu übersehende Renaissance. Dies hängt zum Teil damit zusammen, dass der Begriff des Organismus nicht auf den der Evolution reduzierbar ist, da dieser jenen voraussetzt. Diese neuere Entwicklung geht aber vor allem auf eine Vielzahl von Erkenntnissen innerhalb der Genetik zurück, die seit den Anfängen der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts das frühere Verständnis von Genen und ihrer Beziehung zum Organismus umgestürzt haben. Die Erkenntnis, dass der Organismus kein passives Produkt seiner Gene ist, sondern ein autonomes Agens, das die Aktivität dieser zweckmäßig reguliert, trifft auf eine immer breitere Akzeptanz bei führenden Biowissenschaftlern. Was spricht aber für eine neue philosophische Annäherung an die Problematik des Organismus? Dies scheint mir insbesondere aus zwei Gründen sinnvoll zu sein. Zuerst, weil die Theoretische Biologie der Gegenwart eine mehr oder weniger mathematische Disziplin geworden ist, die, zumindest implizit, Organismen als prinzipiell berechenbare Systeme behandelt. Diese Entwicklung hat schon früh in der Geschichte dieser Disziplin eingesetzt und sie von verschiedenen philosophischen Denkschulen, zu denen sie ursprünglich eine große Nähe aufwies, radikal abgeschnitten. Dies hat die einseitige Beherrschung des Denkens der führenden Theoretischen Biologen der Gegenwart von einem Organismus-Verständnis zur Folge gehabt, das nur oberflächlich gesehen frei von jeglicher Philosophie bzw. Meta25 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Vorwort
physik ist. Es ist vielmehr implizit von einem metaphysischen Verständnis von Materie und Kausalität durchsetzt, das mit dem Naturbild der klassischen Physik – wenn auch in ihrer von der Selbstorganisations- und Komplexitätstheorie erweiterten Version – und den diesem Bild folgenden Naturwissenschaften konform geht. Dieses implizite philosophische Verständnis, das der Methodologie dieser Wissenschaften für dienlich angesehen wird, bezeichne ich als ›szientistischen Materialismus‹. Des Weiteren scheint mir aber auch die moderne Philosophie der Biologie sich in den metaphysischen Rahmen des szientistischen Materialismus freiwillig zu beschränken. Dies betrifft meines Erachtens insbesondere die Ausformung, die diese Disziplin im englischsprachigen Raum erfahren hat, in dem sie seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts zu neuem Leben erweckt wurde. Sowohl die Theoretische Biologie als auch die Philosophie der Biologie scheinen mir also die Reflexion über alle Manifestationen des Lebendigen, somit auch des Organismus und seiner Dynamik, einer restriktiven Metaphysik zu unterwerfen, die die biologische Reflexion unnötig einengt. Die Überwindung jeder derartigen selbst verschuldeten Beschränkung des Denkens gehört aber zum Geschäft der Philosophie. Vor dem Hintergrund der gerade beschriebenen Situation und der Notwendigkeit des Ausbruchs aus ihr scheint mir die Prozessphilosophie die richtige ontologische Grundlage für die moderne Organismustheorie bereitzustellen. Dafür gibt es ebenfalls zwei Gründe. Der szientistische Materialismus der modernen Naturwissenschaften hat in der gegenwärtigen Biologie eine systemtheoretische Gestalt angenommen. Dies zeigt sich unverkennbar nicht nur in der heutigen Theoretischen Biologie, sondern vor allem in der Systembiologie. In beiden Disziplinen spielt die in der Physik so erfolgreiche Idee des selbstorganisierten dynamischen Systems eine eminente Rolle. Die moderne Systemtheorie setzt jedoch eine Ontologie voraus, die als ›Systemontologie‹ bezeichnet werden kann und die das philosophische Fundament aller Anwendungen der Idee der Selbstorganisation in verschiedenen Naturwissenschaften der Gegenwart darstellt. Frühe Formen der Systemontologie wurden von den Begründern der Physik im 17. Jahrhundert eingeführt. Schon in meiner Dissertation, die im Jahre 1994 an der Humboldt Universität Berlin verteidigt wurde, habe ich auf die Grenzen verschiedener Theorien der Selbstorganisation und anderer Systemtheorien in Bezug auf das Verständnis der Autonomie des Organismus verwiesen und betont, dass sie nicht 26 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Vorwort
technischer, sondern prinzipieller Natur sind. Später ist mir klar geworden, dass die Grenzen des biosystemischen Denkens in der Systemontologie zu finden sind und vor allem in der Interpretation, die der Begriff ›System‹ in den Naturwissenschaften erfahren hat. Aber auch die ältere Ontologie des Abendlands, die Substanzontologie, die schon im 17. Jahrhundert von den ersten Formen des systemischen Denkens ins Abseits der naturwissenschaftlichen Forschung gedrängt wurde, kann meines Erachtens nicht das metaphysische Fundament der Suche nach einer neuen Theorie des Organismus sein. Sie verkörpert nämlich antike Vorstellungen vom Wesen der Seienden und der sie regierenden Kausalität (Zweckursachen- und FormursachenKausalität), die zwar oft von Kritikern des modernen Reduktionismus mobilisiert werden, die aber vor dem Hintergrund der modernen Naturwissenschaften und der neuzeitlichen philosophischen Kritik einer radikalen Umstrukturierung bedürfen. In der vorliegenden Untersuchung habe ich versucht, mit den Mitteln verschiedener Prozessontologien dem Gedanken der Selbstorganisation einen für die Autonomie des organismischen Werdens angemessenen Ausdruck zu verleihen. Ein anderer gleichermaßen wichtiger Antrieb für die Verfassung dieses Textes war die Begründung einer Alternative zur Philosophie der Biologie, vor allem zu ihrer angelsächsischen Prägung. Zu diesem Zweck habe ich den Ausdruck ›Biophilosophie‹ eingesetzt. Da dieser Terminus in der Literatur oft als gleichbedeutend mit ›Philosophie der Biologie‹ gebraucht wird, habe ich schon in der Einleitung der vorliegenden Untersuchung eine Begriffsbestimmung vorgenommen. Dabei ließ ich mich von der Überzeugung leiten, dass die Biophilosophie gerade das leisten muss, was die Philosophie der Biologie nicht zu erreichen strebt: Die Einengung des organismischen Denkens durch den szientistischen Materialismus aufzubrechen. Ich möchte aber an dieser Stelle betonen, dass ich die Rolle der Biophilosophie in der Bereicherung des biologischen Denkens mit einer Pluralität verschiedener erkenntnistheoretischer, ontologischer und ethischer Denkweisen sehe und keineswegs in der Bekämpfung einer anderen Richtung. Ausgehend von dieser angestrebten philosophischen Vielfalt betrachte ich die heutige Philosophie der Biologie als einen Bestandteil einer viel breiteren biophilosophischen Tradition, in der phänomenologische, prozessphilosophische, postmoderne, analytische und andere Zugänge zum Lebendigen untergebracht und im Rahmen des Möglichen miteinander integriert werden sollten. In der vorliegenden 27 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Vorwort
Monographie habe ich nach der kritischen Auseinandersetzung mit den biologischen Systemtheorien der Gegenwart, die Varianten des szientistischen Materialismus darstellen, den Versuch unternommen, eine prozessphilosophisch orientierte Biophilosophie einzuführen. Auch bei dieser handelt es sich freilich um einen kleinen Bereich der Biophilosophie, die hoffentlich in diesem Jahrhundert zur großen Blüte gelangen wird. Die große thematische Breite und der Umfang der vorliegenden Untersuchung haben es notwendig gemacht, dass sie über einen größeren Zeitraum, der in drei Phasen unterteilt werden kann, ihre endgültige Gestalt angenommen hat. Ihre erste Form nahm sie zwischen 2002 und 2008 an und zwar als Schrift mit dem Titel »Organismus als Prozeß. Ontogenetisches Werden im Lichte der Naturphilosophien von Alfred North Whitehead und Henri Bergson«, die im Sommer 2009 von der Fakultät I Geisteswissenschaften der Technischen Universität Berlin als Habilitation angenommen wurde. Die zweite Phase der Entstehung, zwischen 2008 und 2014, bestand in der Reifungsphase der Arbeit, in der ich, angeregt von Reaktionen auf meine Veröffentlichungen sowie Vorträge in Deutschland und den USA, eine große Menge von Veränderungen, Ergänzungen und Korrekturen vorgenommen habe. Viele wichtige Erkenntnisse verdanke ich meiner dreijährigen Tätigkeit als Gastprofessor (Visiting Associate Professor) und Gastwissenschaftler (Research Scholar) im Department of Anthropology der University of California, Berkeley, an der ich mich zwischen 2012 und 2014 aufhielt. Während dieser Zeit habe ich mich mit zentralen Fragen der Theorien des Organismus, der Komplexität und der Information, des Prozessdenkens (im weiteren Sinne dieses Begriffs) und der Biosemiotik auseinandergesetzt und an einer großen Zahl entsprechender Veranstaltungen teilgenommen. Nach meiner Rückkehr nach Europa habe ich schließlich zwischen 2014 und 2017 die in Berkeley und anderswo gewonnenen Einsichten in die Habilitationsschrift integriert. Das Ergebnis dieses Prozesses ist die revidierte und erweiterte Fassung der ersten Version dieser Schrift, die nun in der Gestalt der vorliegenden Untersuchung einem weiten Publikum zur Verfügung gestellt wird. Ich hoffe, dass die mühsam gezüchteten und geernteten Samen auf einen fruchtbaren Boden fallen werden. Athen, im Dezember 2017 Priv.-Doz., Dr. Spyridon A. Koutroufinis 28 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Einleitung: Die Erhebung einer neuen Biophilosophie
1.
Die Aufgabe dieser Untersuchung als Spurensuche nach den Eigenheiten des Organismus
Das Verfassen der vorliegenden Untersuchung wurde von einer kurzen Frage initiiert: Sind Organismen mehr als materielle Systeme? Der Versuch, diese Frage zu präzisieren und die Suche nach einer Antwort haben mir viele Jahre intensiver und erfüllender Studien geschenkt, deren Resultate ich nun einem größeren Kreis anbieten möchte. Bei der besagten Frage handelt es sich um eine mögliche Fassung einer elementaren Aporie, d. h. einer eigentlich unlösbaren fundamentalen Problematik, der sich jede Epoche der Philosophie und der Wissenschaften erneut stellen muss. Denn sie ist eine der Kardinalfragen der Menschheit, die in immer wieder neuer Gestalt die Ideengeschichte durchkreuzen. Seit fast drei Jahrtausenden ist sie im abendländischen Schrifttum präsent, denn schon Homer hatte konkrete metaphysische Vorstellungen über die Beziehung des Menschen zu seiner Körperlichkeit – ob und inwiefern dieser mehr als das sinnlich Erscheinende ist. Die Schriften der antiken Völker aller Kontinente sowie auch die vor vielen zehntausend Jahren durchgeführten Bestattungsrituale belegen wiederum, dass es sich bei dieser Aporie um eine anthropologische Konstante handelt, ja sogar um einen fundamentalen kulturgenetischen Faktor. Alten Aporien ist es – als solchen – essentiell, dass sie zwar in die Form einer prägnanten Frage gepresst werden können, die eventuell beantwortet werden kann, und es sich dabei dennoch um einen Pyrrhussieg des Verstandes handelt. Denn schon der Formulierung der jeweiligen Frage haftet etwas Willkürliches an: Es werden Begriffe verwendet, deren Sinn nur oberflächlich klar ist, sodass der Fragende sofort spürt, wie relativ und vorläufig allein seine Fragestellung, geschweige denn die mögliche Beantwortung dieser, ist. Was ist z. B. der Sinn der Worte 29 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Einleitung: Die Erhebung einer neuen Biophilosophie
›Organismus‹, ›Materie‹ und ›System‹ bei der eingangs formulierten Frage? Verweist nicht der erste dieser Ausdrücke auf den gleichermaßen fundamentaleren wie auch unschärferen Begriff des Lebens? Die meisten Naturwissenschaftler, in diesem Fall Biologen und Physiker, können zwar innerhalb bestimmter Sprachspiele ihre Begrifflichkeit problemlos einsetzen, sind jedoch überfordert, sobald sie über die Regeln ihrer Verwendung reflektieren müssen; es sei denn, sie beherrschen die dafür nötigen metaphysischen oder naturphilosophischen Sprachspiele oder können solche kreieren. Eine andere Herausforderung, der man sich bei der Reduktion einer elementaren Aporie in eine philosophische Frage stellen muss, ist, festzulegen, hinsichtlich welches seiner wesentlichen Momente der konstruierte Gegenstand befragt wird. Im konkreten Fall: Welcher Aspekt des Organismus wird hier fokussiert? Dies ist leichter zu beantworten. Organismisches Werden wird in der vorliegenden naturphilosophischen Untersuchung bezüglich der Ontogenese des Individuums betrachtet. Darunter ist die Entstehung eines erwachsenen vielzelligen Lebewesens aus einer befruchteten Eizelle zu verstehen. Ihre dramatischste Phase ist die der Embryogenese. Zur ontogenetischen Thematik gehört zwangsläufig auch die Problematik der Selbsterhaltung des Organismus. Diese besteht jedoch nicht erst für vielzellige Lebewesen, sondern auch für einzellige Organismen wie jedes einfache Bakterium, das bereits eine gewaltige Komplexität besitzt. Deswegen wird diese Problematik ebenfalls in der vorliegenden Untersuchung eingehend thematisiert. Nach der Veröffentlichung von Darwins The Origin of Species im Jahr 1859 hat die Philosophie den hitzigen Debatten über die Evolution des Lebens und seine Entstehung auf der Urerde (Abiogenese) viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt als den viel bescheidener anmutenden Fragen, die hier im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Ihre Vernachlässigung wurde außerdem in den letzten Jahrzehnten von der massiven Fokussierung der Philosophen auf die Fortschritte der Neurobiologie und der Bewusstseinsforschung überhaupt deutlich verstärkt. Diesen sonst sehr viel beachteten Themenkomplexen, die – als typische Reibungsfelder dogmatischer Religiösität und orthodoxer Wissenschaftlichkeit – ideologisch aufgeladen sind, gilt hier also nicht das Hauptinteresse. Die Problematik der morphogenetischen Entwicklung (Embryogenese) und des Wachstums eines Lebewesens ist nicht nur die vielleicht fundamentalste Frage in der Geschichte des biologischen Denkens seit der Antike, sondern auch der 30 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Die Aufgabe dieser Untersuchung
Hauptgegenstand der Philosophie des Lebendigen vor dem Aufkommen der Evolutionstheorie. Aristoteles hatte der Embryogenese wichtige Schriften gewidmet und der gesamte Streit zwischen Vitalismus und Mechanizismus bzw. Physikalismus kreiste um diese Problematik. Nicht ohne Grund sah der Begründer der »Allgemeinen Systemtheorie« Ludwig von Bertalanffy in der Embryogenese die zentrale Frage der Theoretischen Biologie. Nach dem Untergang des Neovitalismus in den 1930er Jahren gehen fast alle Biowissenschaftler davon aus, dass Organismen ausschließlich durch deterministische physikochemische Kräfte entstehen. In der modernen Biologie scheint es keinen Platz für ein echtes teleologisches Denken zu geben, d. h. für eines, das von ›Teleologie‹ bzw. ›finaler Kausalität‹ nicht bloß metaphorisch spricht. Diese Tatsache wurde entscheidend für die Präzisierung, die die zu Beginn vorgestellte Initialfrage erfahren musste: Die weitere Reduktion der Aporie über die Natur des individuellen Lebewesens in eine unserer Zeit angemessene Frage über die Materialität des Organismus sollte vor dem Hintergrund der aktuellsten Formalismen der systemtheoretischen Analyse lebendigen Werdens stattfinden. Ihnen gemeinsam ist die Überzeugung, dass die nichtlineare Mathematik und Physik das wichtigste Mittel für die Beschreibung der organismischen Kausalität ist und zwar sowohl bezüglich des Metabolismus als auch der Embryogenese und des Wachstums. Meine Entscheidung, die biophysikalische Annäherung an die organismische Kausalität ins Zentrum der Untersuchung zu rücken, hat nicht nur mit meiner langjährigen Beschäftigung mit den Theorien der Selbstorganisation bzw. Komplexität zu tun, sondern auch mit der gegenwärtig sehr starken Konzentration der Theoretischen Biologie auf die Theorie nichtlinearer dynamischer Systeme. Die genaue Fragestellung bezüglich der Materialität des ontogenetischen Werdens, wie sie schließlich für die vorliegende Studie ausformuliert wurde, lautet: Sind Organismen mehr als dynamische physikochemische Systeme? Die negative Beantwortung dieser Frage bedeutet, dass die Theorie dynamischer Systeme irgendwann – wenn die notwendigen epistemischen, theoretischen und technischen Voraussetzungen erfüllt sein werden – in der Lage sein muss, organismische Selbsterhaltung und ontogenetisches Werden ausschließlich auf der Basis ihrer nichtlinearen deterministischen Kausalität überzeugend und erschöpfend zu erklären. Der eben geäußerten Position wird manchmal vorgeworfen, sie ontologisiere die biosystemische Herangehensweise und verkenne, 31 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Einleitung: Die Erhebung einer neuen Biophilosophie
dass diese primär die biomedizinische Praxis unterstützen soll. So würde z. B. die in den 1990er Jahren bekannt gewordene Systembiologie in erster Linie der Entwicklung neuer Medikamente und biotechnologischer Verfahren und nicht der theoretischen Vertiefung des Organismus-Verständnisses dienen. Diese Haltung entspricht jedoch der einseitigen Orientierung der modernen Biowissenschaften auf finanziell ertragsreiche Anwendungen – was nur auf Kosten der theoretischen Tiefe gehen kann. Die Tatsache, dass in fast allen Fällen nur organismische Teilvorgänge als dynamische Systeme beschrieben werden, befreit nicht von der Pflicht, eine klare Position diesbezüglich zu beziehen, ob auch die Interaktionen zwischen diesen kleinen ›Teilsystemen‹ ebenfalls systemisch zu beschreiben sind, d. h. ob der gesamte Organismus nur ein dynamisches physikochemisches System ist. Diese Frage stellt sich auf jeden Fall, auch wenn sie nicht ausgesprochen wird, und sie kann nur mit ›ja‹ oder ›nein‹ beantwortet werden. Pragmatische Interessen können nicht auf Dauer das essentiell menschliche Fragen nach dem Sein der Dinge unterdrücken oder mit einer Antwort über ihre Nützlichkeit hinhalten. Die Theoretische Biologie darf nicht eine Theoretische Biotechnologie werden. Wenn Biowissenschaftler permanent den Eindruck erwecken – z. B. als Dozenten gegenüber ihren Studenten –, dass Organismen dynamische Systeme sind und mit diesem Konzept eine bestimmte Mathematik und Idee von Kausalität verbinden, die sich in den letzten zwanzig Jahren gefestigt hat, dann sollten sie so konsequent sein und diesen Weg zu Ende gehen und nicht auf halber Strecke stehenbleiben. Wenn die Rede von Organismen als ›dynamische Systeme‹ ist, sollte darunter nicht lediglich die Computersimulierbarkeit bzw. die Berechenbarkeit sehr begrenzter Vorgänge gemeint sein, wie z. B. die Aktivierung oder Hemmung eines Gens durch die Produkte eines anderen. Diese Vorstellung sollte konsequent zu Ende gedacht werden. Man sollte sich also explizit dazu bekennen, dass der gesamte Organismus nichts anderes und nicht mehr als ein dynamisches System ist und folglich der damit einhergehenden Kausalität, und keiner anderen, unterliegt. Wird dieser Schritt getan, so muss schließlich davon ausgegangen werden, dass es einer zukünftigen Biophysik und Computertechnologie gelingen wird, auch die typische morphogenetische Entwicklung des Embryos einer Pflanzen- oder Tierart zu simulieren, und zwar ohne solche unrealistischen Annahmen zu machen wie jene, die im zweiten Kapitel der vorliegenden Untersuchung analysiert werden. Es wäre also, um ein Beispiel zu nennen, nicht akzeptabel, 32 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Biophilosophie, Philosophie der Biologie, Theoretische Biologie
dass Molekülkonzentrationen, die während einer wirklichen Embryogenese intern reguliert werden, für die Simulation extern festgelegt und während dieser konstant gehalten und somit der Systemdynamik entzogen werden. Dass für derartige in diesem Sinne realistische Simulationen Computer und molekularbiologisches Wissen nötig sind, die vielleicht selbst nicht nach hundert Jahren vorhanden sein werden, darf kein Hindernis sein, diese Position im Rahmen eines Gedankenexperiments zu vertreten. Theoretischer Fortschritt wird nicht nur durch Tatsachen, sondern vor allem durch das Aufspüren prinzipieller Grenzen des Denkbaren errungen. Letzteres ist aber das Geschäft der Philosophie. Nach jahrelanger Auseinandersetzung mit der Problematik der Natur des Organismus bin ich zu folgendem Resultat gelangt: Selbst der einfachste Organismus ist wesentlich mehr als ein dynamisches physikochemisches System. Dennoch hat jeder Organismus eine für seine Lebensfähigkeit unentbehrliche Seite, die prinzipiell systemtheoretisch beschreibbar ist. Er erschöpft sich also nicht in dieser, sondern ist darüber hinaus etwas, das nicht auf diesem Weg erfasst werden kann. Vorausgreifend sei hier gesagt, dass ich dieses ›etwas‹ keinesfalls als ›genetische Information‹ oder ›genetisches Programm‹ verstehe, denn diese Konzeptionen sind im Grunde dekonstruiert worden, und was von ihnen übrig blieb, wird momentan systemtheoretisch assimiliert. Das Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, zuerst die Grenzen des systemtheoretischen Denkens bezüglich der Ontogenese aufzuzeigen und im zweiten Schritt eine neue Konzeption des Organismus mit den Mitteln der Prozessphilosophie zu entwerfen, in die der systemtheoretische Ansatz aufgehoben werden kann.
2.
Biophilosophie, Philosophie der Biologie, Theoretische Biologie
Die Biologie genießt das Ansehen der Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts. Aber die Situation in der Theoretischen Biologie heute zeugt von einer schleichenden Eroberung dieser Wissenschaft durch die Physik. »Die Biologie solle endlich erwachsen, d. h. eine mathematische Wissenschaft werden, die Vorhersagen erlaubt«, scheint der Imperativ dieser Tendenz zu sein. Zweifelsohne ist dieses Gebot der 33 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Einleitung: Die Erhebung einer neuen Biophilosophie
Biotechnologie sehr dienlich, wie der Erfolg der Systembiologie belegt, und verspricht folglich, die biologische Forschung in die Sphäre großer Biotechnologie-Konzerne und der mit ihnen verflochtenen internationalen Wirtschaftsunternehmen immer besser einzugliedern. Diese Entwicklung hat aber notwendig erhebliche Einflüsse auf unser Verständnis des Lebendigen, womit ihre Relevanz weit über den akademischen Betrieb hinaus globale gesundheitliche und ökologische Dimensionen erreicht. Die vorliegende Untersuchung wurde verfasst, um – solche Tendenzen kritisch beleuchtend – der Diskussion zum Wesen des Organismus neue ontologische Dimensionen zu eröffnen, die den weltanschaulichen Horizont der etablierten Biowissenschaften der Gegenwart erweitern. Eines meiner zentralen Anliegen ist es, eine Alternative zu einer eng an die Erkenntnisse der Biowissenschaften der Gegenwart angelehnten Philosophie des Lebendigen anzubieten. Sollte mir dies gelungen sein, dann kann dieses Buch als ein Beitrag zur Begründung einer neuen Biophilosophie erachtet werden. Von ›Biophilosophie‹ ist hier die Rede in bewusster, aber nicht scharfer, geschweige antagonistischer Abgrenzung zur sogenannten ›Philosophie der Biologie‹. Letztere wurde in den frühen 70er Jahren des letzten Jahrhunderts von Michael Ruse (1973) und David Hull (1974) begründet, als deren Vorläufer Morton Beckner (1959) gilt. Die bekanntesten Repräsentanten dieser Disziplin sind theoretische Biologen und Philosophen des angelsächsischen Sprachraumes. 1 Die Philosophie der Biologie wird oft als ›Biophilosophie‹ bezeichnet. Ich bin jedoch der Meinung, dass beide Begriffe nicht als Synonyme betrachtet werden sollten. Unter ›Biophilosophie‹ verstehe ich eine naturphilosophische Tradition, die seit der Antike existiert und aus einer Menge metaphysisch heterogener Betrachtungen des Lebens und des Lebendigen besteht. Aus dieser Perspektive stellt die Philosophie der Biologie nur einen kleinen Teil der Biophilosophie dar, wenn auch den gegenwärtig einflussreichsten. Es gibt zwei Gründe, aus denen ich die Biophilosophie für ein die Philosophie der Biologie umfassendes Feld halte und deswegen vor einigen Jahren die Unterscheidung zwischen beiden Begriffen eingeEinige der einflussreichsten Beiträge zur Philosophie der Biologie stammen aus der Feder von Francisco Ayala, Theodosius Dobzhansky, John Dupré, Peter GodfreySmith, Stephen Jay Gould, Paul Griffiths, David Hull, Richard Lewontin, Ernst Mayr, Susan Oyama, Alexander Rosenberg, Michael Ruse, Elliott Sober und Kim Sterelny.
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Biophilosophie, Philosophie der Biologie, Theoretische Biologie
führt habe: 2 Erstens können den philosophischen Grundannahmen der Biophilosophen radikal verschiedene metaphysische Systeme zugrunde liegen, was im Gegensatz zu den meisten Autoren steht, die sich als Philosophen der Biologie sehen und in ihren Reflektionen über die Natur von Materie und Kausalität den metaphysischen Rahmen, der von den etablierten Biowissenschaften diktiert wird, nicht verlassen. Zweitens erlaubt die Betrachtung der Biophilosophie als das metaphysisch breitere Gebiet, auf die Relevanz von Denkern wie Aristoteles und Kant für die gegenwärtigen Biowissenschaften zu verweisen, ohne sie als ›Philosophen der Biologie‹ zu bezeichnen. Denn dies könnte missverständlich sein, da der Begriff ›Biologie‹ erst mit der Begründung dieser Disziplin zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden ist. Es muss allerdings betont werden, dass die Grenze zwischen beiden Gebieten flüssig ist. Einige der Philosophen und Wissenschaftler, die die Biophilosophie geprägt haben, sind Aristoteles, Theophrast, Paracelsus, William Harvey, Jan Baptist van Helmont, René Descartes, Gottfried Wilhelm Leibniz, Georg Ernst Stahl, Julien de La Mettrie, Immanuel Kant, Jean-Baptiste de Lamarck, Johann Wolfgang von Goethe, Johann Friedrich Blumenbach, Alexander von Humboldt, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Carl Gustav Carus, Karl Ernst von Baer, Gustav Theodor Fechner, Charles Darwin, Claude Bernard, Ernst Haeckel, Charles Sanders Peirce, Friedrich Nietzsche, Henri Bergson, D’Arcy Thompson, Alfred North Whitehead, Jakob von Uexküll, Hans Driesch, Kurt Goldstein, Viktor von Weizsäcker, Erwin Schrödinger, Sewall Wright, Adolf Portmann, Gregory Bateson, Georges Canguilhem, Ludwig von Bertalanffy, John C. Eccles, Hans Jonas, Ernst Mayr, Maurice Merleau-Ponty, Gilbert Simondon, Gilles Deleuze, Michel Foucault, Humberto Maturana, Richard Lewontin, Stuart Kauffman, Francisco Varela, und Evan Thompson. 3 Einige dieser Gelehrten, wie z. B. Darwin, Mayr und Lewontin, sind Leitfiguren der Philosophie der Biologie, aber können auch der Biophilosophie zugewiesen werden, da diese auch materialistische Strömungen beherbergt. In den Diese Unterscheidung habe ich zum ersten mal vor zehn Jahren eingeführt (2007, 17) und von ihr in einigen Texten Gebrauch gemacht (2011, 223; 2013, 309 f.). Aber erst in der Einleitung des Buches Life and Process. Towards a New Biophilosophy wurde die Unterscheidung zwischen beiden Begriffen ausführlich begründet (2014a, 2–8). 3 Die Reihenfolge der Namen entspricht chronologisch den Geburtsjahren der Personen. 2
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Einleitung: Die Erhebung einer neuen Biophilosophie
letzten Jahren haben einige Naturwissenschaftler neue Vorstellungen von Organismus, Evolution und Bewusstsein vorgestellt, die den Rahmen der orthodoxen Philosophie der Biologie transzendieren. 4 Alle Formen der Biophilosophie, einschließlich der Philosophie der Biologie, behandeln Fragen, die zwar für die Biologie relevant sind oder gar in ihr aufkommen, aber von ihr nicht beantwortet werden können. Die zentrale Frage kreist um die Bedeutung des Begriffs ›Leben‹, genauer: seine semantische Extension. In der Biophilosophie des 20. Jahrhunderts hat dieser Begriff ein breites Spektrum von Inhalten bekommen, von denen die wichtigsten im ersten Kapitel der vorliegenden Untersuchung erwähnt werden. Die Unterschiede, die zwischen den verschiedenen Formen von Biophilosophie bestehen, zeigen sich deutlich, wenn nach der Natur bzw. dem Wesen des Lebens gefragt wird. So negieren z. B. Biophilosophen, die von Deleuze und anderen postmodernen Denkern beeinflusst sind, die Idee, dass das Leben überhaupt ein Wesen hat und betonen stattdessen seine prinzipielle Unbegreiflichkeit, da es die Tendenz hat, jedes erkennbare Charakteristikum zu transzendieren (Thacker 2005). 5 Andere Biophilosophen, die nicht der Postmoderne zugerechnet werden können, halten die Frage nach dem Wesen des Lebens für ausschlaggebend. Ihre Antworten offenbaren die metaphysischen Ideen, auf deren Basis sie operieren und die sehr unterschiedlich sein können. Die meisten Philosophen der Biologie der Gegenwart scheinen metaphysische Annahmen über die Natur von Materie, Kausalität und mentaler Aktivität zu tolerieren, bzw. für selbstverständlich zu halten, die sich essentiell von den metaphysischen Grundannahmen von Aristoteles, Leibniz, Bergson, Whitehead, Jonas und anderen Denkern unterscheiden, 6 die mich entscheidend geprägt haben. Die meisten Biologen stützen ihr Denken auf ontologische Grundvorstellungen der klassischen Physik – natürlich der neuesten Version dieser, die die Idee des dynamischen Systems und die um diese Konzeption entfalteten Theorien der Selbstorganisation, Komplexität und des Chaos enthält. Aus der Perspektive der vorliegenden UnterVgl.: Kauffman 2008, 2002, 2000; Deacon 2012, 2006a; Hameroff 2007, 2003; Hameroff & Tuszynski 2004. 5 Dass gerade in dieser Tendenz das Wesen des Lebens verankert werden könnte, kann an dieser Stelle nicht thematisiert werden. 6 Für die in der Fußnote 1 genannten Philosophen der Biologie trifft dies am wenigsten für John Dupré zu. 4
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Biophilosophie, Philosophie der Biologie, Theoretische Biologie
suchung sind folgende implizite metaphysische Grundannahmen der gegenwärtigen Biologie wichtig, da sie von allen prozessphilosophisch orientierten Biophilosophen explizit zurückgewiesen, aber von den meisten Philosophen der Biologie nicht problematisiert werden: 1) Jede Form mentaler Tätigkeit sei unlösbar an der Aktivität eines hinreichend komplexen Nervensystems gebunden. Pflanzen, einzellige und einfache vielzellige Organismen würden nichts erleben. Die Fähigkeit, den eigenen Körper und die Umwelt zu erfahren, sei relativ spät in der Evolution entstanden und jede Erfahrung könne prinzipiell restlos auf ein komplexes Muster der physikochemischen Aktivität des neuronalen Systems reduziert werden. 2) Alles, was aus prinzipiellen Gründen nicht restlos auf physikochemische Vorgänge zurückführbar ist, wie z. B. phänomenale Qualitäten der Wahrnehmung (Qualia), habe keine Relevanz für biologische Geschehnisse. Erlebensakte seien für die Ontogenese der Individuen und die Evolution der Arten irrelevant, auch wenn es den Anschein hat, dass sie wegen ihrer Rolle bei der Partnerwahl ein bedeutender evolutionärer Faktor des Tierreichs sind, wie auch Darwin dachte. 7 In Wirklichkeit seien sie kausal irrelevante Vorkommnisse, d. h. Epiphänomene, die aus der Interaktion von neuronalen, genetischen und Signalnetzwerken emergieren, ohne auf diese den geringsten Einfluss haben zu können. 3) Alle innerorganismischen Vorgänge würden aus Interaktionen materieller Entitäten hervorgehen, die streng raumzeitlich lokalisiert sind. Quantenphysikalischen Ideen, wie z. B. die der nichtlokalen Verschränkung zwischen Elementarteilchen, könne keine besondere Relevanz für biologische (einschließlich neurobiologische) Phänomene zugesprochen werden. Folglich sei das die klassische Physik beherrschende Verständnis von Materie und Determinismus (letzterer müsse natürlich in seiner erweiterten Fassung gedacht werden, die in den Theorien der Selbstorganisation, Komplexität und des
Darwins Begriff der ›sexuellen Selektion‹, der von zentraler Bedeutung in seinem Werk Die Abstammung des Menschen ist, gründet auf der Idee, dass Erleben und Schätzen von Schönheit fundamental für die Partnerwahl selbst einfacher Tiere wie die Arthropoden ist (1986, 296–374). In gegenwärtigen Abhandlungen über sexuelle Selektion werden alle Ausdrücke vermieden, die mit mentaler Aktivität und vor allem mit Erleben assoziiert werden können (Zahavi 1975, 1997).
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Einleitung: Die Erhebung einer neuen Biophilosophie
Chaos anzutreffen ist) für das Verständnis der Kausalität biologischer Vorgänge ausreichend. Die zentrale Position, die der klassisch-physikalischen Konzeption von Materie und Kausalität zugewiesen wird, bedeutet, dass die letzte implizite Grundannahme die beiden anderen direkt unterstützt. Dies ist der Fall, weil im starken Gegensatz zur Quantentheorie die klassische Physik jede Form von Subjektivität von der Analyse der physischen Kausalität ausschließt. Diese von der klassischen Physik ausgeliehenen basalen und impliziten Hypothesen besagen nichts über die Methodologie der Biologie, da sie metaphysische Annahmen über die Materie der Organismen und der in ihnen waltenden Kausalität sind. 8 Als metaphysische Annahmen bezeugen sie jedoch die Weltanschauung der gegenwärtigen Biologie. Philosophisch interessierte Biologen sind oft davon überzeugt, dass das Leben ›naturalistisch‹ erklärbar ist. Der Begriff ›Naturalismus‹ wird selbst von Autoren, die sich als ›Naturalisten‹ bezeichnen, fast nie erläutert. Der Naturalismus der meisten Biologen stellt meines Erachtens in den meisten Fällen eine Form des Physikalismus dar, in den nicht einmal Vorstellungen von Materie und Kausalität Eingang gefunden haben, die in der Quantentheorie selbstverständlich sind. Das bedeutet aber, dass die Metaphysik des physikalistischen Naturalismus, der die meisten Biologen unbewusst beipflichten, keine andere als die in der Physik vor der Entwicklung der Quantentheorie herrschende Metaphysik ist. Das essentiellste Merkmal dieses Naturalismus besteht allerdings in der strikten Zurückweisung sogenannter ›übernatürlicher‹ Faktoren. Darunter wird oft nicht nur die Idee von Gott, göttlicher oder ausschließlich geistiger Entitäten subsummiert, sondern all das, was aus prinzipiellen Gründen nicht den Mitteln der Physik (und Chemie) zugänglich zu sein scheint. Mit anderen Worten: Aus der Perspektive eines physikalistischen Reduktionismus müssen auch die Innerlichkeit und die phänomenalen Qualitäten (Qualia) von Erfahrungsakten als übernatürliche Phänomene bezeichnet und somit aus biologischen Erklärungen ausgeschlossen werden. Während die meisten Philosophen der Biologie diesen metaphyPhilosophen der Biologie sind meistens skeptisch, wenn Methoden der Physik auf biologische Probleme übertragen werden. So diskutieren sie z. B. oft kritisch die Frage, ob es in der Evolution kausale Faktoren gibt, die in Anlehnung an Kräfte der Physik gedacht werden können.
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Biophilosophie, Philosophie der Biologie, Theoretische Biologie
sischen Rahmen, der die gegenwärtige Biologie beherrscht und von dieser rückwirkend gestärkt wird, nicht explizit ablehnen, versuchen einige Biophilosophen, dagegen anzukommen. Das bedeutet aber keineswegs, dass sie den Naturalismus zurückweisen. Sie sollten vielmehr als Vertreter einer metaphysisch erweiterten Version dessen betrachtet werden, die als liberaler Naturalismus bezeichnet wird, und vor wenigen Jahren von einigen Philosophen eingeführt wurde (De Caro & Voltolini 2010, 75–82). 9 Liberale Naturalisten behandeln phänomenale Qualitäten (Qualia) als Aspekte einiger natürlicher Entitäten und sprechen abstrakten Entitäten, ethischen Werten, intentionalen Zuständen und modalen Entitäten (Möglichkeiten) ontologische Relevanz zu (De Caro and Macarthur 2010b, 12). John Dupré, ein einflussreicher Philosoph der Biologie und entschiedener Kritiker des wissenschaftlichen Monismus (2004), unterstützt den liberalen Naturalismus (2010). Sein Werk zeigt, dass es zwischen der Philosophie der Biologie und der sie umfassenden Biophilosophie statt einer scharfen Grenze einen kontinuierlichen Übergang gibt. Duprés erkenntnistheoretische und ontologische Positionen könnten z. B. von prozessphilosophisch orientierten Biophilosophen aufgegriffen werden. Es ist also denkbar, dass in der nicht allzu fernen Zukunft die Grenzen zwischen der Philosophie der Biologie und verschiedenen biophilosophischen Richtungen flüssiger werden. Denn diese Grenzen hängen maßgeblich von den zentralen metaphysischen Annahmen der Philosophen der Biologie ab. Diese spiegeln die vorherrschende und zumeist implizite Metaphysik der biologischen Forschergemeinschaft wider, die sich aber – ähnlich wie in der Physik zu Beginn des 20. Jahrhunderts – wandeln kann. Der Grund, aus dem die Mehrheit der heute forschenden Philosophen der Biologie unwillig ist, solche naturphilosophischen Richtungen wie den liberalen Naturalismus in ihr Denken zu integrieren, hängt meines Erachtens mit dem großen Einfluss eines Zweigs der biologischen Forschung zusammen: der Theoretischen Biologie. Diese Disziplin wurde im frühen 20. Jahrhundert von Johannes Reinke (1901), Jakob von Uexküll (1909, 1973/erste Auflage: 1920) und Julius Schaxel (1919), die eine in sich konsistente philosophische Begründung der Biologie anstrebten, ins Leben gerufen. Aber in den 1920er Jahren stellten Alfred Lotka (1925) und Vito Volterra (1926, 1931) mathematische Modelle der Populationsdynamik vor und wurden so9
Vgl. auch: De Caro & Macarthur 2010a, McDowell 2004.
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Einleitung: Die Erhebung einer neuen Biophilosophie
mit zu Vorläufern der systematischen Mathematisierung der Theoretischen Biologie, die in den 1930er Jahren mit den Arbeiten von Ludwig von Bertalanffy begann (1932). Wichtige Beiträge zur Begründung der mathematischen Theoretischen Biologie wurden von Nicolas Rashevsky (1938, 1940), Erwin Schrödinger (1944) und Alan Turing (1952) veröffentlicht. Mit dem Aufkommen der Theorie nichtlinearer dynamischer Systeme und der davon abgeleiteten Ansätze der Selbstorganisation, Komplexität und des Chaos, die den Pionierleistungen von William Ashby (1962), 10 Heinz von Foerster (1960), Ilya Prigogine (Prigogine & Nicolis 1967) 11 und Hermann Haken (1973, 1983) folgten, wurde die Theoretische Biologie die mathematische Disziplin, die Stuart Kauffman (1993, 1996), James Murray (1993), Brian Goodwin (1997), Albert Goldbeter (1997), Denis Noble (2006) u. a. gestalteten. Nicht ohne Grund wird sie oft als ›Biomathematik‹ bezeichnet. Diese Entwicklung hatte zur Folge, dass (erstens) die Theoretische Biologie eine Disziplin wurde, die nicht primär von Biologen, sondern von Physikern, Mathematikern und Informatikern betrieben wird, und dass (zweitens) die ursprüngliche thematische und naturphilosophische Breite stark eingeschränkt wurde. In den weltweit existierenden Instituten für Theoretische Biologie werden hauptsächlich mathematische Modelle und Computersimulationen evolutionärer, entwicklungsbiologischer, metabolischer, genetischer, neurobiologischer, populationsdynamischer und epidemiologischer Vorgänge getestet. Mit anderen Worten: Es scheint nur der Zweig der frühen Theoretischen Biologie überlebt zu haben, der im Werk Bertalanffys wurzelt. Allerdings sind wichtige philosophische Intuitionen von ihm unbeachtet geblieben. 12 Und dennoch: die vielleicht fundamentalste, wenn auch nicht explizit artikulierte und vermutlich kaum bewusst gedachte philosophische Grundlage der gegenwärtigen Theoretischen Biologie scheint der meines Erachtens zentralsten wissenschaftstheoretischen Überzeugung seines philoso-
Der Begriff ›self-organizing system‹ wurde 1947 von Ashby eingeführt. Vgl. auch: Prigogine & Lefever 1968, Glansdorff & Prigogine 1971, Nicolis & Prigogine 1977, Prigogine & Stengers 1984. 12 In seinem zuerst 1949 veröffentlichten Werk Das biologische Weltbild ist die Rede von einer »nichtquantitativen oder ›Gestaltmathematik‹ für die biologische Theorie« in der »nicht wie in der gewöhnlichen der Physik so ausgezeichnet angepassten Mathematik der Begriff der Grösse, sondern der der Form oder Ordnung die primäre Rolle spielen würde« (1990, 150). 10 11
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Biophilosophie, Philosophie der Biologie, Theoretische Biologie
phisch geschulten Verstandes Folge zu leisten: 13 seiner antimetaphysischen Grundhaltung. Bertalanffy importierte in die Biologie eine positivistische Erkenntnistheorie und eine formalistische Ontologie, die das Wesen der in den Formeln repräsentierten Entitäten mit ihrer Rolle in den Gleichungen gleichsetzte. Seine antimetaphysische Sicht von Naturwissenschaft ist besonders wichtig für das Verständnis der modernen Theoretischen Biologie: Die Naturgesetze seien nur »Abbildungen formaler Relationen der Phänomene« und keine »Faktoren, welche den Lauf des Geschehens bestimmen« (1990, 159). Ähnlich »sind die physikalischen Letzteinheiten nicht ›materielle Atome‹ als metaphysische Wirklichkeit, sondern können nur formal-mathematisch bestimmt werden, wobei über ihr inneres Wesen von der Physik nichts ausgesagt wird« (ebenda, Hervorhebung von S. K.). Auf der Basis dieses Antiessentialismus dachte Bertalanffy »den Gegensatz von Mechanismus und Vitalismus auf höherer Stufe« überwinden zu können (ebenda): Die »organismische Auffassung«, womit er seine mathematisch orientierte Theoretische Biologie meint, sagt »alles, was der Naturforscher dazu auszusprechen vermag. Über das Wesen der Dinge und damit auch die Frage einer Wesensverschiedenheit von Unbelebtem und Belebtem macht er keine Aussagen. […] Die Absicht des Vitalismus aber ist es, über das innere Wesen der Dinge Aussagen zu machen« (ebenda 160). Die Zuweisung der Frage nach dem »innere[n] Wesen der Dinge« zum Vitalismus – also einer Denkrichtung mit der kaum ein Biologe der Gegenwart identifiziert werden möchte, da dies einem wissenschaftlichen Rufmord gleichkommt – hat die metaphysisch basale Frage nach der intrinsischen Natur der physischen Elemente aus dem Horizont der führenden Theoretischen Biologen verbannt. Sie traten somit in die positivistisch-formalistischen Fußstapfen vieler Theoretischer Physiker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Beschränkung der Theoretischen Biologie auf abstrakte Formalismen, nach deren metaphysischer Berechtigung nicht gefragt werden soll, hat zu einem großen Vakuum bezüglich der philosophischen Begründung der Biologie geführt. Dieses Vakuum versuchen nun die Philosophen der Biologie zu schließen. Typische Fragestellungen, die sie erforschen, sind: die Beziehung der Biologie zur Physik und Chemie, die Begriffe der Anpassung und natürlichen SelektiBertalanffy studierte Philosophie in Wien bei dem Positivisten Moritz Schlick, bei dem er auch 1926 promovierte, und dem Neokantianer Robert Reininger.
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Einleitung: Die Erhebung einer neuen Biophilosophie
on, die Ebene(n), in denen die natürliche Selektion wirkt (Gene, Organismen oder Gruppen von Organismen), der Begriff des Gens, die Bedeutung der Termini ›Teleologie‹, ›Zweck‹ und ›Funktion‹, die Beziehung zwischen Mikro- und Makroevolution, das Wesen der biologischen Arten, die Entstehung der menschlichen Art, die Rolle genetischer Faktoren im menschlichen Verhalten, die Beziehung zwischen Biologie und Ethik, die ökologische Diversität, der Konflikt zwischen Evolution und Theismus u. a. 14 Das breite Spektrum dieser Themen zeigt, dass auch die Grenzen zwischen Theoretischer Biologie und Philosophie der Biologie flüssig sind. Dies erklärt die auffällige Toleranz letzterer gegenüber der physikalistischen Metaphysik, die in den drei oben erwähnten Punkten zusammengefasst werden kann und in der die in der Biologie vorherrschenden Tendenzen seit der Verbannung des Vitalismus implizit verwurzelt sind. Aufgrund ihrer langen Entwicklung seit der klassischen Antike bietet die abendländische Biophilosophie eine Vielzahl heterogener Vorstellungen vom Leben generell und vom Organismus speziell, die die physikalistische Metaphysik der meisten Biologen der Gegenwart transzendiert. Für jede der divergierenden Richtungen sind unterschiedliche Aspekte maßgeblich. Aristoteles war überzeugt, dass ein immaterieller Faktor – die Seele – das Wachstum, die Selbsterhaltung und die Kognition des Organismus steuert (De Anima II). Hans Jonas, der von Aristoteles’ Konzeption der Teleologie beeinflusst wurde, hat die Innerlichkeit und Freiheit jedes Organismus betont (1994, 11–33). 15 Adolf Portmann hat der Tiergestalt ein ganzes Buch gewidmet, weil er in ihr den Ausdruck von Innerlichkeit sieht, die in dem Reichtum der Erfahrungen des Tieres besteht (1960). Vor ihm hat Darwin in seinem monumentalen Werk Die Abstammung des Menschen der sexuellen Selektion eine zentrale Rolle in der Evolution der Tierarten zugewiesen und die Rolle des Erlebens selbst der einfachsten Tiere in dieser Form der Selektion hervorgehoben. In der vorliegenden Untersuchung werden solche und ähnliche biophilosophische Ansichten aufgegriffen und auf der Basis der Prozessontologien von Alfred North Whitehead und Henri Bergson auf eine neue Weise in die Idee des Organismus integriert. Jedem Lebewesen, selbst dem einfachsten Einzeller, wird subjektive Innerlichkeit Diese Themen werden unter anderem in folgenden Büchern behandelt: Rosenberg & McShea 2008, Hull & Ruse 2007, Griffiths 1992, Rosenberg 1985. 15 Vgl. auch: Jonas 1997, 13–22, 23–49, 127–178. 14
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Die Struktur der vorliegenden Untersuchung
zugesprochen und dem Erleben eine zentrale Rolle für die Ontogenese und Selbsterhaltung des Organismus zugewiesen. Dieses Vorhaben wird in fünf Kapiteln verwirklicht.
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Die Struktur der vorliegenden Untersuchung
Die ersten zwei Kapitel der vorliegenden Schrift sind allem voran der gegenwärtig vorherrschenden Betrachtung des Organismus als dynamisches System gewidmet, und zwar mit dem Ziel, ihre Grenzen aufzuspüren. Die theoretischen Voraussetzungen dieser Sichtweise und ihre Berechtigung sind vor dem Hintergrund wesentlicher Eigenschaften der Lebewesen und der langen und turbulenten Geschichte der Konzeption des Organismus-Begriffs wesentlich besser zu verstehen. Deswegen ist das Ziel des ersten Kapitels, den Leser in die Besonderheit organismischen Seins, d. h. in die Grundmomente des Wesens des Organismus und in die Geschichte der Kämpfe der konkurrierenden Schulen einzuführen. Es werden die Grundansichten der verschiedenen Ismen (Aristotelismus, Vitalismus, Organizismus usw.) von der vorsokratischen Antike bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorgestellt. Auf dieser Basis werden dann im zweiten Kapitel die zentralen Begriffe und Arbeitsmittel der modernen biomathematischen Wissenschaft erklärt, die in Fach- und Sachbüchern in der Regel als bekannt vorausgesetzt sind: ›System‹, ›Entropie‹, ›Struktur‹, ›Nichtlinearität‹, ›Zustandsraum‹, ›Strukturbildung‹, ›Selbstorganisation‹, ›Komplexität‹, ›Wirkursache‹ u. a. Darüber hinaus wird die Arbeitsweise dieser Richtung anhand einiger Modelle eines ihrer zentralsten Bestandteile, der Systembiologie, näher erläutert. Das eigentliche Ziel dieses Kapitels ist, zu überprüfen, inwiefern dieser viel gelobte und finanziell geförderte Bereich der modernen Biowissenschaften tatsächlich der organismischen Autonomie bzw. Selbstregulation gerecht werden kann. Es wird sich dabei zeigen, dass dies aus prinzipiellen Gründen und nicht wegen noch zu beseitigender ›technischer Schwierigkeiten‹ niemals der Fall sein kann, weil die allen Organismen eigentümliche Kausalität jenseits der Logik berechenbarer Abläufe liegt. Der letzte Teil dieses Kapitels funktioniert als ›ontologisches Scharnier‹ zwischen dem biosystemisch-historischen ersten Teil der Untersuchung (Kap. I und II) und ihrem prozessmetaphysisch-naturphilosophischen zweiten Teil (Kap. III bis V): Das negative 43 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Einleitung: Die Erhebung einer neuen Biophilosophie
Resultat bezüglich der Eignung der untersuchten Formalismen, lebendiges Werden zu erfassen, wird in eine ontologische Sprache übersetzt, mit dem Ziel aus der Systemtheorie eine Systemontologie abzuleiten, die ersterer, zumindest implizit, zugrunde liegt. Es wird also gezeigt, dass in der Wurzel des Versagens der modernen Systemtheorie des Organismus in erster Linie eine dem Lebendigen nicht angemessene Ontologie bzw. Metaphysik liegt, was nur durch philosophische Analyse erkannt und beseitigt werden kann. Das Aufzeigen der Grenzen der Systemtheorien soll also die Notwendigkeit eines ontologisch-metaphysischen ›Quantensprungs‹ plausibel machen. Auf dieser Basis wird abschließend eine Ontologie skizziert, die der Ontogenese gerecht werden könnte, und in der der Prozess-Begriff als ihr wichtigstes Operationsmittel auf eine Weise eingeführt wird, die mit verschiedenen Prozessphilosophien kompatibel ist. Ziel der drei darauf folgenden Kapitel ist, zu zeigen, wie die Prozessphilosophie ermöglicht, das organismische Werden nicht-szientistisch zu denken, ohne in alt-metaphysische (z. B. vitalistische) Positionen zurückzufallen. Im dritten Kapitel wird dies auf der Basis der Prozessmetaphysik von Henri Bergson durchgeführt, was zuerst die Vorstellung der Grundintuition seiner Lebensphilosophie voraussetzt: der unlösbaren Verbindung von Erleben und nicht abstrakter Zeitlichkeit einerseits und der Verankerung dieser Einheit in jedem noch so einfachen physischen Prozess andererseits. Davon ausgehend werden dann ein individuelles und ein überindividuelles organismisches Gedächtnis eingeführt, welche im Werk Bergsons nicht vorhanden sind. Die Genese der arttypischen Gestalt bei der Embryonalentwicklung wird als Aktualisierung von Inhalten der zweiten Gedächtnisart dargestellt. Dieses Kapitel dient außerdem der Vorstellung wichtiger Aspekte der Bergson’schen Prozessphilosophie, die bei einer Erweiterung der Whitehead’schen – die ich für notwendig halte – sehr hilfreich sein können. Der Prozessphilosophie Whiteheads ist das größte Kapitel der vorliegenden Untersuchung gewidmet. Dies war nicht nur wegen ihrer Wichtigkeit für das hier verfolgte Ziel und der hochgradigen Differenziertheit ihres begrifflichen Apparats erforderlich, sondern auch, weil weder vom naturwissenschaftlich noch vom philosophisch gebildeten Leser Vertrautheit mit dieser nur allmählich rezipierten Philosophie verlangt werden kann. Deswegen und auch zwecks des Abbaus von Vorurteilen, die nur bezüglich alt-metaphysischer Dogmatik berechtigt sind, wird vor der Darstellung der Ontologie White44 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Die Struktur der vorliegenden Untersuchung
heads erläutert, in welchem Sinne diese eine metaphysische ist und was ihn überhaupt bewogen hat, in der Zeit des Neopositivismus eine hochkomplexe Metaphysik – wenn auch keine dogmatische, sondern eine revidierbare – zu begründen. Vor diesem Hintergrund wird dann das reiche und sehr technische ontologische Instrumentarium Whiteheads unter besonderer Beachtung seines hochdifferenzierten und keineswegs alltäglichen Verständnisses des Terminus ›Prozess‹ entfaltet, der natürlich den Dreh- und Angelpunkt seiner Ontologie ausmacht. In der darauffolgenden Anwendung dieser Naturphilosophie auf die Problematik der Ontogenese wird sich zeigen, in welchem hohen Grade die gesamte metaphysische Begrifflichkeit Whiteheads zusammengehört. Dabei wird zugleich der Versuch unternommen, Vorstellungen der gegenwärtigen und der frühen Quantenbiologie mit der Whitehead’schen Prozessphilosophie auf eine Weise zu verbinden, die für die moderne Biologie fruchtbar sein kann. Zu diesem Zweck wird im letzten Teil des Kapitels diese Verbindung mit der im zweiten Kapitel entfalteten biosystemischen Betrachtung in eine höhere Synthese integriert: Der systemische Zugang wird mit der Modalität bzw. Potenzialität des Organismus verknüpft und der prozessphilosophische mit seinem Vermögen, zwischen Möglichkeiten eine Auswahl zu treffen, und sie zu aktualisieren. Im letzten Kapitel wird, neben einer zusammenfassenden Rückschau, eine neue Interpretation der fundamentalen biologischen bzw. physikalischen Begriffe ›Zweckmäßigkeit‹ bzw. ›Entropie‹ auf prozessphilosophischer Basis vorgenommen. Dies zielt darauf ab, ihre Beziehung und Relevanz füreinander vom Primat des Lebendigen aus zu erneuern. Abschließend wird eine kurze Skizze einer denkbaren Integration essentieller Elemente der Bergson’schen und der Whitehead’schen Metaphysik in eine neue Prozessontologie vorgestellt.
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Kapitel I Über das Wesen und die Geschichte des Organismus-Begriffs
Wo rohe Kräfte sinnlos walten, da kann sich kein Gebild gestalten. Friedrich Schiller 1
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Leben als zweckmäßiges und anti-entropisches Werden
Neben den verschiedenen Bedeutungen, die der Begriff ›Leben‹ in vielen fachwissenschaftlichen und anderen Diskursen hat, dient er als zentraler biowissenschaftlicher Basisausdruck. Die heutigen Theoretischen Biologen verwenden diesen Ausdruck – sofern sie nicht glauben, ihn auf vermeintlich klare biologische Begriffe, wie z. B. ›Gene‹, reduzieren zu können – in verschiedenen Bedeutungszusammenhängen, über die jedoch in der Regel sehr wenig reflektiert wird. Dahinter steckt häufig die meistens unausgesprochene Überzeugung, die Gegenstandsbestimmung der Biologie erst nach dem Abschluss der empirischen und theoretischen Forschung, was dem Ende dieser Wissenschaft gleichkäme, vornehmen zu können. 2 Der biologischen Theorie und Forschung liegt jedoch ein in den verschiedensten lebensweltlichen Tätigkeitsfeldern traditionell eingeübtes Reden zugrunde, das auf der Ebene alltäglicher praktischer Vollzüge erlernt wird, die jeder, der lebt, an sich selbst erfährt: »Wir meinen mit ›Leben‹ primär die Vollzüge unseres eigenen Lebens; aber wir können eben auch damit rechnen, auf Verständnis zu stoßen, wenn wir sagen: ›Dieser Gegenstand lebt‹ resp. ›Dies ist ein lebendiger Gegenstand‹. Denn auf die Nachfrage, warum wir diesen Gegenstand als lebendig bezeichnen, könnten wir auf Regungen dieses Gegenstandes hinweisen, die uns als Regungen unseres eigenen Lebens vertraut sind« (Janich & Weingarten 1999, 127). 1 2
Auszug aus dem Gedicht »Das Lied von der Glocke«. Kritisch dazu: Janich & Weingarten 1999, 113 und 115–137.
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Leben als zweckmäßiges und anti-entropisches Werden
Wir verstehen also den Ausdruck ›Leben‹, weil wir selbst leben, weil uns die eigene leibliche Körperlichkeit vertraut ist. Darauf basiert die Sprachpraxis auch derjenigen Biologen, die dieses Wort aus ihrem Vokabular verbannt haben, da dieses lebensweltlich erworbene Verständnis wie selbstverständlich und damit unhinterfragt der biologischen Forschung zugrunde liegt. Denn erst dieses ermöglicht, etwas als lebendig und somit als möglichen Gegenstand der Biologie zu erkennen. Die enge Beziehung von Leben und Leiblichkeit ist ein zentrales Thema der Phänomenologie. Aus ihrer Sicht ist es die subjektive Erfahrung der eigenen Leiblichkeit, die den Übergang von der ausgezeichneten Position des eigenen Leibes zur Wahrnehmung bestimmter raumzeitlicher Objekte als Leiber gestattet und somit zu ihrer Auszeichnung gegenüber bloßer Körperlichkeit einlädt. 3 4 Ein phänomenologisch begründeter Lebensbegriff wird jedoch nicht von den heutigen Biowissenschaften als Basisausdruck akzeptiert, da er die Erlebensperspektive über die distanzierte Sicht des ›objektivierenden‹ und quantifizierenden Beobachtens stellt, die in den naturwissenschaftlichen Diskursen der Gegenwart als die einzige zulässige gilt. Mehr noch, ein so erworbenes Vorverständnis wird bezüglich einer eigenständigen biologischen Definition dieses Grundbegriffes häufig als erschwerend beurteilt. 5 In der Biologie ist der Begriff ›Leben‹ mit verschiedenen Bedeutungen besetzt (Toepfer 2005b, 158; Mahner & Bunge 2000, 138). Husserl betont die Auszeichnung des Leibes »allen materiellen Dingen gegenüber« und seine doppelte Konstitution aus der Erfahrung der materiellen Extension und den Empfindungen »›auf‹ ihm« und »›in‹ ihm« (1952, 151 f., 145). Ausgehend von Bergsons Philosophie der Dauer sieht Alfred Schütz die privilegierte Stellung des Leibes darin, dass er zwischen den Erlebensqualitäten und dem von Quantitäten gefüllten Raum vermittelt (1981, 165). Merleau-Ponty hebt ebenfalls die Auszeichnung des aperspektivisch erlebten ›Eigenleibes‹ gegenüber den Gegenständen der Wahrnehmung hervor (1966, 117) und entrückt ihn dem Bereich der deterministischen Beziehung zur Welt (1966, 99). In seinem Spätwerk geht er noch weiter, wenn er, ebenfalls Bergson nahestehend, den »Leib als Einfühlungskraft« versteht, womit er die Wahrnehmung nicht als bloßen Erkenntnis-, sondern als »Seinszusammenhang« sieht (2000, 287 f.). Hermann Schmitz zufolge erscheint erst durch die Entstehung der primitiven Leiblichkeit auf der Urerde das Vermögen des Unterscheidens, das notwendige Bedingung der Individuation ist (1981, 379, 428). 4 Den phänomenologischen Standpunkt teilt implizit auch der Mitbegründer der Quantentheorie Werner Heisenberg, denn er sagt: »Schon die Feststellung, daß es sich um etwas Lebendes handele, kann ja nur getroffen werden, weil wir selbst leben« (1990, 67). 5 Diese Position vertritt z. B. Georg Toepfer: 2005b, 158. 3
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I · Über das Wesen und die Geschichte des Organismus-Begriffs
Einerseits referiert ›Leben‹ auf die Gesamtheit der Vorgänge, die in einer konkreten physischen Entität, die als Organismus oder Lebewesen bezeichnet wird, stattfinden bzw. von ihr vollzogen werden, andererseits bezieht sich dieser Begriff auf Mengen solcher Entitäten. So ist häufig die Rede von ›Leben‹ im Zusammenhang mit einer Gruppe von Organismen derselben Art (z. B. einer Tierkolonie) oder mit den in einem Ökosystem aufeinandertreffenden Arten oder sogar mit der gesamten Biosphäre. Im letzten Fall kann sich die Bedeutung (bzw. Extension) des Begriffs ›Leben‹ die Gesamtheit der momentan überprüfbar existierenden, d. h. auf der Erde gegenwärtig lebenden, Organismen umfassen. Nicht selten bedeutet ›Leben‹ alle seit der Erscheinung des ersten Organismus auf der Urerde entstandenen Lebewesen und einige Forscher und vor allem Bioethiker referieren damit sogar auch auf alle zukünftigen Organismen. Immer häufiger wird die Extension des Begriffs über die raumzeitlichen Grenzen der irdischen Evolution hinaus ausgedehnt. Logisch und phänomenologisch gesprochen: Die umfassendste Bedeutung des Begriffs ›Leben‹ schließt alle gegenwärtigen, vergangenen und zukünftigen Leiber des Universums in sich ein. Anders als in theologisch-religiösen Traditionen und Diskursen verbinden also die Biowissenschaften und die mit ihnen eng verbundenen Diskurse den Ausdruck ›Leben‹ immer mit Körperlichkeit. Viele Biologen und vor allem ›Künstliches Leben‹-Forscher und -Ingenieure würden aber jede Rede von Leiblichkeit abweisen, nicht nur wegen des oben genannten Grundes, sondern weil sie Erlebensinnerlichkeit nicht als eine notwendige Eigenschaft des Lebendigseins betrachten. Vertreter des sogenannten ›starken‹ KL gehen sogar davon aus, dass es zukünftig sich selbst reparierende und vervielfältigende anorganische Automaten geben wird, die sogar evolutionsfähige ›Nachkommen‹ werden produzieren können. Mit ihrem rein funktionellen Verständnis von ›Leben‹, das sie mit den AutopoiesisTheoretikern teilen, stehen sie dem lebensweltlich-phänomenologischen Zugang diametral entgegen, da sie das Maximum an Abstraktion von konkreter Materialität, folglich auch von Leiblichkeit, anstreben. Die Philosophien der Leiblichkeit 6 und das ›starke‹ KL sind also zwei Pole, die weit außerhalb der Grenzen stehen, innerhalb dieser sich gegenwärtig der Großteil der universitär etablierten bioNeben der Phänomenologie sind diesbezüglich auch lebens- und prozessphilosophische Entwürfe relevant.
6
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Leben als zweckmäßiges und anti-entropisches Werden
wissenschaftlichen Diskussion über die Bedeutung des Ausdrucks ›Leben‹ abspielt. Allerdings bleibt, unabhängig davon, wie man ›Leben‹ zu bestimmen sucht und innerhalb welcher Grenzen dies geschehen soll, eine gewisse Unbestimmtheit der Bedeutung dieses Begriffes bestehen, da sie offenbar diesem essentiell ist. Vielmehr scheint das Konzept des Lebens gerade aus der Unschärfe seiner Ränder, die eine einzige genau umrissene und endgültige Definition unmöglich macht, seine für die Biologie wichtige integrative Funktion zu beziehen. 7 Dem biologischen Lebensbegriff kommt also wesenhaft eine Unschärfe zu, weil die sich verschiedenen Gegenstände, die unter seinen möglichen Bedeutungen fallen, dem vollkommenen theoretischen oder experimentellen Zugriff entziehen. 8 Dass es überdies nicht möglich ist, im Rahmen wissenschaftlicher, philosophischer oder theologischer Metadiskurse endgültig zu klären, inwiefern, geschweige warum, sie sich entziehen, gehört zum Wesenskern dieser Unverfügbarkeit – es macht sie gerade aus. Polar zur lebensweltlich vermittelten Verstehbarkeit scheint also dem Leben eine gewisse Unerklärbarkeit eigen zu sein, die mit den Mitteln verschiedener rationaler Diskurse unaufhebbar ist.
1.1 Die Begriffe ›Organismus‹ und ›Lebewesen‹ Neben dem Begriff ›Leben‹ sind auch die Begriffe ›Organismus‹ und ›Lebewesen‹ biologische Basisausdrücke, obwohl Molekularbiologen noch bis vor wenigen Jahren sogar den Untergang des OrganismusBegriffs prophezeiten. Die Genomforschung würde ihn überflüssig Toepfer bringt dies treffend auf den Punkt: »Es ist gerade die Offenheit des Konzeptes innerhalb der Biologie und über sie hinaus, die wesentlich seine Funktion bestimmt: Der Begriff verspricht einerseits die Möglichkeit des Anschlusses an die naturwissenschaftliche Forschung und er betont andererseits die Ganzheit und Unverfügbarkeit des Gegenstands« (2005b, 159; Hervorhebungen von S. K.). 8 Ein besonderer aber keineswegs einziger Ausdruck experimentellen Sich-Entziehens ist die von Niels Bohr hervorgehobene Tatsache, dass jedes Lebewesen von einer besonders genauen Messung seiner gesamten physikalischen Zusammensetzung zu einem Zeitpunkt getötet wird (1990, 44) (vgl. auch: Heitler 1990, 201–207; Heisenberg 1990, 58 f.; Elsasser 1990, 227). Vertreter des ›starken‹ KL, die Leben rein funktionell und folglich von biochemischer Materialität unabhängig definieren, würden keine solche Grenze akzeptieren – zumindest solange ihre hypothetischen Automaten nicht auf quantenphysikalischer Ebene funktionieren. 7
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I · Über das Wesen und die Geschichte des Organismus-Begriffs
machen, hieß es häufig. Dies hat sich jedoch nicht bewahrheitet. Im Gegenteil, die Verkomplizierung des Gen-Begriffs in den letzten Jahrzehnten hat das Ende der Herrschaft der gen-zentrierten Biologie eingeläutet, die auf dem Boden einfacherer Vorstellungen von Genen gewachsen ist. 9 Neuere Ergebnisse der Ontogenese-, Kognitions- und Verhaltensforschung haben den Organismus-Begriff wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt und auch mehrere Evolutionsbiologen reden nicht nur von Populationen und Arten, sondern auch von Organismen, und zwar als Faktoren der gezielten Variation der Umwelt, 10 sodass sich eine Renaissance dieses Begriffes verzeichnen lässt. Die alte Einsicht, dass Organismen die elementaren Einheiten des Lebens sind, taucht allmählich wieder aus der Verdrängung auf. 11 Insofern ist es nicht überraschend, dass fast jedes deutsche philosophische Wörterbuch neben dem Lebens- auch dem OrganismusBegriff große Aufmerksamkeit widmet. Aber nach der Bedeutung des Ausdrucks ›Lebewesen‹ sucht man oft vergeblich. Dies könnte mit dem weitverbreiteten Vorurteil zusammenhängen, dass dieser Begriff in den beiden anderen, und vor allem in dem des Organismus, restlos Peter Beurton beschreibt die wichtigsten Stationen des Übergangs vom »Zeitalter des unproblematischen Gens«, der »›golden age‹ der Genetik«, zur heutigen Kompliziertheit des Gen-Begriffs (2005, 198–206). Der bekannte Mikrobiologe James Shapiro liefert interessante Einsichten in das Vermögen von Organismen, ihr eigenes Genom umzustrukturieren (2011). Der Pionier der Systembiologie Denis Noble sagt explizit, dass der Organismus die DNS benutzt, um den Phänotypus zu erzeugen und betont die aktive Rolle der Zelle bei der Expression des Genoms (2008, 3003, 3008). Ähnliches stellt auch der bekannte Philosoph der Biologie Peter GodfreySmith fest (2014, 93). Siehe auch: Beurton 1998, 91 ff.; Beurton, Falk, Rheinberger 2000; Gray 1992; Fischer 1989, 19. 10 Der einflussreiche Biologe Richard Lewontin kritisiert die ›Metapher‹, wie er sie nennt, der Anpassung der Organismen an ihre Umwelt und führt aus, inwiefern die Konstruktion von Umwelten durch Organismen ein wichtiger evolutiver Faktor ist (2002, 46–56). Die Protagonisten der »Theorie der Entwicklungssysteme« (Developmental Systems Theory bzw. DST) Susan Oyama, Paul Griffiths und Russell Gray unterstützen diese Vorstellungen in ihrem einflussreichen Buch Cycles of Contingency (2001, 6). Dort wird auch die Vorstellung der ökologischen Vererbung und der Evolution von organismischen Umwelten vertreten (Laland et al. 2001, 118–125). Dem bekannten Biologen und Zoologen Patrick Bateson zufolge verändern die Organismen ihre Umwelt auf eine Weise, die die Evolution ihrer Nachfahren beeinflusst (2014, 270). 11 Noble sagt: »We must shift our focus away from the gene as the unit of selection to that of the whole organism« (2008, 3012). Ähnliches vertritt auch Karola Stotz (2005a, 133). Für eine ausführlichere Diskussion dieser Idee siehe: Laubichler 2005a, 119–122. 9
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aufgeht. Schon eine flüchtige Kenntnis der Geschichte der Biologie deckt allerdings diesen Fehler sofort auf. Denn der Beginn des organismischen Verständnisses im Abendland kann erst den Vorsokratikern und nach ihnen hauptsächlich Hippokrates und Aristoteles zugesprochen werden. Das Wort ›Organismus‹ entsteht erst im 18. Jahrhundert als ein wissenschaftlich reflektierter Begriff. Beide Entwicklungen wären aber ohne ein vorwissenschaftliches, lebensweltlich vermitteltes Vorverständnis vom lebendigen Individuum undenkbar. Dieses schlägt sich im Begriff ›Lebewesen‹ nieder. Die Verwandtschaft und den sensiblen Unterschied der beiden Ausdrücke bringt Marianne Schark treffend auf den Punkt: »Es besteht lediglich Extensionsgleichheit, keine Intensionsgleichheit« (Schark 2005, 175), d. h., dass wir zwar mit diesen Ausdrücken stets auf dieselben physischen Entitäten verweisen, ohne jedoch dieselben Aspekte zu meinen: »Der Begriff des Lebewesens ist v. a. der eines einfachen Einzelwesens, dem als Ganzem und Einfachem bestimmte Vermögen und Tätigkeiten zugesprochen werden, während der Organismusbegriff primär für eine Art von in spezifischer Weise strukturierten oder gegliederten Körpern steht« (ebenda).
Mit Frege gesprochen: Die Begriffe ›Lebewesen‹ und ›Organismus‹ haben dieselbe Bedeutung, aber einen verschiedenen Sinn (1966a, 41 ff.). Der lebensweltlich erworbene Begriff des Lebewesens ist grundlegender als der des Organismus, da letzterer einen wissenschaftlichen Begriff darstellt, während ersterer »der vorwissenschaftliche Begriff ist, der die Kategorien von Wesen angibt, deren Entwicklung, Verhalten und Aufbau die Wissenschaft der Biologie erforscht« (Schark 2005, 175). Für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung, die aus einer ontologischen Perspektive nach der Prozessualität des Lebendigen fragt, sind der metaphysische und der biowissenschaftliche Zugang von zentraler Bedeutung, nicht jedoch der phänomenologische, sodass hier lediglich der organismische Aspekt der Lebewesen interessant ist. Aus diesem Grund ist hier allein die Extensionsgleichheit beider Begriffe von Bedeutung. Im Folgenden werden also die Begriffe ›Organismus‹ und ›Lebewesen‹ als Synonyme eingesetzt, weil im Hintergrund immer ontologisch und nicht lebensweltlich nach der Natur ihrer Elemente gefragt wird, auch wenn dies nicht explizit thematisiert wird. Allerdings wird jeder, der nach einer scharf umrissenen Defini51 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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tion des biologischen Organismus-Begriffes sucht, schnell enttäuscht sein. Dies kann nicht mit dem bis heute anhaltenden Antagonismus zwischen zwei prinzipiell verschiedenen Wegen der Biologen, Organismen zu begreifen, begründet werden. 12 Genauso wenig kann dies auf die heute noch stark nachwirkende Organismus-Vergessenheit der genzentrierten Molekularbiologie zurückgeführt werden. Dieser Mangel korreliert mit der auf dem Boden einer um sich greifenden Theorie-Feindlichkeit rapide wachsenden Datenflut innerhalb der modernen Biologie. Der Glaube vieler Forscher, dass der Organismus-Begriff erst dann präzise formuliert werden kann, wenn vielleicht irgendwann ausreichend empirisches Wissen zusammengetragen sein wird, ist eine beachtenswerte Illusion. 13 Denn dieser Glaube widerspiegelt nichts weniger als eine Art und Weise, mit der grundsätzlichen Unverfügbarkeit des Lebendigen, die sich auf alle seine Basisausdrücke in den Biowissenschaften niederschlägt, umzugehen: Seine theoretische Durchdringung und praktische Beherrschung wird für eine ferne Zukunft versprochen. Diese Illusion wächst natürlich aus einer besonderen Geisteshaltung heraus, die den ›empirischen Fakten‹ eindeutig das Primat über die Theorie in den Biowissenschaften zuspricht. Im Schatten der gegenwärtig propagierten ›big data‹-Biologie müssen theoretische Überlegungen zum Organismus-Begriff als reiner Zeitverlust erscheinen. Diese computer-zentrierte ›Biologie‹ scheint jedoch in ein viel beklagtes hoffnungsloses Erschlagen-Werden der Forscher unter einer Unmenge von nicht interpretierbaren ›Fakten‹ und ›Daten‹ zu kulminieren. Die altbewährte Einsicht, dass eine Wissenschaft ohne ein theoretisches Vorverständnis blind ist, bewahrheitet sich auf eine traurige Weise. Wir sind also aufgefordert, ohne die gewaltige Dimension und die enorme Herausforderung dieses Unterfangens zu verdrängen, den Kampf an der uralten Front der Organismus-Theorie mit neuen Mitteln erneut aufzunehmen. Im letzten Kapitel der vorliegenden Untersuchung wird der Versuch einer metaphysischen Definition des Organismus unternommen. Dies wird vor dem Hintergrund der Grenzen des systemtheoretischen Denkens und auf der Gemeint sind hier die funktionalistische und die strukturalistische Betrachtungsweise, die sich spätestens 1830 mit dem Streit zwischen Georges Cuvier und Étienne Geoffroy Saint-Hilaire in der Pariser Akademie als zwei verschiedene Wege herauskristallisiert haben. 13 Peter Janich und Michael Weingarten äußern sich ebenfalls kritisch dazu (1999, 113 f.). 12
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Basis eines eigens zu diesem Zweck entwickelten Prozess-Begriffes in Angriff genommen.
1.2 Eigenschaften der Organismen Bei aller Unschärfe dieses Begriffs kann man annähernd, und für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung ausreichend, sagen, dass für die moderne Biologie eine physische Entität erst dann als ›Lebewesen‹ oder als ›Organismus‹ zu bezeichnen ist, wenn sie mehrere Eigenschaften gemeinsam aufweist, da mehrere von ihnen, manchmal sogar miteinander kombiniert, auch bei anorganischen Entitäten anzutreffen sind. Die Beschreibung des Organismus-Begriffs durch Eigenschaftslisten geht auf Aristoteles zurück und ist heute noch weit verbreitet. Dieser Tradition folgend, soll an dieser Stelle nicht eine Definition von ›Organismus‹ versucht werden, sondern lediglich eine allgemeine Umschreibung der Phänomenalität des Lebendigen, um dieses ein- und abzugrenzen. Die folgende Auflistung von aus heutiger Sicht essentiellen Eigenschaften von Lebewesen kann erweitert werden. Denn, wie uns der einflussreiche Philosoph der Biologie John Dupré warnt, »something as complicated as an organism [is] a paradigmatic instance of the kind of entity that is open to multiple possible descriptions« (2014, 307; Einfügung von S. K.). 1.2.a
Selbsterhaltung und Selbsterzeugung
Von Selbsterhaltung und Selbsterzeugung einer physischen Entität kann erst dann die Rede sein, wenn energetische und stoffliche Flüsse vorhanden sind – was häufig von den Termini ›offenes System‹ und ›Fließgleichgewicht‹ umschrieben wird –, die allerdings von der Entität selber geregelt sein müssen, sodass sie sich selbst die Erhaltung, Wiederherstellung oder langsame Veränderung ihrer eigenen Struktur ermöglicht. Es lassen sich folgende Momente dieser Eigenschaft unterscheiden: 1.2.a.1 Metabolismus Jedes Lebewesen ist darauf angewiesen, Stoffe und Energie aus seiner Umwelt gezielt zu importieren, um mittels des Abbaus und der energetischen Entwertung dieser Stoffe (Katabolismus) seine eigenen Elemente zu synthetisieren (Anabolismus). Zum Stoffwechsel eines 53 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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Lebewesens gehört auch die Abgabe der für ihn nicht weiter verwertbaren Stoffe und Energie an die Umwelt in Form von Ausscheidungen und Wärme. Organismen sind die einzigen physischen Ganzheiten, die im Wechsel ihrer Bestandteile ihre Form selbsttätig bilden und erhalten können. Die vom Organismus nach innen und nach außen ausbalancierten energetisch-stofflichen Flüsse ermöglichen ihm, sich der entropischen Degeneration zu widersetzen. So gelingt es ihm, getragen von diesem während seines gesamten Lebens ununterbrochenen Austauschs seiner Materie, seine Individualität zu bewahren. 14 Aus diesem Grund sehen viele Biologen und Philosophen im Metabolismus das Kernmerkmal aller Organismen. 1.2.a.2 Räumliche Selbstbegrenzungen Die gezielte Aufnahme und Abgabe von Stoffen und Energie ist notwendigerweise an die Existenz eines hochspezifisch durchlässigen Randes gebunden, der zugleich den innerorganismischen Vorgängen Raum und die nötige Abgrenzung von der Umwelt anbietet. Lebewesen erzeugen selber diese in beiden Richtungen selektiv durchlässige Grenze und regeln ihre Durchlässigkeit. Schon eukaryotische Zellen benötigen jedoch für ihren Metabolismus neben einer flexiblen und semipermeablen äußeren Biomembran auch innere Membrane, die ihre Organellen voneinander durchlässig abgrenzen. Die Schaffung ganzer Hierarchien innerer Umwelten durch innerorganismische Ränder ist typisch für vielzellige Lebewesen. Viele Biologen sind sich dessen sicher, dass geschlossene Membrane noch vor den Proteinen und den Nukleinsäuren in der Abfolge der Lebensentwicklung entstanden sind. Die Lebensfähigkeit verlangt aber auch nach einer Limitierung des Bereiches, in dem sich die Größe der organismischen Außengrenzen bewegen darf. Die Aufnahme und Verarbeitung von Umweltstoffen setzt eine Mindestgröße des Organismus voraus, die bei den kleinsten Bakterien um 0,5.10 –6 m liegt. Andererseits haben die größten bekannten Lebewesen, die Mammutbäume, eine oberste Wachstumsgrenze von ca. 110 Metern. 1.2.a.3 Geordnete Formveränderung und Beweglichkeit Die Aufrechterhaltung des Metabolismus setzt bei allen Lebewesen ein Mindestmaß an inner- und außerorganismischer Beweglichkeit Um nur ein Beispiel zu nennen: Jedes Jahr werden 98 Prozent der in einem menschlichen Körper vorhandenen Atome ausgetauscht.
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voraus und führt selbst bei Pflanzen zur Änderung ihrer Orientierung im Raum. Innerzelluläre Beweglichkeit macht die mitotische Zellteilung eukaryotischer Zellen möglich und ist für ihren Metabolismus unabdingbar, da dieser einen gerichteten Stofftransport benötigt. So lassen sich bei Tier- und Pflanzenzellen gerichtete regelmäßige Bewegungen von Mitochondrien, Chloroplasten und anderen membranumhüllten Organellen und Vesikeln, die verhältnismäßig große innerzelluläre Distanzen überbrücken, beobachten. Mehrzellige Lebewesen machen eine Phase der Reifung zum adulten Organismus durch, die, vor allem bei geschlechtlicher Fortpflanzung, von intensiver Formverwandlung begleitet ist. Besonders markant für die Morphogenese der tierischen Embryonalentwicklung ist, dass sie durch verschiedene Arten von hochgradig koordinierten und massiven kollektiven Zellwanderungen hervorgebracht wird, womit die Beweglichkeit der Tiere von ihrer Embryogenese innerorganismisch vorweggenommen wird. Ähnlich dramatisch verlief in der Evolution die Veränderung der phänotypischen Form der meisten Arten und ihre Ausbreitung über die Erde. 1.2.a.4 Selbstregulierte hierarchische Organisation Bestimmte materielle Komponenten des Lebewesens befinden sich permanent in einem Verhältnis des gegenseitigen Interagierens, das ihre Wirkungen aufeinander bestimmt und ihre Weiterexistenz ermöglicht. Sie sind seine Organe, und die Struktur ihrer räumlichen und funktionalen Beziehungen zueinander ist die Organisation des Lebewesens, die mit dem Terminus ›Organismus‹ angesprochen wird. Die Eigentümlichkeit dieser Organisation besteht in einer hierarchischen Ordnung, die selektiv durchlässig ist, sodass ein Geflecht transhierarchischer Bindungen vorhanden ist. Vielzellige Lebewesen wachsen durch innerorganismische Randbildungen zu selektiv durchlässigen räumlichen Hierarchien innerer Umwelten heran. 1.2.a.5 Verletzbarkeit und Regenerationsfähigkeit Es ist gerade diese Angewiesenheit der organismischen Selbsterhaltung auf eine bestimmte Organisation, die Lebewesen verletzbar macht – eine Eigenschaft, die nur einem Leib und keinem bloßen Körper zugesprochen werden kann. Lebewesen sind durch ihre außerund innerorganismische Interaktionen permanent Verletzungen, wenn auch meistens sehr feinen, ausgesetzt und würden schnell zu-
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grunde gehen, wenn sie nicht, kraft ihres Metabolismus, vermögen würden, sich selbstregulativ zu regenerieren. 1.2.b
Verschiedene Formen der Vermehrung
Alle Lebewesen, auch die nicht fortpflanzungsfähigen, haben etwas mit Vermehrung zu tun. In jedem höheren Organismus sind während seines gesamten Lebens stets einige weniger differenzierte vermehrungsfähige Zellen vorhanden. Die Embryogenese präsentiert sich als eine Symphonie der Heterogenisierung durch sich permanent gegenseitig regulierende Vermehrungen verschiedener Zellarten. Viele Arten, deren Komplexität die des Reiches der Bakterien deutlich überwunden hat, besitzen das Vermögen der Vermehrung durch geschlechtliche Fortpflanzung, das den Elternteilen erlaubt, Nachkommen zu produzieren, ohne selbst in ihnen aufzugehen, wie dies bei der Zellteilung der Fall ist. Bakterien vermehren sich durch Teilung, was auch der Selbstbegrenzung des vom Metabolismus verursachten Wachstums dient, um das Platzen ihrer Membran und somit den Tod zu vermeiden. 1.2.c
Beziehung zu anderen Organismen und Evolutionsfähigkeit
Jedes Lebewesen steht in verschiedenen Relationen zu leblosen Entitäten und zu anderen Lebewesen, die oft ein antagonistisches Verhältnis zu ihm haben. Dies führt, in Verbindung mit der permanenten Generierung neuer Vertreter einer Art, langfristig zur evolutiven Veränderung dieser, sodass jeder heute existierende Organismus das Produkt einer mehr als dreieinhalb Milliarden Jahre anhaltenden Evolution ist. Immer mehr Biologen stimmen darin überein, dass der Antriebsmotor der Evolution in der kreativen Auseinandersetzung der Lebewesen mit ihrer Umwelt und der selbstregulierten Interaktion mit den physischen Veränderungen in ihrem Inneren, zu denen auch die Mutationen gehören, besteht. Notwendige Bedingung für das Überleben des Organismus und seinen positiven Beitrag zur Erhaltung der Art ist nicht die Anpassung an die Umwelt, sondern das bloße Passen zu ihr, das eine gewisse Variationsbreite hat.
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1.2.d
Erregbarkeit
Organismen haben das Vermögen, von speziellen äußeren und inneren Gegebenheiten erregt zu werden. Erregbarkeit ist nicht nur für die gezielte Suche und Aufnahme der benötigten Stoffe bzw. Energien unerlässlich, sondern bei Vielzellern auch für die innerorganismische bzw. interzelluläre Kommunikation, auf der die Regulation der Selbsterhaltung, des Wachstums und der Embryogenese beruht. Organismen vermögen spezielle, oft besonders schwache Gegebenheiten ihrer äußeren und inneren Welt als Zeichen zu identifizieren, sie in ihr eigenes Werden zu integrieren und eventuell ihnen eine, verglichen zu ihrer Intensität, besonders starke Wirkung zu verleihen. Sie sind also hochgradig leistungsfähige Verstärker und zwar sowohl bezüglich der Selektion dessen, was verstärkt wird, als auch bezüglich des Ausmaßes, das die Verstärkung annimmt. So vermögen z. B. viele Menschen aus nur drei Photonen eine optische Wahrnehmung zu realisieren, die zu makrophysikalischen Wirkungen führen kann. 1.2.e
Besondere materielle Zusammensetzung
Alle Lebewesen bestehen, aus heutiger Sicht, vor allem aus Proteinen, Nukleinsäuren, Kohlenhydraten, Fetten und Wasser. Dies könnte zukünftig revidiert werden, wenn es der Exobiologie tatsächlich gelingen sollte, einen nicht nur rein theoretischen Gegenstandsbereich zu finden. Einen solchen hat auch das Projekt ›Künstliches Leben‹. Anders als bei den Exobiologen herrscht aber hier zufriedene Selbstgenügsamkeit. Denn die Vertreter des KL, vor allem die des ›starken‹ Projekts, sehen das Wesen des Lebendigen in einer reinen Relationalität, ausschließlich systemischen Charakters, die von konkreten materiellen Trägern vollständig abstrahierbar ist, da sie ›multipel realisierbar‹ sei. Lebewesen – die nichts als sich selbst erhaltende, regenerierende und reproduzierende ›Systeme‹ seien – könnten aus verschiedensten Materialien beschaffen sein, oder auch gänzlich auf solche verzichten, sodass sie nichts mehr als absolut unkörperliche emergente Gesamtdynamiken miteinander interagierender Computerprogramme zu sein bräuchten … Eins der Hauptziele der vorliegenden Untersuchung ist, solchen Tendenzen widersprechend, für die konkret-individuelle Subjektivität aller Lebewesen einzutreten (Kap. III, IV und V), die eines kon57 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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kreten materiellen Ausdrucks bedarf, da sie keine abstrakt-universelle Idealität ist. Das Erleben ist nicht ›multipel realisierbar‹, sondern unlösbar an ganz bestimmte Formen von Materialität gebunden. 1.2.f
Sterblichkeit aller und zeitliche Selbstbegrenzung einiger Lebewesen: Tod
Alle Lebewesen sind sterblich, wenn darunter verstanden wird, dass sie sterben können. Vielzellige Lebewesen müssen sterben – mit einer einzigen Ausnahme: der Hydra – und das tun darin auch einzelne Zellen während ihrer Ontogenese, was ›Apoptose‹ genannt wird. Die Apoptose dient der Morphogenese des Embryos und der Erhaltung des erwachsenen Organismus. Das Altern scheint nicht nur ein Resultat von Abnutzungen zu sein, sondern etwas, das zum Wesen des betroffenen Lebewesens gehört und zumindest zu einem großen Teil seiner Genetik unterliegt. Deshalb ist der Tod durch Alterung ein Vermögen: Die Fähigkeit, die anderen Vermögen des Lebendigen zu beenden. Dieses Vermögen entstand aber erst vor ca. anderthalb Milliarden Jahren, d. h. nach mehr als zwei Milliarden Jahren Evolution im Zusammenhang mit der Entwicklung der geschlechtlichen Fortpflanzung und kommt den bakteriellen Organismen und den eukaryotischen Einzellern nicht zu. Der Tod des Vielzellers dient der Evolution seiner Art und somit mittelbar auch der Evolution anderer Arten, weil er für neue und veränderte Individuen Platz und Ressourcen für ihre Bewährung frei macht. Sollte es jemals gelingen, die gesamte Biosphäre als einen Organismus überzeugend zu erfassen, würde vielleicht auch das Aussterben verschiedener Arten, bevor der Mensch zu einem massiven biosphärischen Faktor wurde, in einem völlig neuen Licht erscheinen, anstatt z. B. auf Meteoriteneinschläge zurückgeführt zu werden.
1.3 Zum Wesen der organismischen Ordnung Ausgehend von den eben beschriebenen Merkmalen organismischen Seins kann der Versuch unternommen werden, etwas der Koexistenz all dieser Eigenschaften bzw. Vermögen in einer physischen Ganzheit zugrunde zu legen. Ist etwas denkbar, das als notwendige Bedingung des gemeinsamen Auftretens der oben aufgeführten Merkmale (nicht also jedes einzelnen von ihnen) gelten könnte, das nur bei Organis58 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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men vorkommt? Dabei kann es sich jedoch nur um eine erste vorläufige Erfassung von dem handeln, was Lebewesen unverwechselbar macht, das der Rekapitulation einiger historischer Stationen des Denkens vom Organismus und überhaupt der Einführung in die Thematik als Leitlinie dienen kann. 1.3.a
Zweckmäßigkeit als durchgehende innere Kohärenz – jenseits kausaler Dualismen 15
Dank unserer eigenen Lebendigkeit wissen wir intuitiv etwas, das jeden Organismus charakterisiert, das als ›durchgehende innere Kohärenz‹ bezeichnet werden kann. Der Organismus-Begriff ist das Synonym für eine dynamisch geordnete Ganzheit, die aus einer Mannigfaltigkeit zusammenwirkender Teile besteht, die hochgradig aufeinander angepasst sind. Aus diesem Grund werden auch einige hochgradig ausgereifte psychologische, künstlerische, soziale, ökonomische, wissenschaftliche und philosophische Gebilde im übertragenen Sinne als Organismen bezeichnet. Die biologischen Organismen sind jedoch, unter den uns sinnlich gegebenen Seienden, diejenigen Ganzheiten, die den höchsten Grad an kausaler Kohärenz aufweisen, denn sie haben räumlich und zeitlich aufs Engste sich gegenseitig hervorbringende Teile und Funktionen – und zwar durchgehend, d. h. von der Ebene des Gesamtorganismus bis in die Ebene der mikrophysikalischen Vorgänge. Das ist selbst für nanotechnologische Maschinen unerreichbar, denn sie besitzen, mit Kant gesprochen, nur »bewegende«, aber keine »bildende Kraft« (1994, 322 (§ 65)). ›Durchgehende innere Kohärenz‹ oder einfach ›innere Kohärenz‹ des Organismus kann als ein anderer Ausdruck für ›Zweckmäßigkeit‹ eingesetzt werden. Dieser außerordentlich zentrale Begriff der Biologie verweist nicht notwendig auf Resultate intentional gerichteter Aktivitäten. Er kann genauso gut nur darauf referieren, dass die Funktionen und Vorgänge von Organismen, durch alle makro- und mikroskopischen Ebenen ihrer Materialität hindurch, sehr gut aufeinander angepasst sind, ohne nach den Gründen dieser Tatsache zu fragen. Davon ausgehend ist der Ausdruck ›durchgehende innere Kohärenz‹, der insbesondere die Verflechtung der Ebenen berücksichtigt Wesentliche Anregungen zum Schreiben dieses Abschnitts verdanke ich dem Biomathematiker Rainer Schimming.
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(darauf verweist das Adjektiv ›durchgehende‹), eine ›technischere‹ Bezeichnung der Zweckmäßigkeit des Organismus. Dieser Ausdruck lässt offen, welcher Natur die Ursache der Kohärenz ist und bewahrt somit die zu Beginn der Reflexion angebrachte metaphysische Neutralität. Ein anschauliches Beispiel innerer Kohärenz ist, dass ein Tier nicht von seinen Beinen bewegt wird wie ein Fahrzeug von seinen Rädern. Es ist immer der ganze Organismus, bis auf der mikrophysikalischen Ebene der in den Muskeln stattfindenden Bewegungen von Molekülen, der die makroskopische Bewegung unterstützt. Das trifft für ein Fahrzeug und selbst für einen laufenden Roboter nicht zu, denn beide technischen Systeme bestehen aus vielen starren Teilen, die nichts zur Bewegung beitragen. Ein anderes Beispiel ist die unauflösbare Verflechtung des Metabolismus der Zelle und der Aktivität ihrer Membrane: Die selektive Durchlässigkeit der inneren und äußeren Membrane erlaubt der Zelle, ihren Stoffwechsel zu regulieren, der seinerseits in die permanente Reproduktion der auf- und abgebauten Membrane (›Membranfluss‹) einbezogen ist. Anders als ein technisches System tut ein Organismus immer als ganzer etwas. Die materielle Struktur des Organismus einerseits und seine Stoff- und Energiegewinnung, Stoff- und Energietransformation und -weiterleitung andererseits sind dermaßen miteinander verflochten, dass sich keine durchgehende Trennung von verursachenden und verursachten Vorgängen denken lässt. Denn das Resultat jedes innerorganismischen Vorgangs, sein Output, dient als Input, als Ursache für andere Vorgänge. Jedes Lebewesen ist ein extrem verflochtenes Netz von zweckmäßig sich gegenseitig bedingenden Faktoren. Aus diesem Grund lässt sich in einem Organismus keine zentrale materielle Ursache seiner Dynamik finden, die ein ›zentrifugal‹ organisierendes Zentrum seiner materiellen Beschaffenheit ist. Dies besagt z. B. die These der ›kausalen Gleichheit‹ bzw. ›kausalen Parität‹ innerhalb der Theorie der Entwicklungssysteme (Developmental Systems Theory bzw. DST) – einer der einflussreichsten Strömungen der gegenwärtigen Philosophie der Biologie – bezüglich der Relevanz einer gewaltigen Menge kausal gleichwertiger Entwicklungsfaktoren bei der Embryogenese eines Individuums (Oyama et al. 2001, 2 ff.). 16 Immer mehr Biologen verlassen die alte Vorstellung, die den Genen die Rolle eines Programms zuweist, das die Organisation des restli16
Vgl. auch: Stotz 2005a, 127.
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chen Lebewesens regelt. Neuere Erkenntnisse über die Natur der Gene und ihre hochgradige Angewiesenheit auf den restlichen Organismus, um überhaupt als Gene konstituiert und aktiviert zu werden, 17 belegen, dass frühere Annahmen, die in den Organismen so etwas wie eine Trennung zwischen ›Hardware‹ und ›Software‹ sahen, inzwischen dem weiteren Verständnis des Lebendigen im Wege stehen. Denn aus der hochgradig kohärenten Verflochtenheit aller organismischen Vorgänge resultiert die Notwendigkeit der Überwindung der Trennung zwischen Dynamik und Statik, die für Maschinen und für viele physikalische Systeme typisch ist. Die organismische Dynamik ist zwar ohne materielle Beschaffenheit nicht möglich, aber letztere ist nicht im Geringsten statisch, sondern bis auf die Ebene der Atome Resultat der Dynamik, denn Organismen sind instabile Ganzheiten, die pausenlos mittels ihrer eigenen Dynamik regeneriert werden müssen. Die Kontinuität der Dynamik ist hier notwendige Bedingung für die materielle Weiterexistenz. Maschinen können auch ausgeschaltet werden, ohne ihre Struktur zu verlieren; eine solche Trennung von Struktur und Funktion ist bei Organismen – zumindest nach einer sehr frühen Phase der Embryonalentwicklung – nicht denkbar. 18 Ein besonderes Charakteristikum des organismischen Werdens ist also das Fehlen von kausalen Trennungen, die für die Funktionsfähigkeit von Maschinen unverzichtbar sind. Die Anwesenheit von einigen nicht mehr lebenden Teilen an einem Organismus widerspricht nicht der durchgehenden funktionalen Kohärenz letzteres, sondern unterstreicht sie sogar, weil sie vom Organismus nicht schicksalhaft erlitten wird, sondern seine Leistung ist. 19 In dieser Beschreibung organismischer Zweckmäßigkeit wurde der Begriff der ›genetischen Information‹ vermieden. Dafür gibt es einige triftige Gründe: Im letzten Jahrzehnt ist im Zuge der DistanSiehe Fußnote 9 dieses Kapitels. Ludwig von Bertalanffy bringt diese Tatsache wie folgt auf den Punkt: »Der Gegensatz von Struktur und Funktion, Morphologie und Physiologie beruht auf einer statischen Auffassung des Organismus. Bei einer Maschine ist zunächst ein festes Gebilde da, das in Bewegung gesetzt, aber auch in Ruhe befindlich sein kann […]. Nicht jedoch gilt diese Trennung zwischen vorgegebener Struktur und an ihr folgendem Ablauf für den lebenden Organismus« (1990, 128). 19 Abgestorbene Hornhaut haftet nicht an dem menschlichen Organismus, sondern er hält sie aktiv an sich, weil sie ihm nützlich ist. Verkrustetes abgestorbenes Blut behält der Organismus an seiner Oberfläche, solange diese sich regeneriert (um es dann abzustoßen), so wie das lebendige Zahnfleisch einen Zahn, dessen Wurzel entfernt wurde, festhält. 17 18
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zierung von der mathematischen Informationstheorie eine wachsende Unklarheit der Bedeutung dieses Begriffs zu verzeichnen. In der Biologie hat dies zu einer noch lange nicht entschiedenen Debatte geführt, die sich innerhalb eines breiten Spektrums von Positionen abspielt, an dessen einem Ende das Festhalten an der Vorstellung von Genen als Instruktoren des organismischen Phänotypus und an dessen anderem Ende die Degradation der Idee der genetischen Information zu einer nicht ernst zu nehmenden Metapher stehen. 20 Gegenwärtig ist es also nicht klar, ob die Unterscheidung zwischen ›informierenden‹ und ›informierten‹ Bestandteilen eines Organismus überhaupt Sinn macht oder ob vielmehr die gesamte organismische Struktur der sich selbst formende Faktor ist. Davon abgesehen bleibt die Rede von ›Information‹ nach wie vor mit mentalistischen Vorstellungen wie ›Kodierung‹, ›Zeichen‹, ›Instruktion‹ und ›Repräsentation‹ verbunden. Das wirft die Frage auf, wer den Phänotypus des Organismus in sich repräsentiert: der Forscher oder vielleicht sogar der Organismus selbst? Mit anderen Worten: Wer ist das Subjekt, das die ›genetische Information‹ (was auch immer sie ist) in eine materielle Struktur und Dynamik ›übersetzt‹ ? Die Vorstellung, der Interpret der ›genetischen Information‹ könnte der Organismus selbst sein – und zwar in einem ernst gemeinten Sinne, der Organismen als semiotisch operierende Subjekte versteht, ist für das Weltbild beinah aller Biologen und der meisten Philosophen der Biologie, das als ›szientistischer Materialismus‹ bezeichnet werden kann, 21 unannehmbar. Abgesehen von den ernsthaften Schwierigkeiten dieser Version des Materialismus – z. B. bei der Einschätzung der physischen Relevanz mentaler Aktivität bei der Genese tierischer Embryonen 22 –, die Begrenzung des Verständnisses von Für eine Übersicht der aktuellen Diskussion vgl.: Stegmann 2005. Siehe Abschn. 1 von Kap. II. 22 Das Nervensystem tierischer Embryonen ist nicht erst am Ende seiner Morphogenese neuronal aktiv, als wäre es ein Computer, der erst nach seiner Montage eingeschaltet werden kann. Neuere Erkenntnisse sprechen für die morphogenetische Wirksamkeit der neuronalen Aktivität des noch unreifen Nervensystems von Embryonen (Reiprich 2002, 18–25). Wenn es also in einem menschlichen Embryo ein elektrophysiologisch aktives Nervensystem gibt, dessen Aktivität seine weitere Morphogenese beeinflusst, warum sollte nicht angenommen werden dürfen, dass die mit dieser physischen Aktivität korrelierende mentale Tätigkeit, die noch so einfach sein kann, eine Vorstufe echter psychologischer Aktivität ist, die auf die genetischen Faktoren der Embryogenese wirkt? Genauer: Warum könnte das Embryo keine Erlebnisse haben, die mentale Repräsentationen seiner eigenen Leiblichkeit sind, und auf die weitere 20 21
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›Information‹ in einen engen ontologischen Rahmen, der sie zu einer Metapher degradiert, würde dem Geist der vorliegenden Untersuchung entschieden widersprechen. Andererseits würde das Zuschreiben von Subjektivität an Organismen gleich zu Beginn der Untersuchung als ein willkürlicher Schritt verstanden werden. Deshalb ist eins der zentralen Ziele der vorliegenden Untersuchung, zuerst den Übergang von der gegenwärtig vorherrschenden materialistisch-szientistischen Metaphysik der Biowissenschaften in die Prozessmetaphysik zu rechtfertigen (Kap. II) und ihn dann zu vollziehen (Kap. III, IV und V). 1.3.b
Anti-entropisches Werden und das Darwin-Clausius-Dilemma
Trotz aller Unschärfe des Lebensbegriffs und der Unverfügbarkeit seiner Referenzobjekte lässt sich auch aus der abstrakten Sicht der Theoretischen Physik ein sie alle charakterisierendes Kernvermögen angeben. Es ist aber auch unserer lebensweltlichen Erfahrung in der Form des dringlichen Befriedigens elementarster vitaler Bedürfnisse wie z. B. Luftaufnahme, Durst und Hunger gegeben. Eine essentielle Gemeinsamkeit aller Lebewesen besteht in ihrer Fähigkeit, autonom die Gegebenheiten ihrer Umwelt selektiv und zweckmäßig in ihr eigenes inneres Werden einzubeziehen, z. B., indem sie sich selbst ernähren, Photosynthese betreiben oder atmen. So gleichen sie die Degeneration ihrer materiellen Struktur aus, die, dem 1865 von Rudolph Clausius formulierten zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zufolge, notwendig stattfindet, ohne diesen Satz zu verletzen. Dieser besagt die Produktion von Entropie bei allen physikalischen Vorgängen. Entropie kann vorläufig als ein Maß für Unordnung, d. h. Unstrukturiertheit bzw. Homogenität (im Sinne von Gleichverteilung, Mangel an innerer Differenzierung) von physischen Objekten verstanden werden. 23 Sowohl die Aufrechterhaltung des Metabolismus aller Lebewesen als auch das Wachstum der inneren Ordnung bei der Embryogenese als auch die Evolution der Arten und ihrer Beziehungen zuGestaltung letzterer als epigenetischer Faktor wirken? Mentale Aktivität und Genetik wären dann nicht mehr scharf voneinander zu trennen, womit auch erstere in-formierende Relevanz hätte. 23 Für eine umfassende Analyse des Begriffs der Entropie und des zweiten Hauptsatzes siehe Abschn. 1.1.c und 1.1.d von Kap. II.
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einander in der Biosphäre haben eine große Gemeinsamkeit: Alle diese Manifestationen des Lebens zeichnen sich durch die Steigerung ihrer inneren Ordnung, d. h. Differenzierung ihrer Struktur, oder zumindest durch die Aufrechterhaltung des erreichten Strukturierungsniveaus aus – kurz: durch Erhöhung bzw. Aufrechterhaltung der Distanz vom Zustand der maximal möglichen Entropie. Sie sind also anti-entropische Vorgänge. Das wirft natürlich die Frage auf, wie das möglich sein kann, wenn biologische Vorgänge permanent Entropie produzieren müssen, da sie – so denkt jedenfalls beinah jeder Biologe seit der Mitte des 20. Jahrhunderts – nichts als eine besondere Klasse materieller Vorgänge sind, in denen nichts Immaterielles eingreift. 24 Mit der Formulierung des zweiten Hauptsatzes, nur sechs Jahre nach dem Erscheinen von Darwins The Origin of Species, entstand das sogenannte Darwin-Clausius-Dilemma, das immer klarere Konturen gewann. 25 Die in den nächsten Kapiteln zu entfaltende Diskussion konzentriert sich aus Gründen, die in der Einleitung erläutert werden, auf die ontogenetische Strukturbildung und -erhaltung; sie fokussiert, zunächst aus biophysikalischer und dann aus metaphysischer Perspektive, auf die Embryogenese und die organismische Selbsterhaltung und klammert die Evolutionsproblematik aus. Für die vorliegende Untersuchung lautet also das Darwin-ClausiusDilemma wie folgt: Wie gelingt es einem Organismus – der, insofern er der Physik unterliegt, notwendig physisch manifeste Unordnung (Entropie) produzieren muss – nicht in der eigenen Entropie zu ersticken, ja sogar progressiv Stufen höherer physischer Ordnung zu verwirklichen, sodass er schließlich relativ stabile (stationäre) Zustände niedriger Entropie erreicht und eine Zeit lang aufrechterhält? Wie können also die Gedanken von Darwin und Clausius auf einen und denselben Organismus zutreffen? 1.3.c
Sind beide Wesensmomente gleichberechtigt?
Beide Wesensmomente der organismischen Ordnung müssen eng zusammengehören, da sie sich auf dasselbe Phänomen beziehen. Man Einer der bekanntesten Verfechter dieses Denkens ist Ludwig von Bertalanffy (1972, 23). 25 Paul Glansdorff und Ilya Prigogine formulieren das Darwin-Clausius-Dilemma ausführlich (1971, 287). Vgl. auch: Bertalanffy 1990, 109. 24
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könnte zur Annahme neigen, dass die sichtbare Zweckmäßigkeit eines Organismus fundamentaler als das subtilere Moment des antientropischen Wirkens ist, sodass eventuell letzteres von dieser abgeleitet werden könnte. Ist es aber auch denkbar, ausgehend von der physikalisch basalen Vorstellung der Entropie und den inzwischen gut erkannten Bedingungen ihrer Reduktion in räumlich begrenzten Gebilden, 26 die Entstehung organismischer Zweckmäßigkeit als etwas physikalisch Erklärbares zu verstehen? Bildung innerer Kohärenz bedeutet immer Zunahme der inneren Differenzierung bzw. Strukturierung einer Ganzheit und somit Abnahme ihrer Entropie. Aus der Perspektive der Physik ist dann die Frage legitim, ob die Ursache der Entstehung organismischer Zweckmäßigkeit von den physikalischen Erklärungen der Reduktion von Entropie erfassbar ist. Kann, allgemeiner ausgedrückt, die Biologie physikalisch begründet werden? Nur naive Gläubige solcher Slogans wie »das 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert der Biologie sein, so wie das 20. das Jahrhundert der Physik war« wird es überraschen, zu hören, dass zahlreiche Physiker, Biophysiker und sogar Theoretische Biologen (die gegenwärtig in ihrer Mehrzahl Physiker, Mathematiker und Informatiker sind) Organismen, Ökosysteme und die gesamte Biosphäre als besondere physikalische Systeme und ihre Strukturbildung als einen Sonderfall physikalischer Selbstorganisation betrachten. Nicht selten stößt man in diesen Kreisen auf die hartnäckig verteidigte Überzeugung, dass es sich beim Leben lediglich um einen Mechanismus der Erhöhung der Entropieproduktion handle. Es diene also der Beschleunigung des Abbaus von Gradienten hochwertiger Energie auf der Erde und, falls es sich um ein kosmisches Phänomen handelt, im gesamten Universum. Auf diese Reduktion des Lebens auf einen Energieentwerter wird im nächsten Kapitel eingegangen. Hier soll der Hinweis genügen, dass die Kritik solcher physikalistischer Positionen einer der Hauptgründe des Verfassens der vorliegenden Untersuchung ist. Vielleicht wird die Entwicklung der Biologie des 21. Jahrhunderts zu einem großen Teil in einem Kampf ihrer Emanzipation von der Physik bestehen. Dies wäre jedoch nicht das erste Mal, denn diese nach Jahrhunderten immer noch nach ihrer Identität suchende Wissenschaft schwankt zwischen zwei mächtigen ›Gravitationszentren‹. Als Lehre der Leiblichkeit scheint sie verurteilt zu sein, zwischen dem 26
Siehe Abschn. 1.1.e (einschl. aller dazu gehörigen Unterabschnitte) von Kap. II.
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Dualismus des Abendlands zu pendeln: Seele-Körper oder Geist-Materie. Der Leib als beseelter Körper wurde immer wieder in der Geschichte der Biologie entweder der Herrschaft der Seele oder der Materie unterstellt. Eine ausgewogene Theorie der Leiblichkeit ist der einzige Weg der Biologie des 21. Jahrhunderts zu einer eigenen Identität. In den letzten hundertfünfzig Jahren ist die ›Bahn‹ der Biologie um ihr psychologistisches und ihr physikalistisches ›Gravitationszentrum‹ sehr ›elliptisch‹ geworden. Ihr bisheriges unruhiges Pendeln ist anhand der Transformationen, die das teleologische Denken in den verschiedenen Phasen ihrer Geschichte erfahren hat, gut zu demonstrieren. Aufgrund des starken Hin-und-her-Schwankens des Denkens vom Lebendigen zwischen zwei metaphysischen Gegensätzen, hat der Teleologie-Begriff sehr verschiedene Interpretationen erfahren. Aus diesem Grund ist es hilfreich, zuerst – und vorläufig – eine möglichst neutrale Bedeutung von ›Teleologie‹ einzuführen, die sich gegenüber den verschiedensten Strömungen der Geschichte der Biologie relativ indifferent verhält.
1.4 Teleologie Jede philosophische Reflexion über die Denkstrukturen der Biologie muss sich auch mit dem Begriff der Teleologie auseinandersetzen. Gegenwärtig vermeiden viele Biologen, die Bedeutung dieses Begriffs anzugeben und gebrauchen stattdessen indirekte Ausdrücke wie z. B. »die teleologische Sprechweise in der Biologie«. Bei allen Schwierigkeiten, diesen Begriff genauer zu bestimmen, kann – in erster Näherung – Teleologie als die Lehre von Vorgängen beschrieben werden, die dazu tendieren, bestimmte Endzustände zu erreichen, in ihnen zu verweilen oder auch um sie herum zu oszillieren. 27 Die metaphysische Natur der dabei am Werk seienden Ursachen – genauer: ob sie mentale oder deterministisch-materielle Faktoren sind – ist nicht von Bedeutung bei dieser metaphysisch neutralen Begriffsbestimmung, sodass letztere auf die lebendige und die leblose Natur und sogar auf technische Produkte, wie von Programmen kontrollierte Roboter, gleichermaßen anwendbar ist. Dass einige UnterFür ähnliche Positionen vgl.: Mayr 1991, 59; 2000, 416, 405; Toepfer 2005a, 36; Hull 1974, 103 ff.
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suchungen die Grenzen dieser Definition aufzeigen, ist an dieser Stelle ohne Belang. 28 Der Begriff der Teleologie ist trotz gewisser Unschärfe (Mayr 1991, 51 f.) für die ältere und neuere Philosophie der Biologie gleichermaßen von Bedeutung. 29 Dies könnte darauf verweisen, dass im ontologischen Verständnis dieses Begriffes – wenn zwecks seiner näheren Bestimmung die metaphysische Neutralität aufgegeben und das Wesen der Ursachen, aus denen Organismen zu bestimmten Endzuständen tendieren, angegeben wird – die metaphysische Wirbelsäule des jeweiligen biologischen Denkens zu finden ist. Selbst wenn das gesamte breite Bedeutungsspektrum von ›Teleologie‹ entschieden verworfen wird, wie dies für radikal materialistische Philosophen der Biologie typisch ist, 30 dient sie nicht minder als identitätsstiftend. Schließlich kreisen um diese Frage die großen ideologischen Kämpfe der Vergangenheit und Gegenwart der Biologie wie der VitalismusMechanismus-Streit, die wieder entflammten politisch-religiösen Auseinandersetzungen um den Evolutionsgedanken sowie auch die ältere und aktuelle Geist-Gehirn-Debatte. Die Idee der Teleologie ist deswegen so wichtig für die Biologie, weil sie in enger Verbindung zu einigen Fragen steht, die zentral für das Verständnis des Lebendigen sind. Dies ist aus drei Gründen der Fall: Erstens, weil Lebewesen so beschaffen sind, als wären sie entworfen worden, d. h. als ob sie Produkte eines planvollen Schaffens (Design) wären, das auf einen zweckmäßigen Endzustand hin ausgerichtet ist (Ruse 1988, 46). Ungeachtet unerbittlicher ideologischer Kämpfe, die bis heute immer wieder heftig daran entflammen, und deren Wurzeln schon vor Darwin in der Zeit der Naturtheologen zu finden sind, lässt sich nicht leugnen, dass auf das Geflecht der inneren strukturellen und funktionalen Anpassungen eines jeden Lebewesens David Hull, neben Michael Ruse der Begründer der neueren Philosophie der Biologie in den frühen 1970er Jahren, diskutiert einige Probleme dieses Verständnisses von Teleologie (1974, 107 ff.). Nach mehr als vierzig Jahren scheint er immer noch Recht zu behalten, wenn er sagt: »I am sure, we have not discovered the essence of teleological systems. On purely inductive grounds of the crudest sort, one should expect the search for the essence of teleological systems to be no more productive than the search for the essences of society, art, space, horses, and mankind« (ebenda 103). 29 Siehe folgende klassische und neuere Werke der Philosophie der Biologie: Ruse 1973, Hull 1974, Rosenberg 1985, Ruse 1988, Mayr 1991, Mahner & Bunge 2000, Mayr 2000, Krohs & Toepfer 2005. 30 Als solche sind z. B. die bekannten Philosophen der Biologie Martin Mahner und Mario Bunge zu bezeichnen (2000, 357). 28
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die metaphysisch neutrale Interpretation von ›teleologisch‹ als ›zu einem zweckmäßigen Endzustand hin tendierend‹ angewandt werden kann. 31 Zweitens ist mit der Idee der Zweckmäßigkeit eng verbunden, dass die einzelnen Vorgänge bei der morphogenetischen Entwicklung von Embryonen sowie auch die einzelnen Etappen des Verhaltens von Tieren dermaßen aufeinander angepasst sind, dass die Frage nach einer modernen Interpretation von ›Teleologie‹ inzwischen neben den Evolutionsbiologen auch die Entwicklungs- und Verhaltensbiologen beschäftigt (Ruse 1988, 46 f.; Mayr 1991, 68). Der dritte Grund für die große Relevanz der Idee der Teleologie für die Biologie ist, dass sie auch den spezifischeren Bereich des Bewusstseins durchdringt; schließlich wurde in der Antike aus diesem Bereich die Konzeption der Teleologie überhaupt gewonnen und auf Vorgänge der Natur übertragen. In dem letzten der drei Punkte wurzeln verständlicherweise auch die chronischen Probleme, unter denen die teleologische Denkweise in der Biologie leidet. Für das Selbstverständnis der Naturwissenschaften nach der frühen Neuzeit ist es eben essentiell, dass alle Erklärungen physischer Vorgänge, die auf der Annahme mentaler Faktoren beruhen, unwissenschaftlich sind. Da aber der ursprünglichen Konzeption der Teleologie der Natur in der Antike die intentionalen ziel- bzw. zwecksetzenden menschlichen Bewusstseinsakte als Vorbild dienten – was jedoch für Aristoteles nicht zutrifft 32 –, sehen viele Autoren in der »Interpretation der Teleologie als intentionale Zwecksetzung […] die eigentliche Kernkonzeption jeder Teleologie« (Toepfer 2005a, 40; Hervorhebung von S. K.). Es ist also alles andere als selbstverständlich, dass der Teleologie-Begriff auch auf eine metaphysisch neutrale Konzeption referieren kann. Insofern ist es nicht überraschend, dass die meisten (wenn nicht alle) Vertreter der gegenwärtigen Philosophie der Biologie dem Teleologie-Gedanken zwar Bedeutung beimessen, sich aber doch darüber einig sind, dass dieser uralten Idee nur noch eine methodologische und keine ontologische Relevanz zukommt. 33 Die etablierte Philosophie der Biologie hat somit kein Verständnis für metaphysische Faktoren, die Final- oder Zweckursachen nun Nicht zufällig ist der Begriff der Funktion mit dem der organismischen Teleologie verbunden (McLaughlin 2005, 20; Toepfer 2005a, 36). 32 Dies wird im Abschn. 2.1 dieses Kapitels thematisiert. 33 Toepfer ist ein guter Exponent dieser Haltung (2005a, 48 ff.). 31
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einmal darstellen. Diese Entwicklung wird von einer eindringlich vorgetragenen Überzeugung Mayrs auf den Punkt gebracht: »Nichts charakterisiert die moderne Biologie besser als ihre radikale Abkehr von aller Metaphysik« (1995, 196). Dennoch glauben führende Exponenten dieser Disziplin, wie Ruse (1988, 44), Hull (1974, 103) und Mayr (1991, 56), die Teleologie-Problematik jenseits metaphysischer Fragen diskutieren zu können und dies auch tun zu müssen. Denn dieser Begriff dürfe, trotz seiner Unschärfe und Problemhaftigkeit, nicht mit der gesamten – ihrer Meinung nach – überflüssigen und störenden Metaphysik über den Haufen geworfen werden, weil er der biologischen Forschung weiterhin gute methodische und heuristische Dienste leiste (Mayr 1991, 51, 73 ff.) 34 und sie außerdem vor der methodologischen und theoretischen Reduktion auf die Physik bewahre (Ruse 1988, 49). 35 Die Diagnose, »Biologen können offenbar weder mit der Teleologie leben noch ohne sie« (Mahner & Bunge 2000, 347), klingt vielleicht etwas zu drastisch; sie ist aber ernst zu nehmen. Wäre dies nicht der Fall, dann hätte man nicht, wie es noch gezeigt wird, nach anderen Begriffen gesucht, um die Tendenz lebendiger Vorgänge, bestimmte Endzustände zu erreichen, beschreiben zu können, ohne der Implikation mentalistischer Konzepte wie Antizipation, Intentionalität und Zwecksetzung verdächtigt zu werden. Wie sich jedoch bald, aber auch im weiteren Verlauf dieser Untersuchung zeigen wird, ist dieser Vorwurf unbegründet, denn Teleologie ist ein besonders subtiles Konzept, das keineswegs bewusste Antizipation und Zwecksetzung impliziert.
2.
Die Geschichte des Organismus-Verständnisses als Kampf der Konzepte Seele und Materie
Die jahrtausendelange Entwicklung der Vorstellungen von der Natur der Lebewesen ist zugleich ein Kampf entgegengesetzter Begründungen der organismischen Zweckmäßigkeit, die aus der heutigen Perspektive als sich gegenseitig ausschließende Auffassungen von Teleologie betrachtet werden können. Allerdings kristallisierten sich die antagonistischen ›Gravitationszentren‹ erst allmählich heraus und Vgl. auch: Ruse 1988, 48 f. Mahner und Bunge gehen weiter und fordern die Streichung dieses Begriffes aus dem biologischen Vokabular (2000, 357).
34 35
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die metaphysischen Fronten einer Epoche der Biologie können nicht auf die anderen übertragen werden – genau so wenig wie die jeweils für primär erklärten Merkmale von Lebewesen. Ausgehend von der konzeptionell reifsten Phase dieses Kampfes, die sich ungefähr zwischen 1890 und 1930 entfaltete und als ›Neophysikalismus vs. Neovitalismus‹ bezeichnet werden kann, ist es möglich, einen tieferen metaphysischen Konflikt zu abstrahieren und auf dessen Basis die Geschichte der Organismus-Konzeption zu rekonstruieren. Dies könnte zum Einwand führen, dass auf diese Weise der Ideenentwicklung eine finalistische Vorstellung unterstellt wird, was biologiehistorisch nicht unproblematisch ist. Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich jedoch um eine biophilosophische und nicht um eine biologiehistorische Studie. Dies rechtfertigt die Prämisse, dass die Entwicklung der biologischen Ideenwelt sich nicht abseits des elementaren und deshalb schon in der Antike gut ausformulierten Geist-Körper- oder Seele-Materie-Dualismus der abendländischen Zivilisation vollzogen haben kann. Darüber hinaus könnte angenommen werden, dass die Entfaltung dieses Dualismus sich auch der Mittel des jeweils vorherrschenden biologischen Diskurses bedient hat.
2.1 Antike: Vom Hylozoismus zur Aristotelischen Teleologie Die Begründung des biologischen Denkens im Abendland ist unlösbar mit dem Aufstieg der zweiten griechischen Welt, der im 9. Jahrhundert v. Chr. begann, verbunden. Essentiell für diese Neugründung nach dem Niedergang der mykenischen Kultur um 1100 v. Chr. und den ›dunklen Jahrhunderten‹, ist der allmähliche Übergang von der Aristokratie zur Polis-Demokratie, der sich vor allem zwischen dem 7. und dem 5. Jahrhundert v. Chr. vollzog und mit dem wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung der autonomen Stadtstaaten einherging. Für die »erste Grundlegung der Biologie«, wie der bekannte Biologiehistoriker Theodor Ballauff die Erkenntnisse und Intuitionen der Vorsokratiker zusammenfasst (1954, 11), ist das markanteste Merkmal des Lebendigen die Selbstbewegung. Dies kann als Widerspiegelung der Autonomie der Polis und der in ihr frei agierenden Bürger gesehen werden. Für die vorsokratische Metaphysik sind die sichtbaren Seienden der Welt Manifestationen des Kampfes von Gegensätzen, die das Sein – ob als Kosmos, Chaos oder Apeiron (Unend70 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Die Geschichte des Organismus-Verständnisses
liches) gedacht – in sich birgt. Sie sind Offenbarungen der inneren Gegensätzlichkeit und kreativen Unruhe des Seins, die aus diesem hervorgehen und in dieses zurückkehren. Hier lässt sich keine Trennung von trägem Stoff und wirkender Kraft, geformten und formenden Faktoren feststellen: Die materiellen Dinge seien nur vorläufig stabile Resultate des Aufeinanderprallens von elementaren Prinzipien. Die auch für die altorientalischen Kulturen mit metaphysischer Bedeutung belegten Elemente – Feuer, Luft, Wasser, Erde, die später als Verbindungen noch elementarerer Prinzipien (warm, kalt, trocken und feucht) verstanden wurden – traten an die Stelle der willkürlich handelnden Götter. Das radikal Neue der griechischen Spekulation bestand aber darin, die Elemente als entsprechend ihrem eigenen Wesen agierende, also als gesetzmäßige und ewige (da weder vergehende noch entstehende) – und somit nur noch in einem sehr spezifischen Sinne göttliche – ›Archai‹, wie die Anfänge bzw. Prinzipien genannt wurden, gedacht zu haben. Während die ionischen Physiologoi (Naturforscher) Thales, Anaximenes und Herakleitos monistisch dachten und jeweils eins der Prinzipien über die anderen erhoben und sie aus diesem Urprinzip hervorgehen ließen, 36 wird am anderen Ende der griechischen Welt, in den in Süditalien gegründeten blühenden Poleis, die Vorstellung der Gleichwertigkeit aller Elemente bzw. Prinzipien zur Grundlage des ersten rationalen Denkens über die Natur der Lebewesen. Um 500 v. Chr. beschrieb der Arzt und vom pythagoräischen Dualismus beeinflusste Philosoph Alkmaion von Kroton jedes Lebewesen explizit als Einheit in der Gegensätzlichkeit. Er verstand Gesundheit als Isonomie bzw. Gleichberechtigung der im Lebewesen waltenden antagonistischen Kräfte, während die monarchische Herrschaft eines von ihnen ihm Krankheit bedeutete (Capelle 1968, 107). Diese zum ersten Mal ausgesprochene Idee ist noch fundamentaler als die ebenfalls ihm zu verdankende Entdeckung des Gehirns als Organ der Sinne und des Denkens. 37 Alkmaion übertrug als erster in die Naturphilosophie des LebenAnaximandros, der Thales-Schüler war, ging noch weiter, indem er den einen Urgrund aller Seienden im Unendlichen sah, womit er keinem der Elemente das Primat zusprach. 37 Die Radikalität dieser Erkenntnis zeigt sich darin, dass noch viele Jahrhunderte nach Alkmaions Entdeckung in den Hochkulturen des nahen und mittleren Ostens und Südasiens diese Funktionen weiterhin dem Herz zugeschrieben wurden (Löther 2000, 36, 39, 43). 36
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digen die fundamentale Intuition seiner Zeit, die Herakleitos (wahrscheinlich zwischen 500 und 490 v. Chr.) unübertroffen zum Ausdruck brachte: »Das Widerstrebende vereinige sich und aus den entgegengesetzten (Tönen) entstehe die schönste Harmonie, und alles Geschehen erfolge auf dem Wege des Streites« (Capelle 1968, 134 (Fragment 8)). »Man muß wissen, daß der Kampf das Gemeinsame ist und das Recht der Streit, und daß alles Geschehen vermittels des Streites und der Notwendigkeit erfolgt« (ebenda 135 (Fragment 80)).
Auch wenn Herakleitos deutlicher als jeder andere Vorsokratiker die schöpferische Urkraft des Kampfes der Gegensätze betont, es ist zu beachten, dass er dem Kampf nur deswegen so große Bedeutung zuspricht, weil er hinter dem scheinbar zufälligen Chaos der Dissonanzen eine tiefe Vernunft walten sieht – den Logos, »der gleichbedeutend ist mit der ewigen, übersinnlichen alles lenkenden Weltvernunft, die zugleich das Weltgesetz […] ja die Gottheit selber ist« (Capelle 1968, 127). Zu Recht haben die späteren Kommentatoren das ›Urfeuer‹, wie Herakleitos den Logos bezeichnete, als den einen Gott seiner Metaphysik identifiziert (ebenda 139–141). Vielleicht hat dieser strenge logozentrische Monotheismus Herakleitos daran gehindert, zumindest nach dem was heute über ihn bekannt ist, seine Metaphysik eingehend auf die Problematik des Lebendigen anzuwenden. Denn dieses könnte ihm nur als ein unvernünftiges Phänomen auf der Oberfläche des Seins erscheinen. Der Westgrieche Empedokles (495–435 v. Chr.) aus dem südsizilischen Akragas, der als erster die Heraklitische Lehre mit der ihres schärfsten Kritikers Parmenides’ zu versöhnen suchte, besaß die für das Verständnis aller Manifestationen des Lebens unerlässliche Kombination wissenschaftlichen Scharfblicks mit metaphysischer Zwanglosigkeit und Freigiebigkeit und betrachtete es auf der Basis eines konsequenten Pluralismus: Jedes Lebewesen entstehe aus der Mischung der vier gleichberechtigten und unvergänglichen Elemente und sei eine nur zeitweise stabile Verbindung, die diese unsterblichen Prinzipien in Liebe miteinander eingehen, bis sie sich wieder im Hass entmischen: »Zwiefach der sterblichen Dinge Entstehung, zwiefach auch ihr Dahinschwinden […] bald kommt alles durch die Liebe in Eins zusammen, bald wieder scheiden sich alle Dinge voneinander durch den Haß des Streites – sofern nun auf diese Weise Eins aus Mehrerem zu werden pflegt und wieder
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Die Geschichte des Organismus-Verständnisses
aus der Spaltung des Einen Mehreres hervorgeht, insofern entstehen die Dinge und haben kein ewiges Leben« (ebenda 195 f. (Fragment 17)).
Empedokles verlagerte den Schauplatz des Kampfes von den vier Elementen, die nun als universelle Stoffe gedacht wurden, in den Dualismus zwischen ›Liebe‹ und ›Hass‹, die er als universelle Prinzipien der Bewegung verstand. 38 Auf der Basis dieser Metaphysik wurden Genese, Erhaltung und Zerfall des einzelnen Lebewesens gedacht (ebenda 202 (Fragment 20)). Eine unvermeidbare Konsequenz der Empedokläischen Lehre ist, dass der ewige Kreislauf der Elemente nicht einem Plan universaler Teleologie folgt, denn die beiden Urmächte ›Liebe‹ und ›Hass‹ werden zwar als personale, aber durchaus »nur triebhaft wirkende Naturkräfte« gedacht (ebenda 186). Insofern ist die wichtige Rolle, die dem Zufall (τύχη) bei der Entstehung des Lebens auf der Urerde zugesprochen wird, so zu verstehen, dass dabei keine zweckgerichteten Intelligenzen am Werk waren. Diese Konzeption des Zufalls, die vom Herakleitischen Logos denkbar fern steht, hat Empedokles erlaubt, einige viel später explizit formulierte Vorstellungen von Evolution und lebendiger Organisation zu antizipieren. Viel wichtiger, als dass es sich hier um eine Vorwegnahme des Mutation-Selektion-Schemas der Darwinschen Evolutionstheorie handeln könnte, 39 ist die Tatsache, dass Empedokles die Vorstellung der Zweckmäßigkeit, d. h. des kohärenten, in sich passenden, strukturellen Aufbaus des Lebewesens und somit, wenn auch nur implizit, die Vorstellung des Organismus in die Lehre vom Lebendigen eingeführt hat: »Denn aus ihnen (den Elementen) ist alles passend zusammengefügt, und durch sie denken, freuen und grämen sie sich« (ebenda 235 (Fragment 107)). Capelle erläutert die Rolle der vier Elemente und der von ihnen unterschiedenen zwei bewegenden Mächte in der Lehre Empedokles’ als Folge seines Versuchs, die Lehren von Herakleitos und Parmenides zu verbinden (1968, 184). 39 Am Anfang des Lebens hätte Aphrodite, der mythologische Name der Liebe (Capelle 1968, 216 (Fragmente 86, 87, 95)), aus den vier Elementen Organe geschaffen und sie zu monströsen und kaum lebensfähigen, zufälligen Gebilden zusammengefügt (ebenda 216 f. (Fragmente 57, 60, 61)). Wie Aristoteles berichtet, Empedokles lehrte, dass nur das überleben konnte, das so zusammengewachsen war, »wie wenn es zu einem bestimmten Zwecke geschähe […], da es zufällig (›von selber‹) passend zusammengetroffen war«, während »alles andere ging und geht zugrunde« (Physik II 7. 198 b29 ff., die Übersetzung des Aristotelischen Textes wurde von Capelle entnommen (1968, 220)). 38
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Zusammen mit Alkmaions Intuition der Isonomie der Elemente wurde die Idee des zweckmäßigen Aufbaus der organischen Körper bei richtiger Mischung der Elemente zur Grundlage der Medizin von der Antike bis in die Neuzeit. Für die mit Hippokrates von Kos (460–375 v. Chr.) verbundene erste Entwicklung einer wissenschaftlichen Medizin wurden diese philosophischen Erkenntnisse essentiell, weil sie Gesundheit als dynamisches Gleichgewicht und Leben als in sich widerstrebende Harmonie, »in der die Einheit durch das Gegeneinander aufrecht erhalten wird«, zu denken halfen (Ballauff 1954, 34). Die vorsokratischen Auffassungen des lebendigen Einzelwesens lassen sich bei aller Vielfalt als die biologische Version einer Naturphilosophie zusammenfassen, die von der Lebendigkeit und Triebhaftigkeit der Materie ausging, sodass sie in den vier Aggregatzuständen, als was heute die vier Elemente verstanden werden, nichts Passives erblickte, sondern eine Pluralität erlebender und spontan agierender Ursachen. Es handelt sich also dabei keineswegs um einen mechanistisch-deterministischen, sondern, wenn überhaupt, um einen hylozoistischen Materialismus – vielleicht trifft aber der bloße Ausdruck ›Hylozoismus‹ besser die Grundintuition dieser Denker. Es ist offenkundig, in welchem Maße der politische Zeitgeist der vorsokratischen griechischen Welt zur Grundlage einer neuen, vom Schatten der Monarchien östlicher Despotismen befreiten Auffassung der angenommenen ›Archai‹ beitrug. Sie wurden als autonome Faktoren gedacht – und zwar unabhängig davon, ob sie als ›vier Elemente‹, als ›Urfeuer‹, oder als ›Liebe‹ und ›Hass‹ konzipiert wurden. Ist es nicht augenfällig, dass die Verbindung antagonistischer Kräfte zur zweckmäßigen Einheit des Lebewesens, wie sie in der Lehre des Empedokles’ am deutlichsten zum Ausdruck kommt, eine klare Übertragung des durch den Kampf freier Bürger sich selbst regulierenden sozialen Organismus der Polis auf die lebendige Natur ist? Davon ausgehend ist es plausibel, dass die im Gefolge der tiefen Krise der Polis in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. von Sokrates eingeleitete und von Aristoteles vollendete Wende der Philosophie in Athen die Akzente sehr zuungunsten des frühgriechischen Ideals des Kampfes verschiebt, um schon im 4. vorchristlichen Jahrhundert einen das Christentum vorwegnehmenden Monismus zu begründen. Dem hylozoistischen Kräftespiel der Vorsokratik treten jetzt ewige immaterielle Formen bzw. Wesen oder Essenzen – die Eide 74 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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(εἴδη) – entgegen, denen nichts triebhaft-unbewusstes anhaftet: Die geordneten Gestalten der Seienden werden nicht mehr als Resultate des Aufpralls triebhaft agierender Kräfte gedacht. Ewigen, weil einer vollkommenen Ratio entsprungenen, Formen wird jetzt das Primat über Kräfte zugesprochen. Diese Konzeption verlangt natürlich danach, die vier Elemente als passive Empfänger der zeitlosen ordnenden Formen oder Eide neu zu konzipieren. In Platons Timaios kommt es am besten zum Ausdruck, wie das höchste Prinzip – Gott – den Kosmos nach seinem Abbild kreiert hat. Als selbstbewegte, in sich geschlossene Ganzheit ist der Kosmos lebendig: das perfekteste Lebewesen (Timaios 32c–34a). 40 Seine ewige Bewegungsordnung und seinen Antrieb verdankt er jedoch seiner Psyche (ebenda 30b), d. h. seinem Bewegungsprinzip, das Gott vor dem aus den Elementen geschaffenen materiellen Körper des Kosmos kreiert, und mit dessen Zentrum verbunden hat (ebenda 34b). Nach dem Vorbild der Weltseele wurde auch jedem weniger perfekten Lebewesen innerhalb des Kosmos eine eigene Seele zugedacht. Als Abschwächung des Platonischen Panteleologismus, der den Kosmos als ein einziges Lebewesen betrachtete, entstand die Lehre der biologischen Teleologie, die sich auf einzelne Organismen begrenzt. Sie ist mit keinem anderen Denker so unlösbar verbunden wie mit Aristoteles (384–322 v. Chr.). Für die Platonisch-Aristotelische Tradition bildet die Idee der Substanz, der ousia (οὐσία), das Fundament ihrer Ontologie: »Substanz aber ist die hauptsächlich und an erster Stelle und vorzüglich genannte, die weder von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird noch in einem Zugrundeliegenden ist, zum Beispiel der individuelle Mensch oder das individuelle Pferd« (Kategorien 5, 2 a12–15). 41
Die Substanz ist das, wovon etwas ausgesagt wird, so wie z. B. von einem einzelnen Baum ausgesagt wird, dass er grün ist. Anders ausgedrückt: Die Substanz kann prädiziert werden; sie selbst kann aber nichts prädizieren. Aristoteles ließ sich bei der Begründung seiner Substanzontologie von der Subjekt-Prädikat-Struktur natürlicher Sprachen leiten, die so operiert, als gäbe es einen zugrundeliegenden unveränderlichen Träger, dem verschiedene prädikative Bestimmungen zugesprochen werden können. Die Substanzontologie beruht auf
40 41
Vgl. auch Timaios 31b, wo vom »vollkommenen Lebewesen« die Rede ist. Vgl. auch: Metaphysik VII, 3, 1028 b 36 f.
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der impliziten Hypothese, dass der sprachliche Logos des Menschen den kosmischen widerspiegelt. In den Kategorien trifft Aristoteles die wichtige Unterscheidung zwischen der ersten und der zweiten Substanz. Das letzte Zitat bezieht sich auf die erste Substanz (ousia prote, οὐσία πρώτη). Mit diesem Begriff referiert Aristoteles auf partikuläre Seiende, z. B. auf Einzeldinge, die in Raum und Zeit bestimmte Positionen einnehmen. Der Begriff ›zweite Substanz‹ (ousia deutera, οὐσία δευτέρα) wird nur in den Kategorien verwendet, die für viele Interpreten als die früheste Schrift Aristoteles’ gilt: »Zweite Substanzen heißen die Arten, in denen die an erster Stelle Substanzen genannten sind, diese und deren Gattungen. Zum Beispiel gehört der individuelle Mensch zu einer Art, Mensch; Gattung aber der Art ist Lebewesen. Zweite Substanzen werden diese also genannt, Mensch zum Beispiel und Lebewesen« (ebenda 5, 2 a15–19).
In den anderen Werken wird der Terminus ›zweite Substanz‹ von dem Begriff des eidos (εἶδος) ersetzt, das ins Deutsche als ›Form‹ bzw. ›Formursache‹, ›Wesen‹, ›Gestalt‹, ›Art‹ bzw. ›Spezies‹ und ins Lateinische als ›forma‹, ›species‹ und ›causa formalis‹ übersetzt wird. Von diesem Begriff wird schon in den Kategorien Gebrauch gemacht und zwar als gleichbedeutend mit dem Terminus ›zweite Substanz‹, wenn eben Aristoteles dort schreibt: »Zweite Substanzen heißen die Arten«. ›Eidos‹ kann insofern als zweite Substanz verstanden werden, dass es das Wesen einer ersten Substanz, also die Essenz eines partikulären Einzeldinges ist. In den naturphilosophischen Schriften und in der Metaphysik wird ›eidos‹ im Sinne von Form als Gegenbegriff zur Materie (hylê, ὕλη) verwendet: Jedes natürliche singuläre Einzelding ist eine Verbindung von Form und Materie. Die Form (eidos) eines partikulären Seienden ist fundamentaler als sein Werden – die Form wird substantialisiert. Das Wesen eines physischen Seienden wird als ein unveränderliches Agens ›hinter‹ (oder ›unter‹) den jeweiligen Erscheinungsweisen dieses Seienden verstanden. In der Metaphysik (VII, 7, 1032 b1 f.) wird das ›eidos‹ mit dem »wesentlichen und definierbaren Sein (to ti ên einai, τὸ τί ἦν εἶναι) identifiziert« und als die eigentliche Substanz (ousia) ausgezeichnet (Rapp, Wagner 2005, 151). Das Wesen bzw. die Formursache oder Form eines Seienden, die sein Werden lenkt, wird als sein zeitloser Grund gedacht:
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»Was als Form (eidos) oder seiendes Wesen ausgesagt wird, kennt kein Entstehen« (Metaphysik VII, 8, 1033 b17; leichte Veränderung der Übersetzung von S. K.).
Das Wesen (eidos) existiert folglich vor jeglichem Werden und kann von diesem nicht variiert werden – hierin besteht der Kern der Substanzontologie, die bis in die frühe Neuzeit hinein das abendländische Denken dominiert hat. Das, was wird, das wahrnehmbare Resultat der Gestaltung, ist immer eine Verbindung von Wesen und Materie (ebenda 1033 b). In einigen Werken, z. B. in der Physik, benutzt Aristoteles oft neben ›eidos‹ den Ausdruck morphé (μορφή), der eigentlich auf die physische Gestalt von etwas referiert. Die Genese natürlicher Entitäten, also auch der Lebewesen, wird, wie selbstverständlich, nach dem Vorbild der menschlichen Kunst gedacht. Physis besage nichts anderes als energeia (ἐνέργεια, lat.: actus). Etymologisch stammt dieser Begriff von ›ergon‹ (ἔργον), das ›Werk‹ bedeutet. ›Energeia‹ heißt ›Ins-Werk-Setzen‹ oder ›Wirklichkeit‹ – allerdings unter Betonung des Aspekts des Wirkens (Wirklichkeit) – durch die etwas entsteht, indem es an seiner endgültigen Erscheinungsgestalt ankommt. ›Energeia‹ ist die tätige Wirklichkeit, durch die das der Möglichkeit, der dynamis (δύναμις, lat: potentia) 42 nach Seiende verwirklicht wird: »Immer entsteht ja aus etwas, das der Möglichkeit nach ist (dynamei on, δυνάμει ὄν), etwas das in Wirklichkeit ist (energeia on, ἐνεργείᾳ ὄν), durch Einwirkung von etwas, das in Wirklichkeit ist (energeia on, ἐνεργείᾳ ὄν)« (Metaphysik IX, 8, 1049 b24–25; leichte Veränderung der Übersetzung von S. K.).
Durch die final ausgerichtete Einwirkung eines wirklich Seienden (energeia, actus) erreicht der Vorgang der Verwirklichung eines anderen wirklich Seienden seine Gestalt. Sie ist sein telos (τέλος), d. h. sein Endzustand, der immer auf einen Zweck bezogen ist. ›Telos‹ wird ins Deutsche auch als ›Final-‹ und ›Zweckursache‹ und ins Lateinische als ›causa finalis‹ übersetzt. Beim Gestaltungsvorgang, z. B. bei dem Wachstum eines Organismus, ist das wirklich Seiende (energeia) dem möglich Seienden (dynamis) logisch vorrangig und zeitlich früher.
Schon seit Homer hat ›dynamis‹ auch die Bedeutung von Kraft. ›Dynamis‹ bedeutet die Fähigkeit, das Potenzial, etwas zu tun oder etwas zu erleiden. Für Aristoteles hat die Materie das Vermögen (Potenzial), Gestaltung zu erleiden.
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Vor diesem Hintergrund des Wirklichkeit-Möglichkeit- und des Form-Materie-Paares gewinnt der zentrale Aristotelische Begriff der Entelechie (entelecheia, ἐντελέχεια) seine Bedeutung. ›Entelecheia‹ meint den Vollzug der Vollendung, der Verwirklichung von etwas. Die Begriffe ›entelecheia‹ und ›energeia‹ werden von Aristoteles nicht konsequent unterschieden. Beide Begriffe werden auf das Werden bezogen, aber unter Betonung verschiedener Aspekte dessen: ›Energeia‹ hebt den Aspekt des Werks (ergon), der Aktion, hervor und ›entelecheia‹ den des vollendeten Endzustands oder Ziels (telos) bzw. Zwecks (Elm 2005, 189). Ausdrücklich bemerkt Aristoteles, dass ›energeia‹ auf ›entelecheia‹ hin bezogen ist. 43 Der zentrale Ausgangspunkt des biologischen Denkens Aristoteles’ und auch all seiner Nachfolger besteht in der Überzeugung, dass Ordnung und Regelhaftigkeit, zumal in den höchst komplexen Formen der lebendigen Natur, nur Resultate ausgerichteter aktiver Formung sein können. Das Werden natürlicher Entitäten, also auch der Lebewesen, wird – wie selbstverständlich – nach dem Vorbild der menschlichen Produktion gedacht: »Nun decken sich aber […] die Struktur des menschlichen Herstellens und die Struktur der Naturproduktion völlig. Das Handeln ist aber final bestimmt. Daraus folgt, daß die Naturbildung genauso final bestimmt ist. […] Und da der Terminus ›Natur‹ doppeldeutig ist, sowohl den Stoff (hylê) als auch die Gestalt (morphé), die letztere aber das Endergebnis (telos) des Werdens darstellt und zwecks des Endergebnisses das Übrige ist, so ist doch wohl die Gestalt die Ursache, um deren Zweck alles geschieht« (Physik II, 8, 199 a10–32; Veränderungen der Übersetzung von S. K.).
Das final ausgerichtete Streben der Natur sei, ihre ureigenste Art und Weise zu erschaffen. Aus heutiger Sicht ist man oft versucht, Aristoteles eine Intentionalisierung des lebendigen Werdens zuzuschreiben, womit Zweckgerichtetheit bewusste Zwecksetzung voraussetzen würde. Damit wird aber ein fataler Irrtum begangen, der nicht nur Aristoteles’ Weitsicht und Subtilität diffamiert, sondern auch die gesamte Diskussion um die Teleologie der Natur auf eine falsche Bahn lenkt (Toepfer 2005a, 40). Aristoteles unterscheidet deutlich zwischen der Zweckgerichtetheit natürlicher und biologischer Vorgänge und der »Denn Ziel ist das Werk, die Wirklichkeit (energeia) ist das Werk – daher wird ja auch die Wortbezeichnung ›Wirklichkeit‹ nach Werk ausgesagt und läuft hinaus auf Am-Ziele-Sein (entelecheian)« (Metaphysik IX 8, 1050 a21–23 ff.).
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bewussten Setzung der Ziele des menschlichen und höheren tierischen Handelns, wie folgende Stelle eindeutig belegt: »Widersinn aber ist es, wenn man an ein zweckbestimmtes Werden mit der Begründung nicht glauben will, es sei nichts davon zu sehen, daß die Ursache des Werdens zuvor überlegt habe. Auch der erfahrene Handwerker braucht nicht erst zu überlegen. Und hätte die Schiffsbaukunst ihren Sitz im Bauholz, so wäre ihre Arbeitsweise wie die der Natur. Wenn im menschlichen Handeln Zweck vorliegt, dann auch in der Natur« (Physik II, 8, 199 b26–30; Veränderungen der Übersetzung von S. K.).
Daraus geht hervor, dass die zweckmäßige Gerichtetheit natürlichen und somit auch biologischen Werdens auf unbewusste Tätigkeit der wirklich Seienden, der ›energeiai‹, 44 zurückgeht. Wenn die Schiffsbaukunst ihren Sitz im Bauholz hätte, würden die Schiffe wie die Bäume wachsen, also ohne bewusste Planung und Arbeit. Bewusste Zwecksetzung ist nur ein auf menschliche Aktivitäten begrenzter seltener Sonderfall des zweckgerichteten Werdens. Sowohl im Rahmen der Aristotelischen Naturphilosophie als auch, wie wir sehen werden, der Prozessphilosophie ist es sinnvoll zwischen (bewusster) Zwecksetzung und (unbewusster) Zwecktätigkeit zu unterscheiden. 45 In seiner biophilosophisch bedeutenden Schrift Über die Seele (Peri Psyches, De Anima) bezeichnet Aristoteles die Seele als »die erste Entelechie eines natürlichen Körpers, der in Möglichkeit Leben hat« (II, 1, 412 a27 f.; Veränderungen der Übersetzung von S. K.). Die Seele ist »ein gewisser Begriff (logos, λόγος) und eine Form (eidos), nicht jedoch Materie« (ebenda II, 2, 414 a13–14). Aristoteles zufolge ist das Kennzeichen des Organismus, dass das Ganze früher als die Teile ist. Für die Aristotelische Teleologie ist der materielle Zusammenhang des Lebewesens nicht durch seine Teile bedingt – wovon das mechanistische Denken späterer Zeiten ausging –, sondern diese sind bezüglich ihrer Funktion, aber auch ihres Wachstums, von der organismischen Entelechie determiniert: »Die Seele ist Ursache und Prinzip (aitia kai arche, αἰτία καί ἀρχή) des lebenden Körpers. […] Sie ist nämlich sowohl Ursprung der Bewegung, als auch Zweck, und auch als Substanz (ousia) der beseelten Körper ist die Seele Ursache« (ebenda II, 4, 415 b8 f.).
44 45
Pluralform von ›energeia‹. Diese Unterscheidung wird im Abschn. 2.1 von Kap. V ausführlicher eingeführt.
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Besonders beachtenswert ist, in welchem Sinne die Seele »Substanz der beseelten Körper« ist: »[D]ie Seele [muss] ein Wesen als Formursache (eidos) eines natürlichen Körpers sein, der in Möglichkeit Leben hat« (ebenda II, 1, 412a 19 f.; Einfügung von S. K.).
Die Seele ist also das Wesen, das ›eidos‹, eines lebensfähigen Körpers. Weder leblose natürliche Körper noch menschliche oder tierische Artefakte können beseelt sein. In den Kategorien bedeutet ›eidos‹ aber auch ›Art‹ oder ›Spezies‹. Die universelle Idee, die in der Art der Nachtigall bzw. des Menschen verkörpert ist, ist auch das Wesen jeder einzelnen Nachtigall bzw. jedes einzelnen Menschen. Die Seele eines individuellen Organismus ist also nichts Individuelles, sondern etwas Universelles. Aus den beiden letzten Zitaten geht etwas hervor, das für die Aristotelische Metaphysik fundamental ist: Die Seele ist nicht nur das ›eidos‹ bzw. die Formursache des Lebewesens, sondern auch seine Wirkursache oder ›causa efficiens‹ (»Ursprung der Bewegung«) und seine Zweckursache oder ›causa finalis‹. Damit gilt für die Seele, was bei natürlichen Vorgängen generell für das ›eidos‹ gilt: Die Formursache (Wesen) der natürlichen Entitäten fällt mit der Zweckursache zusammen und ist mit der Wirkursache zumindest artgleich: »[Es gibt] vier Typen von Ursachen […] die Materie, das Wesen (eidos), die Quelle des Werdens und der Zweck. Nicht selten fallen dabei die letztgenannten Ursachen im Konkreten zusammen: denn das Wesen und der Zweck sind eines und dasselbe, die Quelle des Werdens aber ist mit diesen wenigstens artgleich: es ist ja ein Mensch, was einen Menschen hervorbringt« (Physik II, 7, 198 a21–27; Hervorhebung, Einfügung und Veränderungen der Übersetzung von S. K.).
Bei natürlichen Vorgängen ist also das Wesen (eidos) bzw. die Formursache das aktive Prinzip der Gestaltung; es ist die tätige Wirklichkeit (energeia) und somit auch die Entelechie des Werdens. Ihm steht das passive Prinzip der Gestaltung gegenüber: die Materie. Sie ist die ›dynamis‹, das Prinzip der Möglichkeit, da sie gestaltet zu werden vermag. Diese Polarität der beiden Prinzipien wird in einer berühmten Stelle von De Anima explizit auf den Punkt gebracht:
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»Die Materie ist Potenz/Möglichkeit, die Form (eidos) aber ist Vollendung (entelecheia)« (II, 1, 412a 9 f.). 46
Da aber die Seele das Wesen (eidos) eines lebensfähigen Körpers ist, ist sie auch die tätige Wirklichkeit (energeia) bzw. die Entelechie des Lebewesens. Das besagt explizit folgende Stelle: »Das Wesen aber ist Vollendung (Entelechie). Also ist sie [die Seele] Vollendung eines solchen [lebendigen] Körpers« (ebenda II, 1, 412a 20; Einfügungen von S. K.).
Es ist also die Seele, die den lebendigen Körper erhält, sein materielles Wachstum gestaltet und seine inneren und äußeren Funktionen in Gang setzt: »Alle natürlichen Körper nämlich sind Organe der Seele, und wie die [Körper] der Tiere, so sind auch die der Pflanzen um der Seele willen« (ebenda b18 f., Einfügung von S. K.).
Die Aristotelisch gedachte Seele ist also der immaterielle kausale Faktor, der den Organismus erhält und während seines Wachstums gestaltet. Sie agiert als Wirk-, Form- und Zweckursache – sie ist die tätige Wirklichkeit (energeia) und die Entelechie des Leibes und gestaltet es zu einer höchst zweckmäßigen Verbindung der Teile zu einem Ganzen um des Ganzen willen. Die Geschichte der Biologie belegt, dass nach Aristoteles bis tief in die frühe Neuzeit, die Metaphysik von Wesen/Form und Stoff bzw. Seele und Materie die naturphilosophische Grundlage des biologischen Denkens gewesen ist. Anders als der Hylozoismus der Vorsokratiker, der Materie für aktiv und lebendig hielt, führte der Aristotelische Hylemorphismus eine Dualität ein, die unter der weltanschaulichen Ägide der christlichen Kirchen für die Entwicklung des biologischen Denkens schicksalhaft werden sollte: Seele und Materie. Aristoteles trennte jedoch beide nicht voneinander, denn, anders als Platon, konnte er sich nicht die Existenz gestaltender Faktoren losgelöst von dem, was sie gestalten, vorstellen.
Im griechischen Original: ἡ μὲν ὓλη δύναμις τὸ δ᾽ εἶδος ἐντελέχεια (he men hylê dynamis, to de eidos entelecheia).
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2.2 Vom Aristotelismus des 15. zum Mechanizismus des 17. Jahrhunderts Die mittelalterliche Naturphilosophie des östlichen und westlichen Christentums und der islamischen Welt kreiste um den Glauben, dass die lebendige und leblose Natur Offenbarungen des Willens Gottes sind und interpretierte daraufhin die entsprechenden griechischen Lehren. 47 Ohne den Wert der großen synoptischen Gesamtschau in Form eines durchaus kritischen Sammelns, Ordnens und Bewahrens des antiken Wissens gering schätzen zu wollen, lässt es sich nicht leugnen, dass im Mittelalter weder auf biologischem noch auf medizinischem Gebiet prinzipiell neue theoretische Konzepte entstanden sind. 48 Erst die Renaissance begann dem Studium natürlicher Erscheinungen ihren eigenen Stellenwert außerhalb der Theologie zurückzugeben und versuchte konsequent, nach dem Vorbild der Antike, der Natur innere Gesetzlichkeit und darauf beruhende autonome Beweglichkeit zuzusprechen, womit eine im Spätmittelalter begonnene Aufwertung der Natur fortgesetzt wurde. 49 Gegenüber der Antike war aber jetzt die westeuropäische Wissenschaftlichkeit mit einer noch größeren Fülle empirischen Materials ausgestattet: die berühmten Kräuter- und Tierbücher des 15. und 16. Jahrhunderts, von denen viele auf deutsch erschienen, und die neuen Entdeckungen der Anatomie, die zum großen Teil in der Universität von Padua gemacht wurden. 50 Im 17. Jahrhundert führte die für die Entwicklung der Biologie wichtigste technische Errungenschaft der Neuzeit, das Mikroskop, nicht nur zu einer Flut neuer Erkenntnisse der menschlichen Vgl. auch: Nabielek 2000, 88–160; Ballauff 1954, 89–117. Vgl. auch: Nabielek 2000, 88. 49 Diese Entwicklung geht auf Autoren der islamischen Welt des 9., 10. und 11. Jahrhunderts zurück (Al-Farābī und Ibn Sīnā oder Avicenna). In der westchristlichen Welt erreicht sie ihren Höhepunkt im 13. Jahrhundert mit Albertus Magnus und Thomas von Aquino. 50 Die bedeutendsten Vertreter der Schule von Padua sind Andreas Vesalius (1514– 1564) aus Flandern, der Begründer der modernen Anatomie, und Girolamo Fabrizio (1537–1619), der 1594 das berühmte ›Anatomische Theater‹ in Padua errichtete, und außerdem der Begründer der modernen Embryologie ist. Zusammen mit dem kritischen Theologen und Arzt aus Spanien, Miguel Serveto (1511–1553), der 1553 als erster den kleinen Blutkreislauf beschrieb (bevor er auf Betreiben Calvins von der Inquisition verbrannt wurde), und Andrea Cesalpino (1519–1603), legten sie den Weg für die Entdeckung des großen Blutkreislaufes von William Harvey, der Schüler von Fabrizio in Padua war (Hoppe 2000, 170). 47 48
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und tierischen Anatomie, sondern auch zur Entdeckung des innerorganismischen Mikrokosmos der Pflanzen und Insekten mit seiner enormen Formvielfalt. 51 Die wachsende Fülle des Wissens erweckte natürlich das Bedürfnis nach einer theoretischen Durchdringung des empirischen Materials durch vereinheitlichende Konzeptionen. Das Denken der frühen Neuzeit stand noch sehr stark unter dem Platonisch-Aristotelischen Einfluss. Der Durchbruch in eine radikal andere Wissenschaftlichkeit, die bis heute unter dem Diktat des Messens und quantitativen Vorhersagens steht, konnte erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts vollzogen werden. Im frühen 16. Jahrhundert führte der in der Schweiz geborene Arzt und Alchemist Theophrastus Bombastus von Hohenheim – der berühmte Paracelsus (1493–1541) – eine neue Heilmittellehre ein, die Medikamenten mit chemischen Methoden aufbereitete. Er ersetzte außerdem die antik-mittelalterliche Vier-Säfte-Lehre durch seine Theorie der drei Wirkprinzipien (Sulfur, Mercurius, Sal), die aus der Alchemie übernommen wurden, und bei Paracelsus dynamische Vorgänge der Verbrennung, Verflüssigung und Verdichtung bedeuteten (Jahn 2000a, 214). Auf diese Weise wurde er zum Begründer der medizinischen Chemie (Iatrochemie), wenn auch auf einer für die spätere Neuzeit unakzeptablen magisch-hermetischen Grundlage: Paracelsus fasste den menschlichen Organismus als eine alchemische Marcello Malpighi (1628–1694), Begründer der mikroskopischen Anatomie und Arzt, erforschte mikroskopisch den Aufbau von Pflanzen und Tieren und konnte so 1661 den Übergang von Arterien und Venen durch Lungenkapillaren entdecken, was das noch fehlende Beweisstück für den kleinen Blutkreislauf war. Er beschrieb auch als erster 1669 die Anatomie eines Insekts (Hummel) und lieferte eine sehr wertvolle Pflanzenanatomie (Hoppe 2000, 170; Ballauff 1954, 153 f.). Robert Hooke (1635– 1703), Physiker, Sekretär der Royal Society in London und Meister der Mikroskopie, setzte diese Forschungen fort und beobachtete als erster Pflanzenzellen, die er als ›cellula‹ bezeichnete, und somit den Terminus ›Zelle‹ in die Biologie einführte (Jahn 2000a, 209). Der Holländer Antony van Leeuwenhoek (1632–1723) teilte 1679 an die Royal Society in London die Entdeckung der ›Samentierchen‹, der tierischen Spermatozoen, mit. Er studierte außerdem die Verwandlung der Ameise, die Entwicklung von Fischen und Fröschen aus Eiern und beschrieb viele Mikroorganismen (Protozoen, Mund- und Darmbakterien, Rädertierchen usw.), wie auch rote Blutkörperchen (ebenda 210 f.; Ballauff 1954, 160). Durch Jan Swammerdam (1637–1680), ebenfalls aus Holland, erreichte die mikroskopische Technik ungeahnte Höhepunkte, da es ihm gelang, feinste Schnitte durchzuführen und durch Injektionen farbiger Flüssigkeiten und Aufblasen sehr kleine Organe beobachtbar zu machen. Er wurde berühmt für seine Anatomie der Insekten (1669) und befasste sich außerdem mit ihrer Embryogenese (Jahn 2000a, 210; Ballauff 1954, 166).
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Ganzheit – ja als ein Labor – auf, die jedoch mit den Kräften des gesamten Makrokosmos in Verbindung steht (›alchemia microcosmi‹) (ebenda). 52 Die Stoffumwandlungen, die im Organismus durch die Verdauung als Verbrennung, Verflüssigung und Verdichtung der Nahrung stattfinden, sah Paracelsus von einer Kraft geleitet, die er ›Archeus‹ nannte und die nicht als quantitativ-messbares, sondern als qualitativ-chemisch und willensartiges Prinzip im Sinne der Aristotelischen Konzeption der Seele gedacht war (Ballauff 1954, 177). Der Anhänger Paracelsus’, der Belgier Jan Baptiste van Helmont (1577–1644), reduzierte, ausgehend von seinen eigenen Experimenten, die drei Wirkprinzipien seines Vorgängers auf zwei: »das Element des Wassers als materiellen und das Ferment oder Samenhafte als dynamischen Urgrund« (zitiert in: ebenda 193). Das dynamische immaterielle Prinzip, das van Helmont weiterhin ›Archeus‹ nannte, würde die Materie gemäß der Form, seiner ›Entelechie‹ gestalten: Durch die Erzeugung eines gasförmigen ›Fermentum‹ würde es die physiologischen Vorgänge durch eine besondere chemische Gärungskraft, die ›Fermentation‹, leiten (Jahn 2000a, 216). Jedes Organ hätte seine eigene immaterielle Steuerung, sodass der Archeus die Oberaufsicht über die einzelnen Verwalter der Organe haben würde. Mit Hilfe der Aristotelischen Terminologie versuchten Paracelsus und van Helmont die in der Renaissance aufgekommene Vorstellung, dass neben der Selbstbewegung auch die Selbsterhaltung ein wesentliches Merkmal des Lebendigen ist, mit der Idee des dynamischen Gleichgewichts der chemischen Konstitution des gesunden Lebewesens zu verbinden. William Harvey (1578–1657) gelang die für die Biowissenschaften »bedeutendste Entdeckung des 17. Jahrhunderts durch die Aufklärung des großen Blutkreislaufes« (ebenda 198 f.), die er 1628 der Öffentlichkeit mitteilte. Ausgehend von der Aristotelischen Lehre, die dem Herz eine zentrale Rolle für die Erwärmung des Blutes zuschrieb, und seinen eigenen experimentellen Beobachtungen an lebendigen Tieren, die ihm erlaubten, die Menge des vom Herz bewegten Blutes pro Stunde richtig zu schätzen, kam er zur Erkenntnis, dass eine so große Blutmenge unmöglich in so kurzer Zeit im Körper verbraucht und neu entstehen könnte, wovon im Gefolge der antiken Medizin weiterhin ausgegangen wurde. Daraus schloss er, dass das Blut vom Körper zum Herz zurückkehren musste – ganz nach dem 52
Vgl. auch: Hoppe 2000, 168.
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Vorbild des schon im 16. Jahrhundert beschriebenen kleinen Kreislaufes des Blutes vom Herz zu den Lungen und zurück. Harvey repräsentiert wie kein zweiter den Übergang von einer Weltanschauung in eine andere, denn er war ein Mann der harten Wissenschaft und zugleich ein Aristoteliker, da er die Vorstellungen des Griechen auf den Blutkreislauf anwandte. 53 Es ist auffällig, in welchem Maße Harvey gut zwanzig Jahre nach der Veröffentlichung der Theorie des Brutkreislaufes sich von der Aristotelischen Auffassung der Rolle des Herzens entfernt hatte (Rothschuh 1968, 73 f.). Nicht nur vertrat er einen entschiedenen Sensualismus und Empirismus, der damals vor allem in England im Aufstieg begriffen war, sondern bezweifelte auch die Rolle des Herzens als »Urquell des Lebens« und »Sonne der kleinen Welt« und die damit verbundene Vorstellung, dass die Wärme des Herzes das Blut mit »Spiritus« anreichert (ebenda 71 ff.). 54 Die Entsakralisierung und Profanisierung des Herzes, die später zu seiner Gleichsetzung mit einer simplen Pumpe führte, hatte bereits begonnen. In seiner embryologischen Schrift Exercitationes de generatione animalium von 1651 bewies Harvey jedoch weiterhin eine Nähe zu teleologischen Vorstellungen seiner Zeit, wenn auch eine kritische, die von seiner naturphilosophischen Sensibilität zeugt: Die Embryogenese sei zwar Werk der Seele des Embryos, aber das Wirken der Natur dürfe nicht »Es sei gestattet diese Bewegung im selben Sinne einen Kreislauf zu nennen, wie Aristoteles das Wetter und den Regen mit einer Kreisbewegung der oberen Regionen verglichen hat. […] So dürfte es wahrscheinlich auch im Körper zustande kommen, daß alle Teile durch die Blutbewegung mittels eines erwärmten, vollkommenen, dunstigen, geistigen und (um mich so auszudrücken) nährkräftigen Blutes genährt, durchwärmt und belebt werden, daß das Blut hingegen in den Körperteilen abkühlt, verdichtet und geschwächt wird, daher es zu einem Ursprung und zwar zum Herzen gleichsam zu seiner Quelle bzw. zum Hausaltar des Körpers zurückkehrt, um seine Vollkommenheit wieder zu erlangen. Dort wird es durch die natürliche, kräftige feurige Wärme, diesen Lebensschatz, von neuem verflüssigt mit Spiritus und – sozusagen mit Balsam geschwängert, von hier aus wird es wiederum verteilt: und all das ist von der Schlagbewegung des Herzens abhängig. So ist das Herz der Urquell des Lebens und die Sonne der kleinen Welt sowie die Sonne im gleichen Verhältnis den Namen Herz der Welt verdient. Durch sein Kraftvermögen und durch seinen Schlag wird das Blut bewegt, zur Vollkommenheit gebracht und ernährt und vor Verderbnis und Zerfall bewahrt. Durch Ernährung, Warmhaltung und Belebung leistet es seinerseits dem ganzen Körper Dienste, dieser Hausgott die Grundlage des Lebens, der Urheber alles Seins« (Harvey 1628, zitiert in: Ballauff 1954, 152; Hervorhebungen von S. K.). 54 Siehe letzte Fußnote. 53
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auf der Basis unseres eigenen technischen Schaffens verstanden werden, denn die Natur muss nicht, wie der Mensch, eine Kunst erst lernen. Deshalb dürfe das im Embryo wirkende ›Principium‹ nicht ausgehend von der bewussten Seele gedacht werden, denn es hätte höhere Fähigkeiten als diese (Driesch 1922, 25 f.). Harvey war nicht nur Arzt von zwei englischen Königen, sondern auch von Francis Bacon (1561–1626), sodass kaum zu bezweifeln ist, dass er dessen entschieden mechanistische und jede Teleologie ablehnende Metaphysik und seine utilitaristische, staatsmännisch geprägte, Wissenschaftsauffassung kannte. Die Abwendung Harveys von Aristoteles bezüglich der Herzfunktion scheint jedoch viel mehr mit dem Zeitgeist des zu sich findenden 17. Jahrhunderts zu korrespondieren, als eine Spätfolge seiner persönlichen Beziehung zu Bacon zu sein. Die damals utopisch anmutenden Ideen des Letzteren, die bis heute extrem einflussreich geblieben sind, 55 haben die Entwicklung der Biologie des 17. Jahrhunderts primär durch das Verkünden des wissenschaftlich-technischen Zeitalters beeinflusst. Bacons Methodenideal, das qualitativ-induktiv war und der Mathematik misstraute, trug zur methodischen Erneuerung von Botanik und Zoologie im 19. Jahrhundert entscheidend bei (Jahn 2000a, 197). Im 17. Jahrhundert entsprach es dem Stand der pharmazeutischen und chemischen Praxis und förderte »den Wandel von einer Alchemie zur Chemie in der medizinischen Heilmittellehre« (ebenda), was der von Paracelsus begründeten Iatrochemie neuen Auftrieb und vor allem neue Richtung verlieh (ebenda 213 ff.). Die von Bacon ausgehenden Impulse standen in einer gewissen Konkurrenz zur quantitativ-mathematischen Wissenschaftlichkeit von Galilei und Descartes, die in den Lebenswissenschaften des 17. Jahrhunderts sich als ›Iatrophysik‹ und ›Iatromechanik‹ manifestierte. Harveys wichtigste Entdeckung kann diesen Richtungen zugezählt werden, nicht aber sein Verständnis der Embryogenese. Galilei hat die Biologie nicht nur durch seinen Antiaristotelismus und Sensualismus beeinflusst, sondern auch durch seine Schüler. Der aus biowissenschaftlicher Sicht bedeutendste von ihnen war der Physiker und Astronom Giovanni Alfonso Borelli (1608–1679). In
Bacons Pläne umfassten die Gründung von botanischen Gärten, Laboratorien, Museen und Akademien als Institutionen der dogmenfreien Forschung und Verbindung theoretischen und praktischen Wissens.
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seinem 1680 erschienen Buch über die Bewegung der Tiere De motu animalium beschrieb er neben dem Vogelflug und den Schwimmbewegungen von Fischen und Vierfüßlern auch die Bewegungen der inneren Organe auf mechanischer Basis (Rothschuh 1968, 108 ff.). Die wichtigsten philosophischen Anstöße für die Iatro- und Biomechanik – Disziplinen, die schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts von Leonardo da Vinci vorweggenommen wurden – kamen zweifellos von Descartes (1596–1650). Beim Versuch, die organismischen Vorgänge auf mechanische Prinzipien zu reduzieren, war seine Lehre von den Bewegungsgesetzen körperlicher Teilchen zentraler als sein »von falscher Anatomie (z. B. des Gehirns) und falscher Physiologie (z. B. des Herzes)« durchsetztes biologisches Wissen (ebenda 115). Descartes war eben in einem viel höheren Grad Physiker als Lebenswissenschaftler. Er war mit den Werken von Vesalius, dem Begründer der modernen Anatomie, und Harvey vertraut (Birch & Cobb 1981, 71) und verfasste 1632 die erste wissenschaftlich-mechanistische Physiologie mit dem Titel Traité de l’Homme (Abhandlung über den Menschen). Aus Angst vor der Inquisition erschien diese Schrift erst 1662, zwölf Jahre nach Descartes’ Tod, unter dem Titel De homine, aber einige wichtige Resultate waren in Discours de la méthode zusammengefasst. Eine dort enthaltene zentrale Annahme der Physiologie Descartes’ ist, dass der menschliche Organismus prinzipiell nicht anders funktioniert als die »Automaten oder bewegungsfähigen Maschinen«, die z. B. in den königlichen Gärten ausgestellt waren, auch wenn der menschliche Körper »aus den Händen Gottes kommt und daher unvergleichlich besser konstruiert ist und weit wunderbarere Getriebe in sich birgt als jede Maschine, die der Mensch erfinden kann« (1997, 91 (V, § 9)). Nicht nur die Funktion der Organe wird mechanistisch gedacht, d. h. ohne jegliche Referenz auf Aristotelische Teleologie, sondern auch die regenerative Wirkung des Metabolismus auf der mikroskopischen Ebene der Teilchen: »[W]as braucht man zur Erklärung der Ernährung und der Erzeugung der verschiedenen Körpersäfte weiter zu sagen, als daß die Kraft, durch die das Blut infolge seiner Verdünnung vom Herzen bis in die äußersten Enden der Arterien getrieben wird, bewirkt, daß einige Blutbestandteile in den Gliedern, in denen sie sich gerade befinden, haften bleiben und dort den Platz anderer einnehmen, die sie verdrängen, und daß sich je nach Lage, Gestalt oder Kleinheit der Poren, auf die sie treffen, einige eher als andere an bestimmte Stellen begeben, ganz so, wie es jeder an verschiedenen Sieben beobachten kann, die auf allerlei Weisen durchlöchert, dazu dienen, ver-
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schiedene Getreidesorten voneinander zu trennen?« (ebenda 89 (V § 8), Hervorhebungen von S. K.).
Discours de la méthode erschien 1637 als das erste Buch Descartes’. Mehr als vierzig Jahre später hat Borelli diese rein mechanische Erklärung des Metabolismus, die nicht nur ohne Aristotelische Teleologie, sondern auch ohne jegliche Vorstellung von qualitativen chemischen Umwandlungen auskommt, unverändert übernommen. Die Embryogenese kommt, aus kartesischer Sicht, durch eine von Wärme verursachte Wirbelbewegung zustande. Die tierischen Samen beider Geschlechter würden sich durch Gärung derart erhitzen, dass durch die hohe Beweglichkeit die Teile sich gegenseitig deterministisch umformen würden, sodass schließlich daraus – ohne den Eingriff psychoid-teleologischer Faktoren – der Organismus entstehen würde: »Der Mikrokosmos des tierischen und menschlichen Leibes entsteht also nach denselben Mustern wie der Makrokosmos der Sonnen, Planeten und Monde« (Poser 2003, 140 f.). Auch Newton spekulierte über embryogenetische Faktoren nach dem Vorbild himmlischer Abläufe. 56 Descartes war jedoch kein konsequenter mechanischer Materialist, denn seine biologischen Schriften enthalten eine sehr eigentümliche kausale Einflussnahme der Seele des Menschen auf seine Körpermaschine: Die menschliche Seele würde in der Epiphyse des Gehirns (Zirbeldrüse) – diesem mysteriösen »Scharnier zwischen Denken und Gliedermaschine« (ebenda 143) – auf die fluiden ›Lebensgeister‹ wirken und ihre Bewegungsrichtung in den Nervenbahnen verändern. Dass hierin der strittigste und am meisten kritisierte Punkt der Metaphysik Descartes’ liegt, darf an dieser Stelle, genauso wie die Verwurzelung dieser Problematik in seiner Zwei-SubstanzenLehre, als über alle Maßen bekannt betrachtet werden. Die Problemhaftigkeit des kartesischen Dualismus hat seinen Siegeszug in die Lebenswissenschaften nicht behindert. Für viele Mediziner, die in der antiken Überlieferung eine nutzlose Last sahen, läutete er die Stunde ihrer weltanschaulichen Befreiung von Tradition und Kirche; insofern ist es nicht überraschend, dass »der Cartesianismus nicht über Philosophielehrstühle, sondern zunächst und in erster Linie über die Medizin Eingang in die Universitäten Europas fand« (ebenda 139). Diese Entwicklung verlief jedoch nicht linear und 56
Siehe Fußnote 64 dieses Kapitels.
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viele bedeutende Forscher gingen schließlich auf kritische Distanz zu Descartes. 57 Im 18. Jahrhundert schließlich fand das physikalisch-mechanistische Menschenbild Descartes’ einen großen Anklang in den Werken der französischen Materialisten. Descartes’ Bedeutung für die weitere Entwicklung des biologischen Denkens bis heute besteht darin, die erste radikal mechanisch-materialistische Konzeption der metabolischen Selbsterhaltung und embryonalen Entwicklung des Lebewesens sowie auch der unbewussten Beweglichkeit der inneren und äußeren Organe entworfen zu haben. Mit ihm beginnt »das konsequente kausalanalytische Denken in der Biologie und Physiologie«, wie der Medizinhistoriker Karl Rothschuh betont (zitiert in: Poser 2003, 133). Descartes’ Schriften bedeuteten für das alte Denken vom Lebendigen eine so tiefe und schmerzliche Zäsur wie die ›präzisen‹ Schnitte bei den Vivisektionen dieser Zeit für die nicht narkotisierten Tiere – die aus kartesischer Sicht eben nichts als seelenlose Automaten waren. Mit Descartes konsolidierte sich endgültig die Spaltung zwischen ›Materie‹ und ›Seele‹, deren Einheit schon bei den Vorsokratikern zu bröckeln begann. Im Laufe des 18. Jahrhunderts kristallisierten sich schließlich die Fronten deutlich und unbeweglich heraus. Die Materie wurde nicht nur als ›res extensa‹ gedacht, sondern außerdem – mit Ausnahme des menschlichen Körpers – nur einer einzigen der Aristotelischen Ursachen, der Wirkursache, unterworfen. Allerdings hat dieses Verständnis von Wirkursache nur wenig mit der Aristotelischen ›causa efficiens‹ zu tun. Seit dem 17. Jahrhundert herrscht in den Naturwissenschaften eine Konzeption von Wirkursache, die keineswegs Aristotelisch gedacht ist, da sie die vom Griechen betonte unlösbare Verbindung von Wesen (eidos) bzw. Form- mit der Zweck- und Wirkursache auflöst. Mehr noch: Die Vorstellung, dass eine natürliche Ein außergewöhnlicher Vertreter der kartesianischen Iatrophysik ist der dänische Anatom, Mediziner und Geologe Niels Stensen (1638–1686), der eingehend Funktion und Beschaffenheit des Herzens als Pumpe beschrieb. Zunächst von der kartesischen Auffassung der Tiere als seelenlosen Automaten überzeugt, betrieb er vergleichende Studien der tierischen Gehirn- und Nervenfunktionen, um schließlich in einem 1669 veröffentlichten Werk die These von der Seelenlosigkeit der Tiere zu bezweifeln und Irrtümer Descartes’ über das Gehirn zu revidieren (Jahn 2000a, 200 f.). In eine ähnlich kritische Richtung verwies 1680 der Pariser Anatom Claude Perrault (1613–1688), der aufgrund zahlreicher Tierexperimente eine alternative Biomechanik vorschlug, um die tierische Seele als kausalen Faktor einzubeziehen (Jahn 2000a, 201 f.).
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Entität ein Wesen besitzt, das ihr Werden bestimmt, wird entschieden abgelehnt. Die Wirkursachen sind seit dem 17. Jahrhundert systemontologisch fundiert: Die blinden mechanischen Interaktionen zwischen den materiellen Elementen eines Systems treiben sein Werden deterministisch an. Die einzige Gemeinsamkeit zwischen der systemund der substanzontologisch gedachten Wirkursache ist, dass sie dem Werden zeitlich vorgeordnet sind. Die neuzeitliche Dekonstruktion der antiken Konzeption des Wesens (eidos) förderte zusätzlich den Dualismus, ja sogar den Antagonismus zwischen Zweckursachen und Wirkursachen, der seit dem 17. Jahrhundert nicht nur das biologische Denken, sondern auch die Philosophie der Natur und des Geistes verfolgt. Erst diese Vertreibung der Zweckursachen aus dem Studium der Materie hat erlaubt, bestimmte materielle Gebilde als bloße Maschinen zu betrachten – die körperliche Ausdehnung als solche schließt nicht eine den Körpern interne Entelechie aus. Vielmehr liegt der Konzeption der ›res extensa‹ als einer nur ausgedehnten passiven Substanz dieser absolute Ausschluss der Aristotelischen Teleologie aus den körperlichen Seienden zugrunde. Dieser Schritt der Austreibung der Zweckursachen aus der Materie und die damit korrespondierende Verbannung des Psychischen aus dem Lebendigen, d. h. der Mechanisierung der leblosen und lebenden Körperlichkeit, konnte nur metaphysisch vollzogen werden, da er logisch oder empirisch nicht zu rechtfertigen war. Descartes’ mechanistische Naturphilosophie erwies sich für die Physik als begrenzt tragfähig, denn sie negierte jede Art von Fernwirkung, da sie kausale Übertragung nur durch stofflichen Kontakt zuließ. Newtons Gravitationslehre beruhte aber gerade auf der Idee der augenblicklichen Übertragung von Kraft über astronomische Distanzen. Umso massiver und anhaltender hat aber der Kartesianismus das Denken vom Lebendigen bestimmt, wo – um zwei Beispiele seines andauernden Einflusses zu nennen – nach wie vor davon ausgegangen wird, dass körperliche Effekte durch raumzeitlich lokalisierte molekulare Sequenzen (Gene) ausgelöst werden und dass mentale und physische Zustände zwei ontologisch radikal verschiedenen Phänomenbereichen angehören. Als Descartes 1650 starb, hatten die Lebenswissenschaftler angefangen, sich der enormen Komplexität der Organisation des Lebendigen bewusst zu werden. Dies verdankten sie der zu Beginn des Jahrhunderts eingeführten Mikroskopie und der damit verbundenen Verfeinerung der Anatomie. Zu den primär intuitiven Vorstellungen 90 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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der Selbstbewegung und der Selbsterhaltung, die von der Antike und der Renaissance geerbt wurden, kam nun die empirisch gut fundierte Erkenntnis der anatomischen und physiologischen Zweckmäßigkeit der lebendigen Organisation bis in die mikroskopische Ebene hinunter. Im 17. Jahrhundert wurde die Vorstellung von Lebewesen als durchgehend zweckmäßig organisierten Mikrokosmen fundiert. Gleichermaßen charakteristisch für diese Zeit ist es aber, dass zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte eine sehr einflussreiche wissenschaftliche Gemeinschaft entstand, die durch messbare physikalische Faktoren die durchgehend zweckdienliche Ordnung des Lebendigen quantitativ beschreiben und erklären wollte. In diesem Übergangsjahrhundert findet parallel zum schallenden Titanenkampf zwischen dem teleologischen Denken der Vergangenheit und dem Physikalismus der Zukunft ein stilles, denn weitaus subtileres, Wettrennen statt. Inspiriert von der Paracelsischen Naturphilosophie entstand im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert in vielen Ländern Europas eine alchemistisch-chemische Bewegung, die einerseits die Gewinnung neuer Arzneimittel anstrebte, andererseits aber sich als Alternative zur physikalisch-mechanischen Sichtweise sah, was vor allem für die Forschungen van Helmonts gilt (Jahn 2000a, 214 f.). Die von ihm und Paracelsus vertretene Lehre verband die Chemie des Organismus mit der Ordnung des Kosmos. Erst aus dieser hermetischen Vorstellung der Spiegelung des Makrokosmos in den Mikrokosmos – die, modern gesprochen, eine nichtlokale Verschränkung des Lebewesens mit dem Weltall, der biologischen mit der kosmischen Ordnung, darstellte – leiteten sie Medikamente, d. h. mikrokosmisch wirksame Präparate, ab. Die Iatrochemie (oder Chemiatrie) war in Deutschland gut vertreten und auch die Gründung der berühmten ›Academia Naturae Curiosum‹ (Leopoldina) im Jahre 1652 ist ein mittelbares Produkt dieser Entwicklung (ebenda 214). Die Iatrochemie war an mehreren europäischen Universitäten, wie Marburg, Jena und Leiden, präsent und ihrer Entwicklung diente auch die Gründung verschiedener botanischer Gärten und mit ihnen verknüpfter Laboratorien in einigen europäischen Städten. Schon um 1600 hatte aber die ablehnende Betrachtung des alchemistischen Weltbilds Paracelsus’ angefangen, sodass diese Entwicklung sich immer mehr dem Weg der Iatrophysik näherte und die Vorstellung des makrokosmischen Bezugs des Organismus zugunsten seiner Reduktion auf mikroskopische und streng raumzeitlich lokal existierende materielle Atome aufgab. Descartes’ Austreibung der Fernwirkun91 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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gen hätte auch nicht erlaubt, eine Verbindung des teleskopischen und des mikroskopischen Sehens zu riskieren – nicht einmal nachdem Newton, der bekanntlich alchemistisch sehr aktiv war, sie für die Himmelsphänomene wieder rückgängig machte. So schlug auch die Iatrochemie den Weg des reifen 17. Jahrhunderts zunehmend ein (und trug damit rückwirkend zu seiner Charakterfindung bei), indem sie immer mehr zu einer »Kausalmechanik von unten wurde«. 58
2.3 Zwischen zwei Extremen: Vitalismus und Physikalismus im 18. und 19. Jahrhundert Die Iatromechanik hatte im 18. Jahrhundert viele Anhänger. Als Extremfall der Vereinnahmung der Lebenswissenschaften von der Physik kann das 1748 erschienene Werk L’homme machine (Der Mensch als Maschine) des Arztes und Philosophen Julien de La Mettrie (1709–1751) betrachtet werden. Zunächst, ausgehend von Descartes, entwickelte er eine streng mechanistische Betrachtung des menschlichen Körpers, die alle seelischen Phänomene als Erscheinungen blinder deterministischer Abläufe interpretierte und somit schließlich den kartesischen Dualismus zugunsten eines monistisch-mechanistischen Materialismus und konsequenten Atheismus verwarf. Die Ideen La Mettries können jedoch keineswegs als repräsentativ für das 18. Jahrhundert angesehen werden, denn der mechanistische Materialismus ist nur eine der Strömungen der Aufklärung. Zwischen 1695 und 1714 stellte Leibniz (1646–1716), der möglicherweise größte Universalgelehrte der letzten fünf Jahrhunderte, in mehreren Veröffentlichungen ein neues philosophisches System vor, das als die Vollendung der Substanzmetaphysik angesehen werden kann. Seine Ontologie unterschied sich von der kartesischen primär darin, dass Substanz nicht als Selbständigkeit der Existenz verstanden wird, sondern als autonome Selbsttätigkeit, d. h. als aktives KraftzenSo beschreibt die Biologiehistorikerin Ilse Jahn die Reduktion der Alchemie auf eine Chemie der streng lokalisierten atomaren Korpuskel (persönliche Mitteilung an mich). Führend bei dieser Entwicklung waren die Deutschen Daniel Sennert (1572– 1637) und Joachim Jungius (1587–1657) und der Irländer Robert Boyle (1627–1691), von denen der Siegeszug der Atom- bzw. Korpuskulartheorie nach antikem materialistischem Vorbild in die Chemie ausging (Jahn 2000a, 218 f.). Diese Entwicklung führte schließlich, mit der Einrichtung des ersten Lehrstuhls für Chemie im Jahre 1750 in Uppsala, zur Ablösung dieser Disziplin von der Medizin.
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trum, das den Grund der Veränderung seiner Aktivität in sich trägt. Leibniz’ Antwort auf das Leib-Seele-Problem Descartes’ war die konsequente kausale Trennung der seelischen Akte von den Abläufen der körperlichen Welt, die er ebenfalls als eine deterministische Ganzheit dachte und folglich ihre kausale Abgeschlossenheit gegenüber nicht physischen Faktoren annehmen musste. Die Seele und der Körper eines Lebewesens würden sich parallel zueinander entwickeln, aber jeder Bereich für sich auf eine Weise, die auf die Entwicklung des jeweils anderen angepasst wäre: Sie würden ähnlich wie zwei gleichzeitig funktionierende Uhren operieren, die ohne kausalen Einfluss aufeinander gleich schnell laufen. Auf der Basis dieses von Gott harmonierten Parallelismus konnte die psychophysische Einheit des Organismus gedacht werden, ohne die kausale Einmischung psychoider Faktoren in die leibliche Maschinerie anzunehmen. Leibniz’ Absage an die formende Kraft der Seele, sowohl bezüglich der Embryogenese als auch der Aktivität des erwachsenen Individuums, konnte nichts anderes bedeuten, als dass er das leibliche Geschehen nur aus Wirkursachen hervorgehen lassen musste. Mehrere Jahrzehnte nach Descartes’ Tod war es aber längst klar, dass die mathematisch formulierbare Mechanik nie fähig sein würde, biologische Vorgänge zu erklären. Leibniz blieb also ausschließlich der Entwurf einer metaphysisch konzipierten ›Übermechanik‹ (sozusagen) des lebendigen Körpers zur Wahl. 59 Nur unendlich in sich eingefaltete wirkursächlich-kausale Verhältnisse könnten die Plastizität der organismischen Dynamik aus sich heraus entfalten. Allein, wenn der lebendige KörDiesbezüglich ist die 1705 veröffentlichte Schrift Betrachtungen über die Lebensprinzipien und über die plastischen Naturen von großer Bedeutung: »Ich bin also der Meinung […] daß die Gesetze des Mechanismus an und für sich und ohne die Mitwirkung eines bereits organisierten Stoffes nicht imstande sind, ein Lebewesen zu bilden […] daß die Materie, da ihre Struktur und Ordnung von einer göttlichen Weisheit herstammt, ihrem Wesen nach überall organisiert sein muß, daß demnach in den Teilen der natürlichen Maschine bis ins Unendliche neue Maschinen enthalten sein müssen. Es gibt somit so viele Umhüllungen und so viele organische Körper, die ineinander eingehüllt und eingeschachtelt sind, daß man niemals irgendeinen organischen Körper ganz von neuem und ohne jede Präformation hervorbringen kann. Demnach brauche ich nicht […] zu immateriellen, plastischen Naturen zu greifen […] Denn die Präformation liefert mir im Verein mit der Tatsache, daß die Organisation bis ins Unendliche fortgeht, materielle plastische Naturen, die mir eben das leisten, was hier verlangt wird; während die immateriellen plastischen Prinzipien einerseits nicht notwendig, ferner aber auch unfähig sind, die Schwierigkeit zu lösen« (1996a, 323; erste Hervorhebung von S. K.).
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per eine bis ins unendlich Kleine durchgehend organisierte Maschinerie ist, kann die Entwicklung der Embryogenese im Körper des Embryos, d. h. ausschließlich in seiner Materie, präformiert programmiert sein. 60 Leibniz gelang die für seine Metaphysik essentielle Koexistenz von teleologischem Denken und Maschinentheorie unter Zuhilfenahme einer auf Logik und Mathematik des Unendlichen gestützten Metaphysik. Die Vorstellung eines unendlich strukturierten Körpers ist nur dann biologisch sinnvoll, wenn sie von der Vorstellung der kausalen Anpassung der Elemente zueinander ausgeht. Im 18. Jahrhundert wird die im 17. begonnene Entwicklung der Wahrnehmung von Lebewesen als bis in die mikroskopische Sphäre zweckmäßig organisierten Gebilden naturphilosophisch und biotheoretisch durchdacht, was am Ende des Jahrhunderts zur Reifung des Organismus-Begriffs führen sollte. Ein Protagonist dieser Entwicklung war der Philosoph, Aufklärer und Leibnizianer Christian von Wolff (1679–1754), der ebenfalls Mathematiker und Physiker war. Wolff war ein christlich orientierter Aufklärer und sah in der Zweckmäßigkeit der lebendigen Organisation ein Mittel der göttlichen Offenbarung, eine »Hauptabsicht« Gottes, weil man aus dem Studium der organismischen Zweckmäßigkeit »Gründe ziehen kann, daraus sich seine Eigenschaften […] mit Gewißheit schließen lassen« (zitiert in: Jahn 2000b, 233). 61 Das ›Buch der Natur‹ war ein sehr beliebter Ausdruck innerhalb der sogenannten Physikotheologie, die schon am Ende des 17. Jahrhunderts als Reaktion gegen das mechanomorphe Verständnis des Organismus entstanden war. Der Hauptverdienst der Physikotheologen für die Entwicklung der Biologie ist, durch die große Popularität ihrer Werke ein breites Publikum auf die durchgehende innere Kohärenz des Organismus aufmerksam gemacht zu haben. Der Engländer Stephen Hales (1677–1761), Theologe, Pfarrer, botanischer und zoologischer Experimentator brachte in seiner 1733 veröffentlichten und viel ge-
Leibniz war Anhänger des embryologischen Präformationismus und ein Vordenker der Theorie programmierbarer Automaten – eine Kombination, die die Metapher des genetischen Programms (genetischer Präformationismus) im 20. Jahrhundert antizipierte – und Erfinder des Rechnens mit dem Unendlichen (Infinitesimalrechnung). 61 Vgl. auch: Ballauff 1954, 239 ff. 60
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lesenen Haemostatics das Verständnis seiner Zeit von der organismischen Zweckmäßigkeit exzellent auf den Punkt: »Es gilt für diese bewundernswerte Maschine (des Organismus), daß sich alles weise abgestimmt findet nach Zahl, Gewicht und Maß, jedoch mit so vielen Umständen, daß man selbst viel mehr Dinge kennen muß, um darüber genaue Berechnungen anzustellen. […] Das rechte Verhältnis der Teile, ihre zahllosen Schönheiten, ihre großartige Symmetrie, der gegenseitige Gleichklang dieser Zusammenstellung von so vielen verschiedenen Säften und festen Teilen, werden immer die Möglichkeiten neuer Entdeckungen bieten und werden ununterbrochen Beweise für die Weisheit des göttlichen Baumeisters liefern, der sie geschaffen hat« (zitiert in: Rothschuh 1968, 130 f.; Hervorhebungen von S. K.).
Es ist bemerkenswert, dass ausgerechnet die Konzeption des Organismus als Maschine – eine nicht zu übersehende Gemeinsamkeit mit La Mettries Materialismus – den Status eines Gottesbeweises bekommen soll. Dies ist nur dadurch verständlich, dass die damaligen Physikotheologen mit einer streng statischen Teleologie operierten: Gott hätte die Spezies der organisierten Maschinen genauso erschaffen, wie sie jetzt auf der Erde sind, denn es würde seinem Wesen widersprechen, etwas zu kreieren, das nicht so perfekt wie möglich zur restlichen Schöpfung angepasst wäre und somit verändert werden könnte. Für die Physikotheologen war die Unveränderlichkeit der Arten essentieller Bestandteil einer perfekten Schöpfung. 62 Eine für die Entwicklung der Biologie sehr wirksame dynamischteleologische Alternative entstand aus der »Erkenntnis, daß Organismen in ihrem Individualleben ständigen Einflüssen und Veränderungen ausgesetzt sind, auf Einwirkungen der Außenwelt reagieren und sich zweckmäßig anpassen können, ohne daß alles schon von Geburt an vorherbestimmt sein kann«, sondern auf die Wirkung »inhärenter Kräfte« zurückgeführt werden muss (Jahn 2000b, 233). Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurden für das Wesen dieser Kräfte sehr verschiedene Vorstellungen entwickelt, deren Spektrum sich von physikalischen Theorien nach dem Vorbild der Newton’schen Gravitationslehre bis zu rein metaphysischen Konzeptionen erstreckte. Gemeinsam hatten sie alle, dass sie nachträglich unter dem Oberbegriff Vitalismus zusammengefasst wurden. Biologen und Physiker der GeDer Vorstellung einer perfekten Natur hing auch Charles Darwin ursprünglich an (Mayr 1991, 159, 190).
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genwart bezeichnen oft undifferenziert als ›Vitalismus‹ jede Theorie, die bei der Beschreibung des Lebens von Final- oder ZweckursachenKausalität Gebrauch macht. Das ist eine Definition des Vitalismus, die nicht der Kennzeichnung dieser Tradition dient, sondern lediglich der Auszeichnung des gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Zugangs zum Lebendigen, der Leben auf die Wirkursachen-Kausalität raumzeitlich lokalisierter stofflich-energetischer Vorgänge reduziert. Diese inflationäre Verwendung des Begriffes, die sich auch gegen Prozessphilosophen wie Bergson richtet, weise ich explizit zurück, weil sie eindeutig reduktionistischen Vorstellungen vom Lebendigen dient, die alle nicht-szientistischen Ansätze unter einen Oberbegriff zusammenzufassen versuchen, um sich von ihnen leichter abgrenzen zu können. Der Vitalismus des 18. Jahrhunderts entstand als kritische Reaktion auf die Vorstellung, dass bloß Gesetze und Kräfte der Mechanik einen Organismus zu erzeugen vermögen. Es ist diesem primär in einer kritischen Haltung wurzelnden Ursprung anzulasten, dass der Vitalismus als eine uneinheitliche Denkbewegung aufkam und auch eine solche blieb (Mayr 2000, 31 ff.). Eine Theorie kann generell als vitalistisch bezeichnet werden, wenn sie davon ausgeht, dass im Organismus »etwas Greifbares, ein reales Ding« wirkt, das »außerhalb des Geltungsbereichs der physikochemischen Gesetze liegt« und die Gestalt des Organismus formt (Mayr 1991, 22). Dieses reale Ding wirkt nur innerhalb des Lebewesens, ohne notwendig an dieses gebunden zu sein. Viele Vitalisten gingen von einer prinzipiellen Abtrennbarkeit des formenden Faktors vom geformten Körper aus. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ist es möglich, zwischen einer animistischen und einer materialistischen oder energetischen Grundrichtung des Vitalismus zu unterscheiden. 63 Der bekannteste Vertreter der ersten Richtung, die als Psychovitalismus bezeichnet wird, ist der deutsche Mediziner und Entwickler der Phlogistontheorie Georg Ernst Stahl (1660–1734), der schon als Student unter den Einfluss der Iatrochemie geriet. Stahl führte die Entstehung eines Organismus mit einer arttypischen Gestalt und seine Selbsterhaltung auf seine alle Lebensvorgänge zielgerichtet steuernde immaterielle Seele (Anima) zurück. Schon 1695 fasste Stahl seine Lehre im folgenden Grundsatz zusammen: Die Bezeichnung ›energetischer Vitalismus‹ habe ich von Hans Driesch übernommen (1928, 298).
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»Die Seele selbst baut sich den Körper, bewahrt ihn und handelt in allem in ihm auf ein bestimmtes Ziel hin, wenn sie zuweilen auch von diesem Ziel abirrt« (zitiert in: Rothschuh 1968, 152).
In seinem Hauptwerk Theoria Medica Vera von 1708 schrieb Stahl: »Betrachten wir den Organismus in der Medizin, so erkennen wir unschwer die Leitkraft im lebenden Körper als die wesentliche Ursache, als die wirkende Kraft […] Diese Wirkkraft benützt die mechanische Konstitution des Körpers und seiner Teile, sie erregt sie und instruiert sie, um durch gerichtete Bewegungen den richtigen Endzweck und Effekt zu bewirken. […] [Es zeigt sich deutlich], daß es der Seele obliegt, wirksam dafür Sorge zu tragen, daß jene Bewahrung des Körpers, die für ihn notwendig ist, tatsächlich in die Tat umgesetzt wird« (zitiert in: Rothschuh 1968, 153 ff., Einfügung und Hervorhebung von S. K.).
Leibniz hat die psychovitalistische Lehre kritisiert, weil sie die kausale Geschlossenheit der physischen Welt verletzt, indem sie eine immaterielle Substanz postuliert, von der die Materie geordnet wird. Stahls Vitalismus ist jedoch in Frankreich, in der berühmten medizinischen Fakultät von Montpellier, auf fruchtbarem Boden gefallen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde sie modifiziert und zu einer höheren Differenzierung gebracht (ebenda 156 ff.). Die davon ausgehenden Impulse sind bis tief in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in dem in Frankreich begründeten Organizismus wirksam geblieben (ebenda 159). Der Hauptvertreter der ›energetischen‹ Richtung des Vitalismus, war Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840). Er nahm an, dass jeder Gestaltbildungs-, Wachstums- und Regenerationsvorgang Resultat einer gesetzmäßig im Organismus waltenden Lebenskraft, eines ›Bildungstriebes‹, ist. Die Besonderheit der Annahme Blumenbachs ist, dass er im Unterschied zu anderen Forschern ablehnte, die Lebenskraft in Analogie zur Newton’schen Schwerkraft oder auch nur in Anlehnung an sie zu denken (Jahn 2000b, 269). 64 Allerdings existiert ein sehr breites Interpretationsspektrum dessen, was unter ›Lebenskraft‹ zu verstehen sei, sodass einige Deutungen kaum vitalistisch anmuten. 65 Blumenbach beschrieb sie 1781 als eine noch unbeNewton selbst, der die Gravitation als eine immaterielle auf die Materie wirkende Kraft verstand, hat diese Entwicklung angeregt, indem er zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Gravitationskraft auch auf chemische und biologische Erscheinungen anwandte (Jahn 2000b, 232). 65 Dieses Spektrum reicht »von der Vorstellung einer vis occulta (geheimen Kraft) als 64
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kannte immaterielle Kraft, die nur bei Lebewesen wirksam ist, weshalb er sie nicht als eine physikalische Kraft wie die Gravitation verstanden wissen wollte. Unter dem Einfluss der Werke von Goethe, Kant und Schelling verlief die Entwicklung des biotheoretischen Denkens in Deutschland anders als in vielen europäischen Ländern. Erst ab 1840, nachdem der naturphilosophische Einfluss zurückgedrängt worden war, vollzog sich die disziplinäre Spezialisierung im deutschsprachigen Raum mit derselben Entschlossenheit wie in England, Frankreich und Holland. Unter der Wirkung der Goetheschen Morphologie 66 entstanden zwischen dem Ende des 18. Jahrhunderts und 1840 wichtige Werke, die nicht dem Geist der quantifizierenden Naturforschung folgten, sondern die Phänomene auf eine qualitative Weise abzuleiten versuchten, z. B. als Metamorphosen einer ›Urpflanze‹ bzw. eines Urtypus (Jahn 2000c, 290–301). 67 Dabei kam es oft, nicht nur wegen des Einflusses der Schellingschen Naturphilosophie, zu spekulativen Überspitzungen, die Goethe fremd waren. Umso bemerkenswerter ist es aber, dass zu Beginn dieser Zeit der Ausdruck ›Biologie‹ in mehreren Schriften zum ersten Mal auftaucht; eine Tendenz die nicht auf Deutschland beschränkt blieb, denn auch Lamarck verwendete in seiner Hydrogéologie von 1802 diesen Ausdruck. Einer der vielseitigsten und am schwersten zu fassenden Denker dieser Jahrzehnte, der nach einer neuen Orientierung jenseits des mechanischen Materialismus und dogmatischen Vitalismus suchte, war Alexander von Humboldt (1769–1859). Auf der Basis seiner rund 4000 galvanischen Versuche und seiner vergleichenden Beobachtungen an vielen hundert Pflanzen- und Tierarten kam er 1794 zur Charakterisierung der ›Lebenskraft‹ als den Faktor, der die chemische Homogenisierung des Lebewesens verhindert und somit anti-entropisch wirkt. 68 Humboldt hoffte durch seine galvanischen Versuche die Ursache der spezifischen Lebensprozesse […] bis zur Deutung als naturgesetzliche Erscheinung, die nicht als Ursache, sondern als Wirkung eines bestimmten ›Mischungsverhältnisses‹ der Substanzen im Organismus auftritt, wie die Anziehungsund Bindungskräfte der chemischen Elemente selbst« (Jahn 2000c, 281 f.). 66 Dieser Begriff wurde 1796 von Goethe entwickelt; er definierte ›Morphologie‹ als Verwandlungslehre. 67 Vgl. auch: Meyer-Abich 1949. 68 »Diejenige innere Kraft, welche die Bande der chemischen Verwandtschaft auflöst und die freie Verbindung der Elemente in den Körpern hindert, nennen wir Lebenskraft« (zitiert in: Jahn 2000c, 280). In seiner Erzählung Die Lebenskraft oder der rho-
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Identität von ›Lebenskraft‹ und ›tierischer Elektrizität‹ beweisen zu können (Jahn 2000c, 280) – eine damals sehr verbreitete Idee. Aber schon drei Jahre später vollzog er eine radikale geistige Wendung: »Im Jahr 1797 […] habe ich bereits erklärt, daß ich das Vorhandensein jener eigenen Lebenskräfte keinesweges für erwiesen halte. Ich nenne seitdem nicht mehr eigene Kräfte, was vielleicht nur durch das Zusammenwirken der einzeln längst bekannten Stoffe und ihrer materiellen Kräfte bewirkt wird« (zitiert in: Meyer Abich 1949, 182).
Humboldt verwarf den energetischen Vitalismus, als er die Überzeugung gewann, dass in Lebewesen stets viele materielle ›Systeme‹ miteinander interagieren. Es ist mehr als erstaunlich, wie noch bevor die sogenannte ›Biologie der Goethezeit‹ überhaupt begann, er die radikale Abwendung von ihr antizipierte. Humboldt war eine typische Übergangsfigur. Schon seine frühen Schriften kündigten den Übergang vom Vitalismus zu einem neuen Materialismus, der nicht mehr mechanisch, sondern physikochemisch fundiert sein sollte. Er kann als ein Vordenker des biosystemischen Denkens gesehen werden. Die rasante Entwicklung der physikalistischen Physiologie in Deutschland seit den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts bereitete vor allem dem energetischen Vitalismus enorme Schwierigkeiten. Für die Vorstellung einer besonderen Lebenskraft ließ der positivistische Imperativ der Eliminierung aller ›okkulten‹ Faktoren aus der wissenschaftlichen Erkenntnis keinen Platz. Diese Haltung wurde auch von den Fortschritten der Physikochemie dieser Zeit gewaltig gefördert, denn sie nährten den Glauben, dass alle Vorgänge der Natur durch die bekannten bzw. mit naturwissenschaftlichen Methoden zu entdeckenden physikalischen Kräfte und Gesetze erklärbar sind bzw. sein werden. Überdies wurde der erste Hauptsatz der Thermodynamik gegen jene Lebenskräfte eingesetzt: Der Energieerhaltungssatz, dessen uneingeschränkte Gültigkeit auch für Organismen eindeutig experimentell bewiesen wurde (Penzlin 2000a, 434) 69, verbietet die Annahme einer anderen physischen Kraft, die der physikalischen Gesetzlichkeit nicht gehorcht. 70 dische Genius von 1795 vermittelte er diese Einsicht als begnadeter Literat (MeyerAbich 1949, 184 ff.). 69 Vgl. auch: Rothschuh 1968, 258. 70 Der Mediziner Robert Mayer formulierte 1842 als erster das Prinzip der Erhaltung der Energie, d. h. den ersten Hauptsatz der Thermodynamik.
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Die Hauptvertreter der physikalistischen Biologie waren Matthias Schleiden (1804–1881), Theodor Schwann (1810–1882), Carl Ludwig (1816–1895), Emil Du Bois-Reymond (1818–1896) und Hermann von Helmholtz (1821–1894). Durch die Einführung sehr exakter quantitativer Verfahren und die Erfindung vieler neuer Geräte haben sie »weite Gebiete der Physiologie erstmalig erfolgreich quantitativ bearbeitet« (Rothschuh 1968, 261). Ihr enormer Experimentierdurst korrespondierte natürlich mit einigen tiefsitzenden metaphysischen Überzeugungen: Sie gingen davon aus, dass ein Organismus »nach blinden Gesetzen der Notwendigkeit« entsteht, sodass »der Grund der organischen Erscheinungen nur in einer anderen Kombination der Stoffe liegen [kann]« (Schwann 1839, zitiert in: ebenda 255 f.; Einfügung von S. K.). Über die Art und Weise der ›Stoffe‹, sich im organismischen Ganzen einzufügen, d. h. über die Teil-Ganzes-Beziehung des biologischen Physikalismus, ist folgender gleichermaßen klar wie auch selbstsicher vorgetragener Glaube Du Bois-Reymonds aus dem Jahre 1848 relevant: »Ein Eisenteilchen ist und bleibt zuverlässig ein und dasselbe Ding, gleichviel ob es im Meteorstein den Weltkreis durchzieht, im Dampfwagenrade auf den Schienen dahinschmettert oder in der Blutzelle durch die Schläfe eines Dichters rinnt« (zitiert in: Driesch 1922, 138).
Auf diese rein metaphysische Annahme gestützt, konnte 1852 Carl Ludwig, »der erfolgreichste und vielseitigste Physiologe des 19. Jahrhunderts«, eine biologisch-atomistische Methodologie programmatisch vertreten (Rothschuh 1968, 258 f.). Die Forscher der LudwigSchule führten unter konstant gehaltenen Experimentierbedingungen und Variation eines einzigen Parameters Messungen an einzelnen Organen durch, die aus Tieren entfernt wurden; es wurde also ganz nach dem Vorbild der Physik experimentiert (ebenda 269). Offensichtlich wurden die Organe als die physiologischen Atome des Organismus betrachtet: Den ›Eisenteilchen‹ Du Bois-Reymonds gleich würde jedes Organ sein eigenes Wesen, d. h. seine eigene als unveränderlich angenommene Summe von Eigenschaften, in sich tragen, sodass man es vom restlichen Verband ablösen könne, um es isoliert zu untersuchen. Ganz im Sinne der kartesischen Methode würde man nur noch die durch diese Analyse der Teile getöteter Organismen gewonnenen Erkenntnisse zusammenzusetzen brauchen, um die Funktionsweise des lebendigen Ganzen abzuleiten. Nietzsche
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hatte den Geist dieser Wissenschaftskultur perfekt erfasst, als er 1888 schrieb: »Nicht der Sieg der Wissenschaft ist das, was unser 19tes Jahrhundert auszeichnet, sondern der Sieg der wissenschaftlichen Methode über die Wissenschaft« (1972, Fragment 15 [51]).
Der ontologische Reduktionismus der physikalistischen Biologie folgte ihr nicht in ihren Abstieg im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, sondern blieb in der einen oder anderen Form bis heute bestehen, wenn z. B. einige Molekularbiologen immer noch Gene als alleinige Träger von Eigenschaften und somit als Vererbungsatome betrachten. Die wissenschaftliche Physiologie schlug in Frankreich der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts einen wesentlich synthetischeren Weg ein. Nicht von ungefähr fand dies in der medizinischen Fakultät von Montpellier statt, in jener berühmten Schule, in der die Ideen des deutschen Psychovitalisten Georg Ernst Stahl am willigsten aufgenommen und weiterentwickelt worden waren. Der Grund dafür ist, dass durch den Einfluss der Stahlianer die französische Physiologie sich auf das spezifisch Lebendige der sensiblen und kontraktilen Gewebe zu begründen suchte und zu diesem Zweck nach einer anderen Experimentiermethodologie suchte als die aus Physik und Chemie entliehene der deutschen Physiologen. Der für die OrganismusTheorie wichtigste Verdienst der französischen Physiologie ist es, dass aus ihren Reihen eine frühe Formulierung des Organizismus, der sich erst im 20. Jahrhundert voll entfalten konnte, hervorgegangen ist. Der Begriff ›organicisme‹ wurde 1846 vom Arzt Léon Rostan eingeführt. Maßgebend an der Anpassung dieser Denkrichtung an den Zeitgeist des fortgeschrittenen 19. Jahrhunderts war Claude Bernard (1813–1878), über dessen grausame Vivisektionen ein großer Teil der damaligen Ärzteschaft entsetzt war. Durch Bernard bekam der Organizismus eine materialistische Grundorientierung. In einem 1878 erschienenen Werk gab er den langen Diskussionen, an denen auch Philosophen beteiligt waren, seine eigene zusammenfassende Interpretation: »Das Leben ist eine zusammengesetzte Maschine: Die Eigenschaften beruhen auf der organischen Struktur. Derart definiert sich der Organizismus (organicisme)« (zitiert in: Konersmann 1984, 1358).
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In seiner 1865 erschienenen bekanntesten Schrift Introduction à l’étude de la médecine expérimentale konstatierte er: »Der lebende Organismus ist nur eine bewundernswerte Maschine, ausgestattet mit den wunderbarsten, verwickeltsten und zartesten Mechanismen. […] Man muß aber doch anerkennen, daß der Determinismus der Lebensvorgänge nicht nur sehr vielfältig ist, sondern daß er zugleich auch eine derartige harmonische Rangordnung aufweist, daß die vielfältigen physiologischen Vorgänge aus einer Reihe einfacher Vorgänge bestehen, die sich gegenseitig determinieren, indem sie sich zu einem gemeinsamen Endzweck verbinden« (zitiert in: Rothschuh 1968, 272; Hervorhebung von S. K.).
Vom ›Endzweck‹ ist hier keinesfalls die Rede im Sinne eines internen psychoiden Strebens oder einer unbewussten Lebenskraft, denn Bernard war überzeugter Determinist 71 und lehnte jeglichen Vitalismus ab. Er sah die Besonderheit des Lebendigseins in der gegenseitigen Determination physikochemischer Vorgänge, die aufgrund ihrer eigenen Struktur zu einem bestimmten Endzustand führen können und erkannte, dass eine solche wirkursächlich-kausal bedingte Gesetzmäßigkeit nur im kohärenten Gesamtgefüge des Organismus studiert werden kann, da sie bei der Zerlegung dessen in einzelne Organe verloren geht. Bernard vertrat also ein Organismus-Bild, das sich von dem der deutschen Physiologen dieser Zeit nicht bezüglich der materialistischen Weltanschauung, sondern des systemischen Charakters seiner blinden Wirkursachen-Kausalität unterschied. Er hat die Idee der organismischen Zweckmäßigkeit mittels einer frühen, nicht-formalen Variante des naturwissenschaftlichen Systemismus interpretiert. Der systemische Physikalismus, der die Idee der Teleologie akzeptiert, war geboren. Allerdings handelt es sich dabei um eine auf Endgerichtetheit reduzierte abgeschwächte Variante von Teleologie, die weder Zweck- noch Formursachen (eidos) bedarf und folglich mechanistisch erklärt werden soll. Nicht das Wesen (eidos) des Organismus, d. h. seine Seele, strebt einen für den Organismus zweckmäßigen End-
In Introduction à l’étude de la médecine expérimentale legte Bernard fest: »In den biologischen Wissenschaften ist der Determinismus ebenso wie in den physikalischchemischen möglich, denn in den lebenden Körpern wie in den unbelebten kann die Materie keinerlei Spontaneität haben« (zitiert in: Querner 2000, 427; Hervorhebung von S. K.).
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zustand an, sondern die blinden Interaktionen zwischen materiellen Elementen führen deterministisch zu einem solchen Zustand. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts fand in Deutschland eine der folgenreichsten Entwicklungen der Biologiegeschichte statt: die Begründung einer Disziplin, die sich als »experimentelle, kausalanalytische Erforschung der Embryonalentwicklung« verstand (Penzlin 2000a, 433). Hans Driesch, einer der Protagonisten dieser Disziplin, wandte sich ziemlich schnell vom ursprünglichen Ziel einer ›Entwicklungsmechanik‹, wie der Begründer der experimentellen Embryologie Wilhelm Roux (1850–1924) diese Disziplin nannte, radikal ab und führte die passendere Bezeichnung ›Entwicklungsphysiologie‹ ein (Penzlin 2000b, 445). Roux betrachtete die Embryogenese als eine wirkursächlich-kausale »Selbstleistung, Autoergasie des Gebildes« (1914, 9), 72 d. h. als einen von inneren physikochemischen Kräften des sich herausbildenden Organismus determinierten Vorgang. Dabei ging er nicht nur von der Relevanz »vieler ev. aller noch im normalen Zustande anwesenden Teile des Ganzen« aus, sondern, im Unterschied zu den Physikalisten, auch von der »Art ihrer Kombination« (ebenda 59, 61). Die Entwicklungsphysiologie hat natürlich eine Vorgeschichte. Sie ist verbunden mit keinem geringeren als Ernst Haeckel (1834– 1919), dem Lehrer von Wilhelm Roux und Hans Driesch und dem entschlossensten Verfechter des Darwinismus im deutschsprachigen Raum. Die experimentelle Entwicklungsphysiologie ging aus einer kritischen Reaktion auf das sogenannte ›biogenetische Grundgesetz‹ Haeckels hervor, »dass die Ontogenie weiter nichts ist als eine kurze Recapitulation der Phylogenie« (Haeckel 1866, 7). Durch Darwins Autorität und Haeckels entschiedenen Einsatz wurde die Rekapitulationstheorie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sehr populär (Junker 2000, 374). Haeckel war jedes experimentelle und kausalanalytische Vorgehen in der Biologie zutiefst wesensfremd, denn für ihn »bedeutete Beschreibung bereits kausale Erklärung« (Penzlin 2000b, 441). So interpretierte er das ›biogenetische Grundgesetz‹ als ein kausales Gesetz: »Die Phylogenesis ist die mechanische Ursache der Ontogenesis« (Haeckel 1891, 64). Diese Aussage, wörtlich genommen, könnte auch so interpretiert werden, dass zeitlich sehr ferne Ereignisse eine mechanische kausale Relevanz in der Gegenwart haben. Für Der Terminus ›Autoergasie‹ setzt sich aus den griechischen Wörtern ›auto‹ und ›ergasia‹ (Arbeit) zusammen.
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viele Darwinisten dieser Zeit erklärte »[d]er Stammbaum, der die Verwandtschaft zeigt, […] für sie die Formen kausal« (Querner 2000, 429). Für einen nach strengen physikochemischen Ursachen suchenden Forscher müssten solche Vorstellungen nach einer, wie auch immer zustande gekommenen, zeitlichen Fernwirkung klingen, was natürlicherweise zu Gegenreaktionen führte: Der Anatom Wilhelm His ging in Opposition zu Haeckel und beschrieb 1874 die Embryogenese als eine »Abfolge von Erhebungen, Faltungen und Verwachsungen« (Penzlin 2000b, 441), wobei »jede Entwicklungsstufe mit allen ihren Besonderheiten als nothwendige Folge der unmittelbar vorangegangenen erscheint« (zitiert in: ebenda, Hervorhebung von S. K.). Aus der szientistischen Perspektive einer wirkursächlich-kausalanalytischen Embryologie hat die Verknüpfung einer embryogenetisch relevanten Ursache an den unmittelbar vergangenen Zeitpunkt den großen Vorteil, diese im Embryo selbst zu lokalisieren, anstatt sie durch den ›Nebel‹ seiner unzähligen Vorfahren geistern zu lassen. Haeckels Desinteresse für die interne physikochemische Kausalität des Lebewesens wurzelte jedoch auch in dem für den Darwinismus essentiellen Mangel einer Organismus-Konzeption zugunsten einer allgemeinen Umgebungszentrierung. Der bekannte Biologe Richard Lewontin sieht die wichtigste Leistung von Darwin (1809–1882) in der Erkenntnis, dass einer und derselbe Vorgang zur besseren Anpassung an die Umgebung und zur Artenvielfalt führt (2002, 39). Lewontin zufolge besteht Darwins eigentliche Relevanz für den Organismus-Begriff in der Trennung der inneren Vorgänge von den äußeren, wie seine Kritik gegen Lamarcks Verinnerlichung der Umgebung durch den Organismus, d. h. gegen die Idee der Vererbung von Eigenschaften, die in einer konkreten Umgebung erworben wurden und sich bewährt haben, verlangt (ebenda 40). Das Erwerben solcher Eigenschaften führte Lamarck auf die willentliche Anstrengung der Organismen. Darwins Theorie schuf mehr als eine »radikale Trennung […] zwischen internen Prozessen, die den Organismus formen, und externen Prozessen, also der Umwelt, in denen der Organismus agieren muss« (ebenda). Die Konsequenz dieser Trennung war die Rückführung der organismischen Variationen, die der natürlichen Selektion ausgesetzt werden, auf Vorgänge, die sich zwar innerhalb der räumlichen Grenzen des Organismus stattfinden, aber nicht von ihm kausal bedingt werden können – was heute als zufällige Mutationen und Rekombinationen des genetischen Materials beschrieben wird. So gesehen, »sind die Organismen das Objekt 104 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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evolutionärer Kräfte, der passive Knotenpunkt voneinander unabhängiger externer und interner Kräfte« (ebenda 45). Roux opponierte – ob es ihm bewusst war oder nicht – notwendig gegen diese schwache Organismus-Konzeption Darwins, in dem Moment, in dem er die intern bedingte nicht zufällige Selbstleistung (Autoergasie) sowohl des Embryos als auch des erwachsenen Organismus postulierte und zu beweisen suchte. Vom selben Geist des Widerstands gegen darwinistische Organismus-Vergessenheit ließ sich hundert Jahre nach Roux der Frankfurter Biologe Wolfgang Friedrich Gutmann (1935–1997) mit seiner Konzeption vom Organismus als ein autonomes kohärentes kausales Gefüge leiten (Gutmann 1989, 1992), 73 die vom überzeugten Neodarwinisten Ernst Mayr bekämpft wurde, wie es zu erwarten war. Das 19. Jahrhundert war zweifelsohne die Zeit der inner- und außeruniversitären Etablierung der Biologie und der meisten ihrer Teildisziplinen in Europa und Nordamerika. Trotzdem kam am Ausgang dieses Jahrhunderts ein neuer Vitalismus auf. Diese Zeit endete also mit der Renaissance einer Idee, die mehr als hundert Jahre zuvor zum Durchbruch gelang. Der Vitalismus ist genuines Produkt des 18. Jahrhunderts, der Zeit, in der sich die Vorstellungen der Rückführbarkeit organismischer Zweckmäßigkeit entweder auf mechanische oder auf psychoide Faktoren immer mehr zu gegnerischen weltanschaulichen Fronten verfestigten. Diesem Kampf der damaligen Mainstream-Biologie entzog sich neben der Morphologie Goethes, die eine nicht vitalistische Rückkehr zur Platonisch-Aristotelischen Wissenschaftlichkeit darstellte, die Teleologie-Konzeption Kants, dank der die Vorstellung vom Organismus eine biowissenschaftlich fruchtbare philosophische Vertiefung erfuhr. 2.3.a
Jenseits von Vitalismus und Physikalismus: Die organismische Zweckmäßigkeit nach Kant
Die kritische Philosophie von Immanuel Kant (1724–1804) ist in wichtigen Punkten durch biologische Denkweisen geprägt worden, was ihm umgekehrt erlaubte, die Praxis und Theorie der Biologie nachhaltig zu befruchten (Köchy 2008, 34). Eine wichtige Rolle spielte dabei der aus dieser Wissenschaft entliehene Begriff der Zweck73
Vgl. auch: Edlinger, Gutmann, Weingarten 1991; Gutmann, Weingarten 1995.
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mäßigkeit, dem eine zentrale Bedeutung im gesamten System der drei großen Kritiken und speziell in der Kritik der Urteilskraft zukommt, als deren Wirbelsäule er betrachtet werden kann. Im zweiten Teil dieser Schrift von 1790 kämpfte Kant gleichzeitig an zwei Fronten: Er argumentierte gegen die ›schwärmerische‹ Teleologie der Wolfianer und Physikotheologen und gegen mechanistische Auffassungen vom Organismus, wie die La Mettries. Dabei gelang es ihm, die Besonderheit der organismischen Kausalität gegenüber der Linearität sowohl der Produzent-Produkt-Teleologie der Technik als auch der Ursache-Wirkung-Trennung der Mechanik auszuarbeiten. »In einem solchen Produkte der Natur wird ein jeder Teil, so, wie er nur durch alle übrige da ist, auch als um der andern und des Ganzen willen existierend, d. i. als Werkzeug (Organ) gedacht […] als ein die andern Teile (folglich jeder den anderen wechselseitig) hervorbringendes Organ […] und nur dann und darum wird ein solches Produkt, als organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen, ein Naturzweck genannt werden können« (Kant 1994, 321 f. (§ 65); Hervorhebung von S. K.).
Mit anderen Worten: »Ein organisiertes Produkt der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist. Nichts in ihm ist umsonst, zwecklos, oder einem blinden Naturmechanism zuzuschreiben« (ebenda 324 (§ 66), Hervorhebung von S. K.).
Aus beiden Formulierungen kann der Begriff der Selbstorganisation, wie er von Kant als seinem Urheber erfasst wurde, abgeleitet werden: Von der Selbstorganisation einer Ganzheit kann nach Kant nur dann die Rede sein, wenn ihre Teile sich gegenseitig Mittel und Zweck sind. Was jeden Organismus charakterisiert, ist, »daß die Teile desselben sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, daß sie voneinander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind« (ebenda 321 (§ 65)). Ein »organisiertes Wesen«, d. h. ein Lebewesen, »ist also nicht bloß Maschine: denn die hat lediglich bewegende Kraft« (ebenda 322 (§ 65)); jenes aber »besitzt in sich bildende Kraft«, da seine Teile sich gegenseitig nicht nur die Bedingungen ihrer Bewegungen geben, sondern darüber hinaus sich gegenseitig in ihrer materiellen Beschaffenheit hervorbringen (ebenda). Die zweckmäßige Anordnung der Teile einer Maschine ist eine, die von außen geplant und hergestellt wird, da sie einem externen Zweck dient. Indem Kant die Begrenztheit der Erklärungskraft der maschinellen Kausalität bei 106 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Die Geschichte des Organismus-Verständnisses
Organismen zeigt, gelingt es ihm, organismische Selbstregulation als eine Form von Zweckmäßigkeit jenseits der technisch-mechanischen darzustellen: Die Zweckmäßigkeit, oder innere Kohärenz, der lebendigen Ganzheit entsteht dadurch, dass sich die Teile des Organismus gegenseitig Mittel und Zweck sind. Da die Teile füreinander nicht nur Mittel sind – wie bei der Maschine, deren Zweck außerhalb ihrer selbst im Menschen liegt – tragen die Ganzheiten, denen sie angehören, ihren Zweck in sich: Die Organismen sind »Naturzwecke«, d. h. nicht nur ihre Teile, sondern auch als Ganze sind sie »von sich selbst […] Ursache und Wirkung« (ebenda 318 (§ 64)). Aufgrund der enormen Kluft zwischen der formal beherrschbaren mechanischen Kausalität und der geschlossenen Kausalität der Naturzwecke ist es »für Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen, oder zu hoffen, daß noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde« (ebenda 352 (§ 75)). Naturzwecke werden uns, eben aufgrund ihres Wesens, immer zwingen, ihnen Zwecke zuzusprechen und somit echte Teleologie, die nicht auf bloße physikochemische Endgerichtetheit reduzierbar ist, in unsere Erklärungen einzuschließen: »Doch muß die Ursache, welche […] [in den Organismus] Materie herbeischafft, diese so modifiziert, formt, und an ihren gehörigen Stellen absetzt, immer teleologisch beurteilt werden« (ebenda 326 (§ 66), Einfügung von S. K.).
Darwin ist es ganz gewiss nicht gelungen, diese Position zu widerlegen. Es ist allein schon deshalb falsch, in Darwin den ›Newton des Grashalms‹ zu sehen, wie es so oft geschieht, weil jener – anders als die Physikalisten, Organizisten und Entwicklungsphysiologen – nicht die Kausalität der Körperlichkeit eines einzelnen Organismus zum Gegenstand seiner Forschung gemacht hat. Die Erkenntnis des Organismus setzt also den Zweck als einen besonderen Begriff voraus. Dieser wird allerdings erst von der menschlichen Reflexion geschaffen, betont Kant, um den Zusammenhalt der organismischen Teile denkbar zu machen, da dafür die Gesetze der physikalischen Kausalität nicht ausreichend sind. Der Zweck-Begriff darf deshalb weder für eine Bezeichnung real vorhandener Naturfaktoren noch für einen konstitutiven Begriff der Vernunft gehalten werden (ebenda 307 (§ 61)). Folglich ist die Idee der Teleologie für Kant lediglich ein »heuristisches Prinzip [um] den be107 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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sonderen Gesetzen der Natur nachzuforschen« (ebenda 365 (§ 78), Einfügung von S. K.), die für das Verständnis einer besonderen Klasse von Objekten, der Lebewesen, nötig sind. Die Teleologie des Lebendigen ist also nur ein »regulativer Begriff« der biologischen Forschung. Als solcher erlaubt er weder die Zweckmäßigkeit der Organismen oder die zweckmäßige Ordnung des planetaren Lebens als Ganzes auf einen transzendenten Geist zurückzuführen, wie die Physikotheologen dachten, noch auf den Organismen immanente Seelen zu schließen, wovon die Vitalisten ausgingen (ebenda § 72, § 73). Kant erteilte also sowohl dem Mechanizismus als auch dem naiven Teleologismus eine klare Absage und stellte sich der Polarisierung, die sie ins Denken vom Lebendigen gebracht haben, in den Weg. Es ist bemerkenswert, wie nah er zu Aristoteles steht, trotz der Distanz seiner kritischen Philosophie zur alten Metaphysik. 2.3.b
Aristoteles und der Vitalismus
Zwischen den Varianten des Vitalismus, die in der Seele den Hauptfaktor organismischen Werdens sehen, und Aristoteles’ biologischem Denken besteht eine gewisse Beziehung, die nicht einfach zu durchschauen ist. Für Hans Driesch, den bekanntesten Neovitalisten, ist die Aristotelische Lebenslehre ein »reiner Vitalismus« (1922, 16). Kann man jedoch den biologischen Schriften Aristoteles’ die Begründung dieser Richtung zusprechen; ist er tatsächlich »[d]er erste systematische Vitalist, den wir kennen« (Driesch 1928, 260)? Die Rolle, die Aristoteles, vor allem in De Anima, der Seele zuschreibt, erinnert an den Psychovitalismus Stahls (und die von ihm ausgehende frühe Schule von Montpellier) sowie auch an seine neovitalistische Fortsetzung, was manchmal dazu geführt hat, dass er der vitalistischen Tradition zugerechnet wurde. Aristoteles erhebt die Seele zum kausalen Hauptfaktor jedes Organismus, weshalb Driesch in dem antiken Denker einen ihm sehr engen Geistesverwandten sieht. Allerdings verbietet der Hylemorphismus Aristoteles’ geradezu die für viele Vitalisten und auch für Driesch typische Betrachtung der Seele als einer von der Materie – genauer: von der Körpermaschine, als die der Leib gedacht wurde – ablösbaren Entität (De Anima II, 1 413 a4). Die Seele ist für Aristoteles »das Wesen dem Begriffe nach […] das wesensmäßige Sein für einen so beschaffenen Körper«, d. h. für einen lebensfähigen (organischen) Körper (II, 1 412 b10 f.).
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»Wenn nämlich das Auge ein Lebewesen wäre, so wäre seine Seele die Sehkraft; denn sie ist das Wesen des Auges dem Begriffe nach. Das Auge aber ist die Materie der Sehkraft. […] Wie aber die Pupille und die Sehkraft das Auge bilden, so bilden dort die Seele und der Körper das Lebewesen« (ebenda II, 1 412 b19–413 a4).
Die Aristotelisch gedachte Seele ist zwar nichts Körperliches, sie ist jedoch immer am Körper (ebenda II, 2 414 a21). In diesem Zusammenhang ist auch zu bedenken, dass Aristoteles den lebendigen Körper nicht als Maschine verstand. Die Idee der Maschine impliziert die Vorstellung einer Ganzheit, die durch blinde Wirkursachen funktioniert und in die zusätzlich die Zweckursachen eines Lebewesens, vermittelt durch seinen eigenen Leib, eingreifen können. Aus Aristotelischer Sicht ist aber der lebendige Körper, so wie jeder Körper überhaupt, mit Zweckursachen durchwachsen: Die Materie seiner Organe ist nicht als eine ›res extensa‹ gedacht, deren Beweglichkeit keines finalen Strebens bedarf – das Gesetz der Trägheit war Aristoteles nicht bekannt, insofern war für ihn selbst der Fall eines Steins Resultat eines in jeder noch so kleinen und nicht organisierten Materie inne sitzenden Strebens. Auch wenn also der Psychovitalismus auf Aristoteles’ Seele- und somit auch Substanz-Vorstellung beruht, letzterer sollte weder dieser noch irgendeiner anderen vitalistischen Tradition zugeordnet werden, weil sein Hylemorphismus nicht mit dem Maschine-Seele-Dualismus gleichgesetzt werden kann. Aristoteles hat eine gemäßigte Form echter Teleologie (d. h. eine, die mental-psychoide Faktoren annimmt) für die Erklärung des Lebendigen konzipiert. Die Idee der Seele ist streng mit dem konkreten einmaligen Lebewesen verbunden – weder referiert sie auf einen Teil des Lebewesens innerhalb des Körpers noch auf die Gesamtheit der Lebewesen, geschweige des Kosmos. In diesem Sinne kann man sagen, dass die Seele mit dem einzelnen individuellen Lebendigen zusammenfällt. Aristoteles würde sich nicht nur vom Vitalismus abgrenzen, sondern auch von der ›schwärmerischen‹ Panteleologie der Physikotheologen, wie sie Kant treffend charakterisierte. Beide Denker sahen das individuelle Lebewesen als den Ort natürlicher Zweckmäßigkeit par excellence.
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2.4 Vom späten 19. Jahrhundert bis 1950: Neophysikalismus vs. Neovitalismus In den 1890er Jahren begann sich in Europa eine Tendenz auszubreiten, die häufig als ›Modernismus‹ oder ›Neoromantik‹ bezeichnet wird. ›Leben‹ war ihr Leitwort und es »wurde nicht nur in den Gegensatz zur trägen Materie, sondern auch zur Vorherrschaft des kalkulierenden Verstandes und zum Monopol des analytischen Geistes gestellt« (Kolakowski, 1985,16). In der Biologie spiegelt sich der Geist dieser Zeit durch das Auftreten neuer vitalistischer Theorien wider, die, einem Vorschlag Du Bois-Reymonds folgend, allgemein als Neovitalismus bezeichnet werden (Penzlin 2000a, 434). Die bekanntesten Vertreter dieser Entwicklung, die bis in die 1930er Jahre einflussreich blieb, waren Hans Driesch, Johannes Reinke, Richard Woltereck und Alexander Gurwitsch. Ihr Vorstoß konnte natürlich nicht von dem antivitalistischen Lager unbeantwortet bleiben, sodass die Zeit zwischen 1890 und 1940 sich durch den Kampf der zwei Richtungen auszeichnete. Beide beriefen sich, genauso wie im 18. Jahrhundert, auf die Grenzen bzw. die Möglichkeiten der Physik. Seit ca. 1850 stand aber die Entwicklung dieser Wissenschaft immer mehr unter dem Vorzeichen der Behandlung von Vielteilchensystemen. Neben der Mechanik und der Feldtheorie etablierten sich die Thermodynamik und die statistische Mechanik zu festen Bestandteilen der Theoretischen Physik. Entsprechend verlagerte sich der Diskurs um die Physikalität des Organismischen von der Mechanik in die Energetik: Nicht mehr die Gesetze der Kraft und der Bewegung waren die Mittel der Argumentation, sondern der Energie – ihre Erhaltung, Transformation und Degeneration (Entropie). 2.4.a
Der Neovitalismus von Hans Driesch
Der Biologe und Philosoph Hans Driesch (1867–1941) ist der bekannteste Vertreter des Neovitalismus. Driesch glaubte anhand seiner embryologischen Experimente bewiesen zu haben, dass in jedem Organismus ein zielgerichtet agierender »autonomer, nicht aus einer Kombination anderer Agentien resultierender, sondern in sich elementarer Naturfaktor« am Werk ist (1928, 284). In seinem Hauptwerk Die Philosophie des Organischen, das zuerst 1908 erschien, wurde dieser Faktor als Substanz, im Aristotelischen Sinne dieses Be-
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Die Geschichte des Organismus-Verständnisses
griffs, verstanden (ebenda 365, 379), und auch als ›Entelechie‹ bezeichnet: »Die Essenz des Organismus aber ist seine Entelechie. Sie ist der Inbegriff von allem, was an ihm ausgeprägt ist und was an ihm und von ihm aus sich ausprägen kann – auch in der Folge künftiger Generationen. Sie ist es, die alle ›Eigenschaften‹ des Organismus, aktuelle und potentielle, im Sinne eines immateriellen Substrates hat. Sie selbst ist in jedem Moment zu einem Teile im Zustand des actus, zum anderen im Zustand der potentia. Nicht ist sie selbst der materielle Organismus, etwa ›von der anderen Seite‹ gesehen. Der materielle Organismus als materieller ist, wie ein Kunstwerk, durchaus ihr Produkt, das Ergebnis ihrer Arbeit an der Materie, aber (dies im Unterschied vom menschlichen Kunstwerk) ihr immer noch unmittelbar ›kontrolliertes‹ Produkt« (ebenda 379).
