Relational Becoming - mit Anderen werden: Soziale Zugehörigkeit als Prozess 9783839446904

People are always individuals and at the same time interwoven in collectives. To respond to the dynamics of these relati

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German Pages 260 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
1. Eintauchen in Chaoswelten
2. Wissenschaffende Prozesse
3. Koordinaten der Reise
4. Zwischen Plural und Singular
5. Mit Welten verbunden – Von Welten entrückt
6. Navigation ist Werden
7. Literatur
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Relational Becoming - mit Anderen werden: Soziale Zugehörigkeit als Prozess
 9783839446904

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Kerstin Meißner Relational Becoming – mit Anderen werden

Sozialtheorie

Kerstin Meißner, Erziehungswissenschaftlerin mit den Forschungsschwerpunkten Relationalität, dekoloniale Wissensproduktion und Denormalisierung. Im Zusammendenken von kritischer Wissenschaft, Aktivismus und Kunst sieht sie wichtiges Potenzial, gesellschaftliche Veränderungsprozesse anzuregen. Ihr besonderes Interesse gilt dabei Musik als kultureller Praktik.

Kerstin Meissner

Relational Becoming – mit Anderen werden Soziale Zugehörigkeit als Prozess

D188 Die Entstehung der Arbeit wurde durch ein Promotionsstipendium der Rosa-Luxemburg-Stiftung gefördert. Die Veröffentlichung wurde durch einen Druckkostenzuschuss der Ernst-Reuter-Gesellschaft Berlin und der Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4690-0 PDF-ISBN 978-3-8394-4690-4 https://doi.org/10.14361/9783839446904 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

»[H]eute träumen wir nicht mehr vom Welt-Ganzen, wir stehen mit ihm in Verbindung, wir sind mittendrin. Was traditionell ein universalisierender und vereinheitlichender Traum des Dichters war, wird für uns zu einem schwierigen Eintauchen in eine Chaos-Welt.«  (Glissant 2005: 27)

»[B]ehind the cotton wool is hidden a pattern; that we – I mean all human beings – are connected with this; that the whole world is a work of art […].«  (Woolf et al. 2002: 85)

»In the burning of the republic of the mind and not the republic of the heart we need to feminize our politics. We need new people. We need new myths.«  (Siyabonga Mthembu – Shabaka and the Ancestors)

Inhalt 1.

Eintauchen in Chaoswelten | 9

2.

Wissenschaffende Prozesse | 19

3.

Koordinaten der Reise | 37

4.

Zwischen Plural und Singular | 65

5.

Mit Welten verbunden – Von Welten entrückt | 97

1.1 1.2

2.1 2.2 2.3

Die Enti-Tätigkeit des Mit | 13 Meine Arbeit als Reise | 16

Die Re_Produktion von Wissen als Denken der Spur | 20 Welten fiktionalisieren | 25 Mit Daten sprechen und hören | 32

3.1 Da-Zu-Ge-Hören | 39 3.2 Körper als Kompass | 44 3.3 Ich höre was, was du nicht siehst | 50 3.4 Soziale Navigationen | 56

4.1 Pluralisierungsformen | 67 4.1.1 Gemeinschaft und Gesellschaft | 69 4.1.2 Nation als machtvolle Imagination | 73 4.1.3 Kultur als Lesart | 76 4.1.4 Habitus und die Reproduktion sozialer Ungleichheiten | 80 4.2 Singularisierungen | 84 4.2.1 Subjekte | 85 4.2.2 Identitäten | 89

5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4

Die Interferenz der Zugehörigkeitsverhältnisse | 99 Biographische Verhältnisse | 101 Räumliche Verhältnisse | 109 Emotionale Verhältnisse | 126 Temporale Verhältnisse | 142

5.1.5 5.2 5.2.1 5.2.2 5.3

Politische Verhältnisse | 153 Relational Becoming | 166 Musik als Metapher | 167 Soziale Navigationen sind denkfühlende Praktiken | 173 Oszillation zwischen Anbindung und Loslösung | 209

6.

Navigation ist Werden | 217

7.

Literatur | 231

1. Eintauchen in Chaoswelten

»Der Mensch ist schwer zu entdecken und sich selber noch am schwersten.« (Nietzsche 2011: 215) »Appearance is being and being is becoming.« (Bal und Hernández-Navarro 2011: 12)

Wir spielen »odd one out«. Fünf Karten liegen aufgereiht nebeneinander. Zu sehen sind jeweils eine Orange, eine Banane, ein Apfel, eine Birne und ein Schuh. Ein weiteres, gleiches Setting, jedoch mit anderen Bildern: Neben einer Postfiliale liegt eine Bäckerei, ein Optiker, eine Polizeistation und ein Zeitschriftenladen. Ebenso ein drittes Szenario: der gleiche Kartenaufbau, doch diesmal sind auf den Karten Personen abgebildet: ein Kind, eine junge Frau, eine ältere Frau, ein junger Mann, ein älterer Mann. Für alle drei Kartenreihen gilt die gleiche Aufgabenstellung: was nicht in die Reihe passt, soll aussortiert werden. Kein Problem, schnell sind der Schuh – aus der Reihe des Obstes – die Polizeistation – aus der Reihe der Geschäfte – und das Kind – aus der Reihe der Erwachsenen – aussortiert. Doch was geschieht, wenn alle Dinge der ersten Reihe aus Holz geschnitzt sind, außer die Orange, wenn alle Orte der zweiten Reihe nur als Zeichnung abgebildet sind, mit Ausnahme eines Fotos der Polizeistation und wenn in der dritten Reihe alle abgebildeten Menschen auf den Bildern Schwarz sind, bis auf den älteren Mann, der weiß ist!? Nach welchen Kriterien wird das Auszusortierende festgelegt? Und spielt es eine Rolle, ob ich mich zwischen Gegenständen, Gebäuden oder Menschen entscheiden muss? Die konkrete Aufgabenstellung sowie der jeweilige Kontext mag entscheidend dafür sein, auf welche Karte die Wahl trifft. Sicherlich ebenso die Gedanken und Vorstellungen derer, die sich in der Produktion der Karten für bestimmte Bilder und gegen andere entscheiden und somit die Auswahl der Möglichkeiten entscheidend beeinflussen. Doch vor allem haben die Einstellungen derjenigen, die sich für »the odd one« entscheiden müssen, also die Karte, die aus der Reihe aussortiert wird, wesentlichen Einfluss auf die Suche nach dem »richtigen«, unpassenden Bild.

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Relational Becoming

Der englische Titel beschreibt treffend das Ziel des Spiels: die nicht passende Karte, die auffällig andere, soll aussortiert werden. Was sind jedoch die Kriterien, nach denen das Auffällige, das Unpassende, »the odd one«, identifiziert wird? Wir nehmen Welten wahr, gestalten dadurch unseren Alltag und treffen daraufhin Entscheidungen. Je nachdem, wie wir geprägt und sozialisiert sind, was uns vertraut ist und was von uns erwartet wird, fallen diese Entscheidungen unterschiedlich aus oder ergeben sich erst gar nicht in unserem Möglichkeitsraum. Der Schriftsteller, Dichter und Philosoph des Postkolonialen, Édouard Glissant, nutzt in seinen Ausführungen über die »Poetik der Vielheit« den Ausdruck der »Chaos-Welt« zur Beschreibung globaler Komplexität (Glissant 2005: 27). Wir leben in Chaoswelten und Chaos lässt sich durch Ordnung vermeintlich beherrschen und be_greifen. Taxonomien sind Ordnungsversuche, die uns und unsere Umgebungen, verschiedenen Gesetzmäßigkeiten und auch Zufälligkeiten sowie materialisierten, kulturalisierten oder historisierten Praktiken folgend, in Kategorien einteilen. Wie Foucault in der »Ordnung der Dinge« (Foucault 1974) schreibt, ist Kategorisieren ein Prozess, der aus Fixierungen, Normierungen, Ausgrenzungen und Hierarchisierungen entsteht und selbige zur Folge hat. Wer ist Wir? Wer bin ich? Wo gehöre ich dazu? Wie konstituiert sich ein Wir? Welchen Einfluss hat das auf das Ich? Wer ist damit gemeint, wenn von Kollektiven gesprochen wird, wer ist ein- und wer ausgeschlossen? Ab wann und wie werden Singulare Teil eines Plurals, welche Vorstellungen existieren darüber und wollen sie das überhaupt?1 Diese Fragen sind keineswegs neu, doch die Arten und Weisen ihrer Verhandlung sind kontinuierlich in Bewegung. Vor dem Hintergrund eines globalisierten Kapitalismus, immer weiter fortschreitenden Prozessen der Neoliberalisierung (vgl. Pongratz 2017), dem Erstarken ausgrenzender und rechtspopulistischer Bewegungen sowie kontinuierlich anhaltenden Debatten über die Beschaffenheiten und Berechtigungen nationaler, sozialer und religiöser Kollektive, beschäftigt sich auch die kultur- und sozialwissenschaftliche Forschung anhaltend mit Fragen zu Identitäten und Zugehörigkeiten. Diese Aspekte sind auch Ausgangspunkt vorliegender Arbeit, deren grundlegende Motivation aber in den ambivalenten, sich 1

Ich und Wir, Individuum und Kollektiv, Singular und Plural, sind in dieser Arbeit rhetorische Figuren und politisierte Konstruktionen zugleich. Mit jedem Wir, Ich und Uns, auf das ich als Autorin im folgenden Text Bezug nehme, bin ich mir der damit verbundenen Uneindeutigkeiten bewusst. Es soll als Irritationsmoment dienen, an dem es sich lohnt, kurz hängen zu bleiben und sich zu fragen: Bin ich, als Leser_in, darin eingeschlossen? Welches Wir ist identifizierbar, welches bleibt unbenannt? Was bedeutet ein mögliches (Nicht-)Eingeschlossensein für mich? Eine Sensibilisierung für diese Fragen erfolgt durch den Bezug auf die komplexen zeitlichen, räumlichen und politischen Horizonte, sowie die emotionalen Vorgänge und biografischen Erfahrungen, die jede Ich- und Wir-Hervorbringung bedingen. Was genau dies für meine Perspektive auf Zugehörigkeitspraktiken bedeutet, wird hoffentlich auf den kommenden Seiten deutlich.

Eintauchen in Chaoswelten

überlagernden, kontroversen und ebenso vereinheitlichenden Beschaffenheiten von Kollektiven und Gemeinschaften besteht, die auf die komplexe Frage »Wer ist Wir?« nur unbefriedigende Antworten ermöglichen (vgl. Nancy 1988). Auch das Spiel »odd one out« bildet die diversen Un_Verbundenheiten der einzelnen Kategorien und Dinge, ihre Beziehungen, Geschichten, diversen Herkünfte und möglichen Zukünfte nicht ab. Es berücksichtigt nicht, wie wir immer wieder an Kategorien scheitern, an ihre Grenzen stoßen und von der, durch sie bedingten, Simplifizierung des Sozialen herausgefordert werden können. Kategorien verordnen uns Beziehungen und Bezogenheiten (vgl. Lorey 2008). Chaoswelten sind jedoch durch Pluriversalität charakterisiert, da in ihnen »the human [...] the natural [...] the spiritual« (Querejazu 2016: 3–4) untrennbar miteinander verbunden sind. Pluriversalität ist »not something that needs to be created, it is something that needs to be recognized.« (ebd.), wie die postkoloniale Theoretikerin Amaya Querejazu betont. Sozialität wird aus diesem Grund in den folgenden Ausführungen, in Anlehnung an Gilles Deleuze und Félix Guattari, als rhizomatisches und pluriversales Wurzelgeflecht verstanden (Deleuze und Guattari 1977). Daraus ergibt sich ein Zugehörigkeitsverständnis, das nicht Zustände, sondern relationale Prozesse der Anbindung und Loslösung erfasst und ein Doing Belonging zur Prämisse erhebt. Im Sinne des Doing-Ansatzes sind Zugehörigkeitspraktiken und -erfahrungen sowohl situative als auch soziopolitisch relevante, denkfühlende Vorgänge, die sich im Denken und in Körpern als Wissen, Emotionen und Begehren manifestieren (vgl. West und Fenstermaker 1995; Coleman 2012; Hirschauer 2014). Es wird gefragt, auf welche Arten und Weisen Soziale Navigationen Zugehörigkeiten produzieren, aufrechterhalten und verwerfen und welche Konsequenzen dieses Zugehörigkeitsdenken außerhalb »substantialistischer Konzepte der Moderne« (Keller 2011: 254) hat. Ich nehme in Beziehung zu theoretischen und empirischen Daten eine explizit dekonstruktivistische und intersektionale Perspektive ein (Winker und Degele 2009; vgl. Walgenbach 2012). In der Dekonstruktion eröffnet sich ein Denkraum, der es ermöglicht, das Phänomen Zugehörigkeit von einer vermeintlichen Ursprünglichkeit und Natürlichkeit zu befreien und es auf diese Weise zu re:politisieren. Dies impliziert, Zugehörigkeit als intimisiertes Grundbedürfnis und hegemonialisiertes Ereignis zusammenzudenken, das sowohl Ursache als auch Effekt sozialer Praktiken des Mit ist und Sein als kontinuierliches Werden begreift (vgl. Braidotti 2006a). Ein solches Relationales Werden ermöglicht es, das Potential von Verbindungen ohne Bindung ebenso wie die Möglichkeiten zur Loslösung zu berücksichtigen. Zwei in diesem Kontext relevante Begriffe sind Kontingenz (vgl. Hirschauer 2014) und Emergenz (Greve und Schnabel 2011). Beide implizieren die angesprochenen Möglichkeiten zur Veränderung, die potentielle Vielfalt an Möglichkeiten und die Unberechenbarkeit des Sozialen. Die »Kontingenzperspektive« (Reckwitz 2008: 17 zit. in Hirschauer 2014: 172) bedingt, dass alles, was realisiert wird und werden kann, auch in anderer Form realisierbar ist, während sich Emergenz auf die

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Relational Becoming

prinzipielle Nichtvorhersagbarkeit des Sozialen bezieht. Unsere Wahrnehmung ist kontingent: was ich beispielsweise als störendes Geräusch wahrnehme, empfindet eine andere Person als tanzanimierenden Klang. Obgleich komplexer, sind auch Humandifferenzierungen kontingent, »nicht nur, weil sie hergestellt und aufgebaut, sondern auch, weil sie gebraucht, übergangen und abgebaut werden können« (Hirschauer 2014: 173). Diese beiden wissenschaftstheoretischen Ansätze sind grundlegend für das Verständnis unserer pluriversalen Relationalität, die den gegenseitigen Kontakt, Austausch und Dialog zu einer Bedingung des Mit erklärt. Unter Berücksichtigung intersektionaler Theoriebezüge unterscheidet diese Form der Relationalität nicht zwischen Struktur und Handlungsfähigkeit, sondern versteht Zugehörigkeit als unausweichliche trans-aktionale Praxis und damit als Erfahrung des Mit-Seins und Mit-Werdens (vgl. Dépelteau 2008). Wie tauche ich nun forschungspraktisch in die Chaoswelten ein? Indem ich auch in der Form der Arbeit der Pluriversalität des Sozialen zu entsprechen versuche und zwischen meta-theoretischen und persönlich-empirischen Ausführungen oszilliere.2 So ist dieser Text auf verschiedene Weisen lesbar, in deren Zusammensetzung sich eine polyfone Wahrnehmbarkeit der Analyse ergibt. Die persönlich-empirischen Texte stehen in abgesetzten Paragraphen. Nicht, weil sich in ihrer Relevanz vom restlichen Text abheben, sondern vielmehr weil sie so bedeutsam für die Generierung meiner Theorie sind, dass sie eine besondere Form verdienen. Auf diese Weise erlauben es mir die Paragraphen auch, von einem analytisch-distanzierenden wissenschaftlichen Vokabular Abstand zu nehmen. Die Paragraphen funktionieren als Schnittstelle zwischen einer theoretischen Reflexion und empirischer Analyse – in ihnen drückt sich die Welt des realen Kontaktes außerhalb des Textes aus. Gleichzeitig ergibt sich aus ihrer formalen Abgrenzung die Möglichkeit, die vorliegende Analyse entweder nur entlang der meta-theoretischen oder der persönlich-empirischen Ausführungen zu lesen. In den Einschüben spreche ich meine Gesprächspartnerinnen an und ermögliche dadurch auch den Lesenden eine Beziehung zum jeweiligen Text. Wie die Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing in ihrer ethnografischen Arbeit über den Matutsake-Pilz schreibt, so gilt auch für meine Arbeit: »my experiment in form and my argument follow each other« (Tsing 2015: viii). Auf welche Weise ihr Aufeinanderfolgen sich ergänzt oder auch widerspricht, entfalte ich auf den kommenden Seiten.

2 Ich danke Iman Attia für diese Formulierung.

Eintauchen in Chaoswelten

1.1 Die Enti-Tätigkeit des Mit »In einer relationalistischen Perspektive wird der Beziehungsbegriff zum Grundbegriff.« (Häussling 2009b: 1)

Unsere Lebenswelten sind vielfältige Mit-Menschen-Welten, unser »Sein ist zusammen, und es ist nicht ein Zusammen« (Nancy 2004: 98). Im Kommunitarismus steht die Gemeinschaft über dem Individuum, im Liberalismus hingegen steht das singuläre, individualisierte Wesen über gemeinschaftlichen Verbindungen (vgl. Rosa et al. 2010: 153 ff ). Ich beziehe mich in den folgenden Betrachtungen wesentlich auf die Arbeiten Jean-Luc Nancys, insbesondere auf seine Ausführungen über das Mit-Sein (vgl. Nancy 2004), indem ich Zugehörigkeit als relationale Ver- und Entbindungsprozesse des Mit konzipiere. Auf diese Weise wird weder eine kommunitaristische noch eine liberale Perspektive eingenommen, sondern ein Standpunkt, der die identitären Bestrebungen beider Strömungen zu dekonstruieren versucht und dabei unsere Ko-Existenz betont. »Was auch immer existiert: Weil es existiert, ko-existiert es. Ko-Implikation des Existierens ist das Teilen einer Welt. […] Singulär plurales Sein heißt: Das Wesen des Seins ist, und ist nur, als Mit-Wesen […].« (Nancy 2004: 58–59). Wir sind nur in Verbindungen denkbar, selbst in unserer privaten Intimität sind wir nicht allein, sondern von Menschen umgeben. Wir haben »den Anderen in« uns, »da symbolische Beziehungen internalisiert werden« (Langer 2013: 121). Aus diesen Internalisierungen ergeben sich unsere Identifikationen und damit unsere Existenz (ebd.). Der Medienphilosoph Vilém Flusser bezeichnet das Ich aus diesem Grund auch als »Knotenpunkt von Beziehungen«, in dem sich die »›Intentionen‹ anderer verknäulen und als ›meine Intentionen‹ ins Gesellschaftsgewebe verlaufen« (Flusser 1997: 115). Die Formen des sozialen Gewebes und unserer Verbindungen lassen sich auf vielfältige Weise beschreiben. (Wahl-)Verwandtschaft, »Kinship« (Haraway 2008), »Relation« (Gergen 2009), Verbindung, »Konvivialismus« (Adloff und Heins 2015) »Assemblage« (Landa 2007), »Multitude« (Hardt und Negri 2004; Negri 2003) oder »Cohabitation« (Butler 2012b) sind einige Konzepte der Vielheit, die sich einer essentialisierenden Fixierung von Kollektivität verwehren und zum Teil in dieser Arbeit aufgegriffen werden. Statt also entweder das Singulare oder das Plurale zu betonen, stehen die Ambivalenz und Ambiguität von Zugehörigkeitspraktiken und -erfahrungen im Mittelpunkt. Diesen Gedanken folgend ist Mit immer zugleich eine Tatsache und Tätigkeit. Es ist eine Entität, die sich ereignet, und auf diese Weise zur Enti-Tätigkeit wird. Ein solches Mit lenkt die Aufmerksamkeit nicht auf die beiden Seiten, die es verbindet (»Sie lebt mit ihr«; »Wir gehen mit ihm«; »Die Jungen reden mit den Alten«), sondern auf das, was – und vor allem wie – zwischen ihnen stattfindet und in einer Universalisierung der Präposition mit ver-

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deckt bleibt. Wir sind nicht nur kategoriale Repräsentationen der Welt – wir lieben, denken, kämpfen, fühlen und streiten miteinander. Wir grenzen aus und ein, bevorzugen, benachteiligen, ignorieren, berücksichtigen oder setzen voraus. Wir bewegen uns, stehen still, schweigen, teilen uns mit oder halten uns zurück. »Why do we think that the existence of relations requires relata?« (Barad 2003: 812) fragt die Physikerin und Philosophin Karen Barad. Warum der Ansatz der Sozialen Navigation geeignet ist, sich den komplexen Antworten auf diese Frage zu nähern, führe ich im Verlauf der Arbeit aus. Wir sind auf andere angewiesen, da wir ohne einander nicht lebensfähig sind (vgl. Butler 2012a; Meißner 2015). Ohne die untrennbare Verbundenheit mit anderen Mit-Existenzformen, ob belebte oder unbelebte Materie (vgl. Haraway 2008), auszublenden, dreht sich diese Arbeit jedoch um den Menschen und seine sinnstiftende Position im sogenannten Pluriverse. Der Mensch ist immer da, vorausgesetzt, unhintergehbar und gleichzeitig eine Phantasiegestalt, ein Stellvertreter für alles, was passiert, in das er eingebunden oder von dem er entbunden und ausgeschlossen ist. Und gleichzeitig wird er durch diese Prozesse überhaupt realisiert. »Menschliche Körper und menschliche Subjekte existieren als solche nicht schon zuvor; sie sind auch keine bloßen Endprodukte. Menschen sind weder reine Ursachen noch reine Wirkungen, sondern ein Teil der Welt in ihrem unabgeschlossenen Werden.« (Barad 2012: 37ff)