Driesch konzipierte die Entelechie als das verwirklichende Agens, welches als formende immaterielle Substanz den passiven Stoff gestaltet, um den Leib als sein Kunstwerk hervorzubringen (ebenda). Driesch’ Gebrauch des Ausdrucks ›Entelechie‹ erinnert stark an Aristoteles’ Begriff der Seele. Dem »Seelisch-Entelechialen« (ebenda 391) wird allerdings – im deutlichen Gegensatz zu Aristoteles – der Status einer eigenständigen wirklichen Entität zugesprochen, die sich vom Leib zurückziehen kann (ebenda 350). Das hat zwar den physischen Tod zur Folge, schließt aber keineswegs die »persönliche Unsterblichkeit« aus (ebenda 391). Driesch’ und Aristoteles’ Entelechie-Begriffe sollten jedenfalls nicht gleichgesetzt werden. Driesch’ Nähe zur Aristotelischen und psychovitalistischen Lehre resultierte sich aus seinen eigenen Schlussfolgerungen bezüglich der Natur des embryonalen Werdens. Er gelangte zur Überzeugung, die Entelechie eines jeden Organismus sei eine »intensive Mannigfaltigkeit, d. h. ein Agens, welches mannigfaltig wirkt, ohne selbst räumlich oder extensiv mannigfaltig zu sein […] also ein Agens, welches ordnet, aber kein quantitatives Agens« ist (ebenda 339, Hervorhebung von S. K.). Aufgrund der radikalen Zurückweisung der Vorstellung der Quantifizierbarkeit der Entelechie lehnte Driesch »so entschieden wie möglich jede Art von ›energetischem Vitalismus‹ ab« (ebenda 298). Auch wenn aber die Entelechie keine Form von Energie sein könne, das Ergebnis ihrer Arbeit an der Materie müsse den für alle extensiven Mannigfaltigkeiten geltenden Satz der Energieerhaltung respektieren. Driesch versuchte, diesem Satz gerecht zu werden, indem er der Entelechie die Fähigkeit zuwies, Teile der im Organismus 111 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
I · Über das Wesen und die Geschichte des Organismus-Begriffs
vorhandenen kinetischen Energie gezielt in potentielle Energie zu überführen (ebenda 315). Sie könne diese »suspendierte Bewegung wieder freimachen, je nach den Umständen« (ebenda). Driesch sprach der Entelechie die Fähigkeit zu, die ihr zur Verfügung stehende Quantität von Energie lediglich zu verwalten: Sie könne kinetische Energie gezielt als potentielle einbinden und sie wieder freigeben. Für Driesch ist die Entelechie durch naturwissenschaftliche Kategorien nicht zu erfassen: »Wir können […] so scheint mir, nur das eine sagen, daß Entelechie auch bezüglich ihres eigentlichen ontologischen Charakters elementar ist […] Entelechie ist nicht Energie, nicht Kraft, nicht Intensität und nicht Konstante, sondern – Entelechie« (ebenda 310).
Dies bedeutet jedoch, dass Driesch kein anderes als das Problem von Descartes vor sich hatte, der zwei ontologisch völlig andersartige Substanzen aufeinander wirken ließ. Es war und bleibt unverständlich, wie die Entelechie, die eine immaterielle, nicht quantifizierbare Substanz und keine Energieform sein sollte, auf Materie und Energie, die quantifizierbar sind, wirken kann – was sie aber unbedingt tun muss, um sie beeinflussen (»suspendieren«) zu können. Dem neovitalistischen Teleologismus Driesch’ haftet also essentiell mindestens ein großes metaphysisches Problem an: Er bleibt der Erklärung schuldig, wie etwas Immateriell-Geistiges auf Physisches überhaupt wirken kann, worin auch die altbekannte Geist-Materiebzw. Leib-Seele-Problematik besteht. Schon allein wegen dieses gewaltigen Problems ist sein Neovitalismus nicht haltbar. Das gilt aber auch für jede Form des Psychovitalismus überhaupt. Eine andere gewaltige Schwierigkeit besteht in der engen Anbindung der Lehre Driesch’ an der längst überholten Substanzontologie – ein Schicksal, das alle Formen neovitalistischen Denkens, ob energetischer oder animistischer Art, mit ihr teilen. Aus diesem Grund ist heute der Vitalismus, in all seinen Varianten, nur noch von historischem Interesse. 2.4.b
Theorie offener Systeme und Organizismus
Der Neovitalismus geriet nicht nur wegen ontologischer Probleme unter Druck. Es waren vielmehr die enormen Fortschritte von Biochemie und Physik, die damals wie heute die Gewissheit verbreiteten, Leben sei auf molekulare Abläufe reduzierbar, was früher oder 112 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Die Geschichte des Organismus-Verständnisses
später alle nicht materialistischen Ansätze aus dem Weltbild der modernen Biologie verdrängen werde. Die nahezu endgültige Verbannung des Vitalismus aus dem biologischen Denken fand zwischen den 20er und den frühen 40er Jahren des letzten Jahrhunderts statt. Danach kann, Mayr zufolge, nur noch von »wenigen Biologen des späten 20. Jahrhunderts, die vitalistische Neigungen hatten«, die Rede sein (2000, 39). 74 Der Niedergang des Neovitalismus hing mit einem erneuten Durchbruch der organizistischen Biologie zusammen. Das 1919 veröffentlichte Werk des amerikanischen Biologen William E. Ritter The Unity of the Organism, or the Organismal Conception of Life wird manchmal als der eigentliche Beginn des Organizismus betrachtet. Zweifelsohne verdient der Österreicher Ludwig von Bertalanffy (1901–1972) mehr als jeder andere, mit dem Organizismus verbunden zu werden; nicht zuletzt, weil er dieser Richtung eine starke formale Orientierung aufprägte. Es gelang ihm, dem schon von Claude Bernard und Emil Du Bois-Reymond auf den Organismus angewandten Begriff ›dynamisches Gleichgewicht‹ einen gut fundierten mathematischen Ausdruck zu verleihen. Der wichtigste Ansporn der Forschungen Bertalanffys war die Lösung des damals kardinalen Problems der physikalischen Betrachtung des Lebendigen, nämlich das mit dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik aufgeworfene DarwinClausius-Dilemma, und nicht die Physikalismus-Vitalismus-Debatte, die er grundsätzlich für ein Missverständnis hielt (Bertalanffy 1990, 159). Bertalanffy gründete in den 1930er Jahren seine Theoretische Biologie auf der Erkenntnis mehrerer Forscher bezüglich der Relevanz der Theorie offener Systeme für die Lösung des Darwin-Clausius-Dilemmas: Die energetische und/oder stoffliche Offenheit physikochemischer Systeme erlaubt ihnen, unter Umständen, Entropie zu produzieren und trotzdem sich selbst zu strukturieren (Bertalanffy 1940). 75 Diese Einsicht bildet heute noch eine der elementarsten Grundlagen der Theoretischen Biologie und vor allem der systemischen Betrachtung des Organismus. Deshalb wird sie im nächsten Kapitel, das nicht historischen, sondern systematischen Inhalts ist, viel ausführlicher behandelt. Ernst Mayr beurteilt Alistair Hardy, Sewall Wright und Adolf Portmann als Vitalisten (2000, 39). Penzlin ordnet auch den Neurophysiologen und Nobelpreisträger John C. Eccles dem Vitalismus zu (2000a, 435). 75 Mehrere wegbereitende Arbeiten anderer Autoren werden in Bertalanffy et al. 1977, 2 f. genannt. 74
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Der österreichische Physiker und Pionier der Quantentheorie Erwin Schrödinger (1887–1961) hat mit seinem 1944 veröffentlichten Buch What is Life? auf zweifacher Weise die strenge physikochemische Orientierung der modernen Biologie entschieden vorangetrieben. Indem er das metabolische Geschehen in thermodynamische Begriffe fasste, konnte er eine plausible Entropie-Ökonomie des Organismus formulieren, die den zweiten Hauptsatz mit der Entstehung und Erhaltung lebendiger Ordnung harmonierte (1989, 123– 129). Deshalb kann Schrödinger als der neben Bertalanffy einflussreichste Pionier der Anwendung der Theorie offener Systeme auf Organismen betrachtet werden. Seine zweite Leistung bestand darin, auf der Basis einer quantenphysikalischen Analyse experimenteller Tatsachen das »Gen – oder vielleicht das ganze Chromosom – als einen aperiodischen festen Körper« bzw. »aperiodischen Kristall« zu betrachten (ebenda 110 f.). Damit nahm Schrödinger, der auch als erster die Idee des genetischen Codes einführte (ebenda 111 f.), die 1953 enträtselte Doppelhelix-Struktur der DNS vorweg und inspirierte ihre beiden Entdecker, Francis Crick und James Watson, die sein Buch gut kannten (Rheinberger 2000, 653). Schrödinger wirkte also katalytisch auf die Konzeption der Gene als streng lokalisierte mikromaterielle Gebilde im zentralen Bereich der Zelle. Mit der endgültigen Etablierung der Molekularbiologie in den 1950er Jahren schien die Biologie endlich auf festen und naturwissenschaftlich akzeptablen formalen und empirischen Grundlagen fundiert zu sein. Der Traum der Physikalisten des 19. Jahrhunderts, die Reduktion des Organismus auf seine Teile, schien mit der Entdeckung der DNS und einer großen Zahl anderer Makromoleküle, begleitet von der Aufklärung ihrer Chemie, in Erfüllung gehen zu können. Diese Entwicklung wurde zwar von einer viel fortschrittlicheren Physikochemie getragen, sie blieb aber den methodischen Idealen und metaphysischen Grundüberzeugungen des alten Physikalismus treu. In der Theoretischen Biologie andererseits wurde das organizistische Ideal mit Hilfe einer neuen Physik und einer leistungsfähigen Computertechnik von einem eher empirischen zu einem theoretischen systemischen Denken erweitert. Beide komplementäre Innovationen, die systemische Theoretische Biologie und die reduktionistische Molekularbiologie, waren in erster Linie von der Weltanschauung der Physik und den theoretischen, experimentellen und methodischen Mitteln der Physikochemie geprägt worden. Insofern bilden sie den 114 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Die Geschichte des Organismus-Verständnisses
Grundkörper einer Konzeption des Organismus, die als Neophysikalismus bezeichnet werden kann.
2.5 Nach 1950: Teleonomie – die antimetaphysische Teleologie In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde im Zuge der Begründung einer antimetaphysisch orientierten Naturwissenschaft der Versuch unternommen, jedes teleologische Denken aus der Biologie zu verbannen. Trotzdem ist weiterhin von ›Teleologie‹ die Rede, allerdings entweder im Sinne einer methodisch nützlichen Sprechweise oder im Sinne von ›Teleonomie‹. Dieser Terminus wurde in die Biologie zuerst 1958 von Colin Pittendrigh in einem Artikel über Anpassung, natürliche Selektion und Verhalten eingeführt. Führende Philosophen der Biologie benutzen diesen Begriff häufig als die einzige akzeptable Bedeutung des Terminus ›Teleologie‹ (Hull 1974, 103; Mayr 1991, 51–86). 2.5.a
Teleonomie im Rahmen der Programmmetapher
Zur breiten Akzeptanz dieses Terminus hat der bekannte Zoologe und Mitbegründer der neodarwinistischen Evolutionstheorie Ernst Mayr (1904–2005) wesentliches beigetragen, denn durch seine Unterscheidung zwischen ›teleomatischen‹ und ›teleonomischen‹ Vorgängen hat er die Bedeutung letzterer erheblich spezifiziert – leider aber auch mehr als nötig eingeschränkt. Als ›teleomatisch‹ bezeichnet Mayr alle physischen Vorgänge, die »auf eine passive, automatische, von äußeren Kräften oder Bedingungen diktierte Weise ›endgerichtet‹ sind« und zu einem bestimmten Endzustand kommen, »wenn das Potential aufgebraucht ist«, sodass »der Endzustand solcher unbelebter Gegenstände automatisch erreicht wird« (1991, 60; Hervorhebung von S. K.). Die Endposition eines in einen Brunnen fallenden Steines oder die Endtemperatur eines sich abkühlenden Eisens sind Beispiele für solche Vorgänge. In Abgrenzung dazu nennt er alle biologischen »Vorgänge oder Verhaltensweisen, deren Zielgerichtetheit auf das Wirken eines Programms zurückgeht«, teleonomisch (2000, 416; Hervorhebung von S. K.): »Alles teleonomische Verhalten besitzt zwei charakteristische Komponenten. Erstens wird es durch ein Programm gesteuert, und zweitens hängt es
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I · Über das Wesen und die Geschichte des Organismus-Begriffs
von der Existenz eines Schlußpunktes, Zieles oder Endes ab, welches in dem für das Verhalten verantwortlichen Programm vorgesehen ist. Dieser Endpunkt kann eine Struktur, eine physiologische Funktion, das Erreichen einer neuen geographischen Position oder ein ›abschließender‹ […] Verhaltensakt sein« (Mayr 1991, 61). 76
Mayrs Unterscheidung ist hilfreich, denn sie erlaubt es, bestimmten einfachen Systemen, deren Zustandsveränderungen notwendig einen bestimmten Endzustand erreichen, Teleologie (verstanden als Teleonomie) absprechen zu können. 77 Insofern ist es nicht überraschend, dass viele Philosophen der Biologie in dieser Vorstellung von Teleonomie die angemessene Form biologischer Teleologie sehen. Dieser an der Idee des Programms eng gebundene Sonderfall von Teleologie impliziert jedoch die Referenz auf einige (bio)kybernetische Begriffe wie ›Sollwert‹, ›negative Rückkopplung‹, ›genetisches Programm‹, ›ausführende Maschine‹, ›Software‹, ›Hardware‹ usw. (Hull 1974, 104 ff.; Mayr 1991, 66 ff.). Dies hat zur Folge, dass diese Art des teleologischen Denkens in jedem Organismus eine scharfe Grenze zwischen regelnden und geregelten Größen annimmt. Diese Trennung ist für Mayr essentiell. 78 Damit fällt aber diese auf der Basis von Kybernetik, Automatisierungs- und Informationstheorie entstandene Verbindung von Teleologie und Programm hinter die gegenwärtig sich immer mehr durchsetzenden Vorstellungen über die kausale Relevanz des gesamten Organismus deutlich zurück. Unter den uns sinnlich gegebenen Ganzheiten sind die Lebewesen diejenigen, die den höchsten Grad an innerer Kohärenz aufweisen. Der Organismus-Begriff ist eben das Synonym für zweckmäßige kausale Verflechtung der gesamten materiellen Struktur. Im scharfen Gegensatz zu Organismen sind Trennungen zwischen kausal beherrschenden und kausal beherrschten Elementen für Maschinen unerlässlich. Dies gilt vor allem für die informationsverarbeitenden Auch technische Systeme, wie eine zielsuchende Maschine, sind Mayr zufolge teleonomisch (1991, 70). 77 David Hull hätte nicht das Problem, ein Pendel oder einen elastischen Festkörper als teleologische/teleonomische Systeme charakterisieren zu müssen, aber das nicht zu wollen (1974, 111), wenn er von der Unterscheidung zwischen teleomatischen und teleonomischen Vorgängen ausgegangen wäre. 78 Dies geht aus folgender Stelle eindeutig hervor: »Im Fall eines Computerprogramms oder der DNS eines Zellkerns ist das Programm von der ausführenden Maschine völlig getrennt« (Mayr 1991, 66). Vgl. auch: Mayr 2000, 45, 268. 76
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Die Geschichte des Organismus-Verständnisses
Maschinen, die der Teleonomie-Konzeption Mayrs zugrunde liegen, denn sie werden per definitionem so konstruiert, dass sie umprogrammiert werden können, ohne dass ihre materielle Beschaffenheit verändert werden muss. Die Ablösbarkeit des Programms von der Maschine ist also essentiell für solche Anlagen. Die Nicht-Existenz derartiger Trennungen ist ein besonderer Ausdruck organismischen Seins und dem wird die Programm-Metapher eindeutig nicht gerecht. Aus diesem Grund verlassen immer mehr Forscher die alte Vorstellung, die dem Genom die Rolle eines genetischen Programms zuweist, das die Organisation des restlichen Lebewesens regelt, denn »ein Gen ist nicht, ein Gen wird« (Fischer 1989, 19) – und das ist eine Leistung des gesamten Organismus. Immer mehr Biologen schütteln die Metapher des genetischen Programms ab und befreien sich somit von ihrem versteckten Substanzialismus, der einem extrem kleinen und trägen Teil des Organismus die Essenz des Ganzen zuschreibt. 79 2.5.b
Jenseits der Programmmetapher: Teleonomie als Selbstorganisation
Je mehr also die moderne Biologie sich vom Gen-Determinismus entfernt, desto klarer wird es, dass die Teleonomie-Konzeption Mayrs, die auf der Programm-Metapher basiert, nicht für Organismen, sondern nur für Maschinen relevant ist. Das bedeutet aber nicht notwendig, dass die Idee der Teleonomie überhaupt aufzugeben ist. Ihr Potential ist noch nicht erschöpft. Das Wort ›telos‹ ist nicht notwendig nur als ›Ziel‹ oder ›Zweck‹ zu verstehen, sondern kann auch im Sinne von ›Endzustand‹ verwendet werden. 80 Die Verbindung der griechischen Worte ›telos‹ und ›nomos‹ besagt dann nicht mehr, als dass der Endzustand eines Werdens auf der Basis von (natur)gesetzmäßigen Vorgängen erreicht, approximiert oder aufrechterhalten wird. Davon ausgehend schlage ich folgende Erweiterung des Teleonomie-Begriffes vor: Wird heute der Teleonomie-Begriff verwendet, so wird lediglich behauptet, dass Vgl. auch: Janich & Weingarten 1999, 110 ff. Für die verborgene Nähe der Programm-Metapher zur Substanzontologie spricht auch Mayrs Vorschlag, Begriffe wie ›Entelechie‹ und ›Seele‹ in den Schriften von Aristoteles und Hans Driesch mit dem Begriff des Programms zu ersetzen (2000, 34; 1991, 77). 80 Die in der Antike so häufig anzutreffende Verbindung von Ende mit zielgerichtetem Streben ist im Rahmen der Substanzontologie verständlich. Außerhalb dieser ist sie jedoch keineswegs zwingend. 79
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Organismen, Organe und Verhaltensweisen aufgrund ihrer eigenen, naturwissenschaftlich erforschbaren Wirkursachen-Kausalität eine Affinität zu einem bestimmten Endzustand zeigen, d. h. ihn erreichen oder zu ihm tendieren oder um ihn periodisch oder aperiodisch kreisen. Davon ausgehend können Forschungsobjekte der Theorie der Selbstorganisation als teleonomische Ganzheiten betrachtet werden. Der Terminus Selbstorganisation besagt, dass die Erhöhung der Ordnung eines Systems, d. h. die Reduktion seiner Entropie, Resultat der gesetzmäßigen Interaktionen seiner Elemente ist und nicht durch das Wirken einer einzigen wirklichen oder ideellen Entität, wie z. B. einer Seele, einer Platonischen Idee oder eines Programms, entsteht. Auf der Basis der Idee der Selbstorganisation kann von ›Teleonomie‹ in einem systemtheoretischen Sinne gesprochen werden, der als solcher jenseits der Metapher des genetischen Programms steht, da selbstorganisierte Systeme die oben geforderte Affinität zu einem bestimmten und häufig gut vorhersagbaren Endzustand zeigen. Das transdisziplinäre Paradigma der Selbstorganisation bzw. Komplexität entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten mittels seiner nichtlinearen Mathematik zur tragenden Säule der inzwischen sehr formal gewordenen Theoretischen Biologie, da es von den meisten Vertretern dieser Disziplin als ihr wichtigstes ›Gefährt‹ für das 21. Jahrhundert gesehen wird. Dabei wird der von Kant eingeführte Begriff ›Selbstorganisation‹ keineswegs erkenntnisregulativ, sondern metaphysisch gebraucht – und zwar im Sinne einer naturwissenschaftlich-konformen Metaphysik, die von ihren Vertretern fast ausnahmslos nicht als Metaphysik erkannt, sondern für eine selbstverständliche Denkweise gehalten wird. Die großen internen Probleme, die dem Verständnis des Organismus als selbstorganisiertes System anhaften, sind essentiell für die Entstehung der vorliegenden Untersuchung. Deswegen ist ihnen und der szientistischen Ontologie, der sie entspringen, das gesamte zweite Kapitel dieser Arbeit gewidmet, sodass an dieser Stelle der Hinweis genügen muss, dass die entsprechenden Konzepte nur bezüglich ihrer historischen Position als vorläufiges Ende der Geschichte des Denkens vom Organismus dargestellt werden.
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Hat die Biologie ihre eigene ›Seele‹ ausgetrieben?
3.
Hat die Biologie ihre eigene ›Seele‹ ausgetrieben?
Die gegenwärtige Ablösung der hinfälligen Metapher des genetischen Programms von den Theorien der Selbstorganisation, Komplexität usw. kann als der bisher letzte Akt der Physikalisierung der Biologie betrachtet werden, denn diese Theorien sind durchaus physikalischen Ursprungs und Charakters. Und zwar sowohl durch ihre inhaltliche Beziehung zur Thermodynamik, statistischen Mechanik und Theorie dynamischer Systeme als auch durch ihre genuin physikalische Metaphysik, die bei natürlichen Vorgängen nur die Herrschaft von Wirkursachen-Kausalität zulässt. Die Vertreibung des teleologischen Denkens Aristotelischer bzw. vitalistischer Art, das zwecktätige bzw. mental-psychoide Entitäten annahm, zugunsten physikalistisch-materialistischer Positionen, ist Resultat einer Entwicklung, die der bekannte Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer sehr präzise auf den Punkt bringt, wenn er feststellt: »Die moderne Biologie ist nicht das Werk von Biologen« (1989, 9). Der beste Beleg dafür ist die weltweite Tendenz, Lehrstühle für Theoretische Biologie vorzugsweise mit Physikern, Mathematikern, Biophysikern und Informatikern zu besetzen. Die zunehmende Gegnerschaft zwischen den beiden ›Gravitationszentren‹ der Geschichte der Biologie, Seele und Materie bzw. Zweck- und Wirkursachen, – ein Dualismus, der nicht immer klare Fronten hatte (ja oft in einer und derselben Theorie vorhanden war) 81 – hat zur Alleinherrschaft des zweiten Zentrums geführt. Ein Sieg, der freilich nicht dem groben Mechanizismus der Anfänge der Physik beschieden war, sondern dem thermodynamisch-systemtheoretischen Physikalismus des reifen 20. Jahrhunderts. Sein großer Erfolg hat einen sehr wichtigen Nebeneffekt, der bis jetzt kaum aufgefallen zu sein scheint: Das anti-entropische Wesensmoment des Organismus, das physikalisch begründet ist, hat das Primat vor dem Wesensmoment der Zweckmäßigkeit, das genuin biologisch ist, errungen. Die Erfassung der Embryogenese als Strukturbildung eines sehr komplexen physikochemischen dynamischen Systems – dieser Thematik ist das nächste Kapitel gewidmet – bedeutet eben nichts anderes als die Analyse der Entstehung einer zweckmäßigen Organisation auf thermodynamisch-statistischer Basis. Die Vorstellung, dass Organismen, Ökosysteme, ja sogar die gesamte Evolution, lediglich Mittel 81
So ließen z. B. Descartes und Driesch die Seele die Körpermaschine bewegen.
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der Entwertung energetischer Gradienten, also Mittel der Entropieproduktion sind – wovon noch ausführlich die Rede sein wird 82 –, verrät denselben Geist. Dass organismische Elemente besonders gut aufeinander angepasst sind, kann eben dem physikalisch geschulten Verstand unmöglich als etwas Primäres erscheinen, sondern nur als etwas Abgeleitetes. Zweckmäßigkeit muss auf blinde Interaktionen zwischen einer Unmenge möglichst einfacher materieller Elemente zurückführbar sein – ein Problem der statistischen Physik eben. Schon Bertalanffy ging davon aus, dass »eine physikalische Betrachtung zur Klärung« solcher »Ausdrücke wie ›Zweckmäßigkeit‹, ›Finalität‹, ›Zielstrebigkeit‹ u. dgl. […] beizutragen vermag« (1940, 527), was noch sehr zurückhaltend formuliert war. Der Kampf ›Materie gegen Seele‹ hat also, ohne dass es beabsichtigt war, zur Vorherrschaft des Antientropismus gegenüber dem Zweckmäßigkeit-Denken geführt, obwohl weder ›Materie‹ mit ›antientropischem Werden‹ noch ›Seele‹ mit ›Zweckmäßigkeit‹ gleichgesetzt wurden; sonst müsste jeder, der von der Zweckmäßigkeit des Lebendigen spricht, Aristoteliker oder sogar Vitalist sein. Mit der Verschiebung der Aufmerksamkeit vom gesamten Organismus zur Zelle und später zum Molekül ging notwendig der Sinn für die Zweckmäßigkeit der lebendigen Organisation verloren, denn dafür darf das kohärente Gesamtgefüge nicht vernachlässigt werden. Mit der Vertreibung der, zugegeben metaphysisch problematischen, substanzontologisch fundierten Idee der Seele von verschiedenen biologischen Disziplinen – ein Projekt, das momentan in der Neurophysiologie ungekannte Höhenflüge erlebt – hat die Biologie ihre eigene ›Seele‹ verloren und ist dabei, eine Teildisziplin der Physik zu werden – eine Art »Physik des besonders Komplexen«, um alsdann zur »Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts«, wie es immer häufiger zu vernehmen ist, gekrönt zu werden … Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, wird im nächsten Kapitel die neophysikalistische Position einer eingehenden wissenschaftsinternen und anschließend einer ontologischen Überprüfung unterworfen. In den zwei darauffolgenden Kapiteln werden, ausgehend von den Prozessphilosophien von Henri Bergson und Alfred North Whitehead, Wege eröffnet, den unheilvollen Antagonismus zwischen Seele und Materie und den damit korrespondierenden Zweck- und 82
Diese Vorstellung wird im Abschn. 2.2.b von Kap. II ausführlich behandelt.
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Hat die Biologie ihre eigene ›Seele‹ ausgetrieben?
Wirkursachen zu überwinden. In diesen Kapiteln wird der Problematik der Entropie bzw. der anti-entropischen Aktivität der Lebewesen besondere Beachtung geschenkt. Der Grund dafür liegt nicht allein in der gegenwärtigen Dominanz der Physik, sondern auch in der unauflösbaren Verflechtung der Konzepte ›Entropie‹ und ›Möglichkeit‹, die ich versuchen werde, auf prozessontologischer Basis für die Biophilosophie fruchtbar zu machen. Wenn dies vollbracht und zusätzlich dazu ein Weg der Verbindung von Wirk- und Zweckursachen gebahnt sein wird, kann zum Abschluss der vorliegenden Untersuchung eine neue Definition des Organismus und eine prozessphilosophisch erweiterte Konzeption der organismischen Zweckmäßigkeit als das primäre organismische Wesensmoment vorgeschlagen werden.
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Kapitel II Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge oder: ›Bewohnt‹ das Lebendige abstrakte Räume?
Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume erschreckt mich. Blaise Pascal 1
1.
Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus: Lebewesen als wirkursächlich-kausale Systeme
Die Theoretische Biologie der Gegenwart beruht auf dem Weltbild der modernen Physik, wenn von dieser die Relativitäts- und die Quantentheorie ausgenommen werden. Den Vorstellungen der Physik selbstorganisierter Systeme folgend, haben die Biologen gelernt, in der gesamten materiellen Welt Entstehungen und Erhaltungen von Strukturen niedriger Entropie wiederzuerkennen. Die Kernthese der heutigen Vorreiter des biologischen Weltbildes kann wie folgt zusammengefasst werden: Die Strukturbildungsvorgänge der Lebewesen können prinzipiell auf der Basis eines naturwissenschaftlichen Denkens, das keiner Zweck- bzw. Finalursachen bedarf, sondern ausschließlich mit Wirkursachen operiert, erklärt werden. 2 Dieses Weltbild sollte weder als ›materialistisch‹ noch als ›naturalistisch‹ bezeichnet werden. Denn sowohl ›Materialismus‹ als auch ›Naturalismus‹ werden auf sehr unterschiedliche Weltanschauungen angewandt, die nicht in einem Zug genannt werden sollten, wie z. B. der dialektische Materialismus und der mechanistische des 17. und 18. Jahrhunderts. Unter ›Materie‹ wird in der vorliegenden Arbeit – Einstein folgend – raumzeitlich lokalisierte Energie verstanden, deren Raumzeit-Region
Pensées, Nr. 206 Die besondere Bedeutung, die in der vorliegenden Untersuchung den Begriffen ›Wirkursache‹ und ›Wirkursachen-Kausalität‹ bzw. ›Zweckursache‹ und ›Zweckursachen-Kausalität‹ zukommt, wird in den Abschnitten 1.1.b.2 bzw. 1.1.b.3 dieses Kapitels erläutert.
1 2
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Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
alle Größenordnungen der Extension haben kann. Als einige Beispiele für materielle Entitäten können makro- und mesoskopische Gebilde (von Galaxienhaufen und Planetensystemen bis zu Nanopartikeln), Moleküle, Atome, Licht, Felder, Strings und alle Elementarteilchen genannt werden. 3 Mit dem Begriff ›Materialität‹ fasse ich drei Aspekte des gegenwärtigen Verständnisses von Materie zusammen: Erstens meine ich den lokalen Aspekt von raumzeitlich manifesten Entitäten und ihren Interaktionen. Zweitens referiere ich mit diesem Begriff auf die Form der Kausalität ihrer Erzeugung (Wirkursachen-, Zweckursachen-Kausalität oder andere Formen von Kausalität), die zu ihrer Lokalisierung führt, wenn diese Entitäten keine Artefakte sind. 4 Drittens, und ausgehend von der modernen Quantentheorie, bezieht sich dieser Ausdruck auch auf die nichtlokale Verbindung zwischen physischen Entitäten (z. B. Photonen), die sich, wie man heute weiß, über makroskopische, ja vielleicht sogar über kosmische Distanzen aufrechterhalten kann. Der Begriff der Materialität ist also umfassender als der Begriff der Materie. Unter dem Begriff ›szientistischer Materialismus‹ wird in der vorliegenden Untersuchung eine weltanschauliche Grundhaltung verstanden, die von den meisten Naturwissenschaftlern der Gegenwart implizit oder explizit vertreten wird. Sie akzeptiert nur solche Vorstellungen von Materie und Materialität, die auf Beobachtungen und Beschreibungen, formalisierten oder nicht, beruht, die mit den experimentellen und theoretischen Mitteln einer Naturwissenschaft – also nicht nur der Physik – oder einer interdisziplinären Verbindung mehrerer Naturwissenschaften durchgeführt werden. Dieser Begriff ist mit dem des ›Szientismus‹ verwandt, aber nicht identisch, denn letzterer hat im Laufe des 20. Jahrhunderts eine pejorative Konnotation erhalten. Die im letzten Absatz vorgestellten Konzeptionen von ›Materie‹ und ›Materialität‹ sind schließlich außerhalb des experimentellen und theoretischen Rahmens der modernen Physik nicht denkbar. Akzeptiert man jedoch die heutige biologische Variante des szientistischen Materialismus, dann macht es keinen Sinn, zwischen Der führende Quantentheoretiker Geoffrey Chew bringt diese Auffassung von Materie wie folgt zum Ausdruck: »In Einstein’s sense, matter is synonymous with localized energy, so light and gravity as well as atoms are forms of matter. Both fields and strings are material […]« (2004, 86). 4 Die Existenz von Artefakten verweist immer auf zweckursächlich-kausale Aktionen intelligenter Wesen. 3
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II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
Materialität und Materie zu unterscheiden. Denn anders als in der Quantenphysik – ganz zu schweigen von der Quantenbiologie, die für die absolute Mehrheit der Biowissenschaftler weiterhin eine exotische Randerscheinung darstellt – wird der Begriff der Materie in der modernen Biologie als ununterbrochene raumzeitliche Lokalität interpretiert, was unter anderem auch darauf zurückzuführen ist, dass die gegenwärtig als interessant betrachteten Phänomene mit größeren Biomolekülen und nicht mit Elementarteilchen zu tun haben. Die anhand der Beobachtung und Manipulation von Riesenmolekülen – z. B. mit Hilfe von Rasterkraftmikroskopen – gewonnenen Vorstellungen von Materie haben mehr mit der Konzeption der Körperlichkeit, ja sogar der Stofflichkeit zu tun als mit der Ideenwelt der Quantentheorie. Im Rahmen des szientistischen Materialismus werden alle natürlichen Vorgänge ausschließlich durch Wirkursachen beschrieben, weshalb es überflüssig ist, zwischen Materie und Materialität zu unterscheiden. Aber in anderen Weltbildern, die von Zweck- bzw. Finalursachen-Kausalität 5 oder einer anderen Form der Verursachung materieller Tatsachen 6 ausgehen, ist eine solche Differenzierung sehr sinnvoll. Auf der Basis des szientistisch-materialistischen Weltbildes wurde das Denken ganzer Generationen von Biologen und Biophysikern geformt, sodass sie davon überzeugt sind, das Leben sei nichts ›geheimnisvolles‹ – wobei in den entsprechenden Kreisen alles von der modernen Naturwissenschaft nicht erklärbare so betitelt wird, falls ihm überhaupt Existenzberechtigung zugestanden wird – und folglich sei die Enträtselung der für Lebewesen typischen Vorgänge nur eine Frage der Zeit. Die Koexistenz der Erkenntnisse Darwins und Clausius’ wird nicht mehr als problematisch empfunden, da man erkannt hat, dass es eine Art physikalischer Ganzheiten gibt – in den Fachkreisen ist immer die Rede von ›Systemen‹ –, bei der die permanente Produktion von Entropie nicht zum Endzustand der maximal möglichen Entropie führt. Alle Objekte, die unter den Lebensbegriff fallen, vom Bakterium bis zur Biosphäre, werden dieser Art physikalischer Systeme zugeordnet, sodass sie Zustände höherer Ordnungen verwirklichen können, ohne den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zu verletzen. Ziel dieses Kapitels ist, zu untersuchen, in welchem Maße die 5 6
Siehe Kap. IV der vorliegenden Untersuchung. Siehe Kap. III der vorliegenden Untersuchung.
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Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
Erhaltung und Bildung organismischer Ordnung sich innerhalb des Horizontes der Rationalität moderner systemtheoretisch operierender Biowissenschaften befindet. Der Zweck dieser Untersuchung besteht also darin, über die Grenzen momentan erreichter Resultate hinausgehend, die Reichweite zukünftiger Entwicklungen, die auf der Basis der Theorie dynamischer Systeme erreicht werden könnten, abzuschätzen. Dieses Ziel setzt eine gründliche Darstellung bestimmter systembiologischer Entwicklungen voraus, was wiederum nur auf der Grundlage einer Einführung in die moderne Wissenschaft der Selbstorganisation und vor allem in die Physik dynamischer Systeme möglich ist. Das ist unter anderem auch deswegen nötig, weil diese Vorarbeit erlauben wird, in einem späteren Kapitel die Integration des systembiologischen Denkens in die Prozessphilosophie zu versuchen.
1.1 Selbstorganisierte Strukturbildung bei dissipativen dynamischen Systemen Der Erfolg der Beschreibung physischer Geschehnisse mit den Mitteln der Physik ist darauf angewiesen, Systeme (dieser Begriff sei an dieser Stelle als keiner weiteren Analyse bedürftig angesehen) als wohldefinierte Teile der Realität abzugrenzen, um bei ihrer Analyse nicht alles berücksichtigen zu müssen, was auf sie kausal wirkt. Als physikalische Systeme werden Gebilde beschrieben, die makro-, meso- und mikroskopischer Größenordnung sein können, wie die klassischen Systeme der Astronomie, Gase und Flüssigkeiten, Cluster und Proteine, Moleküle und Atome, aber auch technische Artefakte oder sehr komplexe Gebilde wie Organismen. Um ein solches System quantitativ zu untersuchen – was in erster Linie bedeutet, seine raumzeitliche Entwicklung mathematisch beschreiben und eventuell auch vorhersagen zu können – ist es nötig, es einer zusätzlichen mathematischen Abstraktion zu unterwerfen. Das System wird in einem dynamischen Modell abgebildet, mit dem erstens sein jeweils aktueller Zustand 7 und zweitens seine jeweils aktuelle Zustandsänderung eindeutig definiert werden können. Ein System wird als dynamisches System bezeichnet, wenn zu jedem Zeitpunkt sein Zustand als eine endliche Menge von dynamischen Größen, d. h. zeitabhängigen Variablen bzw. Zustandsvariablen x(t) = [x1(t), x2(t), …, xn(t)] be7
Zur Klärung des Zustandsbegriffs siehe Abschn. 1.1.b dieses Kapitels.
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II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
schreibbar ist, für die ein mathematischer Formalismus existiert, der den Wechsel von dem jeweils aktuellen Zeitpunkt t zum darauffolgenden t + δt bestimmt. Dieser Formalismus repräsentiert die kausalen Relationen zwischen den Elementen des Systems. 8 Ein sehr wichtiges Kriterium der Unterscheidung zwischen dynamischen Systemen, neben ihrer energetischen und materiellen Geschlossenheit oder Offenheit, ist, ob sie konservativ oder dissipativ sind. Im zweiten Fall findet – im Gegensatz zum ersten – Degeneration von Energie bzw. Entropieproduktion im System statt, weshalb die Aufrechterhaltung seiner Funktionen nach energetischer Offenheit verlangt. Aus physikalischer Sicht sind Organismen als höchst komplexe dissipative dynamische Systeme zu betrachten. Gegenwärtig kann die Modellierung eines ganzen Organismus, selbst des einfachsten Bakteriums, nur auf einer sehr vereinfachten Ebene stattfinden, deren Aussagekraft bezüglich der tatsächlichen Reduzierbarkeit lebendigen Werdens auf physikalisch erfassbare Wirkursachen-Kausalität gering ist. Dennoch stellt diese Entwicklung einen kaum zu überschätzenden Faktor des biowissenschaftlichen Fortschritts dar und das aus verschiedenen Gründen. Zunächst wäre hier zu nennen, dass in hunderten von interdisziplinär zusammengesetzten Fachgruppen weltweit an der Berechnung und Computersimulation von einzelnen biomolekularen Vorgängen der Zelle gearbeitet wird, die aufgrund ihrer Eingrenzbarkeit gut beschreibbar und für begrenzte praktische Anwendungen medizinischer und biotechnologischer Art relevant sind, die nach strenger Wiederholbarkeit der unter Laborbedingungen zu erzielenden Resultate verlangen. Aus der Perspektive der Physik wäre darüber hinaus zu beachten, dass schon die einfachsten dissipativen dynamischen Systeme ein raumzeitlich inhomogenes Verhalten zeigen, das eine Strukturierung der materiellen Beschaffenheit der Systeme darstellt, die aus dem Zusammenwirken vieler in diesen vorhandener Faktoren resultiert. In diesem Sinne kann von Selbstorganisation die Rede sein, wobei darunter, wie schon im letzten Kapitel erläutert, eine »spontane Entstehung von Ordnung, ohne daß externe Anweisungen oder interne Programme diese Ordnung bestimmen« Diese Erläuterung des Ausdrucks ›dynamisches System‹ ist eng an einem Text von Dirk Holste angelehnt, der den ersten Teil eines mit mir gemeinsam verfassten zweiteiligen Artikels bildet (Koutroufinis & Holste 2007, 98 f.). Vgl. auch: Ebeling & Sokolov 2005, 39 f.
8
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verstanden wird (Küppers 1996, 122). Biomolekulare Vorgänge, die gegenwärtig gut beschreibbar sind, lassen sich also als selbstorganisierte Strukturbildungen relativ einfacher (und somit überschaubarer) physikochemischer dynamischer Systeme verstehen. Damit taucht aber notwendig am Horizont von Theoretischer Biologie, Physik und Biophysik die Frage auf, ob irgendwann auch das kausale Zusammenspiel einer enormen Menge solcher Vorgänge, d. h. ihre gegenseitige Ursache-Wirkung-Abhängigkeit, sich als ein einziges sich selbst organisierendes dynamisches System beschreiben lassen wird. Die überzeugende Bejahung dieser Frage würde die naturphilosophisch höchst aussagefähige Vorstellung, dass die organismische Ordnung ausschließlich auf blinde Wirkursachen angewiesen sei, bestätigen. Diese Vorstellung, an deren Untermauerung momentan in der systemtheoretisch orientierten biologischen Forschung fieberhaft gearbeitet wird, stellt eine szientistisch-materialistische Überzeugung dar. Um die Berechtigung dieser Idee beurteilen zu können, ist es nötig, sich mit dem begrifflichen und methodischen Instrumentarium der Theorie dynamischer Systeme vertraut zu machen. Erst dann kann ein Urteil darüber gewagt werden, ob eine physikalische Beschreibung des Organismus seinem Wesen prinzipiell gerecht wird oder ob sie nur unter den Bedingungen extremer laboratorisch-biotechnologischer Einschränkungen und Manipulationen der organismischen Funktionen ›erfolgsversprechend‹ sein kann. 1.1.a
Die Begriffe ›System‹, ›Element‹, ›Relation‹, ›Struktur‹, ›Umgebung‹ und ›Ganzheit‹
Begriffe wie ›System‹, ›Relation‹, ›Struktur‹ usw. sind für die meisten Theoretiker der Selbstorganisation und Komplexität dermaßen selbstverständlich geworden, dass ihre Bedeutung fast nie erläutert wird. Die anscheinend »übliche Definition eines Systems als einer Menge untereinander in Beziehung stehender Elemente« (Mahner & Bunge 2000, 26) ist tatsächlich weit verbreitet. Ludwig von Bertalanffy, der Begründer der ›Allgemeinen Systemtheorie‹, die dem heutigen Paradigma unmittelbar voranging, definiert den SystemBegriff, wie folgt: »A system can be defined as a set of elements standing in interrelations. This means that elements, p, stand in relations, R, so that the behavior of
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an element p in R is different of its behaviour in another relation, R’« (1971, 55). 9
Wie man sieht, ist der System-Begriff eng an dem der Relation geknüpft, weshalb es sinnvoll ist, zwischen zwei grundsätzlichen Arten von Relationen zu unterscheiden – ›bindende‹ und ›nicht-bindende‹ : »Eine Relation zwischen einem Ding x und einem Ding y ist eine verknüpfende oder bindende Relation genau dann, wenn sich der Zustand von y ändert, wenn die Beziehung zu x besteht. Andernfalls ist die Relation nicht-bindend« (Mahner & Bunge 2000, 28).
Bertalanffys Definition von ›System‹ bezieht sich ausschließlich auf bindende Relationen, wie sie z. B. zwischen miteinander chemisch interagierenden Verbindungen herrschen. Diesbezüglich kann kein Zweifel bestehen, da er sich ausschließlich auf Gebilde bezieht, deren Elemente sich gegenseitig variieren (Bertalanffy 1971, 55), weshalb sie nur durch miteinander gekoppelte Differentialgleichungen beschrieben werden können (ebenda 55–66). Bindende Relationen sind allerdings nicht mit den sogenannten ›internen Relationen‹ metaphysischer Philosophien, die auf der Grundlage verschiedener Ontologien entworfen wurden, gleichzusetzen, wie es noch deutlich wird. Werner Ebeling, ein Protagonist der Selbstorganisationstheorie, stützt sein Verständnis von ›System‹ auf den noch abstrakteren mathematischen Begriff der ›Struktur‹ : »Die Grundannahme der Mathematiker ist die Existenz einer Menge bestimmter, unterscheidbarer Elemente. […] Die Art der Elemente ist dabei ohne Belang, während die Art der Relationen bzw. Operationen die Spezifik einer Struktur ausmacht (algebraische, topologische, metrische Strukturen usw.). Der Strukturbegriff für reale Systeme läßt sich in ähnlicher Weise fassen […] Jedes System besteht aus Elementen, die in bestimmter Weise angeordnet und durch bestimmte Relationen miteinander verknüpft sind. Unter der Struktur eines Systems verstehen wir die Art der Anordnung und der Verknüpfung seiner Elemente. Welcher Art die Elemente sind, ist hierbei ohne Belang. Wenn wir von der Struktur eines Systems sprechen, sehen wir davon ab, aus welchen Elementen das System besteht und fassen nur die Gesamtheit der zwischen ihnen bestehenden Relationen ins Auge« (1976, 11 f.; Hervorhebungen von S. K.).
Man beachte dabei, dass Ebeling bei der Definition des Struktur-Begriffs von konkreten Elementen abstrahiert und das Gewicht auf die 9
Vgl. auch: Bertalanffy et al. 1977, 17.
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Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
Art der Relationen legt. 10 Ähnliches vertritt auch Bertalanffy (1971, 36). 11 Für das systemische Denken überhaupt ist es grundlegend, dass es besondere Gebilde betrachtet, deren Dynamik eine nicht triviale Funktion ihrer Elemente ist. Die von Aristoteles vorweggenommene Maxime des systemischen Denkens – »das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile« 12 – besagt, dass die Gesamtheit der Relationen zwischen allen Elementen das Primäre für das Verständnis eines Systems ist, denn sie ist nicht zerlegbar in voneinander unabhängige Teile. Man betont in diesem Zusammenhang weiterhin die Überwindung eines bis zum späten 19. Jahrhundert in der Physik vorherrschenden Denkens, das Ursachen als unabhängige, an sich existierende Variablen sieht, deren Gesamtwirkung additiv entsteht (Bertalanffy et al. 1977, 14 ff.). 13 Für Bertalanffy und andere Systemtheoretiker ist es für den System-Begriff essentiell, dass er auf Gebilde referiert, die nicht in voneinander unabhängige, kausale Stränge zerlegbar sind, für die das Superpositionsprinzip der linearen Physik gilt. Systeme sind keine Aggregate, 14 wie die simplifizierten Modelle des Sonnensystems, bei denen die Interaktionen zwischen den einzelnen Planeten vernachlässigt werden. Es ist also fundamental, dass die Gesamtheit der Relationen keine additive Gesamtheit ist; dass sie ein Netzwerk darstellt, welches von viel höherer Bedeutung ist als die einzelnen Elemente. Für das systemische Denken ist also das Primat der Struktur vor den Elementen charakteristisch. Anatol Rapoport, ein Mitarbeiter Bertalanffys, bringt diese Herangehensweise auf den Punkt, wenn er hervorhebt, dass die Rede von einem ›System‹ in Bezug auf eine sich ändernde Ganzheit eine gewisse Konstanz voraussetzt (1988, 78): Es ist das Netzwerk der Relationen – dieses macht die Struktur des Systems aus –, das zumindest für eine gewisse Zeit konstant bleibt, während die Elemente sich ändern. Bertalanffys Überlegungen gehen jedoch einen Schritt weiter, obwohl sie dieselbe Richtung der Abstraktion beibehalten. Für die ›Allgemeine Systemlehre‹ fordert er:
Vgl. auch: Ebeling et al. 1998, 13 f. Vgl. auch: Bertalanffy et al. 1977, 16. 12 »Da nun etwas, das aus etwas zusammengesetzt ist, und zwar so, daß das Ganze eines ist – nicht wie ein bloßer Haufen, sondern wie eine Silbe – die Silbe ist nicht bloß die (Nebeneinanderstellung der) Buchstaben« (Metaphysik VII, 17, 1041 b 11–13). 13 Vgl. auch: Bertalanffy 1971, 36; 1972, 20. 14 Vgl. auch: Prigogine 1998, 31. 10 11
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II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
»Sie ist ein logisch-mathematisches Gebiet, dessen Aufgabe die Formulierung und Ableitung jener allgemeinen Prinzipien ist, die für ›Systeme‹ überhaupt gelten. Es gibt allgemeine Prinzipien für Systeme schlechthin, gleichgültig, welcher Art die zusammensetzenden Elemente und die zwischen diesen bestehenden Beziehungen oder ›Kräfte‹ sind« (Bertalanffy et al. 1977, 15 f.; Hervorhebungen von S. K.).
Anders ausgedrückt: »General system theory, therefore, is a general science of ›wholeness‹ […]. In elaborate form it would be a logico-mathematical discipline, in itself purely formal but applicable to the various empirical sciences« (Bertalanffy 1971, 36). 15
Die Forderung nach formal-logisch begründeter Interdisziplinarität ist also neben der Nichtadditivität einzelner Vorgänge die andere Tragsäule der Allgemeinen Systemtheorie. Bertalanffy sucht nach den »allgemeinsten Prinzipien der Wissenschaft« überhaupt, die »als die gleichen, ob es sich um unbelebte Naturdinge, um Organismen, um seelische oder gesellschaftliche Vorgänge handelt«, erscheinen (Bertalanffy et al. 1977, 16). Sein Antrieb ist die Überzeugung, dass trotz der Eliminierung der Aristotelischen Weltsicht durch die Naturwissenschaften, »die von Aristoteles aufgeworfenen Probleme der Ganzheit, der organismischen Selbsterhaltung, der Teleologie usf. […] in neuen Formulierungen wieder sehr aktuell geworden« sind (1972, 18). Die Allgemeine Systemtheorie soll diese Formulierungen leisten. Als Basis der Begründung der wissenschaftlichen Systemontologie dient also ein höchst abstraktes Konstrukt, eine von allen konkreten Vorgängen abstrahierbare rein formale ›Allgemeine Systemlehre‹. Vermutlich vermittelt dieser Gang durch die heiligen Hallen von Mathematik und Logik, der allen Überlegungen systemtheoretisch orientierter Autoren als Hintergrund dienen soll, den Eindruck unerschütterlicher Evidenz. Die Systembiologie entstand jedenfalls im Windschatten dieses Paradigmas, das als Vorfahre des Paradigmas der Selbstorganisation bzw. Komplexität gelten kann. Die konkrete Beschaffenheit der Elemente, wie die von Enzymen, Genen, Neuronen, Tierpopulationen u. a., ist nur wegen der Ableitung der zwischen ihnen herrschenden Relationen interessant. Letztere werden, sobald sie ermittelt worden
15
Vgl. auch: Bertalanffy 1972, 21.
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Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
sind, in Differentialgleichungen übersetzt, die in völliger Abstraktion von konkreten Elementen und Relationen meist numerisch gelöst werden. Am deutlichsten ist dieses Abstrahieren von physischer Realität bei den Befürwortern des Forschungsprojekts ›Künstliches Leben‹ (KL) ausgeprägt. Der Begriff ›Element‹ ist vermutlich so elementar, dass er von allen mir bekannten systemtheoretisch orientierten Autoren, die ihn gebrauchen, vorausgesetzt wird. Die Elemente können als wirkliche Entitäten verstanden werden, d. h. als physische Entitäten (die in einer ›tieferen‹ Ebene der Analyse ebenfalls als Systeme betrachtet werden können). Ein einzelnes Molekül oder ein bestimmtes Tier sind wirkliche Entitäten. In den Formalismen der systemtheoretischen Modelle fungieren als Elemente abstrakte Entitäten bzw. Universalien. Sie sind Qualitäten, wie z. B. eine Molekülsorte oder eine Tierart, die Eigenschaften von wirklichen Entitäten repräsentieren. Die Tierart ›Blauwal‹ ist das Wesen eines konkreten Individuums, das eine wirkliche Entität darstellt, die Element einer Population ist. Diese Population wird in einem abstrakten Modell als ein System betrachtet. In den systemtheoretischen Formalismen werden wirkliche Entitäten auf Verbindungen von Eigenschaften bzw. abstrakten Entitäten reduziert, was erst vor dem Hintergrund einer ausführlichen ontologischen Analyse beider Arten von Entitäten verstanden werden kann. 16 An dieser Stelle ist es nicht sinnvoll, den Begriff ›wirkliche Entität‹ genauer einzuführen. Hier muss der Hinweis genügen, dass unabhängig davon, ob systemische Elemente als wirkliche oder abstrakte Entitäten betrachtet werden, es üblich ist, die Unterscheidung zwischen System und Element auf methodologischer Grundlage zu treffen: Im Rahmen einer bestimmten systemtheoretischen Betrachtung gelten diejenigen Entitäten als elementar, deren Beschaffenheit, Dynamik, Entstehung usw. nicht untersucht, sondern vorausgesetzt werden. Die Systeme sind also Konzepte, die als Hierarchien ineinander geschachtelter Untersysteme entworfen werden, die jedoch die Annahme von Entitäten voraussetzen, die einer Ebene angehören, die ›tiefer‹ als die Ebene der Analyse liegt. Auf die obere Grenze für die Definition eines Systems referiert der Begriff ›Umgebung‹. Sie besteht aus allen wirklichen Entitäten außerhalb der räumlichen Grenze des Systems. Die Umgebung eines
16
Siehe Abschn. 3.2.a.1 und 3.2.a.3 dieses Kapitels.
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II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
physikalischen Systems darf nicht mit der Umwelt eines Organismus verwechselt werden. 17 Der physikalische System-Begriff ist von einem pragmatischen Geist durchzogen. Ausgehend von ihren Interessen legen die Physiker fest, was ein System und seine Grenze ist und was seine Umgebung ausmacht. Die Festlegung der Umgebung und der Elemente eines Systems von Seiten der Physiker geben einem konkreten systemtheoretischen Modell den abstrakten Rahmen, innerhalb dessen es sich entfalten kann. In der gesamten vorliegenden Schrift ist die Rede von ›System‹ immer im strengen eben beschriebenen systemtheoretischen Sinne dieses Wortes. Wenn aber vom Ausdruck ›Ganzheit‹ Gebrauch gemacht wird, dann um auf eine möglichst ontologisch offene Weise über physische Entitäten zu reden, die der sinnlichen und experimentellen Erfahrung als aus Teilen bestehende erscheinen, zwischen denen bindende Relationen herrschen. Letztere können Wirk- oder auch Finalursachen sein. Der Begriff der Ganzheit gibt dem Leser ontologische Interpretationsfreiheit und erlaubt mir, von Organismen zu reden, ohne mich der Systemtheorie unterordnen zu müssen. Entscheidet sich der Leser für die Alleinherrschaft von Wirkursachen bei Organismen, so reduziert er automatisch den Ausdruck ›Ganzheit‹ auf den Ausdruck ›System‹. 1.1.b
Die Begriffe ›Zustandsraum‹, ›Phasenraum‹, ›Trajektorie‹ – Ausdrucksformen von Wirkursachen-Kausalität
Für systemtheoretische Ansätze generell (und nicht nur für die Theorie dynamischer Systeme) ist der Begriff ›Zustand‹ unverzichtbar. Darunter ist die qualitative und quantitative Beschaffenheit zu verstehen, die eine Ganzheit zu einem gegebenen Zeitpunkt besitzt: Die endliche Menge von Größen, d. h. zeitabhängigen Variablen, die ihre momentane Beschaffenheit charakterisieren. Wegen der Veränderbarkeit dieser Größen ist ihre Entwicklung am besten durch einen auf sie zugeschnittenen, abstrakten Raum zu veranschaulichen, der die Einnahme verschiedener aufeinanderfolgender Zustände darzustellen erlaubt. Ein sogenannter Zustandsraum ist ein abstrakter Raum – genauer: ein Vektorraum –, in dem man den Zustand einer Ganzheit beschreiben und eine formale Vorschrift für ihre Dynamik 17
Siehe Abschn. 2.1.b dieses Kapitels.
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Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
(a)
x1
(b)
110 x3 x2
x1 100
000
010
101 111
001
x3
011
x2
Abb. 2.1: Zwei Trajektorien in den entsprechenden Zustandsräumen. (a) Die kontinuierliche Entwicklung einer Ganzheit, der drei Größen zugesprochen werden, deren quantitativen Werte sich kontinuierlich verändern können. (b) Die diskrete Entwicklung eines Netzwerks aus drei miteinander interagierenden Knoten (Kauffman 1996, 118). Das System geht vom Anfangszustand aus, bei dem nur die ersten beiden Knoten eingeschaltet sind (110) und entwickelt sich deterministisch, durch den Zustand 011 hindurch, zu dem stabilen Endzustand 111, bei dem alle Knoten eingeschaltet sind (ebenda).
angeben kann. Die Menge der Zustandsvariablen x1(t), x2(t), …, xn(t) spannt den Zustandsraum auf. Er besitzt so viele Dimensionen wie die Anzahl der Größen (bzw. Variablen), die für die Beschaffenheit der Ganzheit charakteristisch und für die Beschreibung ihrer Dynamik nötig sind. Die Dimensionen der abstrakten Räume sind nichts als abstrakte Entitäten bzw. Universalien. Die Folge der verschiedenen Zustände, die das System einnimmt, kann kontinuierlich oder diskret sein. Im ersten Fall wird seine Dynamik durch Differentialgleichungen beschrieben und die Veränderung ihrer Zustände durch eine eindimensionale Kurve wiedergegeben, die als Trajektorie bezeichnet wird, wie Abbildung 2.1(a) zeigt. Die drei Dimensionen des dort abgebildeten Zustandsraums könnten z. B. für die Konzentrationen drei verschiedener miteinander reagierender Molekülsorten stehen, die ein chemisches System ausmachen. Diskrete Veränderungen, wie sie z. B. bei täglich bzw. jährlich ermittelten Börsenkursen bzw. Populationsdynamiken vorkommen, sind für biologische Beschreibungen ebenfalls interessant. Sie sind unter anderem typisch für die Darstellung der Dynamik bestimmter Netzwerke, deren Knoten nur gewisse Werte wie 0 und 1 einnehmen können (Kauffman 1996, 111– 143, 153–171). Die Dynamiken solcher Entwicklungen werden nicht durch Differential-, sondern durch Differenzengleichungen beschrie133 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
ben und ihre Trajektorien bestehen aus einer Aufeinanderfolge gerader Linien, die zu einer Zickzackform zusammengesetzt sind. Die Ganzheiten der statistischen Physik sind leicht als Systeme beschreibbar, deren Molekül- bzw. Atom-Zahl häufig eine Größenordnung von 1023 erreicht. Aus der Sichtweise der klassischen Physik, d. h. der gesamten Physik mit Ausnahme der Quantentheorie und aller von dieser ausgehenden Entwicklungen 18, sind für die Beschreibung jedes dieser materiellen Elemente zu einem Zeitpunkt sechs Variablen drei Orts- (q1, q2, q3) und drei Impulskoordinaten (p1, p2, p3) – notwendig und ausreichend, weshalb das jeweilige System in einem Zustandsraum beschrieben wird, dessen Dimensionen die Qualität von Ort und Impuls haben. Dieser abstrakte Raum heißt ›Phasenraum‹. Die Physiker arbeiten mit 6-dimensionalen und 6Ndimensionalen Phasenräumen. Im ersten Fall wird ein System, das aus N Elementen besteht, als eine ›Wolke‹ aus N Punkten dargestellt (Prigogine 1979, 41 f.). 19 Im zweiten Fall werden für den Zustand jedes der N Elemente sechs Dimensionen aufgespannt, sodass der tatsächliche Zustand des gesamten Systems – der ab jetzt als Gesamtzustand bezeichnet wird – durch einen einzigen Punkt in einem 6Ndimensionalen Phasenraum dargestellt wird (Prigogine & Stengers 1990, 212). Für die vorliegende Untersuchung ist es absolut unerlässlich, das Folgende zu verstehen: Jeder Zustands- bzw. Phasenraum ist ein Möglichkeitenraum, denn jeder der Punkte des abstrakten Raums, den er darstellt, ist eine denkbare Kombination von Größen, die ein System einnehmen könnte. 20 Für die Entwicklung eines bestimmten Systems ist jedoch zumeist nur ein begrenzter Teil des Zustandsraums erreichbar. Das trifft vor allem bei steigender Strukturiertheit des Netzwerks der Relationen zu, die zwischen den Elementen bestehen. 21 Aus diesem Grund Dem Terminus ›klassische Physik‹ wird nicht von allen Autoren dieselbe Bedeutung zugewiesen. Einige Autoren, mich eingeschlossen, zählen auch die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie zur klassischen Physik, was nicht immer ohne Widerspruch bleibt. In der vorliegenden Untersuchung wird auch die Theorie der Selbstorganisation der klassischen Physik zugeordnet. 19 Vgl. auch: Prigogine & Stengers 1990, 211 f. 20 Vgl. auch: Mahner & Bunge 2000, 16. 21 Vorausgreifend sei gesagt, dass je komplexer die von der konkreten Systemstruktur abhängigen besonderen Gesetze sind – die sogenannten ›Strukturgesetze‹ (siehe Abschn. 1.1.i dieses Kapitels) –, von denen die Entwicklung des Systems beherrscht 18
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Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
q1
q2
q3
q1
(a)
q2
q3N
(b) p1 p2 p3
p3N-1 p3N
Abb. 2.2: (a) Der Gesamtzustand eines Systems aus N Elementen zu einem Zeitpunkt im 6-dimensionalen Phasenraum. (b) Die zeitliche Entwicklung des Gesamtzustands desselben Systems im 6N-dimensionalen Phasenraum.
kann ein Lebewesen, wenn es als physikalisches System verstanden und mittels eines Zustands- bzw. Phasenraums dargestellt wird, nur eine minimale Anzahl der dort enthaltenen physikalisch denkbaren Möglichkeiten verwirklichen. 1.1.b.1 Die angenommene Identität des dynamischen Systems als Widerspiegelung seiner Gesetzmäßigkeit Typisch für bestimmte Ganzheiten und vor allem für Lebewesen ist, dass sie sich während ihrer Entwicklung qualitativ verändern, d. h. nicht durchgängig aus denselben Größen bestehen. In diesem Fall ändert sich sprunghaft die Anzahl der Dimensionen ihres Möglichkeitenraums. 22 Es ist jedoch der Physik fremd, während der Betrachtung der Entwicklung eines Systems, ihren Zustandsräumen Dimensionen zu addieren bzw. zu subtrahieren. Für einen solchen Fall könnte ein sehr großer Zustandsraum angenommen werden, dessen Dimensionen nicht nur den Organismus, sondern auch die für den Organismus kausal relevanten Elemente seiner Umgebung beinhalten. Somit könnte die Entwicklung eines sich qualitativ verändernden Systems dadurch verbildlicht werden, dass seine Trajektorie neue Dimensionen dieses unveränderten abstrakten Raums betritt bzw. alte verlässt. 23
wird, desto geringer ist der Quotient der möglichen Gesamtzustände des Systems zur Summe der möglichen Gesamtzustände seiner Elemente. 22 Vgl. auch: Mahner & Bunge 2000, 21. Im Fall des 6-dimensionalen Phasenraumes ändert sich sprunghaft die Anzahl der Punkte, aus denen die ›Wolke‹ besteht. 23 Vgl. auch: Mahner & Bunge 2000, 22.
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II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
Es stellt sich jedoch die Frage, was den Physikern das Recht gibt, trotz solcher gravierenden Veränderungen von der kontinuierlichen Existenz einer und derselben Entität auszugehen – von dieser Annahme zeugt eben die Kontinuität der Trajektorie in einem solchen Raum. Ob der physikalische Begriff ›System‹ die kontinuierliche Existenz einer ontologischen Entität voraussetzt oder sich lediglich in einer logisch-begrifflichen Entität erschöpft, deren Kontinuität bloß sprachlicher Natur ist: Diese Frage stellt sich allerdings auch schon für die einfachsten Zustandsräume und die in ihnen enthaltenen Trajektorien. Die Beantwortung dieser zentralen Frage verweist direkt auf die Ontologie. Da hier aber nicht die richtige Stelle ist, um eine prozessontologische Perspektive zu eröffnen, wird die Antwort aus der systemontologischen Sichtweise gegeben, die der Physik dynamischer Systeme und der systemtheoretischen Biologie angepasst ist: Was es ermöglicht, so zu denken, ist das für den systemtheoretischen Ansatz essentielle Primat der Struktur vor den Elementen. Was es aber streng genommen eigentlich ermöglicht, die Bewahrung der Identität des Systems anzunehmen, ist die Gesetzmäßigkeit des Übergangs von einem Gesamtzustand zum nächsten; es sind z. B. die hydrodynamischen Gesetze, und nichts Willkürliches, die die kohärenten periodischen Bewegungen der Moleküle in den Bénard-Zellen festlegen. 24 Die Gesetze der Physik erlauben sogar, die kontinuierliche Existenz eines Systems anzunehmen, selbst wenn die Veränderungen seiner Elemente gewisse Grenzen überschreiten, sodass der Übergang von einer Art des Relationen-Netzwerks zu einer anderen erzwungen wird – Physiker reden in diesem Fall von ›Phasenübergängen‹. Denn auch solche Übergänge, die in einer ›tieferen‹ kausalen Ebene angesiedelt sind, wie das Umkippen der Ordnung der BénardZellen in die schwerer zu beschreibende Ordnung der Turbulenz, finden gesetzmäßig statt. Was also die Identität des Systems eigentlich bewahrt, ist die Gesetzmäßigkeit des Übergangs von einem Gesamtzustand zum nächsten und unter Umständen von einer bestimmten Art des Relationen-Netzwerks zur nächsten oder sogar von einer Dimensionszahl des Zustandsraums zu einer anderen. Die Gesetze der Physik erlauben in all diesen Fällen von der Entwicklung ein und desselben Systems zu sprechen. Für die Theorie dynamischer Systeme bestehen sie meist in einer Form des Determinismus, dessen Bedeutung jedoch nach dem Aufkommen der Chaostheorie sich nicht in 24
Siehe Abschn. 1.1.f dieses Kapitels.
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Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
der Vorstellung der prinzipiellen Vorhersagbarkeit erschöpft, sondern auch »die Existenz objektiven, ontischen Zufalls« beinhaltet (Poser 2001, 274), d. h. eines, der nicht durch die Beseitigung von Erkenntnismängeln zu entledigen ist. 25 1.1.b.2 Wirkursachen-Kausalität Die Gesetzmäßigkeit der kausalen Relationen, von der die Übergänge verschiedener ›Tiefen‹ geregelt werden, erlauben den Physikern, einen Zustandsraum auch als einen Raum der Ursachen zu sehen – wenn auch nur der Wirkursachen. Der Begriff der Wirkursachen-Kausalität hat in der vorliegenden Schrift nichts mit einer mechanistischen ›Zieh-Mich-Stoß-Dich‹Metaphysik zu tun. Ich weise ihm folgende Bedeutung zu, die meines Erachtens dem Kausalitäts-Verständnis der modernen Physik implizit zugrunde liegt: Erstens wird der Übergang von einem Zustand des Systems zum nächsten ausschließlich von Faktoren des Systems und seiner Umgebung, die mit den Mitteln der gegenwärtigen Physikochemie beschreibbar sind, determiniert. Zweitens wird die Entwicklung des Systems zu jedem Zeitpunkt von dem Zustand der Faktoren des Systems und seiner Umgebung zum unmittelbar vorhergegangenen Zeitpunkt determiniert. 26 Solche Faktoren sind erstens physikochemische Naturgesetze, zweitens physikochemische Größen wie ›Konzentration des Stoffes X‹, ›Geschwindigkeit der Reaktion Y‹, ›Ladung‹, ›Druck‹, ›Temperatur‹, ›freie Energie‹, ›Masse‹ usw., die entweder von dynamischen Variablen oder von Konstanten bzw. Kontrollparametern 27 repräsentiert sein können und drittens stochastische Faktoren, wie thermodynamische und quantenphysikalische Fluktuationen, die den Ausgang einiger physikochemischer Vorgänge beeinflussen können. Daraus folgt, dass es prinzipiell möglich ist, die zeitliche Entwicklung des Systems erschöpfend durch Verhältnisse zu erklären, die in abstrakten Räumen darstellbar sind, die ausschließlich mit den Methoden der Physikochemie entworfen werden. Eine Hängt jedoch die Abfolge der Gesamtzustände von zufälligen Faktoren ab, wie Quanten- und thermischen Fluktuationen, die nicht deterministisch-chaotischer Natur sind, so ist die Rede von ›stochastischen Systemen‹. Die Theorie dynamischer Systeme kennt aber auch deterministisch-stochastisch gekoppelte Systeme, denn ihr Ziel ist, physikalische Vorgänge so realistisch wie möglich zu beschreiben (Koutroufinis & Holste 2007, 111). 26 Vgl. auch: Koutroufinis 2011, 230 f. 27 Siehe Abschn. 1.1.k.3 dieses Kapitels. 25
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der wichtigsten Konsequenzen der Forderung der physikochemischen ›Kompatibilität‹ abstrakter Räume ist, dass der abstrakte Raum, in dem ein Vorgang dargestellt wird, während dieses Vorgangs nicht variiert wird: Sowohl die Anzahl seiner Dimensionen als auch die Bedeutung dieser bleiben unverändert. Die eben vorgeschlagene Interpretation der Termini ›Wirkursachen-Kausalität‹ bzw. ›Wirkursache‹ setzt voraus, dass die Verbindung zwischen unmittelbar angrenzenden systemischen Gesamtzuständen lediglich von Faktoren determiniert wird, die mit naturwissenschaftlichen Mitteln beschreibbar sind, was final ausgerichtete subjektive Strebungen und folglich auch zwecktätige Finalursachen, die jeder echten Teleologie zugrunde liegen, ausschließt. Hier muss daran erinnert werden, dass Zwecktätigkeit nur in seltenen Fällen mit bewusster Zwecksetzung menschlichen oder tierischen Handelns gleichgesetzt werden kann. 28 Beiden Termini liegt also der Begriff des dynamischen Systems zugrunde sowie auch alle anderen Begriffe und Methoden, die dieser impliziert. Dieses Verständnis von Wirkursache unterscheidet sich deutlich von Aristoteles’ Verständnis der ›bewegenden Ursache‹ (causa efficiens). Denn letztere kann nicht von der Final- oder Zweckursache (causa finalis) und der Formursache (causa formalis) isoliert werden, vor allem dann nicht, wenn organismisches Werden behandelt wird. 29 Die genaue Bestimmung des Begriffsinhalts des Ausdrucks ›Wirkursachen-Kausalität‹ setzt eigentlich die Klärung der Kausalitäts-Problematik voraus. Das kann aber hier nicht geleistet werden, nicht zuletzt wegen der weiterhin offenen und kontrovers diskutierten Fragen, die um diese Thematik kreisen. Aber für die Ziele der vorliegenden Untersuchung ist es ausreichend und hilfreich, sich an der probabilistischen Auffassung von Kausalität zu orientieren. Sie unterwirft die Begriffe ›Ursache‹ und ›Wirkung‹ einer wahrscheinlichkeitstheoretischen Analyse, die besagt, dass ein Ereignis W von einem Ereignis U »kausal abhängig [ist], wenn sich mit dem Eintreten von U die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass das Ereignis W eintritt«, wobei U zu einem früheren Zeitpunkt als W stattfindet (Tetens 2001,
Siehe Abschn. 2.1 von Kap. I. Siehe Physik II, 198a25–28. Auch woanders bezieht Aristoteles den ›Ursprung der Bewegung‹ (ὅθεν ἡ κίνησις, hothen he kinesis), d. h. die Wirkursache, auf den Zweck (οὗ ἕνεκα, hou heneka) oder ›causa finalis‹ der Bewegung (De Anima II, 4, 415b10– 11).
28 29
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405 f.; Einfügung von S. K.). Diese vom Wahrscheinlichkeitsbegriff abhängige und deshalb nicht ganz unproblematische Auffassung von Kausalität findet nicht nur in der modernen Physik großen Anklang, sondern auch in den Human-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Aus physikalischer Perspektive umfasst dieses Verständnis von Kausalität die Vorstellungen von deterministischer (im weitesten Sinne von Determinismus, der die Chaostheorie einschließt) und deterministisch-stochastisch gekoppelter Dynamik. Die in der modernen Physik immer implizit angenommene Wirkursachen-Kausalität von Systemen – im Sinne des in diesem Abschnitt eingeführten Verständnisses des Begriffs – wird durch Trajektorien in Zustandsräumen anschaulich gemacht. Der physikalische Zustandsraum verkörpert also die Idee, dass sowohl die innersystemischen Relationen als auch die Interaktionen des Systems mit seiner Umgebung ausschließlich wirkursächlich-kausaler Natur sind, was Entitäten, die nicht auf physikochemisch objektivierbare Größen reduzierbar sind, jegliche kausale Relevanz abstreitet. Das entspricht dem naturwissenschaftlichen Grundprinzip der kausalen Geschlossenheit der physischen Welt. Die in diesem und folgendem Abschnitt vorgenommene Unterscheidung zwischen Wirk- und Zweckursachen findet nicht vor dem Hintergrund der antiken, sondern der modernen Naturwissenschaft statt, d. h. vor allem im Hinblick auf die gegenwärtig noch übliche radikale Absage an jene Erklärungen natürlichen Werdens, die Zweckursachen eine ontologische Relevanz zuweisen. 1.1.b.3 Zweckursachen-Kausalität und echte Teleologie Eine schon seit der Antike in der philosophischen Literatur anzutreffende Interpretation des Begriffs ›Zweck-‹ bzw. ›Finalursache‹ besagt, dass es sich dabei um eine Art der Verursachung handelt, die in einer Anziehung besteht, die der zukünftige Endzustand einer Entität auf ihre jeweils gegenwärtigen Zustände ausübt. Ich dagegen gehe davon aus, dass etwas nur dann in der jeweiligen Gegenwart als eine Ursache ausgewiesen werden darf, wenn es in dieser Gegenwart anwesend ist. Der Endzustand einer Entität kann aber nicht während ihres Werdens anwesend sein. Um die nicht plausible Annahme von Zeitumkehr, die eine Verursachung aus der Zukunft mit sich zieht, vermeiden zu können, bleibt nur eine Denkmöglichkeit offen: Der Endzustand eines Werdens wird von einem oder mehreren kausal relevanten Faktoren antizipiert, weil er bezweckt wird. Diese Faktoren müssen natürlich 139 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
so beschaffen sein, dass sie nicht auf Wirkursachen-Kausalität, wie diese im letzten Abschnitt definiert wurde, reduzierbar sind, damit der Ausdruck ›Antizipation‹ nicht metaphorisch gedeutet werden kann. Antizipation setzt jedoch nicht notwendig Bewusstsein voraus, wie es oft behauptet wird. Ein zukünftiger Zustand muss nicht durch begriffliche Operationen oder klare Vorstellungen vorweggenommen, sondern kann auch von einem primitiv erlebenden Subjekt triebhaft angestrebt werden. Die Begriffe ›Zweck‹, ›Zweckursache‹, ›Finalursache‹ und natürlich auch ›Zweckursachen-‹ bzw. ›Finalursachen-Kausalität‹ werden nirgendwo in der vorliegenden Schrift als kurze elegante Umschreibungen von Wirkursachen-Komplexen eingesetzt. Diese Begriffe werden also nicht metaphysisch neutral verwendet, wie der im ersten Kapitel eingeführte Begriff der Teleologie, der ausschließlich mit der Tendenz gewisser Vorgänge zu tun hat, bestimmte Endzustände zu erreichen, ohne die metaphysische Natur der zugrunde liegenden kausalen Faktoren zu beachten. 30 Unter Zweck- bzw. Finalursachen verstehe ich kausale Faktoren, die an einem Verständnis von Teleologie gebunden sind, in dem ›telos‹, wie ursprünglich in der Aristotelischen Physik, nicht nur die Bedeutung von Endzustand, sondern vor allem von Zweck hat. Die Annahme von Zweck- bzw. Finalursachen macht nur im Rahmen einer echten Teleologie Sinn. Dieser Lehre zufolge erreichen natürliche Entitäten, allem voran Organismen, einen für ihre Art typischen Endzustand, wenn dieser für sie einen Zweck darstellt, d. h. Gegenstand final ausgerichteten Strebens ist, welches kausal wirksam ist. An dieser Stelle muss erneut an die im letzten Kapitel getroffene Unterscheidung zwischen Zwecksetzung und Zwecktätigkeit verwiesen werden. 31 Während erstere die entwickelte Vorstellungskraft menschlichen oder tierischen Bewusstseins voraussetzt, ist letztere lediglich an ein nach der Erfüllung bestimmter Bedürfnisse strebendes Erleben gebunden, das auch einem sehr einfachen Subjekt zugeschrieben werden kann. Ausgehend von diesem Verständnis von Zweckursache stellt sich die Frage, ob es möglich ist, die Idee des Zustandsraums – die, wie oben gesagt, die Idee der Wirkursachen-Kausalität verkörpert – irgendwie mit der Vorstellung der Zweckursachen-Kausalität zu verbinden. Wenn der Zustandsraum als Möglichkeitenraum – im umfas30 31
Siehe Abschn. 1.4 von Kap. I. Siehe Abschn. 2.1 von Kap. I.
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senden Sinne des Wortes ›Möglichkeit‹ – betrachtet wird, öffnet sich ein Weg der Verbindung beider Konzepte. Denn die Idee der Möglichkeit sagt an sich nichts über die Natur der Ursachen aus, die zur Verwirklichung verschiedener Möglichkeiten führen, weshalb sie eigentlich echte teleologische Ursachen nicht ausschließt. Da aber andererseits in der Physik jeder Zustandsraum nicht nur als ein Möglichkeitenraum, sondern immer auch als ein Wirkursachen-Raum gedacht ist, bleibt ein einziger Weg offen, die erwünschte Verbindung zu erzielen: Zweck- bzw. Finalursachen können nur dort angenommen werden, wo die Wirkursachen kausal offene Zustände produzieren, sodass die weitere Entwicklung eines Systems wirkursächlich-kausal nicht entscheidbar ist, weil sie vor verschiedenen, gleichwahrscheinlichen zukünftigen Möglichkeiten steht. Anders ausgedrückt: Von Zweckursachen-Kausalität kann die Rede sein, wenn unter Zuständen, die bei alleiniger Herrschaft von Wirkursachen in dem entsprechenden Zustandsraum gleichwahrscheinlich sind, permanent solche Zustände verwirklicht werden, die einem bestimmten Typus zugeordnet werden können, z. B. arttypische Zustände von Organismen. Die permanente Verwirklichung solcher ausgewählter Zustände kann mitnichten etwas Zufälliges darstellen. Die Verwirklichung bestimmter Ereignisfolgen, d. h. bestimmter Trajektorien zu Lasten anderer, die unter den Bedingungen alleiniger Herrschaft von Wirkursachen gleichwahrscheinlich sind, kann der Zweckursachen-Kausalität zugeschrieben werden, wenn sie (die Verwirklichung ausgewählter Trajektorien) aus prinzipiellen Gründen nicht auf die Geometrie eines vollständigen abstrakten Raums (Zustandsraums) erschöpfend reduziert werden kann. 32 Die diesem Gedanken zugrunde liegende Vorstellung von echter Teleologie habe ich woanders als ›mentalistic teleology‹ beschrieben (Koutroufinis 2014b, 100, 117–119). Wie es möglich sein kann, dass Zweckursachen Einfluss auf Vollständigkeit bedeutet in diesem Zusammenhang, dass der Zustandsraum alle physischen Entitäten (Moleküle und Atome) berücksichtigt, die in dem untersuchten Vorgang kausale Relevanz besitzen. Bei der Betrachtung organismischen Werdens kann dies wegen der enormen Anzahl der beteiligten Moleküle und der Grenzen der heutigen Computertechnik natürlich nur im Rahmen eines Gedankenexperiments geleistet werden. Ein derartiges Experiment soll gewährleisten, dass ZweckursachenKausalität aus prinzipiellen, d. h. aus ontologischen Gründen und nicht bloß aus epistemischer Schwäche eingeführt wird. In den Abschnitten 2, 2.1.a und 2.3 dieses Kapitels wird ein solches Gedankenexperiment entworfen und besprochen.
32
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raumzeitlich lokalisierte Entitäten nehmen können, ohne Naturgesetze, allem voran den Energieerhaltungssatz, zu verletzen, ist eine der zentralsten Fragen dieser Untersuchung und wird im vierten Kapitel auf der Basis der Whitehead’schen Prozessontologie behandelt. 1.1.c
Die Begriffe ›Entropie‹, ›Ordnung‹, ›Komplexität‹
Der für die Idee der Selbstorganisation und die Biowissenschaften zentrale Begriff der Entropie wurde 1865 von Rudolf Clausius zur Beschreibung thermodynamischer Vorgänge eingeführt (Ebeling & Sokolov 2005, 4 f.). In erster Näherung kann man Entropie als eine Größe verstehen, die nur Vielteilchensystemen zukommt und ein quantitatives Maß ihrer Ordnung ist (Ebeling et al. 1990, 57 f.). Sie hat mit dem »Feld der möglichen Zustände eines Systems« zu tun, genauer: mit der Wahrscheinlichkeit des Eintretens dieser (Ebeling 1976, 12 f.). Entropie hat also mit Modalität zu tun, was die Bestimmung ihres ontologischen Status erschwert. Die nähere Umschreibung dieses immer noch etwas dunklen aber durchaus faszinierenden Begriffs, die zu den Hauptthemen der vorliegenden Untersuchung gehört, kann mit zwei Pionieren der modernen Physik beginnen, die den Begriff ›statistische Entropie‹ geprägt haben: »Nach Boltzmann und Planck wird die statistische Entropie des Systems als Mittelwert der Unbestimmtheit definiert« (ebenda). 33
Sind für ein Vielteilchensystem eine endliche Menge von W diskreten Gesamtzuständen Xi (mit i = 1, 2, …, W) möglich, wobei jeder dieser Zustände idealerweise einem Punkt im Zustandsraum entspricht, so sei Pi die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten eines bestimmten Zustands Xi. Eine Wahrscheinlichkeit Pi = 1 bedeutet die Sicherheit des Eintretens eines einzigen bestimmten Gesamtzustands Xi und Pi = 0 die totale Unbestimmtheit seiner Verwirklichung, denn »Pi ist ein Maß für die Bestimmtheit des Eintretens von Xi« (ebenda), d. h. ein Maß seiner Vorhersehbarkeit. Deswegen gilt notwendig, dass 0 � Pi � 1 und ΣPi = 1 (mit i = 1, 2, …, W) (ebenda). 34 Davon ausBezüglich der Verbindung von Entropie und Unbestimmtheit vgl. auch: Ebeling & Sokolov 2005, 85 f. 34 Dass die Summe der Wahrscheinlichkeiten aller möglichen Zustände gleich 1 ist, bedeutet, dass das System zu einem bestimmten Zeitpunkt mit Gewissheit sich in einem seiner möglichen Zustände befindet, d. h. dass es existiert. 33
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gehend wird das Maß für die Unbestimmtheit eines einzigen Gesamtzustands Xi wie folgt definiert: Unbestimmtheit von Xi = – logbPi
(2.1)
Folglich ist die Unbestimmtheit eines absolut sicheren Gesamtzustands gleich null und eines hochgradig unwahrscheinlichen sehr groß. 35 Da die Basis b offen ist, kann man setzen: – logbPi = – k.lnPi mit k = 1/lnb. Die statistische Entropie S des Systems, als Mittelwert seiner Unbestimmtheit, wird dann von folgender Formel angegeben: S = Mittelwert aller [– k.lnPi] => W P S ¼ –k: Pi :lnPi
(2.2)
i¼1
Dabei gilt: k = 1,381.10 –23 Joule/grad. Als Boltzmann den Begriff der statistischen Entropie einführte, setzte er ihn mit der atomaren Unordnung eines Systems in Beziehung. Davon ausgehend führte 1944 Schrödinger in seinem legendären Buch Was ist Leben? den für die Biologie attraktiven Begriff ›Negentropie‹ ein. 36 Die von bedeutenden Theoretikern, allem voran Physikern, etablierte Verbindung der Begriffe ›Entropie‹ und ›Ordnung‹ ist ein sehr wichtiges Fundament des modernen Paradigmas der Selbstorganisation und somit auch des systemtheoretischen Zugangs zum Lebendigen. Aus diesem Grund stellt sich die Frage, was eigentlich unter ›Ordnung‹ aus der Perspektive der theoretischen Physik zu verstehen ist. Abstrakt gesprochen: Ordnung kann einer Ganzheit zugeschrieben werden, wenn ihre Beschaffenheit zu einem Zeitpunkt einem mit den Mitteln und Methoden der Physik operierenden Beobachter erlaubt, ihre zukünftige Beschaffenheit mit einer Erfolgsquote vorherzusagen, die höher als die Erfolgsquote eines zufälligen Erratens ist. Beispiele für hochgradige Ordnung sind ein Diamantkristall und ein ideales Pendel, denn sie erlauben außerordentlich geDie Wahrscheinlichkeit eines absolut sicheren Gesamtzustands hat den Wert P = 1, denn das System kann sich nur in diesem Zustand befinden. Der Logarithmus von 1 ist gleich 0. Die Wahrscheinlichkeit eines hochgradig unwahrscheinlichen Gesamtzustands nähert sich dem Wert P = 0 an. Der Logarithmus einer solchen Größe nähert sich dem Wert – 1 an. 36 Schrödingers Formel lautet: Negentropie = k.log(1/D). Das Symbol D repräsentiert »ein quantitatives Maß der atomaren Unordnung« des fraglichen Systems (Schrödinger 1989, 127), sodass »1/D als direktes Maß der Ordnung betrachtet werden« kann (ebenda 129). 35
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naue Vorhersagen ihres Gesamtzustands. Die Wahrscheinlichkeit, mit der die Positionen aller Kohlenstoffatome im Diamant richtig vorhergesagt werden, ist sehr hoch, wenn der Kristall nicht beschädigt ist. Einem möglichen Gesamtzustand wird in der Physik ein hohes Maß an Bestimmtheit zugesprochen, wenn er sehr wahrscheinlich ist und folglich mit einer hohen Erwartung seiner Verwirklichung vor den anderen ausgezeichnet werden kann. Sind für ein System nur wenige solcher Gesamtzustände möglich, so kann ein Physiker relativ erfolgreich seine Entwicklung vorhersagen. Einem solchen System wird hohe Ordnung, folglich geringe Entropie, zugesprochen. So ist die Entropie einer idealen Pendeluhr mit dem Wert null gleichzusetzen (Schrödinger 1989, 145). Verlust von Ordnung bedeutet also für die statistische Physik die Zunahme der Anzahl der möglichen Gesamtzustände eines Systems und somit das Wachstum des Mittelwerts der Unbestimmtheit aller ihm möglichen Zustände. Die Entropie eines Systems wird maximal, wenn es W mögliche Zustände einnehmen kann, die alle gleichwahrscheinlich sind. In diesem Fall gilt: Smax = k.lnW
(2.3)
Diese Formel demonstriert eindeutig, dass die Entropie eines Systems wächst, wenn der Beobachter zunehmend Gründe verliert, das Auftreten bestimmter Gesamtzustände für wahrscheinlicher zu halten als das Auftreten anderer, d. h. wenn er aufgrund der Veränderung des Systems fortschreitend die Fähigkeit einbüßt, bestimmte Möglichkeiten auszuzeichnen. Kann er einer einzigen Möglichkeit die Wahrscheinlichkeit Pi = 1 zusprechen, so steht er vor einem System, wie z. B. das ideale Pendel eins ist, das zu einem bestimmten Zeitpunkt nur einen einzigen Gesamtzustand verwirklichen kann und spricht dann diesem System höchste Ordnung zu. Muss er dagegen allen möglichen Gesamtzuständen dieselbe Wahrscheinlichkeit Pi = 1/W zusprechen, so kann er keine Erwartungen formulieren, weil er keine Unterschiede erkennen kann. Ebeling fasst das bisher Gesagte gut zusammen: »Wir interpretieren die statistische Entropie eines Systems als ein Maß für die Unordnung und damit auch als ein Maß für die Strukturiertheit des Systems. Das Maximum der statistischen Entropie (Gleichverteilung) entspricht dem geringsten Grad von Strukturiertheit« (1976, 14).
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Von einem physikalischen Standpunkt aus gesehen haben die Ordnung oder Strukturiertheit eines Systems mit dem Maß der Vorhersehbarkeit zu tun, die dieses System dem Physiker ermöglicht. Folglich ist die statistische Entropie, die als Maß für Unordnung konzipiert wurde, nichts anderes als »ein Maß für […] Unvorhersehbarkeit« (Riedl 1990, 26). Die von der Formel 2.2 wiedergegebene Größe dieser Eigenschaft gilt jedoch nur für Systeme, für die nur endlich viele diskrete Gesamtzustände möglich sind. Für die Entropie eines physikalischen Systems, das eine kontinuierliche Menge möglicher Gesamtzustände einnehmen kann, ist eine allgemeinere Formel nötig, die durch Integration und nicht durch Addition über das Kontinuum dieser Zustände zu gewinnen ist. In diesem Fall steht für jeden einzelnen der möglichen Gesamtzustände ein ganz konkreter Punkt im 6N-dimensionalen Phasenraum des Systems, das aus N klassisch-mechanischen Teilchen besteht. Obwohl es praktisch eine unendlich hohe Zahl einander angrenzender möglicher Zustände gibt, kommt dem System ein bestimmtes begrenztes Volumen des Phasenraums zu, in dem es sich zu einem bestimmten Zeitpunkt befinden kann, weil jeder dieser Zustände das infinitesimal kleine Volumen eines Punktes einnimmt. Jedem der dort enthaltenen Punkte, d. h. möglichen Gesamtzustände, kommt eine bestimmte Wahrscheinlichkeit der Verwirklichung zu. Aufgrund der Kontinuität dieses Volumens lässt sich die Verteilungsfunktion ρ einführen, die eine Wahrscheinlichkeitsverteilung für diesen abstrakten Raum der 6N Dimensionen ist. Für Systeme, zwischen deren Elementen es Wechselwirkungen gibt, hat der bedeutende Physiker Josiah W. Gibbs folgende Entropie-Gleichung erstellt (Ebeling et al. 1998, 35): 37 S = – k.∫ρ(q, p).ln ρ(q, p).dq.dp (dabei gilt: q = q1, q2, q3, … q3N; p = p1, p2, p3, … p3N)
(2.4)
Aus dieser Formel geht hervor, dass die Entropie die bemerkenswerte Eigenschaft der Additivität aufweist, denn »die Entropie eines zusammengesetzten Systems ist gleich der Summe der Entropie seiner Teile« (Landau & Lifschitz 1987, 25). 38 Erstaunlicherweise ist also die Unvorhersehbarkeit des Ganzen gleich der Summe der Unvorhersehbarkeit seiner Teile. 37 38
Vgl. auch: Landau & Lifschitz 1987, 24. Vgl. auch: Ebeling 1976, 15.
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X1
X2
X3
X6N-1 X6N Abb. 2.3: Das 6N-dimensionale Phasenraumvolumen der möglichen Gesamtzustände eines Systems aus N Teilchen zu einem Zeitpunkt.
Einem Anhänger des alten Determinismus, der auf der Additivität voneinander unabhängiger linearer Ursachen aufbaut, wäre vermutlich diese Tatsache sehr willkommen, falls er nicht an einer viel fundamentaleren Sache Anstoß nehmen würde. Denn er könnte bezüglich der Grundideen, die der Gleichung der Entropie zugrunde liegen, einwenden, dass »in Wirklichkeit ein System zu einem bestimmten Zeitpunkt nur einen einzigen Punkt in diesem Phasenraum besetzt, weil es schließlich nur einen einzigen Gesamtzustand einnehmen kann, d. h. einen einzigen Punkt, da es nicht quantenphysikalischer Natur ist. Mit einem Phasenraumvolumen, d. h. mit einer statistischen Beschreibung« – so der Einwand weiter – »muss sich derjenige zufrieden geben, der wegen verschiedener epistemischer und anderer Unvermögen eine begrenzte Kenntnis des Systems hat und deshalb sich mit Wahrscheinlichkeiten begnügen muss. Folglich gibt es eigentlich keine Vielzahl von Punkten, also auch kein ρ, und schließlich keine Entropie!« Diese Position versteht die Entropie subjektivistisch, da sie die Unfähigkeit, die Entwicklung des Systems genau vorherzusehen, ausschließlich der Begrenztheiten des Beobachters zu Schulden kommen lässt. Sie wurde neben anderen Physikern auch von Maxwell, Einstein und Gibbs vertreten; Prigogine weist sie aber entschieden zurück, wie es noch erläutert wird. 39 Hier kann noch 39
Siehe Abschn. 1.1.d.2 dieses Kapitels.
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nicht besprochen werden, ob der Entropie ontologischer oder nur erkenntnistheoretischer Status zukommt. Ausgehend von der physikalischen Vorstellung von Ordnung stellt sich hier vielmehr die Frage, ob Lebewesen und komplexe dynamische Systeme von geringerer Ordnung sind als leicht zu berechnende Systeme. Diese Konsequenz, die angesichts des Formenreichtums lebendiger Körperlichkeit sehr zum Widerspruch einlädt, ließe sich eben nicht vermeiden, wenn Ordnung ausschließlich an Vorhersehbarkeit zu knüpfen wäre. Um nur ein einfaches Beispiel zu nennen: Darf die Tatsache, dass der Weg eines in ein Lebewesen eingegangenen Eisenatoms nicht mit großer Sicherheit vorhergesagt werden kann, dazu führen, seinem Organismus weniger Ordnung als einem Kristall zuzusprechen? Eine gewisse Entschärfung dieses Widerspruchs lässt sich durch den bisher häufig verwendeten Begriff der Komplexität erreichen, denn er ermöglicht von unterschiedlich komplexen Ordnungen zu sprechen. Er stammt aus dem lateinischen ›plectere‹ (flechten) und steht dem griechischen ›symplekein‹ (συμπλέκειν) 40, das ›zusammenflechten‹ bedeutet, sehr nah. Die zuletzt zitierte Stelle von Ebeling zeigt die Möglichkeit, Ordnung an Struktur, d. h. an die Form des Relationen-Netzwerks zu knüpfen. Die zwischen den Elementen herrschende Relationalität erhöht ihre Kohärenz, also die zwischen ihnen waltenden kausalen Bindungen, was die Anzahl der Kombinationen der möglichen Zustände der Elemente, d. h. die Anzahl der möglichen Gesamtzustände des Systems senkt. Dennoch wird jeder Versuch, den Begriff der Komplexität weniger intuitiv und dafür formaler zu umschreiben, sich früher oder später damit konfrontiert sehen, dass es kaum gelingen kann, Komplexität auf eine einheitliche Weise zu definieren, die den verschiedenen Verwendungen dieses Begriffes gleichermaßen gerecht wird (Deacon & Koutroufinis 2014). 41 Aber zumindest in einer ersten Näherung könnte eine Ganzheit als ›komplex‹ gekennzeichnet werden – und zwar unabhängig davon, ob diese mit den Mitteln des systemtheoretischen Denkens oder anders erfasst wird –, wenn die Beschreibung ihrer Gesamtdynamik in einer beliebigen natürlichen oder forEin von Platon, Aristoteles und anderen griechischen Klassikern oft verwendeter Ausdruck. 41 Vgl. auch: Gell-Mann 1996, 66; Ebeling et al. 1998, 28. 40
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malen Sprache trotz vollständiger Kenntnis ihrer Elemente nicht trivial ist. Davon geht schon Herbert Simon in seinem 1962 veröffentlichten einflussreichen Essay »The Architecture of Complexity« aus. 42 Eine Ganzheit, deren Bestandteile ihre Verhaltensweise nicht in Abhängigkeit voneinander variieren, d. h. unabhängig von den Zuständen anderer Bestandteile reagieren, ist nicht komplex. Sie kann aber wie ein unüberschaubarer Knäuel von Kabeln, von denen jedes unabhängig von den anderen Strom transportiert, kompliziert sein. Eine solche Ganzheit ist kein System, sondern nur eine Summe ihrer Teile. Sie ist eine Anhäufung, denn zwischen ihren Bestandteilen bestehen keine echten Relationen, d. h. keine, die ihre Funktionsweise beeinflussen, weshalb die Bestandteile auch nicht als ›Elemente‹ bezeichnet werden sollten. Solé und Goodwin zufolge steigt die Komplexität eines Systems in dem Maße, in dem es sich vom Zustand größter kausaler Unabhängigkeit seiner Elemente entfernt (2000, 42). Das Gegenteil von Komplexität wäre dann nicht Einfachheit, sondern kausale Unabhängigkeit. Jeder Versuch der Quantifizierung der Komplexität einer physischen Ganzheit muss auf jeden Fall die kausalen Verschränkungen ihrer Elemente berücksichtigen. In der inzwischen sehr umfangreichen Literatur über Komplexität lassen sich zwei grundsätzlich verschiedene Wege der Bedeutungsbestimmung dieses Begriffs unterscheiden. Einflussreiche Theoretiker, unter denen vor allem Kolmogorov, Solomonoff und Chaitin zu nennen sind, definieren diesen Begriff in Bezug auf Sequenzen von Zeichen, wie z. B. geschriebene Texte, kodierte Zeichenfolgen und elektromagnetisch übertragene Botschaften (Kolmogorov 1965; Solomonoff 1964a, 1964b; Chaitin 1977). Quantifizierungen dieser Art von Komplexität werden als ›algorithmischer Informationsgehalt‹ bzw. AIC 43, ›Kolmogorov Komplexität‹ oder ›algorithmische Komplexität‹ bezeichnet. Sie setzen die Komplexität einer Zeichensequenz mit der Länge des kürzesten Computerprogramms oder Algorithmus, der sie erzeugen kann, gleich. Der bekannte Physiker und Informationstheoretiker Charles Bennett schlägt ein ähnliches Maß für Komplexität vor, das er ›logische Tiefe‹ (logical depth)
»Roughly, by a complex system I mean one made up of a large number of parts that interact in a non-simple way […] given the properties of the parts and the laws of their interaction, it is not a trivial matter to infer the properties of the whole« (Simon 1962, 468). 43 Der Ausdruck ›AIC‹ ist die Abkürzung von ›algorithmic information content‹. 42
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nennt (1988). Er definiert die logische Tiefe einer Zeichensequenz als die Zeit, die eine universale Turing-Maschine benötigt, um den kürzesten Algorithmus auszuführen, der diese Sequenz erzeugt. Es stellt sich die Frage, ob diese miteinander verwandten Vorstellungen von Komplexität die Ordnung materieller physischer Ganzheiten, die eine vollkommen andere raumzeitliche Organisation als Zeichenfolgen aufweisen, adäquat erfassen können. Dies ist aus verschiedenen Gründen nicht der Fall (Deacon & Koutroufinis 2014, 407). Der Hauptgrund ist, dass ein völlig irreguläres zufälliges System von einem viel längeren Algorithmus beschreibbar ist als ein reguläres, dessen Elemente miteinander korrelieren. Denn im ersten Fall muss aufgrund des völligen Mangels innerer Korrelationen der Zustand jedes einzelnen Bestandteils eigens beschrieben werden. Der algorithmische Begriff der Komplexität würde somit zum kontraintuitiven Resultat führen, dass einem in einem Zylinder eingeschlossenen Gas höhere Komplexität zugewiesen werden muss als einem Lebewesen gleicher Masse. Dies hat verschiedene Forscher veranlasst, nach einem anderen Zugang zur Idee der Komplexität zu suchen, der Ganzheiten, die Gegenstand der Physik sein können, angemessener ist. Im Folgenden werden einige charakteristische Vorschläge beschrieben: Der bekannte theoretische Physiker Murray Gell-Mann bezeichnet als ›effektive Komplexität‹ (effective complexity) eines physischen Systems »die Länge einer prägnanten Beschreibung der Regelmäßigkeiten dieses Systems« (1996, 93; Hervorhebung von S. K.). 44 Die ›effektive Komplexität‹ ist der ›algorithmische Informationsgehalt‹ (AIC) bzw. die ›Kolmogorov Komplexität‹ der physischen Regularitäten eines Systems, d. h. die Länge des kürzesten Algorithmus, der sie beschreibt (Ay et al. 2010). Die Konzentration auf die physische Regelhaftigkeit eines Systems und nicht auf die Detailinformationen seines physischen Gesamtzustands erlaubt, das Problem zu umgehen, dass ein völlig zufälliges System (d. h. ein System im Zustand maximaler Entropie) für komplexer als ein geordnetes gehalten wird. Denn die genaue Beschreibung all seiner physischen Details, die einen sehr hohen Aufwand verlangt, findet nicht statt. Adami schlägt das Konzept der ›physischen Komplexität‹ (physical complexity) als einen Sonderfall der ›effektiven Komplexität‹ vor (2002, 1087). Dieses speziell für die Biologie entwickelte Maß der Komplexität ist definiert als die ›Kol44
Vgl. auch: Gell-Mann 1995, Gell-Mann & Lloyd 1996, Gell-Mann & Lloyd 2004.
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mogorov Komplexität‹ (AIC) der biomolekularen Sequenzen (z. B. des Genoms), die an den Anpassungen des Organismus an seiner Umwelt beteiligt sind. Die Vorschläge von Gell-Mann und Adami sind nicht ohne Kritik aufgenommen worden (Deacon & Koutroufinis 2014, 409). Sich von den algorithmischen Zugängen zur Komplexität deutlich abwendend, definieren Bialek und Tishby bzw. Tononi Komplexität als ›voraussagende Information‹ (predictive information) bzw. ›neurale Information‹ (neural information) (Bialek & Tishby 1999, Tononi et al. 1994). Mit diesen miteinander verwandten Konzepten soll beschrieben werden, in welchem Grad die Entropie eines Systems nichtlinear mit der Zunahme der Anzahl seiner Elemente wächst. Die Autoren führen Komplexität als Maß der Diversität der zwischen den Elementen stattfindenden Interaktionen ein, was insbesondere in der biologischen Forschung Anwendung finden soll. Lloyd und Pagels definieren Komplexität als ›thermodynamische Tiefe‹ (thermodynamic depth). Damit versuchen sie nicht den Zustand eines Systems, sondern die Entwicklung, die zu ihm geführt hat, zu quantifizieren. Die thermodynamische Tiefe eines Systems ist »the amount of information required to specify the trajectory that the system has followed to its present state« (Lloyd & Pagels 1988, 190). Die so verstandene Komplexität eines Systems steigt mit der Anzahl der möglichen Trajektorien, durch die es seinen jeweils gegenwärtigen Zustand erreicht haben könnte. Damit quantifiziert sie die Unbestimmtheit der möglichen Entwicklungen (Trajektorien) des Systems. Typisch für den algorithmischen Zugang zur Komplexität ist, dass er auf Längen bezogen ist, die als Maß für den Beschreibungsaufwand der Forscher stehen. Dabei kann es sich um die Länge des kürzesten Programms, das eine Zeichensequenz beschreibt, oder um die zeitliche Länge der Ausführung dieses Programms (logische Tiefe) handeln. Mit anderen Worten: die Algorithmus-zentrierten Begriffe der Komplexität quantifizieren den Aufwand der formalen Beschreibungen der Forscher. Dies macht die Komplexität zu einem Maß einer den Systemen externen Arbeit. Offenbar ist also die so gedachte Komplexität »in erster Linie nicht eine Eigenschaft des beschriebenen Objektes, sondern der Beschreibung selbst« (!) (Richter & Rost 2002, 112; Hervorhebung von S. K.). Diesem in erster Linie von Mathematikern und Informatikern entwickelten Ansatz steht die später von Naturwissenschaftlern eröffnete Perspektive entgegen, die Komplexität als ein Maß, das die physische Beschaffenheit des 150 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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Systems oder seine dynamische Entwicklung quantifiziert, einführt. Aber trotz des Fortschritts, der wegen der Fokussierung auf die raumzeitlich manifeste Materialität der physischen Ganzheiten erreicht wurde, weisen auch die neueren Ansätze eine wichtige Limitation auf. Ihr gemeinsames Charakteristikum besteht in der Konzentration auf die Quantifizierung dynamischer Merkmale – seien diese auf physische Regularitäten, den Grad kausaler Verschränkung der Elemente oder die Vergangenheit der Ganzheiten bezogen. Sie versuchen jedoch nicht, die qualitativen Unterschiede zu beschreiben, die in der kausalen Organisation verschiedener Arten von Ganzheiten bestehen, wie z. B. Organismen, physikochemisch beschreibbare Systeme der Selbstorganisationstheorie, einfache mechanische Systeme und Uhrwerke. Lebewesen weisen bezüglich der eigenen Selbstverursachung, Umstrukturierung ihres Aufbaus und Umgestaltung ihrer Beziehungen zur Umgebung eine Autonomie auf, die leblosen Systemen deutlich abgeht. Das Ziel einer neuen, der OrganismusTheorie dienlichen Konzeption von Komplexität kann somit die Erfassung genau dieser essentiellen Differenz werden, wie noch gezeigt wird. 45 Dies wirft aber notwendig die an Konsequenzen reiche Frage auf, ob das gegenwärtig etablierte Verständnis von Komplexität und die umfassendere Wissenschaftlichkeit der nichtlinearen Systemtheorie, mit der es sich überschneidet, der Natur lebendiger Objekte überhaupt angemessen ist: Ist es möglich, dass die gesamte Diskussion um Selbstorganisation und Komplexität vielmehr um die Ordnung unserer gegenwärtigen szientistisch-materialistischen Modelle kreist, als um die Ordnung lebendiger Ganzheiten? Aus diesem Grund ist es ungewiss, ob selbst ein erweitertes Verständnis von Ordnung, das sich auf den gegenwärtig etablierten Vorstellungen von Komplexität stützt, etwas ausreichend erfassen kann, das typisch für Lebewesen ist: organismische Kreativität. Jede Form der Kreativität ist zwar immer an ein hohes Maß von Ordnung gebunden, wie auch die Tatsache belegt, dass geniale Denker ihre größten Neuerungen ausgehend von besonders durchdachten Ideen eingeführt haben. Die Kreativität lebendiger Vorgänge besteht aber gerade in der Überwindung von Ordnung (wie auch immer diese gedacht wird) und in der Etablierung neuer Ordnung, ohne dass dies primär 45
Siehe Abschn. 2.2.d dieses Kapitels.
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auf Zufall, z. B. auf Mutationen, zurückgeht. Die neueren Entwicklungen innerhalb der Theorie dynamischer Systeme suggerieren einerseits, erklären zu können, wie die Selbstorganisation neuer Ordnung auf der Basis purer Wirkursachen-Kausalität sich geradezu spontan einstellt, wenn hinreichend dichte kausale Verschränkung vorhanden ist. Andererseits setzen aber diese Entwicklungen die in Thermodynamik und statistischer Mechanik begonnenen Diskussionen über Ordnung vor dem Hintergrund der Vorhersagbarkeit und Bestimmtheit fort, da diese für den Entropie-Begriff fundamental sind. Hierin ist die Wurzel eines noch kaum erkannten Problems zu suchen, denn bei kreativen Leistungen werden Vorhersagbarkeit und Bestimmtheit logischerweise eingeschränkt. Auch wenn die Vorstellung von Ordnung durch die etablierten Konzeptionen von Komplexität erweitert wurde, bleibt sie natürlich weiterhin an einem zentralen Prinzip gebunden, ohne das keine moderne Naturwissenschaft auskommt: Das zu erforschende Objekt kann vom Verstand des Wissenschaftlers nur durchdrungen und seine Entwicklung vorhergesehen werden, wenn es ihm an eigener Subjektivität mangelt. Denn würde es die Fähigkeit der Wahrnehmung seines eigenen Wesens und womöglich der Bestimmung dieses besitzen, so könnte es sich der externen Perspektive des Forschers entziehen. Die Negation einer solchen auf internen Perspektiven basierenden Autonomie ist allen formalen Modellen eigen und beherrscht alle von Physikern entwickelten Vorstellungen von Ordnung – ob sie auf Vorhersagbarkeit oder auf Komplexität beruhen –, denn ihre Bewertung ist an ein der zu erforschenden Ganzheit extern aufgesetztes Koordinatensystem und an eine Metrik gebunden, die ebenfalls der Ganzheit extern zugewiesen wird. Das ist nicht weiter problematisch, solange es sich dabei um leblose Objekte handelt, aber wird sie auch dem Lebendigen gerecht? Im deutlichen Kontrast zur Moderne ist es dem teleologischen Weltbild der Antike naturgemäß, dass es sich den Zugang in die Problematik der Ordnung vom Lebendigen her verschafft. Ordnung (›taxis‹, ›thesis‹, ›diathesis‹, ›ordo‹) hängt hier mit der Idee des geistigen Aktes des Ordnens zusammen. 46 Da aber seit der Neuzeit den Aristoteles z. B. verwendet das Beispiel der Ordnung (τάξις, taxis) einer Armee, um den ›Feldherrn‹ als ordnenden Faktor hervorzuheben (Metaphysik XII, 10, 1075 a 14–15) und Platon lässt den Demiurgen das chaotisch bewegte Vorgefundene in die Ordnung (τάξις) führen, weil er die Ordnung für besser als die Unordnung hält
46
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natürlichen Objekten die final ausgerichtete Kraft des Ordnens progressiv abgesprochen wurde – sowohl im Sinne der externen (Platonischen) als auch der internen (Aristotelischen) Teleologie –, brauchte man immer weniger über die Berechtigung einer nichtmenschlichen äußeren Perspektive oder vieler ihnen eingegebener innerer Perspektiven der Wahrnehmung und Bewertung von Ordnung nachzudenken. Während also für die Antike im Kosmos Geist waltet, erkennt die Moderne, wenn überhaupt, nur den Geist des seinen Objekten gegenüberstehenden Menschen an. Daraus resultieren zwei grundsätzlich verschiedene Zugänge zur Problematik der Ordnung. Heute erzwingt der Glaube an die Alleinherrschaft von Wirkursachen, da er jede Innerlichkeit der Naturobjekte und somit jegliches Streben dieser ablehnt, externe Koordinatensysteme und Metriken auf sie anzuwenden und lässt dies als geradezu natürlich und unausweichlich erscheinen. So wird Ordnung anhand der externen Perspektive des Wissenschaftlers, d. h. anhand seiner Berechnungen der Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit der Zustände des ›Systems‹ gemessen. Dies mag bei leblosen meso- und makroskopischen Objekten, denen jegliche Individualität abgesprochen werden kann, gerechtfertigt sein. Aber schon beim einfachsten Bakterium stellt sich die Frage, ob ihm eine elementare Form von Interesse und Zwecktätigkeit zugesprochen werden sollte, zumindest solange, bis es nicht auf eine überzeugende Weise gelungen ist, seine Selbsterhaltung mit Hilfe wirkursächlich-kausaler Ansätze, wie die Theorie dynamischer Systeme es ist, überzeugend zu erklären. Die in der vorliegenden Untersuchung also zur Debatte stehende Frage lautet, ob die aktuellsten Versuche, Ordnung zu bestimmen, die Entstehung und Erhaltung organismischer Ordnung befriedigend beantworten können. Die dafür notwendige Begegnung mit der Systembiologie ist jedoch erst nach einer tieferen Bekanntschaft mit der Physik der Selbstorganisation möglich.
(Timaios, 30 a 1–6). Auch Cicero gibt der Ordnung (ordo) einen normativen Charakter, wenn er von der »Zusammenstellung der Dinge an den passenden und ihnen angemessenen Orten« spricht (De officiis, I, 40 (142)), ein Gedanke, den auch Augustin übernimmt (De civitate dei XIX, 13).
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1.1.d
Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik
Im deutlichen, aber kaum überraschenden Kontrast zur Antike kristallisiert sich im 19. Jahrhundert, in der Zeit des unbeschwertesten Reduktionismus, ein Zugang zur Frage der Ordnung physischer Objekte, der nicht ihren Aufbau durch einen mit Subjektivität begabten Ordner für natürlich hält, sondern ihren Abbau durch sich selbst: Rudolf Clausius formuliert 1865 den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. 47 Es gibt verschiedene Fassungen dieses bis heute nicht vollkommen verstandenen Satzes. Aufgrund seiner Konsequenzen für kosmologische und selbst eschatologisch-theologische Überlegungen ist der zweite Hauptsatz der berühmteste Satz der Physik. Bergson bezeichnet ihn als »das metaphysischte aller Gesetze der Physik« (SchE 263/Œuv. 701). Als eine hinreichend allgemeine und den Zielen der vorliegenden Arbeit dienliche Formulierung des zweiten Hauptsatzes wird folgende vorgeschlagen: Bei allen realen physischen Vorgängen ist die Änderung der Entropie größer als Null, sodass jeder reale physische Vorgang notwendig Entropie produziert. Anders ausgedrückt: Entropie kann niemals vernichtet werden. 48 Dieser Satz betrifft ausschließlich reale, und keine, von den Physikern häufig angenommenen, idealisierten Vorgänge, bei denen Energie nicht entwertet wird. Diese allgemeine Formulierung, die sich auf Vorgänge bezieht, hat den Vorteil, dass sie auf Systeme verschiedenster Beschaffenheit ausgeweitet werden kann. Für die Änderung der gesamten Entropie eines beliebigen Systems ist es nötig, zwischen zwei Termen zu unterscheiden. Der erste Term ›deS‹ steht für die durch die Systemgrenzen hindurch, aufgrund von Stoff- und Energietransport mit der Umgebung ausgetauschte Entropie und kann positiv oder negativ sein (letzteres ist der Fall, wenn z. B. eine Flüssigkeit gekühlt wird). Der zweite Term ›diS‹ bedeutet die im System erzeugte Entropie und kann wegen des zweiten Hauptsatzes nur positiv sein bzw. im Grenzfall der Abwesenheit aller
Die erste Formulierung des zweiten Hauptsatzes lieferte Clausius schon 1850. Aber die reife und bis heute gültige Formulierung gelang ihm erst 1865, als er den fundamentalen Begriff der Entropie einführte (Ebeling & Sokolov 2005, 4). 48 In diese Formulierung fließen Einflüsse aus den Schriften bekannter Physiker ein: Prigogine 1993, 186; Nicolis & Prigogine 1987, 96; Prigogine 1979, 28; Ebeling 1976, 18; Schneider & Kay 1997, 185 f. 47
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innersystemischen Vorgänge den Wert Null annehmen. Für die Änderung der gesamten Entropie dS gilt dann (Prigogine 1979, 28): 49 Entropieänderung: dS = deS + diS und diS � 0
(2.5)
Wenn die inneren Vorgänge eines Systems nicht zum Erliegen gekommen sind (nur dann macht es eigentlich Sinn für die gegenwärtige Systemtheorie, von ›Systemen‹ zu sprechen), ist diS > 0. In diesem Fall übernimmt die Bedeutung der Entropie eine andere physikalische Größe, die Entropieproduktion P, die das Tempo der intern erzeugten Entropie ist (Glansdorff & Prigogine 1971, 13): 50 Entropieproduktion: P = diS/dt > 0
(2.6)
Die Formeln 2.5 und 2.6 beschreiben sozusagen die ›Entropie-Ökonomie‹ beliebiger Systeme, die alle möglichen Beziehungen zu ihrer Umgebung haben können. Werden jedoch die Arten dieser Beziehungen fokussiert, so kann zwischen isolierten (bzw. abgeschlossenen), geschlossenen und schließlich offenen Systemen unterschieden werden (Ebeling 1976, 19). Während letztere sowohl Energie als auch Materie mit ihrer Umgebung austauschen, tun erstere nichts davon. Eine mittlere Position nehmen die ›geschlossenen‹ Systeme ein, da sie mit ihrer Umgebung Energie austauschen. In Abhängigkeit vom jeweils vorliegenden Fall nimmt der Ausdruck 2.5 eine spezifische Gestalt an. 1.1.d.1 Entropiewachstum bei isolierten (abgeschlossenen) Systemen Ursprünglich wurde der zweite Hauptsatz für isolierte (bzw. abgeschlossene) Systeme formuliert (Prigogine 1979, 27). Seine klassische Fassung kann in heutiger Sprache wie folgt ausgedrückt werden: »Ist in irgendeinem Zeitpunkt die Entropie eines abgeschlossenen Systems von ihrem Maximalwert verschieden, so nimmt die Entropie in den folgenden Zeitpunkten nicht ab – sie nimmt zu« (Landau & Lifschitz 1987, 28).
Anders ausgedrückt: »Entropy is that fundamental and universal quantity characterizing a real dynamical system, that is non-decreasing in isolated systems« (Ebeling & Sokolov 2005, 33).
49 50
Vgl. auch: Ebeling 1976, 16. Vgl. auch: Ebeling 1976, 18.
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Hat ein System das Maximum der ihm möglichen Entropie erreicht (S = Smax, dS = 0), so sagt man, dass es sich im ›thermodynamischen Gleichgewicht‹ befindet; alle anderen Zustände, für die S < Smax gilt, sind ›Nichtgleichgewichtszustände‹ (Ebeling 1976, 18). Von Zuständen des Nichtgleichgewichts ist generell die Rede, wenn in einem System Vorgänge stattfinden, d. h. wenn es Entropie produziert, unabhängig davon, ob dieses isoliert (bzw. abgeschlossen), geschlossen oder offen ist. Für alle isolierten Systeme im Nichtgleichgewicht gilt notwendig dS/dt > 0, da wegen der Isolation deS/dt = 0 und wegen des zweiten Hauptsatzes diS/dt > 0 gilt. Isolierte Systeme im Nichtgleichgewicht besitzen also (noch) eine höhere Strukturiertheit als Gleichgewichtssysteme; allerdings arbeiten die in ihnen stattfindenden Vorgänge gegen die systemische Struktur, die sie antreibt, denn anstelle der Entropie ist im Nichtgleichgewicht – unabhängig davon, ob dies bei isolierten (bzw. abgeschlossenen), geschlossenen oder offenen Systemen auftritt – die Entropieproduktion P die entscheidende Größe. Für ein isoliertes System im Nichtgleichgewicht gilt: dS/dt = P = diS/dt > 0
(2.7)
Das in einem solchen Fall einzig denkbare Resultat ist, dass mit der Zeit der Zustand der maximalen Entropie erreicht wird. Die statistische Begründung des zweiten Hauptsatzes für isolierte Systeme wurde 1865 von Boltzmann geleistet (Landau & Lifschitz 1987, 28). Er hat nach einem Weg gesucht, der den Übergang von der mikroskopischen Trajektorien-Dynamik zur makroskopischen Thermodynamik des Entropiewachstums erlaubt. Seine Antwort, die er durch die Einführung der Kombinatorik fand – er betrachtete ›Komplexionen‹, d. h. Möglichkeiten der Verteilung der Elemente eines Systems (Boltzmann 2000, 142) – lautet, dass die Zunahme der Entropie eines isolierten Systems eine Entwicklung auf phänomenalmakroskopische Zustände wachsender Wahrscheinlichkeit ist: »[D]aher, daß es weit mehr gleichförmige als ungleichförmige Zustandsverteilungen gibt, stammt die größere Wahrscheinlichkeit, daß die Zustandsverteilung mit der Zeit gleichförmig wird […] Der Anfangszustand wird ein sehr unwahrscheinlicher sein, von ihm wird das System immer wahrscheinlicheren Zuständen zueilen, bis es endlich den wahrscheinlichsten, d. h. den des Wärmegleichgewichtes erreicht hat. Wenden wir dies auf den zweiten Hauptsatz an, so können wir diejenige Größe, welche man gewöhnlich als Entropie zu bezeichnen pflegt, mit der Wahrscheinlichkeit des
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betreffenden Zustandes identifizieren« (ebenda 138, Hervorhebung von S. K.).
Das isolierte System nimmt also mit der Zeit den wahrscheinlichsten phänomenal-makroskopischen Zustand an, d. h. denjenigen, dem die meisten Komplexionen angehören. 51 Genau das drückt die Formel 2.3 aus. Da aber jede einzelne Komplexion eine ganz konkrete Kombination der mikroskopischen Zustände der Elemente des Systems wiedergibt, ist sie nichts anderes als ein bestimmter mikroskopischer Gesamtzustand des Systems, d. h. ein Punkt im 6N-dimensionalen Phasenraum. Folglich werden mit fortschreitender Zeit immer mehr mikroskopische Gesamtzustände des Systems möglich, womit der Mittelwert seiner mikroskopischen Unvorhersehbarkeit steigt und schließlich ein Maximum erreicht. 52 Dies bedeutet natürlich nichts anderes als Verlust von physikalischer Ordnung – wobei ›Ordnung‹ hier Bestimmtheit bzw. Vorhersagbarkeit bedeutet – und folglich Wachstum der statistischen Entropie, womit der Übergang von der makroskopischen Betrachtung der phänomenologischen Thermodynamik zum mikroskopischen Zugang der statistischen Physik vollzogen ist. Wird also jeder stoffliche und energetische Austausch mit der Umgebung unterbrochen, so nimmt das System auf makroskopischer Für ein System, das aus einer Zahl von N Teilchen besteht, lässt sich mit Hilfe der Kombinatorik berechnen, auf wie viele verschiedene Arten diese aufzuteilen sind. Unterteilt man z. B. einen Behälter, der ein System enthält, das aus N Teilchen besteht, in zwei Hälften, so lassen sich W = N!/(N1! � N2!) Komplexionen errechnen, wobei N! = 1 � 2 � 3 � …(N-2) � (N-1) � N und N = N1 + N2 (Boltzmann 2000, 149; Prigogine & Stengers 1990, 132). Besteht ein System aus N = 6 Teilchen, so lässt sich nur eine Möglichkeit denken, alle Teilchen in der einen Hälfte zu haben, während es bereits sechs Möglichkeiten gibt, ein Teilchen in der einen Hälfte und fünf in der anderen zu verteilen: W = 6!/(5! � 1!) = 720/120 = 6. Die gleichmäßige Verteilung der Teilchen in beiden Hälften – der Zustand der größten Unordnung (maximale Entropie) – lässt sich durch W = 6!/(3! � 3!) = 20 verschiedene Möglichkeiten der Verteilung erreichen, wobei die Anzahl der Komplexionen W bei der Gleichverteilung größeren Wert als bei jeder anderen möglichen Weise der Verteilung hat (Prigogine 1979, 32). 52 Genauer betrachtet: Dieses Resultat wird nur dann erreicht, wenn dem isolierten System im thermodynamischem Gleichgewicht keine externen Zwänge auferlegt werden. So ›zwingt‹ z. B. die Gravitation die in einer Flüssigkeit enthaltenen nicht auflösbaren Partikel, sich auf dem Grund ihres Gefäßes zu konzentrieren. In einer Raumstation würden sie sich allerdings vollkommen gleichmäßig verteilen, womit die größte Unvorhersagbarkeit erreicht worden wäre. Ein isoliertes System erreicht also mit der Zeit die größte ihm mögliche, d. h. ihm erlaubte Unordnung. 51
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Abb. 2.4: Entropiezunahme eines isolierten Systems, das sich dem thermodynamischen Gleichgewicht annähert, als Änderung der Form des Phasenraumvolumens der Menge der möglichen Gesamtzustände in seinem 6N-dimensionalen Phasenraum mit der Zeit.
Ebene Zustände der phänomenalen Homogenisierung an, die auf der mikroskopischen Ebene fortschreitende Desorganisation, also zunehmende Unvorhersehbarkeit bedeuten, bis schließlich das größte Phasenraumvolumen erreicht wird, welches aus den W gleichwahrscheinlichen Gesamtzuständen der Formel 2.3 besteht (Ebeling 1991, 17). Das mikroskopische Verständnis von Entropie »als Menge an Zufall« (Ebeling & Feistel 1994, 192) bedeutet also auf der Makroebene der sinnlich-instrumentellen Beobachtung das Wachstum wahrnehmbarer Homogenität, das mit Beliebigkeit einhergeht. Letztere führt uns der Tod ganz drastisch vor Augen. Die sterblichen Überreste eines Organismus zerfallen in eine amorphe Masse (phänomenal-makroskopischer Zustand), die mit fortschreitender Zeit immer mehr mikroskopische Formen des Durcheinanders, d. h. immer mehr Gesamtzustände im 6N-dimensionalen Phasenraum, erlaubt. 1.1.d.2 Entropieerzeugung und Irreversibilität als objektive Phänomene Die Tatsache, dass Entropie nur produziert, aber nicht vernichtet werden kann, dass also diS/dt > 0 immer gilt, bedeutet, dass es keinem realen Vorgang möglich ist, sich rückwärts zu entwickeln, was die 158 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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Unumkehrbarkeit, die Irreversibilität aller realen Vorgänge eindeutig besagt. Aus diesem Grund gehört der zweite Hauptsatz zu den absolut fundamentalen Kardinalgrößen des modernen Weltbilds. Durch Boltzmanns Verbindung von Entropie und Wahrscheinlichkeit erfuhr allerdings die Irreversibilität der Natur eine wahrscheinlichkeitstheoretische Deutung, der zufolge reversible Vorgänge lediglich extrem unwahrscheinlich wären. Gegen diese Vorstellung hat Ilya Prigogine gravierende Einwände erhoben, ohne jedoch die Verbindung des Begriffs ›Wahrscheinlichkeit‹ mit zentralen Begriffen der Dynamik, wie ›Trajektorie‹, ›Phasenraum‹ u. a. aufzugeben. Er betrachtet die Erneuerung des Begriffes der Irreversibilität, die er im Rahmen der Physik tatsächlich leistet, als einen seiner zentralsten Beiträge zur Theorie des Komplexen. Prigogine hat die Irreversibilität, diese fundamentale Kategorie der Physik des Werdens, zu einer ontologischen Größe erhoben und somit der mächtigen Tradition von Boltzmann, Maxwell und vor allem von Einstein und Gibbs, in die er auch Feynman und Hawking einordnet (1998, 20, 32), entschieden widersprochen. Er grenzt sich zunächst vom Versuch Boltzmanns ab, den zweiten Hauptsatz, und mit ihm die Irreversibilität, durch Wahrscheinlichkeitsrechnung zu begründen. Prigogine lehnt aus zwei Gründen den Boltzmannschen Erklärungsversuch ab: Die Irreversibilität soll nicht einfach durch die Wahrscheinlichkeitsrechnung erklärt werden, denn »wir leben […] in der Welt der Dynamik«, was uns dazu verpflichtet, aus der Entwicklung der dynamischen Trajektorien heraus die Zunahme der Entropie bei isolierten (bzw. abgeschlossenen) Systemen abzuleiten (Prigogine & Stengers 1990, 246 f.). Daran knüpft der zweite Haupteinwand gegen Boltzmann an: Irreversibilität ist eine elementare Eigenschaft physischer Entitäten, die nicht auf den engen Bereich isolierter Systeme zu begrenzen ist. Prigogine gehört zu den Protagonisten der Thermodynamik offener Systeme, in der die Dissipation von Energie, also die Entropieerzeugung, im Vordergrund steht. In wenigen Worten: Prigogine fokussiert die Entropieerzeugung und verlangt, dass ihre wahrscheinlichkeitstheoretische Deutung aus der Dynamik heraus begründet wird (ebenda). Trotzdem fällt die Annäherung an Prigogines Vorstellungen leichter, wenn man vom Sonderfall der isolierten Systeme ausgeht, um den Kreis der Betrachtung in den nächsten Abschnitten zu erweitern. Es lässt sich eine gewaltige Zahl von Trajektorien denken, die zwischen jenen möglichen Gesamtzuständen vermitteln, die das 159 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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Abb. 2.5: Ensemble möglicher Trajektorien im 6N-dimensionalen Phasenraum eines Systems wachsender Entropie. Die zwei Phasenraumvolumen repräsentieren die Mengen der möglichen Gesamtzustände, die das System zu zwei verschiedenen Zeitpunkten seiner Entwicklung einnehmen kann. Zu jedem dieser Zeitpunkte wird der tatsächliche, aber dem Beobachter unbekannte Zustand des Systems von einem einzigen Punkt innerhalb desjenigen Volumens repräsentiert, das dem jeweils aktuellen Entwicklungsstand des Systems entspricht.
sich desorganisierende System zu zwei verschiedenen Zeitpunkten annehmen könnte. Ein Bündel dieser möglichen Entwicklungen ist ein Trajektorien-Ensemble. Aufgrund der Zunahme der Entropie ändert sich mit der Zeit die Form des Phasenraumvolumens. Die Begründer der sogenannten »Ensemble-Theorie«, Gibbs und Einstein, leiteten eine neue Epoche ein, die, Prigogine zufolge, auf der subjektivistischen Erklärung der Entropieerzeugung und ihres Wachstums bei abgeschlossenen Systemen beharrt. In dieser »klassischen Haltung«, wie er sie nennt (Prigogine 1993, 196), wurde auf der ontologischen Ebene von der Reversibilität aller Vorgänge der materiellen Realität ausgegangen, da die Gleichungen der Newton’schen Dynamik und der Quantenmechanik sich neutral gegenüber Zeitumkehr verhalten. Nach Gibbs und Einstein gäbe es nur eine wirkliche Trajektorie, die, im Unterschied zur Unzahl möglicher aber nicht wirklicher Trajektorien des Ensembles, die tatsächliche Entwicklung des Gesamtzustands des Vielteilchensystems beschreiben würde. Es sei der Begrenztheit unserer sinnlichen Erkenntnisvermögen und unserer Rechenkapazität zu verschulden, dass wir die exakte Entwick160 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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lung eines Vielteilchensystems, d. h. die eine einzige wirkliche Trajektorie, die es repräsentiert, nicht berechnen können (Prigogine 1993, 196). Genau dies müssten wir aber leisten, um das jeweils zuständige reversible Gesetz zu ermitteln, das die Entwicklung des Systems als deterministisches und reversibles Geschehen vorherzusagen gestattet. Wenn aber die statistische Beschreibung der physikalischen Realität, also die Vielzahl möglicher Trajektorien, einzig und allein Ergebnis unserer Erkenntnisschwäche ist, d. h. wenn die Begriffe des Trajektorien-Ensembles und der (sich verändernden) Verteilungsfunktion ρ lediglich auf empirischer und theoretischer Unzulänglichkeit beruhen, kann nicht ontologisch von Entropie, also auch nicht von Irreversibilität die Rede sein. Beide Begriffe werden in dieser Deutung zu einem ›als ob‹ Status degradiert und haben nur eine erkenntnistheoretische Bedeutung. Irreversibilität ist nach Gibbs und Einstein nur eine hartnäckige Illusion (ebenda), eine Position, die auch Maxwell vertritt (Nørretranders 1994, 40 ff.). Prigogine, der nach seinem eigenen Bekunden schon sehr früh Bergsons Philosophie über Zeit und irreversible Entwicklung kennenlernte (Prigogine 1997, 79), gelang es, ein Verständnis von Irreversibilität zu erreichen, das den Subjektivismus der »klassischen Haltung« hinter sich lässt. Dabei stützte er sich auf die 1892 von Poincaré beschriebene Tatsache, dass es auch sehr einfache Systeme gibt, die z. B. nur aus drei gravitierenden Körpern bestehen und die zu starken Deformationen ihres ursprünglichen Phasenraumvolumens neigen. Einer der Hauptverdienste der Chaostheorie, die eigentlich mit Poincaré begann, ist die Erkenntnis, dass die meisten natürlichen Systeme von einer solchen Beschaffenheit sind (Prigogine & Stengers 1990, 248). Ihre Dynamik ist essentiell instabil, weshalb sie in verschiedenem Maße sich deterministisch-chaotisch verhalten. Instabile Systeme setzen der Vorhersagbarkeit ihrer Zukunft eine objektive Grenze, die nichts mit der quantitativen Begrenztheit menschlicher Wahrnehmungsfähigkeit und Rechenleistung zu tun hat. Denn angenommen, man könne den momentanen Gesamtzustand eines selbst schwach instabilen Systems in einem extrem kleinen Volumen des Phasenraums lokalisieren, d. h. die Kenntnis seiner Beschaffenheit zu einem sehr genau bestimmten Zeitpunkt enorm steigern, würde man trotzdem nicht die Zukunft des Systems für eine beliebig lange Zeit vorhersagen können. Der Grund dafür ist die Divergenz eng benachbarter Trajektorien – das besagt der Begriff Instabilität –, für die
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jede endlich genaue Messung mit fortschreitender Zeit nicht genau genug ist: »Der wesentliche Punkt ist, daß jedes Gebiet [des 6N-dimensionalen Phasenraumes] ungeachtet seiner Größe stets verschiedene Trajektorien enthält, die bei jeder Fragmentierung divergieren. Während die Entwicklung eines Punktes reversibel und deterministisch ist, ist die Beschreibung eines Gebietes, so klein es auch sein mag, grundsätzlich statistischer Natur. […] Wir können deshalb den Übergang von Ensembles im Phasenraum zu individuellen Trajektorien nicht länger durchführen. Die Beschreibung durch Ensembles läßt sich nicht weiter reduzieren. Sie muß im Gegenteil als Ausgangspunkt genommen werden. […] Gegenüber diesen instabilen Systemen ist der Laplacesche Dämon ebenso machtlos wie wir […] Gott könnte, wenn er wollte, die Trajektorien in einer instabilen dynamischen Welt berechnen. Er würde das gleiche Ergebnis erhalten zu dem wir durch die Wahrscheinlichkeitsrechnung gelangen« (Prigogine & Stengers 1990, 256–259; Einfügung von S. K.). 53
Prigogine hat viel dazu beigetragen, das Phänomen der Divergenz von besonders nah aneinander liegenden Trajektorien des Ensembles zu verstehen (Ebeling & Feistel 1994, 197). In einem noch so kleinen Volumen des Phasenraums – d. h. auch in einem Volumen mikroskopischer Größe – existieren Unmengen von Trajektorien, da jede von ihnen eindimensional, d. h. unendlich dünn, ist. Anders als bei stabilen Systemen, deren benachbarte Trajektorien ihre Nachbarschaft bewahren, was langfristige Vorhersagen ohne hochgradig genaue Messungen möglich macht, wächst bei instabilen Dynamiken die »Abweichung exponentiell mit der Größe des Zeitintervalls an« (Ebeling et al. 1998, 38). 54 Wegen der Divergenz der Trajektorien vergrößert sich, bei hinreichend langer Zeit, die Ursprungszelle des Systems im Phasenraum extrem (Abb. 2.4 und 2.5). Was also den wahrscheinlichkeitstheoretischen Zugriff legitimiert, ist nicht »unsere Unkenntnis oder andere subjektivistische Faktoren«, sondern »im Gegenteil die Art der Bewegung, deren chaotischer Charakter« (Prigogine & Stengers 1990, 266). Dem Wachstum der Unbestimmtheit der Entwicklung des Systems könnte man nur mit unendlich genauen Messungen entgehen (Prigogine 1979, 38), denn dies würde seinen ursprünglichen Gesamtzustand auf einen Punkt reduzieren und somit
53 54
Vgl. auch: Prigogine 1993, 203 f. Vgl auch: Ebeling & Feistel 1994, 197; Ebeling 1991, 21
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Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
seine Entwicklung auf eine einzige Trajektorie beschränken. Eine solche Messung ist allerdings praktisch und theoretisch undurchführbar. Besonders gewichtig werden diese Erkenntnisse – die, wie schon gesagt, selbst einige extrem einfache Systeme betreffen – beim Übergang zu Vielteilchensystemen. Gegenwärtig gilt es als gesichert, dass die eigentliche Ursache für die Irreversibilität, die der zweite Hauptsatz besagt, »die Instabilität, die Divergenz der mikroskopischen Bewegungen, d. h. das mikroskopische Chaos« auf der molekularen Ebene ist (Ebeling et al. 1998, 33, 38). Auf der Abstraktionsebene des 6Ndimensionalen Phasenraums besagt dies das Wachstum der Entropie wegen der Divergenz eng benachbarter Trajektorien: »Anfangszustände, die nicht dem thermodynamischen Gleichgewicht entsprechen, sind sehr unwahrscheinlich. Sie entsprechen nur einem relativ kleinen Volumen im Phasenraum, einer ›geringen Menge von Zufall‹. Die Zeitentwicklung führt das System aufgrund der Instabilität der Bewegung in immer größere Volumina des Phasenraumes. Diese Tendenz entspricht dem Übergang zu wahrscheinlicheren [Gesamt-]Zuständen« (Ebeling et al. 1998, 33; Hervorhebung und Einfügung von S. K.). 55
Prigogine hat, Ebeling zufolge, 56 das molekulare Chaos zu einem Sonderfall des deterministischen Chaos erhoben und somit dem wahrscheinlichkeitstheoretischen Zugang Boltzmanns eine nicht-subjektivistische Interpretation gegeben. Prigogine ist es gelungen, zu zeigen, dass Entropieerzeugung aus objektiven, physikalisch-mathematischen Gründen stattfindet, weil eng benachbarte Trajektorien instabiler Systeme sich notwendig voneinander entfernen. Die Erzeugung von Unbestimmtheit bzw. Unordnung ist somit als ein wesenhaftes Merkmal realer physischer Vorgänge bewiesen worden. Damit steht fest, dass die Existenz verschiedener Möglichkeiten der Entwicklung dynamischer Systeme reale, natürliche und nicht subjektive, kognitive Gründe hat – eine auch für die vorliegende biophilosophische Untersuchung basale Voraussetzung. Diese fundamentalen Erkenntnisse haben den Begriff der Entropie in ein neues Licht gerückt. Es darf allerdings nicht übersehen werden, dass der zweite Hauptsatz, auch nach beinah hundertfünfzig Jahren nach seiner Formulierung, noch nicht vollkommen theoretisch durchdrungen ist (Prigogine 1993, 187). 57 55 56 57
Vgl. auch: Ebeling & Feistel 1994, 198; Ebeling 1991, 17 Persönliche Mitteilung an mich. Vgl. auch: Ebeling et al. 1990, 57; Ebeling et al. 1998, 33.
163 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
1.1.d.3 Entropieerzeugung als Urform des Vergessens: Der universelle Verlust der Vergangenheit Das tiefe Verständnis des zweiten Hauptsatzes, das wir Prigogine und seiner einflussreichen Schule verdanken, hat für die vielschichtige philosophische Problematik des Vergehens physischer Entitäten wichtige Konsequenzen. Vor dem Hintergrund der oben dargestellten Erkenntnisse bedeutet die Irreversibilität der physischen Welt mehr als die Tendenz jedes natürlichen Vorgangs, Unordnung zu produzieren. Der entropische Verfall spielt sich in einer tieferen Metaebene ab, denn auch die Ordnung des Übergangs vom Alten zum Neuen, die Art und Weise, nach der die jeweilige Gegenwart eines instabilen Systems aus ihrer unmittelbaren Vergangenheit hervorgeht, fällt der permanent entstehenden Entropie zum Opfer. Folglich geht die Rekonstruierbarkeit des Vergangenen auf der Basis des (noch) Vorhandenen – d. h. der Spur der Vergangenheit – nach und nach verloren. Sie vergeht aus bestimmten objektiven Gründen, die tief in der Natur des Universums verwurzelt sind. Prigogine spricht von einem »eingebauten Mechanismus des Vergessens«, der dazu führt, dass »die Anfangsbedingungen ›vergessen‹« werden (1979, 31 ff.). Wegen dieses ›Vergessens‹ ist auch die Vorhersage der Zukunft komplexer Systeme nur sehr begrenzt möglich. Die gegenwärtige Physik führt uns also buchstäblich die Einmaligkeit des gegenwärtigen Augenblicks vor Augen. Es wird klar, dass der Verlust unseres Vermögens, die Zukunft vorherzusagen und die Vergangenheit zu rekapitulieren, nicht auf menschliche Erkenntnisschwäche bezüglich der tatsächlichen Beschaffenheit der Realität zurückgeht, sondern direkt aus der Natur des Kosmos entspringt: Die neueren Erkenntnisse haben das Verlieren der Spuren des Vergehenden zu einer objektiven Kategorie erhoben. Diese Erkenntnisse gehen über die üblichen Abstraktionen vom Wesen der Vergangenheit, die interessanterweise die meisten Naturwissenschaften mit der Logik der Alltagspraxis teilen, weit hinaus. Augustin bringt diese nach wie vor weit verbreiteten Vorstellungen exzellent auf den Punkt. Seiner Zeitontologie liegt der scheinbar unproblematische Gedanke zugrunde, dass jeder Zeitabschnitt »so rasch« fliegt, dass er »sich zu keiner noch so kleinen Dauer (morula) dehnt« (Bekenntnisse, Buch XI, XV. 20, 11–12). In diesem Vorurteil – die Zeit würde fliegen – wurzelt die seinen Text beherrschende Überzeugung, dass nur eine infinitesimal kurze Gegenwart existiert. Davon ausgehend schreibt er der Vergangenheit nur insofern Existenz 164 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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zu, dass sie in der jeweiligen Gegenwart ›Spuren‹ (vestigia) hinterlässt, durch die sie mittelbar wirkt, z. B. indem sie erinnert wird (ebenda XVIII. 23, 7–10). Diese Vorstellung ist weiterhin für die neurophysiologische Erforschung des Gedächtnisses basal. Die neueren Entwicklungen zeigen jedoch, dass das Wesen des Vergangen-Seins sich nicht darin erschöpft, nicht mehr gegenwärtig, d. h. nicht mehr unmittelbar wirksam zu sein. Der Vergangenheit anzugehören bedeutet mehr als durch allmählich dahinschwindende Spuren in einer immer fremderen Gegenwart zunehmend irrelevant zu werden – darin besteht höchstens das Wesen des Vergehens. Ausgehend von der physikalisch begründeten Vorstellung des ›Vergessens‹ früherer Zustände bedeutet vergangen zu sein, konsequent zu Ende gedacht, in der Gegenwart vollständig ›vergessen‹ zu sein, d. h. von keinen Spuren mehr vertreten zu werden. Für den Menschen verheißt dies die physikalisch begründete Unabwendbarkeit eines totalen Todes, als Individuum und als Gattung. Die Idee des ›zweiten Todes‹ aus der Offenbarung des Johannes verwandelt sich im Zeitalter des konsequenten Physikalismus in das unausbleibliche Verschwinden aller geschriebenen, gebauten, eingravierten und auf anderem Wege hinterlassenen Spuren. Angeblich werden wir in einem solchen Maße vergessen, dass man unsere eigenen Hoffnungen, Wünsche, Ziele, Leiden, Irrtümer und Begierden nicht einmal wird ahnen können. Das Durchschauen des entropischen Verlustes hat der seit eh und je bestehenden Angst vor dem totalen Vergessen-Werden auch ein formales Fundament gegeben. Viele von uns spüren: Im Aufbegehren gegen diesen totalen Tod ist eine der essentiellsten Wurzeln unseres Mensch-Seins, die jede echte Religiosität belebt, zu finden. Das wirft die metaphysische Frage auf, ob die Idee des Gedächtnisses auch jenseits der seit der Antike dominanten Überzeugung seiner notwendigen Bindung an physische Spuren, die z. B. im Gehirn gespeichert sein würden, gedacht werden kann: Können bestimmte zeitontologische Überlegungen eine Konzeption des Gedächtnisses einführen, die ihm auch nach der Zerstörung der physischen Spuren, von denen es Gebrauch macht, Bestand gewähren? Ausgehend von der engen Bindung zwischen Entropie und Vergessen stellt sich sogar die Frage, ob es Gründe gibt, ein so konzipiertes, d. h. ein nicht materiell getragenes, universelles Gedächtnis als ein kosmisches anti-entropisches Agens anzunehmen. Die Entfaltung dieser Überlegungen kann jedoch erst dann versucht werden (in Kap. III und IV), wenn die von der Physik des Kom165 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
plexen angebotenen Möglichkeiten anti-entropischen Wirkens klar sind. 1.1.e
Abnahme der Entropie bei offenen nichtlinearen Systemen
Schon sehr früh erkannten einige Physiker, wie schon im ersten Kapitel ausgeführt, dass der zweite Hauptsatz die Unabwendbarkeit des Endzustands der maximal möglichen Entropie lediglich für den Sonderfall isolierter Systeme besagt, die noch nicht das thermodynamische Gleichgewicht erreicht haben. Aus der Formel 2.5 ist ersichtlich, dass auch eine andere ›Entropie-Ökonomie‹ denkbar ist, wenn das System nicht abgeschlossen (bzw. isoliert) ist. Denn im Gegensatz zur intern bedingten Entropieänderung diS, die immer positiv ist, kann das Vorzeichen des Entropie-Austausches eines Systems mit seiner Umgebung (deS) auch negativ sein. Dies ist der Fall, wenn das System Entropie exportiert. Folglich kann die Entropie eines Systems verringert werden, wenn dieses mehr Entropie abgibt, als es in seinem Inneren produziert (Nicolis & Prigogine 1987, 98): 58 Wenn deS < 0 und |deS| > diS, gilt: S = deS + diS < 0 zeitliche Entropieänderung: dS/dt < 0
(2.8)
In diesem Fall nimmt die Unordnung des Systems ab, was ein Synonym für Strukturbildung ist. Der Ausdruck ›anti-entropisch‹ bedeutet also nicht, dass Entropie zerstört wird – das würde dem zweiten Hauptsatz entschieden widersprechen – sondern lediglich, dass die Entropie bestimmter Ganzheiten abnimmt bzw. sich auf einem niedrigeren Niveau als dem der maximal möglichen Entropie aufhält. Allerdings setzt die physikalische Idee der ›maximal möglichen Entropie‹ einer Ganzheit eine unausgesprochene Annahme voraus – dass in dieser Ganzheit nur Wirkursachen am Werk sind. Es ist also vom möglichen Höchstwert der Entropie einer Ganzheit die Rede, wenn in- und außerhalb dieser nur Wirkursachen, d. h. physikochemisch beschreibbare Faktoren am Werk sind.
58
Vgl. auch: Ebeling et al. 1990, 63.
166 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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1.1.e.1 Entfernung vom thermodynamischen Gleichgewicht durch eine Entropiepumpe Eine der notwendigen Bedingungen für die Abnahme der Entropie eines Systems ist, dass es kein isoliertes System ist. Dies verlangt nach einem Faktor, der den Austausch des Systems mit seiner Umgebung aufrechterhält: »Ein Entropieexport, der die innere Entropieproduktion übersteigt, kommt nicht spontan zustande, sondern erfordert eine ›Entropiepumpe‹. Zum Betrieb dieser Pumpe wird, wie für den Betrieb jeder Maschine, verschleißbare freie Energie oder freie Enthalpie benötigt, die aus äußeren oder inneren Quellen stammen kann. […] Die Entropiepumpe kann sich sowohl außerhalb als auch innerhalb eines strukturbildenden Systems befinden. Wir unterscheiden dementsprechend zwischen passiven und aktiven strukturbildenden Systemen. Passive strukturbildende Systeme (Bénard-Zelle, Elektrogeräte, Laser usw.) müssen mit einer Umgebung gekoppelt sein. Diese muß eine Entropiepumpe enthalten, die z. B. Elektrizität oder Wärme bei hoher Temperatur oder kurzwellige Strahlung in das System pumpt. Aktive strukturbildende Systeme (Lebewesen, Otto-Motoren usw.) enthalten eine Entropiepumpe im Inneren und müssen daher in der Regel einen hohen Grad innerer Organisiertheit besitzen. Weiterhin müssen ihnen aus der Umgebung energiereiche Rohstoffe zufließen. Sowohl aktive als auch passive Systeme werden durch die Entropiepumpe vom Gleichgewicht weggetrieben« (Ebeling et al. 1990, 63).
Die Rolle der Entropiepumpe besteht also nicht nur darin, die im System entstandene Entropie zu exportieren, sondern auch in seiner Versorgung mit hochwertiger Energie aus der Umgebung, die seine Vorgänge antreibt. Es ist beachtenswert, dass aus physikalischer Sicht die Tatsache der geregelten systemischen Offenheit viel zentraler ist, als die Frage, ob die Entropiepumpe zum System selber gehört oder einer externen Kontrolle unterliegt. Diese Frage ist jedoch für die Erklärung organismischer Selbsterhaltung auf der Basis der Theorie dynamischer Systeme von kardinaler Bedeutung und wird später ausführlich diskutiert. An dieser Stelle ist es besonders wichtig, Folgendes festzuhalten: Je höher die Entfernung vom thermodynamischen Gleichgewicht ist, die von der Entropiepumpe erzwungen wird, umso niedriger wird die Entropie dieses Systems sein, weil desto höher die Entropie-Absenkung ist, die im System stattfindet. Das besagt das sogenannte ›S-Theorem‹ von Klimontovich (1995, 206 f., 454 f.). 59 59
Vgl. auch: Ebeling et al. 1998, 32; Ebeling 1991, 18.
167 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
S
Smax S Zeit
Abb. 2.6: Abnahme der Entropie eines Systems infolge des Betriebs einer Entropiepumpe, d. h. der erzwungenen Entfernung vom Zustand des thermodynamischen Gleichgewichts (ausgehend von Ebeling 1991, 19).
Die Entropie-Absenkung nach Klimontovich steht in einem engen Zusammenhang zur Negentropie Schrödingers (Ebeling et al. 1998, 32). Die dabei auftretende Abnahme der Entropie ist ein Maß für die Ordnung der Strukturbildung, die im System als Reaktion auf die erzwungene Entfernung vom thermodynamischen Gleichgewicht stattfindet. 1.1.e.2 Nichtlinearität Große Entfernung vom thermodynamischen Gleichgewicht ist jedoch notwendig, aber nicht ausreichend für selbstorganisierte Strukturbildung. Die andere notwendige Bedingung ist, dass das Netzwerk der Relationen, d. h. die Struktur des Systems, nichtlineare kausale Bindungen enthält (Prigogine & Stengers 1990, 153 f.). Eine Relation zwischen einer Wirkursache und einem Resultat wird als linear bezeichnet, wenn Folgendes der Fall ist: Wirkursache 1 bewirkt Resultat 1: Wirkursache 2 bewirkt Resultat 2: Wirkursache n bewirkt Resultat n: Das Zusammenwirken aller Wirkursachen ergibt: und zugleich gilt:
WU1 → R1 WU2 → R2 WUn → Rn
WU1 + WU2 + … + WUn = WU12…n WU12…n → R12…n = R1 + R2 + … + Rn
Nichtlinearität liegt vor, wenn Folgendes der Fall ist: WU12…n → R12…n 6¼ R1 + R2 + … + Rn Daraus kann schlussfolgert werden: WU12…n 6¼ WU1 + WU2 + … + WUn
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Bei einem linearen System kann jede Wirkursache als einfache Summe (Addition) anderer (Teil)Wirkursachen dargestellt werden und dasselbe kann für das Resultat vorgenommen werden und zwar auf eine Weise, die erlaubt, jedes der Teilresultate einer der (Teil)Wirkursachen zuzuordnen. In diesem Fall liegt vielleicht ein kompliziertes, aber kein komplexes System vor. Bei nichtlinearen Systemen kann eine solche Zerlegung nicht mehr vorgenommen werden, was mit dem inzwischen sehr inflationär verwendeten Satz »das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile« beschrieben wird. Nichtlinearität ist vorhanden, wenn im System wirkursächlichkausale Rückkopplungen vorhanden sind, sodass zumindest einige Resultate seiner Dynamik wiederum als Wirkursachen für das weitere Funktionieren des Systems dienen: Deshalb kommt es zu einer kaum auseinanderzunehmenden Verflechtung von Wirkursachen, sodass es nicht möglich ist, sie voneinander abzugrenzen. Bei der graphischen Veranschaulichung solcher Dynamiken werden die Rückkopplungen durch geschlossene Schleifen dargestellt. 60 Bei großer Entfernung vom thermodynamischen Gleichgewicht tritt in den meisten Fällen Nichtlinearität automatisch auf (Ebeling et al. 1990, 64); 61 das ist aber nicht immer der Fall. 1.1.e.3 Stationäre dissipative Strukturen Prigogine hat schon in den späten sechziger Jahren vorgeschlagen, die stabilen räumlichen, zeitlichen und raumzeitlichen Strukturen, die sich jenseits kritischer Entfernungen vom thermodynamischen Gleichgewicht bilden und nichtlineare Relationen aufweisen, als dissipative Strukturen zu bezeichnen (Prigogine & Stengers 1990, 152 f.). 62 ›Dissipation‹ bedeutet Auflösung bzw. Zerstreuung, was sich in diesem Fall auf die Entwertung der mittels der Entropiepumpe von der Umgebung importierten hochwertigen Energie bezieht. Dissipative Strukturen stellen eine Form »supramolekularer Organisation« dar, denn die strukturbildenden Ursachen sind nicht von mikrophysikalischer Reichweite, wie dies z. B. bei der Kristallbildung der Fall ist, sondern erreichen die makroskopische raumzeitliche Größe von Zentimetern bzw. »Sekunden, Minuten oder Stunden« (ebenda). Geschlossene Schleifen sind in den Abbildungen 2.8, 2.14, 2.16, 2.18, 2.20 und 2.24 enthalten. 61 Vgl. auch: Prigogine & Stengers 1990, 153. 62 Vgl. auch: Glansdorff & Prigogine 1971, 73, 165. Ebeling et al. 1990, 64; Ebeling 1976, 27. 60
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II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
Die aus physikalischer Sicht wichtigste Klasse dissipativer Strukturen sind »die stationären dissipativen Strukturen, die im Laufe der Zeit bei konstanten äußeren Bedingungen keinen Änderungen unterworfen sind« (Ebeling 1990, 64 f.; Hervorhebung von S. K.). Formal lässt sich dies wie folgt beschreiben (ebenda): dS = deS + diS = 0 ) deS = – diS < 0; dE = deE + diE = 0
(2.9)
(Die Größe dE repräsentiert die Energieänderung des Systems. Wegen des Energieerhaltungssatzes kann im System Energie weder erzeugt noch vernichtet werden, sodass diE = 0 sein muss.) Stationarität bedeutet die Beibehaltung der Form des Relationen-Netzwerks, also Strukturstabilität, bei fortlaufender Dynamik: dS = 0 obwohl S < Smax. Damit stellt sie ein grundsätzlich anderes Gleichgewicht dar als das statische, in dem alle Vorgänge zum Erliegen gekommen sind, weil S = Smax. Eine stationäre dissipative Struktur ist stabil, wenn sie eine relativ kleine Veränderung ihres Zustands, die z. B. auf zufällige Umgebungseinflüsse zurückgeht, verträgt, ohne in einen anderen Zustand überführt zu werden. Es gibt auch instabile Stationarität. 63 Für die moderne Theoretische Biologie ist die Vorstellung, dass Organismen als offene Systeme zu beschreiben sind, essentiell. Auf der Basis der Erkenntnisse Prigogines und anderer sind gesunde erwachsene Organismen, über einen längeren Zeitraum betrachtet, stabile stationäre dissipative Strukturen, denn sie weisen bei einem permanenten stofflich-energetischen Austausch mit ihrer Umgebung einen stabilen dynamischen Zustand hoher raumzeitlicher Strukturierung auf. 1.1.f
Einige Beispiele für die Selbstorganisation von Strukturbildung
Über die Jahre ist eine sehr umfangreiche Literatur entstanden, die viele Beispiele nichtlinearer Strukturbildung für das gesamte Spektrum der materiellen Welt zwischen Mikrophysik und Kosmologie beschreibt. Um dem Leser einen Eindruck des Reichtums dieser Phänomene zu geben, seien hier einige besonders charakteristische Beispiele kurz vorgestellt. Es ist bekannt, dass nichtlineare mechanische dissipative Strukturen die Eigenschaft haben, unter bestimmten Bedingungen durch 63
Dieses Phänomen wird im Abschnitt 1.1.g.2 dieses Kapitels behandelt.
170 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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spontane Selbsterregung in Schwingungszustände überzugehen. Als Beispiele seien die Schwingung einer mit dem Bogen angestrichenen Geigensaite, die am Weinglas durch Reibung angeregten Töne, das Flattern von Flugzeugflügeln, das Knirschen der Wandtafelkreide usw. genannt. 64 Übersteigt die auf diese Systeme wirkende externe mechanische Kraft einen kritischen Wert (große Distanz vom thermodynamischem Gleichgewicht), so gehen sie in einen Schwingungszustand über. Sie bilden eine stabile Struktur zeitlicher Ordnung, sodass hier eine stationäre »zeitlich periodische dissipative Struktur« vorliegt (Ebeling 1976, 62). Ein ähnliches Verhalten kann der sogenannte ›elektrische Schwingkreis‹ zeigen, der aus einer Kapazität, einer Induktivität und einem Widerstand besteht und durch hochwertige elektrische Energie permanent gespeist wird (ebenda 63 ff.). Wenn die Rückkopplung zwischen den Bauteilen des Systems einen kritischen Wert übersteigt, bildet sich eine Oszillation strenger Periodizität, die durch einen Grenzzyklus in einem Zustandsraum abzubilden ist, dessen zwei Dimensionen elektrische Spannungen repräsentieren. Selbsterregte Schwingungssysteme sind an einer Energiequelle bzw. Entropiepumpe (mechanische Kraft, elektrische Spannung) gekoppelt, die den Systemen gleichmäßig hochwertige Energie liefert, um die Dissipation der Energie in Wärme auszugleichen. Dasselbe setzen auch dissipative Systeme voraus, die räumliche bzw. raumzeitliche Strukturbildung aufweisen. Besonders anschaulich sind zwei Beispiele (energetisch) offener hydrodynamischer Systeme. Das erste System ist die sogenannte ›Couette-Zelle‹, die aus zwei konzentrischen Zylindern besteht, deren Zwischenraum mit einer Flüssigkeit gefüllt ist, wobei der innere Zylinder in Rotation versetzt wird (Crutchfield et al. 1989, 16 f.). 65 Während für kleine Rotationsgeschwindigkeiten die Strömung laminar ist, bilden sich beim Überschreiten einer bestimmten Grenze, die von der Form der Zylinder und der Beschaffenheit der Flüssigkeit abhängig ist, entlang des inneren Zylinders räumlich periodische Wirbelringe in der Flüssigkeit aus. Beim Überschreiten einer weiteren Grenze der Rotationsgeschwindigkeit beginnen diese Ringe sich regelmäßig zu bewegen – Der mechanische »Schwinger mit einem einseitigen konstanten Reibungszug« ist ein stark vereinfachtes Modell für die quantitative Beschreibung einiger nichtlinearer mechanischer Systeme (Ebeling 1976, 57). 65 Vgl. auch: Ebeling et al. 1990, 103 f. 64
171 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
die räumliche Strukturbildung geht also in eine raumzeitliche über. Werden weitere aufeinander folgende Grenzen der Einspeisung des Systems mit hochwertiger mechanischer Energie überschritten, »so zeigen sich immer komplexere Strömungsbilder mit komplizierter Zeitabhängigkeit« (Crutchfield et al. 1989, 16). Das in der einschlägigen Literatur am weitesten verbreitete Beispiel für sichtbare Strukturbildung bzw. Selbstorganisation ist die sogenannte ›Bénard-Konvektion‹, dessen Untersuchung schon um 1900 begann. Sie besteht in der spontanen Bildung und Erhaltung sechseckiger Zellen von Flüssigkeitsströmungen in einer von unten räumlich und zeitlich gleichmäßig erhitzten Ölschicht, auf deren Oberfläche eine niedrigere Temperatur (T2) als am Boden des Gefäßes (T1) herrscht, die ebenfalls räumlich und zeitlich konstant gehalten wird. Übersteigt der Unterschied zwischen den Temperaturen an der Unter- und Oberseite der Ölschicht einen bestimmten Wert, der von der Dicke der Schicht, der Viskosität der Flüssigkeit und anderen Größen abhängig ist, so geht der Wärmetransport spontan von der Wärmeleitung in die Konvektion, d. h. in die makroskopisch gerichtete Bewegung von Flüssigkeitsteilchen, über (Velarde & Normand 1989, 40 f.). 66 Zuerst bilden sich ringförmige Konvektionsmuster, die erst nach einigen Stunden den bekannten hexagonalen Strukturen nach und nach weichen (ebenda 38). Die Flüssigkeit steigt im Zentrum jeder Zelle auf, kühlt sich ab und fließt im äußeren Teil wieder nach unten. Dieser zeitlich strukturierte makroskopische Vorgang wiederholt sich mit einer bemerkenswert genauen räumlichen Periodizität, weshalb hier die Rede von einer raumzeitlichen Strukturbildung sein kann. Dabei ist die Energiequelle der Bénard-Konvektion, also der Temperaturunterschied T1 – T2 (Entropiepumpe), räumlich und zeitlich homogen und weist somit keinerlei Strukturierung auf. Die hexagonale Form der Zellen wird weder von der Form der die Ölschicht enthaltenden Pfanne noch von anderen Randbedingungen diktiert, sondern »entspricht den inneren Gesetzmäßigkeiten dieses Vorganges«, sodass es sich dabei »um eine echte Selbststrukturierung bzw. Selbstorganisation der Materie« handelt (Ebeling 1976, 78). Die wichtigste Gemeinsamkeit aller oben beschriebenen Systeme ist ihre zeitlich-, räumlich- oder raumzeitlich-periodische Strukturbildung, obwohl ihre Energiequellen und die restlichen Rand66
Vgl. auch: Ebeling 1976, 75 f.; Ebeling et al. 1990, 106 f.; Küppers 1996,126 ff.
172 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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(a)
T2 T1 > T2
T1
Erhitzung (b) 1cm
Abb. 2.7 (nach Ebeling 1976, 76): (a) Querschnitt einer von unten gleichmäßig erhitzten Pfanne, die eine Ölschicht enthält. (b) Aufsicht auf das Wabenmuster, das sich bei einer überkritischen Temperaturdifferenz ΔT = T1 – T2 schließlich einstellt und auf eine einzelne Zelle der Ölschicht.
bedingungen keinerlei derartige Periodizität aufweisen. Hier liegt insofern Selbstorganisation vor, als dass eine intern bedingte Entstehung von Ordnung stattfindet, die sich von einer von externen Faktoren ausgeführten Strukturierung, wie z. B. dem Zusammenbau eines Artefakts, deutlich unterscheidet. 1.1.g
Zur Selbstorganisation chemischer Strukturbildung – Vorstufe der Modellierung organismischer Vorgänge
Phänomene der Strukturbildung bei chemischen Systemen verdienen aus verschiedenen Gründen hohe Aufmerksamkeit. Sie genießen erstens ein besonderes Interesse, weil sie als Modelle für das Studium biologischer Vorgänge dienen können – oft werden sie als Vorstufen der lebendigen Organisation betrachtet. Sie sind zweitens sehr viel leichter zu beschreiben als das einfachste Lebewesen und drittens erlauben sie, da sie inzwischen sehr gut erforscht sind, wichtige Verhaltensweisen komplexer chemischer Systeme, die auch für organismische Vorgänge Modellcharakter haben, gut zu analysieren und vor allem zu veranschaulichen. Eine relativ ausführliche Darstellung einiger typischer Verhaltensweisen der chemischen Selbstorganisation 173 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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ist also eine pädagogisch sinnvolle Vorbereitung für die Beschäftigung mit der systemtheoretischen Biologie der Gegenwart. Interessanterweise können jedoch nur besondere chemische Systeme ein den eben beschriebenen mechanischen, elektrischen und hydrodynamischen Systemen ähnliches Verhalten zeigen. Dies hängt damit zusammen, dass Nichtlinearität hier nicht automatisch durch große Distanz vom Gleichgewicht entsteht. Sie ist nur dann vorhanden, wenn chemische Rückkopplungen, positive oder negative, anwesend sind. Dies ist der Fall, wenn Produkte chemischer Reaktionen an ihrer eigenen Synthese unterstützend oder hemmend beteiligt sind (Schneider & Münster 1996, 57). Eine weit verbreitete Art chemischer Rückkopplungen ist die Autokatalyse, durch die sich ein Reaktionsprodukt auf Kosten anderer Stoffe selbst reproduziert. Die Reaktionsgeschwindigkeit einer autokatalytischen Molekülsorte vergrößert sich mit steigender Konzentration dieser. Der Durchbruch bei der Erforschung chemischer Strukturbildung gelang erst, als relativ einfache chemische Systeme autokatalytischer Reaktionen unter kontrollierten Laborbedingungen erzeugt wurden. Besonders bekannt und inzwischen ausreichend analysiert sind die ›Bray-‹ und die ›Belousov-Zhabotinsky-Reaktion‹. Erstere wurde 1921 von William C. Bray beschrieben und letztere 1958 vom Boris P. Belousov entdeckt und wenige Jahre später von seinem Schüler Anatol M. Zhabotinsky leicht abgewandelt und bekannt gemacht (Epstein et al. 1989, 73 f.). Federführend bei der theoretischen Durchdringung der Belousov-Zhabotinsky-Reaktion war Prigogine und seine Schule, was ihm 1977, auch als Anerkennung seiner Leistungen für die Begründung der irreversiblen Thermodynamik fern vom Gleichgewicht, den Nobelpreis für Chemie einbrachte. Auf der Basis der theoretischen Behandlung der Bray-Reaktion, die Ebeling und seine Mitarbeiter leisten, können die wichtigsten Fälle chemischer Strukturbildung erläutert werden (Ebeling et al. 1990, 113 ff.). Die Autoren schlagen für die Bray-Reaktion folgendes chemische Modell vor: HIO + HIO2 + H2O2 → 2HIO2 + H2O, HIO + 2HIO2 + H2O2 → 3HIO2 + H2O, HIO2 + H2O2 → HIO3 + H2O, HI + H2O2 → HIO + H2O, HIO3 + H2O2 → HI + 2O2 + H2O.
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Anschließend untersuchen sie ein vereinfachtes mathematisches Modell der Bray-Reaktion, das jedoch komplex genug ist, um den Reichtum chemischer Selbstorganisation zu vermitteln. Dabei werden folgende Abkürzungen verwendet: X = HIO2, A = HIO, F = HIO3, B = HI. Die Moleküle H2O2, H2O und O2 werden nicht berücksichtigt. Die Zeichen X, A, F und B symbolisieren die Konzentrationen der entsprechenden Molekülsorten. Das chemische Modell und der ihm zugehörige Graph, der die Vielzahl chemischer Rückkopplungen veranschaulicht, sind in der Abbildung 2.8 enthalten: 67
A +
X
A + 2X
X
B F
k1 k-1 k2 k-2 k3 k-3 k4 k5
2X
3X
A
X
F
F B A B
Abb. 2.8: Die Reaktionsschritte der Bray-Reaktion und der sie zusammenfassende Graph (ohne die Umkehrreaktionen der ersten zwei Reaktionsschritte).
Wie man sieht, kommt es beim ersten und zweiten Reaktionsschritt zur Autokatalyse von HIO2. Auch die Verbindung HIO beeinflusst Die trimolekulare Reaktion des zweiten Reaktionsschrittes ist eine Vereinfachung, denn in der Realität finden solche Reaktionen nur über Zwischenschritte statt. Aufgrund von Unsicherheiten bezüglich wesentlicher Teilreaktionen betrachten die Autoren ihr chemisches und mathematisches Modell nicht als ein realistisches Modell der Bray-Reaktion (Ebeling et al. 1990, 115). Im Sinne der im Abschnitt 1.2.b dieses Kapitels zu machenden Unterscheidung handelt es sich also nicht um ein ›Modell von‹, sondern um ein ›Modell für‹ die Bray-Reaktion, das lediglich einige reale Verhaltensweisen qualitativ wiedergeben soll.
67
175 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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durch mehrere Schritte ihre eigene Bildung. Die Größen k1, k–1, k2, k–2, k3, k–3, k4 und k5 sind die sogenannten ›Reaktionsgeschwindigkeitskonstanten‹. Einige von ihnen sind mit einem negativen Vorzeichen versehen (k–1, k–2, k–3), weil sie die Geschwindigkeit der Rückreaktion symbolisieren, mit der die Konzentration einer Molekülsorte abnimmt, die an der rechten Seite der entsprechenden Gleichung steht. Alle anderen symbolisieren die Geschwindigkeit der Reaktion, mit der die Konzentration derselben Molekülsorte zunimmt. Mit Hilfe elementarer Kenntnisse der chemischen Kinetik kann dann das chemische Modell der Autoren in ein mathematisches Modell, das aus Differentialgleichungen besteht, übersetzt werden. Dabei reicht es aus, zu wissen, »daß die Geschwindigkeit einer Elementarreaktion dem Produkt der Konzentrationen der Reaktionspartner proportional ist« (Ebeling et al. 1990, 115). Das ist plausibel, weil die Wahrscheinlichkeit für die Begegnung zweier Moleküle, die miteinander reagieren können, proportional dem Produkt der Konzentrationen der entsprechenden Molekülsorten ist. Das zweite plausible Prinzip, das bei der Aufstellung der Gleichungen wichtig ist, besteht darin, dass die Geschwindigkeit der Konzentrationsänderung einer bestimmten Molekülsorte sich aus der Differenz zwischen den Geschwindigkeiten der Vorgänge ergibt, bei denen Moleküle dieser Sorte produziert werden, und den Geschwindigkeiten der Vorgänge, bei denen solche Moleküle verbraucht werden. Auf diese Weise entsteht folgendes System nichtlinearer miteinander gekoppelter Differentialgleichungen: dA ¼ k1 :A:X k 1 :X 2 k2 :A:X 2 þ k 2 :X 3 þ k4 :B (2.10) dt dX ¼ k1 :A:X k 1 :X 2 þ k2 :A:X 2 k 2 :X 3 k3 :X þ k 3 :F dt dF ¼ k3 :X k 3 :F k5 :F dt dB ¼ k4 :B þ k5 :F dt Die Lösung dieses Gleichungssystems erfordert den Einsatz eines Computers. Durch eine besondere Wahl der Bedingungen, unter denen das Reaktionsmodell funktioniert, gelingt es, qualitativ verschiedene Verhaltensweisen des Systems zu simulieren. Diese Vorhersagen können mit experimentellen Tatsachen verglichen werden, denn durch gezielte Einflussnahmen auf das chemische System im 176 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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Labor ist es möglich, solche realen Bedingungen zu erzeugen, die den theoretischen Bedingungen entsprechen. Die Verwirklichung der Vielfalt experimenteller Bedingungen im Labor macht der sogenannte ›Durchflussrührreaktor‹ möglich (Schneider & Münster 1996, 53 ff.). 68 Dabei handelt es sich um ein Reaktionsgefäß mit konstantem Volumen, in dem das chemische System enthalten ist. Der Reaktor verfügt über die nötigen Zuflüsse, durch die das chemische System mit bestimmten Mengen von Reaktanden beliefert wird, einen Abfluss, um das Volumen des Reaktionsgemisches konstant zu halten, und einen Rührer, der die einfließenden Reaktanden mit dem Reaktorinhalt möglichst schnell und vollständig vermischt, um das Gemisch räumlich zu homogenisieren. Darüber hinaus ermöglicht der Reaktor auch den Austausch von Wärme mit der Umgebung – das ermöglicht, Reaktionen unter bestimmten Temperaturen stattfinden zu lassen. Der Reaktor ist also so konstruiert, dass der Einfluss wichtiger Randbedingungen – d. h. der Fließgeschwindigkeiten der Chemikalien und der Temperatur des Wasserbades (Epstein et al. 1989, 77) – auf das System experimentell untersucht werden kann. Diese Apparatur wirkt als Entropiepumpe, da sie chemische Systeme mit hochwertiger chemischer Energie versorgt und somit die für Strukturbildung nötige Entfernung vom Gleichgewicht garantiert. Durch Einstellungen des Reaktors lassen sich verschiedene Randbedingungen verwirklichen, sodass Verhaltensweisen des Systems generiert werden können, die qualitativ sehr verschieden sind. Von besonderem Interesse ist dabei das zeitliche Verhalten des autokatalytischen Reaktanden X. Im Folgenden werden einige dieser Verhaltensweisen beschrieben, die für die systemtheoretische Beschreibung lebendiger Vorgänge interessant sind. 1.1.g.1 Kooperative Anregung Betrachtet wird der Spezialfall, in dem die zweite Reaktion und die dritte Rückreaktion unterdrückt und die Konzentrationen A und B durch äußere Steuerung konstant gehalten werden (Ebeling et al. 1990, 116 f.). Formal ausgedrückt: A = const, B = const, k2 = k–2 = k–3 = 0. Aus dem Gleichungssystem 2.10 resultiert dann, dass das Verhalten von X durch folgende nichtlineare Differentialgleichung beschrieben werden kann: 68
Vgl. auch: Epstein et al. 1989, 74 ff.
177 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
dX ¼ ðk1 :A–k3 Þ:X–k–1 :X 2 dt
(2.11)
Von besonderem Interesse sind Bedingungen, unter denen sich nichtlineare chemische Systeme stationär verhalten. Stationarität bedeutet, dass dX/dt = 0 und somit, dass (k1.A – k3).X – k–1.X2 = 0 ist. Die Lösung dieser Gleichung zweiten Grades führt zu zwei möglichen stationären Werten: X = 0 und X = (k1.A – k3)/ k–1. Es ist aber auch möglich, das zeitliche Verhalten von X(t) analytisch zu bestimmen (ebenda 117): XðtÞ ¼
ðk1 :A–k3 Þ:Xð0Þ k–1 :Xð0Þ–½k–1 :Xð0Þ–ðk1 :A–k3 Þ�:e–t:½k1 :A–k3 �
(2.12)
Dabei steht X(0) für die Konzentration von X zu Beginn des Vorgangs (t = 0). Wie man leicht sieht, ist das zeitliche Verhalten der Lösung abhängig vom jeweiligen extern vorgegebenen Wert der Konzentration A, der während des jeweiligen Vorgangs konstant bleibt. Das dynamische Verhalten des Systems hängt also entscheidend vom Wert einer extern festgelegten Größe ab. Abbildung 2.9 veranschaulicht die Abhängigkeit der Dynamik von der vom Modellierer oder Experimentator vorgegeben Randbedingung A. Für Werte von A, die kleiner sind als die kritische Rohstoffkonzentration Akrit = k3/k1, überwiegen die Zerfallsvorgänge, sodass der Wert von X stets exponentiell abnimmt, bis er schließlich verschwindet. Für A > Akrit gewinnen infolge eines kooperativen Verhaltens der Moleküle die Bildungsvorgänge die Oberhand, sodass sich X(t) einem Sättigungswert annähert (ebenda). In diesem Fall liegt ein stabiles stationäres Gleichgewicht vor. Es ist beachtenswert, dass beide Entwicklungen unabhängig von der Anfangskonzentration X(0) des Autokatalysators verlaufen. Die Anfangsbedingungen werden also bei der kooperativen Anregung vollständig ›vergessen‹. 69 1.1.g.2 Bistabile Stationarität Ein anderer Spezialfall von besonderem Interesse lässt sich verwirklichen, indem die erste Reaktion unterdrückt wird und die Konzentrationen von A, B und F konstant gehalten werden: A = const, B =
69
Siehe Abschn. 1.1.d.3 dieses Kapitels.
178 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
X (t)
1.A
- k3)/ k-1
A > Akrit
A < Akrit t Abb. 2.9: Zeitliche Entwicklungen von X(t) für über- und unterkritische Werte der Randbedingung A und für verschiedene Anfangskonzentrationen X(0) (nach: Ebeling et al. 1990, 117). Es handelt sich nicht um eine bistabile Verhaltensweise (vgl. Abb. 2.10), sondern um zwei mögliche monostabile Verhaltensweisen (je nach dem Wert der Randbedingung).
const, F = const, k1 = k–1 = 0. In diesem Fall nimmt die Differentialgleichung, die die Veränderung von X beschreibt, folgende Form an: dX ¼ –k–2 :X 3 þ k2 :A:X 2 –k3 X þ k–3 :F dt
(2.13)
Das stationäre Verhalten des Systems wird somit von einer Gleichung dritten Grades repräsentiert. Daraus lassen sich drei mögliche Werte der Endkonzentration von X berechnen. Auch in diesem Fall gibt es einen kritischen Wert. Während für A < Akrit alle möglichen Entwicklungen von X(t) »gegen eine stationäre und stabile Endkonzentration« konvergieren, was Unabhängigkeit von der Anfangsbedingung X(0) bedeutet, ändert sich dies für A > Akrit (Ebeling et al. 1990, 118; Hervorhebung von S. K.). Das System hat jetzt drei stationäre Endzustände, von denen jedoch nur zwei stabil sind, denen das System je nach gegebener Anfangskonzentration X(0) zustreben kann, wie auch Abbildung 2.10 demonstriert. Es ist bemerkenswert, dass die Änderung einer Randbedingung den Wechsel von einem Verhalten, das gegenüber einer Anfangsbedingung gleichgültig ist, zu einem von dieser höchst abhängigen bedeuten kann. Liegt Instabilität vor – eine Verhaltensweise, die bei Systemen völlig verschiedener materieller Zusammensetzung vorkommen 179 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
X(t) Attraktor Separatrix Attraktor t Abb. 2.10 (nach Ebeling et al. 1990, 118, 144): Die möglichen Trajektorien eines bistabilen chemischen Systems in Abhängigkeit von der Anfangsbedingung X(t = 0).
kann und bei der Modellierung unterschiedlichster biologischer Vorgänge wichtig ist (vgl. Abb. 2.15 und 2.19) –, so wird der entsprechende Zustandsraum in zwei getrennte Bereiche separiert. Die instabile stationäre Lösung der Bray-Reaktion bildet eine sogenannte Separatrix, die in diesem Fall eine gerade Linie ist. Die beiden Bereiche, zu denen die Trajektorien tendieren, heißen Attraktoren, während der sich zwischen ihnen befindende Bereich, durch dessen Mitte die Separatrix verläuft, Repulsor genannt wird, weil er die Trajektorien abstößt. Ein Übergang von dem einen Attraktionsbereich des abstrakten Raumes zum anderen kann nur durch eine starke äußere Störung stattfinden, deren Stärke um so größer sein muss, je weiter sich der Gesamtzustand des Systems von der Separatrix befindet (Schneider & Münster 1996, 60). Solche Übergänge sind bei realen Systemen, wenn also deterministisch-stochastische Kopplung vorliegt, nichts Ungewöhnliches. 1.1.g.3 Selbsterregte chemische Oszillationen Der dritte Spezialfall der Bray-Reaktion, den Ebeling und seine Mitautoren untersuchen, setzen die Unterdrückung aller Rückreaktionen und die konstanten Konzentrationen von F und B voraus: F = const, B = const, k–1 = k–2 = k–3 = 0. Das Gleichungssystem 2.10 verwandelt sich in ein System zwei gekoppelter nichtlinearer Differentialgleichungen, das durch den Einsatz eines Computers gelöst werden kann. Besonders interessant ist, dass beim Überschreiten gewisser kritischer Werte der Randbedingungen des Rohstoffstroms, d. h. bei hinrei180 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
A(t) X(t)
(a)
A(t)
(b)
A(t)
X(t) t
X(t)
Abb. 2.11: (a) Chemische Oszillationen bei der Bray-Reaktion (nach Ebeling et al. 1990, 119). (b) Das Verhältnis der zwei im Gegentakt oszillierenden Reaktanden lässt sich durch einen Grenzzyklus im entsprechenden Zustandsraum beschreiben.
chend großer Entfernung vom Gleichgewicht durch gleichmäßige Belieferung des Systems mit hochwertiger chemischer Energie, sich selbsterregte Schwingungen ausbilden (Ebeling et al. 1990, 119). Die Konzentrationen von X und A pendeln geregelt, aber im Gegentakt zwischen maximalen und minimalen Werten hin und her. Wie Abbildung 2.11(b) zeigt, kann das System aus verschiedenen Anfangszuständen starten und trotzdem denselben Oszillationszustand bzw. ›Grenzzyklus‹ erreichen. Spontane zeitliche Periodizität konnte auch für einige andere Reaktionen experimentell und theoretisch studiert werden. Das bekannteste Beispiel ist die oben genannte Belousov-Zhabotinsky-Reaktion. Unter geeigneten Randbedingungen kann sie ein der BrayReaktion ähnliches Verhalten zeigen, das bei weiterer Erhöhung des Rohstoffstroms in kompliziertere und sogar in chaotische Oszillationsmuster übergeht (Schneider & Münster 1996, 61 ff.). In den letzten Jahren konnten durch verschiedene Methoden der Kopplung von bis zu vier chemischen Reaktoren Dynamiken mit noch größerer Vielfalt erzeugt und beschrieben werden (ebenda 147 ff.). Es ist außerdem gelungen, systematische Verfahren zum Auffinden chemischer Oszillatoren zu entwickeln, was zu einer beachtlichen Erweiterung des Verhaltens der Belousov-Zhabotinsky- und der BrayReaktion geführt hat, die auch miteinander kombiniert werden können (Epstein et al. 1989, 76 ff.). Viele Forscher sehen in der zeitlichen Strukturbildung chemischer Systeme einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis periodi181 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
(a)
(b) rot
blau
Abb. 2.12: (a) Eindimensionale räumliche Periodizität der Belousov-Zhabotinsky-Reaktion in einem Reagenzröhrchen (nach: Ebeling et al. 1990, 120). (b) Wellen derselben Reaktion in einer dünnen Reagenzschale (zweidimensionales erregbares Medium) (Schneider & Münster 1996, 179).
scher biologischer Vorgänge, wie die circadianen Rhythmen (Elowitz & Leibler 2000, 338), die glykolytische Oszillation (Goldbeter 1997, 31 ff.), die Zellatmung, die Mitose, die Enzymsynthese (Schneider & Münster 1996, 79) oder die Regulationsvorgänge in lebenden Zellen, z. B. das periodische Ein- und Ausschalten von Genen (Epstein et al. 1989, 81). 1.1.g.4 Chemische Morphogenese Nichtlineare chemische Systeme können unter geeigneten Bedingungen auch räumliche bzw. raumzeitliche Strukturbildung aufweisen. Dies ist bei der Belousov-Zhabotinski- und auch bei anderen Reaktionen ausführlich erforscht worden. Räumliche Muster können bei der Kopplung einer nichtlinearen chemischen Reaktion mit räumlichen Vorgängen des Stofftransportes entstehen. Momentan gelten räumliche Musterbildungen, die bei ein- und zweidimensionalen erregbaren Medien stattfinden, als gut untersucht (Abb. 2.12). Dabei bilden sich Wellen, die sich bei zweidimensionalen Medien ring- und spiralförmig ausbreiten können (Schneider & Münster 1996, 174– 179). Im Auftreten solcher geometrischen Formen in homogenen Lösungen wird eine Parallelität zur Differenzierung embryonaler Zellen zu individuellen Zelltypen in tierischen Organismen (Epstein et al. 1989, 80) und zur Entstehung tierischer Fellzeichnungen (Murray 1993, 436–468) 70 gesehen. 70
Vgl. auch: Murray 1989, 178–185.
182 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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1.1.h Strukturbildende Attraktoren – zwischen Monostabilität und deterministisch-chaotischer Instabilität Die unter den Punkten 1.1.f und 1.1.g diskutierten dissipativen Strukturen haben eine entscheidende Gemeinsamkeit, die sie als strukturbildende Systeme ausweist: Konvergenz von Trajektorien. Sowohl der Grenzzyklus der Abbildung 2.11(b) als auch die Trajektorien-Verläufe der Abbildungen 2.9 und vor allem 2.10 demonstrieren, dass es in den entsprechenden Phasen- bzw. Zustandsräumen von dissipativen dynamischen Systemen Orte der intensiven Konvergenz von Trajektorien gibt. Diese abstrakten Bereiche werden wegen der ›Anziehung‹, die sie auf die Trajektorien ihrer Umgebung auszuüben scheinen, Attraktoren genannt, obwohl dieser Ausdruck Assoziationen an teleologische Vorstellungen erweckt. Man könnte meinen, das System strebe zu einem attraktiven Endzustand – der Attraktor-Begriff impliziert jedoch die ausschließliche Herrschaft von Wirkursachen-Kausalität. Die Idee des Attraktors ist die Weiterentwicklung des Gedankens der ›Äquifinalität‹ Bertalanffys 71 und ist genauso wenig finalistisch gedacht wie dieses Konzept, das gegen den vitalistischen Entelechie-Begriff gerichtet ist. Attraktoren sind nur bei dissipativen dynamischen Systemen vorhanden (Ebeling & Sokolov 2005, 43) und wirken immer anti-entropisch, weil sie durch die Konvergenz von Trajektorien die Unbestimmtheit der Entwicklung der Systeme verringern. 72 Sie bewirken also das genaue Gegenteil dessen, was die Abbildung 2.5 darstellt. Wenn aber das System mehr als einen Attraktor hat, dann enthält sein abstrakter Raum notwendig Gebiete der Unbestimmtheit, die genau zwischen den Attraktionsbereichen liegen: z. B. auf einer Separatrix. Unter realen physikalischen Bedingungen ist mit einem Minimum an stochastischen, also rein zufälligen Einflüssen zu rechnen, sodass diese Gebiete nicht unendlich dünn sein können, wie dies bei der Abbildung 2.10 der Fall ist, welche ideale, d. h. rein mathematische Bedingungen voraussetzt. Unter realen Bedingungen kommt diesen Gebieten eine endliche Ausdehnung zu, die dieselbe Dimensionszahl mit dem sie enthaltenden Zustandsraum aufweist. 73 Einige Siehe Abschn. 1.2.a dieses Kapitels. Vgl. auch: Kauffman 1996, 142. 73 Bei zweidimensionalen Zustandsräumen besetzen diese Gebiete zweidimensionale Flächen endlicher Breite. Die Separatrix der Abbildung 2.10 wäre in diesem Fall ein dünnes Rechteck. Bei drei- bzw. höherdimensionalen Zustandsräumen besetzen sie 71 72
183 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
durch diese Gebiete der Unbestimmtheit verlaufende Trajektorien werden mit der Zeit stark voneinander divergieren. Es gibt also auch bei offenen dissipativen Systemen, obwohl sie sich selbst organisieren, Gebiete der prinzipiellen Instabilität der systemischen Entwicklung. 74 Der interessantesten Form von Instabilität, die manchen dynamischen Systemen eigen ist, begegnet man jedoch nicht im Raum zwischen den Attraktionsbereichen, sondern innerhalb gewisser Attraktoren, die als ›seltsame‹ bezeichnet werden und die die Entwicklungsmöglichkeiten sogenannter ›deterministisch-chaotischer Systeme‹ zeigen. Alle Trajektorien innerhalb eines solchen Attraktors divergieren zwar permanent voneinander, aber das Phasenraumvolumen der Möglichkeiten, die dem System zur Verfügung stehen, steigt nicht mit der Zeit, wie dies bei Systemen zunehmender Entropie der Fall ist (vgl. Abb. 2.4 und 2.5). Essentiell für deterministisch-chaotische Systeme ist es, dass der Bereich ihres abstrakten Raums, innerhalb dessen ihre Zustände zu finden sind, einerseits ein stabiles Volumen hat, andererseits aber eine bizarre, in sich sehr verwickelte Form aufweist (Prigogine & Stengers 1990, 253 f.). Solche Systeme sind zwar prinzipiell instabil, aber sie sind nicht chaotisch im alltäglichen Sinne von ›Chaos‹, da sie sich in relativ kleinen Volumen ihres Möglichkeiten- bzw. Zustandsraums aufhalten. Im systemtheoretischen Denken der Gegenwart wird seltsamen Attraktoren das oberste Ende des Spektrums der Komplexität dynamischen Verhaltens zugesprochen. Einfache nichtlineare Systeme, deren Entwicklung von einem einzigen stabilen stationären Zustand angezogen wird (Abb. 2.13(a)), werden dem anderen Ende zugewiesen. In den letzten Jahren ist es üblich geworden, als ›komplexe Systeme‹ solche Gebilde zu bezeichnen, deren Dynamik weder monostabil noch deterministisch-chaotisch ist, sondern »durch subtiles Zusammenwirken von Chaos und Regularität zustande kommt. Weder vollkommen reguläres Verhalten […] noch voll chaotisches Verhalten […] sind komplex« (Richter & Rost 2002, 23 f.). 75 Insofern können endliche drei- bzw. höherdimensionale Volumina, die als solche eine gewisse ›Dicke‹ aufweisen. 74 Der Ausdruck ›prinzipiell‹ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die berechnete Divergenz benachbarter Trajektorien nicht auf Wissensmangel bezüglich des tatsächlichen Zustands des Systems zurückführbar ist. 75 Auch Kauffman bringt häufig die Begriffe ›komplex‹ und ›Chaosrand‹ in eine enge Verbindung miteinander (1996, 160, 332).
184 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
(a) x
(b) stabiler Punktattraktor
y Abb. 2.13: (a) Die Trajektorie des biochemischen Oszillators nach Lotka erreicht einen stabilen Punktattraktor (nach Holste 2007, 106). Dieses System ist monostabil. (b) Ein seltsamer (deterministisch-chaotischer) Attraktor (Crutchfield et al. 1989, 13).
alle bisher vorgestellten Systeme (ausgenommen des Systems von Abbildung 2.9) als komplexe angesehen werden, aber der wirklich interessante Bereich komplexen Verhaltens präsentiert sich aus physikalischer Sicht kurz vor dem Übergang ins Chaos bzw. am ›Rand des Chaos‹ – in einem Bereich, der auch für die neue Biologie attraktiv ist. Schon vor mehreren Jahren wurde von bekannten Pionieren der Systembiologie, unter anderem von Stuart Kauffman und Walter Freeman, der Versuch unternommen, die genetische und kognitive Flexibilität von Lebewesen auf die Fähigkeit ihrer genomischen und neuronalen Ausstattung, am Rand des Chaos zu operieren, zurückzuführen. Wie es jedoch schon erläutert wurde, erlaubt es die gegenwärtig etablierte Theorie der Komplexität nicht, die qualitativen Unterschiede zu berücksichtigen, die zwischen der Organisation von Organismen und weniger autonomen Systemen, die mit den heutigen Formalismen adäquat beschreibbar sind, bestehen. 76 Nur die Etablierung eines neuen Organismus-zentrierten Begriffs von Komplexität wird erlauben, die inner- und außerkörperliche (umweltbezogene) Autonomie der Lebewesen ausreichend zu würdigen. 77 Abschließend ist zu betonen, dass wenn der tatsächliche Zustand einer dissipativen Struktur in einem Attraktor gefangen ist, dies nicht bedeutet, dass letztere keine Entropie produziert – dies würde der 76 77
Siehe Abschn. 1.1.c dieses Kapitels. Siehe Abschn. 2.2.d dieses Kapitels.
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II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
Bezeichnung ›dissipativ‹ diametral entgegenstehen und natürlich den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik verletzen. Es bedeutet nur, dass der Entropieexport deS die Entropieproduktion diS übersteigt oder zumindest wettmacht, sodass innerhalb dieses Systems dS � 0 ist. Die Unbestimmtheit des Systems sinkt oder bleibt stabil, allerdings um den Preis der Erhöhung der Unbestimmtheit seiner unmittelbaren Umgebung, da es in diese Entropie exportiert. Eine solche Balancierung hält auch die Evolution des Lebens aufrecht. Es ist dem Entropieexport der gesamten Biosphäre, der von dem Wärmeexport des Planeten ins Weltall getragen wird, zu verdanken, dass die Entropieproduktion der einzelnen Lebewesen der Evolution nicht im Wege steht. 1.1.i
›Materiale Gesetze‹ und ›Strukturgesetze‹
Die Attraktoren sind Veranschaulichungen von spezifischen Gesetzmäßigkeiten, die in den entsprechenden Systemen herrschen und die Entstehung ihrer Ordnung kanalisieren. Für die Charakterisierung dieser Gesetzmäßigkeiten eignet sich besonders gut der Ausdruck ›Strukturgesetze‹, den Stöckler vorgeschlagen hat (2000, 292 f.). Wie der Begriff selbst verrät, handelt es sich dabei um Gesetze, die an die konkrete Struktur des Systems, also ans Netzwerk der Relationen seiner Elemente, gebunden sind. Von diesen systemischen Gesetzmäßigkeiten sind nach Stöckler die ›materialen Gesetze‹ scharf zu unterscheiden (ebenda). Sie bestimmen, wie Entitäten bestimmter Beschaffenheit miteinander interagieren können. Sie sind also auf einen bestimmten Phänomenbereich ausgerichtet. So legt z. B. das Newton’sche Gravitationsgesetz fest, wie beliebige Massen in Abhängigkeit von ihrem Abstand aufeinander Kräfte ausüben, die MaxwellGleichungen bestimmen die Dynamik der Interaktionen zwischen magnetischen und elektrischen Größen und die Gesetze der Chemie legen fest, wie verschiedene Molekülsorten miteinander reagieren können. Jeder naturwissenschaftliche Erklärungsversuch betrachtet diese materialen Gesetze als universelle Gesetze, die somit völlig unabhängig von den konkreten Geschehnissen in den Systemen, für die sie relevant sind, gelten. Sie werden also als Universalien gesehen. Die fünf Gleichungen des chemischen Modells der Bray-Reaktion (vgl. Abb. 2.8) sind fünf verschiedene chemische materiale Gesetze, die nicht von besonderen Bedingungen abhängig sind. Dagegen bestimmt die Gleichung 2.11, die für einen besonderen Spezialfall gilt, 186 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
der an ganz spezifische Bedingungen gebunden ist, wie die Reaktion sich entwickeln wird. Sie bildet also ein Strukturgesetz ab. Das Strukturgesetz eines Systems bestimmter Beschaffenheit beschreibt jedoch die Dynamik aller Systeme derselben Beschaffenheit, womit es ebenfalls eine Universalie ist. Alle strukturbildenden und -erhaltenden Faktoren der Selbstorganisationstheorie, z. B. die ›Ordner‹ der Synergetik Hermann Hakens (1990, 61–80), sind Beispiele für Strukturgesetze, wie auch Stöckler betont (2000, 289, 298). Sie sind tatsächlich keine neuen Gesetze, sie sind aber trotzdem mit formbildender Kraft ausgestattet, was Stöckler wiederum bestreitet (ebenda 289). Dieses Vermögen kann man ihnen zumindest in einem abgeschwächten Sinne von ›Kraft‹ zusprechen, da sie anti-entropisches Werden beschreiben. 1.1.j
Strukturgesetze – Emergenz – Komplexität
Offensichtlich können Strukturgesetze nicht auf materiale Gesetze reduziert werden; vollkommen losgelöst von ihnen können sie aber nicht bestehen. Strukturgesetze setzen fundamentalere Naturgesetze voraus. Ihnen kommt aber auch begrenzte Universalität zu, denn ihre mathematische Form kann von konkreten Systemen abstrahiert werden. So kann z. B. die Gleichung 2.13 auch die Dynamik einiger chemischer Systeme, die aus ganz anderen Stoffen bestehen, beschreiben. Ohne die Ablösbarkeit der Form der Strukturgesetze von konkreten Systemen und sogar von Systemarten könnte Bertalanffy nicht von einer »allgemeinen Systemtheorie« sprechen. Je komplexer allerdings ein System ist, desto spezifischer, somit weniger universell, ist das Strukturgesetz, das sein Werden beschreibt; vorausgesetzt, dass es überhaupt möglich ist, die Entwicklung des Systems durch ein einziges mathematisch formuliertes Gesetz wiederzugeben. 78 Mit zunehmender Spezifizität wird nicht nur der Gültigkeitsbereich eines Gesetzes eingeschränkt, sondern auch die Anzahl der möglichen Zustände, die es einem konkreten System zur Verfügung stellt. Die materialen Gesetze legen nicht weniger fest als die MögSchon für eine umfassende Beschreibung des einfachsten Organismus würde die moderne Systembiologie eine Unmenge von Formeln benötigen, von denen jede einzelne Vorgänge sehr begrenzten Umfangs beschreibt (siehe Abschn. 1.2.c.1–1.2.c.3 dieses Kapitels). Es ist außerdem in keinster Weise vorauszusehen, dass es jemals ein einheitliches mathematisch formuliertes Strukturgesetz (eine einzige Superformel) geben wird, das die einzelnen Formeln aufeinander beziehen wird.
78
187 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
lichkeiten natürlicher Größen, jeder denkbaren Quantität, unter allen denkbaren Bedingungen miteinander zu interagieren. Sie definieren somit ein endloses Spektrum von Möglichkeiten, das unendlich viele Zustands- bzw. Phasenräume enthält. Sobald aber ein System konkreter Beschaffenheit realisiert wird, findet eine enorme Einschränkung statt, denn die Möglichkeiten werden jetzt vom Strukturgesetz festgelegt, das mit der Realisierung des Systems einhergeht. Das gewaltige Spektrum der Möglichkeiten kollabiert zu einem einzigen Möglichkeiten- bzw. Zustandsraum, dessen Dimensionen konkrete Variablen sind. Auf der Basis dieser Überlegungen kann eine angemessene Interpretation des schwer eingrenzbaren Begriffs Emergenz unternommen werden. Der Bedeutungsreichtum und die Problemhaftigkeit dieses Begriffes sind nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Trotzdem sollte hier gesagt werden, dass der so oft undifferenziert verwendete Satz »das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile«, der das Emblem des Emergentismus geworden ist, wie folgt umformuliert werden kann: Das Ganze hat weniger Möglichkeiten (Freiheitsgrade) als die Summe der Möglichkeiten (Freiheitsgrade) seiner Teile. Die Strukturgesetze schränken die Freiheitsgrade der weniger komplexen Ebenen ein, natürlich ohne die dort gültigen materialen Gesetze zu verletzen. Der Ausdruck ›Emergenz‹ besagt also auf jeden Fall eine Form der Limitation, die an der Anwesenheit von Strukturgesetzen notwendig gebunden ist, die somit auch als ›emergente Gesetze‹ bezeichnet werden können: »Die emergenten Gesetze der Dynamik komplexer Strukturen bilden einen Kegel von Einschränkungen, den ›Gesetzeskegel‹. Mit steigender Komplexität wächst die Menge der gesetzmäßigen Einschränkungen« (Ebeling et al. 1998, 21). 79
In der Evolution des Kosmos entsteht also eine Hierarchie von Strukturgesetzen, für die in zweifacher Hinsicht von der Kegelform die Rede sein kann: Erstens in Bezug auf ihre Universalität und zweitens auf die von ihnen erlaubten Freiheitsgrade, denn mit fallender Universalität sinkt auch die Anzahl der möglichen Zustände, die sie zulassen. Was meint aber ein Physiker, wenn er z. B. dem ›Ganzen‹ eines Menschen weniger Möglichkeiten zuspricht als der Summe der Mög79
Vgl. auch: Tembrock 1994, 50.
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Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
lichkeiten jedes einzelnen seiner Atome? Hat ein Mensch eigentlich nicht das Vermögen, frei zu handeln und somit Möglichkeiten zu verwirklichen, die ohne seine physische Organisation nicht einmal denkbar sind? Dies ist zweifelsohne der Fall, aber die Physik hat kein psychosoziales oder handlungstheoretisches Verständnis des Begriffes ›Möglichkeit‹. Physiker reden nicht von ›Freiheiten‹, sondern lediglich von ›Freiheitsgraden‹. Sie beziehen sich nur auf abstrakte Zustands- bzw. Phasenraum-Möglichkeiten des Gesamtzustands einer den Gesetzen der Physik unterliegenden Menge von Atomen, die aus genau denselben Atomarten besteht wie ein Mensch, und außerdem von jeder Atomart die gleiche Anzahl von Atomen besitzt wie der fragliche menschliche Körper. Aus der Perspektive der Physik kann man sich eine Unmenge von Art und Weisen der Interaktion dieses Systems von Atomen miteinander denken – d. h. eine Unmenge möglicher Entwicklungen seines Gesamtzustands im Phasenraum. Man kann sich zunächst viele mögliche Weisen der Zusammengehörigkeit dieser Atome für anders gestaltete menschliche Körper vorstellen. Die Anzahl der Möglichkeiten nimmt extrem zu, wenn der gesamte Bereich reell vorhandener lebendiger Ganzheiten in Frage kommt oder, darüberhinaus, die Phantasie das Reich der Exobiologie, d. h. des biologisch Denkbaren schlechthin betritt. Verlässt man schließlich den Raum der lebendigen und betritt den der anorganischen Materialität, so sind praktisch unendlich viele Zustände und Trajektorien in abstrakten Räumen denkbar. Organismen sind nicht auf die Summe ihrer Organe, Zellen oder Atome reduzierbar, weil sie mehr als diese vom Zustand größter kausaler Unabhängigkeit ihrer Elemente entfernt sind. Die kausalen Bindungen zwischen den Elementen grenzen die Freiheitsgrade jedes einzelnen von diesen ein und ermöglichen somit die Entstehung einer kohärenten Entität. Dieser Einschränkung der abstrakten physikalischen Freiheitsgrade unserer physischen Bestandteile verdanken wir also die Möglichkeit, als Ganzheiten zu agieren und somit unendlich höhere, weil konkret erlebbare Freiheiten zu erringen. Diese Freiheiten sollten aber niemals mit den Freiheitsgraden der Physik verwechselt werden. Die Einschränkung von physikochemischen Freiheitsgraden ist nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung von Freiheit.
189 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
1.1.k
Notwendige Bedingungen der Strukturbildung – oft übersehene Antezedensaussagen
Die Strukturbildung eines selbstorganisierten Systems bedeutet neben der materiellen auch eine logische ›architektonische‹ Leistung. Universelle Gesetze werden miteinander zum logischen Gestell des jeweiligen Strukturgesetzes kombiniert. Als Universalien tragen die materialen Gesetze keinen Grund in sich, der die partikuläre Architektur ihrer Verbindung zu einem konkreten Strukturgesetz erklären könnte. Universelle Entitäten haben – als solche – kein Vermögen, den Übergang vom Reich der Potentialität in das der Wirklichkeit zu begründen, der nach einer Limitierung der Möglichkeiten verlangt. Sie sind – Aristotelisch gesprochen – ›dynameis‹ (im Sinne von ›Möglichkeiten‹, nicht von ›Kräften‹) und verlangen nach einer ›energeia‹, einer wirklichen Entität, die eine Entscheidung zugunsten einer einzigen unter den Möglichkeiten ihrer Koexistenz trifft. In der Theorie der Selbstorganisation übernehmen die Forscher diese Rolle beim experimentellen und theoretischen Zugriff auf die Systeme. Sie verwirklichen bestimmte zusätzliche Bedingungen, bzw. setzen sie in ihren Berechnungen voraus, die notwendig sind, um die dynamischen Systeme überhaupt zu konstituieren. Diese Bedingungen werden also den Systemen nicht erst im Nachhinein aufgesetzt, sondern gehören notwendig zu ihnen – was leider oft übersehen wird. Der Leser sei an dieser Stelle daran erinnert, dass von einem ›System‹, im strengen systemtheoretischen Sinne, erst dann die Rede sein kann, wenn ein Netzwerk bindender Relationen vorhanden ist 80 – ist dies nicht der Fall, dann liegt lediglich ein Aggregat vor. Bei jedem Selbstorganisations-Experiment ist ursprünglich ein solches Aggregat vorhanden, dem sorgfältig ausgesuchte physische Bedingungen aufgezwungen werden, damit aus diesem durch Strukturbildung ein System hervorgeht. Nur wenn die richtigen Bedingungen gegeben sind, entsteht ein konkreter Möglichkeiten- bzw. Zustandsraum, der ein bestimmtes Trajektorien-Feld enthält, das mindestens einen anti-entropisch wirkenden Attraktor hat. Solche Bedingungen sind bei jeder mathematischen Behandlung von selbstorganisierten physikochemischen Systemen, d. h. auch in den systembiologischen Simulationen unerlässlich. 81 80 81
Siehe Abschn. 1.1.a dieses Kapitels. Siehe Abschn. 1.2.c.1–1.2.c.3, 1.2.d.1–1.2.d.2 und 1.2.e dieses Kapitels.
190 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
Die Ableitung des jeweiligen Strukturgesetzes kann – mit Hilfe einer leichten Modifikation des berühmten Hempel-OppenheimSchemas (Poser 2001, 45 ff.) – als logischer Schluss dargestellt werden: Das Explanandum wäre in diesem Fall nicht mehr eine Ereignisaussage, sondern eine gesetzesartige Aussage – eine Aussage über das Strukturgesetz, das emergiert. Das Explanans wäre weiterhin eine Kombination von Gesetzes- und Antezedensaussagen, wobei erstere die materialen Gesetze wären und letztere die zusätzlichen Bedingungen, unter denen erstere ihr Wirken entfalten. Ausgehend von den Beispielen der Abschnitte 1.1.f, 1.1.g und 1.1.g.1 bis 1.1.g.4 lassen sich drei Grundarten der hier relevanten Antezedensaussagen unterscheiden. 1.1.k.1 Die Randbedingungen Als ›Randbedingungen‹ werden diejenigen Größen bezeichnet, die ein selbstorganisiertes System mit hochwertiger Energie bzw. strukturierten Stoffen versorgen und somit seine Entfernung vom Zustand des thermodynamischen Gleichgewichts aufrechterhalten. Die Versorgung der ursprünglichen Aggregate und der daraus emergierten Systeme mit hochwertiger Energie bzw. Materie verlangt nach externen Gradienten energetischer bzw. stofflicher Art, die den Aggregaten und später den Systemen aufgelegt werden. Ein besonders klares Beispiel eines solchen extern aufrechterhaltenen Gradienten ist die Temperaturdifferenz T1 – T2 zwischen der unteren und der oberen Schicht der Bénard-Konvektion. Ein typisches Beispiel für eine chemische Randbedingung ist die von den Experimentatoren konstant gehaltene Konzentration der Molekülsorte A bei der chemischen Bistabilität und der kooperativen Anregung. 82 Die dem selbsterregten elektrischen Schwingkreis aufgelegte Spannung, die Rotationsgeschwindigkeit des inneren Zylinders der Couette-Zelle, und die Temperatur des Wasserbades, in dem die chemischen Reaktionen stattfinden, sind ebenfalls Randbedingungen. Wie gegen Ende dieses Kapitels erläutert wird, stellt jede selbstorganisierte Strukturbildung nichts anderes dar, als den Versuch des jeweiligen Systems, diese Gradienten zu beseitigen – eine Tatsache, die große biophilosophische Konsequenzen mit sich zieht.
82
Siehe Abschn. 1.1.g.1 und 1.1.g.2 dieses Kapitels.
191 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
1.1.k.2 Die Anfangsbedingungen Die Werte, die die dynamischen Größen bzw. Variablen, deren zeitliche Entwicklung in Zustandsräumen abgebildet wird, ganz am Anfang der Strukturbildung aufweisen – z. B. die Konzentration der Molekülsorte X(t) zum Zeitpunkt t = 0 in den Abbildungen 2.9 und 2.10 – werden ›Anfangsbedingungen‹ genannt. 1.1.k.3 Die Kontrollparameter Als ›Kontrollparameter‹ werden solche Größen, wie die Reaktionsgeschwindigkeits-konstanten k1, k–1, k2, k–2, k3 usw. der Bray-Reaktion bezeichnet, die den quantitativen Verlauf einzelner Teilvorgänge beeinflussen und somit insgesamt die qualitative Form der Systemdynamik, d. h. die Gestalt der Attraktoren verwandeln können. Chemische Kontrollparameter sind unter anderem von der extern festgelegten Temperatur innerhalb des Reaktors abhängig. Die Kontrollparameter repräsentieren nicht bestimmte Stoffe oder andere Größen. Sie sind Abstraktionen, die Verhältnisse zwischen bestimmten systemischen Größen in sich zusammenfassen. In der Systembiologie repräsentieren sie Verhältnisse zwischen einigen Größen der Zelle, wie z. B. Volumen, Druck, Temperatur, freie Energie und PH-Wert oder sie zeigen den Aktivitätsgrad bestimmter Moleküle. Die Werte der Kontrollparameter werden von den Systembiologen festgelegt. Sie werden entweder experimentell ermittelt oder geschätzt oder häufig aus der Literatur entnommen. Die externe Vorgabe der Kontrollparameter macht sie zu Größen, die von der berechneten Systemdynamik nicht produziert werden können. Dies ist nicht unproblematisch, wie es noch zu zeigen sein wird, da sie Verhältnisse zwischen Größen repräsentieren, die wirkliche Organismen selbständig regulieren. Dem Zustandsraum der dynamischen Größen ähnlich, kann man auch den sogenannten ›Kontrollparameter-Raum‹ konstruieren, um die Abhängigkeit der Systemdynamik von denkbaren Kombinationen derartiger Größen zu demonstrieren. 83 1.1.k.4 Andere Bedingungen Die Strukturbildung setzt aber auch andere absolut unerlässliche Bedingungen voraus, die – genau so wie die Anfangsbedingungen, die Kontrollparameter und die Randbedingungen – von der systemischen 83
Siehe Abb. 2.21.
192 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
Dynamik nicht produziert, sondern vorausgesetzt werden, für die aber kein Fachterminus existiert. Dabei handelt es sich um solche Gegebenheiten wie die Zylinder der Couette-Zelle, das Gefäß der Bénard-Konvektion, den Durchflussreaktor der chemischen Selbstorganisation und natürlich auch den Rührer, der für die notwendige schnelle und gleichmäßige Vermischung der Reaktanden sorgt.
1.2 Organismen als selbstorganisierte Systeme Die Theoretische Biologie des 20. Jahrhunderts stützte vor allem nach 1930 ihre Hoffnungen, eine neue Ära jenseits des Vitalismus-Physikalismus-Streits zu betreten, auf die Vorstellung, dass es evident und vor allem besonders fruchtbar ist, Organismen als offene Systeme zu betrachten. 84 In der Sprache Prigogines und seiner wissenschaftlichen Mitstreiter und Nachfolger sind Organismen stationäre dissipative Strukturen, die aufgrund eines intensiven Imports hochwertiger Energie und eines ebenso intensiven Entropieexports einen stabilen dynamischen Zustand hoher raumzeitlicher Geordnetheit aufzubauen und für große Zeiträume aufrechtzuerhalten vermögen. Das primäre Ziel dieses Unterkapitels ist die Vermittlung der Grundideen dieser Entwicklung anhand aktueller systembiologischer Veröffentlichungen. Die ontologischen Grundprämissen, die in diesen Arbeiten implizit enthalten sind, können vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung des formalen bzw. mathematisch-physikalischen systemtheoretischen Zugangs zum Lebendigen und seiner Logik der Teil-Ganzes-Beziehung besser verstanden werden. 1.2.a
Organizismus und biosystemischer Emergentismus
Für den organizistischen Holismus des 20. Jahrhunderts – zu dem solche Denker wie John S. Haldane, Jan C. Smuts, William E. Ritter, Adolf Meyer-Abich und Lloyd Morgan zu zählen sind – »waren Vorgänge auf molekularer Ebene zwar erschöpfend mit physikochemischen Mechanismen zu erklären, diese spielten aber auf höheren Integrationsebenen eine immer geringere, wenn nicht sogar unbeDiesbezüglich sind folgende Schriften aufschlussreich: Bertalanffy 1990, 110, 120 f.; Schrödinger 1989, 124 f., 128 f.; Bertalanffy et al. 1977, 23 ff.; Ebeling et al. 1990, 81 ff.; Ebeling 1976, 21.
84
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II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
deutende Rolle«, denn »sie werden dort von emergierenden (emergenten) Merkmalen« der strukturierten Systeme »ergänzt oder ersetzt« (Mayr 2000, 39). Im direkten Gegensatz zu den Bemühungen physikalistisch bzw. reduktionistisch denkender Biologen, Vorgänge auf die Eigenschaften der in ihnen involvierten Elemente zurückzuführen, suchen die Organizisten nach hierarchischen biologischen Strukturen: »Was auf einer Ebene Ganze sind, werden auf einer höheren Ebene Teile […] sowohl Teile als auch Ganze sind materielle Entitäten, und Integration resultiert aus der Wechselwirkung von Teilen infolge ihrer Eigenschaften« (Novikoff 1945, zitiert bei Mayr 2000, 42; Hervorhebung von S. K.).
Besonders wertvoll in diesem Zitat ist der Verweis auf die materialistische Basis des Organizismus und auf die Tatsache, dass die Struktur des Ganzen ohne die Eigenschaften von Teilen undenkbar ist – beides zentrale Thesen des sogenannten ›schwachen Emergentismus‹. 85 Bezüglich dieser für den Organizismus zentralen Problematik der TeileGanzes-Beziehung schreibt Ritter: »Ganze [stehen] in solchem Zusammenhang zu ihren Teilen, daß nicht nur die Existenz des Ganzen von dem geordneten Zusammenwirken und der wechselseitigen Abhängigkeit seiner Teile abhängt, sondern das Ganze übt auch ein gewisses Maß an bestimmender Kontrolle über seine Teile aus« (Ritter & Bailey 1928, zitiert bei Mayr 2000, 40; Einfügung und Hervorhebung von S. K.).
Zwischen beiden letzten Zitaten kann man eine gewisse Spannung sehen, denn sie scheinen die Fundamentalität der Teile für das Ganze unterschiedlich zu bewerten. Während beide die Rolle der Eigenschaften der Teile bei ihrer Integration zu höheren Ganzheiten erwähnen, betont letzteres die bestimmende Kontrolle des Ganzen über seine Teile. Es stellt sich die Frage, was genau innerhalb des Organizismus unter einem ›Teil‹ zu verstehen ist. Wie elementar ist ein ›Teil‹ ? Diesbezüglich sagt Mayr: »Der Organizist lehnt eine Analyse nicht ab, besteht aber darauf, daß sie nach unten nur bis auf die niedrigste Ebene fortschreiten sollte, auf der dieser Ansatz noch relevante neue Informationen und neue Ansichten erbringt« (2000, 44).
85
Zum Begriff ›schwacher Emergentismus‹ verweise ich auf Stephan (2005, 90 ff.).
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Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
Dies besagt keineswegs, dass der Organizismus nicht von letzten materiellen Elementen und fundamentalen Naturgesetzen ausgeht, die biologisch relevant sind, also von Atomen und physikochemischen materialen Gesetzen. Vielmehr muss man zwischen der untersten, explizit thematisierten Ebene der Analyse und den vielen, dieser zugrundeliegenden, implizit vorausgesetzten Ebenen der Materialität unterscheiden – anders ausgedrückt: Es sollte zwischen der Methodologie der Organizisten und ihrer wenig explizit thematisierten Ontologie scharf getrennt werden. Mir ist keine einzige formal ausgearbeitete naturwissenschaftliche Analyse bekannt, die nicht, zumindest implizit, die Existenz letzter, bekannter oder unbekannter, materieller Elemente mit bestimmten empirisch belegten oder hypothetischen Eigenschaften voraussetzt. Die organizistischen Beschreibungen bilden diesbezüglich keine Ausnahme, da sie nicht in eine naturwissenschaftlich unfruchtbare, wenn auch eventuell geistreiche, Metaphysik entgleisen möchten. Die entscheidende Frage ist nun, was es eigentlich bedeutet, dass vom Ganzen »ein gewisses Maß an bestimmender Kontrolle über seine Teile« ausgeht (vorletztes Zitat). Genauer: Wo hört der Einfluss des Ganzen auf die materiellen Elemente, aus denen es besteht, auf? Diese Frage geht in zwei alternativen Fragen bezüglich des Wesens, d. h. der Natur oder des Soseins, der materiellen Elemente auf: 1) Besteht das Wesen der letzten materiellen Elemente ausschließlich in einer unabhängig vom jeweiligen Ganzen existierenden Kombination universeller Eigenschaften – so wie für die meisten Physiker der Gegenwart das Wesen eines Elektrons sich in einer Kombination der abstrakten Entitäten ›Masse‹, ›Ladung‹, ›Spin‹ usw. erschöpft? Wenn ja, dann könnte das Ganze nicht im Geringsten das Wesen seiner materiellen Elemente beeinflussen. Denn abstrakte Entitäten sind Universalien; was aber eine Universalie zu einer solchen macht, ist gerade die Tatsache, dass ihr Wesen von den Phänomenen bzw. Ganzheiten, in denen sie manifest wird, vollkommen unabhängig ist. 2) Weist das Wesen eines individuellen materiellen Elements – zusätzlich zu seinen abstrakten und universellen Aspekten – etwas Individuelles auf, worauf die individuelle Ganzheit, in der es vorkommt, einen Einfluss hat? Die positive Beantwortung einer der beiden Fragen erzwingt die negative Beantwortung der jeweils anderen. Die Frage lautet also: Beeinflusst das Ganze das Wesen seiner letzten Elemente (zweite 195 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
Frage) oder lediglich ihr Verhalten, ihr ›Tun‹ (erste Frage)? Alle mir bekannten systemtheoretisch-formalen Ansätze der Physik, Chemie, Biologie, Ökologie und Technik beschränken den Einfluss des Ganzen ausschließlich auf das Verhalten der Elemente – ihrem Wesen wird Universalität und somit Systemunabhängigkeit zugesprochen. Der schwache Emergentismus stellt, Stephan zufolge, »die gemeinsame Basis für alle anspruchsvolleren Emergenztheorien« dar (2005, 90; Hervorhebung von S. K.) – somit auch für alle Formen des Organizismus und der aus ihm hervorgegangenen systemtheoretischen Biologie der Gegenwart. Eine der zentralen Thesen dieser Spielarten des Emergentismus ist die ›synchrone Determiniertheit‹ : »Die Eigenschaften und Dispositionen eines Systems hängen nomologisch von dessen Mikrostruktur, d. h. den Eigenschaften seiner Bestandteile und deren Anordnung ab. […] Das System ›Graphit‹ besteht aus Kohlenstoffatomen in einer Waben-Schicht-Anordnung. Wählt man bei gleichen atomaren Bausteinen eine tetraedrische Anordnung, so erhält man ein anderes System, nämlich ›Diamant‹, mit anderen systemischen Eigenschaften. […] Jemand, der bereit wäre, die These der synchronen Determiniertheit der Systemeigenschaften abzulehnen, müßte [im eben dargestellten Fall] zulassen, daß es z. B. Gegenstände geben könnte, die dieselben physischen Bestandteile wie Diamanten in derselben Anordnung haben könnten, ohne jedoch deren Härte zu haben. Das erscheint völlig unplausibel« (Stephan 2005, 92 f.; Einfügung und Hervorhebungen von S. K.).
Diese Auffassung der Beziehung zwischen an sich existierenden ›Mikroeigenschaften‹ von ›Mikrosystemen‹ und emergenten ›Makroeigenschaften‹ vertritt auch Tetens (2001, 410). Aus physikalischer Sicht ist es eben schlicht und einfach nicht vorzustellen, dass z. B. ein Diamant das Wesen, d. h. die essentiellen Eigenschaften seiner Kohlenstoffatome, variiert. Wenn sie sich im Diamant anders verhalten als in einem anderen Kristall, wird ein Physiker davon ausgehen, dass den Atomen im Diamant andere Kontextbedingungen gesetzt werden. Er wird niemals denken, dass der Diamant das Wesen seiner Atome verändert. Wer, im absoluten Gegensatz zum physikalisch-systemtheoretischen Denken, dem Ganzen eines Organismus das Vermögen zuspricht, das Wesen seiner letzten materiellen Elemente, der Atome und Moleküle, vollständig festzulegen, muss aus der Perspektive der modernen Biowissenschaften als Vertreter einer ›Neo-Alchemie‹ oder, philosophischer ausgedrückt, eines ›Total-Holismus‹ erschei-
196 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
nen. 86 In einer dermaßen autonomen Ganzheit gäbe es keine unabhängig vom jeweiligen Geschehen bestehenden Entitäten, an denen universelle Naturgesetze greifen könnten. So hätte dann das Wesen eines Eisenatoms im Organismus – d. h. die Art und Weise, mit der es mit anderen Atomen reagieren kann – nichts mehr mit universellen physikochemischen Naturgesetzen (materialen Gesetzen) zu tun, sondern wäre ausschließlich Resultat einer streng partikulären Situation. Jedes Lebewesen müsste aber dann bezüglich seines Wesens als ein in sich geschlossener Kosmos betrachtet werden: Es würde in eine ontologische Singularität ›mutieren‹, in ein absolutes Individuum, in dem nichts Universelles gelten kann. Das würde im besten Fall auf enormen Umwegen zu einer Renaissance der Descartes’schen Substanzen führen, die nichts außerhalb von sich selbst und Gott für ihre Existenz benötigen, und folglich dieselben Probleme heraufbeschwören, denen Leibniz erst durch die immense metaphysische Last seiner Monadologie begegnen konnte. Dass dies weder der Weg der modernen Naturwissenschaften noch der Naturphilosophie des 21. Jahrhunderts sein kann, ist evident. Leider verbietet aber die szientistisch-materialistische Ontologie der modernen Biowissenschaften, selbst eine viel moderatere Version dieser Vorstellung ernst zu nehmen. Der Organizismus und seine biologischen und philosophischen Erben beschränken den holistischen Einfluss des organismischen Ganzen ausschließlich auf das ›Tun‹ der systemischen Elemente, d. h. auf die Dynamik, die sie mit Hilfe von Trajektorien beschreiben. Ihre ontologische Verpflichtung, sich auf Wirkursachen-Kausalität zu beschränken, verbietet ihnen, dem Organismus selbst ein geringes ›Mitspracherecht‹ auf das Wesen seiner materiellen Elemente zu gewähren. Denn – so scheint es aus der diesem Denken impliziten ontologischen Perspektive – eine solche Wesensbestimmung würde nichts weniger besagen, als die Veränderung der Bedeutung der Dimensionen der entsprechenden abstrakten Räume. Jede Dimension eines Zustandsraums ist nämlich eine abstrakte Entität, die das Wesen aller materiellen Elemente repräsentiert, die dieselbe physische Der Begriff ›Total-Holismus‹ ähnelt dem Terminus ›maximal holism‹ von Kauffman und Clayton: »There is a sense of holism – call it ›robust‹ or ›maximal holism‹ – that stands in tension with causal explanations in the natural sciences. A system S is maximally holist if it does not admit of analyses in terms of the laws, regularities, particles, or causal powers that underlie S, or if such analyses do not help to explain the phenomena associated with S« (Kauffman & Clayton 2006, 503).
86
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II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
Beschaffenheit haben; so steht eine Dimension eines chemischen Zustandsraumes für eine konkrete Molekülsorte, die das Wesen bestimmter Moleküle ist. Aus dieser Perspektive bedeutet die Vorstellung, dass die Dynamik eines chemischen Systems das Wesen seiner Elemente bestimmt, dass die Bewegung des Gesamtzustands eines Systems entlang einer Trajektorie das Wesen der Größen (Variablen), die den entsprechenden Zustandsraum aufspannen, variiert, d. h. die wesentlichen Eigenschaften der Molekülsorten transformiert! Das sprengt jedoch die Basis jedes systemtheoretischen Denkens, das auf Wirkursachen-Kausalität beruht, da letztere auf der Vorstellung unwandelbarer abstrakter Räume beruht. 87 Die implizite ontologische Perspektive, die dem Organizismus zugrunde liegt, beruht allerdings auf der ebenfalls impliziten Annahme – die im Rahmen einer formal-systemtheoretischen Beschreibung unvermeidbar ist –, dass das Wesen eines materiellen Elements ausschließlich in einer abstrakten Entität (Universalie) besteht und daher nichts Einmaliges, Individuelles hat. 88 Davon ausgehend müsste jede Wesensbestimmung, die ein materielles Element erfahren würde, notwendig die Transformation der entsprechenden Universalie implizieren, die sein Wesen repräsentiert. Ob ein fundamentaler, d. h. wesensstiftender Einfluss des Ganzen auf seine materiellen Elemente aus naturphilosophischer Perspektive vorstellbar ist und in welchem Maße er sich mit der Konzeption der abstrakten Räume der Physik (und der ihnen impliziten Idee der physischen und ideellen Universalität) verträgt oder sogar von ihnen profitieren kann, ist ein zentrales Anliegen der vorliegenden Untersuchung. Da aber dieses Vorhaben erst auf der Basis einer anderen Ontologie denkbar ist, die das Verhältnis von physischer Partikularität und Universalität anders bestimmt, 89 kann es hier nicht weiterverfolgt werden. An dieser Stelle sollte vielmehr der Hauptverdienst des Organizismus bei der Erweiterung der biologischen Gedankenwelt würdigend zusammengefasst werden: Die Entwicklung und Selbsterhaltung eines Lebewesens geht nicht auf die Wirkung einer einzelnen wirklichen oder ideellen Entität zurück – wie die Aristotelische ›energeia‹, 87 88 89
Siehe Abschn. 1.1.b.2 dieses Kapitels. Diese Vorstellung wird im Abschnitt 3.2.a.3 dieses Kapitels ausführlich dargestellt. Siehe Kap. III und vor allem Kap. IV der vorliegenden Untersuchung.
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Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
die vitalistische Entelechie, die Platonische Idee, das genetische Programm und ähnliches –, sondern ist eine Eigenschaft des Netzwerks der bindenden Relationen, die zwischen all seinen materiellen Elementen bestehen. Von zentraler Bedeutung für die Begründung des biomathematisch-biophysikalischen Verständnisses von Organismen sind die Arbeiten Ludwig von Bertalanffys. Sein theoretischer Ausgangspunkt nimmt dem Organizismus jegliche Spur metaphysischen Hauchs, indem er das Maß der Angewiesenheit der Systeme auf das Wesen ihrer Elemente (und nicht umgekehrt) unterstreicht: »Die Eigenschaften und Wirkungsweisen der höheren Stufen sind nicht erklärbar aus der Summierung der Eigenschaften und Wirkungsweisen ihrer bloß isoliert untersuchten und bekannten Komponenten. Kennen wir aber die Gesamtheit der vereinigten Komponenten und die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen, so sind die höheren Stufen aus ihren Komponenten ableitbar. […] Selbstverständlich gibt eine bloße Summierung zum Beispiel einer Anzahl von C-, H-, O-, N-Atomen keine adäquate Kenntnis eines Moleküls […] Kenne ich hingegen die Strukturformel, dann wird das Verhalten des Moleküls aus dem der Atome, also seiner Teile, verständlich. Das gleiche gilt für beliebige ›Gestalten‹« (1990, 140; die zwei letzten Hervorhebungen von S. K.).
Auf dieser besonders nüchternen Basis entwickelt Bertalanffy die für die spätere Forschung zukunftsweisende Vorstellung vom Organismus als stationärem System im sogenannten Fließgleichgewicht: »Vom physikalischen Standpunkt können wir dies Verhältnis dahin definieren, daß der lebende Organismus nicht ein nach außen abgeschlossenes System ist, sondern ein offenes System, das fortwährend Bestandteile nach außen abgibt und solche von außen aufnimmt, das sich aber in diesem ständigen Wechsel in einem stationären Zustand oder Fliessgleichgewicht erhält bzw. in ein solches übergeht« (ebenda 120). 90
Ein Fließgleichgewicht ist ein stationärer Nicht-Gleichgewichtszustand, der »stabil gegenüber kleinen Schwankungen ist« (Ebeling 1976, 21). Dem Fließgleichgewicht wird innerhalb der Biomathematik bzw. Biophysik eine große Beachtung entgegengebracht. Man erblickt hierin eine formale Beschreibung der Homöostase gesunder erwachsener Organismen. Dieser Begriff gehört somit zu den Pionierleistungen der Begründung des Paradigmas der Selbstorganisa90
Vgl. auch: Bertalanffy et al. 1977, 23 ff.
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II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
tion. Die Biophysik des Fließgleichgewichts, über die auch ein gleichnamiges Buch existiert (Bertalanffy et al. 1977), wurde zunächst für den Bereich linearer Interaktionen entworfen. Dies war dadurch bedingt, dass damals stationäre Vorgänge nur innerhalb der linearen Thermodynamik in der Nähe des Gleichgewichts bekannt waren (ebenda 123 ff.). 91 Seitdem es bekannt ist, dass nichtlineare Relationen stabile stationäre Flüsse verursachen können, z. B. bei der Umwandlung von Stoffen, wurde dieser sehr bedeutende Begriff entsprechend erweitert (Ebeling 1976, 154). 92 Eine besondere Eigenschaft des Fließgleichgewichts ist die sogenannte Äquifinalität. Sie ist »eine notwendige und gesetzmäßige Folge des Geschehens in offenen Systemen, die einem Fliessgleichgewicht zugehen« (Bertalanffy 1990, 136). Sie besteht im Vermögen offener Systeme, trotz verschiedener Anfangsbedingungen, durch verschiedene Wege (Trajektorien) einen bestimmten Zustand des Fließgleichgewichts zu erreichen und in ihm zu verharren (ebenda 136, 65). 93 Beispiele äquifinalen Verhaltens bei chemischen dissipativen Strukturen sind in den Abbildungen 2.9 und 2.10 enthalten. Bertalanffy sieht in der Äquifinalität die Möglichkeit einer nicht vitalistischen Analyse des Vermögens embryogenetischer Entwicklungen, gut vorhersagbare Endformen zu erreichen, selbst wenn die Embryonen massive Beschädigungen erleiden (ebenda 137, 65). 94 Es wird häufig behauptet, dass der Organizismus eine Lösung des Streits zwischen Physikalismus und Vitalismus darstellen würde. Bertalanffy weigert sich, sein Werk unter das Vorzeichen dieser Auseinandersetzung zu stellen, weil er in ihrer Basis eine Verstrickung methodologischer und metaphysischer Motive erkennt (ebenda 159). 95 Er begründet seine Vorstellungen nicht ontologisch, sondern methodologisch und betont seine Nähe zum Formalismus und seine Distanz zum Realismus. 96 Unabhängig davon, ob sein Werk neben Vgl. auch: Bertalanffy 1990, 122. Zwei typische Beispiele für nichtlineare Fließgleichgewichte bei chemischen Systemen sind in den Abschnitten 1.1.g.1 und 1.1.g.2 dieses Kapitels enthalten. 93 Vgl. auch: Ebeling 1976, 154. 94 Vgl. auch: Bertalanffy et al. 1977, 63 f. 95 Siehe auch Abschn. 2 der Einleitung der vorliegenden Untersuchung. 96 Diesbezüglich ist folgende Stelle erwähnenswert: »[Die] realistische oder metaphysische Interpretation verkennt jedoch den Sinn der Naturwissenschaft. Physikalischen Gebilden kommen nicht ›Kräfte‹ als metaphysische Attribute zu, sondern die Physik führt ›Kräfte‹ ein, wie sie zur Erklärung und Berechnung des Geschehens benötigt werden. Diese Kräfte sind nur Bilder zur Veranschaulichung. Worauf es tatsächlich 91 92
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Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
den methodologischen auch einige versteckte metaphysische Ausgangspunkte erkennen lässt, scheint seinem Denken eine Grundprämisse zugrunde zu liegen, die in einer moderneren Begrifflichkeit wie folgt ausgedrückt werden könnte: »In jedem Organismus wird die Existenz letzter materieller Elemente angenommen. Ihre fundamentalen Eigenschaften – die sie an sich, und somit unabhängig vom jeweiligen Kontext, besitzen – legen zusammen mit den entsprechenden universellen Naturgesetzen ihre möglichen Wechselwirkungen miteinander fest. Die Struktur eines bestimmten Organismus, der eine konkrete Kombination dieser Elemente ist, reduziert sehr stark die Anzahl dieser Möglichkeiten durch die Emergenz von Strukturgesetzen, sodass diese Struktur durch ihre eigene WirkursachenKausalität aufrechterhalten oder weiter ausgebildet wird«. Gegen diese Interpretation könnte eingewendet werden, dass für Bertalanffy die Naturgesetze lediglich »Abbildungen formaler Relationen der Phänomene« und die »physikalischen Letzteinheiten« keine »›materielle[n]‹ Atome als metaphysische Wirklichkeit«, sondern nur »formal-mathematisch« bestimmt sind (ebenda 159). Dem sei entgegengehalten, dass die von mir verwendeten Ausdrücke ›materielle Elemente‹, ›Eigenschaften‹, ›Naturgesetze‹, ›Möglichkeiten‹, ›Wirkursachen‹ nicht notwendig auf Entitäten physischer oder ideeller Art referieren, sondern genauso gut auf logische Konzepte, die ausschließlich innerhalb eines bestimmten »gedanklichen Systems« (ebenda 159 f.) – mit Whitehead gesprochen: eines Gedankenschemas – Sinn machen. Dem Organizismus Bertalanffys liegt also eine emergentistischmaterialistische System-Vorstellung zugrunde, die eine Konkretisierung der Ideen seiner biologischen und philosophischen Vorgänger darstellt und die – was hier betont werden muss – für die spätere formale Beschreibung des Organismus wegweisend gewesen ist. Das für jede Form des Organizismus und seine biologischen und philosophischen Erben gültige Motto – »das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile« – widerspricht lediglich dem einfachen Physikalismus eines Du Bois-Reymond und eines Helmholtz; es sprengt jedoch keineswegs den Rahmen eines höheren systemtheoretisch-physikalistischen oder neomechanistischen Denkens, das die Idee der schwachen Emergenz kennt. ankommt, sind formale Beziehungen, das System der Naturgesetze« (Bertalanffy 1990, 142; Einfügung von S. K.).