Menschen sind und werden zu bedeutungstragenden Körpern und Subjekten, sie sind die implizit vorausgesetzten und einbezogenen Handelnden. Zugehörigkeit wird durch ein materiell-diskursives Zusammenspiel aus Körpern, Erfahrungen, Diskursen und Dingen und ein Navigieren zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmungen empfunden, manifestiert und damit auch mit-teilbar. Sind diese Feststellungen in aller Konsequenz ernst zu nehmen, können wir nie vollständig zugehörig sein, sondern immer nur in spezifischen Kontexten zugehörig gemacht werden oder uns zugehörig machen (vgl. John und Knothe 2004). Die Betonung der Enti-Tätigkeit ermöglicht es, Zugehörigkeit aus dem Korsett einer bio-logik (Oyěwùmí 2005a) zu lösen und stattdessen die Trans-Aktionen, die zu ihrer jeweiligen Konkretisierung und Aktualisierung führen, wahrzunehmen. Für Barad erfolgt die Weltherstellung über materiell-diskursive Praktiken, in denen soziale, kulturelle, psychische, ökonomische, natürliche, biologische, geopolitische und geologische Kräfte vereint sind (Barad 2003: 810, eig. Übers.). Sie kritisiert damit eine (disziplinäre) »Thingification« (Barad 2003: 812) der Welt, die Relationen immer in »›things‹, ›entities‹, ›relata‹« (ebd.) verwandelt. Eine daraus folgende dichotome Weltwahrnehmung, die beispielsweise in Menschliches/Nicht-Menschliches, Subjekt/Objekt, Körper/Geist oder Materialität/Diskurs unterteilt, reduziert komplexe Beziehungen auf Zustände, statt sich für ihre gegenseitigen Bezogenheiten zu öffnen. Für sie folgt daraus eine notwendige Onto-epistemo-logie der »practices of knowing in being« (ebd.: 829), also eine Wissenschaft, die Episte-

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mologie und Ontologie zusammen denkt. Auch wenn die Erkenntnisse der vorliegenden Arbeit vorwiegend in narrativ-diskursiven Prozessen entstanden sind, werden Soziale Navigationen als denkfühlende, materiell-diskursive Praktiken in Trans-Aktions-Verhältnissen (vgl. Dépelteau 2008) reflektiert. Die Enti-Tätigkeit des Mit steht damit einer isolierten und binären Verdinglichung von Welten entgegen. Zugehörigkeitspraktiken und -erfahrungen werden so nicht lediglich in Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten übersetzt, sondern als produktive und emergente Kräfte der Anziehung und Abstoßung, der Anbindung und Loslösung, verstanden. Fraglos ist der Mensch ein soziales Wesen. Gemeinschaften geben uns Halt, sie stabilisieren das Soziale, ermöglichen Identifikationen und ein Gefühl des Aufgehobenseins, während sie nicht selten gleichzeitig unsere Möglichkeiten einschränken und uns gewaltvoll ausgrenzen oder (Besitz-)Ansprüche erheben können. Die Unmöglichkeit, ihnen überhaupt eine konkrete Form zu geben, sei an dieser Stelle nur erwähnt, um unter dem Abschnitt »Pluralisierungen« genauer ausgeführt zu werden. So werden in hegemonialen Diskursen über Zugehörigkeiten kontinuierlich Wir-Formen tradiert, die Abwertungs- und Ausgrenzungsprozesse zur Folge haben. Häufig entziehen sie sich singularisierten Positionierungen und Erfahrungen und lassen kaum Platz dafür, Zugehörigkeit als relationale Praxis zu verstehen, die hergestellt und auch transformiert werden kann. Um diese Verhältnisse zu irritieren, müssen vermeintlich fraglos erscheinende soziokulturelle Einbindungen fragwürdig gemacht werden und umgekehrt. Der Theoretiker des Postkolonialen, Walter Mignolo, schlägt für eine solche Distanzierung von kolonialen und hegemonialen Zentren der Macht das Konzept des »Delinking« (Mignolo 2007) vor. Warum es, daraus folgend, unzureichend ist, Zugehörigkeit als erstrebenswertes Resultat einer fraglosen Einbettung von Singularen in Kollektivitäten zu verstehen, sondern eine Analyse vielmehr die kontinuierlichen und produktiven sozialen Kräfte des Angebunden- und Entbundenseins und -werdens, sowie die Aushandlungen des dabei-sein- und sich-abgrenzen-Wollens, berücksichtigen muss, ist der Inhalt der folgenden Seiten. Ausgehend von der Enti-Tätigkeit des Mit schlage ich eine doppelte Perspektive vor, Zugehörigkeitsverhältnisse in ihrer gegenseitigen Überlagerung – Barad spricht von Interferenzen (Barad 2012) – und ihrer Bedeutsamkeit für Soziale Navigationen zu verstehen. Ein Denken in Zugehörigkeitsverhältnissen ermöglicht die Betonung ihrer Multidimensionalität und Prozesshaftigkeit. Die Verhältnisse sind Wahrnehmungs- und Normalisierungsverhältnisse, die ich in fünf Analyseebenen unterscheide: die biografischen, die räumlichen, die emotionalen, die temporalen und die politischen Verhältnisse. Entgegen eines binären Zugehörigkeitsverständnisses wird auf diese Weise nicht ein Zentrum, zu dem ich entweder gehöre oder nicht, sondern die Interferenz der Verhältnisse in den Mittelpunkt gerückt. Darauf aufbauend konzipiere ich verschiedene Bedingungen, die Soziale Navigationen ermöglichen oder verhindern. Für diese Konzeptualisierung nutze ich Musik und Klang als Philosophie und Metapher, da sie einen Wahrnehmungsraum eröffnen,

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der durch das soziale Primat des Sehens (vgl. Schaffer 2008) häufig vernachlässigt wird. Unsere »imaginäre Gefangennahme« (Nancy 2014: 21) durch das Visuelle wird auf diese Weise um den »symbolischen Verweis« (ebd.) des Klanglichen bereichert. Ein solches Verständnis ermöglicht es, unter anderem das Imaginieren, Klingen, Dissonieren, Rhythmisieren und Adaptieren auf ihre Bedeutsamkeit als Soziale Navigationen zu befragen. Beide für diese Arbeit gewählten Zugänge stehen im gegenseitigen Wechselbezug: die Zugehörigkeitsverhältnisse ermöglichen und beschränken Soziale Navigationen, gleichsam beeinflussen Navigationen die Beschaffenheit der Verhältnisse. Die Enti-Tätigkeit des Mit wird durch die Explikation der produktiven Kräfte ihres Geworden-Seins und Werdens zugänglich. Hierfür sind das Hören und Empfinden von Welten ebenso sinnstiftend, wie die visuelle Weltwahrnehmung, da wir nicht nur sehen, sondern auch hören, wie und was wir (geworden) sind und werden können.

1.2 Meine Arbeit als Reise In Chaoswelten dienen wissenschaffende Praktiken der »Thingification« und Kategorisierung. Während diese Praktiken immer bereits existierenden Spuren folgen, verlangen sie auch das Legen eigener Spuren: Welchen Weg gehe ich? Die Arbeit ist gleichzeitig das Ergebnis einer explorativen Reise und eine Reise an sich. Wie bei allen Reisen gab es einen Ausgangspunkt, einen Ort, der kein isolierter Ort sein kann, da er immer bereits die Summe aller vorherigen Orte ist, seien sie physisch in der mir zugänglichen Welt oder aus meinen Gedanken zusammengesetzt. Insofern war es vielleicht gar kein Ausgangspunkt mit Blick in die Weite, der mein Losgehen initiierte, sondern das Erreichen einer Sackgasse, was eine Richtungsänderung notwendig machte. Für mich war diese Sackgasse mein Studium der Erziehungswissenschaft und insbesondere der Interkulturellen Pädagogik. Durch die Beschäftigung mit machtvollen und normierenden Konzepten wie Identität, Kultur und Zugehörigkeit im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Ein- und Ausschlüssen begegnete ich immer wieder ihrer Beschränktheit, Komplexität abzubilden. Meine vielfältigen wissenschaftlichen und pädagogischen Arbeitserfahrungen haben mir immer wieder die Bedeutung komplexer (Nicht-)Zugehörigkeitserfahrungen verdeutlicht, die oft umkämpft und auch unspezifisch sind und die sich nicht auf Kategorien wie Nationen, Kulturen, Ethnien, Alter, Geschlecht oder Habitus reduzieren lassen. Diese Erfahrungen führten mich dazu, das Phänomen Zugehörigkeit genauer zu analysieren. Aus diesem Grund ist mein gewählter Zugang und die Verortung der Arbeit transdisziplinär – sie ist eine grundlagentheoretische Exploration, die sich an einer imaginären Schnittstelle zwischen Cultural Studies, Pädagogik und Philosophischer und Politischer Anthropologie bewegt. Auf diese Weise wendet sich der folgende Text gegen eine Reduzierung auf eine

Eintauchen in Chaoswelten

interkulturelle oder migrationstheoretische Perspektive, sondern entwickelt, unter Berücksichtigung dekolonialer, feministischer, macht- und rassismuskritischer Ansätze, ein Zugehörigkeitsverständnis, das sich eben jenen begrifflichen und inhaltlichen Eingrenzungen widersetzt. Dies verunmöglicht auch eine spezifische erziehungswissenschaftliche Verortung, die jedoch notwendigerweise in über die Arbeit hinausgehenden Implikationen der Erkenntnisse für pädagogische Handlungsfelder besteht (vgl. Thompson 2014). Der philosophische Zugang ermöglicht es, vermeintliche Grenzen des Un_Wahrnehmbaren zu übertreten, Kritik am Bestehenden zu üben und sich, im direkten Wortsinn, zu wundern und zu staunen, während die machtkritischen Ansätze einer Politischen Anthropologie (vgl. Vigh 2009) und der Cultural Studies (vgl. Hall 1989) die soziale Macht und Wirkung ungleicher Zugehörigkeitsverhältnisse berücksichtigt wird. Mit einem Verständnis der Arbeit als Reise wird der Prozess und das Produkt des Doing Science meiner spezifischen wissenschaftlichen Navigation verdeutlicht. Auch ich bin und werde »mit«. So wird der Prozess des Forschens selbst zu einem grundlegenden Bestandteil der Forschung, da ich nicht nur unweigerlich involviert bin in das, was ich erforsche (vgl. Haraway 1988), sondern es gleichermaßen eben auch mitgestalte. Der Prozess symbolisiert die Enti-Tätigkeit des Mit, denn ich nähere mich dem Phänomen Zugehörigkeit durch meine Teilhabe an den von mir beschriebenen Praktiken an und navigiere in meiner Arbeit, während die Navigation selbst Gegenstand der Reflexion und Theoriebildung ist. Meine Kapitel beschreiben den Weg und die Sehenswürdigkeiten, also die theoretischen Orte, die ich für einen Zwischenstopp ausgewählt habe, die ich in und durch mein Schreiben wahrnehmbar mache. Jeder Entscheidung für oder gegen einen theoretischen Bezugspunkt gehen viele kleine Entscheidungen voraus, die Festlegung auf einen Pfad führt zu einer bestimmten Aussichtsplattform oder Hörstation und blendet andere aus oder macht sie unwahrnehmbar. Wie gestalte ich meine Navigation? Meine Reise hat an dieser Stelle bereits begonnen und bewegt sich im zweiten Kapitel, ausgehend von einem kritischen Wissenschaftsverständnis, durch die Methodologie meiner »Wissenschaffende(n) Praktiken«. Was bedeutet es, aus einer bestimmten Perspektive zu sprechen, Wissen zu re_produzieren, Theorien weiterzudenken und sie damit in die Welt zu setzen? Welche Verantwortung habe ich, diesen Prozess transparent und dadurch kritisierbar zu machen und gleichzeitig relevante und wirkungsvolle Aussagen zu formulieren? Ich erläutere in diesem Kapitel die Methodologie und Methode meines Vorgehens, mich auf biografische Geschichten als Ausdrucksformen und Verhandlungen des Mit zu beziehen. Entgegen einer empirischen Studie, die Aussagen über spezifische Personen oder eine Gruppe zum Ziel hat, verbinde ich die im Forschungsprozess verwendeten Materialien, die Theorien und die aus Gesprächen mit jungen Erwachsenen entstandenen, im Sinne der Konstruktivistischen Grounded Theory nach Kathy Charmaz (Charmaz 2014) und des Fictocriticism nach Michael Taussig (Taussig 1997; Mischke 2013), zu einer Polyfonie.

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Bevor ich dann gedanklich und physisch weitergehen kann, muss ich mich ausstatten. Meine Ausstattung sind, neben dem Stapel Bücher und der Kaffeetasse auf dem Schreibtisch, die theoretischen Konzepte und Ansätze, welche für mein Losgehen und meinen weiteren Weg unerlässlich sind und somit zu Koordinaten der Arbeit werden. Auf die folgenden vier Koordinaten gehe ich im dritten Kapitel ein: die Etymologie des Da-Zu-Ge-Hörens, die Bedeutung von Körpern, die Un_Wahrnehmbarkeiten von Zugehörigkeitspraktiken und die theoretische Einführung der Sozialen Navigation. Der nächste Zwischenstopp erfolgt im vierten Kapitel und setzt sich mit wesentlichen sozial- und kulturtheoretischen Grundannahmen auseinander, in denen Zugehörigkeiten verhandelt und verortet werden. Dies geschieht am Beispiel ausgewählter Kollektivitäts- und Gemeinschaftskonzepte, die, mit Nancy gesprochen, gesellschaftliche Plural-Formen ausmachen (vgl. Nancy 2004), sowie Perspektiven der Subjekt- und Identitätstheorien, die das »Singulare« des Sozialen erfassen. »Mit Welten verbunden – Von Welten entrückt« bezeichnet im fünften Kapitel die Dynamik meines Reiseziels, die Relationalität von Zugehörigkeit wahrnehmbar zu machen. Hier analysiere ich die Interferenz von Zugehörigkeitsverhältnissen und die vielfältigen Bedingungen Sozialer Navigationen, die sich mit und aus ihnen ergeben. Musik und Klang liefern dafür den philosophischen und metaphorischen Zugang. Im sechsten Kapitel erfolgt der vorläufige Abschluss der Reise unter dem Titel »Navigation ist Werden«. An dieser Stelle richte ich einerseits den Blick zurück auf die Reise und, unter Berücksichtigung der Erkenntnisse für eine kritische, relationale pädagogische Theorie und Praxis, nach vorn, auf mögliche Weiterreisen. Auch die notwendige Unabgeschlossenheit jeder Theorie muss ihr Werden und nicht ihre Fixierung berücksichtigen, sodass das Ende der Arbeit gleichzeitig zum Beginn neuer Denkspuren wird. Ein Kernanliegen des folgenden Textes besteht darin, Zugehörigkeit einerseits als stabilisierende Norm und Prozess zur Hervorbringung hegemonialer Machtverhältnisse und andererseits als intimisiertes Verhältnis mit Welten zu verstehen. Dies dient der Entmachtung und Re:Politisierung des Phänomens. Das kommende Vorgehen ist zweifelsfrei unbefriedigend, lückenhaft und streitbar und vollzieht sich insbesondere am Nicht-Gesagten, dem Unsichtbaren und den Grenzzonen. Es ist eine unvermeidbare Begleiterscheinung allen wissenschaftlichen Schreibens, die Dinge nie in ihrer Komplexität erfassen zu können. Eben darin sehe ich aber die Stärke eines Textes, eines formulierten Gedankengangs, einer schriftlichen Reise: zwischen dem und durch das Markieren und Festschreiben einer Analyse entstehen Lücken, im Nicht-Gesagten entsteht Raum für Dissens, Reibung und den Blick, das Gehör oder Gespür für Neues. Oder es eröffnet sich eine neue Wahrnehmbarkeit von bereits Vertrautem. Wenn dies möglich wird, ist ein wichtiger Antrieb für das Verfassen dieser Arbeit erfüllt.

2. Wissenschaffende Prozesse »Analysis helps us to imagine better; the imaginary then helps us to grasp the (not prime) elements of our totality. Case by case and society after society, the humanities, from anthropology to sociology, have studied these structural components and dynamic relationships. But none of these disciplines forms any conception of the overaIl rhythm, though without their work this would be inaccessible.« (Glissant 2010: 170)

Im folgenden Abschnitt erläutere ich meine methodologische und methodische Vorgehensweise. Dies impliziert die Herausforderungen und Schwierigkeiten wissenschaftlicher Denkprozesse, die eine Re_Produktion von wissenschaftlich gültigem und anerkanntem Wissen zum Ziel haben, ebenso wie die damit verbundenen Entscheidungen, welche Daten auf welche Weise generiert, analysiert und letztlich in den finalen Text einbezogen wurden. Ich beschreibe diese Prozesse in Anlehnung an Édouard Glissants »Denken der Spur« (Glissant 2005: 21ff ) und beziehe mich im weiteren Verlauf auch auf die »Constructing Grounded Theory (CGT)« nach Kathy Charmaz (Charmaz 2014) und den »Fictocriticism«, die von Arbeiten des Kulturwissenschaftlers Stephen Muecke und des Anthropologen Michael Taussig (Muecke 2002; Taussig 1997) inspiriert sind und meine Haltung im Sinne einer kritischen Wissensproduktion verdeutlichen. Die notwendige Textproduktion als zentraler Bestandteil eines Forschungsprojektes stellt mich vor die Herausforderung zu entscheiden, wie ich meine Forschungsergebnisse präsentiere. In einem induktiv-zirkulären Vorgehen entstanden Daten und Theorien ihrerseits aus Daten und Theorien. Das zyklische Vorgehen erlaubte mir ein methodisches Experimentieren, meine Forschungsergebnisse und Interpretationen in neue Fragen zu verweben und auf diese Weise – Stück für Stück – meine Arbeit aufzubauen. Ich habe biografisch-narrative Interviews geführt, die durch mein theoretisches Interesse an Zugehörigkeit initiiert wurden, während die biografischen Erzählungen ihrerseits neue Denkprozesse anregten und neue theoretische Auseinandersetzungen generierten. Im Mittelpunkt stand dabei immer die zentrale Problemstellung, die sich während der Forschung

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ergeben hat: wie ist ein anderes, ein prozessuales und fluides Nachdenken über die Bedeutung von Zugehörigkeitserfahrungen möglich? Ein Ergebnis dieses Prozesses lässt sich auch am Wandel des Titels meiner Arbeit verdeutlichen: So wurde aus meinem ursprünglichen Interesse an der »Verortung des Selbst« eine Auseinandersetzung mit unserem singularisierten und kollektivierten Werden, unserem »Relational Becoming«.

2.1 Die Re_Produktion von Wissen als Denken der Spur Ich kann keine Arbeit über das Mit-Sein und -Werden schreiben, in der ich mich unbeachtet davon stehle oder unwahrnehmbar mache. Mein Zugang zu dem Thema ist genauso Bestandteil dieses Mit, wie es die Theorien und Personen sind, zu denen ich mich in Beziehung setze und auf eine bestimmte Weise verhalte. In der Wissenschaft wird das schreibende und denkende Subjekt in der Regel nicht anwesend oder wahrnehmbar gemacht (vgl. Bethmann und Niermann 2015). Jegliche Erfahrungen schärfen und beeinflussen jedoch unser Verständnis und den Blickwinkel, durch den wir die Welt und soziale Phänomene betrachten und somit auch die Formen des Forschens und Schreibens – jedes Wissen ist situiertes Wissen (vgl. Haraway 1988). Diese grundlegende Maxime der vorliegenden Auseinandersetzung impliziert auch eine kontinuierliche Herausforderung zur Wahrnehmung meiner eigenen vielfältigen Eingebundenheiten in biografische, emotionale, räumliche, temporale und politische Zugehörigkeitsverhältnisse, sowie deren analytische Betrachtung und Navigation. Im Sinne des Mit-Seins bin ich immer bereits Bestandteil der Prozesse, für die ich mich interessiere. Diese Prämisse ist im Text verwoben, ohne jedoch das Potential wissenschaftlicher Analyse für gesellschaftliche Veränderungen zu negieren. Gerade das Bewusstmachen der eigenen verschränkten Positionierung im sozialen Gefüge kann einen möglichen Handlungsraum eröffnen, ausgehend davon Alternativen und neue Denkweisen zu entwickeln (vgl. Bethmann und Niermann 2015). Ich übernehme die volle Verantwortung der Autorinnenschaft dieses Textes, also ist es nur konsequent, im Text auch als Autorin in Erscheinung zu treten. Schreiben selbst ist ein Erkenntnisprozess. Im Schreiben bin und werde ich. Um dem Anspruch an die analytische Dekonstruktion als Haltung, Forschungs- und Schreibpraxis gerecht zu werden, folge ich dem von Édouard Glissant entworfenen »Denken der Spur«, das er als »weder systematisch, noch bezwingend«, sondern als »nicht-systematisch, intuitiv, brüchig, ambivalent« definiert, da ein solches Denken »der Komplexität und der außerordentlichen Vielfältigkeit der Welt, in der wir leben, am besten gerecht wird« (Glissant 2005: 21). Denken als Prozess des Werdens wird hier dem Wissen als vermeintlich finalem, normativem Zustand des Seins vorgezogen.