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II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
Der Organizismus, vor allem in seiner Ausprägung durch Bertalanffy, ist eine Vorstufe des nichtlinearen biologischen Emergentismus. Letzterer ist als ein Teilbereich des Paradigmas der Selbstorganisation bzw. Komplexität entstanden und kann auch als biosystemischer Emergentismus bezeichnet werden. Aus der Sicht dieser Richtung sind Lebewesen energetisch-stofflich stationäre offene Systeme. Die Stationarität ist stabil, wenn genau so viel Energie (im Durchschnitt) aufgenommen, wie sie wieder abgegeben wird und die Entropie des lebendigen Systems stabil bleibt. Der notwendige Entropieexport wird in erster Linie durch Stoff- und Wärmeabgabe an die Umgebung verwirklicht. Dem Wärmeexport kommt dabei eine Schlüsselrolle zu (Ebeling et al. 1990, 82). 97 Für gewisse Stadien der ontogenetischen Entwicklung, wie die Embryogenese, das Wachstum, die Wundheilung und Regeneration, muss man annehmen, dass die Entropie-Bilanz negativ ist, weil Strukturbildung, und nicht bloß stabile Stationarität, vorhanden ist. Für solche Fälle gilt: – deS/dt > diS/dt > 0, sodass dS/dt < 0 ist. 98
(2.14)
Als die Sperrspitze des biosystemischen Emergentismus kann momentan die Systembiologie betrachtet werden, eine sich gerade im Entstehen befindende Disziplin. Bevor jedoch der Fokus der Aufmerksamkeit dieser neuesten Entwicklung gilt, sollten die Hauptverdienste des aktuellen systemtheoretischen Zugangs zum Lebendigen, der mehr als die Systembiologie und den biosystemischen Emergentismus umfasst, gewürdigt werden. 99 Dieser Ansatz hat eine neue Ära der biologischen Gedankenwelt eröffnet, die auf einem hohen Niveau der Reflexion ihrer eigenen Ausgangspunkte und Begriffe operiert. 100 Die Verdienste solcher Protagonisten der nicht mathematisch-physikalisch operierenden systemtheoretischen Betrachtung des Lebendigen – wie z. B. RiVgl. auch: Kauffman 1996, 142. Bezüglich der im Ei stattfindenden Embryogenese vgl. Ebeling et al. 1990, 84. 99 Der von Mahner und Bunge vorgeschlagene Ausdruck ›Biosystemismus‹ (2000, 136 ff.) kommt ebenfalls als Bezeichnung des systemtheoretischen Zugangs zum Lebendigen in Frage. Die große begriffliche und definitorische Strenge der beiden Autoren könnte jedoch einige Exponenten dieser Richtung davon abhalten, ihre Arbeit unter diesen Begriff zu stellen. 100 Davon zeugen zahlreiche Veröffentlichungen der letzten Jahrzehnte: Griffiths 1992, Oyama 1992, Kauffman 1996, Goodwin 1997, Mahner & Bunge 2000, Oyama, Griffiths, Gray 2001, Lewontin 2002, Laubichler 2005a, b; Stotz 2005a, b; Bruggeman et al. 2005. 97 98
202 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
chard Lewontin, Susan Oyama, Paul Griffiths, Elliott Sober und Kim Sterelny – sind mit der gegenwärtig stattfindenden Überwindung einiger simpler Leitideen untrennbar verbunden, die das biologische Denken jahrzehntelang beherrscht und an seiner weiteren Reifung behindert haben. Ihren Leistungen sind in erster Linie zwei grundsätzliche Durchbrüche zu verdanken: Mit dem Beginn der Überwindung des Glaubens, dass die Entwicklung der individuellen organismischen Form von ›genetischen Programmen‹ gesteuert wird (genetischer Präformationismus), erscheint selbst der früher für viele Autoren selbstverständliche Gedanke, dass die Ontogenese von den Genen unter Mitwirkung der Umgebung gesteuert wird, als unzureichend. Denn er ist nicht frei von der Vorstellung, dass genetische- und Umgebungsfaktoren an sich bestehen und durch ihre Addition eine phänotypische Gesamtwirkung erzeugen. 101 Stattdessen fängt man an, die organismische Morphogenese als Resultat einer Selbstorganisation zu sehen, die in der »Interaktion des Organismus mit seiner inneren und äußeren Umwelt« besteht und zur Entstehung der genetischen Information überhaupt erst führt (Stotz 2005a, 128, 137). Die progressive Dekonstruktion der naiven Vorstellung von Genen als bestimmten statisch festgelegten Teilen der DNS 102 ist zusätzlicher Wind in den Segeln dieses Fortschritts. In diesem Zusammenhang sind einige Arbeiten über die alles andere als eindeutige Natur der Gene besonders erhellend (Beurton 2005, 1998). 103 Der zweite große Durchbruch besteht in der fortschreitenden Befreiung von der Vorstellung der einseitigen Anpassung der Organismen an die Umgebung. Die Metapher der Anpassung beruht auf der Vorstellung einer unabhängig vom Organismus existierenden Umgebung, in der er sich bewähren muss (Lewontin 2002, 40 ff.). Aus der systemtheoretischen Perspektive vieler Autoren ist jedoch jeder Organismus nicht in einer an sich existierenden Umgebung enthalten, sondern in einer Umwelt einbezogen, d. h. in einem von ihm spezifisch selektierten Teil seiner Umgebung, dessen Natur er durch seine eigene Beschaffenheit mit-
101 Diese Vorstellung wird von verschiedenen Autoren kritisiert (Oyama et al 2001, 2 ff.; Lewontin 2002, 5 f., 10, 33 f., 38). 102 »In Fällen von Trans-Splicing, Kotranskription von mehreren Genen oder Frameshifts ist der Zustand der Zelle dafür entscheidend, welche Sequenz zu welcher Zeit die Rolle des ›Gens‹ übernimmt« (Stotz 2005a, 132). 103 Vgl. auch: Beurton, Falk, Rheinberger 2000.
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II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
bestimmt. 104 Organismen legen aber nicht nur fest, »aus welchen Elementen der externen Welt sich ihre spezifische Umwelt zusammensetzt und wie diese Elemente miteinander in Beziehung treten«, sondern konstruieren diese durch die Produkte ihres Metabolismus und ihrer Aktivitäten und »befinden sich in einem konstanten Prozess der Veränderung ihrer Umgebung« (Lewontin 2002, 50, 53). Mit seinem Modell der ›Dreifachhelix‹ eines Gen-Organismus-Umwelt-Systems ersetzt Lewontin linear-kausale Vorstellungen der klaren Trennung von Ursache und Wirkung mit der Idee der unlösbaren kausalen Vernetzung der drei Faktoren. Das biosystemische Denken bietet den klassischen Fragen der Philosophie der Biologie einen methodologisch-ontologischen Rahmen, in dem sie neu formuliert und diskutiert werden können. 105 Das vorliegende Kapitel verfolgt jedoch nicht das Ziel, diese Möglichkeiten auszuloten, sondern die naturphilosophische Fragestellung, ob Organismen als besonders komplexe wirkursächlich-kausale Systeme verstanden werden können. Die zentrale Frage dieses Kapitels ist also, ob die Entstehung und Erhaltung der Ordnung einzelner Lebewesen prinzipiell 106 mit den Mitteln der mathematisch-physikalisch operierenden Richtung innerhalb des biosystemischen Paradigmas beschrieben werden kann. 1.2.b
›Modelle von‹ und ›Modelle für‹ etwas
Für die weitere Durchführung der Diskussion wird es hilfreich sein, zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Verhältnissen von Modell und Modelliertem zu unterscheiden (Gutmann 1995, 19 f.). 107 Wird ein Modell mit dem Ziel erstellt, bestimmten Aspekten des Modellierten möglichst ähnlich zu sein, sodass jedem Teil des Abgebildeten ein Teil in der Abbildung entsprechen muss, und umgekehrt, dann handelt es sich dabei, bezüglich dieser Aspekte, um ein ›Modell von etwas‹. So ist z. B. eine mit Dampf betriebene Modelllokomotive, die einer großen Dampflokomotive ähnlich aussieht, ein optisches und funktionelles Modell letzterer. Wäre zusätzlich erfordert, dass möglichst viele Bauteile der modellierten Dampflokomotive und ihre Siehe Abschn. 2.1.b dieses Kapitels. Für einige dieser Fragen vgl. Laubichler 2005a, 116. 106 Zur Bedeutung des Ausdrucks ›prinzipiell‹ in diesem Zusammenhang siehe Abschn. 2 dieses Kapitels. 107 Vgl. auch: Janich & Weingarten 1999, 86 ff. 104 105
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Relationen zueinander abgebildet werden, sodass der Funktionsweise jedes Teils des Abgebildeten möglichst die Funktionsweise eines Teils in der Abbildung entsprechen muss, und umgekehrt, so würde es sich dabei auch um ein strukturelles Modell handeln. Eine mit gewaltiger Rechenkapazität durchgeführte Computersimulation der Spaltung eines Substrates durch ein Enzym, die alle Bewegungen jedes einzelnen Atoms des Komplexes auf der Basis physikochemischer Gesetze zu errechnen und abzubilden versucht, ist ebenfalls ein funktionales und strukturelles Modell von einer metabolischen Reaktion. Bei diesen Beispielen sind »die Beschreibungsmittel […] für beide, das Modell und das Modellierte, dieselben«, denn »[e]s sind im strengen Sinne dieselben Worte, die auf die ›große‹ und die Modelllokomotive angewendet werden können«, auf die modellierten Atome der Computersimulation und die durch ein Rasterkraftmikroskop beobachteten Atome (Janich & Weingarten 1999, 87). Im Gegensatz dazu handelt es sich beim Bohrschen Atommodell um ein ›Modell für etwas‹, nämlich für das physikalische Atom, und niemand würde dabei auf die Idee kommen, nach den Monden der Elektronen zu fragen, nur weil diese mit Planeten verglichen werden (ebenda). Ähnlich können Maschinen nichts mehr als Modelle für Organismen sein (ebenda 135). Die in den Naturwissenschaften verwendeten Modelle sind fast immer Modelle für etwas, deren Sinn nicht in der Abbildung bestimmter Entitäten, Ganzheiten oder Vorgänge besteht, sondern in der Erleichterung ihrer Erforschung. 108 Die Ähnlichkeit zwischen Modell und Modelliertem ist, anders als im ersten Fall, kein Qualitätskriterium und kann sogar hinderlich sein. Wird zwischen Modellen für etwas und Modellen von etwas keine Unterscheidung getroffen, so wird das begangen, was Whitehead die »fallacy of misplaced concreteness« nennt, d. h. das Abstrakte wird mit dem Konkreten verwechselt.
108 Dreidimensionale Modelle des Skeletts oder der Muskulatur des menschlichen Körpers, die dank der Computertechnik nicht mehr statisch sein müssen, sind Modelle von diesen Objekten. Dasselbe gilt auch für die Abbildungen von Zellen in digital produzierten Animationen. Die im Chemie-Unterricht verwendeten dreidimensionalen Kalottenmodelle und die Raumstrukturen können aus der Sicht der meisten Biologen als Modelle von Molekülen betrachtet werden; für einen Quantenphysiker oder Quantenbiologen sind sie dies jedoch nicht, denn sie können nicht die räumliche Nichtlokalität der mikrophysikalischen Materie bzw. -Kräfte abbilden und vermitteln überhaupt ein falsches Bild von der mikrokosmischen Materialität.
205 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
1.2.c
Systembiologie: Modelle für organismische Vorgänge
Das zentrale Anliegen der Systembiologie, einer in den 1990er Jahren etablierten biologischen Forschungsrichtung, ist es, das in der Molekularbiologie gesammelte Wissen in eine systemtheoretische Betrachtung organismischer Vorgänge zu integrieren. Angestrebt wird eine Bewegung »vom molekularen Detail zum systemischen Funktionieren […] statt – wie oft zuvor in der Molekularbiologie – in umgekehrter Richtung zu gehen« (Bruggeman et al. 2005, 395). Ausgehend von molekularen Eigenschaften werden »die systemischen Konsequenzen […] für zelluläres Verhalten mit Hilfe mathematischer Modellbildungen berechnet […] und die Ergebnisse im Anschluss daran im Labor auf dem Prüfstand gestellt« (ebenda). 109 Auf der Basis der Theorie dynamischer Systeme versucht die Systembiologie neue theoretische Konzepte zu entwickeln, um dem – angesichts der enormen experimentellen Datenflut – allseits beklagten Theoriedefizit der modernen Biologie entgegenzuwirken (Laubichler 2005a, 110 f.). 110 Das Hauptbetätigungsfeld der gegenwärtigen Systembiologie ist das Studium komplexer zellulärer Vorgänge, aber die Ausweitung des Horizonts auf Gewebe wird bereits in Aussicht gestellt (Palsson 2006, 6). Die systembiologische Analyse eines zellulären Vorgangs enthält idealerweise vier grundsätzliche Schritte: die Identifizierung der involvierten Elemente, die Feststellung der zwischen ihnen bestehenden Relationen, die mathematische Modellierung des RelationenNetzwerks inklusive seiner Computersimulation und schließlich die Anwendung der so gewonnenen Erkenntnisse auf die Analyse, Interpretation und Vorhersage experimenteller Resultate (ebenda 5). Der letzte Schritt dient nicht lediglich der Bestätigung der theoretischen Erkenntnisse, sondern schlägt auch die Brücke zur medizinisch-pharmazeutischen Forschung und Industrie, denn ein zentrales Ziel der Systembiologie ist es, zum besseren Verstehen solcher Krankheiten wie Krebs und Parkinson und zur Entwicklung neuer Medikamente wesentlich beizutragen. Insofern ist es nicht überraschend, dass viele Systembiologen ihre Forschungsrichtung nicht als einen Bereich der Theoretischen Biologie, sondern als ein eigenständiges Forschungsgebiet verstehen. 111 Abgesehen von der hier unwichtigen Zuordnungsfrage kann man 109 110 111
Vgl. auch: Wolkenhauer 2004, 1. Vgl. auch: Palsson 2006, 1. Vgl. auch: Laubichler 2005, 111.
206 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
die Essenz dieser oft als die Biologie des 21. Jahrhunderts bezeichneten Richtung wie folgt auf den Punkt bringen: Aus systembiologischer Sicht ist jeder Organismus ein energetisch und stofflich offenes dynamisches System, das in sich kausal geschlossen ist (Wolkenhauer 2004, 4) – ein System, dessen Struktur ein Netzwerk nichtlinearer Relationen ist, das sich selbst erhält. Die Forschungsobjekte der Systembiologie sind allerdings nicht ganze Organismen, sondern in den meisten Fällen begrenzte biomolekulare Netzwerke. Die Veränderung der Konzentration einer Biomolekül-Sorte lässt sich durch eine Differentialgleichung ausdrücken, deren Aufstellung exakt denselben Prinzipien folgt, die bei der Darstellung der chemischen Selbstorganisation beschrieben wurden. Auf diese Weise entsteht ein System von miteinander gekoppelten Differentialgleichungen, dessen Lösung die Dynamik des biomolekularen Netzwerks beschreibt (Van Hoek 2008). Die Entwicklung des Gesamtzustands eines solchen Netzwerks lässt sich, wie die eines jeden chemischen Systems, durch eine Trajektorie in einem Zustandsraum beschreiben, dessen Dimensionen die Konzentrationen der miteinander reagierenden Molekülsorten symbolisieren und dessen Dimensionszahl gleich der Anzahl dieser Sorten ist. Reale biomolekulare Netzwerke verfügen häufig über hunderte, ja sogar tausende von Molekülsorten. Es ist jedoch möglich, sehr viel kleinere Netzwerke zu identifizieren, die als funktionale Module behandelt werden können. Im Folgenden werden einige leicht verständliche Beispiele der mathematischen Behandlung solcher Module, die auch als biomolekulare ›Pfade‹ bezeichnet werden, vorgestellt. Ausgehend von diesen Beispielen ist es möglich, essentielle Merkmale der formalbzw. mathematisch-biosystemischen Arbeitsweise herauszukristallisieren. 112 1.2.c.1 Signal-Netzwerke Die Systembiologie widmet den Signal-Netzwerken, die bei der Kommunikation zwischen Zellen aktiv sind, große Aufmerksamkeit, weil sie den Metabolismus, die Genexpression, die Form und Bewegung der Zellen (Alberts et al. 2004, 967, 977 f., 981 f., 990) 113 und somit auch die Entwicklung des Embryos entscheidend beeinflussen. Denn diese lösen irreversible Veränderungen aus, die zur Spezialisierung 112 113
Siehe Abschn. 1.2.e dieses Kapitels. Vgl. auch: Downward 2001, 761 f.
207 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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von Zellen führen. Es gibt ein großes Spektrum von Signalmolekülen, die in Tieren aktiv sind. 114 Das Gesamtnetzwerk der Signalmoleküle schon des einfachsten Einzellers erreicht eine enorme, kaum überschaubare Komplexität. Es ist jedoch üblich, übersichtliche Strukturen von dem innerzellulären Gesamtnetz zu abstrahieren und ihre Dynamik als ein in sich kausal geschlossenes dynamisches System zu studieren. Die systembiologische Literatur beschreibt Tausende solcher sehr einfachen Netzwerke, die manchmal hypothetischen Charakter haben. Der in Abbildung 2.14 enthaltene Graph ist ein gutes Beispiel für ein einfaches SignalNetzwerk, eine sogenannte ›Signal-Leitungsbahn‹ (signal-pathway). Das Modell wurde von den bekannten Systembiologen John Tyson und Béla Novák entwickelt (Tyson et. al. 2003, 222 ff.). Das Symbol S repräsentiert dabei eine Randbedingung – die bei einer konkreten Berechnung bzw. Simulation konstant angenommene Konzentration eines Signalmoleküls, das als Stimulus, als Input agiert – und R steht für die Konzentration eines Moleküls, das als Reaktion (›response‹) darauf als Output erzeugt wird. Die Symbole E und E* repräsentieren die Konzentrationen von zwei Enzymen und k1, k2, k3 und k4 sind die Kontrollparameter, welche die chemischen Reaktionen empfindlich beeinflussen. Sie sind von solchen Größen wie Temperatur, pH-Wert, Druck und Volumen abhängig. Bei der biomathematischen Behandlung werden sie als konstante Größen angenommen. Die Größe K0 repräsentiert eine ebenfalls konstante Randbedingung. Die Größen S und K0 machen, zusammen mit dem Abbau von R, die Offenheit des Systems aus und die Schleife zwischen K0.E*, R, E und E*, die eine positive (kausale) Rückkopplung darstellt, seine Nichtlinearität. Solche positiven Rückkopplungen sind bei der Zellkommunikation sehr wichtig, weil sie »echte ›Alles oder Nichts‹-Antworten erzeugen, und zwar in der Weise, dass beim Anstieg des Signals über einen kritischen Schwellenwert in der antwortenden Zelle plötzlich ein Schalter umgelegt wird« (Alberts et al. 2004, 988). Auf diese Weise reagieren Nerven- und Muskelzellen durch ›Alles oder Nichts‹-Aktionspotenziale auf Neurotransmitter:
114 Hormone und Neurotransmitter sind Signalmoleküle, die auch für neuronale Vorgänge essentiell sind. Als Signalmoleküle können auch anorganische Stoffe wie das Calcium-Ion (Ca++) fungieren. Es ist ein herausragendes Steuersignal das erwiesenermaßen bei jeder tierischen und pflanzlichen Morphogenese bzw. Gestaltänderung eine Rolle spielt (Goodwin 1997, 148).
208 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
S (Input) k1
K0.E*
R (Output) k2 k3
(+) E*
k4
E
Abbau von R
Abb. 2.14: Der Graph eines sehr kleinen Signal-Netzwerks (Signal-Leitungsbahn). Alle Pfeile symbolisieren kausale Verhältnisse. Die durchgezogenen Pfeile zeigen, welche chemischen Stoffe aus welchen erzeugt werden. Die gestrichelten Pfeile zeigen, welche Stoffe auf welche Reaktionen Einfluss nehmen. Die Kontrollparameter beeinflussen bestimmte Vorgänge, was durch die Nähe zu den entsprechenden Pfeilen gezeigt wird (Tyson et. al. 2003, 222).
»Die Geschwindigkeit steigt langsam mit der Konzentration [des Signalmoleküls S] an, bis bei einer Schwellenkonzentration [des Signalmoleküls S] genügend Produkt synthetisiert worden ist, sodass sich die Aktivierung selbst weiter beschleunigt und dabei rasant fortschreitet. Die Produktkonzentration wächst dann plötzlich auf ein sehr viel höheres Niveau an. Mithilfe dieser und einer Anzahl anderer […] Mechanismen, vermag die Zelle oft eine allmähliche Konzentrationsänderung [eines Signalmoleküls] in einen Schaltvorgang zu übersetzen, wodurch eine ›Alles oder Nichts‹-Antwort der Zelle erzeugt wird« (Alberts et al. 2004, 989; Einfügungen von S. K.).
Der oben abgebildete Graph ist ein Modell für einen innerzellulären Vorgang, der eine positive Rückkopplung durch die Aktivierung eines Enzyms verwirklicht (E → E*). Das dem abgebildeten System externe Signalmolekül S regt die Produktion des Antwort-Moleküls R an, das die Aktivierung des Enzyms E unterstützt, das schließlich, zusammen mit S, die Produktion von R rückwirkend beschleunigt. Vorübergehende Steigerungen der Konzentrationen von Signalmolekülen regen bei der Embryogenese oft langfristige Änderungen an, indem sie als Randbedingungen genetischer Netzwerke dienen. Diese Änderungen sind häufig von lebenslanger Dauer, weil sie zur Entscheidung für die Differenzierung einer Zelle zu einer bestimmten Zellenart führen (ebenda 990). Von besonderem Interesse beim oben abgebildeten System ist, dass wenn die vom Experimentator bzw. Theoretiker gesteuerte Randbedingung S einen bestimmten Schwellenwert erreicht, das Sys209 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
R(t)
Attraktor
0,4
R0 = 0,2 R0 = 0,185
0,3 0,2
0,1
Separatrix
R0 = 0,1
R0 = 0,184 Attraktor
R0 = 0
Zeit
Abb. 2.15: Die möglichen Entwicklungen der Konzentration des AntwortMoleküls R in Abhängigkeit von der Zeit.
tem spontan von einem monostabilen stationären Verhalten auf ein bistabiles springt (Tyson et al. 2003, 222) 115 und sich somit ähnlich wie die Bray-Reaktion unter bestimmten Rand- und anderen Bedingungen verhält. 116 Die neue Stationarität von R wird von einer sehr komplizierten nichtlinearen Differentialgleichung beschrieben (ebenda 224), die drei Lösungen hat, von denen aber nur zwei Lösungen stabile stationäre Zustände darstellen. Wie man sieht, bedingt die Änderung einer Randbedingung, genauso wie bei der bistabilen Bray-Rektion, den spontanen Wechsel von einem teleonomischen 117 Verhalten, das gegenüber einer Anfangsbedingung gleichgültig ist, zu einem von dieser höchst abhängigen: 118 Die Teleonomie dieser Signal-Leitungsbahn besteht in der
Vgl. auch: Ebeling et al. 1990, 146. Siehe Abschn. 1.1.g.1 und 1.1.g.2 dieses Kapitels. 117 Zur von mir vorgeschlagenen Bedeutung des Begriffes ›Teleonomie‹ im Rahmen der Theorie der Selbstorganisation siehe Abschn. 2.5.b von Kap. I. 118 Siehe Abschn. 1.1.g.2 dieses Kapitels. 115 116
210 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
Existenz von nur zwei möglichen stabilen stationären Endzuständen, d. h. Attraktoren, weshalb das System, je nach dem Wert der Konzentration des Anfangszustands von R0 (Anfangsbedingung) mit Notwendigkeit einen dieser beiden Attraktoren erreicht. Bei Anfangszuständen R0, die sich zwischen 0,184 und 0,185 befinden, ändert sich das Verhalten des Systems radikal. Die Separatrix, die durch dieses kleine Gebiet verläuft, teilt den Zustandsraum in zwei separate Bereiche. Die weitere Entwicklung aller Zustände des Systems, die sich genau auf der Separatrix befinden, ist nicht determiniert und somit – aus mathematischen Gründen – nicht vorhersagbar. Unmittelbar benachbarte Trajektorien, zwischen denen die Separatrix verläuft, divergieren mit der Zeit stark voneinander. Besondere Beachtung verdient die Tatsache, dass in enger Nähe zur Separatrix thermische oder quantenphysikalische Fluktuationen, welche – aufgrund ihrer Natur – immer zufällig und nicht gerichtet sind, den Übergang des Systems von einer Trajektorie zu einer anderen, unmittelbar benachbarten, verursachen können. In diesem zweidimensionalen Zustandsraum gibt es also ein Gebiet der Unbestimmtheit, 119 in dem die Entwicklung von Netzwerkzuständen aus mathematischen und aus physikalischen Gründen indeterminiert und somit prinzipiell nicht vorhersagbar ist. Die Systembiologie kennt viele mögliche Dynamiken von Signal-Leitungsbahnen, wie z. B. periodische Oszillationen (ebenda 225). Das oben beschriebene Verhalten, das als ›Bistabilität‹ bezeichnet wird, ist von besonderer biologischer Bedeutung und demonstriert außerdem, dass einige biologische Zustandsräume indeterminierte Bereiche enthalten, ohne chaotisch zu sein. Eine andere interessante Anwendung bistabiler Signal-Vorgänge haben Ferrell und Xiong behandelt. Sie konnten zeigen, dass eine einfache hypothetische Signal-Leitungsbahn die Reifung der Eizelle der Froschart Xenopus als einen ›Alles oder Nichts‹-Vorgang relativ gut modellieren kann. Wenn das Steroidhormon Progesteron für einen Zeitraum zwischen einer und zwei Stunden eine bestimmte Konzentration überschreitet, wird in der Eizelle eine Signal-Kaskade enzymatischer Vorgänge ausgelöst, die zur vollständigen Reifung der Eizelle führen. Die Autoren analysieren mathematisch die Dynamik, die zwischen der 119 Zur Begründung der Existenz solcher Gebiete in Zustandsräumen siehe Abschn. 1.1.h dieses Kapitels.
211 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
S k1 A
k-1
A*
(+)
k2
I Abb. 2.16: Der Graph der Phosphorylierung und Autophosphorylierung von Cdc2-cyclin B (Ferrell & Xiong 2001, 230 f.).
Kinase p42 MAPK und dem für die Reifung der Eizelle als ›Schalter‹ dienenden Molekül Cdc2-cyclin B besteht. Einerseits aktiviert die Kinase den ›Schalter‹, z. B. durch Phosphorylierung, andererseits vermögen aktive ›Schalter‹-Moleküle, die Aktivierung von Molekülen ihrer eigenen Sorte zu unterstützen, sodass ein autokatalytischer Effekt vorliegt. Die Autophosphorylierung stellt eine positive Rückkopplung dar, der das Hauptaugenmerk der beiden Autoren gilt. Sie verstehen die Leitungsbahn, die das Verhältnis der beiden Molekülsorten darstellt, als ein ›Stimulus-Response‹-System. Die Konzentration der als Stimulus bzw. als Antwort dienenden Molekülsorten p42 MAPK bzw. Cdc2-cyclin B wird mit den Buchstaben S bzw. A und A* symbolisiert, wobei A* die Konzentration der aktivierten Cyclin-Moleküle darstellt. Es findet aber auch eine Umkehrreaktion statt, bei der aktivierte Moleküle deaktiviert werden. Dieser Vorgang wird von der Anwesenheit der hypothetischen Molekülsorte I begünstigt. Die Differentialgleichung, von der die zeitliche Veränderung von A* wiedergegeben wird, lautet: 120 dA* ¼ k1 :S:A þ k2 :A*:A–k–1 :I:A* dt
(2.15)
Durch einige Annahmen – unter anderem, dass die Gesamtkonzentration Atot aller Cdc2-cyclin B-Moleküle konstant bleibt (Atot = A + A* = const.) – können die Autoren eine nichtlineare Differentialglei-
120 Die in Abschn. 1.1.g dieses Kapitels erläuterte chemische Kinetik liefert die Basis der Ableitung dieser Differentialgleichung.
212 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
chung ableiten, deren erstes Glied die dritte Potenz aufweist, womit bistabiles Verhalten errechnet werden kann. Die Autoren zeigen, dass dies tatsächlich der Fall ist, womit das Stimulus-Response-System ›p42 MAPK – Cdc2-cyclin B‹ einen scharf definierten Schwellenwert besitzt. Die Konzentration des aktivierten Cdc2-cyclin B (d. h. von A*) am Anfang des Vorgangs (Anfangsbedingung) legt eindeutig fest, welche der beiden deutlich voneinander entfernten Endkonzentrationen, die stabile stationäre Zustände darstellen, mit Notwendigkeit erreicht werden (Ferrell & Xiong 2001, 231). Es liegt also ein dynamisches Verhalten vor, das den Abbildungen 2.15 und 2.10 entspricht. Auch in diesem Fall setzt das dynamische Verhalten des Systems die Existenz mehrerer konstanter Größen – wie der Konzentrationen S und I und der Kontrollparameter k1, k–1, k2 – und ihre gute gegenseitige Ausbalancierung voraus. Das System verhält sich nur innerhalb eines begrenzten Bereichs dieser Größen bistabil (ebenda 231). Die am meisten zu beachtende Eigenschaft des von den beiden Autoren vorgeschlagenen Modells besteht jedoch darin, dass bei kontinuierlicher Steigerung des Stimulus das System das bistabile Verhalten zugunsten eines monostabilen aufgibt, womit es sich interessanterweise genau umgekehrt verhält als das erste in diesem Abschnitt behandelte Beispiel einer Signal-Leitbahn. Auch in diesem Fall existiert ein deutlich festgelegter Schwellenwert, sodass die Art des dynamischen Verhaltens sich sofort ändert, wenn der Wert der Randbedingung S ihn überschreitet (ebenda 232). Das System wechselt von einer bistabilen Verhaltensweise zu einer monostabilen über und verweilt in ihr, auch wenn das Signal nicht mehr vorhanden ist. Solange der Stimulus unterhalb des Schwellenwertes SW bleibt, verweilt die System-Dynamik auf dem bistabilen Modus. Das Antwort-Molekül, das aktivierte Cdc2-cyclin B, erreicht nicht den für die Reifung der Eizelle benötigten Wert, wenn seine Anfangskonzentration sich nicht oberhalb der Separatrix befindet. Beim Überschreiten von SW ändert sich spontan die Teleonomie des Systems – es wird monostabil –, sodass dieses, unabhängig von der Anfangsbedingung, auf die inzwischen einzige Linie möglicher Endkonzentrationen springt. Alle diese Endwerte sind ausreichend, um die Reifung der Eizelle ›einzuschalten‹. Die Endkonzentration des Antwort-Moleküls springt nicht auf die untere Linie zurück, wenn der Schwellenwert unterschritten wird – also bei der Rückkehr zum bistabilen Modus –, sodass die Eizelle ihre Reife nicht einbüßt. 213 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
Response A* (Cdc2-cyclin B)
monostabiler Modus eingeschaltet (Reifung) Separatrix
ausgeschaltet (unreif) SW
bistabiler Modus
Stimulus S (p42 MAPK)
Abb. 2.17: Der plötzliche Wechsel des Systems vom bistabilen auf das monostabile Verhalten beim Überschreiten des Schwellenwertes SW (Ferrell & Xiong 2001, 233).
Dieser Effekt, der in der Theorie dynamischer Systeme als ›Hysterese‹ bezeichnet wird, stellt einen irreversiblen Übergang dar. In der Systembiologie dient der Hysterese-Effekt, der Bistabilität voraussetzt, unter anderem auch als ein Modell für die Erklärung des ›Gedächtnisses‹ von Zellen, d. h. ihres Vermögens, ihre während der Embryogenese durchgemachte Differenzierung beizubehalten, nachdem die dafür benötigten Stimuli längst erloschen sind (ebenda 233). Das für die Biologie so zentrale Phänomen der Bistabilität ist nicht notwendig an die Existenz positiver Rückkopplungen gebunden. Negative Rückkopplungen, bei denen der Zuwachs einer Größe ihre eigene weitere Produktion hemmt, sind bei den Signal-Leitungsbahnen sehr verbreitet (Downward 2001, 761). Ein gutes Beispiel für bistabile Signal-Leitungsbahnen bei negativer Rückkopplung bietet das sogenannte ›Delta-Notch intercellular Signaling‹, in dem ein Paar benachbarter Zellen einbezogen ist und das bei der Entwicklung differenzierter Gewebe während der Embryogenese von Bedeutung ist (Collier et al. 1996, 442). 1.2.c.2 Genetische Netzwerke Die Gesamtheit der in einer Zelle vorhandenen Gene hängt mit einer enormen Menge biologischer Funktionen zusammen. Die Zelle bedarf jedoch nur eines Teils ihrer genetischen Ausstattung permanent: der sogenannten ›konstitutiven Gene‹. Viele Gene ermöglichen speziellere Funktionen, die der Zelle nur unter besonderen Bedingungen 214 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
nützlich sind. Um Fehlfunktionen und Verschwendung von Energie zu vermeiden, die eine pausenlose Aktivierung dieser Gene zur Folge hätte, verfügt jede Zelle über die Fähigkeit, das Ein- und Ausschalten bestimmter Gene zweckmäßig zu regulieren. Die Mechanismen der Genregulation sind ein zentraler Gegenstand der modernen Molekular- und Systembiologie. Stuart Kauffman – einer der wichtigsten Pioniere der Computersimulation biologischer Vorgänge und somit auch der Systembiologie – ist ein entschiedener Vertreter der modernen Auffassung, die das genetische Material nicht als Befehlszentrale der Zelle begreift, sondern als ein dynamisches System, dessen Elemente miteinander wirkursächlich-kausal interagieren, wobei die Interaktionen durch Proteine realisiert werden: Gene lösen die Produktion von Proteinen aus, von denen einige auf bestimmte Gene aktivierend oder hemmend wirken, sodass geordnete Muster der Genregulation emergieren. Die heutigen Bemühungen der Modellierung und Simulation komplexer genomischer Vorgänge ist vor dem Hintergrund seiner Arbeiten über Netzwerke der Genregulation besser zu verstehen (Kauffman 1996, 145–173). 121 Der Antrieb für Kauffmans Arbeiten ist die schon zu Beginn seiner Forschungstätigkeit in den späten 1960er Jahren gewonnene Überzeugung, dass die Entstehung von Ordnung während der Ontogenese eines vielzelligen Organismus in erster Linie als Resultat der Selbstorganisation großer genetischer Netzwerke zu sehen und nicht allein auf die sogenannte ›natürliche Selektion‹ reduzierbar ist (ebenda 153). Die fundamentalen Vorgänge der Ontogenese sind die Zelldifferenzierung, die zur fortschreitenden Entstehung verschiedener Zellsorten führt, und die Morphogenese, d. h. der Zusammenschluss der Zellen zu Geweben und Organen. Die von Kauffman erbrachten Resultate sind bemerkenswert. Dennoch sind seine Modelle stark idealisiert, da sie sich mit einer vollkommen abstrakten, auf logischen Funktionen reduzierten Genregulation begnügt. Die aktuelle systembiologische Forschung versucht genomisches Werden auf eine Weise zu simulieren, die es als einen echten biochemischen Vorgang modelliert. Es werden experimentell ermittelte Substanzen einbezogen und die Dynamik ihrer chemischen Kausalität wird als System nichtlinearer Differentialgleichungen beschrieben. Die dabei entstehenden Gleichungssysteme bilden die heute bekannten genomischen Vorgänge und ihre kausalen 121
Vgl. auch: Kauffman 1997, 115–131.
215 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
Bindungen auf eine Weise ab, die ein Kompromiss zwischen den Erkenntnisgrenzen bezüglich der enormen molekularen Vielfalt, den Grenzen der Berechenbarkeit komplexer Vorgänge und der praktischen Relevanz der auf dieser Basis gewonnenen Erkenntnisse darstellt. Dieser Arbeitsweise entspricht ein vor einigen Jahren in der Zeitschrift Nature veröffentlichter Artikel, der als ein Meilenstein für die Entwicklung der sogenannten synthetischen Biologie gilt. 122 Timothy Gardner und seine Mitarbeiter beschreiben theoretisch die Dynamik des antagonistischen Verhältnisses zwischen zwei Genen des für die genetische Forschung sehr wichtigen Bakteriums Escherichia coli und testen ihre Voraussagen anhand von Experimenten mit Zellkulturen (Gardner et al. 2000). Beide Gene hemmen sich gegenseitig, denn wenn eins von beiden aktiv ist, erzeugt es Proteine, die die Aktivierung des jeweils anderen blockieren. Es handelt sich dabei um zwei sogenannte ›Regulationsgene‹, denn ihre Aufgabe besteht ausschließlich in der Kontrolle anderer Gene und nicht in der Erzeugung von Produkten, die enzymatische und strukturelle Funktionen in der Zelle übernehmen, wie dies bei den sogenannten ›Strukturgenen‹ der Fall ist. Das Modell der beiden Autoren beruht auf dem Operon-Modell der bakteriellen Genregulation, das 1961 von François Jacob und Jacques Monod vorgeschlagen wurde. Dem Operon-Modell zufolge kommt unmittelbar vor einem Stück der DNS, das als ein Gen erkannt werden muss, eine Bindungsstelle vor – ein sogenannter ›Promotor‹. Dabei handelt es sich um eine kurze Nukleotidsequenz, die von der RNS-Polymerase – dem Enzym, das die Erzeugung (Transkription) der mRNS (messenger-RNS), auf der Basis der DNS-Struktur, katalysiert 123 – als Bindungsstelle erkannt wird (Brown 1999, 69). Jedes Escherichia-coli-Bakterium enthält ungefähr 7000 RNS-Polymerasen, von denen jederzeit zwischen 2000 und 5000 an Transkriptionen beteiligt sind (ebenda 68). Jacob und Monod erkannten, dass es Gene gibt, deren Produkte Proteine sind, die sich an die Operatoren bestimmter Gene anheften, sodass 122 Dies wird im Leitartikel »Ten years of synergy« der Redaktion von Nature (Vol. 463), das 2010 veröffentlicht wurde, berichtet. 123 Die Transkription ist der erste Schritt der Genexpression, des Vorgangs, der von den Genen zu den Proteinen führt. Sie besteht in der Übersetzung der zu exprimierenden Teile der DNS (Gene) in RNS-Sequenzen. Diese RNS-Transkripte (mRNS) durchlaufen anschließend die sogenannte ›Translation‹, den zweiten Schritt der Genexpression, der zur Synthese von Proteinen führt (Brown 1999, 56 f.).
216 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
Induktor 2 (-) Promotor 1 (Hemmung) (-)
(-) (Hemmung) Promotor 2 (-) Induktor 1
Abb. 2.18: Der Graph veranschaulicht die gegenseitige Hemmung von Regulationsgenen, deren Produkte die Proteine Repressor 1 und Repressor 2 sind (Gardner et al. 2000, 339). Die in Klammern gesetzten Minus-Zeichen repräsentieren Hemmungen.
die RNS-Polymerase diese Gene nicht transkribieren kann, womit sie ›ausgeschaltet‹ werden. Solche die Transkription unterdrückende Proteine heißen ›Repressoren‹. Die Anwesenheit bestimmter Stoffe (beim Escherichia coli z. B. von Laktose) deaktiviert bestimmte Repressoren, womit die von ihnen blockierten Gene wieder ›eingeschaltet‹ werden. Ein solcher Stoff wirkt als ›Induktor‹ (ebenda 175). Bei dem in der Zeitschrift Nature veröffentlichten Artikel geht es um die gegenseitige Behinderung zweier Gene. Jeder der Promotoren der beiden Gene wird von einem Repressor-Protein blockiert. Die Synthese vom Repressor 1 (bzw. 2), benötigt ein Gen, dessen Transkription vom Promotor 2 (bzw. 1) in Gang gesetzt wird. 124 Bei diesem Vorgang sind auch zwei Stoffe, Induktor 1 und 2, als Randbedingungen beteiligt, denn ihre Anwesenheit hemmt die Hemmungsvorgänge, womit sie im Endeffekt das Einschalten der blockierten Gene unterstützt. Die Dynamik dieses Systems negativer Rückkopplungen kann von zwei Zustandsgrößen beschrieben werden – den Konzentrationen der beiden Repressor-Moleküle. Ihre Veränderung kann von zwei Differentialgleichungen wiedergegeben werden (Gardner et al. 2000, 339): 125
124 Bei einem der Repressoren handelt es sich um den lac-Repressor, der im OperonModell von Jacob und Monod von zentraler Bedeutung ist. 125 Vgl. auch: Ebeling et al. 1990, 149 f. Eine neuere formale Analyse des Operon Modells liefert Van Hoek (2008, 17–20).
217 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
du �1 ¼ –u d� 1 þ v�
(2.16)
dv �2 ¼ –v d� 1 þ u� Bei diesen dimensionslosen Gleichungen 126 entsprechen die Variablen u und v jeweils den Konzentrationen der Repressor-Proteine 1 und 2, τ entspricht der Zeit, die Größen α1 und α2 stehen für die effektiven Syntheseraten der Repressor-Proteine, β symbolisiert die Kooperativität der Repression von Promotor 2 und γ die der Repression von Promotor 1 (ebenda). Die Größen α1, α2, β und γ sind die Kontrollparameter, die von den Experimentatoren beeinflusst werden können, aber bei jedem einzelnen Versuch konstant gehalten werden. Ähnlich wird die Intensität der Randbedingungen, d. h. die Konzentrationen der Induktoren geregelt, und zwar durch regelmäßiges Waschen der Zellkulturen und anschließende, einige Stunden anhaltendes Ausgesetzt-Werden in einem frischen Medium, das die jeweils erwünschte Menge der Induktoren enthält (ebenda 340 f.). Auch die Temperatur, der die Proben ausgesetzt werden, und die Länge ihrer thermischen Behandlung werden genau festgelegt, um die Variation der Kontrollparameter zu steuern (ebenda 340). Für bestimmte Kombinationen der Kontrollparameter zueinander entsteht auch in diesem Fall eine bistabile Teleonomie. Die Autoren zeigen, dass der genetische Schaltkreis der Abbildung 2.18 bei geschickter Einstellung der Kontrollparameter einen scharfen Übergang vom bistabilen zum monostabilen Verhalten (ähnlich dem von Abb. 2.17) und umgekehrt präsentiert (ebenda). Die Bistabilität des Operon-Modells behandeln auch Ebeling und seine Mitarbeiter (1990, 149 f.). Im bistabilen Modus kann das System zwei verschiedene stabile stationäre Endzustände erreichen. Der entsprechende Zustandsraum, mit einigen der möglichen Trajektorien, bietet dann das Bild von Abb. 2.19 an. Für alle Anfangszustände oberhalb der Separatrix gibt es theoretisch keine Möglichkeit, den Endzustand Z2 zu erreichen. Ihre Tra126 Bei dimensionslosen Gleichungen sind die Einheiten durch eine geeignete Substitution der Variablen entfernt worden. Genauer genommen die Buchstaben u und v bzw. τ repräsentieren nicht die Konzentrationen der zwei Proteine bzw. die Zeit, sondern nur Größen die mit den Konzentrationen und der Zeit korreliert sind.
218 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
u
Separatrix Z1 Attraktor
Z2 Attraktor
v
Abb. 2.19 (ausgehend von Gardner et al. 2000, 340; Ebeling et al. 1990, 150 und Koutroufinis 2014b, 109): Bei einer bestimmten Abstimmung der Kontrollparameter zueinander emergiert eine bistabile Teleonomie des Systems. Es existieren dann zwei stabile stationäre Endwerte Z1 und Z2, die für eine hohe bzw. niedrige Endkonzentration von u bzw. v stehen und umgekehrt.
jektorien überführen sie notwendig zum Endzustand Z1. Analoges gilt für alle Zustände unterhalb der Separatrix. Durch Variation der Anfangsbedingung kann das bistabile System als ›genetischer Schalter‹ (genetic toggle switch) verstanden werden. Wie es typisch für bistabile Dynamiken ist, divergieren in der Nähe der Separatrix ursprünglich sehr eng benachbarte Trajektorien stark. 127 Genauso wie bei einer bistabilen Signal-Leitungsbahn können auch hier quantenphysikalische Effekte und thermische Fluktuationen spontan das System vom einen Bereich des Zustandsraums in den anderen versetzen, wenn sein Anfangszustand sich sehr nah an der Separatrix befindet. Die Separatrix verbietet nur unter rein theoretischen, d. h. mathematischen Bedingungen, dass das System von dem einen Gebiet des Zustandsraums in das andere wechselt. Unter reellen physischen Bedingungen – das bedeutet an dieser Stelle: wenn zufällige Fluktuationen vorhanden sind – kann es in der unmittelbaren Nähe der Separatrix zu solchen Übergängen kommen. Ähnlich wie die oben besprochenen Signal-Leitungsbahnen sind
127
Siehe Abb. 2.15.
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II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
derartige genetische Schalter – trotz ihrer auffälligen Einfachheit – für die Zelldifferenzierung interessant, wie auch Kauffman feststellt: »Im einfachsten Fall können zwei Gene sich gegenseitig unterdrücken […] Wenn Gen 1 von Gen 2 unterdrückt wird und umgekehrt, dann könnte ein derartiges System zwei verschiedene Muster der Genaktivität aufweisen. Im ersten Muster wäre Gen 1 aktiv und würde Gen 2 unterdrücken; im zweiten Muster wäre Gen 2 aktiv und würde Gen 1 unterdrücken. Mit zwei verschiedenen, stabilen Mustern der Genumsetzung könnte dieser kleine genetische Schaltkreis zwei verschiedene Zelltypen erzeugen. Jede dieser Zellen wäre das Produkt eines alternativen Musters desselben genetischen Schaltkreises« (1996, 150; Hervorhebung von S. K.).
Solche Überlegungen unterstreichen die Bedeutung nichtlinearer genetischer Netzwerke für die Entstehung organismischer Ordnung bei der Embryogenese, was für die moderne Biologie von großer Bedeutung ist, da in den letzten Jahren die Sensibilität bezüglich der Häufigkeit nichtlinearer Interaktionen zwischen den Genen rapide zugenommen hat (Laubichler 2005a, 121). Ein anderer Artikel, der im selben Heft der Zeitschrift Nature erschienen ist, demonstriert, dass negative Rückkopplungen bei genetischen Interaktionen unter geeigneten Bedingungen zu Oszillationen führen können, die den selbsterregten chemischen Schwingungen stark ähneln. Das von Michael Elowitz und Stanislas Leibler entworfene Modell ist später unter dem Namen ›Repressilator‹ bekannt geworden und gilt ebenfalls als Meilenstein für die Entwicklung der synthetischen Biologie. 128 Die beiden Autoren untersuchen theoretisch und experimentell ein kleines synthetisches genetisches Netzwerk des Bakteriums Escherichia coli, das aus drei sich zyklisch gegenseitig hemmenden regulativen Genen besteht (Elowitz & Leibler 2000). Die Expression jedes einzelnen der Gene tetR, λcl und lacl führt zur Produktion eines Repressor-Proteins, das einen der Promotoren der jeweils anderen beiden Gene blockiert. Dieser Kreis der genetischen Hemmungen stellt ein dynamisches System dar, dessen jeweiliger Gesamtzustand in einem sechsdimensionalen Zustandsraum abgebildet werden kann: Seine Dimensionen symbolisieren die Konzentrationen der drei Sorten der Repressor-Proteine (TetR, λcl und Lacl) und die Konzentrationen der mit ihnen korrespondierenden Sorten von mRNS-Molekülen. Das 128 Dies wird ebenfalls im Leitartikel »Ten years of synergy« der Redaktion von Nature (Vol. 463), vom Jahre 2010 berichtet. Siehe Fußnote 122 dieses Kapitels.
220 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
TetR tetR (-)
cl
cl
(-)
lacl (-)
Lacl
Abb. 2.20: Der Graph der drei sich zyklisch (gegen den Uhrzeigersinn) hemmenden Gene (Elowitz & Leibler 2000, 336). Die nicht kursiv geschriebenen Zeichen ›TetR‹, ›λcl‹ und ›Lacl‹ repräsentieren die Repressor-Proteine.
zeitliche Verhalten des Systems wird von sechs miteinander gekoppelten Differentialgleichungen beschrieben (ebenda 337). Dabei werden die drei Kontrollparameter α, β und n verwendet, die von den Experimentatoren für jeden einzelnen Versuch entsprechend eingestellt werden. In Abhängigkeit von den jeweiligen Werten der Kontrollparameter und Anfangsbedingungen können zwei verschiedene Modi des dynamischen Verhaltens emergieren – Monostabilität und Oszillativität. Dies kann mit Hilfe des Kontrollparameter-Raums bildlich dargestellt werden. Eine bestimmte Kombination der Werte von α und β, die sich im linken Bereich dieses abstrakten Raums befindet, lässt nur einen einzigen stationären Endzustand zu, der immer stabil ist (Monostabilität). 129 Für jede einzelne Kombination von α und β im rechten Bereich existiert ebenfalls ein einziger stationärer Endzustand, der jedoch immer instabil ist, sodass der Gesamtzustand des Systems der sechs Biomolekül-Sorten um diesen Zustand periodisch kreist – ein sechsdimensionaler Grenzzyklus stellt sich in diesem Fall ein. 130 Viele Forscher erachten die Simulationen oszillativer biomolekularer Dynamik für den Schlüssel zum Verständnis der biologischen Uhren, z. B. der circadianen Rhythmen, die bei Zellen und größeren Lebewesen eine Periode von ca. 24 Stunden aufweisen (z. B. der Schlaf/Wach-Wechsel des Menschen) (Alberts 2004, 1723). 129 130
Siehe Abb. 2.9 und 2.13(a). Siehe Abb. 2.11(b).
221 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
β 104 Monostabilitä t 10³ 10²
Oszillativitä t
10¹
101
102
103
104
105
α
Abb. 2.21: Der Kontrollparameter-Raum ist in zwei scharf voneinander abgegrenzten Bereichen geteilt, von denen jedes einen verschiedenen dynamischen Modus erlaubt. Dieses Bild entsteht für n = 2,1 und α0 = 0 (Elowitz & Leibler 2000, 336).
1.2.c.3 Metabolische Netzwerke Alle bisher beschriebenen Vorgänge verlangen nach Energie. Jeder Organismus benötigt Energie zur Aufrechterhaltung seiner Struktur. Der energetische Haushalt eines Organismus wird durch seinen Metabolismus geregelt. Aber auch die für den Aufbau und die Regeneration des Organismus erforderlichen Stoffe werden durch den Stoffwechsel geliefert. Die metabolischen Vorgänge sind biochemische Reaktionen, die bei Zimmertemperatur extrem langsam ablaufen, weshalb sie durch Katalysatoren (Enzyme) hochgradig beschleunigt werden. Die Glykolyse ist eine außerordentlich wichtige metabolische Reaktionskette, die in den Zellen der meisten Organismen, einschließlich dieser, die ohne Sauerstoff leben (Anaerobier), vorgeht. Bei der Glykolyse, die ein Energie freisetzender, also katabolischer Vorgang ist, findet eine Oxydation statt, ohne die Beteiligung molekularen Sauerstoffs. Diese Reaktion, bei der in etwa 50 % der theoretisch bei der Oxydation von Glukose zu CO2 und H2O freigesetzten Energie eingefangen wird (Alberts et al. 2004, 122), entstand vermutlich sehr früh in der Evolution des Lebens, noch bevor die photosynthetisierenden Organismen die Atmosphäre mit Sauerstoff anreicherten (ebenda). Bei der Glykolyse wird durch den Abbau von Glukose der energiereiche Stoff ATP (Adenosin-Triphosphat) synthe222 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
tisiert, der als Hauptträger chemischer Energien in Zellen dient. In einer typischen Zelle befinden sich grob geschätzt ca. 109 ATP-Moleküle, die in einem dermaßen schnellen Fließgleichgewicht gehalten werden, dass sie in einer bis zwei Minuten vollständig verbraucht und wieder erzeugt werden (ebenda). Während der Glykolyse wird zwar auch ATP verbraucht, aber die Endbilanz der Glykolyse, die mehrere Zwischenschritte hat, ergibt für jedes abgebaute Glukosemolekül zwei ATP-Moleküle. Biochemische Untersuchungen haben gezeigt, dass die mit der Glykolyse zusammenhängenden Konzentrationen zeitlichen Oszillationen unterworfen sind. Die glykolytischen Oszillationen gelten als der Prototyp periodischer Phänomene in der Biochemie (Goldbeter 1997, 31). 131 Für die systemtheoretisch-mathematische Beschreibung lebendiger Vorgänge ist dies von besonders großer Bedeutung, da die theoretischen Untersuchungen ergeben haben, dass einer der Zwischenschritte der Glykolyse als ein »typisches nichtlineares Phänomen« beschrieben werden kann, welches »in der Tat ein Oszillationsphänomen, eine chemische Uhr, hervorrufen kann«, wobei die theoretisch errechneten Werte der biochemischen Konzentrationen und ihrer Schwingungsperioden mit den Messdaten gut übereinstimmen (Prigogine & Stengers 1990, 163). Die glykolytische Oszillation übt eine regelnde Wirkung auf alle energetischen Vorgänge der Zelle aus, die von der ATP-Konzentration abhängig sind, was die Bedeutung der theoretischen Durchdringung dieses Phänomens beträchtlich erhöht. Die Glykolyse besteht aus einer Serie von zehn Teilreaktionen, von denen jede ein anderes Glykolyse-Zwischenprodukt bildet, das als Substrat für den jeweils nächsten Schritt dient (Alberts et al. 2004, 123 f.). Jede dieser Reaktionen wird von einem spezifischen Enzym katalysiert. Bei dem für die Oszillationen entscheidenden dritten Schritt katalysiert das Enzym Phosphofrukto-Kinase (PFK) eine Reaktion des Zwischenprodukts Fructose-6-Phosphat (F6P) mit ATP, bei der Fructose-1,6-Biphoshat (FBP) und ADP (Adenosin-Diphosphat) entstehen. Letzteres wirkt allerdings aktivierend auf den Katalysator zurück. ATP dagegen wirkt hemmend auf diesen, was als ›allosterische Hemmung‹ bezeichnet wird. Dieses Wechselspiel von Hemmung und Aktivierung ist sehr zweckmäßig, denn bei organismischen Aktivitäten wird ATP verbraucht und ADP erzeugt. Eine Anhäufung 131
Vgl. auch: Schneider & Münster 1996, 79.
223 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
von ADP in der Zelle bedeutet also, dass die ATP-Reserven aufgefüllt werden müssen, d. h., dass die Glykolyse angeregt werden muss, da bei ihr insgesamt doppelt soviel ATP erzeugt als verbraucht wird (ebenda 125). 132 Dank der aktivierenden Wirkung von ADP auf das Enzym findet dies tatsächlich auch statt. Besondere Verdienste bei der mathematischen Analyse der glykolytischen Oszillation kommen Goldbeter zu, der unmittelbar von Prigogine und seiner Schule beeinflusst wurde. Seine Aufmerksamkeit gilt dem dritten Zwischenschritt der Glykolyse, d. h. der Reaktion: F6P + ATP → ADP + FBP Das Modell, das er anbietet, um den Kern des Oszillations-Mechanismus zu veranschaulichen, beruht auf der gut begründeten Annahme, dass für die Oszillation das Paar ATP und ADP eine viel größere Rolle spielt als das Paar F6P und FBP, das somit ignoriert werden kann (Goldbeter 1997, 43). Auf der Basis der chemischen Kinetik entstehen dann mehrere recht komplizierte miteinander gekoppelte Differentialgleichungen, aus denen durch einige Zwischenschritte folgendes System dimensionsloser Gleichungen 133 abgeleitet werden kann (ebenda 46 f.): dðatpÞ ¼ �–�:� ¼ fðatp; adpÞ d�
(2.17)
dðadpÞ ¼ q:�:�–ks ðadpÞ ¼ gðatp; adpÞ d� Die dimensionslosen Variablen atp und adp werden aus der Division der Konzentrationen der beiden Metabolite ATP und ADP mit einer Konstante abgeleitet. Die Funktion φ ist eine komplizierte algebraische Gleichung, die sowohl im Zähler als auch im Nenner hohe Potenzen der Variablen atp und adp enthält (ebenda 48). Somit bilden beide Gleichungen ein System gekoppelter nichtlinearer Differentialgleichungen, dessen Lösung eine interessante Dynamik offenbaren kann. Die Größen ν und ks sind Konstanten. Dabei symbolisiert ν die Belieferung des Systems mit ATP (dividiert durch eine Konstante) – ν ist also eine vom Theoretiker vorgegebene Randbedingung, die das 132 133
Vgl. auch: Goldbeter 1997, 40. Was dimensionslose Gleichungen sind, ist in Fußnote 126 dieses Kapitels erläutert.
224 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
ATP
ADP Abb. 2.22: Die Oszillation der dritten Teilreaktion der Glykolyse als Grenzzyklus (ausgehend von: Goldbeter 1997, 52).
modellierte System stofflich versorgt und somit seine Öffnung regelt. Beim ks handelt es sich um die Reaktionsgeschwindigkeitskonstante des Zerfalls von ADP, ks ist also ein Kontrollparameter. Die Größe σ repräsentiert die maximale Rate der Enzymreaktion (dividiert durch eine Konstante) und q ist eine Konstante, die sich aus dem Quotient der Produkte bestimmter Kontrollparameter ergibt (ebenda). Die Lösung des Gleichungssystems 2.17 zeigt, dass diesem System grundsätzlich drei verschiedene Verhaltensmodi zur Verfügung stehen. Der entsprechende Kontrollparameter-Raum besteht aus drei Bereichen, die scharf voneinander abgegrenzt sind und von denen jeder ein breites Spektrum der Kombination von Kontrollparametern darstellt (ebenda 51). 134 Einer dieser Bereiche enthält Kombinationen, die ein regelmäßiges oszillierendes Verhalten beider Metabolite hervorbringen. Dieses kann durch einen stabilen Grenzzyklus abgebildet werden. Unabhängig von den Anfangsbedingungen erreichen alle Trajektorien diesen Zyklus mit Notwendigkeit. Oszillationen können sich übrigens bei metabolischen Pfaden auch bei negativen Rückkopplungen einstellen (Bruggeman et al. 2005, 386). Decroly und Goldbeter zeigten 1982, dass die Koexistenz mehrerer stabiler Grenzzyklen bei einem einzigen metabolischen Pfad möglich ist. Für solche Fälle schlugen sie die Bezeichnungen ›birhythmi134 Die Dimensionen dieses abstrakten Raums sind zwei Größen, die den Aktivitätszustand des Enzyms (degree of cooperativity) festlegen (Goldbeter 1997, 48).
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S
P Abb. 2.23: Birhythmizität: Zwischen den zwei stabilen Grenzzyklen befindet sich ein instabiler (ausgehend von: Goldbeter 1997, 116).
city‹ und ›trirhythmicity‹ vor (Goldbeter 1997, 91, 126, 502). Diese Verhaltensmodi erfordern mehr als eine positive Rückkopplung (ebenda 91 f., 115 f., 502). Zwei gekoppelte Enzymreaktionen katalysieren aus demselben Substrat S das Produkt P. Dieses System verhält sich birhythmisch, d. h. sein Zustand kann sich, in Abhängigkeit von der Anfangsbedingung, auf zwei verschiedene stabile Grenzzyklen hinbewegen. Dies setzt voraus, dass sich zwischen ihnen ein instabiler Grenzzyklus befindet. Er wirkt wie eine Separatrix, da er den Zustandsraum in zwei große Bereiche teilt: Alle Trajektorien innerhalb dieses Grenzzyklus tendieren zum inneren stabilen Grenzzyklus, all die anderen dagegen zum äußeren. Die Birhythmizität ist eine besondere Form der Bistabilität, die viel seltener vorkommt als die schon behandelte Form dieses Phänomens 135 (ebenda 91). Beiden Modellen Goldbeters liegt eine bei der Modellierung biochemischer Pfade häufig gemachte Annahme zugrunde: Die inhomogene räumliche Verteilung der Metabolite wird vernachlässigt, was den Zustandsraum auf sehr wenige Dimensionen beschränkt und die Berechnungen stark vereinfacht. Beide Modelle liefern jedenfalls gute Beispiele für strukturbildende Attraktoren, die die Unbestimmtheit der Entwicklung der modellierten Vorgänge stark einschränken. Denn in Abhängigkeit von den Anfangsbedingungen kanalisieren sie mit Notwendigkeit die Trajektorien in gewisse, exakt vorhersagbare, Regionen des Zustandsraums. Damit erhöhen sie die Bestimmtheit bzw. Vorhersagbarkeit
135
Siehe Abschn. 1.1.g.2 und Abb. 2.10, 2.15 und 2.19.
226 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
der zukünftigen Zustände des Systems, was Synonym für die Abnahme seiner Entropie ist. 1.2.c.4 Simulationen ganzer Zellen Viele Biowissenschaftler, vor allem Systembiologen, reden von Organismen so, als ob die Theorie dynamischer selbstorganisierter Systeme sie nicht nur modellieren, sondern auch ihr Wesen erfassen könnte. Sie planen Computersimulationen ganzer Lebewesen mit Hilfe der innerhalb der nächsten Jahrzehnte zu entwickelnden Großrechner. Die sogenannte ›Tokyo declaration‹ ist ein typischer Repräsentant solcher Ansichten: »Recent advances in Systems Biology indicate that the time is now ripe to initiate a grand challenge project to create over the next thirty years a comprehensive, molecules-based, multi-scale, computational model of the human (›the virtual human‹), capable of simulating and predicting, with a reasonable degree of accuracy, the consequences of most of the perturbations that are relevant to healthcare« (2008, 879).
Es hat natürlich auch bescheidenere Pläne gegeben, die jedoch den gleichen Geist atmeten, da sie von der Berechenbarkeit ganzer Zellen (›whole cell simulations‹) (Tomita 2001), 136 ja sogar der Embryogenese vielzelliger Organismen (Murphy 1997) ausgingen. Damit wird der Theorie dynamischer Systeme ontologische und nicht nur heuristische Relevanz zugesprochen. Deswegen ist diese Entwicklung philosophisch interessant. Einige Systembiologen versuchen durch die Koppelung vieler biomolekularer Pfade zu großen Netzwerken ganze Zellen, d. h. den Zellzyklus zu modellieren. Ein für solche Versuche charakteristisches Beispiel stellt ein vor einigen Jahren von Panning, Tyson u. a. veröffentlichtes Modell dar. Die Autoren haben den Zellzyklus der Hefe auf ein dynamisches System von sechsunddreißig Variablen reduziert (Panning et al. 2007). Für die Lösung der dafür benötigten gleichen Anzahl gekoppelter nichtlinearer Differentialgleichungen wurden hundertdreiundvierzig Kontrollparameter benötigt. Dieses Verhältnis von Variablen zu Kontrollparametern – 36 : 143 � 1 : 4 – ist nicht untypisch für die Modellierungen biomolekularer Netzwerke als sich selbst organisierende dynamische Systeme. Ein inzwischen sehr bekannt gewordenes ›whole-cell‹-Modell 136
Vgl. auch: Normile 1999, Gibbs 2001.
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II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
wurde von einer Gruppe von Biophysikern und Biotechnologen der Stanford-Universität und des Craig Venter Institutes vor wenigen Jahren veröffentlicht. Die Computersimulation des Zellzyklus des Bakteriums Mycoplasma Genitalium »includes all of its molecular components and their interactions« (Karr et al. 2012, 389; Hervorhebung von S. K.). Das Modell »includes more than 1900 experimentally observed parameters«, die für die Berechnung weniger hundert Variablen nötig sind (ebenda 391). Die meisten dieser Kontrollparameter »were implemented as originally reported« in »over 900 publications« und »several other parameters were carefully reconciled« von den Modellierern selbst (ebenda). Auch in diesem Fall sieht man, dass die Zahl der Kontrollparameter – d. h. fixierter extern vorgegebener Größen, die Anzahl der Variablen, in deren Dynamik die Selbstorganisation des Systems besteht – um das Mehrfache übersteigt. 1.2.d
Zur Formalisierung der Embryo- bzw. Morphogenese
Ludwig von Bertalanffy soll in der embryonalen Entwicklung das zentrale Problem der Theoretischen Biologie gesehen haben. Die fundamentalen Vorgänge der Embryogenese sind die Zelldifferenzierung und die Morphogenese bzw. Gestaltveränderung. Die tierische Embryogenese ist zweifelsohne die mit Abstand interessanteste. Sie verläuft sehr dramatisch und unterstreicht damit, wie Lynn Margulis und Dorion Sagan betonen, dass im Tierreich der höchste Grad an Individualität im Vergleich zu allen anderen Lebensreichen erreicht worden ist (1999, 126). Die Morphogenese ist an massiven Zellwanderungen verschiedener Art innerhalb des Embryos gebunden, als müsste das Tier schon beim Uranbruch seines Lebendigseins mit der Erfahrung der zielstrebigen Bewegung durchtränkt werden. Deleuze gelingt es, diesem dramatischen Werden Ausdruck zu verleihen: »Es liegt notwendig etwas Grausames in dieser Weltentstehung, die ein Chaosmos ist […]. Man gräbt Räume, man verlangsamt die Zeit nur um den Preis von Torsionen und Verschiebungen, die den ganzen Körper mobilisieren, gefährden« (1992, 276 f.).
Die Individuen müssen im Fluss ihrer Entstehung »die Rutschbewegungen und die Rotationen zu ertragen vermögen« (ebenda). Mit dem Aufkommen des biosystemischen Emergentismus verschiebt sich allmählich das Verständnis der embryonalen Entwick228 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
lung von einer vom genetischen Programm gesteuerten hin zu einem selbstorganisierten Werden, das die Dynamik eines gewaltigen biomolekularen Netzwerks darstellt. Kauffman, dessen Arbeiten über genetische Netzwerke eng mit der Problematik der Embryogenese verknüpft sind, hat schon vor mehreren Jahren die Stoßrichtung der neuen Perspektive auf die Ursachen der embryonalen Zelldifferenzierung gut zum Ausdruck gebracht: »Sie ist nicht explizit in das System hineinprogrammiert worden, sondern ergibt sich als Folge seiner Struktur. Nach diesem Modell wäre die Zelldifferenzierung die Reaktion auf eine Störung, die eine Zelle in das Attraktionsgebiet eines anderen Zelltyps befördert. (Was vom Standpunkt des Modells als ›Störung‹ zu interpretieren ist, kann im Verlaufe der Entwicklung gleichwohl regelmäßig auftreten.) In einem durch kanalisierende Funktionen bestimmten Regulationssystem vermag sich jedoch jeder Zelltyp nur in eine kleine Zahl alternativer Zelltypen direkt zu differenzieren, da jeder Attraktor nur zu wenigen anderen Attraktoren nahe benachbart ist« (Kauffman 1991, 99).
Dass eine bestimmte, besonders gut vorhersagbare Endform bei der Embryogenese entsteht, kann mit den Mitteln des nichtlinearen Teleonomismus nur als Resultat eines embryogenetischen Attraktors verstanden werden. Der berühmte Biologe und Embryologe Conrad Waddington hat die vom nicht ›orthodoxen‹ großen Genetiker Sewall Wright 137 eingeführte Idee des ›Genotypen-Raums‹ für das formale Verständnis der embryogenetischen Strukturbildung fruchtbar gemacht: »Wir können uns einen Raum denken, der für jedes einzelne Gen eine Dimension enthält. Ein spezieller Genotypus kann dann als ein Punkt in diesem Raum dargestellt werden. Nun entwickelt sich aus einem solchen Genotypus ein zugehöriger Phänotypus, der wiederum als ein Punkt in einem vieldimensionalen Phänotypen-Raum abgebildet werden kann. Wir müssen 137 Sewall Wright verdankt die Evolutionsbiologie die Konzeption der sogenannten ›Fitness-Landschaften‹. Er hat aber auch gewisse, dem biologischen Mainstream gar nicht willkommene, Ansichten vertreten, in denen, Mayr zufolge, »sich immer noch ein Nachhall vitalistischen Denkens feststellen« lässt (1991, 23). Wright war einer der wenigsten Biologen, die sich mit philosophischen Fragen auseinandersetzten. Er arbeitete philosophisch mit dem Prozesstheologen und bekannten Whitehead-Schüler Charles Hartshorne zusammen, mit dem ihn auch eine lebenslange Freundschaft verband. Wright bezweifelte, dass Bewusstsein durch anwachsende materielle Komplexität emergieren kann und betrachtete es als eine inhärente Eigenschaft der Materie, die schon in den Elementarteilchen in einer Urform vorhanden ist.
229 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
aber bedenken, daß zwischen diesen beiden Räumen eine ganze Kette von Prozessen liegt, bei denen die verschiedenen genetischen Instruktionen sowohl miteinander als auch mit den Gegebenheiten der Umwelt, in der sich der Organismus entwickelt, in Wechselwirkung treten. Das System bewegt sich dabei gleichsam vom genetischen Raum in den Phänotypen-Raum, indem es einen ›epigenetischen Raum‹ durchquert, also einen Raum der Entwicklungsvorgänge, die wir durch Vektoren oder Pfeile darstellen können« (Waddington 1970, 347 f.; Hervorhebung von S. K.).
Die besonders hohe Vorhersagbarkeit des Verlaufs der Embryogenese belege, dass der Übergang vom Genotypus zum Phänotypus durch den epigenetischen Raum ein gesetzmäßiger Vorgang sei. »Das wichtigste Merkmal derartiger Systeme ist ihre Stabilität. Ich verwende dafür die Ausdrücke Kanalisierung oder Homöorhese […] Den Ausdruck Homöorhese verwenden wir dann, wenn das, was stabilisiert wird, nicht eine Größe ist, sondern ein bestimmter zeitlicher Ablauf. Wenn irgendein Ereignis ein homöorhetisches System zu verändern droht, so bringt der Kontrollmechanismus das System […] dorthin, wohin es normalerweise in der Zwischenzeit gelangt wäre […] Da derartige Prozeßketten aber ein wesentliches Element in der Entwicklung biologischer Systeme darstellen, habe ich einen Namen für sie erfunden, nämlich das Wort Chreode, abgeleitet vom griechischen χρῆ (es ist vorbestimmt oder notwendig) und ὁδός (Weg). Der epigenetische Raum ist nun dadurch charakterisiert, daß er eine Anzahl von Chreoden enthält, deren jede durch die Instruktionen im Genotypus definiert ist. Umwelteinflüsse können dazu tendieren, das System von seiner Bahn abzubringen, aber die Kanalisierung der Chreode […] wird das System wieder auf seine ursprüngliche Bahn zurückbringen« (ebenda 349 f., Hervorhebungen von S. K.).
Mit seiner Konzeption der chreodisch geleiteten Homöorhese führte Waddington die organizistische Überzeugung Bertalanffys von der determinierten Äquifinalität der Embryogenese weiter. Er ebnete den Weg für die systemtheoretische Annäherung an das embryonale Werden mit den Mitteln des nichtlinearen Teleonomismus der Theorie dynamischer selbstorganisierter Systeme. 1.2.d.1 Morphogene, Positionsinformation, morphogenetisches Feld Der systemtheoretische Zugang fasst das Problem der Morphogenese auf eine Weise zusammen, die wie eine Absage an jede Variante des Präformationismus 138 anmutet: 138
Siehe Fußnote 60 von Kap. I.
230 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
»[P]attern formation must be possible even if no prior pattern is present« (Meinhardt & Gierer 2000, 754).
Die Morphogenese findet dadurch statt, dass sich die Zellen, die sich an bestimmten Orten des Embryos befinden, auf eine Weise differenzieren, die diesen Orten gemäß ist, und anschließend ihre Differenzierung beibehalten. Die meisten Entwicklungsbiologen der Gegenwart gehen davon aus, dass die positionsgerechte Zelldifferenzierung von Einflüssen stimuliert wird, die von außerhalb der Zelle kommen. Folglich verfügt die noch undifferenzierte Zelle über keinen eigenen ›Kompass‹ ihrer Lage im Embryo und muss durch exogene Faktoren informiert werden – mit anderen Worten: »[D]ie Umgebung teilt einer Zelle mit, was sie zu tun hat« (Müller & Hassel 1999, 239 ff.).
Die biowissenschaftliche Antwort unserer Zeit auf die Frage nach der Beschaffenheit der kausalen Faktoren der Embryogenese kann – genauer: darf – nur auf raumzeitlich lokalisierte materielle Entitäten, d. h. Stoffe verweisen. Zentrale embryonale Vorgänge, wie die Achsenbildung und die Segmentierung, werden auf die Wirkungen bestimmter Signal-Stoffe, der sogenannten ›Morphogene‹, zurückgeführt. Sie würden der Zelle die ortsgerechte ›Positionsinformation‹ geben. Dieser von Hans Driesch vorweggenommene zentrale Begriff ist vom berühmten Entwicklungsbiologen und Wegbereiter der Computersimulation biologischer Musterbildung (pattern formation) Lewis Wolpert entscheidend geprägt worden, der sich die Vorstellungen des Mathematikers und Computer-Pioniers Alan Turing bezüglich rein chemisch induzierter Morphogenese zu eigen gemacht hat. Turings bahnbrechender Aufsatz »The Chemical Basis of Morphogenesis« von 1952 lebt von der Idee, dass die Verschaltung mehrerer biochemischer Vorgänge ein Vormuster in der Konzentrationsverteilung von Morphogenen erzeugt. Diesem stofflich-reellen Vormuster folgt dann die Zelldifferenzierung, die von den Morphogenen induziert wird. Die zündende Idee der systemtheoretischen Erforschung der Morphogenese ist nach wie vor die Überzeugung, dass ReaktionsDiffusionsmodelle zeigen können, wie aus einem homogenen Anfangszustand ein sogenanntes ›morphogenetisches Feld‹ – ein räumlich oder raumzeitlich inhomogenes Muster der Konzentration von 231 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
Signalmolekülen – entsteht, dessen geometrische Form der Verteilung dieser Stoffe sich in die Zelldifferenzierung einprägt. Dieser Vorstellung zufolge würde das morphogenetische Feld den Zellen die Information für ihre Stelle im embryonalen Körper durch räumlich bzw. raumzeitlich variable Gradienten der Konzentration der Signalstoffe geben. Dies würde zur Aktivierung bestimmter Gene dieser Zellen führen und ihre ortsgerechte Zelldifferenzierung zur Folge haben. Die Theorie Wolperts besagt, dass die örtliche Morphogenkonzentration ausreichend ist, um die Zelle über ihre Lage im Embryo zu informieren, denn »Zellen sind in der Lage, die lokale Konzentration zu messen und als Lageinformation zu nutzen« (Müller & Hassel 1999, 243). Die chreodische Kanalisierung des epigenetischen Raums Waddingtons kann also nicht nur auf »Instruktionen im Genotypus« zurückgeführt werden, wie dieser dachte (1970, 347), sondern bedarf essentiell der Kooperation der Zellen, denn jede einzelne von ihnen muss durch ihre eigene Aktivität – die nicht nur ihres Genoms, sondern auch ihrer Proteine bedarf – zuerst ›erfahren‹, wo sie sich überhaupt befindet. Die Aufnahme und Verarbeitung der Morphogene zu einer Positionsinformation verweist also auf eine kausale Verflechtung von Signal-, genetischen- und metabolischen Pfaden. Aus der Perspektive der aktuellsten systemtheoretischen Betrachtung des Lebendigen entstehen erst durch das Zusammenwirken dieser Gegebenheiten und ihren selektierenden Einfluss auf die Umwelt morphogenetische Faktoren, die früher als »genetische Instruktionen« bezeichnet wurden (ebenda 349). 1.2.d.2 Reaktions-Diffusions-Modelle nach Turing Die einfachsten Modelle, die auf der Basis der Ideen Alan Turings formuliert werden, zeigen, dass schon die gut abgestimmte Verschränkung von zwei miteinander interagierenden Molekülsorten stabile inhomogene Konzentrationsverteilungen erzeugen können. Das von Hans Meinhardt und Alfred Gierer schon in den frühen siebziger Jahren erweiterte Turing-Modell postuliert einen ›Aktivator‹, d. h. eine autokatalytische Molekülsorte, die eine bestimmte Art der Zelldifferenzierung auslöst, 139 und einen ›Inhibitor‹, der die Autokatalyse des Aktivators hemmt. Die Verschränkung besteht jedoch 139 Waddington hat als erster auf die Bedeutung der Autokatalyse bei der Embryogenese bestanden (Meinhardt & Gierer 2000, 754).
232 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
Vorla ufer des Aktivators (ρA)
Vorla ufer des Inhibitors (ρI)
(+) (--) (+)
(Autokatalyse)
Abbau (µ) Diffusion (DA)
Aktivator
(Heterokatalyse) Inhibitor
(Hemmung)
Abbau (ν) Diffusion (DI)
Abb. 2.24: Schematische Wiedergabe des Aktivator-Inhibitor-Modells nach Meinhardt und Gierer.
in der Tatsache, dass der Aktivator auch die Erzeugung seines eigenen Inhibitors katalysiert (Meinhardt 2003, 23). 140 Ausgehend von den Prinzipien der chemischen Kinetik 141 kann die Dynamik dieses Systems vom folgenden Paar gekoppelter nichtlinearer Differentialgleichungen beschrieben werden, bei dem A und I für die Konzentrationen des Aktivators und des Inhibitors stehen (Müller & Hassel 1999, 246): dA A2 ¼ �A þ dt I
�:A þ DA
d2 A dx2
dI ¼ �I : þ A2 dt
�:I þ DI
d2 I dx2
(2.18)
Die Größen ρA, μ, DA bzw. ρI, ν, DI sind Kontrollparameter, d. h. Konstanten. Sie stehen für die Quelldichten (ρA, ρI), d. h. die Intensität der Produktion der Vorläufer-Stoffe, die Zerfallsraten (μ, ν) und die Diffusionskonstanten von A bzw. I (DA, DI). Der Buchstabe x symbolisiert den Raum, in den die Stoffe A und I diffundieren. Der explosionsartigen Erhöhung der Konzentration des Autokatalysators A werden durch den Zerfall von A, durch seine Diffusion in benachbarte Orte und durch die von A katalysierte Produktion des Inhibitors I Grenzen gesetzt. Durch eine geeignete Wahl der Kontrollparameter können in Computersimulationen verschiedenste 140 141
Vgl. auch: Müller & Hassel 1999, 245 f.; Murray 1993, 379. Siehe Abschn. 1.1.g dieses Kapitels.
233 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
raumzeitliche Muster der Verteilung der Morphogene im Embryo wie Gradienten, Oszillationen und Wellen erzeugt werden, die – einmal generiert – eine gegen Störungen stabile Stationarität aufweisen (ebenda 245). Wo diese Wellen ankommen, lösen sie, kleinen Tsunamis gleich, gewaltige Veränderungen aus. Bei einem realen Embryo sind die Stoffe oder Vorgänge, die in den Modellen von Kontrollparametern repräsentiert werden, vom gesamtorganismischen Zustand und von der Beschaffenheit der aktivierend und hemmend wirkenden Molekülsorten abhängig, d. h. sie könnten vom Fall zu Fall, aber auch innerhalb einer einzelnen Embryogenese, verschiedene Werte annehmen. Meinhardt und Gierer haben demonstriert, dass verschiedene Varianten ihres Modells in der Lage sind, stabile räumliche Muster zu generieren, die denen der Pigmentierung von Muschelschalen deutlich ähneln (Meinhardt 2003). Durch das Ausprobieren verschiedener Kombinationen von Kontrollparametern, manchmal auch durch die Erhöhung der angenommenen Anzahl von Morphogenen auf drei und mehr sowie auch durch andere Veränderungen, ist es ihnen gelungen, eine große Vielfalt natürlicher Schalenzeichnungen computer-simulativ zu imitieren. Entwicklungsbiologen bleiben jedoch in der Regel skeptisch, wenn sie mit solchen Modellen in Kontakt kommen. Eine häufig geäußerte Kritik bezieht sich auf die Tatsache, dass es in wirklichen Embryonen nicht eine Aktivator- und eine Inhibitor-Molekülsorte gibt, worin die zentrale Hypothese des Modells besteht. Vielmehr hängt die Embryogenese von Vorgängen der Aktivierung und der Hemmung ab. Diese hochgradig komplexen Ereignisse werden von einer großen Menge nichtlinear miteinander verschränkter Molekülsorten verwirklicht. Bei wirklichen embryogenetischen Vorgängen gibt es ein ganzes Bündel synergistisch wirkender Arten von Signalmolekülen, deren Synergismus für die hohe Zuverlässigkeit der Morphogenese unerlässlich ist. Ohne diese hohe Redundanz würden die Embryonen sehr rasch absterben. Die von Turings Arbeit inspirierten Reaktion-Diffusions-Modelle sind also weit davon entfernt, Modelle von wirklichen Vorgängen zu sein. Es hat jedoch nicht an Versuchen gefehlt, die in den Turing-Modellen angenommenen Größen mit biologischen Fakten zu füllen. Brian Goodwin, ein bekannter Theoretischer Biologe und Mathematiker, der viel zur Mathematisierung der Morphogenese auf der Basis der Theorie dynamischer Systeme beigetragen hat, schlägt für die Gestaltbildung der riesigen einzelligen 234 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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Mittelmeer-Alge Acetabularia acetabulum ein Turing-Modell vor, bei dem das Calcium-Ion Ca2+ als Träger der Positionsinformation fungiert. 142 In Goodwins Modell wird die räumliche Verteilung der Konzentration des Morphogens Ca2+ innerhalb der wachsenden Alge von vier Faktoren geregelt: einer positiven und einer negativen Rückkopplung, von denen die Freisetzung der schon gespeicherten Ionen aktiviert bzw. inhibiert wird, von der Importfähigkeit der Alge an Ca2+ und von der Diffusion des Ions innerhalb des zellulären Körpers (Goodwin 1997, 154 f.). Auf diese Weise kann ausgehend von einer symmetrischen Anfangsgestalt die Entstehung einer Aufeinanderfolge verschiedener räumlicher Inhomogenitäten der Verteilung von Ca2+ errechnet werden, die der Gestaltbildung als Vorformen dienen. Bis zu einem relativ späten Stadium der Entwicklung ähnelt die simulierte Gestaltänderung des morphogenetischen Feldes einigermaßen der tatsächlichen Morphogenese der Alge. Meinhardt und Gierer nennen ebenfalls einige Biomoleküle, die als aktivierende oder inhibierende Signalstoffe wirken (2000, 757). Sie schlagen aber auch eine Brücke zur Mathematik der genetischen Netzwerke, indem sie Modelle vorschlagen, bei denen als Morphogene wirkende Signalmoleküle die Aktivierung oder Hemmung bestimmter Gene anregen (ebenda). Ein von Meinhardt vorgestelltes Modell besteht in einem kleinen Netzwerk aus drei Genen, die von verschiedenen Konzentrationen desselben Morphogens aktiviert werden, wobei jedes Gen seine eigene Expression unterstützt und die der restlichen unterdrückt (2003, 205 ff.). Durch die fortschreitende Diffusion des Signalmoleküls werden nacheinander alle drei Gene aktiviert, allerdings ist jedes von ihnen nur innerhalb einer scharf abgegrenzten Region aktiv, in der die anderen inaktiv sind. Durch die Bildung der entsprechenden Proteine entstehen dann drei unterschiedlich differenzierte Zellregionen. Der ganze Vorgang setzt, wie bei allen bisher beschriebenen Modellen, die externe Festlegung von Kontrollparametern voraus. Die Erzeugung räumlich inhomogener Genaktivierung liegt natürlich auch der Bildung tierischer Gliedmaßen zugrunde. Goodwin
142 Dieses Ion »spielt erwiesenermaßen bei jeder Morphogenese bzw. Gestaltänderung eine Rolle, ganz gleich, ob sie einem tierischen oder pflanzlichen Organismus betrifft« (Goodwin 1997, 148) (vgl. auch: Meinhardt & Gierer 2000, 756). Es ist außerdem ein wichtiger Signalstoff, sodass die Zellen aktiv und sehr genau Import, Speicherung, Freisetzung im Zellinneren und Export von Ca2+ steuern.
235 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
zählt drei grundsätzliche Vorgänge der Extremitätenbildung: fokale Verdichtung, d. h. »Aggregation von Zellen zu einer gedrängten Zellmasse«, Verzweigung des wachsenden Kondensats in zwei Teile (sogenanntes ›Y-Muster‹) 143 und »Segmentierung eines Zellbündels in zwei Teile entlang einer Längsachse« (1997, 231 f.). 144 Andere Autoren zeigen, wie unter der Vorgabe geeigneter Kontrollparameter eine entlang der Anterior-Posterior-Achse 145 von modellierten WirbeltierEmbryonen wandernde Welle simuliert werden kann, in der die Zellen in eine Oszillation ihrer genetischen Aktivität versetzt werden. Die Tatsache, dass die simulierten Zellen entlang der Achse nacheinander von der Welle erfasst werden, führt dazu, dass die Achse in Regionen verschiedener endgültiger Differenzierung unterteilt wird, die den sogenannten ›Somiten‹ echter Embryonen entsprechen. Aus ihnen gehen später die Segmente des Skeletts mit den entsprechenden Muskeln und Bindegeweben hervor. Die Segmentierung wird somit als ein räumlich periodisches Muster modelliert, das die bleibende Spur eines wandernden zeitlich periodischen Vorgangs ist (Giudicelli & Lewis 2004, 407). 146 1.2.e
Trennung zwischen dynamischen und statischen Größen
Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass quer durch alle bisher vorgestellten Modelle 147 – ob biologischer oder anorganischer Art – eine Dichotomie verläuft. Sie zeigt sich besonders deutlich in der Unterscheidung zwischen Zustandsräumen und Kontrollparameterräumen. Da sie sich aber nicht darin erschöpft, ist es sinnvoll, bei einem dynamischen System von der Trennung zwischen dynamischen und statischen Größen zu reden. Als statische Größen werden alle in den Modellen vorausgesetzten Größen und Tatsachen bezeichnet, über deren Beschaffenheit die Dynamik des Systems keinen Einfluss hat: Randbedingungen, Kontrollparameter, Anfangsbedingungen und andere Bedingungen, die von der systemischen Dynamik vorausgesetzt, aber nicht produziert werden. 148 Als dynamische GröDas ›Y-Muster‹ ist wichtig bei der Bildung von Fingern. Vgl. auch: Murray 1993, 565, 599 ff. 145 So wird die Mund-After-Achse bezeichnet. 146 Vgl. auch: Lewis 2003, 1398 ff. 147 Gemeint sind alle Modelle, die in den Abschnitten 1.1.f, 1.1.g, 1.1.g.1 bis 1.1.g.4, 1.2.c.1 bis 1.2.c.4 und 1.2.d.2 dieses Kapitels vorgestellt werden. 148 Siehe Abschn. 1.1.k.1 bis 1.1.k.4 dieses Kapitels. 143 144
236 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Biologie im Zeitalter des szientistischen Materialismus
ßen werden alle Größen bezeichnet, deren quantitativer Wert von der Dynamik des Systems abhängig ist – d. h. die Variablen. Es ist jedoch zu betonen, dass diese Größen nicht notwendig permanent variiert werden. Variablen sind Größen, die von der Systemdynamik variiert werden können. Bei stationären Systemen erreichen sie einen zeitlich stabilen Wert. 149 Eine stabile Variable ist keine statische, sondern eine stabilisierte Größe. Die Tatsache, dass die Dynamik jedes Systems statische Größen voraussetzt, verführt dazu, ihre Anwesenheit bei einem System für selbstverständlich zu halten. Es wird allzu leicht verdrängt, dass sie nichts weniger als den Übergang vom Aggregat, das viele Systeme potentiell in sich enthält, zum konkreten System bewirken – einen Sprung, den jedes dynamische System notwendig voraussetzt. 150 Selbstorganisationstheoretiker reflektieren oft nicht über die logischen Grenzen des System-Begriffs, d. h. über den begrifflichen Rahmen, innerhalb dessen sie Strukturbildung beschreiben. In der Regel wird in dem Zustands- bzw. Phasenraum eine adäquate Darstellung der Möglichkeiten des Systems gesehen und somit verdrängt, dass dieser nur die dynamischen Größen, also die Variablen, enthält. Ein »dynamisches System muss ja schließlich aus dynamischen Größen bestehen«, könnte man geneigt sein, einzuwenden. Diese Größen sind aber nur ein Teil des ›logischen Raums‹ des Systems – wie man die Gesamtheit der Größen nennen könnte, die für die Funktion des Systems notwendig sind. Denn dieser enthält auch eine Vielzahl von Größen, die vom Experimentator bzw. Theoretiker gesetzt werden und sich somit, in den entsprechenden Formalismen, dem Einfluss der Systemdynamik entziehen. Insofern kann die besagte Trennung wie folgt präzisiert werden: Der innere logische Raum eines selbstorganisierten Systems enthält die dynamischen Größen, zwischen denen kausale Rückkopplungen existieren. Er wird vom Zustands- bzw. Phasenraum abgebildet. Er macht denjenigen Teil des dynamischen Systems aus, dessen Verhalten studiert wird. Der äußere logische Raum des Systems enthält die statischen Größen. Sie sind, um mit Hempel und Oppenheim zu sprechen, die Antezedensaussagen: Rand- und Anfangsbedingungen, Kontrollparameter und andere wichtige Bedingungen. Er wird nicht vom Zustands- bzw Phasenraum abgebildet. 149 150
Siehe Abschn. 1.1.e.3 dieses Kapitels. Siehe Abschn. 1.1.k und 1.1.k.1 dieses Kapitels.
237 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
der innere logische Raum Er besteht aus Variablen, d. h. gegenseitig mitbestimmen.
Modellierer
Modellierer
d
die selbstorganisierte Strukturbildung erforderlich sind, aber von dieser nicht beinflusst werden.
Abb. 2.25: Der logische Raum eines dynamischen Systems besteht aus zwei Teilen, dem inneren und dem äußeren, von denen ersterer letzteren voraussetzt aber nicht umgekehrt.
Durch die Setzung bestimmter Werte der statischen Größen gelingt es den Modellierern die Dynamik der Systeme in bestimmte Bahnen einzulenken. Die Werte der Variablen werden in begrenzte Regionen der Zustandsräume, die Attraktoren, kanalisiert und dort gehalten. Der spezifische Unterschied zwischen dynamischen und statischen Größen kennzeichnet die einseitige Abhängigkeit kanalisierter Vorgänge von den sie kanalisierenden Faktoren. Einem kritischen Blick wird nicht entgehen, dass die Begriffe ›Selbstorganisation‹ und ›Strukturbildung‹ sich immer auf einen relativ kleinen Teil des logischen Raums des Systems beziehen, da sie auf das dynamische Verhalten der kanalisierten Variablen referieren. Ist aber dann die Rede von ›Selbstorganisation‹, ›selbsterregter Strukturbildung‹, ›spontaner Emergenz‹ usw. immer noch gerechtfertigt? Es ist zweifelsohne leicht, dynamische Systeme zu entwerfen, die mit programmierbaren Untersystemen ausgestattet sind, die die statischen Größen der Systeme verändern. Das bedeutet aber nicht, dass letztere dadurch dynamisiert werden. Man wird viel mehr nichts Besseres erreicht haben, als die Trennung zwischen dynamischen und statischen Größen in eine weitere Metaebene zu verlagern. Denn das 238 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Sind Lebewesen berechenbar?
Operieren dieser Untersysteme wird auf neue kanalisierende Faktoren angewiesen sein, die von der Dynamik der Variablen des Systems nicht gesetzt werden. Als Rezipient der Theorien-Kultur der Selbstorganisation, Komplexität usw. steht man vor der Frage, wo das ›System‹ eigentlich beginnt und wo es aufhört. Gehören auch die extern gesetzten statischen Größen zu ihm? Es ist sicherlich ›strategisch‹ empfehlenswert, die Frage nach der logischen Grenze des Systems in einem Nebel zu lassen, denn jede Forderung nach einer Kontrolle des Systems auf sie würde automatisch den ›Maßstab‹ für Selbstorganisation sehr hoch setzen. Vielleicht setzt aber schon das einfachste Bakterium diesen ›Maßstab‹ viel zu hoch, um mit den mathematischen Mitteln der formalen Systemtheorien, wie wir sie uns heute vorstellen können, beschreibbar zu sein.
2.
Kann die Theorie dynamischer Systeme Modelle von ganzen Organismen prinzipiell anbieten – oder: Sind Lebewesen berechenbar?
Die von Systembiologen bzw. Exponenten des biosystemischen Emergentismus entworfenen Systeme sind keine Modelle von, sondern Modelle für organismische Vorgänge. 151 Das gilt für die Modellierungen begrenzter Vorgänge und noch mehr für die Modelle ganzer Zellen und der Morpho- und Embryogenese vielzelliger Organismen. Für alle diese Modelle werden viele Vereinfachungen angenommen, wie z. B., dass viele in wirklichen Zellen und Organismen dynamische Größen als statische behandelt werden. Nicht selten haben die Modelle rein hypothetischen Charakter, wie z. B. bei der Modellierung morphogenetischen Werdens. Das alles ist legitim, denn die Modellierer verfolgen das Ziel, überschaubare Mechanismen anzubieten, die das Verhalten begrenzter organismischer Vorgänge unter bestimmten Bedingungen voraussagen. Der Sinn ihrer Modelle besteht in der Regel in der Vorhersage organismischen Verhaltens, das unter engen Laborbedingungen stattfinden soll, die der Biotechnologie und der Pharmaforschung dienlich sind. Sie werden also von pragmatischen Interessen angetrieben und nicht von der Frage nach dem Wesen des Lebens. Aus diesem Grund darf man den Sinn ihrer Arbeit 151
Siehe Abschn. 1.2.b dieses Kapitels.
239 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
nicht daran messen, ob sie Modelle von Organismen liefern. Nur bei Letzteren besteht das Qualitätskriterium in dem Maß der Ähnlichkeit zwischen den zu modellierenden Aspekten des Originals mit entsprechenden Aspekten des Modells. Ausgehend von den Grundprämissen der gegenwärtig in der Literatur vorgestellten Modelle kann jedoch die naturphilosophisch legitime Frage gestellt werden, ob es prinzipiell denkbar ist, dass zu irgendeinem zukünftigen Zeitpunkt dynamische physikochemische Systeme – d. h. ausschließlich wirkursächlich-kausale Ganzheiten – als glaubhafte Modelle von ganzen Organismen entwickelt werden könnten, die die Selbsterhaltung, z. B. des einfachsten Bakteriums, und die Embryogenese, z. B. eines primitiven Tieres, mit großer struktureller Ähnlichkeit abbilden würden. Können wir uns heute vorstellen, dass zukünftige Formalismen in der Lage wären, die Dynamik wirklicher Organismen adäquat zu repräsentieren? Oder sollten wir eher davon ausgehen, dass organismisches Werden die Grenzen formaler Modellierungen aus prinzipiellen Gründen transzendiert, weil es vom szientistischen Materialismus, der ihnen zugrunde liegt, nicht erfasst werden kann? Obwohl es grundsätzlich schwer ist, Prognosen über die Grenzen zukünftiger Entwicklungen zu machen, sind wir berechtigt, ein solches Wagnis innerhalb des Horizontes des gegenwärtig Denkbaren einzugehen. Ohne die Tatsache der Vorläufigkeit dieses Horizontes zu verdrängen, müssen wir versuchen, seine Grenzen zu ertasten. Der Ausdruck ›prinzipiell‹ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die eben gestellten Fragen im Rahmen eines Gedankenexperiments behandelt werden. Vor dem Hintergrund eines rein hypothetischen Versuchs darf die Existenz eines bezüglich Speicherkapazität und Rechengeschwindigkeit unendlich leistungsfähigen Computers angenommen werden. Weiterhin darf perfekte Kenntnis von Beschaffenheit, Quantität, Zustand und räumlichen Lage der materiellen Elemente des Organismus und der für ihn relevanten Teile seiner physischen Umgebung zu einem bestimmten Zeitpunkt auf der Ebene der molekularen und atomaren Beschreibung vorausgesetzt werden. Schließlich soll erlaubt sein, vollständiges Wissen bezüglich der relevanten universellen Gesetze (materialen Gesetze), die die Interaktionen der materiellen Elemente (Moleküle und Atome) zueinander beherrschen, anzunehmen. Einem bekannten Selbstorganisationstheoretiker folgend, könnte man gegen dieses Gedankenexperiment einwenden: »Wir gehen nicht 240 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Sind Lebewesen berechenbar?
zu einem Chemiker, wenn unser Auto kaputt ist«. Das würde besagen, dass es aus biowissenschaftlicher Sicht sinnlos ist, Organismen auf atomarer Ebene beschreiben zu wollen, was den Zweck eines derartigen Versuchs fragwürdig machen könnte. Schließlich besteht, könnte weiterhin eingewendet werden, der Sinn einer Theorie in der Reduktion der Beschreibung und nicht in der Aufnahme aller Fakten in das Modell. Hier handelt es sich aber nicht um eine wissenschaftliche, sondern um eine metaphysische Frage, die mit den formalen Mitteln der Wissenschaft gestellt wird. Deswegen ist es aus biophilosophischer Perspektive nicht abwegig, im Rahmen eines Gedankenexperiments die Möglichkeit einer physikalisch vollständigen Reduktion des Organismus zu diskutieren. Bevor die Erfolgskriterien und -chancen dieses Gedankenexperiments diskutiert werden, ist an dieser Stelle zu erläutern, warum in der vorliegenden Arbeit nur sogenannte ›kontinuierliche dynamische Systeme‹ – d. h. solche, die eine kontinuierliche Entwicklung in ihrem Zustandsraum präsentieren – diskutiert, und diskontinuierliche dynamische Systeme wie die sogenannten ›zellulären Automaten‹ außer Acht gelassen werden. Systeme diskreter Dynamik 152 können gute Modelle für organismische Vorgänge liefern (Wolpert 1997, 78), wenn sie ihre Logik erfassen. Sie kommen jedoch nicht als Modelle von der physischen Verwirklichung dieser Logik in Frage. Denn bei realen Organismen setzt selbst die sprunghafte Aktivierung eines Gens einer Zelle, also eines Vorgangs, für den die zellulären Automaten und die genetischen Netzwerke Stuart Kauffmans 153 geradezu prädestiniert sind, die kontinuierliche Veränderung der Konzentration einer oder mehrerer Biomolekül-Sorten.
2.1 Was zur Berechenbarkeit eines Organismus gehört Es stellt sich also die Frage, ob auf der Basis der Theorie dynamischer Systeme eine asymptotische Annäherung an das Ideal eines perfekten Modells von einem organismischen Metabolismus oder von einer Embryogenese prinzipiell realisierbar ist. Wer solche Vorstellungen bejaht, geht davon aus, dass es – ohne unrealistische Vereinfachungen bezüglich der Realisierung der für die Strukturbildung notwendigen 152 153
Siehe Abb. 2.1(b). Siehe Abschn. 1.2.c.2 dieses Kapitels.
241 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
Bedingungen – möglich ist, Strukturgesetze zu errechnen, die eine Dynamik erzeugen, die reale gesamtorganismische Vorgänge bis zu einem gewissen Grad abbilden kann. Man nimmt also die Berechenbarkeit der organismischen Selbsterhaltung und des embryonalen Werdens an. Ein physischer Vorgang wird als ›berechenbar‹ bezeichnet, wenn die Gesamtheit der kausalen Beziehungen zwischen seinen Elementen von einer Turing-Maschine simuliert werden kann. Die TuringBerechenbarkeit schließt auch chaotische und stochastische Phänomene ein; sie begrenzt sich keineswegs in der exakten Vorhersagbarkeit im Rahmen eines eng gedachten Determinismus (Penrose 1995, 495). Eine Turing-Maschine kann als ein »mathematisch idealisierter Computer« verstanden werden, wobei die Idealisierung darin besteht, dass »die Turing-Maschine niemals Fehler macht, beliebig lange laufen kann und eine unbegrenzte Speicherkapazität« hat (ebenda 22). 154 Bevor die Frage der prinzipiellen Berechenbarkeit gesamtorganismischer Vorgänge ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, sollte einiges bezüglich ihres weltanschaulichen Gewichts als Drehscheibe des zukünftigen Organismus-Verständnisses gesagt werden: Hochqualitativen Modellen von ganzen Organismen käme eine gewaltige biophilosophische Relevanz zu. Wer das bezweifelt, sollte sich die Erfolgsgeschichte des ›Sonnensystems‹ als Geburtsstunde der wissenschaftlichen Physik und Paradebeispiel moderner Naturwissenschaftlichkeit vergegenwärtigen. Die Existenz hochqualitativer Modelle von unserem Sonnensystem, hat dazu geführt, dass die gesamte Konstellation von Planeten und Sonne zu einem ausschließlich durch gravitative Wirkursachen geordneten dynamischen System erklärt wurde. Die Frage, ob sie tatsächlich ein System ist oder ob dieser Begriff sich nur auf das Modell bezieht, wird von den meisten Theoretischen Physikern kaum gestellt. Die daraus zu ziehende Lehre lautet: In der Wissenschaft ›verschlingt‹ ein gutes Modell von etwas früher oder später sein Original. Selbst ein bescheidener Erfolg der Modellierung von einem primitiven Organismus als dynamisches System würde unweigerlich dazu führen, Lebewesen mit nichts anderem als enorm verwickelten dyna-
154 Vgl. auch: Penrose 1997, 136. Diese Beschreibung der Turing-Maschine ist für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung ausreichend. Eine genauere Definition findet man im zweiten Kapitel von Roger Penrose’ Buch Computerdenken.
242 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Sind Lebewesen berechenbar?
mischen physikochemischen Systemen, d. h. mit ungeheuer verknoteten Maschenwerken blinder Wirkursachen zu identifizieren. Schließlich beherrscht die in der Regel unbewusste Überzeugung, dass Organismen nichts anderes als dynamische Systeme sind, schon jetzt das Denken vieler, vor allem jüngerer Biologen und Biophysiker, die unter dem mächtigen weltanschaulichen Einfluss der Selbstorganisations- und Komplexitätstheorie stehen. Unter der großen Suggestionskraft dieses so erfolgreich um sich greifenden Paradigmas ist es schwer, anders über Organismen zu denken. Natürlich besteht für einen Forscher immer die Möglichkeit, zwei Identitäten anzunehmen, eine für das Labor und eine für das private Leben und dementsprechend zwischen dem Lebendigen und der Methode seiner Erforschung scharf zu trennen. Hat man nicht vor, durch einen eliminativen Materialismus, wie er für viele Hirnforscher typisch ist, zweifelhaften Ruhm zu erwerben, ist das sicherlich der stillste und sicherste Weg, um Naturwissenschaft zu betreiben, denn man erspart sich ›unnötige‹ weltanschauliche Reibereien und erwirbt zugleich den Ruf eines »moderaten und vorsichtigen Forschers«. Aber wirklich überzeugend ist eine solche Haltung nicht, denn sie umgeht die entscheidenden Fragen über die Natur des Lebendigen, anstatt sich ihnen zu stellen. Die Front der rechnerischen Eroberung des Lebendigen durch den physikochemischen Reduktionismus ist allerdings schon eröffnet worden. Die schon besprochenen ›whole cell simulations‹ 155 werden oft zu den wichtigsten Zielen der Naturwissenschaften bis zum Jahr 2050 gezählt – ein Jahrhundert-Projekt, das mit der Schaffung der einheitlichen Feldtheorie der Physik in einem Zug genannt wird. Die Tatsache, dass die große Mehrheit der Systembiologen über die unscharfe Grenze zwischen der pragmatischen und der ontologischen Relevanz ihrer Modelle kaum nachdenkt, macht es geradezu unmöglich, festzustellen, inwiefern sie ihren systemtheoretischen Modellen ontologische Bedeutung beimessen und wie explizit sie das tun. Das systemtheoretische Denken, das ohnehin seit dem 17. Jahrhundert im naturwissenschaftlichen Weltbild vorherrschend ist, errang in den letzten Jahrzehnten durch den Einsatz des Computers ein so großes Gewicht, dass seine Ontologie beinahe jeder naturwissenschaftlichen Denkleistung – und nicht nur einer solchen – explizit oder zumindest implizit zugrunde liegt. Die Rede von ›Systemen‹, 155
Siehe Abschn. 1.2.c.4 dieses Kapitels.
243 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
gegenwärtig von ›dynamischen‹ oder ›komplexen‹, wird dermaßen für selbstverständlich und unproblematisch angesehen, dass ihr de facto Ontologie-Relevanz zugesprochen wird. Viele Biologen lernen gegenwärtig, selbst wenn sie keinen Bezug zur Systembiologie haben, mit systemtheoretischen Begriffen und Methoden zu denken, ohne über die Grenzen dieses Ansatzes in der Biologie unterrichtet zu werden, sodass sie im Endeffekt keine andere Wahl haben, als Organismen für besonders komplexe dynamische Systeme zu halten. Brian Goodwin ist einer der entschiedensten Exponenten der versteckten Ontologisierung des biosystemischen Ansatzes, da er von der computergestützten Errechnung möglicher Lebewesen-Formen (!), die noch nicht entstanden sind – d. h. der computersimulierten Vorwegnahme denkbarer Evolutionsresultate – träumt (1997, 177 ff.). Der bekannte Theoretische Biologe und Biosemiotiker Claus Emmeche teilt diese Vorstellung vorbehaltlos: »[O]rganisms can analogically be regarded as consisting of highly complicated attractors for the behaviour of organic molecules in a biochemical space – an attractor with stable part-cycles (metabolism, reproduction, etc.). Given the relevant organic molecules, these attractors exist in a certain (Platonic) sense before the particular living organism. As argued in detail by the theoretical biologists Kauffman and Goodwin, the fact that a biological species consists of stable organisms is neither a wonder nor solely a product of selection, as traditionally held by neo-Darwinism. The stability is the result of internal, formal properties in the organisation of the organism, and the job of natural selection is only to sort the possible stable organisms and find those most fit for the given milieu […]« (2000, 27; Hervorhebungen von S. K.).
Evolution in silico ist also kein Motto, sondern eine Beteuerung des bioszientistischen Materialismus des neuen Jahrhunderts. 2.1.a
Was jede Modellierung von organismischer Autonomie erfüllen muss: Regulative Geschlossenheit
Bei realen Organismen beeinflusst der Output jedes biomolekularen Vorgangs direkt oder über kausale Umwege die Bedingungen, unter denen andere Vorgänge stattfinden. Die Dynamik aller Lebewesen ist regulativ geschlossen. Der Begriff regulative Geschlossenheit, der im Folgenden als gleichbedeutend mit dem Begriff Selbstregulation verwendet wird, darf nicht mit der ›operationellen Geschlossenheit‹ der Autopoiesis-Theorie verwechselt werden (Maturana & Varela 1987, 244 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Sind Lebewesen berechenbar?
180). 156 Er besagt, dass die Vorgänge eines Lebewesens sich gegenseitig die für ihr Werden notwendigen kausalen Bedingungen bereitstellen. Regulative Geschlossenheit ist echte Selbstorganisation. Fast alle Größen eines wirklichen Organismus sind von seiner eigenen Entwicklung abhängig und werden durch diese aufeinander ausbalanciert. Das reale organismische Geflecht ist also regulativ geschlossen – es ist autonom und somit selbstorganisiert im eigentlichen Sinne dieses Wortes. Die Ontogenese eines vielzelligen Organismus stellt eine solche autonome Entwicklung dar. Seine Morphogenese ist das Resultat einer regulativ geschlossenen Dynamik, die zweckmäßig seine jeweils unmittelbare Umgebung einbezieht, von der bzw. an die das Embryo gezielt Stoffe importieren bzw. abgeben muss. Aus der szientistisch-materialistischen Perspektive des biosystemischen Emergentismus muss die Selbstregulation jedes Lebewesens als eine hochgradig rekursive wirkursächlich-kausale Bedingtheit zwischen genetischen-, metabolischen-, signalverarbeitenden und evtl. auch anderen biomolekularen Leitbahnen des Gesamtnetzwerks erscheinen. Dennoch, die Qualität eines Modells von einem ganzen Organismus als dynamischem System kann beim gegenwärtigen noch frühen Entwicklungsstand der Simulation lebendigen Werdens nicht daran gemessen werden, ob es in der Lage ist, jeden physikalischen Vorgang detailliert abzubilden, wie z. B. die Bewegungen der Biomoleküle in der Zelle oder jede einzelne chemische Reaktion. Die größten Supercomputer der Gegenwart sind in der Lage, bei begrenzten physikalischen und biochemischen Vorgängen die Interaktionen aller Atome, ja sogar aller Elektronen, rechnerisch einzubeziehen und daraus eine Gesamtentwicklung zu berechnen und bildlich darzustellen; diese Leistung liegt jedoch mehrere Größenordnungen unterhalb des Niveaus einer physikalisch vollständigen Simulation einer Zelle. 156 Vgl. auch: Varela 1987, 121. Die Idee der operationellen Geschlossenheit der beiden Autoren beruht auf Vorstellungen von Materie und Kausalität, die in der impliziten Annahme der ausschließlichen Herrschaft von Wirkursachen wurzeln (Koutroufinis 1996, 70, 91–98). In der vorliegenden Untersuchung wird jedoch zugunsten der Vorstellung argumentiert, dass die Selbsterhaltung und Entwicklung von Organismen nur unter der Mitwirkung von Zweckursachen vonstattengehen kann (siehe Abschn. 3.2.d dieses Kapitels und alle Unterabschnitte des Abschn. 3 von Kap. IV). Der Begriff ›regulative Geschlossenheit‹ enthält somit implizit die Idee der Zweckursachen-Kausalität, allerdings in ihrer prozessontologischen Version, die im vierten Kapitel dieser Untersuchung entfaltet wird.
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II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
Im Rahmen des hier gewagten Gedankenexperiments darf man sich vorstellen, dass Gruppen von Systembiologen etwas Ähnliches für eine ganze Zelle versuchen werden. Würden solche Simulationen jemals gelingen, dann wären sie zweifelsohne hinsichtlich Vollständigkeit kaum zu überbietende Modelle von Zellen. Geht man jedoch von den gegenwärtigen Möglichkeiten der Systembiologie aus, so muss man Anforderungen für sehr viel einfachere Modelle von Zellen angeben, die nicht dem Imperativ der strengen materiell-morphologischen Ähnlichkeit zwischen Modell und Modelliertem unterworfen sind. Die perfekte, d. h. physikalisch vollständige Simulation wird dann lediglich zu einem für die nächsten Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, asymptotisch anzunähernden Ideal, einem im besten Fall regulativen Prinzip der Forschung. Das würde von der heute kaum vorstellbaren Herkulesarbeit der Abbildung der Positionen und Bewegungen einzelner Moleküle innerhalb der Zelle entlasten. Stattdessen könnte man sich auch mit einer annähernd richtigen Errechnung der Konzentrationen der wichtigsten Biomolekülen-Sorten während der Phasen des Zellzyklus zufriedengeben. Konkret würde das bedeuten, dass es durchaus zulässig wäre, anzunehmen, dass z. B. die Membran-Rezeptoren, die den Stoffaustausch der Zelle und des Zellkerns regeln, über die Oberflächen beider gleichmäßig verteilt sind und dass die entsprechenden Substanzen automatisch den Weg zu ihnen finden würden. Ähnlich dürfte man annehmen, dass die für den Metabolismus, die Signalverarbeitung und die Aktivierung der Gene wichtigen Stoffe problemlos zu den richtigen Orten gelangen könnten – bei einer wirklichen (eukaryotischen) Zelle werden sie freilich durch komplexe Vorgänge entlang des Zellskeletts zu bestimmten Orten transportiert, wobei die zeitliche Abstimmung zwischen diesen Vorgängen wichtig ist. Thermodynamische Größen wie Druck, Volumen, Energie und Entropie müssten allerdings von der Dynamik der simulierten Zelle bestimmt werden können, was auch für den pH-Wert und die Reaktionsfähigkeit (Aktivierung-Deaktivierung) von Enzymen gilt, denn diese Faktoren sind dynamische Größen. Dieser Tatsache muss unbedingt entsprochen werden, obwohl in den gegenwärtigen Modellen der Einfluss dieser Faktoren in statischen Größen (Kontrollparametern) zusammengefasst wird. Das Modell müsste außerdem zeigen können, wie die errechneten innerzellulären Vorgänge die Import-Export-Vorgänge an der äußeren Membran der Zelle gestalten – mit anderen Worten: die errechnete Dynamik müsste durch die Re246 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Sind Lebewesen berechenbar?
gelung ihrer Randbedingungen sich selbst versorgen können – oder, auf den nächsten Abschnitt vorgreifend: Die simulierte Zelle müsste selbständig ihre Umwelt aus ihrer Umgebung kreieren. Diese Leistungen wären unabdingbar, denn ein Modell von einer Zelle müsste – selbst wenn es primitiv wäre, d. h. nur sehr wenige wirkliche Vorgänge simulativ abbilden könnte – auf jeden Fall der regulativen Geschlossenheit des Originals gerecht werden: Das Modell müsste also demonstrieren, wie die berechnete Dynamik, die in den Berechnungen ihrer einzelnen Teilvorgänge eingehenden Größen und die energetisch-stoffliche Selbstversorgung des ganzen modellierten Gebildes (die Gesamt-Randbedingung) autonom reguliert. In den systembiologischen Modellierungen der Gegenwart werden aber die meisten dieser Größen von Kontrollparametern, Anfangsund Randbedingungen repräsentiert – sie werden also als statische Größen behandelt. Dies ist im Rahmen des hier eingeführten Gedankenexperiments nicht akzeptabel. Folglich müssten in diesem Experiment die meisten Größen, die in den gegenwärtig durchgeführten Simulationen als statische behandelt werden, in dynamische Größen, d. h. in Variablen verwandelt werden. Einige Größen müssten allerdings statisch bleiben, wenn sie Faktoren repräsentierten, auf die eine Zelle keinen Einfluss haben kann. 157 Die Modellierung der Morphogenese eines Embryos wäre wesentlich schwerer. Sie müsste ein regulativ geschlossenes physikochemisches Werden errechnen, das gleichzeitig eine Sukzession körperlicher Formen darstellen würde, die der tatsächlichen Morphogenese des Embryos einigermaßen ähneln müsste. Dies würde zusätzlich komplexe mechanochemische und hydraulische Probleme aufwerfen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Modelle und Simulationen von einer Zelle oder von der Morphogenese eines Organismus sehr viele vereinfachende Annahmen enthalten und eine starke Reduktion der Anzahl der berücksichtigten Größen vornehmen dürfen. Was sie jedoch unbedingt vermeiden müssen, ist die regulative Offenheit des vorgeschlagenen Systems – d. h. den aus biologischer Sicht vollkommen unakzeptablen Fall, dass unerlässliche Bedingungen, unter denen die einzelnen simulierten Teilvorgänge des Modells stattfinden, von außerorganismischen Faktoren festgelegt werden. 157 Solche Faktoren sind z. B. Naturkonstanten, Gravitationskraft, Umgebungsstrahlung, Luftdruck, Umgebungstemperatur, Konsistenz der Atmosphäre und Nahrungsangebot.
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II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
Ein Modell repräsentiert die regulative Geschlossenheit eines Organismus nur dann adäquat, wenn es die gegenwärtig vorherrschende scharfe Trennung zwischen statischen und dynamischen, d. h. kanalisierenden und kanalisierten Größen überwindet, indem es so viele Größen wie möglich als dynamische behandelt. Regulative Geschlossenheit bedeutet die Selbstkanalisierung der modellierten Dynamik durch die Errechnung geeigneter Werte der dynamischen Größen, d. h. dass letztere die kanalisierende Funktion der statischen Größen in der gegenwärtigen Simulationspraxis übernehmen. Die Notwendigkeit der internen Regulation der dynamischen Größen, die gegenwärtig als statische behandelt und von Kontrollparametern und Randbedingungen repräsentiert werden, avanciert somit zur Nummer-Eins-Forderung an diejenigen Forscher, die die Berechenbarkeit echter organismischer Selbstorganisation prinzipiell 158 für möglich halten. Ist dies selbst auf einer sehr niedrigen Stufe erst einmal erreicht, so könnte die Qualität des Modells durch wachsende Annäherung an physische Details des zu modellierenden Organismus nach und nach perfektioniert werden. 2.1.b
Organismen haben Umwelten. Physikalische Systeme haben Umgebungen
Die Tatsache, dass bei Organismen viele Größen dynamisch sind, die bei selbstorganisierten anorganischen Systemen statisch sind, erlaubt ihnen, aktiv mit ihrer Umgebung umzugehen. Sie reagieren nicht einfach auf sie, wie die Bénard-Konvektion auf die ihr extern zugefügte Wärme, sondern beziehen Aspekte ihrer Umgebung aktiv in ihr Werden ein. Sie reagieren nicht auf extern vorhandene Randbedingungen, sondern agieren gezielt, um aus den Gegebenheiten ihrer Umgebung die ihnen zuträglichen Randbedingungen zu kreieren. Die Einatmung der Luft, das Einfangen des Lichtes in der Photosynthese und die Aufnahme der Nahrung sind nichts als Akte der Kreation von energetisch-materiellen Randbedingungen. Ein Organismus ist niemals passiv in seiner Umgebung eingeschlossen, sondern vollzieht eine Unterscheidung zwischen sich selbst und ihr. Dies ist unlösbar daran gebunden, dass alle Organismen permanent zwischen
158 Die Bedeutung des Ausdrucks ›prinzipiell‹ an dieses Stelle entspricht der im Abschn. 2 entfalteten.
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Sind Lebewesen berechenbar?
den relevanten und irrelevanten Teilen ihrer Umgebung unterscheiden. Die relevanten Aspekte der physischen Umgebung von Organismen konstituieren das, was der Theoretische Biologe Jakob von Uexküll Umwelt nennt. Mit der Einführung dieses Terminus im Jahre 1909 unterscheidet er scharf zwischen Umwelt und Umgebung (Uexküll 1909, 117, 196, 249, 252). 159 Aus der Beziehung zu ihrer Umgebung stellen Organismen eine von ihnen erfahrbare Umwelt her. Die Umwelt kann sowohl in kognitiver als auch in physischer Hinsicht erzeugt werden. 160 Ob überhaupt eine in der Umgebung des Organismus enthaltene wirkliche Entität zu seiner Umwelt gehört und, wenn ja, welche Bedeutung ihr von ihm zugewiesen wird, hängt entscheidend von der jeweiligen Beschaffenheit des Organismus ab (Uexküll & Kriszat 1956, 22, 29, 30). Die Dynamik eines Organismus enthält immer Information über seine Umwelt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass alle für den Organismus relevanten Faktoren seiner Umgebung in seiner Umwelt abgebildet sind wie z. B. unsere Unfähigkeit, radioaktive Strahlung ohne Messinstrumente wahrzunehmen, beweist. Die unlösbare Verbindung zwischen Umwelt und Dynamik eines Organismus transzendiert die Kausalitätslogik der Physik, in der menschliche Subjekte, sowohl beim theoretischen als auch beim experimentellen Zugriff, festlegen, was ein physikalisches System ist, d. h. welche Variablen für die Beschreibung seiner Dynamik wichtig sind und was als seine Umgebung betrachtet wird. Natürlich können Menschen dies nur deswegen tun, weil sie selbst Umwelten haben; sonst könnten sie nicht die für die Konstruktion physikalischer Systeme erforderlichen begrifflichen und physischen Operationen ausführen, z. B. die Rand- und Anfangsbedingungen dieser festlegen. Organismen haben Umwelten, aber physikalische Systeme haben nur Umgebungen. Die dynamische Struktur der Organismen ermöglicht es ihnen, von ihnen unabhängig existierende Faktoren (Gravitation, Sonnenlicht u. a.) zweckmäßig in die eigene Selbsterhaltung einzuspannen. Menschen 161 und andere Tiere können sich nicht trotz, Vgl. auch: Uexküll 1973, 320. Vogelnester und Spinnennetze sind künstliche Bestandteile der physischen Umwelt ihrer Erbauer. Wahrnehmungen von Farben, Tönen und Gerüchen gehören zur kognitiven Umwelt von Tieren. 161 Die enorme Erweiterung menschlicher Umwelten durch die Kreation symbolischer und ethischer Welten und ihre essentiellen Unterschiede zur Umwelt auch der 159 160
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II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
sondern gerade wegen der Gravitation fortbewegen – Gehen, Rennen, Galoppieren, Schwimmen, ja sogar Fliegen wären undenkbar ohne die kreative Einspannung ausgerechnet derjenigen Kraft, die Lebloses unbeweglich macht. In der Evolution kann sich die Weise, wie Umweltfaktoren in die dynamische Struktur einbezogen werden, ändern: Der Übergang zur habituellen Zweibeinigkeit, der sich vor einigen Millionen Jahren bei den Menschenaffen vollzog, stellt eine neue Form der Einbeziehung der Gravitation in die Bewegung und somit in die Aufrechterhaltung der Art dar. Aber auch einzelne Individuen vollbringen während ihres Lebens permanent solche Übergänge spontan. Wenn Menschen bzw. andere Säugetiere vom Gehen zum Laufen bzw. vom Trab zum Galopp wechseln, ändern sie spontan die Weise, in der sie die Gravitation in ihre Dynamik einbeziehen. 2.1.c
Die Beschreibung eines Organismus in einem erweiterten Zustandsraum
Das vor wenigen Seiten vorgestellte Gedankenexperiment lässt sich zur Frage komprimieren, ob die Selbstregulation eines Organismus ein Turing-berechenbarer Vorgang ist. Die Forderung der regulativen Geschlossenheit verlangt danach, die Trennung zwischen statischen und dynamischen Größen zu überwinden. Dies lässt sich nur durch die Integration des Raums statischer Größen in einen erweiterten Zustandsraum realisieren. In dessen N Dimensionen müssten alle Größen enthalten sein, deren Errechnung Modelle von der autonomen Selbstregulation bewältigen müssten. Diese dynamischen Größen würden Gene, Enzyme und andere Biomoleküle eines echten Organismus repräsentieren. Der erweiterte Zustandsraum würde somit eine enorme Anzahl von Dimensionen aufweisen. In der statistischen Physik ist oft die Rede von Zustandsräumen mit sehr vielen (>>1010) Dimensionen. Stuart Kauffman verwendet zur Erläuterung seiner genetischen Netzwerke Zustandsräume mit mehreren zehntausend Dimensionen (1996, 111–173). Aus der Interaktion der dynamischen Größen des erweiterten Zustandsraums dürften nur derartige gesamtorganismische Zustände komplexesten Tiere habe ich, ausgehend von der Philosophie Ernst Cassirers (2007), woanders dargestellt (Koutroufinis 2016).
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Sind Lebewesen berechenbar?
berechnet werden, die unter anderem auch die Erzeugung solcher Randbedingungen und Kontrollparameter der Differentialgleichungen bedeuteten, die die Entwicklung des Systems in Bereiche des Lebendigseins kanalisieren würden. Das Modell von einem Organismus muss also, unabhängig vom Grad seiner Perfektion bzw. Einfachheit, immer einen sich selbst kanalisierenden wirkursächlich-kausalen Vorgang darstellen. Formal ausgedrückt: Die simulierende TuringMaschine muss aus den Eingangswerten solche Ausgangswerte berechnen, für die Folgendes gilt: Erstens, sie repräsentieren Zustände des Lebendigseins. Zweitens, wenn sie beim nächsten Zeitschritt der Berechnung bzw. Simulation als Eingangswerte verwendet werden, müssen sie ausreichend sein, um erneut die Berechnung von Zuständen des Lebendigseins zu verursachen, aus denen wiederum biologisch sinnvolle Zustände berechnet werden, die beim darauffolgenden Zeitschritt dasselbe leisten können usw. ad infinitum. Die zweite Forderung entspringt der Logik der Theorie dynamischer Systeme, die eine kontinuierliche Entwicklung eines Vorgangs verlangt, d. h., dass der Endzustand eines Teilvorgangs als Anfangszustand seines Nachfolgers dient, und erfüllt zugleich die Forderung der Selbstregulation bzw. der regulativen Geschlossenheit eines Organismus, die das regulierende Eingreifen extern festgelegter Größen verbietet. Die erste Forderung berücksichtigt die Tatsache, dass nur ein sehr kleiner Bereich des erweiterten Zustandsraums Gesamtzustände enthält, die etwas Lebendiges symbolisieren. In einem sehr begrenzten Zustandsraum – z. B. in einem, der die Interaktion von zwei aus dem restlichen Organismus abstrahierten Genen zeigt, bei der keine regulative Geschlossenheit vorliegt (vgl. Abb. 2.18) – können Zustände verwirklicht werden, die im Zustandsraum sehr weit voneinander entfernt sind (vgl. Abb. 2.19). Für gesamtorganismische Modelle gilt allerdings das Gegenteil: Die biologisch sinnvollen Möglichkeiten gruppieren sich sehr eng um bestimmte Trajektorien, denn es gibt nur sehr wenige extrem schmale ›Inseln der Lebendigkeit‹ in einem endlosen ›Ozean der Leblosigkeit‹. Das beweist die Tatsache, dass schon minimale Veränderungen einer gesamtorganismischen Struktur, die sehr kleinen Verschiebungen im erweiterten Zustandsraum entsprechen, zum Tod führen können: Ein gerade gestorbener, und vielmehr ein sterbender Organismus, unterscheidet sich in der Regel bezüglich seiner Gesamtbeschaffenheit minimal von einem lebendigen. Mit steigender Qualität der Modelle würde die Anzahl der re251 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
präsentierten organismischen Fakten zunehmen, was die Anzahl der denkbaren Kombinationen der simulierten Größen immer schneller anwachsen lassen würde. Damit würde das Verhältnis der Anzahl biologisch sinnvoller zur Anzahl aller im Zustandsraum möglichen Zustände immer schneller abnehmen. 162 Sollte das hier durchgeführte Gedankenexperiment erfolgreich sein, sollte also eine ausreichend entwickelte Turing-Maschine organismisches Werden als einen regulativ geschlossenen Vorgang berechnen können, so müsste diese Maschine ein Bild liefern können, das die Entwicklung des Organismus darstellen würde. Im Rahmen des systemtheoretischen Denkens muss die Selbstkanalisierung eines regulativ geschlossenen Vorgangs auf einen wirkursächlich-kausal generierten Attraktor reduziert werden. Die lange kurvenreiche Linie der Abbildung 2.26 steht für ein Bündel von Turing-berechneten Trajektorien, die einen von einem Attraktor kanalisierten ontogenetischen Vorgang repräsentieren. Die kurzen Linien, die auf sie zustreben, symbolisieren die Fähigkeit des Organismus, Störungen, die ihn aus der schmalen Bahn des Lebendigseins zu werfen drohen, durch seine eigene Dynamik auszugleichen. Im Falle einer Embryogenese zeigen sie, dass der epigenetische Vorgang in einem sehr langen, den gesamten epigenetischen Raum durchziehenden Attraktor gefangen ist – in einer ›Chreode‹ Waddingtons, die ihn von der Entgleisung in die Monstrosität (Teratogenese) bewahrt. Durch die Konvergenz der benachbarten Trajektorien sorgt dieser Attraktor für die Begrenzung bzw. Reduktion von Unbestimmtheit und somit für die Erhaltung bzw. das Wachstum von Ordnung. Wäre ein solcher Attraktor tatsächlich Turing-berechenbar, so würde es sich dabei um die biosystemisch-emergentistische Interpretation des Begriffs ›Autoergasie‹ des Biomechanikers Wilhelm Roux handeln. 163 Physikalisch mögliche Entwicklungen, die aber nicht mehr lebende Ganzheiten, sondern allmählich in Entropie zerfallende leblose Körper repräsentieren, entfernen sich zunehmend von der schmalen ›Insel der Lebendigkeit‹ und spielen sich in Unterräumen dieses abstrakten-Raumes ab, die immer weniger Dimensionen haben. Schließlich fallen sie ganz aus dem erweiterten Zustandsraum heraus, sobald 162 Ähnlich ist nur ein geringer Teil der physiologisch möglichen Zustände des Gehirns eines menschlichen Erwachsenen psychosozial sinnvoll. Dies macht Erziehung und Bildung nötig. 163 Siehe Abschn. 2.3 von Kap. I.
252 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Sind Lebewesen berechenbar?
X1
X2
XN-1 XN Abb. 2.26: Die Dimensionen des erweiterten Zustandsraumes beinhalten alle dynamischen Größen des Organismus. Ihre Relationen zueinander erzeugen auch die Randbedingungen des simulierten Lebewesens: Selbstversorgung mit hochwertiger Energie und Materie und Export von Entropie.
sie sich in anorganische Stoffe aufgelöst haben. Dieser Übergang vom Leben zum Tod erinnert an einen Tennisball, der durch alle drei Dimensionen des gewöhnlichen Raumes hin und her fliegt, aber sich auf das träge, immer langsamer werdende Rollen auf der zweidimensionalen Ebene beschränkt, sobald die antagonistischen Kräfte nicht mehr im dynamischen Gleichgewicht sind, um schließlich die Nulldimensionalität eines ewig reglosen Punktes einzunehmen. Es stellt sich nun die Frage, ob auf der Basis der Theorie dynamischer Systeme eine in einem so hohen Maße sich selbst bedingende Teleonomie denkbar ist, die organismische Autonomie repräsentieren kann.
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2.2 Regulative Geschlossenheit ist innerhalb der gegenwärtigen systemtheoretischen Formalismen nicht erreichbar Es gibt einige gute Gründe, davon auszugehen, dass die Trennung zwischen regelnden und geregelten Größen den formalen Beschreibungen physikochemischer Systeme essentiell ist und deshalb von ihnen nicht überwunden werden kann. 2.2.a
Wissenschaftstheoretische und mathematische Bedenken
Die ersten reifen systemtheoretischen Ansätze erschienen um 1928 als ein Teil der Elektrotechnik, der sich der Beschreibung elektrischer Netzwerke widmete, die aus Widerständen, Kondensatoren, Spulen, Transistoren, Dioden und anderen Elementen bestanden (Janich & Weingarten 1999, 90). Dabei zog man, »gedanklich oder technisch wirklich, Grenzen, um an diesen eine Innen-Außen-Wechselbeziehung zu definieren, zu beobachten, herzustellen usw.« (ebenda 92). Die Grenzen technischer Systeme werden nach wie vor so konstruiert, dass die Systeme bestimmten, von ihren Erbauern festgelegten Funktionen genügen. Die Innen-Außen Grenze ist also Sache des Außen und wird dem Innen aufgezwungen. Diese Fremdbestimmung entspricht der wichtigsten Gemeinsamkeit aller technischen Systeme, nämlich, dass ihr Wesen in der Erfüllung eines bestimmten, ihnen externen Zwecks besteht. Sie wurde aber auch auf die in den Naturwissenschaften verwendeten systemtheoretischen Formalismen übertragen, wie die Trennung zwischen extern festgelegten statischen und intern regulierten dynamischen Größen belegt. Diese für die systemtheoretische Methodologie essentielle Herangehensweise findet im Hempel-Oppenheim-Schema ihre wissenschaftstheoretische Fundierung. Die dort vorgenommene Abgrenzung der Antezedensaussagen von den Ereignisaussagen rechtfertigt die biosystemische Methode, denn sie stellt diese in den breiteren methodischen Rahmen des naturwissenschaftlich-formalen Erklärens. 2.2.a.1 Organismische Dynamik jenseits des Hempel-OppenheimSchemas Die regulative Geschlossenheit der echten Selbstorganisation wirklicher Lebewesen würde, in die Sprache des Hempel-OppenheimSchemas übersetzt, nichts anderes bedeuten, als dass das Explanandum – die materielle Dynamik des Organismus – auf einen großen 254 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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Teil des Explanans Rückwirkungen hat. Etwas Ähnliches müsste ein Modell von lebendiger Organisation leisten können. Von einem im Rahmen des hier durchgeführten Gedankenexperiments hypothetisch berechneten Strukturgesetz (z. B. vom epigenetischen Attraktor der Abbildung 2.26), das das Explanandum darstellt, kann nicht verlangt werden, dass es auf die materialen Gesetze (Teil des Explanans), z. B. auf die biochemischen Naturgesetze, Wirkung hat, denn es ist von viel geringerer Universalität als diese. So bleibt nur die Möglichkeit offen, dass es auf diejenigen Antezedensaussagen (anderer Teil des Explanans), die dieselbe Ebene der Universalität mit ihm teilen, Einfluss nehmen kann – d. h. auf Größen, die in Modellen für Organismen statisch sein dürfen. Diese Forderung würde aber der Methodologie naturwissenschaftlich-formaler Ansätze generell Gewalt antun, denn sie sind keineswegs in der Lage, so zu operieren. Die Denkbarkeit einer dermaßen tiefgehenden Rückkopplung liegt entschieden jenseits des Hempel-Oppenheim-Schemas. 2.2.a.2 Die Zweifel Stuart Kauffmans Vor wenigen Jahren hat der in der vorliegenden Untersuchung häufig erwähnte Pionier des biosystemischen Emergentismus Stuart Kauffman auf die elementare Schwäche der besagten Trennung zwischen statischen und dynamischen Größen innerhalb des systemtheoretischen – ja sogar des gesamten formalen Operierens der gegenwärtigen Naturwissenschaft – verwiesen. Seine Zweifel kreisen um die Fragestellung, ob formale Beschreibungen der Autonomie eines Lebewesens gerecht werden können: »I will call a system than can act on its own behalf in an environment an autonomous agent. All free living cells and organisms are autonomous agents. […] So my question becomes […] what must a physical system be to be an autonomous agent? […] I believe an autonomous agent must be a physical system capable of self-reproduction and also capable of performing at least one thermodynamic work cycle« (2002, 128).
Das zentrale Problem dieser zunächst unproblematisch anmutenden Vorstellung hängt mit der Vorstellung eines sich selbst kanalisierenden physikalischen Vorgangs zusammen: »Consider a cylinder with a piston inside and a compressed working gas between the piston and the cylinder head. The gas can expand, doing work on the piston, pushing it down the cylinder. What are the constraints? Evi-
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dently the cylinder, the piston, and the location of the piston inside the cylinder, with the gas trapped between the two. But where did those constraints come from? Well, it took work to make the cylinder, work to make the piston, and work to put the gas into the cylinder and the piston in afterward. […] It appears to take work to make constraints and constraints to make work! […] the released energy that does work can be used to construct more constraints on the release of energy, which constitutes more work, which in turn constructs more constraints. Note that these notions are not in the physics or chemistry we have been taught. One begins to have the sneaking hunch that all this constraint construction on the release of energy – which, as work, can construct more constraints on the release of energy – has something profound to do with an adequate theory of the organization of processes. We have as yet not even the outlines of such a theory […] Nor is the point I am making merely rhetorical. A dividing cell does precisely what I just said. […] This organization of process is carried out by any dividing cell, yet it is stunning that we have no language – at least, no mathematical language of which I am aware – able to describe the closure of process that propagates as a cell makes two, makes four, makes a colony and, ultimately, a biosphere. This self-propagating organization of process is contained in the concept of an autonomous agent […] the way Newton, Einstein, Bohr, and Boltzmann taught us to do science is limited. The biosphere may persistently alter its ›phase space‹. I know of no mathematical framework that can describe this process. I would also note that if my claim is true, it wreaks havoc on the frequency interpretation of probability, where one can in fact state all the possibilities beforehand« (ebenda 132– 136, Hervorhebungen von S. K.).
Was Kauffman hier beklagt, ist nichts anderes als das Unvermögen der herkömmlichen Physikochemie, einen sich selbst kanalisierenden Vorgang – einen durch seine eigene Dynamik die benötigten constraints berechnenden – darzustellen. Eine dermaßen geschlossene Kausalität überfordert jede bekannte mathematische Sprache, die quantitative Aussagen macht. Es ist aber auch die Rede von der Unmöglichkeit eines sich selbst verändernden Phasenraums. Man bedenke, dass dies für die formale Beschreibung jeder körperlich wachsenden Ganzheit, also auch jeder Embryogenese, notwendig wäre. Denn die Anzahl der dynamischen Größen eines solchen Vorgangs nimmt zu, da die Aktivierung immer neuer Gene während der Zelldifferenzierung neue Sorten von Proteinen erzeugt. Diese Überlegungen lassen schließlich Kauffman sogar die für das Konzept des Phasen- bzw. Zustandsraumes wichtigste Annahme von der Präexistenz der im Laufe des Vorgangs verwirk256 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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lichten Möglichkeiten hinterfragen. Das ist ein in seiner Bedeutung kaum adäquat einzuschätzender Schritt, der hier jedoch nicht weiterverfolgt werden kann, aber im Rahmen der Ontologie Bergsons aus verschiedenen Perspektiven aufgegriffen wird. Das letzte Zitat macht deutlich, wie hellsichtig Kant war, als er von der Unmöglichkeit eines »Newtons des Grashalms« sprach. Denn was Kauffman hier – auf eine gleichermaßen bewundernswerte wie auch löbliche Weise – zugibt, bedeutet nichts anderes, als dass wir uns gegenwärtig nicht vorstellen können, dass Physiker den Weg der formalen Beschreibung echter Selbstorganisation, d. h. regulativer Geschlossenheit, auf der Basis von Wirkursachen weisen könnten. Kauffmans ehrliche Zweifel an der Tragweite elementarer systemtheoretischer Konzepte – die, nebenbei bemerkt, auch seinem eigenen, in mehr als dreißig Jahren entstandenen, Werk zugrunde liegen 164 – unterstützen die Vermutung, dass die fragliche Trennung zwischen statischen und dynamischen Größen jedem technischen und jedem formalen System notwendig anhaften muss. Die Frage, ob die Überwindung dieser Trennung im Rahmen eines erweiterten, noch nicht erfundenen systemtheoretischen Formalismus überhaupt denkbar ist, muss allerdings mathematische Überlegungen einbeziehen, da sie eigentlich mathematischer Natur ist. 2.2.a.3 Der zentrale Unterschied zwischen Leben und Leblosem aus mathematischer Sicht Die Geburtsstunde der modernen Wissenschaft im 17. Jahrhundert fällt mit der Geburtsstunde des Differentialkalküls von Leibniz und Newton zusammen. Seit dem 17. Jahrhundert beruht die Physik und die mathematisch-quantitative Beschreibung dynamischer Systeme auf der Lösung von Differentialgleichungen. Ausgehend von der Forderung der regulativen Geschlossenheit stellen sich folgende Fragen, wenn ein System von Differentialgleichungen, das ein Modell von einem Organismus sein soll, statische Größen (Kontrollparameter u. a.) enthält, die bei dem zu modellierenden Organismus dynamische Größen sind: 165 164 Während meines Lehr- und Forschungsaufenthalts an der University of California, Berkeley (2012–2014) hatte ich oft die Gelegenheit, mit Stuart Kauffman zu diskutieren. Er vertritt weiterhin die hier dargestellten Ideen. 165 Ein Modell kann ein gutes Modell von einem Organismus sein, wenn es statische Größen (Kontrollparameter) enthält, die bei dem zu modellierenden Organismus tatsächlich auch statisch sind, weil sie von Naturgesetzen und anderen Tatsachen diktiert
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II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
1)
Ist es möglich, ein erweitertes System zu konstruieren, bei dem einige statische Größen von Variablen ersetzt werden? 2) Wenn ja, falls bei dem neuen System neue statische Größen eingeführt werden müssen, ist der Quotient der Anzahl aller statischen Größen zur Anzahl aller dynamischen Größen (Variablen) kleiner als bei dem alten System? 3) Wenn ja, ist das dynamische Verhalten des neuen Systems geordneter oder zumindest gleich geordnet wie das des alten? Mit anderen Worten: Können wir ausschließen, dass das neue System eine Dynamik berechnet, die chaotischer ist als die Dynamik des alten? Erst wenn alle drei Fragen mit einem eindeutigen ›Ja‹ beantwortet werden können, ist es denkbar, dass mit der Zeit Modelle immer höherer Autonomie entwickelt werden; d. h. solche, die im Vergleich zu ihren Vorgängern einen kleiner werdenden Quotienten der Anzahl der Kontrollparameter und der anderen statischen Größen zur Anzahl der Variablen aufweisen. Jedoch, von der bisherigen Praxis in Physik und Systembiologie ausgehend, sehe ich keinen Grund, eine solche Entwicklung zu erwarten. Das Lösen von Differentialgleichungen beruht eben auf einer scharfen Trennung von dynamischen und statischen Größen. Dies betrifft nicht nur Modelle, die auf Vorstellungen von Materie beruhen, die aus der klassischen Physik kommen, sondern alle mir bekannten Modelle, die mit Differentialgleichungen arbeiten. Das bedeutet, dass eine sich selbst kanalisierende (organismische) Dynamik, eine ist, deren Kausalität nicht von Differentialgleichungen beschrieben werden kann. Das Leben hat einen Weg eingeschlagen, der die für das Lösen von Differentialgleichungen essentielle Trennung zwischen dynamischen und statischen Größen entschieden transzendiert. Mit der Nicht-Existenz einer von außen gesetzten Trennung zwischen dynamischen und statischen Größen korrespondiert die autonome Erzeugung der räumlichen Grenze jedes Lebewesens durch Haut, Membran oder andere geschlossene Oberflächen. Nur wenn eine Ganzheit die Grenze zwischen dynamischen und statischen Größen selbständig bestimmen kann – d. h. wenn sie beeinflussen kann,
werden, auf die der Organismus keinen Einfluss haben kann (siehe Fußnote 157 dieses Kapitels).
258 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Sind Lebewesen berechenbar?
welche Variablen stabil bleiben (Stationarität), 166 ohne Kontrollparameter zu sein –, kann es auch seine eigene räumliche Abgrenzung durch Membrane im gewöhnlichen 3D-Raum vollziehen. Denn nur eine solche Ganzheit kann ihre Randbedingungen selbst setzen. Die Problematik der Grenze der Selbstkanalisierung einer Dynamik kann vielleicht in die Sprache des Gödelschen Unvollständigkeitssatzes übersetzt und mit seiner Hilfe entschieden werden. Es wäre nicht überraschend, wenn sich zeigen würde, dass dieser Satz einen so hohen Grad der regulativen Geschlossenheit formaler Systeme, der für echte Selbstorganisation unablässig ist, ausschließt. In diesem Fall würde die Mathematik die Grenzen der Entwicklung des biosystemischen Emergentismus setzen. Es ist jedoch auch möglich, die Frage der regulativen Geschlossenheit von Systemen auf der Basis thermodynamischer Erkenntnisse zu beantworten. 2.2.b
Regulative Geschlossenheit ist aus thermodynamischer Perspektive nicht berechenbar
Die zentrale Erkenntnis, die der modernen naturwissenschaftlichen Betrachtung lebendiger Ordnung zugrunde liegt, besagt, dass bei einem offenen System, das sich fern vom Gleichgewicht befindet, die Entropie kleinere Werte annimmt als dies bei Isolation des Systems der Fall wäre. 167 Die Offenheit des Systems wird von der Entropiepumpe gewährleistet, die das System mit Energie und/oder Materie hoher Ordnung (bzw. niedriger Entropie) versorgt und die entstehende Entropie entfernt. Die Entropiepumpe regelt also die gesamtsystemische Randbedingung. Sie ist somit eine sehr wichtige statische Größe. Diese Regelung findet dadurch statt, dass dem System Gradienten energetischer und/oder stofflicher Art angelegt werden. Typische Beispiele solcher Gradienten sind die Temperaturdifferenz ΔT beim Bénard-Effekt und die Rotationsgeschwindigkeit des inneren Zylinders der Couette-Zelle. Die Versorgung der weiter oben beschriebenen systembiologischen Leitbahnen mit Stoffen aus ihrer Umgebung setzt ebenfalls Gradienten voraus. Der Begriff der Stationarität wurde im Abschn. 1.1.e.3 dieses Kapitels erläutert. Siehe Abschn. 1.1.e. Genauer genommen liegt bei Isolation kein System, sondern ein Aggregat vor. Der Unterschied zwischen System und Aggregat wird in den Abschnitten 1.1.k und 1.1.k.1 dieses Kapitels erläutert. 166 167
259 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
Ein System, das als ein Modell von einem Organismus vorgeschlagen wird, muss die Entropiepumpe in sich tragen, was jedoch nicht nur räumlich zu verstehen ist. Es ist vielmehr gemeint, dass die Entropiepumpe von der Dynamik des Systems, für deren Berechnung sie notwendige Größen liefert, berechnet werden muss – sie kann nur ein untrennbarer Teil der simulierten Selbsterhaltung sein. Aber ist das überhaupt möglich? Eine bezüglich ihrer Aussagekraft für das gesamte Paradigma der Selbstorganisation und insbesondere für den biosystemischen Ansatz kaum verstandene basale Erkenntnis der Thermodynamik besagt, dass die Selbstorganisation des Systems immer darauf hinausläuft, die dem System aufgelegten Gradienten, die es aus dem thermodynamischen Gleichgewicht entfernen, abzubauen, weil jedes selbstorganisierte System darauf ausgerichtet ist, zum Gleichgewicht zurückzukehren. Die bekannten Theoretischen Ökologen Eric Schneider und James Kay sagen: »Sobald man Systeme aus dem Gleichgewicht bringt, benutzen sie alle verfügbaren Wege, um den angelegten Gradienten entgegenzuwirken. Wenn diese zunehmen, nimmt auch die Fähigkeit des Systems zu, sich einer weiteren Entfernung vom Gleichgewichtszustand zu widersetzen […] Je weiter ein System vom Gleichgewicht entfernt wurde, desto ausgefeilter sind seine Mechanismen, um der Entfernung aus dem Gleichgewicht Widerstand zu leisten. Wenn es die dynamischen und/oder kinetischen Bedingungen zulassen, treten selbstorganisierte Vorgänge auf, die den Gradientenausgleich begünstigen […] So ist das Auftreten kohärenter selbstorganisierender Strukturen nicht länger eine Überraschung, sondern vielmehr eine zu erwartende Antwort eines Systems, denn es versucht, von außen angelegten Gradienten, die das System aus dem Gleichgewicht entfernen würden, Widerstand entgegenzusetzen und sie auszugleichen« (1997, 188; Hervorhebungen von S. K.).
Ausgehend von einer thermodynamischen Veröffentlichung des großen Göttinger Mathematikers griechischer Abstammung Constantin Carathéodory von 1909 168 haben die zwei Autoren den kursiv geschriebenen Teil am Anfang des Zitats als den »neu formulierten zweiten Hauptsatz« vorgeschlagen (ebenda). Was sie vor dem Hintergrund der Erkenntnisse Carathéodorys sagen, bedeutet Folgendes: Alle Turing-berechenbare selbstorganisierte Strukturbildung findet 168 Carathéodorys Artikel mit dem Titel »Untersuchungen über die Grundlagen der Thermodynamik« erschien in der Zeitschrift Mathematische Annalen.
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nur deswegen statt, da je höher die Ordnung der Vorgänge eines Systems ist, desto effizienter ist der Abbau der Ursachen dieser Ordnung, also der Gradienten. Die ›selbstorganisierte‹ Aktivität eines offenen dynamischen Systems ist nichts anderes als ein Resultat seiner gesetzmäßigen Tendenz, in die absolute Passivität eines abgeschlossenen Aggregats im thermodynamischen Gleichgewicht zurückzukehren. Die Entropie im Inneren des Systems sinkt, damit es umso schneller Entropie produziert und an seine Umgebung abgibt. Denn die Erhöhung der Gesamt-Entropie innerhalb des Ganzen, das aus dem System und seiner Umgebung besteht, also die Zunahme der Gesamt-Unordnung, bedeutet nichts anderes als den Abbau von Unterschieden innerhalb des Ganzen. Die Gradienten sind aber nichts anderes als energetisch-stoffliche Unterschiede innerhalb dieses Ganzen. Aus der Sicht der Physik der Selbstorganisation zieht also die Erhöhung der Distanz eines dynamischen Systems vom thermodynamischen Gleichgewicht die Erhöhung seiner Entropieproduktion mit sich (Glansdorff & Prigogine 1971). 169 Diese von den beiden Autoren – bezeichnenderweise in einem Band zum fünfzigsten Jubiläum von Schrödingers Buch What is Life?, in dem viele bedeutende Forscher zu Wort kamen – vertretene Position stellt viel mehr als nur ihre persönliche Überzeugung dar. Prigogine verbindet ebenfalls die Emergenz von Ordnung bei dissipativen Strukturen mit der Erhöhung von Entropieproduktion, d. h. mit der effizienteren Bekämpfung von externen Gradienten (1993, 189). Auch die berühmte Evolutionsbiologin Lyn Margulis und der bekannte Wissenschaftsjournalist Dorion Sagan übernehmen in ihrem Buch Leben eine ähnliche Position: »[D]as entropische Universum [ist] übersät mit begrenzten Bereichen hoher Ordnung (sogar mit Leben), denn nur durch die geordneten dissipativen Strukturen ergibt sich im Universum die größtmögliche Geschwindigkeit der Entropieentstehung. Je mehr Leben es im Universum gibt, desto schneller werden die verschiedenen Energieformen in Wärme umgewandelt« (1999, 23; Hervorhebung und erste Einfügung von S. K.).
Auf der Basis der neuen Formulierung des zweiten Hauptsatzes und des daraus abgeleiteten Verständnisses von Selbstorganisation werden Lebewesen, und das planetare Leben überhaupt, auf Gradienten-Ausgleicher reduziert. 169
Vgl. Auch: Ebeling 1976, 152 f.
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II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
Ähnliche Vorstellungen haben sich inzwischen in das in einigen Kreisen besonders populär gewordene ›Maximum Entropy Production Principle‹ niedergeschlagen. Die Idee, dass die Evolution des Lebens zum Maximum der Entropieproduktion tendiert, wird von mehreren Naturwissenschaftlern vertreten. 170 Dieses ›Prinzip‹ wird jedoch von bekannten Kennern der Physik der Selbstorganisation stark kritisiert, 171 deren Kritik ich mich anschließe. Ausgehend von Prigogines Erkenntnissen kann lediglich behauptet werden, dass während der Herausbildung eines selbstorganisierten dynamischen Systems seine Entropieproduktion steigt; vom Erreichen eines Maximums kann nicht die Rede sein (Glansdorff & Prigogine 1971). Bezugnehmend auf die fragliche Überwindung der Trennung von statischen und dynamischen, kanalisierenden und kanalisierten Größen ist vor dem Hintergrund des vorletzten Zitats Folgendes zu sagen: Die dynamischen Größen eines selbstorganisierten Systems, in dem Wirkursachen herrschen, arbeiten gegen die Gradienten, die durch einige statische Größen (Randbedingungen) extern errichtet werden. Die Selbstorganisation des Systems ist eine Entstehung von Ordnung (Strukturbildung), die zur effizienteren Zerstörung ihrer eigenen Ursachen tendiert. Aus diesem Grund kann aus physikalischen Gründen nicht erwartet werden, dass es einem dynamischen System gelingen kann, die statischen Größen, die es benötigt, sich selbst zu geben, denn seine Selbstorganisation stellt lediglich einen Mechanismus des Abbaus einiger dieser Größen dar. Diese müssen folglich dem System extern aufgezwungen werden. Die Trennung zwischen statischen und dynamischen Größen widerspiegelt also nichts anderes als die nun auch thermodynamisch untermauerte Tatsache, dass eine ausschließlich wirkursächlich-kausal geregelte Ganzheit die Bedingungen ihrer Strukturbildung sich selbst nicht geben kann und somit echte Selbstorganisation, die ein Synonym für regulative Geschlossenheit ist, nicht erreichen kann. Dem inneren logischen Raum des dynamischen Systems kann es also nicht gelingen, seinen äußeren logischen Raum zu integrieren (vgl. Abb. 2.25). Das bleibt ihm auch dann verwehrt, wenn es sich in einer Umgebung
170 Es wird, unter anderen, von Stanley Salthe (2010), Leonid Martyushev und Vladimir Seleznev (2006), Eric Schneider und Dorion Sagan (2005) und Rod Swenson (1997) vertreten. 171 Z. B. von Catherine und Grégoire Nicolis (2010) und von John Ross (2012).
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befindet, die ihm die notwendigen Energieformen und Stoffe bereitstellt. Folglich kann es die in der Abbildung 2.26 veranschaulichte regulativ geschlossene Selbstorganisation nicht geben, wenn im System nur Wirkursachen walten. Naturgesetzliche Gründe verbieten das Aufgehen des Raumes der statischen Größen in einem, wie auch immer beschaffenen, erweiterten Zustandsraum dynamischer Größen. An dieser Stelle ist an eine weiter vorne gestellte Frage zu erinnern: ob beide Wesensmomente organismischer Ordnung – durchgehende innere Kohärenz und anti-entropisches Wirken – als gleichwertige betrachtet werden können. 172 Es kann und darf nicht übersehen werden, dass einige Naturwissenschaftler der Gegenwart nicht zögern, das erste Moment dem zweiten zu unterstellen: 173 Aus ihrer, von der Thermodynamik diktierten Sicht resultiert die Besonderheit lebendiger Kohärenz (die auf der ökologischen Ebene mit der enormen kausalen Verflechtung der trophischen Ebenen der Arten, z. B. des Regenwalds, identisch ist 174) von dem »thermodynamischen Imperativ, Gradienten auszugleichen« (Schneider & Kay 1997, 190). Die Entstehung lebendiger Zweckmäßigkeit wird also auf die Tendenz dissipativer Systeme ihre Entropieproduktion zu erhöhen reduziert. Das stellt jeden intuitiven und teleologischen Zugang zum Lebendigen, der in der Erzeugung von Entropie nichts mehr als eine unerwünschte Begleiterscheinung des Strebens nach innerer Kohärenz sehen könnte, vollständig auf den Kopf. Mehrere Vertreter des Paradigmas der Selbstorganisation verweilen im Glauben, dass auf diese Weise jegliche Form der Selbstorganisation, also auch die organismische, und natürlich auch die ökologische und biosphärische, erklärt werden könne. 175 Stattdessen Siehe Abschn. 1.3.c von Kap. I. Neben Schneider und Kay betrifft diese Aussage auch alle in der Fußnote 170 genannten Autoren und viele andere, die hier nicht erwähnt werden können. 174 Dies vertreten Schneider und Kay (1997, 190). 175 Die mir bekannte extremste Form der Reduktion jeder Ebene lebendiger Ordnung, vom Bakterium bis zur planetaren Biosphäre, auf Entropieproduktion stellt das oben erwähnte ›Maximum Entropy Production Principle‹ dar. Es erhebt nämlich nicht nur die Erhöhung, sondern sogar die Maximierung der Entropieproduktion zum Wesen des Lebens. Dieses ›Prinzip‹ scheint jedoch, vielmehr den ›Imperativ‹ moderner Industriegesellschaften, die Entwertung unersetzbarer Energie- und Materialressourcen zu maximieren und somit jeglicher nachhaltigen Entwicklung zu widerstreben, zum Wesen der Natur zu deklarieren. 172 173
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II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
sollten sie sich die gleichermaßen evidente wie auch simple Frage stellen, wie es Lebewesen überhaupt gelingt, sich selbst energetischstofflich zu öffnen, wenn sie als physikochemische dynamische Systeme, für die sie in diesem Diskurs gehalten werden, notwendig gegen das arbeiten, was sie von der absoluten Ruhe des thermodynamischen Gleichgewichts entfernt, d. h. ihre energetisch-stoffliche Offenheit. Was Physiker unter dem Begriff ›offenes System‹ verstehen, müsste eigentlich »zur Offenheit von außen gezwungenes System« heißen. Im deutlichen Gegensatz dazu ist ein Organismus kein in diesem Sinne ›offenes System‹, denn es regelt autonom die Art, das Maß und den zeitlichen Vorgang seiner energetischen und stofflichen Offenheit. Er ist eine vielmehr geschlossene Ganzheit, in einem logischen Sinne dieses Ausdrucks, worauf der Begriff ›regulative Geschlossenheit‹ rekurriert. Es ist gerade letztere, die einem Organismus erlaubt, eine sich selbst energetisch-stofflich öffnende Ganzheit zu sein. So greifen z. B. die Pflanzen die Sonnenenergie kraft ihrer eigenen Dynamik, die den hochkomplexen Vorgang der Photosynthese enthält, und geben durch Atmung und andere Aktivitäten die Entropie, ebenfalls aus eigener Kraft, ab. Lebewesen konstituieren also selbst, was ihrer Ganzheit auferlegt wird, d. h. sie wirken aktiv und selektiv auf ihre Umwelt, um überhaupt die Randbedingungen, die für die Lebewesen relevant sind, zu erzeugen, in denen die Thermodynamik die Ursache für ihre Entfernung vom Gleichgewicht sieht. Die Struktur und Dynamik jeder lebendigen Ganzheit ist Gestalterin ihrer Entfernung vom Gleichgewicht – die Umgebung bietet nur das an, was anschließend vom Lebewesen hochgradig selektiv ausgesucht und aktiv erfasst wird, d. h. was seine Umwelt ausmacht. Etwas Ähnliches vollbringt auch das planetare Leben als Ganzes: Es wird nicht von der Sonne aus dem Gleichgewicht entfernt, wie es einem immer wieder eingetrichtert wird, sondern fängt durch sehr komplexe Mechanismen die vom Weltraum und der Erde bereitgestellten energetisch-stofflichen Gegebenheiten selbständig auf und treibt sich selbst damit an. Dies gelingt der Biosphäre, weil Organismen sich durch ein qualitativ anderes entropisches Verhalten auszeichnen als leblose dissipative Strukturen. Diesbezüglich haben die prozessphilosophisch orientierten Biologen Gernot und Renate Falkner Beträchtliches geleistet. Gestützt von ihrer mehr als dreißigjährigen experimentellen Forschung mit Cya264 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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nobakterien haben sie eine Theorie der physiologischen Anpassung begründet, die die rein spekulativen Aussagen aller oben erwähnten Autoren, die im Leben die Verwirklichung eines ›thermodynamischen Imperativs‹ sehen, aufs Deutlichste negiert. Sie haben nämlich gezeigt, dass der Austausch von Energie und Materie zwischen wirklichen Organismen und ihrer Umwelt nicht nur der Vorstellung der Erhöhung von Entropieproduktion, die einen effizienteren Abbau von Gradienten bedeutet, widerspricht, sondern ihr sogar geradezu entgegengerichtet ist! Das entropische Verhalten der Cyanobakterien entspricht nur dann den Vorstellungen der Selbstorganisationstheoretiker, wenn ihre Anpassung an die Umwelt gestört wird. Eine solche Störung ereignet sich, wenn eine abrupte Erhöhung des externen Nahrungsangebots, z. B. der Phosphatkonzentration im Wasser, stattfindet. Diese Erhöhung führt dazu, dass die Phosphataufnahme in großer Entfernung vom Gleichgewicht mit maximal möglicher Entropieproduktion vor sich geht. In dieser für die Bakterien energetisch unvorteilhaften Situation kommt es innerhalb weniger Minuten zu einem physiologischen Anpassungsprozess. Dabei erhält das Phosphataufnahmesystem neue Eigenschaften, bei denen die Inkorporation von Phosphat einer linearen Beziehung zwischen dem Aufnahmefluss und der Triebkraft dieses Prozesses gehorcht. Nun ist die Triebkraft direkt proportional zum Logarithmus der externen Phosphatkonzentration. Daher offenbarte sich der erweiterte Gültigkeitsbereich der linearen Fluss-Kraft Beziehung darin, dass eine graphische Auftragung des Aufnahmeflusses gegen den Logarithmus der externen Phosphatkonzentration eine Gerade beschreibt, die sich von der logarithmischen Schwellenwertkonzentration, bei der der Aufnahmefluss aus energetischen Gründen zum Erliegen kommt, bis in Konzentrationsbereiche erstreckt, in denen das Aufnahmesystem in großer Entfernung vom Gleichgewicht operiert. Der Akt der Wiederanpassung ist eindeutig auf die Reduktion der Entropieproduktion – ja sogar ihre Minimierung gerichtet (Falkner & Falkner 2014, 81, 89, 93). 176 Im Zustand der physiologischen Anpassung sind die Cyanobakterien offene Ganzheiten fern vom thermodynamischen Gleichgewicht, die zugleich im Modus der minimalen Entropieproduktion und somit mit optimaler Effizienz operieren. Das ist aus biologischer Sicht sinnvoll, da hohe Entropieproduktion große Ver176 Vgl. auch: Falkner et al. 2006, 218; Falkner et al. 1996, 292; Falkner et al. 1994; Falkner et al. 1993.
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schwendung wertvoller Energie bedeutet, woraus folgt, dass minimale Entropieproduktion ein Synonym für optimale Effizienz ist. Aus der Sicht der Selbstorganisationstheorie verwirklichen die Cyanobakterien aber ein Ding der Unmöglichkeit, da sich aus physikalischer Perspektive große Entfernung vom Gleichgewicht und niedrige Entropieproduktion gegenseitig ausschließen. Es muss betont werden, dass die eben beschriebene Linearisierung bei großer Entfernung vom thermodynamischen Gleichgewicht stattfindet. Dies widerspricht den Vorstellungen der von Prigogine formulierten Thermodynamik des Nichtgleichgewichts. Denn seiner Theorie zufolge muss bei großer Entfernung vom thermodynamischen Gleichgewicht das Verhältnis zwischen thermodynamischem Fluss und thermodynamischer Kraft – im Falle des von den Falkners untersuchten Phänomens: zwischen dem Fluss der Phosphataufnahme und dem Logarithmus des externen Nahrungsangebots – nichtlinear sein (Glansdorff & Prigogine 1971). 177 Nur nicht-adaptierte Organismen verhalten sich also wie die lediglich wirkursächlich-kausal organisierten Systeme der klassischen Physik. Die Erkenntnis, dass selbstorganisierte Systeme lediglich raffinierte Mechanismen der Steigerung der Entwertung von Energie und Materie (Entropieproduktion) sind, gilt also nur für leblose Systeme und nicht für lebendige Ganzheiten. Die Gleichsetzung von Organismen und Ökosystemen mit Verbrauchern von Gradienten verkennt unter anderem auch den wichtigen Unterschied zwischen Umwelt und Umgebung. Denn bei der physiologischen Anpassung handelt es sich nicht um eine Adaptation an extern vorgegebene statische Größen, sondern um eine intern regulierte Erzeugung einer Randbedingung durch kreative Auseinandersetzung des Organismus mit seiner Umwelt. Während leblose Systeme (irgend)eine Umgebung erleiden, kreieren lebendige Ganzheiten ihre Umwelt. Dieser essentielle Unterschied steht neben anderen Fragen im Mittelpunkt der Forschung von Gernot und Renate Falkner, die ihre experimentellen und theoretischen Erkenntnisse im Lichte der Whitehead’schen Metaphysik interpretieren (2014). 178
Vgl. auch: Ebeling 1976, 152 f. Vgl. Auch: Falkner et al. 2006, 219. Gernot und Renate Falkner verdanke ich viele wichtige Erkenntnisse und Anregungen bezüglich der Relevanz der Prozessphilosophie für die Biologie. 177 178
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2.2.c
Kein ›Perpetuum Mobile der Selbstregulation‹ durch Wirkursachen-Kausalität
Die aus mathematischen und thermodynamischen Überlegungen erreichten Resultate der zwei letzten Abschnitte können auch als Beweis der Nichtexistenz eines Perpetuum Mobile der Selbstregulation angesehen werden. Dabei kann natürlich nicht ein gewöhnliches Perpetuum Mobile gemeint sein, denn die Negation der Existenz eines Systems, das keine Entropie produziert, kann seit Jahrhunderten sowieso nicht mehr bezweifelt werden. Auch die fraglichen regulativ geschlossenen Systeme würden selbstverständlich Entropie produzieren, sonst bräuchten sie keine Entropiepumpe. Unter einem ›Perpetuum Mobile der Selbstregulation‹ ist etwas viel subtileres als ein gewöhnliches Perpetuum Mobile gemeint. Es handelt sich um ein ›Perpetuum Mobile‹ höherer Ordnung, mit dem das Konzept der Entropiepumpe (also der Versorgung mit hochwertiger Energie und der Entsorgung von Entropie) auf die Vorstellung eines sich selbst kanalisierenden wirkursächlich-kausalen Systems ausgeweitet wird. Die Schlussfolgerungen der letzten Abschnitte zeigen allerdings, dass dieser Vorstellung die Idee der Produktion einer Entropie höherer Ordnung – die ›Regulationsentropie‹ genannt werden könnte – zuwider läuft. Diese wäre ein Maß der Entgleisung der Dynamik des Systems vom Modus der regulativen Geschlossenheit. Davon ausgehend könnte ein dynamisches System, das ein Modell von einem Organismus wäre, als ein Perpetuum Mobile der Selbstregulation bezeichnet werden. So könnte jedes dynamische System bezeichnet werden, das seine regulative Geschlossenheit für eine biologisch signifikante Zeit nicht einbüßen, d. h. während dieser Zeit keine Regulationsentropie produzieren würde. Das System würde Einfluss über die seine Dynamik kanalisierenden Größen gewinnen, ohne sich selbst zunehmend zu desorganisieren. Das ist etwas ganz anderes als ein gewöhnliches Perpetuum Mobile. Die in den zwei letzten Abschnitten erreichten Resultate zwingen jedoch eine andere Vorstellung auf: Jedes wirkursächlich-kausale System, dessen Dynamik aufgrund extern festgelegter und von ihr unbeeinflusster statischer Größen emergiert ist, beginnt sofort Regulationsentropie zu produzieren, wenn die Dynamik, egal in welcher Weise, Einfluss auf die Regulation dieser Größen gewinnt. Seine wirkursächlich-kausal erzeugte Dynamik zerstört also progressiv die Be-
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dingungen ihrer eigenen Fortsetzung, womit sie sich fortschreitend desorganisiert – genauer: selbstdesorganisiert. Die Thermodynamik irreversibler Vorgänge fernab vom Gleichgewicht schließt jedoch die Erreichbarkeit echter organismischer Autonomie nicht prinzipiell aus. Sie verbietet lediglich die Berechenbarkeit regulativer Geschlossenheit auf der Basis von ausschließlich wirkursächlich-kausaler Interaktionen. Dieses Resultat markiert also keineswegs eine Endstation, sondern unterstreicht lediglich die Notwendigkeit, die Suche nach dem Wesen des Lebendigen auf ein metaphysisches Terrain auszudehnen, das umfassender ist als die (bio) szientistisch-materialistische Wirkursachen-Metaphysik und ihre abstrakten Räume. 2.2.d
›Dynamische Tiefe‹ – ein der regulativen Geschlossenheit angemessenes Maß von Komplexität
Ausgehend von der Problematik der regulativen Geschlossenheit kann ein Verständnis von Komplexität entfaltet werden, das, anders als weiter oben erläuterte Vorstellungen, 179 sowohl den essentiellen Unterschied zwischen der kausalen Organisation von Lebewesen und leblosen Systemen hervorhebt als auch kontraintuitive Vorstellungen vermeidet. Es lassen sich drei grundsätzlich verschiedene Ebenen der Autonomie dynamischer Ganzheiten unterscheiden. Die erste Ebene ist die der linearen Systeme der klassischen Physik, Chemie und Technik. Solche Systeme (wie z. B. der harmonische Oszillator, das ideale Pendel, ein mechanisches Uhrwerk und ein in einem Zylinder eingeschlossenes Gas im Zustand des thermodynamischen Gleichgewichts oder in der Nähe dessen) befinden sich entweder im Zustand der maximal möglichen Entropie oder in seiner Nähe. 180 Lineare Systeme produzieren entweder keine Entropie oder Siehe Abschn. 1.1.c dieses Kapitels. Ein mechanisches Uhrwerk ist zwar sehr geordnet, aber es ist ihm auch gar nicht möglich durch seine eigenen Operationen seine mechanische Struktur abzubauen, weil diese ausschließlich in statischen Relationen zwischen statischen Größen besteht. Die statischen Größen eines mechanischen Uhrwerks sind die Gestalt all seiner beweglichen und unbeweglichen Elemente (Zahnräder, Hebel, Feder u. a.) und die Konstellation der extern fixierten Positionen dieser zueinander. Wenn es die in seiner Feder gespeicherte potentielle Energie (ein ihm extern auferlegter mechanischer Gradient) verbraucht und stehen bleibt, hat es den ihm höchst möglichen Grad der Desorganisation erreicht. 179 180
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operieren im Zustand der minimalen Entropieproduktion (Glansdorff & Prigogine 1971). 181 Das aus der Perspektive der vorliegenden Untersuchung essentiellste Merkmal dieser Systeme besteht darin, dass die Kanalisierung ihrer Dynamik (wenn sie noch nicht den Zustand der maximal möglichen Entropie bzw. des thermodynamischen Gleichgewichts erreicht haben) nur von der Struktur ihrer statischen Größen bestimmt wird. So hängt z. B. die Frequenz einer Pendeluhr nur von der Länge des Pendels, der Stärke des Gravitationsfeldes, der Reibung und der treibenden Kraft ab – diese sind aber ausschließlich statische Größen, auf die ihre Dynamik keinen Einfluss hat. Das dynamische Verhalten der Pendeluhr wird also ausschließlich von statischen Größen kanalisiert. Eine höhere Ebene der Autonomie muss allen nichtlinearen Systemen der Selbstorganisationstheorie und den Modellen der gegenwärtigen Systembiologie zugesprochen werden. Denn das Kernmerkmal dieser Systeme, die ich als nichtlineare Ganzheiten erster Ordnung bezeichne besteht darin, dass ihre Dynamik sich teilweise selbst kanalisiert. Deshalb verlangt die Berechnung ihrer dynamischen Größen nach Formalismen, in denen nicht nur statische, sondern auch andere dynamische Größen desselben Systems kausale Faktoren sind. Weder die Entropie solcher Systeme erreicht ihr mögliches Maximum, noch minimiert sich ihre Entropieproduktion (ebenda), 182 woraus der unvorsichtige Schluss gezogen wurde, dass sie ihre Entropieproduktion maximieren. 183 Die höchste Ebene der Autonomie kommt schließlich den nichtlinearen Ganzheiten zweiter Ordnung zu – den Organismen. Die Dynamik selbst des einfachsten Organismus kann nicht auf der Basis der Trennung zwischen dynamischen und statischen Größen adäquat beschrieben werden, weil in seiner Organisation fast alle Größen, die in den heutigen Modellierungen als statische behandelt werden, dynamisch sind. Die erste und zweite Ebene der Autonomie zeichnen sich also durch das gemeinsame Merkmal der scharfen Trennung zwischen statischen und dynamischen Größen, z. B. zwischen Kontrollparametern und Variablen, aus. Eine der gravierendsten Folgen dieser Dichotomie ist, dass lineare und nichtlineare Systeme erster Ordnung 181 182 183
Vgl. auch: Ebeling 1976, 145, 147. Vgl. auch: Ebeling 1976, 152 f. Siehe Abschn. 2.2.b dieses Kapitels.
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II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
nicht zu einer autonomen Selbstversorgung durch eigenständige Setzung ihrer Randbedingungen fähig sind, weshalb sie keine Umwelt, sondern lediglich eine Umgebung haben. Organismen sind die einzigen Ganzheiten der drei Ebenen, die regulativ geschlossen bzw. selbstregulativ operieren und deshalb eine Umwelt besitzen. Um die drei verschiedenen Grade der Autonomie von Dynamiken zu bezeichnen, haben Terrence Deacon 184 und ich in einer gemeinsamen Veröffentlichung den Begriff der dynamischen Tiefe (dynamic depth) eingeführt (2014). Angeregt von Bennetts ›logischer Tiefe‹ als Maß von Komplexität, 185 haben wir vorgeschlagen, Komplexität als dynamische Tiefe zu verstehen und drei diskrete Ebenen dieser Größe zu unterscheiden. Dynamische Tiefe bzw. Komplexität der Ebene 1 wird der kausalen Organisation linearer Systeme zugewiesen, deren Dynamik überhaupt keine Selbstkanalisierung bzw. regulative Geschlossenheit aufweist. Dynamische Tiefe bzw. Komplexität der Ebene 2 kommt den Systemen der Selbstorganisationstheorie, einschließlich der Modelle der Systembiologie zu, deren Dynamik nur zu einem kleinen Grad regulativ geschlossen ist. Allen Organismen haben wir dynamische Tiefe oder Komplexität der Ebene 3 zugesprochen, weil sie im deutlichen Gegensatz zu gegenwärtig bekannten Artefakten, formalen Modellen dynamischer Systeme und allen nicht biologischen natürlichen Ganzheiten 186 regulativ geschlossen operieren. Dieses Verständnis von Komplexität steht der wörtlichen Bedeutung dieses Begriffs näher, die im Griechischen ›symplekein‹ wurzelt, das ›zusammenflechten‹ heißt, als die weiter vorne in diesem Kapitel beschriebenen Maße von Komplexität. Die drei Ebenen der dynamischen Tiefe entsprechen drei qualitativ verschiedenen Arten der kausalen Verflechtung zwischen dynamischen und statischen Größen und fokussieren somit auf die Selbstverursachung (Autonomie) bzw. Selbstregulation der Dynamik. Der ersten Ebene kommt Komplexität Null zu, da ihre Systeme keine Autonomie aufweisen. Sie sind nicht Der biologische Anthropologe Terrence W. Deacon war mein Gastgeber während meines Lehr-, und Forschungsaufenthalts an der University of California, Berkeley (2012–2014). Ich verdanke ihm viele anregende und schöne Diskussionen, in denen ich wertvolle Einsichten in das Wesen des Lebendigen gewann. 185 Siehe Abschn. 1.1.c dieses Kapitels. 186 Hier sehe ich von bestimmten interessanten Interpretationen der Quantentheorie ab, die, teilweise Whitehead folgend, mikrophysikalischen Phänomenen eine organismusartige Autonomie zusprechen. 184
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komplex, sondern lediglich kompliziert. Ihre Kolmogorov-Komplexität 187 und ›logische Tiefe‹ messen nur ihre Kompliziertheit.
2.3 Die Organismus-Problematik Zwischen der Regulationsentropie und der statistischen Entropie eines Systems besteht eine starke Korrelation, obwohl sich beide Größen deutlich voneinander unterscheiden. Wenn erstere zunimmt, wächst auch letztere, da mit zunehmender Desorganisation eines Systems notwendig auch die Unbestimmtheit seines Zustands wächst. Sofort, also nachdem eine ausschließlich durch Wirkursachen funktionierende Ganzheit (System) Einfluss über diejenigen Größen gewinnt, die für den Antrieb und die Kanalisierung ihrer Dynamik erforderlich sind, wird ihre statistische Entropie anfangen, kontinuierlich anzusteigen und schließlich ihren maximal möglichen Wert erreichen. 188 Der Gesamtzustand eines simulierten Organismus würde in die endlose Weite eines »ewig schweigenden Raumes« – Pascal paraphrasierend 189 – lebensfeindlicher physikalischer Möglichkeiten nach und nach verloren gehen, anstatt selbstregulativ innerhalb des biologisch sinnvollen, schmalen Trajektorien-Bündels des Lebendigseins zu verweilen (vgl. Abb. 2.26). So würde die Größe des für den tatsächlichen Zustand des Systems in Frage kommenden Gebietes des Zustandsraums konstant ansteigen, und ihren möglichen Höchstwert erreichen. Die Tatsache der pausenlos wachsenden Entropie – das sich selbst überlassene System würde nicht nur zeitweise, sondern permanent seine Entropie erhöhen – bedeutet aber nichts anderes, als dass es permanent Orte des Zustandsraums betreten würde, in denen benachbarte Trajektorien voneinander divergieren, und sich mit der Zeit stark voneinander entfernen. Denn Entropie setzt immer die Existenz vieler Möglichkeiten voraus, womit ihr permanentes Wachstum die pausenlose Begegnung des systemischen Gesamtzustands mit verschiedenen alternativen Möglichkeiten besagt. Im
Siehe Abschn. 1.1.c dieses Kapitels. Diese Aussage sollte nicht mit dem im Abschnitt 2.2.b dieses Kapitels kritisierten ›Maximum Entropy Production Principle‹ in Beziehung gebracht werden. Denn dieses ›Prinzip‹ bezieht sich nicht auf Entropie, sondern auf Entropieproduktion. 189 Siehe Fußnote 1 dieses Kapitels. 187 188
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erweiterten Zustandsraum würden sehr viele Instabilitäten, also Orte der starken Divergenz eng benachbarter Trajektorien, enthalten sein. Das Phänomen der Instabilität tritt selbst unter externer Vorgabe derjenigen statischen Größen auf, mittels derer die Dynamik kanalisiert wird. 190 Um wie viel höher muss aber unter den biologisch realistischen Bedingungen der Dynamisierung der statischen Größen die Anzahl der möglichen physikalischen Entwicklungen geschätzt werden, als dies bereits für die regulativ offene Arbeitsweise der Systembiologie der Fall ist? Die enorme Größe dieser Zahl wäre nicht problematisch, wenn organismische Trajektorien nicht in sehr schmalen Inseln des erweiterten Zustandsraums begrenzt wären (vgl. Abb. 2.26) oder wenn angenommen werden dürfte, dass die blinde Wirkursachen-Kausalität eines solchen Systems es irgendwie vollbringt, nur Zustände des Lebendigseins einzunehmen. Diese Annahme wäre aber vollkommen unbegründet, denn aus physikalischer Sicht sind Zustände, die für den Tod stehen, und solche, die das Leben repräsentieren, gleichberechtigt. Zusätzlich dazu muss noch die hohe Sensibilität des Systems gegenüber Störungen in der Nähe solcher Orte der Instabilität bedacht werden. Sie können aus der Umgebung stammen, z. B. aus anderen Organismen, und somit recht große Werte erreichen, was ihnen erlaubt, die Entwicklung eines instabilen Systems radikal zu verändern. Sie können aber auch internen Ursprungs sein, wie dies beim sogenannten ›weißen Rauschen‹, das in Fluktuationen thermischer oder quantenphysikalischer Natur besteht, der Fall ist. Sein Einfluss auf die Entwicklung des Systems gleicht der Wirkung kleiner externer Störungen und kann den Gesamtzustand eines instabilen Systems von einer Trajektorie auf eine andere versetzen, die sich in ihrer direkten Nähe befindet. Unter der nicht gerichteten Wirkung des weißen Rauschens kann das System, angesichts der starken Divergenz benachbarter Trajektorien, leicht einen ganz anderen Entwicklungsweg einschlagen. 191 Die Fluktuationen, die stochastischer – also zufälliger – Natur sind, können nicht durch einen noch so erweiterten Zustandsraum in eine deterministische Beschreibung inteDas belegen eindeutig die Abbildungen 2.15, 2.19 und 2.23. Das kann auch schon einem System passieren, das mit einem sehr einfachen Zustandsraum von zwei Dimensionen abgebildet werden kann (siehe Abb. 2.15 und 2.19). 190 191
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griert werden, weil der Zufall des ›weißen Rauschens‹ nicht auf Determinismus zurückzuführen ist, sondern als eine eigenständige, nicht reduzierbare Größe wirkt. Mit dem ›weißen Rauschen‹ bricht der ›dionysische Rausch‹ in die ›apollinische Ordnung‹ der deterministischen Trajektorien ein und bringt sie durcheinander. Vor diesem Hintergrund muss die Antwort auf die Frage nach der Durchführbarkeit des Gedankenexperiments der Modellierung von Organismen unter der Annahme der Alleinherrschaft von Wirkursachen-Kausalität wie folgt ausfallen: Ein sich selbst überlassenes dynamisches System, das ein ernstzunehmendes Modell von einem Organismus sein könnte, müsste sehr oft Bereiche prinzipiell 192 indeterminierter (weil instabiler) Dynamik betreten, in denen unmittelbar benachbarte mögliche Entwicklungen stark voneinander divergieren, sodass es sich in Bereiche des physikalisch Möglichen, aber biologisch Verheerenden verlieren würde. Es müsste andauernd kausal unentscheidbare und die Gefahr der Entgleisung in Zustände des Todes in sich bergende Orte durchqueren. Auf der Basis dieser Überlegungen stellt sich mit Notwendigkeit die Frage, wie es einem Organismus gelingen kann, nur solche physikochemisch möglichen Entwicklungsbahnen einzuschlagen, die für die Aufrechterhaltung seiner Struktur oder für das Erreichen einer für seine Art typischen Gestalt am Ende seiner Embryogenese stehen, wenn sein Wesen die metaphysischen Grundannahmen der biosystemischen Forschung, die auf dem szientistischen Materialismus beruht, nicht transzendiert. Diese Aporie macht die für die vorliegende Untersuchung so zentrale Organismus-Problematik aus: Was erlaubt einem Organismus, die Entgleisung in Bereiche der Desorganisation bzw. der embryonalen Fehlentwicklung zu vermeiden, wenn er während seiner Ontogenese sehr oft vor verschiedenen physikalisch gleichberechtigten Möglichkeiten steht und dabei über keine teleologische Subjektivität verfügt, die ihm erlauben würde, unter diesen Möglichkeiten, eine biologisch sinnvolle Auswahl zu treffen? Kurz: Wie gelingt es einzelligen und erwachsenen vielzelligen Organismen, längere Zeit am Leben zu bleiben, und Embryonen, die Entgleisung in die Monstrosität (Teratogenese) fast immer zu vermeiden, wenn sie lediglich von blinden Wirkursachen angetriebene dynamische Systeme sind? 192 Zur Bedeutung des Ausdrucks ›prinzipiell‹ in diesem Zusammenhang siehe Fußnote 74 dieses Kapitels.
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X1
X2 X 3
XN-2 XN-1 XN Abb. 2.27: Die lange Kurve repräsentiert ein schmales Bündel biologisch sinnvoller Trajektorien ontogenetischer Entwicklung, während die gestrichelten Linien für physikochemisch mögliche aber biologisch verheerende Entwicklungen stehen. Sie veranschaulichen die Entgleisung in Bereiche der zunehmenden Desorganisation. Im Falle embryogenetischen Werdens stehen sie zunächst für Teratogenese und bei stärkerer Entgleisung für Tod.
Ausgehend von der Organismus-Problematik ist offensichtlich, dass momentan nichts für die prinzipielle 193 Berechenbarkeit der Ontogenese spricht. Kant wird also noch eine ganze Weile Recht behalten, denn einen Newton des Grashalms 194 kann es auf biosystemischer Basis nicht geben; Darwin war jedenfalls keiner, wie Mayr fälschlicherweise denkt (1991, 79). 195 193 Zur Bedeutung des Ausdrucks ›prinzipiell‹ in diesem Zusammenhang siehe Abschn. 2 dieses Kapitels. 194 Siehe Kritik der Urteilskraft, II, § 75; B 338. 195 Die Vorstellung, die Ontogenese ganzer Lebewesen sei prinzipiell mathematisch
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Das negative Resultat des Gedankenexperiments betrifft keineswegs nur seine Durchführbarkeit auf der Basis von Differentialgleichungen. Dass die prinzipielle Berechenbarkeit organismischen Werdens mit Differentialgleichungen negiert wurde, 196 bedeutet nicht, dass die Kritik sich nur auf den Differentialkalkül begrenzt. Dies muss betont werden, weil oft behauptet wird, dass Organismen, anders als die dynamischen Systeme der klassischen Physik, 197 eine diskontinuierliche Dynamik aufweisen – weshalb es sowieso klar sei, dass Systeme von Differentialgleichungen sie nicht simulieren können. Organismen würden informationsverarbeitende Systeme sein, d. h. Systeme, die weder eine kontinuierliche noch eine integrierbare Dynamik aufweisen. 198 Die Anwendbarkeit informationstheoretischer Vorstellungen auf die Biologie ist allerdings umstritten. Abgesehen davon ist hervorzuheben, dass die Essenz der Organismus-Problematik in Folgendem besteht: In der, innerhalb des Horizonts des gegenwärtig Denkbaren, nicht möglichen Überwindung der Trennung zwischen statischen und dynamischen Größen, die unsere Formalismen charakterisiert, aber von jedem noch so einfachen Organismus transzendiert wird. Dies ist aber nicht nur ein Problem der Theorie dynamischer Systeme, ob sie mit Differentialgleichungen arbeitet oder nicht, sondern ein generelles Problem der Logik unserer Formalismen, die auf quantitativen Beschreibungen abzielen. Aus diesem Grund muss betont werden, dass die OrganismusProblematik keineswegs ein auf die gegenwärtigen Modellierungen beschränktes Problem ist. Systembiologische Modelle sind zwar Modelle für (und nicht von) biologische(n) Vorgänge(n), aber sie sind
beschreibbar, hat ohnehin nichts mit der Evolutionsproblematik zu tun. Selbst wenn man nicht an die Richtigkeit des neodarwinistisch orientierten Evolutionismus zweifelt und Darwin weiterhin den Status eines Newton der Evolution zuspricht, kann man ihn keineswegs als Newton der Ontogenese, auch nicht der eines Grashalms, ehren. 196 Siehe Abschn. 2.2.a.3 dieses Kapitels. 197 Zur Bestimmung des Terminus ›klassische Physik‹ siehe Fußnote 18 dieses Kapitels. 198 Dies hat der Theoretische Biologe und Physiker Howard Pattee deutlich gezeigt. Er hat die Nichtintegrierbarkeit und Diskontinuität von Vorgängen der Verarbeitung genetischer Information betont (2006, 225 f.) und die integrierbare und kontinuierliche Dynamik selbstorganisierter dissipativer Systeme der nichtintegrierbaren und diskontinuierlichen Dynamik von Systemen, die Symbole verarbeiten, gegenübergestellt (2012, 206).
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zugleich immer Spiegelungen des den Modellen zugrunde gelegten Verständnisses von Kausalität und Materialität. Sie implizieren eben die metaphysischen Ideen der Modellierer in Bezug auf das Wesen der Materie und der Gesetzmäßigkeiten materieller Vorgänge. Das in diesem Kapitel beschriebene Gedankenexperiment dient der Aufdeckung der Grenzen dieses metaphysischen Vorverständnisses, dessen tiefsten Wurzeln im weiteren Verlauf dieses Kapitels offengelegt werden. 199 Die argumentative Vorwegnahme des negativen Ausgangs einer unter unbegrenzten epistemischen und technischen Möglichkeiten durchgeführten Turing-Berechnung echter organismischer Selbstregulation weist darauf hin, dass es sich dabei keineswegs um die Begrenztheit gegenwärtiger Modelle für Organismen handelt – denn dann ginge es nur um ein methodisches, epistemisches oder technisches Problem und nicht um ein metaphysisches. Die Organismus-Problematik kann aber weder auf die noch nicht perfekte Kenntnis der materiellen Elemente von Organismen noch auf das Niveau der heutigen physikochemischen Theorien noch die gegenwärtigen und zukünftigen Grenzen der Computerleistung noch die Beschränkungen, die dem Differentialkalkül eigentümlich sind, zurückgeführt werden. Jenseits dieser epistemischen und methodischen Grenzen gibt es offensichtlich ein metaphysisches Problem. Es besteht darin, dass seit dem Auftreten des ersten Organismus auf der Urerde vor fast vier Milliarden Jahren Vorgänge stattfinden, deren Kausalität aus prinzipiellen Gründen die Logik unserer auf der Trennung von statischen und dynamischen Größen operierenden Formalismen transzendiert. Schließlich sei daran erinnert, dass die alt-teleonomische Überzeugung bezüglich der steuernden Rolle der genetischen Information schon im ersten Kapitel dieser Untersuchung verworfen wurde. Folglich muss hier nicht die Lösung diskutiert werden, die viele Biologen heute noch für die plausibelste empfinden – nämlich, dass durch die Evolution selektierte genetische Information bzw. genetische Programme das beitragen würden, was der Wirkursachen-Kausalität der Physik fehlt. In den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts werden Gene immer weniger als Ordner biochemischer Vorgänge und immer mehr als gewöhnliche Teilnehmer eines großen Netzwerks blinder Wirkursachen gedacht. Im scharfen Gegensatz zum neodarwinisti-
199
Dies wird hauptsächlich in den Abschn. 3.2.a.1 bis 3.2.a.5 geleistet.
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schen Teleonomismus wird die Evolution solcher Netzwerke nicht auf die Mutation und natürliche Selektion von Genen zurückgeführt, sondern letztere werden als Produkte der Evolution von biomolekularen Netzwerken verstanden. In diesem Zusammenhang sind die Arbeiten von Terrence Deacon beachtenswert. 200 Wenn aber genetische Information durch die Evolution komplexer 201 Ganzheiten entsteht, muss zuerst die hier entfaltete Organismus-Problematik gelöst werden, bevor Informationstheorien des organismischen Werdens entstehen, die jenseits der substanzphilosophischen Logik des alten Teleonomismus operieren. Die fortschreitende Dekonstruktion der substanzialistisch-präformationistischen Gen-Vorstellung wird natürlich auch die biologische Informationstheorie transformieren. Welche Rolle auch immer der Begriff der genetischen Information im biosystemischen Denken spielen wird, gegenwärtig gibt es keine triftigen Gründe, sie für den wirkursächlich-kausal operierenden Korrektor systemischer Entgleisungen zu halten.
200 Deacon hat sich unter anderem auch mit dem Problem der Entstehung des Lebens auf der Urerde auseinandergesetzt. Er hat ein Gedankenexperiment vorgeschlagen, das er autogen bzw. autocell nennt (2012, 305–325; 2006a, 141 ff.; 2006b, 141–143; Koutroufinis 2013, 328–330). ›Autogens‹ sind hypothetische autokatalytische und selbstassemblierende molekulare Strukturen, die die Dimensionen von Viren haben, und polyedrisch oder zylindrisch aussehen (2012, 305). Deacon schreibt ihnen dynamische Tiefe bzw. Komplexität der Ebene 3 zu; sie seien also komplexer als die dynamischen Systeme der gegenwärtigen Selbstorganisationstheorie. Durch Mutation und natürliche Selektion würden diese Strukturen evolvieren und Merkmale ihrer Umgebung zweckmäßig repräsentieren, sodass sie einen intern regulierten Austausch mit ihr aufrechterhalten könnten. Sie würden also eine Umwelt bekommen. Dabei könnten in ihrem Inneren Polynukleotid-Sequenzen evolvieren (2012, 445). Diese würden den Aufbau von ›autogens‹ auslösen und kanalisieren können, weil aufgrund der natürlichen Selektion die räumliche Anordnung der Sequenzen die zeitliche Aufeinanderfolge molekularer Reaktionen des Aufbaus der ›autogens‹, repräsentieren würde (Koutroufinis 2013, 330–333). Sie wären also Sequenzen von molekularen Zeichen und somit Vorformen von Genen. De Lorenzo denkt ebenfalls, dass die Gene ihre Entstehung der Evolution verdanken (2014). Anders als Deacon, dessen ›autogens‹ präbiotische Strukturen sind, konzentriert er sich auf metabolische Netzwerke echter Organismen (ebenda). 201 Von Komplexität ist hier die Rede im Sinne der dynamischen Tiefe.
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3.
Auf der Suche nach ontologischen Alternativen zum systemtheoretischen Denken
Vertreter des biosystemischen Emergentismus und des formalen systemtheoretischen Denkens überhaupt betonen häufig, dass Organismen mehr als dynamische Systeme fernab vom Gleichgewicht sind. »Die Physik bietet lediglich einen Rahmen an, innerhalb dessen sich das Leben, sowohl des einzelnen Individuums als auch der Biosphäre insgesamt, entwickeln kann«, hört man oft auf Konferenzen. Es ist jedoch nicht ausreichend, dies zuzugeben. Vielmehr muss darüber geschrieben und öffentlich diskutiert werden, worin dieses ›mehr‹ besteht, zumal der Rückzug zum ›genetischen Programm‹ kein gangbarer Weg mehr ist. Auch der typisch biologische Zufluchtsort – die Evolution, genauer gesagt: die ›natürliche Selektion‹ – bietet hier keinen wirklichen Ausweg. Die Evolutionstheorie kann nur dann sinnvoll in physikalische Probleme einbezogen werden, wenn die Lösung dieser überhaupt möglich ist. Die Evolution setzt die Entstehung von wirklich komplexen Ganzheiten (dynamische Tiefe der Ebene 3) voraus, die evolvieren können. Die Organismus-Problematik zeigt aber nichts weniger, als dass echte organismische Selbstorganisation, d. h. regulative Geschlossenheit außerhalb der Reichweite des szientistischen Materialismus, der die metaphysische Grundlage der etablierten Evolutionstheorien bildet, steht. Diese Denkart, die sich in den abstrakten Möglichkeitenräumen der klassischen Physik exzellent verkörpert, versagt in Anbetracht des lebendigen Werdens. Dieses Faktum verweist auf die Notwendigkeit der Überwindung des formal-systemtheoretischen Denkens, das an bestimmten Vorstellungen von ›System‹, ›Element‹, ›Relation‹, ›Zustand‹, ›Möglichkeit‹, ›Entwicklung‹, ›Ordnung‹, ›Kausalität‹ und ›Komplexität‹ unlösbar gebunden ist. Diese Begriffe spannen jedoch eine exakt-wissenschaftliche Ontologie auf, innerhalb deren Rahmen lebendige Vorgänge zu verorten wären. Im letzten Teil dieses Kapitels wird der Versuch unternommen, einerseits die Richtlinien der Suche nach einer neuen Ontologie festzulegen und andererseits die Rolle der gegenwärtigen formal-systemtheoretischen Ontologie innerhalb des neuen Gebäudes zu skizzieren.
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Ontologische Alternativen zum systemtheoretischen Denken
3.1 Was vom biosystemischen Emergentismus übernommen wird: Die Wirkursachen-Kausalität begründet die physischen Möglichkeiten des organismischen Werdens In Anbetracht der Organismus-Problematik stellt sich die Frage, ob der biosystemische Ansatz das Wesen des organismischen Werdens vollständig verfehlt, weil er diejenigen Aspekte des Lebendigen nicht erfassen kann, die jenseits von Wirkursachen-Kausalität und abstrakter Räumlichkeit stehen. Vor solchen voreiligen Schlüssen muss jedoch gewarnt werden. Denn wenn Organismen aus Molekülen und Atomen bestehen, die durch die Begriffe und Methoden von Physik und Chemie beschrieben werden können, was niemand leugnen kann, dann ist davon auszugehen, dass sie auch den für diese Entitäten geltenden universellen Naturgesetzen gehorchen. Folglich ist die an diesen materiellen Entitäten gebundene Wirkursachen-Kausalität – wenn auch nicht als die alles beherrschende – zumindest als eine besonders wichtige Dimension organismischen Seins zu betrachten. Der biosystemische Emergentismus bezieht sich also auf eine der zentralen Dimensionen des Organismus. Damit steht außer Frage, dass die Theorie dynamischer Systeme, samt ihren Begriffen, Methoden und Mitteln der Darstellung ein sehr dienliches Instrument ist, um einen wesentlichen Aspekt jedes Lebewesens zu beschreiben. Dies leuchtet vor allem dann ein, wenn der Versuch einer Beschreibung sich nicht dem engen Gebot der Berechenbarkeit unterwirft, sondern seinen Sinn primär in der Erkundung nicht ausreichend erkannter Seiten des organismischen Wesens sieht. Die Theorie dynamischer Systeme hilft, diejenige Dimension organismischer Gesetzmäßigkeit besser zu verstehen, die von Aspekten der Wirklichkeit diktiert wird, die die Physik erforscht. Man kann also nicht die abstrakten Räume abschaffen, ohne dasjenige ebenfalls aus den Augen zu verlieren, was sie sichtbar machen: Die Tatsache, dass der Organismus in physikochemische materielle Elemente analysierbar ist, zwischen denen bestimmte gesetzmäßige Interaktionen bestehen. Über dieses Faktum kann nur ein überzeugter Irrationalist und Gegner der Naturwissenschaft hinwegsehen. Die Übersetzung der regulativen Geschlossenheit jedes echten Organismus in die Sprache der abstrakten Räumlichkeit, die zur Idee des erweiterten Zustandsraumes führte, dient der Veranschaulichung der Besonderheit organismischer Körperlichkeit und Dynamik mit den Mitteln der
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II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
exakten Wissenschaften, und nicht dem Stellen einer rhetorischen Frage über die Grenzen letzterer. Das auf diese Weise erhaltene Resultat beweist nicht die Sinnlosigkeit der physikalisch-biosystemischen Erforschung des Lebendigen, sondern zeigt lediglich, dass ihre Ontologie ergänzt werden muss. Die Durchführung eines solchen metaphysischen Unternehmens ist heute viel weniger problematisch, als dies noch vor wenigen Jahrzehnten der Fall wäre. Denn heute befindet man sich in der außerordentlich glücklichen Lage, physikalische Gesetzmäßigkeit mit kausaler Unbestimmtheit verbinden zu dürfen. Das fundiert eine echte Möglichkeit, Materialität mit Subjektivität versöhnen zu können, bzw. Determinismus (im weiteren Sinne dieses Wortes, der auch das deterministische Chaos einbezieht) mit Kreativität und Freiheit in Verbindung zu bringen, womit die Annäherung zwischen Naturund Geisteswissenschaften erleichtert wird. An dieser Stelle ist es möglich, klarer zu akzentuieren, inwiefern das für die rein biosystemische Interpretation des Organismus negative Resultat, das in der Organismus-Problematik zusammengefasst ist, zugleich eine wertvolle Erkenntnis über die organismische Dynamik liefert: Es macht auf der Basis naturwissenschaftlich begründeter Überlegungen sichtbar, was intuitiv gewusst wird: Dass in jedem Lebewesen permanent eine Auswahl zwischen verschiedenen physischen Möglichkeiten stattfindet, unabhängig davon, wie unbewusst dies geschieht, d. h. wie betäubt das organismische Subjekt ist. Ausgehend von den formalen Mitteln des biosystemischen Emergentismus (allem voran den abstrakten Möglichkeitenräumen) und seinen Grenzen bezüglich regulativer Geschlossenheit ist es möglich – ohne apriori naturphilosophisch-metaphysisch zu argumentieren –, über die Existenz von möglichen Bahnen des Werdens bei jedem Lebewesen, auch bei dem einfachsten Bakterium, ernsthaft zu diskutieren. Die Frucht des langen argumentativen Prozesses, der um das Gedankenexperiment der Berechenbarkeit regulativer Geschlossenheit entfaltet wurde, ist die Ableitung der Existenz einer enormen Menge von möglichen Entwicklungen eines dynamischen Systems organismischer Komplexität (dynamischer Tiefe der Ebene 3), ohne den Weg von Physik und formaler Systemtheorie verlassen zu haben. Dies ist ein großer Gewinn, denn ohne die Existenz echter physischer Möglichkeiten kann von Subjektivität, geschweige von Kreativität und Freiheit, keine Rede sein, wenn nicht der Preis einer radikalen dualistischen Spaltung zwischen Erlebensfähigkeit und Körperlich280 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Ontologische Alternativen zum systemtheoretischen Denken
keit, d. h. der Negation von Leiblichkeit bezahlt werden soll. Auf diese Weise gewinnt das Phänomen der Instabilität, das Prigogine zu einem objektiven Naturfaktor aufgewertet hat, eine Schlüsselposition in jeder Naturphilosophie des Lebendigen, die sich jenseits der engen Grenzen von blinden Wirkursachen bewegt. Das wirkursächlich-kausale Denken der Gegenwart ist, wie schon erläutert, ein durch und durch systemtheoretisches und nichtlineares. Folglich vereint es in sich alle auf der Basis des Selbstorganisations-Paradigmas erreichten Erkenntnisse über die Gesetzmäßigkeiten physischen Werdens – und somit auch die hier gewonnene Vorstellung von der enormen Quantität der möglichen Wege, die sich jedem Organismus eröffnen. Kurz gesagt: Die physikochemische Wirkursachen-Kausalität kann die physische Modalität des Organismus prinzipiell 202 erklären. Deshalb ist sie eine zentrale – aber nicht alleinherrschende – Dimension seiner Gesetzmäßigkeit und somit seines Wesens. Das Lebendige ›bewohnt‹ abstrakte Räume, aber seine Bewegungen in ihnen werden nicht von ihrer Architektur diktiert, sondern lediglich begrenzt: Es soll nicht aus den ›Fenstern‹ 203 fallen, an denen es permanent vorbeigeht. Im Rahmen des in den letzten Abschnitten durchgeführten Gedankenexperiments sind die physischen Möglichkeiten der organismischen Entwicklung als prinzipiell Turing-berechenbar anzusehen – sonst dürften sie auch nicht als physikochemisch mögliche Wege abgebildet werden. Zurückkommend auf die weiter oben erwähnte Zukunftsvision der rechnerischen Simulierbarkeit ganzer Organismen 204 ist Folgendes festzuhalten: Rein theoretisch ist es denkbar, dass in der fernen Zukunft die Theorie dynamischer Systeme unter dem Einsatz von unvorstellbar leistungsfähigen Großrechnern den modalen Aspekt von Organismen, d. h. die möglichen Wege der physikochemischen Entwicklung ihrer Gesamtzustände, berechnen können wird. Dies umfasst jedoch nicht den aktualen Aspekt ihrer Entwicklung. Dieser besteht in der Verwirklichung einer extrem geringen Zahl von physischen Möglichkeiten, die zwar aus biologischer Sicht sinnvoll sind 202 Die Bedeutung des Ausdrucks ›prinzipiell‹ an dieser Stelle entspricht der im Abschn. 2 entfalteten. 203 Als ›Fenster‹ bezeichne ich an dieser Stelle Bereiche des erweiterten Zustandsraums, in denen eng benachbarte Trajektorien der organismischen Dynamik stark voneinander divergieren (instabile Entwicklungen) und dabei Bereiche der zunehmenden Desorganisation, die zum Tod führen, betreten (siehe Abb. 2.27). 204 Siehe Abschn. 2 und 2.1.
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aber nach physikochemischen Kriterien den restlichen, nicht verwirklichten Möglichkeiten gleichberechtigt sind.
3.2 Die Grundsäulen der gesuchten Ontologie Der Versuch, den aktualen Aspekt eines Organismus zu erfassen, verlangt nach einer Überwindung der wissenschaftlichen Ontologie des biosystemischen Ansatzes, der zur Organismus-Problematik führt. Zu diesem Zweck wird im Folgenden diese Problematik aus naturphilosophisch-ontologischer Sicht betrachtet. Es wird sich zeigen, dass aus einer solchen Perspektive ein negatives Resultat bezüglich der prinzipiellen Modellierbarkeit von Organismen alles andere als unerwartet ist, auch wenn es auf solchem Wege nicht streng zu beweisen wäre. Folglich kann es sich bei diesem Problem nicht um ein ›technisches‹, d. h. rein naturwissenschaftliches handeln, sondern um eins, das eine tiefgreifende Revision der biosystemischen Grundvorstellungen von organismischer Kausalität und Materialität erfordert. Ausgehend von den essentiellen Schwächen des biosystemischen Ansatzes werden die zentralen metaphysischen Fundamente der neuen Ontologie gelegt. 3.2.a
Organismisches Werden verlangt nach Bestimmung des Wesens der wirklichen Entitäten durch interne Relationen
In einem ersten Schritt werden die ontologischen Grundprämissen der systemtheoretischen Betrachtung lebendiger Vorgänge offengelegt. Dabei wird sich zunehmend zeigen, in welchem Maße die Ontologie des biowissenschaftlichen Systemismus von seinen Zielen und seiner Methode diktiert werden. Ausgehend von den Grenzen, denen dieses Denken schon aus logischen Gründen unterliegen muss, wird schließlich eine Verbindung von Wesenhaftigkeit und Relationalität vorgeschlagen, die eine radikal verschiedene Ontologie voraussetzt. 3.2.a.1 Wirkliche und abstrakte Entitäten In der Theorie dynamischer Systeme und beim biosystemischen Emergentismus repräsentieren die Dimensionen der Zustandsräume häufig Mengen systemischer Elemente d. h. wirklicher Entitäten. Die Dimensionen selbst sind abstrakte Entitäten. Frege und Carnap führten diesen Begriff in bewusster Abgrenzung zum Ausdruck ›geistige 282 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Ontologische Alternativen zum systemtheoretischen Denken
Entitäten‹ ein. Sie bekämpften auf diese Weise den Psychologismus, der Bedeutungen als geistige Entitäten verstand, denn sie waren davon überzeugt, »daß Bedeutungen öffentliches Eigentum seien, daß dieselbe Bedeutung von mehreren Personen und zu verschiedenen Zeiten erfasst werden könne«; deshalb »identifizieren sie Begriffe […] mit abstrakten anstatt mit geistigen Entitäten« (Putnam 2004, 25). In der vorliegenden Arbeit werden mit dem Ausdruck ›abstrakte Entitäten‹ nicht Begriffe generell gemeint, sondern allgemeine Ideen – Universalien. Aufgrund der Natur der hier relevanten Fragen geht es in erster Linie um Universalien, die in naturwissenschaftlichen Theorien verwendet werden. Dabei handelt es sich um natürliche Arten – bei biosystemischen Ansätzen in der Regel um Molekülsorten. Bei der abstrakten Darstellung physikalischer Vorgänge können die Universalien Elementarteilchenarten (Elektron, Photon usw.), freie Variablen (Impuls, Masse, Ladung, elektrische Spannung usw.) und auch Naturkonstanten sein. Sie alle sind Universalien, weil ihre Bedeutung sich nicht auf die Elemente eines konkreten Systems beschränkt. Jede dieser Universalien, der Naturkonstanten ausgenommen, wird von einer bestimmten Dimension des Zustandsraumes, ohne Rücksicht auf den konkreten Vorgang in diesem (d. h. den tatsächlichen Verlauf der Trajektorie) repräsentiert, da sie eben abstrakt ist. Naturgesetze (materiale Gesetze) sind ebenfalls Universalien, aber keine abstrakten Entitäten, weil sie nicht in abstrakten Räumen darstellbar sind, sondern vielmehr das ›Design‹ dieser Räume festlegen. Die wirklichen Entitäten sind generell – d. h. sowohl im Rahmen einer naturwissenschaftlichen als auch einer philosophischen Ontologie – konkrete kausale Faktoren, da sie in der physischen Wirklichkeit Veränderungen bewirken oder bewirken können. Sie sind Einzelwesen; in der mittelalterlichen Philosophie wurden sie ›particularia‹ genannt. In diesem Kapitel referiert der Ausdruck ›wirkliche Entitäten‹ vordergründig auf Entitäten, die als elementare Objekte naturwissenschaftlicher Forschung dienen können, wie der Planet Jupiter, ein konkretes Tier und ein einzelnes DNS-Molekül unter einem elektronischen Mikroskop. Mit diesem Begriff werden jedoch nicht einfach Entitäten gemeint, die eine raumzeitliche Position aufweisen und etwas bewirken können. Neben ihrer Wirksamkeit in der Welt steht ihre epistemologische und/oder methodologische Fundamentalität bzw. Elementarität im Vordergrund – d. h., dass ihr Dasein zwar vorausgesetzt, ihre Analyse aber nicht vorgenommen wird. Dies 283 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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ist natürlich eine Sache der analytischen Tiefe der jeweiligen Theorie. Während für die Systembiologie Konzentrationen von Molekülen wichtig sind, sodass sie Moleküle als nicht weiter zu analysierende Elemente betrachtet, sind für die Populationsbiologie ganze Tierpopulationen die Objekte, deren Veränderungen sie studiert, sodass sie einzelne Tiere als letzte Elemente behandelt. Was also für eine Naturwissenschaft eine wirkliche Entität ist, hängt von der jeweiligen Methodologie ab. Diese legt fest, was als elementar angesehen wird, womit der Bedeutung des Ausdrucks ›wirkliche Entität‹ eine unleugbare Relativität anhaftet. Diese ist jedoch nicht die einzige Möglichkeit, die Bedeutung dieses technischen Terminus aufzufassen. In den nachfolgenden Kapiteln wird der Begriff ›wirkliche Entität‹ der allgemeinen Umschreibung der elementaren Entitäten dienen. Die ›ersten Substanzen‹ bei Aristoteles, die ›res verae‹ Descartes’, die ›Monaden‹ von Leibniz und die ›actual entities‹ Whiteheads sind typische Beispiele für die metaphysische Konzeption wirklicher Entitäten, der Welt wirksamer Individuen, deren Unteilbarkeit – die eigentliche Bedeutung von Individualität – nicht eine epistemisch-methodologisch begründete ist. In diesen Naturphilosophien wird Individualität nicht auf menschlich-(inter)subjektive Interessen zurückgeführt, sondern als eine den wirklichen Entitäten inhärente, d. h. aus ihrem Wesen entspringende Eigenschaft gedacht. Jede Ontologie, naturwissenschaftliche oder philosophische, besteht in einem bestimmten Verständnis des Wesens von wirklichen und abstrakten Entitäten und in einer bestimmten Architektur ihrer Verflechtung zu größeren oder kleineren Komplexen. Für die Ontologie des biosystemischen Emergentismus sind die wirklichen Entitäten der Organismen nichts als materielle Elemente, wobei in diesem Ansatz – im Gegensatz zur Quantenphysik bzw. Quantenbiologie – Materialität auf ununterbrochene raumzeitliche Lokalität reduziert wird. Wirkliche Entitäten werden also als konkrete physische Entitäten bzw. raumzeitliche Daten gesehen – in der Regel handelt es sich dabei um einzelne Moleküle. Jede von ihnen wird bezüglich ihrer Zugehörigkeit zu einer ideellen Art – in der Regel einer Molekülsorte – von einer bestimmten Zustandsraum-Dimension repräsentiert. Wenn z. B. der Gesamtzustand eines chemischen Systems als ein Punkt in einem zweidimensionalen Zustandsraum abgebildet wird, heißt es, dass dieses System zu einem Zeitpunkt aus einer be284 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Ontologische Alternativen zum systemtheoretischen Denken
stimmten Anzahl von Molekülen zwei verschiedener Sorten besteht. Damit wird jede einzelne seiner wirklichen Entitäten (jedes einzelne Molekül) bezüglich ihres universellen Aspekts von einer abstrakten Entität (einer Molekülsorte) repräsentiert. Da in der vorliegenden Untersuchung die Architektur der gesuchten metaphysischen Ontologie nicht deduktiv gesetzt, sondern Schritt für Schritt als Revision von Grundprämissen des etablierten Ansatzes entworfen wird, empfiehlt es sich, zunächst die Begriffe ›wirkliche Entität‹ und ›materielles Element‹ als gleichbedeutende zu verwenden und diese Identität nur dann aufzugeben, wenn sie zu unlösbaren Widersprüchen führen sollte. 3.2.a.2 Systemontologien – zwischen dialektischen Höhenflügen und naturwissenschaftlicher Sachlichkeit Ein vorläufiges Verständnis dessen, was unter dem nur scheinbar einfachen Begriff des ›Wesens‹ einer wirklichen Entität zu verstehen sein könnte, soll zunächst innerhalb eines breiteren ontologischen Rahmens vermittelt werden. Die formale Ontologie des biosystemischen Emergentismus ist eine der vielen Erscheinungsformen dieses Rahmens in den Naturwissenschaften. Für die Systemontologie – den in der Neuzeit sich zunehmend durchsetzenden Hauptträger des wissenschaftlichen Welt- und Menschenbildes – soll das Wesen einer wirklichen oder abstrakten Entität nicht als etwas ihr substanziell-inhärentes betrachtet werden. Es soll so weit wie möglich aus der Gesamtheit der Bezüge dieser Entität in einem ›Ganzen‹ bzw. ›System‹, d. h. in einem Netz kausaler, begrifflicher oder sonstiger Bindungen mit anderen Entitäten abgeleitet werden. Von entscheidender Bedeutung ist natürlich dabei, welcher Umfang (z. B. raumzeitlicher) diesem ›Ganzen‹ und welche Totalität der Macht, mit der es das Wesen seiner Elemente bestimmt, ihm zugedacht werden. Eine Extremposition bei dieser Festlegung kann der System-Auffassung des klassischen deutschen Idealismus bescheinigt werden. Die Philosophin Angelica Nuzzo fasst diese Version des philosophischen Systemismus wie folgt zusammen: »System ist ein relationaler Begriff. […] Es mag dahingestellt bleiben, welche Gegenstände – als Elemente oder Teile – die systematische Einheit enthält: Die Elemente, die innerhalb des systematischen Zusammenhangs erst in ein Verhältnis gebracht werden, weisen dadurch eine neue Bedeutung auf, die sich erst und ausschließlich im System zeigt und erreicht werden kann. System ist daher die formale Struktur, die für die Sinn- und Bedeu-
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II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
tungsänderung ihrer Elemente verantwortlich ist. […] Die Form des Systems setzt sich der atomistischen Auffassung von Gegenständen darum entgegen, weil die relationale Form des Systems erst die Möglichkeit eröffnet, Identität und Unterschied, Wechselwirkung und Selbstbeziehung einzelner Gegenstände in neuen Zusammenhängen darzustellen. In dieser Hinsicht ist System die methodologische und hermeneutische Vorrichtung, die die Intelligibilität einzeln gegebenen Gegenständen dadurch erst verschafft, indem sie sie als ihre Elemente in die Einheit eines gemeinschaftlichen relationalen Ganzen überträgt« (2003, 7 f.).
Aus Nuzzos stark von Hegel geprägter Perspektive gilt ein System »überhaupt als Bedingung der Intelligibilität realer Gegenstände« (ebenda, Hervorhebung von S. K.), denn es ist »eine Totalität oder ein Ganzes von Elementen, die seine Teile ausmachen« (ebenda 21). Im deutlichen Gegensatz zum Aggregat, in dem »das Ganze die bloß quantitative Summe der schon bestehenden Teile ist«, »ist im System das Ganze die Form oder die formale Einheit, die die Teile als solche erst möglich macht und diesen notwendigerweise vorhergeht« (ebenda 22, Hervorhebungen von S. K.). Die von Nuzzo aufgeführten Paradebeispiele für Systeme sind interessanterweise einige große Entwürfe des deutschen Idealismus: Kants System der reinen Vernunft, Fichtes Wissenschaftslehre als »die zirkuläre Begründungsstruktur der Wissenschaft selbst« (ebenda 43) und allem voran Hegels dialektisches Denken, das sich in der Form des Systems selbst denkt. Innerhalb des autonomen Selbstbestimmungsprozesses dialektischer Vernunft gewinnen die Relationen das Primat über die Relata, denn letztere haben keine immanente Wesenhaftigkeit, keine eigene Substanzialität. Die Relata bzw. Elemente erhalten ihre »Bedeutung und Rechtfertigung nur erst im Ganzen von Verhältnissen, dessen Teile, Glieder und Momente sie sind. System ist so überhaupt die grundlegende Form aller Verhältnisse« (ebenda 46). Mit anderen Worten: das Ideal der philosophischen Systemontologie besteht darin, das Wesen der Elemente eines Systems vollständig aus ihren Relationen ableiten zu können: Sie sind, was sie in einem relationalen Ganzen bedeuten. Würde man dieses philosophische Ideal auf die Erkenntnisgegenstände der Biologie, lebendige (Organismen) und leblose (Biomoleküle), anwenden, dann müssten sie als praktisch unendlich mannigfache Momente betrachtet werden, da sie differenziert sind und überdies viele von ihnen am Werden von ›Systemen‹ teilhaben, deren raumzeitliche und kausale Ausdehnung die eines Lebewesens, einer 286 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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lebendigen Gemeinschaft oder eines ganzen Ökotops bei weitem übertrifft. Die anorganischen und viele der organischen Objekte biologischer Forschung sind sogar in einem kosmischen ›System‹ einbezogen, das weit über den raumzeitlichen Umfang der biologischen Evolution selbst hinausragt: Aminosäuren beispielsweise existieren schon im interstellaren Raum. Unendlichkeit ist aber gerade das, was der grundsätzlich (und in vielerlei Hinsicht) begrenzte wissenschaftliche Erkenntnisakt zu reduzieren versucht. Aus wissenschaftspragmatischer Sicht muss der dialektisch gedachte Systembegriff als geradezu unbrauchbar und seine selbstreflexive, als »Kreis von Kreisen« (ebenda 36) sich selbst begründende Logik als geradezu unlogisch, ja wissenschaftsfremd erscheinen. Es ist besonders auffällig, wie wenig Nuzzos Beispiele mit den begrenzten Systemen von Technik und Naturwissenschaft zu tun haben. Alle in diesem Kapitel vorgestellten Modelle belegen, dass der biosystemische Formalismus der Gegenwart der Relationalität kein ontologisches Primat zuspricht. Im Gegenteil, es sind die Eigenschaften der elementarsten physikochemischen Relata (der Moleküle), die für die zwischen ihnen herrschenden Relationen grundlegend sind. Die Anwendung der Vorstellungen Nuzzos auf eng eingegrenzte Ganzheiten, wie z. B. konkrete Lebewesen, würde viele naturphilosophisch begeisterte Kritiker der Naturwissenschaften zu einer sehr charakteristischen Vorstellung der Teil-Ganzes-Beziehung verleiten, die in der vorliegenden Arbeit als ›Total-Holismus‹ bezeichnet wird und aus weiter oben erläuterten Gründen für abwegig gilt. 205 Eine der modernen Naturwissenschaft aus einer realistischen Geisteshaltung kritisch zur Seite stehende Naturphilosophie müsste die Begrenztheit des Wesens eines Teiles als eine essentielle Eigenschaft seines Wesens selbst ausweisen können. Die Begrenzung des Forschungsgegenstandes sollte nicht auf erkenntnistheoretische Grenzen und methodische Notwendigkeiten reduziert werden. Eine kritische Naturphilosophie sollte in ihr eine, wenn auch durch die Forschung meistens sehr verzehrte, Manifestation einer metaphysischen Tatsache zu sehen versuchen. Naturphilosophen sollten dieses essentielle Faktum jeder erfahrbaren wirklichen Entität – die Begrenztheit ihres Wesens – stark beleuchten und die Forschung dazu bewegen, es in die Sprache ihrer theoretischen und experimentellen Abstraktionen zu übersetzen. Der bekannte Phänomenologe und entschiedene Kritiker des 205
Siehe Abschn. 1.2.a dieses Kapitels.
287 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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System-Gedankens Heinrich Rombach sieht im Hegelianismus einen Höhepunkt der Systemontologie; anders als Nuzzo lässt er sich aber nicht dazu verführen, den Kern dieser Ontologie aus der Perspektive einer ihrer Extremfassungen zu beleuchten. Stattdessen verankert Rombach seine Analyse in den für die Technik so wichtigen Begriff der ›Funktion‹ : »Funktionalitäten sind zuerst in der Gestalt des Systems erfaßt worden. Man dachte zwar Wechselbedingtheit, aber man führte diese […] auf Elemente zurück; man setzte an den Schnittpunkten Entitäten an, in bezug auf welche Relationen überhaupt erst möglich schienen. Ein Netz von Funktionalitäten zwischen fixierten Elementen nennen wir System« (1988, 29; Hervorhebungen von S. K.).
Rombach sieht nicht nur klar, welchen maßgebenden Einfluss die anschauliche mechanische Zug-Druck-Funktionalität der beginnenden Neuzeit auf die Metaphysik eines der maschinellen Präzision und Zuverlässigkeit verfallenen Zeitalters haben muss, sondern darüber hinaus gelingt es ihm, die essentielle Schwäche der Maschinen, auch der fortgeschrittensten unserer Gegenwart, und ihre Auswirkung auf die Systemontologie exzellent zum Ausdruck zu bringen: »Die Maschine ist das Modell des Systems […] Der ontologische Mechanizismus ist mit dem Namen Descartes’ verknüpft. Der Mechanismus hat sich als ontologischer in der ›Mathesis universalis‹ niedergeschlagen. – Die Maschine hat Teile. Sie ist nicht durch und durch Funktionalität, sondern nur eine auf vorgängige Substanzen aufgelegte Funktionalität. Die Konstruktion der Maschine legt fest, daß die Substanzen nur in einer Hinsicht auf Funktionieren angesprochen werden, andere Hinsichten werden durch den Spezialzweck der Maschine nicht gebunden. Es bleiben also unaufgelöste Reste. Ein Zahnrad besteht aus Stahl; von diesem wird nur verlangt, daß er eine bestimmte Festigkeit besitzt, bestimmte Beanspruchungen für bestimmte Zeit widerspruchslos erduldet; was er darüber hinaus für sich selber ist und tut, bleibt außer Betracht. – Nun ist nichts ohne Funktion. Und so ist auch der konstruktive Rest durchaus ein funktionaler Gehalt, wenn auch in anderen Zusammenhängen, von denen für den gerade angezielten Zweck abgesehen wird. Eine jede Maschine ist gleichsam durchkreuzt von unsichtbaren anderen ›Maschinen‹ (funktionale Zusammenhänge chemischer, physikalischer, metallurgischer Art etc.), die uns gleichsam kompakt in der Substanzialität der Maschinenteile begegnen. Die Maschine wird so konstituiert und in die Gesamtheit anderer Zusammenhänge hineinkomponiert, daß eine gewisse Gleichläufigkeit erreicht wird und daß es so aussieht, als ob in jeder Funktion nur die für diese Maschine angeforderte Funktion wirksam wäre. Dieses Hineinkomponieren kann natür-
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lich nicht vollständig sein. Irgendwann reißt der Komplex. Der Fortgang der anderen ›Maschinen‹ (z. B. der metallurgischen Zusammenhänge, Korrosion etc.) geht nicht mehr mit der hineinkomponierten Maschine konform – und diese scheitert (geht ›kaputt‹, zerfällt, frißt sich fest, zerbricht). Eine absolute Maschine, in der alle Gegebenheiten als Funktionen mit aufgenommen und in die Konstruktion ohne Rest eingebunden wären, könnte nicht verschleißen, rosten, zerbrechen, verunfallen. In ihr würden Auflösungsprozesse zu Konstitutionsbedingungen neuer Funktionen geworden sein« (ebenda 29 f., Hervorhebungen von S. K.).
Erst eine solche »absolute Maschine« könnte all ihren Elementen die von Nuzzo genannte »Sinn- und Bedeutungsänderung« diktieren und somit ihr Wesen vollständig auf die Relationen zurückführen, die sie innerhalb dieser Maschine zueinander haben. Das kann aber nicht der Ausgangspunkt des formal operierenden systemtheoretischen Denkens der Naturwissenschaften sein, sondern im besten Fall sein fiktiver Fluchtpunkt. Rombach sieht klar, dass die Geburtsstunde des systemischen Denkens des neuzeitlichen homo faber mit der Erfindung der Uhrwerke des Spätmittelalters und der Frührenaissance zusammenfällt. Die Wurzel des modernen Systemismus sind also diese mechanischen Maschinen, die ihre wirkursächlich-kausale Logik offener als kompliziertere Artefakte zur Schau stellen. Seine Analyse ist dem naturwissenschaftlichen Systemismus wie auf den Leib geschnitten. Er rückt die Pluralität der natürlichen Zusammenhänge, damit aber auch die sich durchkreuzenden Disharmonien zwischen ihnen, ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Denn Rombachs Perspektive erlaubt es, den ›Eigensinn‹ des Teils gegenüber dem Ganzen zu Lasten eines der Natur fremden Harmonismus zu fokussieren und dadurch auch den überall in jedem Lebendigen anzutreffenden Entropie produzierenden ›Reibungswiderstand‹ seiner Teile, der ihm früher oder später zum Verhängnis wird, ernst zu nehmen. Zurückkommend auf die Organismus-Problematik ist jedoch hervorzuheben, dass in ihr nicht der Mangel an Unsterblichkeit der simulierten Organismen beklagt wird. Diese Problematik besteht vielmehr in der einfachen Frage, wie es schon dem primitivsten Bakterium gelingt, wenige Minuten am Leben zu bleiben, wenn es nichts mehr als ein wirkursächlich-kausal operierendes dynamisches System ist. Ein Modell von einem Organismus soll natürlich nicht eine »absolute Maschine« darstellen, aber gewiss eine regulativ geschlossene, die irgendwann ›verschleißen‹ oder ›verunfallen‹ wird. Das Unvermögen 289 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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von wirkursächlich-kausal operierenden dynamischen Systemen, eine solche Geschlossenheit zu erreichen – das zentrale Thema dieses Kapitels –, verlangt, dass durch menschliche Individuen oder natürliche Ereignisse eine besondere Kombination von Rand-, Anfangs- und anderen Bedingungen »in die Gesamtheit anderer Zusammenhänge hineinkomponiert wird« (letztes Zitat). Denn nur so kann eine partikuläre Dynamik zwischen konkreten wirklichen Entitäten, die »unsichtbaren anderen ›Maschinen‹« (letztes Zitat) angehören, in Gang gesetzt werden. Diese künstliche und statische Konstellation von Universalität und Partikularität kommt bei allen Maschinen sehr deutlich zur Geltung. Sie sind tatsächlich »das Modell des Systems«, wie Rombach gleich zu Beginn des letzten Zitats klarstellt, daher auch jedes dynamischen Systems: Die Bauteile einer Dampfmaschine sind Kombinationen von universellen Formen und einem Material (z. B. Eisen), das ebenfalls nicht nur innerhalb dieser Maschine existiert. Die besondere Weise ihrer Funktion, z. B. ihr Tempo und ihre palindromische Bewegung (dynamische Größen), ist zum großen Teil Resultat des konkreten Plans der fixierten Anordnung ihrer Bauteile (statische Größe). Auch letztere ist eine universelle Form, sonst könnte sie nicht auch mit verschiedenen Materialien (z. B. Bronze) und für andere Maschinen verwirklicht werden, das ist aber hier nicht von Bedeutung. Viel wichtiger ist, dass weder der Bauplan aus den materiellen Elementen (z. B. Eisenatomen) abgeleitet werden kann, noch letztere aus ihm. Zwischen der universellen Form, die der Plan darstellt, und den Formen, die die materiellen Elemente darstellen (vgl. Abb. 2.28(b)), gibt es keinen notwendigen, keinen zwingenden Zusammenhang. 206 Bei den reduzierten Systemen von Technik und Naturwissenschaft bleiben also »unaufgelöste Reste«, wie Rombach sagt – und sie sind gewaltig. Deshalb kann ein mechanisches Uhrwerk sich selbst weder reparieren noch aufziehen, was auch für viel kompliziertere ›Uhrwerke‹ gilt, wie z. B. für Großrechner. All diese Artefakte teilen die erste Ebene der dynamischen Tiefe, da sie regulativ offen sind. Hohe regulative Geschlossenheit, d. h. echte Selbstorganisation verlangt eben, dass die Besonderheit der jeweils konkreten systemischen Dynamik aus einer erst in dieser Dynamik und durch sie zustande 206 Es sei daran erinnert, dass die Physiker selbst festlegen, was zu einem physikalischen System gehört und was zu seiner Umgebung (siehe Abschn. 1.1.a dieses Kapitels).
290 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Ontologische Alternativen zum systemtheoretischen Denken
materielle Elemente das kosmische Netz (a)
Maschinen und formale Systeme
dynamische Größen
(b)
statische Größen
Abb. 2.28: (a) Aus der philosophisch-systemischen Sicht Nuzzos wird das Wesen der materiellen Elemente der kosmischen »absoluten Maschine« (Rombach) von der Funktionalität des gesamten kosmischen Netzes festgelegt. Die Knoten könnten z. B. Elementarteilchen symbolisieren, die sich als ›Verdichtungen‹ des kosmischen Quantenvakuums manifestieren. (b) Die rotierenden Bauteile symbolisieren materielle Elemente. Ihre Rotationsgeschwindigkeiten symbolisieren das, was die materiellen Elemente in einem begrenzten theoretisch oder experimentell bzw. technisch verwirklichten System tun, d. h. seine dynamischen Größen. Der extern festgelegte Plan – in diesem Bild durch die graue Linien angedeutet, die die rotierenden Bauteile miteinander verbinden – symbolisiert das Geflecht der statischen Größen eines Systems, d. h. kausale Faktoren denen die materiellen Elemente unterworfen sind, ohne aber auf sie Einfluss zu haben. Bei jeder gewöhnlichen, d. h. endlichen Maschine legt der Plan fest, wie bestimmte, aus dem universellen Zusammenhang der kosmischen »absoluten Maschine« herausgerissenen Knoten, d. h. materielle Elemente, miteinander interagieren werden. Das muss ihrem eigenen Wesen notwendig fremd bleiben. Dasselbe gilt für jedes formale System: Der ›Plan‹ ist eine Kombination statischer Größen, die dem System hierarchisch übergeordnet bleibt und nicht von ihm produziert wird. Der rechte Teil der Abbildung ist von einem Bild Rombachs in seinem Werk Substanz, System, Struktur (Bd. I) inspiriert worden (1981, 342).
gekommenen Mitbestimmung der Naturen der einzelnen materiellen Elemente hervorgeht. 3.2.a.3 Das Wesen der wirklichen und der abstrakten Entitäten aus der Sicht gegenwärtiger naturwissenschaftlicher Systemontologien Unter der Vorherrschaft des heranreifenden naturwissenschaftlichen Denkens hat sich seit dem 18. Jahrhundert allmählich ein antisubstan291 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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zialistisches, naturwissenschaftlich-systemtheoretisches Verständnis des Begriffs ›Wesen‹ herauskristallisiert. Um dies zu skizzieren, ist es hilfreich, zunächst einigen großen Denkern das Wort zu erteilen, die noch keine formal-wissenschaftliche Systemontologie vertraten. Für Christian Wolff, der als erster Philosoph den deutschen Ausdruck ›Wesen‹ verwendet, ist dieses »[d]asjenige, darinnen der Grund von dem übrigen zu finden, was einem Dinge zukommet« (1983, I § 33). Das bedeutet, dass »[w]er also das Wesen eines Dinges erkennet, der kann den Grund anzeigen von allem, was ihm zukommet« (ebenda, Hervorhebung von S. K.), wozu auch zukünftige mögliche Beziehungen gehören. Da aber »die Möglichkeit an sich etwas nothwendiges ist«, besteht das Wesen eines Dinges darin, »daß es auf eine gewisse Art und Weise möglich ist« (ebenda § 38, Hervorhebung von S. K.). Es besteht also in einer bestimmten und notwendigen Ordnung von Möglichkeiten; »so ist das Wesen nothwendig« (ebenda). In der Vorrede der Schrift Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft versteht Kant das Wesen als »das erste innere Prinzip alles dessen, was zur Möglichkeit eines Dinges« gehört (A III, IV; Hervorhebung von S. K.). Diesem Gedanken verleiht Wilhelm Ostwald, der Begründer und Organisator der physikalischen Chemie in seinen Vorlesungen über Naturphilosophie einen der Naturwissenschaften angepassten Ausdruck, indem er das »Wesen einer Sache« mit der »Gesamtheit ihrer möglichen Beziehungen« identifiziert (1902, 216). Ostwalds Verständnis von den Möglichkeiten einer wirklichen Entität ist aufs Engste an ihre durch die Wissenschaft verwirklichbaren Verhaltensweisen gebunden: »Wenn wir das Verhalten der elektrischen Erscheinungen in ihren kleinsten wie grossartigsten Bekundungen so genau kennen, daß wir sie auf das feinste nach unseren Wünschen und Bedürfnissen regeln können, so dürfen wir sagen, daß wir in der Tat ein recht weitgehendes Wissen über ihr Wesen haben« (ebenda, Hervorhebungen von S. K.).
Diese Zitate belegen, dass die enge Verbindung zwischen den beiden fundamentalen Konzeptionen – dem Wesen eines physischen Seienden und den ihm offenstehenden Möglichkeiten – so stark ist, dass sie den großen Bedeutungswandel beider Begriffe, wie er bei einem direkten Vergleich zwischen dem Wolff- und dem Ostwald-Zitat sichtbar wird, überstanden hat. Wenn Wolff sagt, dass »die Möglichkeit an sich etwas nothwendiges ist« (s. oben), dann ist sein Verständnis von ›Möglichkeit‹ identisch mit dem Möglichkeitsverständnis von Leib292 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Ontologische Alternativen zum systemtheoretischen Denken
niz. Denn letzterer versteht unter ›Möglichkeiten‹ nicht einfach widerspruchsfrei denkbare Sachverhalte, sondern solche, die einem Ding notwendig zukommen. Der Leibniz-Wolff-Schule zufolge ist etwas notwendig, wenn dasjenige, was ihm »entgegen gesetzet wird, etwas widersprechendes in sich enthält« (Wolff 1983, I § 36). Im Gegensatz dazu redet Ostwald von den »möglichen Beziehungen« einer wirklichen Entität ausgehend von einem wissenschaftlichen Subjekt (»wir«), das verschiedene kausale Verhältnisse dieser Entität ins Dasein ruft oder gedanklich durchläuft: Wir erkennen das Wesen physischer Seiende, wenn wir in der Lage sind, ihr Verhalten nach unseren Wünschen und Bedürfnissen zu manipulieren. Aus substanzontologischer Perspektive könnte man einwenden, dass die Verbindung von Möglichkeit und Wesen natürlich auch für die antike und mittelalterliche Ontologie typisch ist. Aristoteliker, und nicht nur sie, würden z. B. argumentieren, dass es zum Wesen einiger Pflanzen gehört, dass Früchte aus ihren Körpern wachsen; etwas, das für Menschen nicht möglich ist. Der große Unterschied zum Zeitalter der rasanten Entwicklung der Naturwissenschaften besteht aber im Wandel des Verständnisses von ›Möglichkeit‹, was unter anderem auch damit zu tun hat, dass die wirklichen Entitäten in der Epoche der Entdeckung des Mikrokosmos nicht mehr mit Objekten der gewöhnlichen Sinneserfahrung zu tun haben – über die Möglichkeiten eines Moleküls wird man anders als über die sehr viel konkreteren eines Apfelkerns reden. So ist es nicht verwunderlich, dass im Aristotelismus die ›Dynamis‹ (Möglichkeit im Sinne von Potenzialität) einer wirklichen Entität immer auch mit einer formenden und einer finalen Ursache, mit einer ›causa formalis‹ und einer ›causa finalis‹, verbunden ist, womit die Form und der Endzustand ihres Verhaltens als ihr inhärent gedacht werden: Das Wesen einer wirklichen Entität ist nicht die Gesamtheit ihrer möglichen Verhaltensweisen, sondern der Grund dieser, der im Potenzial dieser Entität besteht, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten. Diese Feststellung steht im Widerspruch zur modernen Physik, die sich nur für die Eigenschaften wirklicher Entitäten interessiert und den Grund des Auftretens dieser Eigenschaften ignoriert, da, wie vor allem Bertrand Russell betont hat, sie lediglich mathematisch darstellbare Aspekte der Welt erfasst, aber hinsichtlich der »inneren Beschaffenheit der Welt« schweigt (1929, 283). 207 Im Verlauf der Neuzeit, vor allem seit der Begründung 207
Vgl. auch: Brüntrup 2011, 332–335.