Wissenschaffende Prozesse »Während Wissen durch eine Reihe normativer Praktiken ‒ Disziplinen ‒ in Umlauf gebracht und gehalten wird, soll hier mit Denken auf Netzwerke der Nichtdisziplinarität verwiesen sein, auf Fluchtlinien und utopische Infragestellungen. Natürlich birgt Wissen bedeutende emanzipatorische Potenziale, […] aber Wissen als ›das sein, was man weiß, was man gelernt hat‹, bedeutet auch eine Beschränkung: Es ist etwas, das einen zurückhält, in eine Tradition einschreibt, in bestimmte Parameter des Möglichen – und was dementsprechend gewisse Ausschlüsse in Bezug auf Denk- oder Vorstellungsmöglichkeiten mit sich bringt […].« (Sheik 2006: 119ff)

Mein Wissen soll mich nicht zurückhalten und nur für eine bestehende Wissenschaftstradition passend machen, sondern vielmehr durch eine »empirisch fundierte Reflexivität« (Bethmann und Niermann 2015: 21) dazu beitragen, dass sich neue »Denk- und Vorstellungsmöglichkeiten« (Sheik 2006: 119) eröffnen. Daraus ergibt sich auch die Frage, was überhaupt als Wissen verstanden und akzeptiert wird. Wissenschaft trägt eine Verantwortung für die möglichen Betrachtungsweisen und Fragestellungen, mit denen Welten analysiert werden und Menschen sich in ihnen verorten (vgl. Langer et al. 2013), denn »Beschreibungen sind Interventionen in die Konstitution der Wirklichkeit« (Bethmann und Niermann 2015: 21). In ihnen zeigen sich die Verwobenheiten von diskursiver und materieller Wirklichkeit (vgl. Barad 2012). Wir leben in einer Welt der Hierarchisierungen, sodass ein Ziel wissenschaftlicher Annäherung nicht die Akzeptanz und Beschreibung dieser ungleichen und ausgrenzenden Machtverhältnisse, sondern auch eine Kritik an den Verhältnissen sein sollte (vgl. Freikamp et al. 2008). Forschung bekommt auf diese Weise auch einen interventionistischen Charakter (vgl. Winter 2010). Der Anspruch an eine kritische Forschungshaltung und -praxis umfasst somit komplexe Fragestellungen und Herausforderungen. Sollen diese nicht lediglich als bloße Markierungen von Kritik außerhalb bestehender wissenschaftlicher Systeme erfolgen, muss die eigene Ortsgebundenheit und das eigene Involviert-Sein in diesen Systemen, wenn möglich, kontinuierlich reflektiert und mitgedacht werden (vgl. Haraway 1988). Vermeintliche Selbstverständlichkeiten sozialer und wissenschaffender Praktiken können so aus dem Verborgenen geholt werden. Mit der Benennung und Reflexion hegemonialer Ordnungen sind ein verändertes Wissen und veränderte Wahrnehmungspraktiken denkbar, die Prozesse des Werdens auch im Sinne eines »epistemischen Ungehorsams« (Mignolo 2012) ermöglichen. Feministische, dekoloniale und machtkritische Ansätze der Wissensproduktion sind relevante Bezugspunkte dieser Arbeit, da »das dekoloniale Denken und die dekoloniale Option nicht aus Konflikten mit der imperialen Differenz, sondern aus Erfahrungsräumen und Erwartungshorizonten, die von der kolonialen Differenz hervorgebracht werden« (Mignolo 2012: 201–202) entstehen. Solche Erfahrungsräume durchdringen Zugehörigkeitsverhältnisse und bedingen die Navigation jenseits binärer Kategorisierungen, da sie die diversen Welten ausdrücken, in denen sie sich jeweils manifestieren.

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Das Festschreiben symbolisiert somit eine Entscheidung zwischen einem sinnlichen Wandern auf und mit dem Text und der Formulierung klarer Gedanken mit Schärfe und politischer Aussagekraft. Im Schreiben entstehen und manifestieren sich Gedanken auf ähnliche Weise, wie sie auch durch das Sprechen teilweise erst hervorgebracht werden, wie Heinrich von Kleist in seinem kurzen Band »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« aus dem Jahr 1805 formuliert (Kleist 2011). Jede wissenschaftliche Arbeit, jedes Festschreiben, beinhaltet neben dem final Lesbaren auch all die unwahrnehmbaren Bestandteile, die den Text beeinflussen. In ihrem Buch »Women, Native, Other« betrachtet die Filmschaffende, Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Trịnh Thị Minh Hà Schreiben aus diesem Grund nicht als Ausdruck von Realität, sondern vielmehr als ein Festhalten der Prägung, die die Welt auf ihr hinterlässt. Die Prägung drückt sie aus, nicht umgekehrt. »To write well […] is to arrange the signs of literary conventions so as to reach an optimum form to »express« a reality – such as, for example, the self (hence the concept of art as self-expression), which is often taken for something given, as solid, as referable as an object that lies deeply hidden under my layers of artificialities, waiting patiently to be uncovered and proven. Yet I-the-writer do not express (a) reality more than (a) reality impresses itself on me. Expresses me.« (Minh Hà 1989: 18).

Wenn materiell-diskursive Wirklichkeiten uns ausdrücken, ist keine wissenschaftliche Arbeit frei vom politischen Kontext, in dem sie überhaupt entstehen kann. So finden sich auch die Spuren zeitgeschichtlicher Ereignisse in dieser Arbeit wieder, die als eine Art Hintergrundgeräusch oder auch Skript die Handlung beeinflussen. Ich bewege mich mit dieser Haltung in der Tradition der Cultural Studies, die eine Verbindung zwischen Theorie und politischem Handeln in der Forschung als unerlässlich erachtet. Auch wenn es in den Cultural Studies keineswegs darum geht, Tagespolitik zu betreiben, so zeichnen sich ihre Arbeiten durch ihren »interventionistischen Charakter« aus, der das Ziel verfolgt, »ein Wissen zu produzieren, das [...] Veränderungen ermöglicht« (Hepp et al. 2009: 10). Stuart Hall versteht in diesem Zusammenhang den »Zweck des Theoretisierens […] darin, uns Möglichkeiten zu eröffnen, die historische Welt und ihre Prozesse zu erfassen, zu verstehen und zu erklären, um Aufschlüsse für unsere eigene Praxis zu gewinnen und sie gegebenenfalls zu ändern.« (Hall 1989: 173). Da ich jedoch nicht journalistisch schreibe, mich also nicht mit einer Kommentierung und Berichterstattung des Zeitgeschehens beschäftige, ist meine Distanz zum Gegenstand ein zweischneidiges Schwert. Sie ist zweifelsfrei notwendig, um mich analytisch mit dem Thema auseinanderzusetzen. Gleichzeitig bin ich in meine Forschung involviert und durch meine Position mit Privilegien ausgestattet: als weiße Wissenschaftlerin, die finanzielle Förderung für die Entstehung dieser Arbeit, den Zugang zu Ressourcen und öffentlichen Räumen. Diese Pri-

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vilegien implizieren eine Verantwortlichkeit, meine Möglichkeiten der Beschreibung und Distanzschaffung zum Thema Zugehörigkeit für eine kritische Debatte zugänglich zu machen und, soweit es möglich ist, den berühmten Elfenbeinturm der Wissenschaft zu verlassen. Darin sehe ich auch die Herausforderung, ein anderes, machtkritisches Schreiben umzusetzen, indem ich zum Beispiel die Praxis des Wissenschaffens in einem reflexiven Denken der Spuren (vgl. Glissant 2005) transparent mache (vgl. Langer 2013; Bethmann und Niermann 2015). In diesem Sinne hat sich mein wissenschaftlicher und privater Blick, notwendiger- und natürlicherweise, durch den Forschungsprozess erweitert. Das Schreiben einer wissenschaftlichen Forschungsarbeit ist ein »write of passage« (Noy 2003): ein Transformationsprozess des Werdens, der in vielen Bereichen Unsicherheiten entstehen lässt, Fragen aufwirft, wo vorher – vermeintlich – Klarheiten existierten und der gleichzeitig Erkenntnisse stabilisiert und fixiert. Die vorliegende wissenschaftliche Betrachtung ist auch Ausdruck meiner Tätigkeiten in der politischen Bildungspraxis und deren theoretischer Reflexion. Für die Annäherung an das Phänomen Zugehörigkeit und die Entwicklung meines Erkenntnisinteresses war es unausweichlich, meine akademische Perspektive in Verbindung zu meinen praktischen Erfahrungen als Referentin der Politischen Bildung und vice versa zu verstehen. So ist der thematische Zugang, mich über persönliche Geschichten mit Sozialen Navigationen in Zugehörigkeitsverhältnissen zu beschäftigen, auch wesentlich beeinflusst und inspiriert von meiner Arbeit in der transatlantischen Film- und Bildungsinitiative »with WINGS and ROOTS« (with WINGS and ROOTS 2017). Ein Hauptanliegen des transmedialen und transnationalen Projektes ist es, mit künstlerischen, aktivistischen und pädagogischen Ansätzen, in gemeinschaftlichen Bildungsprozessen und über das Medium Dokumentarfilm, zum Nachdenken über Zugehörigkeitserfahrungen und -praktiken in einer von globalen Bewegungen und sozialer Ungleichheit geprägten Welt anzuregen. Unter dem Stichwort »Re:Imagine Belonging« stehen insbesondere Diskriminierungserfahrungen und alltägliche Herausforderungen der Protagonistinnen des Films, die alle familiäre oder eigene Migrationserfahrungen teilen, in Folge eng gefasster und tradierter Vorstellungen von Gemeinschaften und Zugehörigkeit_en im Mittelpunkt. In der Auseinandersetzung mit dem Anspruch, ebendiese Vorstellungen neu zu denken, stellte sich, im Sinne eines Re:Imaginierens, immer wieder die Frage nach den restriktiven Beschaffenheiten »natio-ethno-kultureller« (Mecheril 2003) Zugehörigkeitskonstruktionen, die aufgrund ihrer Binarität und Exklusivität als untauglich und prekär identifiziert werden. Diese praktischen Erfahrungen sind ebenfalls eine wesentliche Spur der vorliegenden Arbeit. Auf verschiedenen Ebenen informiert zu sein, führt auch dazu, zu viel im Blick behalten und der Parallelität von Gedankengängen gerecht werden zu wollen. Gerade das Schreiben verlangt jedoch eine Linearität, die mich auffordert, eine bestimmte Spur zu legen und dieser zu folgen. Aus diesem Grund gibt es im folgenden Text Klammern, Unterstriche und Fragen. Sie dienen der

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Wahrnehmbarkeit von Brüchen und anderen Lesarten und kommen immer dann zum Einsatz, wenn die Entscheidung für einen Blick, eine Bezeichnung oder einen Gedanken nur schwer möglich ist und Platz für die Gleichzeitigkeit verschiedener Perspektiven sowie Irritationen geschaffen werden soll. Ich übernehme diese Schreibweise aus der Gendertheorie, die den Unterstrich einführt, um Platz für ein nicht-binäres Verständnis von Geschlecht zu schaffen und auf dessen soziale Performativität hinzuweisen (vgl. West und Fenstermaker 1995; Butler 1997). Mit_Teilung unterliegt Gesetzen, die nur schwer zu unterwandern oder gar zu verändern sind (vgl. Hornscheidt 2015). Umso wichtiger ist es, sich der unreflektierten Wiederholung dieser Normen, wenn möglich, durch eine eigene Ausdrucksweise zu widersetzen und so eine eigene Sprache zu entwickeln. Nicht zuletzt entsteht wissenschaftliches Denken und Schreiben immer auch in der Wiederholung und Referenz auf bereits Gesagtes. Nach Glissant ist »die Wiederholung [...] eine Form, unsere heutige Welt kennenzulernen; in der Wiederholung beginnen wir einen kleinen Anfang von etwas Neuem in seinem Aufscheinen zu entdecken.« (Glissant 2005: 23). Gerade auch – oder ausschließlich? – in der selektiven Verbindung bereits bestehender Gedanken und Perspektiven liegt dann das Potential, neue Spuren zu entdecken und sich bisher Unbekanntem zu nähern. Diese Arbeit ist ein Produkt diverser Transformationsprozesse und Kollaborationen. Inspiriert durch die vielfältigen Welten, die mich umgeben, durch Theorien, Literatur, Musik, Gespräche und die Menschen, die mich auf dem Weg begleitet haben, ist die Arbeit im wahrsten Sinne ein Produkt des Mit. Üblicherweise stehen Danksagungen am Anfang oder Ende eines Textes. Da ich in diesem Abschnitt jedoch über die Bedeutung relationaler Praktiken für die kritische Wissensproduktion eines Denkens in Spuren geschrieben habe, ist es nur folgerichtig, meinen mit dem Entstehen dieser Arbeit verbundenen Dank an dieser Stelle auszusprechen. Ein Denken der Spur vollzieht sich immer entlang vieler Spuren und meine Denkprozesse wären ohne folgende Menschen, die meine Navigationen begleiten, initiieren und beeinflussen, undenkbar gewesen. Ich danke: Allen inspirierenden Personen, die sich mutig für ihren eigenen Ausdruck, ihr eigenes und diverses Mit-Welten-Sein stark machen und dieses, entgegen aller Widerstände, konsequent vertreten. Meinen Interviewpartner_innen, für eure Zeit und die vertrauensvolle Mit-Teilung eurer Gedanken und Erfahrungen. Aki, dafür dass du den Körper wahrnehmbar gemacht und meine wissenschaftliche Navigation durch deine fundierte Kritik maßgeblich beeinflusst hast. Olga, für deine klugen Leidenschaften und Anmerkungen. Isabel, für das beste Fundament einer liebevollen Oszillation. Valentina, Tatjana und Sophie, dafür, dass wir gemeinsam werden, ohne immer gleich schwingen zu müssen. Sarah, für den klingenden Aktivismus und ein neues Hobby. Steph, für deine denkfühlende Anwesenheit. Justus, für deine Musik und kluge Unterstützung. Pamm, für deine Kreativität und Visionen. Mark, dafür, dass du das Offensichtliche für mich wahrnehmbar gemacht hast. Ohne dich hätte diese Arbeit keinen Klang. Sharon, für das Ermutigen, eine eigene (wissenschaftliche) Sprache zu finden, sie in die Welt zu holen und ihr zu vertrauen. Iris, für die Relationalität. Johanna, für deine Zeit und wertvollen Gedanken. Johannes, für

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dein Gehör. Molly, für die Begeisterung des narrativen Welt-Machens und Welt-Verstehens. Samira und Nora, für eure inspirierenden Storytelling-Fähigkeiten. Jan, für deine Sprachleidenschaft. Klaus, für deine gestalterische Klarheit. Martin, für deine Liebe zum Detail und zu kritischer Philosophie. Ava, Matilda, Neo, Ada, Amia und Manjula, für euer neugieriges Werden. Meinen Eltern, für eure Unterstützung meiner Begeisterung fürs Denken und das Vertrauen, in Verbundenheit verschieden werden zu können. Iman Attia und Christoph Wulf, für die wissenschaftliche Begleitung, die mir Freiraum zum Denken gegeben und die in meinem Denken wertvolle Spuren ihrer Erfahrungen, kritischen Anmerkungen und klugen Perspektiven hinterlassen hat. Den Verantwortlichen der Rosa Luxemburg-Stiftung, für die Unterstützung meines Vorhabens und die Gestaltung kritischer Denk- und Handlungsräume. Den vielzähligen Orten und Menschen, mit denen ich und die mit mir inter-agiert haben, die sich in mir eingeschrieben haben, Orte, in die ich eingeschrieben bin und von denen ich mich entfernen konnte. Nicht zuletzt danke ich der Musik, die mich bewusst und unbewusst immer begleitet und – da Dankestexte ein gewisses Pathos vertragen können – ohne die es sicher nicht möglich gewesen wäre, folgende Arbeit überhaupt in die Welt, und erst recht nicht zu Ende, zu bringen. Auch wenn die Struktur der Arbeit eine Linearität suggeriert, so bleibt dies nur der chronologischen Form des Schreibens geschuldet. Wäre die Arbeit im Raum, könnte man sie vielleicht begehen, fühlen und vor allem hören. Um diesem Gedanken zu entsprechen und das Mit dieser Arbeit hörbar zu machen, gibt es eine begleitende Playlist. Die Musiktitel sind Gaben, die ich im Verlauf des Forschungsprozesses, aus Gesprächen, bei Konferenzen, Kolloquien und aus meinem sozialen Kontext zusammengetragen habe. Die Playlist ist in ihrer Dynamik sowohl Ausdruck des als auch Einladung zum konvivialen Mit-Sein und Werden.3

2.2 Welten fiktionalisieren »Now the strange thing about this silly if not desperate place between the real and the really made-up is that it appears to be where most of us spend most of our time as epistemically correct, socially created, and occasionally creative beings. We dissimulate.« (Taussig 1993: xvii-xviii)

Welchen methodischen Spuren folge ich in dieser Arbeit, welche er_ finde ich? Was meine ich, wenn ich von Daten spreche? Mit den Worten Michael Taussigs gilt es, den Ort zwischen dem Wirklichen, »the real«, und dem wirklich Erfundenen, »the really made-up« (ebd.), zu erkunden und zu beschreiben. Zugehörigkeit kann ich als relationale Praxis nicht finden oder beobachten. Ich kann sie lediglich als Phänomen und Annahme greif bar und beschreibbar machen. Ich er_finde in diesem Sinne den Gegenstand meines Erkenntnisinteresses durch selbiges. Der Soziologe 3 Die Playlist ist unter dem Titel der Arbeit »Relational Becoming« auf YouTube zu finden.

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Mustafa Emirbayer theoretisiert in seinem »Manifesto for a Relational Sociology« (Emirbayer 1997) verschiedene zentrale sozialwissenschaftliche Begriffe, zum Beispiel Freiheit, Handlungsfähigkeit, Macht und Ungleichheit, aus relationaler Perspektive. Emirbayers Arbeit liegt die Annahme eines »anti-kategorialen Imperativs« (ebd.: 298) zugrunde, der die dynamische Betrachtung sozialer Phänomene im Gegensatz zu festgelegten Attributen und Charakteristiken berücksichtigt. Dies ist eine naheliegende Prämisse der relationalen Analyse von Zugehörigkeitspraktiken, nach der »Sozialstruktur [...] nicht in Verteilungen und statistischen Zusammenhängen von Parametern«, »sondern als konkretes Interaktionsmuster modelliert und analysiert« (Fuhse 2010: 185) wird. Da mich eben diese relationalen Praktiken, im Sinne von Trans-Aktionen des Mit-Seins, interessieren, war es mir ein wichtiges Anliegen, nicht bereits durch eine spezifisch-festgelegte Auswahl von Forschungsteilnehmenden eine Kategorisierung vorzunehmen und auf diese Weise Prozesse des Zuordnens und Othering4 mitzutragen (vgl. Schiller et al. 2006). In dieser Verweigerung zur Benennung orientiere ich mich an dem Ansatz des Soziologen und Genderforschers Stefan Hirschauer, der sich mit dem Dilemma sozialer Kategorisierungen unter der Prämisse von Kontingenz und Relationalität beschäftigt. »Natürlich trägt jede einzelne Unterscheidung zur Komplexitätsreduktion bei [...], aber alle zusammen lassen diese Komplexität auch wieder wuchern. Deshalb müssen einzelne Unterscheidungen für Beobachter ebenso ruhen dürfen wie für Akteure, die sie verwenden. [...] Es braucht daher Untersuchungen zu Humandifferenzierungen, die von deren wechselseitiger Relativierung ausgehen, den eigenen Unterscheidungsgebrauch reflexiv mit beobachten und systematisch damit rechnen, dass jede Differenzierung auch von anderen Unterscheidungen überlagert werden, an Relevanz verlieren und verschwinden kann.« (Hirschauer 2014: 181)

In dem Zitat wird die Verantwortung von Wissenschaft deutlich, durch Unterscheidungspraktiken soziale Kategorisierungen zu reifizieren, statt sie einer grundlegenden Kritik zu unterziehen. »Kritik als Praxis stellt demnach die Konstitutionsprozesse von Kategorisierungen infrage und verhilft in der Praxis des Entziehens den Dingen zur Artikulation und zur Wahrnehmbarkeit.« (Lorey 2008: 6). Da eine Hierarchisierung von Differenzen selbige jedoch unterschiedlich relevant macht, muss ihre Analyse unter machtkritischer Perspektive erfolgen (vgl. Rommelspacher 1995). 4 Durch »Othering« (»anders machen«, verandern) werden Subjekte und Gruppen

geschaffen, um diese von einer eigenen vermeintlichen »Normalität« abzugrenzen.