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der wissenschaftlichen Physik im 17. Jahrhundert, wird die Entwicklung zunehmend von der Überzeugung beherrscht, das mögliche Verhalten einer wirklichen Entität sei nicht als etwas ihr substanziellinhärentes anzusehen, wovon noch die der antiken Substanzontologie nahe stehende Pholosophie von Leibniz und Wolff ausgeht, sondern aus ihrer Funktionalität (im Sinne Rombachs) in einem begrenzten und experimentell kontrollierten Zusammenhang abzuleiten, wie Wilhelm Ostwald sagt: Im naturwissenschaftlich-technischen Zeitalter erschöpft sich das Wesen einer wirklichen Entität in den Möglichkeiten der Manipulation ihres Verhaltens, die Naturwissenschaftlern zur Verfügung stehen. Daraus wird ihr kosmischer Gesamtzusammenhang, auf den sich eigentlich das metaphysische Verständnis von ›Wesen‹ bezieht, extrapoliert. Die Formen der Vorgänge und ihre Endzustände sind jetzt keine primären Faktoren, die den Dingen innewohnen, sondern degradieren zu abgeleiteten Produkten von Kräften, die universeller Natur sind. Die qualitative und quantitative Beschaffenheit dieser Kräfte wird von begrenzten Formalismen beschrieben, in denen Ausdrücke erscheinen, die, um mit den bekannten Sprachphilosophen Saul Kripke und Hilary Putnam zu sprechen, starre Designatoren sind (Kripke 1981, 59; Putnam 2004, 43). Als ›rigid designator‹ wird etwas beschrieben, das »in jeder möglichen Welt denselben Gegenstand bezeichnet« (Kripke 1981, 59; Hervorhebung von S. K.) oder auf »eine bestimmte Art von Ding«, wie Gold oder H2O, referiert (ebenda 136, 156). Für das Verständnis naturwissenschaftlicher Systemontologien ist es sehr hilfreich, dass Kripke neben Namen auch »freie Variablen« als starre Designatoren begreift (ebenda 60), 208 denn letztere sind die stabilen Ausdrücke bzw. Zeichen, die in völlig verschiedenen formalen Zusammenhängen auftauchen. Wie jeder starre Designator verweisen dann diese abstrakten Entitäten auf die »wesentlichen Eigenschaften« aller nicht näher spezifizierten wirklichen Entitäten, die sie repräsentieren. Eigenschaften von wirklichen oder abstrakten Entitäten sind nur dann wesentliche oder notwendige, wenn keine mögliche Welt denkbar ist, in der sie ihnen nicht zukommen (ebenda 57, 59). 209 Die 208 Unter »Namen« versteht Kripke nicht nur Eigennamen, sondern auch »allgemeine Namen«, die »Spezies oder natürliche Arten bezeichnen«, wie »Tiger« oder »Gold« (Kripke 1981, 145). 209 Wesentliche oder notwendige Eigenschaften sind nicht als hinreichende zu verstehen, denn ihr Vorhandensein reicht nicht aus, um das Wesen einer Entität zu bestimmen (Kripke 1981, 57; Putnam 2004, 52).
294 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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notwendigen Eigenschaften aller Gegenstände, die von der Universalie ›Gold‹ repräsentiert werden, folgen »aus der atomaren Struktur von Gold« (ebenda 144). Sie können als in allen möglichen Welten existent angenommen werden, denn letztere sind keine Welten, die »durch starke Fernrohre entdeckt« werden – im Gegenteil, sie »werden festgesetzt (stipulated)« (ebenda 54). Auf der Suche nach wesenhaften Eigenschaften bzw. »Kriterien der Identifikation über Welten hinweg« beginnen wir also »nicht mit Welten«, sondern »mit den Gegenständen, die wir in der wirklichen Welt haben und identifizieren können« (ebenda 65). Wenn unter ›wir‹ nicht der naive common sense gemeint ist (der z. B. Wärme mit Empfindungen assoziiert und nicht mit Bewegungen von Molekülen), sondern eine Wissenschaftsgemeinde, dann kann »durch eine Untersuchung grundlegender Strukturmerkmale die Natur, und damit das Wesen (im philosophischen Sinne), der Art« gefunden werden (das im Fall von Wärme in der theoretisch und experimentell zugänglichen Bewegung von Molekülen besteht) (ebenda 157 f., Hervorhebung von S. K.). Die wissenschaftliche Erkenntnis des Wesens von Elektrizität erlaubt einem naturwissenschaftlichen Kollektiv, »das Verhalten der elektrischen Erscheinungen«, um wieder mit Ostwald zu sprechen, in einer verwirklichten Welt, »auf das feinste nach unseren Wünschen und Bedürfnissen regeln [zu] können« (1902, 216; Einfügung von S. K.). Diese vor ihrer Verwirklichung nur möglich gewesene Welt wurde ausgehend vom theoretischen und experimentellen Instrumentarium von Physik und Elektrotechnik erfunden. Solche Kollektive sind Sprachgemeinschaften mit einer bestimmten soziolinguistischen Basis, wie Putnam sagt (2004, 39 f.). In ihnen werden Vorschriften tradiert und weiterentwickelt, die festlegen, auf welche Weise eine mögliche Welt überhaupt zu erdenken ist und wie sie verwirklicht werden kann. Folglich ist dem Wesen jeder abstrakten Entität – somit auch dem Wesen jeder wirklichen, die von ihr repräsentiert wird – die soziolinguistische Praxis einer Sprachgemeinschaft immanent, d. h. ein sehr komplexes Geflecht von Sprachspielen. An dieser Stelle sollte folgende Unterscheidung bezüglich des Wesens einer abstrakten Entität gemacht werden: Die einfachsten abstrakten Entitäten sind Eigenschaften von wirklichen Entitäten: Die Masse ist Eigenschaft wirklicher Körper. Das Wesen der einfachsten abstrakten Entitäten, wie z. B. ›Masse‹, ›Ladung‹ und ›Spin‹, ist die Summe der Möglichkeiten einer solchen Entität in verschiedenen 295 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
denkbaren Situationen, z. B. die Summe aller möglichen Verhaltensweisen einer Ladung bestimmter Größe in allen denkbaren elektrischen, magnetischen und elektromagnetischen Feldern. Das Wesen zusammengesetzter abstrakter Entitäten, wie z. B. ›Elektron‹, ›Positron‹, ›Aminosäure X‹, ›Eisenatom‹, ›Quasar‹, usw., hängt vom Wesen der einfachsten abstrakten Entitäten, aus denen sie bestehen, ab. So wie die einfachsten abstrakten Entitäten Eigenschaften von wirklichen Entitäten sind, umfasst das Wesen einer zusammengesetzten abstrakten Entität alle Eigenschaften der wirklichen zusammengesetzten Entitäten, die es repräsentiert – so die Perspektive des naturwissenschaftlichen Systemismus der Gegenwart: Das Wesen der abstrakten Entität ›Elektron‹ fasst in sich alle Eigenschaften aller wirklich existierenden einzelnen Elektronen des Kosmos zusammen. Es umfasst alle möglichen Verhaltensweisen eines Elektrons in allen denkbaren Situationen, z. B. wie es in elektromagnetischen Feldern bestimmter Stärke beschleunigt wird. Ausgehend von Kripkes und Putnams Vorstellungen, ist die Gesamtheit der wissenschaftlich denkbaren Möglichkeiten des Verhaltens einer wirklichen Entität als eine feststehende Tatsache zu betrachten. Die Möglichkeiten, die z. B. einem konkreten Molekül (das sich in einem bestimmten Zustand befindet), mit Molekülen anderer Sorten zu reagieren, zugesprochen werden, verändern sich nicht (solange sein Zustand sich nicht verändert). Die Gesamtheit möglicher Verhaltensweisen steht fest, weil sie die jeweiligen raumzeitlichen Positionen und die daraus resultierenden konkreten kausalen Verhältnisse transzendiert, da sie für alle denkbaren Positionen gilt. Diese feststehenden Möglichkeiten machen aus der Sicht der entsprechenden wissenschaftlichen Systemontologie das Wesen dieses einzelnen Moleküls aus. Kripke sagt nichts anderes, wenn er von den verschiedenen möglichen Längen eines und desselben Stabes unter verschiedenen Randbedingungen, d. h. in verschiedenen möglichen Welten, Folgendes schreibt: »Der Stab hätte in manchen kontrafaktischen Situationen länger und in einigen Situationen kürzer sein können, wenn verschiedene Stärken von Druck und Dehnung [Randbedingungen] auf ihn angewandt worden wären. Wir können also von diesem Stab auf dieselbe Weise, wie wir es von jedem anderen Stab aus derselben Substanz und von derselben Länge sagen würden, sagen, daß er sich, wenn Wärme von der und der Stärke [Randbedingung] auf ihn eingewirkt hätte, zu der und der Länge ausgedehnt hätte« (1981, 67; Hervorhebung und Einfügungen von S. K.)
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Der Besitz einer universellen Formel, die also in allen möglichen Welten gilt, erlaubt uns, »auf dieselbe Weise« seine möglichen Längen zu berechnen; und hierin besteht, laut Kripke, sein Wesen: in einer berechenbaren Disposition. Ähnlich macht das unbegrenzte Feld der Möglichkeiten, die ein Elektron in allen denkbaren elektromagnetischen Feldern hat, sein begrenztes Wesen aus, das von der Schrödinger-Gleichung wiedergegeben wird. Die jeweils konkrete Situation einer wirklichen Entität aktualisiert nur einen extrem kleinen Bereich eines unendlichen Möglichkeitenmusters. Für das (naturwissenschaftlich erfasste) Wesen dieser Entität ist aber nicht dieser begrenzte Bereich entscheidend, sondern das, was ihr in allen möglichen Welten widerfahren kann. Es ist irrelevant, dass einem Wasserstoffmolekül auf der Erde etwas anderes passieren kann als seinesgleichen in der Sonne. Solche Vorstellungen sind für Naturwissenschaften, vor allem für mathematisch operierende, absolut unverzichtbar, auch wenn sie kaum expliziert werden. Aus naturwissenschaftlich-systemtheoretischer Sicht besteht das Wesen einer wirklichen Entität in der für sie typischen und praktisch unendlichen Gesamtheit von Möglichkeiten, in variablen möglichen Umgebungen bzw. möglichen Welten zu reagieren. Dem Wesen wirklicher Entitäten wird Unveränderbarkeit und damit Invarianz gegenüber raumzeitlichen Variationen, d. h. auch gegenüber der Beschaffenheit ihrer jeweils konkreten systemischen Umgebung, notwendig zugesprochen. Zwischen dem Wesen einer konkreten wirklichen Entität und dem der ihr zugehörigen abstrakten Entität, die von einer Dimension eines Zustandsraumes repräsentiert wird, herrscht eine Beziehung, die mit der zwischen den »realen« und den »nominalen Wesenheiten« vergleichbar ist, von denen Locke im Versuch über den menschlichen Verstand spricht (1988, 21 (III, 3, § 15)). Die »reale Wesenheit« kann nur von einer konkreten wirklichen Entität ausgesagt werden und entspricht folglich der »ersten Substanz« Aristoteles’ 210 – in der Sprache Lockes: »das eigentliche Sein eines Dinges […], die wirkliche, innere […] Beschaffenheit der Dinge« (ebenda 20 (§ 15)), die »mit ihnen entsteht und vergeht« (ebenda 23 (§ 19)). Diese »eigentliche und ursprüngliche Bedeutung des Wortes« ›Wesenheit‹, ist aber »fast völlig verloren« gegangen, da »man es fast ausschließlich auf die künstliche Beschaffenheit von genus und species angewendet« hat,
210
Siehe Abschn. 2.1 von Kap. I.
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d. h. die zweiten Substanzen Aristoteles’, 211 die als »nominale Wesenheiten« zu bezeichnen sind (ebenda 20 f. (§ 15)) und lediglich »abstrakte Ideen« darstellen (ebenda 23 (§ 19)). Die Namen dieser Ideen sind »Zeichen allgemeiner Ideen«, die »als Repräsentanten vieler einzelner Dinge aufgestellt werden« (ebenda 16 (§ 11)). Dass »diese abstrakten Ideen […] Wesenheiten sind«, zeigt sich auch darin, dass sie atemporär sind (ebenda 23 (§ 19)), also wie Universalien sein müssen. Aus heutiger Sicht kann man Lockes Gedanken wie folgt umformulieren und zusammenfassen: Das Wesen einer von einer naturwissenschaftlichen Disziplin verwendeten abstrakten Entität besteht darin, ein unveränderbares Zeichen, ein starrer Designator für alle im methodischen Rahmen dieser Disziplin denkbaren Möglichkeiten zu sein, die den wirklichen Entitäten, die diese abstrakte Entität repräsentiert, im Kosmos wirklich zukommen. Diese Vorstellung setzt voraus, dass diese Möglichkeiten, auch wenn sie unendlich viele sind, feststehen. Die abstrakten Entitäten – und mit ihnen auch die von ihnen repräsentierten wirklichen Entitäten – werden also als Dinge behandelt, als Elemente einer Rombachsen »absoluten Maschine«, deren Größe nur ein unendlicher Geist überblicken könnte. Lockes Feststellung, dass die Idee der »realen Wesenheit« zugunsten der »nominalen Wesenheit« beinah verschwunden ist, trifft für die moderne Naturwissenschaft – und somit auch für die heutige Biologie – absolut zu. Mit dem Verschwinden der Seelenlehre aus den Biowissenschaften gab es eigentlich keine gewichtigen Gründe mehr, für die Erklärung der Organisation eines konkreten Organismus etwas Individuelles – weder im Sinne von Einmaligkeit noch von Unteilbarkeit (In-dividualität) – anzunehmen. Diese Tendenz wurde durch den Vorstoß ins Mikrobiologische enorm verstärkt, denn je einfacher die biologischen Objekte sind – je weniger z. B. der Apfelkern von Interesse ist und je mehr seine Gene – desto weniger Sinn macht es, von »diesem einzelnen Gen unter diesem elektronischen Mikroskop« geschweige »diesem einzelnen Protein an dieser Stelle« zu reden. Die mikrobiologischen Objekte werden als vollkommen austauschbare gedacht. Damit wird die Einmaligkeit und Besonderheit einer derartigen wirklichen Entität – was sie also von anderen der gleichen Art unterscheidet – auf ihre jeweilige raumzeitliche Lokalität – also auf etwas völlig unwesentliches, weil akzidentielles – degradiert. Ihre wesentlichen (d. h. notwendigen) Eigenschaften sind viel211
Siehe Abschn. 2.1 von Kap. I.
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mehr identisch mit den wesentlichen Eigenschaften der natürlichen Art, d. h. der abstrakten Entität, der sie angehört. Die in diesem Abschnitt entfalteten Überlegungen über das Wesen der wirklichen und abstrakten Entitäten naturwissenschaftlicher Systemontologien führen zu folgendem Resultat: Im Rahmen formalsystemtheoretischer Ontologien fällt das Wesen jeder wirklichen Entität, die zu einem konkreten System gehört, mit dem Wesen derjenigen abstrakten Entität bzw. Universalie zusammen, von der sie repräsentiert wird. Das gilt unabhängig davon, ob dem Universalienrealismus, dem Konzeptualismus, dem Nominalismus oder einer anderen Schule Recht gegeben wird. Die grundsätzliche Verbindung von Wesenhaftigkeit und Modalität in der modernen Naturwissenschaft wirft mehr Licht auf die Rolle von Zustands- bzw. Phasenräumen. Denn diese abstrakten Gestalten sind, wie schon gesagt, nichts anderes als Möglichkeitenräume. 212 Damit sind sie mitnichten als neutrale, ›unschuldige‹ Mittel der Illustrierung der Entwicklung dynamischer Systeme zu betrachten; sie sind im Gegenteil nichts Geringeres als Verkörperungen der naturwissenschaftlichen Ontologien (physikalischen, chemischen, neurobiologischen usw.) der Gegenwart. Aber wer sind eigentlich diese ›wir‹, von denen oft bisher die Rede war? Diese Frage verweist direkt an die politische Dimension der Kritik an den Systemontologie(n). Da aber eine adäquate Behandlung dieser Thematik das Schreiben eines zweiten Buches erfordern würde, sei hier nur ein sehr flüchtiger Hinweis erlaubt: Unter ›wir‹ sind keine freien Individuen oder Sprachgemeinschaften, wie Putnam denkt, zu verstehen. Es sind auf äußerst komplexe Weisen indoktrinierte Subjekte eines umfassenden ›Systems‹ gemeint, das kaum zu überschauen ist und deshalb auf vielfältigste Weise beschrieben werden könnte. Herbert Marcuse hat den vielleicht zentralsten Aspekt dieses Systems eingefangen, als er in seinem nach mehr als vierzig Jahren weiterhin aktuellen Buch Der eindimensionale Mensch vom »Produktions- und Verteilungssystem« sprach. Die meisten der kleinen und großen wissenschaftlichen ›Systeme‹ unterschiedlichster Art (systembiologischer, physikalischer, wirtschaftstheoretischer, soziologischer usw.) wären dann nichts als begrenzte Manifestationen
212
Siehe Abschn. 1.1.b dieses Kapitels.
299 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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eines bezüglich seiner Selbststabilisierung und Expansion äußerst leistungsfähigen Systems planetarer Größenordnung. Ganze Disziplinen – wie Komplexitätstheorie, Molekularbiologie und Gentechnologie – wären lediglich einige seiner Dimensionen. Sie würden es unter anderem mit der Macht ausstatten, den Organismen und ihren Bestandteilen neue Bedeutungen zu geben. Letztere würden natürlich nichts anderes widerspiegeln als die ›Möglichkeiten‹ – genauer: die Rollen –, die dem Lebendigen in diesem nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Kräften bestehenden ›Netz‹ zukämen. 3.2.a.4 Die lineare Unabhängigkeit der Dimensionen abstrakter Räume und ihre ontologische Bedeutung Auf der Basis der im letzten Abschnitt gewonnenen Erkenntnisse sowie auch der wissenschaftsnahen Analyse Rombachs über den Ursprung der Systemontologie aus dem Maschinenparadigma und ihre daraus notwendig resultierenden Grenzen, ist es nun möglich, zu einem essentiellen Fundament der kritischen Auseinandersetzung mit der biosystemischen Ontologie vorzustoßen – der Tatsache, dass die Dimensionen der Zustandsräume dynamischer Systeme und der dazugehörigen Kontrollparameterräume als unabhängig zueinander existierende gedacht werden. Diese Vorstellung liegt der Konstruktion dieser beiden Arten von abstrakten Räumen zugrunde. Dies verrät die Tatsache, dass jede ihrer Dimensionen, die eine dynamische oder statische Größe symbolisiert, von den restlichen Dimensionen des Raumes abgelöst werden kann, um mit ganz anderen abstrakten Entitäten kombiniert zu werden, ohne ihre Bedeutung zu verlieren. Auf der ontologischen Ebene besagt diese Unabhängigkeit, dass die Bedeutung bzw. das Wesen einer abstrakten Entität, z. B. einer Biomolekülsorte, vom Wesen der anderen abstrakten Entitäten eines konkreten Systems unabhängig existiert. 213 Die Dimensionen werden, mathematisch gesprochen, wie sogenannte ›linear unabhängige Vektoren‹ gedacht. Die notwendige Folge des Faktums ist, dass sie diese abstrakten Räume überhaupt erst definieren, denn Vektoren können nur dann Räume aufspannen
213 Die lineare Unabhängigkeit, die den Dimensionen der chemischen Zustandsräume der Abbildungen 2.11(b) und 2.22, um nur zwei Beispiele zu nennen, essentiell anhaftet, kann nur dann vorausgesetzt werden, wenn innerhalb der konkreten Systeme, in denen Moleküle der Sorten HIO, HIO2, ATP und ADP vorkommen, die Unabhängigkeit des Wesens dieser Sorten voneinander angenommen wird.
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bzw. als ihre sogenannten ›Basis-Vektoren‹ dienen, wenn sie linear unabhängig voneinander sind. Es ist natürlich die Vorstellung der Unabhängigkeit des Wesens dieser Größen voneinander und von dem restlichen systemischen Zusammenhang, die die lineare Unabhängigkeit der Dimensionen der abstrakten Räume begründet, und nicht umgekehrt. Ohne diese Grundvorstellung wären Physik, Chemie, Biochemie usw. keine Wissenschaften, denn ihre Begriffe wären immer nur an konkrete Systeme gebunden und hätten somit keine Universalität. Die Feststellung der Wesensunabhängigkeit der einen Zustandsraum aufspannenden abstrakten Entitäten gilt übrigens vollkommen unabhängig davon, ob unter dem ›Wesen‹ einer abstrakten Entität das verstanden wird, was im letzten Abschnitt abgeleitet wurde. Denn die Tatsache der Weiterexistenz jedes der den entsprechenden Raum aufspannenden Vektoren bei absoluter Abwesenheit der restlichen bleibt bestehen bei allen denkbaren Interpretationen des Ausdrucks ›Wesen‹. Eine zweite, ebenfalls nicht triviale Tatsache, die gleichermaßen offensichtlich ist, wie sie leichtfertig hingenommen wird, ist, dass jede Dimension eine Länge besitzt, auf der Zahlen aufgetragen sind. Die Existenz einer Metrik besagt aber nichts anderes, als dass jede dynamische oder statische Größe eine Qualität hat, die in verschiedenen Intensitäten vorliegen kann, ohne sich zu ändern. Die Addierbarkeit dieser Größen, z. B. der Konzentrationen einer Molekülsorte, zeigt, dass ihnen eine homogene Qualität zugewiesen wird. Es wird also stillschweigend angenommen, dass die Bedeutung jeder Dimension eines abstrakten Raumes in einer solchen von Quantitäten unabhängigen Qualität besteht, denn Additionen setzen die qualitative Identität (Homogenität) der zu addierenden Größen voraus. Die Metrisierbarkeit und die lineare Unabhängigkeit, die statischen und dynamischen Größen gleichermaßen zugesprochen werden, gestatten es, sie als mit sich selbst absolut identisch bleibende abstrakte Entitäten zu denken. Deswegen können die abstrakten Entitäten in Systemen präsent sein, die quantitativ und qualitativ vollkommen verschieden voneinander sind. Dies ist eine natürliche Folge davon, dass in den entsprechenden wissenschaftlichen Ontologien die abstrakten Entitäten als Universalien gedacht werden. Denn als solche, d. h. als invariante und daher kontextunabhängige Seiende, erlauben sie keine situationsspezifischen Bestimmungen ihrer Bedeutung, d. h. ihres Wesens, – eine Feststellung, deren Wert nicht von dem Ausgang des weiterhin offenen Streits über den ontologi301 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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schen Status von Universalien (Realismus vs. Nominalismus usw.) abhängig ist. Dynamische und statische Größen sind aber auch mit wirklichen Entitäten untrennbar verbunden. Die Idee der Konzentration einer Molekülsorte z. B. verweist automatisch auf eine große Zahl einzelner Moleküle, die eigentlich keine Universalien sind, sondern Partikularien. Aber die im Rahmen formal-systemtheoretischer Ontologien implizit angenommene Identität des Wesens einer wirklichen Entität mit dem Wesen der ihr zugehörigen abstrakten 214 universalisiert die Partikularien und verdinglicht sie. 215 Aus formal-systemtheoretischer Sicht kann also die Einmaligkeit und Unterscheidbarkeit einer wirklichen Entität, da sie als materielles Element verstanden wird, 216 nur darin bestehen, eine (innerhalb der Grenzen der Heisenberg’schen Unschärferelation) raumzeitlich lokalisierte Verkörperung einer Universalie zu sein. Sie ist ein ›gesichts-‹ und geschichtsloser Vertreter einer zeitlosen abstrakten Entität, wie z. B. einer Atomoder Molekülsorte. Aufgrund der Zeitlosigkeit von Universalien und ihrer daraus folgenden Invarianz ist es nicht denkbar, dass die von ihnen repräsentierten wirklichen Entitäten besondere systemspezifische Bestimmungen ihres Wesens erfahren. Das gilt natürlich solange, wie bestimmte (system)ontologische Grundprämissen nicht revidiert werden. Tatsächlich behandelt die Physik, der strengste Ausdruck systemtheoretischen Denkens in den Naturwissenschaften, nichts anderes als die physischen Veränderungen von wirklichen Entitäten, wie z. B. den Zerfall eines Moleküls in zwei andere oder die Verschmelzung von Elektron und Positron zu Licht, aber keine umgebungsspezifischen Wesensbestimmungen: Die Relationen, die eine konkrete wirkliche Entität zu anderen konkreten wirklichen Entitäten haben kann. D. h. die Totalität der Möglichkeiten, die sie hat, unter bestimmten Bedingungen in allen möglichen kausalen Umgebungen zu agieren, würden festgelegt sein und vom konkreten Vorgang unverändert bleiben. Würde das Wesen dieser Entitäten variiert, dann wäre die Be214 Dass die Annahme dieser Identität eine zentrale Stütze der naturwissenschaftlichen Systemontologien der Gegenwart ist, wurde im letzten Abschnitt gezeigt. 215 Von ›Verdinglichung‹ ist hier die Rede ausgehend von der Bedeutung, die der Ausdruck ›Ding‹ in verschiedenen Zitaten von Wolff, Kant, Kripke und Locke im letzten Abschnitt hat. 216 Siehe Abschn. 3.2.a.1 dieses Kapitels.
302 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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rechnung der jeweils emergierenden Strukturgesetze gar nicht möglich. Denn die Alleinherrschaft von Wirkursachen-Kausalität setzt geradezu die Statik des Wesens aller in bindenden Relationen zueinanderstehenden Größen, statischen und dynamischen, voraus. Sonst wird dem rechnenden Verstand die logische Basis unter seinen Füßen weggezogen, wie es auch aus dem Hempel-OppenheimSchema folgt. Die unverzichtbare hierarchische Ordnung der Turing-Berechenbarkeit begrenzt notwendig den Einfluss des Systems auf das Verhalten, das Tun, seiner fundamentalsten Entitäten. Ihr Wesen muss jenseits seines Einflusses bleiben. Das kann natürlich nur dann begriffen werden, wenn die Grenzen der Systemontologie, und mit ihr jede Form des systemtheoretischen Emergentismus, klar sind, d. h. ihr Unvermögen, bei konkreten empirischen Ganzheiten, die immer begrenzt sind, Wesenhaftigkeit auf Relationalität, Sein auf Tun, zurückzuführen. Dieser – trotz aller Vorherrschaft systemontologischer Denkweisen – eindeutig substanzontologische Umstand wird kaum problematisiert, weil ihn das ›Netzwerk‹-Vokabular verdeckt, das in einem System »den Zusammenhang von allem mit allem«, die »unlösbare Vernetzung aller Elemente miteinander« usw. beschwört. Worauf ich hier jedoch referiere, ist nicht die kausale Bindung zwischen den materiellen Elementen, die ohne Frage ein Netzwerk darstellt, sondern etwas viel Fundamentaleres: ihr Sosein, das Wesen dieser Entitäten. Die lineare Unabhängigkeit der Dimensionen der abstrakten Räume besagt im Grunde nichts anderes, als dass einige dieser Dimensionen wegfallen können, ohne dass dies das Wesen der restlichen betreffen muss. Dass dieser Wegfall die Dynamik des verbleibenden Systems empfindlich verändern wird, wenn er nicht vernachlässigbar ist, bezweifele ich natürlich nicht, aber – das sei nochmals mit anderen Worten betont – hier geht es nicht um den Verlauf der Trajektorie, sondern um die Natur der Dimensionen, die diese hat: Hier geht es nicht um das Werden des systemischen Gesamtzustands, sondern um die ontologischen Kategorien, die abstrakten Entitäten, die bestimmen, was dieser überhaupt ist. Diese Kategorien verhalten sich bei jedem formal-systemtheoretischen Ansatz wie ideelle unveränderbare Substanzen, damit Berechenbarkeit überhaupt gewährleistet werden kann – das verlangen Mathematik und Logik. Und diese Substanzialität überträgt sich automatisch auf die wirklichen Entitäten, deren Interaktionen miteinander das systemische Werden ›berechnen‹. Die Überlagerung von Substanz- und Systemontologie ist 303 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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also viel massiver als man ausgehend von den Versicherungen systemischer Philosophen, wie Nuzzo, erwarten könnte. Nicht einmal Rombach ahnt vielleicht das wahre Ausmaß dieser Überschneidung, wenn er sich auf die Annahme substanzieller Größen in Systemen mit den Ausdrücken »unaufgelöste Reste« bzw. »konstruktiver Rest« bezieht. 217 Es ist also dringend nötig, zwischen dem spekulativ-philosophischen Gedanken des Systems, d. h. der Systemontologie als metaphysischem Grundmodell, und den verschiedenen wissenschaftlichen Systemontologien radikal zu unterscheiden. Ersterer ist eindeutig als Gegenentwurf zum Substanz-Denken der antiken und mittelalterlichen Metaphysik entstanden. Dagegen sind letztere in einem hohen Grade vom substanzontologischen Denken durchzogen. Dass es im Zeitalter der philosophischen Systemontologie zu einer solchen Substanzialisierung kommen musste, kann interessanterweise durch diese Ontologie selbst begründet werden – weshalb diese Begründung nur innerhalb des Rahmens des systemischen Weltbilds gültig ist: Aus philosophisch-systemontologischer Sicht sind die mit physischen Vorgängen zusammenhängenden abstrakten und wirklichen Entitäten erst in der Totalität des kosmischen Zusammenhangs – der »absoluten Maschine«, wie Heinrich Rombach den systemisch verstandenen Kosmos beschreibt – auf eine notwendige, ihr Wesen bestimmende Weise aufeinander bezogen (vgl. Abb. 2.28 (a)). Werden wenige von ihnen – gedanklich oder praktisch – aus dem Gesamtzusammenhang herausgerissen, um ein hochgradig begrenztes und spezifisches physisches oder technisches System zu bilden (vgl. Abb. 2.28(b)), so geht ihr natürlicher Zusammenhang verloren und sie verhalten sich wie zueinander wesensfremde Faktoren, die in ihrem Wesen fixiert sind. In der jeweils zutreffenden formalen Systemontologie tauchen sie folglich als Substanzen auf, somit ist das entsprechende System »nur eine auf vorgängige Substanzen aufgelegte Funktionalität«, wie Rombach treffend feststellt. 218 3.2.a.5 Die Organismus-Problematik kann auf Universalien-Systeme übertragen werden Die Besonderheit, die ein gedanklich oder praktisch verwirklichtes dynamisches System darstellt, wird durch eine besondere Kombination von Universalien erzeugt. Es wird als eine Verbindung von arith217 218
Siehe Abschn. 3.2.a.2 dieses Kapitels. Siehe Abschn. 3.2.a.2 dieses Kapitels.
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metischen und physischen Universalien vorgestellt, d. h. von Zahlen und physikochemischen Arten. Diese Kombination erzeugt alle statischen und dynamischen Größen des Systems, was von größter Wichtigkeit ist. Was sich z. B. bei einem chemischen dynamischen System abspielt, kann wie folgt beschrieben werden: »Eine bestimmte Menge von Molekülen dieser Sorte (dynamische Größe, die eine Kombination von zwei Universalien darstellt: Molekülsorte und Zahl) treffen unter dieser Temperatur und diesem Druck (statische Größen und ebenfalls Kombinationen von physischen und arithmetischen Universalien) auf eine bestimmte Menge von Molekülen jener Sorte (dynamische Größe usw.) in einem Reaktionsgefäß dieses Volumens (statische Größe usw.).« Die Form einer Kombination arithmetischer und physischer Universalien determiniert den Vorgang, legt also das jeweils gültige emergente Strukturgesetz fest – das ebenfalls eine Universalie ist, wenn auch eine viel seltener in der Wirklichkeit anzutreffende. Ein von diesem Gesetz berechneter, nur zu einem einzigen Zeitpunkt gültiger Zustand des dynamischen Systems stellt ebenfalls eine konkrete Gestalt der Verbindung arithmetischer und physischer abstrakter Entitäten dar. Diese dynamische Größe ist – da es keinen Grund gibt, die Existenzberechtigung dieser Verbindung unlösbar an ein einziges raumzeitlich lokalisiertes Geschehen zu binden – ebenfalls eine Universalie, d. h. eine abstrakte Entität, allerdings eine zusammengesetzte. Die Trajektorie der systemischen Entwicklung ist nichts als eine Aufeinanderfolge solcher zusammengesetzter abstrakter Entitäten. Ein dynamisches System, das als ein Modell für oder von etwas vorgeschlagen wird, kann als ein Universalien-System verstanden werden und zwar ohne die Gefahr des Verlustes physikalisch relevanter Informationen, d. h. solcher, die die Möglichkeiten seiner Entwicklung und die tatsächliche Verwirklichung dieser betreffen. So gesehen, bedeutet die Verwirklichung von systemischen Gesamtzuständen, die biologisch sinnvoll sind, nichts anderes als die Verwirklichung von hochgradig zusammengesetzten Universalien. Sie werden von Punkten innerhalb des erweiterten Zustandsraumes repräsentiert, die in sich alle Dimensionen verbinden, die für die verschiedenen Molekülsorten stehen, aus denen der Organismus sich zusammensetzt. Bei leblosen Ganzheiten wird eine schwache Form der Selbstorganisation durch die externe Vorgabe einer besonderen Kombination statischer Größen, d. h. einer besonderen statischen Kombination 305 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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von Universalien erreicht, von der die Dynamik des Systems kanalisiert wird. Die Modellierung der echten Selbstorganisation von Organismen würde aber nichts weniger als die regulativ geschlossene Berechnung besonderer, weil Leben repräsentierender, Kombinationen von Mengen wirklicher Entitäten verlangen. Da aber im Rahmen des systemtheoretischen Denkens diese veränderbaren Mengen in Kombinationen von arithmetischen und physischen Universalien analysierbar sind, kann die Forderung nach der Existenz eines erweiterten Zustandsraumes (vgl. Abb. 2.26) nun wie folgt formuliert werden: Jedes Modell von einer regulativ geschlossenen Ganzheit verlangt, dass besondere (weil Leben repräsentierende) Kombinationen von arithmetischen und physischen Universalien von einer TuringMaschine berechenbar sind, die – wenn sie als Eingangswerte derselben Maschine verwendet werden – die Berechnung von neuen Universalien-Kombinationen verursachen, die Lebendiges repräsentieren. Die neuen Kombinationen müssen ihrerseits dasselbe leisten können usw. ad infinitum. Einfacher ausgedrückt: Die Berechnung aufeinander folgender biologisch sinnvoller zusammengesetzter Universalien müsste sich selbst kanalisieren können. Ihre Aufeinanderfolge im abstrakten Raum der physischen Universalien müsste eine stabile Entwicklung, im Sinne der dynamischen Stabilität (Bewahrung der Nähe benachbarter Trajektorien), darstellen. Auch wenn die Idee einer biologisch sinnvollen, hochgradig zusammengesetzten Universalie keine philosophischen Probleme aufwirft, ist die Vorstellung der sich selbst regulierenden Berechnung einer Abfolge solcher Universalien aus essentiellen Gründen dennoch problematisch: Die restlose Übersetzung echter Selbstorganisation in ein System abstrakter Entitäten würde das Aufeinandertreffen vieler einfacherer Universalien und die selbstregulativ bedingte Entwicklung der so gebildeten Konstellation für eine gewisse Zeit verlangen. Zu diesem Zweck müsste das Wesen jeder der aufeinandertreffenden abstrakten Entitäten mit dem Wesen jeder einzelnen der anderen abstrakten Entitäten auf eine Weise harmonieren, die ihren autonom erzeugten Zusammenhalt begründen kann. Die Repräsentation von regulativ geschlossen erzeugten Gesamtzuständen durch hochgradig synthetische Universalien setzt also die logische Zusammengehörigkeit vieler einfacherer Universalien (der Dimensionen des entsprechenden Zustandsraumes) voraus – mit anderen Worten: die Angepasstheit ihrer (dieser Dimensionen) Wesen aufeinander. Nur wenn ihre Wesen aufeinander abgestimmt sind, können sie auf eine Weise 306 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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miteinander kooperieren, die eine Simulation regulativer Geschlossenheit sein kann. Darf jedoch ein solcher Grad der Abstimmung des Wesens von Universalien, wenn überhaupt, für etwas geringeres als die Ebene des universellen physisch-begrifflichen Zusammenhangs der »absoluten Maschine« (Rombach) – des Kosmos in seiner Gesamtheit – angenommen werden? Es ist nicht auszuschließen, dass einer die menschliche Begrenztheit weit transzendierenden Vernunft ein besonderer notwendiger Zusammenhang physisch-mathematischer Universalien a priori gegeben wäre. Einem solchen Geist, der von der Metaphysik Leibniz’ entsprungen sein könnte, wäre ein konkreter Organismus als ein hochgradig synthetischer »vollständiger Begriff einer individuellen Substanz« (Poser 2005, 125) gegeben, d. h. als einer, der »alle Prädikate des Subjekts, dem dieser Begriff zukommt« (Leibniz 1985, 19 (§ 8)), in sich einschließt, sodass sie aus ihm abgeleitet werden können. 219 Die logische Einheit von Mannigfaltigem, die ein solcher Begriff darstellt, darf nicht durch die Zusammenfügung linear unabhängiger Vektoren veranschaulicht werden. Denn die Ganzheit des organismischen Subjekts wäre nicht durch die Synthese ihm extern zugewiesener prädikativer Bestimmungen – die bestimmter Universalien bedürften – herzustellen. Es wäre dagegen genau umgekehrt: Die Prädikate würden sich aus der Analyse des Subjekts als notwendig in diesem enthaltene Begriffe ergeben. Somit wären sie keine extern zusammengebrachten, sondern essentiell zusammengehörige Universalien; sie wären miteinander harmonische Komponenten eines der Knoten der »absoluten Maschine« (vgl. Abb. 2.28(a)), deren Strukturierung Leibniz bekanntlich sich bis ins unendlich Kleine erstrecken lässt. Der menschlichen Vernunft ist allerdings eine solche vor aller Erfahrung gewonnene Einsicht in einen ewigen universellen Logos verwehrt. Unsere begrenzten Artefakten – ob technische Konstruktionen oder in Gedankenexperimenten verwirklichte Systeme – müssen durch statische Größen verschiedenster Art extern zusammengehalten werden: Die physischen Universalien sind der naturwissenschaftlichen Erkenntnis nicht als notwendige Komponenten einer logischen Einheit gegeben. Sie sind a posteriori mühsam ge219 Leibniz wörtlich: »So muß der Subjektsbegriff immer den Prädikatsbegriff einschließen, so daß derjenige, der den Begriff des Subjekts vollkommen verstünde, auch urteilen könnte, daß ihm dieses Prädikat zukommt« (Leibniz 1985, 17 f. (§ 8)).
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wonnene Bruchstücke aus einem Ganzen, das den menschlichen Geist hoffnungslos überfordert; sie sind eben nichts als Abstraktionen. Es ist unvermeidlich, dass die Form der extern zusammengefügten Kombinationen solcher Entitäten nicht notwendig ist, d. h., dass es ihr an innerer Kohärenz mangelt. Deshalb verbietet die Universalität abstrakter Entitäten, dass sie aus sich heraus einen Zusammenhalt erzeugen können, der sich von seinem Hintergrund als etwas Einmaliges bzw. Partikuläres abhebt und sich selbst erhält. Es ist dieser von unserer begrenzten menschlichen Erkenntniskraft geschaffenen Universalität zu verschulden, dass die dynamischen Größen eines wissenschaftlichen Systems durch statische zusammengehalten werden müssen. Folglich können sie nur durch willkürliche Grenzsetzungen – die auch das Hempel-Oppenheim-Schema auf seine Weise beschreibt – extern zusammengebracht und zusammengehalten werden. Somit bleiben die aus ihnen synthetisierten Ganzheiten aus notwendigen Gründen unterhalb des Niveaus echter Selbstorganisation. Die Organismus-Problematik kann nun vollständig in ein Universalien-Vokabular umformuliert werden: Die Tatsache, dass ein erweiterter Zustandsraum eine Unzahl von Instabilitäten aufweisen muss, wie es ausführlich durch rein physikalische Überlegungen gezeigt wurde, 220 bedeutet, dass einem Universalien-System, das einen echten Organismus repräsentiert, sehr viele instabile Entwicklungen innewohnen. Damit ist es kaum in der Lage, die Verwirklichung biologisch sinnvoller Trajektorien plausibel zu machen. Wird aber diesem theoretisch abgeleiteten negativen Resultat die von der Erfahrung bejahte Existenz von Lebendigkeit gleichberechtigt zur Seite gestellt, so ist damit immerhin zuzugeben, dass ein Universalien-System in der Lage sein muss, das langanhaltende Gelingen der Selbstregulation eines Organismus, wenn nicht zu erklären, so zumindest abzubilden. Ein solches System würde keine Berechnung der organismischen Dynamik leisten, sondern lediglich die Darstellung ihrer Entwicklung erlauben. Die lange Trajektorie der Abbildung 2.27 erklärt zwar nicht, wie es dem Organismus gelingt, den schmalen Pfad des Lebens nicht zu verlassen, sie kann jedoch sein Werden darstellen. Sie erklärt nicht die Ursache des Lebendigseins, sondern bildet nur das Resultat ab, die Lebendigkeit. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass keine noch so ausgeklügelte Kombination abstrakter Entitäten den aktualen Aspekt des Le220
Siehe Abschn. 2.2.b, 2.2.c und 2.3 dieses Kapitels.
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bendigen, der Entgleisungen vorbeugt, zu erfassen vermag. Denn die Universalität abstrakter Entitäten verbietet, dass sie aus sich heraus einen Zusammenhang erzeugen können, der sich aus eigener Kraft von seinem Umgebungshintergrund als etwas Einmaliges bzw. Partikuläres abhebt und sich selbst erhält. Die besondere Kraft für besondere Korrekturen muss jedoch der organismischen Ganzheit selbst zukommen, wenn es sich um eine Form von echter Selbstorganisation handeln soll. Ist aber eine Kombination von empirisch gewonnenen wissenschaftlichen Universalien unfähig, die Partikularität dieser organismischen Ganzheit aufrechtzuerhalten – und zwar gerade aufgrund ihrer (der Kombination) Universalität –, dann stellt sich die Frage, ob diese Aufgabe Faktoren überlassen werden sollte, die selbst Partikularien sind, d. h. den wirklichen Entitäten. Um etwas Besonderes zusammenhalten zu können, müssen sie aber entschieden mehr als Verkörperungen von besonderen Universalien-Kombinationen sein, 221 deren kümmerliche Partikularität sich in ihrer jeweiligen raumzeitlichen Lokalität erschöpft. Das Wesen organismischer wirklicher Entitäten muss eine echte Besonderheit – d. h. eine eigenständige, eine intern bedingte Einmaligkeit darstellen – und nicht bloß eine, die einem externen Beobachter vollkommen offengelegt ist. Das Wesen der wirklichen Entitäten des Organismus kann also nicht mit dem Wesen einer zusammengesetzten Universalie identisch sein. Damit die wirklichen Entitäten den regulativ geschlossenen Zusammenhang und Zusammenhalt des Organismus erzeugen können, müssen ihre Wesen während des organismischen Werdens aufeinander abgestimmt werden. 3.2.a.6 Organismische Individualität durch Wesensinterdependenz der wirklichen Entitäten Die implizit angenommene Darstellbarkeit von wirklichen Entitäten als Verbindungen abstrakter Entitäten mag für wissenschaftliche Ontologien nützlich sein, sie birgt jedoch in sich metaphysische Schwierigkeiten. Nicht etwa, weil die Realität der wirklichen Entitäten, wegen des seit der Spätantike noch nicht entschiedenen Streits zwischen Realisten und Nominalisten über den ontologischen Status von Universalien, in Frage stehen würde, sondern aus einem anderen Grund: Sie homogenisiert, wie schon gesagt, das Wesen der wirklichen Enti221 Dass naturwissenschaftliche Ontologien das Wesen wirklicher Entitäten auf das Wesen abstrakter reduzieren, wurde im Abschnitt 3.2.a.3 dieses Kapitels gezeigt.
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täten einer Art, z. B. aller Eisenatome, denn sie reduziert ihre Partikularität und Unterscheidbarkeit auf solche Eigenschaften, wie räumliche Position und Geschwindigkeit, die ein externer Beobachter den Entitäten zuweist – so z. B., wenn von Form und Ausbreitungsgeschwindigkeit eines aus Milliarden von Signalmolekülen »derselben Beschaffenheit« bestehenden morphogenetischen Feldes in einem Embryo gesprochen wird. Rombachs mittelbare Kritik an die Infiltration der Systemontologien vom Substanzialismus 222 ist ernst zu nehmen. Auf die Frage nach dem Wesen des Organismus angewandt, unterstreicht seine Kritik die sich vor dem Hintergrund der Organismus-Problematik zunehmend offenbarende Notwendigkeit, für die organismische Seinsweise das formalen Systemtheorien implizite Verhältnis von Partikularität und Universalität zu überwinden. Die kritischen Überlegungen der letzten Seiten konvergieren zu folgendem Schluss: Die organismische Selbsterhaltung und Entwicklung kann auf der Basis des biosystemischen Emergentismus nicht stattfinden, weil im Rahmen dieses Denkens den wirklichen Entitäten ein im Vergleich zum jeweils konkreten speziellen organismischen Zusammenhang viel zu allgemeines Wesen zugewiesen wird 223 und gleichzeitig eine externe Einflussnahme, die gezielt ihren Zusammenhang erzwingen würde, nicht angenommen werden darf. Folglich muss die gesuchte metaphysische Ontologie davon ausgehen, dass das Wesen der wirklichen Entitäten auf irgendeine Weise von ihren Relationen zueinander innerhalb der organismischen Ganzheit mitbestimmt wird. Eine wirkliche Entität muss also zusätzlich zu ihrer universellen Seite, die ihr zweifellos zukommt, partikuläre, d. h. ausschließlich ihr eigene Aspekte besitzen, die ihr Wesen ergänzen und – das ist der Sinn dieser Forderung an die gesuchte philosophische Ontologie – es in Hinblick auf die Erhaltung und Entwicklung des organismischen Gesamtzusammenhangs mitgestalten. Da echte Selbstorganisation die Annahme eines außerorganismischen Schöpfers (Gott) bzw. innerorganismisch-substanziellen Gestalters (substanzontologisch gedachte Seele) dieser Wesensbestimmung und -anpassung verbietet, fällt diese Aufgabe notwendig den wirklichen Entitäten zu. Das bedeutet, dass die organismischen wirk222 Siehe zweites Zitat aus Rombachs Strukturontologie im Abschnitt 3.2.a.2 dieses Kapitels. 223 Da sie als Verbindungen von Universalien gedacht werden.
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lichen Entitäten sich gegenseitig wesenhaft gestalten, d. h. in der Ordnung der Wesensinterdependenz – anders ausgedrückt: in der Ordnung des wesenhaften Ineinanders – existieren. Das ist nur dann möglich, wenn sie – in der Philosophie sogenannte – interne Relationen zueinander aufweisen. Wo solche Relationen walten, sind die Relata viel mehr aufeinander angewiesen, als wenn es zwischen ihnen nur ›bindende Relationen‹ gäbe. 224 Während die Rolle letzterer sich darin begrenzt, dass der Zustand eines der beiden Relata oder beider sich durch die Relation ändert, besagt die Existenz von internen Relationen, dass die Relata der Relation logisch folgen, weshalb jene ohne diese nicht existenzfähig sind. Bindende Relationen können dagegen durchaus als externe Relationen verstanden werden, d. h. als solche, bei denen »die Dinge vor den Relationen« sind (Natorp 1914, 29), was z. B. für die Produkte einer chemischen Reaktion gilt, die auch in Isolation voneinander existieren können. Ein exzellentes Beispiel dafür, dass aber einige »Relationen vor den Dingen gelten« können (ebenda), 225 bietet die Tatsache, dass eine Biene in der Natur isoliert von ihrem Schwarm nicht überleben kann. Ausgehend von der Idee der internen Relationalität wird also die Überwindung der für die formale Systemontologie des biosystemischen Emergentismus zentralen Idee der Wesensunabhängigkeit, d. h. der externen Relationalität, der wirklichen Entitäten der organismischen Ganzheit verlangt. Der Organismus wird auf diese Weise zu etwas viel wertvollerem als der Besonderheit einer emergenten Gestalt aufgewertet, die nichts mehr als eine Kombination von Universalien ist. Er wird zu einem metaphysischen Individuum erklärt, indem er um eine Seite bereichert wird, die nicht in ontologisch allgemeinere Begriffe analysierbar ist. Die interne Relationalität der sich gegenseitig wesenhaft durchdringenden und schöpfenden wirklichen Entitäten verSiehe Abschn. 1.1.a dieses Kapitels. Mit den beiden zuletzt zitierten Stellen kennzeichnet Paul Natorp eigentlich den »Kern der Differenz« zwischen den Lehren von Aristoteles (»die Dinge vor den Relationen«) und Platon (»die Relationen vor den Dingen«). Ausgehend von Natorps Überzeugung, dass der größte Verdienst Platons in der im Sophistes geleisteten Überwindung der »ursprünglichen Ideenlehre« liegt, für die »das Haften an den starren, unverrückbaren Begriffen«, die ihren Sinn unabhängig voneinander in sich tragen, typisch ist (Natorp 1914, 31), kann man im Primat der Relationen gegenüber gegebenen Entitäten, ob physischen Seienden oder Begriffen, die Essenz der internen Relationalität überhaupt sehen. 224 225
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leiht ihrem Zusammenwachsen zu einem Organismus eine Souveränität gegenüber dem Universellen. Dem Organismus kommt ontologische Atomizität, Unteilbarkeit des Wesens – echte In-dividualität zu. Dieser Gedanke kann natürlich nur von einer philosophischen Ontologie ernst genommen werden, weil alle naturwissenschaftlichen Ontologien an dem obersten Imperativ naturwissenschaftlicher Forschung gebunden sind: der Konzentration auf Allgemeingültiges, Universelles. 3.2.a.7 Das prozessuale Wesen der wirklichen Entitäten des Organismus Unter dem ›Wesen‹ einer wirklichen Entität verstehe ich, wie schon gesagt, ihre Natur, und damit das, was sie ist. Die Frage, was unter dem Sosein bzw. der Washeit einer Entität überhaupt gemeint sein kann, wird aber in unterschiedlichen Ontologien auf grundsätzlich verschiedene Weise beantwortet, da sie die Tragsäule jedes ontologischen Systems bildet. In der Aristotelischen Substanzontologie besteht das Wesen einer individuellen Substanz (ousia) in ihrem ›eidos‹, d. h. in der Art, der sie angehört: Das Wesen eines konkreten Blauwals ist die Spezies ›Blauwal‹. Da Aristoteles nicht von der Evolution der Arten ausging, wurden die Wesen der individuellen Substanzen als zeitlose Entitäten gedacht. In der Substanzontologie Leibniz’ wird das Wesen einer wirklichen Entität nicht auf einen universellen Aspekt beschränkt. Es ist vielmehr ein »vollständiger Begriff einer individuellen Substanz« (Poser 2005, 125). Dieser schließt alle Ereignisse begrifflich in sich ein, an denen diese konkrete Entität während ihrer Existenz teilhaben wird. Das Wesen einer individuellen Substanz besteht also in der vollständigen Beschreibung ihres gesamten im Voraus festgelegten Werdens, womit es ebenfalls zeitlos ist. An dieser Stelle ist es weder möglich noch sinnvoll, verschiedene Konzeptionen des Wesens wirklicher Entitäten aufzuzählen, die in der Geschichte der Philosophie die Weichen metaphysischer Systeme gestellt haben. Viel wichtiger ist es, die meiner Meinung nach essentiellste Gemeinsamkeit aller möglichen zukünftigen ontologischen Konzeptionen des Wesens organismischer wirklicher Entitäten einzuführen, die für die Begründung neuer Theorien des Organismus benötigt werden. Aus den in den letzten Abschnitten entfalteten Überlegungen geht Folgendes hervor: Wie auch immer das Wesen der organismischen wirklichen Entitäten gedacht wird, es kann nicht 312 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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als etwas Zeitloses begriffen werden, wenn sie durch ihre Relationen zueinander den selbstregulativen Zusammenhang des Organismus hervorbringen sollen. Die Natur einer organismischen wirklichen Entität kann nicht etwas Substantielles sein; die Entität kann kein statisches Wesen haben. Ihre Washeit kann weder in einer kartesischen Substanz noch in einer Aristotelischen Formursache bzw. ›causa formalis‹ (eidos) bestehen, da diese nicht dynamisch sind. Die Suche nach einer Ontologie des Organismus muss also außerhalb aller Versionen der Substanzontologie stattfinden. 226 Das Wesen einer konkreten organismischen wirklichen Entität muss in einem Akt des Werdens bestehen – und zwar in einem, der mit ähnlichen Akten unlösbar zusammenhängt – genauer: zusammenwächst. Die grundlegendste Hypothese der vorliegenden Untersuchung ist, dass es möglich ist, das Wesen einer partikulären wirklichen Entität als einen Prozess zu verstehen. Erst dann ist es überhaupt möglich, von der ›Bestimmung des Wesens‹ bzw. einer ›Wesensbestimmung‹ der wirklichen Entitäten des Organismus zu sprechen. Die Prozessualität des Wesens kann aber erst in den folgenden Kapiteln analysiert werden, wenn das dieser Idee zugrunde gelegte besondere Verständnis von Zeit eingeführt sein wird, nach dem jede Form von Prozessualität verlangt. 3.2.b
Die Wesensbestimmung der wirklichen Entitäten ist ein metaphysischer Prozess
Die Idee der gegenseitigen Wesensbestimmung der wirklichen Entitäten kann leicht auf verschiedene Weisen missverstanden werden. Ihre endgültige Klärung kann leider nicht vor der Entfaltung der konkreten philosophischen Ontologie, innerhalb der sie ihre Dienste leisten soll, erreicht werden. Obwohl dies in diesem Kapitel nicht bewerkstelligt werden kann, ist es dennoch möglich, zwei besonders fatalen Missverständnissen dessen, was »Wesensinterdependenz (bzw. gegenseitige Wesensbestimmung) der wirklichen Entitäten« bedeuten könnte, zuvorzukommen: Das erste besteht in der falschen
226 Obwohl die Substanzontologie Leibniz’ wegen der Vorstellung des vollständigen Begriffs der individuellen Substanz flexibler ist als alle anderen Substanzontologien, kann sie aus Gründen, die in diesem Abschnitt erläutert wurden, und aufgrund der enormen metaphysischen Last eines monadologisch konzipierten Kosmos nicht die ontologische Grundlage einer Biophilosophie des 21. Jahrhunderts liefern.
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Annahme, die interne Relationalität würde das Wesen von Universalien transformieren. Das zweite mögliche Missverständnis wäre, dass die Wesensbestimmung einer wirklichen Entität ein raumzeitlich lokalisiertes Werden und damit beobachtbar sei. Es würde aus der Gleichsetzung der Bedeutungen von ›wirkliche Entität‹ und ›materielles Element‹ folgen. Die Gründe für die Irrtümlichkeit beider Vorstellungen müssen eingehend erläutert werden. 3.2.b.1 Die Wesensinterdependenz der wirklichen Entitäten variiert nicht das Wesen der abstrakten Entitäten und findet nicht in der Raumzeit statt Vor dem Hintergrund der Erläuterungen über das Wesen einer wirklichen Entität als Verkörperung einer bestimmten Universalie könnte vermutet werden, dass die gegenseitige Wesensbestimmung solcher Entitäten automatisch die Neubestimmung der Natur der von ihnen verkörperten abstrakten Entitäten voraussetzt. Die Vorstellung, ein individuelles organismisches Werden würde das Wesen von Universalien mit kosmischer bzw. biosphärischer Reichweite, wie Naturgesetze, Arten von Atomen und organischen Molekülen bzw. Biomolekülen, variieren, ist zweifelsohne befremdlich. Denn physische Universalien können, wenn überhaupt, erst durch Ereignisse kosmischer Reichweite transformiert werden. Wenn also von der gegenseitigen Wesensbestimmung wirklicher Entitäten durch interne Relationalität gesprochen wird, heißt es keineswegs, dass die gesuchte Ontologie ihnen die Kraft zuschreiben würde, das Wesen der Universalien, an denen sie teilhaben, neu zu bestimmen. Der vorliegenden Untersuchung liegt also keinesfalls die Annahme zugrunde, dass in einem Lebewesen Universalien – seien sie physikochemische Gesetze, Naturkonstanten oder das Wesen materieller Elemente (z. B. essentielle Eigenschaften von Molekülsorten) – transformiert werden. Ein derartiges Vermögen wird den wirklichen Entitäten nicht einmal innerhalb eines konkreten organismischen Leibes zugesprochen. Ich behaupte also keineswegs, dass ein Organismus innerhalb der Grenzen seines Leibes auf eine neue, ihm angepasste Weise definiert, was z. B. ein Eisenatom ist bzw. was es heißt, ein Eisenatom zu sein. Dies wäre eine Transformation des Wesens einer abstrakten Entität und würde augenblicklich das Kollektiv aller am Metabolismus dieses Organismus teilnehmenden Eisenatome wesenhaft transformieren. In diesem Kapitel wird nicht die lineare Unabhängigkeit von Universalien-Dimensionen in Zustandsräumen be314 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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klagt, sondern die automatische Gleichsetzung des Wesens der wirklichen Entitäten mit diesen Dimensionen – eine Gleichsetzung, die mit der Natur von Universalien als solchen nichts zu tun hat. Einzelne Kohlenstoffatome eines Organismus können oxidiert werden – das ist weder eine Wesensbestimmung noch eine Wesenstransformation, sondern ein ihrem gemeinsamen Wesen gemäßer physischer Vorgang. Sie können aber nicht plötzlich anfangen, auf eine ihnen uneigene Weise zu reagieren – das wäre eine kollektive Wesenstransformation. Dies wird hier auf keinen Fall angenommen! Die Idee des progressiven Zusammenwachsens der wirklichen Entitäten zu einem organismischen Individuum setzt keineswegs voraus, dass die von ihnen verkörperten abstrakten Entitäten zu einem rein individuellen Zusammenhang verschmelzen – d. h. zu einer Einheit, die Universelles in ihrem Territorium progressiv beseitigt, um einen sich selbst zunehmend abkapselnden kleinen Kosmos mit seinen eigenen Gesetzen zu erschaffen. Eine solche total-holistische Metaphysik, welche Organismen zu physischen Singularitäten, zu lebendigen ›Schwarzen Löchern‹ für die wissenschaftliche Rationalität erklären müsste, wurde schon an anderer Stelle eindeutig verworfen. 227 Mit anderen Worten: das Werden gesamt- und innerorganismischer Partikularität setzt nicht die Begrenzung physischer, mathematischer oder irgendeiner anderen Art von Universalität voraus. Genau so wenig verlangt es danach, dass in Lebewesen besondere Universalien wirksam sind (wie nur in Organismen herrschende Naturgesetze, wovon der materialistische Vitalismus ausging). Die Idee der gegenseitigen Wesensbestimmung wirklicher Entitäten hat aber auch bezüglich ihrer Existenzweise eine absolut einschneidende Konsequenz, denn ein materielles Element kann nur dann existieren, und somit in der Raumzeit eindeutig lokalisiert sein, wenn sein Wesen eindeutig festgelegt ist. Raumzeitlich existiert nur dann etwas, wenn seine Natur vollständig bestimmt ist, denn es ist in einem unermesslichen Netz von physischen Wechselwirkungen einbezogen. Diese tolerieren zwar die Unbestimmtheit der Entwicklung, wie die deterministisch-chaotische Instabilität und der quantenphysikalische Indeterminismus belegen, aber keine Unschärfe des Wesens von physischen Entitäten. Die in einer chemischen Reaktion beteiligten Atome verhalten sich niemals so, als müssten sie zunächst festlegen, ob sie Kohlenstoff, Eisen, Sauerstoff oder etwas anderes sind. 227
Siehe Abschn. 1.2.a dieses Kapitels.
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Physische Interaktionen kann es nicht zwischen Objekten geben, deren Wesen nicht festgelegt ist. Die Bestimmung des Wesens einer wirklichen Entität ereignet sich folglich nicht in der Raumzeit, denn dort finden nur physische Interaktionen zwischen energetisch-materiellen Objekten statt, die ganz bestimmten Naturgesetzen unterworfen sind, d. h. bezüglich ihres Wesens fixiert sind. Kurz: Die Wesensbestimmung einer wirklichen Entität ist kein raumzeitlich lokalisiertes Werden, das beobachtbar ist. Dieses Resultat kollidiert aber mit der für das gegenwärtige biowissenschaftliche – sprich auch: biotechnologische – Establishment evidenten Gleichsetzung der Begriffe ›wirkliche Entität‹ und ›materielles Element‹, wie sich gleich zeigen wird. 3.2.b.2 Die Wesensinvarianz der materiellen Elemente und ihre doppelte Räumlichkeit Raumzeitliche Lokalisation ist für den biosystemischen Ansatz, die Molekularbiologie und die biologische Erfahrungs- und Gedankenwelt überhaupt eine unverzichtbare Kategorie. So wird z. B. implizit immer davon ausgegangen, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt die räumliche Lage größerer Biomoleküle, die nur geringfügig der Heisenberg’schen Unschärfe unterliegen, eindeutig bestimmbar ist; die Rasterkraftmikroskopie erweckt schließlich diesen Eindruck durch scharfe Abbildungen von Vorgängen, die auf Proteinen eindeutig lokalisiert zu sein scheinen. Für jedes materielle Element des Organismus wird wie selbstverständlich angenommen, dass es zu jedem Zeitpunkt im gewöhnlichen Raum der drei Dimensionen, wenn auch innerhalb der Grenzen der Quantentheorie, deutlich lokalisiert ist. Das bedeutet – ausgehend von der im letzten Abschnitt schlussgefolgerten Unmöglichkeit der Koexistenz von raumzeitlicher Lokalisation eines Elements und Unbestimmtheit seines Wesens –, dass es auch im abstrakten Raum der entsprechenden Universalien, d. h. in einem Zustandsraum, festgelegt ist. So impliziert z. B. die systembiologische Darstellung der Dynamik eines biomolekularen Netzwerks durch eine Trajektorie in einem Zustandsraum von N Dimensionen, dass es aus materiellen Elementen besteht, die N verschiedenen Sorten angehören, d. h., dass ihrem Wesen Eindeutigkeit und Invarianz zugesprochen wird. Zusammenfassend: Von allen biologischen Disziplinen wird implizit angenommen, dass jedes materielle Element räumlich lokalisiert ist und zwar in einem doppelten Sinne des Ausdrucks ›räumlich‹ : erstens bezüglich seiner jeweiligen Lage im raumzeit316 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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lichen Kontinuum und zweitens bezüglich der abstrakten Räumlichkeit eines Zustandsraumes, dessen eine Dimension von der abstrakten Entität gebildet wird, die das Wesen dieses Elements ausmacht. Biologische Wissenschaften sprechen also den materiellen Elementen eine Existenzweise zu, die im Gegensatz zu dem oben verwendeten Ausdruck »Ordnung des wesenhaften Ineinanders« als »Ordnung des wesenhaften Nebeneinanders« beschrieben werden kann. Ohne die Annahme doppelter Räumlichkeit ist die Vorstellung von Wirkursachen undenkbar, denn diese können nur zwischen Elementen ganz bestimmten Wesens stattfinden und nicht zwischen Entitäten, deren wesentliche Eigenschaften sich ändern. Bei jedem noch so verwickelten wirkursächlich-kausalen Vorgang wird von einer letzten Ebene der Kausalität ausgegangen und das Sosein der dort angesiedelten Elemente wird als nicht mehr vom Vorgang beeinflussbar gedacht. Die Wirkursachen-Kausalität funktioniert nur zwischen Elementen, die extern relational aufeinander bezogen sind. Ein wirkursächlich-kausaler Vorgang läuft immer nur innerhalb einer derartigen doppelten Räumlichkeit ab. Naturgesetze und emergente Gesetze determinieren diesen Vorgang (im erweiterten Sinne von Determinismus), weshalb sein Wesen von Zustands- bzw. Phasenräumen vollständig erfasst wird. Abgesehen von theoretischen Ausgangspunkten, liefert aber auch das Leben selbst wichtige Gründe, um diese Vorstellung ernst zu nehmen. Es straft nicht nur jeder denkbaren total-holistischen Negation von Universalität Lügen, sondern könnte auch viel moderatere Vorstellungen als Wunschgebilde bloßstellen: Die materiellen Elemente scheinen nicht eine dermaßen durchgreifende interne Relationalität aufzuweisen, dass sie nur innerhalb eines konkreten organismischen Individuums existieren und seiner Lebendigkeit dienen könnten. Wäre es so, dann wären Bluttransfusionen, Rückenmark- und Organtransplantationen nicht lebensrettend. Die Klonierung hochentwickelter Säugetiere belegt – selbst wenn sie in seltenen Fällen gelingt und auch dann nicht immer gesunde Individuen hervorbringt –, dass funktionsfähige DNS von ihrer Zelle ablösbar ist. In dieselbe Richtung, aber viel weiter, verweist die Massenproduktion transgener Lebewesen, die in sich genetisches Material evolutiv sehr entfernter Organismen tragen, denn sie lässt zumindest einige Gene als in sich abgeschlossene funktionelle Module erscheinen. 228 228
Deutsche Genforscher präsentierten vor wenigen Jahren voller Stolz eine Kuh, die
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Wesentlich deutlicher als das moderne Gen-Potpourri spricht die Erzeugung lebensfähiger Chimären aus verschiedenen Embryonen einer Art (auch wenn sie sich in einem sehr frühen Entwicklungsstadium befinden müssen) sogar für die materielle Zusammensetzbarkeit ganzer Organismen, ja selbst von Säugetieren. Aber soweit muss man gar nicht gehen, denn in der Form der Züchtung von Setzlingen ist die Verschmelzbarkeit von Lebewesen zu einem Ganzen fester Bestandteil der Landwirtschaft schon seit Jahrtausenden. Diesen sehr bekannten Tatsachen und vielen anderen, die zugunsten einer rein biosystemisch-emergentistischen Systemontologie interpretiert werden könnten, muss die ihnen gebührende Aufmerksamkeit geschenkt werden. Sie machen offensichtlich, dass viele Biomoleküle, Zellen, Organe und Teile von Organismen ihre Funktion nicht nur innerhalb ihrer ursprünglichen kausalen Umgebung ausfüllen können. Zentrale Bereiche der wissenschaftlichen und alltäglichen biologischen Praxis unterstützen also die Vorstellung der Wesensunabhängigkeit vieler materieller Elemente des Lebendigen, die ihnen erlaubt, in völlig neuen Zusammenhängen – also transorganismisch – zu funktionieren. Dies spricht für die systemtheoretische Sicht des Organismus – und zwar in einem ursprünglichen und sehr einfachen Verständnis des griechischen Wortes ›systema‹ (σύστημα), das ›Zusammengesetztes‹ bedeutet. Lassen aber diese Tatsachen die theoretisch gewonnene Vorstellung der Wesensinterdependenz der wirklichen Entitäten von Organismen nicht unplausibel und dunkel erscheinen? Bleibt noch Platz für die Idee der Wesensbestimmung der wirklichen Entitäten durch interne Relationalität? Die einzige Möglichkeit, diesen Gordischen Knoten aufzulösen, besteht im Aufgeben der Identität der Ausdrücke ›wirkliche Entität‹ und ›materielles Element‹, das für alle szientistisch-materialistischen Ontologien ein Tabu darstellt. 3.2.b.3 Eine philosophische Ontologie des Organismus kann die Identität zwischen wirklichen Entitäten und materiellen Elementen aufgeben, ohne sie vollständig voneinander zu entkoppeln Die für die biosystemische Ontologie selbstverständliche Gleichsetzung von wirklichen Entitäten mit materiellen Elementen ist vor dem in sich Gene einer phosphoreszierenden Qualle hat, die ihre Nase in der Dunkelheit grün leuchten lassen …
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Hintergrund der gerade entfalteten Überlegungen hinderlich geworden. Beide Aspekte – intern relationale Wesensbestimmung (wesenhaftes Ineinander) und extern relationale Wesensunabhängigkeit (wesenhaftes Nebeneinander) – können eben nicht gleichzeitig Gültigkeit besitzen; zwischen ihnen muss ein gedanklicher Balanceakt vermitteln. Nur die Einführung einer besonderen Art des Werdens kann das Zusammendenken von wirklichen Entitäten und materiellen Elementen ermöglichen, was unbedingt zu leisten ist, denn Materialität gehört notwendig zu jeder organismischen Ganzheit. Zwischen beiden Aspekten herrscht also eine Komplementarität, denn sie gehören untrennbar zusammen, können aber nicht gleichzeitig der Fall sein. 3.2.b.4 Der Prozess: Ein metaphysisches Werden, das nicht durchgehend physisch manifestiert ist Die Wesensbestimmung einer wirklichen Entität muss eine besondere Form des Werdens sein, da sie nicht während ihres gesamten SichEreignens physisch manifest ist. Aus diesem Grund kann man sie als metaphysisch bezeichnen und zwar im wörtlichen Sinne des griechischen Ausdrucks: ein Werden, das sich jenseits der physischen Welt vollzieht – ein meta-physisches Werden. Die moderne Physik ist mit derartigen meta-physischen Geschehnissen gut vertraut: Die Quantensprünge der Elektronen zu höheren oder niedrigeren Bahnen sind keine raumzeitlich lokalisierten Durchquerungen des Vakuums und die simultanen Veränderungen miteinander gekoppelter Quantenzustände über große Distanzen offenbaren ebenfalls eine nichtlokal waltende Kausalität. 229 In beiden Fällen manifestiert sich allerdings das Resultat lokal. Diese Komplementarität zwischen nichtlokal waltender Kausalität und lokal erscheinendem Resultat ist essentiell für die Quantentheorie, da schon das absolut grundlegende Doppelspalt-Experiment die Manifestation der kausalen Relevanz einer physisch nicht beobachtbaren Welle in Form von raumzeitlich lokalisierten Teilchen demonstriert. Auf der Basis dieser tausendfach getesteten und verteidigten Grunderkenntnis der modernen Physik, die 229 Beim sogenannten EPR-Versuch, der auf ein Gedankenexperiment von Einstein, Podolsky und Rosen zurückgeht, wird ausgeschlossen, dass beide Teilchen durch Signale miteinander gekoppelt werden, die mit endlicher Geschwindigkeit durch die Raumzeit reisen, d. h. raumzeitlich lokalisiert sind. Denn in diesem Fall müsste eins der beiden Teilchen bezüglich der im anderen stattgefundenen Veränderung mit einer bestimmten Verspätung ›informiert‹ werden, was nicht der Fall ist.
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inzwischen auch als Basis zukünftiger Technologien, wie des Quantencomputers, dient, mache ich folgende Annahme: Die Wesensbestimmung einer wirklichen Entität ist ein Werden, das nicht in der physikalischen Raumzeit stattfindet – dessen Endergebnis oder dessen Zwischenergebnisse manifestieren sich jedoch in Form der doppelten Räumlichkeit der materiellen Elemente. Es findet also eine doppelte Verräumlichung der wirklichen Entitäten zu materiellen Elementen einmalig oder mehrmalig (nacheinander) statt. Dem hier eingeführten Terminus der Verräumlichung, der den Übergang von der meta-physischen zur physischen Existenzweise beschreibt, kommt in den nächsten Kapiteln dieser Arbeit eine Schlüsselrolle zu. Ob die Verräumlichung erst am Ende der Wesensbestimmung oder auch immer wieder zwischendurch stattfinden kann, ist identisch mit der Frage, ob die Wesensbestimmung sich in einem Stück vollzieht oder auch Phasen hat – im zweiten Fall wird am Ende jeder dieser Phasen eine Manifestation in der Raumzeit stattfinden. Je nachdem, wie diese Frage beantwortet wird, muss die entsprechende Ontologie formuliert werden; es handelt sich also dabei um eine sehr entscheidende Angelegenheit. Die Einzelheiten dieser Frage sollen hier nicht weiter diskutiert werden, denn ihnen wird in weiteren Kapiteln der vorliegenden Untersuchung große Aufmerksamkeit geschenkt. An dieser Stelle ist vielmehr deutlich zu machen, dass im Folgenden eine Art des physischen Werdens angenommen wird, die im deutlichen Kontrast zur naturwissenschaftlichen Grundvorstellung der ausschließlich wirkursächlich-kausalen Vorgänge steht, deren Abläufe nur innerhalb einer permanent existierenden doppelten Räumlichkeit stattfinden. Die besondere, hier eingeführte Art des Werdens wird als Prozess bezeichnet. Eins der essentiellsten Merkmale eines Prozesses ist, dass erst die Herauskristallisierung seines Endergebnisses bzw. seiner Zwischenresultate sich als Materie (im erweiterten Sinne dieses Ausdrucks, der auch Lichtteilchen umfasst), manifestiert. Die ›ontologische Federung‹, die dieser genauer zu erläuternde Prozess-Begriff zwischen physischer und meta-physischer Existenzweise einfügt, verleiht eine ›gedankliche Gelenkigkeit‹, die zu hoffen erlaubt, die Tatsache der Universalität biologischer Materie mit der Idee der innerorganismischen Wesensbestimmung, die Individualität bedeutet, harmonisch zusammenzufügen. Dies kann aber erst vor dem Hintergrund konkreter Ontologien – besser gesagt: konkreter Prozessontologien – versucht werden. Vorläufig sei nur Folgendes 320 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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gesagt: Eine gelungene ontologische Vermittlung zwischen dem Erscheinen in der Raumzeit und der meta-physischen Wesensbestimmung erlaubt uns, einer wirklichen Entität sowohl materielles Sein als auch raumzeitliche Nichtlokalität zuzusprechen, ohne beide monolithisch zusammenzuschweißen und kurzzuschließen. 3.2.c
Leben als Sukzession(en) von Entscheidungen
Die Organismus-Problematik demonstriert, dass jede organismische Dynamik permanent vor Möglichkeiten steht, die auf der Basis von reiner Wirkursachen-Kausalität gleichwertig sind (vgl. Abb. 2.27), womit aus physikalischer Perspektive nicht entschieden werden kann, welche von ihnen verwirklicht wird. Dieses Resultat kann von der Systembiologie und den anderen formalen Behandlungen der wirkursächlichen Seite des Lebendigen nicht widerlegt werden. Aus diesem Grund ist das Nachdenken über – wie auch immer zustande kommende – innerorganismische Entscheidungen auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts gerechtfertigt. Über die Macht, zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort einen konkreten Akt der Entscheidung herbeizuführen, verfügt keine noch so reichhaltige Universalie, sondern nur eine konkret wirkende Partikularie, ein wirkliches Individuum. Mit anderen Worten: Nur wirkliche Entitäten können den Organismus durch die vielen ›Orte‹ seiner Entwicklung im Zustandsraum, in denen die Gefahr der Entgleisung zu Zuständen des Todes lauert, heil hindurchführen. Dieses Vermögen kann ihnen natürlich nicht auf der Basis einer vitalistisch konzipierten Potenz zugeschrieben werden, wenn man nicht die ›schlafenden Hunde‹ des Geist-Materie-Dualismus und der Verletzung des Energieerhaltungssatzes erneut wecken möchte. Die Idee der Manifestation der wirklichen Entitäten als materielle Elemente erst am Ende ihrer Wesensbestimmung, oder jeder ihrer Phasen, lässt übrigens eine solche externe Einflussnahme auf die Materie als eine vollkommen überflüssige Annahme erscheinen und unterstützt eine gänzlich andere Vorstellung: Den Entscheidungen der wirklichen Entitäten stehen verschiedene physisch mögliche Konstellationen ihrer eigenen Manifestation als materielle Elemente zur Auswahl. Jede Entscheidung verwirklicht schließlich nur eine ihrer Möglichkeiten. Die wirklichen Entitäten bestimmen ihr Wesen durch den Akt der Entscheidung zugunsten der Verwirklichung einer der möglichen 321 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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physischen Alternativen. Dieses Verständnis von Wesensbestimmung harmoniert gut mit der Definition des Begriffes ›wirkliche Entität‹, der auf konkrete Seiende referiert, die in der physischen Realität Veränderungen bewirken oder bewirken können, d. h. über kausale Relevanz verfügen. 230 Die Wesensbestimmung einer wirklichen Entität korrespondiert mit der Verwirklichung einer Veränderung der physischen Realität, dadurch, dass sie sich als materielles Element verräumlicht. Je vielfältiger die Möglichkeiten der Veränderung sind, desto reichhaltiger ist das Wesen der wirklichen Entität. Die doppelte Verräumlichung, die mit jeder Manifestation stattfindet, darf keine Zustände verwirklichen, die den Beginn der Entgleisung in den Tod bedeuten. Da aber Entwicklungen hin zum Tod physikalisch durchaus möglich sind, müssen im Organismus zweckmäßige Entscheidungen zwischen verschiedenen Zuständen stattfinden. Während eines Prozesses der Wesensbestimmung, oder einer Phase dieses Prozesses (falls dieses in einer Sukzession von Entscheidungen besteht) konkretisiert sich, in aller Regel, eine dem organismischen Überleben dienende Entscheidung, die zunehmend klarere Konturen gewinnt. Sobald sie festgelegt ist, manifestiert sie sich als ein doppelt verräumlichtes Datum, das also sowohl im abstrakten Zustandsraum als auch im gewöhnlichen Raum »claire et distinct« lokalisiert ist, um mit Descartes zu sprechen. Die Entscheidung einer wirklichen Entität erscheint in einem begrenzten Raumzeit-Ort des lebendigen Körpers als eine eindeutige Verbindung derjenigen physischen und arithmetischen Universalien, die das materielle Element charakterisieren, als das sich die Entität manifestiert. Mit anderen Worten: Die wirkliche Entität tut sich kund als ein Punkt im entsprechenden Zustandsraum und als ein gut eingrenzbarer Bereich im raumzeitlichen Kontinuum (doppelte Verräumlichung). Man kann sich fragen, ob der »entsprechende Zustandsraum« mit dem erweiterten Zustandsraum der gesamtorganismischen Entwicklung (vgl. Abb. 2.26 und Abb. 2.27) identisch ist oder nur mit größeren oder kleineren Teilen dieses abstrakten Raumes. Im ersten Fall würde das Leben des Organismus aus einer einzigen Sukzession, einem einzigen eindimensionalen Strang von Entscheidungen bestehen und im zweiten Fall wäre es ein Bündel solcher Sukzessionen. Auf die vielen denkbaren Alternativen der Teil-Ganzes-Beziehung
230
Siehe Abschn. 3.2.a.1.
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Ontologische Alternativen zum systemtheoretischen Denken
zwischen wirklichen Entitäten und Organismus wird am Ende dieses Kapitels ausführlich eingegangen. 3.2.d
Organismen als Subjekte – Zweckursachen-Kausalität jenseits der Substanzontologie
Sobald Lebendigsein an eine einzige oder an mehrere parallellaufende Sukzessionen von Entscheidungen gebunden ist, impliziert es unreduzierbar auch Subjektivität und folglich Innerlichkeit. Denn nur Subjektivität kann echte Entscheidungen herbeiführen – und die Organismus-Problematik toleriert keine ›Als-Ob‹-Entscheidungen, die bloß metaphorische Illustrationen von besonderen, wie auch immer gearteten Wirkursachen wären. Diese Vorstellungen stehen natürlich konträr zur zentralen, impliziten Annahme moderner Naturwissenschaften, der zufolge den Elementen der Natur keine Subjektheit zugesprochen werden darf. Die Idee der echten Selbstorganisation verlangt jedoch nach der Überwindung des Anthropozentrismus der biosystemischen Ontologie, die ausschließlich der menschlichen Subjektivität eine Sonderrolle zuweist. Sie rehabilitiert, wenn auch unter prozessphilosophischem Vorzeichen, die alte naturphilosophische Grundintuition, die in der Natur das Wirken von Subjekten unterschiedlichster Reichhaltigkeit erblickt. Denn nur Subjekte können ihr eigenes Wesen bestimmen. Dass die wirklichen Entitäten als Subjekte konzipiert werden, bedeutet allerdings keineswegs, dass ihnen kognitive Vermögen zugesprochen werden, die der menschlichen oder tierischen Bewusstheit nahestehen. Wirkliche Entitäten, die in Organismen stattfinden, treffen ihre Entscheidungen zwischen alternativen Möglichkeiten nicht durch begriffliche Reflektion oder bildliches Denken, weil sie dafür viel zu einfach beschaffen sind. Die Entscheidung zwischen alternativen Trajektorien der physischen Dynamik vollzieht sich durch Akte, die sich am ehesten mit völlig unbewussten Reaktionen der Zu- bzw. Abneigung, also mit elementarsten Erlebensakten vergleichen lassen. In dieser Subjektheit, die noch so primitiv sein kann, ist die Atomizität – die In-dividualität – einer wirklichen Entität begründet, denn jeder subjektive Akt setzt die Unteilbarkeit eines zwecktätigen Werdens voraus. Dies erlaubt auch vom Sinn einer organismischen wirklichen Entität zu sprechen: Ihre zwecktätige Innerlichkeit, selbst wenn sie vollkommen unartikuliert und unbewusst bleibt, verleiht ihr die Qualität eines Strebens, weshalb sie, schon in sich und für sich 323 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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selbst, Sinn hat. Das Dasein einer solchen wirklichen Entität wird somit um die Dimension der Erfüllung und der Werthaftigkeit bereichert. Diese Überlegungen führen zurück zur Idee der Zweckursachen, der Finalität, die von der physikalisch-technologischen Auffassung des Kosmos in den Bereich des Irrationalen und ›unheilbar Romantischen‹ verbannt wurde. Jede als Antwort auf die Organismus-Problematik geborene prozessontologische Betrachtung des Lebendigen muss sich mit der Thematik der Teleologie auseinandersetzen, ohne jedoch in teleonomische, substanzontologische oder vitalistische Denkmuster zurückzufallen. Wie schon zuvor erläutert, 231 werden in der vorliegenden Untersuchung erst dann Zweck- bzw. Finalursachen zur Erklärung physischen Werdens hinzugezogen, wenn die Entwicklung einer Ganzheit im Zustandsraum nicht auf Wirkursachen zurückführbar ist. Dies ist der Fall, wenn einerseits die Dynamik der betroffenen Ganzheit vor verschiedenen gleichwahrscheinlichen möglichen Verzweigungen steht und andererseits permanent nur solche Zustände verwirklicht werden, die einem bestimmten Typus zugeordnet werden können; dies trifft z. B. für arttypische Zustände von erwachsenen Organismen zu. Die permanente Verwirklichung solcher biologisch sinnvollen (zweckmäßigen) Zustände unter einer enormen Anzahl physikalisch möglicher aber biologisch fataler Zustände kann mitnichten etwas Zufälliges sein. Die wiederholte Selektion bestimmter Trajektorien zulasten anderer, die unter den Bedingungen alleiniger Herrschaft von Wirkursachen-Kausalität als ein extrem unwahrscheinlicher Zufall hätte gewertet werden müssen, kann nur zweckursächlich-kausalen Vorgängen zugeschrieben werden. Die gegenwärtig betriebene Naturwissenschaft kann nicht den Prozess erfassen, der das Lebendige im Leben ist, sondern nur seinen physisch manifesten Abdruck als doppelte Räumlichkeit, der das Leblose im Leben ist. Überlässt man es ihren szientistisch-materialistischen Ontologien, diesen kreativen Akt zu erklären, so werden sie ihn notwendig leugnen und die ›Entropie‹ unseres Welt- und Menschenbildes noch weiter erhöhen. Die Naturwissenschaft zeigt uns auf einem sehr breiten Spektrum, der sich vom flüchtigsten Hauch physischer Existenz bis zur höchsten Intensität erlebenden Daseins er231
Siehe Abschn. 1.1.b.3.
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streckt, physische Möglichkeiten der weiteren physischen Entwicklung von Vorgängen. Aber die zwischen diesen Möglichkeiten wählenden Entscheidungsakte transzendieren ihr Erklärungsvermögen. Weder die vollkommen unbewusste Subjektivität eines sich selbst von der Entgleisung der Selbstregulation bewahrenden Einzellers noch die bewusstseinsbegabte Subjektivität eines Menschen, dessen Gehirndynamik immer wieder neu aufgefangen und in physische Trajektorien kanalisiert wird, die sinnvollen kognitiven Akten entsprechen, 232 können ihr Thema sein. Nichtsdestoweniger bildet die Vorstellung, dass in Organismen eine Form von Subjektivität waltet, einen essentiellen Bestandteil der Werke wichtiger Theoretiker der Biologie und Medizin, wie Jakob von Uexküll (1973, 1909), Adolf Portmann (1960), Viktor von Weizsäcker (1986) und Kurt Goldstein (2014). Sie wird auch von Hans Jonas implizit zum Ausdruck gebracht, da er im Organismus die Anfänge von Freiheit und Sorge ums Dasein sieht (1997). Schließlich sei mir die Hoffnung erlaubt, dass noch vor der Mitte dieses Jahrhunderts, bei der weiteren Entwicklung der Physik, der Naturwissenschaften generell und der prozessontologischen Naturphilosophien, eine par excellence metaphysische Frage maßgebend sein wird: Wie kann Subjektivität jeder Art, vom primitivsten Quantenprozess bis zum menschlichen Bewusstsein, sich in die kausalen Freiräume der Materialität hineinbegeben, um sich Ausdruck zu verschaffen?
3.3 Grundsätzlich verschiedene Arten des Werdens: Ablauf und Prozess In diesem Kapitel wurde sehr häufig von den Ausdrücken ›Vorgang‹ und ›Werden‹ Gebrauch gemacht, als wäre ihr Sinn selbstverständlich. Es ist nicht ungewöhnlich, in einer philosophischen Untersuchung bestimmte Begriffe zunächst gemäß ihrer alltagssprachlichen Bedeutung zu gebrauchen, um diese erst dann zu spezifizieren oder zu revidieren, wenn philosophische Fragen sich herauskristalli232 Die Problematik der Kanalisation der Dynamik eines menschlichen Gehirns in Trajektorien, die mit kognitiven Akten korrespondieren, die sozial, moralisch und biologisch sinnvoll sind, habe ich vor einigen Jahren aus der Perspektive der Whitehead’schen Prozessphilosophie behandelt (2009, 119–124, 132).
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siert haben. Dieser Weg scheint der Entfaltung zeitgemäßer Naturphilosophien förderlich zu sein, da durch die intensive Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Denkgewohnheiten und die mühevolle Aufdeckung ihrer Grenzen gezeigt werden kann, was echte philosophische Alternativen leisten müssen. Auf diese Weise wird vermieden, dass den Wissenschaften von oben herab ein ›Korsett‹ philosophischer Definitionen dogmatisch übergestülpt wird. Stattdessen wird zunächst die Begrifflichkeit der vorphilosophischen Sprachbasis übernommen und durch die Analyse an Grenzen gebracht, die nicht von Anbeginn sichtbar waren. Sobald dies erreicht ist, kann und muss anschließend eine neue Etappe der Untersuchung durch die Spezifizierung der verwendeten Begriffe bzw. die Schaffung neuer Begriffe eingeleitet werden. Deshalb werden im Anschluss einige begriffliche Klärungen vorgenommen. Der dafür benötigte Hintergrund der Verflochtenheit bestimmter Begriffe und Konzepte – wie ›Wirkursachen-Kausalität‹, ›Phasenraum‹, ›Zustandsraum‹, ›Berechenbarkeit‹, ›Trennung von statischen und dynamischen Größen‹, ›interne Relationalität‹, ›Universalien‹, ›Wesensbestimmung‹ usw. – kann als ausreichend geklärt angesehen werden. 3.3.a
Ablauf – das gesteuerte Werden
Im weiteren Verlauf dieser Untersuchung wird unter einem ›Ablauf‹ eine Art des Werdens verstanden, dessen genaue Entwicklung zu jedem Zeitpunkt von Faktoren diktiert wird, die dem Werden vorstehen, d. h. ihm hierarchisch übergeordnet sind und somit nicht unter seinem Einfluss stehen. Ein mit Bewusstsein begabtes Subjekt, dem das Wesen dieser Faktoren transparent ist, kann mit Zunahme seiner mentalen Fähigkeiten den quantitativen und qualitativen Verlauf eines solchen Werdens mit wachsender Zukunftstiefe vorhersagen, zumindest soweit dies objektive Grenzen erlauben. Der Ausdruck ›Abläufe‹ wird von nun an nur auf drei Vorstellungen teleologischen Werdens bezogen, die im Rahmen von Substanz- oder Systemontologien denkbar sind: Erstens: Bei einem teleologisch-entelechisch interpretierten Geschehen wird angenommen, dass ein Werden von den substanzontologisch gedachten ›causa formalis‹ und ›causa finalis‹ geregelt wird, sodass seine Endform schon zu Beginn seiner Entfaltung feststeht. Wäre dieses Werden von einer mit Bewusstsein begabten Seele ge326 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Ontologische Alternativen zum systemtheoretischen Denken
steuert, die zu höchster Selbstreflexion fähig wäre, so könnte diese ihren eigenen Antrieb erkennen. Aber selbst eine solche sich selbst bewusste Seele wäre nicht imstande, ihren Antrieb zu kreieren oder zu variieren, denn dieser würde ihr substanzielles und folglich unveränderbares Wesen ausmachen. Zweitens: Bei einem teleonomisch-programmierten Geschehen kann eine dem Werden externe Seele, die das Programm und die gesamte kybernetische Ordnung (Sollzustände, Funktionen) kennt, ebenfalls den Endzustand und den genauen Verlauf seiner Entwicklung vorhersagen. Drittens: Die heute weitaus interessanteste Kategorie von Abläufen kann man unter den breiten Obertitel teleonomischer Systemismus zusammenfassen. Form und Endzustand eines solchen Ablaufs sind Resultate eines prinzipiell 233 Turing-berechenbaren Werdens, das dissipativ oder konservativ sein kann. Dieses Verständnis von ›Ablauf‹ stimmt weitgehend überein mit der Bedeutung, die Bergson diesem Ausdruck gibt: »Schaltet man Bewusstsein und Leben aus […] so erhält man tatsächlich ein Universum, dessen aufeinanderfolgende Zustände theoretisch im Voraus zu berechnen sind, wie die Bilder, die vor ihrem Ablauf (déroulement) im kinematographischen Film alle vorhanden sind« (MW 112/Œuv. 1333, Hervorhebung von S. K.).
Die reine Wirkursachen-Kausalität, auf der Abläufe der dritten Art immer basieren, kann in Phasen- bzw. Zustandsräumen beschrieben werden. Ihre Dynamik kann irgendwo im breiten Spektrum zwischen höchster Einfachheit und höchster Kompliziertheit (letztere ist für deterministisch-chaotische Attraktoren typisch) platziert werden. Externe Beobachter (Experimentatoren und Theoretiker) müssen, um die Entwicklung einer solchen geleiteten Strukturbildung im Rahmen des physikalisch Möglichen vorherzusagen, von der Herrschaft externer Relationalität zwischen den interagierenden Elementen ausgehen. Denn eine grundsätzliche Bedingung für Berechenbarkeit ist, dass nur das Verhalten der Elemente von der systemischen Gesamtentwicklung beeinflusst wird (Emergenz), nicht aber ihr Wesen. Direkte Folge dieser Begrenzung ist die scharfe Trennung zwischen statischen und dynamischen, d. h. steuernden und gesteuerten Größen. 233 Zur Bedeutung des Ausdrucks ›prinzipiell‹ in diesem Zusammenhang siehe Abschn. 2 dieses Kapitels.
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II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
Der System-Begriff, sofern er im Sinne formaler Systemtheorien benutzt wird, begrenzt sich auf Abläufe dieser dritten Art. Kreativität ist bei keiner der drei beschriebenen Arten am Werk. Das Neue, das Unerwartete, kann hier nur auf Zufall zurückgeführt werden und hat die Aura des Unfalls. Bei den ersten beiden Fällen ist das Werden nichts als die Schritt für Schritt erfolgende Annäherung an eine schon vor dem Werden vollendete, ideell vorhandene Form, die entweder zum Wesen der entelechisch agierenden Seele gehört oder in einem kleinen Teil der steuernden Hardware gespeichert ist. In beiden Fällen ›spult‹ sich das Werden, einer Videokassette gleich, einfach ›ab‹ – es läuft ab. Beim dritten Fall besitzt die Endform keine kausale Relevanz. Sie ist nicht das Ziel des Werdens, sondern Resultat eines Netzwerks kleiner Wirkursachen, von denen keine diese Form in irgendeiner Weise enthält. Die mögliche Form des emergenten Werdens – in den schwierigeren Fällen: die vielen bis praktisch unendlich vielen möglichen Formen der instabilen Trajektorien (deterministisches Chaos) – kann allerdings prinzipiell 234 vorausberechnet werden, womit mit ihrer Verwirklichung nichts wirklich Neues eintritt. Die möglichen Formen des systemischen Werdens sind berechenbar – nicht aber der Faktor, der zur Verwirklichung einer von ihnen führt, wenn sie gleichwahrscheinlich sind, wie bei der Organismus-Problematik. 3.3.b
Prozess – das sich selbst kreierende Werden
Der Ausdruck ›Prozess‹ ist schon seit seiner Einführung in der vorliegenden Untersuchung 235 mit der Vorstellung der Wesensbestimmung von wirklichen Entitäten durch ihren relationalen Zusammenhang untrennbar verbunden (dies gilt natürlich nicht für das Vorkommen dieses Begriffes in den Texten zitierter Autoren). Die spezifische Funktion des Prozess-Begriffes in dieser Untersuchung ist, der Formulierung einer Ontologie zu dienen, die in das Wesen jedes einzelnen der Relata einer Ganzheit seine Relationen verankert, ohne jedoch seine Individualität (In-dividualität) hinter einen verabsolutierten Rationalismus verschwinden zu lassen. Es ist evident, dass wenn das Wesen der Elemente einer Ganzheit entsteht, es keinen 234 Die Bedeutung des Ausdrucks ›prinzipiell‹ an dieser Stelle entspricht der im Abschn. 2 entfalteten. 235 Siehe Abschn. 3.2.b.4.
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Ontologische Alternativen zum systemtheoretischen Denken
Algorithmus bzw. abstrakten Raum geben kann, der diese Akte des Werdens oder die Entstehung der Ganzheit, die sie miteinander hervorbringen, berechnen kann. Denn jeder Algorithmus setzt von Außen definierte, d. h. in ihrem Wesen abgeschlossene letzte Faktoren voraus (die auch mathematische Funktionen sein können), zwischen denen folglich nur externe Relationen möglich sind. Sowohl die Wesensbestimmung der Elemente als auch die der Ganzheit sind also nicht-berechenbare, weil für eine Turing-Maschine nicht algorithmisierbare, Werdeakte. Beide Wesensbestimmungen werden hier als ›Prozesse‹ bezeichnet. Lediglich das End- oder Zwischenresultat von Prozessen (beide Möglichkeiten sind in der Abbildung 2.29 abgebildet) kann in abstrakten und gewöhnlichen 3D-Räumen abgebildet werden, nicht aber ihre Kausalität, die wesentlich mehr als Wirkursachen enthält. Prozessen ist eine elementare, d. h. nicht weiter analysierbare Kreativität essentiell. Prozesse sind ›unheilbar‹ kreativ, da ihr Werden in der Bestimmung ihres eigenen Wesens besteht. Ihre Wesensbestimmung kann als solche nicht von etwas ihr zeitlich vor- und logisch zugrundeliegendem – wie Wirkursachen, Strukturen, Naturgesetze usw. – gesteuert, sondern lediglich eingeschränkt werden, weshalb sie der Kreativität subjektiver Akte bedarf. Dieser Verbindung von Prozessualität und Subjektivität hat Platon mit den Mitteln seiner Metaphysik ein Monument gesetzt, als er von der Seele als der höchsten Form der Bewegung – »der sich selbst bewegenden Bewegung« (Gesetze X, 895a) – sprach. 236 Prozesse sind sich selbst bedingende Werdeakte. Solche Akte, die nicht substanziell festgelegt sind, sondern ihre Form bzw. ihr Wesen während und mittels ihrer Formung erst kreieren, sind uns nur durch besondere Erfahrungen direkt zugänglich: Das sich selbst erlebende Erleben erfährt sich als eine spontan sich selbst regende Regung. Diese intimste und intuitivste Selbsterfahrung ist jenseits jeglicher Algorithmisierbarkeit und abstrakter Räumlichkeit, da sie nicht durch Begriffe adäquat fassbar ist. Folglich ist sie kein objektivierbarer Akt. Unsere ureigenste Prozessualität, unser sich selbst regendes Seelenleben, vermittelt uns deutlicher als jeder mögliche empirische oder gedankliche Akt die Erfahrung echter Prozessualität. Diese ist aber unsere subjektivste Erfahrung und als solche kann sie nur ein Erkennen begründen, das andere Prozesse notwendig als Subjekte erkennt, da sie selbst ein nicht objektivierbares Subjekt ist. 236
Vgl. auch: Gesetze X, 896a und Phaidros 245c–e.
329 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
3.3.c
Die Begriffe ›Werden‹ und ›Vorgang‹
Vom Ausdruck ›Werden‹ wird im Folgenden im Sinne eines Oberbegriffs, der sowohl auf Abläufe als auch auf Prozesse referieren kann, Gebrauch gemacht. Dies tut seiner bisherigen Verwendungsweise keinen Abbruch, da sie vom Anfang an so geplant war, dass sie die eben erfolgte Unterscheidung zwischen Prozessen und Abläufen unbeschadet überstehen kann. Mit dem Begriff ›Vorgang‹ wurde bisher in der Regel auf Formen des Werdens referiert, die ab jetzt als ›Abläufe‹ zu bezeichnen sein werden. Von nun an wird jedoch nur dann von ›Vorgängen‹ die Rede sein, wenn ontologische Neutralität für angemessen empfunden wird, d. h., wenn ich es für angebracht halte, dem Leser die Freiheit der Interpretation zu gewähren, ob es sich im konkreten Fall um Abläufe oder Prozesse handeln kann. Auf diese Weise soll ein unerlaubt suggestiver Sprachgebrauch vermieden werden, der durch den Einsatz scharf definierter Begriffe bereits vor der Entfaltung der Hauptargumente damit beginnt, die Rezipienten in die engen Bahnen der von mir favorisierten Interpretation einzuzwängen.
3.4 Auf der Suche nach Prozessontologien des Organismus – jenseits des szientistisch-materialistischen ›Flachlands‹ Für die Biotechnologie und die heutige, von Physikern und Informatikern dominierte, Theoretische Biologie besteht der Hauptverdienst des formal-systemtheoretischen Ansatzes darin, unter exakt vorgegebenen theoretischen bzw. experimentellen Bedingungen, die Entwicklung einiger biochemischer Systeme qualitativ und quantitativ simulieren bzw. im Labor reproduzieren zu können. Die Stärke der Systembiologie liegt in der theoretischen und industriellen Erzeugung von Abläufen. Aber auch ihre Schwäche, und die des biosystemischen Emergentismus generell, hat genau hierin ihre Wurzel: Die Abstraktionen formaler Systemontologien erlauben die Erkundung nur sehr begrenzter Ausschnitte der extrem verflochtenen und regulativ geschlossenen Kausalität ontogenetischen Werdens. Diese Situation erinnert an die Grenzen der Nutzbarkeit alter Weltkarten, die auf der Basis der euklidischen Geometrie der Ebene erstellt wurden; innerhalb eines hinreichend großen Territoriums, in dem die Krümmung der Erde zur Geltung kommt, mussten sie ver330 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Ontologische Alternativen zum systemtheoretischen Denken
sagen. Analog dazu kann die Idee der regulativen Geschlossenheit des Organismus von der in sich geschlossenen Gestalt der Kugel symbolisiert werden. Aus der Konzeption einer euklidischen Ebene ist die Idee der Krümmung einer nicht-euklidischen Fläche nicht zu gewinnen. Man kann zwar auf einer Kugel sein und durch gezielte Begrenzung des Horizonts euklidische Karten erstellen, die für einen kleinen Bereich nützlich sind, aber die Ideen der Krümmung und der Schließung der Kugel wird man dadurch nicht gewinnen. Das wird auch dann nicht möglich sein, wenn man alle kleinen euklidischen Karten, die aus den Perspektiven vieler voneinander entfernter Beobachter erstellt wurden, welche sich auf der Kugeloberfläche befinden, zu einer großen Karte zusammensetzt. Ohne einen ›Quantensprung‹ des Denkens wird es nicht möglich sein, die dritte Dimension einzuführen und es wird unbegreiflich sein, wie es einer angeblich euklidischen Welt gelingt, sich selbst zu krümmen und zu schließen. Szientistische- und insbesondere bioszientistisch-materialistische Systemontologien bleiben unterhalb eines solchen ›Quantensprungs‹ der Intuition. Wegen ihrer nicht überwindbaren regulativen Offenheit sind sie in einem metaphorischen Sinne euklidisch-flach und können nur für sehr begrenzte Bereiche des organismischen Gesamtzusammenhangs gute Annäherungen liefern. Ihrem Weltbild, das auf wirkursächlich-kausale Interaktionen zwischen Elementen festgelegten Wesens fundiert ist, wird der Boden unter den Füßen weggezogen, sobald ›überkritische‹ Nichtlinearität die Bühne betritt – d. h. eine, die nach der Dynamisierung der als statisch angenommenen Größen, und somit nach der Schließung der regulativen Offenheit, verlangt. Die Überwindung dieses aus der Sicht einer höheren Ebene der Reflektion linear bleibenden Denkens benötigt grundsätzlich neue Ontologien. Wahrscheinlich sind viele ›überkritisch nichtlineare‹ Ontologien des Lebendigen denkbar und es ist zu hoffen, dass bald einige als Alternativen zum systemtheoretischen Zugang vorgeschlagen werden. Ausgehend von den vor wenigen Seiten erreichten Resultaten gibt es gute Gründe anzunehmen, dass einige von ihnen eine besondere Prozessualität der organismischen wirklichen Entitäten einführen werden, die mit der internen Relationalität und Subjektivität dieser Entitäten untrennbar verbunden ist.
331 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
3.4.a
Alternative Auffassungen der Teil-Ganzes-Beziehung von Prozess und Organismus und ihre Affinität zur Quantenphysik
Auf der Basis der drei eben genannten ontologischen Grundsäulen – Prozessualität, interne Relationalität, Subjektivität – können recht unterschiedliche Prozesstheorien des Organismus formuliert werden. Zuvor ist unbedingt zu betonen, dass diese Vielfalt nur dank der Überwindung der Gleichsetzung von wirklichen Entitäten mit materiellen Elementen möglich ist, denn sie befreit unter anderem auch vom Zwang, die (doppelt verräumlichte) Manifestation eines Prozesses mit einem einzigen mikroskopischen raumzeitlichen Datum gleichzusetzen. Um einen flüchtigen Eindruck der Verschiedenartigkeit möglicher prozessphilosophischer Ansätze zu vermitteln, werden hier einige Varianten kurz beschrieben, ohne mereologische Formalismen einzusetzen. Erstens: Der Organismus besteht aus einer einzigen wirklichen Entität, d. h. über die gesamte raumzeitliche Extension seines Leibes waltet ein einziger Prozess. Seine Wesensbestimmung erschöpft sich nicht in einer einzigen Entscheidung, sondern enthält viele aufeinanderfolgende, von denen jede die unmittelbar vor ihr gewesene fortsetzt. Das Leben des Organismus ist ein einziger Prozess, der in einer Sukzession von Phasen des Werdens besteht und der Abschluss jeder dieser Phasen besteht in einer Entscheidung, die sich als die Gesamtheit der materiellen Elemente (des Organismus) manifestiert, die raumzeitliche Daten sind. Im Rahmen dieser Hypothese muss die Kontinuität der organismischen Körperlichkeit, angesichts der mikrochronischen Schwingungsdauer der atomaren und subatomaren materiellen Elemente, als Resultat der enorm schnellen Aufeinanderfolge des gleichzeitigen Erscheinens und Vergehens der gesamten Materie des Organismus gedacht werden. Sein Leben gleicht einer einzigen hochfrequenten Welle und jede seiner sehr vielen mikrochronischen Phasen einer Periode dieser Welle (vgl. Abb. 2.29(a)). Zweitens: Was im ersten Fall die Sukzession von Phasen des Werdens eines einzigen Prozesses war, ist jetzt eine Sukzession von sehr vielen extrem kurzlebigen Prozessen, die wie die Ringe einer Kette angeordnet sind (vgl. Abb. 2.29(b)). Ein solcher ›Ring‹ endet mit einer Entscheidung, die durch ihre doppelte Verräumlichung alle materiellen Elemente des Organismus erzeugt, jedoch nur für einen mikrochronischen Augenblick. Der Organismus besteht also aus 332 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Ontologische Alternativen zum systemtheoretischen Denken Raum
Phase
Prozess
(a)
(b)
Zeit (d)
(c)
Prozess = Lebenszeit
viele Prozesse = Lebenszeit
Abb. 2.29: Die vier Varianten. Alle senkrechten gestrichelten Linien zeigen die Zeitpunkte, zu denen entweder der Abschluss einer Phase des Prozesses (a und c) oder des ganzen Prozesses (b und d) sich als raumzeitlich materielle Daten manifestieren.
einer Vielzahl von wirklichen Entitäten, von denen keine zwei gleichzeitig existieren. Jeder einzelne dieser Prozesse erstreckt sich räumlich über den gesamten Organismus, aber zeitlich nur über einen extrem kleinen Bruchteil seines Daseins. Drittens: Der Organismus ist ein Bündel sich parallel entwickelnder und aufeinander beziehender wirklicher Entitäten, von denen jede so lange wie dieser lebt. Ihr Leben besteht, wie im ersten Fall, aus einer Sukzession sehr vieler Phasen des Werdens und jede dieser Phasen endet mit einer Entscheidung. Die vielen sich aufeinander abstimmenden Prozesse vollziehen sich gleichzeitig, aber jeder von ihnen erzeugt durch seine enorm hochfrequent vibrierende Manifestation einen anderen materiellen Teil des Lebewesens, wobei diese Teile räumlich hochgradig ineinander verwoben sein können (vgl. Abb. 2.29(c)). Viertens: Jeder Prozess manifestiert sich zeitlich durch eine mikrochronische und räumlich durch eine kleine bis mikroskopisch kleine Extension. Im letzten Fall fällt die Verräumlichung des Prozesses mit einem einzigen materiellen Element, z. B. mit einem Molekül, zusammen. Jeder Prozess ist ein ›Ring‹ einer dünnen ›Kette‹ und ein Bündel solcher ›Ketten‹ bildet den Organismus (vgl. Abb. 2.29(d)). Seine raumzeitliche Präsenz könnte mit einem Kettenhemd (wenn auch nicht mit dessen Härte) assoziiert werden. 333 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
II · Grenzen der systemtheoretischen Betrachtung ontogenetischer Vorgänge
Fünftens: Diese Varianten können miteinander kombiniert werden, wenn der Gültigkeitsbereich einiger von ihnen raumzeitlich spezifiziert wird. Allen gerade vorgestellten Varianten ist gemeinsam, dass sie die Kontinuität der organismischen Körperlichkeit als Resultat einer ununterbrochenen Abfolge von Manifestationen in der Raumzeit, die sich unglaublich schnell nacheinander ereignen, ansehen. Sie akzeptieren somit vorbehaltlos die für die Quantentheorie essentielle Vorstellung vom raumzeitlich diskontinuierlichen, vibrierenden Dasein der Materie. In den kommenden Kapiteln werden prozessontologische Sichtweisen des Organismus und seiner Materialität entfaltet. Sie werden als Antworten auf die Organismus-Problematik vorgeschlagen. Immer wenn im Folgenden vom ›Organismus‹ die Rede ist, wird diese Problematik im Hintergrund enthalten sein.
334 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Kapitel III Ontogenetisches Werden im Lichte der Lebens- und Prozessphilosophie von Henri Bergson
Nur wer Freiheit gekostet hat, kann das Verlangen empfinden, ihr alles analog zu machen, sie über das ganze Universum zu verbreiten. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling 1
Einleitung: Der philosophische Ort Bergsons Das Werk von Henri Bergson (1859–1941) wird gewöhnlich der Lebensphilosophie zugeordnet. Es handelt sich jedoch dabei nicht um eine Lebensphilosophie deutschen Stils. Letztere betont die lebensweltliche Dimension des Lebens und ihren Gegensatz zu den Abstraktionen der etablierten Wissenschaft und entfaltet ein wissenschafts- und zivilisationskritisches Programm, in dem die Krise der Moderne oder der europäischen Wissenschaft im Mittelpunkt steht (Nietzsche, Eucken, Husserl). Mit dieser wissenschaftskritischen Konzeption ist auch eine andere Version der deutschen Lebensphilosophie eng verwandt, in der die Fülle des Erlebens im Vordergrund steht, womit durch die Betonung der Dimension der Innerlichkeit eine Abgrenzung von der äußeren Herangehensweise der Naturwissenschaft einher geht (Dilthey, Scheler) (Köchy 1998, 131). Diesen Standpunkten begegnet man zweifelsohne in der Lebensphilosophie Bergsons. Sie geht jedoch nicht hierin auf. Ihr Kern besteht in der Ausarbeitung einer Metaphysik der lebendigen Natur, die Bergsons Gedanken über das Wesen der Zeit, der Freiheit, der Materie und des göttlichen Prozesses einbezieht. Bergsons Lebensphilosophie ist in erster Linie Naturphilosophie des Lebendigen. Der Versuch, Freiheit und Indeterminiertheit als Ausdrucksformen einer 1 Entnommen aus dem Werk Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände von 1809 (in der Suhrkamp-Ausgabe von 1975 auf S. 47).
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III · Ontogenetisches Werden bei Henri Bergson
metaphysischen Kreativität zu begreifen und sie in das Verständnis des Menschen, der Natur und ihres metaphysischen Grundes – als spirituelle Lebensphilosophie – möglichst tief zu verankern, durchzieht wie ein roter Faden alle seine Werke. Sein Ziel ist die Befreiung des abendländischen Denkens aus der Zange, die von der alten Metaphysik und den gegen diese ankämpfenden Richtungen in der Zeit zwischen dem 17. und dem späten 19. Jahrhundert gebildet wird, wie dem kritischen Subjektivismus und Empirismus, ohne jedoch in den verschiedenen Strömungen des Positivismus und Nihilismus eine Alternative zu sehen. Dies, zusammen mit seinem Versuch, eine Metaphysik des Werdens jenseits der Substanzontologie zu begründen, erlaubt, Bergson als einen Vertreter der Prozessphilosophie des 20. Jahrhunderts zu sehen, der er tatsächlich sehr oft zugerechnet wird. Die Aufmerksamkeit, die seinem Werk im Rahmen der vorliegenden Untersuchung gilt, resultiert aus meiner Überzeugung, dass wir alles einbeziehen müssen, was uns zur Verfügung steht, um das Leben zu verstehen (Dilthey). Bergson hat aus der phänomenologischen Analyse der dem Einzelnen gegebenen Erlebensqualitäten zunächst eine eindeutig menschliche Dimension erarbeitet, um sie später zu seiner fundamentalsten metaphysischen Kategorie zu vertiefen, die das Leben und die Materie verstehend und nicht naturwissenschaftlich erklärend erfassen sollte. Um biophilosophische Überlegungen über die Prozessualität lebendigen Werdens auf der Basis der Einsichten Bergsons entfalten zu können, ist es nötig, zunächst seine phänomenologisch-psychologischen Erkenntnisse über die Zeitlichkeit des Erlebens genauer zu analysieren.
1.
Die Konzeption der Dauer als heterogenes Kontinuum
Die Hauptader des philosophischen Schaffens Bergsons ist der intuitive Zugang zum Zeiterleben. In den Zeit-Konzepten der Assoziationspsychologie des späten 19. Jahrhunderts und der mathematischphysikalischen Betrachtungsweise sieht er die Verwissenschaftlichung einer abstrakten, dem praktischen Alltag angepassten Wahrnehmung der Zeit, die ihr eigentümliches Wesen verkennt und sie mit dem Raum vermengt. Der neben dem ›élan vital‹ bekannteste Begriff Bergsons – die durée – zielt gerade auf die Reinigung des Zeit336 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Die Konzeption der Dauer als heterogenes Kontinuum
verständnisses und des Zeiterlebens von der Verformung, die sie durch die Vermengung mit der Anschauung und dem Denken des Räumlichen erleiden. Die Dauer – auch als ›temps durée‹ bezeichnet – ist die eigentliche, die reine Zeit, die nicht vom Erlebensstrom des menschlichen Subjekts abstrahiert werden kann, die keine vierte Dimension einer physikalischen Raumzeit ist. Wird die erlebte Dauer von den sie zu einem raumartigen Träger verformenden Abstraktionen gereinigt, dann erscheint sie in einem völlig anderen Licht als in dem des qualitätenlosen, homogenen Trägers von nacheinander aufeinanderfolgenden Ereignissen. In seinem ersten Buch Zeit und Freiheit (Essai sur les données immédiates de la conscience) von 1888 beschreibt Bergson die Dauer als den beständigen Strom der Kreation und wesenhaften Bestimmung von Erlebensqualitäten: »Die ganz reine Dauer (La durée toute pure) ist die Form, die die Sukzession unserer Bewußtseinsvorgänge annimmt, wenn unser Ich sich dem Leben überläßt, wenn es sich dessen enthält, zwischen den gegenwärtigen und den vorhergehenden Zuständen eine Scheidung zu vollziehen. […] es genügt, wenn es diese Zustände, indem es sich ihrer erinnert, nicht neben dem aktuellen Zustand wie einen Punkt neben einen anderen stellt, sondern daß es sie mit ihm organisiert, wie es geschieht, wenn wir uns die Töne einer Melodie, die sozusagen miteinander verschmelzen, ins Gedächtnis rufen. Könnte man nicht sagen, daß, wenn diese Töne auch aufeinanderfolgen, wir sie dennoch ineinander apperzipieren, und daß sie als Ganzes mit einem Lebewesen vergleichbar sind, dessen Teile, wenn sie auch unterschieden sind, sich trotzdem gerade durch ihre Solidarität gegenseitig durchdringen? […] Die Sukzession läßt sich also ohne die Wohlunterschiedenheit und wie eine gegenseitige Durchdringung, eine Solidarität, eine intime Organisation von Elementen begreifen, deren jedes das Ganze vertritt und von diesem nur durch ein abstraktionsfähiges Denken zu unterscheiden und zu isolieren ist. Eine solche Vorstellung von der Dauer würde sich ohne allen Zweifel ein Wesen machen, das zugleich identisch und veränderlich wäre und dem die Idee des Raumes gänzlich mangelte. […] Kurz, die reine Dauer könnte sehr wohl nur eine Sukzession qualitativer Veränderungen sein, die miteinander verschmelzen, sich durchdringen, keine präzisen Umrisse besitzen, nicht die Tendenz haben, sich im Verhältnis zueinander zu exteriorisieren, und mit der Zahl nicht die geringste Verwandtschaft aufweisen: es wäre das die reine Heterogenität (hétérogénéité pure)« (77–80/Œuv. 67– 70, Hervorhebungen von S. K.).
Die so erlebten sukzessiven Zustände wird man »ineinander apperzipieren« (s. Zitat). Sie bilden eine »qualitative Mannigfaltigkeit« (multiplicité qualitative), die mit der Zahl oder der Vorstellung eines 337 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
III · Ontogenetisches Werden bei Henri Bergson
homogenen Mediums und einer messbaren Größe nichts gemeinsam hat (ZF 81/Œuv. 70). 2 Bergson führt die Dauer als die wichtigste psychologische Kategorie des menschlichen Subjekts ein. Ihre Inhalte existieren in der Ordnung der wesenhaften Durchdringbarkeit, die ich im Folgenden als Ordnung des wesenhaften Ineinanders bezeichnen werde. Die Inhalte der Dauer sind sich in ihrem Wesen gegenseitig bestimmende Erlebensmomente (natürlich nicht im zeitlichen Sinne von ›Moment‹). Ihre Wesensinterdependenz bedeutet, dass sie interne Relationen zueinander aufweisen. Diese Konzeption der Dauer, der Bergson seinem Leben lang treu bleibt, wird in den beiden auf Zeit und Freiheit folgenden Werken Materie und Gedächtnis (1896) und Schöpferische Entwicklung (1907) zu seiner fundamentalsten ontologischen Kategorie erweitert, indem er der Evolution von Lebewesen und aller materiellen Entitäten gewisse ihnen eigentümliche Flüsse der Dauer zuspricht, die sich der spezifisch menschlichen Dauer darin ähneln, dass sie ebenfalls kontinuierliche Ströme der Herauskristallisierung von wesentlichen Eigenschaften sind. In seinen späteren Werken entfaltet Bergson die für seine Ontologie fundamentale These vom kontinuierlichen Spektrum der fortschreitenden Transformation einer Dauer reicher Subjektivität in viele Dauern niedrigerer Ebenen, auf die noch intensiv eingegangen wird, da sie für die hier behandelte Thematik sehr wichtig ist.
1.1 Konkrete bzw. heterogene und abstrakte bzw. homogene Kontinua Es ist sehr beachtenswert, dass Bergson die »reine Dauer« als eine Sukzession von sich gegenseitig durchdringenden Erlebensqualitäten sieht. Er versteht sie keineswegs als Träger von fixierten Inhalten und denkt sich an keiner Stelle seines gesamten Werkes die Dauer losgelöst von ihren Qualitäten. Dagegen sind die abstrakte Raumzeit der vier Dimensionen, d. h. der sogenannte ›Minkowski-Raum‹ der RelaDer Ausdruck ›multiplicité‹ wurde korrekt als ›Mannigfaltigkeit‹ übersetzt, weil mit diesem Begriff die Verschiedenartigkeit von Entitäten – oder im Falle der ›durée‹ von Momenten – bezeichnet werden kann, zwischen denen eine wichtige Ähnlichkeit besteht.
2
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Die Konzeption der Dauer als heterogenes Kontinuum
tivitätstheorie, und die verschiedenen abstrakten Räume der Mathematik und der Naturwissenschaften – folglich auch die Zustandsräume des biosystemischen Emergentismus – Ordnungen des wesenhaften Nebeneinanders. Sie zeichnen sich durch die klare Distinktheit von objektiven und extern unterscheidbaren Größen aus, die den Gegenpol zur ›durée‹, als Ordnung des Ineinanders, bilden. 3 Den Kontinua der Homogenität spricht Deleuze, der sich intensiv mit dem Werk Bergsons auseinandergesetzt hat, »quantitative Differenzierung« und »numerische Vielheit« zu, während er die reine Dauer als »eine Vielheit […] der Heterogenität, der qualitativen Wesensunterscheidung, eine Vielheit, die […] nicht auf das Numerische zurückgeführt werden kann«, sieht (1997, 54). Die Bergson’sche Dauer ist eine Kontinuität ohne Distanz ihrer Inhalte zueinander. Sie kann nur in einem besonderen Sinne als Fluss oder Strom verstanden werden: als Entstehung von Neuheit, die keine Distanz zum Gewordenen aufweist. Die Dauer ist ein Wachstum, das nicht durch die Akkumulation von Teilen zustande kommt, die zueinander extern sind, wie z. B. räumliche Regionen. Deshalb kann sie nicht durch Addition oder durch irgendeine andere mathematische Operation wachsen, denn addierbar und überhaupt mathematisch erfassbar sind nur Größen identischen Wesens. Für die Dauer ist es aber essentiell, dass ihre Inhalte, aufgrund ihrer internen Relationalität zueinander, kein in sich fixiertes Wesen haben. Mirjana Vrhunc bringt Bergsons Verständnis der Dauer genau auf den Punkt: »[E]s gibt keine durchgängige Charakterisierung der Dauer durch eine einheitliche innere Gliederung, wie sie etwa ein bestimmter Rhythmus darstellen würde. Die Dauer ist ein offenes und, wenn man sie denn in eine begrifflich orientierte Darstellung bringen will, sogar ein widersprüchliches Phänomen. Die Dauer ist für die begriffliche Perspektive etwas Nicht-Identisches« (Vrhunc 2002, 57; Hervorhebung von S. K.).
Die ›durée‹ ist ein Kontinuum der Subjektivität, das seine eigentümliche Kontinuität selbst erzeugt – und zwar dadurch, dass es sein Wesen permanent selbst neu bestimmt. Denn als ein bezüglich seines Wesens ›offenes Phänomen‹ ist sie nicht mathematisch fassbar, womit sie niemals eine abstrakte, mathematisch-metrische Zeitlichkeit – mit
3 Von der Ordnung der Dauer redet Bergson erst in Schöpferische Entwicklung. Diesen Hinweis verdanke ich René Pikarski.
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III · Ontogenetisches Werden bei Henri Bergson
Heidegger gesprochen: eine »uneigentliche Zeitlichkeit« – aufweisen kann. Ihre Kontinuität wird intern hervorgebracht und kann unmöglich abgebildet – geschweige extern manipuliert – werden, weil sie für die »begriffliche Perspektive« jedes Formalismus etwas »Nicht-Identisches« (s. letztes Zitat) darstellen muss. Folglich kann die Dauer weder geteilt noch irgendwie anders von außen manipuliert werden. Die ›durée‹ des Erlebens kann zwar von externen Faktoren beeinflusst oder gar unterbrochen werden; das ist jedoch etwas gänzlich anderes als eine Aufteilung nach einem äußerlich angelegten Maßstab. Die Dauer ist ein spontanes, prinzipiell unvorhersehbares Werden, denn erst sie erzeugt das Gesetz ihres eigenen Seins. Dies wird immer gemeint sein, wenn ihr Werden als ›Selbstvollzug‹ bezeichnet wird. Die ›durée‹ ist also ein Kontinuum, dessen Wesen in der permanenten Variation – besser: in der Neubestimmung – seiner eigenen Gesetzmäßigkeit besteht, »da sie die Veranlagung hat, sich qualitativ in sich abwandeln zu können« (Deleuze 1997, 46). Das macht die ›durée‹ zu einem echten Prozess. Wenn ein dynamisches System Dauer hätte, würde seine Entwicklung den Attraktor erzeugen, der sie kanalisiert. 4 Die Bergson’sche Dauer ist die elementarste und zugleich höchste Form von Heterogenität, die überhaupt denkbar ist – sie ist die reine Heterogenität, wie sie Bergson nennt, die »mit der Zahl nicht die geringste Verwandtschaft« aufweist (ZF 80/Œuv. 70). Sie ist zugleich die dem menschlichen Erleben unmittelbar gegebene Form von Kontinuität (vorausgesetzt, dass dieses nicht von den Abstraktionen der Naturwissenschaft und des Alltags beherrscht wird), weshalb sie auch als ein ›konkretes Kontinuum‹ bezeichnet werden kann. Immer wenn im Folgenden von einem konkreten- bzw. heterogenen Kontinuum die Rede sein wird, wird darunter nichts anderes zu verstehen sein als ein fundamentaler Aspekt des prozessualen Werdens: die unteilbare Zeitlichkeit der intern kreierten Wesensbestimmung einer wirklichen Entität, d. h. eines Individuums, das in der physischen Realität Veränderungen bewirken kann. 5 Wegen ihrer Unteilbarkeit
Die kanalisierende Wirkung von Attraktoren wurde im Abschn. 1.1.h von Kap. II erläutert. Die Idee der Selbstkanalisierung bzw. regulativen Geschlossenheit eines dynamischen Systems, in dem ausschließlich Wirkursachen am Werk sind, wurde in allen Unterabschnitten des Abschn. 2.2.a und im Abschn. 2.2.b von Kap. II diskutiert und verworfen. 5 Siehe Abschn. 3.2.a.1 von Kap. II. 4
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Die Konzeption der Dauer als heterogenes Kontinuum
korrespondiert die Dauer mit der eigentlichen Bedeutung des Begriffs ›Individuum‹. Analog wird von nun an der Ausdruck ›Homogenität‹ immer die Existenz einer das Werden steuernden Gesetzmäßigkeit bedeuten, die diesem hierarchisch übergeordnet ist. Jedem noch so inhomogen aussehenden Ablauf, d. h. auch dem chaotischsten (im Sinne des deterministischen Chaos) liegt eine, so verstandene, Homogenität zugrunde. In dieser wurzelt seine (Turing-)Berechenbarkeit, 6 die in einem Zustandsraum abbildbar ist. Solche mathematisch erfassbaren Räume werden im Folgenden als abstrakte- bzw. homogene Kontinua bezeichnet. In Verbindung mit dem Ausdruck ›Kontinuum‹ werden die Adjektive ›abstrakt‹ und ›konkret‹ immer die eben eingeführten Bedeutungen haben. ›Homogenität‹ und ›Heterogenität‹ werden also im Folgenden mit einer Bedeutung besetzt, die ausschließlich die Gesetzmäßigkeiten der Entwicklungen von Zuständen charakterisiert. Bei den dynamischen Systemen der Selbstorganisationstheorie und Systembiologie sind diese Gesetzmäßigkeiten Strukturgesetze, d. h. während der Entwicklung fixierte formale Strukturen. Deshalb handelt es sich bei diesen ›Selbstorganisationen‹ um Abläufe in homogenen abstrakten Räumen. Die Variation einer oder mehrerer statischer Größen, z. B. eines Kontrollparameters von Seiten des Experimentators, bedeutet lediglich die extrinsische Erzeugung einer neuen homogenen Ordnung. Die raumzeitlich irreguläre Erscheinungsform eines Ablaufs, z. B. das vollkommen unvorhersehbare Verhalten eines chaotischen Pendels, ist Ausdruck einer nicht zu überbietenden Homogenität auf der formalen Ebene des emergenten Strukturgesetzes, das diesem Verhalten zugrunde liegt. So gesehen ist die echte Selbstorganisation, die von den systemtheoretischen Formalismen nicht erfasst werden kann, immer ein in sich heterogenes Werden. Die Beherrschung und Manipulation von homogenen Ordnungen verschiedenster Art schreibt Bergson den positiven Wissenschaften zu, während er der philosophischen Spekulation rät, ihre Probleme vorrangig in Abhängigkeit von der Zeitlichkeit der ›durée‹ zu stellen und zu lösen (Deleuze 1997, 45).
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Siehe Abschn. 2.1 von Kap. II.
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1.2 ›Succession pure‹ Bergson denkt die Dauer nicht als einen Prozess der Wesensbestimmung, der von einzelnen, distinkten Erlebensakten vollzogen wird. Er sieht das Wesen der Dauer in der permanenten Transformation intern relational ineinandergreifender Erlebensmomente eines einzigen Subjekts, die koexistieren und nicht nacheinander angeordnet sind. Die ›durée‹ ist ein Kontinuum der Wesensbestimmung eines erlebenden Subjekts, folglich ein einziger Prozess. Keine ›durée‹ ist teilbar, bevor sie sich selbst vollendet, bevor sie also ihre eigene Wesensbestimmung beendet hat, weil sie keine voneinander abgegrenzten oder überhaupt abgrenzbaren Entitäten enthält. Die Verbindung zwischen Prozessualität und der Ordnung des Ineinanders der Momente hat vor Bergson bereits Nietzsche klar erkannt: »Es handelt sich nicht um ein Nacheinander, – sondern um ein Ineinander, einen Prozeß, in dem die einzelnen sich folgenden Momente nicht als Ursache und Wirkung sich bedingen« (1974, Fragment 2 [139], 3–7).
Die Selbstkreation der ›durée‹ ist ein Wachstum, das keine Aufeinanderfolge darstellt, sondern eine Genese, in der das Werdende und das Gewordene ineinander (ko)existieren. Bergson bezeichnet sie als reine Sukzession bzw. ›succession pure‹ (ZF 62, 78/Œuv. 54, 68). Es ist offensichtlich, dass die Inhalte der reinen Sukzession nicht als zeitlich lokalisierte Ereignisse gedacht werden können, d. h. als Entitäten, denen bestimmte Positionen in einer als räumliche Linie gedachten Zeitreihe zukommen. Gerade diese Vorstellung von Zeit – auf der auch bedeutende Philosophen, wie John McTaggart, ihre Gedanken aufbauen 7 – versteht Bergson in Zeit und Freiheit als eine von der eigentlichen Zeit, d. h. von der ›durée‹, abgeleitete Abstraktion und nicht als die einzig mögliche. Aus der Vermengung des konkreten Kontinuums der ›durée‹ mit dem abstrakten Kontinuum des gewöhn-
McTaggart unterstellt die geordnete, voneinander scharf abgegrenzte Positionierung von Ereignissen auf einer Zeitachse, um die »Irrealität der Zeit« zu beweisen (1908, 458). John Smart kritisiert sprachanalytisch die Beweisführung McTaggarts, indem er ausschließlich physische Ereignisse, wie das Umschalten einer Verkehrsampel, betrachtet und keine psychischen, von denen Bergson ausgeht (1949, 485). Vgl. auch: Howe 1999, 53.
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lichen Raumes nährt sich die sehr hartnäckige Illusion, die er als verräumlichte Zeit (temps espace) versteht. 8
1.3 ›Durée‹ als Gedächtnis Sowohl der physikalische Begriff der Vergangenheit, als auch der in der Alltagspraxis gebrauchte, sind Produkte der Verräumlichung der Zeit, denn sie beruhen auf der Ereignis-Konzeption des gesunden Menschenverstandes, die der anorganischen Realität angepasst ist. Dagegen wird in der auf der Phänomenologie des Erlebens beruhenden Zeitphilosophie Bergsons die psychische Vergangenheit nicht als verloren gegangene, sondern als weiterhin existierende Dauer verstanden, der lediglich die Aktualität fehlt, die der Gegenwart zukommt. Die Vergangenheit vergeht nicht, sondern bleibt ohne jede Unterstützung von der Gegenwart weiterhin bestehen. Die zentrale Idee, auf der dieser nur scheinbar so paradoxe Gedanke fußt, ist die Kontinuität des Prozesses, den die ›durée‹ darstellt, als eines unteilbaren Werdens: »Wenn nämlich die Veränderung zum Wesen der Wirklichkeit gehört, so müssen wir die Vergangenheit ganz anders auffassen, als wir es bisher durch die Philosophie und durch die Sprache gewohnt waren. Wir neigen dazu, uns unsere Vergangenheit als etwas nicht Existierendes vorzustellen […] für uns besteht allein die Gegenwart durch sich selbst: wenn irgend etwas von der Vergangenheit überlebt, so scheint das nur durch eine Unterstützung möglich, die ihr von der Gegenwart her zuteil wird, gleichsam durch eine Gnade, die die Gegenwart ihr erweist, kurz, […] durch das Eingreifen einer gewissen besonderen Funktion, die man Gedächtnis nennt, und deren Aufgabe gerade wäre, ausnahmsweise diese oder jene Teile der Vergangenheit zu bewahren, indem sie diese gleichsam aufspeicherte. – Ein ganz gründlicher Irrtum!« (WV 171/Œuv. 1385, Hervorhebungen von S. K.).
Denn es gilt: »Die Vergangenheit erhält sich aus eigener Kraft automatisch. Sicher, wenn wir die Augen vor der Unteilbarkeit der Veränderung verschließen und vor der Tatsache, daß unsere entfernteste Vergangenheit mit unserer Gegenwart zusammengehört, um mit ihr eine und dieselbe ununterbrocheBezüglich der Vermengung von Dauer und Raum siehe Howe 1987, 36–44 und Mullarkey 1999, 21 f.
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ne Veränderung zu bilden, so scheint es uns, daß die Vergangenheit etwas Außergewöhnliches darstellt […] Aber wenn wir die Kontinuität des inneren Lebens und infolgedessen seine Unteilbarkeit berücksichtigen, dann handelt es sich nicht mehr darum, die Erhaltung der Vergangenheit zu erklären, sondern im Gegenteil ihre scheinbare Vernichtung.« (WV 174/ Œuv. 1387 f., Hervorhebungen von S. K.).
Das Gedächtnis fußt also ausgerechnet auf dem, das als der Inbegriff des Vergehens gilt: nämlich der Zeit – allerdings im Sinne der ›durée‹, der reinen Zeit. Es ist die heterogene, die konkrete »Kontinuität des inneren Lebens«, die verbietet, »unsere entfernteste Vergangenheit« von unserer Gegenwart als getrennte Bereiche eines abstrakten Kontinuums zu betrachten. Die Vergangenheit ist der gewaltigste Bereich der Dauer. Er unterscheidet sich aber darin von der Gegenwart der Dauer, dass er machtlos ist, denn ihm mangelt es an Aktualität: »Meine Gegenwart ist, was mich interessiert, was mir lebendig ist, mit einem Worte, was mich zur Tätigkeit anreizt, während meine Vergangenheit wesentlich machtlos ist« (MG 131/Œuv. 280).
Bergson spricht also der Vergangenheit des inneren Lebens Existenz, aber keine Macht zu. Der vergangenen Dauer kann nur das aktuelle, d. h. gegenwärtige Sein des Leibes Macht verleihen, also das Vermögen in der Gegenwart zu wirken. Eine ähnliche Position bezüglich des Unterschieds von Gegenwart und Vergangenheit bezieht Roman Ingarden, der Bergsons Intuition vom Nicht-Vergangen-Sein der Vergangenheit sehr nah steht. 9 1.3.a
Die Gedächtnis-Konzeption Bergsons ist jenseits der Spur- und Abdruck-Metapher
Schon zu Beginn der abendländischen Philosophie wurde die Problematik des Gedächtnisses im Lichte der Abdruck- bzw. Spur-Metapher diskutiert und von ihr einseitig und nachhaltig dominiert. In Theaitetos lässt Platon Sokrates Folgendes annehmen: »[Zum Zweck der Untersuchung nehmen wir] in unseren Seelen einen wächsernen Guß [an], welcher Abdrücke aufnehmen kann […] Was sich nun abdrückt, dessen erinnern wir uns und wissen es, solange nämlich sein 9 Ingarden zeigt in Über die Verantwortung, dass ethisches Gewissen eine »Wesensnatur der Zeit« fordert, die von der weiteren Existenz der Vergangenheit ausgeht.
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Abbild vorhanden ist. Hat sich aber dieses verlöscht oder hat es gar nicht abgedruckt werden gekonnt: so vergessen wir die Sache, und wissen sie nicht« (Theaitetos 191 c, d; Einfügung von S. K.).
In seiner Schrift Über Gedächtnis und Erinnerung hat Aristoteles die Platonische Sicht übernommen und die Abdruck-Metapher weiter gefestigt (450 a30). Diese Annahme, die das Erinnerungsvermögen mit auf irgendeine Weise konservierten Spuren vergangener Ereignisse verbindet, hat sich als besonders beliebt erwiesen, denn sie lässt die Vergangenheit endgültig vergangen sein und weist die Erinnerungsakte als etwas rein Gegenwärtiges aus – somit verbeugt sie sich vor der seit Jahrtausenden und in allen Bildungsschichten bezüglich des Wesens der Vergangenheit etablierten ›metaphysical correctness‹. Dieses unglaublich zähe Vorurteil, dass die Vergangenheit nur von in der Gegenwart vorhandenen Spuren im ›Wachs‹ klar oder verschwommen repräsentiert wird, wurde durch Jahrhunderte und Jahrtausende weitergegeben. 10 Die moderne Neurobiologie hat die Metapher des Abdrucks bzw. der Spur neu interpretiert: Die vergangenen Ereignisse hätten die Struktur einiger Nervenzellen verändert (›Abdruck‹). Die Erinnerungen könnten als in der Gegenwart des jeweiligen Erinnerungsaktes existierende und von den erhaltenen ›Spuren‹ dieser Veränderungen beeinflusste Aktivierungsmuster des Gehirns gedacht werden, die besondere Typen von Wahrnehmungen seien. 11 Das Gehirn würde also eine besondere Art von Wahrnehmungen wirkursächlich-kausal synthetisieren, ohne ihnen aber eine ausreichend sensorische Zuordnung zuweisen zu können. Sie könnten somit nicht in den Raum hinaus projiziert werden und bekämen eine andere Tiefen-Wirkung, eine zeitliche, die freilich eine Illusion sei (Rusch 1991, 278 f.). 12 Der kritische Neurobiologe Ernst Florey, der die GedächtnisFrage in der Gehirnforschung für eine nicht richtig gestellte hält (1993, 196), bringt diese innerhalb der etablierten Forschung kaum hinterfragbaren Ansichten sehr treffend auf den Punkt: »Das Gedächtnis wird als eine veränderte Struktur der Nervenzellen bestimmter Ensembles verstanden. Der Gedächtnisinhalt existiert demnach Florey gibt eine gute Übersicht dieses Denkens: 1993, 166–178. Der Radikale Konstruktivist Siegfried J. Schmidt gibt treffend diese Ansicht wieder: »Das Gedächtnis leistet für ein kognitives System die Synthese eines spezifischen Typs von Wahrnehmung, die wir gewöhnlich als ›Erinnerung‹ bezeichnen« (1991, 24). 12 Vgl. auch: Maturana 1985, 63. 10 11
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als Gegenwart, er verliert die zeitliche Dimension und wird zur räumlichen Repräsentation der wahrgenommenen Außenwelt« (1991, 181). 13 14
Kurz gesagt: Das Gedächtnis ist, der modernen Neurobiologie zufolge, nicht der Zeit teilhaftig, sondern des Raumes. Bergsons Theorie des Gedächtnisses und des Erinnerns stellt eine radikale Abwendung von dieser Konzeption dar. Beim Erinnerungsakt werden nicht die im Raum noch vorhandenen materiellen Stellvertreter einer verschwundenen Zeit aktiviert, denn das Gedächtnis beruht nicht auf neuronalen Engrammen. Die Vergangenheit können wir nur dann erreichen, wenn wir uns »mit einem Schlag in sie versetzen« (MG 129/Œuv. 278): »Ihrem Wesen nach virtuell, kann die Vergangenheit von uns als vergangen nur erfaßt werden, wenn wir der Bewegung folgen, in der sie sich zum gegenwärtigen Bilde entfaltet, aus dem Dunkeln ins Licht emportaucht. Es wäre vergebens, ihre Spur in irgend etwas Aktuellem und schon Realisiertem zu suchen« (ebenda, Hervorhebung von S. K.).
Die Vergangenheit existiert natürlich unabhängig davon, ob sie erinnert wird. Die Erinnerung verleiht dem Vergangenen lediglich Aktualität. 15 Diese Vorstellung der nicht vergangenen Vergangenheit beschränkt Bergson nicht auf den Menschen, sondern weitet sie auch auf das tierische Bewusstsein aus. 16 Zusammenfassend: Bergson identifiziert das heterogene Kontinuum des psychischen Lebens mit dem Gedächtnis. Die sogenannte ›Vergangenheit‹ wird nicht durch ›Spuren‹ erinnert, die irgendwann in der Materie des Gehirns hinterlassen wurden und noch vorhanden sind. Der Erinnerungsakt benötigt eine direkte Erfassung der nicht Vgl. auch: Florey 1993, 196–200. Der Konstanzer Professor für Neurophysiologie Ernst Florey (1927–1997) stellt innerhalb der neurobiologischen Forschung eine klare Ausnahme dar. Er kritisiert das neurophysiologische Verständnis von Zeit und Gleichzeitigkeit, das identisch mit dem der klassischen Mechanik ist, und den verräumlichten Zugang der Neurobiologie zur Gedächtnis-Problematik. Indem er für die »zeitliche Existenz« des Gedächtnisses eintritt und solche Fragen wie: »Ist das Vergangene tatsächlich vergangen?« stellt, weist er eine deutliche Nähe zu Bergson auf, zu dessen Werk er auch explizit einen positiven Bezug herstellt (Florey 1991, 176 f., 182, 185; 1993, 200). 15 Vgl. auch: Ingarden 1970, 119. 16 »Selbst bei dem Tiere werden vielleicht vage Bilder der Vergangenheit in die gegenwärtige Wahrnehmung hineinreichen; ja man könnte sich denken, daß seine ganze Vergangenheit virtuell in sein Bewusstsein eingezeichnet wäre« (MG 71 f./Œuv. 228, Hervorhebung von S. K.). 13 14
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Die Konzeption der Dauer als heterogenes Kontinuum
mehr aktuellen Dauer durch die aktuelle Dauer, d. h. durch das jeweils gegenwärtige Bewusstsein. 1.3.b
Die Gewesenheit der ›vergangenen‹ Dauer
Bergsons Vorstellung vom Nicht-Vergangen-Sein der Vergangenheit ist kein Oxymoron. Der von Heidegger beeinflusste Phänomenologe und Hermeneutiker Paul Ricœur, der sich in seinem Werk stark auf Bergsons Theorie des Gedächtnisses bezieht, 17 erkennt den »zentralen, die Bezeichnung der Vergangenheit […] betreffenden Gedanken« Heideggers in der »Ersetzung von vergangen, was als ein einfaches Synonym für abgelaufen, abgetan gilt, durch gewesen«, die letzterer vornimmt (Ricœur 1998, 57). 18 Die scharfe Unterscheidung zwischen ›Vergangenheit‹ und ›Gewesenheit‹ ist eine zentrale Säule des Heidegger’schen Verständnisses von der »ursprünglichen und eigentlichen Zeitlichkeit« des Menschen, die nicht im »vulgären Zeitverständnis« aufgehen kann: »Die Begriffe der ›Zukunft‹, ›Vergangenheit‹ und ›Gegenwart‹ sind zunächst aus dem uneigentlichen Zeitverstehen erwachsen […] Das Sich-vorweg gründet in der Zukunft. Das Schon-sein-in … bekundet in sich die Gewesenheit. Das Sein-bei … wird ermöglicht im Gegenwärtigen. Hierbei verbietet es sich […] das ›Vor‹ im ›Vorweg‹ und das ›Schon‹ aus dem vulgären Zeitverständnis zu fassen. Das ›Vor‹ meint nicht das ›Vorher‹ im Sinne des ›Noch-nicht-jetzt – aber später‹ ; ebensowenig bedeutet das ›Schon‹ ein ›Nicht-mehr-jetzt – aber früher‹. […] ›Solange‹ das Dasein faktisch existiert, ist es nie vergangen, wohl aber immer schon gewesen im Sinne des ›ich bin-gewesen‹. Und es kann nur gewesen sein, solange es ist. Vergangen dagegen nennen wir Seiendes, das nicht mehr vorhanden ist. Daher kann sich das Dasein existierend nie als vorhandene Tatsache feststellen, die ›mit der Zeit‹ entsteht und vergeht und stückweise schon vergangen ist« (Heidegger 1993, 326 ff.).
Auch wenn in der vorliegenden Arbeit die Rede von ›Zeitlichkeit‹ nicht im spezifisch Heidegger’schen Sinne der unauflösbaren Einheit von Gewesenheit und Zukunft gemeint ist, 19 sondern lediglich darauf zielt, die Möglichkeit verschiedener Verständnisse des Ausdrucks Zum Beispiel in seinem La mémoire, l’histoire, l’oubli das im Jahr 2000 erschienen ist. 18 Bezüglich der Nähe von Ricœur zu Bergson siehe: Koutroufinis 2004. 19 »Die Gewesenheit entspringt der Zukunft, so zwar, daß die gewesene (besser gewesende) Zukunft die Gegenwart aus sich entläßt. Dies dergestalt als gewesend-ge17
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›Zeit‹ jenseits der Abstraktionen der Physik zu unterstreichen, ist die Analyse Heideggers hilfreich, um Bergsons Überzeugung vom Fortbestand der ›Vergangenheit‹ den ihr angemessenen Ausdruck zu verleihen. Nur die vulgär-zeitliche Vergangenheit eines berechenbaren Vorgangs, eines Ablaufs, kann »abgelaufen, abgetan« sein, wie Ricœur sagt, nicht die Zeit einer Wesensbestimmung, denn sie hat nicht die Struktur eines homogenen Kontinuums, das aus extern relational aufeinander bezogenen Zeitstücken ›zusammengeklebt‹ ist. Die Heidegger’sche Analyse der Zeitlichkeit, wie sie im § 65 von Sein und Zeit entfaltet wird, kann auf die Bergson’sche ›durée‹ angewandt werden, wenn Letztere als Prozess im Sinne eines Aktes der eigenen Wesensbestimmung verstanden wird – wie dies hier der Fall ist. Denn eine solche Sichtweise hebt zentrale Aspekte des Prozesses hervor, auf die Bergson nicht explizit verwiesen hat: sein Sich-Entwerfen bzw. Sich-In-Die-Zukunft-Werfen. Der Moment der Zukunft ist in der Bergson’schen Analyse nicht ausreichend entfaltet aber dennoch enthalten. 20 Die Bergson’sche Zeitphilosophie als Prozessmetaphysik zu lesen, bedeutet, die ›durée‹ als ein Streben nach Kontinuierung, nach Zukunft, zu verstehen. Für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung ist Folgendes festzuhalten: ›Gewesenheit‹ ist ein wesentlich besser geeigneter Ausdruck als ›Vergangenheit‹, um eine essentielle Eigenschaft der Bergson’schen ›durée‹ zum Ausdruck zu bringen: dass sie nicht vernichtet wird, sobald sie nicht aktuell erlebt wird, sondern weiterhin existent ist – und zwar ohne von etwas, das in der jeweiligen Gegenwart existiert, vertreten oder anderweitig unterstützt zu werden. Die gewesene Dauer existiert vollkommen unabhängig davon, ob sie jemals erinnert, d. h. aktualisiert wird.
genwärtigende Zukunft einheitliche Phänomen nennen wir die Zeitlichkeit« (1993, 326; Hervorhebungen von S. K.). 20 Der Zukunft-Aspekt der Dauer steht bei Bergson unter dem Vorzeichen des praktischen Bezugs zur Welt; er wird also pragmatistisch behandelt. Nur »eine plötzliche Rückwendung der Aufmerksamkeit […] unseres Bewusstseins, das bis dahin der Zukunft zugewendet und von den Notwendigkeiten des praktischen Handelns absorbiert« ist, kann uns erlauben, sich der ganzen Dauer unseres Lebens bewusst zu werden (WV 173 f./Œuv. 1387). Das kann bei außerordentlichen Grenzsituationen, wie z. B. bei Nahtoderlebnissen passieren, wenn der sogenannte ›Lebensfilm‹ betrachtet wird (ebenda) (vgl. auch: MG 150/Œuv. 295). Ausgehend von der Bergson’schen Vorstellung der ›durée‹ ist eine solche Rückschau nicht an einem funktionierenden Gehirn gebunden. Sie kann also auch bei einer EEG-Nulllinie stattfinden.
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Sie benötigt dennoch sehr wohl etwas aktuell Existentes, um in der Gegenwart (d. h. in der Aktualität) etwas bewirken zu können, d. h. um Macht zu erlangen. Macht darf jedoch nicht automatisch mit Existenz identifiziert werden.
1.4 Der Selbstvollzug der Dauer unterliegt nicht dem MöglichkeitWirklichkeit-Modus des systemischen Werdens – Bergsons Ablehnung der ontologischen Relevanz von Universalien Die Dauer ist das Kontinuum der Wesensunterschiede. Es gibt keine durchgehend existierende Substanz, die die Erlebensqualitäten des Subjekts als ihre Akzidentien produziert. Das Subjekt ist keine Substanz. Als Erlebenskontinuum ist es die reine Heterogenität, die ihr eigenes Wesen mittels und während ihrer eigenen Selbstkontinuierung entwirft und zugleich erschafft. Der Dauer können keine substanzontologisch gedachten Formal- und Finalursachen zugrunde gelegt werden, denn die ›durée‹ ist ein Prozess, d. h. ein Werden, das durch seinen eigenen Vollzug fortwährend seine Form und sein Ziel festlegt. Darin besteht die Autonomie eines Prozesses, auf die in der vorliegenden Untersuchung der Begriff ›Vollzug‹ verweist. Wäre die Dauer ein Medium, das von Gesetzen alt-teleologischer 21 oder wirkursächlich-kausaler Natur beherrscht wird, dann ließe sie sich von außen erfassen und somit auf eine abstrakte Zeit übertragen. Wie auch Driesch richtig bemerkt: Bergson lehnt das antike teleologische Denken – damit auch jeglichen Vitalismus – ab, weil jede Zweck- bzw. Finalursachen-Kausalität, die auf der Basis der Substanzontologie konzipiert wird, die Endform eines Werdens schon zu Beginn als gegeben annimmt, womit das Geschehen determiniert und nicht kreativ ist. 22 Im Gegensatz zu solchen Vorstellungen offenbart die ›durée‹
Mit dem Ausdruck ›alt-teleologisch‹ bezeichne ich teleologische Vorstellungen, die substanzontologisch begründet sind. 22 Besonders erhellend ist folgende Passage aus Driesch’ Geschichte des Vitalismus: »Bergson bekämpft den Mechanismus und den Finalismus, also einen Vitalismus von der Art meines eigenen, weil beide auf den Satz sich gründen, daß das Ganze gegeben sei (le tout est donné), d. h. weil beide mit dem Begriff der eindeutigen Determiniertheit alles Geschehens arbeiten, mag diese Determiniertheit das eine Mal zwischen Teil und Teil, das andere Mal, beim Vitalen, zwischen Ganzem und Teil bestehen. Auch meine Entelechie hat ja festes Wesen und determiniert aus ihm heraus« (1922, 179). 21
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eine ›qualitative Mannigfaltigkeit‹ (ZF 81, 94/Œuv. 70, 82), die in der permanenten wesenhaften Durchdringung der psychischen Inhalte der reinen Sukzession wurzelt. Wäre dies nicht der Fall, dann ließe sie sich verdichten und schließlich vorhersagen. Da dies ihrer Natur radikal entgegensteht, ist das Vorauserleben der Dauer weder bei einer anderen Person noch bei sich selbst möglich. Es kann keine Trennung zwischen dem Versuch der Vorhersage, d. h. des VorherErlebens der eigenen ›durée‹ und dem psychologischen Prozess selbst geben, was z. B. eine echte Schachpartie zwischen der linken und der rechten Hand einer Person vereitelt. Noch undenkbarer erscheint jeder Versuch, die Dauer einer anderen Person voraus zu erleben: »Je mehr man die Summe der Bedingungen vervollständigt, die, wenn bekannt, die zukünftige Handlung [einer anderen Person] vorherzusagen ermöglicht hätten, desto dichter schließt man sich an die Existenz dieser Person an, desto mehr tendiert man dahin, sie bis in ihre geringsten Einzelheiten nachzuerleben, und desto näher kommt man zu dem genauen Zeitpunkte, wo die Handlung sich vollzieht und von einem Vorhersagen ihrer keine Rede mehr sein kann, sondern nur einfach vom Handeln. […] [Man wird] in unmerklichen Übergängen dahin gelangen, mit der Person, mit der man sich beschäftigt, zusammenzufallen, dieselbe Reihe von Zuständen zu durchleben und so zu eben dem Zeitpunkte zurückzukehren, in dem die Handlung sich vollzieht« (ZF 141/Œuv. 124, Einfügungen und Hervorhebungen von S. K.).
Auf der Basis der Nicht-Voraus-Erlebbarkeit weder der eigenen noch der fremden psychischen Dauer verteidigt Bergson in Zeit und Freiheit (vor allem im dritten Kapitel des Werkes) die menschliche Freiheit gegen den neurophysiologischen Determinismus. Im radikalen Gegensatz zu diesen Ideen basiert die Vorhersagbarkeit physikalischer Vorgänge auf der Existenz von Gesetzen – materialen Gesetzen sowie Strukturgesetzen. Dass die Form einer Planetenbewegung aus der Kombination des Gesetzes der gravitativen Anziehung mit bestimmten Größen (wie der Masse der Sonne, dem Ort und dem Impuls des Planeten zu einem Zeitpunkt) errechnet werden kann, entspricht der Abwendung von der antiken Vorstellung zweckgerichteten Werdens. Die Form der Bahn eines Planeten ist eine vor ihrer Verwirklichung existente ideelle Form, weshalb Himmelskonstellationen Jahrtausende voraus vorhergesagt werden können. Sie ist möglich und wird wirklich. Auf diesem Prinzip der Verwirklichung von im Voraus existierenden Möglichkeiten basiert die Idee 350 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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der Computersimulationen. In der Theorie dynamischer Systeme werden die Möglichkeiten als diejenigen Stellen in den entsprechenden Zustandsräumen abgebildet, die von der Trajektorie eingenommen werden, die die zukünftige Entwicklung des Systems wiedergibt. Sie sind Kombinationen zeitloser Entitäten, d. h. physischer und arithmetischer Universalien, 23 sodass sie – als ›Orte‹ der absoluten Zeitlosigkeit – ewig und vielleicht auch vergeblich darauf ›warten‹ können, besetzt zu werden. Für die Entwicklung der menschlichen Dauer lässt sich aber kein Gesetz angeben; weshalb die Form ihres zukünftigen Selbstvollzugs nicht im Sinne einer wissenschaftlichen Prognose vorhersagbar ist. Mehr noch: aufgrund des Wesens der Dauer ist diese Form nicht einmal existent. Im Falle der Dauer kann man nur in einem negativen Sinne von Möglichkeit sprechen: »In diesem besonderen Sinne nennt man möglich (possible), was nicht unmöglich ist […] Aber das so verstandene Mögliche gehört in keinem Grad […] zu dem in idealer Hinsicht vorher Existierenden. Man schließe die Schranke, und man weiß damit, daß niemand das Gleis überschreitet: daraus folgt aber nicht, daß man voraussagen kann, wer es überschreiten wird, wenn man sie öffnet. Dennoch geht man vom rein negativen Sinn des Wortes ›möglich‹ heimlich unbewußt zum positiven Sinn über. Möglich-sein bedeutet eben noch ›Fehlen von Hindernissen‹ ; man macht daraus jetzt eine ›Vorexistenz in Gestalt einer Idee‹, was etwas ganz anderes ist« (MW 122/Œuv. 1341 f., Hervorhebung von S. K.).
In demselben Maße, in dem ein imaginärer Vorgänger Shakespeares imstande wäre, die Gedanken, die Gefühle und die Wahrnehmungen Shakespeares beim Schreiben von Hamlet im Voraus zu erleben, käme er dazu, »den gleichen Punkt des Raumes und der Zeit einzunehmen, den gleichen Körper und die gleiche Seele zu haben, d. h. also Shakespeare selbst zu sein« (MW 122/Œuv. 1342). Das besagt nichts anderes, als dass es kein Vorauserleben des Schreibens von Hamlet geben kann. Die Form der Erlebnisse, die seine Erschaffung begleiteten, ist nicht vor dem Schreibvollzug durch Shakespeare existent gewesen – auch nicht in irgendeinem metaphysischen Bereich, wie etwa dem Platonischen Ideenhimmel. Das Werk – das ein Erlebensprozess des Dichters aber auch eine Gesamtheit der Rezipierungsprozesse seiner Leser und Zuschauer und nicht nur Striche auf dem Papier ist –
23
Siehe Abschn. 3.2.a.5 von Kap. II.
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wird erst durch seine Verwirklichung ermöglicht. Die sich als etwas »Unvorhersehbares und Neues« kreativ entwerfende Wirklichkeit wirft »ihr Bild hinter sich in eine unbestimmte Vergangenheit« (MW 120/Œuv. 1340): »[S]ie erscheint so als zu jeder Zeit möglich gewesen, aber erst in diesem Augenblick beginnt sie, es immer gewesen zu sein, und gerade darum sage ich, daß ihre Möglichkeit, die ihrer Wirklichkeit nicht vorausgeht, ihr vorausgegangen sein wird, sobald die Wirklichkeit aufgetaucht ist. Das Mögliche ist also das Spiegelbild (mirage) des Gegenwärtigen im Vergangenen« (MW 120 f./Œuv. 1340 f., Hervorhebung von S. K.).
Die Fülle des konkreten Erlebnisses besteht nicht in einer Zusammenkunft von zahlreichen psychischen Qualitäten, sondern in der Intensität eines einmaligen kreativen Aktes, der seine ›Dimensionen‹ (der räumliche Ausdruck sei mir verziehen) durch seinen Selbstvollzug überhaupt erst hervorbringt. Jeder durchgehend kreative Prozess erzeugt also die Kategorien seines Seins. Diese können folglich nicht als Dimensionen von Zustandsräumen, d. h. als abstrakte Entitäten (bzw. Universalien) – also als zeitlose Seiende – gedacht werden, da sie nicht auf andere Erlebensakte übertragen werden können. Die ›Dimensionen‹ der Selbstermöglichung eines psychischen Prozesses, wie sie sich erst am Ende seines Selbstvollzugs herauskristallisiert haben werden, bilden eine Konstellation, die kein abstraktes Kontinuum ist, das auch andere Prozesse beherbergen könnte. Sie ist wie die Haut eines bestimmten Tieres, die mit und aus diesem entsteht, und in die kein zweites hineinschlüpfen kann.
1.5 Die Zweckursachen-Kausalität im Rahmen der Prozessmetaphysik Bergsons Es stellt sich die Frage, ob in der vorliegenden Untersuchung die Rede von Zweckursachen sein kann, die im zweiten und vierten Kapitel eine wichtige Rolle spielen, wenn Bergson die Vorstellung von Finalursachen ablehnt. Bergson äußert sich nicht kritisch gegenüber dem teleologischen Denken generell, sondern nur gegen ein bestimmtes Verständnis von Teleologie. Nur der »entschiedene Finalismus« (finalisme radical) wird von Bergson verworfen, da er eine radikale Form des teleologischen Denkens darstellt (SchE 82/Œuv. 528). Denn das Prinzip des Finalismus, »das psychologischen Wesens ist, besitzt 352 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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höchste Geschmeidigkeit«, 24 sodass »[n]iemals […] die Lehre von den Zweckursachen endgültig widerlegt werden« wird (SchE 83/Œuv. 528). Bergson sagt eindeutig, dass seine Biophilosophie, »[n]otwendig […] in gewissem Grade Teil am Finalismus haben« muss (ebenda). Nur der »wahre Finalismus« kann die Logik des Lebendigen erfassen (SchE 95/Œuv. 539). Dieser wahre Finalismus kann auf der Idee der Zweckursachen-Kausalität aufgebaut sein, wenn Zwecke nicht allein als Resultate von Zwecksetzungen des Bewusstseins verstanden werden. 25 »Der Irrtum des entschiedenen Finalismus, wie übrigens auch des entschiedenen Mechanismus, besteht in einer zu weit getriebenen Anwendung gewisser, unserem Intellekt natürlicher Begriffe. Ursprünglich denken wir nur, um zu handeln. […] Um zu handeln beginnen wir aber damit, uns einen Zweck zu setzen« (SchE 86/Œuv. 532, Hervorhebung von S. K.).
Bergson negiert also nur den radikalen Finalismus, der Zwecke als mittels begrifflicher Ausformulierung antizipierte und gesetzte Ziele des Intellekts begreift. Mit den Mitteln der Prozessontologie kann der Begriff des Zweckes von dieser engen Reduktion auf die Logik des intentionalen rationalen Handelns befreit werden, das sich Ziele setzt, die es für im Voraus existierende mögliche Formen zukünftiger Zustände hält. Die Zwecke eines nicht mit Bewusstsein begabten biologischen Prozesses sind an Ziele gebunden, die sich erst im Prozess und während seines gesamten Vollzugs allmählich herauskristallisieren. Denn das Ziel des Prozesses ist die endgültige Festlegung seines Wesens, ein kreativer Akt der vor dem Abschluss des Prozesses nicht abgeschlossen sein kann. Deswegen kann das Ziel nicht von begrifflichen Operationen antizipativ in die Zukunft gesetzt werden, sondern muss in Erlebensakten und durch diese nach und nach und auf unvorhersehbare Weise ausgeformt werden: Es wächst mit dem Prozess zusammen. Der Zweck des Prozesses besteht in der Suche nach seinem Ziel, d. h. in der Bestimmung seines Wesens, womit es auch seinen Beitrag zur Wirklichkeit festlegt. Prozesse sind zwecktätig, ohne extern gesetzte Zwecke zu verfolgen oder sich selbst Zwecke zu setzen. Ihr auf die Vollendung ihrer Wesensbestimmung gerichtetes Erleben kreiert fortwährend das Ziel und durch dieses den Zweck. Die prozessontologisch gedachten Zwecke sind Ursachen von Prozessen, 24 25
»Son principle, qui est d’essence psychologique, est très souple« (Œuv. 528). Siehe Abschn. 2.1 von Kap. I.
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da jeder Prozess die Vollendung der Kreation seines Ziels anstrebt. Die prozessontologisch konzipierte Zweckursache ist also das Streben des prozessualen Subjektes, sein Wesen zu bestimmen – ein Akt, der substanzontologisch nicht erfasst werden kann.
2.
Die naturphilosophische Relevanz der Dauer
Bergson erkennt in der Dauer die wichtigste Kategorie des menschlichen Subjekts. In den auf Zeit und Freiheit folgenden Hauptwerken Materie und Gedächtnis (Matière et Mémoire) und Schöpferische Entwicklung (L’évolution créatrice) erhebt er sie zur zentralen Kategorie seiner Ontologie und Naturphilosophie. Die zentralen Gedanken seiner wichtigsten Werke voraussetzend, fragt er in einem seiner späten Aufsätze, in dem er über das Universum als eine »ununterbrochene Schöpfung von unvorhersehbar Neuem« (MW 110/Œuv. 1331) reflektiert: »Warum entfaltet sich (déploie-t-elle) die Wirklichkeit? Warum ist sie nicht schon von vornherein entfaltet? Wozu dient also die Zeit?« (MW 112/Œuv. 1333).
Bergsons genuine Antwort darauf entspricht seiner ursprünglichen Erkenntnis vom Wesen der eigentlichen, reinen Zeit als ein konkretes Kontinuum der Kreativität: »Die Zeit ist das, was verhindert, daß alles auf einmal gegeben ist. Sie hemmt, bzw. sie ist eine Hemmung. Sie muß also gleichsam innere Reifung (élaboration) bedeuten. […] Sollte die Tatsache der Zeit nicht beweisen, daß das Innerste der Dinge indeterminiert ist? Und sollte die Zeit nicht gerade diese Indetermination (indétermination) selbst sein?« (ebenda).
Der Kosmos wird als ein Kunstwerk verstanden, womit ein Orphischer Gedanke in eine neue Metaphysik integriert wird. Das essentiellste Merkmal der Reifung der schöpferischen Potenz des Kosmos ist, dass seine Ermöglichung erst mit seiner Verwirklichung, und durch sie, erreicht wird.
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Die naturphilosophische Relevanz der Dauer
2.1 Die Natur – ein Kunstwerk, das seine eigenen Möglichkeiten hervorbringt Von einschneidender Bedeutung für die Prozessphilosophie ist, dass Bergson seine phänomenologischen Überlegungen über das Primat der prozessualen Verwirklichung vor der Möglichkeit auch auf das natürliche Werden überträgt. Wie begründet er diesen kühnen Schritt? Der Tatsache, dass die möglichen Zustände eines formal beschreibbaren materiellen Systems berechenbar sind, setzt Bergson entgegen, dass dies nur unter den Bedingungen seiner Geschlossenheit und seiner Abstraktion aus dem Ganzen der Welt möglich ist (MW 123/Œuv. 1342 f.). Beschränkt man die Bedeutung von ›geschlossen‹ nicht auf ein streng physikalisches Verständnis, d. h. auf energetische Geschlossenheit, sondern gesteht man ihr eine ontologische Erweiterung zu, dann kann dieser Ausdruck die vollständige Abwesenheit von internen Relationen zwischen Welt und System bedeuten. Das System wäre unfähig, eine neue Wesensbestimmung zu erfahren, was auch die Fixierung des Wesens seiner Elemente mit sich zieht. Bergson hat leider nicht präzisiert, was er unter einem ›geschlossenen System‹ (s. nächstes Zitat) versteht, aber die eben vorgeschlagene ›offene‹ Interpretation würde seine Metaphysik in die Lage versetzen, in der Berechenbarkeit verschiedener möglicher Entwicklungen (Trajektorien) von energetisch und materiell offenen dynamischen Systemen nicht das non plus ultra des Naturbildes zu sehen. Die Zeit, in der der Aufsatz Das Mögliche und das Wirkliche entstand (1930), erlaubte Bergson auf eine weniger präzise Weise vom Ganzen der Natur zu sprechen; dennoch sollte man ihm beim Übergang von der Phänomenologie des Erlebens in die Naturphilosophie zuhören: »Ich glaube, man wird es schließlich einleuchtend finden, daß der Künstler das Mögliche mit dem Wirklichen schafft, wenn er sein Werk gestaltet. Woher kommt es also, daß man wahrscheinlich zögern wird, dasselbe von der Natur zu sagen? Ist die Welt nicht ein Kunstwerk, das unvergleichlich viel reicher ist als das des größten Künstlers? […] Ich räume noch einmal ein, daß die zukünftigen Zustände eines geschlossenen Systems von materiellen Punkten berechenbar sind und folglich in seinem gegenwärtigen Zustand sichtbar. Aber ich wiederhole, dieses System ist aus dem Ganzen isoliert und abstrahiert, das außer der trägen und anorganischen Materie auch die Organisation umfaßt. Man nehme die konkrete und vollständige Welt
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III · Ontogenetisches Werden bei Henri Bergson
mitsamt dem Leben und dem Bewußtsein, das sie einschließt; man betrachte die ganze Natur, die Schöpferin neuer Arten mit ebenso originellen und ebenso neuen Formen wie die Zeichnung eines beliebigen Künstlers; man halte sich innerhalb dieser Arten an die Individuen, Pflanzen oder Tiere, deren jedes seinen eigenen Charakter hat, – ich möchte sagen, seine Persönlichkeit […] man gehe vom Einzelmenschen bis zu den Gemeinschaften über, in denen sich Handlungen und Situationen vergleichbar denen eines beliebigen Dramas abwickeln: wie könnte man dann noch von Möglichkeiten sprechen, die ihrer eigenen Verwirklichung vorausgingen?« (MW 123 f./Œuv. 1342 f., Hervorhebungen von S. K.).
Der Übergang zur Naturphilosophie findet nur auf dem ersten Blick abrupt statt. Bergson hat seine Argumentation, die zugegeben sehr indirekt ist, in der Kontinuität der Natur verankert. Nicht der Blick des kritischen Wissenschafts- und Erkenntnistheoretikers, dessen Interesse an den Grenzen des menschlichen kognitiven Vermögens endet, ist hier am Werk, sondern der nach dem Ganzen des Universums strebende Horizont des Naturphilosophen: Es ist die relationale Zusammengehörigkeit aller im Kosmos existierenden wirklichen Entitäten – der anorganischen Welt »mitsamt dem Leben und dem Bewusstsein« (s. Zitat) –, die ein Kontinuum ihrer Wesensverwandtschaft erfordert. Ohne kontinuierliche Übergänge des Wesens kann sich weder Bergson noch ein anderer Prozessphilosoph vorstellen, wie es z. B. zur Korrespondenz von Bewusstsein und neuronaler Materie kommen kann. Eine absolut zentrale These dieser modernen Metaphysik ist die Kontinuität der Intensität der Subjektivität im Kosmos durch Grade des mentalen Vermögens von wirklichen Entitäten. Aus diesem Grund sieht Bergson die Natur als kreatives Kunstwerk, womit ihr die Kategorie der ›durée‹ zukommt. Die Möglichkeiten der Natur können, aus Bergson’scher Sicht, keine zeitlosen Entitäten sein, die auf ihre Verwirklichung ›warten‹. Beachtet man die engste Verbindung von Möglichkeiten und physischen Universalien in modernen naturwissenschaftlichen Systemontologien – wie sie sich z. B. bei Zustandsräumen, die eigentlich Möglichkeitsräume sind, offenbart – dann ist es verständlich, dass Bergson den abstrakten Entitäten keine ontologische Relevanz zuspricht. Der Übergang von der Phänomenologie zur Naturphilosophie weitet sich konsequenterweise auf die Ontologie aus. Bergson kritisiert, dass im Universalienrealismus, ob Platonischer oder Aristotelischer Fassung, »der klassische Ansatz der Ontologie dem Unbeweg356 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Die naturphilosophische Relevanz der Dauer
ten eine zu starke Priorität gegenüber dem Bewegten zubilligt« (Köchy 1999, 125). Resultat dieser radikalen Abkehr von der ungeheuer plastischen Ordnung der Realität ist, dass »bestimmte Momente der Reihe künstlich überhöht werden«, sodass sie »als Quintessenz oder Wesenszug des Ganzen« gelten (ebenda 126). Andererseits sieht Bergson in der Stilisierung von extrem wenigen Momentaufnahmen (kinematographische Reduktion) des Werdens zu reinen universellen Formen, die diesem vorstehen würden, die eigentliche Quelle der alten Metaphysik. Diese sei »die natürliche Metaphysik des menschlichen Intellekts«, die aus den »kinematographischen Tendenzen von Wahrnehmung und Denken« folgt, um »der kontinuierlichen evolutiven Veränderung eine Reihe starrer, im Vorübergleiten Stück für Stück aufgefädelter Formen unterzulegen« (SchE 336/Œuv. 770). In dem Satz, »daß alles Physische verdorbene Logik ist […] faßt sich die gesamte Ideenphilosophie zusammen«, da diese nicht anders kann, als die ästhetische und rationale Kluft zwischen der Gewöhnlichkeit der meisten sinnlich erfahrbaren Tatsachen und der Formvollendung der gedanklich erfassbaren reinen Formen der Trägheit der Materie zuzuschulden (SchE 329/Œuv. 765). Neben jeder Form des Universalienrealismus werden auch Nominalismus und Konzeptualismus zurückgewiesen – zumindest bezüglich der Erklärung physischer Universalien, die aus der Wahrnehmung von Ähnlichkeiten zwischen physischen Objekten gewonnen werden. Bergson sieht in den Universalien nichts Ursprüngliches, sondern Produkte von Operationen – hierin stimmt er mit Nominalisten und Konzeptualisten überein. Er distanziert sich aber gewaltig von ihnen, indem er den Beginn der Erfindung von Universalien nicht erst in die spezifisch geistige Arbeit des Menschen platziert, sondern schon in die einfachste natürliche Prozessualität: »Weil die Salzsäure immer in der gleichen Weise auf den kohlensauren Kalk wirkt, er sei nun Marmor oder Kreide, wird man deshalb annehmen müssen, daß die Säure in den verschiedenen Arten die charakteristischen Züge einer Gattung unterscheidet? Nun, es besteht kein wesentlicher Unterschied zwischen der Operation, 26 durch die die Säure ihre Base aus dem Salze zieht, und der Tätigkeit der Pflanze, die aus dem verschiedensten Boden immer die gleichen Elemente herauszieht, die ihr zur Nahrung dienen sollen. Machen wir nun einen Schritt weiter und stellen wir uns ein rudiDie deutsche Übersetzung wurde hier verändert, weil es kein zwingender Grund besteht, ›opération‹ als ›Prozess‹ wiederzugeben.
26
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III · Ontogenetisches Werden bei Henri Bergson
mentäres Bewußtsein vor, wie vielleicht das der Amöbe, die sich im Wassertropfen bewegt: das Tierchen wird die Ähnlichkeit und nicht den Unterschied der verschiedenen organischen Substanzen empfinden, welche es sich assimilieren kann. Kurz, wir können vom Mineral zur Pflanze, von der Pflanze zu den einfachsten bewußten Wesen, vom Tier zum Menschen die Entwicklung des Fortschritts 27 (progrès) verfolgen, durch den die Dinge und die Wesen aus ihrer Umgebung herausgreifen, was sie anzieht, was sie praktisch interessiert, ohne daß sie es nötig hätten zu abstrahieren, einfach weil die übrige Umgebung sie nichts angeht 28: diese Identität der Rückwirkung auf Wirkungen, die nur oberflächlich verschieden sind, ist der Keim, welchen das menschliche Bewußtsein zu Allgemeinbegriffen (idées générales) entwickelt« (MG 155/Œuv. 299 f., Hervorhebung von S. K.).
Die Existenz eines kontinuierlichen Spektrums der Subjektivität, von der Aktivität primitivster mentaler Intensität des Anorganischen bis hin zum menschlichen Bewusstsein, wurde vor Bergson von Nietzsche ausformuliert, 29 der nicht selten als Prozessphilosoph betrachtet wird. Dieser Gedanke ist eine Wiederaufnahme der antiken Vorstellung eines Strebens in jedem natürlichen Werden – anorganischen, biologischen und psychischen –, allerdings befreit von der substanzmetaphysisch fundierten Teleologie dieser Zeit. Die spezifisch Bergson’sche Version des Kontinuums der Subjektivität führt zur Vorstellung der Nichtexistenz des Möglichen vor dem Wirklichen in der Natur und zur damit unmittelbar korrespondierenden eindeutigen Abwertung der ontologischen Relevanz von physischen abstrakten Entitäten. Dies hat gravierende Konsequenzen für die biophilosophische Relevanz der ›durée‹.
Auch hier wurde die Übersetzung verändert, da es nicht einzusehen ist, warum ›progrès‹ als ›Prozess‹ übertragen wurde. 28 Uexkülls Unterscheidung zwischen Umwelt und Umgebung könnte hier fruchtbar gemacht werden (siehe Abschn. 2.1.b von Kap. II). 29 »Der Wille zur Macht interpretirt: bei der Bildung eines Organs handelt es sich um eine Interpretation […] Der organische Prozess setzt fortwährendes Interpretiren voraus« (Nietzsche 1974, Fragment 2 [148]). »Der Mensch ist nicht nur ein Individuum, sondern das Fortlebende Gesamt-Organische in Einer bestimmten Linie. Daß er besteht, damit ist bewiesen, daß eine Gattung von Interpretation (wenn auch immer fortgebaut) auch bestanden hat, daß das System der Interpretation nicht gewechselt hat. ›Anpassung‹« (ebenda, Fragment 7[2], 12–17). Vgl. auch: Abel 2004, 214–222. 27
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Die naturphilosophische Relevanz der Dauer
2.2 ›Élan vital‹: Spirituelles, biologisches und kosmologisches Prinzip Der Begriff des ›élan vital‹ wird oft als ein Synonym für die Bergson’sche Philosophie betrachtet. Leider gab er auch den zahlreichen Kritikern Bergsons die Angriffsfläche für den gleichermaßen abgedroschenen wie auch ungerechten Irrationalismus-Vorwurf, mit dem einige seiner philosophischen Gegner, wie Bertrand Russell, sein Werk abgestempelt haben. Dass Bergson mit dem ›élan vital‹ eine vitalistisch konzipierte Potenz eingeführt hätte, ist ein Vorurteil, das in einem noch höheren Grad falsch ist, als es sich hartnäckig hält. Der Bogen, der sein gesamtes philosophisches Lebenswerk umspannt, ist, wie schon gesagt, die fortschreitende Ontologisierung der ›durée‹, die von einer ursprünglich psychologischen Wesenheit nach und nach zum Inbegriff aller biologischen, kosmologischen und kosmogonischen Prozessualität erhoben wurde. Dem Begriff ›élan vital‹ kommt eine fundamentale metaphysische Bedeutung zu, denn er ist ein anderer Name für die ›durée‹ des Universums, deren besondere Ausformungen die lebendige und die anorganische Realität sind. Ähnlich hat er innerhalb der Bergson’schen Biophilosophie eine nicht nur evolutionsbiologische Relevanz: Jeder Organismus und jeder einzelne seiner Prozesse sowie auch alle anorganischen Prozesse des Kosmos sind Konkretisierungen des ›élan vital‹. Bergson versteht den ›élan vital‹ als Prinzip einer universellen Subjektivität, das – bezüglich unseres Planeten – eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Evolution der Arten ist. Er ist der Antrieb, aber nicht die Steuerung des gesamt-biosphärischen Prozesses. Als ›durée‹ kann der ›élan vital‹ keinem ihm vorgegebenen Ziel, somit auch keinem (göttlichen) Plan folgen. Die Form seiner biologischen Manifestation muss sich aus seiner eigenen inneren Dynamik, d. h. während der Evolution und in direkter Abhängigkeit von ihr, allmählich herauskristallisieren. Besonders klar zeigt sich die Distanz zum Finalismus, oder substanzphilosophischen Teleologismus in der Überzeugung, dass der ›élan vital‹ sich nicht als harmonische Zusammenfügung, sondern als Sezession aktualisiert: Als unbewusster willensartiger Impuls agiert er – im Gegensatz zu vitalistisch konzipierten Faktoren – nicht unter der Herrschaft final- oder wirkursächlich-kausaler Faktoren, 30 sondern eröffnet prinzipiell unvorher30
Psycho- und neovitalistisch gedachte Faktoren sind ohne finalursächliche Kausali-
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sehbare Wege der Betonung von Tendenzen zu Lasten der ursprünglichen Verwandtschaft. Für Bergson sind das vegetative, animalische, instinktive und verstandesmäßige Leben Ausbildungen von divergierenden Tendenzen des ›élan vital‹, die sich in Wesensunterschieden niedergeschlagen haben (SchE 167/Œuv. 609 f.). Die Bergson’sche Prozessphilosophie erlaubt aber auch, den ›élan vital‹ als diejenige qualitative Heterogenität zu verstehen, die sich bei konkreten Lebewesen als einzelne organismische Prozesse metabolischer und entwicklungsbiologischer Natur manifestiert. Die Verwurzelung des einzelnen Lebewesens in dem zeitlichen Kontinuum des ›élan vital‹ verleiht ihm eine ungebrochene konkrete Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die – über die engen Grenzen seines Lebens hinausgehend – aus dem großen unteilbaren heterogenen Kontinuum der biosphärischen und der kosmischen Evolution schöpft: »[A]lle organischen Wesen, vom geringsten bis zum höchsten [sind], von den ersten Ursprüngen des Lebens ab bis zur Zeit, wo wir stehen, und in allen Räumen und allen Zeiten nur die Sichtbarwerdung eines einzigen […] und in sich unteilbaren Impulses« (SchE 286/Œuv. 724, Einfügung von S. K.).
Diese Vorstellung kann auch so interpretiert werden: In jedem Lebewesen greift die Gewesenheit seines gesamten eigenen Lebens, sowie auch des Lebens all seiner Vorfahren ein, was eine radikale Historisierung des Organismus-Begriffs bedeutet. Ihre Radikalität folgt aus der Konzeption des ›élan vital‹ als biosphärischem und kosmischem Faktor. 2.2.a
Der spirituelle und biologische Sinn von ›Leben‹ im Evolutionismus Bergsons
Im Werk Schöpferische Entwicklung kommt dem Ausdruck ›Leben‹, infolge seiner engen Anbindung an den ›élan vital‹, eine doppelte Bedeutung zu. Einmal bedeutet er die Gesamtheit aller vergangenen und gegenwärtigen Lebewesen des kontinuierlichen Stromes der Evolution. ›Leben‹ referiert andererseits auf ein spirituelles Prinzip, wie es durch folgende Metapher ersichtlich wird: tät undenkbar. Materialistisch gedachte Vitalismen gehen mit der WirkursachenKausalität blinder physischer Kräfte, deren Form die Ausformung der lebendigen Materie einseitig determiniert, einher (siehe Abschn. 2.3 von Kap. I).
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Die naturphilosophische Relevanz der Dauer
»Denken wir uns einen Behälter voll hochgespannten Dampfes und hin und wieder Spalten in der Gefäßwandung, durch welche der Dampf in Wolken entweicht. Dann verdichtet sich der in die Luft geschleuderte Dampf fast vollständig zu niederfallenden Wassertröpfchen, und diese Verdichtung und dieser Fall stellen den bloßen Verlust von etwas dar, eine bloße Unterbrechung, ein Defizit. Ein schwacher Teil jedoch der Dampfwolke beharrt unverdichtet, einige Augenblicke lang; und dieser macht eine Anstrengung, die fallenden Tröpfchen wieder emporzuheben. Jedoch ist, was er erreicht, höchstens eine Verzögerung ihres Falles. So mögen einem ungeheuren Behälter von Leben unablässig Wolken entfahren, deren jede, niederfallend, eine Welt ist. Und die Entwicklung der Lebewesen innerhalb dieser Welt würde verkörpern, was noch von der ursprünglichen Bewegung des Wurfes und von jenem Impuls beharrt, der sich im umgekehrten Sinn der Materialität auswirkt. […] wenn ich die Welt, worin ich lebe, betrachte, so erkenne ich die automatische und streng determinierte Entwicklung ihres wohl verknüpften Ganzen als entwerdendes Handeln, die unvorhergesehenen Formen dagegen, die das Leben in ihr umreißt, Formen, die sich selber in unvorhergesehenen Bewegungen fortsetzen, als werdendes Handeln« (SchE 266 f./Œuv. 705 f., Hervorhebungen von S. K.).
Bergson spricht in dieser sehr bildhaften Metapher von »einem ungeheuren Behälter von Leben«, aus dem die schöpferische Kraft entfährt. Diese entwird einerseits zur Materie und wird andererseits zum biologischen Dasein, das ein Versuch der Rückkehr zum Ursprung ist. In einer anderen Metapher heißt es: »Sind unsere Analysen richtig, dann ist es das Bewußtsein, oder besser Überbewußtsein (supraconscience), das am Ursprung des Lebens steht. Bewußtsein oder Überbewußtsein ist die Rakete, deren erloschene Schlacken als Materie niederfallen. Bewußtsein auch ist, was von der Rakete selbst, die Schlacken durchdringend und sie zu Organismen aufglühend, fortexistiert« (SchE 278/Œuv. 716, Hervorhebungen von S. K.).
Der ›élan vital‹ ist der entweichende ›heiße‹ Strom, der sich nach und nach in Materie verwandelt (›erkaltet‹). Aus dessen Auftreffen mit der ›kalten‹ Materie entsteht das biologische Leben als Versuch eines Auffangens, einer Inversion, einer Rückkehr in das eigentliche – weil ursprüngliche und dynamischere – aber nicht biologische Leben. Der ›élan vital‹ ist also nicht die Quelle des Kosmos, was auch aus beiden Metaphern eindeutig hervorgeht. Er entspringt seinerseits einem anderen Grund. Der ›élan vital‹ ist in mancher Hinsicht mit Plotins Begriff der Emanation vergleichbar. Plotin ist der einzige antike Philosoph, zu 361 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
III · Ontogenetisches Werden bei Henri Bergson
dem Bergson ein enges intellektuelles Verhältnis hat. 31 Der plotinischen Metaphysik zufolge entstammen alle in der Welt anzutreffenden Seienden dem Einen. 32 Dem Einen Plotins entsprechen in den Metaphern Bergsons der »Behälter von Leben« und die »Rakete«, die das Überbewusstsein symbolisiert. Plotin bezeichnet das Eine auch als das Gute und als Gott. Er ist der Welt transzendent und immanent, denn diese ist die von seiner Emanation erschaffene Realität. Gott ist allen Geschöpfen ganz gegenwärtig, er ist ihnen nah, ohne dass sie es wissen. 33 Der ›élan vital‹ entspricht nur insofern der plotinischen Emanation, dass er ein Sich-Ergießen des göttlichen Lebens ist. Das biologische Leben entsteht aus dem Zusammentreffen des spirituellen Lebens mit der Materie, die für Bergson – auch diesbezüglich Plotin nahstehend – eine aus dem Ursprung sehr entfernte, sehr gefallene Verwandlung der göttlichen Prozessualität ist. Über das spirituelle Leben des Urquells erfahren wir: »Gott […] hat nichts Abgeschlossenes. Unaufhörliches Leben ist er, ist Tat, ist Freiheit« (SchE 267/Œuv. 706). 34
Dieses Gottesbild hat allerdings zur Konsequenz, dass jeder Vergleich mit Plotin cum grano salis zu genießen ist. Die Bergson’sche Emanation – ein Begriff, den Bergson selbst nicht verwendet – kann nur im Sinne einer Entäußerung Gottes verstanden werden. Was jedoch von Gott emaniert, ist nicht, wie im Denken Plotins, die göttliche Vernunft, eine zeitlose Logik des ewigen höchsten Seienden (ὁ ὢν, ho on), sondern die Lebendigkeit des höchsten Prozesses. Was hier ›fällt‹ und ›entwird‹, ist nicht der absolute Geist, sondern die absolute Dynamik, die unbehinderte Prozessualität Gottes: die von keiner (in oder außerhalb ihrer Selbst vorhandenen) Substanzialität eingeDas wird in einem Brief an den Philosophen Antonin G. Sertillanges erwähnt (Sertillanges 1941, 45 f.). Bergson hat in seinen Vorlesungen Plotin viel ausführlicher als jeden anderen griechischen Philosophen behandelt. Er widmete Plotin eine Vorlesungsreihe an der École normale supérieure in den Jahren 1898–1899 (CPG 17–78). Die Nähe Bergsons zu Plotin wird auch von May (1970, 622 ff.) und Mossé-Bastide (1959) thematisiert. 32 Enneade IV, 1. 33 Vgl. auch: Heinemann 1921, 292. 34 Von Gott ist in Schöpferische Entwicklung nur an dieser einen Stelle die Rede. Bergson redet in fast allen seinen Werken nur sehr zögerlich von ›Gott‹, weil er, wie er in seinem Spätwerk Die beiden Quellen der Moral und der Religion schreibt, sich vom abstrakten, unpersönlichen ›Gott‹ der Philosophen distanzieren will (180/Œuv. 1180). 31
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Die naturphilosophische Relevanz der Dauer
schränkte Wesensbestimmung. Lebensphilosophisch gedachte Subjektivität ist nicht Geist, sondern heterogene Kontinuität. 2.2.b
Die lebendige Ewigkeit und ihre Emanation zu weltlichen Dauern
In Materie und Gedächtnis wird ein zentraler Gedanke der Ontologie Bergsons entwickelt: die enorme Vielzahl der qualitativ verschiedenen Ebenen der Dauern. In diesem Werk entfaltet er die für seine Ontologie sehr fundamentale These vom kontinuierlichen Spektrum der Intensität der inneren Spannung, die verschiedene Dauern haben können. Unter der ›Spannung‹ bzw. Tension (im Original: tension) einer Dauer ist ihre Fähigkeit zu verstehen, inhaltlich zu wachsen, ohne ihre Einheit zu verlieren, d. h. sich teilen zu müssen. 35 In Zeit und Freiheit findet man die These der Mannigfaltigkeit vieler Ebenen der Tension in einer anfänglichen, aber dennoch klar ausformulierten Gestalt: Am einen Ende dieses Spektrums, am untersten, befindet sich »unser oberflächliches psychisches Leben«, das in der Welt agiert, und am anderen »das innere Ich, das da fühlt und sich leidenschaftlich erregt […], (dessen) Zustände und Modifikationen sich aufs innigste durchdringen« (ZF 95/Œuv. 83, Hervorhebung von S. K.) und aus dem sich das erste als Endprodukt einer Abspannung der Dauer, eines progressiven Falls in die Ordnung des Nebeneinanders, herauskristallisiert. Je höher die Spannung bzw. Tension einer Dauer ist, desto langlebiger erscheint sie einem externen Beobachter, der ihr Leben in abstrakter Zeit misst. Gott als Freiheit muss als eine ›durée‹ gedacht werden, denn im Rahmen der Bergson’schen Ontologie vermag nur ein solcher Akt, sein Wesen selbst zu bestimmen. Da er der Welt gegenüber auch eine Beziehung der Immanenz aufweist und zugleich ein werdender Gott ist, kann sein Selbstvollzug unmöglich als einer von den weltlichen Prozessen isolierter gedacht werden. Die Einbeziehung der Welt in die göttliche Wesensbestimmung kann nur dann ein freier Akt sein – d. h. einer, dessen Reifung nicht von den weltlichen Tatsachen diktiert wird (was keineswegs Gleichgültigkeit für das Schicksal der Welt bedeutet) –, wenn Gott Bezug zur gesamten kosmischen Evolution Bergson betont, dass die Teilung jeder Dauer ein intern geregelter Prozess ist, denn »wenn es irgendwo mit der Teilung aufhört, so hört da auch die Teilbarkeit auf« (MG 205/Œuv. 341). Ihre Teilung ist nicht möglich, bevor sie wirklich wird.
35
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hat. Die göttliche ›durée‹ muss folglich die umfassendste, und somit die gespannteste, d. h. auch die kreativste aller Dauern sein. In Materie und Gedächtnis ist die Rede von einem solchen Prozess: »[W]ürde nicht die ganze Weltgeschichte für ein gespannteres Bewußtsein als das unsrige ist, ein Bewußtsein, das der Entwicklung der Menschheit beiwohnen könnte, indem es sie sozusagen in große Phasen zusammenzöge, in einer sehr kurzen Zeitspanne enthalten sein?« (MG 206/Œuv. 342, Hervorhebungen von S. K.).
May sieht in der ›durée‹ höchster Tension ein »limiting concept«, das auf eine Entität hinweist, die Bergson später ›Gott‹ genannt hat (May 1970, 636). In seiner Einführung in die Metaphysik von 1903 schreibt Bergson: »[D]ie Intuition unserer Dauer […] [bringt uns] in unmittelbaren Kontakt mit einer Kontinuität andersartiger Dauern, die wir nach unten oder nach oben im Sinne einer nachlassenden oder steigenden Spannung nachzuerleben versuchen: […] Im ersten Fall verlieren wir uns in einer sich immer mehr zerstreuenden Dauer, deren Herzschläge, weit schneller als die unsrigen, unsere einfache Empfindung zerteilen und die Qualität in Quantität auflösen: an der Grenze stände die reine Homogenität, die reine Wiederholung (répétition), durch die wir die Materialität (matérialité) definieren. In der anderen Richtung fortschreitend, gehen wir zu einer immer mehr sich anspannenden und verintensivierenden Dauer über, an deren Grenze die Ewigkeit (éternité) stünde. Aber nicht mehr die begriffliche Ewigkeit, die eine Ewigkeit des Todes ist, sondern die Ewigkeit des Lebens. Eine lebendige und infolgedessen bewegliche Ewigkeit (éternité vivante), in der unsere eigene Dauer sich wiederfinden würde […] und die gleichsam eine höchste Verdichtung einer jeden Dauer (concrétion de toute durée) ist, wie die Materialität ihre Auflösung und Zerstreuung bedeutet« (EM 210/Œuv. 1419, Einfügung und erste und dritte Hervorhebung von S. K.). 36
Es ist naheliegend, die Vorstellung der »Kontinuität andersartiger Dauern«, deren Tension mit wachsender Distanz zur ›durée‹ der lebendigen Ewigkeit nachlässt, mit der nur wenige Jahre später (1907) präsentierten Idee des ›élan vital‹ in Verbindung zu bringen. Konkrete und lebendige Ewigkeit ist das Überbewusstsein, das – wie auch Boethius dachte – die Entwicklung des Kosmos in einem Akt anhaltender Gegenwart begleitende Bewusstsein. 37 Aus Bergson’Auch Plotin redet vom Leben der Ewigkeit (Enneade III, 7). In den letzten Seiten von seinem Trost der Philosophie bringt Boethius ebenfalls die Ewigkeit Gottes mit der Vorstellung der Lebendigkeit in Verbindung: »Ewigkeit ist 36 37
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Die naturphilosophische Relevanz der Dauer
Abb. 3.1: Die Ausdehnung der horizontalen Pfeile repräsentiert das Vermögen der jeweiligen ›durée‹ anzuwachsen, ohne dabei das Ineinander-Sein ihrer Inhalte zu verlieren. Den längeren Pfeilen kommt also eine ›durée‹ höherer Spannung zu als den kürzeren. Jeder horizontale Pfeil zeigt die Unteilbarkeit der entsprechenden ›durée‹. Die senkrechten Pfeile repräsentieren den ›élan vital‹.
scher Sicht kommt ihm auch die Eigenschaft des universellen Gedächtnisses zu, das die entspannteren Prozesse miteinander verbindet. Die göttliche Subjektivität vermag die ganze Entwicklung des Kosmos in einer ihm aktuellen – also unmittelbar gegebenen, d. h. ohne die zeitliche Distanz zu Erinnertem – dauernden Gegenwart zu erleben: die gesamte Evolution des Universums in der unteilbaren Dauer der göttlichen Gegenwart. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass in der Bergson’schen Metaphysik Gott als ›durée‹ gedacht wird, welche in der vorliegenden Untersuchung als Prozess interpretiert wird, d. h. als Akt der eigenen Wesensbestimmung. Der Bergson’sche Gott ist eine wirkliche Entität, wie die weltlichen Dauern. Aufgrund seiner allumfassenden unteilbaren Dauer fungiert er als der fundamentalste Kontinuitätsgarant des Kosmos – sowohl in zeitlicher als auch in räumlicher Hinsicht. also der vollständige und vollendete Besitz unbegrenzbaren Lebens […] Was jedoch die ganze Fülle des unbegrenzbaren Lebens gleichzeitig umgreift und besitzt, dem weder etwas an Zukünftigen abgeht noch vom Vergangenen verflossen ist, das wird mit Recht als ewig aufgefaßt, und das muß notwendigerweise, seiner selbst mächtig, immer als ein Gegenwärtiges in sich verweilen und die Unendlichkeit der bewegten Zeit als eine Gegenwart vor sich haben« (2005, 141 f.).
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Denn es ist seine Individualität, die bewirkt, dass der emanative Hervorgang der Welt aus ihm auf der Ebene der Materialität eine Ordnung des raumzeitlichen Neben- und Nacheinanders aufweist. Dank der Verbindung von Prozessualität und alles umspannender Zeitlichkeit ist er eine lebendige Ewigkeit. 2.2.c
Die protomentale Aktivität der Materie als zeitlichheterogene Kontinuität
Wendet sich unsere Intuition dem anderen Ende des kontinuierlichen Spektrums der Dauern zu, »die wir nach unten oder nach oben […] nachzuerleben versuchen« können (s. letztes Zitat), dann steigt sie die Leiter der inneren Spannung bzw. Tension der Dauern ab und begegnet immer einfacheren von ihnen. Am unteren Ende verliert sie sich im Reich der anorganischen Materialität der sich unablässig nacheinander wiederholenden quantenphysikalischen Schwingungen der Elementarteilchen. Dagegen vollziehen sich in einer Ebene hoher Tension Prozesse, die sich kaum auf Naturgesetze und Algorithmen der Berechenbarkeit reduzieren lassen. Wenn die Spannung, die ein Synonym für Kreativität ist, nachlässt, können die Prozesse mit zunehmender Genauigkeit vorhergesagt werden. Auch wenn jeder dieser Prozesse in sich ein konkretes, d. h. heterogenes und unteilbares Kontinuum ist, wird die Dauer dieser – von außen gesehen – immer kurzlebiger. Um nur ein Beispiel zu nennen: Während eines psychologischen Prozesses, dessen Dauer und das an ihr gebundene Gefühl von ungeteilter Gegenwärtigkeit – in abstrakter Zeit gemessen – wenige Sekunden anhält, sind die Dauern der Moleküle des Gehirns Prozesse, die ungleich kürzer anhalten und sich als materielle Vibrationen äußern. Die Emanation des élan vital aus der lebendigen Ewigkeit geht in eine zunehmende Verräumlichung über. Dieser Ausdruck, wie er im zweiten und vierten Kapitel der vorliegenden Studie verwendet wird, besagt den Übergang von der Ordnung des wesenhaften Ineinanders zur Ordnung des wesenhaften Nebeneinanders und seiner raumzeitlich lokalisierten Erscheinung, und damit den Verlust der internen Relationalität. Die Materie des Kosmos ist Resultat der Verräumlichung der höchsten ›durée‹ : »Eine schöpferische Energie, die Liebe wäre, […] könnte auf diese Weise Welten aussäen, deren Stofflichkeit (matérialité), insofern sie der göttlichen
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Die naturphilosophische Relevanz der Dauer
Geistigkeit (spiritualité divine) entgegengesetzt ist, einfach den Unterschied bezeichnen würde zwischen dem, was geschaffen ist und dem was schafft, zwischen den nebeneinandergesetzten Noten der Symphonie und der unteilbaren Emotion (émotion indivisible), die jene Noten aus sich herausströmen ließ« (MR 199/Œuv. 1193).
Die weltlichen wirklichen Entitäten fallen nicht mit Gott zusammen: »Wesen sind ins Dasein gerufen worden, die bestimmt waren zu lieben und geliebt zu werden, da die schöpferische Energie als Liebe definiert werden muß. Diese von Gott, der jene Energie selber ist, verschiedenen Wesen konnten nur in einem Weltall entstehen, und deshalb mußte auch das Weltall entstehen« (MR 200/1194). 38
Bergson führt also keinen Pantheismus ein, 39 sondern steht, aufgrund der angenommenen Teilhabe der lebendigen Ewigkeit an allen Seienden, dem Panentheismus Whiteheads nah. 40 Die Vorstellung, dass die Materie Dauer ist, bringt mit sich, dass materielle Prozesse selbst-schöpferisch sind. Das ist aus Materie und Gedächtnis nicht ohne jegliche Anstrengungen herauszulesen und in der Sekundärliteratur ist die kreative Kraft, die Bergson in diesem Werk der Materie eigentlich zuspricht, nicht immer ausreichend beachtet worden. 41 Dennoch schließt sich Materie und Gedächtnis der Reihe solcher philosophischer Werke an, die für den Indeterminismus der Natur argumentieren und diesen auf ein kreatives Element, das schon in der anorganischen Materie wirkt, zurückführen. Wie können sonst folgende Stellen interpretiert werden? »[D]ie materielle Welt selbst [ist] eine Art Bewußtsein (conscience), ein Bewußtsein, in dem sich alles ausgleicht und neutralisiert« (MG 234/Œuv. 365, Einfügung von S. K.). »[D]ie konkrete Bewegung [der Materie], die imstande ist wie das Bewußtsein, ihre Vergangenheit in ihre Gegenwart zu verlängern […] [ist] schon Vgl. auch: May 1970, 642. Jacques Maritain wirft Bergson vor, dass seine Metaphysik keine deutliche Trennung zwischen Gott und Welt zulässt. Bergson betont in einem Brief von 1912 an Joseph de Tonquédec, der Bergson Monismus vorwirft, dass Gott die Quelle der ›élans‹ (Pluralbildung im Originaltext) ist und daher getrennt und unabhängig von der Welt existiert (May 1970, 638). 40 Siehe Abschn. 2.4.b von Kap. IV. 41 So schreibt z. B. Merleau-Ponty, auf dieses Buch Bezug nehmend, dass die Materie »über der Dauer steht und sie nicht braucht, um zu sein: Sie ist in allen Momenten immer gleich« (2000, 89). 38 39
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III · Ontogenetisches Werden bei Henri Bergson
etwas vom Bewußtsein, schon etwas von der Empfindung. Sie ist die Empfindung (sensation) selbst, nur verdünnt (diluée) und auf eine unendlich viel größere Anzahl von Augenblicken verteilt, die Empfindung selbst vibrierend« (MG 247/Œuv. 376, Einfügungen von S. K.).
Bergson spricht der Materie ein kreatives Element zu, das jenseits der Mathematik zu suchen ist, da diese immer irgendeine Form von Verräumlichung voraussetzt. Die Heterogenität materieller Entitäten besteht nicht in der Vielfalt ihrer Eigenschaften, sondern in Prozessualität. Der bekannte Bergson-Forscher Milič Čapek spricht im Zusammenhang mit den Dauern der materiellen Ebene der Existenz von physischen Ereignissen als protomentalen Entitäten, 42 was den Kern der Materie-Theorie Bergsons sehr prägnant wiedergibt. Die Dauer eines materiellen Prozesses (z. B. der Emission eines Photons von einem Atom) ist sehr stark verdünnt (diluée); sie kollabiert jedoch nicht zu einem Zeitpunkt, womit ihr eine Spur von Kreativität innewohnt. Der Materie wird ein Gedächtnis zugesprochen, dessen ›Lebenslänge‹ zwar, verglichen mit der des kürzesten menschlichen Bewusstseinsprozesses, verschwindend ist, 43 aber keine infinitesimal kleine Instantaneität erreicht. 44 Čapek sieht ebenfalls, dass Bergson der physikalischen Welt ein Element der Heterogenität und ein Element des Gedächtnisses zuspricht. Gerade im Letzteren bestehe die Basis des Panpsychismus Bergsons, denn es ist kaum möglich, von Entitäten mit Gedächtnis zu sprechen, ohne ihnen ein mentales Element zuzuweisen (Čapek 1971, 302). 45 Dies spricht Bergson in Dauer und Gleichzeitigkeit klar aus: »Physical Events as Proto-Mental Entities« ist der Titel des vierzehnten Kapitels seines in der Bergson-Forschung bekannten Buches Bergson and Modern Physics (1971, 302). 43 Als kürzeste Lebensdauer eines menschlichen Bewusstseinsprozesses nimmt Bergson, Exner folgend, eine Länge von zwei Tausendstel einer Sekunde an (MG 204/ Œuv. 341). 44 Bergsons Vorstellung von der Dauer der Materie weicht deutlich von der Leibniz’schen Vorstellung der Materie als »mens momentanea« ab (Čapek 1971, 303). Čapek meint jedoch: »[T]he organic theory of nature has its roots in Leibniz’s monadology« (ebenda 309). Zur organischen Theorie der Natur zählt er neben der Naturphilosophie Bergsons die Metaphysik Whiteheads. 45 Nicht jeder Interpret Bergsons sieht dessen Materie-Theorie als eine panpsychistische. Der bekannteste amerikanische Bergson-Forscher und Prozessphilosoph Pete A. Y. Gunter warnt vor einer solchen Interpretation (Gunter 1971, 538). Der ebenfalls bekannte Lawrence W. Howe versteht andererseits Bergsons Theorie der Materie als 42
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Die naturphilosophische Relevanz der Dauer
»Ohne ein elementares Gedächtnis, das [zwei] Zeitpunkte miteinander verbindet, wird es nur den einen oder den anderen der beiden geben, und somit nur einen einzigen Zeitpunkt (instant), kein Vorher und Nachher, keine Zeitfolge, keine Zeit. Diesem Gedächtnis wird man nur genau das zuschreiben können, was es braucht, um die Verbindung herzustellen […] Nichtsdestoweniger wird man ein Gedächtnis eingeführt haben. In Wahrheit ist es unmöglich zwischen der Dauer, die zwei Zeitpunkte voneinander trennt (wie kurz sie auch immer sein mag), und einem Gedächtnis zu unterscheiden, das sie miteinander verbindet 46 […] [Die Dauer] ist die wirkliche, das heißt die wahrgenommene und gelebte Zeit. […] Dauer impliziert also Bewusstsein; und wir legen den Dingen allein schon dadurch Bewusstsein zugrunde, daß wir ihnen eine Zeit zuschreiben, die dauert« (DG 131 f., Einfügungen und Hervorhebungen von S. K.).
Natürlich handelt es sich dabei nicht um ein anthropomorphes Bewusstsein, sondern um eine unpersönliche primitive Subjektivität, der geringe Vielfalt und Intensität des Erlebens zukommt (ebenda). Bergson spricht also der Materie einen elementaren protomentalen Widerstand gegen die reine Notwendigkeit zu, die sich in einer passiv fortgesetzten Befolgung wirkursächlich-kausaler Gesetzmäßigkeiten zeigt. Diese protomentale Kreativität der Materie verbietet einem externen Beobachter, die ›durée‹ eines mikrophysikalischen Prozesses, der, von außen gemessen, ein sehr kurzes Δt anhält, in unendlich kleine dt’s – die als solche mit keinen Dauern korrespondieren können – zu zerteilen. Die mikrophysikalische Materie existiert als endlich kleine Zeitquanten (Δt’s), sodass es absolut unmöglich ist, ein beliebig kleines zeitliches Intervall auszuwählen, in dem man in die Materie hinein schauen kann, um sie als ein Seiendes bestimmter Beschaffenheit zu entdecken. Denn sie würde sich nicht als in einem konkreten Zustand seiend präsentieren, da sie eben nicht in infinitesimal kleinen dt’s existiert. Bei der ›Zeitmikroskopie‹ gibt es ontologisch und nicht bloß epistemologisch bedingte Grenzen des ›Auflösungsvermögens‹. Zu Recht verweist Čapek auf die Übereinstimmung zwischen Bergson und Whitehead bezüglich dieses Punktes und macht klar, welchen Einfluss ersterer auf letzteren dabei hatte (1971, 302–308). eine, in der physische Ereignisse »possess a minimum of psychic activity« (1993a, 57) und betont: »[A] primitive mind is operative even at the lowest stratum of reality« (1993b, 48), womit er sich Čapek anschließt. 46 Vgl. auch: Howe 1999, 45: »[A]ny account of duration must also include a mnemonic aspect«.
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III · Ontogenetisches Werden bei Henri Bergson
Von Bergson beeinflusst, sieht auch Whitehead das Δt eines elementaren materiellen Prozesses als eine kreative Erlebens-Gegenwart, eine »vibration of organic deformation« (SMW 166/dt. 159): Die materiellen Vibrationen der Elementarteilchen halten ein bestimmtes Δt an, innerhalb dessen eine Wesensbestimmung stattfindet, weshalb es nicht möglich ist, dieses Zeitquantum weiter zu teilen. »This system, forming the primordial element, is nothing at any instant. It requires its whole period in which to manifest itself. In an analogous way, a note of music is nothing at an instant, but it also requires its whole period in which to manifest itself. […] If we divide time into smaller elements, the vibratory system as one electronic entity has no existence« (SMW 46/dt. 51).
Im Jahr 1925, ermutigt von der damals noch sehr jungen Quantentheorie, bringt Whitehead sehr präzise auf den Punkt, was Bergson fast dreißig Jahre zuvor vermutet hat: Innerhalb eines bestimmten Δt ist die Materie nicht raumzeitlich lokalisiert. Erst mit dem Abschluss seiner Wesensbestimmung ist ein mikrophysikalischer Prozess etwas bestimmtes, das sich als ein raumzeitlich lokalisiertes Datum aktualisieren kann und wird. Deswegen kann die Elementardauer seiner Wesensbestimmung nicht näher aufgelöst werden. Čapek fasst die Gedanken beider Philosophen bezüglich der Unteilbarkeit des materiellen Werdens wie folgt zusammen: »No process can be pinned down at an instant for the simple reason that there are no instants at all« (1971, 310). 47
Trotz dieser offensichtlichen Gemeinsamkeit darf dennoch nicht übersehen werden, dass Whitehead nicht in erster Linie phänomenologisch, sondern logisch die Unteilbarkeit des Werdens materieller Prozesse ableitet, was ihn zu einem anderen Resultat führt: Ein Zeitquantum bestehe nicht in einer ›durée‹, sondern in einer Epoché. 48 Es drängt sich die Frage auf, was die aufeinanderfolgenden Δt’s der einzelnen mikrophysikalischen Prozesse miteinander verbindet, sodass sie sich zur abstrakten zeitlichen Kontinuität makroskopischer Abläufe addieren. Das elementare Gedächtnis eines mikrophysika-
Die Lösung der Schrödinger-Gleichung für ein Quantenteilchen zeigt die Entwicklung seiner Wahrscheinlichkeitsverteilung für infinitesimale dt’s an. Das ist aber nicht der aktualisierte Zustand der Materie, wie er sich nach einer Messung zeigt. 48 Siehe Abschn. 2.3.d.1 von Kap. IV. 47
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Die naturphilosophische Relevanz der Dauer
lischen Prozesses beschränkt sich nur auf dessen Dauer, der (von außen betrachtet und gemessen) einem abstrakten Zeitquantum Δt entspricht, und kann aufgrund dieser Begrenzung nicht die Verbindung zu seinen unmittelbaren Nachbarn herstellen. Es ist also nötig, dass etwas die aufeinanderfolgenden Dauern der materiellen Ebene miteinander verbindet. Die Verbindung zwischen zwei Prozessen, die auf derselben Ebene der Tension nacheinander stehen, kann nur durch ein Gedächtnis geleistet werden, das eine gespanntere Tension hat, d. h. auf einer höheren Ebene des Spektrums der Emanation der Dauern steht und die entspannteren Prozesse umfasst (s. Abb. 3.1). Diese Überlegung, die auf jeder höheren Ebene wiederholt werden kann, verweist schließlich auf das göttliche Gedächtnis als letzten Grund der Ordnung der nicht göttlichen Dauern aller Ebenen zueinander. 2.2.d
Die doppelte Heterogenität des konkreten Kontinuums der Dauern eines Lebewesens
Die Dauer ist ein Kontinuum, das »sich als Selbstveränderung definiert« (Deleuze 1997, 117). Seine Inhalte weisen keine Grad- oder Intensitätsunterschiede, d. h. keine quantitativen Unterschiede, zueinander auf, sondern Wesensunterschiede. Zwischen der Dauer und dem Raum besteht also ein Unterschied zwischen zwei Weisen der Existenz: dem Prinzip der Wesensunterschiede (heterogene Kontinuität) und dem Prinzip der graduellen Unterschiede (homogene Kontinuität) (ebenda 46). In Materie und Gedächtnis wird die psychischleibliche Seinsweise als die gleichzeitige Koexistenz sehr vieler Ebenen verstanden, die zwischen der reinen Dauer und dem reinen Raum liegen: »Zwischen beiden gibt es alle Schattierungen des Unterschieds, oder, wenn man lieber will, den Unterschied in seinem ganzen Wesen. Die Dauer ist lediglich der höchste Kontraktionsgrad der Materie, die Materie ist der höchste Abspannungsgrad der Dauer. Darüber hinaus ist die Dauer gleichsam auch eine natura naturans und die Materie eine natura naturata. Graduelle Unterschiede sind der niederste Grad des Unterschieds; Wesensunterschiede sind die Differenz in ihrer höchsten Vollendung. […] Alle Grade koexistieren in einem selben Wesen, das sich einerseits in Wesensdifferenzen, andererseits in graduellen Differenzen ausdrückt« (Deleuze 1997, 117 f.).
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Deleuze folgend, kann im zweifachen Sinne von Wesensunterschieden die Rede sein: erstens innerhalb des heterogenen Kontinuums einer einzigen ›durée‹, und zweitens innerhalb der dazu ›vertikalen‹ Richtung der Emanation (s. Abb. 3.1). Es gibt also Wesensunterschiede auch zwischen den verschiedenen Ebenen der Tension der Dauer. Der ›élan vital‹ erzeugt ein ›vertikal‹ ausgerichtetes Kontinuum der Wesensunterschiede. Die oberste Ebene der ›durée‹ eines Menschen ist das unteilbare Kontinuum seines gesamten Lebens, das den einheitlichen biographischen Prozess seiner psychophysischen Reifung darstellt. Die Dauern der niedrigeren Ebenen sind Teilprozesse des menschlichen Lebens. Die langlebigsten von ihnen umspannen ganze Lebensphasen, während die kürzeren in konkreten Ereignissen bestehen, von denen wiederum die kurzlebigsten der letzten Ebene die mikrophysikalischen Schwingungen der molekular-atomaren Materie des menschlichen Körpers darstellen. Bildhaft gesprochen: Aus dem ›Faden‹ (wie eine ›durée‹ metaphorisch bezeichnet werden kann) der qualitativen Mannigfaltigkeit, die jede einzelne der Dauern darstellt, wird ein ganzer ›Teppich‹ von dicht beieinander liegenden ›Fäden‹ gewoben. Viele Ebenen unterschiedlichster Tension der Dauer sind im selben Menschen koexistent; zwischen ihnen besteht eine qualitative Mannigfaltigkeit. Im Rahmen der Bergson’schen Lebensphilosophie muss natürlich jedem Lebewesen eine qualitative Mannigfaltigkeit des Spektrums der Prozesse zugesprochen werden. Diese Mannigfaltigkeit verbietet, ausgehend von der Struktur einer Ebene, die der ihr benachbarten vorherzusagen. Beim Durchschreiten der verschiedenen Ebenen bleibt also nicht eine bestimmte Qualität erhalten, die einem externen oder internen Beobachter erlauben würde, ein durchgehendes Gesetz der Übersetzung der einen Ebene der Tension in die andere abzuleiten. Es wiederholt sich also dasselbe, was innerhalb der reinen Sukzession der Erlebensmomente eines einzigen ›Fadens‹ geschieht: Der ›vertikale‹ Übergang von einem längeren ›Faden‹ zu einem kürzeren ist wegen der zwischen den Ebenen herrschenden Heterogenität genauso wenig algorithmisch bzw. formal zu beschreiben und vorherzusagen wie der Übergang von einem Erlebensmoment zum darauffolgenden innerhalb einer und derselben ›durée‹ vorauszuerleben ist.
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Die naturphilosophische Relevanz der Dauer
2.3 Die Bergson’sche Modallogik Im Zuge seiner Kritik an dem Begriff der Möglichkeit hat Bergson den Grundriss einer eigenen Konzeption der Modalität entwickelt. Deleuze hat die Bergson’schen Vorstellungen in eine gut ausformulierte Theorie der Virtualität verdichtet, was dazu geführt hat, dass die genuin Bergson’schen Ideen zu dieser Thematik meistens Deleuze zugeschrieben werden. Bergson hat den Begriff der Virtualität nicht eindeutig definiert; nichtsdestoweniger benutzt er ihn in einigen Passagen seines Gesamtwerkes in einer Art und Weise, die der Deleuzschen Spezifizierung entspricht. Dreh- und Angelpunkt der phänomenologischen Modallogik Bergsons ist die Gewissheit, dass die Vorstellung der Vorexistenz ideeller Formen, die in die Wirklichkeit treten, dem Wesen der Dauer als heterogenem Kontinuum der eigentlichen Zeit widerspricht. Würde der Selbstvollzug der ›durée‹ im Modus der Verwirklichung von Möglichkeiten vonstatten gehen, so wäre dies kein wirklich kreativer Prozess. Vrhunc bringt dies genau auf den Punkt: »Das Virtuelle aktualisiert sich in einem Prozess der Differenzierung und des schöpferischen Hervorbringens, in dem auch die Wirklichkeit seiner Ausformung erst entsteht und in dem es insbesondere eine unvorhersehbare Form erlangt […] In diesem Sinne ist die Virtualität keine Möglichkeit und wird sie auch nicht verwirklicht, sondern aktualisiert. Nur durch das Verhältnis von Virtualität und Aktualisierung läßt sich die schöpferische Spannung bewahren, die in dem Verhältnis von Möglichkeit und Verwirklichung untergehen würde« (2002, 236–238).
Die heterogene Kontinuität der Wesensbestimmung einer Dauer kann nicht vor ihrem Selbstvollzug als ›leere‹ Form existieren, die mit konkretem Erleben ›gefüllt‹ werden muss. Genauso wenig kann die Form des protomentalen Erlebens natürlicher Prozesse vor deren Selbstvollzug ideell existieren, geschweige von einem Algorithmus errechnet werden. »Während vom Wirklichen gedacht wird, es realisiere das Mögliche nach dessen Bild und hätte ihm zu gleichen, ähnelt das Aktuelle dem Virtuellen, das es verkörpert, hingegen nicht« (Deleuze 1997, 123).
Der Erlebensprozess wird erst durch seine Selbstgestaltung möglich. Aber durch einen Akt der Abstraktion wird ihm im Nachhinein Wirklichkeit abgezogen, sodass in der gedanklichen Reflexion nur
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eine begriffliche ›Hülle‹ übrig bleibt, die in die Vergangenheit projiziert wird. Diese Überlegungen müssen natürlich auch auf die ›vertikale‹ Richtung der kosmischen Prozessualität (vgl. Abb. 3.1) entsprechend angewandt werden. Das emanative Hervorgehen der Ebenen der Tension, die zwischen der göttlichen und der mikrophysikalischen Dauer liegen, kann weder einem ›Programm‹ noch einem oder mehreren statischen Gesetzen oder etwas ähnlichem folgen, das die Präexistenz seiner Form bedeuten würde. Die Prozessphilosophie Bergsons lässt die für das substanz- und systemontologische Denken essentielle Vorstellung, dass jedes Werden eine ideell präexistente Form verwirklicht, eindeutig hinter sich zurück, und führt eine Modallogik ein, die sich von der MöglichkeitWirklichkeit-Logik der Final- bzw. Wirkursachen-Kausalität explizit distanziert. 2.3.a
Das Paar Virtualität-Aktualisierung
Die Virtualität – im Sinne von Deleuze und Bergson – ist ein besonderer Modus der Existenz: Ein in sich aktives Seiendes, das real ist, ohne in der Raumzeit aktualisiert zu sein und das vollkommen unabhängig vom aktuell Seienden besteht. Die Aktualisierung des Virtuellen ist eine besondere Art des Kreierens von etwas, das Aktualität, d. h. Gegenwärtigkeit und folglich direkte oder indirekte kausale Relevanz besitzt. Bergson hat ein deutlich anderes Verständnis von Virtualität als Leibniz. In seinem Werk Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand kritisiert dieser Lockes Auffassung von der Bewusstheit aller Ideen. Dort ist auch vom Virtuellen die Rede: Die sogenannten ›Vernunftwahrheiten‹, z. B. die der Mathematik, seien dem Menschen nicht angeboren, sondern eingeboren. Leibniz zufolge dürfe man sagen, »daß die ganze Arithmetik und die ganze Geometrie eingeboren und auf eine virtuelle Weise in uns sind, derart, daß man sie, ohne sich einer durch Erfahrung […] begriffenen Wahrheit zu bedienen, dort finden kann, wenn man aufmerksam nachdenkt und das ordnet, was man schon im Geiste hat« (1996d, I, 1, § 5; Hervorhebung von S. K.). Alle von der Empirie unabhängigen Wahrheiten würden nicht wie die gespeicherten Informationen eines Computers abgerufen, sondern durch geistige Anstrengung in der Vernunft entfaltet – der Mensch habe eine Disposition dazu. Im Werk Metaphysische Ab374 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Die naturphilosophische Relevanz der Dauer
handlung heißt es, dass eine Person ihre eigene Zukunft virtuell in sich enthält, wie die Eigenschaften des Kreises in seiner Definition enthalten sind (Leibniz 1985, 29 (§ 13)). Der Unterschied zwischen Bergsons und Leibniz’ Auffassung von Virtualität besteht hauptsächlich darin, dass die Bergson’sche Aktualisierung des Virtuellen weder das Denken zu einer notwendigen Wahrheit noch einen natürlichen Prozess zu einer bestimmten physischen Form führt. 49 So bringt z. B. die Aktualisierung des ›élan vital‹ in der Evolution keine in der Phylogenese der Arten angelegten Formen von Lebewesen hervor, die möglich waren, bevor sie wirklich wurden, wie einige Systembiologen denken. 50 Der Ausgang ist offen und das im tiefsten ontologischen Sinne des Wortes. Dasselbe gilt für die neben der Entfaltung des ›élan vital‹ zweite Art der Aktualisierung des Virtuellen in der Bergson’schen Metaphysik: die Erinnerung. Es sind die Inhalte der als virtuelles Seiendes weiterhin existierenden Vergangenheit – genauer: Gewesenheit –, die sich aktualisieren. Da der Erinnerungsakt kein Abruf von Gespeichertem sein kann, denn eine statische Konservierung der Vergangenheit widerspricht dem Wesen der Dauer als Selbstveränderung, muss er als eine Neuformung des Gewesenen gedacht werden. Bergsons Gedanken über die Aktualisierung des Virtuellen können erst dann ihre volle Bedeutung entfalten, wenn sie mit seiner kritischen Behandlung von »dem allgemeinen metaphysischen Problem der Kausalität« in Verbindung gebracht werden (GA 170/Œuv. 959): »Zwischen wirkender Ursache und Endursache gibt es meines Erachtens etwas Mittleres, eine Form der Aktivität, aus der die Philosophen (durch Verwässern und Auflösen und durch Übergang zu den beiden entgegengesetzten äußersten Grenzen) einerseits den Begriff der wirkenden Ursache und andererseits den Begriff der Endursache abgezogen haben. Dieses Verfahren […] besteht im graduellen Übergang vom weniger Realisierten zum stärker Realisierten, vom Intensiven zum Extensiven, von gegenseitigem Ineinander der Teile zu ihrer Aneinanderreihung« (ebenda).
Die Theorie der Virtualität hängt offensichtlich mit der Bergson’schen Kritik der Mechanismus-Finalismus-Dualität zusammen, die in der Philosophie des Lebendigen vorherrscht: Die endgültige HeWie es in einem Bergson’schen Kosmos zu mathematischen und anderen Erkenntnissen dieser Art kommen kann, muss hier offen bleiben. 50 Siehe Abschn. 2.1 von Kap. II. 49
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III · Ontogenetisches Werden bei Henri Bergson
rauskristallisierung von klar voneinander abgegrenzten kausalen Faktoren, die Wirk- oder Zweckursachen sind, ist erst das Ende der Aktualisierung des Virtuellen und nicht ihr Beginn. Die lebendigen Prozesse entfalten sich folglich weder durch die Vorgabe von ideellen Formen antiker Gattungen, worunter auch das Aristotelische Form(eidos)-Materie- und das vitalistische und neovitalistische Seele-Körper-Denken fallen (substanzontologische Zweckursachen-Kausalität), noch unter dem Diktat von durch Naturgesetze und emergente Gesetze berechneten Formen systemischer Abläufe (systemontologische Wirkursachen-Kausalität). 2.3.b
Jenseits der Limitation von Möglichkeiten
Im Gegensatz zu den Aktualisierungsprozessen der Dauer einer bestimmten Ebene und des ›élan vital‹ gehorcht die Verwirklichung des Möglichen zwei allgemeinen Regeln: »[Sie] verfährt nach Gleichartigkeit und ist limitativ« (Deleuze 1997, 122; Einfügung von S. K.). Die erste Regel: »[V]om Wirklichen wird gesagt, es sei das Bild des Möglichen […] das hat man auf die Formel gebracht, vom Begrifflichen her bestehe zwischen Möglichem und Wirklichem kein Unterschied« (ebenda, Hervorhebung von S. K.). Die zweite Regel: »[D]a sich nicht alle Möglichkeiten realisieren, beinhaltet die Realisation eine Limitation, durch die man bestimmte Möglichkeiten zurückdrängt und verhindert wähnt, während andere ins Wirkliche ›übergehen‹« (ebenda, Hervorhebung von S. K.).
Ein Aktualisierungsprozess ist dagegen kein Limitationsprozess: »Das Virtuelle hingegen hat sich […] zu aktualisieren; und die bestimmenden Regeln der Aktualisierung sind nicht mehr Gleichartigkeit und Limitation, sondern Unterschied oder Divergenz sowie schöpferisches Hervorbringen. Wenn sich bestimmte Biologen auf einen Begriff von biologischer Virtualität oder Potentialität stützen und dabei dann meinen, diese Potentialität aktualisiere sich durch bloße Limitation ihres allgemeinen Gehalts, bringen sie offensichtlich Virtuelles und Mögliches durcheinander. Denn das Virtuelle kann, um sich zu aktualisieren, nicht auf das Verfahren zurückgreifen, etwas auszuscheiden oder zu limitieren, sondern muß seine eigenen Aktualisierungslinien in positiven Akten erschaffen […] Kurz, Virtualität hat die Eigenart, in der Weise zu existieren, daß sie sich differenzierend aktualisiert und daß sie, um aktuell zu werden, sich zu differenzieren und ihre Differenzierungslinien erst zu schaffen hat« (ebenda 122 f.).
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Die naturphilosophische Relevanz der Dauer
Bezüglich der ›vertikalen‹ Ausrichtung der kosmischen Evolution bedeutet dies, dass die Aktualisierung der Virtualität ein Akt des Schaffens von Abspannungsweisen der ›durée‹ ist, der auf der Ebene der niedrigsten Tension zu Formen der Ordnungen des Nebeneinanders, also zu materiellen Ganzheiten mit ihren Naturgesetzen führt. Das Kontinuum dieser Seinsweisen ist aber nicht ideell vorexistent, denn es ist heterogen. Nur wenn es homogen wäre, würden die Formen seiner Abspannungen vor dem Prozess existieren. Man wüsste dann, wie die Ebene einer Tension der Dauer in die einer anderen zu ›übersetzen‹ wäre, noch bevor die Emanation stattgefunden hätte. Gäbe es verschiedene im Voraus existierende Möglichkeiten der ›Übersetzung‹, dann müssten die Limitationen dieser Möglichkeiten noch hinzukommen und die Prozessontologie Bergsons würde dann konsequenterweise in eine Theorie der ideell präformierten möglichen Welten übergehen. Wäre das ›vertikale‹ Kontinuum der Emanation homogen, so könnte die erste Ebene der göttlichen Tension, durch alle Zwischenebenen hindurch, in eine Vielzahl von möglichen materiellen Welten übersetzt werden. Die Entstehung eines Universums mit bestimmten Naturgesetzen und materiellen Elementareinheiten würde dann einer limitativen Auswahl der besten (oder nicht) aller möglichen Welten gleichen, wie Leibniz dachte. Von einer Metaphysik solchen Profils hat sich Bergson ausdrücklich distanziert, denn ihr fehlt die Präzision. Die philosophischen Systeme sind nicht der Realität, in der wir leben, angepasst, sodass man in ihren abstrakten Konstruktionen »neben dem Wirklichen alles Mögliche und selbst Unmögliches unterbringen kann« (E1, 21). Vor diesem Hintergrund kann ein ontogenetischer Lebensprozess erst nach seiner Aktualisierung als ein abstrakt-räumlicher physikochemischer Ablauf beschrieben werden. Die Möglichkeit-Wirklichkeit-Dyade ist die modale Logik des Berechnens von Abläufen in unabhängig von diesen existierenden Zustandsräumen. Die Logik der Bergson’schen Prozesse, als Akte ihrer eigenen Aktualisierung, operiert mit dem Paar Virtualität-Aktualität. Ganz im Sinne dieser Metaphysik ist Deleuzes Intuition über den Grund des embryonalen Werdens zu verstehen: »Die Larven […] ignorieren das Gebiet des Möglichen und sind dabei dem Virtuellen ganz nahe« (Deleuze 1992, 277).
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III · Ontogenetisches Werden bei Henri Bergson
3.
Ontogenese als Aktualisierungsprozess
Im Begriff des ›élan vital‹ wird die Idee der kreativen Evolution mit der Konzeption der Virtualität zusammengebracht. 51 Der ›élan vital‹ ist die Aktualisierung einer Virtualität, die sich phylogenetisch in Gattungen und Arten differenziert. Bei ontogenetischen Prozessen manifestiert sich diese Aktualisierung durch die Bildung einzelner Organismen mit ihrer materiellen Vielfalt. Sie legt den Weg von der befruchteten Eizelle zum erwachsenen Lebewesen zurück. Der ›élan vital‹ differenziert sich aber auch während eines Zellzyklus zu zwei Zellen, die sich mit der Zellteilung trennen. Er differenziert sich während der Interphase des Zellzyklus auch zu einer wachsenden Zelle, d. h. er aktualisiert sich zu metabolischen Produkten. In jedem Organismus finden Prozesse statt, die bei externer Betrachtung sehr verschiedene Zeitlängen haben, woraus im Rahmen der Bergson’schen Metaphysik auf die Existenz einer sehr großen Breite des Spektrums der Tensionen geschlossen werden darf. Jeder Organismus ist also ein doppeltes Kontinuum der Dauern. Auf der Basis dieser Überlegungen kann die Frage nach der Bewahrung und Entstehung der organismischen Ordnung behandelt werden.
3.1 Die doppelte Irreversibilität aller Aktualisierungsprozesse Die wichtigsten Aktualisierungsprozesse in der Bergson’schen Philosophie sind die Erinnerungsakte und die Evolution des Lebens. 52 In einer groben Näherung können jene als ›horizontal‹ und diese als ›vertikal‹ ausgerichtet verstanden werden. Dies würde aber der tatsächlichen Dynamik beider Arten von Aktualisierungen nicht gerecht werden. Ein Erinnerungsakt spielt sich nicht nur in einer Ebene der ›durée‹ ab, denn er kann nur aktuell werden, indem er sich als Bilder, Stimmungen oder sprachliche Ausdrücke konkretisiert. Solche Gebilde, allem voran letztere, sind aber klar konturiert. Sie sind voneinander abgegrenzt, sodass sie nicht in einer Ordnung des Ineinanders existieren können, obwohl sie einer solchen virtuellen Ordnung entstammen. Zu Recht beschreibt Bergson die Erinnerung als geistige 51 52
Vgl. auch: Vrhunc 2002, 237. Vgl. auch: Vrhunc 2002, 235 f.
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Ontogenese als Aktualisierungsprozess
Anstrengung erfordernde Entfaltung einer Ebene hoher Tension in das Nebeneinander der Sätze und Worte: »[V]on der höheren Stufe, wo alles in einer einzigen Vorstellung zusammengedrängt war, wird man zu immer niederen herabsteigen […] zu Stufen, wo die einfache Vorstellung in Bilder aufgelöst ist und wo die Bilder sich in Sätzen und Wörtern entfalten. Freilich wird das Zurückrufen nicht unmittelbar und leicht vor sich gehen; es wird von einer Anstrengung begleitet sein« (GA 143/Œuv. 936).
Offensichtlich handelt es sich bei diesen ›Stufen‹ um verschiedene Ebenen der Tension, von denen die letzte die der Wörter – genauer: die der leiblichen Bewegungen des Aussprechens dieser – ist. Der Erinnerungsakt kann sich also nur dann ›horizontal‹ vollziehen, wenn er sich zugleich ›vertikal‹ entfaltet. Seine Aktualisierung definiert also eine einzige irreversible Richtung und kann, nur wenn sie abstrakt betrachtet wird, in zwei zueinander senkrechte Richtungen analysiert werden. Diese doppelte irreversible Ausrichtung kommt natürlich jedem psychologischen Prozess zu: Das Dichten eines Verses, das Tanzen einer Figur, das Komponieren einer Melodie, die Formulierung eines logischen Beweises oder die Darlegung eines Standpunktes folgen einem ursprünglichen, nur nebulös erkennbaren Impuls, dessen Anstrengung sich erst durch ihre eigene Herauskristallisierung in mehreren hierarchischen Ebenen von Zeichen bzw. Symbolen, Bewegungen, Sinn-Gebilden oder anderen Ganzheiten nach und nach eine Richtung gibt. Dasselbe gilt auch für die Aktualisierung der lebendigen Ewigkeit, deren letzte Ebene die materiellen Tatsachen ausmacht. Die Emanation Gottes ist kein augenblicklicher Prozess, wie eine ausschließlich ›vertikale‹ Ausrichtung des ›élan vital‹ suggerieren würde, sondern verlangt nach Reifung, was Zeitlichkeit bedeutet. Die Vorstellung des ›élan vital‹ – wie sie von den entsprechenden Metaphern aus Schöpferische Entwicklung unterstützt wird 53 – als eines bloßen Falles von der göttlichen ›durée‹, der sich quasi automatisch ereignet, muss korrigiert werden. Ohne die ›horizontale‹ Bewegung auf jeder einzelnen Ebene des Spektrums der Tensionen, die die dort durch Anstrengung erreichte Reifung abbildet, können keine neuen Ebenen geboren werden – sie würden niemals von der Virtualität, in der alle
53
Siehe Abschn. 2.2.a dieses Kapitels.
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III · Ontogenetisches Werden bei Henri Bergson
(noch ungeformten) Ebenen gleichzeitig koexistieren, in die Aktualität, deren Ausformung Zeitlichkeit bedeutet, eintreten. Die nur ›horizontale‹ Ausrichtung der Dauern in der Abbildung 3.1 ist, genauso wie die ausschließlich ›vertikale‹ Ausrichtung des ›élan vital‹ im selben Bild, nichts als eine Abstraktion, die zunächst didaktisch sinnvoll sein kann, aber früher oder später überwunden werden muss. Keine ›durée‹ kann reifen, ohne eine ernsthafte Anstrengung, sich mit den Kategorien bzw. Mitteln niedrigerer Dauern Ausdruck zu verschaffen; letztere entstammen aber andererseits der Reifung höherer Prozesse. Die Emanation des kosmischen Werdens aus Gott ist somit ein sehr komplexer Selbstvollzug mit vielen Rückkopplungen der wesenhaften Bestimmungen über alle Ebenen der Dauern hindurch: Die Ausformungen der Prozesse der niedrigeren Ebenen wirken also zurück auf die Reifungen der höheren Prozesse, denen sie entstammen.
3.2 Der ›élan vital‹ differenziert sich zum Organismus Die Aktualisierung einer organismischen Virtualität zu einem konkreten Leib ist ein Prozess, der sich ›horizontal‹ und ›vertikal‹ in jeweils nur eine Richtung entfaltet, womit er eine doppelte Irreversibilität aufweist. Der Aktualisierungsprozess des entstehenden Organismus findet ›vertikal‹, durch alle in ihm anwesenden Ebenen der Tensionen hindurch, und ›horizontal‹ statt, also in jeder einzelnen ›durée‹, wie Abbildung 3.2 zeigt. Erst am Ende, und nur dann, kann man den ontogenetischen Gesamtprozess mit einem Vektor darstellen. In dieser Abbildung sind nur wenige Ebenen des Kontinuums der Ebenen der Dauern angedeutet, da es nicht möglich ist, ein solches Kontinuum darzustellen. In Anlehnung an die letzte Abbildung des zweiten Kapitels der vorliegenden Untersuchung wurde in Abbildung 3.2 die Form der Welle verwendet, um die Prozessualität jeder der voneinander emanierenden Dauern, die einen Organismus erzeugen, anzudeuten. Die Besonderheit der Bergson’schen Ontologie erschwert jedoch sehr jeden Versuch, die räumliche Dimension des Lebewesens abzubilden. Denn nur die unterste Ebene, die sich als Materie aktualisiert, existiert in der Ordnung des Nebeneinanders, sodass ihre Inhalte sich in der dreidimensionalen Räumlichkeit der sinnlichen Erfahrung manifestieren können. Die Abbildung 3.2 macht außerdem klar, dass keine 380 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Ontogenese als Aktualisierungsprozess
Abb. 3.2: Einige Ebenen des Spektrums der Dauern verschiedener Tension eines Organismus. Die doppelte Irreversibilität eines individuellen organismischen Werdens wird als Vektor dargestellt.
der vier Varianten von Abbildung 2.29 (Kap. II) komplex genug ist, um der Entstehung eines Organismus als einem Bergson’schen Aktualisierungsprozess gerecht zu werden. Eine Kombination der Varianten a, b und d könnte aber zu einem Bild führen, das die Abbildung 3.2 um eine räumliche Dimension erweitern würde. Da die ›vertikale Dimension‹ des Vektors des ontogenetischen Aktualisierungsprozesses keine physische und somit auch keine abstrakt-zeitliche ist, existieren alle Ebenen der Tension, genauso wie alle gewesenen Inhalte einer bestimmten ›durée‹, nicht nacheinander, sondern sind koexistent. Sie existieren gleichzeitig – sie sind alle zugleich real, wenn auch nicht aktuell. Schon bei der Zeugung eines Organismus sind sie virtuell vorhanden und beginnen, sich zu aktualisieren. Sie werden aber nicht gleichzeitig sichtbar, denn eine ›durée‹ kann erst dann deutlich als kausaler Faktor erkannt werden, wenn sie sich vollzogen hat. Folglich, je höher die Tension einer ›durée‹ ist, desto später offenbart sich ihr Charakter in der Ontogenese. Zu Beginn des Lebens eines Organismus ist nur seine Materie manifest. Die ›vertikale‹ Komponente der Irreversibilität ist eine metaphysische 54 und somit eine nicht beobachtbare. Die ›horizontale‹ ist nur in den untersten Ebenen eine physische; auf diesen Ebenen ist sie beobachtbar und messbar. Alles was die Physik – und leider spätestens seit Bertalanffy auch die Theoretische Biologie – von der doppelt
54
Siehe Abschn. 3.2.b von Kap. II.
381 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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irreversiblen Dynamik eines Organismus interessiert, ist die abstrakt-verräumlichte Seite des ›horizontalen‹ irreversiblen Werdens auf den untersten Ebenen des Spektrums, die zwischen den molekularbiologischen und den quantenphysikalischen Prozessen angeordnet sind. Die Prozesse der ›horizontalen‹ Irreversibilität auf den niedrigsten Ebenen (der Materie) entstehen und vergehen viele Mal während eines – verglichen mit ihnen und in der externen Laborzeit gemessenen – lang anhaltenden biologischen Prozesses. Die Verbindung zwischen aufeinanderfolgenden Prozessen einer Ebene der Tension kann nur von dem länger lebenden Prozess der jeweils höheren Ebene hervorgebracht werden, aus dem sie emanieren. Folglich kann die zeitliche Kontinuität der molekularen organismischen Materie nur auf Prozesse zurückgeführt werden, die weder ausschließlich molekularer Natur sind noch aus den Interaktionen von Molekülen emergieren. Ähnlich verdankt sich die Verbindung zwischen Lauten in der Rede bestimmten gedanklichen Prozessen, deren Wesen nicht auf ein System von Lauten reduziert werden kann. Mit fortschreitender Embryogenese ändert sich auch die Struktur der Ebenen zueinander. Ihre Differenzierung wird klarer; die Ebenen gewinnen an Aktualität. Dies zeigt sich eindeutig durch das Sichtbar-Werden vieler Zeitlichkeiten und durch ihre Koexistenz: Der Biorhythmus der ersten Zelle – d. h. die Zeitlichkeit der befruchteten Eizelle, die innerhalb von Minuten eine Zellteilung hervorrufen kann – ist nicht die langlebigste ›durée‹ des Organismus, sondern die erste, die aktuell ist, d. h. beobachtet werden kann. Sie muss aber bald den ersten Rang des Manifest-Seins einer länger lebenden ›durée‹ überlassen, bis diese ihrerseits einer ›durée‹ noch höherer Tension weichen muss usw. Aktuell werden die höheren Dauern natürlich nicht, indem sie sich unmittelbar zeigen, denn meta-physische Seiende können sich nicht direkt raumzeitlich manifestieren. Die Zeitlichkeit dieser wirklichen Entitäten offenbart sich indirekt durch die Dynamik der Struktur physischer Ganzheiten. Diese bestehen aus materiellen Elementen, deren Quantitäten (z. B. Konzentrationen biochemischer Moleküle) sich in der Zeit dynamisch (z. B. periodisch) verhalten. Mit wachsender Höhe der ›durée‹, die an der Reihe ist, sich Wirksamkeit zu verschaffen, zeigen sich immer langlebigere biologische Dynamiken. Bei der Morphogenese einfacher Tiere kann man davon ausgehen, dass die höchste Ebene, die in ihrem Leben aktuell wird, schon mit dem Abschluss ihrer Embryogenese zu einem guten Teil aktuell 382 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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geworden ist. Das bedeutet, dass die höchste Ebene, die durch sie offenbart wird, und in der sie bis zu ihrem Tod verweilen werden, eine eindeutig biologische Ebene ist. Bei den höheren Tieren jedoch – d. h. bei allen, die durch ihre Artgenossen Neues lernen, das ihnen nicht instinktiv schon mitgegeben ist – wird die letzte Ebene, die in ihrem Leben aktuell wird, erst nach ihrer Geburt aktuell. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Mensch radikal von jedem anderen Lebewesen – nicht nur weil die Zeitlänge seiner psychosozialen Reifung die seiner Embryogenese um das mehrfache überragt, sondern vor allem weil es nicht vorhergesagt werden kann, welche Höhen des Spektrums der Dauern das konkrete menschliche Individuum erklimmen wird. Eine Mystikerin und ein Visionär der friedlichen Koexistenz der Nationen ›bewegen sich‹ in einer viel höheren Ebene der Dauer als Politiker, die sich der Erhaltung der jeweiligen Machtverhältnisse verschrieben haben. Es wäre jedoch falsch, davon auszugehen, dass nicht in jedem Menschen das gesamte Spektrum der Dauern virtuell anwesend ist. Varianten der vollständigen Aktualisierung der Virtualität des Mensch-Seins haben sich jedoch nur bei einer Handvoll Menschen in der Geschichte unserer Spezies gezeigt. An dieser Stelle kann folgendes Zwischenresultat festgehalten werden: Der Organismus ist viel mehr als das, was in der Raumzeit beobachtbar bzw. aktuell ist. Die Idee der organismischen Selbstorganisation beinhaltet viel mehr als das, was durch wirkursächlich-kausale chemische Reaktionen erklärt werden kann. Sie muss für jedes Lebewesen eine Hierarchie ineinandergreifender Prozesse, die mit Subjektivität begabt sind, zulassen, sodass jede echte Selbstorganisation als ein Gesamtprozess der gegenseitigen wesenhaften Interdependenz dieser Prozesse aufgefasst werden kann. Jede Ontogenese ist ein ›Reaktor‹ der ineinandergreifenden Wesensbestimmungen einer immensen Anzahl von Prozessen, von denen die meisten sehr viel kürzer als der physisch manifeste Teil des Organismus, der Leib, leben, aber einige andere sehr viel länger.
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3.3 Die Organismus-Problematik auf der Grundlage der Bergson’schen Ontologie und die Annahme eines biologischen Gedächtnisses Auf den ersten Blick scheint die Organismus-Problematik im Rahmen der Bergson’schen Ontologie nicht formuliert werden zu können, da erstere an das Möglichkeit-Wirklichkeit-Schema essentiell gebunden ist, 55 das von Bergson explizit zurückgewiesen wird. Bedenkt man jedoch, dass die untersten Ebenen des Aktualisierungsprozesses der organismischen Entwicklung und Selbsterhaltung Ebenen der Materie sind, muss man das scheinbar Evidente relativieren. Aufgrund der Verräumlichung der wirklichen Entitäten der niedrigsten Ebenen zu materiellen Elementen ist Folgendes zu beachten: Zumindest das Endprodukt der Aktualisierung der virtuellen ›durée‹ des Organismus, das im Modus der Materie existiert, kann nicht der Möglichkeit-Wirklichkeit-Modallogik abhold sein. Denn die Materie kann nichts Privates, sondern nur etwas Öffentliches sein; sie manifestiert sich durch physische und mathematische Universalien, die als solche notwendig dieser Modallogik gehorchen. 56 Ist man sich also der Gültigkeit der beiden Logiken im Organismus bewusst, so darf man der Bergson’schen Naturphilosophie folgen und trotzdem die physische Seite der gesamtorganismischen Entwicklung – also das materielle Resultat des ontogenetischen Prozesses – in einem Zustandsraum, d. h. in einem Möglichkeitenraum, als Trajektorie abbilden. Denn dies bedeutet keineswegs, dass auch die Kausalität des Prozesses, der dieses Resultat hervorbringt, von einem solchen abstrakten Raum bzw. homogenem Kontinuum erfasst werden kann. Die Gültigkeit der Vorstellung der physischen Möglichkeiten auf der materiellen Ebene des Organismus hat notwendig zur Folge, dass die physikalische Größe der Entropie für diese organismische Ebene relevant bleibt. Einen Bergson’schen Aktualisierungsprozess verstehen, der auf der Ebene der Materie endet, bedeutet zu wissen, wann das Denken von einer metaphysischen zu einer physikalischen Modallogik wechDie gestrichelten Linien der Abbildung 2.27 repräsentieren nicht virtuelle, sondern mögliche Entwicklungen, da jeder Zustandsraum ein Möglichkeitenraum ist. 56 Universalien bzw. abstrakte Entitäten sind zeitlose Seiende, weshalb sie von einzelnen Prozessen abstrahiert werden können. Kombinationen von physischen Universalien definieren physische Möglichkeiten, die ebenfalls zeitlos und somit von ihrer eventuellen Verwirklichung in materiellen Seienden abstrahierbar sind. 55
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seln muss. Mit dem Abschluss seines emanativen Selbstvollzugs betritt der Prozess den trivialsten Bereich der Subjektivität unseres Kosmos, dessen Prozessualität sich durch vernachlässigbare Privatheit und stumpfsinnige Wiederholung auszeichnet. Die Innerlichkeit des Schöpferischen muss auf dieser letzten Ebene Kategorien hervorbringen, die objektivierbar und somit universal sind. Damit stellt sich aber notwendig folgende Frage: Wie ist es denkbar, dass jeder organismische Teilprozess – der ein sehr kreativer Akt ist – als ein Punkt in einem abstrakten Raum endet, der von der Aktualisierung des (abstrakt-zeitlich gesprochen) ›nächsten‹ kreativen Teilprozesses durch einen unmittelbar danebenstehenden neuen Punkt fortgesetzt wird? Mehr noch: Wenn jeder Teilprozess so kreativ ist, dass er seine eigenen Möglichkeiten kreiert, warum kann er nicht solche Möglichkeiten kreieren, die völlig andere Zustandsräume aufspannen, die privat und nicht universal sind? Die Organismus-Problematik wird somit um eine wesentlich elementarere Frage erweitert: Was erlaubt dem Gesamtprozess einer organismischen Ontogenese – trotz seiner sehr reichhaltigen Kreativität, die größtenteils nicht dem Möglichkeit-Wirklichkeit-Schema folgt – sich so zu aktualisieren, dass seine materiellen Manifestationen nicht immer wieder völlig neue Zustands- bzw. Möglichkeitenräume kreieren, sondern eine erstaunliche Beständigkeit des Kreierens von physischen Möglichkeiten, die universal sind, aufweisen? Zusätzlich zu dieser elementaren Frage behält natürlich weiterhin die Frage nach dem Wesen des anti-entropischen Faktors, der den Organismus vor der Entgleisung in die Auflösung bewahrt, ihre volle Gültigkeit. Die auf der Grundlage der Bergson’schen Ontologie erweiterte Organismus-Problematik enthält also zwei gleichwertige Fragestellungen. Der Verweis auf die Lebenslänge eines Prozesses, der den einzelnen Teilprozessen übergeordnet ist, d. h. auf die höchste ›durée‹ des Individuums (vgl. Abb. 3.2), reicht nicht aus, um die umformulierte Organismus-Problematik zu behandeln. Es ist vielmehr nötig, dass die Subjektivität eines solchen übergeordneten Prozesses von einer besonderen Natur ist. Um Beständigkeit und Bewahrung garantieren zu können, muss sie der Funktion des Gedächtnisses entsprechen. Die weitere Untersuchung wird diese Richtung der Annahme eines ontogenetischen Gedächtnisses einschlagen. Bergson selbst bringt seine beiden wichtigsten Aktualisierungsprozesse, den Erinnerungsakt und die Evolution, unmittelbar in Verbindung, wenn er 385 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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sagt, dass »das Leben genauso verfährt wie das Bewusstsein, insbesondere das Gedächtnis« (SchE 194/Œuv. 637), und erlaubt somit im Rahmen seiner Lebensphilosophie auch über die Ontogenese eines Organismus als Aktualisierung einer mit Gedächtnis begabten Subjektivität zu reflektieren. Ein Wink in diese Richtung stammt auch von Nietzsche. In den 1880er Jahren notiert dieser in Bezug auf die Morphogenese: »Es gibt Analogien, z. B. zu unserem Gedächtniss, ein anderes Gedächtniss welches sich in Vererbung und Entwicklung und Formen bemerkbar macht« (1954, § 646).
3.4 Individuelles organismisches Gedächtnis: Folge der biographischen Zeitlichkeit des Organismus Einer auf das Leben ohne unmittelbare praktische Interessen gerichteten Aufmerksamkeit kann es gelingen, den Übergang vom Gegenwärtigen zum Gewesenen so weit in die Vergangenheit zu verschieben, dass die eigene Biographie als eine sich selbst wesenhaft bestimmende und fortsetzende »Gegenwart, die dauert«, erlebt wird (WV 173/Œuv. 1387). Wendet sich diese intuitive Aufmerksamkeit dem nicht eigenen Lebensgeschehen zu, dann wird sie früher oder später dazu kommen, allen Lebewesen eine solche Dauer zuzusprechen. Die Wahrnehmung der organismischen Dauer erfordert, dass man ohne ein praktisches Interesse auf sie schaut. Bezieht man sich nur technisch auf einen Organismus, so sieht man seine Zeitlichkeit als Abfolge instantaner Punktzustände, denn für den Tattrieb existiert nur das Aktuelle, an dem er ansetzen muss, um wirksam zu werden. Jeder Organismus enthält neben den sehr kurzlebigen Prozessen seiner physikochemischen Materie auch Dauern hoher Spannung, deren Fluss die Abfolge der abgespannteren kurzlebigen Dauern der physikochemischen Prozesse überdauert. Diese sind nicht mit den technischen Mitteln der Biowissenschaften und mit den Abstraktionen der heutigen Theoretischen Biologie zu erfassen. Nur eine metaphysische Reflexion kann die ›durée‹ hoher Tension des Organismus denken, in der seine weiterhin seiende ›Vergangenheit‹ gegenwärtig ist. Von dem Transformationsprozess, der das Gedächtnis oder die Geschichte – die wahre innere Zeit – des Organismus ist, gewinnt 386 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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man durch den analytischen Zugriff lediglich seinen ›Schatten‹, der in den entspanntesten Dauern der aktualisierten Materie des ›Systems‹, besteht. So hat z. B. Prigogines Begründung von Irreversibilität, Zeitpfeil und innerer Zeit mit der Zerstörung der Spuren der Vergangenheit zu tun. In seiner Theorie ist der mikroskopische Verlust von Informationen identisch mit dem Wachstum der mikroskopischen Entropie. Er wird als die ›innere Zeit‹, bzw. das ›Alter‹, des Systems definiert. Dieser Verlust ist Folge der Tendenz nichtlinearer Systeme, Zustände zu erzeugen, die bei Divergenzen benachbarter Trajektorien und bei Bifurkationen eine gewisse Unabhängigkeit von ihren unmittelbaren Vorgängern aufweisen, da sie nicht von ihnen determiniert sind. 57 Betrachtet man Organismen als dynamische Systeme, so kann man anhand des Konzeptes der inneren Zeit ihr Alter als Resultat der ›Unruhe‹ ihrer spezifischen Dynamik – als Verlust der Spuren der Vergangenheit – ausdrücken. Bei dieser Argumentation wird jedoch davon ausgegangen, dass ausschließlich die physikalisch beschreibbare Zeit berücksichtigt werden kann. Hätte die Theoretische Dynamik ein Verständnis von Dauer im Bergson’schen Sinne, wäre es nicht einzusehen, wieso lediglich der jeweils aktuelle mikroskopische Zustand eines Systems InformaPrigogine hat versucht, die Zeit nicht mehr als eine Variable (d. h. eine Zahl), sondern als einen Operator T zu verstehen, der auf die Verteilungsfunktion ρ der möglichen Trajektorien im Zustandsraum wirkt: »Wir haben es hier mit einer zweiten Zeit zu tun, einer inneren Zeit, die ganz verschieden ist von der Zeit, welche in der klassischen oder der Quantenmechanik nur als Index von Trajektorien oder Wellenfunktionen vorkommt« (1979, 216; Hervorhebungen von S. K.) (vgl. auch: Prigogine & Stengers 1990, 259–264). Ohne in die komplizierten Einzelheiten der Konzeption des Zeitoperators T einzusteigen, lässt sich festhalten, dass Prigogines Neuerung auf der Annahme basiert, dass die Entropie nicht nur eine statistische Größe ist, sondern auch eine mikroskopische, was das Prinzip der Irreversibilität in den Mikrokosmos einführt. Das Wachstum der mikroskopischen Entropie kennzeichnet den Verlust einer in der Mikrostruktur des Systems enthaltenen Information: In späteren Zeiten konstituieren sich Zustände, die relativ unabhängig von den ihnen vorhergehenden sind. Der mikroskopische Informationsverlust wird als ›Altern‹ bezeichnet. Prigogines ›zweite Zeit‹ gibt das Alter des Systems an. Dieses wird nicht an der äußeren Zeit als Parameter, sondern an der Form der Verteilung ρ des Systemzustands im Zustandsraum gemessen (siehe Gleichung 2.4 im Abschn. 1.1.c von Kap. II). Die zweite oder ›interne Zeit‹ hat also mit der Tendenz des Trajektorien-Ensembles sich zu verwandeln und somit mit der Instabilität dynamischer Systeme zu tun: »Jedes instabile dynamische System besitzt eine solche interne Zeit« (Prigogine & Stengers 1990, 262). Sie ist eine direkte Folge der Tendenz von Trajektorien (instabiler Systeme), die in einem noch so kleinen Gebiet des Zustandsraumes benachbart sind, voneinander zu divergieren. 57
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tionen über seine Vergangenheit enthalten könne. Die innere Zeit der Organismen hätte dann etwas mit ihrer gesamten Geschichte und nicht nur mit der Form ihrer jeweils aktuellen Verteilung im Zustandsraum zu tun. Im Gegensatz zur physikalischen Betrachtung der Vergangenheit hat Bergsons kreative Heterogenität der Dauer geradezu mit der Erhaltung der Vergangenheit eines Lebewesens als Ganze zu tun und ist ohne sie undenkbar: »Die Ursache des Alterns muß tiefer liegen. Ununterbrochene Kontinuität herrscht unserer Überzeugung nach zwischen der Entwicklung des Embryo und des ausgewachsenen Organismus […] Die Entwicklung des Lebewesens wie des Embryo schließt in sich die kontinuierliche Einzeichnung der Dauer, in sich ein Beharren der Vergangenheit in der Gegenwart, in sich also einen Anschein wenigstens von organischem Gedächtnis (mémoire organique). Der gegenwärtige Zustand eines anorganischen Körpers hängt ausschließlich davon ab, was im letztvergangenen Moment vor sich gegangen ist […] Mit anderen Worten, es lassen sich die Gesetze, von denen die anorganische Materie beherrscht wird, prinzipiell durch Differentialgleichungen ausdrücken […] Nichts dem Ähnliches indes im Bereich des Lebens! […] [Dies hängt damit zusammen], daß der jeweilige Moment des lebenden Körpers seinen Seinsgrund durchaus nicht im unmittelbar früheren Moment findet, sondern daß noch die gesamte Vergangenheit des Organismus all sein Ererbtes, mit einem Wort der Zusammenhang einer sehr langen Geschichte zu diesem hinzutreten müsse« (SchE 65–67./Œuv. 509 f., Einfügung und Hervorhebungen von S. K.).
Merleau-Ponty bringt das in solchen Überlegungen wurzelnde organismische Verständnis Bergsons wie folgt zur Sprache: »Er definiert den Organismus und das Leben als eine Art von Temporalität und schließt somit jeden Vergleich mit einem physikalischen System aus. Das physikalische System ist seine Vergangenheit (Laplace). Der Organismus […] wird im Gegenteil dadurch definiert, daß die Gegenwart mit der Vergangenheit nicht identisch ist. Man kann von physikalischem System sagen, daß es in jedem Moment neu geschaffen wird, daß es immer neu ist, oder aber daß es ungeschaffen und mit seiner Vergangenheit identisch ist. 58 Der Organismus ist im Gegenteil niemals mit seiner Vergangenheit idenEin dynamisches System ist im Sinne der abstrakten Kontinuität seiner Trajektorie im Zustandsraum »ungeschaffen« und »mit seiner Vergangenheit identisch«, da es sein Wesen nicht selbständig bestimmt und folglich die Rolle der Vergangenheit in seiner jeweiligen Gegenwart nicht transformiert. Andererseits wird es in dem Sinne »in jedem Moment neu geschaffen«, dass es immer nur in einer infinitesimal kurzen Gegenwart existiert, die der – abstrakt-zeitlich gesehen – nicht mehr existierenden Vergangenheit folgt.
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tisch, aber er ist auch niemals von ihr abgeschnitten: er setzt sich fort. Die Dauer wird sein erstes Prinzip innerer Einheit« (Merleau-Ponty 2000, 92; Hervorhebungen von S. K.).
Kristian Köchy bringt wie folgt das Bergson’sche Verständnis der organismischen Zeitlichkeit auf den Punkt: »Somit ist bei Lebewesen der gegenwärtige Zustand nicht allein durch den jeweils direkt vorangegangenen Zustand bestimmt, sondern vielmehr das Resultat der gesamten Biographie eben dieses besonderen Organismus. Der Charakter der Dauer in der Ontogenese ergibt sich somit durch die polaren Aspekte der steten schöpferischen Umgestaltung einerseits und der Beharrung des organischen Kontinuums andererseits« (1998, 135; Hervorhebung von S. K.).
Der Organismus dauert, im Sinne des zeitlichen Ineinanders, er ist eine sich fortsetzende, aktive Aufnahme seiner gesamten Gewesenheit, seiner ganzen Geschichte mit allen ihren Einzelheiten und nicht nur ihres Endpunkts – das wird die Physik Prigogines, trotz seiner permanenten Verweise auf Bergson, niemals erfassen können, weil sie – als formal operierende Naturwissenschaft – die Zwänge des verräumlichten Denkens prinzipiell nicht abstreifen kann, wovon auch andere mit ihr verwandte Ansätze nicht weniger betroffen sind. 59 Ein Organismus erinnert sich an seine gelebte Gewesenheit, wenn auch nicht in dem für Menschen typischen psychologischen Sinne. Mit Bergson kommt also eine biographische Zeitlichkeit in die Theorie des Organismus. So gesehen ist die Geschichte eines Lebewesens das Kontinuum der Selbstveränderung eines (wie auch immer beschaffenen) Erlebensindividuums, das für die Erhaltung seiner Identität keines substanziellen Kerns bedarf. Bergsons Lebensphilosophie kann also in eine Ontologie der orKöchy bringt die nicht zu überbrückende Kluft zwischen der Bergson’schen Metaphysik des Lebendigen und den formalistischen Ansätzen der gegenwärtigen Biologie treffend auf den Punkt: »Die Unterschiede seines Entwurfes zu allen modernen Lebensmodellen liegen eindeutig in der postulierten psychologischen Wesenscharakteristik des Lebens. Zu dieser Konnotation scheint es in der modernen Theorienlandschaft der Naturwissenschaften keine Analogie zu geben. Ob Autopoiese, ob Systemtheorie, ob Selbstorganisation – immer handelt es sich um Erklärungsansätze, die nach Bergsons Kennzeichnung als Ausdruck eines intellektualistischen Weltbildes aufgefaßt werden müssen. Dieses ist wohl Glanz und Elend des heutigen naturwissenschaftlichen Lebensmodells – vielleicht aber auch in Chargaffs Sinne Ausdruck einer prinzipiellen Unzugänglichkeit des Lebens« (1998, 153; Hervorhebungen von S. K.).
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ganismischen Geschichtlichkeit einmünden. Das korrespondiert mit dem gegenwärtigen Aufkommen eines historischen Bewusstseins in der Biologie, das der methodischen Abgrenzung dieser Wissenschaft von der Physik dient. Es muss aber noch begriffen werden, dass Veränderung nicht automatisch Geschichtlichkeit impliziert. Biologische Entwicklungen werden erst dann in ihrer historischen Dimension erfasst worden sein, wenn sie als Prozesse der permanenten Neuschöpfung ihrer eigenen Identität, bei aller Selbstveränderung, erkannt worden sind. Zurückkommend auf die Organismus-Problematik, wie sie im letzten Abschnitt für die materielle Erscheinung des Lebewesens umformuliert wurde, kann vorläufig Folgendes gesagt werden: Was die Beständigkeit des Kreierens von universellen physischen Möglichkeiten der Materialität eines Organismus garantiert, ist sein individuelles organismisches Gedächtnis. Dieses bewahrt ihn auch davor, in zunehmend entropische Zustände abzugleiten: Seit seiner Zeugung ist der Organismus mit der Gefahr der materiellen Desorganisation permanent konfrontiert und enthält in sich entsprechende Erfahrungen virtuell. Jeder Organismus ›erinnert‹ sich an ähnliche kritische Momente seiner Geschichte, wenn er mit der Gefahr der Auflösung durch intern oder extern bedingte Störungen konfrontiert wird. Die nicht bewusste Erinnerung an Leistungen von Prozessen, die nicht mehr aktuell sind, kann nur von einer ›durée‹ geleistet werden, in der diese Leistungen als gewesene virtuell enthalten sind. Die Leistungen einer ›durée‹ niedrigerer Tension können in das Gedächtnis einer in sich gespannteren ›durée‹ Eingang finden, wenn beide Prozesse im Spektrum der Tensionen nah beieinander sind (vgl. Abb. 3.2). Auf diese Weise können z. B. materielle Umstellungen, die vorgenommen werden mussten, um bestimmte Krankheitserreger abzuwehren, vom individuellen organismischen Gedächtnis erfasst und in der Zukunft wieder aktualisiert werden. Aus naturwissenschaftlicher Sicht besteht freilich das ›Lernen‹ des Immun-›Systems‹ lediglich in bestimmten materiellen Spuren, die in den entsprechenden Biomolekülen ›gespeichert‹ sind – das individuelle immunologische Gedächtnis wird also auf materielle Aktualität reduziert. Dies entspricht vollkommen der Vorstellung, dass kognitives Gedächtnis nichts als Veränderungen der materiellen Struktur des Gehirns bedeute. In Materie und Gedächtnis zeigt Bergson einen alternativen Zugang zur Frage des psychologischen Gedächtnisses, der sich nicht auf 390 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Ontogenese als Aktualisierungsprozess
neuronale Materialität beschränkt, aber dieser zugleich einen wichtigen Platz zuweist. In diesem Werk wird zwischen zwei verschiedenen Gedächtnisarten unterschieden: dem reinen bzw. »Gedächtnis par excellence«, das interesselos ist, und dem von der materiellen Struktur des organischen Körpers getragenen Gewohnheitsgedächtnis, das deterministisch agiert (MG 68–73/Œuv. 225–229). Diese Unterscheidung zwischen beiden Gedächtnissen, von denen das erste, »das rein kontemplative«, die Bilder der Vergangenheit vorstellt, und das zweite, »das rein motorische«, die Bewegungen der Vergangenheit wiederholt (MG 151/Œuv. 296), enthält ein sehr fruchtbares Potential, um das biologische Gedächtnis des Individuums jenseits des szientistischen Materialismus zu behandeln: Jeder Organismus muss ein Gesamtbild seiner materiellen Beschaffenheit in seinem ontogenetischen Gedächtnis haben, um rechtzeitig jede auffällige Abweichung als eine kritische Situation erkennen und anti-entropische Maßnahmen einleiten zu können. Je nach der Schwere der Beschädigung werden die entsprechenden Ebenen des organismischen Gedächtnisses aktiviert. Die Heilung einer schweren Verletzung oder Krankheit wird, genauso wie die Überwindung einer großen psychologischen Krise, an einer sehr hohen Ebene des Spektrums ansetzen und alle tiefer liegenden Ebenen neu aktualisieren, d. h. ihre Ordnung umstrukturieren. Ist es denkbar, dass bei einer so tiefgreifenden Regeneration auch Ebenen aktiviert werden, die jenseits des individuellen Organismus sind, deren ›durée‹ also eine höhere oder sogar viel höhere Tension hat als eine individuelle Lebenslänge? Auf der Basis der hier entfalteten Interpretation der Bergson’schen Lebensphilosophie ist ein solcher Zugriff des Organismus auf Gedächtnisbereiche, die außerhalb seiner Ontogenese stehen, nichts Abwegiges. Im Gegenteil, dieses naturphilosophische Denken muss vielmehr diesen Schritt wagen, um sich mit der Embryogenese eines Vielzellers auseinanderzusetzen, denn sie kann nicht auf ein individuelles Gedächtnis zurückgreifen, da beide gleichzeitig beginnen: Die materielle Form des adulten Individuums und die bildliche Vorstellung seiner gesamten raumzeitlichen Strukturbildung während der Embryogenese kann nur in einem überindividuellen Gedächtnis, in einer transontogenetischen ›durée‹, enthalten sein.
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3.5 Das überindividuelle meta-physische Gedächtnis der Embryogenese Vor dem Hintergrund der Bergson’schen Ontologie muss man sich der Frage stellen, wie es möglich sein kann, dass es in der Welt stabile, wiederkehrende Formen gibt, wenn keine Gesetze der Transformation der Ebenen des Spektrums der Dauern ineinander existieren, weil es keine vorfabrizierten Möglichkeiten bzw. Universalien der Entspannung der Dauern geben kann. Warum aktualisieren sich in den Detektoren der Physiker immer wieder Teilchen, die z. B. als Elektronen identifiziert werden? Warum können die Chemiker von bestimmten Molekülsorten sprechen? Und schließlich: Was erlaubt ontogenetischen Aktualisierungsprozessen, Lebewesen hervorzubringen, die bei allen individuellen Unterschieden als bestimmten morphologischen Typen zugehörig identifiziert werden können, wenn es keine ihre Aktualisierungen beherrschenden möglichen Formen gibt? Etwas direkter gefragt: Warum entsteht bei der Embryogenese ein konkreter Organismus und kein Chaos? Für die Bergson’sche Metaphysik wird die Ähnlichkeit von ›nacheinander‹ (abstrakt-zeitlich gesprochen) entstehenden Formen nur dann ein Rätsel, wenn Zeit als Vergehen, als totaler Übergang der nicht mehr aktuellen wirklichen Entitäten in das Nichtsein, verstanden wird. Denn dies blendet die Bedeutung der Zeit als erhaltendes Prinzip, als universelles Gedächtnis aus. Wird dagegen ein nicht mehr lebender Organismus als ein weiterhin seiender verstanden, der lediglich nicht aktuell ist, eröffnen sich andere Perspektiven. Im Rahmen der Theorie des doppelt heterogenen Kontinuums der Dauer kann seine Weiterexistenz weder eine statisch-substantialistische noch eine sich selbst autonom tragende sein. Sie kann nur als organischer Teil eines nach Wesensbestimmung ringenden Seienden höherer Tension und somit ›größerer‹ Lebenslänge (aus abstrakt-zeitlicher Sicht) gedacht werden. Der gewesene Organismus kennzeichnet sich in seiner nach seinem physischen Tod vollständig virtuellen Existenz weiterhin durch die Unruhe der Wesensbestimmung (ohne ein ›Poltergeist‹ zu sein …). Denn er ist nichts Substantielles, in sich selbst Ruhendes, das irgendwo ›gespeichert‹ werden kann, um in einen neuen Leib eingepflanzt zu werden. Seine Bewahrung ist keine Aufbewahrung. Dieser Gedanke bedeutet, dass ein lebendiger Organismus die Aktualisierung eines meta-physischen Organismus ist, dessen Pro392 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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zessualität eine ›durée‹ höherer Tension ist. Diese ›durée‹ dehnt sich weit über die ›durée‹ hinaus, die das Leben des biologischen Organismus (z. B. eines konkreten Menschen) ist. Sie agiert als ein Gedächtnis, das sich als ein konkreter Lebensprozess (von z. B. neunzig Jahren eines menschlichen Lebens) aktualisiert – um sein Wesen weiter zu bestimmen – aber nicht in diesem beschränkt ist, sondern viel mehr (als z. B. neunzig Jahre) umfasst. Anders als die Whitehead’sche Prozessphilosophie erlaubt die Bergson’sche, von einer Unsterblichkeit des Subjekts auszugehen. Solche Gedanken waren der frühen Theoretischen Biologie nicht fremd. Jakob von Uexküll hält die Gesamtheit einer Spezies für »ein selbständiges Lebewesen mit eigenem Charakter, aber einer ungeheuer langen Lebensdauer« (1973, 269). Das meta-physische und transindividuelle – genauer: transontogenetische – Gedächtnis, welches sich durch seinen unteilbaren Erinnerungsakt die Embryogenese vorstellt, wiederholt nicht eine vorgefertigte Form. Das embryonale Werden ist kein Abruf der Spuren der Vergangenheit, sondern eine echte Erinnerung, d. h. eine Neuformung des Gewesenen. Die universellen Formen der Arten der anorganischen Materie, wie z. B. Elektronen, Photonen und Sauerstoffmoleküle, können ähnlich betrachtet werden. Anorganische Prozesse erscheinen in diesem Licht als solche, die sich auf eine nicht kreative Weise auf ihre Vorgänger beziehen. Sie sind keine wirklichen Erinnerungen (Vorstellungen) des Gewesenen, sondern fast nur Wiederholungen der Vergangenheit. Zurückkommend zur lebendigen Prozessualität ist an dieser Stelle einer möglichen Entartung der hier verbreiteten Vorstellung vorzubeugen: Der Gedächtnis-Aspekt eines meta-physischen Organismus ist nicht ausreichend, um die Kreativität des Lebens über die Morphogenese des embryonalen Werdens hinaus angemessen zu behandeln. Die phylogenetische Entstehung der typischen Gestalten von Lebewesenarten bedarf zwar der Idee des Gedächtnisses, da auch in der Evolution eine deutliche Kontinuität herrscht, man kann jedoch nicht die gesamte Evolution als eine schöpferische Reproduktion betrachten, ohne sich die Bürde extremer metaphysischer Annahmen aufzuladen. Auch wenn der biologische Erinnerungsakt keine passive Wiederholung einer gespeicherten Vergangenheit, sondern eine Neuformung von Gewesenheit ist, kann er nicht ein wesentlicher phylogenetischer Faktor sein. Die phylogenetischen Prozesse, aus denen 393 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
III · Ontogenetisches Werden bei Henri Bergson
sich im Selbstvollzug die arttypischen Formen herausbilden, haben freilich, allein aufgrund ihres ›durée‹-Seins, den Charakter des Gedächtnisses in sich. Es ist aber ihre Suche nach Neuheit und nach Überwindung der Widersprüche des Gewesenen und nicht nach seiner bloßen Bewahrung, die den schöpferischen ›Meißel‹ führt, mit dem sie die Formen ihrer Manifestationen gestalten. 3.5.a
Kann der meta-physische Organismus sich auch als gleichzeitig existierende Lebewesen aktualisieren?
Die Hypothese der meta-physischen Individualität Bergson’scher Prägung birgt in sich ein enorm reiches biophilosophisches Potential, das hier lediglich angedeutet werden kann. Eine absolut elementare Frage, die sich unausweichlich stellt, ist, ob ein übergeordneter metaphysischer Prozess nur in aufeinanderfolgenden biologischen Organismen bestehen kann, oder auch in gleichzeitig lebenden. Im zweiten Fall würden der meta-physische Prozess und die lebenden Organismen in einer Beziehung zueinander stehen, die der eines lebendigen Körpers zu seinen Organen oder sogar zu seinen Zellen entspräche – ein Überorganismus würde dann vorliegen. Diese Idee darf nicht auf Menschen und höhere Säugetiere bezogen werden, denn sie opfert die Vorstellung der psychologischen Eigenständigkeit des in einem Überorganismus integrierten Individuums einer vermeintlichen ›höheren Seele‹. Immer wenn Ähnliches implizit oder explizit vertreten wurde – im zweiten Fall, um den Einzelnen dem angeblich ›höheren Wert‹ des Kollektivs zu unterordnen – wurden menschliche Gesellschaften mehr oder weniger zu ›Insektenstaaten‹ reduziert. Dies ist natürlich nicht verwunderlich, denn dort ist diese Idee zu Hause: in den vom insektoiden Instinkt der Hautflügler errichteten Gesellschaften. Bergson zögert nicht, einen ganzen Insektenstaat als einen einzigen Organismus zu behandeln und das ohne jegliche Metaphorik: »Sieht man, wie im lebenden Körper Tausende von Zellen zu gemeinsamem Ziele zusammenarbeiten, wie sie sich in ihre Aufgabe teilen, wie eine jede für sich und zugleich für alle übrigen lebt, wie sie sich erhalten, ernähren und wiedererzeugen […] – wie da nicht an ebenso viele Instinkte denken? […] Und wiederum, wenn man sieht, wie die Bienen eines Stockes ein derart organisches System bilden, daß keines der Individuen über eine bestimmte Zeit hinaus allein zu leben vermag, selbst dann nicht, wenn es
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Ontogenese als Aktualisierungsprozess
mit Nahrung und Wohnung versehen wird – wie da nicht erkennen, daß der Stock, und nicht nur bildlich, sondern tatsächlich, ein einziger Organismus ist, jede Biene aber eine allen übrigen mit unsichtbarem Bande verknüpfte Zelle? So verschmilzt der Instinkt, der in der Biene lebt, mit der Kraft, die in der Zelle lebt, oder setzt sie nur fort. In extremen Fällen, wie diesem, fällt er mit der organisierenden Arbeit zusammen« (SchE 193 f./Œuv. 636).
Sollte es sich jemals mit großer Glaubwürdigkeit zeigen, dass die fraglichen unsichtbaren Verbindungen zwischen den einzelnen Bienen nicht vollständig auf ihre Bienentanz-Sprache und/oder physikalisch messbare Stoffe und Felder reduzierbar sind, dann wäre dies ein starkes Indiz für eine Verbindung, die nicht von physisch präsenten Ebenen der Realität getragen wird. In diesem Fall würde eine gewisse Plausibilität für die Betrachtung individueller Ontogenesen als biologische Erinnerungsprozesse eines sie umfassenden Überorganismus vorliegen. Der Weg des Menschen, starke Bindungen zu erzeugen, ist auf jeden Fall ein entschieden anderer als der Weg der Insekten. Das wird noch deutlicher, wenn eine weitestgehende biologische Identität vorliegt. Denn selbst das psychische Band, das eineiige Zwillinge miteinander verbindet und oft lebenslang zusammenhält, wie wenn sie als füreinander bestimmte Partner erschaffen worden wären, kann nicht über die Individualität der Geschwister hinwegtäuschen. Aus Bergson’scher Sicht ist dies der Tatsache zu verdanken, dass die Evolution der Wirbeltiere nicht in der Verfeinerung des Instinkts, wie bei den Arthropoden, besteht, sondern der Intelligenz (BL 24/Œuv. 834). Diese passt sich nicht wie jener der Welt an, sondern ringt darum, sich die Welt anzupassen. Das führt natürlicherweise zu einer Betonung der Einmaligkeit ihrer Träger, die bei aller biologischen Gleichheit und sozialen Zusammengehörigkeit psychische Individuen bleiben. Auf dem Evolutionszweig der Wirbeltiere bzw. der Intelligenz, den der Mensch am weitesten gegangen ist, vermag nicht einmal die Verbindung siamesischer Zwillinge der Uniformität eines insektoiden Überorganismus auch nur ansatzweise nahe zu kommen. Insofern kann der berühmte Spruch Aristoteles’ von der Freundschaft als »eine Seele, die in zwei Leibern wohnt« nur metaphorisch gemeint sein. 60 Die meta-physischen Organismen von Menschen, Säugetieren und sicherlich auch von Angehörigen vieler Tierarten können also nur im zeitlichen Sinne als dem Leben des empirischen Individuums 60
Vgl.: Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, V, 20.
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III · Ontogenetisches Werden bei Henri Bergson
übergeordnete wirklich Seiende gedacht werden. Ein Menschenleben ist so gesehen eine Phase eines solchen meta-physischen Lebens – es ist aber nicht eins der vielen Organe eines meta-physischen Überorganismus. 3.5.b
Die meta-physische Leiblichkeit des Menschen in der alternativen Medizin
Verschiedene Vorstellungen einer meta-physischen Leiblichkeit des Menschen sind in der traditionellen Medizin des Westens und des Ostens sehr verbreitet – wenn auch durch solch missverständliche und alt-metaphysisch geprägte Begriffe wie ›feinstoffliche Materie‹ oder ›feine Energie‹ zum Ausdruck gebracht. Der bekannte griechische Homöopath und Nobelpreisträger Georgos Vithoulkas 61 hat auf der Basis dieser Vorstellungen eine Lehre vom menschlichen Organismus aufgestellt, die ihn als ein Geflecht von Organen und Funktionen betrachtet, die auch in nicht-physischen Ebenen enthalten sind und auch dort ihre Wirksamkeit entfalten. Vithoulkas unterscheidet drei grundsätzliche energetische Ebenen der menschlichen Leiblichkeit: die ›geistig-spirituelle‹, die ›emotional-psychische‹ und die »physisch-materielle Ebene, [die] die fünf Sinne und unsere Triebe ein[schließt]« (1997, 41; Einfügungen von S. K.). Die drei Leibesebenen bilden bezüglich ihrer geistigen Intensität und Bedeutung für die Gesundheit des Menschen eine hierarchische Struktur, die Vithoulkas als konzentrische Kreise abbildet (ebenda 51): »Die drei Ebenen unseres Organismus sind miteinander in einem hierarchischen Verhältnis verknüpft; die normale Funktion einer jeden ist von den anderen abhängig. […] Die zentrale, wichtigste Ebene ist die mentalspirituelle. Deren Störung beeinträchtigt akut den ganzen Organismus. […] Die nächstwichtigste Ebene ist die emotionale, und schließlich folgt der physische Körper. Der Organismus schützt seine beiden empfindlichsten Ebenen […] dadurch, daß er den Schaden so peripher wie irgend möglich begrenzt« (ebenda 50 f.).
Auch wenn dieses Modell deutlich an antike Seelenlehren erinnert, hat Vithoulkas es nicht durch die Literatur kennengelernt, sondern aus seiner reichen Behandlungspraxis abstrahiert. 62 Vithoulkas wurde 1996 wegen seiner Verdienste für die klassische Homöopathie mit dem alternativen Nobelpreis geehrt. 62 Persönliche Mitteilung an mich. 61
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Ontogenese als Aktualisierungsprozess
Die Vorstellung der verschiedenen Ebenen der menschlichen Leiblichkeit, von denen zwei eindeutig meta-physischer Natur sind, kann mit der in diesem Kapitel entfalteten Idee des Kontinuums der Dauern, die in einem Organismus wirksam sind, in Verbindung gebracht werden, wenn jeder dieser drei Ebenen eine weitere Strukturierung zugesprochen wird. Dies scheint ganz im Sinne Vithoulkas’ zu sein: »Jede Ebene besteht aus einer Vielzahl komplexer Felder oder Schichten und Organe, und diese stehen wiederum zueinander in einem hierarchischen Verhältnis« (ebenda 52).
Die Rede von menschlichen Organen, die nicht physisch manifest sind – wie es aus der Verbindung beider oben zitierter Stellen hervorgeht – besagt nichts anderes, als dass Vithoulkas ebenfalls von einer meta-physischen Seite des Organismus ausgeht. Dieser Seite spricht er nicht nur ein Überleben des körperlichen Todes zu, sondern auch ein Vermögen, mittels eines neuen Körpers erneut in der raumzeitlichen Realität wirksam zu werden, ohne dabei ihre in früheren Inkarnationen erworbenen Prädispositionen zu verlieren (ebenda 102). Damit wird den meta-physischen Ebenen des Menschen erstens eine Entwicklungsfähigkeit und zweitens ein immaterielles Gedächtnis zugesprochen, dessen Inhalte sich in die materielle Welt aktualisieren können – beides absolut essentielle Vermögen der Bergson’schen Dauer. Ähnliche metaphysische Vorstellungen werden nicht nur von anderen Homöopathen vertreten, sondern sind auch für zentrale Richtungen der traditionellen chinesischen und indischen Medizin grundlegend. Darüber hinaus sind sie auch für das Menschenbild der Anthroposophie, verschiedener Yoga-Schulen und anderer dem Welt- und Menschenbild des szientistischen Materialismus fern stehender Denk- und Lebensweisen unverzichtbar. Die Idee aufeinanderfolgender Aktualisierungen eines meta-physischen Seienden als die eines begrenzte Zeit lebenden individuellen Organismus, erinnert spontan an die uralte und vielen Weltkulturen aufs Innigste vertraute Idee der Wiedergeburt. Aus diesem Grund ist es besonders hervorzuheben, dass die Prozessphilosophie Bergsons erlaubt, die Idee der Reinkarnation von der substanzontologischen Vorstellung einer sich immer wieder mit neuen Körpern ›verkleidenden‹ unveränderlichen Seele zu befreien und sie auf das Niveau einer komplexeren Ontologie zu heben. Aus buddhistischer Perspektive ist das Seiende, das 397 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
III · Ontogenetisches Werden bei Henri Bergson
sich als menschlicher Körper und personale Psyche aktualisiert, eine wirkliche Entität, deren psychologische Individualität eine Ichheit aufweist. Diese Entität befindet sich aber in einem Transformationsprozess, der zur Überwindung ihres Ich-Aspekts führen soll. Buddhistische Vorstellungen von dem Abbruch des Kreises der Wiedergeburten scheinen sich deshalb auch mit der Bergson’schen Hoffnung vom Abbremsen des Falles des ›élan vital‹ aus der ewiglebendigen ›durée‹ höchster Tension (SchE 266/Œuv. 705) gut zu vertragen. Es ist dennoch klarzustellen, dass Bergson, dessen Religiosität sich immer mehr dem Katholizismus näherte, nicht von einer Abfolge psychisch-leiblicher Aktualisierungen ausgeht, die bis in die materielle Realität hinabsteigen. Auch sonst scheint er der östlichen Spiritualität nicht auffällig nahezustehen – was jedoch asiatische Philosophen der Gegenwart nicht daran hindert, zu Recht die tatsächlich vorhandene Nähe seines prozessualen Ansatzes zu ihren Denktraditionen zu betonen. Das Fortleben einer Dauer hoher Tension, in der nach dem leiblichen Tod die Biographie der Person bewahrt bleibt, stellt sich Bergson als einen Durchbruch in die Welt der »geistigen Region« vor, in der »ein noch wirksameres Handeln, ein noch intensiveres Leben« entfaltet wird (BL 25/Œuv. 835). Die in diesem Kapitel eingeführte Konzeption der Embryogenese als Erinnerungsakt einer überindividuellen ›durée‹ wird man nicht im Bergson’schen Werk finden können. Das heißt aber nicht, dass sie dem Impetus seiner Metaphysik nicht folgt. Im hier unterbreiteten Vorschlag wird nicht von den aufeinanderfolgenden Inkarnationen einer ›Seele‹ in die materielle Realität gesprochen, sondern von der Reifung eines sich in vielen metaphysischen Ebenen zugleich entfaltenden Prozesses. Diese Reifung vollzieht sich mittels der Aufeinanderfolge von materiell manifestierten Leben.
4.
Einige Probleme der Metaphysik Bergsons
In den Jahren unmittelbar vor dem ersten Weltkrieg war Bergson auf dem Zenit seiner Bekanntheit auf beiden Seiten des Atlantiks. Der Stern seiner Popularität begann in der Zwischenkriegszeit zu sinken und musste in den vierziger Jahren endgültig der Phänomenologie und vor allem dem Existentialismus das Feld überlassen. Die genuine Positivität des Bergson’schen Welt- und Menschenbildes entsprach offensichtlich nicht dem Zeitgeist einer von Weltkriegen, Massenver398 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Einige Probleme der Metaphysik Bergsons
nichtungswaffen und ›Systemen‹ aller Art besiegten Menschheit. Dennoch ist das Denken Bergsons durch sehr verschlungene, kaum zu rekonstruierende Wege in die Ansätze seiner Nachfolger und auch vieler seiner Gegner eingegangen, sodass es unangemessen wäre, seinem Untergang nachzutrauern, denn viele seiner Ideen blieben lebendig, wenn auch zumeist als solche unerkannt. 63 Insofern spiegelt der Verlauf seines Wirkens das Schicksal der Lebensphilosophie überhaupt ab. 64 In den letzten Jahrzehnten verzeichnet sich weltweit ein wachsendes Interesse für die Philosophie Bergsons, das sich der einflussreichen Wiederentdeckung seines Denkens durch Gilles Deleuze verdankt. In Deutschland ist sein Denken nie wirklich enthusiastisch aufgenommen worden, während die analytische Philosophie, vor allem in der Gestalt Bertrand Russells, ihm eindeutig ablehnend gegenüberstand. Zum leider heute noch nicht überwundenen äußerst tendenziösen Irrationalismus-Vorwurf, der vor allem von Russell, Popper und Lukacs stammt, 65 sei hier nur soviel gesagt: Bergson war mit der Biologie, Psychologie und Physiologie seiner Zeit gut vertraut und hat sich sehr intensiv mit der Relativitätstheorie auseinandergesetzt, da er mathematisch versiert war. Er ist sicherlich der mit den Naturwissenschaften am besten vertraute Exponent der Lebensphilosophie und es wäre sehr wünschenswert, wenn die Mehrheit derjenigen, die sich dem Irrationalismus-Vorwurf meistens reflexartig anschließen, sich in einem auch nur annähernd hohen Grad mit dem Geist der positiven Wissenschaften in Kontakt gekommen wären wie Bergson. Abgesehen von solchen voreingenommenen Beurteilungen sind grundsätzlich zwei ernst zu nehmende Kritiken an die Bergson’sche Metaphysik gerichtet worden. Die erste bezieht sich auf die Vernachlässigung der sozialen Dimension des Bewusstseins und damit auch des Gedächtnisses. Bergson hat tatsächlich den symbolischen Formen, und mit ihnen der intersubjektiven und kulturellen Grundlage der Für einen guten Überblick der Wirkungsgeschichte Bergsons und ihrer Hintergründe vgl.: Oger 1991, XXXVIII–LVII; Romanos 1993 u. 1994. 64 Schnädelbach gibt einen kurzen Überblick über die Fortwirkung der deutschen Lebensphilosophie in der Nachkriegszeit bis zu den Achtziger Jahren (1983, 172 ff.). 65 Mehr dazu bei Oger 1991, XLIII f., LIII. Schnädelbach bemüht sich in seiner Darstellung der Lebensphilosophie um eine wertfreie Interpretation des Ausdrucks ›Irrationalismus‹ (1983, 173 f.). 63
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III · Ontogenetisches Werden bei Henri Bergson
geistigen Prozessualität, nicht die ihnen gebührende Beachtung zukommen lassen. Stattdessen hat er die »Vollzugs- und Prozesswirklichkeit in die Immanenz des Bewusstseins […] verlegt« (Vrhunc 2002, 270). 66 Die zweite Kritik bemängelt die einseitige Privilegierung der Vergangenheit zu Lasten der Zukunft. Beide Punkte gehören jedoch eng zusammen, denn durch die Symbole bricht etwas in das Leben des Menschen ein, das nicht von ihm selbst erlebt worden ist; durch sie lebt er »in einer strukturellen Zukunft, die nicht auf [seine] Vergangenheit reduziert und auch nicht in sie übersetzt werden kann« (ebenda, Einfügung von S. K.). Beide Kritikpunkte verbinden sich exzellent im Begriff »symbolische Zukunft« Ernst Cassirers (2007, 91), dem beide Schwächen der Bergson’schen Philosophie nicht entgangen sind (Vrhunc 2002, 270). Mit diesen grundsätzlichen Problemen sind drei für den weiteren Verlauf der vorliegenden Untersuchung wichtige Kritikpunkte mittelbar verbunden, die als Abschluss dieses Kapitels diskutiert werden. Erstens: Der vielleicht schärfste Kontrast der Bergson’schen Philosophie zur traditionellen Metaphysik ist die Ablehnung der ontologischen Relevanz von Universalien. Letztere seien keine ›Bewohner‹ eines jenseitigen oder diesseitigen Reiches, wovon die verschiedenen Varianten des Universalienrealismus ausgehen, sondern Konstruktionen, die dem Überleben dienen, indem sie die Realität vereinfachen und in überschaubare Kategorien aufteilen – eine Leistung jedoch, die kein ausschließliches Privileg des Menschen sei, sondern schon den Uranfängen des Lebens Pate gestanden hätte. Bergsons Urteil, die auf der Ideenlehre aufgebaute antike Metaphysik sei »die natürliche Metaphysik des menschlichen Intellekts«, 67 der nicht auf die Wahrnehmung der Fülle des Werdens aus sei, sondern auf seine nutzbringende Beherrschung, ist nicht dem Reichtum menschlicher Subjektivität angemessen. Der Bergson’sche Pragmatismus kann nur den Beginn des Operierens mit Universalien in der menschlichen Urgeschichte erklären, als der Mensch tatsächlich ein in erster Linie um sein Überleben kämpfendes Lebewesen war. Am Urbeginn der menschlichen Subjektivität sind vermutlich Allgemeinbegriffe entstanden, die der Jagd und dem Sammeln pflanzlicher Nahrung dienlich waren. Kann aber eine biologische Kraft die Erfassung oder 66 67
Vgl. auch: Koutroufinis 2004, 61 ff. Siehe Abschn. 2.1 dieses Kapitels.
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Einige Probleme der Metaphysik Bergsons
Schöpfung mathematischer, naturwissenschaftlicher, ethischer, politischer, kunsttheoretischer und religiöser Universalien erklären? Wenn Mathematiker neue Arten abstrakter Objekte einführen und Physiker neue Elementarteilchen postulieren, um nach ihnen mühsam zu suchen, hat dies kaum etwas mit einem biologisch bedingten, sondern mit einem spekulativen Interesse zu tun, das sogar Formen der Besessenheit annehmen kann, die für das Leben der Betroffenen fatal sein können. Bergsons pragmatistische Beurteilung von Sinn und Zweck der abstrakten Entitäten verliert rasch an Plausibilität, je weniger diese mit sinnlich wahrnehmbaren Objekten des Alltags in Verbindung gebracht werden können. Zweitens: Eine nur auf den ersten Blick andere Frage ist, wie es der ›durée‹ höchster Tension eines konkreten Organismus (deren ›Länge‹ also mit seiner Lebensdauer zusammenfällt) gelingt, sich vom meta-physischen Kontinuum abzugrenzen, das sich oberhalb von ihr befindet und dem sie entstammt. Dieselbe Frage stellt sich natürlich für alle individuellen Prozesse, die unterhalb dieser ›durée‹ stehen und sich innerhalb des Leibes dieses Organismus aktualisieren. Bergsons Metapher des Kessels, aus dessen Risse Dampf unter Hochdruck entweicht, lässt die Emanation der Dauern und somit auch das biologische Leben als einen meta-physischen Unfall erscheinen – das unterstreicht auch die Rede vom Fall, vom »bloßen Verlust von etwas«, das eine »Unterbrechung, ein Defizit« darstellt. 68 Die im letzten Buch Bergsons vorgenommene Rückführung des ›élan vital‹ auf die göttliche Liebe, die aus sich emaniert, um sich ein Objekt zu erschaffen, 69 kann nur in Bezug auf die obersten Ebenen des Spektrums der Dauern befriedigen, die der lebendigen Ewigkeit, also Gott, sehr nah stehen. Mit wachsender Distanz jedoch von ihr tritt das Motiv der Liebe zugunsten anderer zurück, die von der zunehmenden ›Verblendung‹ (wie Buddhisten zu sagen pflegen) der separaten Existenz beherrscht sind. Die Bergson’sche Prozessphilosophie muss dahingehend erweitert werden, dass ein Prozess, zwecks seiner eigenen Wesensbestimmung, Prozesse niedrigerer Tension aus sich entlässt, die ihrerseits, im Zuge ihrer eigenen Wesensbestimmung, eine spezifische und prinzipiell unvorhersehbare Eigengesetzlichkeit entfalten, womit sie sich von ihrem Ursprung gewissermaßen abgrenzen. 68 69
Siehe Abschn. 2.2.a dieses Kapitels. Siehe Abschn. 2.2.c dieses Kapitels.
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III · Ontogenetisches Werden bei Henri Bergson
Es war schon die Rede davon, dass die Wesensbestimmung der lebendigen Ewigkeit mittels ihrer Aktualisierung zu Prozessen niedrigerer Tension in jeder Ebene der Emanation (bzw. der natura naturata) ›horizontal‹ und ›vertikal‹ verläuft (vgl. Abb. 3.2). Der Notwendigkeit der gleichzeitigen Koexistenz beider Richtungen dieser Herauskristallisierung und der denkbaren ›Anatomien‹ letzterer können gewiss ganze Abhandlungen gewidmet werden. Hier ist jedoch lediglich zu betonen, dass aufgrund der unlösbaren Verbindung beider Richtungen der doppelten Irreversibilität ihre ›vertikale‹ Richtung (Emanation) notwendig die ›horizontale‹ Entfaltung von Prozessen impliziert, die sich auf verschiedenen Ebenen der ›durée‹ vollziehen. Da die ›vertikale‹ Richtung keinen Unfall und somit auch keinen Zufall darstellt, wie Bergsons Metapher suggerieren könnte, sondern eine intern bedingte Entwicklung, ist die ›horizontale‹ Entfaltung jeder noch so niedrig angesiedelten ›durée‹ eine intern verursachte Erweiterung in die Zukunft und kein passives Erleiden letzterer. Umgekehrt muss man, Bergson kritisierend, feststellen, dass die Vorstellung des Falles, des Verlustes, des Entwerdens der göttlichen ›durée‹ – die kraft der Gewalt ihres biblischen, möchte man sagen, Sturzes auch all ihre in diesem Abgrund geborenen ›Kinder‹ unentrinnbar mit sich reißt – mit der Vernachlässigung der Problematik der Zukunft zugunsten der Vergangenheit korrespondiert. Sie geht mit der Überbetonung der Gewesenheit zu Lasten der Gewesendheit einher, um wieder mit Heidegger zu sprechen. 70 Die Wesensbestimmung der ›durée‹, die ihre spontane Selbsttransformation bedeutet, findet immer im Horizont der Zukunft statt. Denn die Tatsache der Weiterexistenz des Erlebten, worin der Gedächtnis-Aspekt der Dauer besteht, verbietet jede zeitreisenartige Variation dieser, d. h. jedes Manipulieren ihrer Inhalte nach Belieben, als wäre sie ein vorliegendes Objekt, ein verräumlichtes Seiendes, das zur Verfügung stehen würde. Ihre Selbsttransformation kann sich nur durch die Seinsweise der Dauer selbst vollziehen, die in der Fortsetzung der konkreten Kontinuität besteht. Die schöpferische Gewesenheit kann nicht anders, als sich in die Zukunft zu werfen, um
Siehe Fußnote 19 dieses Kapitels. Unter ›Gewesendheit‹ kann derjenige Aspekt der Heidegger’schen Zeitlichkeit bezeichnet werden, der – abstrakt zeitlich, d. h. im Sinne der uneigentlichen Zeitlichkeit, ausgedrückt – mit dem Übergang der Zukunft in die Gegenwart zusammenhängt.
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Einige Probleme der Metaphysik Bergsons
ihre Existenz als ›durée‹, d. h. als Prozess und nicht als eine verräumlichte Entität, fortzusetzen. Dafür sind aber – zumindest auf der Ebene der menschlichen und der höheren animalischen Subjektivität – Universalien und die mit ihnen zusammenhängenden abstrakten Möglichkeiten des Werdens besonders geeignet, was auf den ersten Kritikpunkt zurückführt. Das menschliche Bewusstsein muss sich in etwas hinaus wagen, das nur antizipiert werden kann. Die Zukunft wird in der Gestalt einer abstrakten und somit universalen und folglich öffentlichen Möglichkeit begehrt, um erst im konkreten Erleben in die private Virtualität des Gewesenen – diese wesenhaft verändernd – integriert zu werden. Die Zukunft wäre nur dann im Modus der Virtualität, wenn sie nichts Fremdes an sich hätte. Dass dem Jonglieren mit Universalien, deren Kombination und Rekombination mögliche zukünftige Ichs konstruiert, die kalte Aura des bloß Begrifflichen innewohnt, liegt in der Sache selbst, denn der Wurf in die Zukunft durch abstrakte Möglichkeiten kann nur etwas Fremdes sein: eine Antizipation des Ich als ein anderes. Der abstrakt planende Faktor der menschlichen Prozessualität reißt diese schmerzvoll aus der Virtualität ihrer vertrauten privaten Geschichte heraus. Eine leidvolle Erfahrung, die noch vor dem Aufkommen der ersten Hochkulturen alle sozialen Veränderungen begleitet, und die gegenwärtig die Menschheit als Ganze durchmacht. 71 Die wirkmächtigsten Universalien unserer Zeit sind der Begriff ›System‹ und diejenigen, die um diesen kreisen. Dieser in Europa geborene philosophische Ausdruck erfuhr in den USA eine enorm inflationäre Erweiterung seines Bedeutungsraumes. Diese Entwicklung setzte vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg ein, als eine gewaltige Ansammlung vor allem deutschsprachiger Kybernetiker, Mathematiker, Physiker, Politikwissenschaftler, Philosophen, Ingenieure und anderer das Paradigma der Systemtheorie als etwas Interdisziplinäres gründete. Dieses stieg sehr bald zur ›heiligen Kuh‹ der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ist gegenwärtig dabei, ausgerüstet mit der Mathematik nichtlinearer Relationen, das mächtigste Paradigma der Wissenschaftskultur des 21. Jahrhunderts zu werden. Mehr noch: es scheint sogar die treibende theoretisch-weltanschauliche Kraft der Errichtung einer jenseits nationaler Kategorien fundierten globalen Wirtschaftsordnung und einheitlichen Weltkultur des Denkens, Fühlens, Sprechens, Benehmens, Studierens usw. zu sein. Diese extrem abstrakte Denkweise innerhalb einiger führender ›Denkfabriken‹ (Think-Tanks) stellt als solche nichts als ein Jonglieren mit Universalien dar, deren Kombinationen ›mögliche Welten‹ – genauer: ›mögliche Erden‹ – sind. Allerdings hat jedes Zeitalter der Menschheit unter der Herrschaft der Universalien bestimmter Mächte gelitten, die die Zukunft der Beherrschten abstrakt planten und sie aus der Vertrautheit ihrer Lebenswelten vertrieben.
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III · Ontogenetisches Werden bei Henri Bergson
Die Entwurzelung aus der ›Heimat‹ des zutiefst Vertrauten und Lebendigen durch absolut leblose Abstraktionen könnte das Urtrauma der Existenz sein, das vor allem die bewusstseinsbegabten Dauern durch das Sich-Werfen in die Fremdartigkeit der Zukunft erfahren. Diesen harten Aspekt der Prozessualität hat Whitehead viel mehr beachtet als Bergson. Ein komplexes Subjekt kann durch die Kombination von Universalien zu einer kohärenten abstrakten Struktur seine eigene Zukunft entwerfen und in diese eingehen. Universalien können also der Antizipation der Zukunft einer ›durée‹ dienen, aber nicht, damit Letztere bloß überlebt, wie Bergson denkt, der die Vorbereitung der Zukunft primär unter dem Nützlichkeitsaspekt betrachtet. 72 Gelingt es der sich selbst eine Zukunft gebenden ›durée‹, die notwendig eintretende anfängliche Selbstentfremdung zu überwinden, so führt sie sich zur höheren inneren Harmonie und somit zur Reifung, die ein reicheres Leben bedeutet. Drittens: Die unauflösbare Angewiesenheit dieser Reifung auf Prozesse niedrigerer Tension wirft schließlich die letzte für die vorliegende Untersuchung wichtige Frage auf: Die höheren Dauern müssen die Inhalte der niedrigeren, die aus jenen emanativ hervorgehen bzw. in die sich jene aktualisieren, wieder in sich aufnehmen, um sie zu verarbeiten. Die Emanation kann logischerweise dies nicht verwirklichen, da sie sich in der entgegengesetzten Richtung, von ›oben‹ nach ›unten‹, vollzieht. Die Prozesse der höheren Ebenen müssen die aus ihnen hervorgegangenen Prozesse wesenhaft erfassen, um sich an sie erinnern zu können (und somit die Kontinuität der Prozesse auf den tieferen Ebenen, d. h. auch die abstrakt-physikalisch beschreibbare raumzeitliche Kontinuität garantieren zu können). Es stellt sich also die Frage nach der Möglichkeit der Partizipation des Wesens der jeweiligen natura naturans am Wesen ihrer natura naturata, d. h. der An-wesen-heit einer höheren ›durée‹ bei ihren ›Kindern‹ : Wie kann eine ›durée‹ höherer Tension andere Dauern aus sich entlassen und trotzdem die Abenteuer dieser erfassen? Ein konkreter Vorschlag muss unterbreitet werden, der zeigt, wie Prozesse andere Prozesse erfassen. Nur wenn dies bewerkstelligt worden ist, wird man wirklich davon ausgehen können, dass die lebendige Ewigkeit ein universelles Gedächtnis ist, das in sich alle Ereignisse des Kosmos als gewesene bewahrt, dass »ein gespannteres Bewusstsein als das unsrige« der ge-
72
Siehe Fußnote 20 dieses Kapitels.
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Einige Probleme der Metaphysik Bergsons
samten »Entwicklung der Menschheit beiwohnen« kann. 73 In Materie und Gedächtnis, dem vielleicht scharfsinnigsten Buch Bergsons, wird eine sehr unorthodoxe Theorie der Wahrnehmung eingeführt, aus der später die Vorstellung der animalischen ›Sympathie‹ hervorging, als der nicht-sinnlich vermittelten direkten Einfühlung eines Tieres in den Körperbau eines anderen, also in Prozessen bzw. Dauern niedriger Tensionen. 74 Die für die Bergson’sche Metaphysik äußerst typische Intuition, dass das Bewusstsein die Dinge in den Dingen und nicht in seinem Gehirn wahrnimmt (MG 28, 32, 214/Œuv. 192, 195, 349), muss genauer ausgearbeitet werden. Bergson weist in eine vielversprechende Richtung, indem er den Repräsentationalismus verwirft. Whitehead hat diesen Vorstellungen des direkten Erfassens, das keiner raumzeitlich lokalisierten materiellen Träger bedarf, einen konkreteren Ausdruck verliehen, der den Antirepräsentationalismus Bergsons bestätigt und weiterdenkt. Abschließend seien die aus meiner prozessphilosophischen Sicht größten Verdienste Bergsons kurz zusammengefasst: Erstens das tiefe Verankern der Subjektivität in allen wirklichen Entitäten bzw. Individuen (In-dividuen) der Natur und zwar auf der Basis einer Metaphysik des Werdens, die die Substanzontologie transzendiert. Zweitens die Verbindung des Denkens dieser prozessualen, sich selbst wesenhaft transformierenden Subjektivität mit einer vor Bergson schlicht und einfach nicht dagewesenen Synthese von Zeitlichkeit und nicht abstrakt gedachter Kontinuität. Weder Heidegger und Sartre noch die Strukturalisten und Poststrukturalisten, weder die Neo- und Postmarxisten noch die Neopragmatisten und analytischen Philosophen oder die Vertreter der Siehe Abschn. 2.2.b dieses Kapitels. Bergson zufolge darf die Wahrnehmung der Grabwespe nicht der des Entomologen angeglichen werden, »der die Raupe so kennt, wie er eben alles kennt, von außen her« (SchE 199/Œuv. 642). Es gibt »zwischen der Grabwespe und ihrem Opfer eine Sympathie (im etymologischen Wortsinne) […] eine Sympathie, die sie gewissermaßen von innen her über die Verletzbarkeit der Raupe unterrichtet. Der äußeren Wahrnehmung braucht dieses Gefühl der Verletzbarkeit nichts zu verdanken, es ergäbe sich einfach aus dem Zusammentreffen von Wespe und Raupe – beide nicht länger mehr als zwei Organismen, sondern als zwei Aktivitäten angesehen« (SchE 200/Œuv. 642, Hervorhebung von S. K.). Die Vorstellung der kognitiven Sympathie ist ein Sonderfall der umfassenden Sympathie, die dem Lebendigen erlaubt, das Leben nicht intellektualistisch, sondern intuitiv zu erkennen (Köchy 1999, 133, 138, 149 ff.).
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III · Ontogenetisches Werden bei Henri Bergson
verschiedenen Richtungen der Wissenschaftsphilosophie des 20. Jahrhunderts und generell keine der tonangebenden philosophischen Schulen zwischen 1930 und heute hat eine auch nur annähernd so vieldimensionale Naturphilosophie vorzuweisen, die – bei aller Kenntnis der Naturwissenschaften – der szientistischen Reduktion und Unterwerfung der Natur eine so eindeutige Absage erteilt hat. Die einzige philosophische Familie, die sich des naturphilosophischen Erbes Bergsons angenommen hat und verspricht, es im Laufe des neuen Jahrhunderts in eine die Subjektivität, den Eigenwert und die Unersetzbarkeit der lebendigen Natur respektierenden Metaphysik zu integrieren, ist die Whitehead’sche Prozessphilosophie. Dies kann natürlich nicht als Anpassung selektierter Momente des Bergson’schen Denkens an eine Richtung vollbracht werden, die in der Philosophie Whiteheads ihre Substanz sieht, sondern als Aufnahme dieses Denkens in einen sich selbst vollziehenden geistigen Prozess, der durch die Integration verwandter und zugleich gleichberechtigter Entwürfe sein Wesen kontinuierlich zu transformieren sucht. In diesem Sinne sei vorausgreifend gesagt, dass die Theorie der heterogenen Kontinuität der ›durée‹ – die ohne eine gewisse Vernachlässigung des Aspektes der Zukunft nicht so klar zu formulieren wäre, da die Zukunft immer einen ›Riss‹ darstellt (Sartre) – helfen kann, einige Schwächen der Whitehead’schen Prozessphilosophie zu beseitigen. 75
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Siehe Kap. V der vorliegenden Untersuchung.
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Kapitel IV Die Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads und die Ontogenese
In den Tatsachen der Reinen Erfahrung gibt es weder den Gegensatz von Subjekt und Objekt noch den zwischen Geist und Materie. Materie ist Geist und Geist ist Materie. Kitarō Nishida 1
Einleitung: Allgemeines über Whitehead und die Prozessphilosophie Alfred North Whitehead (1861–1947) wird häufig als der bedeutendste Erneuerer der Naturphilosophie und der Metaphysik der Gegenwart angesehen. Seine in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts entstandenen philosophischen Werke markieren seine letzte große Schaffensperiode, die an seine überaus erfolgreichen Phasen als Logiker, Mathematiker und Physiker anschließt. Als Whitehead sich offiziell der Philosophie zuwandte, hatte er bereits fast vierzig Jahre lang Mathematik und Physik am Trinity College in Cambridge und am Imperial College in London unterrichtet. Sein internationales Ansehen als Mitautor von Principia Mathematica, in dem er zusammen mit Bertrand Russell die moderne mathematische Logik begründete, sowie auch seine Formulierung einer alternativen Relativitätstheorie mit der entsprechenden relationalen Raum-Zeit-Theorie in den Jahren um 1920 ermöglichten ihm im Alter von 63 Jahren eine Philosophieprofessur an der Harvard-University anzutreten. In seiner neuen Heimat gelang es Whitehead, die in seinem jahrzehntelangen Studium der Philosophie gewonnenen und durch die rege geistige Auseinandersetzung mit Denkern wie McTaggart, Moore, Russell und Keynes gefestigten Erkenntnisse zu systematisie1 Entnommen aus dem Werk Über das Gute. Eine Philosophie der Reinen Erfahrung (2001, 202).
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IV · Die Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads und die Ontogenese
ren und als kohärente Einheit zu präsentieren. So konnte er der bekannteste Exponent einer philosophischen Richtung werden, die in den Jahrzehnten um 1900 vor allem im angelsächsischen Sprachraum entstanden ist. Diese philosophische Richtung, die als Prozessphilosophie, im weiteren Sinne dieses Wortes, bezeichnet werden kann, wird heute, auch dank der Anregungen der Whitehead-Forschung, allmählich als eigenständige Tradition anerkannt, die aber auch viele Überschneidungen mit etablierten philosophischen Grundströmungen der Vergangenheit, wie der Lebensphilosophie und dem Pragmatismus, aufweist. Genuin prozessphilosophische Ideen durchziehen neben den Werken von Henri Bergson auch die von Charles Sanders Peirce, William James, John Dewey, Samuel Alexander, Lloyd Morgan, Andrew Paul Ushenko, Nicholas Rescher, Friedrich Nietzsche und natürlich auch die Schriften der Whitehead-Schüler Charles Hartshorne und Paul Weiss. Die Begründung dieser Denkrichtung fällt jedoch mit den Uranfängen der westlichen Philosophie zusammen, denn ihr Spiritus Rector ist Heraklit. Die vorherrschende antimetaphysische Einstellung, die das späte 19. und das 20. Jahrhundert prägte, hatte zur Folge, dass prozessphilosophisches Gedankengut bis vor Kurzem in die philosophische und weitere geistig-kulturelle und weltanschauliche Landschaft schwer eindringen konnte. Was die Whitehead’schen Werke insbesondere betrifft, so lässt es sich feststellen, dass schon seit ihrer Erscheinung eine eigenartige Faszination von ihnen ausgeht. Einerseits wurde ihre Originalität sofort erkannt und gewürdigt, andererseits wurden sie mit dem Siegel der Metaphysik versehen und somit als, wenn auch geniale, Vertreter einer längst vergangenen Zeit abgestempelt. Diese reservierte Haltung wurde von zwei anderen Faktoren unterstützt. Kaum jemand, der sich intensiv mit seinen Werken auseinandergesetzt hat, wird ernsthaft bestreiten, dass seine Position zwischen allen großen philosophischen Stühlen der Gegenwart geortet ist und zugleich nur in einem sehr weiten Sinne Hauptströmungen der Vergangenheit fortsetzt. Erschwerend kommt hinzu, dass es sich dabei um schwierige Lektüren handelt, die nach einem beträchtlichen Arbeits- und Zeitaufwand verlangen. Folge dieser Umstände ist, dass Whiteheads Denken, das sich vor allem in seinem monumentalen Hauptwerk Process and Reality verkörpert, bis vor wenigen Jahrzehnten beinah ohne Wirkung geblieben ist. Umso auffälliger und begrüßenswerter ist folglich die in den letzten Jahren zu beobachtende wachsende Begeisterung für das Werk Whiteheads, die nicht allein 408 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Einleitung: Allgemeines über Whitehead und die Prozessphilosophie
auf die Philosophie beschränkt bleibt. Diese sich allmählich abzeichnende Änderung hat unterschiedliche Gründe. An erster Stelle wäre hier der fortschreitende Abbau der Vorurteile gegen den MetaphysikBegriff zu nennen. 2 Angesichts der verschiedensten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bleibt es zu hoffen, dass dieses sich anbahnende wachsende Interesse für Whitehead die Rehabilitation der Prozessphilosophie insgesamt mit sich bringen wird. So kann, um nur ein Beispiel zu nennen, auf der Grundlage dieser Tradition der interkulturell-philosophische und interreligiöse Dialog vorangetrieben werden, denn alle zu Beginn genannten Namen bilden lediglich den westlichen Zweig einer gewaltigen Denkkultur. Ihnen steht ein besonders traditionsreiches buddhistisches Prozessdenken zur Seite, dessen Begründung auf Siddhartha Gautama, den historischen Buddha, selbst zurückgeht. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Prozessphilosophie (insbesondere das Denken von Whitehead und Bergson) im ostasiatischen Raum ein hohes Ansehen genießt, was nicht auf den Buddhismus beschränkt bleibt. Die Grundintuition aller Prozessphilosophien besteht in der vorempirischen Annahme, dass die ontologischen Fundamente der Realität, d. h. die primären bzw. elementaren wirklichen Entitäten des Universums, Akte des Werdens sind, und nicht Substanzen. Alles Persistierende wird zum Resultat der Aufeinanderfolge von miteinander zusammenhängenden Werdeakten erklärt. Aus meiner Perspektive können neben der zentralen Prämisse des Werdens der wirklichen Entitäten zwei weitere Grundannahmen der Whitehead’schen Version der Prozessphilosophie auseinandergehalten werden, die auch anderen Protagonisten dieser Denkkultur, wie Bergson, vertraut sind. An dieser Stelle werden sie nur kurz vorgestellt, da sie an verschiedenen Stellen dieses Kapitels ausführlich behandelt werden: Den wirklichen Entitäten wird eine physisch-mentale Natur zugesprochen und somit eine, wenn auch noch so elementare, Subjektivität. Aus der Eine Analyse der verschiedenen Gründe dieses ›Klimawandels‹ kann hier nicht geleistet werden. Der Verweis auf die zunehmenden Zweifel, inwiefern die Kritiker der Metaphysik tatsächlich jenseits jeder Form metaphysischen Denkens stehen, soll hier ausreichend sein. Michael Hampe betont in diesem Zusammenhang, dass sich sogar die schärfsten Gegner der Metaphysik, wie die Neopositivisten, um die Klärung vorempirischer Begriffe, wie ›Raum‹, ›Zeit‹, ›Kausalität‹, ›Substanz‹, ›Universalien‹ u. a. bemüht haben, die zum traditionellen Geschäft der Metaphysik gehören und von Fachwissenschaftlern in der Regel naiv verwendet werden (1991, 13).
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IV · Die Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads und die Ontogenese
Verbindung von Werden und Subjektivität geht schließlich die dritte Grundannahme und Tragsäule des Whitehead’schen Denkgebäudes hervor, die besagt, dass die werdenden Subjekte erst durch Erfahrungsrelationen zueinander entstehen, sodass sie losgelöst voneinander völlig undenkbar sind. Die Fundamente der Realität werden also als Resultate interner Relationen konzipiert. Auf der Basis dieser Grundideen entwickelt Whitehead eine Ontologie, die das Werden der wirklichen Entitäten als Prozess begreift, und zwar in dem Sinne, der diesem Begriff am Ende des zweiten Kapitels der vorliegenden Untersuchung gegeben wurde. Die Whitehead’sche Prozessualität hat so gut wie nichts mit dem gewöhnlichen Prozessbegriff von Alltags- und Wissenschaftspraxis zu tun, denn die Whitehead’schen Prozesse sind keine Bewegungen oder Veränderungen. 3 Auf der Basis seines neuen Metaphysik-Verständnisses entwickelte sich Whitehead – wiederum die ›guten Manieren‹ des philosophischen Establishments seiner Zeit vollkommen ignorierend – zu einem Systemdenker. Neben seiner kosmologischen Prozessmetaphysik, die auch eine ihr angemessene Erkenntnistheorie enthält, entwickelte er auf prozessphilosophischer Grundlage auch eine Religions-, Pädagogik- und Geschichtsphilosophie. 4 Der religionsphilosophische Teil des Whitehead’schen Systems konnte eine beachtliche Wirkung entfalten. Auf der Basis eines prozessualen Gottesverständnisses – Gott wird als Prozess gedacht, der sich in einer immerwährenden Wesensbestimmung befindet 5 – entstand eine bekannte theologische Schule in den USA. Dies wird im Abschn. 2.2.c erläutert. Der prozessphilosophischen Phase Whiteheads sind die Werke Science and the Modern World (1925), Religion in the Making (1927), Symbolism, its Meaning and Effect (1927), Process and Reality (1929), The Function of Reason (1929), Adventures of Ideas (1933), Modes of Thought (1938) und teilweise auch die Aufsatzsammlungen Essays in Science and Philosophy (1947) und Interpretation of Science (1961) zuzuordnen. Pädagogischen Fragen widmen sich die Werke The Organisation of Thought: Educational and Scientific (1917) und The Aims of Education (1929). Die Werke An Enquiry Concerning the Principles of Natural Knowledge (1919), The Concept of Nature (1920) und The Principle of Relativity (1922), die aus seiner Beschäftigung mit der Relativitätstheorie hervorgegangen sind, haben zweifelsohne naturphilosophischen Charakter. Sie können aber nicht der prozessphilosophischen Phase zugeordnet werden, denn sie beruhen auf einer Ontologie der Ereignisse, die sich von der Prozessontologie der späteren Werke deutlich unterscheidet. 5 Whiteheads prozesstheologische Vorstellungen werden im Abschn. 2.3.e vorgestellt. 3 4
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Einleitung: Allgemeines über Whitehead und die Prozessphilosophie
Whiteheads prozessontologisches Naturbild lebt von der Idee, dass die Naturphilosophie nicht in der Philosophie der Naturwissenschaften aufgehen darf. Dieses gleichermaßen fundamentalen wie auch fatalen Irrtums hat sich, Whitehead zufolge, die moderne Philosophie schuldig gemacht, indem sie vielen abstrakten Konstruktionen der Naturwissenschaften metaphysische Relevanz verlieh. Im Gegensatz dazu entwirft er eine pansubjektivistisch gedachte Natur, die nicht darin begrenzt ist, Objekt naturwissenschaftlicher Forschungen und passives Mittel im Dienste menschlicher Zwecke zu sein. Der Eigenwert der Natur besteht in ihrem Für-Sich-Sein, das den Kreis menschlicher Interessen transzendiert. Whiteheads Werk ist ein monumentaler Kraftakt der Suche nach einer nicht idealistischen Philosophie, die der Natur eine tiefere Realität zuspricht, der Raum, Zeit und Wirkursachen-Kausalität entspringen. Der allmählichen Überwindung der Identifikation von Metaphysik mit den altmetaphysischen Systemen der Vergangenheit ist zu verdanken, dass Whiteheads Prozessphilosophie in den letzten Jahrzehnten zunehmend von bekannten theoretischen Physikern, wie Ilya Prigogine, Roger Penrose, David Bohm, Henry Stapp und anderen, die in ihrer Mehrheit als Quantentheoretiker tätig sind, aufgegriffen und in ihr Denken integriert wird. 6 Im Gegensatz zu der Öffnung bedeutender Physiker der Gegenwart gegenüber dieser modernen Naturphilosophie ignorieren die führenden Biologen und Philosophen der Biologie unserer Zeit die Whitehead’sche Perspektive des Lebens. Das primäre Ziel dieses Kapitels ist, eine neue Biophilosophie zu skizzieren, indem es die Fruchtbarkeit der Whitehead’schen Ontologie für ein Verständnis des Lebendigen jenseits des szientistischen Materialismus, der zur Organismus-Problematik führt, demonstriert. Zu diesem Zweck müssen zuerst die wichtigsten Beweggründe Whiteheads und die Grundlagen seiner Prozessphilosophie erläutert werden.
Vgl.: Griffin 1986, Prigogine & Stengers 1990, Hameroff & Penrose 1996, Eastman & Keeton 2004.
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IV · Die Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads und die Ontogenese
1.
Das Leitmotiv der Metaphysik Whiteheads: eine Brücke zwischen Subjektivität und Materialität jenseits altmetaphysischer Dogmatik
Whitehead versteht unter ›Metaphysik‹ nichts mehr und nichts weniger als die rationale Tätigkeit, die versucht, die allgemeinen Ideen zu erforschen, die für die Analyse aller Geschehnisse unverzichtbar sind (RM 84/dt. 66). Sie soll die allgemeinen Prinzipien beschreiben, welche auf alle Einzelheiten der Praxis angewandt werden können (PR 13/dt. 48). Die Perspektive, aus der Whitehead sich metaphysisch betätigt, ist unverkennbar an seine lange und besonders ergiebige naturwissenschaftlich-mathematische Vergangenheit gebunden. Damit setzt er die seit der Antike enge Verwandtschaft zwischen metaphysischer und wissenschaftlicher Erkenntnis auf eine neue Weise fort: »Seine philosophische Fragestellung ist für ihn selbst die Erneuerung der philosophischen Fragestellung der Alten und der Modernen […] Es ist die alte Frage des Plato und des Aristoteles und die in der Moderne durch Leibniz und Kant erneuerte Frage nach den allgemeinsten Prinzipien und Ursachen einer wissenschaftlichen Naturerkenntnis. Diese Frage ist, sofern sie die allgemeinsten Prinzipien und Ursachen als solche betrifft, die Frage der Metaphysik« (Wiehl 1990b, 213).
Whiteheads Metaphysik-Verständnis unterscheidet sich jedoch deutlich von dem der philosophischen Tradition bezüglich eines sehr zentralen Punktes: Er ist von der nicht zu beseitigenden Ungewissheit bezüglich der Richtigkeit metaphysischer Sätze absolut überzeugt. Dass die Philosophie sehr oft nicht vom Dogmatismus verschont wurde, hängt mit ihrem Grundirrtum zusammen, der zwei Übertreibungen enthält (PR 7/dt. 39). Die erste besteht in der Verwechslung von Abstraktem und Konkretem, was dazu führte, dass Metaphysik und Naturphilosophie die Abstraktionen der Naturwissenschaften, z. B. über Raum, Zeit und Stofflichkeit, für bare Münze nahmen und sie ontologisierten (SMW 70/dt. 72, PR 7 f./dt. 39). Die zweite besteht in der unheilvollen Übernahme der Methode der Mathematik, die von Grundaussagen ausgeht, die, um mit Descartes zu sprechen, ›claire et distincte‹ und somit scheinbar sicher sind, um deduktiv andere sichere Aussagen abzuleiten. Ein metaphysisches System kann aber nicht von eindeutig formulierten axiomatischen Gewissheiten ausgehen, denn die verwendeten Worte und Ausdrücke bekommen erst nachträglich ihre Bedeutung (PR 13/dt. 49). Folglich steht jede Prämisse in 412 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Das Leitmotiv der Metaphysik Whiteheads
einem philosophischen Argument unter Verdacht (PR 8/dt. 40). Diese Situation verlangt nach philosophischer Toleranz und Weitsicht, Tugenden, mit denen die traditionelle Metaphysik sich nicht immer rühmen konnte. Was Whitehead zu dieser Haltung bewogen hat, ist nicht nur seine Erfahrung über die Begrenztheit der philosophischen Erkenntnisfähigkeit. Seine Vorstellungen über die unüberwindbare Unbestimmtheit metaphysischer Ausdrücke sind unlösbar an seine Ontologie gebunden: In einer von interner Relationalität regierten Welt kann eine Aussage erst dann vollkommen eindeutig sein, wenn alles über den Bereich des Universums, auf den sie sich bezieht, vollständig erkannt ist (PR 11/dt. 45 f.). Der Satz »Sokrates ist sterblich« mag mit logischer Gewissheit geschlussfolgert werden, aber was damit genau ausgesagt wird, ist ohne eine sichere Kenntnis dessen, was ›tot sein‹ bedeutet, nicht zu erkennen. Eine präzise Sprache ist nicht zu Beginn der metaphysischen Tätigkeit vorhanden, denn sie kann erst bei vollständiger metaphysischer Erkenntnis geschaffen werden (PR 12/dt. 47). Dies hat die Vorläufigkeit der Bedeutung metaphysischer Aussagen notwendig zur Folge. 7 Auf der Basis eines besonderen Verständnisses von Prozessualität errichtet Whitehead eine philosophische Kosmologie jenseits aller metaphysischen Systeme alten Stils, die hinter jedem Wandel nach zeitlosen Wesenheiten suchten, um zur Erkenntnis ewiger Wahrheiten zu gelangen (Wiehl, 1990a, 12). Denn die Pluralität der Prozesse bildet eine Gesamtrealität, die nicht bloß phänomenal, sondern in ihrem Grund evolviert, sodass ihr Wesen nicht abgeschlossen ist. Die Offenheit und Spontaneität der Wesensbestimmung aller wirklichen Entitäten ist ein Kernthema genuiner Prozessphilosophien; im Falle der Whitehead’schen Metaphysik wird von ihr jedoch auch die Begründung der essentiellen Begrenztheit und somit die Vorläufigkeit alles metaphysischen Erkennens abgeleitet.
»Metaphysical categories are not dogmatic statements of the obvious; they are tentative formulations of the ultimate generalities« (PR 8/dt. 40, Hervorhebung von S. K.).
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1.1 Die Zweckursachen und das universelle anti-entropische Agens Eine der Kernüberzeugungen Whiteheads ist, dass das Verständnis der natürlichen Ereignisse nach einer Rehabilitation des in der Neuzeit zunehmend verdrängten Begriffs der Zweckursache (final causation) verlangt. In seinem 1929 veröffentlichten Buch The Function of Reason, das in der reifen Phase der Prozessphilosophie entstanden ist, gibt er zwei Gründe an, die gegen die Verbannung der Zweckursachen aus dem wissenschaftlichen Denken sprechen. Erstens, die Erlebensqualität der menschlichen Erfahrung ist ohne sie völlig unbegreiflich. Das Zeugnis des unmittelbaren Erlebens wird am Ausklang der Schrift eindringlich beschwört: »In our experience we find appetition, effecting a final causation towards ideal ends which lie outside the mere physical tendency. In the burning desert there is appetition towards water, whereas the physical tendency is towards increased dryness of the animal body. The appetition towards esthetic satisfaction by some enjoyment of beauty is equally outside the mere physical order« (FR 89/dt. 73).
Zweitens, die Tatsache, dass es im Universum eine der Zerstreuung der Ordnung gegenläufige Tendenz geben muss, spricht für die Wiedereinführung der Zweckursachen. Whitehead vermag nicht in der Wirkursachen-Kausalität (efficient causation) der Physik und generell der Naturwissenschaften etwas anderes zu erkennen als Kräfte, die zur Ermüdung (fatigue) der jeweils bestehenden Ordnung führen und somit zu ihrem irreversiblen Zerfall (FR 24, 29/dt. 23, 27). Die Evolution des Lebens in seiner Gesamtheit und die Entwicklung der einzelnen Organismen sind Belege für eine dem Verfall entgegengerichtete Tendenz. Von den tierischen Organismen weiß man, »through the medium of our personal experience«, dass es ein Streben zur Entwicklung gibt (FR 24/dt. 23). Etwas Ähnliches kann zwar im anorganischen Universum nicht direkt beobachtet werden, aber es bleibt nichts anderes übrig, als ein dem Verfall entgegengerichtetes Gegen-Agens (counter-agency) einzuführen (FR 25/dt. 24). Denn die Existenz von Galaxien, Sternen und mikrophysikalischen Strukturen belegt, dass es im Universum ein uranfängliches Verlangen nach Ordnung gegeben haben muss. Whiteheads Überzeugung, dass dies kein Resultat von Wirkursachen gewesen sein konnte, bleibt von den Erkenntnissen der Theorie dissipativer Strukturen Prigogi414 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Das Leitmotiv der Metaphysik Whiteheads
nes unberührt. Denn auch wenn Prigogine Strukturbildungen als lokale Reduktionen der Entropie erklärt, geht er trotzdem von der für die moderne Thermodynamik und Kosmologie fundamentalen Gewissheit der irreversiblen Entropiezunahme auf der globalen Ebene des Universums aus, womit sich die Frage nach einem ursprünglichen Zustand höchster physischer Ordnung stellt. Überdies zeigt die im zweiten Kapitel entfaltete Kritik, die zur Zeit Whiteheads nicht hätte formuliert werden können, dass die Gedanken des Letzteren bezüglich der Entstehung lebendiger Ordnung heute weiterhin aktuell sind, da die nichtlinearen Systemtheorien nur bei Systemen, die regulativ offen sind, die lokale Abnahme der Entropie erklären können. Whiteheads Metaphysik kann also auch als eine Antwort auf das so fundamentale Darwin-Clausius-Dilemma, dem das moderne Paradigma der Selbstorganisationstheorie entsprungen ist, angesehen werden. Dies wird zwar in The Function of Reason besonders deutlich zum Ausdruck gebracht (29/dt. 27), ist aber ein Dreh- und Angelpunkt all seiner metaphysischen Werke: Da die Alleinherrschaft der Wirkursachen im besten Fall Quasi-Wiederholungen produziert, die eine Form des langsamen Verfalls sind, verlangt die Genese des qualitativ Neuen nach Zweckursachen. Die Radikalität des Whitehead’schen Denkens besteht aber in der seine gesamte Metaphysik durchziehenden Forderung, dass Zweckursachen allen physischen Werdeakten zugesprochen werden müssen: »In the animal body there is, as we have already seen, clear evidence of activities directed by purpose. It is therefore natural to reverse the analogy, and to argue that some lowly, diffused form of the operations of Reason constitute the vast diffused counter-agency by which the material cosmos comes into being. This conclusion amounts to the repudiation of the radical extrusion of final causation from our cosmological theory« (FR 26/dt. 25).
An einer anderen Stelle heißt es: »[T]he root principles of life are, in some lowly form, exemplified in all types of physical existence« (FR 21/dt. 21).
Whiteheads Prozessphilosophie hat mit der Aristotelischen Physik gemeinsam, dass ausgehend vom Lebendigen, insbesondere vom Tierischen, eine allumfassende Ontologie begründet wird. Insofern fügt es sich, dass er sie auch als »organic Philosophy« bzw. »organic 415 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
IV · Die Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads und die Ontogenese
Theory« bezeichnet – die eigentliche Rechtfertigung dieses Namens verlangt jedoch nach einer näheren Bekanntschaft mit seiner Ontologie. Auf dieser Basis ist die menschliche Vernunft nichts als ein spezifischer Ausdruck eines universellen Vermögens, des Gegen-Agens, das die Welt gegen ihre eigene Ermüdung revitalisiert und rettet. 8 Sie erscheint, wenn höhere Formen des intellektuellen Erlebens vorhanden sind, die einer facettenreichen Integration und Reintegration des Mentalen und des Physischen fähig sind. 9 Whitehead nimmt jedoch an, dass es in der Natur auch eine allgemeinere Form der Vernunft gibt, eine Vernunft im weiten Sinne des Wortes: »This pragmatic function of Reason provides the agency procuring the upward trend of animal evolution […] the short-range function of Reason […] is Reason criticizing and emphasizing the subordinate purposes in nature which are the agents of final causation« (FR 27 f./dt. 26 f.).
An einer anderen Stelle heißt es: »This function [of Reason] is to constitute, emphasize, and criticize the final causes and strength of aims directed towards them« (FR 26/dt. 25, Einfügung von S. K.).
Die Funktion der universellen Vernunft besteht also in der Regulation der Zweckursachen in der Natur. Vor dem Hintergrund der Beziehung, die Whitehead zwischen Entropie und Zweckursachen webt, wird klar, dass die Funktion der Vernunft darin besteht, als universelles anti-entropisches Agens zu wirken (FR 89 f./dt. 73). Dies besagt aber nichts Geringeres, als dass die organische Philosophie Whiteheads allen Akten des Werdens in der Natur eine – wenn auch noch so einfache – Subjektivität zuweist und sie somit zu Akten des Erfahrens erklärt. Whiteheads Protest gegen die Descartes’sche Abstraktion der bloß körperlichen Substanzen (FR 30/dt. 28) bedeutet, dass es im Universum keine von subjektiven Aktivitäten losgelösten materiellen Ereignisse gibt. Die Forderung nach Aufhebung der Trennung zwischen Zweckund Wirkursachen wird erst dann von einer Naturphilosophie erfüllt, wenn sie das Miteinander-Verwoben-Sein beider Ursachenarten er»Reason is the special embodiment in us of the disciplined counter-agency which saves the world« (FR 34/dt. 32). 9 Die menschliche Vernunft erscheint als »a criticism of appetitions«, als eine »second order type of mentality« bzw. als eine »appetition of appetitions« (FR 33/dt. 30). 8
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Das Leitmotiv der Metaphysik Whiteheads
klärt. Damit sie aber nicht schon in ihrer ontologischen Ausgangsbasis an Willkürlichkeit leidet, muss sie jegliche Art der Intervention der einen Art von Ursache in die Kette der anderen vermeiden. Somit befindet sich Whitehead eindeutig in der Nähe Leibniz’. Er geht aber einen deutlich verschiedenen, wenn auch in mehrfacher Hinsicht parallelen Weg. Einerseits bemüht sich Leibniz, in den Augen Whiteheads, nicht genug um ein rechtes Verhältnis zwischen Geist und Körper. Er weist den Körpern eine gegenüber den Zwecken untergeordnete Bedeutung zu, während die organische Philosophie sich um ein ausgewogeneres Verhältnis bemühen muss (PR 19/dt. 60). Andererseits – und das wiegt viel schwerer – misstraut Whitehead Leibniz’ Verständnis von Gott und überhaupt dem Gottesbild dieser Zeit. 10 Im Gegensatz zu Leibniz hält Whitehead die universelle Vernunft nicht für einen monistischen Grund, der die Beziehung der Zweck- mit den Wirkursachen prästabiliert hat. Ein moderner Metaphysiker kann sich nicht auf den Theismus der mittelalterlichen Theologen oder seiner philosophischen Urgroßväter aus dem 17. Jahrhundert berufen, denn Gott steht ihm als ontologische Rückversicherung nicht zur Verfügung. Insofern in der Whitehead’schen Metaphysik die Existenz einer göttlichen Entität angenommen werden muss, der gewisse für die Welt essentielle Attribute zukommen, müssen letztere in einem wechselseitigen Verhältnis zur Welt gedacht werden. So wird ein ontologischer Dualismus zwischen Welt und Gott vermieden. Das Verweben beider Ursachenarten wird also nicht von einer zentralen göttlichen Monade vollbracht, sondern von allen wirklichen Entitäten. 11 Auf diese Weise werden Pluralismus und Subjektivität miteinander verflochten, womit die anti-entropisch agierende universelle Vernunft keine in sich vollendete geistige Entität ist, sondern eine relational hervorgebrachte Tatsache. Das Faszinierende und Revolutionäre in der Whitehead’schen Ontologie besteht in der Art, mit der die Forderung nach dem Zusammendenken von Zweck- und Wirkursachen mit der Idee der Entstehung von Neuem als revitalisiertem Teil der Gesellschaft aller Seienden in Eins gegossen wird. Der revitalisierte Teil der Realität, der eine Gesellschaft von wirklichen und »This Principle was invoked by Descartes and by Leibniz, in order to help out their epistemology. It is a device very repugnant to a consistent rationality. The very possibility of knowledge should not be an accident of God’s goodness […]« (PR 190/dt. 354, Hervorhebungen von S. K.). Vgl. auch: PR 47/dt. 104. 11 Whitehead betont den Pluralismus seiner Metaphysik »in contrast with Spinoza’s monism« (PR 74/dt. 151). 10
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abstrakten Entitäten ist, wird durch eine qualitative Transformation vom entropischen Verfall bewahrt. Deshalb liegt es nahe, hier nach der Möglichkeit der Begründung einer Biologie der »transformation«, wie sie Bergson fordert (SchE 76/Œuv. 521), zu suchen. Denn sie verlangt nach einer Ontologie der ›schöpferischen Entwicklung‹ von Neuheit, die jenseits der Herrschaft von Wirkursachen in Phasenräumen zu suchen ist.
1.2 Jenseits des Subjektivismus – wider die ›Bifurcation of Nature‹ Whitehead formuliert seine Prozessphilosophie in bewusster Opposition zu einer der Haupttendenzen der neuzeitlichen Philosophie und Naturwissenschaft seit dem 17. Jahrhundert, die einen massiven Einfluss auf das moderne Welt- und Menschenbild ausgeübt hat. Seine Metaphysik ist ein entschiedener Protest gegen die Entwicklung, die er »Bifurcation of Nature« nennt. In seinem Werk The Concept of Nature von 1920, das am Ende seiner vormetaphysischen Schaffensperiode steht, unterscheidet er zwischen drei Hauptversionen der ›Gabelung‹ : Die erste und relativ moderate Gestalt des Bifurkationismus geht von der raumzeitlichen und kausalen Realität der Natur aus, spricht ihr aber die nicht messbaren Qualitäten, die in den sinnlichen Erfahrungen enthalten sind, ab. Diese Denkweise wurde von Demokrit und Galilei vorweggenommen und schließlich von Locke durch die klare Trennung zwischen primären und sekundären Qualitäten zum Ausdruck gebracht. Whitehead nennt sie die »Theorie der psychischen Zutaten« (the theory of psychic additions) (CN 43/dt. 35). Sie schenkt den »minor artistic additions«, zu denen z. B. Farbe, Wärmegefühl und Klang gezählt werden, kein Vertrauen und erklärt sie zu Zutaten des menschlichen Subjekts, die der Natur fremd sind. In der Theorie der psychischen Zutaten sieht Whitehead die historische Gestalt der ›Bifurcation of Nature‹, die der Ausgangspunkt für den philosophischen Subjektivismus ist. Von der »Theorie der psychischen Zutaten« ausgehend, entwickelte sich allmählich die zweite und extreme Gestalt des Bifurkationismus, die die Natur in zwei Abteilungen trennt: die im Bewusstsein erscheinende Natur und die verursachende Natur, die die Ursache der Erscheinung ist. Dies beruht auf einem kausalen Verhält418 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Das Leitmotiv der Metaphysik Whiteheads
nis der als Maschine gedachten Natur zum Geist, der als etwas der Natur substantiell Fremdes gedacht wird. 12 Während die Reizung der vom Feuer ausströmenden Hitze auf die Nerven und die Übertragung der Impulse zum Gehirn als »Wechselwirkungen innerhalb der Natur« 13 verstanden werden, müssen im Windschatten des Descartes’schen Substanzdualismus die Erlebnisse von Röte und Wärme als mysteriöse Einflussnahme der kausal geschlossenen Natur auf ein ihr vollkommen fremdes geistiges Vermögen erscheinen: »The causation involved in this interaction is causation in a different sense from the influence of this system of bodily interactions within nature on the alien mind which thereupon perceives redness and warmth« (ebenda, Hervorhebung von S. K.).
Die innere Dynamik des Descartes’schen Bifurkationismus führt unweigerlich zur Frage, ob der verursachenden Natur unterstellt werden kann, überhaupt etwas mit der in unserem Bewusstsein erscheinenden Natur gemeinsam zu haben, wie dass sie Raum und Zeit einnimmt und von Kausalität reguliert wird, wie die erscheinende Natur (CN 39/dt. 33). Ihre dritte und mildeste Gestalt nimmt die ›Bifurcation of Nature‹ in der Überzeugung, dass physikalische Allgemeinbegriffe, wie ›Atom‹ und ›Elektron‹, »merely names for logical terms in conceptual formulae of calculation« sind, denen keine wirklichen Entitäten entsprechen (CN 45/dt. 37). Whiteheads Erwiderung – anscheinend gegen Formen des Antirealismus und überzogenen Konstruktivismus gerichtet 14 – lautet, dass eine Berechnungsformel nichts anderes besagt, als dass etwas Richtiges über natürliche Vorkommnisse ausgesagt werden kann (ebenda). Whitehead sieht in den elementaren Begriffen und Ausgangspositionen der Naturwissenschaften keine freien Erfindungen, sondern Abstraktionen von der Erfahrung. Er spricht ihnen ein nicht zu leugnendes Verhältnis zur objektiven Realität zu. Abstrakte Entitäten sind also keine bloßen Zeichen, deren Existenzberechtigung sich darin erschöpft, in Formalismen vorzukommen. 15 Somit kann Whiteheads Vorstellung der Beziehung »Causal nature is the influence on the mind which is the cause of the effluence of apparent nature from the mind« (CN 31/dt. 27). 13 »It is an interaction within nature« (CN 31/dt. 27). 14 In The Function of Reason wird eine ähnliche Kritik an der Philosophie Kants und dem Positivismus geübt (60 f./dt. 51 f.). 15 »I am maintaining the obvious position that scientific laws, if they are true, are 12
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wissenschaftlicher Urteile und Begriffe zu den Tatsachen der Welt dem wissenschaftlichen Realismus zugeordnet werden. In seiner Kritik am Bifurkationismus der Moderne zweifelt Whitehead nicht die Relevanz der Physik an, sondern dass sie und die von ihr ausgehende Wissenschaftskultur »die einzigen Quellen der Bildung unseres Natur- und Realitätsbegriffes« sein können, denn für ihn »ist es ein Vorurteil, daß das ›Buch der Natur‹ in der Sprache der Mathematik geschrieben ist« (Hampe 1990, 44). Vielmehr wird die Mathematik durch Abstraktion von der Gesamtheit unserer Natur-Erfahrung gewonnen. 16 Der Reichtum dieser Erfahrung besteht aber vor allem in den in der Philosophie sogenannten ›sekundären Qualitäten‹. Whitehead verlangt ihre Wiedereingliederung in unser Naturbild (CN 148/dt. 113), denn nur so ist der ausufernde Subjektivismus der Moderne rückgängig zu machen. Wie ist aber die Vorstellung aufrechtzuerhalten, dass z. B. Farben zur Natur gehören und nicht bloße Beigabe der Wahrnehmenden sind, wenn die Abhängigkeit der Farbempfindung von den Lichtverhältnissen und die Spontaneität und Konstruktivität der Farbempfindung bei Wahrnehmungsexperimenten offensichtlich ist? Der Dreh- und Angelpunkt der Kritik Whiteheads am Bifurkationismus besteht jedoch nicht in der Negation der Kreativität der Wahrnehmenden. Sie hinterfragt die Vorstellung, dass das »Ursache-Wirkung-Verhältnis zwischen empfundenem Gegenstand und empfindendem Subjekt ein ganz besonderes, anderen Kausalverhältnissen gegenüber ausgezeichnetes sein soll« (Hampe 1990, 54 f.). Whitehead ist kein naiver Realist, der die Konstruktivität der höheren Erfahrungsakte leugnet. Er weist lediglich die Ideologie entschieden zurück, die Kreativität und spontane Konstruktivität der Erfahrung einzig und allein den mit Bewusstsein begabten Lebewesen zuspricht. Denn das degradiert natürliche Ereignisse auf reine Rezeptivität respektive absolute Passivität und schließt somit aus der Natur jede subjektive Farbigkeit und kreative Aktivität aus, die dann nur noch durch den subjektivistischen Fluchtweg als »psychische Zutaten« wieder eingeführt werden müssen. Um dies zu vermeiden, legt statements about entities which we obtain knowledge of as being in nature […] Thus the molecules and electrons of scientific theory are, so far as science has correctly formulated its laws, each of them factors to be found in nature« (CN 45 f./dt. 37). 16 Im vierten, fünften und sechsten Kapitel von The Concept of Nature wird gezeigt, wie die geometrischen Grundbegriffe durch Abstraktion von natürlichen Vorgängen gewonnen werden können.
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Das Leitmotiv der Metaphysik Whiteheads
Whitehead das Fundament für eine Naturphilosophie der »Weigerung« (refusal), d. h. eine die sich nicht dem Descartes’schen Schisma der Realität unterwirft: »For natural philosophy everything perceived is in nature. We may not pick and choose. For us the red glow of the sunset should be as much part of nature as are the molecules and electric waves by which men of science would explain the phenomenon. It is for natural philosophy to analyse how these various elements of nature are connected. […] This means a refusal to countenance any theory of psychic additions to the object known in perception. […] My argument is that this dragging in of the mind as making additions of its own to the thing posited for knowledge by senseawareness is merely a way of shirking the problem of natural philosophy. […] Natural philosophy should never ask, what is in the mind and what is in nature« (CN 29 f./dt. 25 f., Hervorhebungen von S. K.)
Den gesamten Weg der Philosophie von Descartes zu Kant vor seinen Augen habend, lautet Whiteheads Schlussfolgerung, dass ein konsequentes Weiterdenken der ›Bifurcation of Nature‹ zu einem extremen Skeptizismus und Agnostizismus geführt hat, die er als Grundlage für die Wissenschaft und die Kultur entschieden verwirft. Sein Ausweg aus dieser Sackgasse des Denkens besteht in der intuitiven Überzeugung, dass das bloß Materielle und das bloß Geistige reine Abstraktionen sind, die Eingang in Philosophie und Wissenschaft gefunden haben. Je nachdem welcher der beiden Abstraktionen blindes Vertrauen entgegengebracht wird, muss entweder der entkörperte Geist in den leeren Körper (Hobbes und die Naturwissenschaften) oder, was in der Philosophie häufiger befolgt wurde, der geistlose Körper in den reinen Geist (Berkeley) eingesperrt werden – für Prozessphilosophen stellt dieses Dilemma die moderne Gestalt von Skylla und Charybdis dar. Mit seiner Prozessphilosophie entwirft also Whitehead nicht lediglich eine Metaphysik neuen Stils. Ihm geht es um nichts weniger als die Ermöglichung einer Alternative zur Geschichte der Philosophie und Naturwissenschaft seit dem 17. Jahrhundert.
1.3 Die Whitehead’sche Metaphysik als Gedankenschema Es ist hervorzuheben, dass Whitehead nicht behauptet, die ›Bifurcation of Nature‹ widerlegen zu können. Er ist sich bewusst, dass diese Position nicht einer inneren logischen Widersprüchlichkeit überführt 421 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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werden kann (CN 38/dt. 32); was am meisten gegen sie spricht, sind die Absurditäten, zu denen sie führt (ebenda). Whiteheads Ausweg aus der ›Bifurcation of Nature‹ durch die Vorstellung einer neuen Ontologie und Metaphysik hat den Charakter eines Vorschlags. Er sieht die These der unauflösbaren Verbindung von Subjektivität und Materialität keineswegs als eine unumstößliche Wahrheit. Sein philosophisches Selbstverständnis, der ›Ort‹, aus dem er sich seine Metaphysik entwerfen sieht, ist keineswegs der eines herkömmlichen Metaphysikers, der durch Spekulationen das Wesen einer in sich vollendeten Realität progressiv zu erfassen glaubt. Whitehead geht von der grundsätzlichen Ungewissheit philosophischer Aussagen aus (FR 68 f./dt. 55 f., PR 8/dt. 40) und entwirft seine Metaphysik im Rahmen eines sehr erweiterten Pragmatismus-Verständnisses, das die spekulative Vernunft der Maxime des Fortschritts des Denkens unterwirft (FR 82/dt. 67). Ein solches Werk setzt die rationalistische Tradition fort, indem es eine asymptotische Annäherung an ein Schema von Prinzipien anstrebt, die das Wesen des Universums nur vorläufig zum Ausdruck bringen. »Schwäche der Einsicht« und »Mängel der Sprache« sind die unüberwindbaren Hindernisse, die den Weg zur endgültigen Formulierung der fundamentalsten metaphysischen Prinzipien versperren (PR 4/dt. 33). Aus diesem Grund ist der Rationalismus ein »experimentelles Abenteuer« (experimental adventure) der Klärung des Denkens, das nie abgeschlossen sein wird (PR 9/dt. 42). Das Abenteuer eines spekulativen Entwurfs kann allerdings nicht mit der für die Mathematik typischen Sicherheit und anfänglichen Klarheit von distinkten und sicheren Prämissen beginnen, um auf ihrer Grundlage ein deduktives System zu errichten (PR 8, 13/dt. 39, 48; FR 68/dt. 55). Ein anderer typischer Irrtum, von dem das Denken seit der griechischen Antike geplagt wird, ist die Vorstellung, dass die Übereinstimmung solcher Prämissen mit der Erfahrung eine unkomplizierte Angelegenheit sei (FR 68/dt. 55 f.). Beides würde ein vollständiges metaphysisches Verstehen des Universums erfordern, was der menschlichen Vernunft versperrt ist. Dennoch, ein verbessertes, wenn auch vorläufiges, Verständnis eines Bereichs der Realität ist immerhin im Rahmen eines scheme of thought erreichbar (FR 69/dt. 56): Ein Gedankenschema ist ein System von Ideen, deren Relevanz füreinander zu ihrer gegenseitigen Klärung beiträgt. Aufgrund ihres Zusammenhangs leistet die Bestätigung einiger von ihnen einen Beitrag zur Bestätigung der an422 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Das Leitmotiv der Metaphysik Whiteheads
deren. 17 Typische Gedankenschemata sind die Dynamik Newtons, die ökonomische Theorie Malthus’ und die griechische Mathematik (FR 73 ff./dt. 59 ff.). Viele Stellen in den Werken Whiteheads erwecken den Eindruck, dass seine Metaphysik unter der Maxime des Primats der Gedankenschemata gegenüber der Erfahrung steht. 18 Erst im Rahmen eines Gedankenschemas kann etwas zum Objekt der Erfahrung und des Denkens werden (FR 73/dt. 59 f.). Gedankenschemata sind Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis, sagt Hans Poser (1999 25, 27 ff.). 19 Andererseits betont aber Whitehead, dass die anfänglichen Prämissen eines neu errichteten Gedankenschemas zunächst nichts anderes als schlecht definierte und mehrdeutige Ausdrücke sind, wenn sie nach der gewöhnlichen Bedeutung ihrer Worte interpretiert werden (PR 13/dt. 49). Erst durch die nachträgliche Ausarbeitung, die sie durch die Beschreibung der »empirischen Fakten« (facts of experience) erfahren, werden sie nach und nach präzisiert (ebenda). Das bedeutet, dass obwohl Gedankenschemata hypothetisch begründet werden, ihre weitere Entwicklung sich durch die Übereinstimmung mit den empirischen Tatsachen gestaltet. Dies kann zu ihrer Abänderung bzw. partiellen Modifikation führen (FR 76/dt. 63). Whitehead geht davon aus, dass die Berücksichtigung der Fakten, deren besserem Verständnis ein neues Gedankenschema dienen muss, immer im Rahmen eines schon funktionierenden Schemas stattfindet. Für Whitehead stellt sich also nicht die Frage des Primats von Theorie oder Erfahrung: »There is the progress from thought to practice, and regress from practice to thought. This interplay of thought and practice is the supreme authority« (FR 81/dt. 66, Hervorhebung von S. K.).
Poser zufolge geht Whitehead von einer spiralförmigen Entwicklung aus, in der Gedankenschemata und Fakten sich gegenseitig bedingen
Whitehead wörtlich: »[A] system of ideas, whose mutual relevance shall lend to each other clarity, and which hang together so that the verification of some reflects upon the verification of the others« (FR 69/dt. 56). 18 So schreibt er z. B. im Vorwort seines Hauptwerks: »the true method of philosophical construction is to frame a scheme of ideas, the best that one can, and unflinchingly to explore the interpretation of experience in terms of that scheme« (PR XIV/dt. 26). 19 Posers Einschätzung wird unter anderem von folgender Stelle unterstützt: »The point is that the development of abstract theory precedes the understanding of fact« (FR 75/dt. 61, Hervorhebung von S. K.). 17
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und dadurch die Evolution der Erkenntnisfähigkeit antreiben. 20 So gesehen lebt die Whitehead’sche Philosophie von der dynamischen Harmonie zwischen Rationalismus und Empirismus. Sie stellt eine einzigartige Synthese der beiden Traditionen dar, wie es auch der berühmte Whitehead-Schüler und Prozesstheologe Charles Hartshorne hervorhebt, wenn er seinen Lehrer als »im höchsten Grade« Rationalisten und Empiristen bezeichnet (1980, 29 ff.). 21 Diese Balance entspringt aber direkt aus dem Kern der Metaphysik Whiteheads, die eine einzige Weigerung gegen die ›Bifurcation of Nature‹ darstellt, und ist kein erkenntnistheoretischer Vorspann: Die Aussage »physical and mental indissoluble« (PR 244/dt. 447) besagt eben nichts Geringeres, als dass die kognitive Erfassung der Tatsachen nicht erst durch den Menschen in den Kosmos kam, sondern die Entwicklung eines schon uranfänglich wirksamen Faktors ist. Die dynamische Polarität zwischen geistiger Spekulation und physischen Tatsachen lässt sich also in diesem Rahmen als ein spezifisch menschlicher Ausdruck der mental-physischen Bipolarität aller Akte des Werdens wirklicher Entitäten im Universum verstehen. Die Frage nach dem Primat des einen oder anderen Pols stellt sich erst dann, wenn durch Abstraktion beide Pole voneinander abgespalten werden. Vor dem Hintergrund der unlösbaren Verbindung von Subjektivität und Materialität gewinnt also die Idee des Gedankenschemas zusätzlich zu ihrer erkenntnisleitenden auch eine ontologische Dimension – ja sogar eine theologische, wie es noch gezeigt wird –, denn Gedankenschemata werden als spezifisch menschliche Ausformungen eines universellen Vermögens betrachtet. 1.3.a
Das kosmologische Gedankenschema als revidierbare Metaphysik
Whitehead versteht das in Process and Reality vorgestellte Gedankenschema als ein kosmologisches, wie schon der Untertitel An Essay in Cosmology zeigt. Der mit dem Hauptwerk vorliegende metaphysische Entwurf stellt ein besonderes Verständnis von ›Kosmologie‹ dar, das weder im Sinne der Wolff’schen ›Cosmologia generalis‹ noch Persönliche Mitteilung an mich. Poser zeigt, dass die Metaphysik Whiteheads eine Reaktion auf die Unzulänglichkeiten sowohl der rationalistischen als auch der empiristischen Tradition darstellt (1986).
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Das Leitmotiv der Metaphysik Whiteheads
der modernen naturwissenschaftlichen Disziplin konzipiert ist (Kann 2001, 87). Denn die Whitehead’sche Kosmologie verkörpert eine der zwei Arbeitsweisen der spekulativen Vernunft, 22 nämlich den Versuch, die allgemeine Natur der dem Menschen zugänglichen Welt auszudrücken, wie sie sich bei dieser Entwicklungsetappe des Universums zeigt (FR 76/dt. 62). Die Whitehead’sche Kosmologie stellt somit »eine Hermeneutik für die einzelnen Zugangsweisen zur Erfahrungswirklichkeit« dar (Kann 2001, 93). Entsprechend gestaltet sich das Verhältnis dieser Kosmologie zu den einzelnen Fachwissenschaften: »[Cosmology] should not confine itself to the categoreal notions of one science […] Its business is […] to find the most general interpretive system […] It generalizes beyond any special science, and thus provides the interpretive system which expresses their interconnection. Cosmology, since it is the outcome of the highest generality of speculation, is the critic of all speculation inferior to itself in generality […] Cosmology sets out to be made from all subordinate details. Thus there should be one cosmology presiding over many sciences« (FR 86 f./dt. 70 f., Einfügung und Hervorhebungen von S. K.).
Es wird der Eindruck erweckt, dass die philosophische Kosmologie den ›Vorsitz‹ (presiding) über die Entwicklung der einzelnen Disziplinen haben soll, die bezüglich der Allgemeinheit ihr untergeordnet sind. Tatsächlich wird das kosmologische Gedankenschema als die Gattung verstanden, der die Fachdisziplinen, als ihre Arten, untergeordnet sind. 23 Damit könnte der falsche Eindruck entstehen, Whitehead schwebe eine Einheitswissenschaft, in etwa im Sinne der ›unified Science‹ des Logischen Positivismus, vor, was nicht nur wegen seiner ablehnenden Haltung gegenüber physikalistischen und logizistischen Reduktionismen abwegig ist. Genau so wenig ist jedoch unter ›Kosmologie‹ eine Wissenschaftstheorie zu verstehen, die als Metadisziplin den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess beschreibt. Die Beziehung der Whitehead’schen Kosmologie zu den einzelnen Fachdisziplinen klärt sich auf, wenn das im letzten Abschnitt erläuterte Verhältnis der Gedankenschemata zu den Tatsachen bedacht Ihre zweite Arbeitsweise beschränkt sich auf den Versuch, die Grundideen eines speziellen Gebiets zu erweitern oder umzuformen, ohne dabei die vorgegebenen Grenzen zu verlassen (FR 85/dt. 69). 23 »The cosmological scheme should present the genus, for which the special schemes of the sciences are the species« (FR 76/dt. 62). 22
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wird. Das kosmologische Gedankenschema ist in diesem Sinne die den Fachwissenschaften übergeordnete Gattung, der sie die empirischen Tatsachen liefern. Die Fachwissenschaften sind aber auch selbst Tatsachen, 24 die das kosmologische Gedankenschema zu berücksichtigen hat. Die Kosmologie kann also nur in dem oben genannten Sinne der spiralförmigen Entwicklung (Poser) den einzelnen Fachdisziplinen übergeordnet sein, d. h. beide stehen in einem dialogischen Verhältnis der gegenseitigen Evolution. Übergeordnet ist sie ihnen aber insofern, dass diese erst vor dem Hintergrund des kosmologischen Gedankenschemas überhaupt möglich werden: »Metaphysische Systeme haben die Aufgabe, uns als Orientierungshilfe zu dienen, indem sie […] die Grundüberzeugungen einer Zeit in eine einheitliche Form bringen: Sie erlauben uns, das als wahr Akzeptierte (beispielsweise die Resultate der Wissenschaften) zu einer Weltsicht zu integrieren« (Poser 1986, 118; Hervorhebungen von S. K.).
Die kosmologische Metaphysik als Orientierungshilfe und Integration der Wissenschaften wird zu einer »regulativen Idee«, zu einem übergeordneten Gedankenschema, das die »Imagination beflügeln« kann (ebenda 119). Mit ihr liegt also kein durch die Vernunft begründetes absolutes Apriori vor, denn als übergeordnetes Gedankenschema unterliegt sie notwendigerweise der Rückwirkung aus allen Bereichen des Wissens, womit ihre Modifikation unabwendbar ist: »A special scheme should either fit in with the general cosmology, or should by its conformity to fact present reasons why the cosmology should be modified. In the case of such a misfit, the more probable result is some modification of the cosmology and some modification of the scheme in question. Thus the cosmology and the schemes of the sciences are mutually critics of each other« (FR 76 f./dt. 62 f.).
Jedes Gedankenschema wird irgendwann als einengend beurteilt und muss dann durch ein neues ersetzt werden. Die Errichtung von immer wieder neuen Gedankenschemata verleiht dem großen anti-entropischen Agens, das das Universum rettet, eine spezifisch menschliche Solche Grundprinzipien der einzelnen wissenschaftlichen Gedankenschemata, wie der Energieerhaltungssatz, die Gen-Begriffe, die Idee der Korrespondenz von physischen und mentalen Zuständen, auf deren Grundlage empirische Fakten überhaupt gewonnen werden können, sind – von einer höheren Ebene aus gesehen – selbst Tatsachen (epistemisch-methodische Grundlagen), denn sie markieren die Tragsäulen des modernen Weltbildes und zeigen daher, wovon ausgehend die Erfahrungsinhalte gewonnen werden.
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Das Leitmotiv der Metaphysik Whiteheads
Erscheinungsform, denn Gedankenschemata leisten nichts Geringeres als die Rettung der zivilisierten Welt durch Revitalisierung des schöpferischen Impulses. Folglich ist die Begrenzung der Spekulation, der Whitehead die Obskuranten aller Zeiten bezichtigt (FR 76/dt. 61 f.), »Verrat an der Zukunft«. 25 Die Kosmologie liefert also revidierbare und somit zeitgebundene Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis, die »dasjenige eingrenzen, was als Rationalisierung akzeptiert werden kann« und hat »keine wahrheitsbegründende Funktion« (Poser 1986, 119). Mit der Whitehead’schen Kosmologie liegt also eine »revidierbare Metaphysik« vor (ebenda 115 ff.). 26 Sie ist ein experimentelles Abenteuer, das nie abgeschlossen sein wird (PR 9/dt. 42). Ein Gedankenschema ist also kein philosophisches System im Sinne der großen metaphysischen Entwürfe der Vergangenheit. 27 Reiner Wiehl zufolge weist das Gedankenschema Whiteheads eine größere Flexibilität der »gegenseitigen Bedeutungsfixierungen der Begriffe zueinander auf, als dies bei philosophischen Systemen in der Regel der Fall ist«. 28 Dies erlaubt, die Begriffe besser an die Empirie anzupassen. Der Whitehead’sche Rationalismus ist ein belehrbarer. Die erkenntnistheoretisch gemäßigte Position Whiteheads erinnert stark an den Fallibilismus von Peirce und an Poppers kritischen Realismus. 29 Von seiner revidierbaren Kosmologie verlangt er jedoch, dass sie nicht nur mit den Fachwissenschaften korrespondiert, sondern darüber hinaus den gesamten psychosozialen, religiösen und sinnlich-ästhetischen Reichtum menschlicher Erfahrung berücksichtigen und zu verstehen helfen soll, denn nur so kann sie adäquat sein (PR XII, 3/dt. 22 f., 31; FR 77/dt. 63). 30 Somit spricht sich Whitehead für eine offene Gesellschaft des Wissens und eine dynamische Religion (Bergson) aus, die »Abstract speculation has been the salvation of the world – speculation which made systems and then transcended them, speculations which ventured to the furthest limit of abstraction. To set limits to speculation is treason to the future« (FR 76/dt. 62, Hervorhebung von S. K.). 26 Vgl. auch: Kann 2001, 91. 27 Siehe Abschn. 3.2.a.2 von Kap. II. 28 Persönliche Mitteilung an mich. 29 Lotter zufolge kann Whitehead dem kritischen Realismus zugeordnet werden (1990, 182, 185). 30 Schon in der Frühphase seines prozessphilosophischen Schaffens formuliert Whitehead deutlich den Anspruch an Ganzheitlichkeit, den er an die kosmologische Philosophie stellt: »Philosophy, in one of its function is […] to harmonise, refashion, and justify divergent intuitions as to the nature of things. It has to insist on the 25
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dem Menschen bei der Gestaltung seiner offenen Zukunft beistehen sollen. Davon ausgehend, gewinnt das kosmologische Gedankenschema, das mit Process and Reality vorgeschlagen wird, vor dem Hintergrund der Gesamtsituation zu Beginn des neuen Jahrtausends eine besondere Relevanz. Durch Revision vieler der vorherrschenden Denkschemata können und müssen neue Sichtweisen entworfen werden, die die menschliche Welt vor den wachsenden Entropien der sozialen Verelendung, des globalen Arten- und Kultursterbens und des sich rapide globalisierenden Unfriedens bewahren werden. Die Bewährungsprobe der Whitehead’schen Metaphysik und ihrer Rezeption, der vorliegenden Untersuchung eingeschlossen, besteht in dem Vermögen, die spekulative Vernunft zu beflügeln, neue Paradigmata als anti-entropische Agenzien zu kreieren. 1.3.b
Philosophie als Kritik der Abstraktionen
Whiteheads Ausgangspunkt, dass eine spekulative Philosophie erst dann Adäquatheit erlangt, wenn es keine menschlichen Erfahrungen gibt, die sie aus prinzipiellen Gründen ausschließt (PR 3/dt. 31), zeigt, dass er die Rolle seines Gedankenschemas nicht auf seine regulative Funktion für die Wissenschaften begrenzt. Das wirft auch die Frage auf, inwiefern er Philosophie überhaupt als Wissenschaft versteht. Dass von einem dialogischen Verhältnis zwischen dem kosmologischen Gedankenschema und den ihm untergeordneten Denkschemata der Wissenschaften die Rede ist, bedeutet nicht zwangsläufig, dass die philosophische Kosmologie als eine Wissenschaft konzipiert wurde. Tatsächlich schreibt Whitehead, dass dies nicht der Fall ist. 31 Die Philosophie ist vielmehr die größtmögliche Selbstkritik des Bewusstseins, die mit rationalen Mitteln, das zu rehabilitieren sucht, was wegen der selektierenden Aktionen des Bewusstseins auf verschiedenen Ebenen unterdrückt bzw. ausgeblendet wird (PR 15/dt. 52). Aufgrund dieser Tiefe, in der die philosophische Kritik in den Mechanismen der Entstehung unserer Wirklichkeit ansetzt, um ihr Werk der Wiederkehr des Verbannten zu vollbringen, qualifiziert sie scrutiny of the ultimate ideas, and on the retention of the whole of the evidence in shaping our cosmological scheme« (SMW IX/dt. 7). 31 »Philosophy is not one among the sciences with its own little scheme of abstractions« (SMW 108/dt. 107, Hervorhebung von S. K.).
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Das Leitmotiv der Metaphysik Whiteheads
sich zur umfassendsten begrifflich operierenden Kraft, die alle Abstraktionen, auch die philosophischen, einer kritischen Prüfung unterwerfen kann – hierin besteht ihre Rolle und Pflicht der Gesellschaft gegenüber: »It is here that philosophy finds its niche as essential to the healthy progress of society. It is the critic of abstractions« (SMW 73/dt. 75, Hervorhebung von S. K.). 32
Bezüglich der Wissenschaften hat diese Vorstellung zur Folge, dass eine der zentralen Aufgaben, die Whitehead der Philosophie zuweist, darin besteht, die »Halbwahrheiten« (half-truths), auf denen die ersten Prinzipien der Wissenschaften beruhen, in Frage zu stellen (PR 10/dt. 44) – eine Fähigkeit und Pflicht, die er sonst nur noch der Kunst zuspricht. Er sagt – auch diesbezüglich Bergson nahe stehend –, dass das Geheimnis der Kunst in ihrer von den Nöten des Alltags befreienden Kraft liegt, da sie jenseits des Zwanges der Notwendigkeit ein Wieder-Durchleben verdrängter Anteile der ursprünglichen Erfahrung ermöglicht (AI 271 f./dt. 473). Hierin besteht die Heilkraft der Kunst. In den Worten Bergsons ausgedrückt: »Es gibt in der Tat seit Jahrhunderten Menschen, deren Aufgabe es gerade ist, das zu sehen und uns sehen zu lassen, was wir natürlicherweise nicht wahrnehmen. Das sind die Künstler […] die großen Maler sind Menschen, denen sich eine Schau der Dinge eröffnet, die durch sie erst zu einer Schau für andere Menschen wird« (WV 155/Œuv. 1371, Hervorhebung von S. K.).
Die Vermutung, dass Whitehead die für Individuum und Kultur heilende Potenz der Philosophie in ihrer innigen Verwandtschaft zur Kunst erblickt, ist naheliegend. Er, der intime Kenner der englischen Romantik, weiß vom wahren Wert der Zeugnisse der »great poets« für die philosophische Abstraktionskritik (SMW 108/dt. 106 f.). Er sieht sogar Gott als Dichter – »poet of the world« –, der mittels seiner eigenen Wesensbestimmung die Erlösung der Welt von den Abstraktionen ihrer begrenzten Individuen anstrebt (PR 346/dt. 618). An dieser Stelle – vor dem Hintergrund der Korrespondenz des kosmologischen Gedankenschemas mit seinem göttlich-poetischen Pendant 33 – wird vollkommen klar, in welchem Sinne die philosophische Vgl. auch: SMW 108/dt. 106. Die Korrespondenz der Rolle des göttlichen Gedankenschemas – dessen Existenz ich in der Whitehead’schen Philosophie implizit angenommen sehe – mit der Rolle
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Kosmologie die wissenschaftlichen Denkschemata in sich umfasst: Sie ergänzt, korrigiert und inspiriert die Wissenschaften, indem sie dasjenige, das ihre Denkschemata außer Acht lassen, auffängt und ihm zum Ausdruck verhilft. Als Denk-Kunst muss also die Philosophie das von der Wissenschaft Verdrängte zu neuem Leben erwecken, womit auch die Maxime ausgedrückt ist, der auch die vorliegende Arbeit verpflichtet ist: Die Biophilosophie darf sich nicht den Abstraktionen der Biologie unterwerfen. 1.3.c
Jenseits der Substanzontologie
Whitehead geht bei der Begründung seiner Metaphysik zuerst davon aus, dass die Strukturen natürlicher und formaler Sprachen Resultate alltäglicher und wissenschaftlicher Diskurse sind, sodass sie in erster Linie der Alltags- und der Wissenschaftspraxis dienen. Aus diesem Grund können sie nur dann bei der Suche nach den metaphysischen Fundamenten der Realität hilfreich sein, wenn sie zuerst einer ausführlichen Kritik und Revision unterzogen werden. Dass dies erst sehr spät von den Philosophen erkannt wurde, hat die fatale Folge gehabt, dass verschiedene vergegenständlichende und fixierende Abstraktionen unkritisch mit ontologischer Relevanz beladen wurden, was zur jahrtausendelangen Vorherrschaft der Substanzontologie im Abendland geführt hat – einer Tradition, der die organische Philosophie entschieden entgegentritt. Whiteheads Zurückweisung der Substanzmetaphysik ist eng mit seiner Absage an die ontologische Relevanz des Subjekt-PrädikatSchemas der Sprache verbunden. 34 Die Zuordnung verschiedener Prädikate zu ein und demselben logischen Subjekt leistet zwar der Bewältigung alltagspraktischer Probleme gute Dienste, indem sie Bereiche der Welt aus dem permanenten Wechsel der Erscheinungen herausreißt und somit fixiert. Das rechtfertigt aber keineswegs die des kosmologischen Gedankenschemas kann erst auf der Basis einer umfassenden Vorstellung des Whitehead’schen Denkens thematisiert werden, weshalb dies erst im Abschnitt 2.3.e.4 dieses Kapitels vorgenommen wird. 34 »The evil produced by the Aristotelian primary ›substance‹ is exactly this habit of metaphysical emphasis upon the ›subject-predicate‹ form of proposition« (PR 30/dt. 78). An einer anderen Stelle heißt es: »I refrain from the term substance, for one reason because it suggests the subject-predicate notion« (PR 75/dt. 153, Hervorhebung von S. K.).
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Das Leitmotiv der Metaphysik Whiteheads
Hebung dieser stark suggestiven Aufteilung der Realität in statischvergegenständlichte Bruchstücke auf den Stand einer Ontologie. In der organischen Philosophie wird diesem Schema jegliche metaphysische Bedeutung abgesprochen (PR 7, 75/dt. 38, 153). Noch vor dem Beginn seiner prozessphilosophischen Schaffensphase kritisiert Whitehead die Einflussnahme der auf dem Subjekt-Prädikat-Schema basierenden Logik von Aristoteles auf die Metaphysik desselben (CN 18/dt. 17). Es ist allerdings zu beachten, dass die von Whitehead und vielen seiner Anhänger weit verbreitete Gleichsetzung des SubstanzBegriffes von Aristoteles mit der Vorstellung der ›ersten Substanz‹ in seinen Kategorien 35 »keineswegs der Komplexität und historischen Bewegtheit dieses Grundbegriffs gerecht wird«, wie Reto Luzius Fetz sagt (1981, 210 f.), der sich um ein neues Verständnis der Beziehung der Whitehead’schen Metaphysik zur Aristotelischen bemüht (ebenda 212–249). In der Überbetonung der Aristotelischen Logik während des Mittelalters und der anschließenden Vererbung dieses Denkschemas an die Neuzeit 36 wurzelt auch das Konzept des passiven und andauernd mit sich selbst identisch bleibenden Stoffes des mechanischen Materialismus, das Whitehead, unter Kenntnisnahme der Quantentheorie, für hoffnungslos überholt hält (PR 77 ff./dt. 156 ff.). In der Überzeugung, dass der Subjekt-Prädikat-Struktur der Sprache lediglich eine alltagspraktische Relevanz zukommt, liegt außerdem die zentrale Ursache für die Abgrenzung der Prozessphilosophie von der Leibniz’schen Metaphysik (Hartshorne 1969, 172 ff.). 37 Der zweite triftige Grund seiner Abkehr von der Substanzontologie ist ihre fatale Rolle bei der ›Bifurcation of Nature‹. Es ist offensichtlich, dass die Konzeption der Descartes’schen Substanz, als etwas Siehe Abschn. 2.1 von Kap. I. Whitehead ist sich bewusst, dass Aristoteles von seinen Interpreten häufig einseitig und übertrieben ausgelegt wurde und vermutet, dass »probably Aristotle was not an Aristotelian« (PR 51/dt. 112). 37 Leibniz zufolge sind im vollkommenen Begriff der individuellen Substanz »alle Prädikate des Subjekts, dem dieser Begriff zukommt«, enthalten und können deswegen von ihm abgeleitet werden (Leibniz 1985, 19 (§ 8)): »So muß der Subjektsbegriff immer den Prädikatsbegriff einschließen, so daß derjenige, der den Begriff des Subjekts vollkommen verstünde, auch urteilen könnte, daß ihm dieses Prädikat zukommt« (ebenda 17 f. (§ 8)). Während Leibniz »sein Denken im Gefängnis der ›Subjekt-Prädikat‹-Logik eingesperrt« hat, sieht Whitehead als erster Philosoph deutlich ein, dass »nicht Subjekte mit ihren Prädikaten, sondern Subjekte mit ihren Beziehungen zu anderen und früheren Subjekten das Grundschema der Wirklichkeit [sind]« (Hartshorne 1969, 174; Einfügung von S. K.). Vgl. auch: Russell 1975, 15. 35 36
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sich selbst Genügsames, zur extremen Zuspitzung des uralten Dualismus zwischen Materie und Geist führen musste – der schon im Platonischen Timaios präsent ist. 38 Werden beide Faktoren als Descartes’sche Substanzen verstanden, so ist es kaum noch einzusehen, dass sie sich auf irgendeine Weise gegenseitig beeinflussen könnten – hierin sieht Whitehead die Geburtsstunde des Subjektivismus, den er jedoch für vermeidbar hält.
2.
Das kosmologische Gedankenschema
Nach der einführenden Darstellung wichtiger Ausgangspunkte des Whitehead’schen Philosophierens können nun die Tragsäulen des metaphysischen Gedankenschemas erläutert werden. Das ist ein schwieriges Unterfangen, denn die Whitehead’sche Ontologie ist das Beispiel par excellence eines philosophischen Entwurfs, dessen zentrale Begriffe hochgradig miteinander verflochten sind. Das Studium Whiteheads bietet das ideale Terrain für das Üben der hermeneutischen Methode. Der Leser sieht sich wesentlich häufiger gezwungen, als dies bei den meisten philosophischen Klassikern der Fall ist, sein jeweiliges mühevoll errungenes Vorverständnis zu revidieren, um es auf einer höheren Ebene neu zu konstituieren. Die Darstellung eines jeden in sich hochgradig kohärenten Denkens gestaltet sich entsprechend schwer. Die Geschlossenheit, mit der die Grundbegriffe aufeinander verweisen, lässt jeden Anfang als willkürliche Linearisierung erscheinen. Wie jeder Kreis, zeichnet aber auch das Whitehead’sche Gedankenschema einen besonderen Punkt aus: seinen Kreismittelpunkt.
2.1 Das erste metaphysische Prinzip: Kreativität Die Grundmomente der organischen Philosophie werden vom Konzept der Kreativität beseelt und zusammengehalten. Hierin sind die zentralen Begriffe und Kategorien dieses Denkens verwurzelt. Die Kreativität ist das »oberste Prinzip« (ultimate principle) der spekulativen Philosophie; sie ist »die Universalie der Universalien« aber auch Platon unterscheidet zwischen der vor der Schöpfung der Welt ungeordneten Materie und dem sie ordnenden Gott (Timaios 30a).
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Das kosmologische Gedankenschema
»das Prinzip des Neuen« (PR 21/dt. 62). 39 Sie kann nicht charakterisiert werden, weil alle Charaktere spezieller sind als sie (PR 31/dt. 80). Denn als Universalie der Universalien ist sie die allgemeinste Idee und kann deshalb genauso wenig definiert werden, wie die höchste Idee der Platonischen Metaphysik, das Gute, denn dafür wären noch allgemeinere Begriffe nötig. Dennoch charakterisiert Whitehead die Kreativität als das Prinzip, das den Übergang von der Mannigfaltigkeit getrennter Entitäten in die Einheit einer neuen wirklichen Entität besagt (PR 21/62). Die einfachste Möglichkeit, die Whitehead’sche Kreativität zu interpretieren, ist, den Ausdruck »Universalie der Universalien« wörtlich zu nehmen, d. h. sie als eine abstrakte Entität zu verstehen (in der organischen Philosophie werden solche Entitäten ›eternal objects‹ genannt). Sie wäre dann nichts anderes als die Idee der Synthese von Mannigfaltigkeit in Einheit. Als solche wäre sie in dem Sinne die höchste Idee, dass die Entstehungen aller wirklichen Entitäten ausnahmslos an ihr teilhaben. Diese wäre aber eine einseitige Interpretation, denn auch wenn Whitehead die Kreativität als eine Universalie bezeichnet, denkt er sie keineswegs nur als eine abstrakte Entität, sondern auch als ein Prinzip. Dies bedeutet in diesem Fall, dass zur Kreativität auch die Verwirklichung der Idee der Synthese gehört. 40 Da in jeder wirklichen Entität ausnahmslos eine Synthese stattfindet, »›Creativity‹ is the universal of universals characterizing ultimate matter of fact. […] ›Creativity‹ is the principle of novelty« (PR 21/dt. 62). 40 A. H. Johnson hat 1936 einige Gespräche mit Whitehead durchgeführt, bei denen es auch um die Klärung des Begriffs der Kreativität ging. Er schreibt: »He admitted, that he applies the term ›creativity‹ to both (a) the eternal object ›creativity‹ and (b) the exemplifications of this eternal object. Most eternal objects are contingent potentialities, in the sense that they do have to be actually exemplified by an actual entity. […] Ultimate principles like ›creativity‹ are not contingent possibilities. They are exemplified in all actual entities, at all times« (Johnson, 1983b, 11; die zwei letzten Hervorhebungen von S. K.). Die Universalität des obersten Prinzips besteht also in seiner faktischen Relevanz für alle wirklichen Entitäten und übertrifft somit die bloß potentielle Relevanz der abstrakten Entitäten (eternal objects). Schließlich stellt sich folgende Frage: Wenn Whitehead die Kreativität nur für ein ›eternal object‹ hält, warum sondert er sie in Process and Reality von ihnen ab, indem er diesen Begriff der ›Category of the Ultimate‹ zuordnet und nicht den ›Categories of Existence‹, denen er die ›eternal objects‹ subsumiert (PR 20 ff./dt. 61 ff.). Man beachte außerdem, dass er in Adventures of Ideas die Kreativität als »real potentiality« bezeichnet (179/ dt. 331), während er in Process and Reality die ›eternal objects‹ als »Pure Potentials« bezeichnet (22/dt. 63). Zwischen beiden Begriffen besteht ein deutlicher Unterschied (siehe Abschn. 3.1.d dieses Kapitels). 39
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ist sie das oberste Prinzip, von dem auch Gott bedingt ist 41 – womit eindeutig gesagt wird, dass die Kreativität nicht mit Gott zusammenfällt: »In all philosophic theory there is an ultimate which is actual in virtue of its accidents. It is only then capable of characterization through its accidental embodiments, and apart from these accidents is devoid of actuality. In the philosophy of organism this ultimate is termed ›creativity‹ ; and God is its primordial, non-temporal accident« (PR 7/dt. 38).
Jan van der Veken interpretiert die Whitehead’sche Kreativität als »substantielle allesumgreifende Aktivität«, die Grund für alle wirklichen Entitäten und für ihren Zusammenhang ist (1986, 202 f.) und stützt seine Interpretation auf entsprechende Stellen von Science and the Modern World (220/dt. 206). Man kann insofern van der Veken Recht geben, dass Whitehead erstens die Kreativität als Aktivität versteht 42 43 und zweitens die Kreativität als »Grund« (reason) sieht, der nicht nur für die Entstehung neuer wirklicher Entitäten, sondern auch für ihr aller Zusammenhang verantwortlich ist (AI 179/dt. 331). Man sollte sich jedoch fragen, ob über die »Universalie der Universalien« nicht vielmehr zu schweigen wäre, als ihr irgendeinen Charakter, also auch den der Aktivität, beizugeben; schließlich vergleicht Whitehead selbst, wenn auch nur bezüglich der totalen Abwesenheit von speziellen Charakterisierungen, die Kreativität mit dem Begriff der nicht prädizierbaren ersten Materie Aristoteles’ bzw. des neutralen Stoffes. 44 Dennoch geht er davon aus, dass die Kreativität als höchstes Prinzip zwar nicht direkt erfasst werden kann, dass sie sich aber durch ihre jeweiligen Verkörperungen manifestiert, sodass sie mittelbar charakterisiert werden kann: »It is only then capable of characterization through its accidental embodiments, and apart from these accidents is devoid of actuality« (PR 7/dt. 38).
Vgl. auch: Wolf-Gazo 1980, 20. Dies geht aus folgenden Stellen hervor: »This factor of activity is what I have called ›Creativity‹« (AI 179/dt. 331). »[I]t is the pure notion of the activity« (PR 31/dt. 79 f.). 43 Ivor Leclerc bezeichnet die Kreativität als »generic activity« (1975, 84) und Ernest Wolf-Gazo als »das Schöpferische an sich« (1980, 20). 44 »›Creativity‹ is an other rendering of the Aristotelian ›matter‹, and of the modern ›neutral stuff‹ […] Creativity is without a character of its own in exactly the same sense in which the aristotelian ›matter‹ is without a character of its own« (PR 31/dt. 80). 41 42
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Die einzelnen Seienden, d. h. alle Entitäten, Gott eingeschlossen, sind ihre Aktualisierungen, aber nicht ihre Geschöpfe, denn sie ist keine wirkliche Entität und kann daher keine Seienden kreieren. 45 Die Unmöglichkeit, sie positiv zu bestimmen, verbietet auch, sie als das große anti-entropische Agens zu verstehen. Die anti-entropisch agierende universelle Vernunft, die aus den Relationen der Entitäten hervorgebracht wird, ist natürlich eine Manifestation der Kreativität, die sich als die Gesamtheit der Entitäten individualisiert (Leclerc, 1975, 87). In diesem Zusammenhang verdient van der Vekens Vorschlag besondere Beachtung, die Kreativität als Sein und nicht als Seiendes, im Heidegger’schen Sinne der Begriffe, zu betrachten: »Wie die Kreativität für Whitehead, so ist das Sein für Heidegger das alles umfassende, alles überwältigende Geschehen, das selbst niemals erscheint und sich doch in allem zeigt, was wirklich geschieht« (1986, 197).
Nicht zuletzt betont Whitehead, dass die Kreativität keine Entität, kein Seiendes ist. 46 Davon ausgehend, könnte die Whitehead’sche Kreativität mit dem verglichen werden, was Plotin das »Eine« nennt, da er es als Grund von allem Seienden selber aber nicht als Seiendes versteht. Das Plotinische Eine als letzter Grund ist ein Absolutes, das außerhalb aller Relationen steht (Enneade, VI 8, 8). Es ist jenseits aller Bestimmungen der aus ihm entfallenen Seienden, weshalb es als »Nichtseiendes«, als »Nichts« (οὐδέν) bezeichnet werden kann; es darf jedoch nicht mit der buddhistischen Vorstellung der »Leerheit«, der sunyata, gleichgesetzt werden, wie es häufig geschieht. 47 So gesehen wäre die Kreativität die höchste Realität. Es wäre interessant, diesen Weg weiter zu verfolgen und über eine von Whitehead nicht erschlossene Möglichkeit nachzudenken, Kreativität als reines Sein – und nicht bloß als Prinzip – zu verstehen.
Vgl. auch: Leclerc 1975, 87. »The general activity is not an entity in the sense in which occasions or eternal objects are entities« (SMW 220/dt. 206). Vgl. auch: RM 92/dt. 71. 47 Die buddhistische ›Leerheit‹ besagt nichts Positives; sie ist nicht eine wegen der Unfassbarkeit des reinen Seins, aus dem die Seienden entfallen würden, erfundene negative Ausdrucksweise. Dieser Begriff besagt lediglich die Abwesenheit jeglicher Substantialität bzw. Seelenhaftigkeit für die wirklichen Entitäten und referiert somit nicht auf ein Überseiendes (Shumann 2000, 188, 170–176). Die von Whitehead festgestellte Nähe seiner Philosophie zum ostasiatischen und indischen Denken bezieht sich nur auf das Primat der Prozessualität (PR 7/dt. 38). 45 46
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Wie auch immer die Kreativität interpretiert wird, was auch immer bedeuten mag, dass sie der Grund für alle Entitäten ist, wichtig ist, dass ihre Art und Weise sich zu manifestieren von den schon verwirklichten Manifestationen, d. h. von den jeweils vorhandenen wirklichen Entitäten bedingt wird. 48 49 Das jeweils aktuelle Universum liefert die Bedingungen, unter denen die Kreativität sich verkörpern kann (RM 92/dt. 71), denn es bestimmt die Potentialität der zukünftigen wirklichen Entitäten. Die jeweils existierenden wirklichen Entitäten bedingen die Modalität des Sich-Manifestierens des Seins – das ist ein sehr wichtiger Punkt im Whitehead’schen Gedankenschema und vielleicht kein unproblematischer für die eben angebotene, von Plotin inspirierte Interpretation von Kreativität. Denn zunächst scheint dies eine Einschränkung des reinen Seins durch seine Individualisierungen, die Seienden, zu besagen, was ein Widerspruch in sich wäre. Bedenkt man aber, dass die Kreativität nicht der Schöpfer der wirklichen Entitäten ist, sondern dass Letztere ihr eigenes Wesen bestimmende und somit sich selbst schöpfende Seiende sind, so erkennt man, dass die Begrenzung der Manifestation der Kreativität auf die Natur der begrenzten, die Kreativität aktualisierenden Entitäten zurückzuführen ist und nicht auf eine Begrenzung des reinen Seins. Bei jedem Versuch, das Whitehead’sche Verständnis der Kreativität zu umreißen (oder zu erweitern), ist es auf jeden Fall zu bedenken, dass die Grundbegriffe des kosmologischen Gedankenschemas, wegen des Anspruchs auf Allgemeingültigkeit bezüglich aller Bereiche der menschlichen Erfahrung, große Interpretationsfreiheiten zulassen, was vor allem für den umfassendsten Begriff der Kreativität gilt. Für ein adäquates Verständnis der fundierenden Rolle dieses Begriffs für die organische Philosophie ist es jedoch unerlässlich, einzusehen, dass Whitehead – im Gegensatz zur Naturwissenschaft unserer Zeit – das Neue ontologisiert. 50 Die Auffassung der Kreativität als höchstes metaphysisches Prinzip und Universalie der Universalien kann der Überwindung der ›Bifurcation of Nature‹ gute Dienste leis-
»Creativity is always found under conditions, and described as conditioned« (PR 31/dt. 80). 49 Vgl. auch: Rust 1987, 127. 50 Rapp zeigt, wie unterschiedlich der Stellenwert des Neuen in der Whitehead’schen Kosmologie und in den Naturwissenschaften ist (1986, 96; vgl. auch: 81–97). 48
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ten. Denn die Manifestationen der Kreativität können losgelöst von (wenn auch noch so faden) Erlebensakten nicht wirklich begriffen werden. Wie Bergson lange vor Whitehead gezeigt hat, das Erleben ist an sich immer unreduzierbare Neuheit – hier ist der Ort, an dem der Mensch die Manifestation der Kreativität genuin erfährt. Als Qualia-Konstellation ist das Erleben etwas Unmittelbares und somit Elementares, das nicht weiter erklärbar, sondern nur erfahrbar ist; und das überträgt sich auf das Verständnis der Kreativität. Wahre, d. h. unreduzierbare Neuheit zum obersten metaphysischen Prinzip zu machen bedeutet demnach notwendig, Erleben – und somit Subjektivität – zu einer der ersten, d. h. nicht weiter zu begründenden ontologischen Grundlage der Naturphilosophie zu erheben. Ausgehend von der Kreativität als Mittelpunkt kann nun der Kreis des Gedankenschemas nach und nach umschrieben werden. Wegen der starken semantischen Verflechtung der ontologischen Grundbegriffe muss häufig vorgegriffen werden. Aus diesem Grund wird zunächst eine erste zusammenfassende Vorstellung der wichtigsten Begriffe vorgenommen, auf die in der darauffolgenden Vertiefung zurückgegriffen werden kann.
2.2 Entitäten Die Kreativität aktualisiert sich in Form der Entitäten, die in Process and Reality unter den »Kategorien der Existenz« aufgeführt werden (22/dt. 63). Als Entitäten bezeichnet Whitehead alle individuellen Seienden. Die Terme ›entity‹, ›being‹ und ›thing‹ werden von Whitehead synonym gebraucht (21, 211/dt. 62, 390). Was unter ›Seiendes‹ (being) zu verstehen ist, wird von einem zentralen Prinzip des metaphysischen Gedankenschemas festgelegt: »It belongs to the nature of a ›being‹ that it is a potential for every ›becoming‹. This is the ›principle of relativity‹« (PR 22/dt. 64 f., Cat. IV Expl.).
Aufschlussreich ist auch folgende Stelle: »[…] the notion of an ›entity‹ means ›an element contributory to the process of becoming‹« (PR 28/dt. 75).
Beachtenswert in diesen Zitaten ist die unlösbare Verflechtung von Modaldenken und Ontologie, das dem relationalen Charakter letzte-
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rer entspringt. Etwas ist, wenn es für das Werden neuer Seienden relevant sein kann. 51 Die für die vorliegende Untersuchung wichtigen Entitäten der Whitehead’schen Metaphysik sind: ›actual entity‹, ›prehension‹, ›subjective form‹, ›nexus‹, ›eternal object‹ und ›proposition‹ (PR 22/dt. 63). 52 Die actual entities sind die elementarsten Einheiten der Realität. Sie sind die wirklichen Entitäten. Während alles raumzeitlich Existierende aus ›actual entities‹ besteht, sind sie selbst atomar, d. h. sie enthalten keine einfacheren wirklichen Entitäten. Sie sind keine Substanzen, sondern Akte der eigenen Selbstformung, weshalb sie häufig auch actual occasions genannt werden. Die Basis dieser schöpferischen Selbstgestaltung sind andere Entitäten, die allen sechs oben genannten Arten angehören können, und die zum Einswerden der neuen ›actual entity‹ verschmolzen werden. Die aktive Einbeziehung anderer Entitäten wird prehension genannt. Durch ihre ›prehensions‹ erfassen die werdenden ›actual entities‹ physische und abstrakte Tatsachen, zu denen sie wesenhafte – genauer: wesensstiftende – Beziehungen, also interne Relationen aufweisen. Die ›prehensions‹ sind zwecktätige Entitäten, und somit Akte, die mit Subjektivität korrespondieren, was ihre deutsche Übersetzung ›Erfassungen‹ treffend wiedergibt. Ihr Spektrum reicht vom einfachsten Werdeakt der Mikrophysik bis zum reichhaltigsten Bewusstseinsakt. Den internen Relationen kommt also auch mentale Innerlichkeit zu, die subjective forms hat. Die subjektive Form einer ›prehension‹ ist eine private Tatsache der prehendierenden ›actual entity‹. Öffentliche Tatsachen, die in den Werdeakt letzterer prehensiv eingehen, sind die nexūs. 53 Ein bestimmter ›nexus‹ ist eine konkrete Form der Gemeinschaft von ›actual entities‹. Ein gutes Beispiel für ›nexūs‹, wenn auch für sehr geordnete, sind die dauerhaften leblosen und lebendigen Körper unserer gewöhnlichen sinnlichen Erfahrung. Neben den ›actual entities‹ Der Term ›entity‹ oder ›thing‹ bedeutet »nothing else than to be one of the many which find their niches in each instance of concrescence« (PR 211/dt. 390). Vgl. auch: PR 28/dt. 74. 52 John Lango zufolge lautet die Liste der basalen Whitehead’schen Entitäten wie folgt: »actual entities, prehensions, nexūs, subjective forms, eternal objects, and contrasts« (1972, 15). Whitehead fasst allerdings unter dem Oberbegriff ›contrasts‹ die weniger basalen, also mehr abgeleiteten Typen von Existenz zusammen (PR 24/dt. 68, Cat. XVII Expl.). 53 Pluralbildung von ›nexus‹. 51
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und den ›nexūs‹ werden auch rein abstrakte Seiende, bzw. abstrakte Entitäten, die eternal objects, prehendiert. Sie übernehmen in der organischen Philosophie die Rolle, die in alten Metaphysiken die Platonischen Ideen und die Universalien der Scholastiker spielten, ohne mit ihnen vollkommen identisch zu sein. In ihrer zentralen Funktion für die Ontologie spiegelt sich unverkennbar die Nähe des Platonischen Mathematikers Whitehead zu seinem antiken Vorbild. Eine proposition ist ein Anreiz für eine entstehende wirkliche Entität, andere Entitäten, wirkliche und abstrakte, auf eine bestimmte Art und Weise zu erfassen bzw. zu prehendieren. Nicht allen Entitäten schreibt Whitehead die gleiche Bedeutung zu. Fundamental sind nur die ›actual entities‹ und die ›eternal objects‹, während die anderen Typen von Entitäten lediglich zum Ausdruck bringen, wie die Entitäten der zwei fundamentalen Typen miteinander Gemeinschaften bilden (PR 25/dt. 69, Cat. XIX Expl.). 2.2.a
›Actual entities‹ : elementarste Fakten und wirklich Seiende
Als ›actual entities‹ bezeichnet Whitehead die einzige Art wirklicher Entitäten. 54 Sie sind die elementarsten Fakten der Wirklichkeit. 55 Ihnen kommt unter anderem physische Relevanz zu und aus ihnen besteht alles raumzeitlich Persistierende. Die Kategorie der ›actual entity‹ übernimmt in der organischen Philosophie die Rolle, die der ›ersten Substanz‹ – οὐσία ἡ πρώτη – im Aristotelischen und der ›res vera‹ im Descartes’schen System zukommt: »›Actual entities‹ – also termed ›actual occasions‹ – are the final real things of which the world is made up. There is no going behind actual entities to find anything more real. […] The final facts are, all alike, actual entities […] The notion of ›substance‹ is transformed into that of ›actual entity‹« (PR 18/ dt. 57 f.).
Sie sind die einzelnen wirklichen Aktualisierungen des elementarsten metaphysischen Prinzips der Kreativität; sie sind »die Kreativität ›in singulo‹« (Rust 1987, 127). 56 Folgt man Aristoteles darin, dass der Ausdruck ›Wirklichkeit‹ (energeia) von ›Werk‹ (ergon) abgeleitet wird (Metaphysik IX, 8 1050 a22), so sieht man, dass mit dem Adjektiv ›Actual entities‹ sind »the completely real things in the Universe« (AI 255/dt. 446). In Adventures of Ideas werden sie sogar als die »individual things which make up the sole reality of the Universe« beschrieben (177/dt. 328, Hervorhebung von S. K.). 56 Vgl. auch: Leclerc 1975, 92. 54 55
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›actual‹ das Wirken (bzw. das Werken) dieser Entitäten ausgesagt wird – ›actual entities‹ sind wirklich Seiende, weil sie wirkende Seiende sind. In der vorliegenden Untersuchung referieren die Ausdrücke ›wirkliche Entität‹ und ›wirklich Seiendes‹ immer auf die im Rahmen eines metaphysischen Systems für elementar angenommenen Wesenheiten und sind deswegen synonym. Zwischen ihnen besteht vollkommene Extensionsgleichheit bzw., mit Frege gesprochen, sie haben dieselbe Bedeutung. Sie zeichnen ihre Referenzobjekte als Einzelwesen – scholastisch gesprochen: ›particularia‹ – aus, die in der physischen Realität Veränderungen bewirken können (Wirksamkeit). Alle ›actual entities‹ wurden als wirkliche Entitäten oder wirklich Seiende gedacht, was umgekehrt nicht der Fall ist. Denn es gibt metaphysische Systeme, in denen die wirklich Seienden nicht als Prozesse konzipiert wurden, wie die Vorstellungen der Leibniz’schen Monade, der Aristotelischen ersten Substanz und der Kartesischen Substanz belegen. 2.2.a.1 Pansubjektivismus, mental-physische Bipolarität und Atomizität Die ›actual entities‹ sind die entscheidende Gattung von Entitäten, die Whitehead einführt, um seiner großen Weigerung der ›Bifurcation of Nature‹ gegenüber Ausdruck zu verleihen. Sie sind die elementarsten Wirklichkeiten der Welt und zugleich Subjekte, denn sie sind Erlebensakte: »The actualities of the Universe are processes of experience, each process an individual fact« (AI 197/dt. 357).
Anders ausgedrückt: »An actual entity is called the ›subject‹ of its own immediacy« (PR 25/dt. 70, Cat. XXIII Expl.). 57
Sie sind die einzigen Arten von Entitäten, die Bedeutung für sich selbst haben (PR 25/dt. 69, Cat. XXI). Dass den ›actual entities‹ die subjektive Dimension des unmittelbaren Erlebens zugewiesen wird, ist direkte Folge des Erhebens der Kreativität zum ersten metaphysischen Prinzip, denn ohne die Aktivität von Subjekten ist Kreativität völlig undenkbar. Die elementarsten Realitäten der Welt können, nur 57
Vgl. auch: PR 56, 221/dt. 121, 404.
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insofern sie Subjekte sind, mittels ihrer Zweckursachen, Neuheit hervorbringen, um anti-entropisch zu wirken. Jeder wirklichen Entität, auch wenn sie noch so trivial-anorganisch ist, kommt eine unreduzierbare Subjektivität zu. Die ausdrückliche Zurückweisung der Vorstellung, dass wirkliche Entitäten losgelöst von subjektiver Unmittelbarkeit existieren können, ist für die organische Philosophie von fundamentaler Bedeutung (PR 29/dt. 75). Die menschliche Subjektivität wird in den Whitehead’schen Pansubjektivismus (eine Wortschöpfung Wiehls) integriert, der ein »revidierter Panpsychismus« ist (Wiehl 1990b, 212). Die entschiedene Vertreibung des Subjekt-Prädikat-Schemas aus der Metaphysik markiert, Wiehl zufolge, die scharfe Grenzlinie zwischen dem Whitehead’schen Pansubjektivismus und dem alten und neuen Panpsychismus (ebenda 217). Im Rahmen des Pansubjektivismus der organischen Philosophie umfasst weder die Natur den Geist, noch der Geist die Natur. 58 Keiner der beiden Antipoden der aufzuhebenden Gabelung ist umfassender als der andere, denn jede ›actual occasion‹ hat neben ihrer physischen auch eine geistige Seite: »Pansubjektivismus heißt demnach bei Whitehead nicht nur Einführung des Subjektes in die Natur und in die Naturwissenschaft, sondern ebenso auch Naturalisierung der Subjektivität« (Wiehl 1990b, 212).
Die Nähe des Whitehead’schen Pansubjektivismus zum Bergson’schen Protomentalismus ist offensichtlich, auch wenn beide Denker mittels verschiedener Wege zur Subjektivität aller wirklichen, und somit auch aller materiellen Werdeakte gelangen. Auch Peirce geht von der Fundamentalität des Erlebens als Naturfaktor aus: »Ich denke auch, daß das, was ein Erstes ist, ipso facto empfindungsfähig ist. Wenn ich in der Vorstellung von Atomen Abweichungen zulasse – was ich tue –, so halte ich diese Abweichungen für äußerst gering, denn ich stelle mir Atome so vor, daß sie nicht absolut tot sein können […] Was ich meine, ist folgendes: Alles was es gibt, besteht Erstens aus Gefühlen (feelings), Zweitens aus wirkenden Kräften (efforts), Drittens aus Verhaltensgewohnheiten (habits) – all dies ist uns unter psychischem Aspekt vertrauter als unter physischem […] So daß ich, wenn ich von Zufall (chance) spreche, nur einen mathematischen Terminus wähle, um die charakteristischen Wiehl warnt davor, »Whiteheads Losung ›Against bifurcation‹ im Sinne des spekulativen Idealismus zu verstehen, so als sollten alle philosophisch denkbaren Gegensätze und Dichotomien, vor allem der Gegensatz von Natur und Geist, in einer spekulativen Theorie der Subjektivität aufgehoben werden« (1990b, 212).
58
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Eigenschaften von Freiheit und Spontaneität auch exakt zum Ausdruck zu bringen« (Peirce 1995, 491 f.).
Auf die Erlebnishaftigkeit der wirklichen Entitäten nicht verzichten zu können, scheint eine wesentliche Eigenschaft der Prozessphilosophie in allen möglichen (philosophischen) Welten zu sein. ›Actual entities‹ sind also mental-physisch bipolare Seiende. Sie sind mit Subjektivität begabte Entitäten, die in einem gewissen (noch zu klärenden) Sinne raumzeitlich sind – »physical and mental indissoluble« (PR 244/dt. 447): »Each actuality is essentially bipolar, physical and mental, and the physical inheritance is essentially accompanied by a conceptual reaction […] always introducing emphasis, valuation, and purpose« (PR 108/dt. 210). 59
Von Subjektivität und mentaler Aktivität der ›actual entities‹ kann jedoch nur dann in angemessener Weise die Rede sein, wenn ihnen mentale Atomizität zugestanden wird. Innerlichkeit verlangt nach Individualität, was auch Whitehead berücksichtigt, wenn er behauptet, dass die Ausdrücke Atom und Individuum sich auf jede ›actual entity‹ anwenden lassen (AI 177/dt. 328). Für die organische Philosophie ist der Atomismus fundamentaler als die Kontinuität, wie aus folgender Stelle eindeutig hervorgeht: »The actual occasions are the creatures which become, and they constitute a continuously extensive world. In other words, extensiveness becomes, but ›becoming‹ is not itself extensive. Thus the metaphysical truth is atomism. The creatures are atomic.« (PR 35/dt. 87, Hervorhebung von S. K.).
Leibniz’ Konzeption der Monaden als atomare Subjekte antizipiert – natürlich im Rahmen der Möglichkeiten einer substanzontologisch orientierten Metaphysik – diese Idee. Whitehead bezeichnet – bewusst Leibniz folgend – ebenfalls gelegentlich seine ›actual entities‹ als Monaden (SMW 87/dt. 87, PR 80/dt. 162, AI 177/dt. 328), die aber, im Gegensatz zur Leibniz’schen Konzeption, keine andauernden Substanzen sind, sondern Akte der Synthese (ebenda). Beide Denker vertiefen mehr als jeder andere innerhalb der abendländischen Ideengeschichte die Vorstellung, dass die belebten und unbelebten Teile der Welt aus letzten, nicht teilbaren Entitäten, aus Individuen – im eigentlichen Sinne des Wortes (In-dividuen) –, bestehen. 60 Genauso 59 60
Vgl. auch: AI 177, 190, 245/dt. 328, 348, 429. Vgl.: Leibniz 1998, 11 (§ 1, § 3). Die Individualität der Monaden wird besonders
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wie Whitehead, entwirft auch Leibniz in der Monadologie die Monaden als zwecktätige mentale Entitäten, die mit autonomer Entelechie begabt sind (1998, 19 (§ 18)). Während aber Leibniz in seiner berühmten Schrift von der Individualität ausgeht, um durch Zuhilfenahme des psychologischen Zeugnisses von der Einheit des Erlebens, die Subjektivität der atomaren Entitäten zu fordern, 61 62 scheint Whitehead umgekehrt vorzugehen. Die Richtung seiner Überlegungen wird vom Primat der Überwindung der ›Bifurcation of Nature‹ diktiert. Whitehead misst aber der Atomizität der ›actual entities‹ nicht dieselbe axiomatische Bedeutung wie ihrer mental-physischen Bipolarität bei. Die Atomizität der mentalen Dimension der ›actual entities‹ wird ausreichend durch ein psychologisches Argument begründet: Jeder Prozess ist auch ein mentaler Akt, weshalb ihm die vom menschlichen Erleben bezeugte Unteilbarkeit der psychischen Akte zukommt. Für die physische Atomizität der ›actual entities‹ sprechen vor allem Gründe zeitlogischer Art, die in der eleatischen Ontologie wurzeln, und von denen noch die Rede sein wird. Für das Verständnis der Whitehead’schen Konzeption ist es allerdings nicht besonders wichtig, ob Subjektivität vor Atomi-
hervorgehoben: »Und diese Monaden sind die wahren Atome der Natur, oder mit einem Wort, die Elemente der Dinge« (ebenda § 3). 61 Leibniz geht folgenden Weg: In den drei ersten Paragraphen der Monadologie wird die Atomizität (Individualität) der Monaden eingeführt. Im achten, neunten und zehnten Paragraphen wird ihre Atomizität um die Dimensionen der Einzigartigkeit, respektive Unterscheidbarkeit, und der Veränderbarkeit angereichert. Die postulierte Einheit der Monade zwingt Leibniz, »etwas Besonderes in dem sich Ändernden« (1998, 15 (§ 12)) zu suchen, das eine »Vielheit in der Einheit oder im Einfachen einschließen« muss (ebenda § 13). In den drei darauffolgenden Paragraphen wird das Zeugnis der menschlichen Erfahrung verpflichtet. Schließlich heißt es: »Wir erfahren an uns selbst eine Vielheit (multitude) der einfachen Substanz, indem wir feststellen, daß der geringste Gedanke, dessen wir uns bewußt sind, eine Mannigfaltigkeit (variété) des Inhalts einschließt. Also müssen alle, die anerkennen, daß die Seele eine einfache Substanz ist, diese Mannigfaltigkeit (multitude) in der Monade anerkennen […]« (ebenda 17 f. (§ 16)). 62 Charles Hartshorne, einer der bekanntesten Schüler Whiteheads, schreibt: »Entweder also entschließen wir uns, das Wirkliche nicht als aus Individuen bestehend zu denken, oder aber wir nehmen an, daß die nicht-tierischen Dinge in der Natur aus unsichtbar kleinen Individualitäten bestehen. Dann haben wir aber keine Möglichkeit, die Individualität überhaupt anders zu denken als durch Analogie mit den Tieren und letzten Endes mit uns selber. Den vorigen Gedanken hat niemand – glaube ich – vor Leibniz klar eingesehen« (1969, 169).
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zität kommt oder umgekehrt. Viel bedeutender ist, dass Atomizität und Zwecke setzende Subjektivität ineinandergreifen. 63 Besondere Aufmerksamkeit verdient, in diesem Zusammenhang, die Betonung Leibniz’, dass Bewusstsein als die reflexive Erkenntnis eines inneren Zustands, »keineswegs allen Seelen ja nicht einmal derselben Seele zu allen Zeiten gegeben« ist (1996c, 594 (§ 4)) – womit es nur einen Sonderfall des höheren tierischen und menschlichen Erlebens darstellt und keine universelle Bedeutung haben kann. 64 Wie bereits gesagt, hat Aristoteles vor Leibniz klar gemacht, dass die teleologische Aktivität natürlicher und somit auch biologischer Vorgänge keineswegs an Bewusstsein gebunden ist: 65 Die Zwecktätigkeit natürlicher Entitäten darf nicht mit der bewussten Zwecksetzung, die das Handeln des Menschen und der höheren Tiere auszeichnet, gleichgesetzt werden. Auch Whitehead wird seinerseits nicht müde, der Verwechslung von mentaler Aktivität mit Bewusstsein zuvorzukommen, 66 was aber nicht immer den Vorwurf verhindern konnte, seine Prozessphilosophie könne die Besonderheit des Menschen nicht berücksichtigen und würde unter anderem zu einer ›Naturalisierung‹ der Freiheit beitragen. Whitehead beurteilt jedoch das final ausgerichtete Streben (appetition) innerhalb der leblosen Natur als ein sklavisch konformes Verlangen oder bloßen Trieb (mere urge), der aber nichtsdestoweniger etwas Protomentales ist: »In its lowest form, mental experience is canalized in to slavish conformity. It is merely the appetition towards, or from, whatever in fact already is. The slavish thirst in a desert is mere urge from intolerable dryness. This lowest form of slavish conformity pervades all nature. It is rather a capacity for mentality, than mentality itself. But it is mentality« (FR 33/dt. 31, letzte Hervorhebung von Whitehead).
Es ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis der Whitehead’schen Metaphysik, dass Bewusstsein nur der reichsten Form von Subjektivität zukommt (FR 32/dt. 30, PR 53/dt. 115). Bewusstsein ist lediglich der Höhepunkt des Mentalen, der »Gipfel der Em»[…] final causation and atomism are interconnected philosophical principles« (PR 19/dt. 59). 64 Eine ähnliche Position vertritt Leibniz in den Paragraphen 19 und 20 der Monadologie. 65 Siehe Abschn. 2.1 von Kap. I. Vgl. auch Aristoteles’ Physik II, 8, 199 b26–30. 66 Vgl.: PR 25, 53, 56, 139, 280/dt. 69, 115, 121, 264, 509; FR 16, 32/dt. 16, 30 u. a. 63
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phase« 67 – ein Mentales »zweiter Ordnung«, das neue Strebungen autonom anstreben kann. 68 Erst in den höheren Ebenen des Erlebens werden solche Zweckursachen relevant, die keine sklavisch-konformen blinden Triebe sind, sondern fähig sind, sich vom konkret Gegebenen abzulösen, indem sie neue Ziele des Strebens setzen können (FR 34/dt. 31). Eine protomentale Erhebung ist kaum mit dem »Gipfel der Emphase« (AI 180/dt. 332) gleichzusetzen und negiert deshalb die menschliche Subjektivität genauso wenig, wie die Existenz von Tümpeln und Hügeln die Existenz von Ozeanen und Bergketten negiert. Schwierigkeiten entstehen jedoch, wenn durch das Konzept der ›actual entity‹ die Kontinuität der menschlichen Personalität erklärt werden soll. 2.2.a.2 Interne Relationalität und Prozessualität als Folgen der Abkehr von der Substanzontologie Wie schon erläutert, lehnt Whitehead es ab, seine Ontologie auf dem antiken und neuzeitlichen Substanz-Begriff zu fundieren. Ein wichtiger Grund, neben der problematischen Ontologisierung des SubjektPrädikat-Schemas der Sprache (Aristoteles) und der Abspaltung der Subjektivität von der Materialität (Descartes), ist, dass, Whitehead zufolge, Relationen zwischen Substanzen nicht denkbar sind. 69 Sowohl die Descartes’sche Substanz als etwas, »das so existiert, daß es zu seiner Existenz keines anderen Dinges bedarf«, außer »Gottes Beistand« (Descartes 1992, 17 f. (I, § 51, § 52)), als auch die Aristotelische ›erste Substanz‹ 70 sind als sich selbst genügsame Seiende konzipiert und als solche bedürfen sie keiner Beziehungen zu einer anderen weltlichen Substanz. 71 Whitehead distanziert sich explizit und unmissverständlich von beiden Konzepten, weil es für ihn undenkbar ist, dass die elementarsten Fakten der Realität mit ihrer unmittelbaren Umgebung nicht korreliert sein können (PR 59/dt. 126). Es gibt jedoch zwei grundsätzliche Möglichkeiten, im Rahmen »Consciousness is the acme of emphasis« (AI 180/dt. 332). »[Consciousness] is a second-order Type of mentality. It is the appetition of appetitions« (FR 33/dt. 30, Einfügung von S. K.). 69 »The relations between individual substances constitute metaphysical nuisances: there is no place for them« (PR 137/dt. 261). Vgl. auch: Böhme 1980, 46; Fetz 1981, 114. 70 Siehe Abschn. 2.1 von Kap. I. 71 Bezüglich der Unverträglichkeit der Aristotelischen Substanzontologie mit der Idee der Relationalität vgl.: Böhme 1980, 47–51. 67 68
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IV · Die Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads und die Ontogenese
des Substanzialismus einen Kompromiss zu finden, um die elementare Tatsache des interaktionalen Aufeinander-Bezogen-Seins vielfältiger Relationen zwischen den Elementen der Welt zu respektieren. Entweder wählt man den monistischen Weg des Spinozistischen Pantheismus und postuliert eine allumfassende Substanz, die alles Werden in der Welt als ihre Attribute umfasst, oder man entscheidet sich für die Alternative der Leibniz’schen Monadologie. Während die zweite Lösung die Relationen zu reinen Phänomenen im Inneren der fensterlosen Monaden degradiert, 72 hat die erste das Problem der willkürlichen Einführung der Attribute, der Modi der einen Substanz, mit der Spinoza die empirisch gegebene Mannigfaltigkeit der Welt in seine Ontologie zu integrieren versucht. Whitehead verlangt aber eine höhere Kohärenz für das spekulative Gedankenschema: Die Vielfalt der Modi müsste aus rein ontologischen Gründen ein unreduzierbarer Bestandteil der theoretischen Konzeption der allumfassenden Substanz sein und nicht als eine Ergänzung anmuten, die allein wegen des Zeugnisses der Erfahrung unternommen wird (PR 7/dt. 37 f.). 73 Mit der Whitehead’schen Wende hin zu einer entschieden relationalen Ontologie bestätigt sich erneut die schon der Aristotelischen Philosophie innewohnende Spannung zwischen Substanzen und Relationen. Die ›Karten‹ werden aber jetzt neu gemischt und dieses Mal wird dem Konzept der Substanz jeglicher ontologischer Status aberkannt. Whiteheads Abwendung von der traditionellen Metaphysik Auf der Basis seiner Metaphysik kann Leibniz etwas zwischen den Substanzen Existierendes nicht zulassen. Denn im Rahmen einer Substanzontologie kann etwas entweder Substanz oder Akzidens sein. Da eine Relation von mehr als einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird, kann sie nur noch ein Akzidens sein. Dieses wäre jedoch ein zweistelliges Prädikat, da jede Relation gleichzeitig zwei Monaden prädiziert, und würde somit in zwei verschiedenen Zugrundeliegenden sein. Das lehnt Leibniz ab, denn »wir hätten dann ein einziges Akzidens in zwei Subjekten, das also gleichsam mit einem Fuße im einen, mit dem anderen im anderen Subjekt stände, was mit dem Begriff des Akzidens unvereinbar ist. Man muß demnach sagen, daß die Beziehung […], da sie weder Substanz noch Akzidens ist, etwas rein Ideales sein muß« (1996b, 135 (5. Brief an Clarke, § 47)). 73 Whitehead bringt seine Unzufriedenheit bezüglich der mangelnden theoretischen Geschlossenheit der Spinozistischen Metaphysik wie folgt zum Ausdruck: »He starts with one substance, causa sui, and considers its essential attributes and its individualized modes, i. e., the ›affectiones substantiae‹. The gap in the system is the arbitrary introduction of the ›modes‹. And yet, a multiplicity of modes is a fixed requisite, if the scheme is to retain any direct relevance to the many occasions in the experienced world« (PR 7/dt. 37 f.). 72
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verleiht den Relationen zwischen den wirklichen Entitäten einen wichtigen ontologischen Status und degradiert ihrerseits persistente Dinge zu Ganzheiten, die aus wirklichen Entitäten bestehen (PR 73/ dt. 150). Die ›actual entities‹ werden als Akte des Werdens, die aufeinander angewiesen sind, gedacht, damit zwischen ihnen Relationen möglich sind. Wenn aber die ›actual entities‹, um ihrer Relationalität willen, keine dauerhaften Substanzen, sondern Werdeakte sind, stellt sich die Frage, worauf sich das Werden Letzterer gründet. Außerdem verlangt echte Relationalität nach einem nicht zu unterschreitenden Minimum der gegenseitigen Angepasstheit des Wesens der wirklich Seienden – worauf auch der Leibniz’sche Gedanke der prästabilierten Harmonie abzielt. Es lassen sich verschiedene Möglichkeiten denken, wie diese Anpassungen wesentlicher Eigenschaften der Relata zustande kommen könnten. Die einzige Alternative, die keine neue Form der Spaltung der Realität in aktive und passive Bereiche einführt, besteht darin, dass alle ›actual entities‹ die Bedingungen des Werdens neuer Mitglieder ihrer Gattung begründen. Da sie mit keinem externen Schöpfungseingriff rechnen dürfen, 74 können sie nur mittels ihrer eigenen Relationen zueinander die erforderliche Adaptation erreichen. Eine ›actual entity‹ passt nur deshalb zu ihrer Welt, und kann integriert werden, weil sie relational entstanden ist – oder mit Bergson gesprochen: Alle Werdeakte stehen in der Ordnung des wesenhaften Ineinanders, da ihre Wesen sich gegenseitig durchdringen. Das Werden der wirklichen Entitäten und ihre interne Relationalität sind somit in der Whitehead’schen Metaphysik unlösbar ineinander verwoben: »The position here maintained is that the relationships of an [actual occasion] are internal, so far as concerns the [actual occasion] itself; that is to say, that they are constitutive of what the [actual occasion] is in itself« (SMW 130/dt. 126, Einfügungen von S. K.). 75
Da diese Verbindung ihrerseits wiederum unlösbar mit der Logik der Whitehead’schen Metaphysik verwoben ist, kann dieses Resultat auch auf anderen Wegen erreicht werden – z. B. ausgehend vom AnDas wäre eine Form der ›Bifurcation‹ und würde außerdem die theoretische Geschlossenheit des kosmologischen Gedankenschemas schwächen. 75 In diesem Zitat wurde der Ausdruck ›event‹ durch den Ausdruck ›actual occasion‹ ersetzt, weil letzterer in Process and Reality die Rolle von ›event‹ bzw. ›actual event‹ in Science and the Modern World übernimmt. 74
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tibifurkationismus und der Zurückweisung der Substanzontologie (die ohnehin eng zusammen gehören): Die ›actual occasions‹ sind nicht nur physische Entitäten, sondern auch Subjekte. Da jedoch ein solches Subjekt keine Substanz ist, kann es sich seinen eigenen Erfahrungen gegenüber nicht so verhalten wie ein logisches Subjekt, das seine Prädikate trägt, als wären sie ihm akzidentiell anhaftende Größen. Es kann also nicht ein zugrundeliegender Träger sein, der verschiedene Erfahrungen durchlebt, ohne von ihnen in seinem Wesen variiert zu werden. Der Weg Whiteheads kann also nur darin bestehen, das Subjekt nicht von seinen Erfahrungen zu trennen. Er konzipiert es folgerichtig als eine Ganzheit von Erfahrungen, die zu einer bestimmten Einheit zusammenwächst – dem Akt des Werdens eines Subjektes. Die Quelle dieser Erfahrungen kann aber nicht ausschließlich im Subjekt zu verorten sein, da dieses ja nicht als eine monadische Substanz Leibniz’scher Art konzipiert wird. 76 Erfahrungen muss das Whitehead’sche Subjekt vielmehr durch die ›Fenster‹ seiner Beziehung zur Realität, die in der Totalität aller wirklichen Entitäten besteht, machen können. Jeder Werdeakt besteht also in der Verschmelzung der Erfahrungen, die er mit anderen Werdeakten macht, zu einer bestimmten Erlebenseinheit, die die Einheit des Subjekts ausmacht. Das dritte Fundament der Whitehead’schen Ontologie, die interne Relationalität, folgt im Grunde automatisch aus der Verbindung der zwei anderen Fundamente: Prozessualität und Subjektivität der wirklich Seienden. Wenn ein Werdeakt erst durch Erfahrungsrelationen zu seinesgleichen zustande kommt, kann er nicht im Geringsten von diesen Relationen abgelöst werden, womit es sich dabei notwendig um interne Relationen handelt. Beim Werden einer ›actual occasion‹ erreicht die potentielle Einheit der vielen (nicht nur wirklichen) Entitäten, die in den Akt des Werdens relational integriert werden, die wirkliche (d. h. wirksame) Einheit des einen, werdenden Subjekts. Whiteheads Verständnis des Wesens eines solchen Werdeaktes wurde vom Begriff der »real internal constitution« aus Lockes Essay inspiriert:
Nicht nur die Negation jedes denkbaren Substanz-Begriffes, sondern auch die Skepsis bezüglich der ontologischen Relevanz von Sprache und Logik verbieten Whitehead, Leibniz’ Vorstellung des Einschließens der Prädikate ins Subjekt für eine echte Alternative zu halten. Diese Idee muss für Whitehead eine extreme Form des Panlogismus darstellen.
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»Locke discusses the constitution of actual things under the term ›real essences‹. He writes: ›And thus the real internal (but generally in substances unknown) constitution of things, whereon their discoverable qualities depend, may be called their ›essence‹« (PR 53 f./dt. 116). 77
Die Übernahme eines Begriffes, den sein Urheber als ›Wesen‹ (essence) versteht, legitimiert die im vorliegenden Kapitel häufigen Verwendungen dieses Begriffs bzw. des auf ihn zurückgehenden Ausdrucks ›wesenhaft‹. Es ist festzuhalten: Die »reale innere Beschaffenheit« einer ›actual entity‹ – ihr Wesen – ist identisch mit dem Akt ihres Werdens: »The process itself is the constitution of the actual entity; in Locke’s phrase, it is the ›real internal constitution‹ of the actual entity« (PR 219/dt. 402, Hervorhebung von S. K.). 78
Whitehead betont, dass die wirklich Seienden mit Bezug auf ihre eigene Bestimmung wirken: »An actual entity […] functions in respect to its own determination« (PR 25/dt. 69, Cat. XXI Expl.).
Das Wesen der werdenden ›actual entity‹ ist also das einer Entität, die mit dem Ziel der eigenen Bestimmung wirkt. Folglich besteht das Wesen einer ›actual entity‹ im Akt ihrer eigenen Wesensbestimmung – die konsequenteste Absage an die Substanzontologie, die man sich vorstellen kann. 79 Der Akt der Selbstkreation einer ›actual entity‹ besteht in der Transformation der relativen Inkohärenz der Mannigfaltigkeit, die sie vorfindet und in sich einbezieht, in die höhere Kohärenz, die sie den ihr folgenden Werdeakten hinterlässt. 80 Der Begriff ›entity‹ verweist genau auf diese durch den Akt der Selbstbestimmung erreichte Einheit, die auch in einer Unmittelbarkeit des Erlebens besteht, 81 während auf das Werden dieser individuellen und kreativen Synthese Vgl.: Locke 1988, 20 f. (III, 3, § 15). Vgl. auch: Leclerc 1975, 93. 79 Eigentlich ist dieses Resultat lediglich eine notwendige Folge der zu Beginn der Überlegungen vollzogenen Absage an die Substanzontologie. 80 »[An actual entity] is self-creative; and in its process of creation transforms its diversity of rôles into one coherent rôle. Thus ›becoming‹ is the transformation of incoherence into coherence, and in each particular instance ceases with this attainment« (PR 25/dt. 69 f., Cat. XXII Expl.; Einfügung von S. K.). Vgl. auch: Leclerc 1975, 64. 81 »That this self-functioning is the real internal constitution of an actual entity. It is 77 78
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der Begriff ›actual‹ verweist, der auch die Bedeutung von ›Akt‹, und somit von ›Aktivität‹ impliziert. Spätestens an dieser Stelle zeigt sich die große Nähe der Whitehead’schen Konzeption der ›actual entity‹ zur Vorstellung des Verstandes bei Kant als eines aktiven bzw. spontanen Vermögens der Synthese, kraft dessen »viel mögliche Erkenntnisse […] in einer zusammengezogen werden«, um die Einheit eines Gegenstands zu erzeugen (Kant 1990, 110 (B94/A69)). 82 Jedoch ist das Whitehead’sche Subjekt anders als bei Kant nicht mehr als das Werden (s)einer konkreten Synthese und deshalb weder vor noch nach dieser existenzfähig. Folglich ist das Leben der ›actual entity‹ mit dem Abschluss dieses Aktes beendet, weshalb es völlig abwegig ist, sie sich in den Begriffen persistenter Entitäten vorzustellen, die sich bewegen oder ihren Zustand verändern (PR 73/dt. 150), wie noch ausführlich erläutert wird. Die ›actual entity‹ – ihr Wesen – geht erst aus ihren Relationen zu den vielen Entitäten einer Mannigfaltigkeit hervor, die sie in ihren Werdeakt einbezieht; sie ist also nicht das Zugrundeliegende, von dem die Relationen ausgehen. Diese wesensstiftenden (internen) Relationen sind ihre ›prehensions‹. In altmetaphysischen Begriffen ausgedrückt: »In Cartesian language, the essence of an actual entity consists solely in the fact that it is a prehending thing (i. e., a substance whose whole essence or nature is to prehend)« (PR 41/dt. 94).
In unübersehbarem Unterschied zur Systemontologie sieht Whitehead die Einheit einer wirklichen Entität nicht in der Verbindung einiger funktionaler Beziehungen der kosmischen Totalität zu einem ›Knoten‹ von Relationen (vgl. Abb. 2.28(a)). Die Einheit einer ›actual entity‹ besteht in ihrer spontanen – im Kantischen Sinne dieses Ausdrucks, der autonome Aktivität besagt – synthetisierenden Subjektivität. Whitehead operiert deutlich jenseits des Funktionalismus, Relationalismus und Strukturenrealismus der modernen Physik, die wirkliche Entitäten auf ›Knoten‹ von Relationen mit anderen wirklichen Entitäten reduzieren. 83 Interne Relationalität bei Leibniz und the ›immediacy‹ of the actual entity. An actual entity is called the ›subject‹ of its own immediacy« (PR 25/dt. 70, Cat. XXIII Expl.; Hervorhebungen von S. K.). 82 Vgl. auch: Lotter 1990, 195. 83 Typischer Vertreter dieser Position ist Michael Esfeld (2002, 73–80; 2008, 115– 128). »Eine Struktur ist ein Netz konkreter physikalischer Relationen zwischen Objekten« (2008, 117). »Entweder gibt es fundamentale intrinsische Eigenschaften, die Weisen (Modi) sind, wie die Objekte unabhängig von den Relationen existieren; oder
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Whitehead darf keineswegs mit dem Relationalismus und radikalen Antiessentialismus der meisten Quantenphysiker gleichgesetzt werden. Beide Philosophen haben den Essentialismus Aristoteles’ nicht nur nicht verworfen, sondern weitergedacht. Die Synthese einer ›actual occasion‹ ist nicht ein ›Knoten‹ von verschiedenen externen Relationen, sondern der Selbstaufbau eines ›Kraftzentrums‹, das – einem biologischen Organismus gleich – sich selbst durch seine ausgesandten ›Kraftlinien‹ (d. h. ›prehensions‹) versorgt, um zu wachsen und sein Wesen (essence) zu bestimmen. Whitehead nennt seine Metaphysik »organic philosophy«, weil sie die fundamentalsten Entitäten der Realität als Akte des Zusammenwachsens diverser aufgenommener Elemente sieht, was nach dem Vorbild des Wachstums biologischer Organismen gedacht ist. 84 Besonders beachtenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Whitehead bei den Anfängen seiner prozessmetaphysischen Schaffensperiode um 1925 auf diese Weise seiner Überzeugung Rechnung trägt, dass für die Naturwissenschaft insgesamt ein neues Zeitalter beginnt, in dem sie mit Entitäten zu tun hat, die dem metabolischen Auf- und Abbau viel näher stehen als der passiven Stofflichkeit: »Science is taking on a new aspect which is neither purely physical, nor purely biological. It is becoming the study of organisms. Biology is the study of the larger organisms; whereas physics is the study of the smaller organisms« (SMW 129/dt. 125, Hervorhebung von S. K.).
Dieser Einschätzung kommt in seinem Entwurf eine zentrale Rolle zu:
Objekte sind – im Sinne des moderaten Strukturenrealismus – nichts weiter als dasjenige, was in den Strukturen steht« (ebenda 128, Hervorhebung von S. K.). Dies wird so begründet: »[W]enn die Objekte fundamentale intrinsische Eigenschaften hätten, dann wären Objekte und Relationen nicht auf derselben ontologischen Stufe, sondern Objekte wären den Relationen vorgängig über die fundamentalen intrinsischen Eigenschaften gegeben« (ebenda). Esfelds Verständnis von intrinsischen Eigenschaften erinnert an Descartes’ Substanz-Begriff, der die Unabhängigkeit des Objekts von anderen Objekten betont. Godehard Brüntrup verleiht dem Ausdruck ›intrinsische Natur‹ eine ganz andere Bedeutung, da er ihn mit dem »qualitative[n] Erleben, d[em] phänomenale[n] Bewusstsein« verbindet (2010, 335; Einfügungen von S. K.). Whitehead eröffnet einen Weg, über die viel verschmähten ›intrinsischen Naturen‹ zu reden, ohne die Bedeutung von ›intrinsisch‹ mit ›substanziell‹ gleichzusetzen. 84 »The category of Prehension expresses how the world is a system of organisms. An occasion is a concretion – that is, a growing together – of diverse elements« (TIME 241). Vgl. auch: SMW 47, 130, 135/dt. 52, 125, 130.
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»A complete organism in the organic theory is what corresponds to a bit of material on the materialistic theory« (SMW 164/dt. 157).
Was hier ein »complete organism« genannt wird, ist nichts anderes als eine ›actual entity‹. 85 Das Wesen eines solchen elementaren Organismus besteht in seiner autonom vollbrachten Synthese. Da er keine wertlose, leere Existenz ist 86, sondern Eigenwert und Eigeninteresse verkörpert, 87 kann sein Wesen nicht in Eigenschaften bestehen, die dieser wirklichen Entität in verschiedenen, von Wissenschaftlern erfundenen, ›möglichen Welten‹ 88 notwendig zukommen. Im Gegenteil, die zweckursächlich-kausale interne Relationalität des wirklich Seienden mit einem konkreten Teil der Realität verbietet geradezu, dass sein Wesen auf eine Weise bestimmt wird, die naturwissenschaftlichen Systemontologien eigen ist, denn es ist keinesfalls von seiner konkreten Welt ablösbar, weshalb es einmalig ist. Es ist die Wesensbestimmung der wirklichen Entität selbst, die festlegt, was ihr Wesen ist, nicht die Abstraktionen der Wissenschaftler. Aufgrund des Vermögens der spontanen Wesensbestimmung können die wirklichen Entitäten Whiteheads nicht nur als ›Werdeakte‹ bezeichnet werden, sondern vielmehr als Prozesse und zwar im Sinne des im zweiten Kapitel (Abschn. 3.3.b) der vorliegenden Untersuchung definierten Prozess-Begriffes. Denn damit ist noch ein zentraler Bestandteil dieses Begriffes, neben Subjektivität und interner Relationalität, erfüllt.
Whitehead wendet den Organismus-Begriff auch auf ›nexūs‹ an: »The concrete enduring entities are organisms« (SMW 98/dt. 98). Als ›Organismen‹ bezeichnet er neben Lebewesen (SMW 139/dt. 134) auch Elektronen, Protonen, Atome und Moleküle (SMW 128, 138/dt. 124, 133), während er dem zwischen mikrophysikalischen Entitäten und biologischen Organismen liegenden anorganischen Bereich ›confusion‹ zuschreibt (SMW 139/dt. 134). 86 »›Value‹ is the word I use for the intrinsic reality of an [actual occasion]« (SMW 116/dt. 114) (vgl. auch: FR 30 f./dt. 28. In diesem Zitat wurde der Ausdruck ›event‹ durch den Ausdruck ›actual occasion‹ ersetzt (siehe Fußnote 75 dieses Kapitels). 87 »Value is inherent in actuality itsel f. To be an actual entity is to have self-interest. This self-interest is a feeling of self-valuation; it is an emotional tone« (RM 100/dt. 76 f.). Vgl. auch: SMW 135/dt. 130; Sayer 1999, 151 f. 88 Siehe Abschn. 3.2.a.3 von Kap. II. 85
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2.2.a.3 Beispiele für ›actual entities‹ Eine zentrale Schwierigkeit der Whitehead’schen Metaphysik besteht darin, dass im Unterschied zu anderen spekulativen Entwürfen sowohl die metaphysischen Prinzipien als auch die fundamentalen Entitäten seiner Philosophie nur durch metaphysische Spekulation erreichbar sind. Die ›actual entities‹ sind weder sinnlich noch introspektiv zugänglich noch von der wissenschaftlichen Empirie ableitbar. 89 Unseren Sinnen sind nur die meso- und makrokosmischen ›nexūs‹, die aus ›actual entities‹ bestehen, gegeben. Durch leibliche Introspektion sind wir genauso wenig erfolgreich, denn die Eigenempfindung des Körpers ist viel zu unscharf, um einzelne leibliche ›actual occasions‹ unterscheiden zu können. Die Beobachtung des Bewusstseinsstroms erteilt ebenfalls keine Auskunft über einzelne psychische wirkliche Entitäten. Denn die Rekapitulation der ferneren sowie auch der unmittelbaren Vergangenheit präsentiert Inhalte, die zu erinnerungsfähigen Ganzheiten verschmolzen sind, sodass nichts Elementares in ihnen separat vorkommt. Die unmittelbare Gegenwart des Bewusstseins, die der organischen Philosophie zufolge in einer ›actual occasion‹ menschlicher mental-physischer Beschaffenheit besteht, prehendiert nicht sich selbst, sondern ihren unmittelbaren Vorgänger. Dieser wird allerdings zusammen mit anderen leiblichen Prozessen erfasst, sodass dieser nicht einzeln, sondern mit der restlichen vergangenen Mannigfaltigkeit zu einer unlösbaren ›Legierung‹ verschmolzen, präsent ist. Es ist vielmehr die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften – in erster Linie die der Theoretischen Physik – die der Whitehead’schen Ontologie Vorschub leistet. Innerhalb der wachsenden Gemeinschaft der Interpreten der organischen Philosophie herrscht weitgehende Einigkeit, dass ein gutes Beispiel für ›actual entities‹ die mikrophysikalischen Ereignisse der Quantentheorie sind (Lowe 1990, 232). 90 Schon in Science and the Modern World betont Whitehead die Notwendigkeit, bezüglich der physikalischen Elementareinheiten eine Theorie der diskontinuierlichen Existenz zu schaffen (169/dt. 161). Auf der Basis der frühen Quantentheorie, wie sie vor 1925 von Planck, Einstein und Bohr formuliert wurde, geht Vgl. auch: Lango 1972, 5 ff. Vgl. auch: Sherburne 1961, 78 f.; Fetz 1981, 252. Im vorliegenden Abschnitt werden einige neuere Anwendungen dieses Konzepts auf mikrophysikalische Ereignisse vorgestellt.
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Whitehead davon aus, dass die Elektronen nicht durchgehend existent sind: »At present physics is troubled by the quantum theory […] the point is that one of the most hopeful lines of explanation is to assume that an electron does not continuously traverse its path in space. The alternative notion as to its mode of existence is that it appears at a series of discrete positions in space […] This discontinuous existence in space, thus assigned to electrons, is very unlike the continuous existence of material entities which we habitually assume as obvious. The electron seems to be borrowing the character which some people have assigned to the Mahatmas of Tibet« (SMW 45/dt. 49 f., Hervorhebungen von S. K.). 91
Die organische Philosophie wird als eine neue den (mechanischen) Materialismus ablösende Lehre vorgeschlagen, die sich von der hinfälligen Konzeption des andauernd existierenden Stoffes entschieden verabschiedet (SMW 47/dt. 51). Im Hauptwerk werden elektronische und protonische Ereignisse als ›actual occasions‹ beschrieben (PR 91/ dt. 180); es wird aber auch die Existenz noch grundlegenderer Prozesse angenommen (ebenda). 92 Die gesamte ›Lebensgeschichte‹ eines Elementarteilchens besteht aus einer Reihe vieler mikrophysikalischer Prozesse (SMW 192/dt. 181); d. h. dass es keine ›actual entity‹, sondern ein ›nexus‹ ist. Ein solches Teilchen manifestiert sich in einer Aufeinanderfolge separater Prozesse als raumzeitliche Entität und infolgedessen ist seine Fortbewegung in der Raumzeit diskontinuierlich und besteht in einer Reihe diskreter Positionen (SMW 169 f./dt. 161). Die reife Version der modernen Quantentheorie, die nach 1925 von Heisenberg, Schrödinger, De Broglie, Bohr, Born, Dirac u. a. begründet wurde, und die Whitehead nicht in seine Prozessphilosophie integriert hat (Shimony 1965, 307), kennt viele Phänomene, die als Beispiele für ›actual occasions‹ dienen können. So lässt sich z. B. auf der Basis ihrer Erkenntnisse die Manifestation eines Elementarteilchens, die sich in einem Teilchendetektor ereignet, als Resultat eines Whitehead’schen Prozesses begreifen. Der Quantentheoretiker und Kernphysiker John A. Jungerman versteht den Kollaps einer Wellenfunktion durch eine Messung als ein »actual event« (2000, 83) und versucht im Rahmen der Prozessphilosophie die Unvorhersagbarkeit quantenphysikalischer Ereignisse als Ausdruck protomentaler KreaVgl. auch: SMW 46 f./dt. 50 f. Whitehead geht allerdings von der Existenz kleinster Organismen, die nicht weiter zerlegbar sind, aus (SMW 129/dt. 125).
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tivität zu deuten. Jungerman überträgt die Konzeption der ›actual occasion‹ auf die sechs Leptonen und die sechs Quarks des Standardmodells der Elementarteilchenphysik (ebenda 104). Außerdem versteht er die spontane Produktion eines virtuellen Teilchen-Antiteilchen-Paares, die sich für sehr kurze Zeit im Vakuum ereignet – und, für diese Zeit, den Energieerhaltungssatz verletzt – als eine ›actual occasion‹ (ebenda 85 f.), 93 wodurch er der Whitehead’schen Ontologie den Weg in die moderne Quantenfeldtheorie eröffnet. 94 Die Erkenntnis, dass in einem einzigen Proton jede Sekunde Myriaden Prozesse stattfinden, hätte Whitehead nicht unbedingt überrascht. Victor Lowe berichtet von einem Gespräch mit ihm, in dem er sagte, dass sich in einem Energiequantum »[p]robably a whole shower of actual occasions« befinden könnte (1963, 131). Der bekannte britische Mathematiker und Physiker Roger Penrose hat einen der interessantesten Versuche der letzten Jahrzehnte zu einer konzeptionellen Erweiterung der Quantentheorie vorgestellt, der eine genuine Nähe zur organischen Philosophie aufweist. Anders als die von der Mehrheit der Physiker nach wie vor befolgte ›Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik‹, die von Bohr und Heisenberg formuliert wurde, versucht Penrose den Kollaps der Wellenfunktion als ein Ereignis zu begreifen, das nicht notwendig an eine Messung gebunden ist. Im Rahmen seines Versuchs, die Quantenmit der Gravitationstheorie zu verbinden, beschreibt er den Zusammenbruch der Wahrscheinlichkeitswelle als den Kollaps einer Überlagerung zwei verschiedener Gravitationsfelder, d. h. zwei verschiedener Raumzeit-Geometrien. Der Übergang von der nicht lokalen Seinsweise zur raumzeitlichen Lokalität des manifestierten Objekts wird als der spontane Zusammenbruch einer, aus internen Gründen, instabilen Raumzeit-Blase verstanden. Diesen Kollaps, den Penrose Es ist diesbezüglich beachtenswert, dass auch Whitehead, obwohl ihm der Hintergrund der reifen Quantenphysik fehlt, den Begriff der physikalischen Energie für eine Abstraktion hält (SMW 47/dt. 52) und vom Vermögen einiger ›actual entities‹, sich im Vakuum zu ereignen, ausgeht (PR 177/dt. 331). 94 Die starke Kernkraft, die die Quarks in den Protonen und Neutronen zusammenhält, und die elektromagnetische Kraft, die die Bahnen der Elektronen um die Protonen stabilisiert, scheinen durch Milliarden von Trillionen virtueller Teilchen (Gluonen bzw. Photonen), die in jeder Sekunde spontan im Vakuum entstehen und wieder vergehen, übertragen zu werden. Dasselbe gilt auch für die anderen elementaren Kräften, die schwache Kernkraft und die Gravitation. Sie werden durch Felder vermittelt, deren Quanten virtuelle Teilchen (Bosonen bzw. Gravitonen), also – Jungerman zufolge – ›actual occasions‹ sind (Jungerman 2000, 110 f.). 93
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als eine Entscheidung zwischen zwei alternativen Raumzeit-Geometrien versteht, nennt er »objective reduction«, bzw. »OR«, womit er sich eindeutig gegen die »subjective reduction« der Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik positioniert, die dem menschlichen Beobachter-Subjekt, das die Messung durchführt, eine zentrale Rolle zuweist (Penrose 1995, 422–426, 440). 95 Das spontane Ereignis der »objective reduction« wird als ein nicht-berechenbares Werden verstanden (ebenda 474 f., 480 f.), 96 was erlaubt, es als Manifestation von Kreativität, im Whitehead’schen Sinne des Wortes, zu sehen und somit als Prozess zu verstehen. Der bekannte Arzt und Bewusstseinsforscher Stuart Hameroff, der mit Penrose eng kooperiert, bringt die naturphilosophische Nähe dieses Ansatzes zur Whitehead’schen Metaphysik klar auf den Punkt: »The point is that Penrose objective reductions are actual events occurring at the level of – actually in the medium of – fundamental space-time geometry. Following a pan-protopsychist philosophy, proto-conscious qualia may be embedded in this medium […] Accordingly Penrose OR events could qualify for Whitehead occasions […] This is the key point I wish to propose: Penrose OR events are equivalent to Whitehead ›occasions of experience‹« (Hameroff 2003, 73).
In einer gemeinsamen Veröffentlichung der beiden Autoren heißt es: »We take the self-reduction to be an instantaneous event […] and apparently consistent with a Whitehead ›occasion of experience‹« (Hameroff & Penrose 1996, 38).
Die zunehmende Beachtung, die der organischen Philosophie ein stetig wachsender Teil der naturwissenschaftlichen Avantgarde schenkt, darf jedoch nicht übersehen lassen, dass Whitehead sich von der Wissenschaft seiner Zeit, allem voran der Quantentheorie, inspirieren, Vgl. auch: Hameroff & Penrose 1996, 40. Auch der bekannte Theoretische Physiker Geoffrey Chew versucht den Akt der Beobachtung, der den Kollaps der Wellenfunktion bewirkt, als Bestandteil einer Kette Whitehead’scher Prozesse zu verstehen, die alles physische Werden beeinflussen, ohne an menschliches Bewusstsein gebunden zu sein, um somit der Reduktion der Wellenfunktion einen objektiven Charakter zu verleihen (2004, 88 f.). Henry Stapp, der sich seit Langem für die Integration der organischen Philosophie in die Quantentheorie einsetzt, spricht ausgehend von der mental-physischen Bipolarität Whitehead’scher Prozesse für eine Erweiterung der von Neumann/Wigner-Formulierung der Quantentheorie (2004, 100 f.). 96 Wie schon im zweiten Kapitel der vorliegenden Untersuchung erläutert, ein Prozess ist nicht-berechenbar, wenn seine Operationen nicht durch eine Turing-Maschine simuliert werden können. 95
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aber keineswegs leiten ließ. 97 Die positive Aufnahme der Prozessmetaphysik von Seiten mehrerer Quantenphysiker unterstreicht einerseits ihre Relevanz und Fruchtbarkeit, birgt aber andererseits in sich die große Gefahr einer einengenden Identifizierung der ›actual occasions‹ mit mikrophysikalischen Ereignissen, was der Reichweite der Whitehead’schen Grundintention bei weitem nicht gerecht wird. Die organische Philosophie kennt insgesamt vier Arten von ›actual occasions‹ : »In the actual world we discern four grades of actual occasions, grades which are not to be sharply distinguished from each other. First, and lowest, there are the actual occasions in so-called ›empty space‹ ; 98 secondly, there are the actual occasions which are moments in the life-histories of enduring nonliving objects, such as electrons or other primitive organisms; 99 thirdly, there are the actual occasions which are moments in the life-histories of enduring living objects; fourthly, there are the actual occasions which are moments in the life-histories of enduring objects with conscious knowledge« (PR 177/dt. 331, Hervorhebungen von S. K.).
Die zwei zuletzt genannten Arten legen nahe, dass die elementarsten Fakten des Kosmos nicht lediglich von protomentaler Einfachheit sein müssen. Genauso wenig müssen sie mikroskopischer Größenordnung sein, wie es häufig behauptet wird. 100 Obwohl die menschliche Seele fundamental für die Konzeption der wirklich Seienden als Subjekte ist, versteht sie Whitehead nicht als eine ›actual entity‹, sondern als einen ›nexus‹, der in einer Sukzession diskreter, atomarer Prozesse menschlich-psychologischer Erfahrungstiefe besteht (AI 291/dt. 504). Zu jedem Bewusstseinsakt gehört aber ein physisches Korrelat, Einige der bekanntesten Interpreten Whiteheads sind sich diesbezüglich einig (Christian 1967, 168 ff.; Emmet 1981, 178; Lowe 1966, 222; Lango 1972, 6). 98 Chew hat ein kosmologisches Modell entwickelt, in dem wichtige Whitehead’sche Vorstellungen einbezogen sind, mit dem Ziel der quantenmechanischen Erklärung von Raumzeit. In seinen Überlegungen spielen Whitehead’sche Prozesse des Vakuums eine zentrale Rolle, denn sie üben einen kanalisierenden Einfluss auf Prozesse, die in materiellen Strukturen, wie Elementarteilchen, stattfinden (2004, 87 f.). Chew zufolge besteht der gewaltigste Teil der kosmischen Geschichte aus solchen Prozessen, die immaterielle Vakuum-Muster – »vacuonic strands« – bilden. 99 Auch diesbezüglich sind die Gedanken von Chew erwähnenswert (2004, 87). 100 Diese Position vertreten z. B. Fetz (1981, 252) und Lango (1972, 6). Die Bezeichnungen ›mikro‹ und ›makro‹ setzen die Existenz einer Metrik voraus. Eine Grundaussage der relationalen Raumzeit-Theorie Whiteheads ist, dass die raumzeitliche Metrik des Kosmos erst von den ›actual occasions‹ begründet wird, weshalb Wiehl letztere als ›prämetrisch‹ bezeichnet (persönliche Mitteilung an mich). 97
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das sich über eine relativ große Region eines hochentwickelten Nervensystems erstreckt und eine Kohärenz makroskopischer Größe aufweist, wie die modernen bildgebenden Verfahren belegen. Whitehead hat diese Forschungsresultate vorweggenommen. Über die aufeinanderfolgenden zentralen Bewusstseinsprozesse, die den menschlichen und den höher organisierten tierischen Körper leiten, vermutet er, dass jeder von ihnen einen anderen Teil des Gehirns besetzt, sodass mit dem Bewusstseinsstrom eine Aufeinanderfolge von Gehirnmustern korrespondiert. 101 Es ist schwer vorzustellen, dass Whitehead dem physischen Korrelat eines Bewusstseinsprozesses die Punktgröße der physischen Aktualisierung eines Elementarteilchens zuschreibt, das sich in immer wieder anderen Teilen des Gehirns manifestiert. Vielmehr scheint er, der physischen Manifestation einer bewussten ›actual occasion‹ eine kurzzeitige Erstreckung über eine größere Gehirnregion zuzuweisen, womit er nicht von der ausschließlich mikrophysikalischen Natur der ›actual entities‹ ausgegangen sein kann. Umso begrüßenswerter ist, dass viele, häufig von Hameroff und Penrose inspirierte, Forscher, die an der vordersten Front der Quantenbiologie arbeiten, 102 der Idee meso- und makroskopischer Quantenobjekte große Bedeutung einräumen. Aufgrund der zentralen Bedeutung dieser Entwicklung für die vorliegende Untersuchung ist an dieser Stelle die genaue Bedeutung von ›meso-‹ und ›makroskopisch‹ zu erläutern: Ein Objekt wird in der Physik als ›mesoskopisch‹ bezeichnet, wenn für seine Größe Folgendes gilt: 1 nm < L < 1μm. 103 Darunter bzw. darüber befinden sich der mikro- bzw. makroskopische Bereich. Erst im mesoskopischen Bereich kann von Durchschnittsgrößen die Rede sein, sodass statistische Begriffe, wie Temperatur und Entropie, eingeführt werden können. Dieser Bereich sollte nicht mit dem sogenannten ›Mesokosmos‹ verwechselt werden, denn dieser umfasst Gegenstände unserer gewöhnlichen sinnlichen Erfahrung, d. h. makroskopische Objekte. Die sich gegenwärtig entfaltende Quantenbiologie mesoskopischer Prozesse fokussiert sich zwar auf die Erforschung neuronaler Akte aber ihre Ausbreitung auf das ge-
101 »This route of presiding occasions probably wanders from part to part of the brain« (PR 109/dt. 212). 102 Eine gute Zusammenstellung solcher Arbeiten bietet Tuszynski an (2006). 103 Die Abkürzungen haben folgende Bedeutung: μm (Mikrometer) = 10 –6 m und nm (Nanometer) = 10 –9 m.
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samte organismische Werden scheint allmählich in Gange zu kommen. Diesen Fortschritten wird an der richtigen Stelle die ihnen gebührende Aufmerksamkeit geschenkt, 104 weil sie die gegenwärtig anspruchsvollste Art und Weise darstellen, die Konzeption der ›actual occasion‹ in die Erforschung des Lebendigen zu integrieren. Es könnte natürlich eingewendet werden, dass diese Ideen noch nicht zum wissenschaftlichen Establishment gehören – vielmehr haftet ihnen eine gehörige Portion Spekulation an. Außerdem könnte bemängelt werden, dass Hameroffs und Penrose’ Ideen des Öfteren kritisiert worden sind 105 und dass die Quantenbiologie gegenwärtig noch kontrovers diskutiert wird. Ist es aber nicht die Spekulation, die das Abenteuer der Ideen antreibt, d. h. das wichtigste anti-entropische Agens, das Whitehead der Menschheit als Rettung vom stagnierenden Griff der sich ›pragmatisch‹, ›klar‹ und ›realistisch‹ gebenden Gelehrten empfiehlt? Diesbezüglich ist besonders erwähnenswert, dass kein geringerer als Werner Heisenberg von der Spontaneität der Quantenereignisse gesprochen hat. Er hielt es für denkbar, dass eine innere Aktivität die Reduktion der Wahrscheinlichkeitswelle zu raumzeitlich lokalisierten Daten bewirkt, indem sie eine Auswahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten trifft (Kafatos & Nadeau 2000, 137 f.). 106 Dem Imperativ der organischen Philosophie, frei zu denken, können nur diejenigen Folge leisten, die sich an die vorderste Front der wissenschaftlichen Spekulation ihrer Zeit wagen, denn sie ist das Vorbild par excellence für die Kultivierung einer spekulativen Vernunft. Insofern bliebe jeder Versuch, Beispiele für ›actual entities‹ zu finden, unverzeihlich lückenhaft, wenn die in jeder Hinsicht spekulativste, wie auch bedeutendste, ›actual entity‹ im Denken Whiteheads unerwähnt bliebe – Gott. 107 Unter der göttlichen ›actual entity‹ versteht er den umfassendsten Prozess, der alle weltlichen Prozesse bedingt und rückwirkend von ihnen eine Bereicherung erfährt. Gott ist genauso auf die Welt angewiesen, wie sie auf ihn. Allerdings unterscheidet sich die Prozessualität Gottes von der der weltlichen ›actual entities‹ bezüglich einiger essentieller Merkmale, wie später erläutert
Siehe Abschn. 3.1.e dieses Kapitels. Vgl.: Putnam 1995, Georgiev 2007, Tegmark 2000, Schwartz, Stapp et al. 2005. 106 Auf diese Ideen Heisenbergs wird weiter unten eingegangen. 107 Einige Stellen, in denen Gott explizit als ›actual entity‹ bezeichnet wird: PR 18, 65, 244/dt. 58, 137, 447. 104 105
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wird. Aus diesem Grund referiert der Begriff ›actual occasion‹ immer nur auf weltliche ›actual entities‹ und nie auf Gott (PR 88/dt. 175). Abschließend ist hinsichtlich der weltlichen Prozesse zusammenfassend Folgendes festzuhalten: Die ›actual occasions‹ sind nicht immer mikrophysikalischer Größenordnung und können in vier Klassen unterteilt werden. Elektronen, Protonen, Quarks und andere Elementarteilchen bestehen aus den aufeinanderfolgenden Manifestationen einzelner ›actual entities‹ ; sie sind also ›nexūs‹. Die aus ihnen bestehenden Atome und Moleküle sind ebenfalls ›nexūs‹. Dasselbe gilt für einzelne Zellen und mehrzellige Lebewesen. Die biologischen Organismen sind nicht die ›actual entities‹ der organischen Philosophie, sondern hochgradig geordnete ›nexūs‹. Die Lebewesen bestehen aus mikro-, meso- und makroskopischen ›actual occasions‹. Letztere können, beim Vorhandensein entwickelter Nervensysteme, das protomentale Stadium überwinden und mit Bewusstsein begabte Prozesse werden. 2.2.a.4 Pluralismus mit einem monistischen Moment In der gewaltigen Breite des Spektrums der verschiedenen Arten von ›actual entities‹ spiegelt sich der erklärte Pluralismus der organischen Philosophie wider (PR 74/dt. 151). Der Kosmos entfaltet sich als eine Pluralität der Prozesse und nicht als ein monistischer Block. Aber auch der in der metaphysischen Tradition vorherrschende Monismus wird, wenn auch in einer sehr mittelbaren Form, in das spekulative Gedankenschema integriert. Das monistische Moment ist in der Existenz einer einzigen Gattung von ›actual entities‹ aufgehoben: »God is an actual entity, and so is the most trivial puff of existence in far-off empty space. But, though there are gradations of importance, and diversities of function, yet in the principles which actuality exemplifies all are on the same level« (PR 18/dt. 58, Hervorhebung von S. K.).
Die Zugehörigkeit aller ›actual entities‹, Gott inbegriffen, zu einer einzigen ontologischen Gattung garantiert eine elementare Wesensverwandtschaft, was wiederum ihre wesensstiftende Relationalität ermöglicht. So vermeidet Whitehead das zentrale Problem all jener metaphysischer Entwürfe, die von ontologisch verschiedenen Gattungen von wirklich Seienden ausgehen – nämlich die Verbindung dieser zu kohärenten Ganzheiten.
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Die Annahme einer einzigen Gattung von ›actual entities‹ verträgt sich außerdem gut mit der Auffassung des kosmologischen Gedankenschemas als oberster Gattung, der die Fachdisziplinen als Spezies untergeordnet sind, 108 denn die Wissenschaften studieren die einzelnen Arten der ›actual entities‹. 2.2.a.5 Das ontologisch-subjektivistische Prinzip Nicht nur beruht die organische Philosophie auf einer Ontologie der organischen Verschmelzung von Seienden zu neuen wirklichen Entitäten, sondern integriert auch selbst verschiedene Grundvorstellungen aus der Geschichte der Philosophie zu einer neuen Einheit. Diese Fähigkeit Whiteheads zeigt sich besonders klar bei der Formulierung eines Prinzips seiner Metaphysik, das beinahe so wichtig ist wie das Prinzip der Kreativität. Das ontologische Prinzip besagt, dass jedes Faktum, das eine Rolle bei der Wesensbestimmung einer ›actual entity‹ spielt, entweder von dieser Entität selbst beigetragen wird oder von einer anderen ›actual entity‹, die in den Prozess der Synthese aufgenommen wird: »This ontological principle means that actual entities are the only reasons; so that to search for a reason is to search for one or more actual entities« (PR 24/dt. 68, Cat. XVIII Expl.).
Mit anderen Worten: »The ontological principle can be summarized as: no actual entity, then no reason« (PR 19/dt. 58).
Das ontologische Prinzip berechtigt zur uneingeschränkten Gleichsetzung der ›actual entities‹ mit denjenigen Tatsachen bzw. Faktoren des Universums, auf die der Begriff der wirklichen Entitäten referiert, der im zweiten Kapitel der vorliegenden Schrift eingeführt wurde. Jede Entität hat nur in Bezug auf ›actual entities‹ Bedeutung und Existenzberechtigung, denn sie sind die einzigen Entitäten, die etwas in der physischen und ideellen Realität bewirken können. Das ontologische Prinzip legt also den Vorrang der ›actual entities‹ gegenüber allen anderen Entitäten fest. Dieses Prinzip kann als eine prozessphilosophische Reformulierung des Satzes vom zureichenden Grunde Leibniz’ (1998, 27–31 (§ 32–§ 39)), der von einigen Vorsokratikern vorweggenommen wur108
Siehe Abschn. 1.3.a dieses Kapitels.
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de, betrachtet werden, 109 auch wenn Whitehead auf die entsprechenden Stellen im Werk seines großen Vorgängers nicht eingeht. Der entscheidende Unterschied zu Leibniz besteht jedoch darin, dass Whitehead zufolge nicht Gott allein der zureichende Grund für ein Seiendes ist, 110 sondern alle wirklichen Entitäten ausnahmslos als zureichende Gründe in Frage kommen. Wie Johnson von seinen Gesprächen mit Whitehead berichtet, distanziert sich letzterer explizit von der Vorstellung, dass die höhere Relevanz einer wirklichen Entität ihr einen höheren Grad an Wirklichkeit verleiht. 111 Dass alle ›actual entities‹ einer und derselben ontologischen Gattung der elementarsten Fakten angehören (Monismus), bedeutet also nichts anderes, als dass ihnen allen ein und derselbe Grad an Wirklichkeit zukommt 112 – nämlich der höchste, für den die mittelalterliche Metaphysik den Begriff des ›ens realissimum‹ und den mit ihm korrespondierenden des ›ens necessarium‹ hatte (Wiehl 2007, 27). Dies erlaubt ihnen, in die Begründung für die Existenz einer Entität beliebiger Art als letzte Faktoren einzugehen (Pluralismus), worin die Aussage des ontologischen Prinzips besteht. Somit stellt dieses Prinzip eine einzigartige Synthese von Pluralismus (Wesen der Individuen) und Monismus (ihre Gattung) dar. Das ontologische Prinzip ist natürlich kein Zusatz zum ProzessGedanken, sondern folgt logisch aus ihm. Die Konzeption der ›actual entity‹ als Prozess, d. h. als Werdeakt, der sein eigenes Wesen bestimmt, erhebt jede ›actual entity‹ zu einer causa sui, einer Ursache ihrer selbst – obgleich nicht im Sinne einer vollkommen autarken Selbstschöpfung, da sie eine Mannigfaltigkeit anderer Entitäten vo109 Dieser von Leibniz in der Monadologie zu einem der zwei Grundprinzipien der Vernunft erhobene Satz (1998, 27 (§ 31, § 32)) wurde von Melissos und Empedokles um die Mitte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts vorweggenommen (»nichts entsteht aus Nichts oder wird zum Nichts«) und von Platon (z. B. in Timaios 28a) und Aristoteles klar ausformuliert (Physik I, 8, 191b 12 ff.; Metaphysik VII, 7, 1032b 31). Die Nähe des ontologischen Prinzips zum Satz vom zureichenden Grunde ist in der Whitehead-Forschung seit langem bekannt (Lichtigfeld 1971, 174; Fetz 1981, 115). 110 Für Leibniz »muß der letzte Grund der Dinge in einer notwendigen Substanz liegen, in der das Besondere der Veränderung nur eminenter, wie in einer Quelle enthalten ist, und dies nennen wir Gott« (1998, 31 (§ 38)) Vgl. auch: ebenda § 39. 111 »As far as actuality is concerned, God is on the same level as anything else in the universe. Whitehead denied the claim of Augustine and Aquinas, that the more important is therefore the more actual« (Johnson 1983b, 12). Vgl. auch: PR 7/dt. 38. 112 Rapp spricht diesbezüglich von einer »bewußt einstufig gehaltenen Kosmologie« (1986, 82).
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raussetzt. Bestimmung des eigenen Wesens bedeutet eben, dass eine Aktivität der Selbstkreation sich vollzieht, die zwar in keinem leeren Raum stattfindet, also keine creatio ex nihilo ist, aber nicht restlos auf externe Faktoren zurückgeführt werden kann. Das ontologische Prinzip beruht also darauf, dass jede ›actual entity‹ eine nichtreduzierbare Notwendigkeit und eine ebensolche Wirklichkeit darstellt, weshalb dieses Prinzip nicht erschöpfend durch Gott begründet werden kann. Wie auch Wiehl sagt, jede wirkliche Entität ist »ein konkretestes Konkretum«, sodass es »nicht nur ein, nicht nur das eine und schlechthin einzige ens realissimum, sondern unzählige solcher entia realissima« gibt, die zugleich entia necessaria sind (ebenda 28). Whitehead bezeichnet das ontologische Prinzip als das »allgemeine Aristotelische Prinzip«, das festlegt, dass außerhalb von wirklich Seienden nichts existieren kann, weder als Tatsache noch als wirksamer Faktor. 113 Mit diesem Prinzip wird dem starken Einfluss Platons auf die organische Philosophie, der sich vor allem in der Bedeutung der abstrakten Entitäten im kosmologischen Gedankenschema zeigt, ein Gegengewicht geschaffen. Die zeitlosen Entitäten der Mathematik, Platons höchste Wirklichkeiten, sind Seiende nur insofern sie wirklichen Entitäten mit konkreter subjektiver Unmittelbarkeit, folglich auch mit einer Art von Zeitlichkeit, innewohnen; das entspricht gewissermaßen Bergsons Primat der nicht abstrakten Zeitlichkeit vor der Zeitlosigkeit. Ob Gott sie in sich als Elemente seiner Geistigkeit trägt oder sie von Mathematikern erfasst werden oder in einfachen Prozessen vorkommen, in allen Fällen sind sie auf Subjekte angewiesen, die in der Realität wirksam sind. Die Unlösbarkeit der Seinsberechtigung aller abstrakten Entitäten und überhaupt aller Entitäten von Subjekten drückt das sogenannte »reformierte subjektivistische Prinzip« aus, das als eine Verallgemeinerung des Descartes’schen Subjektivismus eingeführt wird. Dieses Prinzip besagt, dass jedes Seiende Inhalt mindestens eines Subjektes sein muss, um überhaupt ein Element der Gesamtrealität, göttlicher und weltlicher, sein zu können – d. h. außerhalb von Subjekten ist absolut nichts. 114 Zwischen diesem Prinzip und dem ontologischen besteht ein 113 »[T]he general Aristotelian principle is maintained that, apart from things that are actual, there is nothing – nothing either in fact or in efficacy« (PR 40/dt. 93). 114 »Apart from the experiences of subjects there is nothing, nothing, nothing, bare nothingness« (PR 167/dt. 312).
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sehr weicher Übergang, was natürlich der Zuweisung von Subjektivität zu jeder wirklichen Entität zu verdanken ist: »The subjectivist principle is that the whole universe consists of elements disclosed in the analysis of the experiences of subjects. Process is the becoming of experience. It follows that the philosophy of organism entirely accepts the subjectivist bias of modern philosophy. It also accepts Hume’s doctrine that nothing is to be received into the philosophical scheme which is not discoverable as an element in subjective experience. This is the ontological principle« (PR 166/dt. 311, Hervorhebungen von S. K.).
Dass jedes Seiende mindestens in einer ›actual entity‹ einbezogen zu sein hat (ontologisches Prinzip), bedeutet, dass es in mindestens einem Subjekt enthalten sein muss (subjektivistisches Prinzip) – weshalb ich vom ontologisch-subjektivistischen Prinzip spreche. Diesem Prinzip zufolge kann nur dann vom Sein einer beliebigen Entität (Gott eingeschlossen) die Rede sein, wenn sie Gegenstand mindestens einer Erfahrung ist, die natürlich nicht menschlicher Natur zu sein braucht. Ausgehend von der metaphysischen Grundprämisse der Subjektivität aller Prozesse verschmilzt Whitehead zwei reformierte Fassungen von Subjektivismus und Empirismus – er schafft eine Synthese von Pansubjektivismus und Panempirismus. Die primäre ontologische Bedeutung, die Whitehead der Unmittelbarkeit der erlebenden Subjektivität zuschreibt und mit dem ontologisch-subjektivistischen Prinzip explizit zum Ausdruck bringt, bewahrt jeden vorsichtigen Interpreten davor, die ›actual entities‹ in reine Relationalität aufzulösen. Die ›actual entities‹ bleiben die wirklichen Entitäten des Universums; sie werden nicht von den zwischen ihnen bestehenden internen Relationen in einen zweitrangigen Platz der ontologischen Hierarchie verdrängt. Interne Relationen gibt es zwischen werdenden Subjekten. Letztere werden aber – trotz ihrer internen Relationalität – nicht zu sekundär abgeleiteten Schnittpunkten von Relationen, sondern bleiben der Grund letzterer, d. h. ihre Wirk- und Zweckursache. Die wirklichen Entitäten sind der Sinn der Existenz der zwischen ihnen bestehenden Relationen. Die mathematische Kunst der Substantialisierung von Relationen obsiegt nicht über die Synthese von Physischem und Mentalem (»physical and mental indissoluble« (PR 244/dt. 447)). Die Abstraktion der reinen Funktionalität – des zentralen Moments der philosophischen Systemontologie Rombach zufolge – ersetzt nicht das sich physisch manifestierende einmalige Erleben. Konsequenterweise ex464 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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pliziert das ontologisch-subjektivistische Prinzip die Unterordnung der Relationen, und aller anderen Seienden, unter die ›actual entities‹ und erlaubt letzteren, aktive Individuen, d. h. Kraftzentren der Wirksamkeit zu bleiben, anstatt zu Knoten eines das ganze Universum umspannenden Netzwerkes, eines kosmischen Systems, einer Rombachschen »absoluten Maschine« 115 zu degenerieren. Die Whitehead’sche Prozessphilosophie ist also weder eine Systemontologie noch eine Systemtheorie, sondern kann als eine Alternative zum philosophischen und wissenschaftlichen Systemismus dienen. Vielleicht hat Whitehead die hochgradig inflationäre Verwendung, die das Wort ›System‹ im Laufe des letzten Jahrhunderts fand und der es sich weiterhin ungebrochen erfreut, geahnt und es in seinen prozessphilosophischen Werken fast ausschließlich für die Kennzeichnung religiöser und philosophischer Gedankengebäude benutzt. 116 Es wäre trotzdem falsch zu glauben, dass der System-Gedanke keinen ihm angemessenen Platz im kosmologischen Gedankenschema findet, wie es noch zu zeigen sein wird. 2.2.a.6 Wesensbestimmung als Entscheidung und ›stubborn fact‹ Die ›actual entities‹ sind die konkreten Tatsachen, die partikulären Gegebenheiten der Realität. Mit dem Begriff des ›Gegebenen‹ bezieht sich Whitehead auf ein gemeinsames Fundament aller wirklich Seienden: »For rationalistic thought, the notion of ›givenness‹ carries with it a reference beyond the mere data in question. It refers to a ›decision‹ whereby what is given is separated off from what for that occasion is ›not given‹. This element of ›givenness‹ in things implies some activity procuring limitation« (PR 42 f./dt. 97, Hervorhebungen von S. K.).