Damit werden jedoch eben diese Normalitätsannahmen kontinuierlich reprodu-



ziert und konstruiert, anstatt die Praktiken des Othering mit einer kritischen Re-



f lexion des (auch wissenschaftlichen) Gruppismus zur Bedingung jeder sozialwis-



senschaftlichen Analyse zu machen.

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Daraus folgend entwickelt sich mein Verständnis von Zugehörigkeitspraktiken aus einem doppelten Zugang: Zugehörigkeit sowohl als intimisiertes (Grund-)Bedürfnis als auch als hegemonialisierte Erfahrung zu begreifen. Wie nähere ich mich daraus folgend dem »Wirklichen«? Wie bereits erwähnt verbinde ich zwei methodologische Zugänge, die »Constructing Grounded Theory« (CGT) nach Kathy Charmaz (Charmaz 2014) und die »Fictoanalysis« unter anderem nach Michael Taussig (Taussig 1993). Beide stelle ich im folgenden Absatz unter Bezugnahme auf meinen Forschungskontext vor. Sie dienen der Erklärung, wie ich Daten verstehe, wie und welche Daten ich generiert und welchen Umgang ich mit ihnen gewählt habe. Kathy Charmaz plädiert in ihrem Verständnis der »Constructing Grounded Theory« für die explizite Einbeziehung der Position der Beobachtenden. Ein solches Vorgehen erfordert, den Konstruktionscharakter des Forschungsgegenstandes und die eigene Standortgebundenheit sowie das spezifische Forschungsinteresse zu reflektieren (vgl. Charmaz und Puddephatt 2011). Im Sinne relationaler Erkenntnisprozesse werden so die Verbundenheiten und Dynamiken zwischen Thema, Forschenden und Mit-Forschenden explizit berücksichtigt und das Forschen selbst als Trans-Aktion des Mit-Seins ernst genommen. Forschen geschieht nicht als Beobachtung von Welt, sondern als aktive Mitgestaltung ihres Werdens. »We do not obtain knowledge by standing outside of the world; we know because ›we‹ are of the world. We are part of the world in its differential becoming.« (Barad 2003: 829). In dem ich den Forschungsprozess explizit zum Gegenstand der Arbeit mache, versuche ich, nicht Erkenntnisse als ein »Sprechen-Über« zu reproduzieren, sondern vielmehr ein »Sprechen-Mit« Daten und Theorien zu etablieren, um durch diesen Dialog mein eigenes »Erzählen der Geschichte« (Berg und Milmeister 2011) zu finden. Im Sinne einer Verkörperlichung von Zugehörigkeitspraktiken und -erfahrungen im relationalen Mit-Werden lässt sich damit auch ein Prozess des »sich zu eigen Machens« beschreiben. Aus diesem Grund bin ich zwei Daten-Spuren gefolgt: einer, die mich in die existierende Literatur- und Theoriewelt geführt hat und einer weiteren, die mir die Generierung ›eigener‹ Daten ermöglichte. Mit wem spreche ich also im vorliegenden Text? Zum Zeitpunkt meiner Erhebungen wart ihr junge Erwachsene in zwei europäischen Großstädten, die an einem gemeinsamen Projekt verschiedener Organisationen in beiden Städten teilgenommen haben. Das Projekt lief über einen Zeitraum von zwei Jahren und hatte, unter besonderer Berücksichtigung von Musik als kreativer Ausdrucksform, den Austausch zwischen jungen Erwachsenen an beiden Orten zum Ziel. Unabhängig von der Projektidee habe ich mein Forschungsexposé entwickelt. Mein Interesse, mit euch Interviews zu führen, ergab sich dann aus meinen bestehenden Kontakten in beiden Städten und meiner koordinatorischen Mitarbeit im Projekt. Die Gleichzeitigkeit meines Promotionsvorhabens mit der Durchführung des Projektes ermöglichte es mir, beides zu verbinden. Durch meine Präsenz im Projekt hatte ich über einen längeren Zeitraum losen Kontakt zu euch, sodass ich den Interviewmaterialien ergänzende Daten in Form von Memos aus Beobachtungen und Gedanken aus Gesprächen und Begegnungen hinzufügen konnte. Meine Beteiligung im Projekt ermöglichte uns einen vertraulichen Zugang zuei-

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nander. Ein Kontakt, der uns auf anderem Wege vielleicht nicht, oder mindestens anders, möglich gewesen wäre. So habe ich euch »gefunden«, ohne euch explizit gesucht zu haben. Ihr seid ganz verschiedene Personen: durch eure unterschiedlichen und persönlichen Erfahrungen seid ihr in verschiedene Kontexte eingebunden und sozial verortet: bezogen auf eure eigene und familiäre Geschichte, euer Geschlecht, eure Bildungserfahrungen und Arbeitskontexte. Und gleichzeitig gibt es viele ähnliche Bezugsgrößen zwischen euch, sei es euer Alter zwischen 20 und 30 Jahren, oder die zwei Großstädte als jeweils gemeinsame Lebensräume. Insgesamt habe ich 14 Interviews geführt, sieben in jeder Stadt. Unsere Gespräche dauerten zwischen einer und drei Stunden, sie unterschieden sich in ihrer Länge sowie ihrem inhaltlichen Verlauf – einige eurer Eingangserzählungen zu der Frage, wie ihr geworden seid, wer ihr heute seid, waren sehr ausführlich und lang, andere eher kurz und es entfaltete sich erst im Nachfragen eine umfassendere Erzählung. Einige Interviews wurden an zwei verschiedenen Terminen fortgesetzt, da uns eine Sitzung nicht ausreichte. In diese Arbeit sind zehn dieser Begegnungen und Geschichten verwoben: »Ihr« seid: Ann, Paul, John, Anton, Maxim, Alina, Carla, Ella, Kie und Daniel. Eure Synonyme habt ihr euch ausgesucht. Für die Darstellung und Verwendung der Interviewdaten stütze ich mich insbesondere auf den Ansatz der »Fictoanalysis« (Pitsis 2014) und des »Fictocriticism« (Muecke 2002; Haas 2017), wie ihn beispielsweise die Theoretikerin der Cultural Studies Elspeth Probyn (vgl. Probyn 1996), der Anthropologe Michael Taussig (vgl. Taussig 1997) und der Kulturwissenschaftler Stephen Muecke (vgl. Muecke 2002) vollziehen. In deren Arbeiten steht insbesondere das Ziel im Fokus, bereits in der Art des Schreibens das Thema des Textes einzubinden und auszudrücken. Taussig sagt dazu: »I love the fantasy of putting yourself, as reader or writer, into the shoes of the Other. But in my line of business you have to develop a type of storytelling that stands outside as much as inside the story.« (Taussig und Levi Strauss 2005: 4). Das disziplinübergreifende Potential eines fiktokritischen Schreibens bietet eine mögliche Variante, mit den Herausforderungen der Thematisierung und Reproduktion von Differenz, Fremdheit und eines (Euro-)Zentrismus in postkolonialen, feministischen und machtkritischen Arbeiten umzugehen und so die verschiedenen »ways of knowing«, mit denen es arbeitet, bereits in der jeweiligen Vorgehensweise mit zu reflektieren (vgl. Mischke 2013: 327). »Faced with masses of ways of knowing things coming from all points of the compass, the contemporary writer asks what now can legitimate his or her point of view, and then tends not to just add to existing views of the world, but traces a path […] showing how we got to this position, and what is at stake.« (Muecke 2002: 108)

In dem aufgezeigt wird, was zur »Diskussion und auf dem Spiel steht«, findet das Werden des Sozialen auch in der Art des Schreibens Ausdruck, statt fixierende Aussagen über ein vermeintliches »So-Sein« der Welt zu generieren. Ein solches fiktokritisches Arbeiten verneint nicht die Notwendigkeit wissenschaftlicher Standards und Regeln, sondern es fragt mit besonderem Blick auf Arbeiten der Cultural und Post-

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colonial Studies, »whether the ways we produce and convey knowledge [...] should not be more inclusive and open to other epistemological pathways.« (Mischke 2013: 328). Fiktokritische Texte zeichnen sich unter anderem durch folgende Merkmale aus (vgl. Haas 2017: 24ff): eine subjektive Perspektive (Ich-Form); minimale Charakterisierung; formales Experimentieren (»content determines form«) (ebd.: 26); eine Ausdrucksform, die sich an den Praktiken der »Kultur« oder »Gruppe«, mit der geforscht wird, orientiert; eine Betonung des Fragmentarischen statt des Geschlossenen und Ganzheitlichen und selbstreflexive Wenden (ebd.: 24ff). Sie schließen damit auch an Kriterien autoethnografischen Forschens an (vgl. Ploder und Stadlbauer 2013). Eine diesen oder einzelnen Merkmalen verpflichtete Forschung reflektiert damit explizit und selbstkritisch das Potential empirischen Arbeitens, Daten durch ihre Verwendung und Analyse zu dominieren oder Aspekte zu verschweigen, und bezieht so das Doing Science bewusst als performative Praxis des Welt-Machens mit ein. Mit dem Verfolgen der verschiedenen Spuren geht aber auch die Verantwortung einher, soziale Ungleichheit, Machtverhältnisse und die komplexen Formen von Ausgrenzung und Privilegierung nicht auszublenden, sondern in das Schreiben einzubinden. Auf diese Weise werden Daten nicht als Aussagen über Merkmale einer bestimmten Person in Distanz zu mir genutzt, sondern dazu, »Vorstellungen über Grundkonzepte, Komponenten, Dimensionen, Bedingungsgefüge [...] zu entwickeln, die zu einer Beschreibung der möglichen Varianten von Phänomenen und Prozessen […] sowie zu deren Verständnis und Erklärung beitragen können.« (Breuer 2010: 79). Wie verstehe ich mein Forschen im Sinne des Doing Science? Um mich meinem Thema zu nähern nutze ich die Methoden nicht als Korsett, das mich zwingt, mich auf eine bestimmte Form festzulegen. Vielmehr sind sie das Werkzeug, dass mir eine valide Erzählung ermöglicht. Durch sie habe ich überhaupt erst zu meiner Geschichte gefunden. Durch das Kodieren nach der Constructing Grounded Theory entstanden die Kategorien: die Zugehörigkeitsverhältnisse und Navigationen, die auch zentral die Struktur der Arbeit mitbestimmt haben. Um meinen Daten – und auch mir – Ausdruck zu verleihen, nutze ich autoethnografische Begleitreflexionen und Fiktoanalyse. Im Verlauf des Forschens wurde deutlich, dass ich mich meinem Interesse, über die Herstellung und Bedeutung von Zugehörigkeit für unser Sozial-Sein zu forschen, entlang von Themen und nicht über Einzelfälle annähern möchte. Auf diese Weise konnte ich mit der Form experimentieren und mich dennoch von, aus den Interviewdaten entwickelten, Kategorien leiten lassen. Meine Interviewpartnerinnen sind somit grundlegend in den Aufbau der Arbeit verwoben. Doch nicht nur die Codes der Interviews haben meine Reise bestimmt. Das Mit dieser Arbeit ist auch das Mit verschiedener Schreib- und Denktraditionen, da auch Poesie, Literatur und Musik in die Analyse und das Verstehen einfließen. Sachlichkeit und Poesie schließen sich nicht aus, sondern greifen ineinander. Das, zumindest temporäre, Auflösen von Grenzen und die Denkspur des Mit machte die Verbundenheit und nicht die Differenzierung deutlicher wahrnehmbar. Welche mehrdimensionalen Bedingungsgefüge von Zugehörigkeitserfahrungen ich im Dialog mit den Daten entwickeln konnte, führe ich insbesondere im fünften Ka-

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pitel »Mit Welten verbunden – Von Welten entrückt« aus. In meiner eigenen Suchbewegung im Umgang mit den Daten schließe ich mich Taussig an, der, auf Bertold Brecht bezogen, im Verfremden und Umbenennen eine wichtige Vorgehensweise sieht, die sich weniger der Abbildung einer vermeintlichen Realität, als vielmehr den Mechanismen und produktiven Kräften einer sozialen Wirklichkeitsmachung verpflichtet (vgl. Taussig 1997). Fiktokritische Arbeiten beziehen häufig linguistische, körperliche und kontextuelle Aspekte in das Schreiben ein. Dies veranlasst den kritischen Literaturwissenschaftler Gerrit Haas, fiktokritisches Schreiben als Form »textlichen Widerstands« gegen linguistisch-diskursive Praktiken der Marginalisierung oder Dominanz zu charakterisieren (vgl. Haas 2017: 8). Ernst Bloch sagte: »Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.« (Bloch 1970: 13). Wie beziehe ich das auf meine Arbeit? Die Dekonstruktion ist eine Praxis des Entziehens – wenn unhinterfragte Bedeutungen freigelegt werden, diesen Bedeutungen also ihre Alltäglichkeit entzogen wird, können neue Gedanken entstehen. Ein solches entziehendes Werden des Phänomens Zugehörigkeit hat sich im Laufe dieser Arbeit und insbesondere als Folge aus den Gesprächen und Interviews entwickelt, die ich mit euch geführt habe. Es symbolisiert keinen eindeutigen analytischen Ausgangspunkt, sondern ein Vorgehen, das sich prozessual und aus einem Dialog mit den Daten, mit euch, entfaltet hat. Mein Verzicht auf eine einleitendende Charakterisierung über euch ist beispielsweise, im Sinne dieses Vorgehens, ein Ausdruck und Mittel der Prozesshaftigkeit des Forschens, in der sich Themen und Bedeutungen erst entfalten. Wissen wird im Prozess generiert und bereits der Aufbau der Arbeit betont damit das Werden. Ein Werden, das sich der Vielfalt von Wahrnehmbarkeiten öffnet und dennoch in der Verantwortung kritischer Wirklichkeitsanalyse verhaftet ist. Mein Interesse, zwei Städte als Forschungskontext zu nutzen, entstand aus der Vorstellung, dass die Herausforderungen Sozialer Navigationen in Zugehörigkeitsverhältnissen in Großstädten als Zentren globaler Bewegungen, die sich durch die Existenz vieler verschiedener Plural-Formen auszeichnen, präsent und brisant sind. Dabei war es mir wichtig, meine Arbeit nicht auf einen spezifischen lokalen Ort zu begrenzen, sondern die Relevanz von Zugehörigkeitspraktiken und -erfahrungen als ein grundlegendes anthropologisches Phänomen zu verstehen, welches sich insbesondere auch in räumlichen Verhältnissen ausdrückt. Ein solches translokales Forschen ermöglichte es mir auch, zwei akademische Kontexte kennenzulernen und zusammenzuführen (vgl. Wimmer und Glick Schiller 2006). Die verschieden geprägten Wissenschaftstraditionen bereichern diese Arbeit um Theorien und Forschungspraktiken, mit denen ich sonst vielleicht nicht in Kontakt getreten wäre. Im Sinne des Denkens und Forschens der Spuren bedeutet dies, dass ich mich gleichzeitig in mir sowohl sprachlich als auch sozial vertrauten und bekannten sowie neuen, bisher unbekannten Kontexten bewegt habe. Diese Kontexte sind nicht an nationalen, kulturalisierten, ökonomischen oder ethnisierten Grenzen festzumachen. Gleichwohl sind diese Grenzen in ihrer

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diskursiven und auch materiellen Existenz relevant und werden an entsprechenden Stellen in der Arbeit einbezogen (vgl. Bethmann und Niermann 2015: 19ff ). Sie bilden nicht den Ausgangs- oder Zielpunkt des Denkens, sondern verweisen auf dessen materiell-diskursive Be- und Verschränkungen. Entgegen eines methodologischen Nationalismus (vgl. Wimmer und Glick Schiller 2006), durch den Nationalstaaten als natürlich gegebene Kategorien essentialisiert und reifiziert werden, schlagen Wimmer und Glick Schiller einen theoretischen und methodischen Transnationalismus vor (ebd.). »Trans« steht hier für die Durchquerung vermeintlich voneinander abgegrenzter Räume. Vermeintlich, da etwas mir Unbekanntes oder Befremdendes direkt vor meiner Haustür liegen kann, während ich im Entfernten Vertrautes finde, und umgekehrt. So wie jeder offene Blick hilft, gewohnte und vertraute Perspektiven zu verlassen, schätze ich diese Erfahrungen als wertvolle Formung meines Wissenschaftlerin-Werdens. Nancy stellt dazu fest: »die Welt entspringt immer und jedes Mal in einer exklusiven lokal-augenblicklichen Wendung.« (Nancy 2004: 29). Im Vorfeld festgelegte Kategorien, wie z.B. Herkunft, Klasse oder Geschlecht, beschränken die Möglichkeiten dieser Wendungen unweigerlich auf existierende Abbilder und Konzepte und erschweren so ein Denken jenseits von Klassifizierungen, obgleich diese für unser Verwoben-Sein in Machtverhältnisse ohne Zweifel immer relevant sind (vgl. Hirschauer 2014). »Mir begegnen nie Pierre oder Marie, sondern der eine oder die andere in gewisser ›Form‹, einem ›Zustand‹ oder einer ›Stimmung‹ usw.« (Nancy 2004: 29). Es geht dabei immer auch um die Wahrnehmbarkeit von Prioritäten und Selbstbezeichnungen, wie Minh Hà am Beispiel ihrer eigenen Position als Autorin formuliert: »Neither black/red/yellow nor woman but poet or writer. For many of us, the question of priorities remains a crucial issue. Being merely ›a writer‹ without doubt ensures one a status of far greater weight than being ›a woman of color who writes‹ ever does.« (Minh Hà 1989: 6). Eine Arbeit, die genau das versucht, nämlich Prioritäten und Wahrnehmbarkeiten zu verschieben und auf diese Weise andere Lesarten zu ermöglichen, muss also zwangsläufig scheitern. Mit der Verschiebung der Prioritäten soll jedoch eines versucht werden: den Blick zu weiten und dadurch zu verstehen, welche Macht und Bedeutung wir bestimmten Wahrnehmungsweisen geben, während andere vernachlässigt oder gänzlich ignoriert werden. Wie mache ich euch dann aber wahrnehmbar, ohne euch auf eine Form zu reduzieren? Ich könnte euch entlang nationalisierter, kulturalisierter, habitualisierter oder vergeschlechtlichter Zugehörigkeitserfahrungen, über eure sichtbaren Körper, eure Biographien und sozialen Kontexte als kollektivierbare Einzelfälle rekonstruieren. Ich kann alle Bemühungen unternehmen, euch auf die eine oder andere Weise zu verstehen, und muss mir gleichzeitig der Feststellung gewiss sein, das mir das niemals ganz gelingen kann. Ich habe eine große Skepsis gegenüber der Macht des Festschreibens und Benennens der Welt und gegenüber meiner eigenen Zunft, bedeutungsvoll aufgeladene Benennung und Wahrheitsstiftung im Sinne der Wissenschaftlichkeit vorzunehmen. Und gleichzeitig bin ich überzeugt, dass eine wissenschaftliche Benennung und Wirklichkeitsanalyse verteidigt und geschützt werden muss. Zugehörigkeit in

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Frage zu stellen bedeutet auch, Zugehörigkeit als politische Notwendigkeit, als Privileg, ernst zu nehmen und politisch bedeutsam werden zu lassen. Verwoben in dieses Dilemma verfasse ich die vorliegende Arbeit. Forschen bedeutet, Formen und Zustände zu erfassen. Die Grounded Theory bietet einen analytischen Rahmen zur Begrenzung der potentiellen Komplexität von Zugehörigkeit auf einen konkreten, durch die Forschungsdaten bestimmten und aus ihnen entstehenden Kontext. Gleichzeitig werden spezifische Symptome und Erkenntnisse vom konkreten Einzelfall, von »Marie« oder »Pierre«, gelöst und ermöglichen eine, obgleich lokal und temporär beschränkte, universalisierbare Annäherung an das »Wie« sozialer Zugehörigkeitspraktiken.

2.3 Mit Daten sprechen und hören »In jedem Falle ist das Klangliche allgegenwärtig, sobald es gegenwärtig ist, und seine Gegenwart ist niemals einfaches Dasein oder Stand der Dinge, sondern es ist immer zugleich Voran, Durchdringung, Insistenz, Obsession oder Besessenheit.« (Nancy 2014: 28)

Mein zentraler Zugang zu den vorliegenden Erkenntnissen erfolgte über die Sprache und das Sprechen über sich. Sprechen dient der Vermittlung zwischen Selbstdarstellung und Fremdwahrnehmung. Es bewegt sich als eine »Tätigkeit der Schwelle« zwischen Innen und Außen, zwischen eigen und fremd, ohne das eine befriedigende und generalisierende Erfassung dieser Zustände überhaupt möglich ist (vgl. Wulf 2002). Mein Einblick in euer Leben, eure Gedanken, Träume und Herausforderungen ist sehr limitiert. Und doch ist es ein relevanter Einblick. Ihr habt mir einen Zugang zu Geschichten und Personen ermöglicht, ihr habt eure »Form« zum Zeitpunkt unserer Gespräche mit mir geteilt. Meine Verantwortung ist es, diese Geschichten im Sinne meines Erkenntnisinteresse zu verstehen und zu systematisieren. Die englischsprachigen Interviewausschnitte habe ich in der Originalsprache belassen, da meine Arbeit in verschiedenen globalen Räumen entstanden ist und es für die Berücksichtigung dieses Entstehungskontextes konsequent war, keine Übersetzung der Texte vorzunehmen. All dies beeinflusst die »Form«, die ihr im finalen Text annehmt und die Un_Hörbarkeiten, die sich daraus ergeben. Unsere Begegnungen bringen uns zum Klingen. Ich musste mein Ohr schulen, zuzuhören und nicht nur das wahrzunehmen, auf das ich unbewusst vielleicht vorbereitet war. Wir teilen uns, wenn wir uns mit-teilen. Wir nehmen uns auseinander und setzen uns gleichzeitig zusammen. Das Sprechen über sich wird damit zu einem zentralen Faktor des Verständlichmachens und Verstehens von Zugehörigkeit als sozialer Pra-

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xis, da es Auskunft darüber gibt, wie wir in und mit der Welt sind (vgl. May 2016a). »[O]ur narrative self depends upon the regard, words and action of others.« (Wiklund-Gustin 2010: 33), da wir immer in Geschichte_n verstrickt sind (vgl. Schapp 2012). Diese Geschichte_n sind selbst immer Verstrickungen aus biographischen und kollektivierenden Erfahrungen und Deutungen, aus der eigenen Sicht auf sich selbst und die Welt und aus den herrschenden Diskursen, aus dem Sagbaren und Unsagbaren. Da Erzählungen immer auch Arenen des Politischen sind, verweist dies »auf politische und emanzipatorische Aspekte der narrativen Gestaltung kultureller Diskurse« (Lucius-Hoene 2010: 162–163). Die Beschäftigung mit persönlichen Lebensgeschichten und Erfahrungen dient somit einerseits der Archivierung und Aufarbeitung von Erinnerungen, andererseits ermöglicht sie auch, dass in der Vergangenheit unterdrückte und durch hegemoniale Narrative zum Schweigen gebrachte Stimmen Gehör bekommen und so in ein erweitertes kollektives Bewusstsein dringen. Menschen erzählen von sich, weil sie aus Vergangenem schöpfen, dieses interpretieren und an neue Situationen anpassen. Schließlich wird »Geschichte [...] für die Gegenwart erzählt« (Barricelli 2005: 75). Dies verlangt eine notwendige Navigation verschiedener Versionen unserer Person in verschiedenen Kontexten (vgl. Bamberg 2012), die nicht den Zwang zur Kohärenz, sondern das Verständnis für Kontingenz und die Berücksichtigung von Veränderbarkeit und Wandel für eine analytische Betrachtung bedeutsam machen. Das »Selbst« wird, ebenso wie das »Kollektiv«, im Gespräch und Interview »im Kontext von Konstrukten wie Identität und Subjektivität überhaupt erst als diskursiver Effekt performativ produziert« (Langer 2013: 125). Das Interview schafft als ritualisierter Rahmen einen Raum für meine Gesprächspartner_innen, ihre »eigene[n] Koordinaten des Inhalts und der Darstellung« (Lucius-Hoene 2010: 159) zu fokussieren und sich ebenso zu meinen Impulsen und Fragen zu verhalten. Die Gespräche sind Trans-Aktionen (vgl. Dépelteau 2008) zwischen ihren und meinen Perspektiven. Somit ist das Sprechen über sich nicht nur Ausdruck, sondern auch Generator und Bedingung von Relationalität. Es ist eine Form, in der Soziale Navigation gleichzeitig ausgedrückt und vollzogen wird. Wir navigieren nicht auf gleiche Weise, denn die Fähigkeiten und Möglichkeiten des Erzählens variieren. Das Interview als vermeintlicher »Königsweg zum Verständnis [und der Verständigung, K.M.] von Subjekten« (Mey 2000: 1) ist zum einen abhängig von der jeweiligen Situation und der Beziehung zwischen den Sprechenden, sowie ihren erzählgenerierenden Fähigkeiten. Menschen unterscheiden sich auch in ihrem Bedürfnis, wie ausführlich und ob sie sich überhaupt sprachlich mitteilen wollen sowie im Maß ihrer Selbstreflexion und ihrem Zugang zu eigenen Erfahrungen und Erinnerungen (vgl. Silkenbeumer und Wernet 2010: 171). Erinnern braucht Zeit und auch Anregungen (Burkart 2006; Burkart et al. 2006). Für eine solche Anregung habe ich bei unserem zweiten Treffen eine Stadtkarte dabei, Paul. In unserem ersten Gespräch über dein Geworden-Sein wurde die Bedeutung des Ortes, an dem du

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aufgewachsen bist, deutlich. Doch es fiel dir schwer, dich an Ereignisse zu erinnern, was mich auf die Idee brachte, die Karte für unser folgendes Gespräch einzustecken. Nun sitzen wir da, über das Papier gebeugt und dir fallen viele Geschichten zu verschiedenen Orten ein. Du löst dich von der Karte und sprichst, von ihr inspiriert, über Erfahrungen, über die du selbst überrascht zu sein scheinst, da sie dir ohne die Anregung nicht mehr aktiv zugänglich waren. Die Karte wirkt fast wie eine vertraute Bekannte, die du triffst und mit der du Erinnerungen austauschst. Wir alle sind verkörperte Geschichten, doch ist unsere Geschichtlichkeit, unser Geworden-Sein, kaum wahrnehmbar. Da sich Zugehörigkeitspraktiken und -erfahrungen nicht nur im Sprechen, sondern auch im Hören ausdrücken, ergibt sich die Notwendigkeit, kritisches Zu-Hören zu praktizieren (vgl. Stoever 2016; Lovesey 2016; Ismaiel-Wendt 2011). Ein solches kritisches Zuhören verlangt die Dekolonisierung unseres »Listening Ear« (Stoever 2016). Was das genau bedeutet, führe ich im weiteren Verlauf der Arbeit aus. Ich bin mir der Beschränkungen meines gewählten methodischen Zugangs bewusst. Wenn ich mich einem so komplexen Thema wie Zugehörigkeit »nur« über das gesprochene Wort nähere, fallen andere relevante Möglichkeiten weg, das Phänomen in dessen materiell-diskursiver Komplexität zu beforschen – beispielsweise durch ausführlichere Alltagsbeobachtungen, Netzwerk- oder Online-Analysen. Sprechen ermöglicht nur einen beschränkten Zugang zu Welten, denn die »real conditions of existence« ( Jameson 2001: 51) sind durch die Sprache nur eingeschränkt repräsentierbar. Dennoch ist es eine bedeutsame Aus- und Eindrucksform unserer Welterfahrungen und Beziehungen. »It is evident that order-words, collective assemblages, or regimes of signs cannot be equated with language. But they effectuate its condition of possibility (the superlinearity of expression), they fulfill in each instance this condition of possibility; without them, language would remain a pure virtuality (the superlinear character of indirect discourse).« (Deleuze und Guattari 1987: 106)

Sprechen, Argumentieren und Begründen sind keine von Körpern und ihren materiellen Einbettungen losgelösten Prozesse, sondern in und durch Körper und deren Wahrnehmungspraktiken begründet und beeinflusst: »[R]eason […] is shaped crucially by the peculiarities of our human bodies, by the remarkable details of the neural structure of our brains, and by the specifics of our everyday functioning in the world.« (Lakoff und Johnson 1999: 4). Zugehörigkeiten sind mehrdimensionale Phänomene, welche über das Sprechen zwar einerseits hinausweisen, sich andererseits aber auch genau darin offenbaren. (Wie) kann ich mich ihm nun nähern, diesem Ort des »Wirklichen«? Ich bin nicht sicher. Was ich aber im Folgenden analysiere, sind die komplexen Mechanismen, die Zugehörigkeit als produktive Kraft des Sozialen charakterisieren. Vielleicht kann dies im besten Fall als Annäherung an einen Ort des Realen beschrieben werden – einen

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Ort, an dem Alltag stattfindet, ein Ort, in den Menschen sich durch ihr gegenseitiges Handeln, ihr Mit-Sein, einschreiben und eingeschrieben werden. Statt jedoch den einen spezifischen Ort des Realen ausfindig zu machen, geht es um die Bewusstseinsschärfung für die vielfältigen Un_Wahrnehmbarkeiten, die auf diesen Ort, auf eine Vielzahl an möglichen Orten, einwirken und so unser Relational Becoming überhaupt ermöglichen oder eben verhindern. Ob und wie diese Arbeit dem Anspruch gerecht wird, Zugehörigkeit als komplexe soziale Praxis zu verstehen, muss als offene Frage bestehen bleiben. Unweigerlich beschreibe und untersuche ich Praktiken, die in ihrer Spezifik gerade auch orts- und zeitgebunden sind. Und gleichzeitig ist es ein Ziel dieser Arbeit, die Mechanismen über einen vermeintlich lokal fixierten Kontext hinaus verständlich und nachvollziehbar zu machen. Auch auf diese Weise soll verdeutlicht werden, inwiefern Zugehörigkeit sowohl intime Bindungen als auch unsere Eingebundenheit in hegemoniale Machtverhältnisse umfasst. Das Schreiben über Zugehörigkeit wird damit zu einem Versuch, der ohne konkrete Vorstellung, wohin mich mein dekonstruktivistischer Spaziergang bringt und ob dieser überhaupt möglich ist, auskommen muss.5 Nicht selten fühlt sich dieser Spaziergang im Forschen und Schreiben eher an wie eine Bergbesteigung – was mühelos wirken soll, ist das Ergebnis anstrengender und manchmal ausweglos erscheinender Denkbewegungen. Welch fragwürdige Vorstellung ist es auch, auf einen Berg klettern und gleichzeitig so tun zu wollen, als gäbe es ihn nicht. Auch wenn wir uns auf eine Art kennengelernt haben, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, welche Form des Realen bei mir oder bei euch hängen geblieben ist. Es ist keine rein hypothetische Überlegung, festzstellen, dass unsere Gespräche anders verlaufen wären, wenn wir uns besser kennen oder Freunde sein oder uns gar lieben würden. Wir waren uns fremd, aber dennoch durch die Umstände verbunden – wie die Dinge im Leben eben passieren. Keine unserer Wege haben sich seitdem für einen längeren Zeitraum erneut gekreuzt, es waren Begegnungen, die mir als Geschichten erinnerbar bleiben, von deren Existenz ich aber zehre, allein schon, um diese Arbeit zu verfassen. Sie sind gelebte Erfahrung und Erinnerung und damit eine Form konservierter Vergangenheit. Ich frage mich, ob auch ihr euch erinnert und, wenn ja, auf welche Weise unsere Begegnungen auch in euch festgehalten sind? Wer war oder bin ich für euch?

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Das Unweigerliche dieses Oxymorons ergibt sich aus der Unmöglichkeit, etwas im Erschaffen gleichzeitig zu dekonstruieren. In letzter Konsequenz müsste diese Arbeit sonst aus leeren Papieren bestehen.

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3. Koordinaten der Reise »Das Wichtigste [...] ist, etwas zu werden, das man am Anfang nicht war.« (Foucault et al. 1993: 6)

Ich möchte dieses Kapitel mit einer kurzen Geschichte einleiten. Sie verweist, am Beispiel der Europäischen Union, als Symbol einer kollektivierenden Mastererzählung auf die Macht ontologischer Verkürzungen und Imaginationen von Kollektivität und die damit verbundenen ausgrenzenden Markierungen zwischen einem vermeintlichen Innen und Außen. Sie soll auch als ein zentrales Beispiel dafür verstanden werden, was mich zu dieser Arbeit, einem Nachdenken über die Kraft und Bedeutsamkeit soziokultureller Zugehörigkeitspraktiken für die Aufrechterhaltung, aber auch Destabilisierung von Machtverhältnissen, motiviert hat. Im März 2012 veröffentlichte die Europäische Kommission im Internet einen Videoclip zum Thema EU-Erweiterung: In diesem, anfangs auf YouTube gezeigten, eineinhalb minütigen Clip ist eine weiße Frau in einem eng anliegenden gelben Ganzkörperanzug in einer Lagerhalle zu sehen. Um sie herum ist es düster und trostlos, die Musik, die einsetzt, klingt dramatisch, Tauben fliegen aufgeschreckt durch die Szenerie. Nach und nach wird sie von drei Männern in Kampfhaltung umringt, die aus dem Nichts erscheinen: einem Kung-Fu Kämpfer, sowie einem Martial Arts-Kämpfer und einem Mann, der Capoeira Bewegungen macht. Alle drei Männer repräsentieren ein nicht-europäisches Außen: man kann sie als stereotype Vertreter aus Indien, China und Brasilien wahrnehmen. Einer nach dem anderen betreten sie in bedrohlicher Weise die Lagerhalle. Die Frau scheint davon überfordert zu sein und setzt sich zur Wehr, in dem sie die Augen schließt, sich vervielfacht und mit ihren, nun elf, Doppelgängerinnen einen Kreis um die, sichtlich irritierten, Angreifer in ihrer Mitte bildet. Diese stecken darauf folgend betreten ihre Waffen weg. Alle setzen sich. Die Kamera schwenkt nach oben und aus dem Frauen-Kreis entstehen nach und nach die 12 Sterne, die die EU-Mitgliedsstaaten repräsentieren. Verabschiedet werden die Betrachtenden mit dem Hinweis: »The more we are, the stronger we are.« Nach verschiedenen Beschwerden, Hinweisen und Diskussionen nahm die EU-Kommission, vertreten durch den damaligen Leiter der Generaldirektion Erweiterung, Stefano Sannino, den Clip wieder aus dem Internet. Den Vorwurf, mit rassistischen Bildern für die EU-Erweiterung zu werben, wollte man so offensichtlich nicht ertragen. Dennoch war der Clip bereits veröffentlicht und somit für eine Auseinandersetzung preisgegeben (vgl. Watt 2012). Zu dem unangenehmen Gefühl, das sich mir beim Betrachten einstellte, wirft diese kurze Sequenz viele verschiedene Fragen auf: Mit

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welchen stereotypen Kategorisierungen wirbt die Europäische Kommission für ihre Funktion? Welche Form der »Werbung« für einen Staatenbund ist es, wenn eine weiße Frau sich Kraft ihrer Imagination vervielfältigt und gegen drei männliche Angreifer of Color zur Wehr setzt, die auf eine kulturalisierende Weise über ihr Auftreten und ihre Kleidung als nicht-europäisch gelesen werden sollen? Wieso fällt es den Mitarbeitenden der EU nicht auf, wie ausgrenzend und rassistisch die Bildsprache dieses Clips ist? Oder ist diese Bildsprache intendiert? Neben diesen Irritationen und sicherlich noch vielen weiteren möglichen Fragen, gibt es aber eine, die für diese Arbeit und mein anhaltendes Forschungsinteresse über Zugehörigkeitspraktiken und -erfahrungen zentral ist: Wer ist damit gemeint, wenn ein Wir adressiert wird, wer ist ein- und wer ausgeschlossen? Und wer kann dieses Wir überhaupt definieren? Bereits in der Beschreibung des Videos liegt die Schwierigkeit, die Bilder mit Begriffen zu erfassen, insbesondere wenn es darum geht, die Angreifenden, nur auf ihre Äußerlichkeiten reduziert, zu kategorisieren. Auch wenn es nicht gewollt ist, so greife ich unweigerlich auf existierende visuelle Vorstellungen und vermeintliches Vorwissen zurück, wenn ich die gezeigten Personen beschreiben will. Einerseits liegt darin genau die machtvolle Bildsprache des Videoclips, mit stereotypen Zuschreibungen zu spielen und diese umso wirkungsvoller zu reproduzieren. Andererseits eröffnet sich hier auch die Möglichkeit zur Diskussion und kritischen Auseinandersetzung mit machtvollen Pluralisierungs- und Singularisierungsprozessen und darauf bezogenen Zugehörigkeitspraktiken. Auch wenn ich Zugehörigkeit in dieser Arbeit nicht aus einer politischen Makroperspektive analysiere, in der beispielsweise die EU als (Nicht-)Zugehörigkeitsakteurin oder das politische Projekt eines staatlichen (Nicht-)Zugehörigkeitsraumes im Mittelpunkt steht, dient das Video als symbolischer Einstieg in die theoretischen Grundlagen meiner Arbeit. Da ich meine Forschung als Reise denke, bezeichne ich diese im Folgenden als Koordinaten, die der Orientierung und Verdichtung meiner Forschungsperspektive dienen. Ich beginne mit einer etymologischen Annäherung an den Begriff des Da-Zu-Ge-Hörens. Des Weiteren fokussiere ich Körper als Kompass, da diese ein bestimmendes Medium zur Navigation sind, bevor ich mich der Notwendigkeit kritisch-phänomenologischer Analysen der Un_Wahrnehmbarkeiten für Zugehörigkeitspraktiken und -erfahrungen zuwende. Ich schließe dieses Kapitel mit der theoretischen Einführung des Konzeptes der Sozialen Navigation ab, welches grundlegend für meine weitere Reise ist. Zugehörigkeitsverhältnisse sind Machtverhältnisse, da sie die soziale Ordnung herstellen und stabilisieren. Weil sie auf und durch Körper wirken, haben sie einen zentralen Einfluss auf die Soziale Navigation. Sie sind Ausdruck und Grundlage von Normierungsprozessen, die darüber bestimmen, wer auf welche Weise wahrnehmbar ist oder, je nach Betrachter_in und Kontext, unwahrnehmbar bleibt. Im Gegensatz zu geographischen Koordinaten, die eine konkrete, physische Ortsbestimmung auf der Erde ermöglichen, stehen die hier vorliegenden Koordinaten für symbolische Punkte der Wissens-Re-Produktion, die mit der materiell-diskursiven Welt korrelieren. Die verwendeten Theo-

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rien und Forschungsansätze ermöglichen eine symbolische Ortsbestimmung (vgl. Breuer 2010). Deren Fixierung gilt jedoch nur für die vorläufige Materialisierung meiner Arbeit. Die entwickelten Ideen und Konzepte bleiben zwangsläufig immer unabgeschlossen, verändern und entwickeln sich: nur in ihrer Materialität bleibt diese Arbeit gleich, da höchstens die Seiten der gedruckten Version in einer Bibliothek oder einem Buchregal im Verlauf der Zeit vergilben. Wird ihre notwendige Unabgeschlossenheit und die Spezifik ihres theoretischen Einsatzes berücksichtigt, sind die Koordinaten auch außerhalb vorliegender Arbeit sinnstiftend. Konzepte und Ideen reisen, wenn sie mit Welten in Kontakt treten.