Jedes gegebene Merkmal einer ›actual entity‹ stellt das Resultat eines Entscheidungsprozesses dar, in dem es einem nicht verwirklichten Merkmal, das aber hätte verwirklicht sein können, vorgezogen wur-
Siehe Abschn. 3.2.a.2 von Kap. II. Vgl.: RM 50, 129, 149/dt. 41, 97, 111; AI 159/dt. 305. Eine Ausnahme bildet hierzu Science and the Modern World, wo unter »vibratory system« und »periodic system« (46 f./dt. 51) die Aufeinanderfolge der Manifestationen von Elementarteilchen gemeint ist. Interessanterweise spielt in Process and Reality der System-Begriff überhaupt keine Rolle. Die verschiedenen Arten der aufeinanderfolgenden Manifestationen von ›actual entities‹ werden hier von den diversen Variationen des ›society‹Begriffs abgedeckt. 115 116
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de. Eine ›actual entity‹ hat erst dann die Bestimmung ihres Wesens erreicht, und damit den Abschluss ihres Werdens, wenn sie sich endgültig für eine konkrete Form entschieden und sich mit dieser manifestiert hat. 117 Im Gegensatz zu Bergsons Theorie der Aktualisierung des Virtuellen geht Whitehead davon aus, dass jeder als raumzeitliches Datum manifestierte Prozess das Endresultat der Auswahl unter mehreren möglichen Formen verkörpert, die sich nicht erst im Prozess herauskristallisiert haben, sondern ihm schon zu Beginn zur Verfügung standen. Die von der Wesensbestimmung eines wirklich Seienden erreichte Form offenbart die Synthese der beim Abschluss des Prozesses endgültig positiv selektierten elementaren Formen zu einer Einheit, die etwas Neues und prinzipiell Unvorhersehbares ist. Der Akt der Entscheidung, der die Selektion des Verfügbaren und die Synthese des Neuen erzeugt, macht die Wesensbestimmung des Prozesses aus und markiert die Erkenntnisgrenze des wissenschaftlichen und philosophischen Rationalismus, für den die Erklärung des Gegebenseins einzelner Fakten mit Hilfe allgemeingültiger Theorien die größte Herausforderung darstellt (PR 42/dt. 97): »The word ›decision‹ […] is used in its root sense of ›cutting off‹. […] It constitutes the very meaning of ›actuality‹. […] Just as ›potentiality for process‹ is the meaning of the more general term ›entity‹, or ›thing‹ ; so ›decision‹ is the additional meaning imported by the word ›actual‹ into the phrase ›actual entity‹. ›Actuality‹ is the decision amid ›potentiality‹. It represents stubborn fact which cannot be evaded. The real internal constitution of an actual entity progressively constitutes a decision […]« (PR 43/dt. 98, Hervorhebungen von S. K.).
Mit dem ersten Satz dieses Zitates macht Whitehead klar, dass er von »Entscheidung« im wörtlichen Sinne dieses Wortes spricht, der das Negieren von etwas besagt, das somit ausscheidet. Bei jedem Prozess werden Möglichkeiten negativ erlebt und scheiden somit aus. Die positiv erlebten Möglichkeiten werden verwirklicht. Die erlebten Inhalte werden jedoch nur in außerordentlich seltenen Fällen bewusst erfahren oder sogar begrifflich beleuchtet, nämlich nur dann wenn sie in ›actual occasions‹ stattfinden, die sich in hochentwickelten Gehirnen aktualisieren.
117 Leclerc drückt dies sehr treffend aus: »An act, in order to be an act, must have some determinate form, some definite character. […] Alternatively expressed, for there to be an individual actuality, its activity must take a definite form« (1975, 92).
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Die Entscheidung ist eine »eigensinnige Tatsache« – ein »stubborn fact«. Sie ist eine nicht vollkommen durchsichtige Leibniz’sche »Tatsachenwahrheit«, wie in der Monadologie alle Sachverhalte bezeichnet werden, die von der begrenzten menschlichen Rationalität nicht vollständig zu begründen sind (1998, 29 (§ 36)). 118 Denn die Entscheidung (bzw. Verwirklichung) besteht in einem einmaligen Akt der autonomen Wesensbestimmung, weshalb sie eine Innerlichkeit besitzt, die dem nach Allgemeingültigkeit strebenden wissenschaftlichen Verstand nicht vollständig zugänglich ist. Es ist eben nicht möglich, das einmalige Werden einer wirklichen Entität auf eine Synthese von Universalien bzw. abstrakten Entitäten, d. h. auf eine noch so facettenreiche zusammengesetzte abstrakte Entität zu reduzieren. Ihre Wesensbestimmung beruht auf einem Entscheidungsakt, der erlebt wird, weshalb seine Einmaligkeit nicht auf universelle Kategorien zurückgeführt werden kann. Ausgehend von Bergsons Analyse der Phänomenologie des Erlebens leuchtet dies sofort ein. Im scharfen Gegensatz zu naturwissenschaftlichen Systemontologien fällt das Wesen jeder ›actual entity‹ nicht mit dem Wesen derjenigen abstrakten Entität bzw. Universalie zusammen, von der sie repräsentiert werden kann. 119 Die Einmaligkeit der Wesensbestimmung einer ›actual entity‹ bedarf keineswegs des Ausschaltens oder Transformierens elementarer universeller Formen, wie physikalischer Größen, chemischer Arten oder Naturgesetze, 120 – sie setzt solche abstrakten Entitäten vielmehr voraus. Der Prozess ist keine Singularität, kein sich von anderen Seienden abkapselnder privater Kosmos. Im Gegenteil, er 118 Leibniz’ Forderung, dass der Satz vom zureichenden Grunde auch für die »kontingenten oder Tatsachenwahrheiten« gilt (1998, 29 (§ 36)), transformiert sich in der organischen Philosophie in die Aussage, dass dem ontologischen Prinzip zufolge der Grund für die nicht weiter erklärbare Beschaffenheit des Wesens einer ›actual entity‹ (ihr »stubborn fact«-Sein) in dieser selbst liegt. 119 Siehe Abschn. 3.2.a.3 von Kap. II. 120 Dass jede ›actual entity‹ ihr eigenes individuelles Wesen bestimmt, bedeutet mitnichten, dass sie das universelle Wesen der von ihr erfassten abstrakten Entitäten variieren muss. Hätte Whitehead Ähnliches angenommen, so hätte er jede ›actual entity‹ als einen in sich geschlossenen Kosmos gedacht, als ein absolutes Individuum, in dem nichts Universelles gelten kann. Sein Denken darf jedoch keineswegs mit Vorstellungen assoziiert werden, die ich in der vorliegenden Schrift als »Total-Holismus« bezeichnet habe (siehe Abschn. 1.2.a von Kap. II). Es eröffnet vielmehr einen Weg, das Universelle im Individuellen aufzuheben, ja sogar die Angewiesenheit des Letzteren auf Ersteres zu denken.
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besteht im Streben nach der Erschaffung eines neuen Faktums, das zur Erweiterung der Wirklichkeit beiträgt, die von zukünftigen Prozessen erfasst wird. 2.2.b
›Eternal objects‹ : universelle Formen und abstrakte Entitäten
Aus dem zuletzt Gesagten geht eindeutig hervor, dass die organische Philosophie den möglichen Formen, die den ›actual entities‹ zur Verfügung stehen, nicht nur große Bedeutung, sondern auch eine eigene Existenz zuspricht. Whitehead erhebt sie zum Status der zeitlosen abstrakten Entitäten. Seine ›eternal objects‹ sind reine Potentiale bzw. Formen der Bestimmtheit für die genaue Bestimmung aller Tatsachen: »Eternal Objects, or Pure Potentials for the Specific Determination of Fact, or Forms of Definiteness« (PR 22/dt. 63, Cat. V Exist.).
Und: »The eternal objects are the pure potentials of the universe; and the actual entities differ from each other in their realization of potentials« (PR 149/dt. 280).
Sie übernehmen in der organischen Philosophie die Funktion, die den Ideen in der Metaphysik Platons und den Universalien in der Scholastik zukommt (PR 44/dt. 99; FR 32/dt. 30); sie unterscheiden sich aber von ihnen in einer gewissen Hinsicht, wie es noch gezeigt wird. Die ›eternal objects‹ können in erster Näherung als universelle Formen gesehen werden, die, anders als die entelechisch-aktiven Formen (eide) Aristoteles’, keine formenden Faktoren sind. Insofern stehen sie in einem gewissen Kontrast zu den ›actual entities‹. 121 Dafür spricht auch Whiteheads Unterscheidung zwischen dem abstrakten und dem realen Wesen einer ›actual entity‹ (PR 60/dt. 127). Ihr »abstraktes Wesen« (abstract essence) besteht in einem zusammengesetzten ›eternal object‹ (ebenda), das – als reines Potential – aus sich heraus nicht danach streben kann, an der Wesensbestimmung eines konkreten wirklich Seienden teilzuhaben (PR 44/dt. 100). Das »reale Wesen« (real essence) einer ›actual occasion‹ hat dagegen mit ihren zielgerichteten Relationen zu ihrer Umgebung, aus der sie als neue Einheit hervorgeht, zu tun. Es umfasst die vom Prozess erfassten 121
Vgl. auch: Leclerc 1975, 97.
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Das kosmologische Gedankenschema
›actual occasions‹ und ist somit von der räumlichen Lokalisation dieser wirklichen Entitäten untrennbar (PR 60/dt. 127). Daher beschränkt sich das reale Wesen eines Prozesses nur auf diesen Prozess selbst. Hingegen können mehrere Prozesse dasselbe abstrakte Wesen besitzen (ebenda). Denn dieses wird aus der Struktur der erfassten wirklichen Entitäten abstrahiert und ist somit nichts Einmaliges. Während also das reale Wesen einer ›actual entity‹ ihren einmaligen Aspekt ausmacht, verkörpert das abstrakte Wesen ihren universellen ideellen Aspekt. Ein wichtiger Unterschied der Prozessontologie von jeder gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Systemontologie besteht darin, dass Erstere das Wesen einer wirklichen Entität nicht mit einer abstrakten Entität gleichsetzt, die in ›allen möglichen Welten‹ ihre Identität bewahrt. Die Bedeutung, die ich in diesem Kapitel dem Begriff ›Wesen einer wirklichen Entität‹ zuspreche, ist jedoch nicht auf eine Kombination der Bedeutungen der Ausdrücke ›reales Wesen‹ und ›abstraktes Wesen‹ zu reduzieren. Was ich unter diesem Begriff verstehe, entspricht dem, was Whitehead als die »real internal constitution« einer ›actual entity‹ bezeichnet. Das Wesen eines Whitehead’schen Prozesses besteht meines Erachtens in seinem abstrakten und realen Wesen und in der mentalen Seite seines eigenen Werdens, d. h. in den subjektiven Formen des Erlebens seiner Selbstgestaltung. Der Kontrast, in dem ›eternal objects‹ und ›actual entities‹ zueinander stehen, drückt sich aber auch darin aus, dass die abstrakten Entitäten die einzigen basalen Seienden der organischen Philosophie sind, die für ihre Existenz nicht auf die weltlichen ›actual entities‹ angewiesen sind (PR 44/dt. 99 f., SMW 197/dt. 186). Das erlaubt, zumindest in erster Näherung, sie als Platonische Ideen zu betrachten. Wegen ihrer Eigenständigkeit gegenüber den weltlichen Prozessen mangelt es ihnen an jeglicher Art von Zeitlichkeit. Dies, zusammen mit der Tatsache, dass sie keinen Begrenzungen irgendeiner Art von Räumlichkeit unterworfen sind, 122 bringt mit sich, dass der Totalität der ›actual entities‹ – d. h. der Menge, die von den überall im Kosmos stattfindenden Prozessen und von Gott gebildet wird – dieselben ›eternal objects‹ zur Verfügung stehen (PR 23/dt. 65, Cat. V Expl.). Wegen der Konzeption der ›eternal objects‹ weist das kosmologische Gedankenschema eine enge Beziehung zur Philosophie Platons auf. Das thematisiert Whitehead, indem er die organische Philosophie 122
Dies ist ebenfalls Folge ihrer von den weltlichen Prozessen losgelösten Existenz.
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IV · Die Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads und die Ontogenese
explizit in die Platonische Tradition einordnet, ja sie sogar für eine zeitgemäße Erneuerung der Philosophie seines antiken Vorgängers hält (PR 39/dt. 92). Der Einfluss Platons wird durch die Aufnahme des zentralen Begriffs der ›Teilhabe‹ (participation) ganz offensichtlich. Die Wesensbestimmung der zeitlich Seienden erfordert Teilhabe an den zeitlosen. 123 Anders als der seit dem 17. Jahrhundert vorherrschende naturwissenschaftliche Reduktionismus, der die Formen von lebendigen und leblosen Objekten und Abläufen auf mathematisch formulierte Gesetze zurückzuführen versucht, beruft sich Whitehead auf die Platonisch-Aristotelische Tradition, die von der unreduzierbaren Relevanz der ideellen Formen für die Realität ausgeht (PR 96/ dt. 189). Das darf jedoch keineswegs dahingehend (miss)verstanden werden, dass Whitehead generell die Gesetzmäßigkeiten der Natur den zeitlosen Formen unterwirft. Er würde z. B. niemals behaupten, dass ein Planet eine elliptische Form für seine Bahn anstrebt. Nur atomare (unteilbare, individuelle) Akte, d. h. ›actual entities‹, können nach der Verwirklichung von ›eternal objects‹ streben, denn nur ihnen kommt die Einheit des Subjekts zu, die Voraussetzung für die Teilhabe an einer Idee ist – ein Gedanke, dem Penrose neuen Ausdruck gibt. 124 Im Gegensatz zur modernen Naturwissenschaft sind Formen primäre Faktoren für Whitehead’sche Prozesse (nicht aber für Bergson’sche) und keine Resultate wirkursächlicher Kausalität. 2.2.b.1 Abstrakte Entitäten als Grundlage der Erneuerung Die Eigenständigkeit der abstrakten Entitäten gegenüber der zeitlichen Welt hat zur Folge, dass keine neuen ›eternal objects‹ geschaffen werden (PR 22/dt. 64, Cat. III Expl.). Dennoch ist die statische, in sich ruhende Totalität dieser Seienden die Grundlage der anti-entropischen Erneuerung des Universums. Denn durch die reine Potentialität der ›eternal objects‹ kann etwas absolut Neues in die real existierende Welt eingeführt werden (PR 40, 164/dt. 93, 306 f.). Neuheit verlangt nach der reinen, d. h. unbedingten, von den konkreten Tatsachen der Welt unabhängigen Potentialität, in der auch die noch »The things which are temporal arise by their participation in the things which are eternal« (PR 40/dt. 92, Hervorhebung von S. K.). 124 Penrose vertritt eine der Whiteheads ähnliche Position, womit er eine ausgesprochen Platonische Sichtweise in die Quantentheorie einführt: Bei dem Kollaps der Wahrscheinlichkeitswelle würde eine Wahl zwischen zwei alternativen RaumzeitGeometrien stattfinden, die von Platonischen Werten, die in der Raumzeit-Geometrie einbezogen sein würden, beeinflusst wird (Hameroff 2003, 73, 82). 123
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Das kosmologische Gedankenschema
nicht in wirklich Seienden aktualisierten abstrakten Entitäten enthalten sind. 125 Hierin besteht ein wichtiger Grund für die Annahme einer von der Welt völlig abgelösten Existenz der abstrakten Entitäten. Denn eine werdende ›actual entity‹ kann – Whitehead zufolge – erst durch die Teilhabe an ein noch nicht in der Welt aktualisiertes ›eternal object‹ etwas wirklich Neues erfassen und die Integration seiner Form in ihre eigene Wesensbestimmung zielgerichtet anstreben. Die Teilhabe an ›eternal objects‹ bildet also den Kern der Zweckursachen, die die Welt der wirklich Seienden durch die Einführung des Neuen revitalisieren können. 2.2.b.2 Die statische interne Relationalität der ›eternal objects‹ zueinander – ihr ›Reich‹ ist ein System Das ontologische Prinzip macht erforderlich, den Grund für die Existenz der ›eternal objects‹ in einer oder mehreren ›actual entities‹ zu suchen. Diese müssen sich aber zugleich als Träger der noch nicht verwirklichten Möglichkeiten eignen, da im Kosmos nur ein sehr kleiner Teil der ›eternal objects‹ verwirklicht ist. Folglich können die ›eternal objects‹ nur dann als Möglichkeitsgrund des Neuen dienen, wenn sie in einer nicht-weltlichen ›actual entity‹ enthalten sind (PR 46/dt. 103), 126 da die weltlichen wirklich Seienden schon aus logischen Gründen ausscheiden, denn jede in ihnen enthaltene Form ist eine schon verwirklichte Möglichkeit. Aus diesem Grund weist die organische Philosophie den ›eternal objects‹ Gott als »realen Grund« zu (Fetz 1981, 170). Er trägt sie jedoch als Bestandteil seines Wesens und nicht als seine Geschöpfe (PR 257/dt. 468). Bei der Konzeption der abstrakten Entitäten integriert Whitehead Platonische mit Aristotelischen Elementen, was ihn zur Begriffsschöpfung ›eternal object‹ als Alternative zu solchen Begriffen, wie ›Platonische Ideen‹ und ›Universalien‹, geführt hat (PR 44, 158/ dt. 99, 295). Dass die ›eternal objects‹ wegen des ontologischen Prinzips nicht völlig abgetrennt von allen wirklich Seienden existieren können, bringt ein Aristotelisches Moment in ihre Konzeption, ohne dass sie jedoch notwendig auf die weltlichen ›actual entities‹ angewiesen sind, was wiederum mit dem Platonischen Grundgedanken der Separation des Weltlichen vom Ideellen verträglich ist. Whiteheads ›eternal objects‹ sind jedoch allein schon deswegen 125 126
Vgl. auch: Leclerc 1975, 97; Fetz 1981, 163; Rohmer 2000, 163. Vgl. auch: Fetz 1981, 169; Leclerc 1975, 198.
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IV · Die Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads und die Ontogenese
nicht mit den Platonischen Ideen gleichzusetzen, weil ihnen nicht der Status des eigentlich Wirklichen im Sinne Platons zukommt. Denn die Existenz der ›eternal objects‹ – anders als die der Platonischen Ideen – dient lediglich dem Zweck, die bloßen Möglichkeiten der Verwirklichung für alle ›actual entities‹ zu bestimmen, das eindeutig auf das Primat der wirklich Seienden gegenüber der reinen Idealität verweist. Deshalb hat ein ›eternal object‹ nur für ›actual entities‹ Bedeutung, für sich selbst aber nicht. 127 Dennoch haben alle ›eternal objects‹ Bedeutung in sich, denn jedem von ihnen kommt ein »individuelles Wesen« (individual essence) zu (SMW 197/dt. 186), das seine Einmaligkeit inmitten der anderen ›eternal objects‹ ausmacht. Diese besondere Individualität ermöglicht ihm, in jeder ›actual entity‹, in die es integriert wird, seinen eigenen einzigartigen Beitrag zu leisten, d. h. mit sich selbst identisch zu bleiben. Jedem ›eternal object‹ kommt aber auch eine essentielle und unabänderliche Bindung zu allen anderen ›eternal objects‹ zu. Zum zeitlosen Wesen einer abstrakten Entität gehören also auch ihre Beziehungen zur Totalität der abstrakten Welt. Folglich besitzt jedes ›eternal object‹ auch ein »relationales Wesen« (relational essence), das ewig festgelegte interne Relationen zu allen anderen ›eternal objects‹ in sich einschließt (SMW 198/dt. 187). 128 In dieser internen Relationalität sieht Whitehead die große Abweichung seiner Konzeption der ›eternal objects‹ von der Universalien-Theorie, wie er in einem Brief von 1936 an Charles Hartshorne betont. 129 Die wesenhafte Interdependenz aller ›eternal objects‹ zueinander definiert die unabänderliche Architektur der Konstellation, die alle miteinander errichten, die Whitehead als das »Reich« (realm) der ›eternal objects‹ bezeichnet (SMW 200/dt. 188) und das in Gott enthalten ist. Dieses Reich ist unendlich, da es unendlich viele ›eternal objects‹ gibt (PR 194/dt. 360). Die Bezeichnung »Reich« soll aber in erster Linie hervorheben, 127 Dies geht aus folgender Stelle mittelbar hervor: »An entity is actual, when it has significance for itself« (PR 25/dt. 69, Cat. XXI Expl.). 128 Bezüglich eines beliebigen ›eternal object‹ A gilt Folgendes: »Since the relationships of A to other eternal objects stand determinately in the essence of A, it follows that they are internal relations. I mean by this that these relations are constitutive of A« (SMW 198 f./dt. 187, Hervorhebung von S. K.). 129 »The traditional doctrine of the absolute isolation of universals is as great a (tacit) error, as the isolation of primary substances. […] The absolute abstraction of eternal objects from each other is an analogous error to their abstraction from some mode of realization, and to the abstraction of res verae from each other« (Kline 1963, 199).
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Das kosmologische Gedankenschema
dass jedes ›eternal object‹ einen ganz bestimmten Status in dieser unermesslichen abstrakten Ordnung einnimmt (ebenda). Dieser durch die internen Relationen festgelegte Status bestimmt – besser gesagt: limitiert – die zeitlosen Möglichkeiten der Kombinierbarkeit des ›eternal object‹ mit anderen abstrakten Entitäten; eine bestimmte abstrakte Form kann eben nicht mit jeder beliebigen abstrakten Form koexistieren. 130 Eine werdende ›actual entity‹, die an diesem ›eternal object‹ teilhat, wird sich nur für eine Möglichkeit entscheiden können, die mit ihm koexistieren kann. Das Wesen dieser abstrakten Entität (individuelles und relationales) bleibt von dieser Entscheidung vollkommen unbetroffen, was für das Wesen der wirklichen Entität natürlich nicht zutrifft. Dementsprechend ist die Relation zwischen den beiden Entitäten aus der Perspektive der wirklichen eine interne und aus der Perspektive der abstrakten eine externe (SMW 199/dt. 187 f.). Da die ›eternal objects‹ lediglich passive Möglichkeiten und keine aktiven Wirklichkeiten sind, können sie nicht als Ausgangs- und Endpunkt (bzw. Wirk- und Zweckursache) ihrer internen Relationen zueinander gedacht werden. Sie erzeugen also nicht durch ihre Relationen die Ordnung ihres Reichs, sondern werden von ihnen als unveränderbare ›Knoten‹ einer ewig erstarrten logischen Mega-Struktur fixiert. Sie sind nichts mehr als ›eingefrorene‹ Schnittpunkte statischer abstrakter Relationen, sodass ihr Wesen von ihrer Position in diesem unendlichen logischen Geflecht seit aller und bis in alle Ewigkeit vollkommen festgelegt ist – genauer gesprochen: Das relationale Wesen einer abstrakten Entität bestimmt ihr individuelles. 131 Zusammenfassend: Die ›eternal objects‹ sind abstrakte Elemente eines unbegrenzten abstrakten Systems, dessen Ewigkeit nicht in Lebendigkeit, 132 sondern in Zeitlosigkeit besteht. Das Reich der ›eternal objects‹ ist deswegen ein System, im Sinne der philosophischen Systemontologie, weil das logische Ganze die formale Einheit ist, die die So umfasst die Idee des Kegelschnitts die Idee des Kreises, schließt aber die des Vierecks aus. 131 Für ein beliebiges ›eternal object‹ A gilt: »The internal relationships of A conjointly form its significance« (SMW 199/dt. 187). 132 Die lebendige Ewigkeit der höchsten ›durée‹ Bergsons und einer der beiden Naturen des Whitehead’schen Gottes (siehe Abschn. 2.3.e.2 dieses Kapitels) sind nicht trotz ihrer Zeitlichkeit ewig, sondern gerade wegen der Besonderheit dieser Zeitlichkeit. 130
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Elemente überhaupt ermöglicht und diesen notwendigerweise übergeordnet ist. 133 Indem Whitehead die zwischen den ›eternal objects‹ herrschenden logischen Beziehungen hervorhebt, reiht er sich in die Tradition der ausgereiften Ideenlehre ein, wie sie Platon in seinem Spätwerk Sophistes präsentiert: eine Theorie der formalen Ordnung des Ideellen, die nichts mit einem bloßen Nebeneinander an sich existierender ideeller Substanzen zu tun hat – eine antike philosophische Systemontologie abstrakter Entitäten, deren Vorbild die moderne Mathematik sein könnte. 2.2.b.3 Beispiele für ›eternal objects‹ In den Schriften Whiteheads sind einige Beispiele für ›eternal objects‹ enthalten, begleitet aber von wesentlich interpretationsbedürftigeren Hinweisen darauf, was als eine solche Entität überhaupt in Frage kommt. Deshalb muss jedes Unterfangen, eine Liste dieser Objekte anzugeben, notwendig daran erinnern, dass die organische Philosophie ein offenes kosmologisches Gedankenschema ist, d. h. eine revidierbare Metaphysik. Dies könnte sogar zukünftig zu einer grundsätzlichen (ontologischen) Revision dieser Art von Entitäten führen. 134 Die sicherste Ausgangsbasis, um mit der Suche nach ›eternal objects‹ anzufangen, sind folgende eindeutige Aussagen Whiteheads: »Any entity whose conceptual recognition does not involve a necessary reference to any definite actual entities of the temporal world is called an eternal object« (PR 44/dt. 99 f.).
Und: »Eternal objects are thus, in their nature, abstract. By ›abstract‹ I mean that what an eternal object is in itself – that is to say, its essence – is comprehensible without reference to some one particular occasion of experience. To be abstract is to transcent particular concrete occasions of actual happening« (SMW 197/dt. 186).
Aus dem ersten Zitat geht hervor, dass notwendige und hinreichende Bedingung für ein Seiendes, um als ›eternal object‹ charakterisiert werden zu können, ist, dass dessen Wesen nicht an bestimmte Prozesse gebunden ist. Whitehead unterscheidet zwei Arten solcher abstrakter Entitäten, ausgehend von der Gattung der Entitäten, für deren 133 134
Siehe Abschn. 3.2.a.2 von Kap. II. Siehe Abschn. 3.3 von Kap. V.
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Wesen sie relevant sind. Die objektiven abstrakten Entitäten sind Elemente der Bestimmung der öffentlichen Seite der Erfassung bzw. ›prehension‹ von ›actual entities‹ und von ›nexūs‹, während die subjektiven die private Seite von Erfassungen, die ›subjective forms‹, bestimmen (PR 291/dt. 526 f.). Als immer wieder anzutreffendes Beispiel für abstrakte Entitäten der objektiven Art nennt Whitehead die Platonischen Formen der Mathematik. 135 Darunter sind nicht nur Objekte der antiken Mathematik zu subsumieren, sondern auch der modernen. Whitehead erwähnt solche Strukturen explizit: geometrische Eigenschaften, abstrakte Muster und Relationen zwischen ›actual occasions‹ in ›nexūs‹. 136 137 Alle mathematischen Strukturen, im Sinne der modernen Mathematik, können als ›eternal objects‹ der objektiven Art angegeben werden. Wenn solche abstrakte Entitäten sich nicht gegenseitig ausschließen, können sie in einem Prozess zu einer Einheit verschmolzen werden. Wenn z. B. ein beweglicher Gegenstand als ein in einer Parabel fliegender Fußball wahrgenommen wird, dann sind die Formen der Parabel, der Kugel und des für solche Bälle typischen Musters der Farben objektive ›eternal objects‹, da sie etwas über dieses Ereignis zum Ausdruck bringen, das nichts mit der psychischen Situation eines konkreten Wahrnehmenden zu tun hat – ein Roboter und ein sogenannter ›Zombie‹ 138 würden zum selben Urteil kommen. 135 Eine typische Stelle ist folgende: »Eternal objects of the objective species are the mathematical Platonic forms« (PR 291/dt. 527). 136 Vgl. auch: Christian 1967, 202; Sherburne 1961, 28; ferner: Lowe 1990, 163. 137 In Science and the Modern World werden »geometrische Eigenschaften« (geometrical characters) als ›eternal objects‹ bezeichnet (129/dt. 125) und in Process and Reality werden als die fundamentalsten ›eternal objects‹ der objektiven Art diejenigen charakterisiert, die in die Morphologie der raumzeitlichen Extension der physischen Realität einbezogen sind (292/dt. 529). Dass Whitehead in The Concept of Nature (Kap. 5) zeigt, wie geometrische Formen durch Überschneidungen vierdimensionaler (raumzeitlicher) Ereignisse konstruiert werden können, heißt nicht, dass solche Formen keine abstrakten Entitäten sind. In Process and Reality werden mathematische Formen überhaupt, folglich auch geometrische, als objektive ›eternal objects‹ verstanden (292/dt. 528) und abstrakten Mustern wird individuelles und relationales Wesen zugeschrieben (115/dt. 221), was sie als abstrakte Entitäten ausweist. Relationen zwischen wirklichen Entitäten (z. B. zweifache und dreifache) werden ebenfalls als ›eternal objects‹ bezeichnet (PR 194/dt. 360). 138 In Gedankenexperimenten der sprachanalytischen ›philosophy of mind‹ häufig angenommene menschlich aussehende Entitäten, die aber keine phänomenalen Qualitäten (Qualia), wie Farben und Gerüche, erleben können.
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Die in dieser Person aufkommenden Gefühle – z. B. der Angst vor Bällen oder der Lust, Fußball zu spielen, das Erleben (Qualia) von Weiß, Schwarz und der Kombination beider zu einem Muster aus Fünf- und Sechsecken (das solche Bälle kennzeichnet) – gehören dagegen zur Privatheit des erfassenden Wahrnehmungsprozesses. Als Beispiele für ›eternal objects‹ der subjektiven Art nennt Whitehead Emotionen, Intensitätserlebnisse, Zuneigung, Abneigung, Freude, Schmerz, Zorn (PR 291/dt. 527) und die in der Geschichte der Philosophie sogenannten ›sekundären Qualitäten‹, wie Farbe, Geruch, Klang, Tastempfindung und Geschmack (CN 149/dt. 113; SMW 129, 67/dt. 125, 69; PR 292/dt. 528). Auch wenn solche Qualitäten zur subjektiven Art der abstrakten Entitäten gezählt werden, kommt ihnen nichtsdestoweniger ein nicht zu leugnendes objektives Wesen zu. Das subjektive Erleben von Farben, Tönen und anderen »sinnlichen Objekten« 139 ist keine subjektive Konstruktion, die nur im wahrnehmenden Subjekt besteht, sondern ein Erfassen von ontologisch relevanten Entitäten, d. h. von objektiven Faktoren der gesamten (weltlichen und göttlichen) Wirklichkeit, die jedes konkrete Erleben transzendieren. Auf die Objektivität dieser Faktoren verweist das zweite Wort im Ausdruck ›eternal object‹. Die innerliche, die subjektive Form des jeweiligen Erlebens leitet die Synthese dieser jenseitigen Objekte zu einem neuen zusammengesetzten Objekt, das im selben jenseitigen Reich wohnt, und folglich keine Erfindung oder Konstruktion des Bewusstseins darstellt. In einem normalen Wahrnehmungsprozess (menschlichen und tierischen) werden natürlich ›eternal objects‹ beider Arten miteinander in eine neue Synthese integriert. 140 Auf der Basis eines konsequent alle abstrakten Entitäten einschließenden Platonismus soll die Bifurkation dieser Synthese in einen realen und einen ›erträumten‹ Zweig vermieden werden. Die interne Relationalität des Reichs der ›eternal objects‹ unterstützt also auch die Idee, dass alle abstrakten Entitäten, subjektive und objektive, untrennbar einer und derselben Gattung der Seienden angehören und somit auf einer höheren, einer ontologischen Ebene alle gleichermaßen objektiv sind – so wie alle ›actual entities‹ gleichermaßen wirklich sind. 139 Als »sense-objects« bezeichnet Whitehead in The Concept of Nature die fundamentalsten Objekte der menschlichen Erfahrung (149/dt. 113). Unter ›objects‹ versteht er in diesem Werk (Kapitel 7), was später ›eternal objects‹ heißen wird. 140 Für ein gutes Beispiel vgl.: Sherbourne 1961, 28 f.
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Die Vorstellung der internen Relationalität der ›eternal objects‹ zueinander korrespondiert aber auch mit der Idee des Gedankenschemas. Abstrakte Entitäten der Mathematik und Physik sind in unseren begrenzten Gedankenschemata nicht in Isolation voneinander verständlich, sondern beleuchten sich gegenseitig und gewinnen erst im Kontext, den sie füreinander setzen, Bedeutung. Man denke z. B. an die wesenhafte Interdependenz der Ideen ›Kraft‹, ›Masse‹ und ›Beschleunigung‹ im Newton’schen Gedankenschema oder an die Erweiterung dieser Synthese durch ihre essentielle Verbindung mit den Ideen von ›Raum‹, ›Zeit‹ und ›Gravitation‹, die nicht mehr als allein existierende physikalische Größen an sich gedacht werden. Whitehead war mit dieser Entwicklung der Physik zu immer umfassenderen Vereinheitlichungen engstens vertraut, da er selbst, vor seiner prozessphilosophischen Phase, eine relationale Theorie von Raum, Zeit und Gravitation entworfen hat. Der Manifestation der göttlichen Vernunft als Reich ewiger Objekte kann natürlich nicht die innere Kohärenz fehlen, um die sich die menschliche Vernunft bei ihren Schöpfungen so innig bemüht und die sie so mühsam und langsam erringt. Insofern darf angenommen werden, dass Whitehead das System der abstrakten Entitäten als ein göttliches Gedankenschema oder als Bestandteil eines solchen sieht. Eine biophilosophische Annäherung an die organische Philosophie muss sich natürlich die Frage stellen, ob neben den abstrakten Entitäten der Mathematik und der Psychologie auch andere genannt werden können, die für Physik und Biologie relevant sind. Sind ›Elektron‹, ›Proton‹, ›Quark‹, ›Eisenatom‹, ›H2O‹, ›Aminosäure‹, ›Protein‹, ›Bakterium‹, ›eukaryotische Zelle‹, ›Amöbe‹, ›Mensch‹ und ›Elefant‹ Namen von ›eternal objects‹ ? Diesbezüglich sind die meisten Interpreten besonders wortkarg – sehr zu unrecht jedoch, denn Whiteheads Schriften laden dazu ein, diesbezüglich zu spekulieren. Zunächst ist auf jeden Fall zu beachten, dass für alle eben genannten Begriffe gilt, dass ihr Verständnis nicht an bestimmte Prozesse gebunden ist, womit sie die oben genannte notwendige und hinreichende Bedingung erfüllen. Darüber hinaus sind einige Stellen im Whitehead’schen Werk aufschlussreich: In The Concept of Nature wird den ›objects‹, wie dort die abstrakten Entitäten heißen, ein ganzes Kapitel gewidmet und das Elektron wird als ein »scientific object« bezeichnet (158 f./dt. 120). 141 In Process and Reality wird der Begriff der ›eternal 141
Für »wissenschaftliche Objekte« gilt: »They embody those aspects of the character
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objects‹ ausdrücklich mit dem Ideen-Begriff Lockes aus einer Stelle seines Essay gleichgesetzt. Dort werden folgende Ideen genannt, die Whitehead somit unmissverständlich als ›eternal objects‹ übernimmt: »Weiße, Härte, Süßigkeit, Denken, Bewegung, Mensch, Elefant, Armee, Trunkenheit« (PR 52/dt. 114). 142 Auch wenn die meisten dieser Begriffe keine einfachen ›eternal objects‹ sind, werden sie nichtsdestoweniger einem jenseitigen zeitlosen Reich zugeordnet. Dies überrascht nicht angesichts der Tatsache, dass Whitehead in seinem Hauptwerk jeder ›actual entity‹ ein abstraktes Wesen zuspricht, das in einem zusammengesetzten ›eternal object‹ besteht (PR 60/dt. 127). Das abstrakte Wesen eines Prozesses entsteht aus seinem realen Wesen (das, wie gesagt, in der Gesamtheit der erfassten ›actual entities‹ besteht), wenn aus diesem alle individuellen und einmaligen Aspekte entfernt werden, d. h. wenn eine abstrakte Form herausextrahiert wird (ebenda). Wendet man diese Vorstellung auf die facettenreichsten weltlichen ›actual entities‹ (die Bewusstseinsprozesse) an, dann muss man dem relativ großen Teil des Gehirns, das sie zwecks ihrer eigenen Bestimmung prehendieren, ein ›eternal object‹ zuordnen. Zieht man zusätzlich zur neurophysiologischen auch die innerliche, die phänomenale Seite in Betracht, dann gehört zum Prozess der Wahrnehmung eines Elefanten von Seiten eines Menschen auch die Idee dieser Tierart. Whitehead folgt auch diesbezüglich Kant, wenn er in seinen Werken häufig zitiert: »Anschauungen ohne Begriffe sind blind« 143 – dieser Satz muss jedoch auch auf die neurophysiologische Seite eines Bewusstseinsprozesses bezogen werden. 144 Allein diese Überlegungen führen vor Augen, dass praktisch unendlich viele zusammengesetzte ›eternal objects‹ angenommen werden müssen, wenn man bedenkt, wie viele Tiere und Menschen in den letzten
of the situations of the physical objects which are most permanent and are expressible without reference to a multiple relation including a percipient event« (CN 158/dt. 120, Hervorhebungen von S. K.). Solche Objekte sind also ebenfalls ablösbar von einem konkreten Zusammenhang ihres Auftretens. 142 Die von Whitehead zitierte Stelle befindet sich ganz am Anfang des zweites Buches des Essay (Locke 1981, 107 (II, 1, § 1)). 143 PR 139, 155 f./dt. 264, 291; TIME 241. 144 Diese beginnt mit der ›prehension‹ eines Teils des Gehirns, in das die Nervenleitungen Impulse aus der vom Elefanten erregten Netzhaut gebracht haben. Sie ist also mit dem Objekt der Wahrnehmung mittelbar prehensiv, aber nicht repräsentativ verbunden.
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Millionen Jahren gelebt haben. 145 Ähnliches gilt natürlich für alle physischen Prozesse. Wenn z. B. ein Quantenprozess sich als ein Elektron-Ereignis in einer chemischen Reaktion manifestiert, dann gehören zum abstrakten Wesen dieses Prozesses abstrakte Entitäten, die die teilnehmenden Reaktanden repräsentieren (und mit ihnen auch alle Moleküle oder Atome ihrer Sorten im Universum). Weitere Überlegungen dieser Art führen zum folgenden Resultat: Alle in der Physikochemie und den anderen Naturwissenschaften verwendeten abstrakten Entitäten müssen im Rahmen der Whitehead’schen Prozessphilosophie als zusammengesetzte ›eternal objects‹ angesehen werden. Ausgehend von der organischen Philosophie muss die moderne Naturwissenschaft in erster Linie als eine Beschäftigung mit ›eternal objects‹ erscheinen, da sie, wie schon erläutert, 146 wirkliche Entitäten auf abstrakte reduziert. Man kann sich fragen, ob es einfache ›eternal objects‹ gibt, die der objektiven Art angehören, ohne mathematischer oder psychologischer Natur zu sein. Wenn das abstrakte Wesen eines quantenphysikalischen Ereignisses in einer zusammengesetzten abstrakten Entität besteht, spricht nichts dagegen, dass diese in einfachere abstrakte Entitäten, wie ›Proton‹, ›Elektron‹ und ›Quark‹ analysiert werden kann. Allerdings können die beiden ersten Begriffe in noch einfachere, wie ›Masse‹, ›Ladung‹ und ›Spin‹, analysiert werden und der letzte in quantenchromodynamische Größen mit seltsam anmutenden Namen. Ob diese physikalischen Begriffe wirklich elementar sind, kann heute nicht entschieden werden und gehört auch nicht zum Gegenstand dieser Arbeit. 147 Es ist dennoch zu beachten, dass ›elementar‹ nicht ›substantiell‹ bedeuten muss. So ist ein ornamentales Muster in einfachste geometrische Formen analysierbar. Aber das individuelle Wesen dieser Formen wird von ihrem relationalen Wesen festgelegt. Was dies eigentlich besagt, macht Whitehead in seiner 1941 veröffentlichten, Platon weiter denkenden Spätschrift Mathematics and the Good klar: »[T]he complete explanation of number awaits an understanding of the relevance of the notion of the varieties of multiplicity to the infinitude of 145 Die Anzahl der Individuen des Tribus ›Hominini‹, die bis jetzt gelebt haben, wird auf ca. 100 Milliarden geschätzt. 146 Siehe Abschn. 3.2.a.3 von Kap. II. 147 Diesbezüglich sind Whiteheads Überlegungen zum Begriff ›Ladung‹ in The Concept of Nature interessant (159/dt. 120).
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IV · Die Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads und die Ontogenese
things. Even in arithmetic you cannot get rid of a subconscious reference to the unbounded universe« (193/dt. 77, Hervorhebungen von S. K.).
In einem Dreieck und in jedem einfacheren Begriff, der in ihm enthalten ist, wie ›Winkel‹, ›Linie‹ und ›Punkt‹ ist eine Unendlichkeit von Eigenschaften implizit enthalten (MaG 190/dt. 72 f.). Selbst die elementaren mathematischen ›eternal objects‹ sind also in einem tieferen Sinne nicht einfach. Das ist jedoch nicht überraschend, denn es ist der eigentliche Sinn der Vorstellung, dass sie intern relational aufeinander bezogen und somit wesenhaft interdependent sind. Diese tiefere Nicht-Einfachheit der mathematischen Begriffe ist aber auch allen anderen ›eternal objects‹ – objektiven und subjektiven, mathematischen, physikalischen, psychologischen, biologischen usw. – gemeinsam, denn sie ist Folge ihrer intern relationalen Bindungen innerhalb eines einzigen logischen Reichs. Spätestens jetzt zeigen sich die tieferen Gründe für die Annahme der zwischen den ›eternal objects‹ herrschenden internen Relationalität: Sie ist ein weiteres Platonisches Moment im Whitehead’schen Denken. Die Mathematik als Vorbild nehmend wird die Wesensinterdependenz mathematischer Formen auf alle abstrakten Entitäten übertragen. Aber nicht nur die Wahrheiten der Mathematik dienen Whitehead als Zeugen, sondern auch die der Ethik, denn sie sind genauso wenig in Isolation voneinander verständlich. Im Erkennen der mathematischen Begriffe und der Ideale des Guten sieht Whitehead den deutlichsten Beweis für das essentielle Vermögen der menschlichen Intelligenz, ›eternal objects‹ losgelöst von jedem Einzelfall zu erfassen (MaG 194/dt. 78). Insofern können die im letzten Teil von Adventures of Ideas besprochenen Ideale – Wahrheit, Schönheit, Abenteuer und Frieden – als ethische ›eternal objects‹ gesehen werden. 148 Diese Ideale erfüllen jedoch wesentlich mehr als die am Anfang der Suche nach ›eternal objects‹ angegebene Bedingung, der eben auch solche Begriffe wie ›Neid‹, ›Krieg‹, ›Streit‹ und ›Egozentrismus‹ gerecht werden. Ganz anders als letztere, die dem entropischen Zerfall in voneinander separierte Bruchstücke der Gesellschaft dienen, sind die Ideale des Guten reine Möglichkeiten der Synthese von Mannigfaltigkeit in Einheit, der kreativen Verbindung zu einer inspirierenden Eintracht – sie sind Werte, was nur sehr wenige von konkreten Fakten abstrahierbare Entitäten sein können. Bei der Suche nach ›eternal ob148
Vgl. auch: Christian 1967, 203.
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jects‹ darf nicht ignoriert werden, dass die Kreativität nicht nur reine Aktivität, sondern auch das oberste abstrakte Seiende ist – die »Universalie der Universalien« (PR 21/dt. 62). Sie ist die Idee der versöhnenden Synthese mittels der Erhöhung der aufgenommenen Entitäten zu einem reichen Kontrast und somit die Idee des Prozesses überhaupt. Ausgehend vom obersten ›eternal object‹ ist der panethische Charakter des Whitehead’schen Pansubjektivismus offensichtlich: Abstrakte Entitäten haben mit Werthaftigkeit zu tun und auch diejenigen von ihnen, die vordergründig dem Zerfall zu dienen scheinen, tragen zur großen Synthese bei und zwar nicht nur indem sie als Zeichen des zu Vermeidenden gelten oder Überlebtes beseitigen, sondern vor allem indem sie der Manifestation von Werten durch die Förderung der Abgrenzung des jeweils konkreten Endlichen vom grenzenlosen Unendlichen helfen. Facettenreiche Prozesse sind in der Lage, einige ethisch negativ besetzte abstrakte Entitäten in sich zu integrieren, weil diese Entitäten ihnen helfen, ihre eigenen räumlichen und semantischen Grenzen zu anderen Prozessen zu setzen, was ihrer Selbstbestimmung dienlich ist. Es gibt keine Wesensbestimmung ohne Abgrenzung. 2.2.c
›Prehensions‹ : die internen Relationen
Die Lehre der ›prehensions‹ ist die Antwort der organischen Philosophie auf die Frage nach der Solidarität der Seienden, die ein wesentlicher Aspekt des Universums ist, denn sie zeigt, wie andere Entitäten in die Wesensbestimmung einer ›actual entity‹ eingehen können (PR 56/dt. 121). Whitehead verwendet den Ausdruck ›prehension‹ für das Erfassen von ideellen und wirklichen Entitäten. Ausgehend von Platons Idee der Methexis, der Teilhabe, können ›prehensions‹ als Akte der Teilhabe verstanden werden: Das Wesen einer ›actual entity‹ entsteht mittels ihrer Teilhabe an dem Wesen anderer Entitäten. Prozesse können nur dank ihrer wesenhaften Interdependenz miteinander die erforderliche Adaptation an ihre Welt erreichen. Eine ›actual entity‹ ist nur deswegen integrationsfähig, weil sie schon zu Beginn der Gestaltung ihres eigenen Wesens andere Entitäten in sich einschließt (SMW 155/dt. 148). Diese Akte des Einschließens nennt Whitehead, in Anlehnung an den Begriff der ›Perzeption‹ Leibniz’, ›prehensions‹, was man als ›Erfassungen‹ übersetzen kann:
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»Accordingly, on the Leibnizian model, I use the term ›prehension‹ for the general way in which the occasion of experience can include, as part of its own essence, any other entity, whether another occasion of experience or an entity of another type. This term is devoid of suggestion either of consciousness or of representative perception« (AI 234/dt. 414 f., Hervorhebungen von S. K.).
Die Nähe zu Leibniz besteht auch darin, dass eine ›prehension‹ genauso wenig eine ›apprehension‹ ist, wie eine Leibniz’sche ›Perzeption‹ eine ›Apperzeption‹, d. h. eine bewusste Vorstellung, ist (Leibniz 1998, 17 (§ 14); SMW 86/dt. 86). Nur ein verschwindend kleiner Teil der ›prehensions‹ ist mit Bewusstsein begabt. Der wichtigste Unterschied zur Leibniz’schen Konzeption, der aus der radikalen Abgrenzung Whiteheads von jeglicher Verwendung des Substanz-Begriffs hervorgeht, ist die entschiedene Zurückweisung der Fensterlosigkeit der Monaden. 149 Dennoch ist Deleuze recht zu geben, wenn er auf eine elegante Weise von der Fensterlosigkeit der ›actual entities‹ spricht. 150 Die ›prehensions‹ sind Akte des gerichteten Bezugs der werdenden ›actual entity‹ auf andere Entitäten, durch die sie sich als Verschmelzung der prehendierten Entitäten selbst erzeugt. 151 Sie sind also aktiv vollbrachte Akte. Im Gegensatz dazu werden die Perzeptionen als wesentliche Bestandteile der Monaden von Gott erdacht und ihnen eingepflanzt, sodass sie sich nicht zwischen ihnen, sondern innerhalb jeder einzelnen Monade separat als ihre rein internen Vorstellungen abspielen, worauf sich der Begriff der ›Fensterlosigkeit‹ bezieht. Die ›prehensions‹ sind dagegen »konkrete Tatsachen des Bezogenseins« (Concrete Facts of Relatedness) (PR 22/dt. 63, Cat. II Exist.), d. h. wahre Verbindungen zwischen den Seienden. Sie sind
149 Whiteheads Abgrenzung von der substanzphilosophischen Begründung der Fensterlosigkeit der Monaden (Leibniz 1998, 13 (§ 7)) ist in Science and the Modern World gut erläutert (194/dt. 182). 150 »[D]ie Prehension ist von Natur her offen, offen zur Welt, ohne durch ein Fenster gehen zu müssen« (2000, 134). Worauf Deleuze hier anspielt, ist die grundsätzliche Offenheit des Whitehead’schen Prozesses gegenüber der Welt, denn wo es keine ›Wände‹ gibt, hat es keinen Sinn vom Fehlen der ›Fenster‹ zu sprechen. Der Prozess muss nicht, einer Substanz gleich, aus ›seinem Territorium‹ hinausgehen, um die Welt erst zu treffen und sie in seine Wesensbestimmung einzubeziehen, denn ›sein Territorium‹ ist von Anfang an nichts anderes als ein Teil der Welt. 151 »[I] have adopted the term ›prehension‹, to express the activity whereby an actual entity effects its own concretion of other things« (PR 52/dt. 113).
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die konkretesten Elemente einer ›actual entity‹, 152 durch die sie versucht, sich zu einem Spiegel der wirklichen und abstrakten Welt, aus der sie herauswächst, zu gestalten: »An [actual occasion] has contemporaries. This means that an [actual occasion] mirrors within itself the modes of its contemporaries as a display of immediate achievement« (SMW 91/dt. 91). 153
Und: »[E]very spatio-temporal standpoint mirrors the world« (SMW 114/dt. 112).
Die Monaden hingegen sind von Anfang an als perfekt aufeinander abgestimmte Spiegel erschaffen worden. Durch die ›prehensions‹ versuchen die ›actual entities‹, das zu werden, was die Monaden schon immer sind. Dank der ›prehensions‹ sind die ›actual entities‹ wesenhaft ineinander seiende »Erfahrungströpfchen, komplex und interdependent« (drops of experience, complex and interdependent) (PR 18/dt. 58); sie »sind in anderen Wesenheiten anwesend und andere in ihnen« (Fetz 1981, 114). Da sie ineinandergreifen, sind sie keine typischen Partikularien, wie die Substanzen der alten Metaphysik oder diejenigen wirklichen Entitäten naturwissenschaftlicher Systemontologien, denen strenge raumzeitliche Lokalität zugesprochen werden kann: »[E]very so called ›particular‹ is universal in the sense of entering into the constitutions of other actual entities« (PR 48/dt. 107, Hervorhebung von S. K.).
Und: »[A]n actual entity is present in other actual entities. In fact […] we must say that every actual entity is present in every other actual entity« (PR 50/ dt. 110 f., zweite Hervorhebung von S. K.).
Die Verbindung von Universalität und physischer Existenz ist dafür verantwortlich, dass die ›actual entities‹ überabzählbar, im mathema152 »The analysis of an actual entity into ›prehensions‹ is that mode of analysis which exhibits the most concrete elements in the nature of actual entities« (PR 19/dt. 58). 153 In diesem Zitat wurde der Ausdruck ›event‹ durch den Ausdruck ›actual occasion‹ ersetzt. Letzterer übernimmt in Process and Reality die Rolle von ›event‹ bzw. ›actual event‹ in Science and the Modern World (siehe auch Fußnoten 75 und 86 dieses Kapitels).
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tischen Sinne dieses Ausdrucks, sind. Das heißt nicht, »daß es so viele Seiende sind, daß man mit ihrer Zählung zu keinem Abschluss gelangen könnte«, sondern »vielmehr, daß die notwendigen und hinreichenden Bedingungen der Abzählbarkeit nicht erfüllt sind« (Wiehl 2007, 28 f.). Sie sind wegen der Wesensinterdependenz der wirklich Seienden nicht erfüllt – dafür hätten diese in der Ordnung des wesenhaften Nebeneinanders, verräumlicht und voneinander distinkt existieren müssen. Die Universalisierung der wirklichen Entitäten, ohne sie auf Kombinationen abstrakter Entitäten zu reduzieren (das ist der Weg der wissenschaftlichen Systemontologien), ist kein Nebenprodukt der Whitehead’schen Revision der klassischen Metaphysik, sondern die Antwort Whiteheads auf das Problem der echten Einflussnahme der wirklich Seienden aufeinander und ihres Miteinander-Seins, für das er in der philosophischen Tradition keine Lösung findet: »The perceptive constitution of the actual entity presents the problem, How can the other actual entities, each with its own formal existence, also enter objectively into the perceptive constitution of the actual entity in question? This is the problem of the solidarity of the universe. The classical doctrines of universals and particulars, of subject and predicate, of individual substances not present in other individual substances, of the externality of relations, alike render this problem incapable of solution. The answer given by the organic philosophy is the doctrine of prehensions […]« (PR 56/dt. 121, Hervorhebungen von S. K.).
Durch das Prehendieren einer Mannigfaltigkeit anderer ›actual entities‹, von denen jede ebenfalls aus der Erfassung anderer Mannigfaltigkeiten hervorgegangen ist (für deren Mitglieder wiederum dasselbe gilt usw. ad infinitum), gestaltet sich jedes wirklich seiende Individuum (actual entity) als mikrokosmische Spiegelung des Makrokosmos. 154 Eine uralte hermetisch-alchemistische Wahrheit klingt hier nach, jedoch befreit von jedwedem substanzphilosophischen Ausgangspunkt. Die internen Relationen einer ›actual entity‹ konstituieren durch ihre wesenhafte Bindung an ihre prehendierte Objekte, was sie ist (SMW 130/dt. 126). Aus diesem Grund sind sie dafür verantwortlich, dass eine ›actual entity‹ nach dem Abschluss ihrer Selbstbestimmung 154 »[E]ach actual entity is itself only describable as an organic process. It repeats in microcosm what the universe is in macrocosm« (PR 215/dt. 397). Vgl. auch: RM 100/ dt. 77.
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keine weitere Veränderung zulässt (PR 58–60 f./dt. 125–127). Ein wirklich Seiendes kann nicht einerseits sein Wesen beibehalten und andererseits neue Beziehungen zu anderen wirklich Seienden eingehen, d. h. in externe Relationen zu ihnen treten, denn sein Wesen ist unlösbar an den Teil der Welt gebunden, aus dem es prehensiv hervorgegangen ist. Eine ›actual entity‹ hat keine externen Relationen zur Raumzeit – weder persistiert sie dauerhaft noch bewegt sie sich. Ihr Wesen ist vom Wo-sie-ist, nicht zu separieren und kann sich nicht ändern. 155 Zusammenfassend: »This internal relatedness is the reason why an [actual occasion] can be found only just where it is and how it is, – that is to say, in just one definite set of relationships. […] This is what is meant by the very notion of internal relations. It has been usual, indeed, universal, to hold that spatio-temporal relationships are external. This doctrine is what is here denied« (SMW 155/ dt. 148). 156
Mit anderen Worten: Zum abgeschlossenen Wesen des Prozesses einer Spiegelung gehört auch die Perspektive dieser Spiegelung, was eine Bewegung des Spiegels ausschließt. An dieser Stelle ist einem möglichen Missverständnis vorzubeugen: Bei der ›prehension‹ einer ›actual entity‹ handelt es sich um einen Einschluss, der in keinster Weise in Kategorien der Körperlichkeit gedacht werden kann, da die Bindung an eine bestimmte raumzeitliche Perspektive jegliche Bewegung nicht nur der prehendierenden, sondern auch der prehendierten ›actual entities‹ verbietet, denn auch sie können von einer raumzeitlichen Perspektive nicht entfernt werden. Eine ›prehension‹ ist ein metaphysischer (meta-physischer) Einschluss und benötigt keine physischen Bewegungen. Die überall in der Natur anwesenden Bewegungen sind Resultate der Aufeinanderfolge der Manifestationen von ›actual occasions‹, die sich in Abhängigkeit voneinander an verschiedenen Orten ereignen. Es ist davor zu warnen, dass, auch wenn Wahrnehmungsprozesse mit Hilfe der Theorie der Prehension ausführlich beschrieben werden können, der umgekehrte Weg die Gefahr in sich birgt, die ›prehensions‹ als physisch manifeste Ereignisse oder Bewegungen und das prehendierende Subjekt als ein räumlich lokalisiertes vorzustel155 Whitehead wird nicht müde, die Bewegungslosigkeit und Unveränderbarkeit der ›actual entities‹ zu unterstreichen (PR 73, 77, 80/dt. 149 f., 156, 162). 156 Auch in diesem Zitat wurde der Ausdruck ›event‹ durch den Ausdruck ›actual occasion‹ ersetzt (siehe auch Fußnoten 75, 86 und 153 dieses Kapitels).
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len. Seine Verräumlichung tritt erst am Abschluss des Prozesses ein. 157 Dass die raumzeitliche Lokalisierung des Prozesses erst durch seinen Abschluss zustande kommt, bedeutet jedoch nicht, dass seine prehensive Aktivität ohne eine raumzeitliche Perspektive stattfindet. 2.2.c.1 Was prehendiert wird: ›actual world‹ und ›universe‹ Die bisherige Darstellung der ›prehensions‹ verführt zu einem stark vereinfachten und einseitigen Verständnis dieses so wichtigen Instrumentes der organischen Philosophie, die nun zu korrigieren ist. Whitehead betont, dass ein werdender Prozess nicht nur andere ›actual entities‹ sondern auch ›eternal objects‹ prehendiert und in seine Selbstformung integriert: »In the genetic theory, the [actual entity] is exhibited as appropriating for the foundation of its own existence, the various elements of the universe out of which it arises. Each process of appropriation of a particular element is termed a prehension. The ultimate elements of the universe, thus appropriated, are the already constituted actual entities, and the eternal objects« (PR 219/dt. 401, Einfügung und Hervorhebung von S. K.).
Der Prozess ist also gleichermaßen auf das Prehendieren von ›actual entities‹ und ›eternal objects‹ angewiesen. Die abstrakten Entitäten gelangen durch verschiedene Wege in einen Prozess – mittels der prehendierten ›actual entities‹, in denen sie schon integriert sind, oder auch ohne sie –, wie noch erläutert wird. Das letzte Zitat lädt jedoch dazu ein, auch über einen weiteren, hier nur anklingenden Punkt zu reflektieren. Es fällt auf, dass Whitehead eine Anbindung des Ausdrucks ›universe‹ an die Entstehung der jeweils betrachteten ›actual entity‹ vornimmt. Dieser Relativierung begegnet man häufig in Process and Reality, wo in Bezug auf das Werden einer ›actual entity‹ oft die Rede von »its universe« und »its world« ist. 158 Whitehead betont auch, dass keine zwei ›actual entities‹ aus demselben ›universe‹ hervorgehen (PR 22/dt. 65, Cat. V Expl.). Offensichtlich ist mit dem Begriff ›universe‹ nicht der Kosmos im astronomischen Sinne des Wortes oder eine andere Art universeller Totalität gemeint. Dieser Begriff ist immer in Bezug auf den Werdeprozess einer bestimmten ›actual entity‹ definiert. Unter ›universe‹ meint Whitehead eine begrenzte »Vielheit« (multiplicity), die dieSiehe Abschn. 2.3.c.3 dieses Kapitels. Um einige der vielen Stellen zu nennen: PR 22, 23, 56 f./dt. 65, 121 (Cat. IV, V, VI Expl.). 157 158
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jenigen Entitäten, wirkliche und nicht wirkliche, umfasst, die in eine konkrete werdende ›actual entity‹ eingehen könnten (PR 29 f./dt. 77). 159 Ähnlich bezieht sich der Fachterminus ›actual world‹ nicht auf die gesamte Wirklichkeit, sondern ist immer nur in Abhängigkeit von einer bestimmten ›actual entity‹ gemeint (PR 65/dt. 137). Die ›actual world‹ ist der ›nexus‹, der die ›actual entities‹ desjenigen ›universe‹ umfasst, aus dem die neue wirkliche Entität als Synthese, die Whitehead als concrescence bezeichnet, hervorgeht: »The nexus of actual entities in the universe correlate to a concrescence is termed ›the actual world‹ correlate to that concrescence« (PR 23/dt. 65, Cat. V Expl.).
Und: »[T]he meaning of the phrase ›the actual world‹ is relative to the becoming of a definite actual entity which is both novel and actual […] Thus, conversely, each actual entity corresponds to a meaning of ›the actual world‹ peculiar to itself« (PR 28/dt. 74, Hervorhebung von S. K.).
Die ›actual worlds‹ verschiedener Prozesse können miteinander verflochten sein. Ihre tatsächlich vorhandene Verflochtenheit hängt mit der raumzeitlichen Extension der Prozesse zusammen. Folgende Stelle ist diesbezüglich sehr hilfreich: »According to Newton, a portion of space cannot move. We have to ask how this truth, obvious from Newton’s point of view, takes shape in the organic theory. Instead of a region of space, we should consider a bit of the physical field. This bit, expressing one way in which the actual world involves the potentiality for a new creation, acquires the unity of an actual entity. The physical field is, in this way, atomized with definite divisions: it becomes a ›nexus‹ of actualities. Such a quantum (i. e., each actual division) of the extensive continuum is the primary phase of a creature. This quantum is constituted by its totality of relationships and cannot move« (PR 80/dt. 161 f., Hervorhebungen von S. K.).
Das ›Worin‹ einer ›actual entity‹ ist also nicht wie in der absoluten Raumzeit-Theorie Newtons der leere Raum, sondern das »physische Feld« (physical field). Dieser Begriff kann sicherlich Verschiedenes bedeuten, aber hier ist einzig und allein wichtig, dass für Whitehead der räumliche und zeitliche Bezug einer wirklichen Entität – ein physisches Feld hat schließlich auch eine zeitliche Dimension – einer na159
Vgl. auch: PR 22/dt. 64 f., Cat. IV Expl.
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türlichen Entität, eines ›nexus‹, bedarf. Wie in der Metaphysik Leibniz’ sind auch in der organischen Philosophie Raum und Zeit keine eigenständigen Seienden, sondern Merkmale, die aus dem Zusammenhang der wirklich Seienden abstrahiert werden können. Die Totalität der weltlichen Prozesse bildet den umfassendsten ›nexus‹ des Kosmos, der ihre raumzeitlichen Relationen festlegt. Ein Teil dieses ›nexus‹ (»a bit of the physical field«, s. letztes Zitat) wird zur Grundlage für eine neue ›actual entity‹. Ein solcher Teil stellt nicht eine mögliche Umgrenzung dar, sondern ist Resultat einer wirklichen Teilung (»actual division«, s. letztes Zitat). Wessen Werk diese Teilung ist, spielt an dieser Stelle keine Rolle; dem ontologischen Prinzip zufolge kann sie jedoch nur das Werk einer oder mehrerer ›actual entities‹ sein. Viel wichtiger ist hier, dass sie ein räumliches und ein zeitliches Quantum darstellt, 160 aus dem die neue ›actual entity‹ als Synthese hervorgeht. Vorausgreifend ist hier zu sagen, dass der Inhalt dieses Quantums, der in eine neue Synthese aufgenommen wird, aus Manifestationen von ›actual occasions‹ besteht, die die letzte Phase ihrer Wesensbestimmung abgeschlossen haben und somit öffentlich geworden sind. Sie werden vom neuen Prozess prehendiert. Das besagte Quantum darf also nicht mit der neuen ›actual occasion‹ als Ganzer identifiziert werden; es ist aber immerhin ihre Anfangsphase, wie Whitehead im letzten Zitat eindeutig sagt. Mit anderen Worten: Das Quantum wird von der werdenden ›actual occasion‹, der es entspricht, prehendiert. Mit ihm finden aber notwendig auch solche Inhalte in den Prozess Eingang, die nicht mehr im Raum manifest sind. Denn auch die unmittelbar prehendierten Inhalte sind Resultate von Prozessen und folglich Manifestationen von Synthesen, die ihrerseits aus ihren eigenen Quanten hervorgegangen sind. Auf diese Weise entsteht ein sehr weit in die Vergangenheit reichender und mit wachsender Zeittiefe immer größer werdender kausaler Zusammenhang, an dessen Spitze (in der Gegenwart) die neue ›actual occasion‹ allein steht. 161 Dieser kausale Zusammenhang ist die ›actual world‹ der sich selbst bestimmenden wirklichen Entität. Die ›actual world‹ eines Prozesses umfasst unmittelbar prehendierte wirkliche Entitäten und durch diese eine Unmenge mittelbar in 160 Das Quantum als räumliches und zeitliches Gebilde ist Gegenstand einiger Erläuterungen in Process and Reality (68, 283/dt. 141, 514). 161 Vgl. auch: Palter 1960, 142.
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Zeit B
C
A
Raum
L
N D
M
O
P
Q E
Abb. 4.1: Die ›actual world‹ des Prozesses A ist der nicht wachsende Bereich innerhalb des Winkels DAE. Die Prozesse L und M werden von A unmittelbar prehendiert, weil ein Teil ihrer Manifestationen als Raumzeit-Daten (nicht dargestellt) innerhalb seines Quantums sind. Durch die ›actual worlds‹ von L und M (gestrichelt dargestellt) gehören zur Vergangenheit von A auch solche vergangene Prozesse wie N, O und P, die somit von A mittelbar prehendiert werden. Die Zukunft von A, d. h. ›actual entities‹, die A unmittelbar oder mittelbar prehendieren werden, befinden sich in dem raumzeitlichen Bereich, der vom Winkel BAC eingeschlossen ist und mit der Zeit unbegrenzt wächst. Die Raumzeit-Regionen innerhalb der Winkel BAD und CAE haben keine kausale Beziehung zu A.
den neuen Prozess einbezogener vergangener Prozesse (PR 307/dt. 553). Sie haben in den unmittelbar prehendierten Prozessen Spuren hinterlassen. Um ein Beispiel zu geben: Zur ›actual world‹ eines menschlichen oder tierischen Wahrnehmungsprozesses gehört zuerst das mesokosmisch bzw. makroskopisch große Quantum einer Gehirnregion, die einer bestimmten Sinnesart entspricht. Sie wird vom Prozess unmittelbar prehendiert und somit in sein Wesen direkt eingeschlossen. Diese Gehirnregion ist mit einer Unmenge von mikrophysikalischen ›actual occasions‹ in den Nervenbahnen, im Sinnesorgan, im Übertragungsmedium außerhalb des Leibes und in der Reizquelle kausal verbunden, denn die späteren ›actual occasions‹ dieser endlosen Reihe sind aus ›prehensions‹ der früheren hervorgegangen. Dabei nimmt 489 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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die Stärke der Präsenz der mittelbar prehendierten Objekte mit der zeitlichen Distanz ab,162 was aus der Logik des Prozesses als Sukzession von inneren Entscheidungen erklärbar ist. 163 Könnten wir unsere gesamte ›actual world‹ unmittelbar prehendieren, bräuchten wir keine Teleskope, um die entferntesten Quasare zu sehen und wir könnten niemals erblinden, ja wir könnten sogar mit geschlossenen Augen und Ohren sehen und hören, denn wir bräuchten diese Organe nicht. Trotzdem scheinen einige Menschen unter außergewöhnlichen psychologischen Umständen zu unmittelbaren ›prehensions‹ von Inhalten fähig zu sein, die ihnen theoretisch nur mittelbar gegeben werden könnten, wie parapsychologische Forschungsergebnisse zeigen. Die Durchdringung der Wahrnehmung mit den Mitteln der Theorie der Prehension hat, nebenbei bemerkt, eine schwerwiegende Folge für das Konzept der Repräsentation. Der wesenhafte Einschluss, der auch durch mittelbare Aufnahmen gewährleistet wird, besagt nichts Geringeres, als dass Wahrnehmungsprozesse keine Repräsentationen sind. Auf der Basis seines ›prehension‹-Konzeptes kann Whitehead den Repräsentationalismus weit hinter sich lassen und Wahrnehmungsakte als ›actual occasions‹ beschreiben, die mit den wahrgenommenen Objekten wesenhaft verbunden sind. Durch die prehensive Verbindung findet eine teilweise Identifikation des Wahrgenommenen mit dem Wahrnehmenden statt. 164 Das Auge sieht also die Sonne, weil es durch ihre Erfassung sonnenhaft wird – ein Gedanke dem Plotin und Goethe zustimmen könnten. Zusammenfassend: Die ›actual world‹ einer ›actual entity‹ ist ihre gesamte kausale Vergangenheit: die nähere und die fernere. Somit schließt jedes wirklich Seiende die gesamte Geschichte des Teils des Kosmos in sein Wesen ein, aus dem es unmittelbar oder mittelbar hervorgeht. In diesem Einschluss wurzelt die akkumulative Natur jeder wirklichen Entität. Es handelt sich allerdings dabei um eine, je nach Erlebensintensität der entstehenden ›actual entity‹, mehr oder weniger kreativ-reproduktive Akkumulation der Vergangenheit. 165 Denn Vgl. auch: Kraus 1979, 149. Siehe Abschn. 2.3.c.2 dieses Kapitels. 164 »But this transference of [positive prehension] effects a partial identification of cause with effect, and not a mere representation of cause. It is the cumulation of the universe and not a stage-play about it« (PR 237/dt. 434 f., Einfügung von S. K.). Bezüglich der Abgrenzung Whiteheads vom Repräsentationalismus vgl. auch: PR 54, 144/dt. 117, 272. 165 Vgl. auch: Nobo 2004, 232. 162 163
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jeder Prozess prehendiert Fakten seiner Vergangenheit, ohne von ihnen determiniert zu werden, da er ihre Relevanz für sein Werden selbst entscheidet. Unter dieser essentiellen Einschränkung entsprechen die Inhalte jeder ›actual world‹ den Wirkursachen der alten Metaphysik: »The objectifications of the actual entities in the actual world, relative to a definite actual entity, constitute the efficient causes out of which that actual entity arises« (PR 87/dt. 173, Hervorhebung von S. K.). 166
Der regionale Standpunkt einer ›actual entity‹ legt fest, was ihr unmittelbar oder mittelbar als Wirkursache als kausal relevante Vergangenheit dienen könnte (PR 65, 67, 210/dt. 137, 139, 389). Da zwei ›actual entities‹ niemals denselben raumzeitlichen Ort teilen, ist es ausgeschlossen, dass sie dieselbe ›actual world‹ haben (PR 65 f., 210/ dt. 137, 389). Die Ordnung der Anwesenheit von Prozessen verschiedener zeitlicher Distanz in einem neuen Prozess entspricht dem relativistischen Denken. Die Einstein’sche Relativitätstheorie definiert die Grenze der kausalen Beziehungen eines Ereignisses durch die Lichtgeschwindigkeit c. Auch wenn die organische Philosophie der Lichtgeschwindigkeit keine so zentrale Bedeutung beimisst (CN 195 f./dt. 146 f.), 167 kann auf der Basis der kausalen Verflechtung raumzeitlicher Quanten das Schema des Einstein’schen Lichtkegels problemlos abgeleitet und als Sonderfall eines allgemeineren Kausalkegels verstanden werden (vgl. Abb. 4.4). 168 Abschließend ist auf eine viel problematisierte Ausnahme innerhalb der Theorie der Prehension hinzuweisen, die aber für das Whitehead’sche Modell vom Prozess unerlässlich ist. Eine gerade entstehende ›actual entity‹ kann nicht prehendiert werden, weil sie nicht manifest sein kann. 169 Trotzdem gehört auch Gott zur ›actual 166 Etwas Ähnliches geht auch aus folgender Stelle hervor: »Causation is nothing else than one outcome of the principle that every actual entity has to house its actual world« (PR 80/dt. 161). 167 Vgl. auch: Klose 2002, 263 f., 313. 168 Whitehead hat in drei Büchern (Enquiry Concerning the Principles of Natural Knowledge, The Concept of Nature und The Principle of Relativity) und in einigen Artikeln seine eigene Relativitätstheorie vorgelegt, die sowohl in ihren Prinzipien und Ausgangspunkten als auch in ihren Ergebnissen von der Einstein’schen Theorie abweicht. Die Besonderheiten der Whitehead’schen Theorie werden hier nicht behandelt, da sie für die Organismus-Problematik nicht von Bedeutung sind. 169 Warum Entitäten, deren Wesensbestimmung nicht abgeschlossen ist, nicht raum-
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world‹ einer ›actual occasion‹, obwohl er eine immer werdende und folglich sich nie manifestierende Entität ist (PR 65, 220/dt. 137, 403; RM 93/dt. 72). In dieser Ausnahme sieht Whitehead ein offenes Problem. 170 Andererseits ist die ›actual world‹ Gottes – wenn man über sie aus der raumzeitlich begrenzten Perspektive einer beliebigen ›actual occasion‹ spricht, die überall im raumzeitlichen Kontinuum des Kosmos sein kann – die unbegrenzt wachsende Menge vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger weltlicher Prozesse. Gott prehendiert also die Totalität der Evolution des Kosmos, sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht. 2.2.c.2 Ein neues Verständnis von Kausalität – jede ›actual entity‹ hat ihre Umwelt Die prehensive Bindung einer sich selbst bestimmenden wirklichen Entität an ein raumzeitliches Quantum, das physisch manifeste Daten enthält, besagt keineswegs ihre Determinierung durch Wirkursachen. Whitehead betont, dass zu einer ›prehension‹ neben dem prehendierenden Subjekt und dem prehendierten Datum auch die ›subjective form‹ gehört bzw. wie dieses Datum zum Bestandteil des Subjekts wird (PR 23/dt. 66, Cat. XI Expl.), d. h. wie seine Integration erlebt und dadurch gestaltet wird (PR 52/dt. 113). Zum Wesen einer ›prehension‹ gehört also auch eine andere Entität, die in dem Erleben des Einschlusses besteht und für seine weitere Integration verantwortlich ist. Die Entwicklung der transformativen Verschmelzung der ergriffenen Vielheit zu einer neuen Individualität wird also nicht von der Beschaffenheit der aufgenommenen Objekte determiniert. Mehr noch: Alles, was für einen Prozess Relevanz bekommen hat, kann nur durch die ›prehensions‹ dieses Prozesses in diesen integriert worden sein. Eine bestimmte Art von ›prehensions‹ nimmt physische Fakten der ›actual world‹ auf, die die Wirkursachen des Prozesses werden; nichts verschafft sich aus eigener Kraft Eintritt in einen Prozess – nicht einmal Gott. Eine andere Art von ›prehensions‹ entscheizeitlich manifest sein können, ist Gegenstand einiger Überlegungen von Kap. II (Abschn. 3.2.b.1 und 3.2.b.4), die nicht die Whitehead’sche Prozessphilosophie voraussetzen. 170 Johnson hat diesbezüglich Whitehead folgende Frage gestellt: »If God never ›perishes‹, how can he provide data for other actual entities? Data are only available after the ›internal existence‹ of the actual entity ›has evaporated‹« (Johnson 1983b, 9 f.) (siehe PR 220/dt. 402). Daraufhin antwortet Whitehead: »This is a genuine problem. I have not attempted to solve it« (Johnson 1983b, 9 f.).
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det, wie die aufgenommenen Inhalte wirksam werden, denn alles, was im Laufe der Integration relevant bleiben darf, muss von solchen ›prehensions‹ durch die Phasen des Prozesses weitergetragen werden, wie es noch erläutert wird. Die Autonomie einer ›actual entity‹ besteht also in ihrer prehensiven Aktivität. Die organische Philosophie kehrt die zeitliche Ordnung der Kausalität der klassischen Physik und der Theorie dynamischer Systeme um. Sie lehnt die Logik des Zustandsraumes, der zufolge die Vergangenheit die Gegenwart bestimmt, ab. Die Relevanz der Vergangenheit eines Prozesses wird in seiner Gegenwart in Bezug auf seine Zukunft bestimmt. Es ist die Logik dieser Kausalität, die einer wirklichen Entität erlaubt, ihr Wesen zu bestimmen, denn zu ihrem Wesen gehört auch das, was für ihr Werden kausale Relevanz besitzt. Es ist also der Prozess selbst, der entscheidet, welche Daten seiner physischen Umgebung, d. h. des vom Prozess unmittelbar prehendierten raumzeitlichen Quantums, seine Wirkursachen werden dürfen und wie ihre Integration in seine Selbstbestimmung vonstatten geht. Jedes sich selbst bestimmende wirklich Seiende unterscheidet notwendig zwischen den Daten seiner physischen Umgebung, die für es relevant, und denen, die bedeutungslos sind. Folglich weist jede ›actual entity‹ eine essentielle Ähnlichkeit zu jedem Lebewesen auf: Sie verfügt über eine Umwelt, die sie aus ihrer Umgebung gestaltet. 2.2.c.3 Formaliter – objectivé Die Theorie der ›prehensions‹ setzt zwei grundsätzlich verschiedene Seinsweisen der ›actual entities‹ voraus. Ein wirklich Seiendes kann entweder in der Phase seiner Wesensbestimmung bzw. Konstituierung sein, oder als ein schon Konstituiertes vorliegen. Whitehead benutzt die Descartes’schen Ausdrücke formaliter und objectivé 171 um diese beiden Seinsweisen zu kennzeichnen (PR 219/402). Eine ›actual entity‹ existiert formaliter, bzw. formal, solange sie ein sich selbst konstituierendes Subjekt ist. 172 Formaliter betrachtet, ist eine ›actual entity‹ der Akt des Prehendierens und der Integration der einbezogenen Vielheit zu einer Einheit, der eine innere Erlebensqualität 171 Prinzipien der Philosophie (Antworten auf Einwände, I). Whitehead teilt natürlich nicht den in diesem Text offenkundigen Repräsentationalismus Descartes’. 172 »The process itself is the constitution of the actual entity; in Locke’s phrase, it is the ›real internal constitution‹ of the actual entity. In the older phraseology employed by Descartes, the process is what the actual entity is in itself, ›formaliter‹« (PR 219/dt. 402). Vgl. auch: PR 45/dt. 102.
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entfaltet (Leclerc 1975, 146 f.). Ihre formale Konstitution besteht somit im Übergang von der anfänglichen Unbestimmtheit des Wesens zu seiner »endgültigen Bestimmtheit« (terminal determination) (PR 45/dt. 102). Beim Abschluss des Prozesses verliert die ›actual entity‹ die Unmittelbarkeit des Subjekts und kann nur noch als Objekt anderer Entitäten, die formaliter existieren, bestehen. 173 Die »Objektivierung« (objectification) einer ›actual entity‹ in einer anderen ihr folgenden findet statt, wenn erstere zur Bestimmung der Selbstkreation letzterer beiträgt (PR 25/dt. 70, Cat. XXIV Expl.). Zusammenfassend ist festzuhalten, dass eine ›actual entity‹ als formale Existenz im Streben nach Vollendung und in der Unmittelbarkeit des Erlebens dessen, was sie in sich selbst und für sich selbst ist, besteht, während sie als Objekt ein unumgängliches – im Bergson’schen Sinne »verräumlichtes« (spatialized) – Faktum ist, das von anderen, aus ihrer Perspektive zukünftigen ›actual entities‹ formaliter prehendiert wird (PR 219 f./dt. 402). 2.2.c.4 Physische, begriffliche und hybride; positive und negative ›prehensions‹ Die anti-entropische Revitalisierung der universalen Prozessualität verlangt nach der Einbeziehung von Inhalten, die nicht als Bestandteile der jeweiligen Wirklichkeit anzutreffen sind, wie es schon erläutert wurde. Das bedeutet, dass es für die organische Philosophie unerlässlich ist, dass ›eternal objects‹ prehendiert werden können, die nicht in den schon konstituierten ›actual entities‹ der jeweils gegebenen ›actual worlds‹ anzutreffen sind. Ohne diese Annahme würde, nebenbei bemerkt, der heute als Urknall vorgestellte Initialprozess des Kosmos außerhalb des kosmologischen Gedankenschemas bleiben. Whitehead unterscheidet prinzipiell zwischen physischen und begrifflichen ›prehensions‹ : »Prehensions of actual entities – i. e., prehensions whose data involve actual entities – are termed ›physical prehensions‹ ; and prehensions of eternal objects are termed ›conceptual prehensions‹« (PR 23/dt. 66, Cat. XI Expl.).
173 »The ›effects‹ of an actual entity are its interventions in concrescent processes other than its own. Any entity, thus intervening in processes transcending itself, is said to be functioning as an object« (PR 220/dt. 402).
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Durch die begrifflichen ›prehensions‹ kann die zur Wiederholung des immer Gleichen tendierende Wirkursächlichkeit, die von den physischen ›prehensions‹ getragen wird, aufgebrochen werden. Dank der begrifflichen ›prehensions‹ wird die »rohe Kausalität« der ›actual world‹ überwunden, 174 denn sie können noch nicht verwirklichte Ideale, d. h. noch nicht in ›actual occasions‹ aktualisierte ›eternal objects‹, zu Objekten der wirklich Seienden machen, was die Neuorientierung der zweckmäßigen Gerichtetheit über das bereits Erreichte hinaus ermöglicht und anspornt. Auch wenn den begrifflichen ›prehensions‹ noch nicht aktualisierter ›eternal objects‹ eine zentrale Rolle zukommt, darf nicht übersehen werden, dass beide Arten von ›prehensions‹ meistens ineinander verwoben sind. Das wird sofort klar, wenn bedacht wird, dass in allen Prozessen objectivé ›eternal objects‹ aktualisiert sind, die somit mit ihnen Eingang in den neuen Prozess finden. In einem Brief an Charles Hartshorne betont Whitehead, dass es die ›eternal objects‹ sind, »die das Geistige in die Tatsachen der Welt bringen«, d. h. in die Prozesse formaliter. 175 Die ›prehensions‹ schon manifester ›actual occasions‹ sind auf das gleichzeitige Prehendieren von ›eternal objects‹ angewiesen. 176 Whitehead geht davon aus, dass die Aufnahme einer jeden individuellen ›actual occasion‹ objectivé unlösbar an das Erfassen der in ihr aktualisierten ›eternal objects‹ gebunden ist, was er durch eine berühmte Stelle aus Kants Kritik der reinen Vernunft – »Anschauungen ohne Begriffe sind blind« – unterstreicht (PR 156/ dt. 291, TIME 241). Mit Kants Worten: Die physischen ›prehensions‹ liefern die »Materie zur Erkenntnis« und die begrifflichen ›prehensions‹ tragen »eine gewisse Form, sie zu ordnen« bei (1990, 127 (B119, 120/A87)). ›Eternal objects‹ ermöglichen den ›actual entities‹ formaliter zu erfahren, was sie physisch prehendieren. In Process and Reality werden weitere Unterteilungen der zwei großen Arten von ›prehensions‹ unternommen und in der mancherorts dort anzutreffenden Prozess-Scholastik eingesetzt. 177 Auf diese Vgl. auch: Kraus 1979, 110. »[T]hey carry mentality into matter of fact« (Kline (Hg.) 1963, 199). 176 »The organic philosophy does not hold that the ›particular existents‹ are prehended apart from universals; on the contrary, it holds that they are prehended by the mediation of universals« (PR 152/dt. 285, Hervorhebung von S. K.). 177 Es ist die Rede von ›simple-‹ und ›complex-‹, von ›pure-‹ und ›impure physical prehensions‹ (PR 245 f./dt. 448 f.), sowie auch von ›pure-‹ und ›impure conceptual prehensions‹ (PR 33/dt. 82). 174 175
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spitzfindigen Differenzierungen Whiteheads einzugehen, wäre für das Erreichen der hier verfolgten Ziele hinderlich. Denn nur eine dieser ausgeklügelten Konstruktionen kann der prozessphilosophischen Behandlung der Organismus-Problematik gute Dienste leisten: die ›hybrid prehension‹. 178 Darunter versteht Whitehead eine physische ›prehension‹ besonderer Art. Die durch eine ›hybrid prehension‹ erfassende ›actual occasion‹ formaliter prehendiert eine ›actual occasion‹ objectivé auf eine Weise, die zur Erfassung eines ›eternal object‹ führt, das von der prehendierten ›actual occasion‹ erfasst worden war (PR 225, 246/dt. 411, 450) und für die Selbstkonstitution letzterer von Bedeutung war. Natürlich ist jede in einem Prozess objectivé verwirklichte abstrakte Entität von diesem Prozess erfasst worden – worum es jedoch Whitehead hier geht, ist, dass diese Entität nicht nur vom Prozess formaliter erfasst wird, sondern dass sie im Laufe der Integration der erfassten Seienden zur Einheit des Prozesses formaliter die Bedeutung bewahrt, die sie im erfassten Prozess objectivé hatte. Vorausgreifend sei hier gesagt, dass in den Prozess zunächst aufgenommene ›eternal objects‹ in einem späteren Stadium ausgeschlossen werden können. Dass dies möglich ist, hängt mit zwei weiteren Arten von ›prehensions‹ zusammen. Neben der zentralen Unterteilung in physische und begriffliche ›prehensions‹ unterscheidet Whitehead auch zwischen den positiven ›prehensions‹, die er auch »feelings« nennt, und den negativen (PR 41, 23/dt. 94, 66; Cat. XII Expl.). Die positive Erfassung, das »Fühlen« einer gegebenen Entität, bedeutet ihren Einschluss in das Wesen der prehendierenden wirklichen Entität (ebenda). Allen ›actual entities‹ ist gemeinsam, dass jede von ihnen ihre gesamte ›actual world‹ positiv prehendiert; hingegen werden nicht alle ›eternal objects‹ ihres ›universe‹ positiv prehendiert, sondern nur ein von den Phasen des Prozesses positiv selektierter Teil wird in das Wesen der entstehenden Entität integriert (PR 219/dt. 401). Die Unterscheidung zwischen der ›actual world‹ und dem ›universe‹ eines Prozesses ist also keine akademische Feinheit. Ein Schöpfungsprozess ist gleichermaßen ein Prozess des Einbeziehens und des Ausschließens (RM 113/dt. 86). Die Kreativität des Prozesses entfaltet sich aber vor allem durch die selektierende Aktivität des negativen Prehendierens, die während der Synthese
178
Dies wird im Abschnitt 3.4 dieses Kapitels gezeigt.
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stattfindet, denn sie (die selektierende Aktivität) strukturiert aus der potentiellen Kausalität der Vergangenheit aktuelle Wirkursachen. Die Basis dieser schöpferischen Auswahl ist die unmittelbare positive physische ›prehension‹ des Quantums, das die erste Phase des Prozesses ausmacht. Dass dieses erste Ergreifen der vorhandenen Inhalte nichts ausschließen kann, ist evident, denn jeder Ausschluss eines Inhalts setzt zunächst seine Registrierung voraus. Deshalb kann es keine negativen physischen ›prehensions‹ geben. Whitehead betont, dass jede ›actual entity‹ eine »vollkommen bestimmte Bindung« (perfectly definite bond) zu jedem Inhalt ihres ›universe‹ hat (PR 41/dt. 94). Die Bestimmtheit der Bindung zu einem konkreten Inhalt besteht in der Art seiner ›prehension‹, die festlegt, ob dieser ein- oder ausgeschlossen wird (ebenda). Insofern drückt auch eine negative ›prehension‹ eine Bindung aus, denn auch sie wird durch ihre ›subjective form‹ erlebt (PR 41, 23 f./dt. 95, 66 f.; Cat. XII Expl.). Ein ausgeschlossenes ›eternal object‹ prägt dem Prozess den emotionalen Ton seines Ausschlusses auf. Alle Entitäten – wirkliche, abstrakte und die aus ihnen bestehenden ›nexūs‹ und ›propositions‹ –, die der Prozess positiv oder negativ prehendiert, werden als »Objekte« der neuen Entität bezeichnet. 179 Der Objekt-Begriff bezieht sich also nicht primär auf das Gegenüber-Sein einer Entität, sondern allem voran auf die Möglichkeit der endgültigen Integration des Gegenübers ins Wesen des neuen wirklich Seienden. 2.2.c.5 Physischer und mentaler Pol Für das Verständnis der Gattung der ›actual entities‹ sind die ›prehensions‹ die wichtigsten Entitäten, da sie die Aufnahme und Integration der vorgefundenen Entitäten regeln. Whitehead bringt dies zum Ausdruck, indem er die Analyse einer ›actual entity‹ mit der Analyse ihrer ›prehensions‹ gleichsetzt (PR 23/dt. 66, Cat. X Expl.). Dies hat zur Folge, dass die physischen und begrifflichen ›prehensions‹ sich in
179 Whitehead versteht als »Objekte« einer ›actual entity‹ alle Entitäten, die irgendetwas zu ihrem Prozess beitragen (PR 52/dt. 113 f.). In Adventures of Ideas wird jede Entität, die eine ›prehension‹ »provoziert« (provokes) – Whitehead unterscheidet hier nicht zwischen positiven und negativen, physischen und begrifflichen ›prehensions‹ –, als »prehended object« bezeichnet (176/dt. 327). Alles, was in einem Subjekt eine bestimmte Aktivität, wozu auch eine negative ›prehension‹ gehört, provoziert, ist ein Objekt dieses Subjekts (ebenda).
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einer physisch-mentalen Bipolarität der Beschaffenheit jeder ›actual entity‹ widerspiegeln. 180 Der physische Pol einer ›actual entity‹ ist der durch physische ›prehensions‹ vollbrachte Akt der Aufnahme der ›actual world‹, d. h. der Vergangenheit (PR 239, 277/dt. 438, 504). Der mentale oder begriffliche Pol ergänzt den die Raumzeit-Daten der Vergangenheit ohne Ausnahme erfassenden physischen Pol, indem er die Zukunft jenseits des Prozesses formaliter antizipiert. Er ist die »Verbindung von Rezeption und Antizipation« (a compound of reception and anticipation) in ein neues objektives Faktum für ›actual occasions‹, die aus der Perspektive des neuen Prozesses zukünftig sind (AI 275/dt. 479, TIME 243). Der mentale Pol führt die Subjektivität als den eigentlichen determinierenden Faktor der ›actual entity‹ formaliter ein. »The mental pole introduces the subject as a determinant of its own concrescence. The mental pole is the subject determining its own ideal of itself […]« (PR 248/dt. 453, Hervorhebung von S. K.).
Aus der erfassten Vergangenheit konstruiert er durch Selektion die Struktur der tatsächlichen Wirkursachen, d. h. der nicht nur aufgenommenen, sondern tatsächlich integrierten Fakten der Vergangenheit. Die erste Funktion des mentalen oder begrifflichen Poles ist die Registrierung des physischen Poles. 181 Erst der mentale Pol der werdenden Entität macht aus dem Gegebenen ein Objekt des Subjektes. Die Registrierung des physischen Poles kommt durch die positiven begrifflichen ›prehensions‹ der ›eternal objects‹, die in den ›actual entities‹ des physischen Poles verwirklicht sind, zustande (PR 248/dt. 453). In der Beziehung des physischen zum begrifflichen Pol zeigt sich eine Parallelität, die eindeutig der Beziehung zwischen Ästhetik und Logik bzw. Sinnlichkeit und Verstand in Kants Kritik der reinen Vernunft entspricht: »Unsere Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Rezeptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe) […] Anschauung und Begriffe ma180 »[A]n actual entity is essentially dipolar, with its physical and mental poles« (PR 239/dt. 438). Vgl. auch: PR 45, 108, 244, 345/dt. 101, 210, 447, 616. 181 »The mental pole originates as the conceptual counterpart of operations in the physical pole. The two poles are inseparable in their origination. The mental pole starts with the conceptual registration of the physical pole […]« (PR 248/dt. 453).
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chen also die Elemente aller unsrer Erkenntnis aus, so daß weder Begriffe, ohne ihnen auf einige Art korrespondierende Anschauung, noch Anschauung ohne Begriffe, ein Erkenntnis abgeben können. […] Wollen wir die Rezeptivität unseres Gemüts, Vorstellungen zu empfangen […] Sinnlichkeit nennen: so ist dagegen […] die Spontaneität des Erkenntnisses, der Verstand […] Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer und Anschauungen ohne Begriffe sind blind« (1990, 97 (B74, 75/A 50, 51)).
Die beachtenswerte Gemeinsamkeit beider Denker besteht nicht nur in der unlösbaren Verbindung von Sinnlichkeit und Begrifflichkeit, die sich dadurch zeigt, dass sie in der Wurzel jeder noch so einfachen Erfahrung einen mit Begriffen operierenden Akt sehen, womit sie Empirismus und Rationalismus miteinander versöhnen. Ihre wichtigste Gemeinsamkeit besteht vor allem in der Verknüpfung der Spontaneität eines solchen Aktes an Begrifflichkeit: Abstrakte Entitäten sind die unverzichtbaren Mittel der spontanen Synthese von Mannigfaltigkeit in Einheit, die das Werk des Verstandes und des begrifflichen oder mentalen Poles ist (ebenda 110 (B94/A69) und PR 248/dt. 453). Die Rolle dieses Poles erschöpft sich also nicht im passiven Erfahren des Aufgenommenen, sondern in seiner spontanen, d. h. intern bestimmten, Integration zu einer neuen Einheit, die nicht eine Wiedergabe der rezipierten Einheit zu sein braucht. So wird bei einem menschlichen Wahrnehmungsprozess mit der physischen ›prehension‹ eines kreisförmigen Tisches auf jeden Fall auch die Idee des Kreises prehendiert (ohne bewusst werden zu müssen). Die Funktion des mentalen Poles erschöpft sich aber nicht notwendig in der Reproduktion des physischen Poles. Der begriffliche Pol kann, je nach der Erlebensintensität des wirklich Seienden formaliter, ›eternal objects‹ beinhalten, die nicht in seiner ›actual world‹ enthalten sind, z. B. der Ellipse, womit die Einführung von etwas grundsätzlich Neuem angeregt wird. Dies kann aber auch schon durch ein Umordnen der allein durch die physischen ›prehensions‹ der ›actual world‹ aufgenommenen ›eternal objects‹ geschehen, wie es noch erläutert wird. 182 Denkt man an die (im letzten Abschnitt erwähnte) Nähe der Verbindung von Materie und Form der Erkenntnis bei Kant (1990, 127 (B119, 120/A87)) mit der Verbindung von physischen und begrifflichen ›prehensions‹ bei Whitehead, so sieht man, dass auch Letzterer im Kielwasser von Aristoteles ›segelt‹ – freilich mit dem Wind einer 182
Siehe Abschn. 2.3.c.2 dieses Kapitels.
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anderen Ontologie, die der Bestimmung der Beziehung des vom Griechen eingeführten Paares von Materie und Form besondere Randbedingungen setzt. Whitehead wird den ersten zwei der folgenden Sätze vorbehaltlos zustimmen, aber den letzten auf eine für Aristoteles überraschende Weise neu interpretieren: »[U]nmöglich kann [etwas] ins Sein getreten sein, wenn vorher nichts schon vorläge. Also, daß irgendein Teilstück aus Notwendigkeit je und je schon vorliegen muß, liegt auf der Hand. Die Materie [ist so] ein Teilstück – sie liegt darin [im Werdenden] schon vor, und sie ist es, an der das Werden sich vollzieht.« (Metaphysik VII, 7, 1032 b 31–33; letzte Einfügung von S. K.).
Das physisch Prehendierte entspricht nicht nur der Aristotelischen Wirkursache (in dem Maße, in dem es nicht von der Integration ausgeschlossen wird), sondern auch dem Materie-Verständnis bzw. der ›causa materialis‹ des Griechen. Die ›Materie‹ ist tatsächlich in dem physischen Pol des wirklich Seienden formaliter, allerdings in einem Sinne von ›in‹, der mit der quantenphysikalischen Vorstellung der nichtlokalen Bezugnahme zu vergleichen ist, wie es gleich erläutert wird, und somit jenseits des antiken Verständnisses von lokalisierter Stofflichkeit steht. Der Whitehead’sche Prozess kann nicht Materie in sich hineintragen. Die erfassten Prozesse werden nicht vom elementaren Organismus ›verzehrt‹. Es findet keine Umstrukturierung von materiellen Teilen eines erfassten wirklich Seienden statt, denn erstens ist jede wirkliche Entität auch bezüglich ihrer erfassbaren Erscheinung als raumzeitliches Datum ein wahres Atom, folglich unzerlegbar, und zweitens lässt sie wie schon erläutert nach ihrer Vollendung keine Veränderung zu. Nur abstrakte Entitäten – d. h. nur ideelle ›Teile‹ und keine aus der raumzeitlichen Manifestation der erfassten wirklichen Entität ›abgebrochene‹ – können in die neue Synthese integriert werden. Das sich selbst bestimmende wirklich Seiende ist, Aristotelisch gesprochen, eine sich selbst formende ›energeia‹. Zwecks dieser Formung kann es nur ›dynameis‹ (nicht im Sinne von ›Kräften‹, sondern von ›Potentialitäten‹ bzw. ›ideellen Formen‹) aufnehmen, aber keine anderen ›energeiai‹. Denn Letztere wären als solche aktiv formende Faktoren und keine passiven Möglichkeiten und würden somit wie Fremdkörper in der neuen ›energeia‹ formaliter wirken. Es ist wichtig, Folgendes zu verstehen: Die Logik des Whitehead’schen Prozesses erlaubt nicht die Transformation der gesamten Manifestation einer wirklichen Entität, sondern nur einer von 500 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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dieser abstrahierten ideellen Form. Die Integration einer prehendierten ›actual entity‹ objectivé findet durch die transformative Integration einer sie vertretenden zusammengesetzten abstrakten Entität statt. Andernfalls gäbe es nur eine Art von ›prehensions‹, d. h. nur physische ›prehensions‹, und sie wären lediglich ein Transport von Materie durch die Raumzeit. Die aus der Struktur der erfassten ›energeiai‹ (›actual occasions‹ objectivé) abstrahierten ideellen Formen bilden alle zusammen das abstrakte Wesen der neuen ›actual entity‹ formaliter. Es ist das Fundament der Subjektivität des neuen Prozesses, denn es macht den ersten Teil seines mentalen Pols aus und wird im Laufe der Synthese umgewandelt, wenn letztere nicht in einer trivialen Wiederholung der erfassten Fakten besteht. Somit geht das Aristotelische ›Form-Materie‹-Paar in den Whitehead’schen Paaren ›begrifflicher-physischer Pol‹ (bzw. ›begriffliche-physische prehensions‹) und ›eternal objects-actual entities objectivé‹ auf. Mit gewissen Einschränkungen entsprechen die Aristotelischen ›causa efficiens‹ und ›causa-materialis‹ dem physischen Pol und die ›causa formalis‹ und ›causa finalis‹ dem mentalen Pol. 2.2.c.6 Jenseits der einfachen Lokalisierung Die Theorie der ›prehensions‹ ist das Herz der organischen Philosophie. Sie ist das Fundament der Lehre der internen Relationalität, des wesenhaften Ineinanders der wirklich Seienden mit der Whitehead die im 17. Jahrhundert sehr mächtig gewordene und bis zu seiner Zeit relevant gebliebene Idee des Materials als eine substanzphilosophische Konzeption der Körperlichkeit, die nur externe Relationen zulässt, zurückweist. Diese Reduktion von Materialität auf Stofflichkeit fasst Whitehead unter dem Begriff der »einfachen Lokalisierung«, der »simple location« zusammen: »What I mean by matter, or material, is anything which has this property of simple location. By simple location I mean one major characteristic which refers equally both to space and to time […] The characteristic common both to space and time is that material can be said to be here in space and here in time, or here in space-time, in a perfectly definite sense which does not require for its explanation any reference to other regions of space-time« (SMW 61 f./dt. 64).
Ein »Materiestück« (bit of matter) wird als ein einfach lokalisiertes gedacht, wenn seine raumzeitliche Existenz nur unter Angabe seiner eigenen begrenzten Raumzeit-Region, d. h. ohne eine »wesentliche 501 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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Bezugnahme« (essential reference) zu anderen räumlichen und zeitlichen Regionen, beschrieben wird (SMW 72/dt. 74). Die Konzeption der ›prehensions‹ als gerichtete, wesensstiftende Einschlüsse anderer Entitäten richtet sich genau gegen dieses naturphilosophische Vorurteil: »We can substitute the concept, that the realisation is a gathering of things into the unity of a prehension; […] This unity of a prehension defines itself as a here and a now, and the things so gathered into the grasped unity have essential reference to other places and other times« (SMW 87/dt. 87).
Anders ausgedrückt: »[T]here is a prehension, here in this place, of things which have a reference to other places« (SMW 86/dt. 87).
Aufgrund ihrer erfassenden Gerichtetheit auf eine externe Welt, d. h. ihrer Brückenfunktion zwischen dem sich formenden Hier und dem erfassten Dort, werden die positiven ›prehensions‹, die ›feelings‹, auch »Vektoren« genannt. 183 Wie schon erläutert, wird bei einer ›prehension‹ nichts Materielles von der prehendierten zur prehendierenden ›actual entity‹ transportiert, was eine gewisse Zeit für die Durchquerung des Raumes benötigen würde. Die ›prehensions‹ sind auch nicht als physikalische Felder zu begreifen, die eine Wirkung übertragen. Die Weiterleitung physikalischer Energie ist nicht die Basis prehensiver Relationen; es ist genau umgekehrt: Energie wird durch Felder und Wellen übertragen, die das makrophysikalische Resultat der Vektorialität physischer ›prehesions‹ sind (PR 116/dt. 224). Jegliches klassisch-physikalisch reduzierte Verständnis der unmittelbaren ›prehension‹ eines Raumzeit-Quantums muss ihr die Durchwanderung des Raumes mit einer endlichen Geschwindigkeit zuschreiben und sie den trennenden Begrenzungen der Raumzeit fälschlicherweise unterwerfen. 184 Die ›pre»Feelings are ›vectors‹ ; for they feel what is there and transform it into what is here« (PR 87/dt. 173). Vgl. auch: PR 238/dt. 436. 184 Würde man dies tun, so bräuchte man ein physisches Seiendes, das die räumliche Distanz zwischen den prehensiv verbundenen ›actual entities‹ in endlicher Zeit durchwandert. Dafür kommen aber keine Entitäten der organischen Philosophie in Frage. Bestimmte Arten von ›nexūs‹, die ›enduring objects‹ und die ›corpuscular societies‹, können zwar ihre raumzeitlichen Positionen wechseln (PR 35/dt. 86) aber die Bewegungen dieser ›nexūs‹ resultieren aus der Serie aufeinander abgestimmter Manifestationen von ›actual occasions‹, die eine kohärente Ganzheit über viele raumzeitliche Positionen hinweg aufrechterhält (Körperlichkeit). Sie setzen folglich voraus, 183
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hensions‹ sind meta-physische Entitäten und können folglich nicht beobachtet werden. Dadurch werden auch die prehendierenden Entitäten, d. h. die sich selbst bestimmenden ›actual entities‹, zu metaphysischen wirklichen Entitäten erklärt, und dürfen nicht als raumzeitlich lokalisierte materielle Elemente behandelt werden. Das entspricht vollkommen der in der vorliegenden Untersuchung vorgenommenen Lockerung der Beziehung zwischen wirklichen Entitäten und materiellen Elementen. 185 Die meta-physische Gerichtetheit der ›prehensions‹ lässt die antike ›Sehstrahltheorie‹ in einer neuen Perspektive erscheinen. Dieser vermutlich von Pythagoras begründeten und auch von Empedokles, Euklid und Ptolemäus vertretenen Lehre zufolge richtet sich ein vom Auge ausgehender Lichtstrahl auf die Welt und macht die Gegenstände sichtbar. Ausgehend von der Vektorialität der Erfassungen kann die Idee des ›Beleuchtens‹ der Objekte von materialistischen Vorstellungen befreit und ein anderes ›Licht‹ eingeführt werden, das nicht physischer Natur ist. Das Auge würde dann die Sonne sehen, nicht weil ihr Licht in dieses eindringt, sondern weil sein ›Licht‹ sie wesenhaft ergreift und dadurch selbst sonnenhaft wird – wie der große Dichter sagt. Physisch manifeste Kraftfelder und Teilchen sind Resultate der Prehensivität und nicht ihre Vermittler. Aus diesem Grund darf man die ›prehensions‹ weder der Lichtgeschwindigkeit als oberster Geschwindigkeit der Ausbreitung von Signalen noch irgendeiner anderen Geschwindigkeit der Übertragung kausaler Wirkungen unterwerfen. Dies würde, nebenbei bemerkt, das ontologische Prinzip verletzen, dem zufolge die Gründe für die Begrenzung solcher Geschwindigkeiten in der Beschaffenheit von ›actual occasions‹ zu suchen sind und nicht umgekehrt. Es ist nicht die Beschaffenheit der ›actual occasions‹ – und mit ihnen auch die der ›prehensions‹ – auf der Basis von Licht- bzw. Kausalkegeln zu begründen, sondern genau umgekehrt. 186 Diese kritische Haltung gegenüber der Einstein’schen Relativitätstheorie wird auch von der längst zum Alltag der Theoretischen Physik gehörenden Idee, dass zwischen quantenphysikalischen Ereigdass ›prehensions‹ stattfinden, weshalb sie die erfassende Aktivität nicht selbst übernehmen können. 185 Siehe Abschn. 3.2.b.3 von Kap. II. 186 Siehe Abschn. 2.4.a dieses Kapitels.
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nissen Korrelationen bestehen können, die aus der Sicht der Relativitätstheorie ausgeschlossen sind, unterstützt. Solche Versuche, die 1970 von John Clauser und Stuart Freedman, 1980 von Alan Aspect, 1997 von Anton Zeilinger und Dirk Bouwmeester, sowie auch das faszinierende und inzwischen sehr viel diskutierte »Experiment der verzögerten Entscheidung« (Wheeler 1984) belegen eindeutig die Existenz von Korrelationen zwischen quantenphysikalischen Messprozessen, die Einstein in einem 1935 mit Boris Podolsky und Nathan Rosen verfassten Artikel, in dem das berühmte EPR-Paradoxon vorgestellt wurde, als »spooky interactions at a distance« verworfen hatte. In der Sprache der organischen Philosophie lässt sich diese entschieden antilokalistische Haltung wie folgt ausdrücken: »The interconnectedness is such that if one particle is measured, the original partner ›knows‹, or ›prehends‹ the measurement and changes itself accordingly […] The empirical fact is that the world is nonlocal: that is, events in a certain space-time region can indeed affect those in another space-time region and not be constrained by the demand of the theory of relativity that no signal may exceed the velocity of light. […] Such interconnectedness is a fundamental concept of process philosophy« (Jungerman 2000, 86 f.; Hervorhebungen von S. K.).
Es ist also legitim, davon auszugehen, dass der Teil der ›actual world‹, der während des Werdens der neuen ›actual entity‹ noch da ist, also das unmittelbar prehendierte Raumzeit-Quantum, nichtlokal – im strengen Sinne der modernen Quantentheorie – erfasst bzw. prehendiert wird. Dass die kausale Übertragung von Energie und Information mit endlicher Geschwindigkeit stattfindet, wovon auch die oben genannten Physiker ausgehen (Zeilinger 2003, 127), kann im Rahmen der organischen Philosophie erklärt werden. 187 Es ist heute eine Selbstverständlichkeit, dass in die Aktualisierung eines Elementarteilchens Ereignisse eingehen, die nach den Prinzipien der Relativitätstheorie nicht hätten relevant sein dürfen. Zu Whiteheads Zeiten war dies jedoch keineswegs der Fall. Deswegen sollte die Genese der Prehensionen-Theorie nicht von modernen quantentheoretischen Erkenntnissen ausgehend nachvollzogen werden. Dies wäre auch insofern unangemessen, da Whiteheads Vorstellung von nicht einfacher Lokalisierung nichts mit der Endlichkeit
187
Das wird im Abschn. 2.4.a dieses Kapitels erläutert. Vgl. auch: Jung 1980, 80 f.
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oder Unendlichkeit der Ausbreitungsgeschwindigkeit von Wirkungen energetisch-materieller oder informatorischer Art und mit den entsprechenden Konzepten von relativer oder absoluter Gleichzeitigkeit und Raumzeit zu tun hat, wie er selbst betont (SMW 72, 62/dt. 74, 64). Seine Vorstellung von nicht einfacher Lokalisierung hängt vielmehr mit der Idee des Aufnehmens und Integrierens der Welt in das Wesen des werdenden wirklich Seienden zusammen – eine Idee, die unabhängig von Überlegungen über Newton’sche, Einstein’sche oder quantentheoretische Gleichzeitigkeit verstanden werden kann. Man beachte schließlich, wie perfekt Newton seine Konzeption der sich augenblicklich ausbreitenden gravitativen Kraft, der nichtlokalen Fernwirkung, mit seiner Vorstellung von einfach lokalisierten schweren Massen harmoniert. Für den Protest Whiteheads gegen die einfache Lokalisierung ist nicht von Bedeutung, dass er das EPRParadoxon, den (ebenfalls 1935) von Schrödinger vorgeschlagenen zentralen Begriff der ›Verschränkung‹ und das Gedankenexperiment der ›Schrödinger-Katze‹, die für die uns geläufige quantenphysikalische Vorstellung von Nichtlokalität fundamental sind, nicht kennt. Whitehead geht es, wie gesagt, um etwas anderes – um wesensstiftende Interdependenz: Ein Elektron in einem Atom prehendiert den Kern samt seiner Ladung, Masse usw. und unterscheidet sich, wegen der Beschaffenheit seiner ›actual world‹, von Elektronen, die sich im Metall, im Vakuum oder in einem mit geistigen Funktionen begabten Lebewesen aktualisieren: »In the case of an animal, the mental states enter into the plan of the total organism and thus modify the plans of the successive subordinate organisms until the ultimate smallest organisms, such as electrons, are reached. Thus an electron within a living body is different from an electron outside it, by reason of the plan of the body. The electron blindly runs either within or without the body; but it runs within the body in accordance with its character within the body; that is to say, in accordance with the general plan of the body, and this plan includes the mental state« (SMW 99/dt. 98, Hervorhebung von S. K.).
Aus der Sicht eines modernen Quantenphysikers lässt sich die interne Relationalität des Elektrons zu seiner Umgebung wie folgt ausdrücken: »In process philosophy we may consider the electron at any given moment as an occasion of experience, hence an acting entity. It prehends its environment, the protonic charge, and shapes its spatial probability distribution in
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IV · Die Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads und die Ontogenese
a characteristic way. The characteristic of the electron is different when it is free or in another atom, or in metal« (Jungerman 2000, 92; Hervorhebung von S. K.).
Dieses Zitat verleiht der Whitehead’schen Intuition Ausdruck, dass das Wesen des Elektrons sogar vom mentalen Zustand des Lebewesens abhängig ist. Davon ausgehend, lässt sich vorstellen, dass die geistige Aktivität durch die Beeinflussung der elektronischen Wahrscheinlichkeitswelle in die Dynamik chemischer Reaktionen, die bekanntlich auf Elektronenaustausch basieren, eingreift. Mit der Konzeption der ›prehensions‹ grenzt sich Whitehead vom Weltbild der klassischen Physik (von Newton bis Einstein) entschieden ab. Dieses Weltbild lebt von der Idee, dass ein wirklich Seiendes nur in einem begrenzten Irgendwo ist, 188 dort Wirkungen erleidet und von dort Wirkungen verursacht. Für diese Wissenschaftlichkeit ist die Reduktion der wirklichen Entitäten auf einfach lokalisierte materielle Elemente überlebenswichtig. 189 Insofern sind die modernen und viel zitierten quantenphysikalischen Experimente, mit denen die Nichtlokalität mikrophysikalischer Entitäten demonstriert wird, in einem genuin Whitehead’schen Sinne Hinweise für die nicht einfach lokalisierte Prehensivität der wirklich Seienden. Die scharfe Kritik Whiteheads an der Idee der einfachen Lokalität betrifft aber gleichermaßen die für den modernen biosystemischen Emergentismus grundlegenden Vorstellungen der einfachen Lokalisierung der wirklichen Entitäten im gewöhnlichen 3D-Raum und in den abstrakten Zustandsräumen. 190 Zwischen der Vorstellung eines Lebewesens als dynamisches physikochemisches System und der Whitehead’schen Konzeption von nicht einfacher Lokalisierung und Prehensivität befindet sich eine tiefe naturphilosophische Kluft, deren beträchtliche Breite in den grundsätzlich verschiedenen Konzeptionen von Materialität besteht. Nur ein intellektueller Quantensprung führt von der einen Materie-Ontologie in die andere. Die für die biosystemische Annäherung fundamentalen Überzeugungen, dass eine chemische Substanz in ihrer Genese nur durch die organismische Ganzheit zu verstehen ist und dass Letztere als emergentes Geschehen betrachtet werden muss, sind weder im Sinne der quantentheoreti188 Anders ausgedrückt: »Whatever is in space is simpliciter in some definite portion of space« (SMW 65/dt. 67). 189 Siehe Abschn. 3.2.a.1 von Kap. II. 190 Siehe Abschn. 3.2.b.2 von Kap. II.
506 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Das kosmologische Gedankenschema
schen Nichtlokalität noch der Whitehead’schen Prehensivität gedacht worden. Denn Letzterer zufolge ist eine chemische Verbindung zu jedem Zeitpunkt – d. h. auch wenn sie nicht mit anderen Verbindungen chemisch interagiert – mit anderen Bestandteilen des Organismus, zu denen sie keinen direkten räumlichen Kontakt aufweist, und darüber hinaus mit dem physikalischen Kosmos, wesenhaft verbunden. Nur dank dieser nicht einfach lokalisierten internen Relationalität kann sie, aus Whitehead’scher Sicht, in der Zeit zwischen zwei Reaktionen weiter existieren. Und mehr noch: Während dieser Zwischenzeit kann sie bezüglich ihrer Reaktionsfähigkeit entscheidend beeinflusst werden. Etwas Ähnliches wird von der biosystemisch-emergentistischen Beschreibung offensichtlich nicht gefordert. Die Idee der prehensiven Wesensinterdependenz transzendiert entscheidend die Metaphysik des nichtlinearen physikochemischen Holismus. Verführt von Sprüchen der Art »das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile« übersehen leider nicht wenige Sympathisanten der Prozessphilosophie allzu leicht, dass die Intention Whiteheads in etwas viel Revolutionärerem, unser Weltbild sehr viel tiefer Umwälzendem besteht, als den nicht linearen Systemtheorien. 2.2.c.7 Prehensivität und Superjektivität Die Hauptschwierigkeit, gegen die jede abendländische Prozessphilosophie sich zu behaupten hat, ist die Subjekt-Prädikat-Struktur der indoeuropäischen Sprachen. Im Falle der organischen Philosophie verführt sie stark dazu, die ›prehensions‹ für die prädikativen Bestimmungen eines Hypokeimenon, eines Zugrundeliegenden, zu sehen, was die zentrale Idee Whiteheads ganz und gar verfehlt. Die meines Erachtens größte Herausforderung der organischen Philosophie besteht darin, das Subjekt zugleich als Quelle und Resultat seiner prehensions zu denken und zwar ohne bei solchen Konstruktionen, wie dem systemtheoretisch-kybernetischen Modell der operationalen Geschlossenheit (Rückkopplung) von zeitlich aufeinander folgenden Ursache-Wirkung-Verhältnissen, oder bei etwas Ähnlichem, Zuflucht zu suchen. Denn eine ›actual entity‹ ist weder zeitlich, im Sinne eines abstrakt-technischen Nacheinanders von Zeitpunkten, noch kann sie sich verändern. Wie in der Leibniz’schen Philosophie ist das Subjekt nicht von seinen Relationen zu trennen; aber anders als in der monadologischen Substanzontologie sind diese ihm nicht eingegeben. Besonders er507 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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hellend für Whiteheads Subjekt-Verständnis ist, dass er den Descartes’schen Ausgangspunkt, dass ein denkendes Subjekt seinen Gedanken vorausgeht, gezielt umkehrt: »Descartes in his own philosophy conceives the thinker as creating the occasional thought. The philosophy of organism inverts the order, and conceives the thought as a constituent operation in the creation of the occasional thinker. The thinker is the final end whereby there is the thought. In this inversion we have the final contrast between a philosophy of substance and a philosophy of organism« (PR 151/dt. 283, Hervorhebung von S. K.).
Anders ausgedrückt: »The philosophies of substance presuppose a subject which then encounters a datum, and then reacts to the datum. The philosophy of organism presupposes a datum which is met with feelings, and progressively attains the unity of a subject. But with this doctrine, ›superject‹ would be a better term than ›subject‹« (PR 155/dt. 290, Hervorhebung von S. K.).
Die ›fühlende‹, d. h. positiv prehendierende, wirkliche Entität ist also Ziel und Zweck der Akte des ›Fühlens‹ und nicht ihr zugrundeliegender Träger. Im scharfen Gegensatz zur Substanzontologie formt das sich selbst bestimmende Subjekt allmählich sein Wesen, mittels der Integration der positiv prehendierten (wirklichen und abstrakten) Entitäten, zu einer Einheit. Es ist offensichtlich, dass dem zweckmäßigen Streben der Prozesse nicht mit einem entelechischen Finalismus, der nach einem substanzontologisch gedachten Subjekt verlangt, beizukommen ist. Die ›actual entity‹ ist nur dann als ein sich entwickelndes Subjekt adäquat zu begreifen, wenn sie auch als ein Hyperkeimenon (Superjekt), ein ›Überliegendes‹, begriffen wird. Denn sie entsteht als eine sich allmählich herauskristallisierende Konvergenz von prehensiv entstandenen Integrationen der physischen und abstrakten Realität, die schon vom Anfang an mit dem Ziel ihrer Verschmelzung zu einer zu erreichenden Erlebenseinheit zustande kommen. Machen die subjektiven Formen des Selbsterlebens einer ›actual entity‹ ihr in re aus, so ist ihre Superjektivität als ihr zielgerichtetes Streben nach einer bestimmten Vereinheitlichung ein zu erreichendes post rem (PR 233/dt. 426). Die Superjektivität eines Prozesses besteht in seiner Gerichtetheit jenseits seiner selbst, da er Objekt anderer wirklich Seiender wird – Selbsttranszendenz ist jedem wirklich Seienden wesenhaft (AI 292/dt. 505). Der superjektive Aspekt des Prozesses prägt sich seinem innerlich angestrebten Wachstum, seiner 508 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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Subjektivität, auf; das bringt Whitehead, der ein gutes Verhältnis zur metaphysischen Tradition pflegt, durch einen Rückgriff auf Spinozas causa sui zum Ausdruck. Die ›actual entity‹ ist die Ursache ihrer selbst (PR 222/dt. 405, RM 101/dt. 78), wenn auch nicht im Sinne einer vollkommen autarken Selbstverursachung, da sie wirkliche und abstrakte Gegebenheiten voraussetzt. Als Subjekt ist die ›actual entity‹ ihre eigene Schöpferin und als Superjekt ihr eigenes Geschöpf. Es handelt sich also offenbar um zwei unlösbar zusammengehörende Aspekte, 191 was bedeutet, dass die Subjektivität eines Prozesses immer seine Superjektivität einschließt. Das Subjekt-Sein des Prozesses besteht im Erstreben und Erleben seiner Selbstformung – das, was Bergson mit dem heterogenen Erlebenskontinuum der ›durée‹ zum Ausdruck bringt. Sehr treffend betont Ivor Leclerc, dass der superjektive Aspekt des Prozesses in seinem subjektiven Aspekt enthalten ist. 192 Das dürfte auch der Grund sein, warum Whitehead den ›subject-superject‹-Begriff immer als ›subject‹ und nie als ›superject‹ abkürzt. Mit der Einführung des Subjekt-Superjekt-Schemas überwindet Whitehead die klassische Lehre der Subjekt-Prädikat-Struktur (PR 222/dt. 406). 193 Da es sich bei den Prozessen nicht um abstrakt-logische, sondern um konkret erlebende Entitäten handelt, verweist der Subjekt-Begriff nicht auf ein logisches Zugrundeliegendes, sondern auf die Unmittelbarkeit des Erlebens der prehendierenden Entitäten, die folglich weder vor noch nach, sondern mit ihren ›prehensions‹ und erst durch sie entstehen. Das hat wichtige Konsequenzen für Whiteheads Verständnis von Lebensvorgängen, phylo- wie auch ontogenetischer Art. Denn einerseits ermöglicht es ihm, die Aristotelische Biologie und den Vitalismus weit hinter sich zu lassen, erlaubt ihm aber zugleich, der Idee der Teleologie bzw. finalen Kausalität einen neuen Ausdruck zu geben, wie es noch zu zeigen sein wird.
Whitehead wörtlich: »[…] ›subject‹ is always to be construed as an abbreviation of ›subject-superject‹« (PR 29/dt. 76). 192 »Thus the actual entity is at once subject of its experiences, and the outcome or superject of its experiences. However, the superject is not other than the subject; it is the subject as conceived in its completion. The subject, on the other hand, is the whole, including the superject, conceived as in the process of its activity« (Leclerc 1975, 170; Hervorhebung von S. K.). 193 Vgl. auch: Wolf-Gazo 1980, 18. 191
509 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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2.2.d
›Subjective form‹ : die private Seite der ›prehension‹
Jede ›prehension‹ hat eine öffentliche Seite, ihre Objekte, und eine private, ihre ›subjective form‹ (PR 290/dt. 525). Diese besteht in der Art und Weise, mit der das Subjekt das konkrete wirkliche oder abstrakte Objekt prehendiert (PR 23/dt. 66, Cat. XI Expl.). Die ›subjective form‹ macht einen wesentlichen Faktor einer ›prehension‹ aus, denn sie ist ihr »emotionaler Ton« (affective tone) (AI 176/dt. 327) – mit anderen Worten: Sie ist ihre Erlebensform. Aus den ›subjective forms‹ aller ›prehensions‹ setzt sich der »emotionale Komplex« (emotional complex) zusammen, der die einheitliche ›subjective form‹ der vollendeten ›actual occasion‹ ausmacht (PR 41/dt. 95). 194 Er ist ein wichtiger Bestandteil des Wesens der ›actual occasion‹. Die ›subjective forms‹ der einzelnen ›prehensions‹ entstehen nicht isoliert voneinander, sondern empfinden sich gegenseitig (PR 42/dt. 95). 195 Das ist direkte Folge der Einheitlichkeit des Prozesses, da er als ein Subjekt alle seine ›prehensions‹ hervorbringt und all ihre ›subjective forms‹ erlebt. Jede ›subjective form‹ bildet sich als ein innerer Aspekt einer ›prehension‹ heraus, der den Weg der Herauskristallisierung dieser ›prehension‹ begleitet. Sie korrespondiert mit ihrer Geschichte, d. h. der Suche nach ihrem Ziel, den zu überwindenden Hindernissen und den Entscheidungen des Subjekts, die zur Beseitigung ihrer Unbestimmtheiten geführt haben (PR 232/dt. 424 f.). Die Beschaffenheit einer ›subjective form‹ entscheidet über die weitere Integration des empfundenen Inhalts oder sein Verwerfen. Dafür ist es nicht nötig, dass sie von Bewusstsein begleitet wird (PR 23/dt. 66, Cat. XI Expl.). Bewusstsein ist ein besonderes Element der ›subjective forms‹ einiger hoch entwickelter positiver ›prehensions‹ (PR 53/dt. 115). Aber alle Prozesse sind Erfahrungskomplexe. Whitehead weist bei seiner Begründung der Subjekt-Konzeption auf prozessontologischer Basis dem Begriff der Erfahrung eine viel größere Rolle als dem des Bewusstseins zu. Die »subjektive Intensität« (subjective intensity) bzw. der Erfahrungsreichtum eines Prozesses steigt mit der Zunahme des Kontrastreichtums der Entscheidung, die er darstellt. Je größer die Anzahl der verworfenen Möglichkeiten eines Prozesses ist, d. h. je intensiver die betriebene Selektion, desto
194 195
Vgl. auch: PR 235/dt. 430, AI 254 /dt. 444, Lango 1972, 40. Vgl auch: PR 221, 235, 240/dt. 405, 430, 440; Lango 1972, 40.
510 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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größer ist seine »kreative Emphase« und folglich seine »subjektive Intensität«. 196 So gesehen ist das Unvermögen der dynamischen Systeme, ihren Weg durch das Labyrinth der möglichen Trajektorien selbständig zu bestimmen, d. h. aus eigener Kraft und nicht aufgrund zufälliger Perturbationen von einer Trajektorie auf eine andere zu springen, untrennbar mit ihrem vollständigen Mangel an Innerlichkeit bzw. subjektiver Intensität verbunden. Dieser Mangel verbietet ihnen, Möglichkeiten zu verwerfen, d. h. Entscheidungen zu treffen. Man könnte sich versucht fühlen, den Komplex der sich gegenseitig empfindenden ›subjective forms‹ mit Bergsons Vorstellung von der Wesensinterdependenz der Bereiche der ›durée‹ zu vergleichen. Dies erweist sich jedoch bei einer näheren Betrachtung als nur sehr begrenzt hilfreich. Nur die Zeitlichkeit der göttlichen ›actual entity‹ kann als das heterogene Kontinuum einer ›succession pure‹ 197 verstanden werden; den weltlichen Prozessen weist Whitehead zwar eine ›duration‹ zu, diese hat aber mit der ›durée‹ nur die äußerlich messbare abstrakte Extension gemeinsam. 198 Was jedoch einen wahren ontologischen Graben zur Prozessphilosophie Bergsons darstellt, ist, dass Whitehead im Zentrum der tiefsten Privatheit einen abstrakten Aspekt wohnen lässt, der als solcher außerhalb jeder denkbaren Zeitlichkeit steht: Jeder ›subjective form‹ wohnt ein zusammengesetztes ›eternal object‹ inne, das als ihr »Überrest« (remnant) zurückbleibt, wenn man sie von ihrer ›prehension‹ abstrahiert (PR 232 f./dt. 424). Dabei handelt es sich notwendig um ein ›eternal object‹ subjektiver Art, denn nur solchen abstrakten Entitäten ist der Eintritt in ›subjective forms‹ möglich. Wenn, um ein Beispiel zu nennen, der verschneite Parthenon als ein Kontrast von Harmonie, Erhabenheit und Andersartigkeit erlebt wird, so werden neben den wirklich und abstrakt Seienden, die von der objektiv gegebenen Struktur beigetragen werden, auch die ›eternal objects‹ der Harmonie, der Erhabenheit und der Andersartigkeit prehendiert. 199 Whitehead platziert ins Zentrum jeder ›subjective form‹ – völlig un-
196 »Each occasion exhibits its measure of creative emphasis in proportion to its measure of subjective intensity« (PR 47/dt. 105). 197 Siehe Abschn. 1.2 von Kap. III. 198 Siehe Abschn. 2.3.d.1 dieses Kapitels. 199 Vgl. auch: Sherburne 1961, 144 f., 155.
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abhängig davon, ob sie einer positiven oder einer negativen ›prehension‹ innewohnt – ein zusammengesetztes ›eternal object‹ der subjektiven Art. Das zeigt eindeutig, dass er auch die Erlebensformen universalisiert. Das ist aber alles andere als selbstverständlich. Abgesehen von der Frage, ob solche Begriffe, wie ›Harmonie‹, ›Erhabenheit‹, ›Weiße‹ usw., auf metaphysische Entitäten referieren oder nur sprachliche Konstruktionen sind, was den Kern des Universalienproblems ausmacht, ist es sehr fragwürdig, ob man auf diesem Wege der Natur des jeweils konkreten Erlebens gerecht werden kann. Wenn die ›subjective forms‹ lediglich Zusammensetzungen von einfachen ›eternal objects‹, wie der Röte, dem Wärmegefühl, dem süßen Geschmack, dem Schmerz usw., sind, dann sind sie starre abstrakte Entitäten. Was sind aber die Erlebensformen anderes – würde man aus Bergson’scher Perspektive fragen – als das Erleben selbst, dessen Natur in der heterogenen Kontinuität des Hervorbringens einer sich ständig erneuernden Einmaligkeit besteht? Auch für die Prozessphilosophie gilt, dass das Einmalige nicht eine Kombination von Universalien sein kann, denn keine noch so zusammengesetzte Universalie kann über ihren eigenen Schatten hinausspringen und etwas Partikuläres werden. Erklärt man die Erlebensformen zu Universalien, so verkürzt man sie um ihre kreative Zeitlichkeit, folglich auch ihre Einmaligkeit, womit sie ihres Wesens beraubt werden – übrig bleibt eine begrifflich-zeitlose Karikatur. Das ist eine kaum zu überbietende »fallacy of misplaced concreteness«, wie Whitehead die von ihm oft angeprangerte Verwechslung des Abstrakten mit dem Konkreten bezeichnet (SMW 70/dt. 72, PR 7 f./dt. 39). Die Whitehead’sche Konzeption der ›subjective forms‹ bietet aber auch einer logisch orientierten Kritik eine große Angriffsfläche. Wenn das Prehendieren einer ›actual entity‹, eines ›nexus‹ oder eines objektiven ›eternal object‹ erlebt wird, wofür es der Erfassung eines subjektiven ›eternal object‹ bedarf, warum soll nicht ebenfalls das Erfassen dieses subjektiven ›eternal object‹ eine eigene ›subjective form‹ haben, wofür es wiederum der ›prehension‹ eines anderen subjektiven ›eternal object‹ bedürfte usw. ad infinitum? Kurz: Whitehead bleibt uns die Erklärung schuldig, warum nur physische und einige begriffliche ›prehensions‹, nämlich die von objektiven ›eternal objects‹, ›subjective forms‹ haben dürfen und nicht alle ›prehensions‹. Warum wird dem Erfassen eines subjektiven ›eternal object‹ jegliche Innerlichkeit des Erlebens abgesprochen? Würde aber Whitehead allen Erfassungen ›subjective forms‹ zusprechen – was er, seiner 512 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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Lehre zufolge, tun müsste 200 –, so würde wegen der eben beschriebenen unendlichen Prozedur keine einzige ›subjective form‹ zustande kommen. Beide Schwierigkeiten der Konzeption der ›subjective forms‹, die psychologische und die logische, führen klar vor Augen, dass der eigentlichen Natur des Erlebens mit einem Begriffsplatonismus nicht nahe zu kommen ist. 2.2.e
›Propositions‹ : konkrete Möglichkeiten
Gewisse ›actual entities‹, die sich vor allem in Lebewesen ereignen, manifestieren eine so hohe Intensität der Neuheit, dass ihre Einführung in den mentalen Pol der Entität nach einer besonderen Form der begrifflichen ›prehension‹ verlangt. Solche begrifflichen ›prehensions‹ animieren das werdende Subjekt mit hybriden Entitäten, den ›propositions‹. Ihr Mischwesen besteht in der Zusammenkunft von physischen mit abstrakten Objekten, d. h. von schon konstituierten ›actual entities‹ mit ›eternal objects‹ (PR 184 ff., 187/dt. 343 ff., 348). Eine ›proposition‹ hat »logische Subjekte« (logical subjects) – sie sind schon herauskristallisierte, d. h. raumzeitlich manifeste, ›actual entities‹ – und ein »Prädikat« (predicate), das aus einem zusammengesetzten ›eternal object‹ besteht (PR 186/dt. 346). Der »Lokus« (locus) einer ›proposition‹ besteht aus denjenigen gerade entstehenden ›actual entities‹, an die sich diese ›proposition‹ wendet. 201 Ihr logisches Prädikat soll die ›actual entities‹ formaliter zu einer bestimmten Art des Erfahrens eines Teils ihrer ›actual worlds‹ anregen. Ein und dasselbe Prädikat verschiedener ›propositions‹ kann sich also an viele ›actual entities‹ formaliter, deren ›actual worlds‹ sich überschneiden, wenden. Auf diese Weise kann durch ›propositions‹ eine hohe Koordinierung der Prozesse eines ›nexus‹ stattfinden. Es ist offensichtlich, dass die Whitehead’sche Vorstellung von der Rolle der ›propositions‹ nicht mit der Zurückweisung des Subjekt-Prädikat-Schemas der Substanzontologie kollidiert. Denn die 200 In der XI. Category of Explanation heißt es: »That every prehension consists of three factors: (a) the ›subject‹ which is prehending […] (b) the ›datum‹ which is prehended; (c) the ›subjective form‹ which is how that subject prehends that datum« (PR 23/dt. 66, erste Hervorhebung von S. K.). 201 Etwas genauer gesagt: Als »Lokus« einer ›proposition‹ bezeichnet Whitehead diejenigen sich konstituierenden ›actual entities‹, in deren ›actual worlds‹ die logischen Subjekte der ›proposition‹ enthalten sind (PR 186/dt. 347).
513 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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logischen Prädikate sind immer als Ziele für werdende Subjekte bzw. Superjekte und nicht als Attribute zugrundeliegender Substanzen gedacht und die logischen Subjekte sind immer als der werdenden Entität gegebene Objekte zu verstehen. Entscheidet sich ein Prozess für die weitere Integration einer aufgenommenen ›proposition‹, so wird Letztere auf die Gestaltung der positiven ›prehensions‹ eines Teils seiner ›actual world‹ einen erheblichen Einfluss nehmen, denn das logische Prädikat liefert ihm eine konkrete Möglichkeit, einige der ihm gegebenen manifesten ›actual entities‹, also der logischen Subjekte, auf die es referiert, aufzufassen. Fällt z. B. zwei Eltern das Wachstum ihres Säuglings spontan auf, so sind die Bewusstwerdungsprozesse der beiden der Lokus einer ›proposition‹, die dazu anregt, ihren logischen Subjekten – in diesem Fall der Gesamtheit der Prozesse, die als der kindliche Organismus manifest sind – ein Prädikat zuzuweisen, das die Ideen des Säuglings, des Wachsens, der Elternschaft u. a. in sich einschließt. Zusammenfassend soll festgehalten werden, dass die ›propositions‹ Möglichkeiten des Erfassens sind, die einer werdenden ›actual entity‹ konkrete Möglichkeiten ihrer eigenen Wesensbestimmung eröffnen. Ihnen kommt eine vermittelnde Position zwischen den wirklich Seienden und den ›eternal objects‹, die reine Möglichkeiten sind, zu: »A proposition is a new kind of entity. It is a hybrid between pure potentialities and actualities« (PR 185 f./dt. 346).
2.2.e.1 Konforme und nicht-konforme ›propositions‹ Grundsätzlich lassen sich zwei Arten der Referenz einer ›proposition‹ auf die relevanten Teile der ›actual worlds‹ der Mitglieder ihres Lokus unterscheiden: konform oder nicht-konform, d. h. wahr oder falsch (PR 186/dt. 347). Ein mit den logischen Subjekten konform gehendes Prädikat unterstützt die Konservierung der Wirklichkeit, die diese manifestieren. Wird z. B. ein Mensch bei der ›prehension‹ seiner eigenen unmittelbaren Vergangenheit vom Prädikat ›depressiv‹ beherrscht, so trägt er wesentlich zur Fortsetzung der Depression bei. Im Gegensatz zu solchen Fällen ermutigt ein mit der Vergangenheit nicht-konform gehendes Prädikat dazu, belebende Erneuerungen zu wagen. Diese können auf die vorhandene Ordnung gut oder schlecht, förderlich oder zerstörerisch wirken; sie streben aber auf jeden Fall danach, sie zu verändern. Nicht-konforme ›propositions‹ sind Mittel 514 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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der Erneuerung, unerlässliche Bedingungen der anti-entropischen Revitalisierung des Kosmos. Sie leiten die Metamorphose einer Raupe zum Schmetterling ein und locken solche subatomaren Prozesse hervor, dank derer eine genetische Ordnung mutiert, die der Evolution einer neuen Art förderlich ist. Nicht-konforme ›propositions‹ können sogar dermaßen futuristisch organisiert sein, dass sie sich auf eine ferne hypothetische Zukunft weit jenseits der Mitglieder ihres Lokus beziehen können (PR 188/dt. 350). Die Konzeption der nicht-konformen ›propositions‹, denen eine wichtige Rolle in der organischen Philosophie zukommt, unterstreicht die Besonderheit des Whitehead’schen Zugangs zum Wesen und Sinn von ›propositions‹. Für die organische Philosophie ist besonders wichtig, dass eine ›proposition‹ nichts anderes als ein Anreiz für positive ›prehensions‹ (lure for feeling) ist (PR 25/dt. 69, Cat. XVIII Expl.). Deshalb ist es nicht hilfreich, diesen Begriff als ›Aussage‹ zu übersetzen, wenn man die besondere Nuance, die ihm Whitehead beilegt, treffen möchte. Das Originelle bei seinem Verständnis von ›propositions‹ ist, dass sie sich nicht in Aussagen erschöpfen, die möglichst mit der Realität korrespondieren sollen. Der Sinn und Zweck einer nicht-konformen ›proposition‹ besteht gerade in einer ›Verführung‹, in einer ›Einladung‹, die bestehenden Verhältnisse zu transformieren, durch ihre Überwindung nicht nur höhere Harmonie, sondern zugleich gesteigerte Mannigfaltigkeit zu erreichen. Ihr Prädikat bietet einer sich gerade konstituierenden ›actual entity‹ eine Alternative zur Realität der schon manifesten ›actual entities‹, die sie physisch prehendiert, an. Es zeigt ihr, wie der Teil der Wirklichkeit, den sie erfasst, hätte sein können, um ihren Selbstformungsprozess in eine solche Bahn zu lenken, sodass seine abschließende Manifestation in der Raumzeit einen Anteil zur Verwirklichung einer alternativen Wirklichkeit beitragen wird. Man könnte also die ›propositions‹ als Vorschläge (bezüglich dessen, was verwirklicht werden könnte) oder auch als Vorsätze bezeichnen. 202 Für welche Übersetzung sich auch immer entschieden wird, sie muss auf jeden Fall durchblicken lassen, dass aus der Whitehead’schen Perspektive eine ›proposition‹ primär anhand ihres Ansporns zur Aktualisierung der Kreativität zu beurteilen ist:
202
Den zweiten Vorschlag verdanke ich Barbara Muraca.
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»A proposition is a notion about actualities, a suggestion, a theory, a supposition about things« (AI 244/dt. 428, Hervorhebung von S. K.).
Deshalb kann eine ›falsche‹ ›proposition‹ von einem sie aufnehmenden Prozess viel höher bewertet werden als eine ›wahre‹, die für sklavische Konformität eintritt. Denn es gilt: »It is more important that a proposition be interesting than that it be true« (ebenda, Hervorhebung von S. K.).
2.2.e.2 Nähe und Distanz zu Freges Begriff des ›Gedankens‹ Für Whiteheads besonderes Verständnis der ›propositions‹ ist es zweifelsohne wichtig, dass er ein großer Logiker ist – dies verdient allerdings vor allem deswegen Beachtung, weil er ausgerechnet den typisch logischen Zugang zum Wesen der ›propositions‹ explizit ablehnt. In der ›wahr-falsch‹-Befragung von ›propositions‹ sieht er fatale Folgen für das Verständnis ihrer eigentlichen Rolle im kosmischen Prozess (PR 184–187/dt. 344–348; AI 244/dt. 429). Dass Letztere einer rein logischen Perspektive verborgen bleiben muss, führt Whitehead darauf zurück, dass Logiker unter ›propositions‹ bewusste Urteile verstehen und nicht wie er Anreize für das unbewusste positive Prehendieren. »The interest in logic, dominating overintellectualized philosophers, has obscured the main function of propositions in the nature of things. They are not primarily for belief, but for feeling at the physical level of unconsciousness. They constitute a source for the origination of feeling which is not tied down to mere datum« (PR 186/dt. 347, Hervorhebungen von S. K.).
Im Gegensatz zum rein logischen Zugang betont Whitehead, dass Urteile und Bewusstsein nur sehr selten anzutreffende Komponenten von ›propositions‹ sind (PR 184/dt. 344). Daraus folgt, dass, ›propositions‹ nur bei ›actual occasions‹, die Bewusstseinsprozesse sind, als ›Aussagen‹ im wörtlichen Sinne dieses Ausdrucks verstanden werden dürfen. Bei aller Distanzierung zum analytischen Zugang 203 besteht aber auch eine auffällige Nähe zwischen den Whitehead’schen ›propositions‹ und Freges Begriff des ›Gedankens‹. Im Rahmen seiner Zurückweisung des Einflusses des Psychologismus auf die Logik unterscheidet Letzterer scharf zwischen der subjektiven Seite eines Denkaktes, 203 Bezüglich Whiteheads Abgrenzung von der frühen Analytischen Philosophie vgl.: AI 243 f./dt. 427 ff.
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die er ›Vorstellung‹ nennt, und dem objektiven Inhalt des Aktes, den ›Gedanken‹ (1966b, 42 f.). Ein ›Gedanke‹ ist im Gegensatz zur ›Vorstellung‹ vom jeweiligen psychischen Denkakt, der ihn erfasst, abstrahierbar und somit von verschiedenen Denkakten erfassbar. Ähnlich können verschiedene ›actual entities‹ in der Phase der Selbstkonstitution an ein und derselben ›proposition‹ teilhaben, d. h. sie positiv prehendieren. Im Gegensatz dazu gehören die ›subjective forms‹ immer konkreten Subjekten an, was für die ›Vorstellungen‹ Freges genauso zutrifft. Aber auch wenn ›Gedanken‹, z. B. über die Venus als Abend- oder Morgenstern, universal sind, weil sie nicht an einen konkreten Denker gebunden sind, können sie sich – zumindest viele von ihnen – auf partikuläre physische Entitäten beziehen, z. B. auf einen einzigen Himmelskörper; das aber gilt genauso für ›propositions‹. So gesehen sind auch die ›Gedanken‹ Freges hybride Entitäten mit einem universellen und einem partikulären Teil. Ausgehend vom ontologisch-subjektivistischen Prinzip, dem zufolge die Begründung der Existenz einer Entität auf mindestens ein wirklich Seiendes zu verweisen hat, muss jede ›proposition‹ (auch eine verworfene) notwendig auf prozessuale Subjekte bezogen werden, wenn es darum geht, ihren Schöpfer und ihre Adressaten, d. h. ihren Ursprung und ihren Sinn zu finden. Hierin besteht die Distanz zur Frege’schen Konzeption der objektiven ›Gedanken‹ als Elemente eines von den Reichen der Natur und des Bewusstseins unabhängigen ›dritten Reiches‹ der wahren und ewigen gedanklichen Strukturen (ebenda 43) und zur, mit diesem Reich verwandten, ›Welt 3‹ Poppers. Der Whitehead’sche Antibifurkationismus, der die ersten beiden Reiche zusammendenkt, erlaubt keine von bipolaren Entitäten, weltlichen oder göttlichen, losgelöste Existenz – und von einer ›Tripolarität‹ hat bis jetzt kein Prozessphilosoph gesprochen, was nicht heißt, dass dies kein interessanter Gedanke wäre. Auch wenn die Beziehung zwischen Frege und Whitehead ein zu vielen weiteren Reflexionen anregendes Thema ist, liegt es außerhalb des biophilosophischen Fokus der vorliegenden Untersuchung und kann hier nicht weiter verfolgt werden. Der Vergleich zwischen beiden Konzeptionen dient nur der besseren Kontrastierung des Whitehead’schen Denkens. Zusammenfassend ist Folgendes festzuhalten: Jede ›proposition‹ existiert immer als Bestandteil von mindestens einem wirklich Seienden. Mehr noch (das sei hier vorausgreifend gesagt): Sie wird immer für konkrete ›actual occasions‹, d. h. für weltliche ›actual entities‹, geschaffen. Diese bilden den Lokus einer ›pro517 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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position‹, der unlösbar mit ihr verbunden ist (PR 195/dt. 362). Eine Whitehead’sche ›proposition‹ stellt keine reine Möglichkeit dar, wie ein ›eternal object‹, sondern immer eine reale Möglichkeit, denn ihr Sinn besteht darin, konkreten ›actual occasions‹ formaliter realisierbare Alternativen anzubieten. Damit liegt aber eine deutliche Abgrenzung von jeglicher Version eines Platonisch, Leibnitisch, Fregeanisch erdachten Reiches reiner Gedanken vor, das an sich und für sich existiert. 2.2.f
›Nexūs‹: konkrete Wirklichkeiten und öffentliche Tatsachen
Die direkt erfahrbaren Objekte des menschlichen Alltags können unter keiner der bisher diskutierten Gattungen von Entitäten subsumiert werden. Die einzige Gattung basaler Entitäten, die Objekte verschiedenster Größenordnungen umfasst, deren Lebenszeit nicht mikrochronisch zu sein braucht, heißt ›nexus‹. Dieser Begriff, der in der organischen Philosophie sehr allgemein eingesetzt wird, referiert nur auf die »wechselseitige Immanenz« von ›actual entities‹, d. h. auf Mengen von Prozessen, die durch ihre ›prehensions‹ wesenhaft ineinander verwoben sind: »The general common function exhibited by any group of actual occasions is that of mutual immanence. […] Thus the term Nexus does not presuppose any special type of order, nor does it presuppose any order at all pervading its members other than the general metaphysical obligation of mutual immanence«. (AI 201/dt. 363, Hervorhebung von S. K.).
Ein konkreter ›nexus‹ ist eine bestimmte Form der episodischen oder lang anhaltenden »Zusammengehörigkeit« (togetherness) von ›actual entities‹ (PR 20/dt. 60), wie z. B. ein verdampfender Wassertropfen, eine Plasmawolke, ein Atom, ein Felsen, eine Galaxis, ein Quantenfeld oder ein Lebewesen. Das besondere Augenmerk der organischen Philosophie gilt allerdings solchen ›nexūs‹, in denen eine bestimmte Form von Strukturierung vorherrschend ist. Denn die ›prehension‹ solcher Entitäten affiziert eine werdende ›actual entity‹ dazu, einen Prozess hoher Erlebensintensität, mit entsprechend reichen ›subjective forms‹, anzustreben. Solche Objekte der alltäglichen und wissenschaftlichen Erfahrung bezeichnet Whitehead als ›societies‹. Ihre Persistenz übersteigt deutlich das kurze Leben der einzelnen ›actual occasions‹. Die ausgedehnteste ›society‹, zu der die menschliche Erfahrung Zugang 518 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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hat, ist das physische Universum, der Kosmos. Er umfasst eine Unmenge speziellerer Gesellschaften, wie Galaxien, Planeten, Mineralien, Elementarteilchen, 204 Atome, Biomoleküle, Einzeller, Pflanzen, Tiere u. a. Sie sind permanent werdende Verflochtenheiten, denen – inmitten des pausenlosen Wechsels ihrer Elemente – eine Mustererhaltung gelingt. 2.2.f.1 ›Society‹: ›nexus‹ sozialer Ordnung Die Ordnung eines ›nexus‹ steigt im selben Maße, in dem er von bestimmten Charakteristika dominiert wird. Whitehead spricht von einem ›social order-nexus‹ bzw. von einer ›society‹, wenn sich in der Beschaffenheit aller ›actual entities‹ des ›nexus‹ ein und dasselbe zusammengesetzte ›eternal object‹, das auch als »gemeinsames Formelement« (common element of form) und »definierendes Charakteristikum« (defining characteristic) des ›nexus‹ bezeichnet wird, offenbart (PR 34/dt. 84 f.). Obwohl in einem ›nexus‹ in der Regel eine Unmenge von ›eternal objects‹ verwirklicht ist (PR 194/dt. 360), wird durch gezielte Auswahl von Seiten seiner Mitglieder dieses für alle verbindende Ideal hervorgehoben und zur Geltung gebracht. Jede ›actual entity‹ eines solchen ›nexus‹ prehendiert positiv das fragliche abstrakte Formelement. Eine ›society‹ ist eine besondere Art von ›nexus‹, denn durch das definierende Charakteristikum, das wesensbestimmend auf ihre Mitglieder wirkt, zeichnet sie sich durch eine starke Bindung an ihre Vergangenheit aus, deren wichtigste Merkmale somit tradiert werden (RM 109 f./dt. 83). Durch die prehensiv begründete Vererbung des gemeinsamen Formelements, kann eine ›society‹ sehr viel länger als ihre Mitglieder persistieren. ›Societies‹ haben Geschichte (AI 204/dt. 367), führen aktiv oder passiv Bewegungen aus und verändern sich qualitativ und quantitativ. Es ist essentiell für das Verständnis von ›societies‹, dass sie aufgrund der gezielten Vererbung ihres definierenden Charakteristikums, auf der Basis positiver begrifflicher ›prehensions‹, ihre Identität aus eigener Kraft bewahren – sie sind ihr eigener Grund. 205 Wenn also eine Gruppe von Prozessen als eine ›society‹ bezeichnet wird, ist
204 Selbst ein Elementarteilchen, wie ein Elektron, ist für Whitehead eine ›society‹, weil seine Geschichte aus der Sukzession eng aufeinander kausal bezogener Prozesse besteht, die sich als raumzeitlich lokalisierte Daten manifestieren. 205 »The point of a ›society‹, as the term is here used, is that it is self-sustaining; in other words, that it is its own reason« (PR 89/dt. 177).
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dies nicht als Resultat einer subjektiven Unterscheidung eines Beobachters zu verstehen. Denn das gemeinsame Formelement ist eine abstrakte Entität, die von diesen Prozessen, kraft ihrer »genetischen Ableitung« (genetic derivation) voneinander, immer wieder gezielt reproduziert wird. Das gemeinsame Formelement ist somit viel mehr als eine mathematische Konzeption von Ordnung, die den Prozessen von außen zugesprochen wird: »[A society] involves more than a merely mathematical conception of ›order‹. To constitute a society, the class-name has got to apply to each member, by reason of genetic derivation from other members of that same society. The members of the society are alike because, by reason of their common character, they impose on other members of the society the conditions which lead to that likeness« (PR 89/dt. 177, Einfügung und Hervorhebung von S. K.).
Das Ziel einer ›society‹ ist ihre Selbsterhaltung. Diese zeigt sich in der Beibehaltung der Identität des definierenden Charakteristikums mit sich selbst, durch eine Reihe von Vererbungen hindurch. Jede ›society‹ muss jedoch ihre Ordnung vor dem Hintergrund anderer, umfassenderer ›societies‹, die ihre Umwelt ausmachen, erhalten. Dies erfordert, dass die variierenden Gegebenheiten der Umgebung von der ›society‹ wahrgenommen werden. Die Anpassung an die sie umgebenden ›societies‹ – deren definierende Charakteristika mit der Vergrößerung ihres Umfangs allgemeiner werden (PR 90/dt. 178 f.) – verlangt von der ›society‹, dass sie Veränderungen zulässt, aber dabei ihr Wesen beibehält: »A society has an essential character, whereby it is the society that it is, and it has also accidental qualities which vary as circumstances alter« (AI 204/ dt. 367).
Diesem fundamentalen Vermögen aller ›societies‹ verdankt die alte Metaphysik ihre Grundüberzeugung, der zufolge das Substanz-Akzidens-Schema die Natur aller wirklich Seienden spiegelt. Der Whitehead’sche Schritt, nicht sinnlich wahrnehmbare Prozesse in den Status der eigentlichen wirklich Seienden zu erheben, setzt ein Abstraktionsniveau voraus, das die antike Metaphysik nicht haben konnte. Es ist geradezu evident, dass ›societies‹ – aus Whitehead’scher Sicht die einzigen der Empirie zugänglichen Entitäten – jahrhundertelang als unbezweifelbare Ausgangsbasis für die Errichtung von Ontologien dienten. Die organische Philosophie kennt verschiedene Arten von 520 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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›societies‹. Allen ist jedoch gemeinsam, dass sie eine besondere Variante des Prinzips der Solidarität wesentlich aufeinander bezogener wirklicher Entitäten darstellen. ›Societies‹ sind Ganzheiten, die, dank der durchgehenden Dominanz eines Ideals, spezielle Nischen der wesenhaften Interdependenz darstellen; anders ausgedrückt: Sie sind »konstitutive Gesellschaften der Intersubjektivität« (Hampe 1991, 23). Sie gestatten dem Kosmos, Strukturen der Ordnung des Ineinander-Seins zu bilden, die der kontinuierlichen evolutiven Verwirklichung eines bestimmten Prinzips ein geschütztes Territorium anbieten und ermöglichen somit die Entfaltung konkreter Werte und eine Zeit lang ihre Verteidigung vor der entropischen Homogenisierung. Mit seinem ›society‹-Konzept entwirft Whitehead das Bild einer Natur, in der alle Erscheinungsweisen menschlicher Subjektivität »Sonderfälle einer viel grundlegenderen natürlichen Reflexivität und Sozialität alles Wirklichen sind« (ebenda 24). Dies ermutigt dazu, die Bildung von Nischen besonders intensiver Ereignishaftigkeit als dialogisch-prehensive Kultivierungen spezieller Zeichengemeinschaften zu verstehen und, über den Rahmen der vorliegenden Untersuchung hinausgehend, lebendige ›societies‹ als biosemiotische Einheiten zu denken, natürlich im Rahmen einer auf der Basis der Prozessmetaphysik radikal umformulierten Biosemiotik. 2.2.f.2 ›Enduring object‹: zeitlicher ›nexus‹ personaler Ordnung Ein ›enduring object‹ ist eine besondere Art von ›society‹, bei der die genetische Beziehung ihrer Mitglieder so beschaffen ist, dass diese seriell angeordnet sind (PR 34 f./dt. 84 f.). Es handelt sich dabei um eine zeitliche Serialität, d. h. um eine, die sich als eine unverzweigte Kette der Übergänge von Prozess zu Prozess entfaltet (AI 202/dt. 364), wobei aber zusätzlich dazu eine Kontinuität der Vererbung herrscht, sodass jeder Prozess einen unmittelbaren Vorgänger und einen unmittelbaren Nachfolger hat, was dieser ›society‹ eine ›fadenartige‹ bzw. eindimensionale Ordnung verleiht. 206 Damit ist nicht gemeint, dass die raumzeitlichen Manifestationen der seriell aufeinanderfolgenden ›actual occasions‹ direkt aneinandergrenzen, als wären sie Perlen einer Kette. Wie Abbildung 4.2 demonstriert, sind in der ›actual world‹ jedes Mitglieds viele ›actual occasions‹ enthalten, von 206 »The nexus will then form an unbroken thread in temporal or serial order« (AI 202/dt. 364, Hervorhebung von S. K.). Anders ausgedrückt: »[T]he nexus forms a single line of inheritance of its defining characteristic« (PR 34 f./dt. 84 f.).
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denen aber nur einige das definierende Charakteristikum der ›society‹ durch positive begriffliche ›prehensions‹ zu ihrem eigenen zentralen Merkmal gemacht haben. Eine sich konstituierende ›actual occasion‹ prehendiert dieses Ideal positiv und gibt ihm eine zentrale Rolle bei ihrer Wesensbestimmung. Von einem ›enduring object‹ ist die Rede, wenn alle Mitglieder dieser ›society‹ zeitlich aufeinanderfolgen und dabei eine eindimensionale Linie der Vererbung eines zusammengesetzten ›eternal object‹ bilden. »Kontinuität der Vererbung« bedeutet also nichts anderes, als dass jedes Mitglied das definierende Charakteristikum nur aus dem ihm unmittelbar vorangegangenen Mitglied übernimmt und zwar indem es dieses aus einer Reihe anderer, ebenfalls in seiner ›actual world‹ verwirklichter ›eternal objects‹ auswählt und in sich integriert. Diese Entscheidung kristallisiert sich in der Konstituierung der neuen Entität allmählich heraus. 207 Ein ›enduring object‹ ist also eine ›society‹, deren definierendes Charakteristikum zu einem bestimmten Zeitpunkt nur von einem einzigen ihrer Mitglieder verwirklicht wird. Typische Beispiele solcher ›societies‹ sind die Sukzessionen von Bewusstseinsprozessen, die sich bei Menschen und höheren Tieren entfalten (PR 107/dt. 208; AI 204–208/dt. 368–374) und gewöhnlich mit dem Begriff der ›Seele‹ bezeichnet werden. Prozesse solcher Erlebensintensität haben vermutlich Whitehead dazu veranlasst, die Bezeichnung ›person‹ bzw. ›personal order-society‹ auf alle ›enduring objects‹ auszuweiten. Um weitere Beispiele für ›Personen‹ zu finden, muss man das andere Ende des Spektrums des Daseins aufsuchen. Die Sukzessionen der Aktualisierungen der, von unserem momentanen Wissen ausgehend, atomaren Elementarteilchen, wie Quarks, Elektronen, Photonen und anderen, werden ebenfalls als ›societies‹ personaler Ordnung verstanden (Jungerman 2000, 95, 115). ›Enduring objects‹ sind die elementarsten Existenzweisen der Materie, wenn man, ganz im Sinne Einsteins, unter diesem Begriff lokalisierte Energie versteht (Chew 2004, 86), 208 was auch für das Licht zutrifft. Es stellt sich die Frage, was Whitehead dazu bewogen haben könnte, die ›enduring objects‹, die nur in außerordentlich wenigen
Vgl. auch: Leclerc 1975, 220. So gesehen sind ›actual occasions‹, die sich nicht in ›societies‹, sondern im leeren Raum ereignen (siehe Abschn. 2.2.a.3 dieses Kapitels) – was nach modernen physikalischen Erkenntnissen für die absolute Mehrheit der Quantenprozesse der Fall ist –, keine Bestandteile von materiellen Strukturen (Chew 2004, 87 f.). 207 208
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Raum Abb. 4.2: Alle Kreise repräsentieren die Grenzen der physischen Manifestationen der konstituierten ›actual occasions‹ objectivé in der Raumzeit (sie dürfen also nicht mit den Parallelogrammen von Abb. 4.1 verwechselt werden, die für die ganzen Quanten stehen). Die stärker eingetragenen Kreise stehen für die Mitglieder eines ›enduring object‹ und die durchgezogenen Linien markieren die Grenzen ihrer ›actual worlds‹. Wie man sieht, wird das definierende Charakteristikum der ›society‹ personaler Ordnung zu einem bestimmten Zeitpunkt nur von einem einzigen ihrer Mitglieder verwirklicht.
Fällen mit Bewusstsein begabte ›subjective forms‹ hervorbringen, mit der Idee der Personalität, die automatisch mit der des Bewusstseins assoziiert wird, in Zusammenhang zu bringen. Ein möglicher Grund könnte darin bestehen, dass er in ihnen, aufgrund der unmittelbaren Kontinuität der genetischen Ableitung, eine zentrale Bedingung für »die höchste Form der Werterhaltung« sieht (Sayer 1999, 178): »The survival of personal identity within the immediacy of a present occasion is a most remarkable character of the World of Fact. It is a partial negation of its transitory character. It is the introduction of stability by the influence of value« (IMM 255/dt. 17).
Mit anderen Worten: »Personality is the extreme example of the sustained realization of a type of value« (IMM 257/dt. 19).
Aufgrund der Eindimensionalität der Vererbung wird in ›enduring objects‹ der höchste Grad von Einheitlichkeit der Perspektive, die eine ›society‹ in Bezug auf ihre Vergangenheit gewinnen kann, erreicht, 523 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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Raum Abb. 4.3: Eine ›corpuscular society‹ ist ein Bündel von ›enduring objects‹. Wie in Abb. 4.2 repräsentieren auch hier die geometrischen Formen nur die Grenzen der Manifestationen der konstituierten ›actual entities‹ objectivé in der Raumzeit und nicht die ganzen Quanten.
sodass sie bei hinreichendem Kontrastreichtum der prehendierten Inhalte einen eigenen Charakter bekommen kann. Ist dies – wie im Falle hochentwickelter Lebewesen – der Fall, dann liefert die personale Ordnung den fruchtbarsten Boden für die anti-entropische Revitalisierung der Wirklichkeit mittels der Einführung neuer Werte. 209 2.2.f.3 ›Corpuscular societies‹: Bündel von ›enduring objects‹ Die meso- und makrokosmischen anorganischen Objekte unserer Erfahrung, wie Kristalle, Steine, Flüssigkeitstropfen, technische Produkte, Planeten, Sterne, Galaxien und Galaxienhaufen – kurzum materielle Gebilde, die ihren räumlichen Zusammenhalt für größere Zeiträume bewahren können – sind für die organische Philosophie Bündel von ›enduring objects‹ und werden als ›corpuscular societies‹ bezeichnet (PR 35/dt. 86). Auch mikrokosmische Objekte wie Atome und Moleküle werden dazu gezählt. Whitehead macht eindeutig klar, dass solche Objekte ›nexūs‹ sind und keine ›actual entities‹ (PR 73/dt. 150). Elementarste ›corpuscular societies‹ sind aus heutiger Sicht die Nukleonen (Protonen und Neutronen), weil sie aus ›nexūs‹ personaler Ordnung bestehen, die von Quark-Prozessen erzeugt werden, deren gegenseitige ›prehensions‹ als Gluon-Interaktionen beschrieben werden können (Jungerman 2000, 115). Auch die dynamischen physikoche209
Vgl. auch: Sayer 1999, 178.
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mischen Systeme der Selbstorganisationstheorie sind als ›corpuscular societies‹ zu bezeichnen (PR 35/dt. 86). ›Corpuscular societies‹ haben – genauso wie die ›enduring objects‹ und ganz anders als die ›actual entities‹ – externe »Abenteuer der Veränderung« (adventures of change), d. h. sie ändern sich in Raum und Zeit (PR 35/dt. 86). ›Corpuscular societies‹ bilden diejenige Art von Entitäten, die Aristoteles als Vorbild für die Konzeption der ›ersten Substanz‹ gedient hat. Trotz ihrer Abenteuer der Veränderung behalten sie ihre ›substantielle Form‹ bei, d. h. ihr definierendes Charakteristikum (PR 55/dt. 119). Die Konzeption der ›corpuscular societies‹ unterstreicht den besonderen Verdienst Whiteheads, eine Naturphilosophie formuliert zu haben, in deren Mittelpunkt die Prozessualität auch der phänomenal stabilsten und dauerhaftesten Gebilden unseres mikro-, meso- und makroskopischen Erfahrungshorizonts steht. Bergsons Vorstellung von der Persistenz materieller Gebilde als Resultat unglaublich schneller Wiederholungen – die so gut wie identische Kopien vorangegangener Manifestationen sind – findet man auch im Kern der Konzeption der ›corpuscular societies‹ wieder. Man denke an einen Fernsehbildschirm, auf dessen Oberfläche extrem schnelle Wiederholungen unbewegter, sehr kurzlebiger Lichtpunkte ein kontinuierlich existierendes Muster, das sich kohärent bewegt, erscheinen lassen. Die meso- und makroskopischen materiellen Objekte werden der naiven Vorstellung des passiven, in sich ruhenden Stoffes vollständig entrückt – ihre Persistenz verliert ihre scheinbare Selbstverständlichkeit und erscheint als eine überaus großzügige Gabe des Universums, inmitten ihrer verlässlichen Anwesenheit wir unser Dasein verankern können. Aber auch Bergsons Unterscheidung zwischen ›durée‹ und Persistenz hallt hier nach, wenn Whitehead Lebewesen zwar mit ›corpuscular societies‹ in Verbindung setzt, aber die Begrenztheit dieser Konzeption klar sieht, wenn es darum geht, die Besonderheit des Lebendigen zu erfassen (PR 104/dt. 203), wie es noch zu zeigen sein wird. An dieser Stelle sei nur so viel gesagt: Was ›societies‹ generell kennzeichnet, ist das Tradieren eines allgemeinen Formelements durch die Zeit. Dies würde man zwar auch Lebewesen nicht absprechen wollen, aber ihre elementare Spontaneität – das eigentlich Lebendige im Lebenden – ist viel mehr als die Vererbung von Merkmalen ihrer Vergangenheit an ihre Gegenwart und Zukunft. Es stellt sich die Frage, ob derselbe Einwand nicht vielmehr ge525 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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gen die Erfassung der seelischen Kontinuität selbstbewusster Lebewesen als eine ›society‹, wenn auch personaler Ordnung, zu erheben wäre. Diese Frage, die nicht zum eigentlichen Themenkreis der vorliegenden Arbeit gehört, bleibt in der organischen Philosophie offen. Der Widerspruch könnte jedoch etwas an Schärfe verlieren, wenn man Whitehead zugesteht, in der Kontinuierung der psychologischen Identität eher eine irreduzible Komponente zu sehen und nicht das Wesen der kreativen Erneuerung der Sukzession bewusster Prozesse. Die Bezeichnung der psychologischen Kontinuität als ›personal ordersociety‹ würde, so gesehen, einen wichtigen Aspekt des seelischen Lebens aber nicht seine Essenz – das eigentlich Psychische im Psychischen – kennzeichnen. 2.2.f.4 ›Events‹ sind ›nexūs‹ Die Veränderungen oder Bewegungen von ›societies‹ personaler oder korpuskularer Ordnung können in abstrakten Räumen oder gewöhnlichen 3D-Räumen mit Hilfe von Trajektorien abgebildet werden. Eine einzige ›actual occasion‹ kann im Zustandsraum als Punkt oder als Region dargestellt werden, aber keineswegs als Trajektorie, denn sie überlebt ihre Manifestation als Raumzeit-Datum nicht. Alles, was sich bewegt oder verändert, kann nur eine ›personal-‹ oder eine ›corpuscular society‹ sein aber keine ›actual entity‹. Veränderung ist nichts als die Differenz zwischen den ›actual occasions‹ eines ›nexus‹ (PR 73/dt. 150). Daraus folgt unmissverständlich, dass ein menschliches Leben keine ›actual entity‹ ist, sondern ein ›nexus‹. 210 Trotzdem versuchen einige Whitehead-Leser das Leben eines Menschen oder eine Phase dieses als eine ›actual occasion‹ zu beschreiben. 211 Sie lassen sich davon leiten, dass in der organischen Philosophie das Dasein anorganischer und organischer Ganzheiten als ein ›event‹ beschrieben wird und übersehen dabei, dass der ›event‹-Begriff, der auch in den Werken der vormetaphysischen Phase Whiteheads (wie z. B. in The Concept of Nature) verwendet wird, in Process and Reality eine neue, viel
Vgl. auch: Fetz 1981, 158, 252 ff. Solche Positionen werden oft auf Whitehead-Konferenzen vertreten. Würden sie nicht als Whitehead’sche Vorstellungen präsentiert werden, sondern als heuristisch relevante Versuche, deren Sinn in der Befruchtung wissenschaftlichen Denkens durch Whitehead’sche Konzeptionen bestehen würde, wäre nichts gegen sie einzuwenden. 210 211
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spezifischere Deutung erfährt. 212 Das menschliche Leben ist ein ›event‹, aber keine ›actual occasion‹. In seinem Opus magnum beschreibt Whitehead die weltlichen ›actual entities‹, d. h. die ›actual occasions‹ als Grenzfälle von ›events‹. 213 Alle ›actual occasions‹ sind ›events‹, aber nicht alle ›events‹ sind ›actual occasions‹. Das zu übersehen, hieße, ›actual occasions‹ mit ›nexūs‹ zu verwechseln. »An event is a nexus of actual occasions […] For example, a molecule is a historic route of actual occasions; and such a route is an ›event‹. Now the motion of the molecule is nothing else than the differences between the successive occasions of its life-history in respect to the extensive quanta from which they arise; and the changes in the molecule are the consequential differences in the actual occasions« (PR 80/dt. 162).
Übersieht man Whiteheads explizite Unterscheidung zwischen ›event‹ und ›actual occasion‹, so kann man, ausgehend von seiner vormetaphysischen Phase, das Leben des Menschen oder anderer Lebensformen für eine ›actual entity‹ und somit für ein unteilbares Subjekt halten. Die Unteilbarkeit der Subjektivität eines menschlichen Lebens ist zwar aus Bergson’scher Sicht richtig, aber für die organische Philosophie vollkommen falsch. Für Whitehead ist das menschliche Leben eindeutig ein ›nexus‹ (PR 75, 89/dt. 153, 177) – und das muss auch auf jedes andere Leben übertragen werden. 2.2.f.5 ›Societies‹ in ›societies‹ Indem Whitehead die Persistenz sinnlich erfahrbarer Entitäten mit der Idee der Sozialität verbindet, erklärt er gesetzmäßige Regelhaftigkeiten im Bereich der Natur zu Resultaten sozial getragener Finalitäten. In jeder ›society‹ gelten besondere »kausale Gesetze« (causal laws). Sie sind das Produkt ihres definierenden Charakteristikums (PR 91/dt. 179). Folglich haben aus der Sicht der organischen Philosophie alle in ›societies‹ geltenden Gesetze mit ZweckursachenKausalität zu tun, denn das gemeinsame Formelement drückt die nicht auf Wirkursachen zu reduzierende Konvergenz der Wesensbestimmungen der Mitglieder der ›society‹ aus. Aber jede ›society‹ braucht als Grundlage für ihre Entstehung und Erhaltung eine für 212 Auch die bekannte Whitehead-Schülerin Dorothy Emmet verweist auf den Bedeutungswandel des ›event‹-Begriffs im Hauptwerk ihres Lehrers (1981, 183). 213 »An actual occasion is the limiting type of an event with only one member« (PR 73/dt. 150).
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sie förderliche umfassendere ›society‹ (PR 90/dt. 178 f.). Die Bildung ihrer kausalen Gesetze findet also vor dem Hintergrund einer breiteren Finalität (bzw. Zweckursächlichkeit) statt – d. h. auf der Basis definierender Charakteristika und kausaler Gesetze, die einen größeren Gültigkeitsbereich und eine entsprechend höhere Allgemeinheit haben (ebenda). Hierin wurzelt die kaum hoch genug einzuschätzende Möglichkeit der Erweiterung des heutigen Natur- und Weltbildes, die im society-Konzept schlummert. Dieses Potential betrifft alle Größenordnungen physischer Realitäten unseres Kosmos, greift aber über ihn hinaus (PR 91–97/dt. 180–190). Innerhalb der physischen ›society‹, die den Kosmos ausmacht, gibt es eine Unmenge speziellerer ›nexūs‹, die unsere kosmische Epoche voraussetzen: Galaxien, Planeten, Mineralien, Atome, Elementarteilchen, Biomoleküle, Einzeller, Pflanzen und Tiere. Die eben erwähnten Ganzheiten sind strukturiert, d. h. sie enthalten in sich untergeordnete ›societies‹, die geregelte Wechselbeziehungen zueinander haben (PR 98 f./dt. 193). Derartige Strukturen offenbaren Hierarchien von kausalen Gesetzen, die mit wachsendem Kontrastreichtum ihrer ›societies‹ an Allgemeinheit verlieren, aber den Mitgliedern dieser die Möglichkeit anbieten, einen höheren Erlebensreichtum zu verwirklichen, worauf Whitehead den Begriff der Komplexität anwendet. Whiteheads Verwendung der Begriffe ›complex‹ und ›complexity‹ ist der Auszeichnung reichhaltiger Erlebenskontraste vorbehalten. Sie dient also nicht der Quantifizierung des Aufwandes der Beschreibung von Netzwerken blinder Wirkursachen von Seiten externer Beobachter, wie sie für die gegenwärtige Komplexitätstheorie typisch ist, 214 sondern verweist auf den Wert der Anstrengungen der wirklichen Entitäten, die dem Geflecht prozessualer Zweckursächlichkeit intern sind.
2.3 Die Anatomie des Prozesses In dem Heraklitischen »alles fließt« (panta rhei, πάντα ῥεῖ) sieht Whitehead den unsterblichen Satz, in dessen Aufklärung das Endziel der Philosophie besteht (PR 208/dt. 385). Für mehr als zweitausend Jahre wurde diese Grundwahrheit mit den Mitteln des Subjekt-Prädikat-Schemas der klassischen Metaphysik interpretiert. Das Auf214
Siehe Abschn. 1.1.c von Kap. II.
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kommen des wirkursächlich-kausalen Denkens in den neuzeitlichen Naturwissenschaften, begleitet von der philosophischen Metaphysikkritik, begrub diese zu dieser Zeit schon erschöpfte Denkkultur, ohne jedoch ein neues Weltbild errichtet zu haben, das der Innerlichkeit der Erfahrung mehr als den Status eines mysteriösen Scheins, der völlig irrelevant sei und eigentlich gar nicht existieren dürfte, zuzuweisen vermag. Mit den Ontologien von Bergson und Whitehead erfährt die Idee des Prozesses eine radikale Erneuerung, da sie mit der Idee der Subjektivität unlösbar verwoben und zugleich aber jeder substanzontologischen Vorstellung eines mit sich selbst identisch bleibenden Subjektes konsequent entrückt wird. Der Begriff des Prozesses hat mit der Vorstellung der Veränderung oder Bewegung einer akzidentiellen Erscheinung nichts mehr zu tun. Er wird zu einem unteilbaren autonomen Akt der Wesensbestimmung dessen erhoben, was zum Bestandteil der Welt wird. Ziel der folgenden Abschnitte ist es, die innere Struktur der weltlichen ›actual entities‹ und ihre Interdependenz mit dem göttlichen Prozess zu erläutern. Auf dieser Basis kann anschließend die Relevanz der organischen Philosophie für die Organismus-Problematik demonstriert werden. 2.3.a
Zwei Arten von Prozessen: ›concrescence‹ und ›transition‹
Whitehead benutzt den Prozess-Begriff im zweifachen Sinne. In erster Linie ist damit die Entstehung einer neuen ›actual entity‹ gemeint. Die positiv prehendierte Mannigfaltigkeit wird zu einer neuen ›actual entity‹ synthetisiert. Diesen Vollzug neuer Zusammengehörigkeit nennt Whitehead concrescence. Es handelt sich dabei um die Abwandlung des lateinischen Verbs ›concresco‹, das ›zusammenwachsen‹ bedeutet (AI 236/dt. 418). Der entsprechende griechische Ausdruck lautet ›symphysis‹ (σύμφυσις). 215 Der Entstehungsakt eines wirklich Seienden (einer ›actual entity‹ formaliter) besteht im Zusammenwachsen der prehendierten ›actual entities‹, nexūs‹, ›eternal objects‹ und ›propositions‹, zu denen ›subjective forms‹ und weitere, im Prozess entstandene ›propositions‹ hinzukommen. Im ›concrescence‹-Prozess offenbart sich der »schöpferische Eros« (creative Eros) 215 Diesen Hinweis verdanke ich Ernest Wolf-Gazo. Aristoteles verwendet diesen Begriff u. a. in der Physik V, 3, 227 a23–27 und in der Metaphysik V, 4, 1014 b22.
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der Verschmelzung vergehender und vergangener objektivierter Entitäten mit den Idealen und Antizipationen der Gegenwart zu einer neuen Einheit (AI 276/dt. 480) – das Alte ist im Neuen transformiert und in diesem aufgehoben. Die ›concrescence‹ einer ›actual entity‹ ist ihre »real internal constitution« (PR 212/dt. 392), ihr Wesen; 216 die neue ›actual entity‹ ist nichts anderes als ihr ›concrescence‹-Prozess selbst: »Each instance of concrescence is itself the novel individual ›thing‹ in question. There are not ›the concrescence‹ and ›the novel thing‹ : when we analyse the novel thing we find nothing but the concrescence« (PR 211/dt. 390).
Die ›concrescence‹ wird auch als der »mikroskopische Prozess« (microscopic process) bezeichnet (PR 214, 128 f./dt. 396, 246). Als »makroskopischen Prozess« (macroscopic process) bezeichnet Whitehead den Übergang, die ›transition‹, von einer ›actual entity‹ zur nächsten, bzw. von einer erreichten Wirklichkeit zu einer sich herausbildenden (PR 210, 214, 129/dt. 389, 396, 246). Während die ›concrescence‹ die Unmittelbarkeit der wirklich Seienden formaliter ist, besteht die ›transition‹ in ihren öffentlich-objektiven Aspekten, die in der Extensions-Theorie Whiteheads behandelt werden. Im ›transition‹-Prozess dienen die ›actual entities‹ als Superjekte, d. h. sie werden zu Objekten zukünftiger ›concrescence‹-Prozesse und somit von ihnen prehendiert. Im Prozess der ›transition‹ erscheinen die vollendeten wirklich Seienden als das raumzeitliche Kontinuum, in dem sie durch Relationen (geo)metrischer Natur aufeinander bezogen sind. 217 Die ›transition‹ ist die Brücke eines ›concrescence‹-Prozesses zu seiner Vergangenheit, die Verbindung zu seiner ›actual world‹ und somit der Träger seiner Wirkursachen, d. h. der ihm gegebenen Fakten. Die ›concrescence‹ ist dagegen die Suche nach einer eindeutigen und endgültig festgelegten Zweckursache, das Ringen um das vollkommen bestimmte Ideal des abschließenden Superjekts, welches den zukünftigen ›actual entities‹ formaliter als Objekt ihrer ›prehensions‹ dienen wird:
216 Zu meinem Verständnis vom Wesen einer ›actual entity‹ siehe Abschn. 2.2.b dieses Kapitels. 217 Vgl. auch: Rust 1987, 130.
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»Concrescence moves towards its final cause […] transition is the vehicle of the efficient cause, which is the immortal past« (PR 210/dt. 389). 218
Während die ›transition‹ in einem gewissen Sinne der antiken ›causa efficiens‹ entspricht, ist die ›concrescence‹ ein teleologischer Prozess, wenn auch nicht im Sinne der altmetaphysisch gedachten Teleologie. Der Prozess besteht eben nicht in der konsequenten Realisierung eines vorgegebenen Ziels, sondern in der Herauskristallisierung und im Erreichen eines abschließenden Endziels, wie es gleich erläutert wird. 2.3.b
Prozessuale Teleologie – die offene Suche nach einem Ziel
Whitehead versteht jede ›concrescence‹ einer ›actual entity‹ als eine »teleologische Selbstschöpfung« (teleological self-creation) (AI 195/ dt. 355), 219 er spricht aber keinesfalls von ›Teleologie‹ im Sinne der substanzphilosophisch erdachten Entelechie-Konzepte Aristoteles’, Leibniz’ und der Vitalisten. Es ist kein Zufall, dass man den Entelechie-Begriff in den Werken Whiteheads vergeblich suchen wird. Er vertritt ein moderates Teleologie-Konzept, dessen Kerngedanke darin besteht, dass zum Wesen jeder ›actual entity‹ die progressive Herauskristallisierung des Zieles gehört, nach dem sie strebt: »The actual entity, in becoming itself, also solves the question as to what it is to be. Thus process is the stage in which the creative idea works towards the definition and attainment of a determinate individuality. Process is the growth and attainment of a final end« (PR 150/dt. 282, Hervorhebung von S. K.).
Der ›concrescence‹-Prozess verfügt erst am Ende seines Weges über einen zuverlässigen ›Plan‹ seines Werdens; er bekommt erst dann eine verlässliche ›Karte‹, wenn sie ihm also von keinem Nutzen mehr sein kann, weil er seine eigene Subjektivität verliert, um Objekt anderer Subjekte zu werden. Whiteheads teleologisches Denken zeigt sich in der Überzeugung, dass die nach innerer Kohärenz strebende Selbstformung der ›actual entity‹ ein, wenn auch veränderbares Ideal voraussetzt (PR 218 An einer anderen Stelle heißt es: »[E]fficient causation expresses the transition from actual entity to actual entity; and final causation expresses the internal process whereby the actual entity becomes itself« (PR 150/dt. 282). 219 Zur teleologischen Struktur der ›concrescence‹ vgl. auch: PR 214/dt. 396; AI 193 f., 201/dt. 352, 363; Wolf-Gazo 1980, 15.
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IV · Die Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads und die Ontogenese
85/dt. 170), eine flexible übergreifende Idee eines Selbst, die der Integration – und schon der Aufnahme – der Objekte zu einem zusammengewachsenen neuen Subjekt vorsteht. Dieses Ideal, das Whitehead ›subjective aim‹ nennt, ermöglicht dem ›concrescence‹-Prozess seine endgültige subjektiv-superjektive Einheit zu erreichen, denn es dient als Anreiz für positive Erfassungen (PR 85/dt. 170). Das ›subjective aim‹ determiniert nicht notwendig das Werden einer ›actual entity‹, 220 denn es kann während ihrer Entstehung durch sie modifiziert werden (PR 245/dt. 448). 221 Aus diesem Grund ist es sehr hilfreich, zwischen einem abschließenden und einem anfänglichen ›subjective aim‹, das Whitehead ›initial aim‹ nennt, 222 zu unterscheiden, wie es auch einige seiner Interpreten tun (Christian 1967, 215, 305 und v. a. 314 ff.). 223 Das Konvergenzziel der Erfassungen ist selbst einer Transformation unterworfen. Diese Abdrift des ›subjective aim‹ vom ursprünglichen Ideal kann vielleicht darauf zurückgeführt werden, dass die dem Prozess gegebenen ›actual entities‹ objectivé zueinander fremd sind (PR 211/dt. 391). Eventuelle zwischen ihnen bestehende Inkompatibilitäten machen das Erreichen einer perfekten Harmonie unmöglich. Sie kann aber auch ganz im Bergson’schen Sinne als eine spontane und daher unvorhersehbar sich kontinuierlich erneuernde Transformation begriffen werden. Dafür spricht, dass Whitehead den Grad der Modifizierung des ›initial aim‹ an den Erlebensreichtum aufkommender individueller Erfahrung knüpft. 224 In diesem aus ontologischen Gründen nicht vorhersagbaren Modifikationsprozess, dem das Ziel des Subjektes unterworfen ist, besteht der entscheidende Unterschied zwischen der Konzeption des ›subjective aim‹ Whiteheads und dem altmetaphysischen Verständnis von Ziel. Hierin spiegelt sich das unorthodoxe Teleologie-Verständnis Whiteheads wider. Nicht der Prozess geht in der Teleologie auf, sondern die
Vgl. auch: Kraus 1979, 49. Bezüglich der Modifikation des ›initial aim‹ im ›concrescence‹-Prozess ist die Analyse von William Christian empfehlenswert (1967, 314–317). Vgl. auch: PR 224, 83 f., 167/dt. 411, 167, 313; Lango 1972, 44 f. 222 In Process and Reality ist auch die Rede von »the initial phase of the ›subjective aim‹« (67/dt. 140) und von »initial subjective aim« (108/dt. 209). 223 Vgl. auch: Lotter 1990, 195. 224 »[A]s soon as individual experience is not negligible, the autonomy of the subject in the modification of its initial subjective aim must be taken into account« (PR 245/ dt. 448, Hervorhebung von S. K.). 220 221
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Teleologie im Prozess. In diesem Sinne ist bezüglich des ›concrescence‹-Prozesses von einer prozessualen Teleologie die Rede. Schließlich stellt sich die Frage, woher eine neue ›actual entity‹ die Anregung für die Gestaltung ihres ›subjective aim‹, also ihr ›initial aim‹, bekommt. Whitehead sagt deutlich, dass sie ihre initiale Zweckursache von einer jenseitigen ›actual entity‹ empfängt: »God is the principle of concretion; namely, he is that actual entity from which each temporal concrescence receives that initial aim from which its self-causation starts« (PR 244/dt. 447). 225
Jeder ›concrescence‹ wird mit dem ›initial aim‹ ein ursprüngliches, der Besonderheit, die sie werden könnte, angepasstes Ideal vorgegeben, das ihre Selbstformung einleitet (PR 83 f./dt. 167). Da aber das ›subjective aim‹ auch Resultat von Entscheidungen ist, die von der entstehenden weltlichen ›actual entity‹ getroffen werden, ist seine Entwicklung eine Spezifizierung des ›initial aim‹, die in dem fortschreitenden Verwerfen von anfänglich gegebenen Möglichkeiten besteht. Aus diesem Grund ist Gott nicht als Schöpfer der weltlichen ›actual entities‹ zu sehen. Hierin besteht das wesentliche Moment der Freiheit der weltlichen Prozesse gegenüber Gott. Die Freiheit der weltlichen ›concrescence‹-Prozesse (›actual occasions‹) gegenüber dem göttlichen ›concrescence‹-Prozess wird von einer der zentralsten Thesen Whiteheads in seinem Opus magnum zum Ausdruck gebracht. Die »Kategorie der Freiheit und der Bestimmung«, mit der die lange Liste der Kategorien des kosmologischen Gedankenschemas zum Abschluss kommt, besagt, dass jeder Prozess »innerlich bestimmt und äußerlich frei ist«. 226 Das bedeutet nicht nur, dass die ›concrescence‹ der Integration all ihrer Wirkursachen, zu denen auch Gott gehört, ihren eigenen Stempel aufdrückt, sondern dass es auch ihre eigene Leistung ist, dass etwas in sie überhaupt aufgenommen wird. Mit anderen Worten: Das ›initial aim‹ muss prehensiv erfasst werden, denn es gibt keinen anderen Weg für ein Seiendes, in eine ›actual entity‹ einzugehen. Somit stellt sich die Frage, durch welche Art von ›prehensions‹ das ›initial aim‹ aufgenommen und das jeweils aktuelle ›subjective aim‹ in den Prozess weitergetragen wird. Das läuft auf die Frage hinaus, welcher Gattung von Entitäten die 225 Vgl. auch: PR 224, 347, 67, 108/dt. 411, 620, 140, 209; Johnson 1983a, 41 und Sherburne 1961, 41–46; Christian 1967, 315. 226 »The Category of Freedom and Determination. The concrescence of each individual actual entity is internally determined and is externally free« (PR 27/dt. 73).
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Ziele angehören. Ohne in die Einzelheiten dieser Frage einzusteigen, kann Folgendes festgehalten werden: Das in der Progression des Werdens jeweils aktuelle ›subjective aim‹ ist eine ›proposition‹. 227 Sie besteht aus einem zusammengesetzten ›eternal object‹, das eine prädikative Bestimmung ihrer logischen Subjekte ist, d. h. der unmittelbar prehendierten Prozesse objectivé. Dieses zusammengesetzte ›eternal object‹ bietet der werdenden ›actual entity‹ eine konkrete Möglichkeit an, ihre Objekte auf eine bestimmte Art und Weise zu erfassen, und besteht somit in einem Vorschlag bezüglich dessen, was sie in ihrer Wesensbestimmung werden könnte. Das Ideal des ›initial aim‹ – ein zusammengesetztes ›eternal object‹ – wird also durch die ›prehension‹ einer ursprünglichen ›proposition‹ aufgenommen. ›Propositions‹ gelangen durch sogenannte »unreine« (impure) ›prehensions‹ in die Prozesse (PR 184/dt. 343). Whitehead nennt sie so, weil sie Entitäten hybrider Natur einführen. Das ›subjective aim‹ enthält jedoch, wenn es Variationen erfährt, nicht das Prädikat der anfänglichen ›proposition‹. Für die fortschreitende Herauskristallisierung des ›subjective aim‹ ist allerdings die von Gott beigetragene erste ›proposition‹ die unerlässliche Initialzündung, denn »›Propositionen‹ lösen […] den Prozess der Konkreszenz aus« (Fetz 1981, 177). Während des Selbstformungsprozesses werden Variationen dieses anfänglichen Zieles, die die aufeinanderfolgenden Phasen des ›subjective aim‹ darstellen, von der ›actual entity‹ formaliter autonom erzeugt. Diese Variationen beruhen auf neuen ›propositions‹, die von
227 Whitehead sagt auf eine umständliche Weise, dass das ›subjective aim‹ des Werdens einer ›actual entity‹ mit der positiven ›prehension‹ (feeling) einer ›proposition‹ zu tun hat: »The ›subjective aim‹, which controls the becoming of a subject, is that subject feeling a proposition with the subjective form of purpose to realize it in that process of self-creation« (PR 25/dt. 69, Cat. XVIII Expl.). Während einige Interpreten die ›propositions‹ als Bestandteile der ›subjective aims‹ verstehen (Lango 1972, 50; Christian 1967, 316), was auch der Whitehead’schen Intention näher zu kommen scheint, setzt Elizabeth Kraus beide gleich: »As initially grasped, the subjective aim is a proposition, a hybrid entity whose subject in this case is the actual world given for the concrescence and whose predicate is a complex eternal object indicating the general scheme in terms of which that actual world could be integrated« (1979, 48) (vgl. auch: ebenda 102). Andere Interpreten verstehen das ›subjective-‹ bzw. ›initial aim‹ lediglich als ein zusammengesetztes ›eternal object‹. Diese Interpretation findet man explizit bei Fetz (1981, 173), während Lango (1972, 32) und Leclerc (1975, 196) vom ›subjective aim‹ als »selection(s) of eternal objects« sprechen, was ebenfalls auf ein zusammengesetztes ›eternal object‹ hinausläuft.
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der werdenden ›actual entity‹ selbst erschaffen und durch interne ›prehensions‹ weiter in die Phasen des Prozesses getragen werden. 2.3.c
Die Phasen der ›concrescence‹
Alle Entitäten im ›universe‹ einer ›actual entity‹ formaliter werden positiv oder negativ prehendiert und in ihren ›concrescence‹-Prozess einbezogen oder von ihm ausgeschlossen. Der Integration der gegebenen Vielen zum neuen Einen stehen viele mögliche Wege offen. Der konkrete Weg, den sie am Ende eingeschlagen haben wird – d. h. das Wie der Aufnahme, Bewertung und Neubewertung, des Ausschließens und der Integration prehendierter Entitäten – macht das Was, das Wesen, der neuen ›actual entity‹ aus. Die ›concrescence‹ bestimmt das Was ihres Seins, zu dem auch das Wie ihres Werdens gehört. Ihr Werden besteht in einem Geflecht von ›prehensions‹ unterschiedlicher Arten, die in verschiedenen Phasen der Integration aufeinander abgestimmt werden. Da jedoch eine ›actual entity‹ eine atomare Entität ist, können die Phasen der ›concrescence‹ nicht als zeitlich aufeinander folgend gedacht werden. Jede ›concrescence‹ wird aus zeitlogischen und psychologischen Gründen als ein Zeitatom gedacht, das entweder als Ganzes oder gar nicht entsteht. 228 Von ›Phasen‹ ist also die Rede nur im Sinne einer rein logischen Analyse des ›prehensions‹-Geflechtes. Whitehead unterscheidet drei große Phasen der ›concrescence‹ (PR 212/dt. 392). Es ist möglich, weitere Unterteilungen vorzunehmen, aber das ist dem biophilosophischen Ziel der vorliegenden Untersuchung nicht dienlich. 2.3.c.1 Die Phase der reinen Aufnahme und das ›initial aim‹ als ihr Grund Die ›concrescence‹ beginnt mit einer Vielzahl (positiver) physischer ›prehensions‹, die alle wirklich Seienden der ›actual world‹ unmittelbar oder mittelbar aufnehmen. Ihre erste Phase besteht in der »reinen
228 Bezüglich der psychologischen Begründung der zeitlichen Atomizität ist folgende Stelle interessant: »The subjective unity dominating the process forbids the division of that extensive quantum which originates with the primary phase of the subjective aim« (PR 283/dt. 513). Dieser Gedanke wird auch ausgehend von der Einheit des ›subjective aim‹ formuliert (PR 69/dt. 144).
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Aufnahme« (pure reception) der ›actual world‹ der entstehenden ›actual entity‹ (PR 212/dt. 392); ja sie ist ihre ›actual world‹ : »This datum, which is the primary phase in the process constituting an actual entity, is nothing else than the actual world itself […] The actual world is the ›objective content‹ of each new creation« (PR 65/dt. 136).
Der Akt der Aufnahme der ›actual world‹ ist, wie schon gesagt, der physische Pol der wirklichen Entität. Die Anfangsphase nimmt gegenüber der Vergangenheit des Prozesses eine gewissermaßen wiederholende Haltung (re-enaction) ein (AI 192/dt. 350 f.), sie verhält sich ihr gegenüber passiv und wird deshalb auch »reaktive Phase« (responsive phase) (PR 212/dt. 392) genannt. Sie entspricht der Konzeption der reinen Wahrnehmung Bergsons, bei der die Dinge dort wahrgenommen werden, wo sie sind, 229 denn das Subjekt hat sich noch nicht als ein begrenztes raumzeitliches Datum, das eine vollkommen bestimmte räumliche Lokalisation einnimmt, konsolidiert. Whitehead zufolge, gehört auch Gott zu den wirklich Seienden der ›actual world‹ der neuen ›actual entity‹. 230 Von ihm bekommt die neue Entität, dadurch dass sie ihn positiv prehendiert, ihr ›initial aim‹, das eine ›proposition‹ ist, 231 die ein ihrer ›actual world‹ angepasstes Ideal für den kreativen Fortschritt darstellt: »It derives from God its basic conceptual aim, relevant to its actual world, yet with indeterminations awaiting its own decisions. This subjective aim, in its successive modifications, remains the unifying factor governing the successive phases interplay between physical and conceptual feelings« (PR 224/dt. 411, Hervorhebungen von S. K.).
Bergson schreibt in Materie und Gedächtnis: »Unsere Wahrnehmung ist, wenn sie rein ist, wirklich ein Bestandteil der Dinge selbst« (52/Œuv. 212). 230 »The actual worls must always mean the community of all actual entities, including the primordial actual entity called ›God‹ and the temporal actual entities« (PR 65/ dt. 137). Whitehead sagt auch an anderen Stellen eindeutig, dass Gott ein Bestandteil der ›actual world‹ jeder ›actual occasion‹ ist (PR 220/dt. 403). 231 Es stellt sich die Frage, wie es möglich ist, dass das ›initial aim‹, das eine hybride Entität und keine ›actual entity‹ ist, durch eine physische ›prehension‹ (die in diesem Fall auf Gott gerichtet ist) erfasst werden kann. Eine durch eine physische ›prehension‹ erfasste ›actual entity‹ kann durch ihre eigene positive begriffliche ›prehension‹ erfasst werden. Eine solche physische ›prehension‹, durch die ein ›eternal object‹ erfasst wird, das von der erfassten ›actual entity‹ ebenfalls erfasst wurde, wird eine ›hybride‹ genannt (siehe Abschn. 2.2.c.4 dieses Kapitels). Solche Einzelheiten sind jedoch für die vorliegende Arbeit nicht von großer Bedeutung und werden daher nicht vertieft. 229
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Die erste Phase der ›concrescence‹ verhält sich rein konform zur Realität. Ihre physischen ›prehensions‹ nehmen alle gegebenen Daten ausnahmslos auf. Da jedoch nicht nur weltliche Fakten zur ›actual world‹ gehören, sondern auch Gott, kann die konforme Phase ein Ideal einführen, das zu einer ›concrescence‹ anregt, die schließlich zu einer tiefen Transformation der zunächst passiv geerbten Vergangenheit führen kann. Dies ist bei einigen ›actual entities‹ der Fall, die sich in Lebewesen ereignen und insbesondere bei solchen, die mit Bewusstsein begabt sind. An dieser Stelle ist hervorzuheben, dass das logische Subjekt der initialen ›proposition‹ den regionalen Standpunkt des neuen ›concrescence‹-Prozesses, d. h. was er physisch prehendieren wird, festlegt. Das raumzeitliche Kontinuum der physischen Realität, das aus schon manifestierten ›actual entities‹ besteht, legt durch seine metrische Struktur keineswegs fest, wie es unterteilt werden kann – es ist potentiell teilbar, aber nicht aktuell geteilt. Mit dem ›initial aim‹ wird eine Teilung des Kontinuums initiiert, denn ein raumzeitliches Quantum wird ausgewählt, das die zu prehendierenden manifesten Daten enthält: »For each process of concrescence a regional standpoint in the world, defining a limited potentiality for objectifications, has been adopted. In the mere extensive continuum there is no principle to determine what regional quanta shall be atomized, so as to form the real perspective standpoint for the primary data constituting the basic phase in the concrescence of an actual entity. The factors in the actual world whereby this determination is effected […] constitute the initial phase of the subjective aim« (PR 67/dt. 139 f., Hervorhebungen von S. K.).
Der ›concrescence‹ wird also durch das ›initial aim‹ ein raumzeitliches Quantum zugeteilt, das eine extensive Region im physischen Kontinuum des Kosmos ist. Dieses extensive Quantum, d. h. die konkreten ›actual entities‹ objectivé aus denen es besteht, legt fest, was physisch prehendiert wird und dadurch auch mittelbar, welcher makrophysikalischen Region des extensiven raumzeitlichen Kontinuums kausale Relevanz zukommt, womit der weltliche Teil der ›actual world‹ der neuen ›concrescence‹ festgelegt wird (PR 283/dt. 514) (vgl. auch Abbild. 4.1 und 4.4). Auf ihr Quantum bezieht sich die ›actual entity‹ formaliter nichtlokal, d. h. ohne in diesem zu sein; sonst wäre sie auch eins der in ihm lokalisierten Daten. Ihre Anwesenheit ›im‹ Quantum kann man metaphorisch mit der Anwesenheit eines Lesers 537 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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›in‹ einem Text vergleichen. Es kann genauso gut gesagt werden, das Quantum ist ›in‹ der erfassenden Entität. Im Rahmen der Leser-Metapher kann das Resultat der Erfassung als Vereinheitlichung und Überwindung des ›Gelesenen‹ (der erfassten Entitäten) gesehen werden, die anderen ›Lesern‹ (zukünftigen ›actual entities‹) präsentiert werden. Die Auswahl einer für den Prozess förderlichen Region ist jedenfalls von essentieller Bedeutung, weil eine bestimmte Art von Subjektivität eine bestimmte Art von Welt für die einleitende Phase ihrer ›concrescence‹ benötigt (PR 203/dt. 377). 2.3.c.2 Das Herz des Prozesses: die ergänzende Phase und die Entstehung des mentalen Poles Die zweite Phase der ›concrescence‹ macht das Herz des Prozesses aus, denn in ihr nimmt sein privates Ideal kontinuierlich Gestalt an (PR 212/dt. 392). Die prehendierten Daten der ersten Phase, die zunächst so erlebt werden, als würden sie externen Zentren angehören, werden in die Einheit einer ästhetischen Unmittelbarkeit transformiert (ebenda). In dieser Phase entstehen ›subjective forms‹, wie Emotionen, Bewertungen, Zwecke, Zuneigungen, Aversionen und in manchen Fällen Bewusstsein (PR 24/dt. 67, Cat. XIII Expl.), die in der ersten Phase abwesend sind. 232 Die ›prehensions‹ der ersten Phase nehmen jetzt aufgrund des Einfließens neuer begrifflicher ›prehensions‹ emotionalen Charakter an (PR 212/dt. 393). Das Geflecht der ›subjektive forms‹ ist die Innenperspektive des Erlebens dieser kreativen Phase, die als Quelle der Neuheit dient. In dieser Phase wird der mentale Pol der neuen ›actual occasion‹, der durch das ›initial aim‹ begründet wird, ausgeformt, d. h. durch begriffliche Erfassungen und neue ›propositions‹ bereichert und vervollkommnet. Die Entwicklung des mentalen Poles beginnt mit den begrifflichen ›prehensions‹ der ›eternal objects‹, die in den physisch prehendierten ›actual entities‹ verwirklicht sind, also mit dem Herausextrahieren der abstrakten Entitäten aus der konform aufgenommenen Realität (PR 248, 26/dt. 453, 71; Cat. IV Obl.). So können z. B. in einem mit Bewusstsein begabten Prozess von einem roten Ball die Idee der Röte und der Kugel abstrahiert werden. Auf diese Weise leitet der aufkeimende mentale Pol die tatsächliche Aneignung des physischen Pols ein, die erst am Ende dieser Phase abgeschlossen sein 232
Dies veranschaulicht Whitehead am Beispiel des Hörens (PR 234/dt. 429).
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wird. Die Hauptfunktion des mentalen Poles geht jedoch weit über die begriffliche Reproduktion des physischen Poles hinaus, denn sie besteht vielmehr in diesem Teil der Gestaltung der ›concrescence‹, der nicht aus der Analyse der ›prehensions‹ der konformen Phase zu rekonstruieren ist, d. h. in der Einführung von Neuheit, die durch verschiedene Möglichkeiten stattfinden kann. Einer der Wege der Transformation des Gegebenen besteht in den Bewertungen der von den ›actual entities‹ objectivé extrahierten ›eternal objects‹. Die ›valuations‹ machen die ›subjective forms‹ dieser begrifflichen ›prehensions‹ aus (PR 240/dt. 439). 233 Die ›eternal objects‹ können positiv oder negativ bewertet werden; Whitehead spricht von »Aufwertung« oder »Zuneigung« (valuation up bzw. adversion) und von »Abwertung« oder »Abneigung« (valuation down bzw. aversion), die Typen der Entscheidung sind (PR 254, 261/dt. 463, 476). 234 Je nach der Art der Bewertung werden die von der ›actual world‹ beigetragenen ›eternal objects‹ entweder in die ›concrescence‹ integriert oder von ihr ausgeschlossen. Die positiv prehendierten werden durch ein Geflecht von ›propositions‹ neu miteinander kombiniert und immer wieder neu bewertet, bis sich eine endgültige, ideelle Form für die neue Entität herauskristallisiert hat. Insofern solche Bewertungen der in der ›actual world‹ verwirklichten Ideen stattfinden, geschehen sie keineswegs willkürlich, sondern orientieren sich an einem Ideal. Der mentale Pol kann – je nach der Erlebensintensität der ›actual entity‹ formaliter – ›eternal objects‹ beinhalten, die nicht im weltlichen Teil ihrer ›actual world‹ verwirklicht sind, womit neue abstrakte Formen der reinen Potentialität aufgenommen werden. Sie werden vom logischen Prädikat des ›initial aim‹ eingeführt und gehen somit auf eine nicht-konforme ›proposition‹ göttlicher Herkunft zurück (PR 250/dt. 456). 235 Gott gibt der werdenden ›actual entity‹ ein »set of eternal objects«, für das er zuvor, ausgehend von der Beschaffenheit ihres ›universe‹, Grade der Relevanz unterschieden hat. 236 Diese in der ersten Phase passiv aufgenommene ›proposition‹ kann nun das Ideal ihres logischen Prädikats in den mentalen Pol der EntiVgl. auch: PR 247, 248, 313/dt. 452, 453, 564. Vgl. auch: PR 184, 241, 247, 248, 277/dt. 343, 441, 452, 454, 503. 235 Vgl. auch: Sherburne 1961, 51 f.; Fetz 1981, 188. 236 Gott vermittelt zwischen den weltlichen wirklich Seienden und den zeitlosen abstrakten Entitäten: »He is the actual entity in virtue of which the entire multiplicity of eternal objects obtains its graded relevance to each stage of concrescence« (PR 164/dt. 306). Vgl. auch: Kraus 1979, 107 und Lango 1972, 32. 233 234
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tät einführen. Den Unterschied zwischen den schon verwirklichten ›eternal objects‹ der weltlichen ›actual world‹ und dem von Gott beigetragenen, zusammengesetzten ›eternal object‹ des ›initial aim‹, das eine Neuorientierung des Prozesses anregen soll, bezeichnet Whitehead als »begriffliche Umkehr« (conceptual reversion) (PR 249, 26/ dt. 454, 71 f.; Cat. V Obl.). Wenn es im Prozess der ›concrescence‹ zu einer begrifflichen Umkehr kommt, entstehen neue positive begriffliche ›prehensions‹, die nur zum Teil mit den früheren übereinstimmen. So kann z. B. bei der Konzeption eines Balles die Idee der Röte von der Idee der Bläue ersetzt werden. Die Kategorie der begrifflichen Umkehr ist besonders wichtig für das Verständnis von Prozessen, die Lebewesen konstituieren. Im Falle einer ›actual entity‹, die sich in einem Lebewesen manifestiert, ist zu sagen, dass das logische Prädikat der nicht-konformen ›proposition‹, die als ›initial aim‹ der ›concrescence‹ dient, die ›actual entity‹ formaliter dazu ›verführt‹, das logische Subjekt der ›proposition‹, d. h. den ›nexus‹, der das zu prehendierende Lebewesen, oder einen Teil von ihm, darstellt, durch ein zusammengesetztes ›eternal object‹ zu erfassen. Dieses beschränkt sich nicht nur darauf, den vorliegenden Organismus als Vertreter einer bestimmten biologischen Art zu charakterisieren, 237 sondern regt auch dazu an, eine bestimmte Neuheit einzuführen, die in Kontrast zu seinem bisherigen Leben steht. Dieses zusammengesetzte ›eternal object‹ ist der Kern des ›initial aim‹, der im Laufe des Prozesses durch eine Reihe von Neubewertungen zum abschließenden Endziel der ›concrescence‹ transformiert wird. Eine andere neben der begrifflichen Umkehr wichtige Kategorie, die der Verwirklichung von Neuheit dient, ist die der »Umwandlung« (transmutation) (PR 27/dt. 72, Cat. VI Obl.). Diese Kategorie besagt, dass viele in der konformen Phase getrennt voneinander prehendierten ›actual entities‹, die aber ein und dasselbe ›eternal object‹ verwirklicht haben, im Laufe der ergänzenden Phase zu einer einzigen neuen Entität – einem ›nexus‹ – verdichtet werden. Die Kategorie der Umwandlung bezieht sich vor allem auf die bewusste menschliche Wahrnehmung, in der nie einzelne ›actual entities‹ distinkt voneinander erfasst werden, sondern immer nur als Einheiten, wie Bäume, Wälder, Seen usw., wahrgenommen werden, was die Vagheit unserer Wahrnehmung erklärt (PR 251/dt. 459). Es gibt allerdings gute Gründe 237 Das würde ein ›eternal object‹ tun, das mit der Realität ausschließlich konform mitgeht.
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davon auszugehen, dass auch die Wahrnehmungen aller Lebewesen, bis hin zu den innerorganismischen Wahrnehmungen der Zellen, von ihrer Umgebung auf eine ähnliche Weise abstrahieren, indem sie die Wahrnehmungen vieler distinkter ›actual entities‹ in die Wahrnehmung eines einzigen ›nexus‹ vereinfachend verdichten. 238 Die positiv bewerteten bzw. durch begriffliche Umkehr oder Umwandlung eingeführten ›eternal objects‹ werden im Laufe der ergänzenden Phase wieder auf die physisch prehendierten ›actual entities‹ bezogen, sodass neue Reflexionen, die in der Regel protomentalvorbewusst bleiben, über die Beschaffenheit der einbezogenen Fakten der ›actual world‹, also der Vergangenheit, entstehen. Es sind ›propositions‹ der Art, »dieses wirklich Seiende gehört nicht dieser, sondern jener Gattung an« oder »es hat eine Eigenschaft dieser Art« und, bei der Umwandlung, »diese ›actual entities‹ haben diese gemeinsame Eigenschaft« oder »sie bilden diese gemeinsame Entität«, die in dieser Phase der ›concrescence‹ auftauchen (Sherburne 1961, 55 ff.). Es ist jedoch zu betonen, dass alle Operationen, die den mentalen Pol der werdenden Entität ausmachen, die während der Entwicklung dieser Phase noch nicht integriert miteinander sind, dank des nach Einheit strebenden Subjekts-Superjekts, das sie hervorbringt, zunehmend integriert werden (PR 223, 26/dt. 409, 71; Cat. I Obl.). Die in der ergänzenden Phase aufkommenden ›propositions‹ werden miteinander integriert und reintegriert, woraus wiederum neue ›propositions‹ entstehen (AI 192 f./dt. 351, PR 219/dt. 401) – hierin besteht der Sinn der sukzessiven Bewertungen. Resultat dieses Zusammenwachsens ist die progressive Integration des Ideals der Entität mit ihren positiv bewerteten ›eternal objects‹ und ›propositions‹, die seine Transformation bewirkt. So entsteht aus dem ›initial aim‹ eine Sukzession von ›subjective aims‹, die das jeweils gültige Kriterium der Bewertung von ›eternal objects‹ und ›propositions‹ liefern, 239 bis schließlich das abschließende ›subjective aim‹ der ›concrescence‹ entstanden ist – d. h. eine ›proposition‹ mit einem zusammengesetzten Ein anderer Weg der Realisierung von Neuheit, der hier aber nicht von Bedeutung ist, weil er ausschließlich Prozessen offen steht, die mit Bewusstsein begabt sind, ist der Bezug eines ›eternal object‹, das von einer ›actual entity‹ abstrahiert wurde, auf eine andere (Sherburne 1961, 67 (zu beachten ist vor allem die dort enthaltene Figur 6)). 239 Dies geht aus folgender Stelle eindeutig hervor: »This subjective aim, in its successive modifications, remains the unifying factor governing the successive phases of interplay between physical and conceptual feelings« (PR 224/dt. 411). 238
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›eternal object‹, das die ideelle Form der in ihrer Subjektivität abgeschlossenen ›actual entity‹ darstellt. Die im Laufe der ergänzenden Phase im mentalen Pol des Subjekts stattfindenden negativen begrifflichen ›prehensions‹, positiven Bewertungen, begrifflichen Umkehrungen und Umwandlungen lassen aus den »Initialdaten« (initial data), d. h. aus der Gesamtheit aller in der konformen Phase prehendierten ›actual entities‹, ein »objektives Datum« (objective datum) gewinnen (PR 238/dt. 435). 240 Die vom ›initial aim‹ festgelegten Initialdaten werden zu Objekten dieses bestimmten sich selbst ausformenden Subjekts, womit der physische Pol der Entität zu ihrem wirklich eigenen wird. Bei kontrastreichen ›actual occasions‹, die in Lebewesen oder sogar in hochentwickelten Nervensystemen stattfinden, steigert sich der Reichtum der Verflechtung aller oben beschriebenen Operationen, der von einem entsprechend reichhaltigen ›initial aim‹ begründet wird, in solche Höhen, die sogar die Emphase eines bewussten Urteils erreichen können. Aber bei den sehr einfachen Prozessen, die sich im leeren Raum oder in anorganischen ›societies‹ manifestieren, wird die konforme Phase entweder kaum ergänzt oder der mentale Pol begrenzt sich in einer begrifflichen Reproduktion des physischen. Es entstehen wirklich Seiende geringer Erfahrungsintensität, deren Kreativität, verglichen zum konformen Mitgehen mit den Wirkursachen, die sie beerben und übertragen, vernachlässigbar ist (PR 47/dt. 105). Vor allem bei Mitgliedern von ›enduring objects‹ und ›corpuscular societies‹ erschöpft sich der Prozess in einer faden Wiederholung des definierenden Charakteristikums seiner Vorgänger, der die Unmittelbarkeit einer risikoreichen ›concrescence‹ fehlt. 241 Die makroskopische Kontinuität der Materie wird – wie bei der Bergson’schen Naturphilosophie – auf ein extrem schnell wiederholendes Kopieren der jeweils unmittelbar vergehenden Entität zurückgeführt. Aus dem Studium der Aufeinanderfolgen solcher ›actual entities‹, deren Wesen nicht im Verwirklichen neuer Ideen, sondern in der bloßen Wiederholung der Vergangenheit besteht, gehen diejenigen unserer bewussten ›propositions‹ über die Beschaffenheit der Wirklichkeit hervor, die als ›Naturgesetze‹ bezeichnet werden. Abschließend ist hervorzuheben, dass durch das Verwerfen von Vgl. auch: PR 221, 231, 236/dt. 404, 423, 432. »The mere objectification of actual entities by eternal objects lacks ›immediacy‹. It is ›repetition‹ ; and this is a contrary to ›immediacy‹« (PR 155/dt. 290). 240 241
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›eternal objects‹ und ihrer Ersetzung durch andere die wirkliche Entität sich der einfachen Lokalisierung in einem Zustandsraum widersetzt. 242 Der ›concrescence‹-Prozess ist nicht während seines Werdens an einer festgelegten Verbindung von abstrakten Entitäten gebunden, denn die Wesensbestimmung einer ›actual occasion‹ formaliter besteht eben auch in der Suche nach einer solchen Verbindung. Zu Beginn der ›concrescence‹ besteht das abstrakte Wesen des Prozesses im ›initial aim‹. Am Ende der ›concrescence‹ besteht es im endgültigen ›subjective aim‹. Zum Wesen des Prozesses, d. h. zu seiner ›real internal constitution‹ (die weder auf sein reales Wesen noch auf sein abstraktes oder eine Kombination beider reduziert werden darf 243), gehört auch seine innere Seite, die mit der Erfahrung (›subjective forms‹) der Gestaltung seines eigenen abstrakten Wesens identisch ist. 244 Das Wesen einer wirklichen Entität wird also radikal verfehlt, wenn es – als wäre die Entität lediglich ein materielles Element – auf eine Verbindung arithmetischer und physischer Universalien reduziert wird, die einen Punkt in einem Zustandsraum besetzt. Damit am Ende der ›concrescence‹ diese punktartige Manifestation erreicht wird, hat der Prozess in der Phase seiner Konsolidierung an vielen anderen Kombinationen abstrakter Entitäten partizipiert, die aber im Laufe seiner Selbstbestimmung verworfen wurden. 2.3.c.3 ›Satisfaction‹: der Abschluss des Prozesses und sein ÖffentlichWerden als doppelt verräumlichte Manifestation Mit der Entscheidung eines wirklich Seienden, dass eine bestimmte Modifikation des ›subjective aim‹ geeignet ist, seine abschließende Zweckursache zu werden, gibt sich der Prozess des Zusammenwachsens sein Ende. Diese letzte Phase der ›concrescence‹ nennt Whitehead satisfaction, weil mit ihr die Wesensbestimmung eines weltlichen Prozesses, der in der Suche nach seinem Zweck und seinem Sinn im Zusammenhang der Realität besteht, den erfüllenden HöheSiehe Abschn. 3.2.b.2 von Kap. II. Siehe Abschn. 2.2.b dieses Kapitels. 244 In der Sprache der Metaphysik Aristoteles’ ausgedrückt, besteht die erste Substanz, d. h. die ›actual entity‹ selbst, auch (nicht nur) in ihrem Erleben ihrer eigenen Wesensbestimmung. Einen wichtigen Teil dieser Wesensbestimmung macht die Herauskristallisierung der zweiten Substanz bzw. des eidos (›abstraktes Wesen‹) aus. Dieser Gedanke darf natürlich nicht auf die Metaphysik von Aristoteles angewandt werden, da er den ›ersten Substanzen‹ nicht das Vermögen zuspricht, ihr eigenes Wesen bestimmen zu können. 242 243
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punkt ihres Abschlusses erreicht (PR 212/dt. 391 f.). Wenn alle Vagheit bezüglich der Verwirklichung von Möglichkeiten eliminiert ist, hat die Integration aller Inhalte, gegebener und erzeugter, eine vollkommene Bestimmtheit erreicht, die keinen Zusatz duldet, da die ›actual occasion‹ auch der Grund für das geworden ist, was sie ausschließt (PR 45/dt. 101 f.). Durch die ›satisfaction‹ verliert die ›actual occasion‹ die Unmittelbarkeit des Subjekts, da ihre Operationen zum Erliegen kommen. Sie existiert als reines Superjekt, denn ihre Bedeutung enthält sie nicht mehr in und durch sich selbst, sondern muss sie von den sie prehendierenden Subjekten bekommen. Insofern bezieht sich der Ausdruck ›satisfaction‹ auf die vollendete Form der Entscheidung, die das Wesen einer ›actual occasion‹ ausmacht und nicht auf den Prozess als solchen: »The notion of ›satisfaction‹ is the notion of the ›entity as concrete‹ abstracted from the ›process of concrescence‹ ; it is the outcome separated from the process, thereby losing the actuality of the atomic entity, which is both process and outcome. […] It closes up the entity; and yet is the superject adding its character to the creativity whereby there is becoming of entities superseding the one in question. The ›formal‹ reality of the actuality in question belongs to its process of concrescence and not to its ›satisfaction‹« (PR 84/dt. 168).
Durch den Verlust ihrer Innerlichkeit gewinnt eine weltliche ›actual entity‹, d. h. eine ›actual occasion‹, 245 die Möglichkeit, in das Wesen anderer Prozesse als ihr Objekt integriert zu werden, denn dank ihrer ›satisfaction‹ wird sie zu einem raumzeitlich manifesten, »eigensinnigen« (stubborn) Faktum, das die physischen Pole anderer zukünftiger Subjekte beinhalten werden: »In Descartes’ phraseology, the satisfaction is the actual entity considered as analysable in respect to its existence ›objectivé‹. It is the actual entity as a definite, determinate, settled fact, stubborn and with unavoidable consequences« (PR 219 f./dt. 402).
Anders als die ›actual occasion‹ formaliter, die aufgrund ihrer Nichtlokalität ihren prehensiven Bezug zum manifesten Teil der Realität hat, stellt die ›satisfaction‹ den ›Sprung‹ in eine raumzeitlich lokale Existenzweise dar – sie ist »a drop of space-time« (Kraus 1979, 71). 245 Es sei daran erinnert, dass der Begriff ›actual occasion‹ auf alle ›actual entities‹ außer Gott referiert.
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Mit der ›satisfaction‹ gibt sich »ein inneres Bestreben, welches darauf abzielt, ein bestimmtes Energiequantum in einer bestimmten raumzeitlichen Region des extensiven Kontinuums zu verwirklichen« den »natürlichen Ort« seiner »Aktualisierung« (Wiehl 1990b, 228). Am Ende des Prozesses verleiht sich der emotionale Komplex der vollendeten ›subjective form‹ Ausdruck, indem er sich in ein raumzeitlich lokalisiertes Datum bestimmter Beschaffenheit ›übersetzt‹ bzw. – im Bergson’schen Sinne des Begriffs – verräumlicht. 246 Mit seiner Theorie der ›concrescence‹ entwickelt Whitehead seine eigene Fassung der Kritik an dem, was Bergson als verräumlichtes Denken beschrieben hat (SMW 64/dt. 66). In deutlicher Nähe zur Bergson’schen Theorie der Extension der Materie (MG 194–199) geht er davon aus, dass ein wirklich Seiendes nicht einfach lokalisiert ist. Erst am Ende seiner Wesensbestimmung bekommt es eine bestimmte raumzeitliche Position. Seine Existenz im Modus der raumzeitlichen Lokalität verlangt aber auch nach einer festgelegten Qualität als Verbindung von abstrakten Entitäten. Mit dem Ende des Prozesses steht also nicht nur die raumzeitliche Lokalität der ›actual entity‹, sondern auch ihre Lokalität im ›Raum‹ der abstrakten Entitäten (Zustandsraum) fest. In der letzten Phase der ›concrescence‹ findet also eine doppelte Verräumlichung statt. 247 Durch sie wird der Prozess eine im eigentlichen Sinne wirkliche (wirksame) Entität, weil er durch seine Manifestation die raumzeitlich manifeste Realität, die Wirklichkeit, verändert, wobei diese Veränderung seine Wesensbestimmung ausmacht. Zusammenfassend: Die ›satisfaction‹ ist der Übergang von der meta-physischen zur physischen, d. h. von der nichtlokalen zur doppelt lokalisierten Seinsweise der ›actual occasion‹. Sie ist die Manifestation einer weltlichen wirklichen Entität als ein räumlich lokalisiertes materielles Element oder als viele solche, die voneinander räumlich getrennt sind. Im Unterschied jedoch zum Bergson’schen Aktualisierungsprozess, der sich entlang des heterogenen Kontinuums der Wesensunterschiede der Dauern vollzieht (vgl. Abb. 3.1), ereignet sich die Verräumlichung einer ›actual occasion‹ als ein einziger spontaner Übergang von einer meta-physischen Seinsweise in eine physische. Denn anders als Bergson, der eine Unzahl verschiedener Ebenen der 246 »The actual entity as described by the morphology of its satisfaction is the actual entity ›spatialized‹, to use Bergson’s term« (PR 220/dt. 402). 247 Siehe Abschn. 3.2.b.4 von Kap. II.
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Existenz annimmt, lässt Whitehead nur zwei zu: formaliter und objectivé, bzw. Existenz im Modus des Prehendierens oder des Prehendiert-Werdens. Dabei müssen – wiederum anders als bei Bergson – nur die nicht göttlichen wirklich Seienden, die ›actual occasions‹, beide Ebenen durchlaufen. Es ist offensichtlich, dass wenn im Rahmen der Whitehead’schen Theorie von ›Aktualisierungen‹ die Rede ist, dies nicht mit den Aktualisierungsprozessen der Bergson’schen Metaphysik verwechselt werden darf. Mit der ›satisfaction‹ verliert die ›actual occasion‹ ihre prehensive interne Relationalität und fängt an, externe Relationen zu anderen ebenfalls ›erfüllten‹ Entitäten zu unterhalten, wodurch sie die metrischen Eigenschaften der Raumzeit mitbestimmt (Rust 1987, 130). Dank der ›satisfaction‹ kommt der Prozess für eine kurze Zeit zum Genuss des substantiellen Für-Sich-Selbst-Verharrens, das für externe Relationalität unerlässlich ist: »›Satisfaction‹ provides the individual element in the composition of the actual entity – that element which has led to the definition of substance as ›requiring nothing but itself in order to exist‹« (PR 84/dt. 168, Hervorhebungen von S. K.). 248
Durch ihre letzte Phase löst sich die ›actual entity‹ von ihrer wesensstiftenden Interdependenz mit anderen Entitäten ab und versucht in die Ordnung des wesenhaften Nebeneinanders einzutreten: »In the conception of the actual entity in its phase of satisfaction, the entity has attained its individual separation from other things; it has absorbed the datum, and it has not yet lost itself in the swing back to the ›decision‹ whereby its appetition becomes an element in the data of other entities superseding it. Time has stood still – if only it could« (PR 154/dt. 288 f., Hervorhebung von S. K.).
Aber die Zeit bleibt nicht still und das raumzeitliche Datum vergeht – die Zeit des Kosmos beruht gerade auf der vergehenden Manifestation der weltlichen wirklich Seienden. Sie vergehen jedoch nicht, ohne ihre Spuren in anderen ›actual entities‹ zu hinterlassen. Durch ihre ›satisfaction‹ erreicht eine weltliche ›actual entity‹ objektive Unsterblichkeit, weil sie Objekt der physischen ›prehensions‹ anderer Prozesse wird. Einer der auffälligsten Aspekte der organischen Philosophie ist, dass die Zeit des Makrokosmos aus den mikrokosmischen ›actual oc248
Vgl. auch: AI 177/dt. 328.
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casions‹ resultiert, ohne jedoch dass die ›concrescence‹ Letzterer in der physikalischen Zeit stattfindet. 2.3.d
›Concrescence‹ als Epoché
Whitehead betont, dass jeder endliche Prozess als ein Ganzes und nicht als eine zeitliche Sukzession entsteht. Die Phasen der ›concrescence‹ sind nur logische und keine zeitlichen Phasen, die nacheinander angeordnet sind, da die zeitliche Ordnung erst durch die Verhältnisse der ›actual occasions‹ zueinander entsteht: »This genetic passage from phase to phase is not in physical time […] the genetic process is not the temporal succession […] Each phase in the genetic process presupposes the entire quantum, and so does each feeling in each phase. […] The problem dominating the concrescence is the actualization of the quantum in solido« (PR 283/dt. 513 f., erste Hervorhebung von S. K.).
Die Zeitlichkeit der ›concrescence‹-Prozesse beschreibt Whitehead mit dem Begriff der Epoché, der ›Anhalten‹ bzw. ›Innehalten‹ bedeutet. Ein psychologisches Argument spielt bei dieser Vorstellung eine wichtige Rolle: Der ›concrescence‹-Prozess ist auch ein mentaler Akt, weshalb ihm subjektive Einheit und somit Unteilbarkeit zukommt. 249 Für die atomare Natur der ›concrescence‹ sprechen aber auch rein logische Überlegungen, wovon gleich die Rede sein wird. Der phänomenologisch-psychologische Beweis der epochalen Zeittheorie, von dem schon die Rede war, basiert auf der inneren Erlebensperspektive subjektiver Akte. Whitehead beschreibt sie an einer entscheidenden Stelle seines Hauptwerkes mit Hilfe eines von William James eingeführten Begriffs, indem er die ›actual entities‹ als »Wahrnehmungströpfchen« (drops of perception) versteht, die entweder in einem Stück auftauchen oder gar nicht (PR 68/dt. 141). James schreibt im fünfzehnten Kapitel seines berühmten Werkes The Principles of Psychology, dass die Qualität unserer geistigen Zustände auf der erlebten Durchdringung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beruht. Das Erleben der Gegenwart ist wegen dieses Ineinanders von Retrospektion und Prospektion, bzw. Retention und Protention, um mit Husserl zu sprechen, niemals das Erleben 249 »The subjective unity dominating the process forbids the division of that extensive quantum which originates with the primary phase of the subjective aim« (PR 283/dt. 513). Dieser Gedanke wird auch ausgehend von der Einheit des ›subjective aim‹ formuliert (PR 69/dt. 144).
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eines zeitlichen Punktes, sondern das einer »Dauer« (duration). 250 Innerhalb einer ›duration‹ gibt es nicht das Erleben einer Abfolge; das Zeitintervall wird als Ganzes gefühlt (James 1950, 610). Whitehead kennzeichnet ebenfalls die Epoché einer ›concrescence‹ als ›duration‹. 251 Seine Vorstellungen weichen aber mindestens bezüglich eines sehr wichtigen Punktes von denen James’ ab: Die Whitehead’sche Epoché ist kein scheinbares Anhalten, sondern ein reales. 252 Diesbezüglich lässt der logische Beweis der Epoché keine Zweifel. Ausgehend von einer Abwandlung der Pfeil-Paradoxie Zenons gelangt Whitehead zur Überzeugung, dass es zwar ein Werden von Kontinuität gibt, aber das Werden selbst nichts Kontinuierliches sein kann. 253 Whitehead ersetzt die Bewegung des Zenon’schen Pfeils durch die Progression eines beliebigen Prozesses, die sich kontinuierlich, im abstrakt-mathematischen Sinne von Kontinuität, abspielt. Wenn ein Prozess, der z. B. eine Sekunde anhält, in zwei zeitliche Hälften teilbar ist, von denen die zweite die erste voraussetzt, dann ist auch die erste der beiden Hälften in zwei weitere Hälften teilbar, von denen die zweite die erste voraussetzt, usw. ad infinitum. Auf diese Weise gelangt man nicht zu etwas Bestimmtem, das am Anfang des Prozesses steht. 254 Man findet also nicht ›etwas‹, das tatsächlich zu 250 Diese Dauer nennt James, dem Psychologen Edmund Clay folgend, ›specious present‹, also ›scheinbare Gegenwart‹. Den damals (um 1875) durchgeführten Experimenten zufolge betrage die maximale Dauer, die man erfahren könne, zwischen 3 und 12 Sekunden und die minimale um die 2/1000 Sekunde (James 1950, 613 f.). 251 »A duration […] is an epoch, i. e., an arrest« (SMW 157/dt. 151). In der deutschen Übersetzung wird ›duration‹ als ›Zeitschnitt‹ übersetzt. 252 James zufolge wird das Gefühl der Dauer von einem unbekannten materiellen Mechanismus des Gehirns erzeugt (1950, 630). Der ›specious present‹ ist also eine subjektive Angelegenheit, die auf Gehirnvorgänge zurückzuführen ist, die in der objektiven, physikalischen Zeit stattfinden (ebenda 632). Genauer gesagt, der subjektive Eindruck der Dauer wird, James zufolge, aus der Überlagerung eines aktuellen Gehirnvorgangs mit den noch nicht vollständig erloschenen materiellen Spuren vergangener Vorgänge im Gehirn erzeugt. James knüpft also – im Gegensatz zu Bergson – an die Spur-und-Abdruck-Metapher des Gedächtnisses an, die auch in der modernen Hirnforschung maßgebend ist (siehe Abschn. 1.3.a von Kap. III). 253 Dies ist eine sehr charakteristische Stelle von Process and Reality: »There is a becoming of continuity, but no continuity of becoming« (35/dt. 87). Dieselbe These vertritt Whitehead beim sechsten internationalen Philosophiekongress von 1927: »Thus there is no continuity of becoming, but there is a becoming of continuity« (TIME 246). 254 »Thus if we consider the process of becoming up to the beginning of the second in question, and ask what then becomes, no answer can be given. For, whatever creature we indicate presupposes an earlier creature which became after the beginning of the
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werden beginnt, denn alles, was man findet, ist kein erstes ›etwas‹, da es weiter zu einem früheren und einem späteren Teil zerlegt werden kann. Auf diese Weise gelingt es nicht, den Anfang des Prozesses zu erreichen. 255 Diese These findet man allerdings schon in der Physik von Aristoteles und zwar fast genauso formuliert (Physik VI, 5, 236 a14–24). 256 Whitehead trägt sie 1927 beim sechsten Internationalen Kongress für Philosophie vor (TIME 246). Die Konsequenzen, die er daraus zieht, unterscheiden sich jedoch radikal von denen Aristoteles’, der die zeitliche Kontinuität aller Werdeakte entschieden vertritt. Whitehead schlägt die genau entgegengesetzte Richtung ein. Er schlussfolgert, dass der Prozess in einem Stück entsteht, womit die ›actual entities‹ zeitlich ausgedehnt sind, aber ihr Werden nicht – nicht in dem Sinne, dass es in früheren und späteren Phasen des Werdens teilbar wäre (PR 69/dt. 144). Die Whitehead’sche ›duration‹ ist also ein unteilbares Zeitquantum, d. h. ein Zeitatom. 257 Die Vorstellung der Unteilbarkeit des Werdens bringt die organische Philosophie ins Zentrum der Quanten-Ontologie unserer Zeit. Der bekannte Physiker John Archibald Wheeler spricht, ausgehend vom berühmten »Experiment der verzögerten Entscheidung« (delayed choice experiment), von Quantenereignissen als »Elementarphänomenen« (1984, 205, 210, 214). Mit diesem Begriff sagt eigentlich Wheeler nichts anderes, als dass ein Quantenereignis nicht nur bezüglich seiner Quantität unteilbar ist – die Erkenntnis, mit der Planck und Einstein die Quantentheorie begründeten –, sondern auch bezüglich seiner Qualität, wenn darunter die konkrete Formierung seines Werdens zu verstehen ist: »Eine der zentralen Eigenschaften der Quantenphänomene, woran man sieht, daß es sich um einen nicht weiter reduzierbaren Entstehungsvorgang handelt, ist die Unberührbarkeit. Bei dem Strahlaufspaltungsexperiment in der Version der verzögerten Entscheidung können wir z. B. nicht sagen, was das Photon auf seinem langen Weg vom Eintrittspunkt bis zum Detektor second and antecedently to the indicated creature. Therefore there is nothing which becomes, so as to effect a transition into the second in question« (PR 68/dt. 142). 255 Für eine ausführlichere Diskussion der Whitehead’schen Argumentation vgl.: Jung 1980, 68–75. 256 Aristoteles’ Schlussfolgerung lautet: »Es existiert also ohne Zweifel keine wirklich erste Phase des Prozesses; denn es sind unendlich viele Teilungen möglich« (Physik VI, 5, 236 a27). 257 »The actual entity is the enjoyment of a certain quantum of physical time« (283/ dt. 513). Vgl. auch: SMW 170/dt. 161.
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eigentlich treibt. […] Damit zeigt sich das ›Innen‹ eines Phänomens als gänzlich unberührbar« (ebenda 214).
Whiteheads letzte in Process and Reality aufgeführte Kategorie über die innere Bestimmtheit und die äußere Freiheit der Prozesse gewinnt vor dem Hintergrund der Unteilbarkeit des Werdens zusätzlich an Prägnanz: Der Prozess genießt die Freiheit der Bestimmung seiner Qualität – seines eigenen Wesens, das die Form seiner ›concrescence‹ mit all ihren auf wertenden Erlebnissen beruhenden Entscheidungen ist. Denn seine ›concrescence‹ ist kein verräumlichtes abstrakt-kontinuierliches Werden, das seine Form akkumulativ-additiv (d. h. in der mathematischen Zeit) und dem Betrachter sichtbar (d. h. im physikalischen Raum) ändert. Die Herauskristallisierung der Qualität, die jede ›concrescence‹ ist, ereignet sich nicht in der Raumzeit. Sie ist weder physisch präsent noch metrisierbar – sie ist meta-physisch und daher mit unseren physischen Mitteln, die ihr äußerlich sind, weder teilbar noch irgendwie beeinflussbar. Erst der Abschluss eines solchen Qualität-Atoms manifestiert sich raumzeitlich, wird ein Phänomenon, verräumlicht sich. 2.3.d.1 Die ›duration‹ ist keine ›durée‹ Whitehead teilt mit Bergson die Vorstellung der Unteilbarkeit der Dauer. Hierin besteht aber auch die einzige Verwandtschaft mit der Bergson’schen Konzeption. Die ›durée‹ Bergsons – der die Unteilbarkeit des Werdens nicht nur phänomenologisch begründet (DSW 25/ Œuv. 1257) – ist ein unteilbarer Akt und trotzdem einer, der eine besondere Zeitlichkeit aufweist: eine »reine Sukzession« (succession pure), deren Wesen in der, aus ontologischen Gründen, unvorhersehbaren Schöpfung von Neuheit besteht. Die Epoché der ›concrescence‹ ist dagegen in jeder nur denkbaren Hinsicht zeitlos, denn sie ist keinerlei Art von Fluss; für sich ist sie weder abstrakte noch konkrete Kontinuität. 258 Was Whitehead ›duration‹ nennt, ist lediglich eine Extension nicht räumlicher, sondern nur zeitlicher Natur (PR 77/dt. 156), d. h. ein abstraktes zeitliches Kontinuum, das die Erscheinungsweise der Epoché in der raumzeitlichen Welt ist (SMW 158, 169 f./dt. 151, 161). 259 258 Whitehead sagt eindeutig, dass der mentale Pol, der in der ›concrescence‹ entsteht, zeitlos ist: »Every actual entity is ›in time‹ so far as its physical pole is concerned, and is ›out of time‹ so far as its mental pole is concerned« (PR 248/dt. 454). 259 In der deutschen Übersetzung von Science and the Modern World werden die
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Mit der Vorstellung der Epoché befindet sich Whitehead in Übereinstimmung mit Heisenberg, der den Kollaps der Wellenfunktion als einen nicht zeitlichen Prozess sieht. Der Kollaps, der ein Akt des Übergangs von einer Pluralität von Möglichkeiten in eine Realität ist, führt, so Heisenberg, zur Entstehung eines elementaren Quantenereignisses in der Raumzeit (Malin 2004, 77, 80). Penrose’ Ideen gehen in eine ähnliche Richtung, wenn er die Ungültigkeit der ZeitKonzeption bei Quantenereignissen behauptet (1995, 488–492). Beide Physiker versäumen jedoch die Gelegenheit, darüber nachzudenken, ob Zeitlichkeit viel mehr als die physikalisch-abstrakte Zeit sein kann. Dies kann allerdings auch Whitehead vorgehalten werden. Seine deutliche Nähe zu quantentheoretischen Vorstellungen und Spekulationen über die Zeitlichkeit der Zustandsreduktion der Wahrscheinlichkeitswelle bedeutet jedenfalls nicht, dass die epochale Zeittheorie aus der Quantenphysik abgeleitet wurde, obwohl sie in Science and the Modern World mit diesem Fachgebiet in Zusammenhang gebracht wird (169 ff./dt. 161 f.). Sie stützt sich vielmehr auf die oben vorgestellten mathematisch-logischen Überlegungen und ist demnach nicht empirischen Ursprungs. 260 Whitehead sieht in seiner epochalen Zeittheorie das Fundament der Quantentheorie: »The epochal theory of time is the foundation of the theory of atomic organisms, and of the modern physical quantum-theory« (TIME 246).