3.1 Da-Zu-Ge-Hören Während ich dieses Kapitel schreibe, befinde ich mich für einen Forschungsaufenthalt in London. In diesen Tagen begegnen mir viele Menschen, die einen kleinen Anstecker am Revers ihrer Jacke tragen: eine rote Mohnblume, aus Papier oder Metall. Ich finde heraus, dass es sich dabei um ein Symbol für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten handelt, ein sichtbares Zeichen kollektiver Erinnerung – ohne, dass die Personen dabei eigene Erfahrungen an diese Zeit haben können. Die Blume vermittelt ein Gefühl der Verbundenheit, sie steht auf gewisse Weise für den Ausdruck eines geteilten Bedürfnisses nach dieser Erinnerung. Vielleicht entsteht ein Gefühl der Zugehörigkeit unter denjenigen, die die Blume tragen. Zumindest für mich, als Beobachterin, entsteht ein Bild bewusst gewählter und sichtbarer Kollektivierung. Die Annahme, eine Geschichte zu teilen, an die gemeinsam erinnert wird, erzeugt auf gewisse Weise ein Wir – die Blumen bilden ein kleines, sichtbares Band zwischen den Passanten, die mir begegnen. Die fehlende Mohnblume an meinem Kragen macht mir auf eine Weise deutlich: ich gehöre nicht dazu, ich bin kein Teil des Kollektivs. Oder mache ich mich nicht zugehörig? Wie leicht wäre es, mir eine Mohnblume anzustecken, um an der gemeinsamen Erinnerung teilzuhaben oder einfach nur, um ein sichtbarer Teil zu sein? Dazugehören. Da-Zu-Ge-Hören. Da-Zu-Ge-Hörig-Keit. Wovon spreche ich, wenn ich über Zugehörigkeit spreche? Worauf beziehe ich mich und wovon grenze ich mich ab? Im Folgenden führe ich mein Verständnis des Begriffs aus, indem ich mich sowohl der etymologischen Bedeutung und Herkunft, sowie dem Kontext seiner Verwendung widme. Ein Phänomen des medialen Zeitalters sind sogenannte Hashtags. Die mit einer Raute (#) versehenen Einträge bei Twitter, Instagram und weiteren sozialen Medien erlauben eine Markierung und Betitelung des eigenen Textes oder Fotos und ermöglichen so die Auffindbarkeit des Veröffentlichten durch ein breites Publikum. Mit diesen Schlüsselworten können sich Autor_innen in der virtuellen Welt positionieren, sich einer Debatte anschließen oder eigene Themen und Überschriften generieren. Hashtags bieten eine Möglichkeit, aktuelle Trends und die Beliebtheit von Themen zu erkennen (vgl. Jeffares 2014). Sucht mensch beispielsweise bei dem sozialen Fotonetzwerk Instagram Bilder unter dem Hashtag #be-

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longing, finden sich über 55.000 und unter dem Hashtag #Zugehörigkeit lediglich 290 Einträge.6 Dieser kurze Verweis dient der Aufmerksamkeitslenkung auf ein Phänomen: auch wenn im deutschsprachigen Kontext von Zugehörigkeit_en die Rede ist, scheint der Begriff sperrig und weniger Eingang in die Alltagssprache zu finden. Über die Ursachen lässt sich nur spekulieren, sie können hier nicht weiter ausgeführt und keineswegs als valide Indikatoren für die Relevanz beider Begriffe interpretiert werden, da dies auch mögliche unterschiedliche Praktiken deutschund englischsprachiger Mediennutzer_innen berücksichtigen muss. Eine mögliche Interpretation bezieht sich auf die ambivalente Verwendung des Begriffs als Fremd- oder Selbstzuschreibung im sozialen Gefüge. Dieser Ambivalenz gilt es im weiteren Verlauf der Arbeit nachzuspüren. Wenn ich nach der Bedeutung von »Zugehörigkeit« suche, werden mir Begriffe wie »Volk«, »Gender«, »Deutsche« und »Loyalität« vorgeschlagen. Ich suche nach Synonymen, denn manchmal wird der Kern einer Sache durch dessen vermeintliche Alternativen greifbarer. Im »Wortauskunftssystem zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart« werden mir »Angliederung«, »Beziehung« und »Zuordnung« vorgeschlagen (Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache 2017d). »Dazugehören« bedeutet hier also, ein »integraler Bestandteil von etwas« zu sein. Wenn ich dazugehöre, bin ich Teil von etwas, unabhängig davon, ob mich das als ein Mitglied auszeichnet oder ob es bedeutet, mit von der Partie zu sein (ebd.). Es wird deutlich: Zugehörigkeit braucht nach diesen Definitionen ein Gegenüber, ein imaginiertes oder tatsächlich vorhandenes Referenzobjekt oder -subjekt, auf das sich ihre Feststellung beziehen kann. Dieses Referenzobjekt kann vielfältig sein: ein Volk, mein Geschlecht, die Familie oder der Fußballverein, und doch bezieht es sich immer auf Formen, die als Kollektive, Gemeinschaften oder Gruppen kategorisiert werden (vgl. Lorey 2008). Es verweist auf strukturelle Systeme und Institutionen, denen eine scheinbar unhinterfragte Existenz zugeschrieben wird: es gibt eine Sache/ein Subjekt/einen Ort A und etwas anderes, B, gehört dazu, oder eben nicht. Es suggeriert, das sowohl A und B in ihrer Existenz identifizierbar sind als auch ein zugehöriger oder nicht-zugehöriger Zustand in Referenz zu ihnen. Ein Sprechen und Nachdenken über Zugehörigkeit evoziert in diesem Sinne die Vorstellung eines Status Quo, statt die Prozesshaftigkeit seines Werdens und Geworden-Seins zu berücksichtigen. Zugehörigkeit funktioniert in der sozialen Welt als Wurzel und Sicherheitsgurt (vgl. Pfaff-Czarnecka 2012). Die Idee, zu etwas zu gehören, vermittelt die Illusion einer kohärenten kollektiven Ordnung, in die sich Menschen nur einfügen müssen, um unhinterfragt existieren zu können. Doch diese Ordnung ist immer nur vermeintlich und für ausgewählte Personen zu ausgewählten Zeiten an ausgewählten Orten kohärent. Sie ist ein machtvoller Faktor für die hegemoniale Herstellung zugehöriger und nicht-zugehöriger Subjekte (vgl. 6

Stand: Januar 2018. Im Vergleich: im Oktober 2014 waren es unter #belonging 13.000 Einträge und unter #Zugehörigkeit 26 (www.instagram.de).

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Mecheril 2003), die auf interferierenden Ebenen wirkt (vgl. Bath et al. 2013). Zugehörigkeit beschreibt keinen finalen Zustand, und doch wirkt sie als essentialisierendes Zuordnungsprinzip in hegemonialen Verhältnissen. Und jede Hegemonialität setzt ein zur Norm erhobenes Zentrum voraus, durch das soziale Ungleichheit und gewaltvolle Machtverhältnisse reproduziert werden (vgl. Rommelspacher 1995). Wie vielleicht viele machtkritisch-interessierte lese ich das Buch »Rückkehr nach Reims« des französischen Soziologen Didier Eribon (Eribon 2016). In einem Abschnitt zitiert (und kritisiert) Eribon den Philosophen und Soziologen Raymond Aron, der in einem Werk schreibt, dass er sich kaum an sein »›Klassenbewusstsein‹ vor [s]einer soziologischen Ausbildung« erinnern kann. Er begründet dies mit der grundsätzlichen Frage, ob denn überhaupt »jedes Mitglied der modernen Gesellschaft das Zugehörigkeitsbewusstsein zu einer klar definierten, in der Gesamtgesellschaft enthaltenen und ›Klasse‹ zu nennenden Gruppe aufweist.« (Aron 2006: 57 zit. in Eribon 2016: 92). Eribon antwortet, dass eine solche Haltung seiner Meinung nach nur auf eine bürgerliche Kindheit hinweisen kann, da »die Herrschenden [...] nicht [merken], dass ihre Welt nur einer partikularen, situierten Wahrheit entspricht.« Er versteht die Aussage als »naive[s] Eingeständnis eines Privilegierten« (ebd.). Ich frage mich, ob uns Zugehörigkeit wirklich immer nur dann auffallen kann, wenn wir Reibungen verspüren, etwas im gesellschaftlichen Machtgefüge für uns nicht passend scheint oder unsere Eingebundenheit nicht als selbstverständlich wahrgenommen wird. Müssen wir erst infrage gestellt werden, damit wir unsere vielfältigen sozialen Orte wahrnehmen können? Was bedeutet das für meine Arbeit? Ich denke an meine Interviews zurück. In ihnen wird deutlich, dass Reibungen auf unterschiedliche Weise Teil eures, und auch meines, bisherigen Lebensweges waren. Auf welche Weise dies euch und damit auch meine Arbeit beeinflusst hat und wie ihr damit umgeht, vertiefe ich auf den folgenden Seiten. Daraus folgt die unbedingte Berücksichtigung unterschiedlicher Bedingungen von Zugehörigkeitserfahrungen unter den Aspekten des Wollens oder Müssens: Wer kann und wer muss bestimmte Erfahrungen machen? Wem werden Erfahrungen ermöglicht, wem verweigert? Wie ich im Verlauf der Arbeit zeige, umfasst Zugehörigkeit als ambivalentes Grundbedürfnis mehr als einen spezifischen Bezug zum Kollektiven. Einem vermeintlich ontologischen Zusammendenken von Zugehörigkeit und Gemeinschaft setze ich eine andere Lesart entgegen, welche die ambivalente Bedeutsamkeit von Biografie, Emotionen, Raum, Zeit und deren Politisierung für Zugehörigkeitspraktiken fokussiert. Unabhängig davon, ob ich von Zugehörigkeit oder dem Dazugehören spreche, spielt das »Gehören« in beiden Begriffen eine zentrale Rolle. Von dem althochdeutschen »gihōren« aus dem 8. Jahrhundert steht es für das »hören, vernehmen, an- und erhören, zuhören und gehorchen«. Aus dem Fokus auf das akustische Wahrnehmen, das Zu-Hören und Ge-Horchen, hat sich im 14. Jahrhundert »der Sinn der Zugehörigkeit (zu einer Familie oder dergleichen) und des Besitzes und Eigentums entwickelt« (Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache 2017a). Daraus abgeleitet, impliziert ein Teil von etwas zu sein oder sein zu wollen, dass ich

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gehorche und mich unterordne. Keineswegs ist Zugehörigkeit also ein ausschließlich positiv konnotierter Zustand (vgl. Bell 1999), denn er impliziert gleichermaßen auch eine Last und Bindung an die Norm. Die Betonung des Hörens und der Hörbarkeit, sowie die Rolle des fühlenden Körpers als Akteur, auch im Sinne seiner Unterwerfung, sind aus diesem Grund zentrale Motive für die Einbeziehung von Musik als Metapher zur Konzeptualisierung Sozialer Navigation, auf die ich im Verlauf der kommenden Seiten ausführlicher eingehen werde. Da diese Arbeit ein bilinguales Produkt bilingualer Forschung ist, ist auch der englische Begriff »belonging« eine relevante etymologische Koordinate. Er hat seinen Ursprung im mittelenglischen Verb »belong«, das auf das altenglische »gelang« zurückzuführen ist, was »at hand, together with« bedeutet (Oxford Dictionary 2017). Im englischen Begriff ist das zugehörige Dasein also bereits als Mit-Sein (vgl. Nancy 2004) angelegt. Im Sinne einer Besitzanzeige vermitteln sowohl »belonging«, als auch »dazugehören«, zu wem (»this dog belongs to Marie«) oder an welchen Ort (»she belongs here«) etwas oder jemand gehört. Das Substantiv »belonging« wird aber auch verwendet, um Gefühlen, im Sinne eines »sense of belonging« (Oxford Dictionary 2017), Ausdruck zu verleihen. Auch aus diesen etymologischen Bezügen ergibt sich die Notwendigkeit, Raum und Emotionen als bedeutungsvolle Dimensionen des Mit zu analysieren. Es lässt sich, bezogen auf die wissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit Zugehörigkeit beschäftigen, feststellen: »Belonging matters« (Pfaff-Czarnecka 2012: 7). Die Qualität und Quantität existierender Arbeiten zu dem Thema ermöglichen es, die Zugehörigkeitsforschung als einen eigenständigen, interdisziplinären, Forschungsbereich zu definieren (vgl. ebd.). Auch wenn es vielfältige Forschungsarbeiten in diesem Bereich gibt, bewegen sie sich mehrheitlich im Kontext der Migrationsforschung und beschäftigen sich mit der Problematisierung von Nicht-Zugehörigkeit in und durch Migrationsprozesse (vgl. Mecheril 2003; Geisen und Riegel 2007; Yuval-Davis 2011). Ein diesen Arbeiten vorausgehendes und daraus resultierendes, nahezu unausweichliches Zusammendenken von Zugehörigkeit und Migration betrachte ich als diskursive Setzung, in der beide Begriffe aufeinander reduziert werden und auf diese Weise die Vielfalt und Dynamik sich überlagernder Prozesse der Ver- und Entbindung, auch in einer Betonung von »Mehrfachzugehörigkeiten« (Mecheril 2003), unberücksichtigt bleiben. Dagegen positioniert sich diese Arbeit, in der ich Zugehörigkeit als grundlegendes Bedürfnis zwischen Anbindung und Loslösung mit den damit zusammenhängenden Praktiken hegemonialer und ausgrenzender Hierarchisierung und Verweigerung eben dieser Ver- und Entbindungen zusammendenke, ohne mich auf Migration als spezifisches, materiell-diskursives Themenfeld zu beschränken. Jedes »Wir« ist immer und notwendigerweise streitbar, undefinierbar, fragwürdig und ausgrenzend (vgl. Messerschmidt 2009). Es ist unzureichend, es in einem statischen Da-Zu-Ge-Hören oder dessen Verweigerung zu erfassen, da es weder einen Besitz noch Mangel beschreibt. »[…] [I]t would be too easy to say

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that we simply belong to a group and happily conform to its unwritten rules of behaviour. Even in the midst of belonging we can feel ambivalent […].« (May 2013: 87). Da-Zu-Ge-Hörig oder Teil von etwas bin ich nicht einfach, sondern ich werde in Trans-Aktionen (nicht-)zugehörig gemacht oder mache mich (nicht-)zugehörig. Zugehörigkeit umfasst aus diesem Grund sowohl den Prozess des sich Bindens, als auch die Feststellung, in Bindungen verwickelt zu sein (vgl. Latour 2010). Es ist eine soziale Praxis des Mit, die nur in ihrer jeweiligen Verhältnismäßigkeit zu erfassen ist. Im Folgenden stehen aus diesem Grund die relationalen Prozesse und Bedingungen dieses Mit im Mittelpunkt. Die Möglichkeiten und Herausforderungen dieser Prozesse bestehen darin, Wir- und Ich-Formen zu gestalten und zu suchen, insbesondere dann, wenn sie sich in der Vielfalt un_möglicher Lebensweisen hegemonialen Angeboten entziehen und neue Räume eröffnen wollen, um diese zu unterwandern (vgl. Bell 1999). Im politischen sozialen Gefüge erreichen diese Möglichkeiten spätestens dann ihre Grenzen, wenn materielle Rahmenbedingungen oder physische Konstitutionen in gesellschaftlichen Machtverhältnissen mitgedacht werden. Intersektionale Benachteiligungen oder Privilegierungen bringen Zugehörigkeitsbehauptungen hervor und verunmöglichen sie (vgl. Winker und Degele 2009). Indem ich Zugehörigkeit_en als Auslöser und Wirkungen relationaler Prozesse erfasse, ist das Ziel ihrer Dekonstruktion keineswegs ihr Obsolet-Werden, sondern eine Entmachtung des Phänomens, um es in Folge dessen als Relation des Werdens zu re:politisieren. Noch einmal kommen mir die Mohnblumen in den Sinn. Nach einem langen Gespräch mit einer Kollegin, die in Schottland geboren wurde und nun mit ihrer Partnerin in London lebt, schärft sich mein Blick auf die vermeintlich frei gewählte Kollektivität, die mit dem Tragen der roten Ansteckblumen einhergeht: Sie sieht nämlich ganz und gar keinen Platz zur Wahlfreiheit in der Omnipräsenz der Mohnblüten, die an eine bestimmte gewaltvolle Geschichte erinnern, aber andere gewaltvolle (Kolonial-)Geschichten unberücksichtigt lassen. Die Mutter ihrer Partnerin hilft jährlich dabei, unzählige Mohnblumen aus Porzellan im Garten des Tower of London anzubringen – die Beteiligung an dem Ritual des kollektiven Erinnerns ist somit zur familiären Tradition geworden. Diese Tradition engt jedoch all diejenigen ein, die sich nicht damit identifizieren können oder wollen. Das mag ganz unterschiedliche Gründe haben, für die es jedoch in der machtvollen Präsenz der Mohnblume kaum Platz gibt. Das kleine Symbol steht also für weitaus mehr, als ich mit der Beschränktheit meines Blickes wahrnehmen kann. Es erfordert die bewusste Positionierung derjenigen heraus, für die besagte Tradition keine Bedeutung hat oder die sich nicht damit identifizieren können und wollen. Und gleichzeitig wird diese Nicht-Identifikation als emotionale Gleichgültigkeit gegenüber der brutalen Geschichte des Ersten Weltkriegs gelesen. Mir wird deutlich, wieviel Macht die Symbolkraft dieser kleinen Blüte für ein Gefühl der Aufgehobenheit und Wahlfreiheit haben kann. Sie symbolisiert die Überlagerung der Verhältnisse, mit denen wir durch den Alltag navigieren und navigiert werden und zeigt, dass eine Reduktion auf die Sichtbarkeit und visuelle Wahrnehmung nicht ausreicht, um die Komplexität des Sozialen und die Notwendigkeit vielfältiger Geschichten zu begreifen.

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3.2 Körper als Kompass »Could it be that with disembodiment, presence expands?« (Taussig 1997: 3)

Jede soziale Trans-Aktion nimmt auf eine bestimmte Weise Bezug zum Körper. Sie geht von ihm aus, nähert sich ihm an, versucht ihn zu erfassen, zu verstehen, zu begreifen oder auszublenden. Körper sind die Hülle, durch die wir wahrgenommen und gesellschaftlich platziert werden. Sie sind gleichermaßen das Mittel, durch welches wir die Welt wahrnehmen und erschaffen. Nancy bezeichnet Körper als »Archi-Tektonik des Sinns«, denn sie geben uns eine »Stätte«, an der wir uns ereignen (Nancy 2007a: 26ff ). Der Körper ist mein und gleichzeitig ist er es nicht. Machtverhältnisse wirken, auch als Wahrnehmungsverhältnisse, durch und auf Körper, in dem sie diese mit hervorbringen (vgl. Butler 1997). Körper sind in ihrer Nicht-Thematisierung, der Illusion ihrer Abwesenheit oder ihrer Hypervisibilität von Bedeutung. Dies gilt insbesondere für zu »Anderen« gemachte Körper (vgl. El-Tayeb 2011). In ihnen formt sich der soziokulturelle Umgang und die Bedeutung von Geschlecht, Race, Klasse und Herkunft (vgl. Balibar und Wallerstein 1991). Ihre Existenz zwischen Sozialität, Diskursivität und Materialität berücksichtigend, bezeichnet Barad Körper als materiell-diskursive Phänomene (Barad 2012). Welche Rolle spielt der Körper für Soziale Navigationen? Welche Bedeutung hat er für Zugehörigkeitsverhältnisse? Und warum verstehe ich Körper als Kompass? Um mich diesen Fragen zu nähern, beziehe ich mich auf die materiell-diskursive Konstruktion von Körpern, sowie ihre Bedeutung als affektiv-sinnliche Resonanzräume, in die (Zugehörigkeits-)Wissen eingeschrieben ist und wird. Sie sind materialisierte biografische, emotionale, räumliche, temporale und politische »Stätten«, mit denen sich das Soziale ereignet (vgl. Nancy 2007) und Singularisierungs- und Pluralisierungsprozessen stattfinden. Im Schreiben über Körper verbergen sich Fallstricke, selbige zu naturalisieren und sie als unveränderliche natürliche Entitäten zu fassen. Die für meine Arbeit zentralen Erkenntnisse der sozial- und kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Körper im Zuge des »turn to corporeality« (Blackman 2013: ix) lassen sich verknappt zusammenfassen: Wir sind und wir haben Körper und Körper sind gleichermaßen Produkt und Produzenten von Gesellschaft (vgl. Gebauer und Wulf 1998). Sie sind Räume des Mit: uns schlägt etwas auf den Magen, etwas löst Angstschweiß aus, wir gehen aufeinander zu oder entfernen uns voneinander. Aus diesem Grund bezeichne ich Körper als Kompass Sozialer Navigationen. Der Kompass ist ein Instrument der Richtungsweisung. Das Magnetfeld der Erde nutzend, zeigt er die Himmelsrichtungen an und gibt Orientierung. Ähnlich dem Körper ist der Kompass ein bezeichnetes und bezeichnendes Instrument. Einerseits haben Körper eine ihnen vorauseilende Bedeutsamkeit, andererseits strukturieren sie räumliche, und somit soziopo-

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litische, Welt_en, da sie uns Zeichen für die Bewegung in selbigen geben (vgl. Nancy 2007a). Da sie auf spezifische Weisen gelesen und gedeutet werden, geben Körper auch Bewegungsrichtungen an. Sie erfüllen jedoch, anders als der Kompass, je nach Kontext, verschiedene Funktionen und unterliegen vielfältigen materiell-diskursiven Praktiken (vgl. Barad 2003: 810ff ). Judith Butler versteht den Körper als »relational reality« (ebd.), wodurch seine Funktion als Kompass zugleich zu einer Frage und Aussage wird. Sie ist »not interested in an ontology of the body that suspends the social relations that allow for the persistence of the body. […] there is no way to understand the embodied status of human life without contextualizing the social imperative under which it lives, and upon which its life depends. In this way, we are, as bodies, never quite discrete or bounded: we are given over from the start to those people, practices, environments, networks of life, without which our own life is not possible.« (Butler und Cazier 2017: 5)

Zugehörigkeitserfahrungen können nicht ohne Körper gedacht werden. Dennoch lässt sich feststellen, dass Körper zugleich in vielen theoretischen Arbeiten abwesend sind. Der Bildungstheoretiker Ken Robinson thematisiert beispielsweise die »Körperlosigkeit« von Wissenschaftler_innen in seinem TED-Talk zur Frage, ob Schulen die Kreativität ersticken (»Do schools kill creativity?«), auf folgende Weise: »Professoren haben nach meiner Erfahrung etwas Merkwürdiges an sich – nicht alle natürlich, aber häufig – leben sie in ihren Köpfen. Sie leben da oben [...]. Sie sind körperlos, im wörtlichen Sinne. Sie betrachten ihren Körper als eine Transportmöglichkeit für ihre Köpfe. Nicht wahr? Eine Art und Weise, ihre Köpfe zu Meetings zu bringen. Wenn sie stichhaltige Beweise für ›außerkörperliche‹ Erfahrungen wollen, gehen Sie mal zu einer Konferenz von leitenden Akademikern in ihrer Gegend, und schauen Sie am letzten Abend in der Disko vorbei. Und da werden Sie es sehen: Erwachsene Männer und Frauen winden sich unkontrolliert aus dem Takt, und warten auf das Ende, nur um nach Hause zu gehen und darüber einen Aufsatz zu schreiben.« (Robinson 2006)