Es ist in diesem Zusammenhang beachtenswert, dass die Whitehead’sche Epoché an eine antike Vorstellung erinnert. In Parmenides entfaltet Platon seine Konzeption des »exaifnes« (ἐξαίφνης), des »Plötzlichen« (155 e4–157 a2), ohne die geringste Ahnung von Quantenphysik zu haben. Auf der Basis rein logischer Überlegungen gelangt er ebenfalls zur Vorstellung der Einheitlichkeit und Unteilbarkeit des Werdens: Am Beispiel der Bewegung demonstriert der Platonische Parmenides, dass der Umschlag »des Einen« von der Ruhe zur Bewegung (und umgekehrt) nicht in der Zeit stattfinden kann, denn das würde verlangen, dass es eine Zeit gibt, in der etwas ruht und sich zugleich bewegt, was unmöglich ist. Der Umschlag kann nur plötzlich (exaifnes) stattfinden, d. h. in einer Zeitlosigkeit. Das Umschlagende kann sich nur im zeitlosen Plötzlichen befinden. BesonAusdrücke ›endurance‹ bzw. ›duration‹ als ›Dauer‹ bzw. ›Zeitschnitt‹ wiedergegeben, was zu Verwechslungen führen kann. 260 Wie Edwards fälschlich behauptet (1975, 198).
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ders interessant ist auch die Ausweitung dieser Argumentation auf das Werden allgemein: »[D]ieses wunderbare Wesen, das Plötzliche, liegt zwischen der Bewegung und der Ruhe als außer aller Zeit seiend, und in ihm und aus ihm schlägt das Bewegte um zur Ruhe und das Ruhende zur Bewegung. […] Auch das Eins also, wenn es ruht und auch sich bewegt, muß von einem zum anderen umschlagen; denn nur so kann es beides tun. Schlägt es aber um, so schlägt es plötzlich um, so daß, indem es umschlägt, es in gar keiner Zeit ist […] Verhält es sich nun etwa ebenso auch mit den anderen Akten des Umschlagens, wenn es aus dem Sein in das Vergehen umschlägt oder aus dem NichtSein in das Werden […]?« (156 d7–157 a2, Hervorhebungen und Übersetzung von S. K.).
Diese Frage wird affirmativ beantwortet. Die auffällige argumentative Nähe der beiden Denker – trotz offensichtlicher Unterschiede referieren beide auf die eleatische Logik, um die Zeitlosigkeit von Übergängen des Werdens zu beweisen – unterstreicht, angesichts ihrer sehr verschiedenen Erfahrungshintergründe, die Unabhängigkeit ihrer Frage und ihrer Methode von dem empirischen Stand der jeweiligen wissenschaftlichen Epoche. 2.3.d.2 ›Transition‹-Prozesse und makrophysikalische Zeit In der epochalen ›duration‹ einer ›actual entity‹ bildet sich das komplette Muster ihrer Manifestation bzw. Erscheinung durch ihre ›satisfaction‹. Die Aufeinanderfolge der Erscheinungen, wie sie z. B. einem ›enduring object‹ wesenhaft ist, ist eine Aufeinanderfolge solcher Zeitatome. Die Erscheinungsweise sehr einfacher mikrophysikalischer Entitäten, die nach heutigem Erkenntnisstand elementar sind (Quarks, Photonen u. a.), in der Raumzeit muss im Rahmen der organischen Philosophie in der treuen Wiederholung ein und desselben Erscheinungsmusters bestehen. Dies geht aus folgender Stelle des Quantentheorie-Kapitels von Science and the Modern World hervor: »Thus realisation proceeds viâ a succession of epochal durations […] The vibratory organic deformation is in fact the reiteration of the pattern. One complete period defines the duration required for the complete pattern. Thus the [enduring object] 261 is realised atomically in a succession of dura-
261 Der von Whitehead verwendete Begriff des »Primaten« (primate) bedeutet an dieser Stelle dasselbe wie das mikrophysikalische ›enduring object‹. Zwecks der Einheitlichkeit der verwendeten Termini wurde er durch diesen Begriff ersetzt.
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tions, each duration to be measured from one maximum to another« (169 f./ dt. 161, Einfügung von S. K.).
Es ist auffällig, in welchem Maße diese mit der Quantentheorie der frühen zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts übereinstimmende Vorstellung von der schon mehr als zwanzig Jahre zuvor entwickelten Theorie Bergsons von der Materie als einer extrem schnellen Wiederholung mikrochronischer Dauern vorweggenommen wurde. 262 Wie in jeder relationalen Raumzeit-Theorie, so sind auch in der organischen Philosophie die zwischen den elementarsten Entitäten herrschenden Relationen die Konstituenten von Raum und Zeit. Für die zeitliche Dimension unserer kosmischen Epoche bedeutet dies, dass sie ihre Entstehung derselben Art von Prozess verdankt, die der Existenz von ›enduring objects‹ und ›corpuscular societies‹ zugrunde liegt. Die absolute Mehrzahl der ›transition‹-Prozesse ist anorganischer Natur, besteht folglich in einer astronomisch schnellen Aufeinanderfolge konform miteinander gehender ›concrescence‹-Prozesse und macht die Materialität des Kosmos aus. Die makrophysikalische Zeit entsteht als eine aus der Gesamtheit aller ›transition‹-Prozesse unserer kosmischen Epoche zusammengesetzte Dimension: »Time is sheer succession of epochal duration. But the entities which succeed each other in this account are durations« (SMW 158/dt. 151). 263
Aus dieser Passage folgt problemlos, dass die makrophysikalische Zeit aus den atomaren ›durations‹ additiv hervorgeht. Denn, auch wenn alle ›actual occasions‹ sich bezüglich ihres Wesens voneinander unterscheiden, ihre zeitliche Ausdehnung, die sie als atomare Zeitquanten besitzen, kann von ihnen abstrahiert werden. Als abstrakte Extensionen, d. h. als reine Größen, haben die zeitlichen Ausdehnungen aller weltlichen Prozesse dasselbe rein quantitative Wesen, weshalb sie alle miteinander addierbar sind. Die Zeitlichkeit der ›transitions‹, und mit ihnen aller makroskopischen Realität des Kosmos, besteht also in einem abstrakten Kontinuum und ist somit ebenfalls keine Bergson’sche ›durée‹. Sie entfaltet sich vielmehr durch Serien von Prozessen (SMW 156/dt. 150). Obwohl also die ›actual occasions‹, dank ihrer Prehensivität, in der Ordnung des wesenhaften Ineinanders
Siehe Abschn. 2.2.b und 2.2.c von Kap. III. Hier wären wieder die Besonderheiten der deutschen Übersetzung zu beachten: Siehe Fußnote 259 dieses Kapitels. 262 263
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sind, existieren die physischen Manifestationen ihrer ›nexūs‹ in der abstrakt kontinuierlichen Ordnung der verräumlichten Zeit. Was Whitehead, der Bergson schätzt, verbietet, die Zeitlichkeit der ›nexūs‹ – selbst wenn es sich dabei um psychologisch hochentwickelte ›societies‹ personaler Ordnung handelt – als ›durée‹ zu konzipieren, ist offensichtlich: Bergsons ›durée‹ verlangt nach Erlebenskontinuität ein und desselben Subjekts. Das würde aber für jeden ›nexus‹ bedeuten, dass seine Mitglieder nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv unsterblich sein müssten. 264 Der ›nexus‹ wäre aber dann keine Aufeinanderfolge von Subjekten, sondern eine Bergson’sche ›succession pure‹ : ein einziges Subjekt im Prozess der Wesensbestimmung. Die epochalen ›actual occasions‹ müssten in diesem Fall zu dauernden Erlebenskontinua mutieren – allerdings im Bergson’schen Sinne von ›Dauer‹ als ›durée‹. Solche Variationen würden aber die Entitäten-Ordnung des kosmologischen Gedankenschemas völlig durcheinanderbringen. Selbst wenn es einer komplizierten metaphysischen Konstruktion gelingen würde, die Kontinuität des Erlebens mit der Aufeinanderfolge diskreter Subjekte zu verbinden, was kaum vorstellbar ist, müsste ein fundamentaler Gedanke der ›actual entity‹-Konzeption aufgegeben werden, um die Zeitlichkeit der ›transition‹ als ›durée‹ begreifen zu können: Dass ein werdendes Subjekt andere werdende Subjekte nicht prehendiert, sondern ausschließlich raumzeitlich lokalisierte Objekte, die ihre Subjektivität verloren haben und kurzzeitig als leblose Hüllen existieren, bevor sie für immer vergehen. Die Problematik der Entstehung der makrokosmischen Zeitlichkeit erschöpft sich natürlich nicht in der Analyse ihrer Natur. Es stellt sich die Frage, wie es konkret zu den seriellen Aufeinanderfolgen von ›durations‹ kommt; anders gefragt: worin liegt der Grund für die Bildung extensiver Verknüpfungen nach der Ordnung des Nacheinander? Das ontologische Prinzip zwingt uns, den Grund im Wesen der göttlichen ›actual entity‹ zu suchen, denn die abstrakte Vorstellung des Nacheinander lässt sich nicht aus der zeitlosen Ordnung der weltlichen ›concrescence‹-Prozesse gewinnen. Die abstrakte Sukzession der ›transitions‹ verlangt danach, das Augenmerk von der Struktur der ›concrescence‹-Prozesse auf ihren Sinn zu verlagern. Dieser beschränkt sich nicht in ihrem subjektiven Selbsterleben, sondern um264 Whitehead schließt diese Möglichkeit für den Tod des Menschen nicht aus: AI 208/dt. 373.
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Das kosmologische Gedankenschema
fasst auch ihre Superjektivität in ihrer Gerichtetheit auf Subjekte jenseits ihrer selbst. Der superjektive Charakter der wirklich Seienden verlangt nach einer »Ausrichtung« (adjustment) dieser zueinander und genau dies begründet die Zeit. 265 Superjektive Relevanz wird jedoch vom initial aim begründet, womit die Ausrichtung der weltlichen ›actual entities‹ nach der Ordnung der verräumlichten Zeit ihren Ursprung im göttlichen Bewusstsein hat. 2.3.e
Gott als Prozess, oder: der angeregte Anreger
Die besondere Originalität und Anziehungskraft des Gottesbildes der organischen Philosophie wurzelt in seiner Souveränität gegenüber allen überlieferten religiösen Lehren (PR 343/dt. 613). Whiteheads Vorstellungen vom Wesen Gottes folgen der Maxime, dass sie keine Ausnahme zu den metaphysischen Prinzipien sein dürfen, sondern lediglich ihre besonderen Exemplifikationen (ebenda), sodass Gott, wie alle anderen wirklich Seienden, nur als Prozess gedacht werden kann. Dennoch stellt Gott eine eigene Art von ›actual entity‹ dar, wie Whitehead mit dem Aristotelischen Begriff ›spezifische Differenz‹ klar stellt. 266 Gott ist die einzige ›actual entity‹, die keine ›actual occasion‹ ist (PR 88/dt. 175). Die Gründe dieser sinnvollen Unterscheidung sollen im Folgenden sichtbar werden. Einige Anhänger der organischen Philosophie würden die Vorstellung Gottes am liebsten aus dem kosmologischen Gedankenschema verbannen, weil sie an alt-metaphysische Systeme anderer Zeiten erinnere. Ein solches Vorhaben erfordert jedoch eine gründliche Umgestaltung der gesamten Konzeption, um die unverzichtbaren Funktionen der göttlichen Entität im Whitehead’schen Kosmos anders zu
265 Das geht eindeutig aus folgendem Zitat hervor, wenn man beachtet, dass hier unter ›events‹ im Grunde das gemeint ist, was in Process and Reality ›actual occasion‹ heißt (siehe auch Fußnoten 75, 86, 153 und 156 dieses Kapitels), während der Ausdruck ›temporal process‹ in diesem Fall als Abfolge von ›actual occasions‹ verstanden werden kann: »[T]he process of realisation […] is the adjustment of the synthetic activities by virtue of which the various events become their realised selves. […] This adjustment is what introduces temporal process« (SMW 156/dt. 149). 266 »The presumption that there is only one genus of actual entities constitutes an ideal of cosmological theory to which the philosophy of organism endeavours to conform. […] though there is a specific difference between the nature of god and that of any occasion« (PR 110/dt. 213).
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verlagern, denn Gott trägt entscheidend zur Bestimmung der Kreativität bei, die an sich unbestimmt ist. »The actual but non-temporal entity whereby the indetermination of mere creativity is transmuted into a determinate freedom. This non-temporal actual entity is what men call God – the supreme God of rationalized religion« (RM 90/dt. 70). 267
Die zwei wichtigsten Gründe, die eine Verbannung der Idee Gottes aus der Whitehead’schen Prozessphilosophie undenkbar machen, ohne diese zur Unkenntlichkeit zu verstümmeln, sind, dass Gott erstens den weltlichen ›actual entities‹ ihr ›initial aim‹ gibt und zweitens der Träger der ›eternal objects‹ ist. Gott ist also im kosmologischen Gedankenschema der alleinige Grund aller abstrakten Entitäten und ein unerlässlicher Grund aller weltlichen wirklich Seienden. 2.3.e.1 Gott als Garant der weltlichen Kontinuität Whitehead unterstreicht an vielen Stellen seiner Werke die Rolle Gottes als Koordinator und Ordner der Welt, die wie folgt zusammengefasst werden kann: »Apart from God, the remaining formative elements would fail in their functions. There would be no creatures, since, apart from harmonious order, the perceptive fusion would be a confusion neutralizing achieved feeling […] The ordering entity is a necessary element in the metaphysical situation presented by the actual world« (RM 104/dt. 79 f., Hervorhebung von S. K.).
Die überweltliche ordnende Entität fungiert auch als Garant der räumlichen Kontinuität, denn ohne die an ihre Umwelt angepassten initialen Zweckursachen könnten die Prozesse nicht anti-entropisch wirken und mesokosmische Strukturbildung, selbst eine von geringem Kontrastreichtum, wäre unmöglich. Die zentrale Rolle Gottes als Koordinator der Welt in der organischen Philosophie missfällt einigen ihrer Interpreten. 268 Es ist aber Vgl. auch: RM 94 f./dt. 72 f. So würde z. B. Sherburne der hier unterbreiteten Vorstellung von Gott als Kontinuitätsprinzip vorwerfen, dass sie aus ihm, der ein »Wagenlenker« (charioteer) sei, einen »Rikscha-Jungen« (rickshaw boy) mache (1971, 323). Sherburne zufolge ist das Konzept der Kreativität ausreichend, um die Verbindung zwischen zwei unmittelbar aufeinanderfolgenden, d. h. prehensiv verbundenen, Prozessen zu erklären (ebenda), womit er eine problematische Position vertritt. Diese Vorstellung – die Kreativität könne die Rolle Gottes übernehmen –, die bis heute von verschiedenen Whitehead267 268
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Das kosmologische Gedankenschema
wichtig einzusehen, dass es sich dabei nicht um die Befriedigung des religiösen Gefühls Whiteheads handelt, sondern um eine unverzichtbare Tragsäule des Gedankenschemas. Wären die ontologischen Elemente als persistierende Substanzen konzipiert worden, zwischen denen von ewigen Naturgesetzen diktierte kausale Interaktionen herrschen, müsste die Kontinuität der Welt nicht gerechtfertigt werden. Ausgehend von einer konsequenten Prozessualität, die sogar als Grundlage der Naturgesetze zu betrachten ist, wird die weltliche Kontinuität eine zutiefst erklärungsbedürftige Tatsache. Denn die Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit der Welt kann nicht im Geringsten durch die Beschaffenheit der weltlichen Vergangenheit begründet werden, da diese erst dann relevant werden darf, wenn sie von der Gegenwart prehensiv aufgegriffen wird, was sie (die Vergangenheit) nicht aktiv steuern kann. 269 Somit verlangt das bruchlose Fortsetzen der beerbten Tatsachen der Fürsorge eines mit Bewusstsein begabten Subjektes, dessen Werden den Bogen eines einheitlichen Erlebensaktes über alle weltlichen und vergehenden jeweiligen Gegenwarten schlägt, sie in sich selbst prehensiv aufnehmend und bewahrend. Aus Whiteheads Perspektive ist die diesseitige Persistenz der Widerschein einer jenseitigen Permanenz der Neubegründung der physischen Realität. Ohne die pausenlos aufeinanderfolgenden göttlichen ›Fulgurations‹, um mit Leibniz zu sprechen (1998, 36 (§ 47)), würde nichts in der physischen Realität eine einzige Picosekunde lang erhalten bleiben. Nicht einmal ein Kosmos maximaler Entropie würde zurückbleiben.
Kennern geteilt wird, kollidiert mit dem ontologischen Prinzip, denn dieses besagt, dass die Suche nach einem Grund die Suche nach mindestens einer ›actual entity‹ bedeutet. Die Kreativität ist aber keine Entität (SMW 220/dt. 206, RM 92/dt. 71). Auf die Kreativität, die reine Aktivität und Universalie der Universalien ist, können alle anderen Begriffe, die begrenzteren Umfangs sind, nur in einem negativen Sinne referieren. Whitehead bezeichnet zwar die Kreativität als Grund für die Entstehung und den Zusammenhang neuer ›actual entities‹ (AI 179/dt. 331), dies kann aber, aufgrund der Unbestimmtheit der obersten ontologischen Kategorie, nur in einem vollkommen allgemeinen Sinne und nicht in einem konkreten der Art, dass sie diese erschaffe, gemeint sein. Für eine umfangreiche kritische Auseinandersetzung mit der sogenannten ›Whitehead-without-God‹-Debatte verweise ich auf das Buch von Tobias Müller Gott, Welt, Kreativität (2009, 182–192). 269 Genau das übersieht Sherburne, wenn er, im Rahmen seines Bestrebens, die Rolle Gottes in der organischen Philosophie zu reduzieren, behauptet, dass eine neue ›actual entity‹ ihr ›initial aim‹ von ihrer unmittelbaren Vorgängerin bekommt (1971, 328).
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2.3.e.2 Die zwei Naturen Gottes Im Rahmen der Whitehead’schen Metaphysik müssen wir davon ausgehen, dass Gott nicht nur für die Erhaltung der Welt sorgt, sondern auch für die Erneuerung der Zwecke, die in ihr offenbart werden. Ohne den Einfluss Gottes würde nirgendwo in der Welt die Entropie abnehmen und jegliche Evolution würde in die Trivialität des homogenisierenden Intensitätsverlustes zurückversinken. 270 Er erneuert den Strom der weltlichen Prozesse, indem er zur Integration nicht verwirklichter Ideale anregt. Gott kreiert das ›initial aim‹ so, dass es zur Verwirklichung neuer Kombinationen abstrakter Entitäten, die bis zu diesem Moment als in sich unverträglich empfunden wurden, inspiriert, denn der göttliche Eros ist der Drang, in endlichen Formen Ideale zu realisieren, wenn die Zeit für sie reif ist (AI 277/dt. 481). Diese abstrakten Möglichkeiten sind in seiner visionären uranfänglichen Schau der reinen Formen enthalten. Die abstrakten Entitäten können ihren Grund nicht in der zeitlichen Welt haben, da sie zeitlose Seiende sind. Das ontologische Prinzip verlangt andererseits nach einer Verankerung aller Entitäten in mindestens einer ›actual entity‹. Das Reich der ›eternal objects‹ kann nur in Gott enthalten sein und macht seine abstrakte Urnatur bzw. uranfängliche Natur (»primordial nature of God«) aus. »[T]he primordial nature of God, which is his complete envisagement of eternal objects« (PR 44/dt. 100).
Die Urnatur Gottes enthält aber auch eine vollständige Wertung aller ›eternal objects‹, der einfachen sowie der zusammengesetzten. Diese Wertung gibt Gott Orientierung, inwiefern die Verwirklichung der ›eternal objects‹ in den ›actual entities‹ mittels des ›initial aim‹ zu erstreben ist (PR 31/dt. 79). Die Konzeption Gottes als ›actual entity‹ bewahrt Whitehead davor, ihm die substantielle Eigenständigkeit und Allmacht eines höchsten Wesens, dessen Eingriffe in die Welt theistischer Art sind, zuzuweisen. Gott wird als ein Prozess verstanden, der nur dank seiner prehensiven Beziehungen zu den anderen ›actual entities‹ die Bewah270 »Apart from God, there could be no relevant novelty. Whatever arises in actual entities from God’s decision arises first conceptually, and is transmuted into the physical world« (PR 164/dt. 306). Anders ausgedrückt: »Apart from the intervention of God, there could be nothing new in the world, and no order in the world. The course of creation would be a dead level of ineffectiveness, with all balance and intensity progressively excluded by the cross currents of incompatibility« (PR 247/dt. 451).
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rung, Fortsetzung und Bereicherung der Realität ermöglicht und anregt. Gott ist kein mechanischer Beweger, sondern – dem Gott Aristoteles’ gleich – ein Anziehungspunkt für die weltlichen ›actual entities‹, denn »er bewegt, indem er ein auf sich gerichtetes [›erotisches‹] Verlangen erweckt« (κινεῖ δέ ὡς ἐρώμενον) (Metaphysik XII, 7, 1072 b 3; Einfügung und Übersetzung von S. K.). Interne Relationalität bedeutet allerdings, dass eine wesenhafte Interdependenz der gegenseitigen Einflussnahme am Werk ist. Die ›actual occasions‹ formaliter bekommen ihr ›initial aim‹ prehensiv von Gott und er bereichert seinerseits sein Wesen dank seiner physischen ›prehensions‹ der weltlichen Prozesse. Gottes Wesen kann also nicht nur in seiner der Welt logisch und zeitlich vorgegebenen und ihrem Einfluss unzugänglichen Urnatur bestehen. Wie bei allen wirklich Seienden ist auch Gottes Natur bipolar (PR 345/dt. 616). Neben seiner abstrakten, begrifflichen Natur, der es an der Konkretheit des Erlebens mangelt, hat seine andere Natur ›subjective forms‹ und somit Erlebensreichtum. Dieser anderen Natur Gottes ist die abstrakte Natur zeitloser Begriffs- und Werte-Kathedralen fremd, obwohl sie nicht zeitlich ist, jedenfalls nicht im Sinne der makroskopischen Zeit, die aus der Aufeinanderfolge der ›actual occasions‹ hervorgeht. Gottes Folgenatur (»consequent nature of God«) entsteht durch die prehensive Integration der weltlichen Prozesse in sein Wesen: »His ›consequent nature‹ results from his physical prehensions of the derivative actual entities« (PR 31/dt. 79).
An einer anderen Stelle heißt es: »The ›consequent nature‹ of God is the physical prehension by God of the actualities of the evolving universe« (PR 88/dt. 174). 271
Sie ergänzt die statische Ewigkeit seiner unveränderlichen Urnatur (PR 345/dt. 616) um die Dimension eines mit der Welt, dank ihr und wegen ihr werdenden Gottes. Die der Folgenatur Gottes eigentümliche Zeitlichkeit ist die eines »immerwährenden« (everlasting) Subjekts (PR 345/dt. 617), dessen ›concrescence‹ also nie zum Abschluss kommt, sodass er sich nie als raumzeitliches Datum manifestiert und folglich nicht vergehen kann. Gottes immerwährende Subjektivität erfasst alle weltlichen Fakten seit Anbeginn des Kosmos in dem un271
Vgl. auch: PR 345, 347/dt. 616, 620.
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teilbaren Akt seiner dauernden und kontinuierlich anwachsenden Gegenwart, der jedes Erleben von Verlust und Vergangen-Sein völlig fremd ist: »In [the consequent nature of God] there is no loss, no obstruction. The world is felt in a unison of immediacy […] The consequent nature of God is his judgment on the world. He saves the world as it passes into the immediacy of his own life. It is the judgment of a tenderness which loses nothing that can be saved« (PR 346/dt. 617 f., Hervorhebung und Einfügung von S. K.).
Anders ausgedrückt: »The consequent nature of God is the fluent world become everlasting by its objective immortality in God« (PR 347/dt. 620).
Die vergehenden ›actual occasions‹ werden dank der göttlichen ›prehensions‹ im göttlichen Wesen aufgehoben und zwar mit all ihren Merkmalen, d. h. so wie sie sich in der Welt ereignet haben (Müller 2009, 136). Sie gewinnen somit objektive Unsterblichkeit. Aus der Perspektive des subjektiv-unsterblichen göttlichen Prozesses werden sie ohne die Distanz der abstrakten, verräumlichten Zeit in eine fließende Gegenwart, deren Fülle sich endlos bereichert, aufgenommen. 272 In einer transformierten Form 273 werden sie zu Inhalten des höchsten Bewusstseins, 274 in dessen Gestalt des sich selbst kreierenden Erlebenskontinuums die lebendige Ewigkeit Bergsons wiedererkannt werden darf. Die Integration der prehendierten weltlichen ›actual entities‹ in den immerwährend dauernden göttlichen Prozess benötigt, wie jede ›concrescence‹, die ›prehensions‹ von ›eternal objects‹, die Gott aus seiner eigenen begrifflichen Natur schöpft (PR 88/dt. 174). Die Urnatur Gottes ist also eine unersetzbare Grundlage seiner Folgenatur. Gott kann also nicht der Schöpfer der ›eternal objects‹ sein, weil seine Folgenatur – die seine Prozessualität und somit auch schöpferische
»An enduring personality in the temporal world is a route of occasions in which the successors with some peculiar completeness sum up their predecessors. The correlate fact in God’s nature is an even more complete unity of life in a chain of elements for which succession does not mean loss of immediate unison« (PR 350/dt. 625, Hervorhebungen von S. K.). 273 Whitehead verwendet den Ausdruck »transformed selves« (PR 347/dt. 621). 274 Anders als Gottes Urnatur ist seine Folgenatur mit Bewusstsein begabt (PR 345/ dt. 617). 272
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Das kosmologische Gedankenschema
Potenz ausmacht – seine statische Natur voraussetzt (PR 257/dt. 468). Das einem konkreten weltlichen Prozess angepasste ›initial aim‹ kann logischerweise nicht von der Urnatur Gottes beigetragen werden, da sie völlig unbewusst ist und es ihr an Wirklichkeit mangelt (PR 345/dt. 616) und weil die dort enthaltenen ›eternal objects‹ nicht bestimmen können, ob und wie sie in eine ›actual entity‹ einbezogen werden, da sie als reine Potentialitäten passiv in Bezug auf ihre Integration in die Wirklichkeit sind. Die ›initial aims‹ können nur von dem prozesshaften und als Subjekt agierenden Pol Gottes stammen, d. h. aus seiner Folgenatur. 275 Gott ist folglich die einzige ›actual entity‹, die zugleich formaliter und objectivé existiert, was für die Geschlossenheit des spekulativen Gedankenschemas nicht unproblematisch ist. 276 Obwohl Gott sich immerwährend im Prozess der ›concrescence‹ befindet, objektiviert er sich zugleich in den weltlichen ›actual entities‹ formaliter, denn sie nehmen prehensiv einige ›eternal objects‹ von seiner Urnatur und das für sie bestimmte ›initial aim‹ von seiner Folgenatur in sich auf. Gottes Folgenatur denkt die Sinnzusammenhänge der Welt und stiftet durch die ›initial aims‹ verbindende, sinnvoll aufeinander abgestimmte neue Fakten, mit dem Ziel der Verwirklichung noch nicht erreichter Werte, um die Welt von der ihr inhärenten Tendenz des entropischen Verfalls (PR 247/dt. 451) zu retten 277: »He does not create the world, he saves it: or, more accurately, he is the poet of the world, with tender patience leading it by his vision of truth, beauty, and goodness« (PR 346/dt. 618, Hervorhebungen von S. K.).
Wie jeder ›concrescence‹-Prozess entwickelt auch die Folgenatur Gottes ihr eigenes ›subjective aim‹. Dieses besteht in der Animierung der weltlichen wirklich Seienden, die größtmögliche Intensität des Erlebens hervorzubringen (Müller 2009, 131).
275 Christian diskutiert den Ursprung des ›initial aim‹ in Gott (1967, 302–311) ausführlich und zeigt überzeugend, dass es nur von der Folgenatur Gottes stammen kann (ebenda 307 f.). 276 Siehe Fußnote 170 dieses Kapitels. 277 Charles Birch und John Cobb verbinden die Folgenatur Gottes mit der Idee der Erlösung (redemption) durch einen Gott, der selbst lebendig ist: »The Whiteheadian idea of God is appropriately called Life not only because the immanence of God in the world is the life-giving principle but also because the life-giving principle is itself alive« (1981, 195).
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2.3.e.3 Die Folgenatur Gottes ist die einzige ›durée‹ der organischen Philosophie »So sann er darauf, ein bewegliches Abbild der Ewigkeit [Äon] zu gestalten« berichtet der Astronom Timaios im gleichnamigen Dialog Platons von der Erschaffung der Zeit durch Gott (Timaios 37 d, Einfügung von S. K.). Ein Gedanke über das Wesen der Zeit, den Whitehead mit Begeisterung übernehmen könnte, da er ebenfalls darum ringt, den Fluss der Welt mit der Beständigkeit der göttlichen Ewigkeit zusammenzubringen (PR 338/dt. 605). Diese kann jedoch – im Gegensatz zum Platonischen ›Äon‹ – nicht statisch-zeitlos verharren, wenn sie auch dem prozessualen Aspekt Gottes zukommen soll. Jeder Versuch, den Whitehead’schen Gott mit einer Form von Zeitlichkeit zu verbinden, muss respektieren, dass sein Werden, das ausschließlich in seiner Folgenatur besteht, keine Teilung zulässt. Wie jeder ›actual entity‹ kommt auch Gott die Unteilbarkeit eines final hervorgebrachten Selbstvollzugs zu. Zum Wesen jedes Prozesses gehört untrennbar die Innerlichkeit des Erlebens seiner eigenen Subjektwerdung und seiner Welt. Hierin gründet sein In-dividuumSein, d. h. seine unteilbare Einheit. Die Unteilbarkeit des Werdens einer weltlichen ›concrescence‹ korrespondiert mit ihrer epochal-atomaren Entstehung. Der Platonische Gedanke des plötzlichen Werdens (exaifnes) trifft jedoch auf die göttliche ›concrescence‹ nicht zu. Gott, der eine ›actual entity‹ aber keine ›actual occasion‹ ist, kommt kein epochal-atomares Werden zu. 278 Whitehead verbindet zeitliche Atomizität ausschließlich mit raumzeitlicher Endlichkeit, da er die epochale Zeittheorie auf ›actual occasions‹ bezieht, die nur endlichweltliche ›actual entities‹ sind 279 und sich als raumzeitlich abgeschlossene Daten manifestieren. 280 Die Unteilbarkeit der göttlichen ›concrescence‹, bzw. der Folgenatur Gottes, muss also mit einer anderen Vgl. auch: Edwards 1975, 196. »The terminus ›actual occasion‹ will always exclude God from its scope« (PR 88/dt. 175). 280 Die enge Beziehung zwischen ›actual occasions‹ und epochaler Zeittheorie geht aus folgender Stelle hervor: »There is a becoming of continuity, but no continuity of becoming. The actual occasions are the creatures which become, and they constitute a continuously extensive world. In other words, extensiveness becomes, but becoming is not itself extensive« (PR 35/dt. 87). Aus dem direkt darauf folgenden Text geht mittelbar hervor, dass der Atomismus nicht auf Gott anwendbar ist: »Thus the ultimate metaphysical truth is atomism. The creatures are atomic« (ebenda). Gott ist keine ›creature‹. Er kann nicht einmal als Geschöpf der Kreativität charakterisiert werden. In Religion in the Making wird deutlich zwischen der ›actual entity‹ Gott 278 279
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Art von Zeitlichkeit korrespondieren. Die Aussage »God is fluent« (PR 348/dt. 621) deutet schon eine bestimmte Richtung an, die durch die Vorstellung, dass es im göttlichen Leben eine Sukzession von Elementen gibt, bestätigt wird (PR 350/dt. 625). Besonders beachtenswert ist, dass es sich dabei um eine besondere Art von Sukzession handelt: »An enduring personality in the temporal world is a route of occasions in which the successors with some peculiar completeness sum up their predecessors. The correlate fact in God’s nature is an even more complete unity of life in a chain of elements for which succession does not mean the loss of immediate unison« (ebenda, Hervorhebungen von S. K.).
Der Verlust der Unmittelbarkeit des Kontaktes zwischen Subjekten, der nur objektive Unsterblichkeit zulässt, ist typisch für die ›transition‹-Prozesse, zu denen Gottes Folgenatur nicht gezählt werden kann, da sie keine ›society‹ ist. Sie ist ein immerwährender ›concrescence‹Prozess, der, wie auch einige Whitehead-Interpreten betonen, kontinuierlich ist (Christian 1967, 408 f.). 281 Der werdende Aspekt Gottes ist ein endloser Akt der Wesensbestimmung und vergeht folglich nie. 282 Er ist ein subjektiv unsterbliches wirklich Seiendes. Die immerwährende Perfektionierung seines eigenen ›subjective aim‹ wird von der Vision dessen angetrieben, was die begrenzten Wirklichkeiten sein könnten (PR 346/dt. 617). Gott ist eine ›actual entity‹, die sich – aus der Perspektive weltlicher Subjekte – seit Milliarden von Jahren in der ›concrescence‹ befindet. Welche Form von Zeitlichkeit ist einem solchen Prozess eigen, wenn ihm weder die verräumlichte makrophysikalische Zeit der ›transitions‹ noch die Epoché eines Zeitatoms zukommt? Diese Frage beantwortet Whitehead nicht, da er sie gar nicht stellt. Bedingung dafür wäre das Einbeziehen der Bergson’schen Zeitphilosophie in sein Gedankenschema, was er, zumindest explizit, nicht tut. Trotzdem kann folgender Vorschlag gemacht werden: Gottes Folgenatur kommt zeitliche Kontinuität im Bergson’schen Sinne der Unteilbarkeit der ›durée‹ zu. Insofern ist auch sie ein Atom, aber im wörtlichen Sinne von ›átomon‹. Die Vorstellung der Unteilbarkeit aller ›actual entities‹ muss nicht eingeschränkt und den epochalen Prozessen, den ›epochal occasions‹, unterschieden (90 f./dt. 70), die den ›actual occasions‹ von Process and Reality entsprechen. 281 Vgl. auch: Edwards 1975, 196–199. 282 Christian bringt dies treffend auf den Punkt: »God changes but does not perish« (1967, 296).
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werden, wenn sie nicht an die epochale Zeittheorie unlösbar gebunden wird, die mit Zeitatomen operiert, denen keine Form von Sukzession eigen ist. Atomizität ist nicht notwendig auf Abgeschlossenheit und Endlichkeit des Werdens angewiesen, sondern verweist vielmehr auf die In-dividualität aller ›concrescence‹-Prozesse, sowohl der endlichen als auch des immerwährenden. Diese Vorstellung harmoniert vollkommen mit der Konzeption der ›durée‹ als unteilbarer Einheit des Werdens. Ausgehend von der ›succession pure‹ Bergsons ist es geradezu evident, dass »succession does not mean loss of immediate unison«. Im Rahmen dieses Vorschlags kann also die Zeitlichkeit der Folgenatur Gottes mit der lebendigen Ewigkeit der Ebene höchster Tension der ›durée‹ identifiziert werden (vgl. Abb. 3.1). Diese Vorstellung erzwingt nicht, die Entstehung der weltlichen ›actual entities‹ auf der Basis der Bergson’schen Naturphilosophie als Emanationen Gottes zu verstehen, auch wenn eine solche Verschmelzung der beiden Prozessphilosophien denkbar und vielleicht auch hilfreich ist, wovon noch die Rede sein wird. 283 Bezüglich der Zeitlichkeit der Prozesse lässt sich, auf der Basis dieses Vorschlags, eine bestimmte Entwicklung feststellen: Während die ›durations‹ der ›concrescence‹-Prozesse Zeitatome sind, ist den ›transition‹-Prozessen makrophysikalische Zeit, also verräumlichte Zeitlichkeit, eigen; sie sind abstrakte Sukzessionen. Der Folgenatur Gottes kommt schließlich die Zeitlichkeit der reinen, heterogenen Kontinuität der ›durée‹ zu. Nur sie darf zu einer Bergson’schen ›succession pure‹ erhoben werden, da sie ein unteilbarer, zugleich fließender und sich selbst kontinuierender, also ein konkret-kontinuierlicher geistiger Akt ist. Die verräumlichte Zeit des anorganischen Makrokosmos könnte dann – frei nach Platon 284 und Bergson – als »das bewegliche Schattenbild der lebendigen Ewigkeit« bezeichnet werden. Denn die Perfektionierung des ›subjective aim‹ Gottes verlangt nach Spiegelung seines Geistes in einem Gegenüber. In diesem erkennt Gott sich selbst. Aber das Fehlen eines Kontinuums der Wesenstransformation der Dauern (vgl. Abb. 3.1) führt zwangsläufig zu einer abrupten Partikularisierung des Flusses der immerwährenden ›concrescence‹ Gottes. Was im göttlichen Prozess in der subjektiven Unmittelbarkeit der Ordnung eines einzigen ewigen Ineinanders ist, verliert in der physi283 284
Siehe Abschn. 3.1.a von Kap. V. Vgl.: Timaios 37 d.
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schen Welt schlagartig die Interdependenz seiner Erlebensmomente und zerfällt ohne Zwischenstufen in Myriaden kurzlebiger Subjekte, die (bei aller internen Relationalität) separate Erlebenseinheiten sind. Die Whitehead’sche Auffassung von Gottes Folgenatur als einer besonderen Form zeitlicher Sukzession – unabhängig davon, ob diese im Bergson’schen Sinne der ›durée‹ verstanden wird oder nicht – hat eine weitreichende Konsequenz: Gott ist nicht nur nicht allmächtig, sondern auch nicht allwissend. Dass er ein Prozess ist, ein werdender Gott, schließt aus, dass er, wie der Gott Leibniz’, die Entfaltung des Kosmos in sich begrifflich enthält und auf dieser Basis voraussieht. Seine Urnatur beinhaltet höchstens die Möglichkeiten der kosmischen Entwicklung aber nicht ihren tatsächlichen Verlauf. Das Geflecht der Erlebnisse der ›actual entities‹ ist nicht in zeitlose Begriffskathedralen zu übersetzen. Die Privatheit der Erlebensakte verschließt sich gegenüber der totalen Erlebnislosigkeit der abstrakten Entitäten. Die Zeitlichkeit der Folgenatur ist also keineswegs im Sinne einer altmetaphysischen Sicht eines ›totum simul‹ zu verstehen. Der göttliche Prozess erfasst nicht die weltliche Evolution in einem einzigen Augenblick, der ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfasst. Das würde sowohl das Vermögen der weltlichen Prozesse, in Gottes Wesensbestimmung einzugehen, negieren als auch ihre eigene Freiheit, die von Gott konzipierten ›initial aims‹ zu variieren. 285 Gott ist zu einem bestimmten Zeitpunkt 286 nur bezüglich der gesamten bis dato kosmischen Entwicklung allwissend. Sein Wissen erstreckt sich nicht über die Zukunft des Kosmos. Der Begriff der ›göttlichen Vorsehung‹ kann nichts mehr bedeuten, als die Bemühung Gottes solche ›initial aims‹ zu kreieren, die bestimmte, von ihm erwünschte Entwicklungen ermöglichen, aber keineswegs garantieren. Eine durch die Konzeption der ›durée‹ erweiterte Fassung der Folgenatur Gottes befreit die Idee der Ewigkeit von der Platonischen Vorstellung der Zeitlosigkeit und unwandelbarer Erstarrung (Timaios 28a). Platons Gegensatz zwischen Gott und Welt – »welches ist das, was immer ist und nie wird und welches das, das immer wird
285 Edwards bringt dies treffend auf den Punkt: »God prehends the world only as it develops, but not in advance« (1975, 196). 286 Wegen der Nichtlokalität der den gesamten physischen Raum umfassenden physischen ›prehensions‹ Gottes kann von einem im Newton’schen Sinne absoluten Zeitpunkt gesprochen werden.
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und nie ist« (ebenda 27d) – wird auf eine geniale Weise aufgelöst. Nicht nur weil Gott und Welt intern relational interdependent sind, sondern vor allem weil Gott zugleich ist und wird: Seine Urnatur ist und seine Folgenatur wird. 2.3.e.4 Das göttliche Gedankenschema Die Urnatur Gottes ist eine Werte und reine Möglichkeiten einschließende Totalität. Wegen seiner abstrakten Natur und der gegenseitigen Bestimmung seiner Inhalte (interne Relationalität der ›eternal objects‹) kann dieser uranfängliche und invariable Grund als initiales Gedankenschema aller Prozessualität gesehen werden. Durch die Folgenatur Gottes, die auf der Basis ewiger Begriffe und Werte sich selbst und ihre in die Welt einpflanzenden Ziele permanent transformiert, wird dieses zu einem lebendigen göttlichen Gedankenschema erweitert. Die wesenhafte Interdependenz zwischen Gott und Welt bringt palindromische Bewegungen der gegenseitigen Inspiration, unermüdliche Kreisläufe der Kreativität hervor, die die beiden Antipoden zur Transformation der eigenen Natur und zur Transzendenz des jeweils Anderen animieren: »It is as true to say that the World is immanent in God, as that God is immanent in the World. It is as true to say that God transcends the World, as that the World transcends God. It is as true to say that God creates the World, as that the World creates God« (PR 348/dt. 621, Hervorhebung von S. K.).
Dank der Rückwirkung der Welt auf Gott erfährt seine Folgenatur eine permanente Transformation. 287 Die Tatsache, dass Gott durch den Fortschritt der Welt seine eigene Transformation erfährt, bedeutet aber, dass die Idee der revidierbaren Metaphysik – die das kosmologische Gedankenschema, das mit Process and Reality vorliegt, betrifft – auch auf die Beziehung Gottes zur Welt anwendbar ist: Das allen Prozessen übergeordnete göttliche Gedankenschema wird nicht als ein abgeschlossenes gedacht, sondern befindet sich mit dem Gesamtfaktum der Welt in einem offenen Werden. Der Kreislauf der Kreativität zwischen Jenseits und Diesseits unterwirft es einer kontinuierlichen Transformation, die seine EigFetz lässt einen Sinnzusammenhang für alle ›actual entities‹ vorgegeben sein (1981, 169). Die Konzeption der Urnatur Gottes verbietet jedoch nicht, dass auf der Basis ihrer zeitlosen Werte neue konkrete Ziele bezüglich der weltlichen Entwicklung in der Folgenatur Gottes entstehen.
287
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Das kosmologische Gedankenschema
nung für eine sich unaufhörlich ändernde Welt immer wieder neu errichtet. Diese im göttlichen Geist reifende Vision der Rettung der Welt von der gegenseitigen Nivellierung antithetischer Strebungen hat zu den weltlichen Prozessen ein Verhältnis wie die Theorie zur Praxis und wird folglich anhand ihrer weltlichen Relevanz permanent neu beurteilt und revidiert, sodass sie sich mit dem Gesamtfaktum der Wirklichkeit in einer kreativen Spirale der gegenseitigen Transformation befindet. Was dabei unverändert bleibt, ist das oberste Ziel Gottes, die Erlebensintensität der weltlichen Subjekte durch die Läuterung ihrer gegenseitigen Spiegelung zu erhöhen. Das göttliche Gedankenschema enthält viele veränderbare Pläne. Sie lassen sich aber nicht zu einem zentralen göttlichen Plan zusammenfügen, da sie aufgrund der Widersprüchlichkeiten weltlicher Fakten nicht restlos ineinander übersetzbar sind. Das göttliche Gedankenschema enthält Inkohärenzen – und gerade sie halten es lebendig. Mit seiner unendlichen Geduld regt Gott die Synthese von auf den ersten Blick sich ausschließenden Fakten in reichhaltigeren Kontrasten an. Er leitet die Welt nicht mit starker Hand – Allmacht ist kein Attribut des Whitehead’schen Gottes –, sondern strebt danach, sie mit dem »eindringlich-stummen Werben seines unerfüllten Zieles« zu inspirieren, wie Hans Jonas sagt, der ein ähnliches Bild eines werdenden Gottes entwirft (Jonas 1987, 42 f.). 288 Gott kann lediglich auf die Bereitschaft der Weltprozesse hoffen, seine initialen Visionen bei der Herauskristallisierung ihrer Zweckursachen zu berücksichtigen. Insofern ist der Whitehead’sche Gott kein Gott der Philosophen, an den keine Gebete zu richten sind. Sein superjektiver Charakter, der über das Werden seiner Folgenatur hinaus auf die Welt verweist, lässt das Beten als eine Tat der Hoffnung auf Überwindung gegenwärtiger Mängel zu. Gott ist mittels seiner Folgenatur etwas durch und durch Reales – eine ›actual entity‹ – und keine regulative Idee, oder etwas ähnlich Abstraktes. Das kosmologische Gedankenschema wäre kein solches, wenn es nur dem Philosophen-Gott Platz gewähren würde. Es fragt sich nur, ob es auch religiöse Traditionen befriedigen kann, die außerhalb eines selbst undogmatischen Monotheismus stehen.
288
Vgl. auch: Jonas 1987, 27–30.
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IV · Die Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads und die Ontogenese
2.4 Prehensivität und Kontinuität Mit der ›satisfaction‹ fällt das nichtlokale Quantum zu einem raumzeitlichen Datum zusammen, d. h. es lokalisiert sich, womit die vollendete ›concrescence‹ manifest wird. Ein ›transition‹-Prozess, der eine gewisse Zeit anhält, z. B. die Bewegung einer Zelle, ist das Resultat einer Unzahl solcher miteinander koordinierter Lokalisierungen. Die raumzeitliche Kontinuität der ›transition‹-Prozesse beruht darauf, dass jedes wirklich Seiende auch ein Superjekt ist. Somit kreiert Gott das ›initial aim‹ einer ›actual occasion‹ immer auch als Vorwegnahme ihrer Nachfolger – in dieser Hinsicht ist Gott der Kontinuitätsfaktor der Welt. Diese Funktion erfüllt er auch in der Bergson’schen Philosophie. Aber der Zusammenhalt des Whitehead’schen Kosmos wird nicht emanativ, sondern prehensiv gewährleistet. 2.4.a
Physische Prehensivität als Grundlage des extensiven Kontinuums
Das extensive Kontinuum der materiellen Wirklichkeit ist, anders als bei Bergson, kein Resultat einer Wesenstransformation, die eine Entspannung der Seinsfülle, also einen ontologischen Fall darstellt. Es ist ein Produkt der wirklich Seienden, das sie durch den Abschluss ihrer Genese erzeugen, um von ihren Nachfolgern unmittelbar prehendiert zu werden. Ausgehend von seiner Abwandlung der Pfeil-Paradoxie Zenons sieht sich Whitehead gezwungen, die Kontiguität (contiguity), d. h. die raumzeitlich lückenlose Aufeinanderfolge der weltlichen ›actual entities‹ (PR 307 f./dt. 553 f.), 289 zu fordern. 290 Ein Prozess kann nur dann prehendiert werden, wenn seine Lokalisierung noch anwesend ist, während die ihn prehendierenden nichtlokalen ›actual occasions‹ sich in ihrer ›concrescence‹ befinden. Deshalb muss jeder Prozess einen unmittelbaren Nachfolger haben. Wenn Whitehead sagt, dass die Prozesse das Kontinuum teilen, das nur Potential der Teilung ist (PR 67/dt. 139), kann er so verstanden werden, dass jede ›actual entity‹ formaliter durch die ›prehensions‹ ihres physischen Poles einen Teil des Raumes in sich aufnimmt Vgl. auch: Kraus 1979, 149. »The modification of the ›Arrow‹ paradox […] brings out the principle that every act of becoming must have an immediate successor, if we admit that something becomes« (PR 69/dt. 143, Hervorhebung von S. K.). 289 290
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Das kosmologische Gedankenschema
bzw. besetzt, womit sie aktiv eine Teilung des Kontinuums vornimmt. Die rein geometrische Extension legt keine Begrenzungen dieser Teilung fest, sondern lässt diesbezüglich alle Möglichkeiten offen. Ein ›concrescence‹-Prozess bezieht sich prehensiv auf ein RaumzeitQuantum und bekommt durch die Erfassung dieser Region seinen physischen Pol. Dieses Quantum umfasst die physisch manifestierten ›actual entities‹, die der Prozess zu seinen Objekten macht. Abbildung 4.4 veranschaulicht, dass die ›concrescence‹ einer ›actual occasion‹ formaliter ein Zeitquantum anhält und für ihren perspektivischen Standpunkt ein Volumenquantum besetzt (PR 68/dt. 141). Dieses räumliche Quantum wird ohne jegliche Retardation, d. h. nichtlokal im Sinne der Quantentheorie, erfasst. Wie schon gesagt, Whitehead bezeichnet das Zeitquantum als ›duration‹. Es ist dem prehensiven Ineinander der Prozesse zu verdanken, dass ihre ›actual worlds‹ raumzeitliche Kontinua sind. Das extensive Kontinuum ist Resultat der teilweisen Überlappung atomarer Raumzeit-Quanten, womit Kontinuität auf Atomizität zurückgeführt wird, was auch dem ontologischen Prinzip Folge leistet, da diese Raumzeit-Atome nichts anderes als ›actual occasions‹ sind. In der hier angebotenen Interpretation, wie sie in Abbildung 4.4 zusammengefasst ist, unterscheide ich deutlich zwischen der raumzeitlichen Ausdehnung der prehendierenden ›actual entity‹ formaliter (großes Parallelogramm) und den raumzeitlichen Ausdehnungen der manifestierten (lokalisierten) ›actual entities‹ objectivé (Kreise und Ellipsen), die ihre Objekte sind. Die Kontiguität wird hier als teilweise Überlappung der raumzeitlichen Extension einer ›actual occasion‹ formaliter mit den von ihr unmittelbar prehendierten ›actual occasions‹ objectivé verstanden. 291 Diese Interpretation wird von Donald Sherburnes Lesart Whiteheads unterstützt: »[T]he past contiguous occasion is still actual, is still its own ground, as the concrescing occasion initiates its primary phase« (1971, 322). 292
Edwards macht bei seiner Behandlung der ›societies‹ diesen Unterschied nicht und spricht von Lücken zwischen den Mitgliedern einer ›society‹ (1975, 197), was, der hier angebotenen Interpretation zufolge, nur für die lokalisierten raumzeitlichen Manifestationen der ›actual entities‹ objectivé zutrifft. 292 Was Sherburne vorschlägt, ist, anders als Edwards meint (1975, 203), mit der Whitehead’schen Vorstellung von Zeitatomizität kompatibel, denn nichts verbietet das teilweise Überlappen der Extensionen einer ›actual entity‹ formaliter und einer ›actual entity‹ objectivé. 291
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Es ist aber genau so gut denkbar, dass allein schon die Berührung von Raumzeit-Quanten eine ausreichende Bedingung für Prehendierbarkeit darstellt. 293 Das Resultat ist in beiden Fällen der Kausalkegel DAE der Abbildung 4.4. Ungeachtet solcher technischer Details: Entscheidend ist, dass Whitehead es für sicherer hält, angesichts der Erkenntnisse der Physik, die der Idee der Fernwirkung widersprechen, die unmittelbare ›prehension‹ einer ›actual entity‹ objectivé unlösbar an ihre Kontiguität mit dem werdenden Subjekt zu knüpfen (PR 307 f./dt. 553 f.) – allerdings hält er dies lediglich für ein Merkmal unserer kosmischen Epoche und spricht ihm metaphysische Allgemeingültigkeit ab (PR 308/dt. 554). Die Idee der Prehensivität verlangt danach, jeder manifestierten ›actual entity‹ einen bestimmten Ort für eine bestimmte Zeitlänge, die noch so mikrochronisch sein kann, zuzuweisen, da – mit Ausnahme Gottes – nur räumlich und zeitlich lokalisierte wirklich Seiende erfassbar sind. Diesbezüglich ist folgende Metapher, mit der Whitehead die diskontinuierliche Existenz der Elektronen im Raum beschreibt, interessant: »It is as though an automobile moving at the average rate of thirty miles an hour along a road, did not traverse the road continuously; but appeared successively at the successive milestones, remaining for two minutes at each milestone« (SMW 45/dt. 49 f., Hervorhebung von S. K.).
Die Notwendigkeit eines noch so kurzen Verweilens der Manifestationen in der extensiven Realität verbindet die organische Philosophie mit der Quantentheorie. 294 2.4.b
Gottes Folgenatur als universelles Gedächtnis
»What is done in the world is transformed into a reality in heaven, and the reality in heaven passes back into the world. By reason of this reciprocal relation, the love in the world passes into the love in heaven, and floods back again into the world. In this sense, God is the great companion – the fellow-sufferer who understands« (PR 351/dt. 626). Diesbezüglich sind die Erläuterungen und Abbildungen Jungs hilfreich (1980, 81). Shimon Malin hebt diese Gemeinsamkeit hervor: »According to both quantum mechanics and Whitehead’s paradigm, reality is not made of enduring objects, but of flashes of existence that disappear almost as soon as they appear« (2004, 80; Hervorhebung von S. K.). 293 294
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Das kosmologische Gedankenschema
Zeit
A Raum
atomares Zeitquantum (›duration‹)
D
Raumquantum
E
3. Phase (›satisfaction‹) Zeitatom der concrescence
1. und 2. Phase der ›concrescence‹
(›duration‹)
unmittelbar prehendierte Raumzeit-Daten
Abb. 4.4: Grundlage dieses Bildes ist Abb. 4.1. Das große Parallelogramm symbolisiert das Raumzeit-Quantum eines ›concrescence‹-Prozesses. Die Kreise bzw. Ellipsen innerhalb seiner ersten beiden Phasen der ›concrescence‹ repräsentieren die Raumzeit-Daten, die es unmittelbar prehendiert. Sie sind die ›satisfactions‹ gerade vergehender Prozesse. Der stärker eingetragene Kreis ist die Manifestation der ›satisfaction‹ des Prozesses selbst als RaumzeitDatum. Der Kausalkegel DAE ist die ›actual world‹ des Prozesses A.
In dieser meines Erachtens schönsten Passage von Process and Reality und anderswo sagt Whitehead nichts anderes als, dass alles was sich seit Anbeginn der Zeit ereignet hat, Gottes Folgenatur unmittelbar präsent ist, wenn sie das ›initial aim‹ einer neuen weltlichen ›concrescence‹ kreiert. Durch ›prehensions‹, die ›im‹ göttlichen SubjektSuperjekt stattfinden, werden die göttlichen Eindrücke von allen ver571 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
IV · Die Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads und die Ontogenese
gänglichen Prozessen durch seine immerwährende ›concrescence‹ weitergetragen und verlieren so nie für Gott die Unmittelbarkeit der direkten Präsenz. Gott ist in der Welt anwesend, weil er mit allen weltlichen Prozessen in der Ordnung des wesenhaften Ineinanders lebt. Anwesenheit (An-Wesen-heit) bedeutet in diesem Fall wesenhaftes Ineinander. Des ›Himmels‹ »besondere Vorsehung für besondere Ereignisse« (PR 351/dt. 626) ist die in seine immerwährend werdende Natur aufgenommene und dort transformierte weltliche Realität, die in veredelter Form in die ›Erde‹, der sie entsprungen ist, mit liebevoller Fürsorge wieder eingepflanzt wird. Dank der göttlichen Anwesenheit können auch solche Prozesse für eine ›actual entity‹ formaliter relevant werden, die nicht in ihrer begrenzten ›actual world‹ enthalten sind. Denn die ›actual world‹ von Gottes Folgenatur enthält alle Prozesse, die sie prehendiert hat, d. h. die Totalität aller ›satisfactions‹, die seit dem Urknall irgendwo im Kosmos – vielleicht auch in anderen Paralleluniversen – stattgefunden haben (RM 100 f./dt. 77) 295 und die aus der göttlichen Perspektive nicht vergangen, sondern gewesen sind. In diesem Sinne sind alle jemals manifestierten Prozesse für jeden neuen Prozess mittelbar von Bedeutung. 296 Damit wird die Vorstellung der Nichtlokalität um eine göttliche Dimension erweitert, die nicht den raumzeitlich begrenzten Perspektiven weltlicher Prehensivität unterliegt. Sie gewinnt somit die Bedeutung einer Affizierbarkeit vom gesamten Raum und zwar im Sinne einer absoluten Newton’schen Gleichzeitigkeit, da die Folgenatur Gottes alle jeweils existierenden physischen Fakten des Kosmos gleichzeitig prehendiert. Durch die alles in sich integrierende Folgenatur Gottes wird also in jeder ›actual entity‹ die gesamte Vergangenheit und Gegenwart des Universums – im eigentlichen und nicht im engen Whitehead’schen Sinne von ›universe‹ 297 – relevant, ohne dass relativitätstheoretische Beschränkungen eine Rolle spielen. 298 Durch die alle physischen Vgl. auch: Kraus 1979, 164. Die Totalität der raumzeitlichen Realität wäre nur dann von unmittelbarer Relevanz, wenn sie nicht nur in die Zweckursache, die das ›initial aim‹ darstellt, einfließen würde, sondern auch als Wirkursache dienen könnte, was allerdings nur der begrenzten ›actual world‹ des jeweiligen weltlichen Prozesses vorbehalten bleibt. 297 Siehe Abschn. 2.2.c.1 dieses Kapitels. 298 Folgende Stelle ist nur schwer in einem engen Sinne von ›universe‹ zu lesen: »[A]n epochal occasion is a microcosm inclusive of the whole universe« (RM 100/dt. 71). 295 296
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Das kosmologische Gedankenschema
Grenzen transzendierende Folgenatur Gottes wird die Überwindung der einfachen Lokalisierung in der Raumzeit auf die höchste denkbare Weise erreicht. Aus Bergson’scher Perspektive ist, wie schon gesagt, die Folgenatur Gottes nichts anderes als die ›durée‹ höchster Spannung, deren Selbstvollzug seit dem Uranfang der kosmischen Evolution ein einziger Akt ist. Dank der überall wirkenden göttlichen ›durée‹ werden Lichtjahre voneinander entfernte Manifestationen augenblicklich vermittelt, sodass längst vergangene und vermeintlich vergessene Prozesse aus den Uranfängen des Kosmos (und vielleicht auch anderer Universen), der Evolution der Lebewesen und der Geschichte des Bewusstseins Relevanz in der Gegenwart jedes Prozesses gewinnen könnten. Nur in Gottes Folgenatur wird die Vergangenheit raumzeitlich zerstreuter Erfahrungen in Gewesenheit 299 verwandelt, um vollständig bewahrt und in neuen Zwecke reintegriert zu werden. Die Folgenatur Gottes dient als höchste Bewahrerin der Vergangenheit als allumfassendes Gedächtnis des Universums womit sie auch in dieser Hinsicht der lebendigen Ewigkeit Bergsons entspricht. Wegen der Unmittelbarkeit der Präsenz des Gewesenen in Gott ›erinnert‹ sich dieser an jenes ohne jeglichen Beigeschmack der Distanz und des unwiderruflichen Verlustes, der menschlichen Erinnerungsakten wesentlich anhaftet. Er ›erinnert‹ sich auf eine Weise, die nur wenige Menschen, während einiger hochgradig intensiver Bewusstseinszustände, wenn auch viel zu dunkel, erahnen können. Gott als universelles Gedächtnis ist notwendig ein zentraler Akteur des anti-entropischen Begehrens, denn Entropie bedeutet auch Verlust der Vergangenheit, Vergessen. 300 Gott ›erinnert‹ sich nicht nur an das, was war, sondern auch an das, was hätte sein können und zu entstehen strebte. Zu Recht sagt Wiehl, dass kein anderer Philosoph die Erhaltung der versäumten Möglichkeiten so bedacht hat wie Whitehead. 301 Die Präsenz des Gewesenen ist aber auch Vergegenwärtigung seiner Widersprüche und seines Schmerzes; auch sie machten es nötig, dass es seine Aktualität verlor, um von sich selbst befreit zu werden – die Zeit als Erlöser. Wird es von Gott als wertvoll für andere Prozesse bewertet, so wird es, wenn der Kairos 302 günstig Siehe Abschn. 1.3.b von Kap. III. Siehe Abschn. 1.1.d.3 von Kap. II. 301 Persönliche Mitteilung an mich. 302 Kairos, der griechische Gott der günstigen Gelegenheit und des rechten Augenblicks, verkörpert den qualitativen Aspekt von Chronos, dem Gott der Zeit, da er zwischen verschiedenen Zeitabschnitten hochgradig differenziert. 299 300
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IV · Die Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads und die Ontogenese
ist, in einer transformierten Gestalt der Versuchung des Daseins ausgesetzt: die ›durée‹ höchster Tension als Retter des Gewesenen und Verführer des Sich-(Ent)Werfenden – Gott ›erinnert‹ sich an die Zukunft. Die Anwendung des Ausdrucks ›Gewesenheit‹ auf die göttliche Zeitlichkeit kann zum Einwand führen, dass ein Begriff, den Heidegger im Rahmen seiner Existenzialanalyse entwickelte, nicht auf Gott angewandt werden kann, da er ein gänzlich anderes Verhältnis zur Welt hat als das in ihr geworfene menschliche Individuum mit seiner »Seinsganzheit des Daseins als Sorge« (Heidegger 1993, 327). Auch wenn die Aussage, »[d]ie Sorge ist Sein zum Tode« (ebenda 329), weder für die Folgenatur noch für die Urnatur Gottes gelten kann, darf nicht übersehen werden, dass der Whitehead’sche Panentheismus ein Gottesbild hat, das auf der Solidarität aller wirklich Seienden durch interne Relationalität basiert. Gott geht durch wesenhafte Interdependenz aus seiner Welt hervor, denn seine ›actual world‹ ist der ganze Kosmos, d. h. die gesamte kosmische Evolution und vielleicht auch weitere Paralleluniversen. Folglich ist Gott die Dimension der Sorge zutiefst wesenseigen, wenn auch nicht im Sinne des menschlichen Daseins, denn er erfasst unmittelbar und nimmt somit in seine eigene Wesensbestimmung das ganze Leid der Welt auf – und zwar ohne allmächtig zu sein, um dies durch einen reinen Willensakt beseitigen zu können, wie Hans Jonas sagt: »Eng verbunden mit den Begriffen eines leidenden und eines werdenden Gottes ist der eines sich sorgenden Gottes – eines Gottes, der nicht fern und abgelöst und in-sich-beschlossen, sondern verwickelt ist, in das worum er sich sorgt. […] Dieser sorgende Gott [ist] kein Zauberer, der im Akt des Sorgens zugleich auch die Erfüllung seines Sorgeziels herbeiführt: Etwas hat er andern Akteuren zu tun gelassen und hat damit seine Sorge von ihnen abhängig gemacht. Er ist daher auch ein gefährdeter Gott, ein Gott mit eigenem Risiko. […] Irgendwie hat er, durch einen Akt unerforschlicher Weisheit oder der Liebe oder was immer das göttliche Motiv gewesen sein mag, darauf verzichtet, die Befriedigung seiner selbst durch seine eigene Macht zu garantieren, nachdem er schon durch die Schöpfung selbst darauf verzichtet hatte, alles in allem zu sein. […] Dies ist nicht ein allmächtiger Gott!« (1987, 31 ff.; die zwei letzten Hervorhebungen und die Einfügung von S. K.).
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Prozesse des Lebendigen
3.
Prozesse des Lebendigen
Whitehead sieht in jeder Erscheinung des Lebens das Resultat der Bemühung um Freiheit und Originalität (PR 104, 107/dt. 203, 209). Leben kann in seiner Philosophie nur ein besonderer Ausdruck der Kreativität sein. Es ist die Manifestation des obersten Prinzips, das nicht nur durch Lebewesen offenbar wird. Ähnlich wie in der Bergson’schen Prozessphilosophie ist das Leben eine den gesamten Kosmos durchziehende Erscheinung, die über seine spezifisch biologischen Formen hinausgeht. Sie kommt aber erst dann unverkennbar zum Ausdruck, wenn sie auf die richtigen Bedingungen trifft, wie der bekannte Prozesstheologe John Cobb und der von Whitehead beeinflusste Biologe Charles Birch sagen: »[Life is] an aim at the realisation of novel forms and richness of experience […] Life as the cosmic principle that works for higher order in the midst of entropy is enormously powerful. […] Wherever it works it can be trusted to transform the inanimate into living matter and to quicken the spirit. The power of Life is not limited to clearly living things. Indeed, there is no definite boundary between living and non-living things, and we may think of Life as exerting its gentle pressure everywhere, encouraging each thing to become something more than it is. But in vast areas of the universe such urging has little effect. Only where very special conditions exist, it seems, can life accomplish such spectacular transformations as have come about on the earth« (1981, 189; Einfügung und Hervorhebungen von S. K.).
›Leben‹ ist in der organischen Philosophie nicht der Name des zweckvollen Planes Gottes, sondern eines den ganzen Kosmos bewohnenden Phänomens, das von der internen Relationalität aller wirklich Seienden verwirklicht wird – nicht von ungefähr bezeichnet Whitehead mikrophysikalische ›societies‹ als Organismen. 303 Es ist das Resultat einer enormen Zahl spontaner Zwecke, die jedoch sowohl bezüglich ihres Geltungsbereichs im Raum als auch ihrer Tiefe in der Zeit von sehr kleiner Reichweite sind. In beinah allen ›sozialen‹ Gruppierungen, die von ›concrescence‹-Prozessen gebildet werden, gelingt es letzteren nicht, mehr als die permanente Wiederholung eines statischen Miteinanders zu erreichen, wie sich die anorganische Materie vor allem in der mesound makrokosmischen Körperlichkeit präsentiert. Die mikrophysika-
303
Siehe Fußnote 85 dieses Kapitels.
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lische Spontaneität erreicht keine über die Moleküle hinausgehende Reichweite, weil die miteinander nicht koordinierten Zwecke der wirklichen Entitäten sich gegenseitig aufheben (AI 207/dt. 372), sodass die meisten nicht-mikrokosmischen anorganischen ›societies‹ Aggregate sind, denen eine Beliebigkeit der Gestalt anhaftet. 304 Gelingt es jedoch den mikroskopischen Organismen ihre kleinen Zwecke aufeinander anzupassen, so kann eine die gesamte ›society‹ durchziehende interne Zwecktätigkeit entstehen, der die Geschlossenheit eines Selbstzwecks essentiell ist. 305 Aus der allgemeinen Lebendigkeit wächst dann die spezifisch biologische hervor. Aus Whitehead’scher Sicht setzt Lebendigsein voraus, dass die mentalen Pole der in einem Lebewesen sich vollziehenden ›concrescence‹-Prozesse ein gemeinsames Ziel verfolgen: »Life is the coordination of the mental spontaneities throughout the occasions of a society« (AI 207/dt. 373).
Echte Selbstorganisation ist regulative Geschlossenheit, die vor dem Hintergrund der Whitehead’schen Prozessmetaphysik das Resultat der Konvergenz einer Unzahl protomentaler Erfassungen ist und nicht das Nebenprodukt des ›Strebens‹ dynamischer Systeme nach Selbst-des-organisation, ihres aussichtslosen Kampfes gegen die ihnen extern aufgezwungenen Energiegradienten. 306 Sie entsteht nicht durch bindende, sondern durch interne Relationen (›prehensions‹). Die Prehensivität lebendiger Ganzheiten erzeugt nicht nur ein Geflecht solcher Relationen, was durch die Ineinanderschachtelung der ›actual worlds‹ sowieso immer vorhanden ist, sondern in erster Linie ein Geflecht von miteinander weitgehend kooperierenden Zwecken – hierin ist die innere Kohärenz jedes biologischen Organismus begründet.
304 Gemeint sind Gebilde, wie Steine, Felsen, Gase im Gleichgewicht und Asteroiden. Selbstorganisierte dynamische Systeme sollten nicht als ›Aggregate‹ bezeichnet werden (siehe Abschn. 1.1.a von Kap. II). 305 »It is the essence of life that it exists for its own sake, as the intrinsic reaping of value« (MT 135/dt. 167) 306 Siehe Abschn. 2.2.b von Kap. II.
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Prozesse des Lebendigen
3.1 ›Living society‹ – ›living occasions‹ – ›entirely living nexus‹ Lebewesen sind besondere ›societies‹. Eine ›society‹ ist nur dann lebendig, wenn in ihr einige ›actual occasions‹ enthalten sind, deren mentaler Pol von besonderer Originalität ist und ihnen zugleich hohe Relevanz für die Entwicklung der gesamten ›society‹ zukommt (PR 102 ff./dt. 200 ff.). Ein Whitehead’scher Organismus ist nur dann ein Lebewesen, und nicht bloß eine mikrophysikalische ›society‹, wenn seine Reaktionen nicht allein durch die Aufnahme von physisch Tradiertem, d. h. von Wirkursachen, erklärbar sind. Das Verständnis des Lebendigen verlangt nach Zweckursachen (PR 104/dt. 203). Eine sogenannte living society unterscheidet sich von einer normalen ›society‹, weil ihr wichtigstes Merkmal nicht die Vererbung eines gemeinsamen Formelements bzw. definierenden Charakteristikums ist. In jeder ›living society‹ vollziehen sich zwar viele ›actual occasions‹, deren ›concrescence‹ sich primär auf ihre erste reaktive Phase beschränkt, sodass sie nicht vom Pfad des Ergriffenen abweichen und ihre Vergangenheit einfach fortsetzen. Die Prozesse, die jedoch den eigentlichen Charakter einer ›living society‹ ausmachen, haben ihren Schwerpunkt in der zweiten Phase der ›concrescence‹ : Ihr mentaler Pol ist nicht ein konformes Nachzeichnen der physisch prehendierten Daten, sondern in erster Linie die Einführung neuer Tatsachen, die das Geerbte variieren. Diese ›concrescence‹-Prozesse nennt Whitehead living occasions (ebenda). Die Gesamtheit von seriell aufeinander folgenden ›living occasions‹ macht einen sogenannten entirely living nexus aus (ebenda) – solche ›nexūs‹ sind das eigentlich Lebendige im Lebewesen. Eine ›society‹ ist nur dann lebendig, wenn sie von mindestens einem ›entirely living nexus‹ regiert wird (PR 103/dt. 201), d. h. wenn dieser eine höhere Relevanz für die Entwicklung der gesamten ›living society‹ hat als andere weniger kreative untergeordnete ›societies‹ in ihr. Dennoch benötigt jeder ›entirely living nexus‹ die Anwesenheit solcher untergeordneter ›societies‹ innerhalb der umfassenderen ›living society‹, denn sein Überleben ist an den Schutz solcher relativ trägen Ganzheiten gebunden (PR 103/dt. 201). Aus Whitehead’scher Sicht ist ein Lebewesen ein um einen besonders kreativen ›nexus‹ gruppiertes Bündel von weniger aktiven ›societies‹. Dieser Vorstellung kommt das in der Abbildung 2.29(d) vorgestellte Bild nah. Der Lebenskern jedes Lebewesens ist ein ›entirely living nexus‹ ; schon der einfachste Einzeller wird von einer solchen Ganzheit re577 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
IV · Die Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads und die Ontogenese living occasions
Raum
einfache Prozesse
Raumzeit-Quantum einer ›living occasion‹
Zeit Lebenszeit
Abb. 4.5: Ein ›entirely living nexus‹ wird von ›societies‹ umgeben, deren Mitglieder von wesentlich geringerer Kreativität sind und ihn deshalb mit einem hohen Maß an Konformität prehendieren. Die von Abb. 2.29(d) übernommenen wellenförmigen Gebilde könnten von den Raumzeit-Quanten der Abb. 4.4 ersetzt werden. Die zeitlichen Distanzen zwischen zwei ›living occasions‹ werden zum Gegenstand einer späteren Diskussion (siehe Abschn. 3.2 dieses Kapitels). Dasselbe gilt für die räumliche Größe ihrer RaumzeitQuanten (siehe Abschn. 3.1.e.2 dieses Kapitels).
giert (PR 103 f./dt. 201 f.). Ein solcher ›nexus‹ kann keine ›society‹ sein (ebenda) – was für das Whitehead’sche Verständnis des Lebendigen essentiell ist. Denn seine Mitglieder sind – aufgrund ihrer Lebendigkeit, die nicht-konforme Fortsetzung bedeutet – viel zu kreativ, um mittels des Tradierens eines bestimmenden Charakteristikums begriffen zu werden. 307 Die Whitehead’sche Auffassung von Lebendigkeit ist in der folgenden Passage exzellent zusammengefasst: »[A]n organism is ›alive‹ when in some measure its reactions are inexplicable by any tradition of pure physical inheritance. Explanation by ›tradition‹ is merely another phraseology for explanation by ›efficient cause.‹ We 307 Diesbezüglich ist folgende Stelle sehr bezeichnend: »[An entirely living nexus is] non-social in virtue of its life« (PR 107/dt. 208, Einfügung und Hervorhebung von S. K.).
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Prozesse des Lebendigen
require explanation by ›final cause.‹ Thus a single occasion is alive when the subjective aim which determines its process of concrescence has introduced a novelty of definiteness not to be found in the inherited data of its primary phase. The novelty is introduced conceptually and disturbs the inherited ›responsive‹ adjustment of subjective forms. It alters the ›values‹, in the artist’s sense of that term. It follows from these considerations that in abstraction from its animal body an ›entirely living‹ nexus is not properly a society at all, since ›life‹ cannot be a defining characteristic. It is the name of originality, and not for tradition. The mere response to stimulus is characteristic of all societies whether inorganic or alive. Action and reaction are bound together. The characteristic of life is reaction adapted to the capture of intensity, under a large variety of circumstances. But the reaction is dictated by the present and not by the past. It is the clutch at vivid immediacy« (PR 104 f./dt. 203 f., alle Hervorhebungen von S. K.).
Jedes vielzellige Lebewesen besteht aus einer hohen Zahl von ›entirely living nexūs‹, denn in jeder einzelnen seiner Zellen residiert ein solcher ›nexus‹ (PR 103/dt. 201). Spätestens mit der Erscheinung von Nervensystemen hat jedoch die Evolution Lebewesen hervorgebracht, in denen ›living occasions‹ nicht innerhalb einer Zelle beschränkt sind, sondern mit ihren physischen ›prehensions‹ Daten vieler Tausender von Zellen in sich aufnehmen und mit ihren ›satisfactions‹ relativ große Regionen des Organismus besetzen. 3.1.a
Jenseits von Vitalismus – die ›living societies‹ sind nicht ›beseelt‹
Whitehead ist – genauso wie Bergson – ein nicht-vitalistischer Denker, der die Lebenswissenschaften der Physikochemie nicht unterordnet. Für viele neuzeitliche Vitalisten ist der Organismus eine Maschine, die Produkt einer besonderen Lebenskraft ist. So ist für Driesch jeder lebendige Körper eine »extensive Mannigfaltigkeit« – was auch für alle Arten von Maschinen zutrifft – und als solche das Resultat einer »intensiven Mannigfaltigkeit«, einer psychischen Entität (1928, 285, 339). Whitehead bezeichnet an keiner Stelle seiner Werke die organismischen Körper als Maschinen. Die Körper-SeeleDualität der Vitalisten ist ihm nicht nur fremd, sondern er lehnt die Vorstellung einer den Körper belebenden Seele explizit ab, selbst wenn sie mit den Mitteln seiner Ontologie als ›enduring object‹, d. h. als ›society‹ personaler Ordnung gedacht wird:
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IV · Die Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads und die Ontogenese
»Life is a bid for freedom: an enduring entity binds any one of its occasions to the line of its ancestry. The doctrine of the enduring soul with its permanent characteristics is exactly the irrelevant answer to the problem which life presents. That problem is, How can there be originality? And the answer explains how the soul need be no more original than a stone« (PR 104/dt. 203). 308
Die Vorstellung des ›entirely living nexus‹ unterscheidet sich entscheidend von allen vitalistischen Seele-Konzeptionen. Denn einerseits ist er prozess- und nicht substanzontologisch gedacht und andererseits, was hier wichtiger ist, unterscheidet er sich nicht ontologisch von dem Rest der ›living society‹ – er besteht genauso aus ›actual occasions‹ wie die weniger aktiven Teile des Lebewesens. Whitehead ist allein schon deswegen kein ›Kryptovitalist‹ – eine Position, die Mayr unkritisch übernimmt (2000, 353) – weil er eindeutig nicht davon ausgeht, dass »Lebewesen über eine besondere Lebenskraft oder Lebenssubstanz verfügen, die der unbelebten Materie fehlt«, worin Mayr das Wesen des Vitalismus sieht (ebenda 418). Whitehead geht von verschiedenen Graden der Lebendigkeit in der Materialität des Lebewesens aus und vermeidet somit die Dualität einer FormStoff- bzw. Seele-Körper-Metaphysik, die scharfe Abgrenzungen zwischen psychischer Aktivität und stofflicher Passivität impliziert. Die prehensive Verbundenheit aller organismischen Prozesse verbietet außerdem die Vorstellung einer einseitigen Beeinflussung, die von einem kreativen Seienden ausgehend, den Körper steuert oder bildet, wie der Psychovitalismus und seine neovitalistische Fortsetzung annehmen. Für die organische Philosophie darf die lebendige Materie (wie auch jede andere Form von Materie) nicht als etwas gedacht werden, das passiv in der Zeit verharrt. Ihre Permanenz ist Resultat einer Vibration der Entstehung und Vernichtung, die eine astronomisch hohe Frequenz hat. Der Zusammenhalt des lebendigen Körpers geht auf die wesenhafte Interdependenz von wirklich Seienden im Organismus zurück. Kein noch so mikroskopischer und protomental-einfacher Prozess des Leibes gestaltet sein Wesen indifferent zu einem großen Teil des restlichen Organismus: Ein Elektron im Lebewesen ist etwas anderes als ein Elektron außerhalb dessen (SMW 99/dt. 98), 309 aller308 Whitehead distanziert sich auch woanders vom Vitalismus: SMW 98, 128/dt. 97 f., 124. 309 Siehe Abschn. 2.2.c.6 dieses Kapitels.
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Prozesse des Lebendigen
dings nur, weil es ›actual occasions‹ mit besonders vielschichtigen mentalen Polen physisch prehendiert und nicht, weil es von ihnen aktiv manipuliert wird. 3.1.b
Eine Antwort auf die Organismus-Problematik: ›living occasions‹ als anti-entropisch wirksame Entscheidungen
Die ›living occasions‹ führen durch die ›satisfactions‹ ihrer eigenen Wesensbestimmung Tatsachen in die ›living society‹ ein, die sogar gegenüber dem ›entirely living nexus‹, den diese Prozesse fortsetzen, großen Neuheitswert besitzen. Sie ›regieren‹ in einem Lebewesen dadurch, dass sie seinen weniger originellen ›actual occasions‹ etwas Besonderes für ihre prehensiven Aktivitäten anbieten. Das Werden der ›living occasions‹ ist noch weniger auf Naturgesetze reduzierbar als das gewöhnlicher weltlicher Prozesse, weil die Bedingung für ihre schöpferische Spontaneität die Freiheit vom Zwang der linearen Verlängerung ihrer Vergangenheit, des Konform-Gehens mit dem Geerbten ist. Sie führen etwas in die Fortsetzung der Geschichte eines Lebewesens ein, das nicht ausschließlich in seiner eigenen Vergangenheit und der seiner Umgebung begründet sein kann. Aus Whitehead’scher Sicht könnte der biosystemische Emergentismus nur dann die Lebewesen zufriedenstellend beschreiben, wenn sie bloße ›societies‹ wären. Denn das auf Wirkursachen basierende Denken, das die tragende Säule aller naturwissenschaftlichen Systemtheorien bildet, muss nicht notwendig mit einem teleologischen Denken kollidieren, wenn letzteres in den ›societies‹ nur solche Zweckursachen kurzer Reichweite walten lässt, deren einziges Ziel die Fortsetzung der Dynamik der ›societies‹ ist und die somit jedes Auftreten von Neuheit abwenden. In beiden Fällen lässt sich die Entwicklung einer Ganzheit – die im ersten Fall als System und im zweiten als ›society‹ gedacht wird – durch einen Mechanismus oder (im Idealfall) Formalismus beschreiben. Denn die Entwicklung, die in dem ihr entsprechenden Zustandsraum und in der Raumzeit noch so chaotisch aussehen mag, ist auf der tieferen Ebene ihrer Gesetzmäßigkeit homogen, wie Bergson sagen würde. 310
310 Bergsons Verständnis von Homogenität bezieht sich nicht auf die Gleichförmigkeit des raumzeitlichen Erscheinungsmusters einer Ganzheit, sondern auf die Unveränderbarkeit der während der Entwicklung dieser Ganzheit auf der tieferen Ebene
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IV · Die Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads und die Ontogenese
Jedes biologische Denken auf der Basis von Wirkursachen oder fixierten Zweckursachen verlangt, dass bestimmte unveränderte Gesetzmäßigkeiten durch die Zeit ihre Wirkung entfalten und das Werden des Lebendigen steuern. Auch wenn Whitehead diesen Denkweisen nicht jegliche Berechtigung abstreitet, weigert er sich entschlossen, Leben darin zu verankern, geschweige zu begrenzen. Aus der Perspektive seines Denkens kann lediglich der physische Abdruck des Lebendigen durch Trajektorien erschöpfend wiedergegeben werden – der kreative Grund des Lebendigseins entgeht dagegen jeder quantifizierbar-metrischen Darstellung in abstrakten Räumen, weil er nicht verräumlicht ist, wie Bergson sagen würde. In Bezug auf die zentrale Frage der vorliegenden Untersuchung – die Organismus-Problematik (vgl. Abb. 2.27) – lässt sich auf der Basis der prozessualen Teleologie der ›living occasions‹ folgende Lösung vorschlagen: Eine einzige wirkliche Entität, die eine ›living occasion‹ ist, kann allein durch ihre Manifestation als raumzeitliches Datum (›satisfaction‹) bestimmter Beschaffenheit den Gesamtzustand eines Organismus, der am Beginn der Divergenz benachbarter Trajektorien steht, in einen Bereich des Zustandsraumes lenken, der biologisch sinnvoll ist. Besonders hilfreich sind diesbezüglich die Erkenntnisse der Quantenbiologie, die die Vorstellung von ›actual occasions‹ mesound makroskopischer Dimensionen unterstützen. Solche Quantenprozesse wären – wenn sie als ›actual occasions‹ gedacht werden – keine blinden Quantenfluktuationen, sondern teleologische, d. h. gerichtete Prozesse, und dank ihrer physischen Größe könnten sie unschwer organismische Entwicklungen vor der Entgleisung in Bereiche der wachsenden Desorganisation bewahren. Der mentale Pol dieser Prozesse des Lebendigen würde in einer Entscheidung für das Einschlagen physikochemisch möglicher und zugleich biologisch sinnvoller Trajektorien bestehen. Das Wesen jedes ›entirely living nexus‹ besteht in ›living occasions‹, die solche richtungsweisende Entscheidungen sind. Sie greifen bei den kritischen und gefährlichen Phasen der organismischen ›Reise‹ durch das extrem verwickelte Labyrinth physikochemisch möglicher Zustände wirksam ein und leiten sie auf biologisch sinnvolle ›Schienen‹ (vgl. Abb. 4.6). Durch ihre korrigierenden Eingriffe revitalisieren sie den Organismus. Die in der Abwirkenden Gesetze (siehe Abschn. 1.1. von Kap. III) – und zwar unabhängig davon, ob sie als Gesetze wirk- oder zweckursächlich-kausaler Art gedacht werden.
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Prozesse des Lebendigen
X1
X2
X3
X n-1 Xn Abb. 4.6: Die Sonnen symbolisieren ›living occasions‹. Ihre ›satisfactions‹ aktualisieren eine geringe Anzahl physikochemisch möglicher Zustände, die biologisch sinnvoll sind. Sie bewahren den Organismus vor der Entgleisung aus dem schmalen Bündel biologisch sinnvoller Trajektorien ontogenetischer Entwicklungen, die von der langen Kurve repräsentiert werden. Die gestrichelten Linien repräsentieren physikochemisch mögliche, aber biologisch verheerende Entwicklungen wachsender Entropie (Teratogenese, Degeneration, Tod).
bildung 4.6 enthaltene Kurve der ontogenetischen Entwicklung kann als eine Interpretation von Lewontins Aussage, »[d]as Leben eines Organismus besteht aus fortwährenden Kurskorrekturen«, verstanden werden (2002, 92). Der ›entirely living nexus‹ bildet also den kraft besonderer Zweckursachen anti-entropisch agierenden Kern eines Lebewesens. Von einem ›Kern‹ ist allerdings die Rede nicht in einem räumlich, geschweige substantialistisch gedachten Sinne, sondern im Sinne des zentralen Faktors der Lebensbewahrung durch Revitalisierung. Wegen der Heisenberg’schen Unschärferelation okkupieren die 583 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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jeweils aktuellen Zustände des Organismus ein kleines Volumen des Zustandsraumes, das jedoch nicht infinitesimal klein ist. Deswegen sollte die organismische Entwicklung als Trajektorie einer gewissen Dicke bzw. als Bündel von Trajektorien, die nicht infinitesimal dünn sind, abgebildet werden. Die letzte Abbildung sollte nicht dahingehend interpretiert werden, dass jede ›living occasion‹ die Entscheidungen für ihre ›satisfaction‹ auf der Basis eines solchen Bildes trifft. Selbstverständlich behaupte ich nicht, dass ein solcher Prozess über eine ›Karte‹ verfügt, auf der die möglichen Entwicklungen des Organismus wie die Straßen einer Stadt vorgezeichnet sind. Nur wir, die externen und mit Bewusstsein begabten Beobachter, können prinzipiell eine solche ›Karte‹ der biologisch sinnvollen Entwicklungen (und aller anderen) zeichnen. Da protomentale wirklich Seiende, wie die ›living occasions‹ nicht bewusst sind, können sie nicht über eine solche Reflexion zukünftiger Möglichkeiten verfügen. Wenn also von ihren Entscheidungen die Rede ist, sollte dieser Ausdruck lediglich in seinem eigentlichen Sinne verstanden werden, der auf das Ausscheiden von Möglichkeiten referiert. Natürlich kann dies auf der Basis eines Planes erfolgen, der ein baumartiges Netz möglicher Entwicklungen repräsentiert. Aber dies würde nach einem hochentwickelten Bewusstsein verlangen, das komplizierte logische Operationen mit abstrakten Entitäten beherrscht, die ihm einen großen zeitlichen Horizont seiner zweckvollen Planungen ermöglichen. Je einfacher jedoch ein Organismus ist, desto kürzer ist die Reichweite seiner Zwecke. Es wäre also falsch, zu behaupten, dass ›living occasions‹, die nicht mit Bewusstsein begabt sind, die einen Organismus prehendieren, der gerade zu entgleisen beginnt, sich dieser Gefahr gewahr werden, indem sie die materielle Konstitution des Erfassten analysieren. Sie messen nicht die Abweichung des jeweils aktuellen Zustands von einem ideellen Sollzustand – sie erleben sie vielmehr. Die ›living occasions‹ korrigieren nicht die organismische Entwicklung wie der Kapitän eines Schiffes, der den Kurs durch die Verwendung von Seekarten und Navigationsinstrumenten berechnet. Ihre ›initial aims‹ werden von etwas kreiert, das als Erinnerung an die Erfahrung des Gesund-Seins oder an andere Erfahrungen beschrieben werden könnte. Jeder vielzellige Organismus wird von einem embryologischen und einem immunologischen Gedächtnis geleitet. Letzteres ist größtenteils im individuellen Lebewesen verankert, da es von seiner Ontogenese abhängig ist, während Ersteres überindividuell ist, da es in der Evolution der Art 584 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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des Organismus verwurzelt ist. An dieser Stelle kann aber die Frage des organismischen Gedächtnisses nicht vertieft werden. 311 Vor dem Hintergrund der im zweiten Kapitel der vorliegenden Untersuchung entfalteten Organismus-Problematik, den Whitehead seinerzeit nicht haben konnte, wird die Richtigkeit seiner Forderung, dass eine ›living occasion‹ mit ihrer Vergangenheit nicht konform gehen kann, besonders klar. Sie steht vor einem Scheideweg und die Fortsetzung des Vergangenen würde nichts anderes bedeuten als das Unvermögen eine Entscheidung herbeizuführen. Deswegen besteht der Sinn einer ›living occasion‹ allem voran in der Befreiung von der Last ihres Erbes durch eine machtvolle Entscheidung: Sie durchtrennt einen ›gordischen Knoten‹, anstatt ein kompliziertes Rätsel mühsam zu lösen, denn das Gebot der Bewahrung der Lebendigkeit lässt ihr nicht die für die Überprüfung aller begehbaren Wege nötige Zeit. Eine solche Verteidigung des Lebens offenbart ein vielschichtiges, aber immer noch protomentales Begehren, eine »Verführung zum Dasein«, wie man mit Émil Cioran sagen könnte, 312 und hat als solche etwas von der Undurchdringbarkeit der Singularität eines Willensaktes. Die Verwirklichung einer einzigen physischen Möglichkeit, die einen Weg des Lebendigseins darstellt, die also biologisch sinnvoll ist, setzt die Auswahl dieser Möglichkeit unter einer enormen Anzahl von physischen Möglichkeiten voraus, die sich in der unmittelbaren Nachbarschaft der ausgewählten befinden. Ein geringer Bruchteil dieser nicht verwirklichten Zustände ist ebenfalls biologisch sinnvoll. Diese Zustände müssen jedoch verworfen werden, da es unmöglich ist, mehrere Möglichkeiten gleichzeitig zu verwirklichen. Eine ›living occasion‹ vermag nur dann anti-entropisch zu wirken, wenn sie die Verwirklichung einer einzigen biologisch sinnvollen Möglichkeit vollzieht. Die Macht und Souveränität einer Entscheidung für das Leben besteht aber auch darin, dass sie sich keinem noch so mächtigen abstrakt operierenden Verstand gegenüber vollständig transparent zeigt – ihr haftet ein nicht ganz zu durchschauendes und noch weniger zu leugnendes voluntaristisches Moment an: Aus der Perspektive eines externen Beobachters hätte sie genauso gut anders ausfallen können. 311 Bezüglich der Problematik des organismischen Gedächtnisses siehe Abschn. 3.3 und 3.4 dieses Kapitels und Abschn. 3.3, 3.4 und 3.5 von Kap. III. 312 Ich habe mich vom Titel Dasein als Versuchung (La tentation d’exister) eines 1956 veröffentlichten Buches Ciorans inspirieren lassen.
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Denn sie zeichnet sich, wie jeder Erlebensakt, durch eine Innerlichkeit (›subjective forms‹) aus, die als solche nicht auf eine Kombination von Universalien reduzierbar und somit weder quantifizierbar noch objektivierbar ist. Die Entscheidung einer ›living occasion‹ erhält ihre Legitimation durch das Resultat – die Revitalisierung der lebendigen Ordnung. Dem Aspekt des Ausnahme-Seins singulärer nicht-konformer Akte verleiht der umstrittene Klassiker der politischen Philosophie Carl Schmitt einen gleichermaßen exzellenten wie auch universellen Ausdruck. In seiner Politischen Theologie von 1922 schreibt er: »Die Ausnahme [ist] wichtiger als die Regel, nicht aus einer romantischen Ironie für das Paradoxe, sondern mit dem ganzen Ernst einer Einsicht, die tiefer geht als die klaren Generalisationen des durchschnittlich sich wiederholenden. Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur die Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der Ausnahme. In der Ausnahme durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste eines in Wiederholung erstarrten Mechanismus« (1990, 22; Einfügung und Hervorhebungen von S. K.).
Anders ausgedrückt: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet«. 313
Die Regel, das Normale des Lebendigseins, das sich nur in einem sehr begrenzten Bereich des entsprechenden abstrakten Raumes bewegen darf, lebt überhaupt nur von den Ausnahmezuständen, die es alsbald retten werden, wenn es dabei ist, in einen »in Wiederholung erstarrten Mechanismus« zu entarten, der als solcher notwendig zu entgleisen beginnt. Die Souveränität einer ›living occasion‹ besteht also in ihrem nicht vollständig begründbaren Verstoß gegen das ›Normale‹, der eine Zäsur einleitet, die neue Horizonte eröffnet, denn nach einer Revitalisierung ist das Leben nicht mehr dasselbe. 314 Mit diesem Satz beginnt die Politische Theologie. Im Denken Schmitts wird die gesellschaftliche Ordnung durch Homogenität garantiert, die für ihn allgemeine Übereinstimmung in Bezug auf zentrale Entscheidungen bedeutet. Sie gilt jedoch als »idyllischer Zustand«, der nicht erreicht werden kann. Der Pluralismus gilt Schmitt als Gefahr. Der Souverän der Gesellschaft kann nicht das Parlament sein, sondern der Präsident. Sein Privileg, über den Ausnahmezustand entscheiden zu können, ermöglicht ihm, eine besondere Form der Diktatur zu errichten (Notstandsdiktatur), d. h. eine, deren Ziel nicht der Umsturz der alten Ordnung sein darf, sondern lediglich ihre Stabilisierung. So denkt Schmitt vor dem Hintergrund der Bürgerkriegsgefahr in der Weimarer Republik. Auch wenn ›living occasions‹ als Notstandsprozesse verstanden werden können, die aufgrund ihrer besonderen Rolle nicht 313 314
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Prozesse des Lebendigen
3.1.c
Was aus der Organismus-Problematik für die qualitative und quantitative Beschaffenheit der ›living occasions‹ folgt
Im letzten Abschnitt wurde angenommen, dass eine einzige ›living occasion‹ den Gesamtzustand eines Organismus steuern kann, wenn die Wirkursachen-Kausalität dies erlaubt, d. h. wenn mehrere physische Entwicklungen gleichzeitig möglich sind. Es ist aber genauso gut denkbar, dass viele aufeinander abgestimmte gleichzeitige 315 ›living occasions‹ die Entscheidung erwirken würden. In diesem Fall wäre ein Lebewesen von mehreren parallel existierenden ›entirely living nexūs‹ beherrscht, die es gemeinsam regieren würden. Dank ihrer gegenseitigen Abstimmung würden die Mitglieder der verschiedenen ›nexūs‹, ihre Kräfte addieren, anstatt sich gegenseitig zu nivellieren. Tatsächlich vermutet Whitehead, wie schon gesagt, eine große Menge von ›nexūs‹ in jedem vielzelligen Lebewesen: Ein ›entirely living nexus‹ sollte in jeder Zelle walten (PR 103/dt. 201). Bei der Vorstellung der parallelen Herrschaft vieler ›nexūs‹ zwingt sich jedoch eine dringende Frage auf: Wer stimmt alle gleichzeitigen ›living occasions‹ aufeinander ab? Aus Whitehead’scher Sicht kann die Antwort nur »Gott« lauten, denn es ist ausschließliches Privileg dieses wirklich Seienden, dass es allen anderen ›actual entities‹ ihre ›initial aims‹ bereitstellt. Auch wenn also davon ausgegangen werden kann, dass die ›actual worlds‹ der Mitglieder verschiedener ›entirely living nexūs‹ sich zu einem großen Teil gegenseitig überlapden üblichen ›Normen‹ der ›living society‹ gehorchen müssen, darf hierin keine Verlängerung einer politischen Position von Whitehead oder von mir gesehen werden. Whitehead hatte keine Sympathie für autoritäre Regime und sah in den USA der dreißiger Jahren die zuverlässigste Macht für das Eindämmen der rechten und linken Totalitarismen Europas und Asiens dieser Zeit. Aus seinen biophilosophischen Ideen – z. B. aus der Vorstellung, dass nur sehr einfache Lebewesen wie Demokratien organisiert sind (PR 108 f./dt. 211) – dürfen also keine politischen Überzeugungen oder sozialphilosophischen Thesen abgeleitet werden. Dass einem biologischen Organismus eine bestimmte Form der Bewahrung und Erhöhung von Ordnung zugesprochen wird, heißt keineswegs, dass dieselbe Form auch auf soziale Organismen übertragen wird. 315 Whitehead betrachtet zwei Prozesse als gleichzeitige, wenn zwischen ihnen kausale Unabhängigkeit besteht, d. h. wenn keins von beiden in der ›actual world‹ des jeweils anderen enthalten ist (PR 66, 61/dt. 137, 129). Hier spreche ich jedoch von ›Gleichzeitigkeit‹ in einem viel absoluteren Sinne: Zwei ›living occasions‹ ereignen sich in einem Lebewesen gleichzeitig, wenn sie aus der Perspektive eines externen menschlichen Beobachters, der sie durch Lichtwellen registriert, zum selben Zeitpunkt stattfinden.
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pen, was einer Kooperation aufgrund der Gemeinsamkeiten ihrer Vergangenheiten dienlich ist, bleibt es im Endeffekt immer der göttlichen Koordination überlassen, dass sie durch die zweckmäßige Auswahl der ›initial aims‹ diese Überlappungen der ›actual worlds‹ überhaupt stiftet. Damit wird aber die für die Naturwissenschaften ohnehin inakzeptable Rolle Gottes im Lebendigen noch zentraler. 316 Die Problematik der Abstimmung einer Vielzahl von separaten ›actual occasions‹ aufeinander, zwischen denen wegen ihrer Gleichzeitigkeit keine physischen ›prehensions‹ möglich sind, ist einer der Gründe, warum bei der vorliegenden Untersuchung davon ausgegangen wird, dass ein einziger ›entirely living nexus‹ in einem Lebewesen regiert, womit ich mich deutlich von Whitehead distanziere. Andere Denkmöglichkeiten können hier nicht verfolgt werden, ohne die räumlichen Grenzen dieser Untersuchung zu sprengen. Die zweite, mit der ersten eng zusammenhängende wichtige Annahme ist die im letzten Abschnitt eingeführte Vorstellung, dass der mentale Pol der ›living occasion‹ den Übergang des tatsächlichen gesamtorganismischen Zustands von einem Zustand auf einen anderen, ihm benachbarten bewirken kann. Dabei verlaufen durch beide Zustände Trajektorien, denn nur so kann es einem Prozess gelingen, die organismische Entwicklung auf eine biologisch sinnvolle Trajektorie umzuleiten. Der ›living occasion‹ stehen alle Möglichkeiten zur Verfügung, die der Dynamik des ganzen Lebewesens zum Zeitpunkt ihres Vollzugs offen stehen, denn wie sollte es ihr sonst gelingen, da sie allein operiert, das Schicksal des gesamten lebendigen Körpers umzulenken? Die Organismus-Problematik zeigt, dass die organismische Entwicklung Zustände durchläuft, die deterministisch offen bzw. instabil sind, wenn der Organismus auf seine wirkursächlichkausale Seite reduziert wird. Diese Seite des Organismus wird vom Zustandsraum der gesamtorganismischen Dynamik und den in ihm enthaltenen Trajektorien repräsentiert. Die Wirkursachen-Kausalität des lebendigen Körpers steht mit allem, was er hat, d. h. mit der Totalität seiner Materie und Energie, am Scheideweg, d. h. vor divergierenden Trajektorien. Es gibt keine verborgenen Faktoren der Wirkursachen-Kausalität – sie alle sind in den Dimensionen und Trajektorien des erweiterten Zustandsraumes (vgl. Abb. 2.26 und 2.27) repräsentiert. Folglich darf nicht angenommen werden, dass der Ent-
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Dieses Problem wird im Abschn. 4 dieses Kapitels diskutiert.
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scheidungsprozess, den eine ›living occasion‹ darstellt, etwas auslösen würde, das im erweiterten Zustandsraum der ontogenetischen Entwicklung nicht sichtbar wäre, das aber trotzdem irgendwie den Gesamtzustand in die richtigen Bahnen leiten könnte. Deshalb muss die jeweils aktuelle ›living occasion‹ durch ihre eigene physische Beschaffenheit, und nur durch sie, den Gesamtzustand neu balancieren können. Das würde jedoch nichts Geringeres verlangen, als dass der Entscheidungsprozess, zumindest in seiner qualitativen Beschaffenheit, über diejenigen Dimensionen des Zustandsraumes des Organismus verfügt, zwischen denen die Entscheidung sich abzuspielen hat. Wenn der abstrakte Raum des gesamten Lebewesens eine Anzahl von M Dimensionen aufweist und die Alternativen einer bevorstehenden Entscheidung von Trajektorien repräsentiert werden, deren unterschiedliche Wege nur bezüglich L dieser Dimensionen voneinander divergieren, 317 dann wird die fragliche ›living occasion‹ mindestens über diese L Dimensionen verfügen müssen, in denen sich die Entscheidung abspielt. Jede dieser L Dimensionen ist eine abstrakte Entität und somit aus Whitehead’scher Sicht ein ›eternal object‹. Das bedeutet, dass das vollendete ›subjective aim‹ der ›living occasion‹, das die physische Gestalt ihrer ›satisfaction‹ festlegt, ein zusammengesetztes ›eternal object‹ ist, das mindestens diese L einfacheren ›eternal objects‹ in einer Einheit vereint. Es ist offensichtlich, dass diese Klarheit bezüglich des mentalen Poles einer ›living occasion‹ nicht gewonnen werden könnte, wenn ein Kollektiv solcher Prozesse gemeinsam agieren würde, ohne dass die genaue ›Aufgabenteilung‹ zwischen ihnen bekannt wäre. Das ist ein weiterer wichtiger Vorteil der Vorstellung der Alleinherrschaft eines ›entirely living nexus‹. Soviel zur qualitativen Seite eines Entscheidungsprozesses. Bezüglich der quantitativen Beschaffenheit der ›living occasion‹ kann ohne weiteres angenommen werden, dass je näher sie sich dem Beginn der Divergenz der scheidenden Trajektorien vollzieht, desto kleiner darf ihre physische Energie sein, weil desto geringer die zu leistende Korrektur ist. Man kann außerdem davon ausgehen, dass aufgrund der kausalen Verflochtenheit räumlich voneinander ent317 Man stelle sich z. B. ein auf einem Tisch liegendes Blatt Papier vor, auf dem eine Kurve gezeichnet ist, die sich in zwei andere Kurven aufspaltet. Diese Kurven divergieren also nur bezüglich der Länge und Breite, aber nicht bezüglich der Höhe, auf der das Blatt liegt, voneinander. In diesem Fall ist M = 3 und L = 2.
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fernter Regionen des Organismus, die nicht nur bei Nervensystemen bedeutend ist, es besonders zweckmäßig wäre, wenn die Verräumlichung der ›living occasion‹ durch ihre ›satisfaction‹ sich über eine größere Region des Körpers verteilen würde. Denn so könnte sie die weniger kreativen Prozesse, von denen sie physisch prehendiert wird, besser aufeinander abstimmen. Die (verräumlichte) ›satisfaction‹ würde sich in diesem Fall durch eine Unmenge materieller Elemente, wahrscheinlich mikrophysikalischer Natur, manifestieren. Es ist sinnvoll anzunehmen, dass diese nicht räumlich aneinander grenzen würden, sondern wie die kleinen Inseln eines Archipels im Leib verteilt wären. Denn so könnten diese materiellen Elemente – dank ihrer gleichzeitigen und kohärenten Präsenz in voneinander entfernten Regionen des Leibes –, trotz ihrer verhältnismäßig geringen Gesamtenergie, gut aufeinander angepasste physische Wirkungen entfalten. Um globale Wirksamkeit erklären zu können, müsste aber die Idee der ›living occasion‹ von einer Vorstellung befreit werden, die für gewöhnliche ›concrescence‹-Prozesse nicht problematisch ist – nämlich, dass sie nur ein verhältnismäßig minimales Raumquantum des Organismus unmittelbar physisch prehendiert, wie es aus den Abbildungen 4.1 und 4.4 hervorgeht. Um den gesamten lebendigen Körper revitalisieren zu können, muss sie ein Bild seiner globalen Beschaffenheit gewinnen. Dieser Besonderheit trägt in der Abbildung 4.5 die auffällige Größe des Raumquantums der ›living occasion‹ Rechnung. Sie prehendiert unmittelbar viele voneinander entfernte ›actual occasions‹ objectivé und wird von vielen ebenfalls voneinander entfernten ›actual occasions‹ formaliter prehendiert. 3.1.d
Die ›living occasions‹ entscheiden sich zwischen realen Möglichkeiten
Whitehead konnte die gerade vorgestellte Weise der Verbindung des biosystemischen Emergentismus mit seiner Prozessontologie nicht ahnen, denn zu seiner Zeit war die moderne Theorie dynamischer Systeme eine ferne Angelegenheit und die rechnergestützte Lösung und Simulation gekoppelter nichtlinearer biochemischer Differentialgleichungen eine kaum zu ahnende Entwicklung. Insofern wurde hier nicht nur die Fruchtbarkeit der Whitehead’schen Prozessphilosophie für ein nicht szientistisch-biotechnologisch begrenztes Verständnis der Selbsterhaltung und Entwicklung der Lebewesen gezeigt. Es wurde vielmehr auch eine von Whitehead nicht zu ahnende 590 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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Interpretation seiner Konzepte der ›living occasions‹ und des ›entirely living nexus‹ auf der Basis der Theorie dynamischer Systeme geleistet: Jede ›living occasion‹ entscheidet sich bezüglich ihrer endgültigen Beschaffenheit als Raumzeit-Datum (›satisfaction‹) zwischen Möglichkeiten, die von naturwissenschaftlichen Systemtheorien prinzipiell 318 berechnet werden können. Diese Möglichkeiten werden bei zunehmender qualitativer Vielfalt des Prozesses durch immer mehr Dimensionen des gesamtorganismischen Zustandsraumes definiert. Der Entscheidungsakt an sich, mit ihm auch das physisch manifeste Resultat der Entscheidung, ist jedoch nicht berechenbar, weil er als Prozess der Wesensbestimmung notwendig etwas unreduzierbar Spontanes in sich enthält. Die eben erwähnten Möglichkeiten machen die reale Potentialität der konkreten ›living occasion‹ aus. Whitehead unterscheidet klar zwischen zwei Arten von Potentialität: »[W]e have always to consider two meanings of potentiality: (a) the ›general‹ potentiality, which is the bundle of possibilities, mutually consistent or alternative, provided by the multiplicity of eternal objects, and (b) the ›real‹ potentiality, which is conditioned by the data provided by the actual world. General potentiality is absolute, and real potentiality is relative to some actual entity, taken as a standpoint whereby the actual world is defined« (PR 65/dt. 137, Hervorhebungen von S. K.).
Dem ontologischen Prinzip zufolge sind beide Arten von Potentialität durch ›actual entities‹ zu begründen. Die realen Möglichkeiten eines ›concrescence‹-Prozesses ergeben sich aus der ›actual world‹ des Prozesses, die unmittelbar und mittelbar prehendiert wird. Sie hängen also von den ›actual entities‹ ab, die während der ersten Phase der ›concrescence‹ in den werdenden Prozess aufgenommen werden. Die reale Potentialität einer ›actual entity‹ formaliter resultiert also aus ihrem Standpunkt im extensiven (Raumzeit-)Kontinuum und aus dem von Gott gelieferten ›initial aim‹ (ebenda). 319 Der ›concres-
Bezüglich der Bedeutung des Ausdrucks ›prinzipiell‹ siehe Abschn. 2 von Kap. II. Das extensive Kontinuum ist, als Grundlage für die reale Potentialität, die erste Bestimmung von Ordnung (PR 66/dt. 139). Es liefert die allgemeinen Bedingungen der Bindungen der Prozesse zu einem ›nexus‹ (PR 286, 288/dt. 518 f., 521) und hat sehr wenige Eigenschaften. Außerhalb unserer kosmischen Epoche hat es weder Dimensionen noch Messbarkeit (PR 66/dt. 139); diese sind zusätzliche Bestimmungen der realen Potentialität unserer kosmischen Epoche (ebenda). 318 319
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cence‹-Prozess ist nichts anderes als der Übergang von der realen Potentialität zur Wirklichkeit der vollzogenen Wesensbestimmung: »›Actuality‹ is the decision amid ›potentiality‹« (PR 43/dt. 98).
Genauer ausgedrückt: »[T]he ›concrescence‹ is the passage from real potentiality to actuality« (Tanaka 2004, 164).
Die Begründung der reinen Potentialität, die nichts Relatives hat, verweist ausschließlich auf Gott, und zwar auf seine Urnatur als Totalität der abstrakten Entitäten und ihrer Wertungen (PR 46/dt. 103); sie ist eine »unbedingte Potentialität«, da sie zeitlos ist und von der Welt unbeeinflusst existiert (Fetz 1981, 164). Von diesen Überlegungen ausgehend kann Folgendes geschlussfolgert werden: Ein materiales Gesetz, 320 d. h. ein (nach heutigem Wissen) im gesamten Kosmos gültiges elementares Naturgesetz der Physik und Chemie, ist eine abstrakte Entität und kann deshalb innerhalb der organischen Philosophie als ein ›eternal object‹ aufgefasst werden. Folglich trägt es entscheidend zur Festlegung des breitesten Spektrums von Möglichkeiten, d. h. der reinen Potentialität bei. Ein Strukturgesetz oder emergentes Gesetz, 321 das in einer ›society‹ gilt, bestimmt die Beiträge der weltlichen Prozesse der ›actual worlds‹ zur Gestaltung der realen Potentialität der in dieser ›society‹ sich vollziehenden Prozesse. Es ist die wesenhafte Verwurzelung des Prozesses in seiner ›actual world‹, die ihm konkrete mögliche Wege seiner Wesensbestimmung eröffnet. 3.1.d.1 Die systemtheoretisch fassbare Dimension der ›living societies‹ An dieser Stelle könnte der Einwand erhoben werden, dass eine prozessual-teleologische Naturphilosophie nicht die Dienste eines teleonomisch-systemtheoretischen Ansatzes in Anspruch nehmen, folglich auch nicht auf die Konzeption der emergenten Gesetze referieren darf, um die Möglichkeiten der Entwicklung ihrer interessantesten Objekte, der ›living occasions‹, festzustellen. Schließlich sei es nicht selbstverständlich, könnte weiterhin eingewendet werden, dass die möglichen physischen Entwicklungen einer ›society‹ mit denen eines 320 321
Siehe Abschn. 1.1.i von Kap. II. Siehe Abschn. 1.1.i und 1.1.j von Kap. II.
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physikochemischen dynamischen Systems zusammenfallen können, weil Letzteres die Existenz von Zweckursachen ausschließt, was für Erstere unverzichtbar ist. Diesbezüglich wäre jedoch an zwei in der vorliegenden Untersuchung schon vertretene Positionen zu erinnern. Erstens, dass die mit Hilfe von Trajektorien beschriebenen Entwicklungen von Ganzheiten nicht notwendig an Wirkursachen, sondern lediglich an irgendeine Form von Kausalität gebunden sein müssen; 322 Trajektorien bilden nur das Resultat des Werdens ab, nicht die Natur der Ursachen, d. h. die Form der Kausalität, die dazu führt. Zweitens, dass die Prozesse aller ›societies‹, mit ihren ›satisfactions‹, sich einer doppelten Verräumlichung unterziehen, die in abstrakten Räumen abgebildet werden kann. Diese in den ›societies‹ schon manifestierten Prozesse fungieren für die neuen Prozesse formaliter als Wirkursachen, im Whitehead’schen Sinne dieses Ausdrucks. Es stellt sich also die Frage, inwiefern das Whitehead’sche Verständnis von Wirkursachen mit dem systemtheoretischen kompatibel ist. In der organischen Philosophie wird unter dem Begriff ›Wirkursache‹ die Gesamtheit der von einem ›concrescence‹-Prozess prehendierten ›actual entities‹ subsumiert. Dazu gehört auch Gott, was auf den ersten Blick dem systemtheoretischen Denken zu widersprechen scheint. Für die Whitehead’sche Prozessphilosophie ist aber Gott ein immerwährender Prozess, weshalb er sich nie raumzeitlich manifestiert. Gott ist nur insofern eine Wirkursache, als er dem neuen Prozess sein ›initial aim‹ gibt, das keine physisch manifeste Entität ist (sondern nur eine auf solche Entitäten bezogene). Whitehead würde also niemals von einem formal operierenden Ansatz erwarten, dass er irgendein Faktum göttlichen Ursprungs in einem abstrakten Raum abbilden könnte. Aus systemtheoretischer Sicht bedeutet der Ausdruck ›WirkursachenKausalität‹ nichts mehr als, dass der Übergang von einem Gesamtzustand zu einem anderen ausschließlich von Gesetzen geregelt wird, die naturwissenschaftlich erforschbar sind. Dies stellt sicherlich eine Abgrenzung zu jedem mental-teleologischen Denken dar, das den wirklich Seienden Streben zuspricht. Beachtet man jedoch, dass die Theorie dynamischer Systeme einen erweiterten Determinismus eingeführt hat, der kausal offene Stellen (Instabilitäten) enthält, in denen die weitere Entwicklung nicht entscheidbar ist, dann ist es überhaupt nicht abwegig, einen mentalen Faktor zuzulassen, der eine 322
Siehe Abschn. 1.1.b.3 von Kap. II.
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IV · Die Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads und die Ontogenese
Auswahl zwischen physikalisch gleichwertigen Möglichkeiten trifft, wenn dabei keine Gesetze und Erhaltungssätze der Physik verletzt werden. Weiterhin ist es zu beachten, dass die von Punkten in abstrakten Räumen repräsentierten Gesamtzustände nichts anderes darstellen als Kombinationen von arithmetischen und physischen Universalien (sie sind z. B. Konzentrationen von Molekülsorten). Sie sind also ebenfalls Universalien, d. h. aus Whitehead’scher Sicht sind sie zusammengesetzte ›eternal objects‹. Trajektorien sind also für die organische Philosophie nichts anderes als Verbildlichungen der Realisierbarkeit zusammengesetzter ›eternal objects‹, d. h. reiner Möglichkeiten – sie zeigen, was überhaupt möglich ist. Sobald ein bestimmter Gesamtzustand als ein real existenter angenommen werden darf, zeigen die Trajektorien in seiner unmittelbaren Umgebung reale Möglichkeiten der Entwicklung, die unter den realistischen Bedingungen deterministisch-stochastischer Kopplung 323 diesem Zustand zur Verfügung stehen. Dies verträgt sich problemlos mit der organischen Philosophie: Einige der in der Urnatur Gottes enthaltenen reinen Möglichkeiten werden aufgrund der physischen Beschaffenheit des Lebewesens zu realen Möglichkeiten und können folglich ausgewählt werden. Das Resultat dieser Überlegungen lautet: Lebendige ›societies‹ sind zwar keine dynamischen Systeme, sie haben aber eine wichtige systemische Dimension, die in ihrem Wirkursachen-Aspekt wurzelt. Die Tatsache, dass alle in ihnen stattfindenden Prozesse durch ihre ›satisfactions‹ sich einer doppelten Verräumlichung unterziehen, erlaubt, diese Prozesse in abstrakten Räumen abzubilden, was notwendigerweise nach sich zieht, dass sie den dort herrschenden Gesetzmäßigkeiten der Verbindung von Möglichkeiten unterliegen. Demzufolge verwirklichen ›living occasions‹ reale Möglichkeiten, die zusammengesetzte abstrakte Entitäten sind und sich als Punkte auf Trajektorien darstellen lassen, 324 die (die Trajektorien) prinzipiell mit den Mitteln der Physik berechnet werden können. Aus der Perspektive der Whitehead’schen Prozessphilosophie gesehen, versuchen die Systemtheorien der Gegenwart einen ParaSiehe Fußnote 25 von Kap. II. Die Darstellung einer ›living occasion‹ als Punkt ist Resultat einer Abstraktion. Ein organismischer Prozess ist zu keinem Zeitpunkt so vollständig bestimmt, dass er als Punkt in einem abstrakten Raum abgebildet werden kann; er besetzt vielmehr ein Zustandsraum-Volumen, das wegen der Unschärfe-Relation nicht unendlich klein sein kann. 323 324
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digmenwechsel durchzusetzen, indem sie eine neue Form der Wirkursachen-Kausalität, nämlich eine nichtlineare, einführen. Damit prägen sie jedoch nichts mehr als eine weitere Form des konformen Erbens der Gegenwart von der Vergangenheit. In expliziter Abgrenzung dazu betont Wiehl die Breite des Spektrums kausaler Verknüpfbarkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, das die Konzeption der prozessualen Zweckursachen-Kausalität zur Verfügung stellt. 325 Sie schließt zwar kein konformes Mitgehen mit der Vergangenheit aus, beschränkt aber seine Bedeutung nur auf besonders unoriginelle ›concrescence‹-Prozesse. Nach solchen muss man heute allerdings mit großem Aufwand fahnden, denn selbst den einfachsten Prozessen der Quantenphysik ist ein unreduzierbarer Indeterminismus essentiell. Jeder, der sich ernsthaft um die Zukunft des Verhältnisses der Whitehead’schen Prozessphilosophie und der modernen nichtlinearen Systemtheorien bemüht, muss der Tatsache ins Auge blicken, dass während das letztere der beiden Gedankenschemata der Idee der finalen Kausalität entgegengerichtet ist, diese für das erstere unverzichtbar ist. Zwischen der Wirk- und der Zweckursachen-Kausalität kann glücklicherweise die Modalität als metaphysische ›Pufferzone‹ dienen und eine Kooperation und gegenseitige Ergänzung beider Gedankenschemata ermöglichen. 3.1.d.2 Die Whitehead’sche Verbindung von Potentialität und Kontinuität und ihre Ausweitung auf abstrakte Räumlichkeit Whitehead betont an vielen Stellen seines Werkes die Unteilbarkeit aller ›actual entities‹. Jede weltliche ›concrescence‹ ist eine »Zelle« (cell) mit atomarer Einheit (PR 219, 227/dt. 401, 416). Die Teilbarkeit bezieht sich nur auf die raumzeitliche Ausdehnung der Gesamtheit der (verräumlichten) Objekte, die physisch prehendiert werden (PR 227/dt. 416). Für die organische Philosophie ist, wie schon gesagt, der Atomismus fundamentaler als die Kontinuität. Diese Vorstellung von der Atomizität der elementaren Wirklichkeiten steht im Kontrast zur Verknüpfung von Kontinuität und Potentialität: »Continuity concerns what is potential; whereas actuality is incurably atomic« (PR 61/dt. 129).
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Persönliche Mitteilung an mich.
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Die kontinuierliche vierdimensionale Ausdehnung des Kosmos entsteht durch das Werden der atomaren Prozesse. Soll das extensive Kontinuum ausschließlich bezüglich seiner raumzeitlichen Ausdehnung, d. h. bar jeder Prozessualität und Materialität aufgefasst werden, so kann es nur durch Abstraktion von den manifestierten ›actual entities‹ gewonnen werden. Whitehead fasst also die raumzeitliche Extension unserer kosmischen Epoche als ein abstraktes, mathematisches Kontinuum auf, denn nur ein solches ist vollkommen passiv gegenüber jeder denkbaren Teilung. Mit den Worten des Phänomenologen Hermann Schmitz ausgedrückt: »Ich bestimme das Kontinuum einerseits als unerschöpflich, andererseits als träge. […] Unerschöpflichkeit wird im Falle der kontinuierlichen räumlichen Ausdehnung zur unendlichen Teilbarkeit. Träge nenne ich das Kontinuum in dem Sinn, daß es nicht von sich her – durch eine ihm eigene Tendenz – in Individuation begriffen ist, sondern diese sich am Kontinuum als ein Geschehen vollzieht, dessen zureichender Grund nicht es selbst ist« (1981, 352).
Die Teilung des extensiven Kontinuums von Seiten einer ›actual entity‹ formaliter besteht in der Festlegung einer geschlossenen Grenze – d. h. des Raumzeit-Quantums, das sie physisch prehendiert. Durch diese Eingrenzung wird der physisch zu prehendierende ›Teil‹ überhaupt erst zu einem solchen gemacht. Es gibt also keine Teile des extensiven Kontinuums im Voraus, die zur Auswahl bereitstehen, sondern es hängt vom ›initial aim‹ eines Prozesses ab, was überhaupt ein Teil ist. Vor Whitehead hat Peirce auf dieselbe Weise Kontinuität mit Potentialität und Aktualität mit Diskretheit und Individualität verbunden: »The possible is necessarily general; and no amount of general specification can reduce a general class of possibilities to an individual case. It is only actuality, the force of existence, which bursts the fluidity of the general and produces a discrete unit. […] Time and space are continuous because they embody conditions of possibility, and the possible is general, and possibility and generality are two names for the same absence of distinction of individuals« (1933, § 172; Hervorhebungen von S. K.).
Die Verbindung von Kontinuität und Potentialität ist jedoch schon in Aristoteles’ Metaphysik und Physik implizit enthalten (Schmitz 1981, 379 f.). 596 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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Der totale Mangel an Aktivität und Erlebensfähigkeit des extensiven Kontinuums macht es zu einem absolut passiven Medium, sozusagen zu einer aristotelischen ›ersten Materie‹, die vollkommen widerstandslos formbar ist. Seine »unendliche Teilbarkeit« und »Trägheit«, um mit Schmitz zu sprechen, legen eindeutig fest, dass es sich dabei um ein aus Bergson’scher Sicht abstraktes Kontinuum handelt. Die Verbindung abstrakter Kontinuität mit Potentialität führt aber dann notwendig mit sich die Frage nach der Verbindung der Idee der Potentialität mit den Vorstellungen der »unendlichen Teilbarkeit« und »Trägheit«; d. h. – in der Sprache Bergsons – mit absoluter Homogenität. Die (arithmetische) Homogenität der zeitlichen Dimension des extensiven Kontinuums, d. h. die beliebige Teilbarkeit und Addierbarkeit der abstrakten Zeit, wäre dann nicht nur eine Folge des Abstrahierens von der Individualität und Subjektivität der Prozesse, das aus ihnen leere Raumzeit-Hüllen macht, sondern hätte auch eine weitere und tiefere Bedeutung. Sie würde auf eine andere, viel subtilere Homogenität verweisen, die ›unterhalb‹ der Heterogenität resp. prinzipieller Unvorhersagbarkeit der Entfaltung prozessualer Wirklichkeit existiert. Die Bergson’sche Vorstellung von der zeitlichen Homogenität physischer Abläufe entspricht dem Modus der Existenz der Potentialität des prozessualen Werdens: Die mathematische Kontinuität der abstrakten Zeit widerspiegelt die absolut gesetzmäßige, d. h. vollständig mathematisch berechenbare, Verbindung zwischen Möglichkeiten der physischen Form, die die Prozesse bei ihrer Manifestation als Raumzeit-Daten annehmen können. Diese Möglichkeiten gehen, da sie aneinander grenzende Punkte von Trajektorien sind, stetig auseinander hervor, d. h. sie existieren in einer streng mathematischen Ordnung des Nacheinanders (die auch eine Ordnung des Nebeneinanders ist, da die Trajektorien eine Form von Räumlichkeit besitzen). Dagegen finden die Verwirklichungen dieser Möglichkeiten durch die Verräumlichung der ›living occasions‹ (und all der anderen ›actual occasions‹) unstetig statt; sie gleichen spontanen Sprüngen zwischen feststehenden möglichen Positionen. Prozessphilosophisch orientierte Denker erkennen nicht im konformen Mitgehen mit der Vergangenheit, das die Dynamik von Abläufen 326 charakterisiert, die Logik der Verbindung aufeinander fol326 Der Ausdruck ›Ablauf/Abläufe‹ wird in der vorliegenden Untersuchung immer mit der Bedeutung gebraucht, die ihm im Abschnitt 3.3.a von Kap. II zugewiesen wurde.
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gender Wirklichkeiten. Innerhalb der organischen Philosophie kann aber die logische Ordnung der (berechenbaren) Abläufe zumindest als Modus der Verknüpfung der Potentialitäten prozessualer Wirklichkeiten betrachtet werden. Diese Vorstellung korrespondiert eindeutig mit Erkenntnissen der Quantentheorie: Die Möglichkeitsfunktionen der Quantenobjekte, d. h. die aus der Schrödinger-Gleichung berechneten Wahrscheinlichkeitswellen, entwickeln sich deterministisch und kontinuierlich bzw. stetig; die Aktualisierungen der Quanten als Raumzeit-Daten sind jedoch unstetig – sie folgen diskret aufeinander und sind unreduzierbar indeterministisch, da sie sich spontan vollziehen. Auf die makroskopische Dimension des Lebendigen übertragen, verweisen diese Überlegungen auf die Kontinuität der Zustandsräume, die – wie schon ausführlich erläutert – Möglichkeitsräume sind. 327 Die Ordnung des zeitlichen Nacheinanders des berechenbaren Werdens ist ohne den geringsten Verlust in der Stetigkeit der Trajektorien von Abläufen aufgehoben. 3.1.d.3 Der Whitehead’sche Entscheidungsprozess ist kein Bergson’scher Aktualisierungsprozess Eins der Fundamente der Whitehead’schen Naturphilosophie ist die in der Antike eingeführte Modallogik des Möglichkeit-WirklichkeitSchemas. Der ›concrescence‹-Prozess vollzieht sich als eine Entscheidung zwischen Möglichkeiten, die dem Prozess vorexistent sind – und somit als ein Akt der Limitation zwischen ideellen Konstellationen, die dem Wirklichen ähneln. Diese Vorstellung lehnt Deleuze explizit ab, als eine Denkgewohnheit, die den Zugang zum Bergson’schen Modell der Aktualisierung des Virtuellen versperrt. 328 Trotzdem darf die essentielle Verwandtschaft zwischen beiden Prozessontologien nicht übersehen werden: Die Whitehead’sche Teleologie ist eine prozessuale, d. h. eine zweckursächliche Kausalität, deren Ziel sich erst im Vollzug des Prozesses herauskristallisiert. Wäre dies nicht so, würden also die ›concrescence‹-Prozesse keine Freiheit der Entscheidung haben, so könnte eine Abfolge von ihnen, d. h. ein ›transition‹-Prozess, in seiner Gesamtheit als die Verwirklichung einer im Voraus existierenden Gesamtmöglichkeit, die vorgezeichnet werden könnte, beschrieben werden. Da aber jede ›actual occasion‹ 327 328
Siehe Abschn. 1.1.b von Kap. II. Siehe Abschn. 2.3 von Kap. III.
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auch Aspekte einer kausalen Singularität in sich enthält, kann eine solche, viele Prozesse einschließende, langzeitige Vorhersage nicht gelingen. Für einen ›transition‹-Prozess können nur viele mögliche Gesamtentwicklungen vorgezeichnet, niemals aber die tatsächlich stattfindende vorhergesagt werden. Insofern ist die sicherlich große Distanz zur Bergson’schen Vorstellung der Herauskristallisierung des Möglichen durch das Wirkliche nicht so gewaltig, wie sie zunächst erscheint. 3.1.e
Die Konzeption der ›living occasions‹ aus der Sicht der Quantenbiologie
Es sei zunächst daran erinnert, dass Whitehead zwischen vier Arten von ›actual occasions‹ unterscheidet. 329 Die Mitglieder der dritten und der vierten Art ereignen sich in Lebewesen und die Subjektivität letzterer erreicht sogar die Intensität des bewussten Erlebens. ›Living occasions‹ können also nur einer dieser beiden Arten von Prozessen angehören. Ausgehend von der allgemeinen Übereinstimmung, dass quantenphysikalische Ereignisse gute Beispiele für weltliche ›actual entities‹ sind, ist es naheliegend, sich an den Erkenntnissen verschiedener Naturwissenschaftler zu orientieren, deren Arbeiten unter dem weiten Oberbegriff Quantenbiologie subsumiert werden können, um dem Konzept der ›living occasions‹ die Integration in die Biowissenschaften des 21. Jahrhunderts zu erleichtern. Eine revidierbare Naturphilosophie lebt schließlich von und für die Fachwelt und muss deshalb ihre Vorschläge auch mit den Augen der entsprechenden Disziplinen betrachten. In ihrer ursprünglichen Gestalt, die sie von ihrem Begründer Friedrich Dessauer und anderen Physikern, wie Pascual Jordan, in der Zwischenkriegszeit bekam, erforschte die Quantenbiologie den Einfluss von Energiequanten unterschiedlichster Art auf die lebenden Zellen (›Strahlenbiologie‹), unter besonderer Berücksichtigung der dadurch in Biomolekülen auftretenden Veränderungen (Dessauer & Sommermeyer 1964, 5–12). Auf die so hervorgerufenen spontanen Mutationen des Erbmaterials geht die für viele Genetiker fundamentale Annahme vom »atomistischen Charakter der Erbanlagen« zurück, d. h. dass »das Gen nichts anderes sein kann, als ein einzelnes
329
Siehe Abschn. 2.2.a.3 dieses Kapitels.
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Molekül« (Jordan 1947, 76). 330 Die Quantenbiologie beginnt also mit der vermeintlichen Entdeckung der »Atomistik des Biologischen« und ihrer theoretischen Verbindung zur Atomistik des Physikalischen (ebenda). Ihre Vernetzung mit der Quantentheorie stellt sie notwendig vor die metaphysischen Fragen dieser Wissenschaft und erlaubt ihr somit, das Verständnis des Lebendigen durch neue naturphilosophische Impulse zu revitalisieren. Auf der Basis seiner Erkenntnisse über die Fähigkeit aller Organismen, vereinzelte mikrophysikalische Ereignisse enorm zu verstärken 331 und ihnen makrophysikalische Wirksamkeit zu verleihen, schlägt Jordan vor, Lebewesen als makroskopische Strukturen der Vermittlung zwischen Mikro- und Makrokosmos zu betrachten: »[Der Organismus] funktioniert nicht ausschließlich nach den Gesetzen der Makrophysik; sondern im Lebensgeschehen kommen ständig mikrophysikalische Einzelentscheidungen zu einer makrophysikalischen Auswirkung« (ebenda, 101; Hervorhebung und Einfügung von S. K.).
Anders ausgedrückt: »Die Indeterminiertheit mikrophysikalischer Feinstvorgänge wird durch die kybernetische Strukturierung der Organismen zu einer makrophysikalischen Auswirkung befähigt« (Jordan 1990, 175; Hervorhebung von S. K.).
In dieser Vernetzung von Mikro- und Makrophysik sieht Jordan sogar das »Wesen des Lebendigen« (1947, 102 ff.). Diesen inspirierenden Gedanken kann er jedoch nicht weiter entfalten, denn der Physiker in ihm beeilt sich, die Physik mit dem Diktat über die Biologie zu autorisieren, indem er den indeterminierten Quantenereignissen die Macht zuspricht, die makroskopische Dynamik des Organismus »diktatorisch« zu steuern: »Leben ist ein Wirken aus der Akausalität der Unterwelt heraus in die kausal gebundene Oberwelt hinein: beides, die Verwurzelung im Mikrophysikalischen und das Hinaufreichen ins Makrophysikalische, ist in gleichem Maße charakteristisch und wesentlich. Daß mikrophysikalische, nicht mehr
330 Jordan veröffentlichte diese Position 1934. Sie wurde seiner Meinung nach ein Jahr später von der bahnbrechenden interdisziplinären Arbeit von Timoféef-Ressovsky, Delbrück und Zimmer eindeutig verifiziert (Jordan 1947, 77). Vgl. auch: Schrödinger 1989, 89, 104–119. 331 Die Verstärkung kann so groß sein, dass bei manchen Tierarten sogar ein einziges Lichtquant oder Molekül eine makroskopische Wirkung erreicht, indem es z. B. eine Wahrnehmung auslöst.
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kausal gebundene Einzelentscheidungen das Lebensgeschehen diktatorisch, richtunggebend steuern – diese Erkenntnis rückt uns dem großen Problem der inneren Freiheit des Lebendigen näher« (ebenda, 102; Hervorhebungen von S. K.).
Wenn also Jordan von »Indeterminiertheit« spricht, meint er lediglich eine prinzipielle Unvorhersagbarkeit, die erstens mikroskopische Größenordnung hat (sich und nur wegen einer biokybernetischen Verstärkung dem gesamten Lebewesen »diktatorisch« aufzwingt) und zweitens, was viel gewichtiger ist, von physikalischer und nicht von biologischer Natur ist. Nicht eine biologische Instanz, sondern ein anorganisches Ereignis, d. h. etwas, das von viel primitiverer Beschaffenheit als die einfachsten Biomoleküle ist, ›entscheidet‹ sich für die Richtung der organismischen Dynamik, was auch immer unter »Einzelentscheidungen« verstanden sein mag. Es bleibt fraglich, wie unter diesen Voraussetzungen von »der inneren Freiheit des Lebendigen« die Rede sein kann. Trotz dieser Probleme ist Jordan und der ersten Generation von Quantenbiologen anzurechnen, dass sie die biologisch unverzichtbare Sensibilität der Lebewesen für Quantenereignisse erkannten und somit zeigten, dass Lebendigkeit das Vermögen des Leibes voraussetzt, Geschehnisse der kleinsten raumzeitlichen Größenordnung wahrzunehmen und zweckmäßig in seine Dynamik einzubeziehen. Glücklicherweise eröffnet eine andere, noch nicht etablierte Seite der gegenwärtigen Quantenbiologie neue biophilosophische Horizonte, die der ersten Generation von Quantenbiologen, wegen ihrer engen Anbindung an die ältere Quantenphysik (der Zeit Jordans), verschlossen blieben. Ein grundlegendes Merkmal der unorthodoxen quantenbiologischen Innovationen, die von Roger Penrose, Stuart Hameroff, Henry Stapp und anderen eingeführt wurden, ist, dass sie die Existenz nicht nur mikroskopischer, sondern vor allem meso- und makroskopischer Quantenkohärenz bei lebendigen Ganzheiten verschiedenster Komplexität, vom Einzeller bis zum menschlichen Gehirn, erwägenswert machen. Bei einer makroskopischen Quantenkohärenz, die auch als ›Bose-Einstein-Kondensation‹ bekannt ist, befinden sich viele Teilchen in einem einzelnen Quantenzustand, »der im wesentlichen mit seiner Umwelt unkorreliert bleibt« (Penrose 1995, 442). »Das Wort ›Kohärenz‹ bezieht sich im allgemeinen auf eine Eigenschaft von Schwingungen, die an verschiedenen Orten in Phase sind und gleichsam ›im Takt‹ schwingen. Bei der Quantenkohärenz geht es um die Schwin-
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gungseigenschaften der Wellenfunktion, und Kohärenz bezieht sich auf die Tatsache, daß wir es mit einem einzigen Quantenzustand zu tun haben« (Penrose 1995, 442; letzte Hervorhebung von S. K.).
Bei einem Bose-Einstein-Kondensat gilt für alle Teilchen dieselbe Wellenfunktion (bzw. Wahrscheinlichkeitswelle). Aus diesem Grund liegt Kohärenz, die sonst nur auf einzelne Quanten begrenzt wäre, im großen Maßstab vor, also auf makrophysikalischer Ebene (Penrose 1995, 462). Typische Beispiele für kohärente Quantenzustände makroskopischer Dimension sind die elektrische Supraleitfähigkeit und die Suprafluidität – beides Phänomene, die sehr niedrige Temperaturen verlangen. Die Quantenbiologie ist darauf angewiesen, glaubhaft zu zeigen, dass bestimmte biologische Strukturen auch bei Temperaturen um die 36 Grad Celsius eine solche Kohärenz ermöglichen. 332 Diese Entwicklung eröffnet der Vorstellung meso- und makroskopischer ›actual entities‹ eine interessante Anschlussmöglichkeit an die aktuellsten naturwissenschaftlichen Innovationen. Interessanterweise sind diese Forschungen hinsichtlich sehr komplexer Vorgänge, nämlich menschlicher Bewusstseinsereignisse, am weitesten vorangeschritten. Als der wichtigste Hoffnungsträger unter den in Gehirnzellen vorhandenen Strukturen, um die Manifestation bewusstseinsbegabter ›living occasions‹ in sich zu beherbergen, fungieren dabei die sogenannten ›Mikrotubuli‹. Sie sind zylindrische Zellorganellen mit einem äußeren bzw. inneren Durchmesser von etwa 25 bzw. 15 Nanometern, aus denen die Skelette der eukaryotischen Zellen (Cytoskelette), also auch der menschlichen und tierischen Neuronen, bestehen: »Die Quantenkohärenz muß über den gesamten Mikrotubulus reichen (und in Extremfällen können Mikrotubuli bis zu einem Meter lang sein), und sie muß sehr viele, wenn nicht alle Mikrotubuli im Cytoskelett eines Neurons umfassen. Mehr noch, die Quantenkohärenz muß auch über die synaptischen Schranken zwischen Neuronen hinausreichen, denn sie wäre ja nicht global, wenn sie nur einzelne Zellen beträfe! Ein einziges geist- und verstandesbegabtes Wesen kann, so gesehen, nur dann eine Einheit sein, wenn es eine Form von Quantenkohärenz gibt, die sich zumindest über einen nennenswerten Teil des gesamten Gehirns erstreckt« (Penrose 1995, 468; Hervorhebungen von S. K.). 333 332 Dieser Problematik stellen sich einige Beiträge des vor einigen Jahren erschienenen Buches The Emerging Physics of Consciousness (Tuszynski 2006). 333 Vgl. auch: Penrose 1995, 514; Marshall 1989; Stapp 1993, 42 f., 127.
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Hameroff und Penrose schlagen vor, dass sich im Inneren des Geflechts der miteinander vernetzten röhrenförmigen Mikrotubuli eines Gehirnareals eine kohärente Quantenoszillation lange genug anhalten könnte, um – ausschließlich wegen ihrer internen Instabilität – auf eine nichtberechenbare Weise selbst zu kollabieren, d. h. sich selbst objektiv zu reduzieren (Penrose 1997, 148). Hameroff hat diesen Vorstellungen einen konkreteren Ausdruck verliehen und eine plausible Verbindung zu Whitehead gezogen: »When enough entangled tubulins are superpositioned long enough to reach OR threshold […] a conscious event/Whitehead occasion of experience occurs. […] the brain-wide synchrony which seems to correlate with conscious activity, is on the order of 25 milliseconds […] For T = 25 milliseconds (coherent 40 Hz), we can […] find that 10,000 to 100,000 neurons are involved in each OR/Whitehead conscious event which occur 40 times/ second« (Hameroff 2003, 76 ff.).
Hameroff spricht von Bewusstseinsprozessen, die sich sogar über 20.000 bis 200.000 Neuronen ausdehnen könnten (2007, 3). In einer Veröffentlichung neueren Datums ist die Rede von »roughly tens of thousands of neurons« (Hameroff 2012, 11). Damit wird Bewusstseinsprozessen eindeutig makroskopische Größe zugesprochen. Hameroff bringt diese hypothetischen ›living occasions‹, die sich im menschlichen Gehirn mit einer Frequenz von 40 Hz manifestieren, mit den Gamma-Wellen des EEGs, die bei intensiver geistiger Aktivität auftreten, in Verbindung (ebenda 11 f.; 2007, 3.). 334 Der Bewusstseinsstrom der menschlichen Personalität ist, so gesehen, eine Aufeinanderfolge ›objektiv reduzierter‹ (OR) Prozesse (Hameroff 2012, 11 f.), 335 deren Erlebensintensität die Schwelle des Bewusstseins erreicht hat. Hameroff und Penrose gelingt es also, die zwei Schwächen des Konzepts von Jordan zu umgehen: Erstens, ihre Prozesse sind nicht mikroskopisch und zweitens, sie sind nicht nur physikalischer, sondern auch psychologischer Natur. Allerdings könnte ihnen vorgeworfen werden, dass die enge Anbindung einer ›actual occasion‹ an Quantenkohärenz und die Beschränkung Letzterer in dem sehr kleinen Raum des Inneren der Mikrotubuli den physischen Pol des Prozesses 334 Vgl. auch: Hameroff 2003, 78 (»coherent 40 Hz«). Als Gamma-Welle wird ein EEG-Signal im Frequenzbereich zwischen 31 und 70 Hz bezeichnet. Es tritt bei Aufgaben auf, die große Konzentration erfordern, z. B. beim Lernen. 335 Vgl. auch: Hameroff 2003, 74; Hameroff & Penrose 1996, 49 f.
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sehr einengt. Diese Begrenzung ist außerdem nicht das Resultat metaphysischer Überlegungen, sondern wird von den Zwängen naturwissenschaftlicher Abstraktionen diktiert. Eine Möglichkeit, dieser Restriktion zu entkommen, wäre, zwischen der räumlichen Ausdehnung des physisch prehendierten Bereichs, also der räumlichen Extension des Quantums der ›concrescence‹ (vgl. Abb. 4.4: Raumquantum), und der räumlichen Größe seiner abschließenden Phase, der ›satisfaction‹, zu unterscheiden. Letztere könnte sich zwar innerhalb der Mikrotubuli manifestieren, das gesamte prehendierte Raumquantum würde jedoch ein wesentlich größeres Volumen besetzen. Diese Unterscheidung würde unnötige Schwierigkeiten beseitigen. Der Physiker Henry Stapp hat sich intensiv mit der Problematik der intern bedingten Reduktion der Wahrscheinlichkeitswelle einer Quantenentität zu einem wirklichen Raumzeit-Datum beschäftigt. Er beschreitet einen anderen Weg der Verbindung von Quantenbiologie des Bewusstseins und Whitehead’scher Prozessphilosophie als die Hameroff-Penrose-Richtung, der den Vorwurf der unnötigen räumlichen Begrenzung des physisch prehendierten Territoriums nicht aufkommen lässt. Sein Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass in der Quantentheorie dem Bewusstsein des Beobachters eine das beobachtete Phänomen, also die Antwort der Natur auf die durch das Experiment gestellte Frage, aktiv konstituierende und nicht nur passiv-rezeptive Rolle zugeschrieben wird, wie in der klassischen Physik. 336 In der Kopenhagener Deutung der Quantentheorie sieht Stapp eine Trennung des physischen Universums in einen Beobachter, dessen Aktivität durch eine psychologische Sprache beschrieben, und in das Beobachtete, das ausschließlich durch physikalisch-mathematische Begriffe und Konzepte erfasst wird. Dieser Dualismus, der sich in erster Linie in der Verwendung zweier ontologisch verschiedener Beschreibungsweisen ausdrückt, ist pragmatisch begründet und funktioniert in der Tat sehr gut. Er stellt sich aber nicht die fundamentale Frage der Beziehung (genauer: der Beziehungsmöglichkeit) zwischen dem beobachtenden Subjekt und seinem physischen Objekt. Damit verdrängt der pragmatische Ansatz eine zentrale me336 »[T]he essential point not to be overlooked is that the logical structure of the basic physical theory has become fundamentally transformed. The agent’s choice about how to act has been introduced into the scientific description at a basic level and in a way that specifies, mathematically, how his or her choice about how to act affects the physical system being acted upon« (Schwartz, Stapp et al. 2005, 1315; Hervorhebung von S. K.). Vgl. auch: Stapp 2004, 92 f.
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taphysische Annahme, die er macht, womit er unvollständig bleibt. Genau hier setzen Stapps Gedanken ein. Seine wichtigste Grundlage ist die erweiterte Formulierung der Quantentheorie, die der bekannte Mathematiker und Physiker John von Neumann geleistet hat. Sie beruht auf der Vorstellung, dass die Entscheidung eines menschlichen Beobachters, durch den Aufbau eines Experiments der Natur eine besondere Frage zu stellen, mit dem physischen Zustand seines Gehirns zusammenhängt. Wegen dieses Zusammenhangs – und hierin besteht die Besonderheit der von Neumann’schen Konzeption – stellt das Gehirn des Beobachters einen Teil der für diese Frage entscheidenden umfassenderen physischen Gesamtheit dar und muss somit in die Untersuchung einbezogen werden. 337 Da aber, so Stapp weiter, im Gehirn Quantenereignisse permanent und überall stattfinden (unter anderem in den Ionen-Kanälen der Synapsen) und entscheidend für die Veränderung seines Zustands sind, befindet sich dieses Organ als Ganzes in einem Zustand der gleichzeitigen Koexistenz einer enormen Menge von Möglichkeiten (Schwartz, Stapp et al. 2005, 1318 f.). Jede einzelne von ihnen stellt ein bestimmtes physikalisch zulässiges Muster der (makroskopischen) Gesamtaktivierung des Gehirns dar. Stapp betont, dass die vielen mikroskopischen Dekohärenz-Effekte, denen die warme, feuchte und mit ihrer Umgebung interagierende Materie des Gehirns permanent ausgesetzt ist, in der von Neumann’schen Betrachtung automatisch berücksichtigt sind. Damit begegnet er der sehr häufig vorgebrachten Kritik an der Vorstellung der Relevanz meso- und makroskopischer Quantenkohärenz bei Organismen, die auf diese Effekte verweist. Die Präsenz solcher Dekohärenz-Effekte vermag also nicht den Quantenzustand des Gehirns auf einen einzigen klassisch beschreibbaren makroskopischen Zustand zu reduzieren. Sie kann lediglich die Anzahl der möglichen (makroskopischen) Zustände auf eine bestimmte kontinuierliche Verteilung derartiger Zustände beschränken (ebenda 1319). Folglich kann die auf thermische und andere zufällige Umgebungsstörungen zurückgehende Dekohärenz nicht die Aktualisierung eines einzigen
337 »In the Copenhagen interpretation, that mind/brain process is placed definitely outside the system being investigated. But if, following von Neumann, we take the view that quantum theory ought to cover all physical systems, including human brains, then the system that is determining which question will be put to nature becomes part of the system being studied« (Stapp 2004, 93; Hervorhebung von S. K.). Vgl. auch: Schwartz, Stapp et al. 2005, 1316; Goswami 1997, 128.
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physischen Zustands des Gehirns bewirken – dies hätte auch fatale Folgen, denn es würde das Rätsel der Verbindung eines intentional agierenden Bewusstseins mit einem vom reinen Zufall regierten Gehirn aufwerfen und die Quantenbiologie in die Zeit Jordans zurückwerfen. Davon ausgehend spricht Stapp, immer in enger Anlehnung an von Neumann, dem Bewusstsein die entscheidende Rolle bei der Reduktion der Quantenkohärenz des Gehirns zu: Die Befragung der Natur durch den bewussten Geist findet nicht erst in einer Experimentalanlage statt, sondern fängt in dem Teil der Natur an, der das Gehirn ist. 338 Der Fragende befindet sich in einem bestimmten menschlichen Bewusstseinszustand und sein Gehirn ist ein Teil der befragten Natur. Es sind also menschliche Gedanken, die den Kollaps der gewaltigen Menge kohärenter Quantenzustände des Gehirns in seinen jeweils aktuellen physischen Zustand bewirken. Die Manifestation dieses makroskopischen Zustands ist die physische Seite eines Aktes, dessen mentale Seite ein Gedanke ist. 339 Die Einflussnahme des Bewusstseins auf das Gehirn, die den Kollaps der Quantenkohärenz des Gehirns bewirkt, nennen von Neumann und Stapp »process 1«. »[V]on Neumann quantum theory takes the physical system upon which the crucial process 1 acts to be precisely the brain of the agent, or some part of it. Thus process 1 describes here an interaction between a person’s stream
338 »At each step the direct effect of the conscious act is upon the part of the physically described world that is closest to the psychologically described world. This means that, in the end, the causal effect of the agent’s mental action is on their own brain, or some significant part of their brain« (Schwartz, Stapp et al. 2005, 1316; Hervorhebung von S. K.). Vgl auch: Goswami 1997, 128. 339 »Once one becomes open to the notion that maybe our conscious thoughts have a reality in their own right, it becomes apparent that there is a natural causally efficacious place for them in quantum mind-brain dynamics. The point is that, according to the basic quantum precepts, the occurrence of a conscious thought associated with a quantum system is supposed to cause a reduction of the state of that system to the reduced state that is compatible with the increment in knowledge that constitutes that conscious knowing. In von Neumann/Wigner quantum theory, this reduction will be a reduction in the brain state of the person who has the thought. This newly actualized brain state […] must initiate the brain activities that the thought feels are being initiated. […] The essential point here is that quantum theory has a lacuna that can very naturally be filled in such a way as to allow our thoughts to exercise real, though not absolute, control over the mechanical aspects of mind-brain dynamics« (Stapp 2004, 98 f.; Hervorhebung von S. K.).
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of consciousness, described in mentalistic terms, and an activity in their brain, described in physical terms« (ebenda 1318). 340
Der Einfluss von ›process 1‹ auf das Gehirn findet nichtlokal und über eine relativ große Region statt (ebenda 1319). 341 Der wichtigste Beweggrund Stapps, die Integration der Whitehead’schen Ontologie in die Quantentheorie zu versuchen, ist die Tatsache, dass selbst ihre erweiterte Formulierung durch von Neumann zwei absolut zentrale Fragen offen lässt: Was die Form von ›process 1‹ kreiert, die ihrerseits entscheidenden Einfluss auf die Form des verwirklichten makroskopischen Gehirnzustands hat, und was den Zeitpunkt seiner Wirkung auf das Gehirn festlegt. Deshalb spricht Stapp von einer »kausalen Lücke« (causal gap) innerhalb der Theorie, die das in der Physik zum Dogma erhobene »Prinzip der kausalen Geschlossenheit des Physischen« in Frage stellt (Stapp 2014, 198). Er differenziert seinen Vorschlag weiter, indem er zwischen ›process 1‹ und ›process 0‹ unterscheidet. Letzterer besteht in zwei Entscheidungen: Er legt (erstens) die Form von ›process 1‹ fest und (zweitens) den Zeitpunkt seiner Wirkung auf das Gehirn (ebenda). Den ›process 1‹ begreift Stapp als eine Whitehead’sche ›actual occasion‹, deren Aktualisierung im Gehirn die physische Veränderung des Gehirns bewirkt (ebenda 199). Auch wenn Stapp den ›process 0‹ nicht mit Hilfe Whitehead’scher Begriffe beschreibt, ist seine Funktion mit der des ›initial aim‹ vergleichbar. Stapp gelingt es einerseits, psychologischen Faktoren Einfluss auf die Dynamik des Nervensystems zuzusprechen und andererseits, der Intuition von der Freiheit und Nicht-Berechenbarkeit psychischer Akte durch die Einführung des sich spontan vollziehenden Whitehead’schen ›process 1‹ gerecht zu werden. Die mentale Seite von ›process 1‹ erlangt physische Relevanz, während dieser Prozess von bekannten physikalischen Gesetzen nicht beschrieben werden kann. 342
Vgl. auch: Stapp 2014, 198–205; Schwartz, Stapp et al. 2005, 1316; Stapp 2004, 95. Vgl. auch: Stapp 2004, 99. 342 »The structure of quantum mechanics is such that, although the effect upon the observed system of the agent’s choice about how to act is mathematically specified, the manner in which this choice made by human agents must be treated as freely chosen input variables, rather than as mechanical consequences of any known laws of nature« (Schwartz, Stapp et al. 2005, 1315 f.; Hervorhebung von S. K.). 340 341
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Denn er wird vom ›process 0‹ gestiftet, der von den Gesetzen der gegenwärtigen Quantentheorie nicht determiniert wird. 343 Auf der Suche nach einer vollständigen Quantentheorie schließt sich Stapp, der den pragmatischen Dualismus der Kopenhagener Deutung zu überwinden versucht (Schwartz, Stapp et al. 2005, 1316), dem gemäßigten Dualismus Whiteheads an, der von der mental-physischen Bipolarität und unreduzierbaren Kreativität der wirklichen Entitäten ausgeht. Mit seinem ›process 1‹ liefert er eine inspirierende Vorstellung für ›living occasions‹, die mit Bewusstsein begabt sind und er vermeidet zugleich die unnötige räumliche Begrenzung des Quantums ihrer ›concrescence‹. Ihre physische Manifestation durch doppelte Verräumlichung kann sich zwar in kleinen Bereichen des Gehirns beschränken, z. B. in Mikrotubuli; der ›process 1‹ muss jedoch nicht nur diese prehendieren. Aber das Konzept der Quantenkohärenz bei Lebewesen ist nicht nur auf Bewusstseinsprozesse anwendbar. Die gegenwärtig nicht zu übersehende Vorherrschaft solcher Prozesse bei der Rezeption Whiteheads innerhalb der Quantenbiologie ist vermutlich kein Zufall. Sie ist eine zu erwartende Entwicklung, wenn man die für die Quantentheorie essentielle Rolle des Bewusstseins des Beobachters bei der Konstitution ihrer Studienobjekte beachtet. Nicht von ungefähr geht Stapp von dieser Problematik aus und nicht zufällig entwirft Penrose sein Konzept der ›objective reduction‹ als Ausdruck mentaler Aktivität (wenn auch fast immer protomental-unbewusster) – beide verbindet die Unzufriedenheit mit der metaphysisch flachen Behandlung der Frage nach der Relevanz des menschlichen Bewusstseins innerhalb der Kopenhagener Deutung. Dennoch spricht einiges dafür, dass die Idee der mesoskopischen Quantenkohärenz auch die dritte Art von ›actual entities‹, die Whitehead nennt, die ›living occasions‹, erfassen könnte. 3.1.e.1 Experimentell bestätigte und hypothetische biologische Quantenphänomene: Kandidaten für nicht bewusste ›living occasions‹ ? Die erst seit wenigen Jahren gewonnenen Erfahrungen über die Bedeutung von Quantenphänomenen bei der Photosynthese belegen, dass es biologisch relevante Quantenereignisse tatsächlich gibt. Be343 »[P]rocess zero is not determined by the physical laws of contemporary quantum theory« (Stapp 2014, 198).
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sondere Bedeutung kommt einem in der Zeitschrift Nature veröffentlichten viel zitierten Artikel zu (Engel et al. 2007). Dort wurde beschrieben, wie die experimentell beobachtete Quantenkohärenz innerhalb eines Proteinkomplexes, der bei der Photosynthese von Schwefelbakterien beteiligt ist, Energie überträgt. Die Autoren beschreiben eine überraschend lang anhaltende Quantenkohärenz, die zwischen den Elektronen des Proteinkomplexes stattfindet. 344 Dank dieser langlebigen Kohärenz gelingt die Übertragung der Energie von den Antennen, die das Sonnenlicht sammeln, ins Reaktionszentrum mit fast perfekter Effizienz (Hildner et al. 2013). Die Quantenkohärenz erlaubt, wenn sie nicht zu kurz anhält, dass alle möglichen Wege des Energietransports gleichzeitig koexistieren und gewissermaßen getestet werden, sodass der effizienteste von ihnen aktualisiert wird. Es wurde schon lange vermutet, dass die Effizienz dieses Energietransports nur quantenmechanisch zu erklären ist; dem stand aber die Überzeugung, dass langanhaltende Quantenkohärenz nur bei sehr tiefen Temperaturen und anderen lebensfeindlichen Bedingungen stattfinden kann, im Wege. Ein wenige Jahre später ebenfalls in Nature veröffentlichter Artikel hat die Falschheit dieser hartnäckigen Vorstellung demonstriert (Collini et al. 2010). Die Gruppe um Elisabetta Collini hat gezeigt, dass in photosynthetisch aktiven Proteinkomplexen von marinen Algen, langlebige Quantenkohärenz bei Zimmertemperatur von 20,85 ° C (!) stattfindet. 345 Sie erstreckt sich über eine Distanz von 5 nm (ebenda 644). 346 Auf diese Weise werden voneinander entfernte Moleküle des Proteins miteinander »verdrahtet« (wired together), was die Effizienz des Energietransports enorm erhöht (ebenda 644, 646). Andere Autoren haben gezeigt, dass auch die Umgebung des Proteinkomplexes auf die Lebenszeit der Quantenkohärenz positiv wirken kann (Chin et al. 2012). 347 Diese Erkenntnisse sind nichts mehr als ein erster Schritt zur 344 Die beobachtete Zeitlänge der Quantenkohärenz von 660 fs (1 Femtosekunde = 10 –15 sec) übertrifft die von den Modellen vorhergesagte um ein Mehrfaches (Engel et al. 2007, 782). 345 »For the experiments the proteins were isolated from the algae and suspended at low concentration in aqueous buffer at ambient temperature (294 K)« (Collini et al. 2010, 645). 346 Da 5 nm gleich 50 Ångström sind und 1 Ångström die typische Größenordnung für Atome darstellt, erstreckt sich die beobachtete Quantenkohärenz ungefähr über 50 Atome des Proteins. 347 Vgl. auch: Lee et al. 2007.
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Begründung einer Quantenbiologie des neuen Jahrhunderts, die weniger spekulativ ist als die Vorstellungen von Hameroff, Penrose und Stapp. Die Quantenereignisse der Photosynthese können allerdings nicht als ›living occasions‹ betrachtet werden. Denn Letztere stabilisieren einen ganzen Organismus, womit sie sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht die eben beschriebenen Quantenereignisse um mehrere Größenordnungen überragen müssten. 348 Nichtsdestoweniger können sie die prozess-metaphysisch inspirierte Intuition bestärken, dass der nicht-mikroskopischen Quantenkohärenz eine Schlüsselrolle bei der Verbindung der Idee der ›living occasions‹ mit der Organismus-Problematik zukommt. Schließlich belegen sie, dass es solche Kohärenzen bei Organismen gibt. Eine andere für die Behandlung der Organismus-Problematik mit den Mitteln der Whitehead’schen Metaphysik interessante Entwicklung ist die erst seit wenigen Jahren heranreifende Vorstellung von biologisch relevanten Quantenereignissen mesoskopischer Größenordnung. Diese momentan noch eher hypothetischen Entitäten werden als Quantenkohärenzen gedacht, deren raumzeitliche Ausdehnung die der eben diskutierten tatsächlich beobachteten Quantenereignisse um ein Mehrfaches übertrifft. Diese hypothetischen Phänomene, denen kein Bewusstsein zugesprochen wird – was nicht verbietet, ihnen protomentale Subjektivität zuzuweisen –, werden in den einfachsten Lebewesen, wie den Einzellern, vermutet. 349 Im Folgenden werden einige Hypothesen kurz vorgestellt, um diese in ihrer Relevanz gegenwärtig kaum richtig zu beurteilende Entwicklung ansatzweise zu skizzieren. Schon der Zustand eines einzigen Proteins, und damit auch seine Funktionsfähigkeit, hängt Hameroff zufolge von Quantenereignissen in seinem Inneren ab, sodass er als Überlagerung von zwei oder mehr möglichen Zuständen existieren kann, bevor er in einen einzigen kollabiert (Hameroff 1997). Eine andere oft anzutreffende Hypothese ist, dass der Transfer einer hochgradig verdichteten Energiemenge in der Form einer sich selbst regenerierenden Welle – solche Wellen werden als ›Solitone‹ bezeichnet – die Aktivierung eines Enzyms, d. h. eines im Metabolismus beteiligten Proteins, bewirken kann (Davia 2006, 266). So kann der Abbau eines von diesem Enzym katalysierbaren Siehe Abschn. 3.1.c dieses Kapitels. Vgl. King 2006, 439; Hameroff & Tuszynski 2004; Hameroff 2003, 76; Hameroff 1997; Hameroff & Penrose 1996, 51; Penrose 1995, 443, 461; Fröhlich 1984. 348 349
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Stoffes einsetzen. Derselbe Mechanismus der Ausbreitung von Solitonen entlang von Makromolekülen wird auch auf molekulare Vorgänge übertragen, die bei der Muskelkontraktion und bei der DNSTranskription stattfinden. Bezüglich all dieser Fälle des von Solitonen getragenen Energietransfers wird betont, dass solche Wellen sich auf Molekülen ausbreiten können, weil sie (die Wellen) quantenkohärente Strukturen sind (ebenda 268 ff.). Auf der Basis dieses Prinzips wird die Vorstellung der verlustfreien (dissipationsfreien) Energieübertragung innerhalb der Zelle diskutiert. 350 Die von Hameroff und seinen Mitstreitern besonders favorisierte Idee der Quantenkohärenz innerhalb von Proteinen und Mikrotubuli, aber auch zwischen ihnen, wird ebenso auf die Problematik der inner- und interzellulären Signalübertragung angewandt (Mershin et al. 2006, 114 ff.), 351 womit sie unter anderem auch für die Kommunikation zwischen den Zellen während der Embryogenese Relevanz gewinnt. Der vermuteten mesoskopischen Quantenkohärenz zwischen Mikrotubuli wird außerdem zentrale Bedeutung bei der zellulären Beweglichkeit zugesprochen (Hameroff & Tuszynski 2004, 31 ff.) und zwar sowohl in Bezug auf die inneren Bewegungen der Zelle, die vor allem bei der Zellteilung am Werk sind, sowie auch bezüglich der Bewegungen der Zelle als Ganzer. Die Beweglichkeit ganzer Zellen ist eine wichtige Leistung, die z. B. bei der Regeneration beschädigter Gewebe oder bei der Morphogenese unverzichtbar ist, wenn es zu massiven gerichteten Auswanderungen von Zellen innerhalb des Embryos kommt. Abschließend sei mir erlaubt, auf die Möglichkeit der Anwendung der zunächst auf die Bewusstsein-Gehirn-Problematik bezogenen Gedanken Stapps auf die Selbsterhaltung und Entwicklung vielzelliger Lebewesen hinzuweisen: Die sich an den interzellulären Kontaktstellen befindenden Ionen-Kanäle eignen sich besonders gut als Orte, in denen die Heisenberg’sche Unschärferelation biologische Bedeutung gewinnt (Schwartz, Stapp et al. 2005, 1318) 352 und spielen eine essentielle Rolle bei Vorgängen der Signalübertragung, die metabolische und genetische Funktionen – folglich auch die Embryogenese – steuern. In Anlehnung an von Neumann und Stapp ließe sich 350 Solitonen könnten Energie ohne Dissipation entlang von Mikrotubuli innerhalb der Zelle übertragen. Dieser zuerst von Fröhlich gemachte Vorschlag wurde vor einigen Jahren wieder aufgegriffen (Mershin et al. 2006, 103 ff.). 351 Vgl. auch: Hameroff & Tuszynski 2004, 28. 352 Ebenfalls interessant bezüglich der Verbindung von Ionen-Kanälen und Quantenmechanik sind die Gedanken von King (1996, 208 f.).
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vielleicht zeigen, dass die räumlich globale Kohärenz, mit der die Entwicklungen in entfernten Stellen eines Embryos miteinander korreliert sind, Resultat eines über große Regionen des Leibes nichtlokal wirkenden ›process 1‹ sind. In verschiedenen Phasen der Morphogenese würde eine jedes Mal anders beschaffene Form eines solchen Prozesses einen gesteuerten Zusammenbruch der nichtlokalen Quantenkohärenz bewirken, um einen einzigen biologisch sinnvollen Zustand aus der praktisch unendlichen Menge physikalisch zulässiger Kombinationen der Aktivierung der Ionen-Kanäle zu verwirklichen. Es ist zu hoffen, dass die nahe Zukunft die eben vorgestellten Erkenntnisse und Hypothesen bestätigen und darüber hinaus die Existenz von eindeutig makroskopischen Quantenkohärenzen bei Organismen plausibel machen wird. Sollten außerdem solche Ereignisse eine längere als die auf der Basis der Physik zu erwartende Lebenszeit aufweisen, sollten sie z. B. einige Hundertstel der Sekunde oder sogar viel länger anhalten, dann wäre dies ein Indiz dafür, dass sie das Resultat intern geleiteten biologischen Werdens sind. Als Seiende, die sich raumzeitlich manifestieren, müssten sie natürlich die Gesetze der Physik respektieren, aber als biologische Entitäten würden sie nicht von ihnen »diktatorisch, richtunggebend« (Jordan) gesteuert werden. Dies wäre allerdings nicht ausreichend, um solche Quantenereignisse als Kandidaten für echte ›living occasions‹ zu qualifizieren. Dafür müsste nichts Geringeres feststehen, als dass sie durch ihre physische Manifestation die Lebendigkeit des Organismus bewahren, indem sie seine Entgleisung in Bereiche der entropischen Auflösung abwenden. Als ›living occasions‹ kommen also nur besonders komplexe Quantenereignisse in Frage. Vor diesem Hintergrund sind die Intuitionen einiger Begründer der Quantenphysik beachtenswert. 3.1.e.2 Die Anatomie einer ›living occasion‹ vor dem Hintergrund biologischer Überlegungen einiger Gründerväter der Quantentheorie Manche bedeutende Quantenphysiker haben über die Beziehung der lebendigen Ordnung zur Mikrophysik intensiv nachgedacht. Ihre Gedanken sind weniger ›technisch‹ als die eben vorgestellten Hypothesen, aber dafür umso deutlicher aus einer grundsätzlich naturphilosophisch inspirierten Geisteshaltung ausgesprochen. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, die Phasen der Wesensbestimmung einer ›living occasion‹ im Lichte ihrer Überlegungen zu betrachten. Damit wird sichtbar, dass die Interpretation der Whitehead’schen wirklichen 612 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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Entitäten als Akte der Wesensbestimmung, die Entscheidungen zwischen physikalischen Möglichkeiten enthalten, auf metaphysischen Überlegungen basiert, die den Gedanken einiger großer Quantenphysiker nahe stehen. Wie bei jeder ›actual entity‹ beginnt die ›concrescence‹ einer ›living occasion‹ mit der Zuteilung eines raumzeitlichen Quantums durch ihr ›initial aim‹. Die in dieser Region manifesten ›actual occasions‹ objectivé, die unmittelbar physisch prehendiert werden, machen das reale Wesen des neuen lebendigen Prozesses aus. 353 Das nichtlokal erfasste Quantum könnte vielleicht den gesamten organismischen Körper während einer vermutlich kurzen Phase von höchstens einer Sekunde 354 umfassen. Es ist jedoch evidenter anzunehmen, dass es nur solche Bereiche enthält, die für die unmittelbar folgende Entwicklung des Leibes entscheidend sind. Die räumliche Seite des Quantums ist der kleine Teil des Organismus, den die entstehende ›living occasion‹ physisch erfasst. Dieses Quantum sollte man sich nicht – verführt von abstrakten Abbildungen 355 – als ein notwendig einfaches geometrisches Gebilde vorstellen. Es kann durchaus eine verwickelte Gestalt haben, die sich, einer fraktalen Kurve gleich, baumartig in den gesamten Organismus verzweigt und trotzdem nur ein geringes, wenn auch makroskopisches Gesamtvolumen besitzt. Man denke in diesem Zusammenhang an die Form des menschlichen Nervensystems, das aus Whitehead’scher Sicht eines der Organe ist, in denen ›living occasions‹ sich vollziehen. Da die prehendierte Ganzheit einen kleinen Teil des Organismus ausmacht, besteht ihr vollständiger 356 Zustandsraum aus einem kleinen Teil des vollständigen gesamtorganismischen Zustandsraumes. Sie ist durch eine viel kleinere Kombination von physischen und arithmetischen abstrakten Entitäten darstellbar als der ganze organismische Körper. Wegen der Heisenberg’schen Unschärferelation können wir, die externen Beobachter, nicht den Gesamtzustand der prehendierten Siehe Abschn. 2.2.b dieses Kapitels. Ein Organismus kann unter extremen Bedingungen, z. B. bei sportlichen Hochleistungen, innerhalb von Sekunden destabilisiert werden, wenn die Vorgänge seiner Selbstregulation nicht schnell genug korrigierend eingreifen. Werden diese Vorgänge als Whitehead’sche Prozesse interpretiert, so müssen letztere als sehr kurzlebige Akte angenommen werden. 355 Wie die Abb. 4.1 und 4.4 welche sind. 356 Die Idee des vollständigen Zustandsraumes wurde in der Fußnote 32 von Kap. II erläutert. 353 354
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Ganzheit durch einen Punkt in ihrem Zustandsraum abbilden, sondern durch ein kleines Volumen. Dieses Zustandsraum-Volumen ist unsere ›Übersetzung‹ des realen Wesens des erfassenden Prozesses in die Sprache unseres physikalischen Formalismus. In der zweiten Phase seiner ›concrescence‹ abstrahiert der entstehende Prozess von der von ihm prehendierten Ganzheit sein abstraktes Wesen, das ein hochgradig zusammengesetztes ›eternal object‹ ist. Aus unserer externen Perspektive muss das abstrakte Wesen der werdenden ›living occasion‹ mit einem einzigem Punkt innerhalb des kleinen Zustandsraum-Volumens, das die erfasste Ganzheit repräsentiert, zusammenfallen. Wir dürfen annehmen, dass dieser Punkt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Nähe des Zentrums des besagten Volumens befindet, d. h. wir können mit Hilfe unseres formalen Denkens eine begrenzte Anzahl von Punkten (um dieses Zentrum) kennzeichnen. Ein einziger von diesen ausgewählten Punkten bildet exakt das zusammengesetzte ›eternal object‹ ab, das das abstrakte Wesen der entstehenden ›living occasion‹ ist. Es leistet eine reduzierte Beschreibung des unmittelbar von ihr physisch prehendierten Teiles des Organismus. Die Repräsentation der erfassten Ganzheit durch eine abstrakte Entität ist eine eigenständige Leistung des sich selbst bestimmenden neuen Prozesses. Ihr Sinn besteht darin, dem neuen Prozess ein Bild von der Situation zu vermitteln, die er von den prehendierten Entitäten erbt und verändern muss, um die Lebendigkeit der ›living society‹ zu bewahren. Wir dürfen natürlich nicht den groben Fehler begehen, die Abstraktionsleistung des werdenden Prozesses mit dem von uns vorgestellten Kollaps des kleinen Zustandsraum-Volumens zu einem Punkt gleichzusetzen. Dieser Trugschluss würde die unverzeihliche Unterstellung bedeuten, dass der Prozess über eine abstrakte Beschreibung der Zustände des Organismus bzw. seiner Teile verfügt. Damit wäre eine äußerst naive Ontologisierung einer menschlichen Veranschaulichungsleistung begangen worden. Denn, wie schon gesagt, 357 nur wir, die externen und mit reflexivem Bewusstsein begabten Beobachter, können ›Karten‹ (Zustandsräume) der organismischen Beschaffenheit erstellen. Wir können zwar mit ihrer Hilfe, zumindest prinzipiell, eine gute Annäherung an das abstrakte Wesen der ›living occasion‹ erreichen, aber der konkrete Weg auf dem Letztere diese Abstraktionsleistung bewältigt, bleibt uns ver357
Siehe Abschn. 3.1.b dieses Kapitels.
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schlossen. Dies würden wir nur dann erfahren, wenn wir die Innerlichkeit des Prozesses direkt erleben könnten. Das abstrakte Wesen ist die erste Leistung des mentalen Poles des lebendigen Prozesses – die Morgenröte seiner Subjektivität. Die eigentliche Bedeutung dieses Poles besteht jedoch nicht in der vereinfachten Abbildung des Erfassten mittels begrifflicher Verdichtung, sondern in der Einführung von Neuheit, die biologisch sinnvoll ist, d. h. anti-entropisch wirksam. Das kann einer ›living occasion‹ während der zweiten Phase ihrer ›concrescence‹ gelingen, weil ihr ›initial aim‹ eine nicht-konforme ›proposition‹ ist. Diese gibt dem Prozess ein zusammengesetztes ›eternal object‹, das ihr eigenes logisches Prädikat ist. 358 Die Nicht-Konformität dieser ›proposition‹ äußert sich gerade in der deutlichen Abweichung des von ihr eingeführten ›eternal object‹ vom abstrakten Wesen der ›living occasion‹. Von dieser entscheidenden Differenz zwischen Sollen und Sein entfacht, entwickelt sich während der zweiten Phase der ›concrescence‹ das ›subjective aim‹ der ›living occasion‹ aus der fortschreitenden Transformation des ›initial aim‹. Die endgültige Form des ›subjective aim‹ ist das Resultat einer Abfolge von Bewertungen, Neubewertungen und negativen ›prehensions‹, im Zuge derer die Strebungen des sich selbst bestimmenden Prozesses deutlich modifiziert werden. 359 Auf die in dieser Phase der ›concrescence‹ entstehende Neuheit, die durch die korrigierende Veränderung des Weges der ›living society‹ lebensfördernd wirkt, ist die Whitehead’sche Kategorie der »begrifflichen Umkehr« (conceptual reversion) perfekt anwendbar: 360 Vor dem Hintergrund der Organismus-Problematik ist die begriffliche Umkehr ein unabdingbares Merkmal jeder ›living occasion‹, denn diese kann nur aufgrund jener den zu entgleisen drohenden Kurs des Organismus korrigieren: »›[L]ife‹ means novelty, introduced with the Category of Conceptual Reversion« (PR 104/dt. 203).
Durch die Negation irreführender Möglichkeiten und die Entscheidung zugunsten einer einzigen, die durch ihre Verwirklichung auf den Gesamtzustand des Organismus biologisch sinnvoll wirkt, ver-
Siehe Abschn. 2.2.e dieses Kapitels. »A living occasion is characterized by a flash of novelty among the appetitions of its mental pole« (PR 184/dt. 343). 360 Siehe Abschn. 2.3.c.2 dieses Kapitels. 358 359
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wirft die ›living occasion‹ eine Unmenge hochgradig zusammengesetzter ›eternal objects‹ zugunsten eines einzigen. Dieses ist der Kern des endgültigen ›subjective aim‹ des Prozesses und entsteht durch begriffliche Umkehr, da es aus Negationen anderer abstrakter Entitäten hervorgeht. Diese progressive Transformation des ›subjective aim‹ – in der die prozessuale Teleologie, d. h. das Herz des Prozesses, besteht – ist nur deswegen möglich, weil das Wesen einer ›actual entity‹ am Anfang ihrer ›concrescence‹ unbestimmt ist. Interessanterweise ist auch für die Quantentheorie die Vorstellung der Unbestimmtheit, wenn auch einer viel spezifischeren Art, essentiell, wie der bekannte Physiker und Pionier der Quantenchemie Walter Heitler sagt: »Der zum Verständnis der Quantenmechanik fundamentale Begriff ist der der Unbestimmtheit physikalischer Größen. Allen mechanischen Größen und deren Unbestimmtheiten übergeordnet, sie auch enthaltend, ist der Begriff der Wellenfunktion […] Die Anfangsbedingungen der Newton’schen (klassischen) Mechanik erfordern Angabe von Ort und Geschwindigkeit zu einem Zeitpunkt. Diese können nun in der Quantenmechanik nicht mehr bestimmt angegeben werden. […] Was in der Quantenmechanik determiniert ist, ist der zeitliche Verlauf der Wellenfunktion bei Abwesenheit von Messungen« (1990, 199 f.).
Niels Bohr, hat in diesem Zusammenhang den Begriff der Komplementarität geprägt, um die Unmöglichkeit der gleichzeitigen Bestimmtheit von Größen, die aber trotzdem zusammengehören, zu charakterisieren. In einem 1932 gehaltenen Vortrag mit dem Titel »Licht und Leben« wird dieser Begriff auf die Beziehung des Wissens, das ein Beobachter von der genauen physikochemischen Beschaffenheit eines Lebewesens hat, zum Grad der Lebendigkeit, die dieses aufweist, übertragen: »[Wir] würden zweifellos ein Tier töten, wenn wir versuchten, eine Untersuchung seiner Organe so weit durchzuführen, daß wir den Anteil der einzelnen Atome an den Lebensfunktionen angeben könnten. In jedem Versuch an lebenden Organismen muß daher eine gewisse Unsicherheit in bezug auf die physikalischen Bedingungen, denen sie unterworfen sind, bestehen bleiben; und es drängt sich der Gedanke auf, daß die geringste Freiheit, die wir in dieser Hinsicht den Organismen zugestehen müssen, gerade groß genug ist, um ihnen zu ermöglichen, ihre letzten Geheimnisse gewissermaßen vor uns zu verbergen.« (1990, 44; Hervorhebung von S. K.).
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Bohr spricht also von einer Unbestimmtheit des Lebendigen (»eine gewisse Unsicherheit«) bezüglich seiner physikalischen Beschaffenheit. Er stellt sie allerdings als eine erkenntnistheoretische Begrenzung dar, da sie in der (wenn auch objektiv bedingten) Unvollständigkeit unserer subjektiven Kenntnis der tatsächlichen mikrophysikalischen Struktur eines Organismus besteht. Heitler greift die Bohr’sche Komplementarität zwischen unbelebter und lebendiger Materie auf, aber erweitert sie zu einem ontologischen Gedanken über das Wesen des Lebendigen: »Die Materie eines lebenden Organismus ist zu jeder Zeit in einem Zustand, der – physikalisch betrachtet – bis zu einem gewissen Grad unbestimmt ist. Die Unbestimmtheit geht über das hinaus, was ohnehin in der Quantenmechanik vorliegt. Es ist jetzt auch die Wellenfunktion unbestimmt. Damit ist zunächst folgendes gewonnen: 1. Die absolute Gültigkeit der Physik ist eingeschränkt: schon die Anfangsbedingungen zu einem gewissen Zeitpunkt sind unbestimmt, folglich ist der weitere physikalische Verlauf auch nicht vollständig bestimmt. […] 2. Innerhalb der neuen Unbestimmtheiten ist Raum geschaffen für das Eingreifen eigenständig-biologischer Wirksamkeiten und Gesetze. Es ist nun kein Widerspruch mehr, wenn wir sagen, diese könnten physische Prozesse ›lenken‹« (1990, 201; die zwei letzten Hervorhebungen von S. K.).
Die Unbestimmtheit des Organismus, die Heitler annimmt, ist also eindeutig nicht eine, die subjektivistisch interpretiert werden kann. Diesbezüglich ist ein weiterer Vorschlag Heitlers von Bedeutung: dass »die biologischen Gesetze und Wirkungen direkt an den Makromolekülen angreifen«, sodass wir die physikalischen Unbestimmtheiten bei ihnen erwarten dürfen (1990, 202). Heitler weiter: »Die chemische Strukturformel vieler dieser Makromoleküle ist bekannt: Hieran ist nichts unbestimmt. […] Anderseits spricht nichts dagegen und vieles dafür, wenn wir annehmen, daß die Elektronenstruktur der lebenden Makromoleküle bis zu einem gewissen Grad unbestimmt ist. Das heißt, daß die Wellenfunktion der Elektronen in lebenden Makromolekülen physikalisch unbestimmt ist, und diese Unbestimmtheit ist die Voraussetzung des Lebendigseins. Makromoleküle mit bestimmter Wellenfunktion sind leblose Materie. Damit ist ein Freiheitsgrad gewonnen für das Eingreifen biologischer, z. B. zielgerichteter Gesetze. […] Wenn die Elektronenstruktur unbestimmt ist, so sind auch die chemischen Reaktionen physikalisch nicht ganz bestimmt. Es besteht dann an dieser Stelle die Möglichkeit, chemische Umsetzungen zu lenken. […] ›Raffiniert‹ muß das Spiel trotzdem sein, weil
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die Physik natürlich nicht ganz außer Kraft gesetzt ist und von seiten der Physik also Grenzen für die biologische Lenkung gesetzt sind. Grob gesagt: Wenn ich einen Weg auf der Straße gehe, sind meine Schritte sicher zielgerichtet; aber ich kann nicht alle physikalischen Widerstände einfach ignorieren, z. B. nicht eine Gartenmauer. Mit der Annahme einer Unbestimmtheit der Elektronenstruktur können wir also verstehen, daß biochemische Reaktionen von einer biologischen Instanz aus gelenkt sein können« (1990, 202 f.).
Diese »biologische Instanz« könnte der ›entirely living nexus‹ Whiteheads sein. Seine Intuition nahm jedenfalls die zentrale Rolle der Elektronen im Lebendigen vorweg und zwar gut ein halbes Jahrhundert vor der Erstveröffentlichung der Hypothese Heitlers: »The concrete enduring entities are organisms, so that the plan of the whole influences the very characters of the various subordinate organisms which enter into it. In the case of an animal, the mental states enter into the plan of the total organism and thus modify the plans of the successive subordinate organisms until the ultimate smallest organisms, such as electrons, are reached. Thus an electron within a living body is different from an electron outside it, by reason of the plan of the body. The electron […] runs within the body in accordance with its character within the body; that is to say, in accordance with the general plan of the body, and this plan includes the mental state« (SMW 99/dt. 98, zweite Hervorhebung von S. K.).
Es ist zu beachten, dass Whitehead nicht sagt, dass das Elektron »sich anders verhält« – dies wäre ganz im Sinne des biosystemischen Emergentismus –, sondern dass es anders ist, womit er im radikalen Gegensatz zur physikalistischen Metaphysik Du Bois-Reymonds steht, der selbstsicher behauptet, dass ein Eisenatom »ein und dasselbe Ding [ist], gleichviel ob es [sich] im Meteorstein […] oder in der Blutzelle« befindet. 361 Ein ebenfalls wichtiger Aspekt der Heitler’schen Konzeption ist die im vorletzten Zitat enthaltene Vorstellung von der Rolle der physikalischen Gesetzmäßigkeiten als eingrenzenden Faktoren, mit anderen Worten als Zwangsbedingungen, aber nicht als steuernde Größen der organismischen Entwicklung und Selbsterhaltung, wie Jordan behauptete. Dieser Gedanke unterstützt eine zentrale Idee der vorliegenden Untersuchung: Dass die biologisch sinnvollen Entscheidungen der ›living occasions‹ nur solche Möglichkeiten verwirklichen können, die physikalisch zulässig sind. 361
Siehe Abschn. 2.3 von Kap. I.
618 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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Ein anderer bedeutender Quantenphysiker, Walter Elsasser, sieht ebenfalls in den Makromolekülen den Ort, in dem die Kreativität greift, um Entscheidungen zu fällen, die physikalisch zulässig, aber nicht determiniert sind: »In the context of biology the synthesis of organic molecules is of particular interest since such synthesis is clearly a central activity in embryogenesis as well as in general metabolism. […] [If] two isomers, CAB and ABC, have effectively the same energy, the question of which one is formed may depend on perturbations that are energetically speaking very small, so that they can be described as inextricably buried in noise: the choice of the isomer which arises is causally undetermined. Such a process in which a system can go along two different energetically equivalent paths – with a negligibly small stimulus in favor of the path actually taken – is designated as a bifurcation. […] On extending this simplistic model, one is led to consider that in the synthesis of numerous large molecules, such as occurs in the growth of embryos as well as in more ordinary metabolism, there will be sequences of multiple bifurcations. If this is a legitimate model for embryonic growth and for metabolism in vivo, then we shall arrive at a model of organic life that is truly non-mechanistic. Taking a term from ordinary language, we shall speak of the creativity of organic life. […] Although creativity is clearly not a term of traditional chemistry or physics it is here thought of as compatible with the fundamentals of quantum mechanics. […] The central point we try to make is this: it appears that without ever leaving the solid foundation of quantum mechanics, biological theory can be made to stand on two legs that may be described as mechanistic aspects and creativistic aspects.« (1982, 69 f.; Einfügung und zweite Hervorhebung von S. K.).
Für die vorliegende Untersuchung gehen die »mechanistischen Aspekte« der Biologie in die prinzipielle Berechenbarkeit der Trajektorien auf, die dem Organismus als mögliche Pfade zur Verfügung stehen, da er auch eine systemtheoretisch fassbare Seite hat. Die »kreativistischen Aspekte«, wie Elsasser sie nennt, offenbaren sich dagegen in der Sukzession von Entscheidungen protomentaler Geistigkeit zugunsten solcher Pfade, die dem embryonalen und allgemeinen lebendigen Werden dienlich sind. Die Entstehung und Aufrechterhaltung organismischer Form wird nicht von den formalen Gesetzen der Physik »diktatorisch, richtunggebend« diktiert (Jordan 1947, 102), sondern verdankt ihre Existenz anderen Regularitäten, die weder mathematisch formulierbar noch universell und ewig gültig sind (Elsasser 1982, 73 f.). Für diese »kreativistischen Aspekte« des Organismus wählt Elsasser den Ausdruck »organismische Funktion«: 619 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
IV · Die Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads und die Ontogenese
»Ich habe die Bezeichnung organismische Funktion für jene Aspekte des Verhaltens eines Organismus vorgeschlagen, welche in der Ausnutzung der Eigenschaften der mikroskopischen Muster für Zwecke bestehen, die nicht vollständig durch die physikalische Kausalität dargestellt werden können. […] Mit anderen Worten: Man postuliert einen im Organismus vorhandenen Nexus in solcher Weise, daß das endgültige Verfolgen der Kausalität bis hinab in den molekularen Bereich unmöglich wird« (1990, 231 f.).
Der ›entirely living nexus‹ Whiteheads kann als der Nexus fungieren, von dem Elsasser hier redet. Die korrigierende Lenkung, die der Organismus von den ›living occasions‹ erfährt, findet schließlich durch die letzte Phase der ›concrescence‹ dieser Prozesse statt: die ›satisfaction‹. Mit dem irreversiblen Übergang von der meta-physischen zur physischen Seinsweise, von der Nichtlokalität zur doppelten Verräumlichung, wird eine ›living occasion‹ zu einem reinen Superjekt, denn ihre Bedeutung erschöpft sich nach diesem Umschlag ausschließlich in ihren Wirkungen jenseits ihres Daseins. Ein ›entirely living nexus‹ übt keinerlei Kräfte auf die organismische Materie aus; er ›schiebt‹ nicht ›von außen‹ das Lebewesen immer wieder in die richtige Bahn zurück, weshalb er nicht den Energieerhaltungssatz verletzt. Dank der aufeinanderfolgenden Manifestationen seiner Mitglieder ist er zu jedem Zeitpunkt ein unlösbarer Bestandteil des organismischen Gesamtzustands. Er entfaltet seine Wirkung, indem er – ganz wie die schnellen ausbalancierenden Bewegungen eines Akrobaten – durch die richtige Platzierung des minimalen, aber sehr agilen ›Gewichts‹ seiner ›living occasions‹ den ›Schwerpunkt‹ des Organismus nicht vom (trajektoriellen) ›Seil‹ des Lebens fallen lässt. Diese Vorstellung stimmt in einem bemerkenswert hohen Grad mit einigen Gedanken Werner Heisenbergs über die Art und Weise des Wirkens der Wellenfunktion auf die organismische Materie überein: »Wenn man Raum schaffen will für eigentlich biologische Zusammenhänge, die nicht einfach eine Folge der physikalischen und chemischen sind – und viele Erfahrungen sprechen wohl dafür, daß ein solcher Raum geschaffen werden muß –, so kann man sich mit Bohr an die Beziehung zwischen der Quantentheorie, der Chemie und der klassischen Physik erinnern. Man kann den Vergleich versuchen: Die ›Entelechie‹ oder die ›ganzheitliche Struktur‹ ›leite‹ das physikalisch-chemische Geschehen im Organismus ähnlich, wie etwa das Feld der Materiewellen die Bewegung der elektrischen Elementarteilchen im Atom ›leitet‹. Dieser Vergleich ist zunächst gegen die
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Einwände geschützt, die gegen die früheren Vergleiche erhoben wurden: Das Feld der Materiewellen ist nicht ein Kraftfeld, das ›auf‹ die Materie ›wirkt‹, sondern es ist gewissermaßen ein anderer Aspekt der Materie selbst. […] Die lebendige Substanz ist nicht nur oder nicht immer ein materielles aus Atomen aufgebautes Gebilde, das sich nach den Gesetzen der Physik und Chemie (oder ganz allgemein: nach den quantentheoretischen Gesetzen) verändert. Es hat diese Eigenschaft nur (und auch immer) in den Experimenten, in denen wir sein physikalisch-chemisches Verhalten untersuchen. Die lebendige Substanz kann aber in anderen Fällen auch etwas Anderes, z. B. eine organische Einheit sein; sie gehorcht als solche den biologischen Gesetzen. Erst hierdurch werden stabile Organismen möglich« (Heisenberg 1990, 56 f.).
Der Übergang der organismischen Prozesse zur lokalisierten, doppelt verräumlichten Materie kann natürlich nicht Ergebnis menschlicher Beobachtungen sein, wenn die Autonomie des Lebendigen nicht einem längst überholten Subjektivismus innerhalb der Quantentheorie geopfert werden soll. 362 Dieser Übergang muss als krönender Abschluss lebendiger Prozessualität und damit als ihr intern bedingter, d. h. objektiver Bestandteil gefordert werden, der seine Wirkung durch die Manipulation der Reaktivität bestimmter Biomoleküle entfaltet. Wenn der Manifestation einer ›living occasion‹ als RaumzeitDatum meso- oder makroskopische Größe zugesprochen werden muss, damit sie ihre steuernde Rolle als Balanceakt erfüllen kann, darf ihre ›satisfaction‹ sich nicht in der Veränderung des Verhaltens der Elektronen innerhalb eines einzelnen Biomoleküls erschöpfen. Sie muss als kohärente Form in einem makroskopischen Teil des Leibes ›aufleuchten‹ ; sie muss diesen Teil – einem großen und reich verästelten Blitz gleich – mit einem Schlag durchziehen. Dieses Bild verliert jedoch auf der mikroskopischen Ebene seine räumliche Stetigkeit. Eine wirkliche Entität kann ihre Aufgabe erfüllen, indem sie sich durch eine Unmenge materieller Elemente mo362 Das bekannteste Beispiel eines extremen quantentheoretischen Subjektivismus, der wegen seiner Radikalität als eine Abart des subjektiven Idealismus gedeutet werden kann, ist nach wie vor die Interpretation des als ›Schrödingers Katze‹ bekannten Gedankenexperiments, der zufolge die Entscheidung, ob die Katze lebt oder tot ist, erst durch das individuelle Bewusstsein des Beobachters, der in den Kasten blickt, gefällt wird. Nicht also die Messung würde die Quantenkohärenz eines lebendigen und eines toten Körpers zum Kollaps führen, wie eine weniger extreme Form des Quanten-Subjektivismus behauptet, sondern das empirische, sich selbst bewusste Subjekt des menschlichen Beobachters. Eine solche solipsistische Position stellt Amit Goswami kritisch dar (1997, 116 ff.).
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lekularer Größe manifestiert, die zwar gleichzeitig existieren, aber nicht aneinander räumlich angrenzend sind. Zwischen ihnen könnten sogar große Leerräume vorhanden sein, sodass die 3D-Verräumlichung eines lebendigen Prozesses einem Inselreich der Südsee oder der Verteilung der Sterne in der Galaxis gleichen würde. Die damit verbundene Frage nach der Beziehung zwischen Lebendigkeit und Leere innerhalb der organischen Philosophie ist eine interessante, aber ziemlich dunkle Problematik, der gewisse Aufmerksamkeit gebührt.
3.2 Das Leben und das Vakuum Einige Aussagen Whiteheads über die Bedeutung des leeren Raumes für das Leben üben eine gewisse Faszination aus; in gleichem Maße stellen sie aber seine Interpreten vor Rätsel. Diese Verbindung von Leere und Lebendigkeit ist vor allem Gegenstand folgender Passage aus dem Hauptwerk: »The characteristic of a living society is that a complex structure of inorganic societies is woven together for the production of a non-social nexus characterized by the intense physical experiences of its members. But such an experience is derivate from the complex order of the material animal body, and not from the simple ›personal order‹ of past occasions with analogous experience. There is intense experience without the shackle of reiteration from the past. This is the condition for spontaneity of conceptual reaction. The conclusion to be drawn from this argument is that life is a characteristic of empty space and not of space ›occupied‹ by any corpuscular society. In a nexus of living occasions, there is a certain social deficiency« (PR 105 f./dt. 205 f., Hervorhebungen von S. K.).
Whitehead lehnt es ab, das eigentlich Lebendige im Lebewesen mit der Fülle des Raumes durch körperliche Materialität zu verbinden (»not of space ›occupied‹ by any corpuscular society«). Es sei daran erinnert, dass weder der ›entirely living nexus‹ noch die ›living society‹ gewöhnliche ›societies‹ sind – was auch der Schlusssatz des letzten Zitats besagt (»social deficiency«) –, weil sie zu kreativ sind, um sich auf die Weitergabe eines definierenden Charakteristikums, das eine ›society‹ kennzeichnet, zu beschränken. In der Fülle des Raumes sieht Whitehead einen Beleg für die Vorherrschaft der wiederholenden, weil nicht schöpferischen Prozessualität der anorganischen Körperlichkeit bzw. korpuskularen Sozialität. Wie auch Cobb sagt, in 622 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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der organischen Philosophie »[e]mpty space is space that is empty of societies« (2008, 28). Das eigentlich Lebendige im Lebewesen »lauert« (lurks) im Raum zwischen den Räumen, die vom Diktat der Wiederholung okkupiert sind: »Life lurks in the interstices of each living cell, and in the interstices of the brain. […] The complexity of the animal body is so ordered that in the critical portions of its interstices the varied datum of physical experience is complex, and on the edge of a compatibility beyond that to be achieved by mere inorganic treatment« (PR 105 f./dt. 205 f., Hervorhebungen von S. K.).
Die besondere biologische Bedeutung, die Whitehead den Zwischenräumen innerhalb der Zelle und des Gehirns beimisst, wird erst dann verständlich, wenn man folgende Erläuterungen beachtet: »So far as the functioning of the animal body is concerned, the total result is that the transmission of physical influence, through the empty space within it, has not been entirely in conformity with the physical laws holding for inorganic societies. The molecules within an animal body exhibit certain peculiarities of behaviour not to be detected outside an animal body. In fact, living societies illustrate the doctrine that the laws of nature develop together with societies which constitute an epoch. […] in the physical field of empty space produced by the originality of living occasions, chemical dissociations and associations take place which would not otherwise occur« (PR 106/dt. 206, Hervorhebungen von S. K.).
Whitehead sieht also in der Leere des Raumes im Leib eine unverzichtbare Bedingung für die Entfaltung einer chemischen Reaktivität, die in leblosen Ganzheiten nicht vonstattengehen kann. Wenn die ›satisfaction‹ einer ›living occasion‹ in einer physikochemisch zulässigen, aber hochgradig unwahrscheinlichen Abstimmung des Verhaltens von Elektronen über eine makroskopische Region des Leibes bestehen soll, dann macht es tatsächlich Sinn, sich diesen Prozess in einem Raum vorzustellen, der von den weniger kreativen Prozessen nicht besetzt wird. Diese nicht naturwissenschaftlich begründete Vorstellung wird beachtenswerterweise von der Hameroff-PenroseTheorie des Bewusstseins unterstützt. In mehreren Veröffentlichungen wird das Innere der Mikrotubuli als ein Vakuum beschrieben, das gerade wegen seiner Leere dem Aufkommen von Quantenkohärenz zuträglich ist. 363 363 Auch wenn es sich in Wirklichkeit um einen mit geordnetem Wasser gefüllten Raum handelt (Mershin et al. 2006, 105), bleibt die Tatsache der Abwesenheit der
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Die Bedeutung der Leere für den Organismus erschöpft sich allerdings nicht in der Relevanz des räumlichen Vakuums für die lebendige Prozessualität. Nicht minder wichtig sind die zeitlichen Lücken zwischen den ›living occasions‹, die verbieten, den ›entirely living nexus‹ als eine ›society‹ personaler Ordnung zu interpretieren. Ein lebendiger Prozess kreiert sein eigenes Erleben nicht auf der Basis des Erlebensreichtums der ihm vorangegangenen Mitglieder des ›nexus‹ : »[S]uch an experience is derivate from the complex order of the material animal body, and not from the simple personal order of past occasions with analogous experience« (PR 105/dt. 205).
Würde im ›entirely living nexus‹ die Ordnung personaler Sozialität vorherrschen, dann wäre der Druck der Fortsetzung des Ererbten sehr groß. Davon ausgehend kann das letzte Zitat so interpretiert werden, dass zwischen den einzelnen ›living occasions‹ keine Kontiguität, d. h. unmittelbare Berührung oder sogar teilweise Überlappung der ›concrescence‹-Quanten, herrscht. Eine ›living occasion‹ wirkt, indem sie von Prozessen prehendiert wird, die Mitglieder von untergeordneten ›societies‹ des Lebewesens sind und folglich eine zu hohe Konformität mit der Vergangenheit, d. h. eine zu hohe Sozialität, aufweisen, weshalb sie selbst keine ›living occasions‹ sein können. Die Mitglieder eines ›entirely living nexus‹ entfalten ihre anti-entropische Wirkung dank der Mitglieder der ihren ›nexus‹ flankierenden ›corpuscular societies‹, wie Abb. 4.5 zeigt. Denn Originalität gelangt erst dann zur Wirksamkeit, wenn sie von weniger originellen Nachfolgern geerbt und bewahrt wird, da sie nicht sofort nach ihrer Manifestation in Frage gestellt werden darf. Dieses Prinzip scheint nicht nur in ›living societies‹ zu gelten, sondern auch in menschlichen Gesellschaften, wenn auch in viel geringerem Maße: Vermutlich liegt hierin der eigentliche Grund, warum Platon nicht Aristoteles zu seinem Nachfolger machte und Freud seine besten Schüler verjagte. Ein schöpferischer Impuls der Bewahrung vor der entropischen Degeneration benötigt ein Vakuum der Originalität im Lebewesen. Das Licht des Lebens gleicht nicht einer permanent brennenden Lampe, sondern einem Leuchtturm, dessen rhythmisches Aufleuchten gerade wegen der ihn umgebenden Dungewöhnlichen organismischen Materie (Proteine, Nukleinsäuren, Kohlenhydrate, Lipide) bestehen.
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kelheit sichtbar ist. Ähnlich erbt eine ›living occasion‹ wesentlich dumpfere Prozesse, als sie selbst darstellt, und hinterlässt ihrerseits nur solche, die ihrem lebensrettenden Richtungswechsel eine Zeit lang folgen werden – da sie eben gar nicht in der Lage sind, ihn in Frage zu stellen –, bis auch dieser seine Relevanz verliert. Ausgehend von der Organismus-Problematik, wie sie von der Abbildung 2.27 dargestellt wird, sieht man übrigens, dass das Eingreifen der ›living occasions‹ nicht permanent nötig ist, sodass zwischen ihnen kleine zeitliche Lücken vorhanden sein könnten. Diese Idee liegt auch der Abb. 4.6 zugrunde. Was jedoch diesen Prozessen überhaupt erlaubt, einzugreifen, ohne durch extern ausgeübte Kräfte die Entwicklung des Organismus ›umbiegen‹ zu müssen, ist eine andere Form der Leere, die Whitehead nicht kennen konnte: die Regionen im erweiterten Zustandsraum der ontogenetischen Entwicklung, in denen wegen der dort herrschenden dynamischen Instabilität eng benachbarte Trajektorien voneinander divergieren. Sie sind eine andere Form von ›Zwischenräumen‹ (interstices) – sie sind kausale Lücken, Orte der Indeterminiertheit oder Vakua der Wirkursachen-Kausalität. Jede Trajektorie, die eine biologisch sinnvolle Entwicklung repräsentiert, muss sie durchqueren, ohne von der engen Bahn des Lebendigseins zu entgleisen. Jedem nur von Wirkursachen angetriebenen Vorgang, also jedem Ablauf, würde dabei das zustoßen, was der Aristotelischen Substanz im räumlichen Vakuum widerfährt. Er würde wegen der kausalen Indifferenz ziellos umhertreiben. Das aber, was für einen Ablauf ein horror vacui darstellt, ist für einen Prozess eine essentielle Bedingung seines Daseins, denn erst das Fehlen von Determiniertheit erlaubt dem Prozess, sein Wesen selbst zu bestimmen, indem er sich zwischen möglichen Entwicklungen entscheidet. Die organismische Individualität kämpft also nicht gegen die doppelte Verräumlichung, sondern ›lauert‹ in den kausalen Freiräumen, die diese bereitstellt.
3.3 Wessen Gedächtnis füllt die kausalen Vakua der Ontogenese? Die Abweisung der substantialistischen Konzeption der Seele und der Alleinherrschaft der Wirkursachen-Kausalität ist notwendiger Bestandteil jedes prozessphilosophischen Denkens. Aus diesem Grund muss die Wiederkehr von typischen Gestalten bei embryogeneti625 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
IV · Die Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads und die Ontogenese
schen Vorgängen und die Aufrechterhaltung der herausdifferenzierten Gestalt der adulten Organismen auf ein oder viele prozessuale Subjekte, die über Gedächtnis verfügen, zurückgeführt werden. Die Bergson’sche Metaphysik lässt eine kontinuierliche Mannigfaltigkeit solcher lebendiger, d. h. sich bereichernder und wachsender, Gedächtnisse zu. 364 Im Whitehead’schen Gedankenschema kommt nur einem einzigen Prozess die Kraft und Last der universellen ἀλήθεια (Aletheia) zu, die nicht nur als ›Wahrheit‹, sondern auch als ›Nicht-Vergessen‹ übersetzt werden kann. 365 Die Folgenatur Gottes verleiht einigen Gestalten, die in der Vergangenheit während der Ontogenese vieler Lebewesen verwirklicht wurden, Relevanz für die Gegenwart. Wegen der heterogenen Kontinuität seiner Folgenatur sind diese Gestalten – die unterschiedlichste Größe, Morphologie und hierarchische Höhe (vom Biomolekül bis zur Gesamtgestalt des adulten Organismus) aufweisen – Gott unmittelbar präsent. Die zusammengesetzten ›eternal objects‹, die diesen Gestalten zugrunde liegen, spielen bei der Schöpfung der ›initial aims‹ der ›actual occasions‹ formaliter von Seiten Gottes 366 eine wichtige Rolle. Die komplexesten unter diesen ›initial aims‹ kommen natürlich den ›living occasions‹ zu. Selbstverständlich muss auch die Reihenfolge der Aktualisierung dieser Entitäten während der Morphogenese und der adulten Phase erinnert werden – aber auch sie ist dem göttlichen Bewusstsein ohne jegliche Distanz präsent. Wie alle ›eternal objects‹ sind auch die in Lebewesen verwirklichten mit anderen abstrakten Entitäten ihres ›Reichs‹ intern relational verbunden, 367 die keine physikochemischen oder mathematischen Universalien sind. Somit finden auch ›eternal objects‹ anderer Art Eingang in jedes lebendige Werden, wie z. B. ästhetische und ethische Werte. Folglich ist Gottes Wirken niemals nur auf die Wiederkehr von natürlichen Gestalten oder die Verwirklichung physischer ›eternal objects‹ zunehmender Zusammengesetztheit begrenzt. Wegen der Beschaffenheit seiner Urnatur, die im Reich der ›eternal obSiehe Abschn. 2.2.b von Kap. III. Als wörtliche Übersetzung von ›aletheia‹ wird gewöhnlich ›Unverborgenheit‹ angegeben. Dies widerspricht nicht der Übersetzung dieses Begriffs als ›Nicht-Vergessen‹, da das Vergessen auch als eine Form des Verborgenseins verstanden werden kann. In der griechischen Antike waren beide Bedeutungen von ›aletheia‹ geläufig (Babiniotis 2011, 95). 366 Siehe Abschn. 2.3.b dieses Kapitels. 367 Siehe Abschn. 2.2.b.2 dieses Kapitels. 364 365
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jects‹ und der vollständigen Bewertung dieser (bezüglich ihres Wertes verwirklicht zu werden) besteht, trachtet Gott danach, immer höhere ethische und ästhetische Werte in die ›living occasions‹ zu integrieren. Denn je komplexer die von ihnen integrierten Entitäten sind, desto treuer wird dem höchsten metaphysischen Prinzip, das die Synthese von Mannigfaltigkeit in Einheit gebietet, Folge geleistet. Hierin und nicht in der natürlichen Selektion besteht für die organische Philosophie der Antrieb der Evolution. Die interne Relationalität aller abstrakten Entitäten trägt zum Wesen des göttlichen Gedächtnisses bei, dass es einem höheren Zweck jenseits seiner selbst dient. Denn wegen ihrer unlösbaren Verbindungen können die schon im Kosmos verwirklichten ›eternal objects‹ nicht von den restlichen separiert werden, weshalb sich Gott an das Gewesene immer zusammen mit einem möglichen und erstrebenswerten Zukünftigen erinnert. Dies bewahrt sein Gedächtnis vom Selbstzweck des bloßen Konservierens oder Wiederholens und macht es zu einem zentralen Organ der göttlichen Superjektivität, indem es die Evolution des Lebens, jenseits des bloßen Erhaltens bewährter Formen, anspornt. Im göttlichen Prozess sind Erinnerung und Verführung zum lebenswerten Dasein ineinander verwoben. Allerdings waltet der nach der Verwirklichung immer vielfältigerer und ausgedehnterer Synthesen gerichtete göttliche Impuls nicht allein im Kosmos – sonst wäre sein Werk in einem Augenblick vollbracht. Die individuellen Strebungen eines weltlichen Prozesses, die in erster Linie seiner eigenen Wesensbestimmung dienen, sind ein genau so wichtiger Bestandteil seines Werdens wie seine superjektive Ausrichtung auf wirkliche Entitäten jenseits seines Selbst. Diese protomentale Selbstbezogenheit wächst mit zunehmender Distanz der Erlebensintensität der ›actual occasions‹ eines Lebewesens von der Originalität einer ›living occasion‹. Mit abnehmender Originalität einer ›actual occasion‹ nimmt die Abweichung ihres Werdens vom ›initial aim‹, das Gottes Vision für diesen Prozess darstellt, zu. Einerseits führen diese mikroskopischen Abweichungen zur Erzeugung von Entropie auf der makrophysikalischen Ebene des Lebewesens, denn Gott schließt niemals in die ›initial aims‹ Möglichkeiten ein, deren Verwirklichung von den engen Pfaden des Lebendigen wegführen, da er nach Steigerung des Erlebensreichtums strebt. Andererseits aber führen diese auch für Gott unvorhersehbaren Abweichungen zur Bereicherung seines Gedächtnisses, da sie von ihm physisch prehendiert werden. 627 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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3.4 Zur Dialektik von entirely living nexus und living person – Originalität und Kanalisierung Die Idee eines organismisch relevanten Gedächtnisses, das nicht in der strengen Wiederholung von Formen beschränkt ist, kann in Verbindung mit der Organismus-Problematik helfen, eine beachtenswerte Stelle von Process and Reality bezüglich der Dialektik von Erneuerung und Bewahrung bei Lebewesen besser zu verstehen: »An ›entirely living‹ nexus is, in respect to its life, not social. […] by itself the nexus lacks the genetic power which belongs to ›societies‹. But a living nexus, though non-social in virtue of its ›life‹, may support a thread of personal order along some historical route of its members. Such an enduring entity is a ›living person‹. It is not of the essence of life to be a living person. […] The defining characteristic of a living person is some definite type of hybrid prehensions transmitted from occasion to occasion of its existence. […] It is sufficient to state here that a ›hybrid‹ prehension is the prehension by one subject of a conceptual prehension […] belonging to the mentality of another subject. By this transmission the mental originality of the living occasions receives a character and a depth. In this way originality is both ›canalized‹ – to use Bergson’s word – and intensified. Its range is widened within limits. Apart from canalization, depth and originality would spell disaster for the animal body. With it, personal mentality can be evolved, so as to combine its individual originality with the safety of the material organism on which it depends. Thus life turns back into society: it binds originality within bounds, and gains the massiveness due to reiterated character. In the case of single cells, of vegetation, and of the lower forms of animal life, we have no ground for conjecturing living personality. But in the case of the higher animals there is central direction, which suggests that in their case each animal body harbours a living person, or living persons. Our own self-consciousness is direct awareness of ourselves as such persons. […] Thus, though life in its essence is the gain of intensity through freedom, yet it can also submit to canalization and so gain the massiveness of order. But it is not necessary merely to presuppose the drastic case of personal order. We may conjecture, though without much evidence, that even in the lowest form of life the entirely living nexus is canalized into some faint form of mutual conformity« (PR 107/dt. 207 f., Hervorhebungen von S. K.).
Was Whitehead hier zu fassen versucht, ist die Dialektik von Originalität und Selbsterhaltung. Die ›living occasions‹ sind insofern kreativ, dass sie nicht ihre unmittelbar prehendierte Vergangenheit kopieren, sondern eine Revitalisierung bewirken. Letztere ist aber nur 628 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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deswegen eine solche, weil sie nicht irgendetwas einführt, das nur eine Neuheit darstellt, sondern vielmehr wegen ihres Beitrags zur Erhaltung einer bestimmten Form lebendigen Seins. Die ›Akrobatik‹ auf dem schmalen Grat des Lebens setzt jedes Mal, wenn eine anti-entropische Kurskorrektur nötig ist, eine noch nie dagewesene Reaktion voraus, denn jede Entgleisung vom Pfad des lebendigen Werdens hat eine einzigartige Beschaffenheit und stellt somit eine einmalige Herausforderung dar. Die Originalität ist also kein Luxus des Lebens, sondern unerlässliche Voraussetzung dessen. Deshalb kann nur eine Abfolge einmaliger, unverwechselbarer Entscheidungen das Lebendigsein bewahren. Die Organismus-Problematik, die alle Lebewesen der Evolution gleichermaßen betrifft, stärkt also entschieden die Hypothese Whiteheads, bezüglich der Unentbehrlichkeit von Originalität bei allen ›living occasions‹, die das zentrale Merkmal des ›entirely living nexus‹ ist. Was andererseits durch die Einführung des Ausdrucks ›living person‹ bezweckt wird, ist nichts anderes als die begriffliche Fixierung der Unentbehrlichkeit der Kanalisierung des lebendigen Werdens. Die abstrakte Darstellung eines biologischen Organismus mittels eines erweiterten Zustandsraumes veranschaulicht, dass selbst bei den primitivsten Lebensformen nur eine geringe Zahl möglicher Zustände biologisch sinnvoll ist. Eine vom schmalen Grat des Lebens abweichende ›living occasion‹ würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine biologisch fatale Möglichkeit verwirklichen, wenn sie die Originalität zu Lasten der Lebenserhaltung überschätzen würde. Das innovative Potential der ›living occasions‹ muss sich einem höheren Ziel als der Befriedigung ihres schöpferischen Drangs unterordnen. Die Vorstellung, dass sie von einem Gedächtnis gestiftet werden, dessen Sinn in der Bewahrung des Lebendigseins durch seine Erneuerung besteht, bietet eine gute Möglichkeit der Verknüpfung von Originalität und Kanalisierung, wenn Letztere nicht durch das externe Festlegen statischer Größen garantiert werden kann. Die prozessuale Teleologie kann nur dann den Charakter eines Lebewesens bewahren, wenn sie einem flexiblen Gedächtnis entspringt, das nicht nach stupider Wiederholung strebt. Wenn Whitehead am Ende des letzten Zitats sagt, dass »even in the lowest form of life the entirely living nexus is canalized into some faint form of mutual conformity« spricht er eine wichtige Wahrheit aus. Selbst der einfachste Organismus muss die anti-entropisch wirksame Originalität seines ›entirely living nexus‹ in biologisch sinn629 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
IV · Die Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads und die Ontogenese
volle Bahnen kanalisieren. Die Bewahrung der Lebendigkeit erfolgt durch eine spezifische Bindung der ›living occasions‹ an ihre unmittelbare Vergangenheit durch die Übertragung des zu bewahrenden Charakters des Lebewesens mittels sogenannter ›hybrid prehensions‹, 368 wie es aus dem letzten Zitat hervorgeht. Diese Gedanken Whiteheads gewinnen heute vor dem Hintergrund der Grenzen des biosystemischen Emergentismus für alle Organismen eine Bedeutung, die wesentlich größer ist, als er vermutete – und damals überhaupt vermuten konnte.
4.
Gott und die Autonomie des Lebendigen – eine problematische Konstellation
Echte Selbstorganisation – im Sinne von regulativ geschlossener Dynamik, die keiner Trennung zwischen steuernden (statischen) und gesteuerten (dynamischen) Größen bedarf 369 – gibt es nur innerhalb der ›concrescence‹ der wirklichen Entitäten des Lebewesens. Zwischen ihnen ist sie nicht vorhanden, denn Gott muss die Prozesse miteinander verbinden, da er ihnen das ›initial aim‹ vorgibt. Durch dieses determiniert er einseitig erstens ihre ›actual world‹, d. h. was sie physisch prehendieren, und zweitens die abstrakte Entität, die das logische Prädikat der ›proposition‹ ist, die den Prozess initiiert, da sie ihm eine Möglichkeit des Werdens zeigt. Während das sich selbst bestimmende Subjekt vom zweiten Beitrag Gottes stark abweichen kann, wird ersterer ohne die geringste Veränderung aufgegriffen. Die erfassten ›actual entities‹, zu denen auch Gott gehört, können eben nicht negativen ›prehensions‹ unterliegen. Nur die ›eternal objects‹, die durch die erfassten wirklich Seienden Einlass in die ›actual entity‹ formaliter finden, können negativ prehendiert werden. Die einzelnen Prozesse einer ›living society‹ sind, wie jede weltliche ›actual entity‹ überhaupt, elementare Organismen. Durch ihre physischen und begrifflichen ›prehensions‹ nehmen sie Gegebenheiten auf, die sie sozusagen ›katabolisch‹ zerlegen und ›anabolisch‹ neu zusammensetzen, womit von einer wahren Integration, von einer Assimilation des Aufgenommenen die Rede sein kann. Würde diese echte Selbstorganisation der wirklichen Entitäten, die ihre intern ge368 369
Siehe Abschn. 2.2.c.4 dieses Kapitels. Siehe Abschn. 1.2.e und 2.1.a von Kap. II.
630 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Gott und die Autonomie des Lebendigen
leitete Wesensbestimmung ist, nicht nur innerhalb ihrer ›concrescence‹-Prozesse beschränkt bleiben, sondern auch in den Bereich zwischen ihnen übergreifen, dann hätte Whitehead eine Ontologie vorgelegt, die der Autonomie des lebendigen Werdens in einem wesentlich höheren Grade gerecht geworden wäre. Zusammenfassend: Die Bewahrung des Lebens eines Organismus ist innerhalb der Prozessphilosophie Whiteheads nur durch die naturwissenschaftlich inakzeptable Annahme der permanenten Vermittlung Gottes denkbar. Dies ist ein essentielles Problem, da es in der Architektur des elementaren Konzeptes der ›actual occasion‹ wurzelt. Seine Lösung würde eine tiefergehende Revision des Whitehead’schen Gedankenschemas verlangen. Das erkennt man, sobald man sich der Beschränkungen bewusst wird, die von der epochalen Zeitlichkeit der ›actual occasions‹ herrühren. Denn echte Selbstorganisation kann eine aus Prozessen bestehende Ganzheit nur dann aufweisen, wenn sie eine während ihrer gesamten Strukturbildung durchgehend existierende interne Perspektive ihrer eigenen jeweils aktuellen Beschaffenheit hat oder wenn ein Geflecht solcher, ebenfalls anhaltend existenter interner Perspektiven vorhanden ist. In beiden Fällen müsste die Existenz langlebiger Subjekte angenommen werden – im ersten Fall eines einzigen und im zweiten mehrerer. Die epochale Zeittheorie zwingt aber den weltlichen Prozessen eine sehr kurzlebige, zumeist mikrochronische Existenz auf und davon können die ›living occasions‹ nicht ausgenommen werden – nicht einmal diese, die mit Selbstbewusstsein begabt sind. Die Quantenbiologie trägt übrigens eher dazu bei, diese Eigenart und Schwäche der Whitehead’schen Prozessphilosophie zu konsolidieren, denn selbst eine nur über wenige Sekunden anhaltende Quantenkohärenz einer makroskopischen Region des lebenden Körpers scheint momentan nicht diskutabel zu sein. Für die organische Philosophie kann also nur ein einziges Subjekt die Strukturbildung und -erhaltung eines Organismus überschauen: der göttliche Prozess. Folglich muss Gott der leitende Faktor jeder Ontogenese sein. Nun ist es aber für jede Naturphilosophie des Lebendigen – milde gesagt – problematisch, wenn sie Gott engagieren muss. Das ist aber unabwendbar, wenn das organismische Gedächtnis, das für die Koordination der extrem verflochtenen ZweckursachenKausalität des embryonalen und metabolischen Werdens unverzichtbar ist, nicht eine Leistung des Lebewesens selbst, sondern nur Gottes sein kann. 631 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
IV · Die Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads und die Ontogenese
Eine weitere, nur im Rahmen einer gründlichen Revision der Whitehead’schen Metaphysik überwindbare große Schwierigkeit ist, dass dem Erlebenskontinuum einer sich selbst bewussten Person auf der Basis der epochalen Zeittheorie nicht beizukommen ist, denn sie kann bei weitem nicht der Einheit des Ichs gerecht werden. 370 Eine kontinuierliche Reihe vieler aufeinander folgender Subjekte kann eben nicht das Erlebenskontinuum eines einzelnen Subjekts aufweisen, weil viele Subjekte sich nicht zu einem einzigen Subjekt verbinden lassen. Die Tatsache der Kontinuität des Bewusstseins – die Initialzündung der Philosophie Bergsons – verlangt nach einem langlebigen psychologischen Prozess. Dies liegt eindeutig jenseits der Konzeption der ›society‹ personaler Ordnung, mit deren Hilfe Whitehead das menschliche Seelenleben zu erfassen sucht. Schon vor mehr als vier Jahrzehnten hat Rem Edwards betont, dass die menschliche Seele keine ›society‹ sein kann 371 und stattdessen vorgeschlagen, ihr die zeitliche Kontinuität des göttlichen Erfahrens, d. h. der Folgenatur Gottes, zuzusprechen (1975, 199). Dieser fruchtbare Gedanke wird im nächsten Kapitel aufgegriffen, wo auch andere Probleme der Prozessphilosophie Whiteheads, die aber nicht so eng mit der Autonomie des Lebendigen zusammenhängen, thematisiert werden.
5.
Zusammenfassende Schlussbetrachtung
Es ist fundamental für die organische Philosophie, dass nicht nur der Naturwissenschaftler seinen Gegenstand durch seine Abstraktionen und Methoden konstituiert, indem er die Vielfalt seiner Erscheinungsweisen in der Natur begrenzt. Es wird vielmehr davon aus370 James Felt bringt aus einer Bergson’schen Perspektive diese Kritik gut auf den Punkt: »[O]n this epochal (I might almost say stroboscopic) view of the self it is no longer possible to say, ›I did it!‹, with that sense of ›I‹ which experience seems to warrant. The entity that says ›I did it!‹ can never be ontically the entity which in fact did it. Indeed, it would presumably require hundreds of successive entities to constitute a linear society long enough even to span the Augenblick it takes to say, ›I did it!‹« (1987, 40). Vgl. auch: Fetz 1981, 253 ff.; Rohmer 2000, 234 ff. 371 Genauer gesprochen ist die menschliche Seele für Whitehead eine ›living person‹ (PR 107/dt. 208). Diese ist genauso wenig eine ›society‹ personaler Ordnung, wie eine ›living society‹ ein ›nexus‹ sozialer Ordnung, also eine einfache ›society‹, ist. Eine ›living person‹ ist, wie im Abschnitt 3.4 schon erläutert, ein ›nexus‹, dessen Mitglieder kreativ genug sein können, ohne dabei ihrer Vergangenheit Abbruch zu tun. Aber auch die Mitglieder einer ›living person‹ sind epochale Atome.
632 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Zusammenfassende Schlussbetrachtung
gegangen, dass in jedem Prozess eine spontane Entscheidung stattfindet, die der unendlichen Mannigfaltigkeit der mittelbar und unmittelbar in seinen Selbstvollzug integrierten Tatsachen und der realen Möglichkeiten, die sie definieren, Grenzen setzt. Jeder weltliche ›concrescence‹-Prozess kann als eine prinzipiell unvorhersehbare Selbstbegrenzung einer sich in ihrem Wesen bestimmenden und schließlich physisch manifestierenden wirklichen Entität verstanden werden. Zwischen dem Erkenntnisakt des Wissenschaftlers und dem Werden der Wesenskonstitution der wirklichen Entität gibt es also eine wichtige Verwandtschaft: Beide abstrahieren. Whitehead formuliert somit eine Naturphilosophie, die nicht die Unerschöpflichkeit des Gegenstands betont, sondern die Kreativität seiner Selbstbegrenzung. Diese macht ihn einerseits erfahrbar, und somit zum potentiellen Gegenstand begrenzter wissenschaftlicher Erkenntnis, und andererseits erfahrend und verleiht ihm somit die Unmittelbarkeit des subjektiven Erlebens. Das innovative Potential der Whitehead’schen Prozessphilosophie bezüglich der weiteren Befreiung des Organismus-Verständnisses von substanz- und systemontologischen Denkweisen kann anhand einiger Punkte zusammengefasst werden. Sie wurden vor dem Hintergrund der Jahrtausende alten Geschichte der Bemühung um einen Zugang zum Wesen des ontogenetischen Werdens ausgewählt: 1)
2)
Anders als verschiedene Versionen des Vitalismus, die mit ihrem Materie-Seele-Paar einen Zwei-Substanzen-Dualismus engagieren, sieht Whitehead in einem lebendigen Körper keine solchen ›Bifurcations of Nature‹, sondern lediglich Bereiche höherer und niedrigerer prozessualer Intensität bzw. Lebendigkeit. Im Rahmen seiner Ontologie kann die Frage, wie eine geistige Substanz mit einer körperlichen interagieren soll, nicht einmal formuliert werden, denn jede ›actual entity‹ ist ein bipolarer Prozess mental-physischer Natur. 372 Ausgehend von der Untrennbarkeit physischer und mentaler Zustände erledigt sich, nebenbei bemerkt, auch das jedem teleonomischen Denken anhaftende Problem der Emergenz mentaler Phänomene bei hinreichender Größe und Vernetzung neuronaler Strukturen.
372 Das gilt auch für Gott. Der physische Anteil seiner Natur ist der von ihm physisch prehendierte Kosmos.
633 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
IV · Die Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads und die Ontogenese
3)
4)
5)
Dank der Prozess-Natur aller wirklichen Entitäten des Lebewesens werden die Probleme, die der Neo- und der Psychovitalismus mit dem Satz der Energieerhaltung haben, in der prozessphilosophischen Betrachtung des Lebens automatisch umgangen. Anstatt von Seele und Materie als zwei Substanzen, d. h. als persistierenden Wesenheiten auszugehen, wird das Lebewesen als eine besondere Art von Gesellschaft gedacht, deren Mitglieder permanent neu entstehen und vergehen. Folglich ist es nicht nötig, dass die organismische Materie durch irgendeine ›Kraft‹ nicht materiell-energetischer Beschaffenheit in einen bestimmten Zustand ›geschoben‹ wird, denn sie aktualisiert sich immer wieder neu in den jeweils angestrebten physischen Zustand und das ereignet sich mit einem Tempo, das Quantenereignissen eigen ist. Die ›actual occasions‹ eines Organismus manifestieren sich in der Raumzeit als Energie- und Materiequanten; sie sind also die Energie. Sie müssen weder von außen geformt noch beseelt werden, denn sie sind mentale Akte der Selbstformung, deren Wesen in der Gesamtheit ihres Werdens besteht und somit keine Ergänzung zulässt. Die organische Philosophie ermöglicht die Überwindung der Trennung zwischen statischen und dynamischen Größen, die den formalen Ansätzen des biosystemischen Emergentismus der Gegenwart anhaftet. Die Whitehead’sche Ontologie erlaubt, die wirklichen Entitäten eines biologischen Organismus als Seiende zu betrachten, deren Wesen nicht indifferent zur Beschaffenheit der lebendigen Ganzheit ist, sondern Resultat ihrer Einbezogenheit in diese. Die materiellen Elemente werden als Endresultate der Wesensbestimmung wirklicher Entitäten gedacht, deren Werden einen Übergang von einer meta-physischen zu einer physischen Seinsweise darstellt. Bezüglich der Frage der Organismus-Problematik – die nicht nur Naturwissenschaftler betrifft, die explizit oder implizit ganze Organismen als dynamische Systeme begreifen und an ihre prinzipielle Berechenbarkeit glauben – lässt sich Folgendes sagen: Eine einzige ›actual occasion‹, die eine ›living occasion‹ ist, kann einen Organismus, der genau vor einer dynamischen Instabilität steht, allein durch ihre Manifestation als raumzeitliches Datum bestimmter Beschaffenheit in die eine oder andere Richtung lenken. Dies setzt allerdings voraus, dass ihre Energie und Masse um mehrere Größenordnungen höher sind als die der
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Zusammenfassende Schlussbetrachtung
6)
mikrophysikalischen Prozesse – eine Hypothese, die von gegenwärtigen quantenbiologischen Überlegungen unterstützt wird. Eine ›living occasion‹ ist nur deswegen anti-entropisch wirksam, weil sie eine Entscheidung trifft, mit der sie alle physikochemisch zulässigen Möglichkeiten, außer einer einzigen, negiert, um nur diese zu verwirklichen. Auf diese Weise halten solche Prozesse den Organismus auf dem besonders schmalen Ensemble von Trajektorien, die biologisch sinnvolle Entwicklungen repräsentieren. Die ›living occasions‹ bewahren den Organismus vor der Entgleisung in den unendlichen ›Dschungel‹ physikochemischer Trajektorien, die für alle denkbaren Möglichkeiten seiner Auflösung und somit die Erhöhung seiner Entropie stehen. Andererseits kommt auch die Theorie der Instabilität dynamischer Trajektorien einer Whitehead’schen Theorie des Lebens zugute, weil sie die Vorstellung unterstützt, dass ein ›entirely living nexus‹ die Möglichkeit der Wahl hat. Denn die ›initial aims‹ der wichtigsten biologischen Prozesse, der ›living occasions‹, können nur etwas einführen, das den universellen Naturgesetzen (materiale Gesetze) und den in einem individuellen Organismus geltenden spezifischen Gesetzmäßigkeiten (emergente Gesetze bzw. Strukturgesetze) nicht widerspricht. Die von den Theoretischen- bzw. Systembiologen berechneten Divergenzen von Trajektorien zeigen nichts anderes, als dass lebendige Vorgänge nicht vollkommen determiniert – sozusagen im Zuge einer Eine-Trajektorien-Entwicklung – ablaufen, sondern Orte der wirkursächlich-kausalen Indifferenz durchwandern. 373 Zukünftige Fortschritte der Systembiologie könnten Evidenz dafür aufbringen, dass nicht nur begrenzte Vorgänge, sondern die gesamte embryogenetische Entwicklung und die Selbsterhaltung des adulten Organismus durch ähnliche Orte sich voneinander entfernender Trajektorien hindurchgehen, in denen – nur auf der Basis von Wirkursachen – biologisch sinnvolle Entwicklungen besonders unwahrscheinlich sind. Solche Trajektorien würden mögliche Wege repräsentieren, zwischen denen sich die ›living occasions‹ entscheiden müssten.
Der biosystemische Emergentismus und die Whitehead’sche Prozessphilosophie könnten also zukünftig in einer höheren Synthese auf373
Vgl.: Abb. 2.15, 2.19 und 2.23.
635 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
IV · Die Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads und die Ontogenese
gehen, deren Kern wie folgt lauten dürfte: Der modale Aspekt der Materialität der Lebewesen kann prinzipiell vom systemtheoretischen Denken erfasst werden und ihr aktualer Aspekt, der in der Verwirklichung einer geringen Zahl physikochemischer Möglichkeiten besteht, von der Whitehead’schen Prozessphilosophie. Die zentrale Rolle, die Whitehead dem göttlichen Prozess zuspricht, würde zweifelsohne einer solchen Synthese im Wege stehen. Dies wäre aber nichts als ein triftiger Grund, die organische Philosophie einer gründlichen Revision zu unterziehen – jedoch ohne dabei die Vorstellung eines mit höchstem Bewusstsein begabten allumfassenden Prozesses abzuschaffen. Denn Whitehead hat mit seiner Metaphysik eine einmalige Integrationsleistung vollbracht, die an seine Nachfolger appelliert, weiterhin nach einem kosmologischen Gedankenschema zu suchen, in dem menschlicher Erfahrungsreichtum, wissenschaftliche Vernunft und Religiosität sich gegenseitig inspirieren können. Eine zukünftige Biophilosophie, die von einer revidierten Whitehead’schen Prozessontologie und der Quantenbiologie essentiell geprägt sein würde, sollte die Fortschritte der biosystemisch-teleonomischen Forschung (Systembiologie, Theorie der Selbstorganisation u. a.) in ihr Gedankenschema integrieren können. Denn sie würden ihr eine mächtige formale Grundlage geben, um organismischen Entwicklungen jenseits deterministischer Vorstellungen Entscheidungsfreiheit zusprechen zu können. Dagegen wird es nicht möglich sein, vitalistisches Gedankengut in eine solche Schöpfung zu integrieren, da es unlösbar an die Substanzontologie längst vergangener Menschheitsepochen gebunden ist. Das bedeutet aber keineswegs, dass die Substanzontologie, von der die zentralen Fortschritte von Philosophie und Wissenschaften von der Zeit der Veden mindestens bis zum 17. Jahrhundert getragen wurden, einen Irrtum des Denkens darstellt. Auch wenn generell nicht von der Integrierbarkeit dieses Denkens in die Prozessontologie ausgegangen wird, ist es eigentlich nicht zu übersehen, dass die gerade vorgeschlagene und vorhergesagte Synthese nichts anderes versucht, als auf eine neue Weise zwei elementare Begriffe der antiken und mittelalterlichen Ontologie zusammen zu denken: Dynamis und Energeia bzw. potentia und actus. Diese zentralen Werkzeuge der Aristotelischen Metaphysik sollen in den modalen und den aktualen Aspekt einer neuen Betrachtung des ontogenetischen Werdens transformiert und aufgehoben werden. Folgende Skizze fasst die hier ver636 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Zusammenfassende Schlussbetrachtung
tretene Position zusammen und demonstriert auch die Weitsicht Aristoteles’ auf der Basis der Fruchtbarkeit seines Begriffspaares, das seine Ontologie transzendiert: Aristotelische Substanzontologie Dynamis (potentia)
Energeia (actus)
naturwissenschaftliche Systemontologien Prozessontologie modaler Aspekt (moderner Determinismus bzw. nichtlineare Wirkursachen-Kausalität)
aktualer Aspekt (prozessuale Teleologie)
Notwendige Formen der Möglichkeiten bzw. Trajektorien
Kreativität und Freiheit der Entscheidung zwischen Möglichkeiten
Universalität: Gesetzmäßigkeiten der Kombination von Universalien miteinander
Einmaligkeit: Individualität des Strebens und nicht vollständige Analysierbarkeit eines Entscheidungsaktes wegen seiner Innerlichkeit |fflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl {zfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl } Prozesse des Lebendigen (Die Quantenbiologie unterstützt die Verbindung der Prozessontologie und der Systembiologie bzw. des biosystemischen Emergentismus.) Tab. 1: Eine mögliche Interpretation der Beziehung zwischen Prozessontologie und naturwissenschaftlichen Systemontologien mit Hilfe des Aristotelischen Begriffspaares ›Energeia-Dynamis‹.
Alle Philosophie und Wissenschaft lebt von der Vermittlung zwischen Freiheit und Notwendigkeit, sagt Schelling in seinem 1809 erschienenen, das Prozessdenken vorwegnehmenden Werk Über das Wesen der menschlichen Freiheit (1975, 35). Die eben skizzierte Verbindung kann als eine Interpretation dieser Aussage mit Hinblick auf einen für das Verständnis der Autonomie ontogenetischen Werdens zentralen und noch zu erringenden Durchbruch gesehen werden. Die realen Möglichkeiten der Manifestation der organismischen Materialität in gewöhnlicher und abstrakter Räumlichkeit (doppelte Verräumlichung) vermitteln sich an die organismischen Prozesse dank der internen Relationalität Letzterer. Es ist die wesenhafte Verwurzelung der wirklichen Entitäten in ihren ›actual worlds‹, die ihnen mögliche Wege ihres Werdens eröffnet. Die Architektur der organischen Philosophie ist also so beschaffen, dass die formalere ihrer bei637 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
IV · Die Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads und die Ontogenese
den Seiten 374 mit dem systemtheoretischen Teil der erhofften Synthese gut korrespondiert. Dies veranschaulicht folgende Tabelle: Interne Relationalität
Individualität
raumzeitliche Kontinuität
Teilung des raumzeitlichen Kontinuums
Reale Potentialität (Kontinuum abstrakter Möglichkeiten im Zustandsraum)
Entscheidung (Teilung des abstrakten Kontinuums des Zustandsraumes durch Auswahl einer Möglichkeit)
Bejahen des ›Dschungels‹ realer Möglichkeiten: wuchernde Potentialität durch positive Prehensivität physischer Tatsachen
Verneinende Grenzsetzung: sich herauskristallisierende Subjektivität durch negative Prehensivität abstrakter Entitäten
physischer Pol
mentaler Pol
Gemeinschaft der Seienden und Tendenz der Wiederholung des Gleichen
Individualität des Subjekts, Abgrenzung und Neuheit
(dionysisch)
(apollinisch)
Tab. 2: Die zwei Seiten der Prozessmetaphysik Whiteheads.