Der denkende und fühlende Körper ist eine Grundlage meines Zugehörigkeitsverständnisses. In seinem Körperverständnis betont der Anthropologe Helmuth Plessner die doppelte Positionalität von Körper_n im sozialen Gefüge: sie sind sowohl »zentrisch« als auch »exzentrisch« positioniert (vgl. Plessner 1975). Mit der zentrischen Positionierung beschreibt er die Raum-Zeit-Bindung des Körpers an das Hier-und-Jetzt – wenn ich hier bin, kann ich nicht woanders sein – wohingegen die exzentrische Positionierung die Überwindung eben dieser Gebundenheit beschreibt – meine Gedanken ermöglichen es mir immer auch, gleichzeitig woanders zu sein (ebd.). Warum ist Plessners Perspektive der Positionalität für Zugehörigkeitserfahrungen relevant? Körper sind, wie ich bereits erwähnt habe, gleichsam anwesende und abwesende, physische, aber auch mentale, diskursive und narrative Akteure,

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die sich verbinden und die verbunden sind (vgl. Barad 2003). Die Arbeit Plessners gilt es im 21. Jahrhundert und mit Blick auf die Bedeutsamkeit des Internets für das Handeln und Verhalten des digital-vernetzten Menschen neu zu reflektieren: durch Instagram, Facebook und ähnliche Portale wird die Gleichzeitigkeit verschiedener exzentrischer Positionalitäten und Verbundenheiten ermöglicht (vgl. Burkart et al. 2006). Virtuelle Realitäten, das Internet und Soziale Medien beeinflussen die Dimensionen physischen Erlebens – ich kann gleichzeitig an mehreren Orten sein, verschiedene Anteile meiner Persönlichkeit ausleben und mich zeitgleich mit diversen Menschen verbinden und verbunden fühlen (ebd.). Während ich im Bus auf dem Weg zur Arbeit sitze und ein Foto von mir im Urlaub oder beim gestrigen Spaziergang mit meinem Hund online stelle, bin ich im selben Moment exzentrisch und zentrisch positioniert. Interferierende Zugehörigkeitsverhältnisse implizieren die doppelte Positioniertheit von Körper_n – einerseits sind wir als handelnde, physische Akteur_innen im Hier-und-Jetzt anwesend, während wir gleichzeitig biografische und diskursive Archive von Emotionen, Erinnerungen, Visionen und Selbstentwürfen sind, die sich dieser Raum-Zeit-Bindung entziehen (vgl. Bath et al. 2013). Da »Leib und Körper immer zugleich Objekt und Subjekt, allgemein und individuell, reproduktiv und konstruktiv sind« (Gugutzer 2010: 143), werden sie nicht als Singular verstanden, sondern als vielfältiger und immer bereits relational verwobener Plural (vgl. Gebauer und Wulf 1998). Für ihre Erfassung als »Ereignisstätten der Ver- und Entbindungen«, sind die materiell-diskursiven Bedingungen und Kontexte relevant, die sie als vergeschlechtlicht, rassifiziert, ethnisiert, religiös, kulturalisiert oder behindert hervorbringen, definieren und beeinflussen. Nach Gugutzer sind dafür soziale Interaktionen der »geeignete analytische Ausgangspunkt« (Gugutzer 2010: 143). Ich spreche in Anlehnung an den Soziologen François Dépelteau von Trans-Aktionen. Im Sinne einer konsequent relationalen Perspektive werden soziale Strukturen als Effekte von Trans-Aktionen zwischen verschiedenen, interdependenten Akteur_innen verstanden: »actor ↔ actor → social structure, if any« (Dépelteau 2008: 59). Körper sind nicht, sondern sie werden gemacht. Butler schlägt aus diesem Grund »eine Rückkehr zum Begriff der Materie« vor, »jedoch nicht als Ort der Oberfläche vorgestellt, sondern als ein Prozess der Materialisierung, der im Laufe der Zeit stabil wird, so daß sich die Wirkung von Begrenzung, Festigkeit und Oberfläche herstellt, den wir Materie nennen.« (Butler 1997: 32, Herv.i.O.). Sie denkt Materie und Sprache als miteinander verschränkte Phänomene, die Subjekte und Körper hervorbringen (ebd.). Als hegemoniale Instrumente der Kollektivierung sind Zugehörigkeitspraktiken »Norm(en), die die Materialisierung von Körpern regier(en)« (Butler 1997: 22-23). Geschlechterverhältnisse sind ein Aspekt machtvoller Zugehörigkeitsverhältnisse, die Körper entlang einer zweigeschlechtlichen Matrix materialisieren und hierarchisieren (vgl. Bath et al. 2013). Zugehörigkeit erfasst Prozesse der Materialisierung und Normierung von Körpern. In anthropologischen Theorien verbirgt sich die Gefahr, Körper zu

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universalisieren und gesellschaftliche Machtverhältnisse, denen sie unterworfen sind, auszublenden (vgl. Barkhaus et al. 1996). Die Lesart einer universell-gleichen Beschaffenheit von Körpern ist zwar naheliegend, da alle Menschen schlafen, essen, sich bewegen und fortpflanzen, gleichzeitig ist sie problematisch, da sie gesellschaftliche Ungleichheiten und Ausgrenzungen, die sich an Körpern vollziehen, unberücksichtigt lässt (vgl. Wulf 2002). Dies macht eine kritisch-phänomenologische Analyse notwendig, denn der Leib ist »in seiner räumlichen Struktur selbst einer kulturellen Formung unterworfen. Der phänomenologischen Reduktion gelingt es lediglich, die Strukturalität des Leibes als ein vorläufig universelles Phänomen auszuweisen, jede bestimmte Form des Leibes muss dagegen historisch variabel verstanden werden.« (Lindemann 1996: 173)

Wenn Körper thematisiert werden, dann geschieht dies häufig von als normabweichend konstruierten Körpern. Körper scheinen also vor allem durch Prozesse des Othering wahrnehmbar zu werden. Ob dies dem state of the art einer Wissenschaftsgeschichte zuzuschreiben ist, die im Prozess der Aufklärung Emotionalität, Subjektivität und Körper ausgeblendet hat, oder ob es an der Norm einer rationalisierten Wissensproduktion in der Philosophie und Anthropologie liegt, den eigenen Körper nicht wahrnehmen zu müssen (vgl. Barkhaus et al. 1996), da die Erfahrung gesellschaftlicher Privilegierung als sozial (vermeintlich) unmarkierter Körper es nicht notwendig macht, kann an dieser Stelle nicht im Fokus stehen. Es ist jedoch auffällig, dass insbesondere Arbeiten, die sich mit sozialer Ungleichheit in postkolonialen Macht- und Geschlechterverhältnissen beschäftigen, explizit Bezüge zu Körper herstellen (Butler 1997; Oyěwùmí 2005a; Attia 2007; Krishnamurthy 2017; Ahmed 2017). Für wen gilt die unhinterfragte Selbstverständlichkeit körperloser Anwesenheit? Die Rechtswissenschaftlerin Sally Sheldon beschreibt in ihrem Beitrag für den Sammelband »Real bodies« (Evans 2002) den männlichen Körper als unbekanntes Terrain, da üblicherweise über den weiblichen Körper als Differenz zur unmarkierten männlichen Norm geschrieben und somit Körperlichkeit mit Weiblichkeit verbunden wird (vgl. Sheldon 2002: 14ff ). Sheldons Irritation ist nachvollziehbar und verdeutlicht, welchen Effekt es hat, bestimmte Körper in (feministischer) Forschung über den Körper zu bevorzugen und auf diese Weise mit zu erzeugen. Hier liegt die Gefahr der Reifizierung sozialer Mechanismen durch die wissenschaftliche Betrachtung und die Aufforderung zur kritischen Reflexion. »When the stories of science are at their most convincing and compelling it may be because they speak most clearly to our own cultural understandings and values and this […] is when they are at their most pernicious.« (Sheldon 2002). Kritische Wissenschaft muss vor allem kritisch gegenüber ihren eigenen Praktiken und Annahmen sein. Für ein kritisches Zugehörigkeitsverständnis bedeutet das, die Komplexität dieser Normsetzungen zu hinterfragen und wahrnehmbar zu machen. Körper sind denkende und fühlende Resonanzräume des Sozialen

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(vgl. Rosa 2016). Sie bringen Emotionen hervor und lassen uns fühlend wahrnehmen und empfinden. Empfundenes (Nicht-)Dazugehören schließt die körperliche Erfahrung ein, sodass einige Definitionen Zugehörigkeit vor allem als »emotionsgeladene soziale Verortung« denken (Pfaff-Czarnecka 2012: 12). Die Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin Lisa Blackman erfasst die Bedeutung von Emotionen für eine Annäherung an die immaterielle Beschaffenheit von Körpern. Sie verdeutlicht, dass Körper insbesondere durch ihre affektiven Kapazitäten, »to affect and to be affected« (Blackman 2013), ausgemacht werden. Die Soziologin Gesa Lindemann spricht in ihrer Arbeit über Transsexualität in einer dichotomen Geschlechterordnung von der »leiblich-affektiven Konstruktion sozialer Realität« (Lindemann 1993: 331). Um die produktive Kraft von Emotionen für die Stabilisierung hegemonialer Ordnungen im und durch Körper zu beschreiben, übernimmt die queer-feministische Kulturwissenschaftlerin Sara Ahmed in ihrem Werk »The cultural politics of emotions« (Ahmed 2004b) das Konzept des »embodied thoughts« von der Anthropologin Michelle Z. Rosaldo (Rosaldo 1984: 143). All diese Arbeiten zeigen, dass ein Ansatz verkörperter Gedanken keine Trennung zwischen Körper und Geist, oder körperlicher Wahrnehmung und rationalem Verstehen zulässt. Denken und Fühlen können nur zusammengedacht werden. Ein Zusammendenken, für das der kolumbianische Soziologe Orlando Fals Borda das Konzept des »Sentipensar« einführt (Fals-Borda und Moncayo 2009). Wörtlich übersetzt bedeutet Sentipensar »Denk-Fühlen« (span. sentir: fühlen, pensar: denken) (vgl. Krishnamurthy 2017: 18). Über die Entdeckung dieses Wortes sagt der Schriftsteller Eduardo Galeano: »Ja, das war ein Wort, das ich an der kolumbianischen Küste gelernt habe. Das sagten die Fischer und ich dachte: ›Das ist die Sprache, welche die Wahrheit sagt, jene die zur gleichen Zeit fühlt und denkt, jene die das, was voneinander getrennt ist, zusammenbindet, wie zum Beispiel Emotion und Verstand, die von diesem System, das uns zersplittert, voneinander losgelöst wurden.« (Eduardo Galeano zit. und übers. in Krishnamurthy 2017: 18)

Auch der Anthropologe und dekoloniale Theoretiker Arturo Escobar diskutiert »Thinking-Feeling« als notwendiges Konzept einer dekolonialen Wissensproduktion, das sich mit der pluriversalen Forderung nach einer Welt, in die viele Welten passen, gegen die monolithische und eurozentrische Idee einer Welt wendet, die von universalisierten Körpern bewohnt wird (Escobar 2016: 20ff, eig. Übers.). Diese Betrachtungen sind wesentlich für das Einbeziehen des Körpers in eine Theorie über Zugehörigkeitspraktiken und -erfahrungen, da nach ihnen ein Verständnis, welches zwischen Zugehörigkeit als affektivem oder kognitivem Phänomen unterscheidet, nicht aufrecht zu erhalten ist. Emotionales und kognitives Wissen ist immer auch körperlich (vgl. Hirschauer 2016). Zu dieser Verkörperlichung zählt sowohl das Wissen, das wir über den Körper haben, als auch das Wissen, das im Körper sitzt und jenes Wissen, welches über den Körper zirkuliert (ebd.). Das im Körper verankerte

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Wissen ist nur teilweise ausdrückbar, da es zu einem großen Teil aus erlernten, sozialisierten oder mimetisch angeeigneten Handlungen und Praktiken besteht, die kaum expliziert werden müssen oder können (vgl. Kraus et al. 2017). Dazu zählen Glaubensüberzeugungen und Fähigkeiten, sowie Orientierungssinn und Geschicklichkeit (ebd.). Dieses einge- und verkörperte Wissen wurde in der Literatur auf vielfältige Weise bezeichnet: Michel Foucault spricht von der »Disziplinierung« von Körpern und Bourdieu denkt den Zusammenhang von Wissen und Handeln im »Habitus« zusammen (vgl. Hirschauer 2016: 26). In den unterschiedlichen Bezugnahmen wird die Bedeutung des Körpers für machtvolle Singular- und Pluralisierungen betont. Kollektivierende und singularisierende Praktiken manifestieren sich in Form eines Zugehörigkeitswissens in Körpern. Schließlich ist es der Körper, »der die Grundlage für soziale Ordnung darstellt, woraus sich die zugeschriebene Körperlichkeit von in der sozialen Hierarchie abgewerteten Subjekten ergibt« (Oyěwùmí 2005b zit. in Krishnamurthy 2014: 72). Wie Karen Barad schreibt, sind Praktiken des Wissens und des Seins aus diesem Grund nicht voneinander zu isolieren, sondern implizieren einander. »We do not obtain knowledge by standing outside of the world; we know because »we« are of the world. We are part of the world in its differential becoming.« (Barad 2003: 829). Bodies matter und bodies are real (vgl. Evans 2002). Weil in sie unter anderem Lernprozesse, Alltagserfahrungen und Zukunftsvorstellungen eingeschrieben sind, fungieren sie als Kompass des Werdens (vgl. Coleman 2012). Wir bewohnen unsere Körper und gestalten mit ihnen die Welten, die uns umgeben. Und gleichzeitig sind sie eine beschränkende Hülle, deren Standortgebundenheit nur einen bestimmten Teil der sozialen Welt zugänglich machen kann. Da Körper also gleichzeitig Produkte und Produzenten von Gesellschaft sind, stehen sie für die Unmöglichkeit, binär zwischen einem gesellschaftlichen Außen und einem körperlichen Innen zu unterscheiden (vgl. Krishnamurthy 2017). Den Körper an sich gibt es nicht, er wird je nach Perspektive in Theorie und Praxis als singuläres oder plurales Konstrukt hervorgebracht. Mit den Worten des Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty ist »[t]he theory of the body […] already a theory of perception« (Merleau-Ponty 2012: 235). Eine Theorie, die den Körper als denkfühlenden, materiell-diskursiv hervorgebrachten Resonanzraum denkt, muss die phänomenologischen Perspektiven seiner Un_Wahrnehmbarkeit einbeziehen. Damit leite ich zum nächsten Koordinaten über.

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3.3 Ich höre was, was du nicht siehst »Was wir Wahrnehmung nennen, durchmisst also nicht einen vorgegebenen Raum, es artikuliert Raum, indem die Wahrnehmung Beziehungen der Abhebung schafft, Zusammenhänge herstellt, Distanzen anordnet, Aufteilungen des Sichtbaren und des Unsichtbaren vornimmt. Doch jede Wahrnehmung gründet in Perzeptionen, die ihr vorhergehen. [...] Kurz: Die Welt ist nicht ein Raum, sondern eine veränderliche Mannigfaltigkeit von Weltbezügen.« (Nowotny und Raunig 2016: 132)

Die »Mannigfaltigkeit von Weltbezügen« (ebd.) besteht auch aus verschiedenen sinnlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten. Wir sehen, schmecken, riechen, fühlen, denken, begehen und hören Welten und finden uns auf diese Weise in ihnen zurecht. Dazugehören oder ein Teil sein zu können, setzt Wahrnehmbarkeit voraus. Wahrgenommen werden und wahrnehmen sind notwendige Prozesse des Sozialen, da sie Sozialität und Identität bilden (vgl. Stenger 2017). Wir sitzen uns in diesem Raum gegenüber. Wir begegnen uns als vertraute Fremde, über die letzten Wochen haben wir uns immer wieder gesehen, miteinander gesprochen und Erlebnisse geteilt. Doch zwischen wem fanden die Begegnungen statt? In welchen Formen und Stimmungen sind wir aufeinander getroffen und für welche unserer jeweiligen Zustände waren wir empfänglich? Einander wahrzunehmen hängt unweigerlich damit zusammen, wie und wo wir uns gegenüber treten und zu welcher Wahrnehmung wir fähig sind – was wir in früheren Interaktionen gelernt und was wir erfahren haben, was wir aufeinander projizieren und wofür wir unempfänglich bleiben. Jeder Weltbezug ist ein gefilterter Weltbezug. Wie werde ich wahrgenommen? Was fühle ich? Wie wird gesehen? Wie wird gehört? Wer benennt und wer wird benannt? Ich nähere mich der Bedeutsamkeit dieser Fragen für Zugehörigkeitserfahrungen im Folgenden über einen Ansatz der Un_Wahrnehmbarkeiten. Zugehörigkeitspraktiken sind soziale Prozesse, die als Dynamik zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmungen stattfinden und sich im internalisierten Zusammenspiel von Denken und Fühlen in diversen, uns umgebenden Räumen verwirklichen (vgl. Mecheril 2003). Wie im vorangegangen Abschnitt verdeutlicht wurde, sind Körper soziale Akteure, die Welten herstellen und mit diesen navigieren. Ihre Konstitution erfolgt im Zusammenspiel verschiedener Kräfte, zwischen Materialität, Diskursen und deren jeweiliger sozialer und historischer Einbettung (vgl. Barad 2003). Für ein kritisches Zugehörigkeitsverständnis ist es aus diesem Grund notwendig, sich auch mit normalisierenden Wahrnehmungspraktiken zu beschäftigen, die ein normatives, kollektivierendes Zentrum, zu dem mensch

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gehören muss oder soll, fraglos reproduzieren (vgl. Backhaus und Roth-Isigkeit 2016). Meinem Wahrnehmungsverständnis liegt eine Kritik am Primat des Sehens als normsetzender Praktik zugrunde. Daraus folgend nehme ich in dieser Arbeit den Versuch einer Wahrnehmungsverschiebung vor, die stärker auf die Bedeutung des Hörens, der Hörbarkeit und des Fühlens für Anbindungs- und Loslösungsprozesse abzielt (vgl. Waltham-Smith 2016; Nancy 2014). Dies setzt voraus, dass leiblich-affektive Erfahrungen mit Paradigmen der Ordnung und Hierarchisierung zusammengedacht und auf diese Weise Zugehörigkeitsverhältnisse als Wahrnehmungsverhältnisse expliziert werden. Grundlegend hierfür ist ein Verständnis von Wahrnehmung als Handlungsweise, etwas, was Menschen tun und nicht etwas, was Menschen passiert oder mit ihnen stattfindet (vgl. Noë 2005). »What we perceive is determined by what we do (or what we know how to do); it is determined by what we are ready to do.« (Noë 2005: 1, Herv.i.O.). Ein wichtiger Vertreter der Phänomenologie ist der Philosoph Maurice Merleau-Ponty. In seinem Werk »Phenomenology of Perception« beschreibt er die Wahrnehmung als signifikanten Vorgang unseres Zur-Welt-Seins (vgl. Merleau-Ponty 2012). »The world seen is not ›in‹ my body, and my body is not ›in‹ the visible world ultimately: as flesh applied to a flesh, the world neither surrounds it nor is surrounded by it. [...] The flesh is not matter, in the sense of corpuscles of being which would add up or continue on one another to form beings. [...] In general, it is not a fact or a sum of facts ›material‹ or ›spiritual‹. [...] To designate it, we should need the old term ›element‹. [...] The flesh is in this sense an ›element‹ of Being. Not a fact or a sum of facts, and yet adherent to location and to the now.« (Merleau-Ponty et al. 1968: 138ff)

Die wahrgenommene Welt ist die Welt, auf die wir uns beziehen; die Welt, die wir körperlich spüren; die Welt, die uns wahrnimmt. »Flesh« ist nach Merleau-Ponty ein mit der Welt verflochtenes Element, es ist kein Gegenstand, über den wir ungebunden verfügen können, denn es ist von Beginn an mit vielfältigen Welteinflüssen verbunden (ebd.). »Bevor wir auch nur den kleinsten Gedanken fassen, [...] bevor wir als Kind anfangen zu sprechen und zu verstehen, ist unsere leibliche Existenz schon in ein Milieu und eine Atmosphäre unserer Umwelt und Welt verwoben […].« (Bischlager 2016: 13). Die Ambiguität menschlichen Lebens besteht als Folge dieser Verwobenheiten darin, Verantwortung für unser Handeln zu übernehmen, auch wenn die Wirkungen dieser Handlungen immer von den Bedeutungen abhängen, die andere ihnen zuschreiben (vgl. Merleau-Ponty 2004). Im Mit-Sein ist meine Wahrnehmung immer an meine Wahrnehmbarkeit durch Andere geknüpft. Wahrnehmungspraktiken wirken als Momentum kollektivierenden Erkennens, Sich-Findens und Verbindens, für »those rare and precious moments at which human beings come to recognise, to find, one another« (ebd.: 90). Sie sind zentrale Prozesse des Relational Becoming. Unter Bezugnahme auf die phänomenologische Leibphilosophie Merleau-Pon-