Wenn das wuchernde Chaos der Möglichkeiten die ›concrescence‹ einer ›living occasion‹ beherrscht, gleicht ihr aussichtsloser Kampf, wenn auch auf eine primitive Weise, dem Schicksal des versagenden Helden in Joseph Conrads Herz der Finsternis, der von der Sinnlosigkeit des natürlichen und menschlichen Dschungels erschlagen wird. Versteht sie dagegen, sich mit ihrer Begrenztheit abzufinden und die Unerforschlichkeit des ›Dschungels‹ möglichen Seins zu verschmerzen, dann verwirklicht sie auf der rein biologischen Ebene das, was die ›Gewinner‹ Jack Londons in seinen Südseegeschichten erreichen, die in den Tropen Plantagen anlegen und Kannibalen in Landwirte verwandeln. Der pragmatische Blick, der auf der menschlich-psychologischen Ebene die Unergründbarkeit und den tiefen Schmerz des Daseins meisterhaft verdrängt, liegt schon dem Uranfang der Evolution zugrunde. Die taktisch geschickte, auf Reduktion bedachte ›odyssei-
374 Die formalere Seite der Whitehead’schen Prozessmetaphysik ist in der linken Spalte der Tabelle 2 zusammengefasst. Sie wird deswegen als die formalere betrachtet, weil sowohl das raumzeitliche Kontinuum als auch das Kontinuum des Zustandsraumes und die mit diesem zusammenhängenden realen Möglichkeiten der ›actual occasions‹ mathematischen Beschreibungen zugänglich sind.
638 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Zusammenfassende Schlussbetrachtung
sche Vernunft‹, von der Whitehead spricht (FR 37 ff./dt. 33 ff.), war schon im ersten Lebewesen des Kosmos aktiv. Ihr gegenüber stand schon immer die nach echter Erkenntnis strebende ›Platonische Vernunft‹ (ebenda). Wenn diese nicht ausschließlich unter dem Gesichtspunkt eines in menschlichen Kulturen vorkommenden Vermögens betrachtet wird, kann sie als der Ausdruck eines überall im Kosmos um Geltung ringenden Faktors verstanden werden. Seine Universalität ist nicht auf der im gesamten verräumlichten Kosmos verbreiteten Materialität und ihrer Gesetzlichkeit begründet, sondern auf einem im ganzen Universum die Vereinigung der einzelnen Seienden begehrenden individuellen Bewusstsein, das im Sinne Bergsons ewiglebendig ist. Beide Formen der Vernunft wirken anti-entropisch. Die praktische ›odysseische Vernunft‹ ist eine wesenhaft biologische, weil selbstbezogene und nicht moralisch agierende, die nach Überleben und Durchsetzung ihres partikulären Trägers strebt, während die nach Wahrheit strebende ›Platonische Vernunft‹ auf die Verwirklichung immer höherer ästhetischer und ethischer Werte ausgerichtet ist. Die eine vergisst die leidgeplagten ›Verlierer‹ des Lebens, die nicht die sozusagen ›nötigen Abkürzungen‹ nehmen konnten und die andere rettet sie auf ihre eigene unergründliche Weise (PR 346/dt. 618).
639 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Kapitel V Zu einer neuen Biophilosophie des Organismus: Rück- und Ausblick
To set limits to speculation is treason to the future. Alfred North Whitehead 1
Einleitung Nach dieser langen Wanderung durch die Labyrinthe des biosystemischen Denkens und der Prozessphilosophie erscheint eine schon zu Beginn dieser Untersuchung gewagte Aussage in einem klareren Licht: »Eine ausgewogene Theorie der Leiblichkeit ist der einzige Weg der Biologie des 21. Jahrhunderts zu einer eigenen Identität«. 2 Nur so wird sich diese Wissenschaft außerhalb des Schattens der Physik, der auf den gegenwärtigen systemtheoretischen Konzeptionen biologischer ›Systeme‹ schwer lastet, neu definieren können. Dafür ist die Schaffung eines neuen Gleichgewichts von Materialität und Subjektivität unabdingbar. Die Biologie muss im organismischen Werden eine besondere Erscheinungsweise des Geistigen erkennen lernen und somit eine im wahren Sinne des Wortes Geisteswissenschaft werden. Die Naturphilosophien von Henri Bergson und Alfred North Whitehead bieten zwei mögliche Wege an, dies zu versuchen, ohne in den Vitalismus zurückzufallen. Ich hoffe, dies überzeugend gezeigt zu haben. Dies ist das eigentliche Ziel dieser Untersuchung, die als Beitrag zur Biophilosophie und nicht zur gegenwärtigen ›Mainstream‹-Philosophie der Biologie verfasst wurde, deren Vertreter viele der hier gewagten metaphysischen Gedanken über die Beziehung von Subjektivität und Materialität zurückweisen würden. 3
1 2 3
The Function of Reason 76/dt. 62. Siehe Abschn. 1.3.c von Kap. I. Siehe Abschn. 2 der Einleitung.
640 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Kurze Rekapitulation: Was auf prozessphilosophischem Weg erreicht wurde
Rückblickend auf die Anfänge der Überlegungen, denen der Leser geduldig gefolgt ist, wird in diesem Kapitel der Versuch unternommen, dem Begriff der organismischen Zweckmäßigkeit, der in der Entwicklung des biologischen Denkens seit der Antike höchst bedeutend war, einen neuen Ausdruck zu verleihen. Bevor jedoch diese genuin biologische Idee wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden kann, sollten die wichtigsten Resultate der letzten Kapitel zusammengefasst werden. Deswegen wird im ersten Teil dieses Kapitels eine Rekapitulation des bisher Erreichten geleistet, in deren Zentrum mein bis jetzt entfaltetes prozessmetaphysisches Verständnis des Organismus steht. Im dritten und letzten Teil dieses Kapitels wird schließlich ein neues Feld der prozessmetaphysischen Spekulation eröffnet. Es wird eine kurze Skizze einer möglichen Synthese der beiden Prozessphilosophien angeboten, die das Fundament der vorliegenden Untersuchung bilden. Auf der Basis dieses Entwurfs wird abschließend der Umriss einer möglichen zukünftigen Erweiterung der im ersten Teil angebotenen Theorie des Organismus skizziert und ein Vorschlag der Prozessualisierung von Universalien unterbreitet.
1.
Kurze Rekapitulation: Was auf prozessphilosophischem Weg erreicht wurde
Die Prozessontologien von Bergson und Whitehead erlauben, erstens den unheilvollen Gegensatz zwischen Seele und Materie und den damit zusammenhängenden zwischen Zweck- und Wirkursachen, unter denen die Geschichte der Biologie sehr gelitten hat, zu überwinden. Jeder Prozess, ob als ›durée‹ oder als ›actual occasion‹ gedacht, hat eine mentale und eine physische Seite. Gleichermaßen wichtig ist zweitens, dass beide Gedankenschemata ermöglichen, die für den philosophischen Systemismus essentielle Eigenschaft des Primats der Relationen über das Wesen der Elemente zu überwinden. Es gelingt ihnen, ausgerechnet die stärkste Form von Relationalität – die interne – mit Subjektivität und, vor allem im Whitehead’schen Denken, mit Individualität zu verbinden, ohne auf die Kategorie der Substanz zurückzugreifen. Ausgehend von grundsätzlichen Schwierigkeiten der gegenwärtigen systemtheoretischen Betrachtung des Organismus und auf der Basis ontologischer Überlegungen, bin ich am Ende des zweiten 641 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
V · Zu einer neuen Biophilosophie des Organismus: Rück- und Ausblick
Kapitels dieser Untersuchung zu folgenden Resultaten über das Wesen des Organismus gekommen: Die Idee der wahren oder echten Selbstorganisation, die das essentiellste Merkmal jedes Organismus wiedergibt, transzendiert aus prinzipiellen Gründen die Vorstellung der systemtheoretisch fundierten Wirkursachen-Kausalität. Im Rahmen der Idee der echten Selbstorganisation muss für jedes Lebewesen angenommen werden, dass es aus einer enormen Anzahl von Prozessen besteht, d. h. aus wirklichen Entitäten, für die Folgendes gilt: 1) Sie sind mit Subjektivität begabte Akte. 2) Ihr Wesen ist nichts substanziell Beharrendes, sondern entsteht fortwährend im Akt ihres eigenen Werdens. 3) Sie beziehen sich durch interne Relationen aufeinander, mittels derer sie ihr eigenes Wesen bestimmen. 4) Ihre Wesensbestimmung vollzieht sich nicht in der raumzeitlichen Realität und kann deswegen nicht beobachtet werden; lediglich das Resultat des Prozesses manifestiert sich in der Raumzeit als ein materielles Element des lebendigen Körpers. Folglich ist jedes Lebewesen zu jedem Zeitpunkt mehr als seine raumzeitlich lokalisierten materiellen Elemente und die zwischen ihnen bestehenden physikochemischen Interaktionen. Der Organismus hat also eine physische und eine meta-physische Seite. Diese Gedanken wurden im dritten und vierten Kapitel der vorliegenden Untersuchung mit Hilfe der Ontologien von Bergson und Whitehead zum Ausdruck gebracht. Dadurch konnten zwei deutlich verwandte aber auch miteinander kontrastierende prozessphilosophische Konzeptionen der organismischen Ontogenese präsentiert werden, die von den beiden großen Naturphilosophen nicht geleistet werden konnten – nicht zuletzt, weil ihnen der Hintergrund der modernen nichtlinearen Systemtheorie und der auf ihr fundierten Theoretischen Biologie bzw. Systembiologie fehlte. Diese prozessontologisch fundierten Zugänge dienen der Begründung einer Organismus-Theorie, die frei von den systemtheoretisch bedingten Problemen ist. Im Folgenden werden die Notwendigkeit und der bisherige Ertrag dieses Unternehmens in drei Schritten zusammenfassend dargestellt. Zuerst wird die Einmaligkeit des Organismus unter Betonung seiner in dieser Untersuchung ausgearbeiteten Phänomenalität wiedergegeben. Im Rahmen der Systemontologie führt die Besonderheit dieses Phänomens zur Organismus-Problematik, was den Übergang zur Prozessontologie recht642 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Kurze Rekapitulation: Was auf prozessphilosophischem Weg erreicht wurde
fertigt. Im zweiten Schritt wird eine Definition des Organismus angeboten, die das in den letzten Kapiteln entwickelte prozessphilosophische Verständnis des organismischen Seins zusammenfasst. Schließlich wird das auf dieser Definition basierte Verständnis der organismischen Ontogenese aus Bergson’scher und Whitehead’scher Perspektive beschrieben.
1.1 Definition des Organismus ausgehend von seiner Phänomenalität Die phänomenale Seite des Organismus lässt sich in erster Näherung wie folgt zusammenfassen: Ein Organismus ist eine Ganzheit, die autonom ihren Stoff wechselt und dabei ihre Gestalt bewahrt oder arttypisch variiert. Diese auf den ersten Blick gleichermaßen unspektakuläre wie auch unproblematische Beschreibung offenbart sich als hochgradig interpretationsbedürftig, sobald der Terminus ›autonom‹ im Lichte der Kritik an den systemtheoretischen Formalismen der Gegenwart – genauer: im Lichte der Organismus-Problematik – analysiert wird. Denn diese essentiellste Leistung aller Organismen wird unter einer besonderen Bedingung vollbracht, die die Logik gegenwärtiger systemtheoretischer Formalismen transzendiert, die eine Trennung zwischen statischen und dynamischen Faktoren verlangt. Die im zweiten Kapitel der vorliegenden Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse über das Phänomen des Organismus lassen sich in folgende Definition verdichten: Ein Organismus ist eine Ganzheit, die ihren Stoffwechsel autonom gestaltet, weil sie selbstregulativ bzw. regulativ geschlossen ist, da ihre Dynamik sich selbst kanalisiert, ohne auf eine Trennung zwischen kanalisierenden und kanalisierten bzw. statischen und dynamischen Größen angewiesen zu sein. 4 Zur Selbstregulation einer organismischen Ganzheit gehört, dass sie selbständig ihre eigene selektiv durchlässige Grenze erzeugt, mit der sie ihren energetisch-materiellen Austausch mit der Umgebung zweckmäßig steuert. Jeder Organismus erzeugt also aus seiner Umgebung seine eigene Umwelt. 5 Diese Beschreibung der essentiellsten Eigenschaft jeder organismischen Ganzheit liefert eine Definition des Organismus auf der Ba4 5
Siehe Abschn. 1.2.e und 2.1.a von Kap. II. Siehe Abschn. 2.1.b von Kap. II.
643 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
V · Zu einer neuen Biophilosophie des Organismus: Rück- und Ausblick
sis seiner Phänomenalität. Sie lässt jedoch die Frage offen, wie diese Klasse von Phänomenen zustande kommt: Wie müssen die Interaktionen zwischen den Konstituenten einer solchen Ganzheit beschaffen sein, damit sie regulativ geschlossen ist? Damit stellt sich die metaphysische Frage nach dem Wesen der organismischen Bestandteile und der Art der zwischen ihnen herrschenden kausalen Beziehungen.
1.2 Die metaphysische Definition des Organismus und von ihr weiterführende Gedanken Die Organismus-Problematik zeigt, dass in jedem Lebewesen permanent Entscheidungen zwischen Möglichkeiten stattfinden, die aus physikochemischer Sicht gleichberechtigt sind, von denen aber nur sehr wenige biologisch sinnvoll sind. 6 Diese Entscheidungen fallen fast immer zugunsten der Erhaltung des Organismus oder sogar seiner weiteren Entwicklung (Embryogenese) aus. Es gibt zwei verschiedene Wege über die Ursache dieser Entscheidungen zu denken. Erstens, sie werden wirklichen Entitäten oder wirklich Seienden zugeschrieben (d. h. in der physischen Welt wirksamen Einzelwesen), die das organismische Werden steuern, aber deren Wesen von diesem Werden nicht beeinflusst wird. Ein göttlicher Schöpfer, ein genetisches Programm, eine Aristotelisch gedachte Seele oder ein vitalistisches Agens wären solche wirklich Seienden, die das organismische Werden von außen determinieren können. Zweitens, sie werden als Resultate echter Selbstorganisation betrachtet. In der vorliegenden Untersuchung wurde der zweiten Alternative der Vorzug gegeben. Diese setzt jedoch voraus, dass die den Organismus konstituierenden wirklichen Entitäten durch ihre Relationen zueinander ihr eigenes Wesen mit dem Ziel bestimmen, dass der Organismus am Leben bleibt oder sich artspezifisch entwickelt. 7 Zu diesem Zweck manifestieren sie sich am Ende ihrer Wesensbestimmung als materielle Elemente bestimmter Beschaffenheit und raumzeitlicher Lokalisation. 8 Diese Manifestation beeinflusst die materielle Beschaffenheit des Organismus auf eine Weise, die eine biologisch sinnvolle Entscheidung 6 7 8
Siehe Abschn. 2.1.c und 2.3 von Kap. II. Siehe Abschn. 3.2.a.6 von Kap. II. Siehe Abschn. 3.2.b.4 von Kap. II.
644 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Kurze Rekapitulation: Was auf prozessphilosophischem Weg erreicht wurde
zwischen den physikochemisch gleichwahrscheinlichen Möglichkeiten darstellt. Wirkliche Entitäten, die ihr eigenes Wesen mittels ihres relationalen Zusammenhangs bestimmen, habe ich in der vorliegenden Untersuchung als Prozesse bezeichnet. 9 Die Idee, dass es wirklich Seiende gibt, die ihr eigenes Wesen bestimmen, ist der Intuition leichter zugänglich als dem begrifflich operierenden Verstand. Dies setzt allerdings voraus, dass wir uns dazu durchringen können, dem eigenen Erleben das Vermögen der Vermittlung von Verstehen zuzubilligen. Wenn es einen Weg gibt, zu erfahren, was ein Akt der Selbstbestimmung des eigenen Wesens ist, dann besteht dieser in der Beobachtung der spontanen Geburt und qualitativen Transformation unserer eigenen Erlebensakte – auf diesem Weg hat Bergson die ›durée‹ als die besondere Form des sein eigenes Wesen bestimmenden Werdens eingeführt. Die metaphysische Idee der Wesensbestimmung wirklicher Entitäten erlaubt organismisches Sein wie folgt zu definieren: Der Organismus ist eine Ganzheit aufeinander bezogener Prozesse, die durch ihre Relationen zueinander ihr eigenes Wesen bestimmen und zwar auf eine solche Weise, dass die aus ihnen bestehende Ganzheit eine regulativ geschlossene Dynamik 10 aufweist, damit sie sich in ihrer Umwelt autonom erhalten und entwickeln kann. Im Abschnitt 3.2 dieses Kapitels wird der Ansatz einer möglichen zukünftigen Erweiterung dieser Definition skizziert. Die materiellen Elemente des Organismus sind raumzeitliche Manifestationen von Prozessen, die ihr eigenes Wesen schon bestimmt haben. Einfache Prozesse (›actual occasions‹, mikrophysikalische Dauern) manifestieren sich als atomare oder molekulare materielle Elemente. Vielschichtige Prozesse (›living occasions‹, Dauern mesoskopischer Akte) manifestieren sich als Kombinationen solcher Elemente. Die Manifestationen dieser Prozesse müssen nicht immer eine räumlich kontinuierliche Gestalt aufweisen. Sie können auch aus Teilen bestehen, die keinen Kontakt aufweisen, weil sie sich gleich-
Siehe Abschn. 3.3.b von Kap. II. Eine Dynamik ist regulativ geschlossen, wenn sie sich selbst kanalisiert. Die regulative Geschlossenheit einer Dynamik nimmt in dem Maße zu, in dem sie von der Trennung zwischen statischen und dynamischen Größen frei ist, von der die heutigen Modellierungen organismischer Vorgänge beherrscht sind. Die regulative Geschlossenheit einer Dynamik verhält sich direkt proportional zum Verhältnis der in ihr vorkommenden dynamischen Größen zu den statischen. Siehe Abschn. 2.1.a von Kap. II.
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V · Zu einer neuen Biophilosophie des Organismus: Rück- und Ausblick
zeitig in voneinander entfernten Orten des Organismus materialisieren. Es stellt sich die Frage, ob auch eine metaphysisch begründete Verbindung zwischen der Wesensbestimmung organismischer Prozesse und dem Stoffwechsel des Lebewesens denkbar ist, welcher als Phänomen immerhin laut der im letzten Abschnitt geleisteten Definition des Organismus eine wichtige Rolle spielt. Warum sollte eine Ganzheit, die von aufeinander bezogenen Prozessen der Wesensbestimmung konstituiert wird, am permanenten Energieaustausch und Wechsel von Materie gebunden sein? Diese Frage verlangt danach, die Produktion von Entropie innerhalb des Organismus mit der metaphysischen Idee der Wesensbestimmung innerorganismischer Prozesse in Beziehung zu setzen. Denn die eigene Entropieproduktion zwingt den Organismus, Energie und Materie mit seiner Umwelt auszutauschen. Dieses Unterfangen sprengt eigentlich den Rahmen der vorliegenden Untersuchung und wird deswegen nur in der Form eines Entwurfes durchgeführt werden. 11 Wirkliche Entitäten können nur dann Akte ihrer eigenen Wesensbestimmung sein, wenn sie nicht von Wirkursachen-Kausalität beherrscht werden. Denn die Idee der Wesensbestimmung schließt per definitionem aus, dass der Selbstvollzug eines Prozesses auf Verhältnisse reduziert werden kann, die in Zustandsräumen darstellbar sind, wie die Idee der Wirkursachen-Kausalität verlangt. 12 Die Dimensionen dieser Räume besitzen nämlich ein statisches Wesen, da sie abstrakte Entitäten sind. 13 Damit stellt jeder der in diesen Räumen enthaltenen Punkte eine besondere Kombination derselben statischen Wesen dar. Die Besonderheit einer solchen Kombination besteht ausschließlich in quantitativen Unterschieden, da jeder Punkt zeigt, in welcher Quantität die Größen vorliegen, die von den Dimensionen des abstrakten Raumes repräsentiert werden. Die aus solchen Punkten bestehenden Trajektorien stellen also eine Sequenz von Kombinationen statischer Wesen dar. Jede einzelne dieser Kombinationen ist eine abstrakte Entität, deren Wesen vor und unabhängig vom Werden Siehe Punkt 1) vom Abschn. 3.2.a dieses Kapitels. Die Bedeutung, die dem Begriff ›Wirkursachen-Kausalität‹ in der vorliegenden Untersuchung zugewiesen wird, wurde im Abschn. 1.1.b.2 von Kap. II eingeführt. 13 Jede Dimension eines physikochemischen Zustandsraums repräsentiert eine physikochemische Universalie bzw. abstrakte Entität, z. B. eine Molekülsorte, der ein bestimmtes Wesen zukommt, das von dem in diesem Raum dargestellten Werden nicht variiert wird (siehe Abschn. 3.2.a.3 und 3.2.a.4 von Kap. II). 11 12
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Kurze Rekapitulation: Was auf prozessphilosophischem Weg erreicht wurde
besteht, da es als Kombination statischer Wesen ebenfalls statisch ist. Das Wesen der systemtheoretisch berechenbaren Ereignisse, die unter den Begriff ›Abläufe‹ subsummiert werden können, beharrt ebenfalls; es steht schon im Voraus fest und kann somit nicht vom Geschehen bestimmt werden. Deswegen kann die Kausalität von Abläufen in abstrakten Räumen erschöpfend dargestellt werden. 14 Dagegen verkörpert der Selbstvollzug eines Prozesses bzw. Aktes der Wesensbestimmung eine Logik, die diametral entgegengesetzt zur Logik der Abläufe steht. Auch wenn der Abschluss des Prozesses, d. h. seine Manifestation als materielles Element, als Punkt in einem Zustandsraum abgebildet werden kann, ist es nicht möglich, die kausalen Verhältnisse, die zu dieser Manifestation führen, in solchen Räumen abzubilden. Obwohl also die physische Seite der Embryogenese durch besondere Trajektorien abgebildet werden kann (vgl. Abb. 2.26 und 2.27), ist es nicht möglich, die mentale Seite der Prozesse, die den Organismus vor der Entgleisung bewahren, auf diese Weise darzustellen. Da diese Prozesse wesentlich in protomentalen subjektiven Erlebensakten bestehen, besitzen sie phänomenale Qualitäten (Qualia), die aus prinzipiellen Gründen in Zustandsräumen nicht darstellbar sind. Die protomentalen Erlebensakte entscheiden sich zwischen physikochemischen Möglichkeiten. Da diese Entscheidungen auf Wirkursachen nicht zurückführbar sind, müssen sie zweckursächlich-kausalen Faktoren zugeschrieben werden. Dies tue ich im prozessontologischen Sinne des Begriffs ›Zweckursache‹, auf den Bergsons Rede vom ›wahren Finalismus‹ abzielt 15 und auf dem Whiteheads zentraler Begriff der ›actual entity‹ aufgebaut ist. Die externe Realität, die der Prozess vorfindet und in der und mittels der er sich bestimmen muss, setzt ihm Grenzen. Der sich herauskristallisierende Prozess bestimmt allerdings selbst, was und wie in seine Wesensbestimmung integriert und was von ihr ausgeschlossen wird. Die Selbstbestimmung des eigenen Wesens ist zwar kein absoluter, aber dennoch ein autonomer Akt, da sie nicht von etwas schon in seinem Wesen Bestimmtem und von ihr Unabhängigem determiniert wird. In dem Maße, in dem ein Prozess die Faktoren generiert, die sein Wesen determinieren, treibt sein Werden sich selbst spontan an. Nur das aus dem Erleben der In der vorliegenden Untersuchung bezeichne ich als ›Ablauf‹ eine besondere Form des Werdens (siehe Abschn. 3.3.a von Kap. II). 15 Siehe Abschn. 1.5 von Kap. III. 14
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eigenen Handlungen unmittelbar erfahrene eigene Streben erlaubt uns, die Natur dieses Selbstantriebs intuitiv zu verstehen. Das liefert die Grundlage der vielleicht wichtigsten Intuition der Prozessmetaphysik: Ein gemeinsames Element aller Akte, die ihr Wesen bestimmen, besteht im Streben nach ihrer eigenen Vollendung. Da der Begriff des Strebens eine psychologische Dimension einführt, bleibt uns nichts anderes übrig, als das Streben solcher Akte als etwas Mentales zu verstehen. Die Selbstvollendung der schöpferischen Prozesse ist der höchste Zweck ihres final ausgerichteten Strebens. In diesem prozessmetaphysisch gedachten Sinne von ›Zweck‹ ist in der vorliegenden Untersuchung davon die Rede, dass die einen Organismus erzeugenden und bewahrenden Prozesse von Zweckursachen-Kausalität angetrieben und gesteuert werden. Jede Verwendung des Begriffs ›Streben‹, die keine metaphorische ›als ob‹-Reduktion dieses Begriffs toleriert, ist an Erlebensfähigkeit gebunden, weil jeder Akt des Strebens von einer phänomenalen Qualität begleitet wird. Etwas anzustreben bedeutet, von einem Verlangen danach angetrieben zu werden, was sich immer auf eine bestimmte Weise anfühlt. Deswegen muss jeder organismische Prozess als ein erlebendes Subjekt gedacht werden. Er ist, eine Aussage Whiteheads leicht variierend, ein Subjekt seiner eigenen Unmittelbarkeit. 16 Ausgehend von Bergsons Metaphysik habe ich den Organismus als ein Kontinuum von auseinander hervorgehenden (emanierenden) Ebenen der ›durée‹, die Ebenen zwecktätiger Subjekte sind, konzipiert. Ein Organismus kann also nicht nur als aus einer enormen Menge von Subjekten (Dauern) bestehend gedacht werden, sondern auch aus einer großen Menge von qualitativ verschiedenen Ebenen der Subjektivität. Die niedrigsten von ihnen beherbergen Prozesse, die sich als materielle Elemente manifestieren. In meiner Metaphysik des Organismus emanieren jedoch alle Ebenen aus einer organismischen ›durée‹, die so lange lebt, wie der organismische Leib am Leben bleibt (vgl. Abb. 3.2); dass diese ›durée‹ ihrerseits von langlebigeren Subjekten emanieren könnte, ist an dieser Stelle ohne Belang. Es ist also möglich, dem ganzen Organismus, obwohl er aus einer Unmenge von Subjekten (Dauern bzw. Prozessen) verschiedener Qualitäten hervorgebracht wird, ein einziges langlebiges Subjekt zuzuweisen. Aus der Perspektive Whiteheads ist der Organismus eine besondere Gesellschaft (›living society‹) von kurzlebigen Subjek16
Siehe Abschn. 2.2.a.1 von Kap. IV und PR 25/dt. 70 (Cat. XXIII Expl.).
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Kurze Rekapitulation: Was auf prozessphilosophischem Weg erreicht wurde
ten. Alle Organismen stellen eine mehr oder weniger kanalisierte Form der »wechselseitigen Konformität« (mutual conformity) solcher Subjekte dar (PR 107/dt. 207 f.). Aber nur tierische Organismen mit hochentwickelten Nervensystemen können zu einem Zeitpunkt von einem einzelnen zentralen Subjekt beherrscht werden, das viele andere sich im Organismus ereignende Subjekt-Prozesse in sich integriert. Sie werden in die mit Bewusstsein begabte Einheit aufgehoben, die dieser zentrale kurzlebige Prozess darstellt. Das Leben eines solchen tierischen Organismus wird von einer einzigen Sequenz solcher besonders reichhaltigen prozessualen Subjekte geleitet, deren Erfassungen des organismischen Körpers die Schwelle des Bewusstseins überschreiten. Whitehead bezeichnet solche Sequenzen kurzlebiger Subjekte als ›living persons‹. 17 Die Form der Subjektivität jedes organismischen Prozesses, ob er als ›durée‹ oder als ›living occasion‹ gedacht wird, ist eine Erlebenseinheit. Die Einheit seiner ›subjective forms‹, wird erst im Akt seiner Wesensbestimmung geschaffen. Die Formung der Erlebenseinheit der wirklichen Entität vollzieht sich hinsichtlich der Rolle, die sie in der organismischen Ganzheit spielen wird. Ihre Rolle hängt sowohl von der Auswahl des raumzeitlichen Ortes ihrer Manifestation als materielles Element innerhalb des Organismus als auch von der physischen Beschaffenheit dieses materiellen Elements ab. Eine organismische wirkliche Entität (›living occasion‹) kann ihre Rolle schöpferisch kreieren, weil die materielle Beschaffenheit des Organismus so beschaffen ist, dass seine Dynamik instabil ist. Denn nur eine instabile Dynamik lässt verschiedene mögliche Entwicklungen zu, 18 zwischen denen wirkliche Entitäten hohen protomentalen Reichtums sich entscheiden können.
1.3 Entwicklung und Selbsterhaltung des Organismus aus prozessmetaphysischer Perspektive Die Vertreter des biosystemischen Emergentismus erklären die Strukturbildung eines Lebewesens während seiner Embryogenese durch einen Attraktor, der in einem Zustandsraum enthalten ist. 19 17 18 19
Siehe Abschn. 3.4 von Kap. IV. Siehe Abschn. 1.1.d.2 von Kap. II. Siehe Abschn. 2.1.c von Kap. II und Abb. 2.26.
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Damit reduzieren sie die Entstehung organismischer Zweckmäßigkeit auf ausschließlich wirkursächlich-kausale Wechselwirkungen innerhalb des Organismus. Folglich widersprechen meine Reflexionen über die Grenzen des Erklärungspotentials der Wirkursachen-Kausalität in Bezug auf die organismische Dynamik dem Attraktor-Modell der Embryogenese. Alternativ nehme ich an, dass die in jedem Organismus, Vielzeller oder Einzeller, auftretenden Entgleisungen seiner Dynamik durch protomentale organismische Prozesse korrigiert werden. Andernfalls würden diese Entgleisungen zum Wachstum der Entropie des Organismus und somit zu seinem Zerfall führen. Die korrigierenden Prozesse erleben den materiellen Zustand des Lebewesens und somit die Richtung und Größe der beginnenden Entgleisung. Jeder Organismus verdankt also seine Selbsterhaltung und Entwicklung der kausal relevanten Innerlichkeit seiner Prozesse, mit der die physische Manifestation Letzterer korrespondiert. Unmittelbar nach der Entstehung der befruchteten Eizelle (Zygote) wird die Embryogenese jedes vielzelligen Organismus von der Innerlichkeit besonderer Prozesse geleitet, die sich in ihm vollziehen. Bezüglich der spezifischen Frage der Embryogenese und Selbsterhaltung des Organismus ist in der vorliegenden Untersuchung Folgendes erreicht worden: 1) Auf der Basis der Bergson’schen Ontologie konnte für jeden Organismus eine kontinuierliche Hierarchie ineinandergreifender Prozesse, deren niedrigere Ebenen aus den höheren hervorgehen, angenommen werden. Der wichtigste Ertrag dieses Zugangs ist, dass ein unteilbares zeitliches Kontinuum (›durée‹) als der entscheidendste kausale ontogenetische Faktor wirken kann: Bergsons Einsicht, dass »das Leben genauso verfährt wie das Bewusstsein, insbesondere das Gedächtnis« 20 habe ich dahingehend interpretiert, dass Genese und Selbsterhaltung des Organismus Leistungen eines besonderen Gedächtnisses sind, deren Inhalte zu einem großen Teil nicht in dem Leben des konkreten Organismus erworben sein können. Das gilt vor allem für die Embryogenese, die als Erinnerungsakt eines die individuelle Ontogenese transzendierenden meta-physischen Organismus gedacht wurde. 21 2) Im Lichte der Whitehead’schen Ontologie erscheint jeder Organismus als das Resultat einer enormen Zahl spontaner zwecktätiger 20 21
Siehe Abschn. 3.3 von Kap. III. Siehe Abschn. 3.5 von Kap. III.
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Organismische Zweckmäßigkeit als Resultat protomentaler Zwecktätigkeit
Subjekte bzw. Prozesse, die als ›living occasions‹ bezeichnet werden. Das auffälligste Merkmal dieses Zugangs ist die Betonung der enormen Wirksamkeit dieser sehr kurzlebigen individuellen Prozesse als kausale anti-entropische Faktoren im embryonalen und erwachsenen Organismus. Sie treffen biologisch sinnvolle Entscheidungen zwischen gleichwahrscheinlichen physikochemischen Möglichkeiten. Diese Vorstellung kann meines Erachtens der Quantenbiologie des neuen Jahrhunderts als philosophische Grundlage dienlich sein.
2.
Organismische Zweckmäßigkeit als Resultat protomentaler Zwecktätigkeit
Vor dem Hintergrund des Erreichten kann nun die am Ende des ersten Kapitels angekündigte prozessphilosophische Rekonzeptualisierung der genuin biologischen Idee der organismischen Zweckmäßigkeit vorgenommen werden. Wie schon gesagt, der Begriff ›Zweckmäßigkeit‹ bedeutet in der vorliegenden Schrift, dass die Vorgänge einer Ganzheit hochgradig aufeinander angepasst sind. 22 Zweckmäßige Ganzheiten weisen eine hohe raumzeitliche Kohärenz auf. Kohärent sind aber auch alle leblosen dissipativen Strukturen, deren Dynamik von der Selbstorganisationstheorie erklärt wird. Die Selbstorganisation dieser dynamischen Systeme beruht jedoch unabdingbar auf der scharfen Trennung zwischen dynamischen bzw. regulierten und statischen bzw. regulierenden Größen und der externen Setzung letzterer. Da diese Gebilde keine regulative Geschlossenheit, also keine echte Selbstorganisation aufweisen, ist ihre Kohärenz eine auf externe Ursachen angewiesene und somit eine extrinsische. Vor diesem Hintergrund kann nun der im ersten Kapitel als Synonym für ›organismische Zweckmäßigkeit‹ eingeführte Begriff ›innere Kohärenz‹ durch den Begriff intrinsische Kohärenz ersetzt werden. Diese kann also nur Organismen zugesprochen werden, weil sie die einzigen heute bekannten regulativ geschlossenen Ganzheiten sind.
22
Siehe Abschn. 1.3.a von Kap. I.
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2.1 Zwecktätigkeit ist nicht Zwecksetzung Wenn die im zweiten Kapitel dieser Untersuchung entfalteten Überlegungen richtig sind, können intrinsische Kohärenz nur diejenigen Ganzheiten aufweisen, in denen Zweckursachen die wichtigsten kausalen Faktoren sind. Damit stellt sich die Frage nach der Verbindung zwischen organismischer Zweckmäßigkeit und Teleologie. Wie Toepfer sagt, viele Autoren, z. B. Stegmüller (1969, 758), sehen einen notwendigen Zusammenhang zwischen Zwecken und einem zwecksetzenden Verstand oder Willen (Toepfer 2005a, 40). Damit knüpfen sie Teleologie an Intentionalität und somit an Bewusstsein an. Wie ich aber klargemacht habe, trifft dies keineswegs auf Aristoteles, 23 den Hauptgestalter des teleologischen Denkens in der Antike, und genauso wenig auf Leibniz, 24 Bergson 25 und Whitehead 26 zu. Die Naturphilosophien dieser Autoren fußen auf einem Verständnis von Zweckursache, für das folgende Unterscheidung zwischen Zwecksetzung und Zwecktätigkeit essentiell ist, die Barbara Muraca explizit trifft: »Zwecksetzung einerseits, im Sinne einer intentionalen Zielrichtung, die praktischer Handlung zugrunde liegt, die einen freien Willen und ein Bewußtsein impliziert; andererseits Zwecktätigkeit, als eine notwendige Bedingung für das Fortbestehen von Lebewesen, die zwar logische und zeitliche Antizipation und daher auch eine gewisse Unterscheidung zwischen Möglichem und Wirklichem impliziert, ohne jedoch die Feinheit eines menschlichen Geistes zu benötigen« (2007, 79 f.).
Wenn Whitehead von der antizipativen Tätigkeit des mentalen Poles der werdenden ›actual occasion‹ in Bezug auf zukünftige Prozesse spricht (PR 27/dt. 73), 27 tut er dies fast immer im eben eingeführten Sinne von Zwecktätigkeit. Denn nur eine verschwindend kleine Anzahl der weltlichen Prozesse erreicht die für intentionale Zwecksetzungen notwendige Schwelle des Bewusstseins. Zu Recht stellt Muraca fest, dass es sich bei der prozessontologischen Zwecktätigkeit um eine »Form der Kausalität [handelt], die in Vgl.: Physik II, 199b26–30. Siehe auch Abschn. 2.1 von Kap. I. Vgl.: 1996c, 594 (§ 4); 1998, 21 (§ 19). Siehe auch Abschn. 2.2.a.1 von Kap. IV. 25 Vgl.: SchE 86/Œuv. 532. Siehe auch Abschn. 1.5 von Kap. III. 26 Vgl.: PR 25, 53, 56, 139, 280/dt. 69, 115, 121, 264, 509; AI 180/dt. 332; FR 16, 32, 33/dt. 16, 30, 31. Siehe auch Abschn. 2.2.a.1 von Kap. IV. 27 Vgl. auch: TIME 243, AI 275 f., 192 f./dt. 479 f., 351 f. 23 24
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Organismische Zweckmäßigkeit als Resultat protomentaler Zwecktätigkeit
der Tat keine Analogie zu irgendeiner Kausalität hat, die wir auf der Basis unseres empirischen Erklärungszugangs kennen« (2007, 80; Einfügung von S. K.). Diese Form der Kausalität »geht über die auf Wechselwirkung zurückzuführende Zweckmäßigkeit hinaus« (ebenda), z. B. über die von Wirkursachen hervorgebrachte Zweckmäßigkeit von selbstorganisierten dynamischen Systemen, die nur extrinsisch kohärent sind.
2.2 Die Urkognition der organismischen Prozesse Aus meiner prozessphilosophischen Sicht, für die das Denken von Bergson und Whitehead gleichermaßen konstitutiv ist, ist die organismische Zweckmäßigkeit Resultat der internen Relationalität, bzw. gegenseitigen wesenhaften Durchdringbarkeit, von wirklichen Entitäten, die durch ihren Bezug aufeinander ihr Wesen bestimmen. Mit der Vollendung ihrer Wesensbestimmung manifestieren sie sich als ein oder mehrere raumzeitlich lokalisierte materielle Elemente im Leib eines Lebewesens. Echte Selbstorganisation ist nur deshalb möglich, weil die Organismen Ganzheiten sind, für deren Elemente gerade nicht zutrifft, was Empedokles lehrte: »Jedes hat seine eigene Wesensart« (Capelle 1968, 196 (Fragment 17)). Denn sie sind nicht in erster Linie aufeinander prallende Kräfte – nicht der Kampf der Teile ist der primäre Faktor organismischer Ordnung, wie einige Vorsokratiker dachten –, 28 sondern ineinandergreifende Erlebensakte, die mittels ihrer internen Relationen zueinander ihr eigenes Wesen überhaupt erst kreieren. Aufgrund des wesenhaften Ineinanders dieser nicht nur physischen, sondern – was hier von größter Bedeutung ist – auch mentalen Akte, können die Erfassungen der wirklichen Entitäten, die sich in einem Lebewesen ereignen, als urkognitive Akte des Erkennens betrachtet werden. Das kann zumindest für diejenigen Prozesse angenommen werden, die von größerer mentaler Reichhaltigkeit sind, unabhängig davon ob sie als kurzlebige ›living occasions‹ (Abb. 4.6) oder langanhaltende Dauern (Abb. 3.2) gedacht werden. Hier ist die Rede von ›Erkennen‹ und später von ›Selbstkenntnis‹ und ›Selbsterkenntnis‹ in einem besonderen Sinne der Begriffe ›Erkenntnis‹ und ›Kenntnis‹, der nicht mit ihrer philosophischen Bedeutung 28
Siehe Abschn. 2.1 von Kap. I.
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gleichgesetzt werden darf, die an der Idee des begrifflich artikulierbaren Wissens geknüpft ist. Sie werden in einem Sinne verwendet, der in etwa der Neurophysiologie entspricht, in der unter ›Erkenntnis‹ ein Vermögen gemeint ist, verschiedene Wahrnehmungsinhalte zu einem einheitlichen Erlebensakt zu integrieren, der eine konkrete individuelle phänomenale Qualität (Quale) aufweist, die für das Subjekt Bedeutung hat. Durch ihr eigenes Werden widerspiegelt jede wirkliche Entität eines Organismus den ganzen Organismus, da sie ihr eigenes Wesen durch interne Relationen zu anderen innerorganismischen wirklichen Entitäten bestimmt. Sie reflektiert den Organismus mental und physisch: Sie widerspiegelt ihn mental in ihrem Erleben und physisch durch die materielle Beschaffenheit und raumzeitliche Position ihrer Manifestation im Organismus. Die Teile erkennen das Ganze auf die für ihre Begrenztheit bestmögliche Weise: Innerorganismische Prozesse erkennen durch ihr eigenes Werden die Erkenntnisakte anderer von ihnen erfasster Prozesse – in der Sprache Whiteheads: Sie »fühlen die Fühlungen« der anderen. 29 Diese Idee kann durch die Whitehead’sche Metaphysik einen genaueren Ausdruck bekommen: Die zweite Phase der ›concrescence‹, die bei nicht trivialen ›actual occasions‹ entscheidend ist, zeichnet sich durch verschiedene Arten begrifflicher Prehensionen aus. Die in der ersten Phase der ›concrescence‹ erfassten Fakten werden in ein ›eternal object‹ ›übersetzt‹, das in der kreativen zweiten Phase des Prozesses transformiert werden kann. Die Ersetzung des prehendierten raumzeitlichen Datums durch eine universelle abstrakte Entität (›eternal object‹) und die Unterwerfung Letzterer einer Bearbeitung, die für die Wesensbestimmung des erfassenden Prozesses konstitutiv ist, erlaubt, von einer Subjekt-Objekt-Beziehung auszugehen, in der das Objekt als ein Anderes erfahren wird, das aber zugleich zum Wesen des Subjekts gehört. Diese spannungsvolle Verbindung von Bezogenheit und Abgrenzung, die freilich unendlich viele Formen anneh-
In einigen höchst entwickelten Denkprozessen wird das abschließende (superjektive) zusammengesetzte ›eternal object‹ des erfassten Prozesses als solches, d. h. als abstrakte Entität, von dem erfassenden Prozess wiederum begrifflich erfasst (›conceptual prehension‹). In diesem Fall, der bewusste Subjektivität sowohl des Subjekts als auch des Objekts voraussetzt, werden die begrifflichen Mittel des Anderen ihrerseits begrifflich erfasst. Aber nicht erst in einem solchen Fall bewusster Unterscheidung eines vom Anderen gemachten Unterschieds kann die Rede von ›Erkenntnis‹ sein.
29
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Organismische Zweckmäßigkeit als Resultat protomentaler Zwecktätigkeit
men kann, vom animalischen Begehren bis zur rein kontemplativen Schau, ist essentiell für Akte, denen Erkenntnis – nicht nur im engeren sondern auch im weiteren hier eingeführten Sinne dieses Ausdrucks – zugesprochen wird. Dieser Begriff sagt generell aus, dass eine wirkliche Entität, die nicht von Wirkursachen angetrieben wird, sich auf andere Entitäten, wirkliche und abstrakte, auf eine Weise bezieht, die der Beschaffenheit dieser entspricht. Wer z. B. den Stein durch geometrische Ideen und ohne Meißel zu schnitzen versucht, hat sein Wesen genauso wenig erkannt, wie derjenige, der die Idee des Dreiecks spalten will. Die Adäquatheit des Bezugs hängt natürlich vom Ziel des Akteurs ab, womit Erkenntnis immer Zwecktätigkeit voraussetzt. Diese kann aber jeder ›actual entity‹ insofern zugesprochen werden, als dass sie mindestens nach einem Ziel strebt: nach ihrer eigenen Wesensbestimmung als Beitrag zur Konstitution ihres physischen Kontextes (Superjektivität des Prozesses). Für viele ›actual entities‹, die sich in Lebewesen ereignen – allem voran für die ›living occasions‹ –, ist offensichtlich, dass der Schwerpunkt ihrer ›concrescence‹ nicht in der ersten (aufnehmenden) Phase besteht, sondern vor allem in der zweiten, in der sie die erfassten Fakten transformieren, um sie in ihr eigenes Werden integrieren zu können. Da dies wegen der Vielschichtigkeit eines solchen Prozesses nicht automatisch garantiert ist, sondern sich auch auf eine nicht zuträgliche Weise vollziehen kann, gibt es einen zusätzlichen Grund, von der Erkenntnisaktivität dieser vielschichtigen biologischen Prozesse zu reden. Denn anders als Ereignisse, die von Wirkursachen oder ihnen externen Zweckursachen eindeutig determiniert werden, können Erkenntnisakte auch fehlschlagen. Wenn der Organismus als eine Gesellschaft proto- bzw. urkognitiver Subjekte gedacht wird, die danach streben, sich gegenseitig zu erkennen, muss ›Zweckmäßigkeit‹ mehr als bloße Angepasstheit der Teile zueinander bedeuten. ›Intrinsische Kohärenz‹ besagt dann wesentlich mehr als die Existenz eines zweckursächlich-kausalen Gefüges, das seine Dynamik selbst reguliert. Die ›Selbsttätigkeit‹ des Organismus – die ›Autoergasie‹, von der Wilhelm Roux sprach (1914, 10) – ist, anders als er dachte, eine kognitive Leistung. Die mentale Seite der Embryogenese des zweckmäßigen oder intrinsisch kohärenten Ganzen besteht in der Bereicherung des Geflechts der protomentalen Erkenntnisrelationen zwischen seinen Teilprozessen, d. h. in der Erhöhung der Anzahl dieser Relationen. Die Struktur des Geflechts der aufeinander bezogenen urkognitiven Subjekte des Organismus 655 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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gleicht einem wachsenden und zunehmend sich selbst mäandernden Ornament. Letztlich kann mein Verständnis von echter Selbstorganisation durch eine Aktualisierung eines von Kant bereits in der Kritik der Urteilskraft festgehaltenen Gedankens veranschaulicht werden: Eine Ganzheit wird ein »organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen […] genannt werden können«, wenn »[i]n einem solchen Produkte der Natur […] jeder Teil, so, wie er nur durch alle übrige da ist, auch als um der andern und des Ganzen willen existierend […] als ein die andern Teile (folglich jeder den anderen wechselseitig)« protomental erkennendes und dadurch »hervorbringendes Organ« ist. Mit anderen Worten: »Ein organisiertes Produkt der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel« der protokognitiven Erkenntnis ist – das ist echte Selbstorganisation. »Nichts in ihm ist umsonst, zwecklos, oder einem blinden Naturmechanism zuzuschreiben«. 30
3.
Ausblick
Der Abschluss dieser Untersuchung soll in neue Felder der prozessmetaphysischen und biophilosophischen Spekulation führen. Nach dem Entwurf einer möglichen Synthese der Prozessphilosophien von Bergson und Whitehead werde ich das doppelte Wagnis auf mich nehmen, auf der Basis dieses Entwurfs zwei Themenkreise zu eröffnen, die Gegenstände zukünftiger Reflektionen werden sollen. Zuerst werde ich die Idee der urkognitiven Zwecktätigkeit organismischer Prozesse zu einer Konzeption des Organismus als eine sich selbst erkennende Ganzheit erweitern und auf dieser Basis versuchen, einer biophilosophischen Intuition vom Wesen der Entropie des Lebendigen Ausdruck zu verschaffen. Im Anschluss werde ich die vorliegende Untersuchung in einen Versuch über die Prozessualisierung von Universalien und der damit zusammenhängenden Möglichkeit kosmischer ›Sprachen‹ ausklingen lassen.
30 Diese Zitate wurden den Paragraphen 65 und 66 der Kritik der Urteilskraft entnommen.
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Ausblick
3.1 Auf der Suche nach einer neuen Prozessphilosophie Im Laufe des vieljährigen Verfassens und Revidierens dieser Monographie nahm der Umriss einer Synthese der Prozessphilosophien Bergsons und Whiteheads zunehmend vor meinen Augen Gestalt an. Diese Skizze stellt meinen vorläufigen Versuch dar, die Einseitigkeiten der beiden Denker, von denen schon am Ende der entsprechenden Kapitel berichtet wurde, zu beseitigen. Beide Gedankenschemata sind sehr kohärent, sodass sie sich nicht einfach gegenseitig ergänzen können. Sie müssen in einer neuen Prozessphilosophie aufgehen. Abschließend seien also einige Grundideen dieser noch zu schaffenden Prozessphilosophie skizziert. 3.1.a
Das Denken der Ontogenese als echte Selbstorganisation benötigt die Verbindung von Prehensivität und Emanativität
Diese Synthese verfolgt ein zentrales Ziel: die Gleichberechtigung des Moments der doppelten Kontinuität 31 (den Bergson meisterhaft erfasst hat) mit dem Moment der Individualität bzw. Atomizität (dem Whitehead das Primat zugesprochen hat). Dies verlangt nach einer Verbindung von Bergson’scher Emanativität und Whitehead’scher Prehensivität. Auf dieser Basis könnten drei Erweiterungen der zu verbindenden Metaphysiken der beiden Denker in Angriff genommen werden: 1) Eine ›durée‹ kann Dauern niedrigerer innerer Spannung bzw. Tension aus sich emanieren lassen und sie zugleich erfassen (prehendieren). Sie erfasst die Dauern niedrigerer Tension, die aus ihr emanieren, um durch die Partizipation an den Erfahrungen dieser Dauern ihre eigene Wesensbestimmung (gemeint ist die Wesensbestimmung der höheren ›durée‹) voranzutreiben. 2) Die zweite Erweiterung ist deswegen unerlässlich, weil die Whitehead’sche Prozessphilosophie in einer für das Verständnis des Lebendigen absolut essentiellen Hinsicht hinter die Konzeption der ›technischen‹ bzw. ›schwachen‹ Selbstorganisation der Physik zurückzufallen droht: Der Gedanke der Selbstorganisation, sowohl der originäre Kantische als auch der systemtheoretisch-physikalische, ist
Darunter ist sowohl die Unteilbarkeit der ›horizontalen‹ Zeitlichkeit als auch der ›vertikalen‹ Emanation zu verstehen (vgl. Abb. 3.2).
31
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unlösbar an die Kooperation einer großen Zahl von wirklichen Entitäten gebunden. Es sei daran erinnert, dass von der Selbstorganisation eines Systems nur dann die Rede sein darf, wenn die Abnahme seiner Entropie nicht primär auf das Wirken einer einzigen Entität, die unterschiedlichster Natur sein kann (externer Gestalter, inneres Programm usw.), 32 zurückzuführen ist. Dagegen könnte eingewendet werden, dass in der Metaphysik Whiteheads der Einfluss Gottes zwar unverzichtbar ist, dass aber den weltlichen ›actual entities‹, die an einer organismischen Ontogenese beteiligt sind, eine ebenfalls konstitutive Rolle zukommt, da sie durch die Bestimmung ihres eigenen Wesens, die in sich aufgenommenen Wirkungen Gottes autonom transformieren. Es sei also nicht eine einzige wirkliche Entität, die das ontogenetische Werden steuert, wie die Aristotelisch konzipierte Seele. Dem kann dennoch entgegengehalten werden, dass Gott – neben anderen Einflussnahmen – den werdenden Prozessen ihre zu prehendierende Umwelt (ihre ›actual worlds‹) innerhalb des Lebewesens vermittelt, womit er der alleinige Faktor ist, der sie überhaupt aufeinander bezieht bzw. miteinander genetisch verbindet. Um von einer prozessphilosophisch konzipierten echten Selbstorganisation reden zu können, muss also die enorme Asymmetrie, die momentan zugunsten der göttlichen ›actual entity‹ besteht, korrigiert werden. Zu diesem Zweck postuliere ich bezüglich jedes Organismus einen langlebigen Prozess, der länger als der physisch manifeste Teil des Organismus dauert (er dauert im Sinne von ›durée‹) und die Rolle übernimmt, die Gott in der Metaphysik Whiteheads hat: Er initiiert die ›concrescence‹ von Prozessen niedrigerer Tension der Dauer, indem er ihnen das ›initial aim‹ zur Verfügung stellt. Dasselbe wird aber in jeder Ebene der Tension bezüglich der ihr unmittelbar folgenden Ebene niedrigerer Tension stattfinden. Jeder Prozess übernimmt für die weniger kreativen Prozesse, die aus ihm emanieren, die Rolle des Whitehead’schen Gottes. Dies gilt bis die letzte Stufe physischer Existenz erreicht ist, die vielleicht in vakuonischen Quantenereignissen der Planck-Skala 33 besteht. 3) Durch die Existenz eines Kontinuums der Emanation immer kurzlebigerer Prozesse wird es im Lebewesen eine Vielzahl von EbeSiehe Abschn. 1.1 von Kap. II. Mit dem Ausdruck ›Planck-Skala‹ werden die raumzeitlichen Größenordnungen beschrieben, die die Grenze der Anwendbarkeit der Gesetze der Physik markieren: 10 –43 sec und 10 –35 m.
32 33
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nen der Tension der Dauer, 34 d. h. der Intensität schöpferischer Aktivität geben: Ebenen der Organe, Zellen, Zellorganellen, ›living occasions‹, molekularer, atomarer und elementarerer ›actual occasions‹. Prehensive Verbindungen gibt es innerhalb jeder dieser Ebenen, aber auch quer durch die Ebenen hindurch. So wie der Whitehead’sche Gott alle weltlichen Prozesse prehendiert und diese wiederum Gott prehendieren, wird auch in der hier skizzierten neuen Prozessmetaphysik angenommen, dass ›höhere‹ Prozesse die aus ihnen hervorgehenden ›niedrigeren‹ prehendieren und von diesen prehendiert werden. Somit entstehen Kreisläufe der wesenhaften Interdependenz der an ein konkretes Lebewesen gebundenen Prozesse. Die echte Selbstorganisation des Organismus resultiert also aus der prehensiven Verbindung sowohl von Prozessen bzw. Dauern, die sich in derselben Ebene des Kontinuums der Emanation entfalten (z. B. Zellen erfassen Zellen), als auch von Prozessen, die Ebenen verschiedener ›Höhe‹ dieses Kontinuums ›bewohnen‹ (z. B. Zellen erfassen innerzelluläre Prozesse und umgekehrt). Nur dank dieser Verbindung zwischen Ebenen verschiedenster Kreativität und Langlebigkeit – deren Mitglieder von einer bestimmten ›Höhe‹ aufwärts zunehmend weniger an einem bestimmten physisch präsenten Lebewesen unlösbar gebunden sind 35 – kann die Embryogenese eine Gestalt hervorbringen, die arttypisch ist. Trotz der Bindung der Embryogenese an ein vor der Konzeption des Embryos existierendes Gedächtnis ist sie keine Wiederholung der Vergangenheit, kein Kopieren einer früheren Gestalt, sondern ein Versuch, die Vergangenheit kreativ fortzusetzen. Eine überindividuelle ›durée‹, die sich über mehrere einzelne Leben von konkreten Lebewesen einer Art erstreckt, aktualisiert sich immer wieder nacheinander als organismische Körper bzw. Leiber, die aufgrund ihrer gemeinsamen Herkunft von dieser ›durée‹ sehr ähnlich sind, aber auch ihre eigene Besonderheit entfalten. Denn diese Inkarnationen oder Verleiblichungen der überindividuellen ›durée‹ sind nichts als Versuche dieser ›durée‹, ihr eigenes Wesen zu bestimmen. Das setzt die Aufarbeitung ihrer Vergangenheit voraus, da diese keine Vergangenheit im üblichen Sinne dieses Wortes ist, sondern Gewesenheit. 36 Siehe Abb. 3.2. Gemeint sind alle überindividuellen Dauern, die in der Abbildung 3.2 höher stehen als die höchste Dauer des physisch manifesten Lebewesens. 36 Siehe Abschn. 1.3.b von Kap. III. 34 35
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Das Mit- und Ineinander aller an einem physisch präsenten Lebewesen beteiligten Prozesse ist eine echte Selbstorganisation. Sie kreiert Neues, um den Inhalten eines vor diesem Lebewesen existierenden überindividuellen Prozesses eine neue Bedeutung zu geben, die dieser Prozess nach dem Tod des konkreten Lebewesens weiter transformieren wird. Die ›durée‹, die dieser Prozess ist, emaniert als die sich selbst organisierende Ontogenese. Die arttypische Gestalt letzterer verdankt sich dem Gedächtnis des überindividuellen Prozesses. Denn, wie jede ›durée‹, hat auch dieser Prozess ein Gedächtnis. Die Verbindung von Emanativität und Prehensivität kann auch der Beseitigung auffälliger Schwächen der Whitehead’schen Metaphysik förderlich sein. Einerseits kann so die erlebte Kontinuität menschlicher Subjektivität von der Zerteilung in stroboskopische Zeitatome, die ›zusammengenäht‹ werden müssen, bewahrt werden. 37 Andererseits kann auf diesem Weg das enorme Ungleichgewicht zwischen der göttlichen ›actual entity‹ und den vielen sehr kurzlebigen Bewusstseinsprozessen vermieden werden. Diese Verbindung erlaubt, einen Bereich meta-physischer wirklich Seiender zwischen der göttlichen ›durée‹ und der höchsten Dauer unseres Lebens anzunehmen. Ganz nach dem Vorbild des Whitehead’schen Verständnisses von Gott ist dieser Bereich nicht als Schöpfer der Kreaturen nach einem statisch-hierarchischen Plan zu denken. Er ist ein ›Ort‹ durchgehender, ausnahmsloser Transformation aller Seienden, wirklicher und abstrakter, in dem kein Plan von ewigem Bestand ist. Ein solcher Viele-Ebenen-Panentheismus, der konsequenterweise auch von der allmählichen Entstehung und Transformation der Ebenen-Hierarchie ausgehen muss, könnte den Dialog zwischen dem westlichen Monotheismus und dem ost-, südost- und südasiatischen Polytheismus sowie auch einigen naturreligiösen Richtungen (Schamanismus) erleichtern.
3.2 Organismische Selbstkenntnis – Umriss einer Erweiterung der metaphysischen Definition des Organismus Die zu Beginn der vorliegenden Untersuchung geleistete Darstellung der historischen Entwicklung des Organismus-Begriffes kulminierte in folgender Feststellung: In der Theorie des Organismus hat der im 37
Siehe Abschn. 4 von Kap. IV.
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Zentrum des systemtheoretischen Physikalismus des reifen 20. Jahrhunderts (Selbstorganisationstheorie) stehende Begriff der Entropie das Primat vor dem Begriff der Zweckmäßigkeit, der genuin biologisch ist, errungen. 38 Diese Entwicklung erreicht ihren bisherigen Höhepunkt in der hochgradig reduktionistischen Überzeugung, dass Lebewesen, Ökosysteme und die gesamte Evolution der Biosphäre, in erster Linie Mittel der Entwertung energetischer Gradienten, d. h. der Entropieproduktion, sind. 39 Solche Vorstellungen sind lediglich eine Spätfolge der Verschiebung des Interesses von der organismischen Ganzheit zur Zelle und ihren Organellen und später zum Gen und Molekül, denn damit musste der Sinn für die Zweckmäßigkeit der Organismen und der aus ihnen bestehenden Ganzheiten notwendig verloren gehen. Die Erklärung der Anpassung der organismischen Elemente aufeinander durch blinde Interaktionen einer Unmenge einfacher materieller Elemente, und die damit zusammenhängende Unterordnung der Zweckmäßigkeit unter die statistische Größe der Entropie und die Idee des dynamischen Systems, entspricht dem Wesen der physikalischen Betrachtungsweise. Es ist Zeit, den Faden dieser biophilosophisch essentiellen Diskussion wieder aufzunehmen. Auf der Basis der in diesem Kapitel entfalteten Gedanken über die Zweckmäßigkeit des Organismus kann Letztere nicht mehr als etwas angesehen werden, das mit den Mitteln des biosystemischen Emergentismus erklärbar ist. Sie ist nicht das Ergebnis von Wechselwirkungen materieller Elemente und somit etwas Abgeleitetes. Im Gegenteil, die organismische Zweckmäßigkeit ist etwas Primäres, das die Anpassung der miteinander zusammenhängenden materiellen Elemente begründet. Die Prozesse des Organismus, unabhängig davon ob sie als Dauern oder ›actual occasions‹ bzw. ›living occasions‹ gedacht werden, sind kreative zwecktätige Subjekte, die durch ihre gegenseitige wesenhafte Durchdringung (Ordnung des wesenhaften Ineinanders) 40 ihr Wesen bestimmen. Sie konstituieren ihre eigene Natur so, dass sie zur Konstitution der Natur anderer Prozesse der organismischen Ganzheit unterstützend beitragen, die sich in der unmittelbaren bzw. ferneren Zukunft in ihrer Nähe oder weit weg von ihnen vollziehen werden. Mit anderen Worten, die innerorganismischen Prozesse antizipieren zukünftige ihnen 38 39 40
Siehe Abschn. 3 von Kap. I. Siehe Abschn. 2.2.b von Kap. II. Siehe Abschn. 1 von Kap. III.
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räumlich nahe oder ferne Prozesse, und somit zukünftige Zustände des Organismus. In ihrer Verräumlichung zu materiellen Elementen sind andere materielle Elemente antizipiert, die Resultate zukünftiger räumlich naher oder ferner Verräumlichungen sein werden. Zukünftige Prozesse können die Erfolgschancen der antizipatorischen Leistungen ihrer Vorläufer erhöhen, wenn sie auf ihre Vorläufer irgendwie vorbereitet sind, d. h. mit ihnen durch eine Erinnerungsleistung verbunden sind. Was sich hier und jetzt physisch manifestiert bzw. sich verräumlicht, leitet etwas ein, das sich zukünftig hier oder wo anders manifestieren wird (Antizipation). Gleichzeitig vollendet es aber auch etwas, das sich hier oder wo anders schon manifestiert hat (Erinnerung). Dies ist nur dann möglich, wenn sowohl die antizipierenden als auch die antizipierten Prozesse an einem Prozess teilhaben, dessen ›durée‹ langlebig genug ist, um beide kurzlebigere wirklich Seiende in sich zu enthalten. Das Zukünftige erinnert sich an etwas, das nicht mehr physisch manifest ist, wenn beide aus derselben ›durée‹ hervorgehen, in der letzteres als ein Gewesenes enthalten ist. 41 Es ist also das Gedächtnis einer ›durée‹ höherer innerer Spannung (Tension), das dem antizipierten Prozess niedrigerer Spannung ermöglicht, die um dessen Willen vollbrachte antizipatorische Leistung seines Vorläufers adäquat zu vervollständigen und somit zu ihrem Erfolg beizutragen. Beide zeitlich voneinander getrennten Prozesse bzw. Dauern müssen Emanationen der höheren ›durée‹ sein. Letztere prehendiert beide Prozesse und wird von ihnen ebenfalls prehendiert. So stattet die höhere ›durée‹ (z. B. einer Zelle) den späteren der beiden Prozesse (z. B. eine innerzelluläre ›durée‹) mit einem ›initial aim‹ aus, in dem das Wesen des früheren, ihn antizipierenden Prozesses (z. B. einer anderen innerzellulären ›durée‹) eine konstitutive Rolle spielt. Auf ähnliche Weise kommt auch die antizipatorische Leistung zustande: Die höhere ›durée‹ (z. B. einer Zelle) hat ein vages ›Vorgefühl‹ ihrer eigenen Zukunft, da sie sich selbst in diese wirft. Sie ahnt vage das Wesen der Prozesse, die in der Zukunft aus ihr emanieren werden. Die höhere ›durée‹ kann somit die ›initial aims‹ der Vorläufer fernerer zukünftiger Prozesse auf diese Prozesse anpassen (Antizipation). In einer intrinsisch kohärenten Ganzheit sind alle raumzeitlich nahen und fernen Prozesse, die sich als materielle EleAn dieser Stelle ist der im Abschn. 1.3.b von Kap. III eingeführte Begriff der Gewesenheit wichtig.
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mente verräumlichen, durch ein von Antizipation und Erinnerung getragenes instinktives ›Wissen‹ miteinander verbunden, das in einem protomentalen Gedächtnis verwurzelt ist. Die Zusammenarbeit von Antizipation und Erinnerung dient dem Ziel der möglichst perfekten Anpassung aller organismischen Prozesse aufeinander, also dem Ziel der Errichtung eines Organismus hoher Zweckmäßigkeit. Der Selbstvollzug jedes innerorganismischen Prozesses findet durch die sein Wesen stiftende Teilhabe an der aktuellen Beschaffenheit des Organismus statt, dessen Teil er ist; dies geschieht aber immer im Hinblick auf die Zukunft dieses Organismus und bezogen auf seine (des Organismus) Vergangenheit. Die organismische Zweckmäßigkeit ist also die primäre logische Ursache der Wesensbestimmung der innerorganismischen Prozesse und beeinflusst notwendig auch ihre Manifestation als innerorganismische materielle Elemente. Sie ist nicht nur in logischer, sondern auch in zeitlicher Hinsicht erste Ursache des Organismus, da dieser immer aus einem oder zwei Organismen hervorgeht, die vor ihm dieselbe Logik der Zweckmäßigkeit verkörpern. Die Logik zweckmäßiger Relationalität ist in jedem einzelligen Lebewesen und jeder befruchteten Eizelle verkörpert – genauer: verleiblicht. Sie überträgt sich auf alle Zellen, die aus der Ursprungszelle (durch Teilung) hervorgehen, weil sie in dieser antizipiert sind. Während der Embryogenese des vielzelligen Lebewesens wächst eine sich zunehmend vernetzende und verzweigende Struktur der gegenseitigen Bezogenheit von nicht immer gleichzeitig existierenden Subjekten. Diese Struktur differenziert sich zu einem wachsenden und sich verdichtenden Geflecht von Erkenntnisrelationen der durch Antizipation und Erinnerung aufeinander bezogenen Subjekte, von denen viele während verschiedener Entwicklungsstadien der Embryogenese existieren. Natürlich handelt es sich dabei, wie oben klargestellt, nicht um eine begrifflich oder sinnlich-kognitiv vermittelte Erkenntnis, sondern um eine protomentale Einfühlung, die ausgehend von einem Gedanken Bergsons als Protoinstinkt bezeichnet werden könnte: Bergsons Intuition über die Kontinuität des animalischen Instinkts mit der Zelle – »[s]o verschmilzt der Instinkt, der in der Biene lebt, mit der Kraft, die in der Zelle lebt, oder setzt sie nur fort« (SchE 193 f./Œuv. 636) 42 – erfasst die Wesensverwandtschaft der innerorganismischen Erkenntnisakte mit den organismischen Instinkten. In diesem besonderen Sinne von protoinstinktiver Erkenntnis kann die 42
Siehe Abschn. 3.5.a von Kap. III.
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Rede davon sein, dass jeder Organismus ein Geflecht von sich gegenseitig erkennenden Subjekten bzw. Dauern – z. B. von Zellorganellen, Zellen und Organen, von denen viele nicht gleichzeitig existieren – und somit ein sich selbst erkennendes Ganzes ist. Die eben entfalteten Gedanken liefern nicht mehr als eine erste Skizze einer zukünftigen Erweiterung der oben vorgestellten metaphysischen Definition des Organismus. 43 Sie sind allerdings nicht rein spekulativ. Sie beruhen teilweise auf der mehr als dreißigjährigen experimentellen und theoretischen Forschung der österreichischen Biologen Gernot und Renate Falkner, die die antizipativen Fähigkeiten und das Gedächtnisvermögen einfachster Organismen (Cyanobakterien) belegt (2014). 44 Der eben vorgestellte Entwurf stellt also auch einen ersten Versuch dar, diesem gesicherten biologischen Wissen ein neues prozessphilosophisches Fundament zu verleihen. Von der Selbstkenntnis des Organismus kann nur dann die Rede sein, wenn der gesamte Organismus ein langlebiges Subjekt ist. Als organismisches Subjekt bezeichne ich die ›durée‹, deren Lebenslänge mit dem Leben des Organismus, d. h. mit der Existenz des physischen Leibes zusammenfällt. 45 Nicht alle der sich gegenseitig erkennenden innerorganismischen Subjekte können auch sich selbst erkennen. Denn Langlebigkeit ist eine notwendige Bedingung von Selbsterkenntnis, selbst wenn diese eine protomental-urkognitive ist. Als sich selbst erkennende Subjekte kommen folgende in Frage: erstens die innerorganismischen Dauern der Zellorganellen und Zellen, deren innere Spannung oder Tension deutlich höher als die der mikrophysikalischen Prozesse ist, 46 zweitens das organismische Subjekt und drittens die höheren überindividuellen Dauern (vgl. Abb. 3.2). Sie erkennen sich selbst durch ihre prehensive Teilhabe an den aus ihnen emanierenden Dauern, die raumzeitlich begrenztere organismische Prozesse sind. Die enorme Anzahl innerorganismischer Perspektiven der aufeinander bezogenen Prozesse verschiedenster Ebenen der Tension der Dauer kann mit einer Unmenge sich gegenseitig Siehe Abschnitt 1.2 dieses Kapitels. Vgl. auch: Falkner, Priewasser, Falkner 2006; Falkner, Wagner, Falkner 1996. 45 Das organismische Subjekt ist die höchste Dauer des physisch manifesten Lebewesens der Abbildung 3.2. 46 Siehe Abb. 3.2. Innerorganismische Dauern, die nicht wesentlich höher als die Ebene der Quantenprozesse stehen, sind viel zu kurzlebig, dass ihnen das Vermögen einer noch so protomentalen Selbsterkenntnis zugesprochen werden könnte. 43 44
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betrachtender großer und kleiner, lang- und kurzlebiger ›Augen‹ verglichen werden. Dabei bilden diese ›Augen‹ ihre eigene ›Sehfähigkeit‹ und Gestalt in Abhängigkeit von den von ihnen ›gesehenen‹ Inhalten. Das organismische Subjekt partizipiert durch seine Prehensionen nicht nur an den überindividuellen Dauern, sondern auch an den Erlebnissen der aus ihm emanierenden Teilprozesse und integriert sie wieder zu einer Einheit, die für seine eigene Wesensbestimmung essentiell ist. Die Ontogenese eines vielzelligen Lebewesens ist Ausdruck der Erhöhung der Selbstkenntnis des organismischen Subjekts, das die mentale Seite des lebendigen Körpers darstellt. Dasselbe trifft auch für das Werden eines Einzellers zu, wenn auch in einem viel geringeren Grade. Selbst das einfachste Lebewesen verwirklicht, wenn auch auf einem noch so urkognitiven Niveau, den Sokratischen Imperativ des γνῶθι σ᾽ αὐτόν. 47 Die eben verwendete ›Augen‹-Metapher könnte den falschen Eindruck erwecken, dass die organismische Selbsterkenntnis durch eine ›Innenschau‹ der höheren Dauern verwirklicht wird, die die aus ihnen emanierten kurzlebigeren innerorganismischen Prozesse prehendieren (von denen die höheren Dauern ihrerseits ebenfalls prehendiert werden). In diesem Zusammenhang ist eine von Fetz vorgeschlagene Definition des Organismus hilfreich: »Ein ›Organismus‹ ist eine individuelle Einheit, die konstitutiv auf andere solche Einheiten bezogen ist« (1980, 79). 48
Ich interpretiere die konstitutive Bezogenheit des Organismus dahingehend, dass die Einheit sich durch ihren Bezug selbst konstituiert, um den anderen ihr ähnlichen Einheiten, auf die sie sich bezieht, d. h. anderen Organismen (die auch unterschiedlichen Arten angehören können), zu ermöglichen, sich selbst zu konstituieren. Im Rahmen der hier skizzierten Erweiterung meines prozessmetaphysischen Organismus-Verständnisses wird die Selbstkonstitution des Organismus immer auch als ein Akt der Selbsterkenntnis verstanden. Die innerhalb des Organismus emanierten Dauern (z. B. Zellen) steigern ihre eigene Selbstkenntnis nicht nur durch die Prehension ihrer Teilprozesse (z. B. wenn eine Zelle ihre Zellorganellen und ihre bio-
»Erkenne Dich selbst«. Auch wenn Fetz sich an dieser Stelle auf die ›Organismen‹ Whiteheads, also auf die ›actual occasions‹ bezieht, kann diese Definition auch auf biologische Organismen erweitert werden.
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chemischen und mikrophysikalischen Prozesse erfasst), sondern auch durch die protoinstinktive Prehension (Urkognition) anderer protomentaler innerorganismischer Prozesse, die ihre Umwelt bilden (z. B. die Zelle erfasst andere Zellen des Organismus). Ähnlich ist die Selbstkenntnis des organismischen Subjekts nicht nur auf die Prehension der innerorganismischen Dauern (z. B. seiner Zellen), sondern notwendig auch auf die kognitive und instinktive Aufnahme seiner Umwelt angewiesen: der Pflanzen, Tiere, Farben, Geräusche und Gerüche, die für es Bedeutung tragen, wenn es sich um ein Tier handelt. Der zweckmäßige Aufbau eines tierischen oder menschlichen Nervensystems, um nur ein Beispiel zu nennen, verlangt schon während der Embryogenese einen permanenten und intensiven zwecktätigen Kontakt mit seiner mütterlichen Umwelt. 49 Für alle Organismen gilt: keine Selbstkenntnis ohne Umwelt. Der durch die Sinnesorgane oder anderweitig vermittelte Bezug auf andere Organismen und Bestandteile der Umwelt wird nicht nur in die Selbstkenntnis des organismischen Subjekts, sondern auch der höheren Dauern, aus denen dieses emaniert, einbezogen. Die Selbstkenntnis der überindividuellen Dauern, einschließlich derer aus denen wir selbst emanieren, ist natürlich eine, die wir nicht analysieren können, da wir Prozesse einer anderen Ebene des Seins sind. Das Werden dieser Dauern können wir im besten Fall intuitiv und nur in besonderen Bewusstseinszuständen erfahren. 50 3.2.a
Organismische Selbstkenntnis und Entropie
Ausgehend vom Primat des Begriffs der Zweckmäßigkeit vor dem der Entropie bei lebendiger Selbstorganisation ist es möglich, die in allen Organismen vorhandene entropische Tendenz auch (nicht ausschließlich) auf mangelhafte innerorganismische Selbstkenntnis zuThomas Fuchs zufolge »beginnt die Reifung des [menschlichen] Gehirns im ersten Monat der Schwangerschaft«, sodass es während seiner embryonalen Entwicklung »sensomotorisch und emotional in einem vielfältigen Kontakt« mit der Umwelt des Fötus steht, d. h. der Mutter, als psychosomatischem Subjekt, und ihrer physischen und psychosozialen Umwelt (2013, 188 f.; Einfügung von S. K.). 50 Von Intuition ist hier die Rede im eminenten Sinne den Bergson diesem Begriff im Aufsatz »Einführung in die Metaphysik« (210/Œuv. 1419, siehe Abschn. 2.2.b von Kap. III) und in Schöpferische Entwicklung gibt. Die Unterscheidung zwischen Instinkt, Intellekt und Intuition, die er im zweiten Kapitel von Schöpferische Entwicklung einführt, hat mich beim Verfassen der vorliegenden Monographie entscheidend beeinflusst. 49
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rückzuführen. 51 Die Produktion von Entropie könnte, wie folgt begründet werden: Aufgrund mangelhafter Antizipation bzw. Erinnerung des Zukünftigen bzw. Gewesenen können die innerorganismischen Prozesse sich nicht perfekt aufeinander anpassen. Dies wäre jedoch für ein möglichst verlustfreies Funktionieren des Organismus unabdingbar. 52 Wegen der nicht perfekten gegenseitigen protomental-physischen Anpassung der Prozesse ist die intrinsische Kohärenz des Organismus mangelhaft, sodass neue Unbestimmtheit des gesamtorganismischen Zustands, d. h. Entropie, fortwährend erzeugt wird. Die Widersprüche zwischen den Prozessen verursachen funktionelle ›Reibungen‹, die zu energetisch-materiellen Verlusten führen. Diese kann nur der Metabolismus aufheben und den Organismus regenerieren. Die weitere Konkretisierung dieses Gedankens ist eine Aufgabe der Zukunft. An dieser Stelle muss die Antizipation einiger Momente dieses Unterfangens genügen: 1) Da jede ›durée‹ ein Prozess und keine Substanz ist, ist ihr eigenes Werden etwas, das nicht von einem vorgegebenen ›eidos‹ (Aristoteles’ Begriff für das Wesen einer individuellen Substanz 53) determiniert wird. Aufgrund dieser prinzipiellen Indeterminiertheit ist die Zukunft jeder ›durée‹ aus ontologischen Gründen unvorhersehbar – und zwar auch für diese ›durée‹ selbst. Dies macht es aber unmöglich, dass zwei aus ihr nacheinander emanierte Prozesse von ihr mit perfekt aufeinander abgestimmten ›initial aims‹ ausgestattet werden. Die innere Widersprüchlichkeit und kreative Unruhe jeder (noch so hohen) ›durée‹ ist also der Logik des Prozesses, d. h. der Logik der autonomen Wesensbestimmung, verschuldet die von jeder ›durée‹ verkörpert wird. Diese Logik verbietet, dass die Antizipation der Zukunft in der Gegenwart und die Erinnerung dieser Leistung in der Zukunft widerspruchlos aufeinander angepasst sein werden. Intrinsische Kohärenz kann nur von Prozessualität kreiert werden; diese kann aber niemals eine vollkommen zweckmäßige Ganzheit hervorbringen. Jeder Organismus muss also Entropie produzieren und folglich sich sowohl mit Energie und Materie aus seiner Umwelt versorgen als auch an diese Entropie exportieren. In dem Maße also, in Selbst wenn die innerorganismische Selbstkenntnis vollkommen wäre, würde der zweite Hauptsatz der Thermodynamik verbieten, dass die Entropieproduktion der im Organismus stattfindenden physikochemischen Prozesse auf Null sinkt. 52 Kein physischer Vorgang kann absolut verlustfrei vonstattengehen. Siehe letzte Fußnote. 53 Siehe Abschn. 2.1 von Kap. I. 51
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dem die Entropieproduktion des Organismus auf mangelhafte innerorganismische Selbstkenntnis zurückführbar ist, ist sein Stoffwechsel die logische Folge Letzterer. Der Metabolismus folgt also ungezwungen aus der Logik der Wesensbestimmung der Prozesse. 2) Der Mangel an innerorganismischer Selbstkenntnis ist auch Resultat der mentalen Begrenztheit jeder weltlichen wirklichen Entität. Im vierten Kapitel sagte ich, dass jede ›living occasion‹ nur deswegen anti-entropisch zu wirken vermag, weil sie einen ›gordischen Knoten‹ durchtrennt, anstatt ein kompliziertes Rätsel zu lösen. 54 Dieses ›Zerschneiden‹, das ihre Entscheidung für die Bewahrung des Lebens darstellt, hat etwas Willkürliches, weil ihm die Undurchdringbarkeit der Singularität eines Willensaktes, d. h. ein voluntaristisches Moment anhaftet. 55 Einem solchen Prozess kann niemals gelingen, erstens in seiner Entscheidung die Zukunft zu antizipieren, zweitens alle Aspekte seiner erfassten Objekte zu berücksichtigen und drittens sich selbst zu vervollständigen. Auch wenn eine innerorganismische ›living occasion‹ – im Rahmen der von mir skizzierten Erweiterung der Whitehead’schen Ontologie – aus dem Gedächtnis eines Prozesses höherer Tension der Dauer schöpft, kann sie, aufgrund ihrer Begrenztheit und der Dringlichkeit der Entscheidung, die sie treffen muss, weder eine perfekte Erinnerung gewesener noch eine perfekte Antizipation zukünftiger ›living occasions‹ und anderer Prozesse sein. Ihre Abgrenzung wäre nur dann vollkommen frei von zufälligen Momenten, wenn sie alles, was für sie konstitutiv ist, d. h. alle unmittelbar und mittelbar für sie relevanten gewesenen und zukünftigen Prozesse, analysieren würde – in diesem Fall hätte sie ihren ›gordischen Knoten‹ entwirrt und aufgelöst. Aber der größte Teil der mittelbar relevanten gewesenen Prozesse manifestierte sich außerhalb der Grenzen des Leibes und dort werden sich auch die meisten solcher zukünftigen Prozesse aktualisieren. Damit ist die ›living occasion‹ mittelbar an einen großen Teil des vergangenen und zukünftigen Kosmos gebunden. Kein begrenzter weltlicher Prozess kann eine dermaßen ausgedehnte raumzeitliche Region detailliert erfassen. Jeder weltliche Prozess ist also notwendig an einer in einem gewissen Maße willkürlichen Abgrenzung von den von ihm erinnerten, unmittelbar erfassten und antizipierten Prozessen gebunden. Wegen ihrer Beliebigkeit ist diese Abgrenzung nicht vollständig durchschaubar, wes54 55
Siehe Abschn. 3.1.b von Kap. IV. Siehe Abschn. 3.1.b von Kap. IV.
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halb sie mit der willkürlichen Durchtrennung des ›gordischen Knotens‹ assoziiert werden kann. Deshalb ist jede ›living occasion‹ in einem besonderen Sinne unvollendet, wenn sie sich abschließt – eine Idee, die mit Whiteheads eigener Vorstellung von der Unvollendetheit der ›actual occasions‹ bemerkenswert korrespondiert. 56 Was für die ›living occasions‹ gilt, trifft aber auch auf Prozesse höherer Tension der Dauer zu, da sie auf dieselbe Weise auf gewesene und zukünftige Prozesse bezogen sind. Entropie entsteht also auch deswegen, weil die werdenden Prozesse viele Aspekte der erinnerten, unmittelbar prehendierten und antizipierten Prozesse aus ihrer eigenen Wesensbestimmung ausschließen müssen, um letztere zu vollenden. Das Ausmaß und die Zufälligkeit bzw. Willkür dieses Ausschlusses nimmt mit steigender zeitlicher Distanz der antizipierten und erinnerten Prozesse zu. Dies führt notwendig zu inneren Unstimmigkeiten, die die intrinsische Kohärenz des Organismus reduzieren, was sich in manchen Fällen zu einem innerorganismischen Kampf ausufern könnte. Die physischen Dimensionen des Übels – Leid, Schmerz, Gebrechen und Tod – sind notwendige Begleiter der physisch manifestierten Kreativität. 3) Ziel jeder lebendigen Ganzheit ist es, ihre ›innere Reibung‹, die der (wenn auch relativ geringen) Widersprüchlichkeit ihrer Prozesse verschuldet ist, zu minimieren. Nur so gelingt es ihr, ihre Entropieproduktion, d. h. ihren Energieverlust, zu verringern, was über Leben und Tod entscheidet. Vermutlich kann diese Überlegung auch auf Gemeinschaften von Lebewesen bis hin zur gesamten Biosphäre ausgeweitet werden, denn alle nicht völlig destabilisierten Ökosysteme sind zweckmäßig strukturiert. Aus meiner prozessphilosophischen Sicht besteht der Sinn des planetaren Lebens in der qualitativen Steigerung und Intensivierung aller Formen von Selbstkenntnis, die in der Evolution entstanden sind. Dies hat die Selbstkenntnis seit dem Beginn des Lebens auf der Erde vor mehr als dreieinhalb Milliarden Jahren von der protoinstinktiven bakteriellen zur geistigen menschlich-noosphärischen Form geführt. Für die inzwischen entIn einem 1927 veröffentlichten Artikel spricht Whitehead von der ›incompleteness‹ der ›occasions‹, wie er damals die Entitäten nennt, die er später als ›actual occasions‹ bezeichnet (TIME 242 f.). Er sieht jedoch den Grund ihrer Unvollendetheit ausschließlich in ihrem antizipatorischen Bezug auf die Zukunft. Für Whitehead ist ein Prozess deswegen »unvollendet« (incomplete), weil er die »Antizipation« (anticipation) eines zukünftigen Prozesses, der noch völlig unbestimmt ist, in die Bestimmung seines »realen Wesens« (real essence) einschließt (ebenda 243).
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schieden zu hohe Entropieproduktion in der Biosphäre, die unter anderem zum fatalen Treibhauseffekt führt, gibt es verschiedene Ursachen, deren Untersuchung den Rahmen dieser Monographie sprengen würde. 57 4) Der Gedanke, dass die Selbstformung der Organismen ihrer Selbstkenntnis dient, kollidiert frontal mit der Vorstellung, dass je höher der Grad der Selbstorganisation eines Systems, desto höher auch seine Entropieproduktion ist (was zur absurden Gleichsetzung des planetaren Lebens mit einem gigantischen Entropie-Generator führte 58). Dieser Widersinn resultierte daraus, dass biologische Zweckmäßigkeit aus der physikalischen Entropie her gedacht wurde: Um möglichst viel Energie in möglichst kurzer Zeit zu vergeuden, müsse die Koordination der systemischen Energieverbraucher sehr hoch sein – der zweckmäßige Aufbau diene somit der Verschwendung. Wird dagegen der hier eröffnete Weg eingeschlagen, die Produktion von Entropie zum großen Teil auf unvollkommene innerorganismische Selbstkenntnis zurückzuführen, so kann folgender biologisch sinnvoller Schluss gezogen werden: Die Schonung der mühsam erworbenen Energie ist nur dem zweckmäßigen Aufbau Zu diesem Problem, dessen Lösung über Gedeih und Verderb der Menschheit entscheiden wird, kann hier nur soviel gesagt werden: Die Entropieproduktion einer über Selbstkenntnis verfügenden Ganzheit ist immer geringer, als sie bei einer extrinsisch kohärenten Ganzheit derselben materiellen Dimensionen ist, die nach den Prinzipien der Selbstorganisationstheorie operiert. Denn letztere koppelt Strukturbildung an Erhöhung von Entropieproduktion. Überdies ist zu beachten, dass die Vermehrung intelligenter Individuen, die mittels symbolischer Formen operieren, der zivilisatorisch vermittelten Selbstkenntnis ihrer sozialen Ganzheit dienen kann (wenn auch nicht muss): Eine Handvoll isolierter Urwaldbewohner hat viel weniger Möglichkeiten, ihre Vorstellungen über Herkunft und Wesen des Menschen kritisch zu hinterfragen als einige Milliarden. Momentan erleben wir die negative Seite des Bevölkerungswachstums, da die enorme quantitative Zunahme der menschlichen Spezies zur Erfindung neuer Wege geführt hat, Energie freizusetzen und zu verbrauchen. Die tiefere Ursache der gegenwärtigen Krise besteht aber in erster Linie darin, dass die wissenschaftlichen, ökonomischen und politischen symbolischen Systeme unserer Noosphäre sich in Dimensionen abstrakter Intelligenz entfalten, die sich zunehmend von der protoinstinktiv und instinktiv-sinnlich vermittelten biologischen Selbstkenntnis der restlichen Biosphäre entfremden (Koutroufinis 2016, 52 f.). Die ökologische Krise ist also dem Mangel an einer zunehmend notwendig werdenden Integration verschuldet, in der die symbolisch operierende Intelligenz mit der biologischen Instinktivität koevolviert. Dieser von der Menschheit erst noch zu vollziehende evolutionäre Schritt könnte meines Erachtens von Bergsons Begriff der Intuition entschieden unterstützt werden (siehe Fußnote 50 dieses Kapitels). 58 Siehe Abschn. 2.2.b von Kap. II. 57
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des Lebewesens zu verdanken. Lebewesen müssen dann – im radikalen Gegensatz zum systemtheoretischen Ansatz – als Ganzheiten beschrieben werden, die ihre Funktionen optimieren, um die minimalste Entropieproduktion, die ihnen überhaupt möglich ist, zu erreichen. Diesbezüglich sind die experimentell fundierten theoretischen Arbeiten von Gernot und Renate Falkner wegweisend. 59 5) Der Gedanke, dass Entropie zu einem großen Teil der unvollkommenen Selbstkenntnis von Ganzheiten verschuldet ist, verleiht diesem Begriff Relevanz für ein großes Spektrum der Subjektivität. Formen von Entropie können Schichten des Erlebens zugeschrieben werden, die von der Ebene der protoinstinktiven inner- und intrazellulären Prozesse bis zur Ebene menschlicher psychosozialer Komplexität reichen. Aus dieser Perspektive ist ein essentielles Merkmal der menschlichen Gesellschaften, dass sie dazu tendieren, ihre kommunikative Entropie zu verringern, indem sie symbolische Formen kreieren, die Prozesse des gegenseitigen Verstehens erleichtern. Oft überwiegt jedoch eine Gewalt, die aus der oben besprochenen Begrenztheit und der dem Leben anhaftenden Willkür (Punkt 2) entspringt und die Individuen voneinander entfremdet, um die intrinsische Kohärenz der Gesellschaft in eine extrinsische zu verwandeln. Das antreibende Gefühl, dass das was nicht mehr ist, wieder sein sollte, gehört zum Sein der beherrschten Subjekte, sofern sie soziale Wesen sind. Die Grenzen zwischen Sein und Sollen zerfließen, wenn das Gebot steigernder Selbstkenntnis konstitutiv wirkt, da dies die Notwendigkeit der Transzendenz einer Form des Seins besagt. Dies ist aber den Prozessphilosophien von Bergson und Whitehead nicht fremd, denn beide teilen die Idee der Steigerung der manifesten Kreativität. Sie sehen in ihr nicht nur ein menschliches Gedankenkonstrukt, sondern primär ein universelles Prinzip der Natur, da jede ›actual entity‹ bzw. ›durée‹ einen intrinsischen Wert besitzt. 60 Auch im Gebot der Erhöhung der Selbstkenntnis unserer Bio-Noosphäre verschmelzen Ontologie und Deontologie. Dies macht es nötig, dass wir die Natur der Organismen nicht nur objektiv-distanziert, sondern in erster Linie durch betroffene Nähe zu ihnen, durch tiefe Sorge über ihr drohendes Schicksal denken. Die Umweltethik ist mehr als ein Anwendungsgebiet des Prozessdenkens; sie ist in seiner Ontologie verwurzelt. Unsere historische Epoche gebietet, dass biophilo59 60
Siehe Abschn. 2.2.b von Kap. II. Siehe Fußnoten 86 und 87 von Kap. IV.
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V · Zu einer neuen Biophilosophie des Organismus: Rück- und Ausblick
sophisches Denken bedeutet, jeden Aspekt des Lebendigen aus dem ethischen Gebot seiner Erhaltung und seines Wohlseins zu erfassen. Die Biophilosophie, für die ich plädiere, lässt die Wertneutralität der modernen Naturwissenschaft entschieden hinter sich. Oder, das berühmte Zitat Theodosius Dobzhanskys paraphrasierend: 61 Nichts in der Biophilosophie macht Sinn außer im Lichte der Bewahrung der Biosphäre. 3.2.b
Organismische Selbstkenntnis als Wesenstranszendenz
Eine emanierende ›durée‹ kann nur deswegen ihr eigenes Wesen bestimmen, weil sie ihrerseits die Emanation von Prozessen niedrigerer Tension in sich anregt, mit dem Ziel, dass diese Prozesse versuchen werden, sich gegenseitig zu prehendieren. Ein prozessuales Subjekt regt die Emanation anderer Subjekte aus sich selbst an, ohne sich in diese aufzulösen. Eine ›durée‹ in irgendeiner Ebene der Tension entwickelt ihre eigene Subjektivität und ihr eigenes Selbstbild durch ihre eigenen Prehensionen sowohl der Dauern derselben Ebene (ihre ›Nachbarn‹) als auch der ›durée‹, aus der sie emaniert ist, als auch der Dauern, deren Emanation sie angeregt hat. Prozessuale Selbstkenntnis verwirklicht sich durch Veränderung der Umwelt und durch Selbstveränderung mittels Selbstdifferenzierung. Das sich selbst erkennende Subjekt ist immer und notwendig ein evolvierendes, das seinerseits in eine sich selbst erkennende und folglich evolvierende Ganzheit einbezogen ist, deren Selbsterkenntnis es dient, da diese wiederum seiner Selbsterkenntnis dient. Selbstkenntnis hat nichts mit dem Aufspüren eines tief verschütteten ›Wesenskerns‹ zu tun, denn sie ist fortwährende Wesenstranszendenz.
3.3 Prozessuale Universalien und kosmische ›Sprachen‹ Im Rahmen dieser neuen Prozessphilosophie könnte auch der Begriff ›eternal object‹ eine neue Bedeutung bekommen. Es ist nicht nötig, die abstrakten Seienden als nützliche Konstruktionen (Bergson) oder als uranfängliche und zeitlose Entitäten des göttlichen Bewusstseins
Dieses Zitat lautet »nothing in biology makes sense except in the light of evolution«.
61
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(Whitehead) zu betrachten. Whiteheads Frage – wie kann das Neue entstehen, wenn es als abstrakte Form, d. h. als reine Möglichkeit, nicht schon vorhanden ist? – muss eine Bergson’sche Antwort bekommen; und dies muss nicht nur in Bezug auf das biologische Erleben geschehen, sondern auch hinsichtlich der ›évolution créatrice‹ 62 neuer physischer Universalien. Peirce, der zu Recht oft als Prozessphilosoph betrachtet wird, spricht von der Entstehung neuer Naturgesetze. Diese sind physische Universalien. Es ist denkbar, dass elementarere physische Universalien, wie z. B. Naturkonstanten, die Ladung und die Masse des Elektrons, die Lichtgeschwindigkeit und ähnliches, entstanden sind und sich in der Zukunft verändern könnten. Peirce hat die Dualität zwischen Geist und Materie mit der metaphysischen Kontinuität zwischen Universellem und Individuellem ersetzt: Das Individuum ist nur ein Grenzwert des Universellen. Die einzigen wirklichen Dinge sind die Universalien. Diese sind aber keine zeitlosen Entitäten, wie die Platonischen Ideen und die Whitehead’schen ›eternal objects‹, sondern Gewohnheiten des Universums und sind folglich regelhaft. Universalien sind weder menschliche Erfindungen noch in sich erstarrte Ideen, sondern lebendige Wesen: »In allen allgemeinen Ideen steckt etwas von der allgemeinen Natur einer Persönlichkeit. Diese Begriffe sind gewissermaßen Schöpfungen der menschlichen Intelligenz. Doch in einer anderen Hinsicht ist der menschliche Geist die Schöpfung des Zusammenwirkens dieser Begriffe. Diese allgemeinen Begriffe sind keine Erfindungen, sie sind wirkliche Dinge – mehr noch: Sie sind lebendige Wesen mit so etwas wie Leben und so etwas wie Persönlichkeit. Geist wirkt auf Geist kraft seiner Kontinuität; und diese Kontinuität beinhaltet Allgemeinheit« (Peirce 1991, 139; Hervorhebungen von S. K.).
Universalien haben »so etwas wie Persönlichkeit« und somit ein geistiges Leben, was ihnen Zeitlichkeit in einem eminenten Sinne zuweist. Auch Maurice Halbwachs – der bekannte Schüler Bergsons, der die Theorie des Gedächtnisses um die soziale Dimension erweiterte – kommt hier als Zeuge einer Verlebendigung und Dynamisierung der universell Seienden in Frage:
62 Diesen Ausdruck habe ich vom französischen Titel des Werkes Schöpferische Entwicklung geliehen, der L’évolution créatrice lautet.
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»So bezeichnen die Platonischen Ideen keine ›Attribute‹, abstrakt aufgefaßte Eigenschaften, sondern ›Subjekte‹, wenn nicht gar Personen« (1985, 370; Hervorhebungen von S. K.).
Platon hat sie, Halbwachs zufolge, von den griechischen Gottheiten, wie Eros, Nike u. a. abgeleitet. Sie wären also menschliche Zeichen für nichtlokal existierende aber sich lokal manifestierende kosmische ›energeiai‹ (Aristotelisch gesprochen), d. h. wirkliche Entitäten. Ausgehend von der offensichtlichen und von Whitehead klar ausgesprochenen Verwandtschaft der ›eternal objects‹ mit den Platonischen Ideen 63 gewinnt die Interpretation Halbwachs’ für die neue Prozessphilosophie große Relevanz. Aber auch die dem Universalienrealismus von Peirce und Halbwachs eher entgegengesetzte konzeptualistische Position von Locke kann sehr befruchtend sein. In seinem Essay schreibt er etwas, das schon lange vor ihm Abaelard gedacht hat, nämlich dass Universalien »Zeichen allgemeiner Ideen« sind (Locke 1988, 16 (III, 3, § 11)). Diese Ideen würde der menschliche Verstand gewinnen, indem er von den einzelnen Dingen ihre Ähnlichkeiten abstrahiere und Letztere wiederum, entsprechend ihrer eigenen Ähnlichkeit, in ideelle Gruppen zusammenfasse (ebenda 18 (§ 13)). Können beide Positionen miteinander koexistieren? Diesbezüglich ist zu betonen, dass aus Whitehead’scher Sicht sowohl der Verstand als auch die einzelnen Dinge, die er wahrnimmt, ›societies‹ von ›actual occasions‹, d. h. von Subjekten, sind. Es gibt also keinen Grund, aus dem nur menschliche Prozesse des Abstrahierens mächtig sein sollten. Im Rahmen der hier skizzierten zukünftigen Prozessphilosophie würden Dauern unterschiedlichster Lebenslänge – die sowohl kürzer als die ›durée‹ eines menschlichen Lebens als auch viel länger als diese sind – sich abstraktiv betätigen können. Die entscheidende Vermittlung zwischen beiden Positionen kann dadurch geleistet werden, dass Ähnlichkeiten zwischen wirklichen Entitäten (Locke) gefunden werden können, weil diese Gewohnheiten haben (Peirce). Eine wirkliche Entität (wirklich Seiendes) kann etwas als eine häufig anzutreffende Ähnlichkeit wahrnehmen, erstens wenn diese wahrnehmende Entität dauert und nicht epochal ist, und zweitens wenn es im Leben der wahrgenommenen Entitäten bzw. der Gesellschaften, denen diese angehören, Gewohnheiten gibt. Von ›Gewohnheiten‹ ist Vgl. unter anderem folgende Stelle: »But eternal objects, as in God’s primordial nature, constitute the Platonic world of ideas« (PR 46/dt. 103).
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hier nicht metaphorisch die Rede, weil alle wirklichen Entitäten – die in der neuen Prozessphilosophie als Dauern und nicht als ›epochs‹ konzipiert werden – mentale Individuen sind. Wenn die Universalien Zeichen sind, die von wirklichen Entitäten verschiedensten Kontrastreichtums im Laufe der kosmischen Evolution durch Abstraktion geschaffen werden, können sie unmöglich in ihrer Gesamtheit schon zu Beginn des Universums in der Urnatur Gottes (Whitehead) als zeitlose Begriffe enthalten sein. Sie sind Resultate der Abstraktionsfähigkeit von Prozessen, die in den von ihnen erfassten Prozessen Gewohnheiten erkennen und als solche bezeichnen. Beide auf den ersten Blick konträre Positionen – (erstens) Universalien als personale, d. h. wirkliche Entitäten (Peirce und Halbwachs) und (zweitens) Universalien als Zeichen, die von abstrahierenden wirklichen Entitäten kreiert werden (Locke) – können also miteinander eine neue Einheit bilden: Universalien sind, insofern sie als Zeichen angesprochen werden können, Mittel der Semiose. Sie entstehen in Gesellschaften von wirklichen Entitäten durch Abstraktion der immer wieder auftretenden Muster von den jeweiligen Einzelfällen, in denen diese Muster auftreten. Wenn nicht nur Menschen abstrahieren, sondern auch andere Subjekte, dann können der Universalienrealismus und der Konzeptualismus in einer neuen Synthese aufgehen: Universalien sind real und zugleich konzeptionell, weil sie Konzepte wirklicher Entitäten über wirkliche Entitäten sind. Der Begriff ›abstrakte Entität‹ bekommt jetzt einen neuen Sinn, denn die menschliche und tierische Abstraktionsfähigkeit stellen nur das vorläufige Ende einer Evolution dar, die spätestens mit den ersten Bakterien begann. Die Mitglieder von Gesellschaften ›destillieren‹ abstrakte Entitäten aus ihren Erfahrungswelten ›heraus‹, um ihre gegenseitigen Erkenntnisakte zu erleichtern, ja überhaupt zu ermöglichen. Denn sie (die wirklichen Entitäten) sind aufgrund ihrer Begrenztheit nicht in der Lage, ihre Umwelt vollständig zu erfassen. Dieselben Universalien werden aber auch von den wirklichen Entitäten eingesetzt, um ihre eigene Wesensbestimmung in die Wege zu leiten, d. h. die Möglichkeiten ihres Werdens zu unterscheiden und zwischen diesen zu selektieren. Abstrakte Entitäten sind immer sozialen Ursprungs; sie sind niemals das Produkt einer einzigen wirklichen Entität. Die prozessualen Subjekte einer Ebene der ›durée‹ gewinnen ihre Universalien durch Abstraktion. Dabei prehendieren sie Prozesse ihrer eigenen Ebene 675 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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(d. h. ihrer ›Nachbarn‹), vor allem aber Prozesse der tieferen Ebenen. So wie es verschiedene Ebenen der Tension der ›durée‹ gibt, existieren also auch Ebenen der Universalien. Dieser Schluss impliziert jedoch, dass es im Universum mindestens so viele Systeme gibt, die den Einsatz von Universalien regeln – d. h. Ordnungen der Kombinierbarkeit von Zeichen –, wie es Ebenen der Emanation, d. h. Ebenen der Tension der Dauer gibt: von der lebendigen Ewigkeit Bergsons bis zu den vakuonischen Quantenereignissen Whiteheads. Die menschlichen und tierischen Sprachen sind nur ein winziger Bereich des kosmischen ›Sprach‹-Spektrums. Der Pansubjektivismus Bergsons und Whiteheads muss folglich um eine semiotische Dimension erweitert werden. Speziell für die prozessontologische Biophilosophie würde dies bedeuten, dass sie die gegenwärtige Biosemiotik aufgreifen und entsprechend transformieren muss, um auf dieser Basis, einen dem Lebendigen angemessenen Begriff von Semiose zu kreieren, der mehr ist als eine Übersetzung biologischer Vorgänge in ein semiotisches Vokabular. Dieser Vorstoß könnte aber auch auf die leblose Materialität fortgesetzt werden. Vor dem Hintergrund der Prozessphilosophie ist Platons bekanntes Wortspiel vom Körper (soma) als ›sema‹ der Psyche, das als Grab aber auch als Zeichen der Seele verstanden werden kann, nicht notwendig auf lebendige Körperlichkeit zu beschränken. Insofern ist auch eine Physikosemiotik denkbar … Sind aber all diese Abenteuer der Ideen am Ende mehr als, wie Whitehead schon sagte, Fußnoten zu Platon?
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Verzeichnis der Siglen und Abkürzungen
Henri Bergson
(Œuv.) (BL) (CPG) (DG) (E1) (EM) (GA) (MG) (MR) (MW) (SchE) (WV) (ZF)
Œuvres »Bewußtseinund Leben« Courssurla PhilosophieGrecque Dauer undGleichzeitigkeit Einleitung(ersterTeil) von Denkenund Schöpferisches Werden »Einführungin dieMetaphysik« »Die geistige Anstrengung« Materie und Gedächtnis Die beidenQuellender Moral und der Religion »DasMögliche unddas Wirkliche« SchöpferischeEntwicklung »Die Wahrnehmungder Veränderung« Zeit und Freiheit
Whitehead, Alfred North (AI) (CN) (FR)
Adventures of Ideas/Abenteuerder Ideen TheConceptofNature/DerBegriffderNatur TheFunctionof Reason/ Die Funktionder Vernunft (MaG) »Mathematics and the Good«/ »Die Mathematikund das Gute« (PR) Processand Reality/Prozeßund Realität (RM) Religioninthe Making/ Wie entstehtReligion? (SMW) Scienceand the Modern World/ Wissenschaft und moderne Welt (TIME) »Time«
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Namensindex
Abaelard (Abaelardus, Petrus) 674 Adami, Christoph 149, 150 Al-Fārābī 82 Albertus Magnus 82 Alexander, Samuel 408 Alkmaion von Kroton 71, 74 Anaximenes von Milet 71 Aquino, Thomas von 82, 462 Aristoteles 31, 35, 36, 42, 51, 53, 68, 73–79, 81, 85, 86, 108, 109, 111, 117, 129, 130, 138, 147, 152, 284, 297, 300, 311, 312, 345, 395, 412, 431, 434, 439, 444, 451, 468, 499, 525, 539, 531, 543, 549, 596, 624, 637, 652, 667 Ashby, William Ross 40 Augustinus, Aurelius 164, 462 Avicenna (Ibn Sīnā) 82 Ayala, Francisco 34 Bacon, Francis 86 Baer, Karl Ernst von 35 Ballauff, Theodor 70 Bateson, Gregory 35 Bateson, Patrick 50 Beckner, Morton 34 Belousov, Boris Pavlovich 174 Bennett, Charles Henry 148, 270 Bergson, Henri-Louis (Allgemeines zum Werk) 335, 336 Berkeley, George 421 Bernard, Claude 35, 101, 102, 113 Bertalanffy, Ludwig von 31, 35, 40, 41, 61, 64, 113, 114, 120, 128–130, 183, 187, 199–201, 228, 230, 381 Beurton, Peter 50
Birch, Charles Louis 561, 575 Blumenbach, Johann Friedrich 35, 97 Boethius, Anicius Manlius Severinus 364 Bohm, David 411 Bohr, Niels 49, 256, 453, 454, 616, 620 Boltzmann, Ludwig 142, 143, 156, 159, 163, 256 Borelli, Giovanni Alfonso 86, 88 Born, Max 454 Bouwmeester, Dirk 504 Boyle, Robert 92 Bray, William C. 174 Brüntrup, Godehard, SJ 451 Buddha (Siddhartha Gautama) 409 Bunge, Mario 67, 69, 202 Calvin, Johannes 82 Canguilhem, Georges 35 Čapek, Milič 368–370 Carathéodory, Constantin 260 Carnap, Rudolf 282 Carus, Carl Gustav 35 Cassirer, Ernst 250, 400 Cesalpino, Andrea 82 Chaitin, Gregory John 148 Chargaff, Erwin 389 Chew, Geoffrey 123, 456 Christian, William 532, 561, 563 Cioran, Émil 585 Clausius, Rudolf 63, 64, 124, 142, 154 Clay, Edmund 548 Clayton, Philip 197 Cobb, John B., Jr. 561, 575, 622
705 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Namensindex Collini, Elisabetta 609 Conrad, Joseph 638 Crick, Francis 114 Cuvier, Georges 52 Da Vinci, Leonardo 87 Darwin, Charles 30, 35, 37, 42, 64, 67, 95, 103, 107, 124, 274 De Broglie, Louis 454 De Lorenzo, Victor 277 De Tonquédec, Joseph 367 Deacon, Terrence William 21, 270, 277 Deleuze, Gilles 35, 36, 228, 339, 372– 374, 377, 399, 482, 598 Demokrit von Abdera 418 Descartes, René 35, 86–90, 92, 93, 112, 119, 284, 288, 322, 412, 417, 421, 445, 451, 493, 508, 544 Dessauer, Friedrich 599 Dewey, John 408 Dilthey, Wilhelm 335, 336 Dirac, Paul Adrien Maurice 454 Dobzhansky, Theodosius 34, 672 Driesch, Hans 35, 96, 103, 108, 110– 112, 117, 119, 231, 349, 579 Du Bois-Reymond, Emil 100, 110, 113, 201, 618 Dupré, John 34, 36, 39, 53 Ebeling, Werner 128, 144, 163, 174, 180, 218 Eccles, John Carew 35, 113 Edwards, Rem B. 551, 562, 565, 569, 632 Einstein, Albert 122, 123, 146, 159– 161, 256, 319, 453, 504, 506, 522, 549 Elowitz, Michael B. 220 Elsasser, Walter Maurice 619, 620 Emmeche, Claus 244 Emmet, Dorothy Mary 527 Empedokles 72–74, 462, 503, 653 Esfeld, Michael 450 Eucken, Rudolf Christoph 335 Euklid von Alexandria 503 Exner, Siegmund 368
Fabricio, Girolamo 82 Falkner, Gernot 21, 264, 266, 664, 671 Falkner, Renate 264, 266, 664, 671 Fechner, Gustav Theodor 35 Felt, James 632 Fetz, Reto-Luzius 431, 566, 665 Feynman, Richard 159 Fichte, Johann Gottlieb 286 Fischer, Ernst Peter 119 Florey, Ernst 345, 346 Foerster, Heinz von 40 Foucault, Michel 35 Freeman, Walter 185 Frege, Gottlob 51, 282, 440, 516, 517 Fröhlich, Herbert 611 Fuchs, Thomas 666 Galilei, Galileo 86, 418 Gardner, Timothy S. 216 Gautama, Siddhartha (Buddha) 409 Gell-Mann, Murray 149, 150 Gibbs, Josiah Willard 145, 146, 159, 160 Gierer, Alfred 232, 234, 235 Glansdorff, Paul Gustave 64 Godfrey-Smith, Peter 34, 50 Goethe, Johann Wolfgang von 35, 98, 105, 490 Goldbeter, Albert 40, 224–226 Goldstein, Kurt 35, 325 Goodwin, Brian Carey 40, 148, 234, 244 Goswami, Amit 621 Gould, Stephen Jay 34 Gray, Russell David 50 Griffiths, Paul E. 34, 50 Gunter, Pete A. Y. 368 Gurwitsch, Alexander Gavrilovich 110 Gutmann, Wolfgang Friedrich 105 Haeckel, Ernst 35, 103, 104 Haken, Hermann 40, 187 Halbwachs, Maurice 673, 674 Haldane, John Scott 193 Hales, Stephen 94
706 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Namensindex Hameroff, Stuart 456, 458, 459, 601, 603, 610, 611 Hampe, Michael 409 Hardy, Alistair Clavering 113 Hartshorne, Charles 229, 408, 424, 443, 472, 495 Harvey, William 35, 82, 84–87 Hawking, Stephen William 159 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 286 Heidegger, Martin 340, 347, 348, 402, 405, 435 Heisenberg, Werner Karl 47, 454, 459, 551, 620 Heitler, Walter Heinrich 616–618 Helmholtz, Hermann Ludwig Ferdinand von 100, 201 Helmont, Jan Baptist van 35, 84, 91 Hempel, Carl Gustav 237 Herakleitos/Heraklit von Ephesos 71, 72, 408 Hippokrates von Kos 51, 74 His, Wilhelm 104 Hobbes, Thomas 421 Hohenheim, Theophrastus Bombastus von (Paracelsus) 83 Holste, Dirk 126 Homer 29, 77 Hooke, Robert 83 Howe, Lawrence W. 368 Hull, David 34, 69, 116 Humboldt, Alexander von 35, 98, 99 Hume, David 464 Husserl, Edmund 47, 335, 547 Ibn Sīnā (Avicenna) 82 Ingarden, Roman Witold 344 Jacob, François 216, 217 Jahn, Ilse 92 James, William 408, 547, 548 Janich, Peter 52 Johnson, Arthur, H. 433, 462, 492 Jonas, Hans 35, 36, 42, 325, 567, 574 Jordan, Pascual Ernst 599, 600, 601, 603, 606, 612, 618 Jung, Walter 570
Jungerman, John A. 454 Jungius, Joachim 92 Kant, Immanuel 35, 59, 98, 105, 106– 109, 118, 257, 274, 286, 292, 302, 412, 419, 421, 450, 478, 495, 498, 499, 656 Kauffman, Stuart Alan 35, 40, 184, 185, 215, 220, 229, 241, 244, 250, 255–257 Kay, James J. 260, 263 Keynes, John Maynard 407 Köchy, Kristian 389 Kolmogorov, Andrey Nikolajewitsch 148 Kraus, Elizabeth 534 Kripke, Saul Aaron 294, 296, 302 La Mettrie, Julien de 35, 92, 95, 106 Lamarck, Jean-Baptiste de 35, 98, 104 Lango, John W. 438, 457, 534, Laplace, Pierre-Simon 388 Leclerc, Ivor 434, 466, 509, 534 Leeuwenhoek, Antony van 83 Leibler, Stanislas 220 Leibniz, Gottfried Wilhelm 35, 36, 92–94, 97, 197, 257, 284, 294, 307, 312, 313, 368, 374, 375, 377, 417, 431, 442–444, 446–448, 450, 461, 462, 467, 481, 482, 531, 557, 565, 652 Leonardo da Vinci 87 Lewontin, Richard 34, 35, 50, 104, 203, 204, 583 Lloyd, Seth 150 Locke, John 297, 298, 302, 374, 418, 448, 478, 493, 674, 675 London, Jack 638 Lotka, Alfred 39, 185 Lotter, Maria-Sibylla 427 Lowe, Victor 455 Ludwig, Karl 100 Lukács, Georg 399 Mahner, Martin 67, 69, 202 Malin, Shimon 570 Malpighi, Marcello 83
707 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Namensindex Malthus, Thomas Robert 423 Marcuse, Herbert 299 Margulis, Lynn 228, 261 Maritain, Jacques 367 Martyushev, Leonid 262 Maturana, Humberto Romesin 35 Maxwell, James Clerk 146, 159, 161 May, William 362, 364 Mayer, Robert 99 Mayr, Ernst 34, 69, 105, 113, 115, 116, 194, 229, 274, 580 McTaggart, John 342, 407 Meinhardt, Hans 232, 234, 235 Melissos von Elea 462 Merleau-Ponty, Maurice 35, 47, 367, 388 Meyer-Abich, Adolf 193 Monod, Jacques 216, 217 Moore, George Edward 407 Morgan, Conwy Lloyd 193, 408 Mossé-Bastide, Rose-Marie 362 Müller, Tobias 557 Muraca, Barbara 515, 652 Murray, James 40 Natorp, Paul Gerhard 311 Neumann, John von 605, 606, 611 Newton, Isaac 88, 90, 92, 97, 107, 256, 274, 275, 423, 487, 505, 506 Nicolis, Catherine 262 Nicolis, Grégoire 262 Nietzsche, Friedrich 35, 100, 335, 342, 358, 386, 408 Nishida, Kitarō 407 Noble, Dennis 40, 50 Novák, Béla 208 Nuzzo, Angelica 285–289, 291, 304 Oppenheim, Paul 237 Ostwald, Wilhelm Friedrich 292–294 Oyama, Susan 34, 50, 203 Pagels, Heinz 150 Panning, Thomas D. 227 Paracelsus 35, 83, 84, 86, 91 Parmenides von Elea 72, 73, 551 Pascal, Blaise 122, 271
Pattee, Howard H. 275 Peirce, Charles Sanders 35, 408, 427, 441, 596, 673–675 Penrose, Roger 242, 411, 455, 456, 458, 459, 470, 551, 601, 603, 608, 610 Penzlin, Heinz 113 Perrault, Claude 89 Pikarski, René 339 Pittendrigh, Colin Stephenson 115 Planck, Max 142, 453, 549 Platon 75, 81, 147, 152, 311, 344, 462, 463, 468–470, 472, 474, 479, 551, 562, 564, 565, 624, 676 Plotin 361, 362, 364, 435, 436, 490 Podolsky, Boris Yakovlevich 319, 504 Poincaré, Henri 161 Popper, Karl Raimund 427, 517 Portmann, Adolf 35, 42, 113, 325 Poser, Hans 423, 424, 426 Prigogine, Ilya 40, 64, 146, 159–164, 169, 170, 174, 193, 224, 261, 262, 266, 281, 387, 389, 411, 415 Ptolemäus, Claudius 503 Putnam, Hilary Whitehall 294, 296, 299 Pythagoras von Samos 503 Rapoport, Anatol 129 Rapp, Friedrich 436, 462 Rashevsky, Nicolas 40 Reininger, Robert 41 Reinke, Johannes 39, 110 Rescher, Nicholas 408 Ricœur, Paul 347, 348 Ritter, William Emerson 113, 193 Rombach, Heinrich 288–291, 294, 300, 304, 307, 310, 464 Rosen, Nathan 319, 504 Rosenberg, Alexander 34 Ross, John 262 Rostan, Léon 101 Rothschuh, Karl 89 Roux, Wilhelm 103, 105, 252, 655 Ruse, Michael 34, 67, 69 Russell, Bertrand Arthur William 293, 359, 399, 407
708 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Namensindex Sagan, Dorion 228, 261, 262 Saint-Hilaire, Étienne Geoffroy 52 Salthe, Stanley 262 Sartre, Jean-Paul 405, 406 Schark, Marianne 51 Schaxel, Julius Christoph Ehregott 39 Scheller, Max Ferdinand 335 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 35, 98, 335, 637 Schiller, Johann Christoph Friedrich 46 Schimming, Rainer 59 Schleiden, Matthias 100 Schlick, Moritz 41 Schmidt, Siegfried Johannes 345 Schmitt, Carl 586 Schmitz, Hermann 47, 596, 597 Schnädelbach, Herbert 399 Schneider, Eric D. 260, 262, 263 Schrödinger, Erwin 35, 40, 114, 143, 168, 261, 454, 505 Schütz, Alfred 47 Schwann, Theodor 100 Seleznev, Vladimir 262 Sennert, Daniel 92 Sertillanges, Antonin-Gilbert 362 Serveto, Miguel 82 Shapiro, James 50 Sherburne, Donald 556, 557, 569 Siddhartha Gautama (Buddha) 409 Simondon, Gilbert 35 Smart, John Jamieson Carswell 342 Smuts, Jan Christiaan 193 Sober, Elliott 34, 203 Sokrates 344, 413 Solé, Ricard 148 Solomonoff, Ray 148 Spinoza, Baruch de 417, 446, 509 Stapp, Henry 411, 456, 601, 604–608, 610, 611 Swammerdam, Jan 83 Swenson, Rod 262 Tetens, Holms 196 Thales von Milet 71
Theophrastos/Theophrast von Eresos 35 Thomas von Aquino 82, 462 Thompson, D’Arcy 35 Thompson, Evan 35 Timaios 562 Tishby, Naftali 150 Toepfer, Georg 47, 49, 68, 652 Tononi, Giulio 150 Tonquédec, Joseph de 367 Turing, Alan 40, 231, 232, 234 Tyson, John J. 208 Uexküll, Jakob Johann von 35, 39, 325, 358, 393 Ushenko, Andrew Paul 408 Van der Veken, Jan 434, 435 Van Helmont, Jan Baptist 35, 84, 91 Varela, Francisco 35 Vesalius, Andreas 82, 87 Vithoulkas, Georgos 396, 397 Volterra, Vito 39 Vrhunc, Mirjana 339, 373 Waddington, Conrad Hall 229, 230, 232, 252 Watson, James 114 Weingarten, Michael 52 Weiss, Paul 408 Weizsäcker, Viktor von 35, 325 Wheeler, John Archibald 549 Whitehead, Alfred North (Allgemeines zum Werk) 407–411 Wiehl, Reiner 21, 427, 441, 457, 463, 573, 595 Wolf-Gazo, Ernest 529 Wolff, Christian von 94, 292, 294, 302 Wolpert, Lewis 231, 232 Woltereck, Richard 110 Wright, Sewall 35, 113, 229 Zeilinger, Anton 504 Zenon von Elea 548, 568 Zhabotinsky, Anatol Markovich 174
709 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
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Begriffsindex
Abiogenese 30 Ablauf/Abläufe 43, 88, 92, 112, 230, 320, 325–328 (Bedeutung), 330, 341, 348, 370, 376, 377, 597, 598, 625, 647 abstrakte Entität(en) 39, 131, 133, 195, 197, 198, 282–283 (Bedeutung), 284, 285, 291, 294–296, 298– 303, 305, 306, 314, 315, 317, 352, 356, 358, 384, 401, 418, 419, 433, 439, 463, 467–470, 472, 473, 475– 477, 479–481, 486, 496, 500, 501, 511, 512, 520, 538, 543, 545, 556, 565, 584, 589, 592, 594, 613, 614, 626, 630, 646, 675 (s. auch ›abstrakte Seiende‹) –, objektive/subjektive 475, 476 (s. auch ›eternal objects‹ → ›objektive/subjektive‹) –, zusammengesetzte 296, 467, 305, 479, 501, 594 (s. auch ›Universalie(n)‹ → ›zusammengesetzte‹ und ›eternal objects‹ → ›zusammengesetzte‹) abstrakte(r) Raum/Räume/Räumlichkeit 132, 138, 183, 198, 279, 300, 301, 306, 329, 595, 637, 646 (s. auch ›Zustandsraum‹, ›Möglichkeitenraum‹ und ›Phasenraum‹) –, Dimension(en) des abstrakten Raumes 300, 646 abstrakte Seiende 439, 481, 511, 660, 672 (s. auch ›abstrakte Entität(en)‹) abstraktes Wesen 468, 469, 478, 479, 501, 543, 614, 615
›actual entity‹/›actual entities‹ (Bedeutung) 439 –, als Akt der eigenen Wesensbestimmung 449 –, als Subjekt(e)/und Subjektivität 440–442, 450, 470, 493, 494, 498, 508, 509, 514, 527, 542 (s. auch ›actual occasion(s)‹ → ›als Subjekte/ und Subjektivität‹) –, als Organismus 452 –, als wirkliche Entitäten/wirklich Seiende 439, 440, 450 –, bewegen sich nicht/Bewegungslosigkeit der 450, 485, 526 –, Gott als 459, 460, 469, 539, 555, 558, 561–563, 567, 630 –, göttliche 459, 511, 554, 658, 660 –, Unterschied zu den ›actual occasion(s)‹ 459–460, 555, 562 –, Unveränderbarkeit der 485 –, weltliche(n) 459, 460, 469, 471, 478, 527, 529, 533, 544, 556, 559– 562, 564, 568, 599, 658 (s. auch ›weltliche(r) Prozess(e)‹) ›actual occasion(s)‹ (Bedeutung) 439 –, als Grenzfälle von event(s) 527 –, als Subjekte/und Subjektivität 448, 544, 599, 661 (s. auch ›actual entity‹/›actual entities‹ → ›als Subjekte/und Subjektivität‹) –, als wirkliche Entitäten/wirklich Seiende 438, 545 –, bewegen sich nicht/Bewegungslosigkeit der 485, 526 (s. auch ›actual entity‹/›actual entities‹
711 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Begriffsindex → ›bewegen sich nicht/Bewegungslosigkeit der‹) –, und Organismus 582, 634 –, Unterschied zu den ›actual entities‹ 459–460, 555, 562 ›actual world‹ 457, 486–492 (Bedeutung), 494–496, 498, 499, 504, 505, 513, 514, 521–523, 530, 534–537, 539–541, 556, 571, 572, 574, 576, 587, 588, 591, 592, 630, 637, 658 –, und Gott 491–492, 536, 537, 572, 574, 630, 658 Agens 25, 76, 111, 165, 414, 416, 426, 428, 435, 459, 644 –, antientropisches- 165, 414, 416, 426, 428, 435, 459 –, autonomes- 25 –, Gegen- 414, 416 Aggregat(e) 129, 190, 191, 237, 259, 261, 286, 576 AIC (›algorithmic information content‹) 148–150 Akausalität 600 Aktivator 232–234 Aktivator-Inhibitor-Modell 233 Aktualisierung 44, 373–381, 383– 386, 392, 397, 398, 402, 435, 439, 458, 466, 515, 522, 545, 546, 598, 605, 607, 626, 656 –, des Organismus/der organismischen Virtualität 380, 392 –, des Virtuellen/der Virtualität 374– 378, 384, 466, 598 Aktualisierungsprozess 376, 378, 380, 381, 384, 385, 392, 546, 598 Akzidens/akzidentiell 298, 349, 446, 448, 520, 529 Alchemie/Alchemist/alchemistisch 83, 86, 91, 92, 196 algorithmischer Informationsgehalt 148, 149 algorithmische Komplexität 148 Allgemeinbegriffe 358, 400, 419 (s. auch ›Universalien‹ Allgemeine Systemtheorie 31, 127, 130, 187, 239 Allmacht 558, 567
Altern 58, 387, 388 Aminosäure(n) 287, 296, 477 Analytische(n) Philosophie 399, 516 (s. auch ›overintellectualized philosophers‹) –, Whiteheads Abgrenzung von der 516 Anfangsbedingun(en) 164, 178–180, 192, 200, 210, 211, 213, 219, 221, 225, 226, 237, 247, 249, 290, 616, 617 Antezedensaussagen 190, 191, 237, 254, 255 Anthroposophie 397 anti-entropisch(e/es) 46, 63–65, 98, 119, 120, 121, 165, 166, 183, 187, 190, 263, 385, 414, 416, 426, 428, 435, 441, 459, 470, 494, 515, 524, 556, 573, 581, 583, 585, 615, 624, 629, 635, 639, 651, 668 –, Agens 165, 414, 416, 426, 428, 435, 459 –, Begehren 573 –, Erneuerung des Universums 470 –, Kurskorrektur 629 –, Revitalisierung 494, 515, 524 –, Vernunft 435 –, Werden 46, 63, 120, 187 –, Wesensmoment 119 –, wirkender Attraktor 190, 470, 494 –, wirksame Entscheidungen 581 Antiessentialismus 41, 451 Antizipation 69, 140, 403, 404, 498, 530, 652, 662, 663, 667–669 –, zukünftiger ›living occasions‹ 668 ›Apeiron‹ 70 Apoptose 58 Äquifinalität 183, 200, 230 ›Archai‹ 71, 74 Aristotelisch(e/en) 70, 73, 75, 78–81, 83–85, 87–90, 105, 108–111, 119, 130, 140, 153, 190, 198, 312, 313, 356, 376, 415, 431, 439, 440, 445, 446, 463, 470, 471, 500, 501, 509, 555, 597, 625, 636, 637, 644, 658, 674 –, Biologie 509
712 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Begriffsindex –, ›energeia‹ 198 –, Metaphysik 80, 431, 636 –, Naturphilosophie 79 –, Physik 140, 415 –, Substanzontologie 312, 445, 637 –, Teleologie 79, 87, 88, 90, 153 Aristotelismus 43, 82, 293 Atomismus 442, 562, 595 atomistisch 100, 286, 599 Atomizität 312, 440, 442–444, 535, 562, 564, 569, 595, 657 –, mentale 442 –, ontologische 312 –, zeitliche 535, 562, 569 Attraktor(en) 180 (Bedeutung), 183– 186, 190, 192, 210, 211, 219, 226, 229, 238, 252, 255, 327 –, anti-entropisch wirkender 190, 470, 494 –, embryogenetischer/der Embryogenese 229, 649, 650 –, epigenetischer 255 –, seltsamer/chaotischer 184, 185, 327 –, strukturbildende 183, 226 Autoergasie 103, 105, 252, 655 Autokatalyse/autokatalytisch 174, 175, 177, 212, 232, 233, 277 Autonomie –, des Organismus/Lebewesens/Lebendigen 26, 185, 255, 270, 621, 630, 632 (s. auch ›organismische Autonomie‹) –, Ebenen der 268–270 autonomous agent 255, 256 Autopoiese 389 Autopoiesis-Theorie 48, 244 Bakterium/Bakterien 30, 54, 56, 83, 124, 153, 216, 220, 228, 239, 240 263, 265, 280, 289, 477, 609, 664 begriffliche Umkehr (conceptual reversion) 540–542, 615, 616 –, und ›concrescence‹ 540 –, und ›living occasion‹ 615 –, und Organismus/Organismus-Problematik 615
Bénard-Zelle/-Konvektion/-Effekt 136, 167, 173, 191, 193, 248, 259 berechenbar(e/er) 43, 239, 242, 250, 252, 259, 260, 281, 306, 327, 329, 355, 456, 591, 597, 598, 603, 647 –, Abläufe 43, 598 –, nicht- 259, 329, 456, 591, 603 –, physischer Vorgang 242 –, Turing- 250, 252, 260, 281, 306, 327 Berechenbarkeit 216, 227, 241, 242, 248, 275, 279, 280, 303, 326, 327, 341, 355, 366, 607, 619, 634 –, der Ontogenese 248 –, der regulativen Geschlossenheit 280 –, des Organismus/des organismischen Werdens 241, 242, 275 –, ganzer Zellen 227 –, Turing- 303, 341 Bewusstsein(s) 36, 68, 140, 229, 325– 327, 346, 348, 353, 356, 358, 361, 362, 364, 367–369, 386, 390, 399, 400, 403–405, 419, 420, 428, 438, 444, 451, 453, 456, 460, 476, 482, 510, 516, 517, 523, 538, 541, 555, 560, 573, 584, 603, 604, 606, 608, 610, 611, 621, 623, 626, 632, 636, 639, 649, 650, 652, 672 –, der materiellen Welt 367 –, göttliches/höchstes 555, 560, 626, 636, 672 –, menschliches 68, 325, 358, 403, 456 –, Quantenbiologie des 604 –, rudimentäres 357–358 –, tierisches 346 –, Über- 361, 362, 364 Bewusstseinsprozess(e) 368, 458, 478, 516, 522, 603, 608, 660 Bewusstseinsstrom 453, 603 Bifurcation of Nature 418, 419, 421, 422, 424, 431, 436, 440, 443, 633 (s. auch ›Bifurkationismus‹) Bifurkationismus 418–420 (s. auch ›Bifurcation of Nature ‹) –, Anti- 447–448, 517
713 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Begriffsindex bindende Relation(en) 128 (Bedeutung), 132, 190, 199, 303, 311, 576 biogenetisches Grundgesetz 103 Biologie der Goethezeit 99 biologisch relevante Quantenereignisse 608, 610 –, mesoskopischer Größenordnung 610 biologisch sinnvoll(e) 94, 251, 252, 271, 273, 274, 281, 305, 306, 324, 325, 582–585, 588, 612, 615, 618, 629, 635, 644, 651, 670 –, Entscheidungen 618, 644, 651 –, Entwicklungen 584, 635 –, Möglichkeiten/Zustände 251, 252, 281, 305, 324, 585, 612, 629, 644 –, Trajektorie(n) 271, 274, 582, 583, 588 –, und mentaler Pol 582 –, Universalie 306 biologisch verheerend/Verheerendes 273, 274, 583 biologische Instinktivität 670 biologische Quantenphänomene 608 biologische Uhren 221 Biomathematik 40 Biomechanik(er) 87, 252 Bio-Noosphäre 671 Biophilosophen 35–37, 39 –, prozessphilosophisch orientierte 37, 39 Biophilosophie 27–29, 33–43 (Bedeutung), 313, 353, 359, 430, 636, 640, 672, 676 –, Bergson’sche/Bergsons 353, 359 –, und Bewahrung der Biosphäre 672 Biosemiotik 521, 676 Biosemiotiker 244 Biosphäre 48, 58, 64, 65, 124, 186, 263, 264, 278, 661, 669, 670, 672 –, Bewahrung der 672 Biosystemismus 202 biosystemisch-emergentistisch 252, 318, 507 biosystemische(r) Emergentismus 193, 202, 228, 239, 245, 255, 259, 278–280, 282, 284, 285, 310, 330,
339, 506, 581, 590, 618, 630, 634, 635, 637, 649, 661 biosystemische Ontologie 300, 318, 323 biosystemisches Denken 27, 99, 204, 277 bioszientistisch-materialistisch 331 bioszientistische(r) Materialismus 244 Bipolarität –, mental-physische 424, 440, 443, 456, 498, 608 bistabil 178–180, 210, 211, 213, 214, 218, 219 Bistabilität 211, 214, 218, 226 Blutkreislauf 82–85 Bose-Einstein-Kondensat/Kondensation 601, 602 Bray-Reaktion 174, 175, 180, 181, 186, 192, 210 Buddhismus/Buddhisten/buddhistisch 397, 398, 401, 409, 435 ›causa efficiens‹ 80, 89, 138, 501, 531 (s. auch ›Wirkursache‹) ›causa finalis‹ 77, 80, 138, 293, 326, 501 (s. auch ›Finalität‹, ›Finalursache‹ und ›Zweckursache‹) ›causa formalis‹ 76, 138, 293, 313, 326, 501 (s. auch ›Formursache‹ und ›eidos‹) ›causa materialis‹ 500, 501 ›causa sui‹ 446, 462, 509 Chaos 36, 38, 40, 70, 72, 163, 184, 185, 280, 328, 341, 392, 638 –, deterministisches 280, 328, 341 –, Rand des/Chaosrand 184, 185 Chaosmos 228 Chaostheorie 136, 139, 161 chemische Kinetik 176, 212, 224, 233 chemische Uhr 223 Chreode/chreodisch 230, 232, 252 Chronos 573 circadiane Rhythmen 182, 221 Computerprogramm 57, 116, 148 Computersimulation(en) 40, 126,
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Begriffsindex 205, 206, 215, 227, 228, 231, 233, 351 (s. auch ›Simulation(en)‹) ›concrescence‹ 438, 487, 529–530 (Bedeutung), 531–535, 537–545, 547, 548, 550, 553, 554, 559–564, 568, 569, 571, 572, 577, 579, 590– 593, 595, 598, 604, 608, 613–616, 630, 633, 638, 654, 655, 658 –, als Entscheidung zwischen Möglichkeiten 598 –, als Epoché 547, 550 –, als ›living occasion‹ 577 –, als mikroskopischer Prozess 530 –, als teleologische Selbstschöpfung 531 –, als teleologischer Prozess 531 –, als Zeitatom 535, 571 –, einer/der ›living occasion(s)‹ 613, 615, 638, 655 –, nicht in der Raumzeit 550 –, Phasen der 535–547 –, und ›actual world‹ 537, 591 –, und begriffliche Umkehr 540 –, und das Herz des Prozesses 538 –, und doppelte Verräumlichung 545 –, und Eros 529 –, und ›eternal objects‹ 539 –, und Gott/göttlicher Prozess 559– 564, 572, 658 –, und ›initial aim‹ 537, 543 –, und Quantum/raumzeitliches Quantum 537, 569, 571, 604, 608, 613 –, und ›subjective aim‹ 541, 543, 579 constraint(s) 255, 256 Copenhagen interpretation 605 (s. auch ›Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik‹) Couette-Zelle 171, 191, 193, 259 Cyanobakterien 264, 265, 664, 675 Darwin-Clausius-Dilemma 63, 64, 113, 415 das Eine 362 das Gute 362, 433, 480 Dauer: s. ››durée‹/Dauer(n)‹
definierendes Charakteristikum 519, 522, 523 Dekohärenz 605 Deontologie 671 Determinismus 37, 102, 136, 139, 146, 242, 273, 280, 317, 350 –, Gen- 117 deterministisch-chaotisch 137, 161, 183–185, 315, 327 deterministisches Chaos 163, 280 Developmental Systems Theory (DST) 50, 60 Dialektischer Materialismus 122 Differentialgleichung(en) 128, 131, 133, 176, 177, 179, 180, 207, 210, 212, 215, 217, 221, 224, 227, 233, 257, 258, 275, 388, 590 –, gekoppelte 128, 176, 180, 207, 224, 227, 233, 590 Dissipation 159, 169 (Bedeutung), 171, 611 dissipative Struktur(en) 169–171 (Bedeutung), 183, 185, 193, 264, 414, 651 dissipative(s) System(e) 125, 126, 171, 184, 263, 275 DNS 50, 114, 116, 203, 216, 283, 317, 611 doppelte Räumlichkeit 316, 317, 320, 324 doppelte Verräumlichung 322, 332, 545, 593, 594, 597, 608, 620, 625, 637 –, und ›satisfaction‹ 593, 594 Dualismus 66, 70, 71, 88, 90, 92, 109, 119, 321, 417, 419, 604 ›duration‹ (in Whitehead’s Prozessphilosophie) 511, 548–554, 564, 569, 571 –, als Epoché 548 (s. auch ›duration‹ → ›epochale/epochal ›duration‹‹) –, als Zeitatom 549, 564, 569, 571 –, atomare 553 –, epochale/epochal ›duration‹ 552, 553 (s. auch ›duration‹ → ›als Epoché‹) –, und makrophysikalische Zeit 553
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Begriffsindex –, Unterschied zur ›durée‹ 511, 550 Durchdringbarkeit/Durchdringung –, wesenhafte 338, 350, 653, 661 ›durée‹/Dauer(n) (Bedeutung) 336– 343 –, als eigentliche/reine Zeit 337 –, als Kontinuum der Wesensunterschiede 349 –, als organismisches Subjekt 664 –, des Organismus 384, 386 –, Gott als 363, 365 –, göttliche 364, 371, 379, 402, 573, 660 –, höchste 366, 659, 664 –, höchster Tension 364, 398, 401, 564, 574 –, mikrochronische 553 –, organismische 648 –, transontogenetische 391 –, überindividuelle(n) 398, 659, 664– 666 –, und Gedächtnis 343, 660, 662 –, und Selbstveränderung 371, 375 –, und Selbstvollzug 340, 349, 351, 373, 573 Dynamik –, instabile 162, 273, 649 –, irreversible 382 –, organismische 61, 93 ›dynamis‹ 77, 78, 293, 636, 637 dynamische Größen 125 (Bedeutung), 192, 236–237 (Bedeutung), 238, 239, 246, 248, 250, 253–258, 262, 263, 269, 270, 275, 276, 290, 291, 300–303, 305, 306, 308, 326, 327, 630, 634, 643, 645, 651 (s. auch ›Variable(n)/variable(s)‹) –, als gesteuerte Größen 327, 630 –, als kanalisierte Größen 248, 262, 643 –, als regulierte Größen 651 –, als zeitabhängige Variablen 125 dynamische Tiefe 268, 270, 277, 278, 280, 290 dynamisches Gleichgewicht 74, 113 dynamische(s) System(e) 26, 36, 40, 119, 125–127, 132, 135, 137, 138,
152, 163, 167, 183, 190, 206–208, 214, 227, 234, 236–239, 241, 242, 257, 261, 262, 270, 275, 279–282, 289, 290, 299, 300, 305, 340, 351, 387, 388, 493, 511, 525, 576, 590, 593, 594, 653, 661 EEG (Elektroenzephalogramm) 348, 603 ›eidos‹/›eide‹ 74, 76, 79–81, 89, 90, 102, 312, 313, 376, 543, 667 (s. auch ›causa formalis‹ und ›Formursache‹) Eigeninteresse 452 Eigenwert –, der lebendigen Natur/der Natur 406, 411 –, des Organismus 452 Eine: s. ›das Eine‹ einfache Lokalisierung 501, 504, 506, 543, 568, 573 Einfühlung –, nicht sinnlich vermittelte 405 –, protomentale 663 Einzeller 42, 58, 208, 325, 519, 528, 577, 601, 610, 650, 665 Eizelle 30, 211–213, 378, 382, 650, 663 ›élan vital‹ 336, 359–360 (Bedeutung), 361, 362, 364–366, 372, 375, 376, 378–380, 398, 401 –, Aktualisierung des 375, 376 –, als Aktualisierung der Virtualität 378 –, als ›durée‹ 359 –, als nicht vitalistisch konzipiertes Prinzip 359 –, als qualitative Heterogenität 360 –, differenziert sich zum Organismus 380 –, und Emanation 361, 362, 366 –, und Kontinuum der Wesensunterschiede 372 electron(s)/electronic 370, 420, 454, 457, 505, 506, 618 Elektron(en)/elektronisch 195, 205, 245, 283, 296–298, 302, 319, 392, 393, 419, 452, 454, 455, 460, 477,
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Begriffsindex 479, 505, 506, 519, 570, 580, 609, 617, 618, 621, 623 Element(e) 131 (Bedeutung) –, materielle(s) 120, 198, 201, 279, 284, 285, 302, 314–316, 318, 321, 322, 368, 503, 506, 543, 545, 590, 621, 642, 647–649, 653, 661 Emanation 361–363, 366, 371, 372, 377, 379, 380, 401, 402, 404, 564, 657–659, 672, 676 –, Gottes 379, 564 emanativ 366, 374, 385, 404, 568 Emanativität 657, 660 Embryo(nen) 62, 86, 104, 200, 232, 234, 245, 310, 388 Embryogenese 30, 31, 33, 55–57, 60, 62–64, 83, 85, 86, 88, 93, 94, 103, 104, 119, 200, 202, 209, 214, 220, 227–231, 232, 234, 239–241, 252, 256, 273, 282, 283, 391–393, 398, 611, 644, 647, 649, 650, 655, 659, 663, 666 embryogenetische(r/s) –, Attraktor 229 –, Entwicklung(en) 200, 635 –, Faktoren 88 –, Strukturbildung 229 –, Vorgänge 234 –, Werden 274 embryologischer Präformationismus 94 Embryonalentwicklung/embryonale Entwicklung 44, 55, 61, 103, 228, 666 emergent(e) 57, 188, 196, 311, 328, 341, 376, 506, 592, 635 –, Gesetze/Strukturgesetze 188, 305, 317, 341, 376, 592, 635 Emergentismus 193, 194, 196, 202, 228, 239, 245, 255, 259, 278–280, 282, 284, 285, 303, 310, 311, 330, 339, 590, 630, 634, 635, 637, 649, 661 –, biosystemischer: s. ›biosystemischer Emergentismus‹ –, schwacher 194, 196
emergentistisch/biosystemisch-emergentistisch 201, 252, 318, 507 Emergenz 187, 188 (Bedeutung), 201, 238, 261, 327, 633 –, schwache 201 –, -theorie 196 Emphase 445, 511, 542 Empirismus 85, 336, 424, 464, 499 –, und Rationalismus 424, 499 –, Pan- 464 Endgerichtetheit/endgerichtet 102, 107, 115 ›enduring object‹ 457, 502, 521–525, 542, 552, 553, 570, 579 ›energeia‹ 77–81, 190, 198, 439, 500, 636, 637, 674 Energie –, Degeneration/Dissipation/Entwertung von 110, 126, 159, 169, 171, 263, 266 –, -Erhaltung 99, 111, 142, 170, 426, 455, 634 –, hochwertige 65, 167, 169, 171, 172, 177, 181, 191, 193, 253, 267 –, lokalisierte 122 Energieerhaltungssatz 99, 142, 170, 321, 426, 455, 620 Energiequantum/Energiequanten 455, 545, 599, 634 Entelechie 78–81, 84, 90, 111, 112, 117, 183, 199, 349, 443, 531, 620 ›entirely living nexus‹ 577 (Bedeutung), 578–583, 587–589, 591, 618, 620, 622, 624, 628, 629, 635 –, Alleinherrschaft eines 589 –, als das eigentlich Lebendige im Lebewesen 577 –, als Lebenskern/anti-entropisch agierender Kern des Lebewesens 577, 583 –, als non-social 578 –, in einem Lebewesen regiert ein einziger 588 –, ist keine ›society‹ 578, 622 –, Kanalisierung seiner Originalität 628–630
717 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Begriffsindex –, und anti-entropische Wirkung/anti-entropisch wirksame Originalität 624, 629 –, und die Instabilität dynamischer Trajektorien 635 –, und ›living occasions‹ 577, 581, 582 –, und ›living person‹ 628, 629 –, und ›living society‹ 577 –, und untergeordnete ›societies‹ geringerer Kreativität 577, 578 –, Unterschied zu allen vitalistischen Seele-Konzeptionen 580 –, Wesen jedes 582 Entropie 43, 45, 63–65, 110, 113, 114, 118, 121, 122, 124, 142–147 (Bedeutung), 150, 152, 154–161, 163– 168, 184–186, 202, 227, 246, 252, 253, 259, 261, 263, 264, 267–269, 271, 324, 384, 387, 416, 428, 458, 557, 558, 573, 583, 627, 635, 646, 650, 656, 658, 661, 666, 667, 669– 671 –, Abnahme/Reduktion von 65, 118, 166, 167, 415, 658 –, als Menge an Zufall 158 –, geringe/niedrige 64, 122, 144 –, höherer Ordnung 267 –, maximale/maximal mögliche 64, 124, 156, 157, 268, 269, 557 –, Regulations- 267, 271 –, statistische 142–145, 157, 271 –, subjektivistisch verstanden 146 –, und Modalität 142 –, und Selbstkenntnis 666 –, und Unbestimmtheit 142 Entropieänderung 155, 166 Entropieexport 166, 167, 186, 193, 202, 253, 667 Entropieproduktion/Produktion von Entropie/Entropieerzeugung 63, 65, 113, 120, 124, 126, 154–156, 158–160, 163, 164, 167, 186, 261– 263, 265, 266, 269, 271, 646, 661, 667–671 –, minimalste mögliche 671 –, Prinzip der maximalen (›Maximum
Entropy Production Principle‹) 262, 263 Entropiepumpe 167–169, 171, 172, 177, 259, 260, 267 Entropiewachstum/-zunahme/-erhöhung 155–158, 184, 387, 415, 635, 650 Entwerden/entwerdend 361, 402 Entwicklung –, embryogenetische/embryonale 89, 200, 228, 635 –, morphogenetische 30, 32, 68 –, ontogenetische 202, 625 –, vielzelliger Lebewesen 611 Entwicklungsmechanik 103 epigenetischer Raum 230, 232, 252 epochal(e/en) 552–554, 562, 563, 572, 631, 632, 674 –, Zeitlichkeit 631 epochale/epochal ›duration‹ 552, 553 epochale(n) Zeittheorie 547, 551, 562, 564, 631, 632 –, phänomenologisch-psychologischer Beweis der 547 Epoché 370, 547, 548, 551, 563 –, logischer Beweis der 548 EPR-Versuch/EPR-Paradoxon 319, 504 Erfahrungskomplexe 510 Erfassung(en) 438 (Bedeutung), 475, 481, 484, 490, 496, 503, 512, 526, 532, 538, 569, 576, 649, 653 (s. auch ›prehensions‹ ›ergon‹ 77, 78, 439 Erlebensakt(e) 37, 323, 342, 352, 353, 437, 440, 557, 565, 586, 645, 647, 653, 654 Erlebenskontinuum 349, 509, 560, 632 Eros 529, 558, 674 –, göttlicher 558 –, und ›concrescence‹ 529 Erregbarkeit 57 erste Substanz 76, 284, 297, 431, 439, 440, 445, 525, 543 erster Hauptsatz der Thermodynamik 99
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Begriffsindex erweiterter Zustandsraum 250–253, 263, 272, 279, 305, 306, 308, 322, 588, 625, 629 Essentialismus 451 Essenz 74, 76, 111, 117, 207, 275, 311, 526 –, des Organismus 111 ›eternal objects‹ 468–470 (Bedeutung) –, ethische 480 –, mathematische 475, 480 –, objektive/subjektive 475, 479, 480, 512 –, physische 626 (s. auch ›Universalien‹ → ›physische‹) –, Reich der 471–473, 476, 478, 558, 626 –, und Gott 471, 472, 539, 540, 556, 558, 560, 561, 626, 674 –, zusammengesetzte 478, 479, 511, 512, 534, 540–542, 589, 594, 614, 615, 654 ›event(s)‹ (in Process and Reality) 526, 527 –, ›actual occasions‹ als Grenzfälle von 527 –, als ›nexus‹/›nexūs‹ 526, 527 Evolution 25, 36, 38, 42, 49, 50, 55, 56, 58, 63, 119, 186, 188, 222, 244, 250, 262, 275–278, 287, 312, 338, 359, 360, 363, 365, 375, 377, 378, 385, 393, 414, 416, 424, 426, 492, 558, 565, 573, 574, 579, 584, 627, 629, 638, 661, 669, 675 –, in silico 244 –, kosmische/des Universums 363, 365, 377, 492, 574, 675 –, weltliche 565 Evolutionsfähigkeit 56, 73 Evolutionstheorie 25, 31, 73, 115, 278 Ewigkeit –, begriffliche/statische 364, 559 –, lebendige 363, 364, 366, 367, 401, 402, 404, 473, 560, 564, 573, 676 Experiment der verzögerten Entscheidung 504, 549
Expression der Gene/des Genoms 50, 220, 235 (s. auch ›Genexpression‹) extensive(s) Kontinuum/Kontinuität 537, 545, 568, 569, 591, 596, 597 externe Relationen 311 (Bedeutung), 329, 451, 485, 501, 546 extrinsische Kohärenz 651 ›fallacy of misplaced concreteness‹ 205, 512 Fernwirkung(en) 90, 104, 505, 570 –, nichtlokale 505 –, zeitliche 104 Finalität 324, 528 (s. auch ›causa finalis‹, ›Finalursache‹ und ›Zweckursache‹) Finalursache 122, 132, 139, 140, 141, 324, 349 (s. auch ›causa finalis‹, ›Finalität‹ und ›Zweckursache‹) Finalursachen-Kausalität 124, 140, 349 (s. auch ›Zweckursachen-Kausalität‹) Fließgleichgewicht(e) 53, 199, 200, 223 Folgenatur Gottes 559–560 (Bedeutung), 561–567, 570–574, 626, 632 –, als ›durée‹ 562–565, 573 –, als Gewesenheit 573 –, als göttliche ›concrescence‹ 562 –, als universelles Gedächtnis 570, 573 –, heterogene Kontinuität der 626 –, und Bewusstsein 560 –, und lebendige Ewigkeit 564 –, und Prozessualität 560 –, Zeitlichkeit der 559 formaliter 493–494 (Bedeutung), 495, 496, 498–501, 513, 518, 529, 530, 534, 535, 537, 539, 540, 543, 544, 546, 559, 561, 568, 569, 572, 590, 591, 593, 596, 630 –, und objectivé 493 Formursache 76, 80, 138, 313 (s. auch ›causa formalis‹ und ›eidos‹) –, aristotelische 313 Formursachen-Kausalität 27 Freges Begriff des ›Gedankens‹ 516
719 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Begriffsindex Freiheit(en) 42, 189, 280, 325, 330, 335, 362, 363, 442, 444, 533, 550, 565, 575, 581, 601, 607, 616, 637 –, des Organismus/des Lebendigen 42, 601 –, Gott als 362, 363 Freiheitsgrad(e) 188, 189, 617 Ganzheit (Bedeutung) 132 Gedächtnis(ses) –, allumfassendes des Universums 573 –, biologisches 384, 391 –, der/und Embryogenese 391–393, 659 –, embryologisches 584 –, Gewohnheits- 391 –, göttliches 371, 627 –, immaterielles 397 –, immunologisches 390, 584 –, meta-physisches 392, 393 –, ontogenetisches 385, 391 –, organismisches 44, 386, 390, 391, 585, 628, 631 –, protomentales 663 –, reine 391 –, Spur-und-Abdruck-Metapher des 344, 345, 548 –, transindividuelles 393 –, transontogenetisches 393 –, überindividuelles 44, 391, 392, 584 –, und durée 343, 660, 662 –, und Ontogenese 625 –, universelles 165, 392, 404, 570, 573 Gedankenexperiment 33, 141, 240, 241, 246, 247, 250, 252, 255, 273, 275–277, 280, 281, 307, 319, 475, 505, 621 Gedankens –, Freges Begriff des 516 Gedankenschema(ta) 201, 421–428 (Bedeutung), 429, 430, 432, 436, 437, 446, 447, 460, 469, 474, 477, 494, 533, 554, 556, 557, 561, 563, 566, 567, 595, 626, 636, 641, 657 –, göttliches 477, 566, 567 –, initiales 566
–, kosmologisches 424–430, 432, 436, 437, 447, 463, 465, 469, 474, 494, 533, 554–556, 566, 567, 636 Gegen-Agens 414, 416 Gehirn(s) 67, 71, 87–89, 165, 325, 345, 346, 366, 390, 405, 419, 458, 478, 489, 548, 601–603, 605–608, 611, 623, 666 –, Einfluss von ›process 1‹ auf das 606, 607 –, Quantenkohärenz und 602, 606 –, Quantenzustand/Quantenzustände des 605, 606 Geist 66, 67, 98, 101, 108, 110, 112, 120, 132, 153, 227, 298, 307, 308, 321, 362, 363, 374, 399, 417, 419, 421, 432, 441, 564, 567, 606, 652, 673 –, absoluter- 362 –, -Gehirn 67 –, göttlicher- 567 –, -Körper 70 –, -Materie 66, 112, 321 –, transzendenter- 108 –, unendlicher- 298 geistige(r) –, Aktivität/Akt 152, 506, 564, 603 –, Entitäten 38, 282, 283, 417 –, Prozess/Prozessualität 400, 406 –, Substanz 633 Geistige(s) 112, 421, 495, 640 Geistigkeit 367, 463 gemeinsames Formelement 519, 577 Gen(e) 42, 46, 50, 62, 90, 101, 114, 130, 182, 203, 214–217, 220, 232, 235, 250, 251, 256, 276, 277, 298, 317, 318 Gendeterminismus 117 Genetik 25, 50, 58, 63 –, ›golden age‹ der 50 Genetiker 229, 599 genetische(r/s) –, Code 114 –, Information 33, 61, 62, 275–277 –, Material 104, 215, 317 –, Netzwerk(e) 209, 214, 215, 220, 229, 235, 241, 246, 250
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Begriffsindex –, Pfade 232 –, Präformationismus 94, 203 –, Programm(e) 33, 94, 116–119, 199, 203, 229, 276, 278, 644 –, Schaltkreis 218–220 Genexpression 207, 216 (s. auch ›Expression der Gene/des Genoms‹) Genom 50, 117 Genotypen-Raum 229 Genotypus 229, 230, 232 Genregulation 215, 216 gesamtorganismische(r) 234, 242, 250, 251, 322, 384, 588, 591, 613, 667 –, Entwicklung 322, 384 –, Vorgänge 242 –, Zustand/Zustandsraum 250, 588, 591, 613, 667 Gestaltmathematik 40 gewesene(n) 347, 348, 381, 390, 392, 404 –, Dauer 348 –, Organismus 392 –, Prozesse/›living occasions‹ 668 –, Zukunft 347 Gewesene(s/n) 375, 386, 393, 394, 403, 573, 574, 627, 662, 667 –, in Gott/und Gott 573 –, Neuformung des 375 –, Virtualität des 403 Gewesendheit 402 Gewesenheit 347, 348, 360, 375, 389, 393, 402, 573, 574, 659 –, des Lebewesens 360 –, und Gewesendheit 402 –, und Gott/göttliche Zeitlichkeit 573, 574 –, Unterschied zur Vergangenheit 347, 348 Gewohnheitsgedächtnis 391 Gleichgewicht –, dynamisches 74, 84, 113, 158, 253 –, Entfernung/fern vom 177, 181, 259, 260, 264–266, 278 –, stationäres 178 –, Thermodynamik fern vom 174 –, thermodynamisches 156, 157, 163,
166–169, 171, 191, 260, 261, 264– 266, 268, 269 –, Wärme- 156 Gleichzeitigkeit 346, 505, 572, 587, 588 –, und kausale Unabhängigkeit 587 Gödelscher Unvollständigkeitssatz 259 Goethezeit –, Biologie der 99 Gordischer Knoten 318, 585, 668, 669 Gott(es) 38, 72, 75, 82, 87, 93–95, 162, 197, 310, 362–365, 367, 379, 380, 401, 417, 429, 432, 434, 435, 445, 459, 460, 462–464, 469, 471– 473, 482, 491, 492, 533, 534, 536, 537, 539, 540, 544, 555–568, 570– 575, 587, 588, 591–594, 626–627, 630–633, 658–660, 675 –, als ›actual entity‹ 459, 460, 469, 555, 558, 561–563, 567 –, als Dichter 429 –, als ›durée‹ 363, 365 –, als Freiheit 362, 363 –, als Koordinator und Ordner der Welt 556 –, Emanation(en)- 379, 564 –, Folgenatur 559–560 (Bedeutung), 561–567, 570–574, 626, 632 –, gefährdeter 574 –, immerwährende ›concrescence‹ 564 –, oberstes Ziel 567 –, sorgender 574 –, und ›eternal objects‹ 471, 472, 539, 540, 556, 558, 560, 561, 626, 674 –, Urnatur 558 (Bedeutung), 559– 561, 565, 566, 574, 592, 594, 626 –, werdender 363, 565 –, Wille 82 Götter 71 Gottheit(en) 72, 674 –, griechische 674 göttliche(r/s) –, ›actual entity‹/Entität(en)/Prozess 335, 417, 459, 511, 517, 533, 554, 555, 560, 564, 565, 627, 631, 636, 658, 660
721 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Begriffsindex –, Bewusstsein 555, 626, 672 –, ›durée‹/Dauer(n) 364, 371, 379, 402, 573, 660 –, Gedächtnis 371, 627 –, Gedankenschema 477, 566, 567 –, Gegenwart/Anwesenheit 365, 572 –, Leben 362, 563 –, Liebe 401 –, Superjektivität 627 –, Tension 377 –, Vernunft 477 Gradient(en) 65, 120, 191, 232, 234, 259–263, 265, 266, 576, 661 –, Abbau/Entwertung von 55, 120, 265, 661 –, -Ausgleicher 261 Gradientenausgleich 260 Gravitationsfelder 455 Grenzzyklus 171, 181, 183, 221, 225, 226 Größen –, dynamische: s. ›dynamische Größen‹ und ›Variable(n)/variable(s)‹ –, gesteuerte 327, 630 –, kanalisierende 248, 262, 267, 643 –, kanalisierte 248, 262, 643 –, regulierende 651 –, regulierte 254, 651 –, statische: s. ›statische Größen‹ –, steuernde 327, 618, 630 –, Trennung zwischen dynamischen und statischen Größen 236, 275, 276 Großrechner 227, 281, 290 Gute: s. ›das Gute‹ Hameroff-Penrose-Richtung/Theorie 604, 623 Heisenbergsche(n) Unschärferelation 302, 583, 611, 613 –, biologische Bedeutung der 611 Herauskristallisierung 320, 338, 379, 402, 510, 531, 550, 567, 599 –, des Möglichen 599 Herz des Prozesses 538 heterogene(s) Kontinuum/Kontinuität 336, 338, 340, 344, 346, 360,
363, 366, 372, 373, 377, 392, 406, 509, 511, 512, 545, 564, 626 –, und Wesensunterschiede 371 Heterogenität 337, 339, 340, 341, 349, 360, 368, 371, 372, 388, 597 –, doppelte 371 –, qualitative 360 –, reine 337, 340, 349 Holismus 193, 196, 197, 287, 467, 507 homogenes Kontinuum 338, 341, 348, 371, 384 –, und graduelle Unterschiede 371 Homogenität –, als Gleichverteilung 63, 158 –, als qualitative Identität 301 –, im Sinne Bergsons 339, 341, 364, 581, 597 Homöopath/Homöopathie 396, 397 Homöorhese 230 horror vacui 625 hybride ›prehension(s)‹ 494, 536 (Bedeutung) Hylozoismus 70, 74, 81 Hyperkeimenon 508 (s. auch ›Superjekt‹) Hypokeimenon 507 Iatrochemie 83, 86, 91, 92, 96 Iatromechanik 86, 87, 92 Iatrophysik 86, 89, 91 Ichheit 398 Idealismus 285, 286, 441, 621 –, deutscher 285, 286 Ideenlehre 301, 400, 474 immerwährend 410, 559–561, 563, 564, 572, 593 Indeterminiertheit 335, 600, 601, 625, 667 –, Orte der 625 Indeterminismus 315, 367, 593, 595, 637 Indifferenz –, wirkursächlich-kausal(e) 635 individuelles Wesen 472, 473 Individuum 30, 51, 60, 93, 131, 165, 197, 278, 311, 315, 317, 321, 340,
722 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Begriffsindex 341, 358, 383, 385, 391, 395, 429, 442, 467, 484, 574, 673 –, absolutes 197, 467 –, metaphysisches 311 –, organismisches 315, 317 In-dividuum/In-dividuen 405, 442, 562 In-dividualität 298, 312, 323, 328, 564 Ineinander-Sein 365, 521 Information 33, 61, 62, 150, 232, 249, 275, 276, 374, 387, 504 –, genetische 33, 61, 62, 275–277 neurale 150 –, voraussagende 150 Informationstheorie 62, 116, 277 Inhibitor 232–234 ›initial aim(s)‹ 532–533 (Bedeutung), 543, 555–559, 561, 565, 568, 571, 572, 584, 587, 588, 591, 593, 596, 607, 613, 615, 626, 627, 630, 635, 658, 662, 667 –, als abstraktes Wesen des Prozesses 543 –, als anfängliches ›subjective aim‹ 532 –, als nicht-konforme ›proposition‹ 615 –, als Zweckursache 572 –, der ›living occasions‹ 635 –, und ›eternal object‹ 534, 540 –, und Gott/Ursprung in Gott 533, 556, 558, 561, 565, 568, 571, 587, 591, 593, 626, 630 –, und Teilung des Kontinuums 537 Initialdaten 542 Inkarnation(en)/Reinkarnation 397, 398, 659 innere Kohärenz 59, 60, 65, 94, 107, 116, 263, 308, 477, 531, 576, 651 Innerlichkeit 38, 42, 48, 153, 323, 335, 385, 438, 442, 511, 512, 529, 544, 562, 586, 637, 650 –, kausal relevante 650 Insekt(en) 83, 395 Insektenstaat 394 instabile Dynamik 162, 273, 649 instabile Raumzeit-Blase 455
instabile Systeme 161, 162, 164, 272, 387 instabile Trajektorien 328 Instabilität 161–163 (Bedeutung), 179, 183, 184, 272, 281, 308, 315, 387, 593, 603, 625, 634, 635 Instinkt 394, 395, 663 –, organismischer 663 –, Proto- 663 –, und Zelle 395 Instinkt-Intellekt-Intuition 666 instinktiv(e/es) 360, 383, 663, 666, 670 –, proto- 663, 666, 669–671 Instinktivität –, biologische 670 Intellekt 353, 357, 400, 666 –, und Instinkt und Intuition 666 Intelligenz 73, 395, 480, 670, 673 interne Relationen 128, 282, 311 (Bedeutung), 314, 317, 318, 326, 331, 332, 338, 339, 355, 366, 410, 413, 438, 445, 447, 448, 450, 452, 464, 471–473, 476, 477, 480–482, 484, 501, 507, 535, 546, 559, 565, 566, 574–576, 627, 637, 638, 641, 642– 654 Intersubjektivität 521 intrinsic 452, 576 intrinsische(r) 41, 450, 451, 651, 652, 655, 662, 667, 669, 671 –, Eigenschaften 450, 451 –, Kohärenz 651, 652, 655, 662, 667, 669, 671 –, Natur 41, 451 –, Wert 671 Intuition(en) 40, 70, 72, 74, 331, 344, 364, 366, 377, 405, 427, 506, 607, 612, 618, 645, 648, 656 –, Bergsons/und Bergson 344, 405, 663, 666, 670 –, biophilosophische 656 –, Deleuzes 377 –, der Prozessmetaphysik 648 –, Grund- 44, 74, 323, 409 –, Instinkt-Intellekt- 666 –, Quantensprung der 331
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Begriffsindex –, unserer Dauer 364 –, Whiteheads 506, 618 Ionen-Kanäle 605, 611, 612 Irrationalismus 359, 399 Irreversibilität 158, 159, 161, 163, 164, 378, 381, 382, 387, 402 –, doppelte 381, 402 irreversible Dynamik/Thermodynamik 174, 382 Kairos 573 Kanalisierung 230, 232, 269, 271, 628, 629 Katholizismus 398 kausal offene Zustände/Stellen 141, 593 kausale Gesetze 527, 528 kausale Gleichheit 60 kausale Lücke 607, 625 kausale Parität 60 Kausalität 138–139 (Bedeutung) (s. auch ›Wirkursachen-Kausalität‹ und ›Zweckursachen-Kausalität‹) probabilistische Auffassung von 138 Kausalkegel 491, 503, 570, 571 klassische Physik 26, 36–38, 134 (Bedeutung), 258, 266, 268, 275, 278, 493, 506, 604, 620 Kognition 42, 50 kognitiv(e/en/es) 185, 249, 323, 325, 345, 356, 390, 405, 424, 655, 663, 666 Kohärenz –, De- 605 –, extrinsische 651 –, innere 59, 60, 65, 94, 107, 116, 263, 308, 477, 531, 576, 651 –, intrinsische- 651, 652, 655, 662, 667, 669, 671 –, Quanten- 601–603, 605, 606, 608– 612, 621, 623 –, raumzeitliche 651 Kollaps 454–456, 470, 551, 606, 614, 621 –, der Quantenkohärenz 606, 621 –, der Wahrscheinlichkeitswelle 470
(s. auch ›Reduktion der Wahrscheinlichkeitswelle‹) –, der Wellenfunktion 454–456, 551 Komplementarität 319, 617 Komplexität 30, 31, 36, 37, 40, 43, 56, 90, 118, 119, 127, 130, 142, 147–151 (Bedeutung), 152, 184, 185, 187, 188, 202, 208, 229, 239, 268–271 (Bedeutung), 277, 278, 280, 431, 528, 601, 671 –, als dynamische Tiefe 268, 270, 277, 278, 280 –, als logische Tiefe 148–150, 270 –, als thermodynamische Tiefe 150 –, effektive 149 –, Kolmogorov- 148–150, 271 –, physische 149 Komplexitätstheorie 26, 243, 300, 528 (s. auch ›Theorie des Komplexen‹) Kompliziertheit 271, 327 konkrete(s) Kontinuum/Kontinuität 338, 340, 342, 344, 354, 360, 366, 371, 402, 550 Kontiguität 568–570, 624 Kontinuierung/Selbstkontinuierung 348, 349, 526 Kontinuität und Potentialität 595, 596 Kontinuität und Prehensivität 568 Kontinuum/Kontinua/Kontinuität –, abstrakte(s) 338, 341, 342, 344, 352, 370, 388, 405, 550, 553, 596, 597, 638 –, doppelte(s) 657 –, doppelt heterogene(s) 392 –, extensive(s) 537, 545, 568, 569, 591, 596, 597 –, heterogene(s) 336, 338, 340, 344, 346, 360, 363, 366, 372, 373, 377, 392, 406, 509, 511, 512, 545, 564, 626 –, homogene(s) 338, 341, 348, 371, 384 –, konkrete(s) 338, 340, 342, 344, 354, 360, 366, 371, 402, 550
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Begriffsindex –, mathematische(s) 548, 596, 597 –, metaphysische(s)/meta-physische (s) 401, 673 –, raumzeitliche(s) 322, 404, 492, 530, 537, 568, 569, 638 Kontrollparameter 137, 192 (Bedeutung), 208, 209, 213, 218, 219, 221, 222, 225, 227, 228, 233–237, 246–248, 251, 257–259, 269, 341 Kontrollparameterräume 300 Konzeptualismus 299, 357, 675 Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik 455, 456, 604, 608 (s. auch ›Copenhagen interpretation‹) Körpermaschine 108 kosmisches Netz 291 Kosmologie 170, 413, 415, 424–430, 436, 462 –, philosophische 413, 425, 428–430 –, revidierbare 425 –, Whiteheads Verständnis von 424– 428 –, Whitehead’sche 425, 427, 436 kosmologisches Gedankenschema: s. ›Gedankenschema(ta)‹ → ›kosmologisches‹ Kosmos 70, 75, 91, 109, 153, 164, 188, 197, 296, 298, 304, 307, 313, 315, 324, 354, 356, 359, 361, 364–366, 375, 404, 424, 457, 460, 467, 469, 471, 486, 488, 490, 492, 494, 507, 515, 519, 521, 528, 537, 546, 553, 555, 557, 559, 568, 572–575, 592, 596, 627, 633, 639, 668 –, Bergson’scher 375 –, in sich geschlossener 197, 467 –, Revitalisierung des 515 –, Whitehead’scher 555, 568 Kraftzentrum/Kraftzentren 92, 451, 465 kreative Emphase 511 Kreativität 151, 280, 328, 329, 354, 366, 368, 369, 393, 420, 432–437 (Bedeutung in Whitehead’s Prozessphilosophie), 439, 440, 456, 461, 481, 496, 515, 542, 556, 557,
562, 566, 575, 578, 608, 633, 637, 659, 669 –, als erstes/oberstes/höchstes metaphysisches Prinzip 432, 434, 436, 439, 440 –, als Heidegger’sches Sein 435 –, als Prinzip 432–434, 461 –, als Prinzip des Neuen 433 –, als reine Aktivität/Aktivität/ Grund 434, 481, 557 –, als Universalie der Universalien 432–434, 481, 557 –, des Lebens/und Leben 393, 575 –, Kreisläufe der 566 –, metaphysische 336 –, organismische 151 –, protomentale 369 –, und materieller Prozess 368 Kryptovitalist –, Whitehead ist kein 580 Künstliches Leben (KL) 48, 49, 57, 131 –, starkes KL 48, 49, 57 Kybernetik(er)/kybernetisch 116, 327, 403, 507, 600 Leben (Bedeutung) 46–49 lebendige Ewigkeit 363, 364, 366, 367, 401, 402, 404, 473, 560, 564, 573, 676 lebendige Prozesse: s. ›Prozess(es/e)‹ → ›des Lebendigen/lebendige Prozesse‹ Lebendiges –, Unbestimmtheit des 617 Lebendigkeit und Leere 622 Lebenskraft 97–99, 102, 579, 580 Lebensphilosophie 44, 335, 336, 372, 386, 389, 391, 399, 408 Lebewesen (Bedeutung) 49–53 –, als offene Systeme 202 –, und Organismus 49–51 leerer Raum Bedeutung für das Leben 622 Leerheit 435 Leib(er) 48, 55, 66, 81, 88, 93, 108, 112, 289, 314, 332, 344, 380, 383,
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Begriffsindex 392, 395, 396, 401, 489, 580, 590, 601, 612, 613, 623, 648, 653, 659, 664, 668, Leib-Seele-Problem 93, 112 leiblich 47, 93, 371, 379, 398, 453 Leiblichkeit 47, 48, 62, 65, 66, 281, 396, 397, 640 –, des Embryos 62 –, menschliche 397 –, meta-physische 396 –, primitive auf der Urerde 47 –, Theorie der 66, 640 Liebe 72–74, 366, 367, 401, 574 –, göttliche 401 Life 415, 457, 527, 563, 575, 576, 578–580, 619, 622, 628, 629 –, as the cosmic principle 575 –, essence of 576 –, of God 560 linear unabhängig/lineare Unabhängigkeit 300, 301, 303, 307 ›living/lebendige society/societies‹ 577 (Bedeutung), 579–581, 587, 592, 594, 614, 615, 622–624, 630, 632, 648 –, und ›entirely living nexus‹ 577 –, und ›living occasions‹ 577 ›living occasion(s)‹ 577 (Bedeutung), 578, 579, 581–592, 594, 597, 599, 602, 603, 608, 610, 612–616, 618, 620–631, 634, 635, 638, 645, 649, 651, 653, 655, 659, 661, 668, 669 –, als anti-entropisch wirksame Entscheidungen 581 –, als biologisch sinnvolle Entscheidungen 582, 583, 618 –, im menschlichen Gehirn 603 –, Raumquantum der 590 –, reale Potentialität der 591 –, ›satisfaction‹ der/einer 581–583, 589, 591, 620, 621, 623 –, Souveränität einer 586 –, ›subjective aim‹ der 589 –, und begriffliche Umkehr 615 –, und biologisch sinnvolle Möglichkeiten 585 –, und ›entirely living nexus‹ 577
–, und mentale(r) Pol 588, 589 –, und Quantenereignisse 612 –, und Quantenkohärenz 610 –, und reale Möglichkeiten 590, 594 –, Unvollendetheit der 669 –, Verräumlichung der 590 ›living person‹ 628, 629, 632, 649 logische Tiefe 148, 149, 270, 271 logische(r) Raum 237 logische(s) Prädikat 615, 630 Logos 72, 73, 76, 79, 307 Lokalisierung 123, 456, 501, 504, 506, 543, 568, 573 –, einfache 501, 504, 506, 543, 568, 573 Makroevolution 42 makroskopisch (Bedeutung) 458 Mannigfaltigkeit 59, 111, 337, 338, 350, 363, 372, 433, 443, 446, 449, 450, 453, 462, 480, 484, 499, 515, 529, 579, 626, 627, 633 –, extensive 111, 579 –, intensive 111, 579 –, qualitative 337, 372 Maschine 59, 61, 87, 90, 92–95, 101, 102, 106, 107, 109, 116, 117, 149, 167, 205, 242, 251, 252, 288–291, 298, 304, 306, 307, 329, 419, 465, 579 –, absolute 289, 291, 298, 304, 307, 465 –, Turing- 149, 242, 251, 252, 306, 329, 456 Maschinenparadigma 300 materiale Gesetze 186–188, 190, 191, 195, 197, 240, 255, 283, 350, 592, 635 Materialismus –, Dialektischer 122 –, hylozoistischer 74 –, mechanischer/mechanistischer 92, 98, 122, 454 –, szientistische(r) 26, 28, 62, 122– 124, 240, 244, 391, 397, 411 Materialität 31, 48, 49, 58, 59, 123, 124, 151, 189, 195, 205, 276, 280,
726 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Begriffsindex 282, 284, 319, 325, 334, 361, 364, 366, 390, 412, 422, 424, 445, 501, 506, 553, 580, 596, 622, 636, 637, 639, 640, 676 Materie (Bedeutung) 122–123 Materie und Kausalität 26, 35, 38, 245 materielle(s) Element(e) 120, 198, 201, 279, 284, 285, 302, 314–316, 318, 321, 322, 368, 503, 506, 543, 545, 590, 621, 642, 647–649, 653, 661 –, Wesen der 195–199, 291, 303, 314, 315–318 Materiequanten 634 Maximum Entropy Production Principle 262, 263 mechanischer/mechanistischer Materialismus 92, 98, 122, 454 Mechanizismus 31, 82, 108, 119, 288 Medizin/Mediziner 74, 84, 88, 89, 92, 96, 97, 99, 325, 396, 397 –, alternative 396 –, antike 84 –, chinesische/indische 397 –, traditionelle 396 menschliche Vernunft 307, 416, 422, 477 mental-physische Bipolarität 424, 440, 443, 456, 498, 608 mentale(r)/begriffliche(r) Pol 497– 499, 501, 513, 538, 539, 541, 542, 550, 576, 577, 581, 582, 588, 589, 615, 638, 652 –, der ›living occasion‹ 588, 589 –, der Prozesse des Lebendigen 582 –, und biologisch sinnvolle Trajektorien 582 mesoskopisch(e) 123, 458 (Bedeutung), 608, 610, 645 –, Quantenkohärenz/Quantenereignisse 608, 610 Metabolismus 31, 53–56, 60, 63, 87, 88, 204, 207, 222, 241, 246, 314, 610, 667, 668 (s. auch ›Stoffwechsel‹) Metamorphose 98, 515
Metaphysik –, klassische 484, 528 –, physikalistische 42 –, revidierbare 45, 424, 427, 474, 566 meta-physisch(e/er/es/en) 313, 319– 321, 382, 392–397, 401, 485, 503, 545, 550, 620, 634, 660 –, Entitäten/wirkliche Entitäten 503 –, Gedächtnis 392, 393 –, Organismus 392–395, 650 –, Prozess 313, 394 –, Seinsweise 545, 620, 634, 642 mikrochronische Dauern 553 Mikroevolution 42 mikroskopisch (Bedeutung) 458 Mikrotubuli 602 (Bedeutung), 603, 604, 608, 611, 623 Modalität 45, 142, 281, 373, 436, 595 Modallogik 373, 374, 384, 598 Modell(e) für 171, 173, 175, 205, 206, 209, 239, 241, 276 Modell(e) von 175, 205, 234, 239– 242, 246, 250, 255, 257, 260, 267, 273, 289, 306 –, der autonomen Selbstregulation 250 –, Organismus/Organismen 239, 240, 257, 260, 267, 273, 289 –, Zellen 246 Modernismus 110 mögliche(n) Welt(en) 294–297, 376, 377, 442, 452 Möglichkeit-Wirklichkeit 78, 349, 374, 384, 385, 598 Möglichkeiten –, reale 518, 590, 591, 594, 637, 638 (s. auch ›reale Potentialität‹) –, reine 480, 514, 518, 566, 594, 673 (s. auch ›reine Potentialität/Potentiale‹) Möglichkeitenraum 134, 135, 140, 141, 384 (s. auch ›abstrakte(r) Raum/Räume/Räumlichkeit‹, ›Zustandsraum‹ und ›Phasenraum‹) Molekularbiologie/Molekularbiologen 49, 52, 101, 114, 206, 300, 316
727 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Begriffsindex Monade(n) 284, 417, 440, 442, 443, 446, 482, 483 –, Fensterlosigkeit/fensterlose 446, 482 Monadologie/Monadology 197, 368, 443, 446, 462, 467 monadologisch 313, 507 Monismus/monism 39, 74, 367, 417, 460, 462 monostabil/Monostabilität 179, 183, 185, 210, 213, 214, 218, 221, 222 Monotheismus 72, 567, 660 ›morphé‹ 77, 78 Morphogenese 55, 58, 62, 182, 203, 208, 215, 228, 230, 231, 234, 235, 239, 245, 247, 382, 386, 393, 611, 612, 626 morphogenetische(s) 32, 62, 68, 230– 232, 235, 239, 310 –, Entwicklung 32, 68 –, Faktoren 232 –, Feld 230–232, 235, 310 –, Werden 239 Morphologie 61, 98, 105, 475, 626 mRNS 216 Mutation 56, 73, 104 natura naturans 371, 404 natura naturata 371, 402, 404 Naturalismus 38, 39, 122 –, liberaler 39 Naturgesetz(e/en) 41, 107, 137, 187, 195, 197, 201, 255, 257, 279, 283, 314–317, 329, 366, 377, 467, 542, 557, 581, 592, 673 Naturkonstanten 247, 283, 314, 673 natürliche Selektion 41, 42, 104, 115, 215, 277, 278, 627 Naturphilosophie 45, 71, 79, 82, 90, 98, 197, 281, 284, 287, 292, 335, 354, 356, 384, 406, 407, 411, 412, 416, 421, 437, 525, 542, 564, 592, 598, 631, 633, 640, 652 –, der »Weigerung« 421 negative ›prehension(s)‹ 494, 496 (Bedeutung), 497, 512, 542, 615, 630
Negentropie 143, 168 Neo-Alchemie 196 Neodarwinismus/Neodarwinisten/ neodarwinistisch 105, 115, 244, 275, 276 Neokantianer 41 Neophysikalismus 70, 110, 115 Neopositivisten 409 Neoromantik 110 Neovitalismus 31, 70, 108, 110, 112, 113, 634 Neovitalist 108 neovitalistisch 108, 112, 359, 376, 580 Nervensystem(e) 37, 62, 460, 542, 579, 590, 607, 613, 649, 666 Netzwerk(e) 37, 129, 133, 134, 136, 147, 168, 170, 186, 190, 199, 206– 209, 214, 215, 220, 222, 227, 229, 235, 241, 246, 250, 254, 276, 277, 303, 316, 328, 465, 528 –, biomolekulares 227, 229, 277, 316 –, genetische(s) 209, 214, 215, 220, 229, 235, 241, 246, 250 –, Gesamt- 245 –, metabolische(s) 222, 277 –, Signal- 37, 207–209 Neutron 455, 524 Newton des Grashalms 107, 257, 274, 275 ›nexus‹/›nexūs‹ 438 (Bedeutung), 452, 454, 457, 460, 475, 487, 488, 497, 502, 512, 513, 518 (Bedeutung), 519, 521, 524, 526–529, 540, 541, 554, 577–583, 587–589, 591, 618, 620, 622, 624, 628, 629, 632, 635 –, ›entirely living-‹: s. ›entirely living nexus‹ –, personaler Ordnung/und personale Ordnung 521, 524, 624 –, sozialer Ordnung 519, 632 –, und ›event‹ 526, 527 –, zeitlicher 521 nicht-mikroskopische Quantenkohärenz 610 Nichtgleichgewicht (thermodynamisches) 156, 266
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Begriffsindex Nichtgleichgewichtszustand 199 nichtlineare(r) 31, 40, 49, 118, 150, 151, 166, 169, 170, 177, 180, 182, 184, 200, 202, 207, 210, 212, 215, 220, 223, 224, 227, 229, 230, 234, 266, 269, 331, 387, 403, 415, 507, 642 –, Differentialgleichungen 177, 180, 210, 212, 215, 224, 227, 590 –, Ganzheiten erster/zweiter Ordnung 269 –, Kausalität 31, 595 –, Relationen 169, 207, 403 –, Systeme 40, 166, 169, 182, 184, 269, 387 –, Systemtheorie 151, 415, 507, 595, 642 –, Teleonomismus 229, 230 Nichtlinearität 43, 168–169 (Bedeutung), 174, 208, 331 nichtlokal(e) 91, 123, 319, 500, 504, 505, 537, 545, 568, 569, 607, 612, 613, 674 –, Fernwirkung 505 Nichtlokalität 205, 321, 505–507, 565, 572, 620 Nihilismus 336 Nike 674 Nobelpreis/Nobelpreisträger 113, 164, 396 nominale Wesenheit 297, 298 Nominalismus 299, 302, 357 Noosphäre 670, 671 –, Bio- 671 Nukleinsäure(n) 54, 57, 624 objectivé 493, 494 (Bedeutung), 495, 496, 501, 523, 524, 532, 534, 537, 539, 544, 561, 569, 570, 590, 613 –, formaliter und 493 objective reduction/OR 456, 608 objektive Unsterblichkeit 546 objektives Datum 542 offene(s) System(e) 53, 112–114, 155, 156, 159, 170, 193, 199, 200, 207, 259, 264 Ontogenese 30 (Bedeutung)
–, als Aktualisierungsprozess 378 –, als echte Selbstorganisation 657 –, eines vielzelligen Organismus 215, 245 –, kausale Vakua der 625 –, und Gedächtnis des überindividuellen Prozesses 660 –, und Selbstkenntnis des organismischen Subjekts 665 ontologisch-subjektivistisches Prinzip 461, 464, 517 operationelle Geschlossenheit 244, 245 Ordnung –, aus der Perspektive der Physik 143, 144, 157 –, des Ineinander-Seins 521 –, des Nacheinanders 597, 598 –, des (wesenhaften) Ineinanders 317, 338, 339, 342, 366, 378, 447, 553, 564, 572, 661 –, des (wesenhaften) Nebeneinanders 317, 339, 363, 366, 377, 380, 484, 546, 554, 597 –, im teleologischen Weltbild der Antike/Bedeutung in der Antike 152, 153 –, organismische 58, 64, 125, 127, 153, 220, 263, 653 –, Verlust von 144, 157 –, virtuelle 378 organische Philosophie/organic philosophy 415–417, 431–433, 436, 439, 441, 442, 451, 453–457, 459– 461, 463, 467–469, 471, 474, 477, 479, 481, 484, 486, 488, 491, 493– 495, 501, 502, 504, 507, 515, 518, 520, 524, 526, 527, 529, 546, 552, 553, 555–557, 562, 570, 575, 580, 592–595, 598, 622, 623, 627, 631, 632, 634, 636 (s. auch ›Prozessphilosophie‹ → ›Whitehead’sche/Whiteheads‹) organismische(r/s) –, Autonomie 43, 244, 253, 268 –, durée 648 –, Dynamik 61, 93
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Begriffsindex –, Gedächtnis 390 –, Instinkt 663 –, Kreativität 151 –, Selbsterkenntnis 665 –, Selbstkenntnis 660 (s. auch ›Selbstkenntnis‹) –, Subjekt 280, 307, 665, 666 –, Zeitlichkeit 389 (s. auch ›Organismus/Organismen‹ → ›Zeitlichkeit des‹) Organismus/Organismen (Bedeutung) 49–53 –, Aktualisierung des 392 –, als Aktualisierung 386 –, als dissipative dynamische Systeme 126 –, als offene Systeme 170, 193 –, als selbstorganisierte Systeme 193 –, als Subjekt(e) 62, 323, 648–651, 655, 664 –, Definition (ausgehend von der Phänomenalität) 643 –, Definition (metaphysische) 645 –, ›durée‹ des 384, 386 –, Kernmerkmal aller 54 –, meta-physischer 392–395, 650 –, Selbstkenntnis des 664 (s. auch ›Selbstkenntnis‹) –, Unbestimmtheit des 617 –, und begriffliche Umkehr 615 –, Zeitlichkeit des 386 (s. auch ›organismische(r/s)‹ → ›Zeitlichkeit‹) Organismus-Problematik 271, 273 (Bedeutung), 274–280, 282, 289, 304, 308, 310, 321, 323, 324, 328, 334, 384, 385, 390, 411, 491, 496, 529, 581, 582, 585, 587, 588, 610, 611, 615, 625, 628, 629, 634, 642– 644 –, Essenz der 275 –, und begriffliche Umkehr 615 Organismustheorie 26, 101 (s. auch ›Theorie des Organismus‹) Organizismus 43, 97, 101, 112, 113, 193–202 Oszillationen/oszillativ/Oszillativität 180, 181, 211, 220–223, 225, 234
overintellectualized philosophers 516 (s. auch ›Analytische Philosophie‹) Panempirismus 464 Panentheismus 367, 574, 660 –, Viele-Ebenen- 660 panethisch 481 Panlogismus 448 Panpsychismus/panpsychistisch 368, 441 Pansubjektivismus/pansubjektivistisch 411, 440, 441, 464, 481, 676 Panteleologie 75, 109 Pantheismus 367, 446 particularia/Partikularie(n)/Partikuläres 283, 302, 309, 321, 440, 483 Partikularität 198, 291, 309, 310, 315 –, und Universalität 290, 310 Perpetuum Mobile –, der Selbstregulation 267 –, höherer Ordnung 267 Personalität 445, 523, 603 Pfade –, biochemische/biomolekulare 207, 226 –, des embryonalen Werdens/des Lebendigen 619, 627 –, genetische 232 –, metabolische 232 –, Signal- 232 Pfeil-Paradoxie Zenons 548, 568 phänomenale Qualität(en) 37–39, 475, 647, 648, 654 (s. auch ›Quale/ Qualia‹) Phänomenologie/phänomenologisch 47, 48, 51, 157, 336, 343, 355, 356, 373, 398, 467, 547, 550 Phasenraum 132, 134, 135, 145, 146, 157–163, 189, 237, 256, 326 (s. auch ›abstrakte(r) Raum/Räume/Räumlichkeit‹, ›Möglichkeitenraum‹ und ›Zustandsraum‹) Philosophen der Biologie 39, 62 Philosophie der Biologie 26, 27, 33– 36, 39, 42, 60, 67, 68, 204 Photon 57, 123, 283, 368, 393, 455, 522, 549, 552
730 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Begriffsindex Photosynthese 63, 248, 264, 608–610 Physikalismus 31, 38, 70, 91, 92, 100, 105, 110, 114, 119, 165, 200, 201, 661 –, Neo- 70, 110 Physikalismus-Vitalismus-Debatte 113 Physikosemiotik 676 Physikotheologie/Physikotheologen 94, 95, 106, 109 Physiologie 61, 87, 89, 99–101, 399 Physiologoi 71 physische(r) Pol 497–501, 536, 538, 539, 542, 544, 550, 568, 569, 603, 638 physische ›prehension(s)‹ 494 (Bedeutung), 495–499, 501, 502, 512, 535–537, 546, 559, 565, 579, 614, 630 Platonische Idee(n) 118, 199, 468, 469, 471, 472, 673, 674 Platonische Vernunft 639 Platonischer Ideenhimmel 351 Pluralismus 72, 417, 460, 462, 586 Polis/Poleis 70, 71, 74 Polytheismus 660 Positionsinformation 230–232, 235 positive ›prehension(s)‹ 490, 494– 498, 496 (Bedeutung), 502, 510, 512, 514, 515, 519, 522, 534–536, 540, 542 Positivismus/Positivisten 41, 336, 419, 425 positivistisch 41, 99 postmodern 27, 36 Postmoderne 36 Potential(e) –, reine(s) 468 Potentialität –, reale 591, 592, 638 (s. auch ›reale Möglichkeiten‹) –, reine 470, 539, 561, 592 (s. auch ›reine Möglichkeiten‹) Prädikat –, logische(s) 615, 630 Präformation/Präformationismus/
präformationistisch/präformiert 93, 94, 230, 277, 377 Pragmatismus 400, 408, 422 prästabilierte Harmonie 447 ›prehension(s)‹ (Bedeutung) 438, 481–486 (s. auch ›Erfassungen‹) –, als interne Relationen 438, 450, 481 –, als metaphysischer/meta-physischer Einschluss 485 –, begriffliche 494 (Bedeutung), 495– 498, 512, 513, 519, 522, 536, 538– 540, 542, 630, 654 –, hybride 494, 536 (Bedeutung) –, negative 494, 496 (Bedeutung), 497, 512, 542, 615, 630 –, physische 494 (Bedeutung), 495– 499, 501, 502, 512, 535–537, 546, 559, 565, 579, 614, 630 –, positive 490, 494–498, 496 (Bedeutung), 502, 510, 512, 514, 515, 519, 522, 534–536, 540, 542 prehensiv 438, 478, 485, 486, 490, 492, 493, 502, 507, 508, 519, 521, 544, 556–559, 561, 568, 569, 580, 581, 659, 664 Prehensivität 503, 506, 507, 553, 568, 570, 576, 638, 657, 660 –, und Emanativität 657, 660 –, und Kontinuität 568 primäre Qualitäten 418 Prinzip –, der Kreativität 432–437 –, ontologisch-subjektivistisches 461, 464, 517 ›process 0‹/›process zero‹ 607, 608 ›process 1‹ 606–608, 612 –, Einfluss auf das Gehirn 606, 607 Programm 33, 57, 60, 66, 94, 115– 119, 126, 150, 203, 229, 327, 374, 644 genetisches 33, 94, 116–119, 199, 203, 229, 276, 278, 644 Programmmetapher 115, 117 ›proposition(s)‹ 430, 438, 439 (Bedeutung), 497, 513 (Bedeutung)
731 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Begriffsindex 514–518, 529, 534, 536–542, 615, 630 –, als Anreiz 439 –, als konkrete/reale Möglichkeiten 513, 514, 518, 534, 630 –, konforme 514 –, logische Subjekte der 513, 514, 534, 537 –, (logisches) Prädikat der 513–515, 534, 539, 630 –, Lokus (locus) einer 513–515, 517 –, nicht-konforme 514, 515, 539, 540, 615 Prospektion 547 Protein(e) 54, 125, 215–218, 220, 232, 235, 256, 298, 316, 417, 609–611, 624 Protention 547 Protoinstinkt 663 protoinstinktiv 663, 666, 669–671 protokognitive Erkenntnis 656 protokognitive Subjekte 655 protomental(e) 366, 368, 369, 373, 444, 445, 454, 457, 541, 576, 580, 584, 585, 608, 610, 619, 647, 650, 651, 656, 663, 664 –, Begehren 585 –, Einfühlung 663 –, erkennend 656 –, Selbsterkenntnis 664 Protomentalismus 441 Proton/protonisch 452, 454, 455, 460, 477, 479, 524 Prozess(es/e) (Bedeutung) 319–320, 328–329 –, der Wesensbestimmung 322, 348, 365 –, des Lebendigen/lebendige Prozesse 376, 575, 582, 613, 615, 622, 624, 637 –, göttliche(r/n) 335, 533, 560, 564, 565, 627, 631, 636 –, Herz des 538 –, mikroskopischer 580 –, ontogenetische(r) 377, 378, 380, 381, 384, 392 –, organismische(r) 360, 385, 580,
594, 621, 646, 648–650, 653, 654, 661, 663–667 –, überindividueller 660 –, weltliche 363, 459, 460, 469, 488, 492, 511, 533, 553, 558, 559, 561, 565, 567, 572, 581, 592, 627, 633, 652, 659, 668 –, Wesen des/der 353, 462, 469, 478, 485, 489, 543, 544, 550, 562, 580, 613, 625, 642, 645, 662 –, Wesensbestimmung als 313, 329, 342 –, Wesensbestimmung des/der/eines/ von 329, 332, 353, 370, 383, 401, 410, 466, 482, 543, 591, 592, 627, 646, 647, 654, 663, 668 Prozesse des Lebendigen/lebendige Prozesse 376, 575, 582, 613, 615, 622, 624, 637 –, und mentale(r) Pol 582 Prozessontologie(n) 27, 45, 142, 320, 330, 353, 377, 410, 469, 590, 598, 636, 641, 642 –, Bergsons 377, 598, 641 –, des Organismus 330 –, neue 45 –, und naturwissenschaftliche Systemontologien 469, 637 –, und Systembiologie 637 –, Whiteheads 142, 590, 598, 636, 641 Prozessphilosophie (Allgemeines) 407–411 –, Bergson’sche/Bergsons 44, 120, 360, 374, 397, 401, 511, 575, 671 –, Whitehead’sche/Whiteheads 45, 120, 325, 393, 406, 411, 415, 418, 421, 454, 465, 479, 492, 556, 590, 593–595, 604, 631–633, 636, 657, 671 (s. auch ›organische Philosophie‹) –, Entwurf einer neuen 656–676 –, neue 657, 672, 674, 675 Prozesstheologe/prozesstheologisch 229, 410, 424, 575 prozessuale Teleologie 531, 582, 616, 629, 637
732 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Begriffsindex Prozessualität 51, 313, 329, 331, 332, 336, 342, 357, 359, 362, 366, 374, 380, 385, 393, 400, 404, 410, 435, 445, 448, 494, 525, 557, 560, 566, 596, 621, 622, 624, 667 –, des Kosmos 385 –, göttliche/Gottes 362, 459 –, kosmische/kosmologische/kosmogonische 359, 374 –, und Subjektivität 329, 448 Psyche 75, 398, 676 Psychologismus 283, 516 Psychovitalismus 96, 108, 109, 112, 359, 580, 634 Quale/Qualia 37–39, 437, 456, 475, 476, 647, 654 (s. auch ›phänomenale Qualität(en)‹) Qualitäten –, primäre 418 –, sekundäre 418, 420, 476 Quantenbiologie 45, 124, 284, 458, 459, 582, 599–602, 606, 608, 610, 631, 636, 637, 651 Quantenereignisse 459, 549, 551, 600, 605, 608, 610, 612, 634, 658, 676 –, biologisch relevante 608, 610 –, biologisch relevante mesoskopischer Größenordnung 610 –, der Photosynthese 610 –, im Gehirn 605 –, vakuonische 658, 676 Quantenkohärenz 601–603, 605, 606, 608–612, 621, 623 –, lang anhaltende/langlebige 609 –, nicht-mikroskopische 610 –, und Gehirn 602, 606 Quantenphänomene –, biologische 608 Quantenphysik/Quantenphysiker/ quantenphysikalisch 37, 49, 114, 124, 137, 205, 211, 272, 284, 366, 382, 451, 454, 455, 457, 500, 503– 506, 551, 595, 599, 601, 611, 612, 619
Quantentheorie/Quantentheoretiker/ quantentheoretisch 38, 47, 114, 122, 123, 134, 270, 316, 319, 334, 411, 431, 453–456, 470, 504–506, 549, 551–553, 570, 598, 600, 604, 605, 607, 608, 612, 616, 620, 621 Quantenvakuum 291 Quantenzustand/Quantenzustände 319, 601, 602, 605, 606 –, des Gehirns 605, 606 Quantum/Quanten –, Energie- 455, 545, 599, 634 –, Materie- 634 –, räumliches/Raumquantum 488, 571, 590 –, raumzeitliches/Raum-zeit-Quantum 492, 493, 502, 537, 596, 613 –, Volumen- 569 –, zeitliches/Zeitquantum 370, 371, 488, 549, 569, 571 Quark 455, 460, 477, 479, 522, 524, 552 Rand des Chaos (Chaosrand) 184, 185 Randbedingung(en) 172, 173, 177– 181, 191, 192, 208–210, 213, 217, 218, 228, 236, 247–249, 251, 253, 259, 262, 264, 266, 270, 296, 500 Rationalismus 328, 422, 424, 427, 466, 499 –, und Empirismus 424, 499 räumliches Quantum/Raumquantum 488, 571, 590 –, der ›living occasion‹ 590 Raumzeit-Blase 455 Raumzeit-Geometrien 455, 470 raumzeitliches Quantum/Raum-zeitQuantum 492, 493, 502, 537, 596, 613 real essence 449, 468, 669 real internal constitution 449, 469, 493, 530 reale innere Beschaffenheit 449 reale Möglichkeiten 518, 590, 591, 594, 637, 638 (s. auch ›reale Potentialität‹)
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Begriffsindex reale Potentialität 591, 592, 638 (s. auch ›reale Möglichkeiten‹) reale(s) Wesen 468, 469, 543, 613, 614, 669 reale Wesenheit 297, 298 Realismus 200, 299, 302, 356, 357, 400, 420, 427, 450, 451 –, kritischer 427 –, Strukturen- 450, 451 –, Universalien- 299, 302, 356, 357, 400, 674, 675 Reduktion der Wahrscheinlichkeitswelle 604 (s. auch ›Kollaps der Wahrscheinlichkeitswelle‹) Regulationsentropie 267, 271 regulative(n) Geschlossenheit 244, 245 (Bedeutung), 247, 248, 250, 251, 254, 257, 259, 267, 268, 270, 278–280, 290, 340, 576, 645, 651 –, als echte Selbstorganisation 245, 254, 257, 278, 290, 576, 651 –, als Selbstkanalisierung 340 –, Berechenbarkeit der 268, 280 –, des Organismus 248, 251, 279, 290, 331 –, dynamische Tiefe und 268 –, nicht-berechenbar 259 regulative Offenheit 247, 331 Reich –, der ›eternal objects‹ 471–473, 476, 478, 558, 626 –, der reinen Gedanken 518 –, ewiger Objekte 477 reines Gedächtnis 391 reine Möglichkeiten 480, 514, 518, 566, 594, 673 (s. auch ›reine Potentialität/Potentiale‹) reine Potentialität/Potentiale 468, 470, 539, 561, 592 (s. auch ›reine Möglichkeiten‹) reine Sukzession 342, 350, 550 reine Wahrnehmung 536 Reinkarnation 397 Rekapitulationstheorie 103 relational essence 472, 473
relationale(s) Wesen 472, 473, 475, 479 Relation(en)/Relationalität –, bindende 128 (Bedeutung), 132, 190, 199, 303, 311, 576 –, externe: s. ›externe Relationen‹ –, interne: s. ›interne Relationen‹ –, Netzwerk der/Relationen-Netzwerk 129, 136, 147, 168, 170, 186, 190, 199, 206, 207 Relativitätstheorie 122, 134, 338– 339, 407, 410, 491, 504 Repräsentation 62, 306, 346, 490, 614 ›res extensa‹ 89, 90, 109 ›res vera‹ 439 Retention 547 Retrospektion 547 revidierbare –, Kosmologie 427 –, Metaphysik 45, 424, 427, 474, 566 –, Naturphilosophie 599 rigid designator 294 (s. auch ›starrer Designator‹) RNS-Polymerase 216, 217 Romantik –, englische 429 –, Neo- 110 Rückkopplung(en) 169, 171, 174, 175, 208, 209, 214, 217, 220, 226, 237, 255, 507 –, chemische 174, 175 –, negative 174, 214, 217, 220 –, positive 174, 208, 209, 214, 226 ›satisfaction‹ 543–544 (Bedeutung), 545, 546, 568, 571, 572, 581–583, 589–591, 593, 594, 604, 620, 621, 623 –, einer ›living occasion‹ 581–583, 589, 591, 620, 621, 623 –, und doppelt lokalisierte Seinsweise/ doppelt lokalisierte Verräumlichung 545, 593, 594 –, und objektive Unsterblichkeit 546 Satz vom zureichenden Grunde 461, 462, 467
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Begriffsindex Schamanismus 660 Schrödinger-Gleichung 370, 598 schwache Emergenz 201 schwache Selbstorganisation 305, 657 Schrödinger-Katze 505, 621 Seele 42, 66, 69, 70, 75, 79, 80, 81, 84–86, 88, 89, 96, 97, 102, 108, 109, 111, 117–120, 310, 326–329, 344, 351, 376, 394, 397, 398, 443, 444, 457, 522, 579, 580, 625, 632–634, 641, 644, 658, 676 –, -Körper 66, 376, 579, 580 –, -Materie 70, 633 –, menschliche 88 –, tierische 89 sekundäre Qualitäten 418, 420, 476 Selbstbewegung 70, 84, 91 Selbst-des-organisation 576 Selbsterkenntnis –, organismische 665 Selbstkanalisierung 248, 252, 259, 270, 340 Selbstkenntnis 653, 660, 664–672 –, (inner)organismische/des Organismus/des organismischen Subjekts 660, 664–668, 670, 672 Selbstkreation 342, 449, 463, 494 Selbstorganisation 26, 40, 43, 65, 106, 117, 118 (Bedeutung), 125, 130, 142, 151–153, 170, 172, 175, 199– 200, 203, 207, 215, 228, 238, 239, 245, 248, 254, 257, 259–263, 278, 290, 306, 308, 310, 323, 341, 383, 389, 576, 630, 631, 636, 642, 644, 651, 653, 656, 657, 660, 666, 670 –, chemische 175, 193 –, echte 245, 248, 254, 257, 259, 262, 278, 290, 306, 308, 310, 323, 341, 383, 576, 630, 631, 636, 642, 644, 651, 653, 656, 657, 660 –, organismische 258, 278 –, schwache 305, 657 Selbstorganisationstheorie 128, 151, 187, 243, 266, 269, 270, 277, 341, 415, 525, 651, 661, 670 (s. auch ›Theorie(n) der Selbstorganisation‹)
Selbstregulation 43, 107, 244 (Bedeutung), 245, 250, 251, 267, 270, 276, 308, 325, 613, 643 –, des Organismus/organismische 43, 107, 250, 276, 308, 643 –, Perpetuum Mobile der 267 Selbstschöpfung 462, 531 Selbstveränderung 371, 375, 389, 390, 672 Selbstvollzug 340, 349, 351, 352, 363, 373, 380, 385, 394, 562, 573, 633, 646, 647, 663 (s. auch ›Vollzug‹) –, der Dauer/›durée‹ 349, 373 –, des innerorganismischen Prozesses 663 –, Gottes 363, 562, 573 Selbstzweck 576, 627 Semiose 675, 676 Semiotik –, Bio- 521, 676 –, Physiko- 676 Separatrix 180, 183, 210, 211, 213, 214, 218, 219, 226 sexuelle Selektion 37, 42 Signal –, -Kaskade 211 –, -Leitungsbahn 208–211, 213, 214, 219 –, -molekül 208, 209, 232, 234, 235, 310 –, -Netzwerk 37, 207–209 Simulation(en) 33, 190, 208, 221, 227, 245–247, 251, 307, 590 (s. auch ›Computersimulation(en)‹) –, ganzer Zellen 227, 245 (s. auch ›whole cell simulations‹) Singularität 197, 315, 467, 585, 599, 668 ›society‹ 465, 518–521 (Bedeutung), 522–524, 526–528, 563, 569, 576– 581, 592, 622, 624, 628, 632 –, ›corpuscular‹ 502, 524, 525, 542, 553, 622, 624 –, ›personal order‹/personale Ordnung 522, 523, 526, 622, 624 –, und ›Abenteuer der Veränderung‹ 525
735 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Begriffsindex Solitone 610, 611 Sosein 195, 303, 312, 317 specious present 548 Spontaneität 102, 413, 420, 442, 459, 498, 499, 525, 576, 581 Sprachgemeinschaft(en) 295, 299 Sprachspiele 30, 295 Spur-und-Abdruck-Metapher (des Gedächtnisses) 344, 345, 548 starre(r) Designator(en) 294, 298 (s. auch ›rigid designator‹) stationär(e) 64, 169–171, 178–180, 184, 193, 199, 200, 202, 210, 211, 213, 218, 219, 221, 237 Stationarität 170, 178, 202, 210, 234, 259 statische Größen 236 (Bedeutung), 237–239, 246–248, 250, 254, 255, 257–259, 262, 263, 266–270, 272, 275, 290, 291, 300–303, 305, 307, 308, 326, 341, 629, 630, 634, 643, 645 –, als kanalisierende Größen 248, 262, 267, 643 –, als regulierende Größen 651 –, als steuernde Größen 327, 630 statistische Entropie 142–145, 157, 271 Sterblichkeit 58 stochastisch 137, 139, 180, 183, 242, 272, 594 Stofflichkeit 124, 366, 412, 451, 500 501 Stoffwechsel 53, 60, 222, 643, 646, 668 (s. auch ›Metabolismus‹) Streben 78, 102, 109, 117, 140, 153, 263, 323, 348, 354, 358, 444, 445, 468, 494, 508, 576, 593, 637, 648 Struktur 128 (Bedeutung) –, dissipative 169–171 (Bedeutung), 183, 185, 193, 264, 414, 651 Strukturbildung 43, 64, 65, 119, 122, 125, 127, 166, 168, 170–174, 177, 181, 182, 190–192, 202, 229, 237, 238, 241, 260, 262, 327, 391, 415, 631, 649, 670 –, chemische 173, 174
–, embryogenetische/ontogenetische 64, 229 –, mesokosmische 556 –, räumliche 171, 172, 182 –, raumzeitliche 171, 172, 182, 391 –, zeitliche 181 Strukturgesetz(e) 134, 186–187 (Bedeutung), 188, 190, 191, 201, 242, 255, 303, 305, 341, 350, 592, 635 –, Hierarchie von 188 ›subjective aim‹ 532–537, 541, 543, 547, 561, 563, 564, 579, 589, 615, 616 –, und Gott/Gottes 533, 534, 536, 564 ›subjective form(s)‹ 438, 475, 492, 497, 510 (Bedeutung), 511–513, 517, 518, 523, 529, 534, 538, 539, 543, 545, 559, 579, 586, 649 (s. auch ›subjektive Form(en)‹) Subjekt(e) –, können ihr Wesen bestimmen 323 –, logische(s) 448, 537, 540 –, organismische(s) 280, 307, 664– 666 –, Organismus als 648, 651, 655, 664 –, protokognitive 655 Subjekt-Prädikat-Struktur/Schema 75, 430, 431, 441, 507, 509 Subjekt-Superjekt/subjektiv-superjektiv 509, 532, 571 –, göttliches 571 subjektive Form(en) 438, 469, 476, 508 (s. auch ›subjective form(s)‹) Subjektivität 38, 57, 63, 152, 154, 273, 280, 323, 325, 329, 331, 332, 338, 339, 356, 358, 359, 363, 365, 369, 383, 385, 386, 400, 403, 405, 406, 409, 410, 412, 416, 417, 422, 424, 437, 438, 441–445, 448, 450, 452, 464, 498, 501, 509, 521, 527, 529, 531, 538, 542, 554, 559, 597, 599, 610, 615, 638, 640–642, 648, 649, 654, 660, 671, 672 –, der lebendigen Natur 406 –, elementare 409 –, göttliche/Gottes 365, 559
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Begriffsindex –, im/des Kosmos 356, 385 –, protomentale 610 –, unbewusste 325 –, und ›durée‹/Dauer 338, 339 –, und Materialität 412, 422, 424, 445, 640 –, und Organismus/Organismen 63, 325 –, und Prozessualität/Relationalität 329, 331, 332, 448, 452, 641 –, universelle 359 substantielle Form 525 Substanz (Bedeutung) 75 –, Descartes’sche 197, 431, 432, 445, 451 –, erste 76, 284, 297, 431, 439, 440, 445, 525, 543 –, immaterielle 97, 111 –, Seele als 80, 443 –, zweite 76, 298, 543 Substanz-Akzidens 446, 520 Substanzialismus 117, 310, 446 Substanzontologie 27, 75, 77, 112, 117, 294, 303, 312, 313, 323, 326, 336, 349, 405, 430, 431, 445, 446, 448, 449, 507, 508, 513, 636, 637 –, Aristotelische 312, 445, 637 –, monadologische 507 substanzontologisch 90, 293, 303, 304, 310, 324, 326, 349, 354, 374, 376, 397, 442, 529, 580, 633 ›succesion pure‹ 342, 511, 550, 554, 564 Sukzession –, reine 342, 350, 550 Sunyata 435 superject 508, 509, 544 Superjekt 508, 509, 514, 530, 541, 544, 568, 571, 620 (s. auch ›Hyperkeimenon‹) Subjekt- 509 superjektiv 508, 509, 532, 555, 567, 627, 654 –, subjektiv- 532 Superjektivität 507–509, 555, 627, 655 Symbol(e) 275, 379, 400
symbolische Formen/Systeme/Welten 249, 399, 670 symbolische Zukunft 400 Sympathie (animalische) 405 Synergetik 187 synthetische Biologie 216, 220 System(e) (Bedeutung) 127–132 –, abgeschlossene(s)/isolierte(s) 155, 156, 159, 160, 166, 199 –, dissipative(s) 125, 126, 171, 184, 263, 275 –, dynamische(s) 26, 36, 40, 119, 125–127, 132, 135, 137, 138, 152, 163, 167, 183, 190, 206–208, 214, 227, 234, 236–239, 241, 242, 257, 261, 262, 270, 275, 279–282, 289, 290, 299, 300, 305, 340, 351, 387, 388, 493, 511, 525, 576, 590, 593, 594, 653, 661 –, fern vom (thermodynamischen) Gleichgewicht 259, 260, 264–266 –, geschlossene(s) 155, 156 –, instabile Systeme 161, 162, 164, 272, 387 –, isolierte (bzw. abgeschlossene) 155–159, 166, 167 –, konservative(s) 126 –, lineare 268–270 –, nichtlineare 40, 166, 169, 182, 184, 269, 387 –, offene(s) 53, 112–114, 155, 156, 159, 170, 184, 193, 199, 200, 207, 259, 264 –, Vielteilchen- 110, 142, 160, 163 Systembiologie 26, 32, 34, 43, 50, 130, 153, 185, 187, 192, 202, 206, 207, 211, 214, 215, 244, 246, 258, 269, 270, 272, 284, 321, 330, 635– 637, 642 Systemismus 102, 282, 285, 289, 296, 465, 641 Systemontologie(n) 26, 44, 130, 285, 286, 288, 291, 292, 294, 296, 299, 300, 302–304, 311, 318, 356, 450, 452, 464, 467, 469, 474, 484, 637 –, biosystemisch-emergentistische 318
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Begriffsindex –, formale 292, 311, 330 –, (natur)wissenschaftliche 291, 294, 302, 304, 452, 469, 484, 637 –, philosophische 286, 304, 464, 474 systemontologisch 90, 136, 302–304, 374, 376, 633 Systemtheorie(n) 26, 28, 31, 44, 127, 130, 132, 151, 155, 187, 280, 310, 403, 415, 465, 507, 591, 594, 642 –, Allgemeine 31, 127, 130, 187, 239 –, biologische 28 –, formale 239, 280, 310, 328 –, nichtlineare 151, 415, 507 szientistisch-materialistisch 63, 124, 127, 151, 197, 245, 268, 324, 330, 331 szientistische(r) Materialismus 26, 28, 62, 122–124, 240, 244, 391, 397, 411 Teil-Ganzes-Beziehung 100, 193, 287, 322, 332 Teilhabe 367, 470, 471, 481, 663, 664 Teleologie 31, 42, 67–70, 73, 75, 78, 79, 86, 87, 90, 95, 102, 105–109, 115, 116, 130, 138–141, 153, 324, 352, 358, 509, 531–533, 582, 616, 629, 637, 652 –, antimetaphysische 115 –, Aristotelische 70, 79, 87, 88, 90, 153 –, biologische 75, 116 –, echte 109, 138–141 –, externe 153 –, interne 153 –, Pan- 75, 109 –, prozessuale 531, 582, 616, 629, 637 –, statische 95 –, universale 73 Teleologie-Verständnis Whiteheads 532 teleomatisch 115, 116 Teleonomie 115–118, 210, 213, 218, 219, 253 –, bistabile 218, 219 Teleonomismus 229, 230, 277
Tension 363, 364, 366, 371, 372, 377, 379–382, 386, 390–393, 398, 401, 402, 404, 405, 564, 574, 657–659, 662, 664, 668, 672, 676 –, göttliche 377 –, höchste 366, 659, 664 Teratogenese 252, 273, 274, 583 Theoretische(r) Biologe(n) 25, 34, 46, 65, 234, 244, 249, 275, 325, 635 Theoretische Biologie 25, 26, 31–33, 39–42, 46, 113, 114, 118, 119, 122, 127, 170, 193, 206, 228, 330, 381, 386, 393 Theoretische Physik 63, 127, 143, 453, 503 Theoretische Physiker 41, 149, 242, 411 Theorie der Entwicklungssysteme 50, 60 Theorie des Komplexen 159 (s. auch ›Komplexitätstheorie‹) Theorie(n) der Selbstorganisation 26, 31, 36, 37, 118, 119, 134, 190, 210, 636 (s. auch ›Selbstorganisationstheorie‹) Theorie des Organismus 25, 389, 641 660 (s. auch ›Organismustheorie‹) Thermodynamik 63, 99, 110, 113, 119, 124, 152, 154, 159, 174, 186, 200, 260, 263, 268, 415, 667 –, erster Hauptsatz der 99 –, irreversible 174 –, zweiter Hauptsatz der 63, 64, 113, 114, 124, 154–156, 199, 163, 164, 166, 186, 260, 261, 667 thermodynamisches Gleichgewicht 156, 157, 163, 166–169, 191, 261, 264–266, 268, 269 Tiergestalt 42 Tod(es) 56, 58, 87, 93, 111, 158, 165, 251, 253, 272–274, 281, 321, 322, 364, 383, 392, 397, 398, 554, 574, 583, 660, 669 ›togetherness‹ 518 Total-Holismus/total-holistisch 196, 197, 287, 315, 317, 467
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Begriffsindex Trajektorie(n) 132–133 (Bedeutung), 134–136, 141, 150, 156, 159–163, 180, 183–185, 189, 190, 197, 198, 200, 207, 211, 218, 219, 226, 252, 271–274, 281, 283, 303, 305, 306, 308, 316, 323, 324, 328, 351, 355, 384, 387, 388, 511, 526, 582–584, 588, 589, 593, 594, 597, 625, 635 –, benachbarte 161–163, 184, 211, 219, 252, 271, 272, 281, 306, 387, 582, 625 –, biologisch sinnvolle 274, 308, 582, 583, 588 –, divergierende/Divergenz von 161– 163, 184, 272, 387, 582, 588, 589, 635 –, instabile 328 –, Konvergenz von 183, 252 –, mögliche 180, 218, 387, 511 Trajektorien-Ensemble 160–162, 387, 635 ›transition‹ 529, 530–531 (Bedeutung), 552–554, 563, 564, 568, 598, 599 –, als makroskopischer Prozess 530 –, und makrophysikalische Zeit 552, 564 –, Zeitlichkeit/Zeit der 553, 554, 563, 564, 568 Turing-berechenbar/-Berechenbarkeit 242, 250, 252, 260, 281, 303, 306, 327, 341 Turing-Berechnung 276 Turing-Maschine 149, 242, 251, 252, 306, 329, 456 Turing-Modell 232, 234, 235 Überbewusstsein 361, 362, 364 überindividuelle(r) –, durée/Dauern 398, 659, 664–666 –, (organismisches) Gedächtnis 44, 391, 392, 584 –, Prozess 660 Übermechanik 93 übernatürliche Faktoren/Phänomene 38
Überorganismus 394–396 Umgebung 104, 127, 131, 132, 135, 137, 139, 151, 154, 155, 157, 166, 167, 169, 170, 177, 186, 202–204, 231, 240, 245, 247–249, 259, 261, 262, 264, 266, 270, 272, 277, 290, 297, 302, 318, 358, 445, 468, 493, 505, 541, 581, 605, 609, 643 –, Unterschied zum Begriff der Umwelt 131–132, 203, 247–250, 358 Umwandlung (transmutation) 540– 542 Umwelt 37, 50, 53–56, 63, 104, 132, 150, 203 (Bedeutung), 204, 230, 232, 247–250 (Bedeutung), 264– 266, 270, 277, 358, 492, 493, 520, 556, 643, 645, 646, 658, 666, 667, 672, 675 Umwelt-Umgebung 131–132, 203, 247–249, 493, 643 Unberührbarkeit 549 Unbestimmtheit 142–144, 150, 162, 163, 183, 184, 186, 211, 226, 252, 271, 280, 315, 316, 413, 494, 510, 557, 616–618, 667 –, des Lebendigen 617 –, des Organismus 617 Universalie(n) 133, 186, 187, 190, 195, 198, 283, 298, 299, 301, 302, 304–311, 314–316, 321, 322, 349, 351, 352, 356, 357, 384, 392, 400, 401, 403, 404, 409, 432–434, 436, 439, 467, 468, 471, 472, 481, 512, 543, 557, 586, 594, 626, 637, 641, 646, 656, 672–676 (s. auch ›Allgemeinbegriffe‹) –, als Zeichen 675 –, arithmetische/mathematische 305–307, 315, 322, 351, 384, 401, 543, 594 –, biologisch sinnvolle 306 –, der Universalien 436 –, physische 305–307, 314, 351, 356, 357, 384, 543, 594, 673 (s. auch ›eternal objects‹ → ›physische‹) –, prozessuale/Prozessualisierung von 641, 656, 672–675
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Begriffsindex –, Wesen von 314, 467, 512 –, zusammengesetzte 305, 306, 512 Universalie der Universalien 436 Universalien-Kombinationen 306 Universalien-Systeme 304, 305, 308 Universalienrealismus 299, 302, 356, 357, 400, 674, 675 Universalität 187, 188, 196, 198, 255, 290, 301, 310, 315, 317, 320, 433, 483, 637 –, der abstrakten Entitäten 308, 309 und Partikularität 290, 310 –, vs. Einmaligkeit 637 ›universe‹ 486 (Bedeutung), 490, 496, 497, 535, 539, 572 universelle Vernunft 416, 417, 435 Unsterblichkeit 111, 289, 393, 546, 560, 563 Unteilbarkeit –, der ›durée‹/Dauer 340–341, 365, 550, 563 –, des Wesens 312 Unvollendetheit der ›living occasion‹ 669 Urfeuer 72, 74 Urknall 494, 572 Urkognition 653, 666 urkognitiv(e) 653, 655, 656, 664, 665 –, Akte 653 –, Zwecktätigkeit 656 Urnatur Gottes 558 (Bedeutung), 559–561, 565, 566, 574, 592, 594, 626 –, und die Möglichkeiten der kosmischen Entwicklung 565 –, statische Ewigkeit der 559 –, und die reinen Möglichkeiten 594 –, und ›eternal objects‹ 558, 626 Urpflanze 98 Urtypus 98 Vakuum(s)/Vakua 319, 455, 457, 505, 622–625 –, der Originalität 624 –, der Wirkursachen-Kausalität 625 –, kausale Vakua der Ontogenese 625
–, Prozesse des 457 –, Quanten- 291 –, und Leben 622 Variable(n)/variable(s) 125, 129, 132– 134, 137, 188, 192, 198, 218, 224, 227, 228, 237–239, 247, 249, 258, 259, 269, 294, 387, 607 (s. auch ›dynamische Größen‹) –, dimensionslosen 224 –, Zustands- 125, 133 Vernunft –, göttliche 477 –, menschliche 307, 416, 422, 477 –, odysseische 618–619 –, Platonische 639 –, universelle 416, 417, 435 verräumlichte Zeit/Verräumlichung der Zeit 343, 554, 555, 560, 563, 564 verräumlichtes Denken 545 Verräumlichung 320, 322, 332, 333, 343, 366, 384, 486, 545, 593, 594, 597, 608, 620, 625, 637 –, der ›living occasion‹ 597 –, doppelte 322, 332, 545, 593, 594, 597, 608, 620, 625, 637 Verschränkung/verschränkt 37, 91, 148, 151, 152, 232, 234, 505 Verstärker 57 Verteilungsfunktion 145, 161, 387 Verursachung aus der Zukunft 139 Vielteilchensystem(e) 110, 142, 160, 163 Vielzeller 57, 58, 391, 650 ›virtual human‹ 227 Virtualität 373–380, 383, 403 virtuell 346, 374, 375, 378, 381, 383, 384, 390, 392, 455 Virtuelle(s) –, aktualisiert sich/und Aktuelles 373, 375, 376, 466, 598 –, und Mögliches 376 Vitalismus 41–43, 67, 92, 95, 96–99, 102, 105, 108, 109, 112, 113, 193, 200, 315, 349, 509, 579, 580, 633, 640 –, animistischer 96
740 https://doi.org/10.5771/9783495820896 .
Begriffsindex –, energetischer 99, 111 –, Neo- 31, 70, 110, 112, 113, 634 –, Psycho- 96, 108, 109, 112, 359, 580, 634 Vitalismus-Mechanismus-Streit 67 Vitalismus-Physikalismus-Streit 193 vollständiger Begriff der individuellen Substanz 307, 313, 431 Vollzug (im prozessphilosophischen Sinne) 400, 529, 588, 598 (s. auch ›Selbstvollzug‹) Volumenquantum 569 Vorgang/Vorgänge 330 (Bedeutung) Vorsokratiker 51, 70, 72, 81, 89, 461, 653 Wahrnehmung reine 536 Wahrnehmungströpfchen 547 Wahrscheinlichkeitsverteilung 145, 370 Wahrscheinlichkeitswelle(n) 455, 459, 470, 506, 551, 598, 602, 604 Wellenfunktion 387, 454–456, 551, 602, 616, 617, 620 Welt 3 (Popper) 517 weltliche ›actual entity‹/›actual entities‹: s. ›actual entity‹/›actual entities‹ → ›weltliche‹, s. auch ›weltliche(r) Prozess(e)‹ weltliche(r) Prozess(e) 459, 460, 469, 488, 492, 511, 533, 553, 558, 559, 561, 565, 567, 572, 581, 592, 627, 633, 652, 659, 668 (s. auch ›actual entity‹/›actual entities‹ → ›weltliche‹) Weltseele 75 Werden –, anti-entropisches 46, 63, 120, 187 –, embryonales 111, 230, 242, 377, 393, 619, 631 –, organismische(s) Werden 27, 30, 44, 61, 108, 138, 141, 240, 277, 279, 282, 309, 314, 459, 644 werdender Gott 363, 565
Werthaftigkeit 324, 481 Wesen –, abstraktes 468, 469, 478, 479, 501, 543, 614, 615 –, als eidos/Formursache 77, 80, 81, 89, 90, 102 –, der abstrakten Entitäten 284, 285, 291–304, 306, 309, 314, 467, 473, 646 –, der ›actual entity/occasion‹ 449– 452, 462, 466–468, 478, 481, 485, 493, 510, 530, 531, 535, 542, 544, 553, 616, 634, 658 –, der ›durée‹/Dauer) 339, 340, 342, 351, 363, 373, 375, 393, 659, 672 –, der ›eternal objects‹ 472–475 –, der materiellen Elemente 195–199, 291, 303, 314–318 –, der Organe 100 –, der ›prehension‹ 492 –, der ›proposition‹ 515, 516 –, der Prozesse 353, 462, 469, 478, 485, 489, 543, 544, 550, 562, 580, 613, 625, 642, 645, 662 –, der ›society‹ 520 –, der wirklichen Entitäten/wirklich Seienden 282, 291–304, 309–316, 321, 322, 436, 447, 467, 469, 473, 485, 490, 496, 497, 501, 505, 543, 633, 634, 642, 644, 645, 653, 654 –, des ›entirely living nexus‹ 582 –, des Lebens/Lebendigen 36, 268, 270 –, des Organismus 34, 43, 46, 58, 127, 273, 279, 281, 312 –, einer individuellen Substanz 667 –, Gottes/der göttlichen ›actual entity‹ 554, 555, 559, 560 –, in der Substanzontologie 77 –, individuelles 472, 473, 475, 479 –, organisiertes (Kant) 106 –, reales 468, 469, 543, 613, 614, 669 –, relationales 472, 473, 475, 479 –, technischer Systeme 254 –, von Universalien 314, 467, 512 wesenhafte Durchdringbarkeit/ Durchdringung 338, 350, 653, 661
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Begriffsindex wesenhaftes Ineinander 311, 317, 319, 338, 366, 447, 483, 501, 552, 572, 653, 661 wesenhaftes Nebeneinander 317, 319, 366, 484, 546 Wesensbestimmung –, als Prozess 313, 329, 342 –, des/der/eines/von Prozess(es/e/ en) 329, 332, 353, 370, 383, 401, 410, 466, 482, 543, 591, 592, 627, 646, 647, 654, 663, 668 –, der wirklichen Entitäten 313–316, 318, 319, 321, 322, 328, 340, 452, 612–613, 630–631, 634, 642, 645, 646, 675 –, Prozess der 322, 348, 365 –, und Selbstvollzug 373, 646, 647 Wesensinterdependenz/wesenhafte Interdependenz 309–311, 313, 314, 318, 338, 480, 481, 484, 507, 511, 521, 559, 566, 574, 580, 659 –, der wirklichen Entitäten/wirklich Seienden 309–311, 313, 314, 318, 484 wesensstiftende Interdependenz 505, 546 Wesenstransformation 315, 564, 568 Wesenstranszendenz 673 Wesensunabhängigkeit 301, 311, 318, 319 Wesensunterschied(e) 339, 349, 360, 371, 372, 545 whole cell simulations 227, 243 (s. auch ›Simulation(en)‹ → ›ganzer Zellen‹) Wiedergeburt 397, 398 Wirbeltier(e) 236, 395 wirklich Seiende 77, 79, 396, 439, 440, 448, 449, 452, 457, 460, 463, 465, 466, 468, 471, 472, 484, 485, 488, 490, 493, 495, 497, 499–501, 505, 506, 508, 511, 514, 517, 520, 529, 530, 535, 536, 539, 541–543, 545, 546, 555, 556, 558, 559, 561, 563, 568, 570, 574, 575, 580, 584,
587, 593, 630, 644, 645, 660, 662, 674 (s. auch ›wirkliche(n) Entität(en)‹) wirkliche(n) Entität(en) 111, 118, 131, 190, 249, 282–284 (Bedeutung), 287, 290–299, 302–304, 306, 309–316, 318–324, 328, 331–333, 340, 356, 367, 382, 384, 392, 398, 404, 409, 410, 417–419, 424, 433– 436, 438–442, 447, 448, 450, 452, 461–464, 467, 469, 473, 475, 479, 481, 483, 484, 487, 488, 490, 492, 493, 496, 497, 500, 503, 506, 508, 521, 528, 536, 543, 545, 576, 582, 608, 612–613, 621, 627, 630, 631, 633, 634, 637, 642, 644–646, 649, 653–655, 658, 668, 674, 675 (s. auch ›wirklich Seiende‹) –, als ›actual entities‹ 284, 438–440, 461, 464 –, als ›living occasion‹ 582, 649 –, als ›particularia‹/und Partikularien 283, 302, 309 –, als Subjekte 323, 441 –, als urkognitive Akte 653 –, meta-physische 503 –, organismische 309–313, 331, 649, 654 –, psychische 453 –, Verräumlichung der 320, 322, 384, 545 –, weltliche 367, 545, 668 –, Wesen der 322, 452, 469, 473, 543, 642, 645 –, Wesensbestimmung der 313–316, 318, 319, 321, 322, 328, 340, 452, 612–613, 630–631, 634, 642, 645, 646, 675 –, Wesensinterdependenz der 309– 312, 318 Wirkursache 43, 80, 89, 90, 119, 121, 122, 124, 127, 132, 137–139 (Bedeutung), 141, 166, 168, 169, 197, 198, 201, 243, 245, 257, 262, 263, 268, 271, 273, 276, 281, 317, 323, 324, 328, 329, 340, 360, 374, 414– 418, 491–493, 496–498, 500, 527,
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Begriffsindex 528, 530, 533, 572, 577, 581, 582, 587, 588, 593, 594, 625, 635, 641, 642, 653, 655 (s. auch ›causa efficiens‹) Wirkursachen-Kausalität 96, 102, 109, 118, 119, 122, 126, 132, 137– 139 (Bedeutung), 140, 152, 198, 201, 267, 272, 276, 279, 281, 303, 317, 321, 324, 326, 327, 376, 411, 414, 593, 625, 637, 646, 650 –, Vakua der 625 wirkursächlich-kausal(e) 102–104, 122, 139, 153, 169, 204, 240, 245, 251, 252, 262, 266–268, 277, 281, 289, 290, 317, 331, 369, 383, 470, 495, 529, 588, 635, 650 –, Indifferenz 635 Zeichen 57, 62, 277, 294, 298, 379, 419, 481, 674–676 –, Universalien als 675 Zeichenfolge 148, 149 Zeichensequenz 148–150 Zeitatom/Zeitatomizität 535, 549, 552, 564, 569, 571, 660 Zeitlichkeit 44, 336, 339–341, 347, 348, 379, 380, 382, 386, 389, 402, 405, 463, 469, 473, 511, 512, 547, 550, 551, 553, 554, 559, 562–565, 574, 631, 657, 673 –, biographische 386, 389 –, der ›concrescence‹-Prozesse 547 –, der ›durée‹ 341, 550 –, der göttlichen ›actual entity‹/ Gottes 511, 559, 562–565, 574 –, der Zelle 382 –, des Organismus/organismische 386, 389 –, eigentliche 347 –, uneigentliche 340, 402 Zeitontologie/zeitontologisch 164, 165 Zeitpfeil 387 Zeitquantum/Zeitquanten/zeitliches Quantum 369–371, 488, 549, 553, 569, 571
Zeittheorie –, epochale 547, 551, 562, 564, 631, 632 Zelle(n) 30, 50, 54–56, 58, 60, 83, 100, 114, 120, 126, 172, 182, 189, 192, 203, 205, 207–209, 211–216, 220– 224, 227, 229–232, 235, 236, 239, 241, 245–247, 317, 318, 345, 378, 382, 394, 395, 460, 477, 541, 568, 579, 587, 595, 599, 602, 611, 618, 623, 650, 659, 661–666 (s. auch ›Einzeller‹, ›Vielzeller‹, ›BénardZelle/-Konvektion/-Effekt‹, ›Couette-Zelle‹) –, Blut- 100, 618 –, Ei- 30, 211–213, 378, 382, 650, 663 –, Muskel- 208 –, Nerven-/Gehirn- 208, 345, 602 –, Pflanzen-/Tier- 55, 83 –, Simulationen ganzer 227 –, und Instinkt 395 –, Zeitlichkeit der 382 Zellteilung 55, 56, 378, 382 zelluläre Automaten 241 Zellwanderung 55, 228 Zellzyklus 227, 228, 246, 378 Zenons Pfeil 548, 568 Zufall 73, 137, 152, 158, 163, 273, 328, 402, 441, 606 –, ontischer 137 Zustand (Bedeutung) 132–133 –, Gesamt- 135–136, 138, 142–144, 146, 149, 157, 160–163, 180, 189, 198, 207, 220, 221, 271, 272, 284, 303, 310, 582, 587, 589, 593, 594, 613, 615, 620 Zustandsraum(es) 132–134 (Bedeutung) (s. auch ›abstrakter Raum‹, ›Möglichkeitenraum‹ und ›Phasenraum‹) –, Dimension(en) des 133–135, 188, 197, 220, 226, 250, 252, 253, 272, 281–284, 297, 300, 305, 306, 315– 317, 352, 588, 589, 591, 646 –, erweiterter 250–253, 263, 272, 279, 305, 306, 308, 322, 588, 625, 629
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Begriffsindex –, gesamtorganismischer 250, 591, 613, 667 Zweckmäßigkeit 45, 59–61, 65, 68, 69, 73, 91, 94, 102, 105, 107, 108, 119, 120, 263, 641, 650–652, 655, 661, 663, 666, 670 –, organismische 61, 65, 69, 94, 102, 105, 641, 650–653, 661, 663 Zwecksetzung 69, 78, 79, 138, 140, 353, 444, 652 Zwecktätigkeit 79, 138, 140, 153, 444, 576, 651, 652, 655, 656 –, Unterschied zur Zwecksetzung 652 –, urkognitive 656 Zweckursache 68, 77, 80, 81, 90, 109, 121, 122, 138, 139, 140–141 (Bedeutung), 245, 324, 352–354, 376, 414–416, 441, 445, 464, 473, 530, 533, 543, 556, 567, 572, 577, 581–
583, 593, 647, 652, 655 (s. auch ›causa finalis‹, ›Finalität‹ und ›Finalursache‹) –, initiale 533, 556 Zweckursachen-Kausalität 27, 96, 122, 123, 139, 140–141 (Bedeutung), 323, 352, 353, 376, 527, 595, 631, 648 (s. auch ›FinalursachenKausalität‹) zweckursächlich/Zweckursächlichkeit 528, 598, 647, 655 zweckursächlich-kausal 123, 324, 452, 582 zweiter Hauptsatz der Thermodynamik 63, 64, 113, 114, 124, 154–156, 159, 163, 164, 166, 186, 260, 261, 667 zweite Substanz 76, 298, 543 Zygote 650
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