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tys wird es möglich, Zugehörigkeitsverhältnisse als un_wahrnehmbare relationale Praktiken zu begreifen, die Subjekte hervorbringen und auf selbige als die bereits erwähnten »embodied thoughts« (Rosaldo 1984: 143) wirken. Was und wie wir wahrnehmen ist dadurch beeinflusst, wie wir wahrgenommen werden. Diese Wechselseitigkeit wird durch das Primat des Sehens und der Sichtbarkeit maßgeblich beeinflusst (vgl. Schaffer 2008): Ich sehe eben nicht, was du siehst. Den Titel des Spiels als Ausgangspunkt nehmend, kritisiere ich den Okularzentrismus als Privilegierung des Sehsinns gegenüber anderen Sinnen. Die Prämisse, »Ich sehe etwas, was du nicht siehst«, wird dann nicht nur durch die Umformulierung »Ich höre etwas, was du nicht siehst« kritisiert, sondern durch den Verweis auf einen anderen Sinn produktiv verändert. Blicke haben eine machtvolle, symbolische Funktion, da sie Individuen subjektivieren, ihnen dadurch einen sozialen Status zuweisen und Handeln kontrollieren (vgl. Schaffer 2008: 16ff ). Unsere Haut fungiert dafür als eine maßgebliche Projektionsfläche, »as a site where bodies take form - already written upon but open to endless re-inscription« (Ahmed und Stacey 2001). Wir denkfühlen durch unsere Haut und dieses Denkfühlen ist ein Prozess des Werdens durch machtvolle Wahrnehmungspraktiken (vgl. Krishnamurthy 2017: 126ff ). Der Soziologe Georg Simmel versteht die »wechselseitige sinnliche Wahrnehmung« durch den Blick als Grundvoraussetzung menschlichen Zusammenlebens: »unter den einzelnen Sinnesorganen ist das Auge auf eine völlig einzigartige soziologische Leistung angelegt: auf die Verknüpfung und Wechselwirkung der Individuen, die in dem gegenseitigen Sich-Anblicken liegt.« (Simmel 1992: 484). Dem Sehsinn wird eine vergemeinschaftende Funktion zugeschrieben, denn durch ihn erkennen Individuen sich und die Welt. »The reason that the body has so much presence in the West is that the world is primarily perceived by sight. The differentiation of human bodies in terms of sex, skin color, and cranium size is a testament to the powers attributed to ›seeing‹. The gaze is an invitation to differentiate.« (Oyěwùmí 2005b: 4)

In eben dieser Einladung zur Differenzierung entfaltet sich die Macht des Blickes, die auch Grundlage kolonialer und sexistischer Praktiken körperlicher Einverleibung, Dominanz und Überwachung ist (vgl. Levin et al. 2002). Sehen wird mit Wissen gleichgesetzt. »(O)ur lives are dominated by a prevalent system […] that structures ›seeing‹ as ›knowing‹ […]. Such seeing is linked, among other things, to occularcentrism as masculine forms of ownership.« (Shapiro 1999: 10). Eine Betonung visueller Erfahrung reduziert die Erkennbarkeit sozialer Akteur_innen und mögliche Verbundenheiten zwischen ihnen auf eben diese Betrachtungsebene und zieht sie diskursiven, immateriellen Praktiken und nicht-visueller Sinneswahrnehmung in Trans-Aktionen vor. Vielleicht kann die Forderung Glissants nach einem Recht auf Undurchsichtigkeit, »opacity«, als Reaktion auf diese Feststellung verstan-

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den werden (vgl. Glissant 2010: 194). Diese Forderung steht für eine Sehnsucht, der reduzierenden Macht des Visuellen zu entkommen, da diese Menschen auf eine bestimmte Wahrheit oder physische Essenz reduziert, die sie nicht selbst kreiert haben (ebd.). Die vielfältige Sinnlichkeit sozialer Erkennungs- und Zugehörigkeitspraktiken gehen jedoch über den Blick und das gegenseitige Anblicken hinaus. Geräusche, Geschmäcker, Bewegungen und andere sinnliche Erfahrungen spielen eine ebenso wichtige Rolle für unsere Welt-Beziehungen (vgl. Gugutzer 2010; Shilling 2016). Jemanden nicht riechen können, sich in seiner Haut wohlfühlen, das Handeln aus dem Bauch heraus oder etwas, das uns auf den Magen schlägt, sind metaphorische Beispiele dafür, wie Menschen im Alltagsverständnis ihre soziale Umwelt körperlich und sinnlich wahrnehmen, ohne dies auf einen visuellen Weltzugang zu reduzieren (vgl. Lakoff und Johnson 2003). Im Zusammenhang der Bedeutung komplexer sinnlicher Trans-Aktionen beziehe ich mich auf die Ausführungen des postkolonialen Theoretikers Walter Mignolo, der in seinem Artikel zur »Geopolitik des Wahrnehmens und Erkennens« (2011) durch den Blick und das Sehen vorgenommene koloniale Grenzziehungspraktiken kritisiert. Subjekte bewohnen »unterschiedliche Körper, Gefühle und Erinnerungen« (Mignolo 2011: 3), weswegen er ihr mit-derWelt-Sein als »Weltwahrnehmung« statt »Weltanschauung« begreift (ebd.). Die »Weltanschauung« weist er als einen von der westlichen Epistemologie beschränkten und bevorzugten Ausdruck zurück, da dieser die Affekte und sinnlichen Bereiche jenseits des Sichtbaren verstellt (ebd.). Un_Wahrnehmbarkeiten umfassen aber mehr als das Sichtbare – es geht ihm um eine ganzheitliche Körperlichkeit, die das Hören, Fühlen und Schmecken ebenso berücksichtigt wie die Anwesenheit von Emotionen, Imaginationen, Wünschen und Träumen. Machtvolle Normierungspraktiken, die über das Un_Wahrnehmbare entscheiden und Subjekte auf eine bestimmte Weise markieren, reichen über das Visuelle hinaus. Sie werden ebenso in einer Hegemonie des Un_Hörbaren deutlich (vgl. Stoever 2016). Ich wende mich diesen Gedanken im Kapitel über die Praktiken des Mit ausführlicher zu. Die Wissenschaftlerin und Filmemacherin Trịnh Thị Minh Hà schreibt in ihrem Werk »Woman, Native, Other« (1989) über die Unwahrnehmbarmachung von Weißsein als Norm. »As an abstract, dominant, non-group, whites have always been tempted to define groups« (Minh Hà 1989: 54). In einer westlichen wissenschaffenden Tradition bleibt die Normsetzung eines bürgerlichen, weißen, männlichen, heterosexuellen Subjektes (vgl. Reckwitz 2006) unsichtbar. Mit der Kritischen Weißseinsforschung wurde ein mögliches Theoriegerüst entwickelt, welches sich explizit mit der historischen Unsichtbarkeit weißer Privilegien beschäftigt und diese in eine Phänomenologie des Weißseins übersetzt (vgl. Ahmed 2007). Eine Voraussetzung hierfür ist die Wahrnehmung von Weißsein als politischer Kategorie und gesellschaftlicher Positionierung, die keineswegs neutral, sondern ebenso historisch und politisch zu markieren ist (ebd.: 150ff). Die Benennung und Konstruktion des »Anderen« erfolgt über eine Ausblendung der wirkmächtigen Normierungen, die als unmarkiertes Zentrum des Mit-Seins dienen und durch ihre Nichtbenennung konti-

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nuierlich legitimiert werden (vgl. Orelus 2013). Sei dies bezogen auf einen monolingualen Habitus (vgl. Gogolin 2008), ableistische Körperlichkeit (vgl. Meißner 2015) oder Weißsein als Norm (vgl. Ahmed 2007). Lann Hornscheidt nutzt zur Erfassung dieser Ausblendung den Begriff der »Entwahrnehmung« (vgl. Hornscheidt 2015). »entwahrnehmungen sind die konzeptuellen prozesse, die durch unterschiedliche kommunikationsformen wie sprechen, schreiben, sehen, ansehen/anblicken, zuhören usw. hergestellt werden. etwas nicht zu hören ist nicht einfach etwas nicht zu hören, sondern führt dazu das etwas – oder x – nicht wahrgenommen wird, eine andere person oder position kein gehör findet und dadurch auch keinen eingang in meine vorstellungen_politiken_handlungen_wahrnehmungen.« (Kelly 2017, Kleinschreibung i. Orig.)

Mignolo versteht dies als Ausdruck der »Unterdrückung der Wahrnehmung sowie des Körpers und dessen geohistorischer Verortung.« (Mignolo 2011: 2). Territoriale und imperiale Epistemologien, die darüber entscheiden, wer auf welche Weise wahrnehmbar ist oder unwahrnehmbar bleibt, werden durch eben diese vermeintliche Universalisierbarkeit egozentrischen Denkens ausgeblendet. Mignolo ergänzt, dass »[d]iese Unterdrückung [...] die Forderung nach Universalität seitens der Theo- und Egopolitik der Erkenntnis möglich« (ebd.) machte. Eine kritische Beschäftigung mit wechselseitigen Wahrnehmungsweisen muss die materiell-diskursive Verwobenheit von Körpern und die jeweiligen Praktiken ihrer Universalisierung einbeziehen. Nur so lassen sich die Visibilitäts- und Ordnungsregime, die sie hervorbringen und unterwerfen, wahrnehmbar zu machen. Ein Beispiel hierfür ist die Beschäftigung mit der Frage, wer in Prozesse der Wissensproduktion eingebunden wird, wessen Wissen zählt und wessen Wissen somit wahrnehmbar gemacht wird (vgl. Eggers 2007). »Theory, then, is a set of knowledges. Some of these knowledges have been kept from us – entry into some professions and academia denied us. Because we are not allowed to enter discourse, because we are often disqualified and excluded from it, because what passes for theory these days is forbidden territory for us, it is vital that we occupy theorizing space, that we not allow white men and women solely to occupy it. By bringing in our own approaches and methodologies, we transform that theorizing space.« (Anzaldúa 1990: xxv)

Die bereits angesprochene Problematisierung einer Hypervisibilität marginalisierter Körper bezieht sich vor allem auf hegemoniale Praktiken ihrer spezifischen Verortung und Positionierung. Gleichzeitig ist Sichtbarkeit ein wesentliches Ziel für die Anerkennung marginalisierter Gruppen (ebd.), wie es auch die queer-feministische Chicana-Kulturwissenschaftlerin Gloria Evangelina Anzaldúa für die Anwesenheit marginalisierter Perspektiven im Wissenschaftsbetrieb fordert. In der hegemonialen Macht des Okularismus wird das Ungleichverhältnis zwischen sichtbarer Unsichtbarkeit und unsichtbarer Sichtbarkeit verschiedener Körper deutlich (vgl. Schaffer 2008: 51ff ). Es gilt, das Sichtbare als Zeichen kritisch zu lesen und

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nicht der Annahme zu erliegen, Sehen sei gleichzusetzen mit Wissen. Dies erfordert eine kritische Einbeziehung vielfältiger Formen der Wahrnehmbarmachung. Für das hier zu entwickelnde Verständnis von Zugehörigkeitspraktiken und -erfahrungen bedeutet das, kontinuierlich zu fragen, welche Körper, Erfahrungen und Geschichten auf welche Weise an- oder abwesend gemacht werden (vgl. Dege et al. 2010) und Bestandteil des Mit-Werdens sind. Zugehörigkeit unterliegt, als vom Körper ausgehend gedachte, soziokulturelle Norm, immer einem binären Blick des »Entweder-oder« (vgl. Yuval-Davis 2010: 272ff ). Indem die hegemoniale Norm der Binarität unhinterfragt bleibt, erscheint die (visuell-wahrnehmbare) Welt als eine Welt der Dichotomien, in der Subjektpositionen eindeutig und unveränderlich sind. In dieser Welt kann eine Frau kein Mann sein (bzw. muss sich für eine der beiden Seiten entscheiden), ein Geflüchteter kein Einheimischer, ein Kind kein Erwachsener. Um diesen Vorstellungen eine dynamische Perspektive sozialer Praxis entgegen zu setzen, werden Zugehörigkeitsverhältnisse in dieser Arbeit als Interferenzen behandelt, die unsere alltägliche Navigation unter besonderer Berücksichtigung des Hörens und der Hörbarkeit beeinflussen. Unsere Ohren sind zentrale Organe dieser Navigation. Schallwellen dringen in uns ein und versetzen uns in Bewegung. Im Innenohr sitzt das Gleichgewichtsorgan, das neben dem Gehör unsere Bewegungen mitsteuert. Wir teilen uns in Zugehörigkeitsverhältnissen durch unser Selbstverständnis, unsere Erfahrungen, Erzählungen, Wünsche und Ideale mit. (Biografisierte) Erzählungen und Geschichten ermöglichen es, vermeintlich Unsichtbares wahrnehmbar zu machen, wenn durch sie Denk- und Fühlprozesse mit_geteilt werden. Der Psychologe Oliver Sacks schreibt dazu in seiner Autobiografie »On the move« (2015) über sein Unwohlsein in sozialen Kontexten: »I am shy in ordinary social contexts; I am not able to «chat« with any ease; I have difficulty recognizing people (this is lifelong, though worse now my eyesight is impaired); I have little knowledge of and little interest in current affairs, whether political, social, or sexual. Now, additionally, I am hard of hearing, a polite term for deepening deafness. Given all this, I tend to retreat into a corner, to look invisible, to hope I am passed over.« (Sacks 2015: 237)

Erst in der Erzählung wird es uns möglich, das Ohr auf etwas zu richten, was für die Augen unzugänglich ist. Empfindungen, Erfahrungen und Vorstellungen in Mit-Seins-Verhältnissen werden durch ihre Veräußerlichung wahrnehmbar. Im Begriff der Un_Wahrnehmbarkeiten wird die Komplexität der Weltwahrnehmung zusammengeführt. Er impliziert die damit verbundenen Möglichkeiten des Un-Denkbaren, Un-Sagbaren, Un-Fühlbaren und Un-Hörbaren und hat das Ziel, den »Topos der Sichtbarkeit vom Feld der Allgemeingültigkeit, Selbstverständlichkeit, Gewöhnlichkeit« einer anderen »analytische Ebene« (Schaffer 2008: 11ff ) zuzuordnen. Einer Ebene, »wo er unselbstverständlich, ungewöhnlich und vor allem unbequem werden soll – also des weiteren Bedenkens der Effekte seines rhetorischen Einsatzes verlangt.« (ebd.). Ganz im Sinne eines solchen Unselbstverständ-

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lich-Machens schließe ich diesen Abschnitt mit einer Aussage James Baldwins über das künstlerische Schaffen ab: »Society must accept some things as real; but he [the artist, K.M.] must always know that visible reality hides a deeper one, and that all our action and achievement rest on things unseen. A society must assume that it is stable, but the artist must know, and he must let us know, that there is nothing stable under heaven.« (Baldwin 1999: 17–18)

Wissen-Schaffende können auf eine gewisse Weise mit der Rolle von Künstlerinnen verglichen werden. Bezogen auf den Anspruch der Dekonstruktion können sie sich nicht auf Annahmen sozialer Stabilität und eine Akzeptanz der Dinge als »real« verlassen. Relational Becoming setzt voraus, »that there is nothing stable under heaven« (ebd.), während jedes Mit unweigerlich in einer faktischen, folgenreichen und spürbaren Welt stattfindet, das sich auf die in ihr Anwesenden verschieden schützend oder gewaltvoll auswirkt (vgl. Biehl und Locke 2010). Die Frage, was das für unser alltägliches Handeln bedeutet, führt mich zum letzten Koordinaten, der Sozialen Navigation.

3.4 Soziale Navigationen »Ich bin kein Gefangener der Geschichte. Nicht in ihr darf ich nach dem Sinn meines Schicksals suchen. In jedem Augenblick muss ich mich daran erinnern, dass der wahre Sprung darin besteht, die Erfindung in die Existenz einzuführen. In der Welt, in der ich fortschreite, erschaffe ich mich unaufhörlich. Ich bin solidarisch mit dem Sein, insofern ich es überwinde.« (Fanon 2015: 195) »Relation is movement.« (Glissant 2010: 171)

Nachdem ich mich den Begriffen des Da-Zu-Ge-Hörens, des Körpers und der Bedeutung von Un_Wahrnehmbarkeiten für Zugehörigkeitspraktiken gewidmet habe, gehe ich nun ausführlicher auf den zentralen Ansatz dieser Arbeit ein: das Konzept Sozialer Navigation. Folgende Fragen stehen dabei im Mittelpunkt: Welche forschungsrelevanten Möglichkeiten verspricht der vermeintlich technische Begriff der Navigation für ein Paradigma der Relationalität? Welche Rolle spielt er für die Un_Beweglichkeit sozialer Akteure und die Beschaffenheit von Zugehörigkeitsverhältnissen? Was bedeutet dies für Fanons Forderung, das »Sein zu überwinden«? Ich beginne mit einer Begriffsklärung, bevor ich, überleitend in die folgenden Kapitel, Soziale Navigationen als Praktiken des Mit einführe.

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Warum also Navigation? Im englischen Sprachraum ist der Ausdruck des Navigierens (to navigate) zur Bewältigung des Alltags verbreitet, wohingegen der Begriff im deutschsprachigen Raum vor allem mit der Steuerungskunst auf See oder in der Luft verbunden ist (vgl. Duden Online 2016). Die unmittelbar in den physischen Raum übertragene, terrestrische, astronomische oder technische Navigation wird in dieser Arbeit adaptiert und als Metapher einer performativen Praxis für den soziokulturellen Kontext anwendbar gemacht (vgl. Vigh 2009). Der Ansatz Sozialer Navigation ermöglicht die notwendige Dekonstruktion von Zugehörigkeit als essentialisierendem Konzept, in dem es auf seine praxeologische Relevanz verweist. In seinem Aufsatz »Motion squared. A second look at the concept of social navigation« (Vigh 2009) analysiert der politische Anthropologe Henrik Vigh die Möglichkeiten, welche die populäre Metapher der Navigation als analytisches Werkzeug für anthropologische Studien bietet (ebd.). Hierfür bezieht er explizit die Unabwägbarkeit und Kontingenz des Sozialen mit ein und denkt, in Anlehnung an De Certeau, Navigation als relationale Praxis, Strategie und Taktik, die aus Erfahrungen und Erwartungen in Verbindung zu sich bewegenden, sozialen Umwelten ermöglicht oder verhindert wird. »People act in relation to how they experience and anticipate their social formations to change and unfold. This forces us to tune our social-scientific gaze to practice as motion within motion. Acknowledging that […] the social environment is not stable or static but an unfolding process requires that we analyse practice in a manner that is sensitive to the fact that strategy, tactics and practice (cf. De Certeau, 1988) are constructed and actualized in, and constantly attuned to, a shifting environment and its imagined configurations.« (Vigh 2009: 431)

Die Ethnologin Joanna Pfaff-Czarnecka bezieht sich in ihrer Arbeit über »Zugehörigkeit in der mobilen Welt« (Pfaff-Czarnecka 2012) auf Vighs Ausführungen und spricht darauf aufbauend von der »biografischen Navigation zwischen unterschiedlichen Zugehörigkeitsräumen« (ebd.: 58–59). In ihrer Konzeption werden diese Räume »miteinander kombiniert oder gegeneinander abgewogen« und beeinflussen dadurch die »bewussten und unbewussten Ich-Konstruktionen, Neu-Orientierungen, Aushandlungen und Positionierungen« (ebd.). Auch wenn sie ihre Verwendung des Navigations-Ansatzes nicht weiter vertieft, imaginiert sie die Fähigkeit der Navigation aus einer »Ego-Perspektive«, die auf den »prozesshaften Charakter eines individuellen Lebensverlaufs« verweist (ebd.: 57). Bezogen auf unsere beweglichen Umwelten, deren »imagined configurations« (Vigh 2009: 431) und in Abgrenzung zu einer egozentrischen Perspektive werden Soziale Navigationen in vorliegender Arbeit als Praktiken des Mit entworfen. Mit dem hier vertretenen Begriff der Praktiken stehen Navigationen nicht für das Handeln unabhängiger Akteur_innen in einer von ihnen unabhängigen Struktur, sondern sie umfassen die gemeinsame Entfaltung und Aktualisierung unseres Werdens in Trans-Aktionen. Sie symbolisieren damit das Potential zur Mobilität und Aktivität.

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Wir verstecken, verschweigen, gehen aufeinander zu, halten etwas aus, begegnen oder konfrontieren uns, werden wahrgenommen oder ignoriert, wir hören zu oder weg. Navigation steht für das Werdende, das noch-nicht-Seiende oder bereits-Dagewesene. Das Navigieren ist eine relationale Praktik, da es uns mit unseren Umwelten verbunden hält, uns von ihnen löst oder neue Verbindungen entstehen lässt – es ist eine Praktik des Mit. Ein Mit-dem Vergangenen, Seienden und Werdenden. Die daraus folgende Aufgabe kritischer Forschung ist es, Subjektivität als konstantes Mit-Werden, und nicht als ausgelieferte strukturelle Abhängigkeit (Biehl und Locke 2010: 337), zu begreifen. Die Anthropologen João Biehl und Peter Locke verstehen ein solches becoming als Möglichkeit, »the futures and forms of life of emerging communities« zu denken (ebd.). Einer kritischen Anthropologie unterstellen sie mobilisierende Kräfte, in einer prinzipiell unfertigen Welt ein ›Wir‹ zu generieren, dass sich als engagierte und politische Gemeinschaft auszeichnet, »that has not previously existed« (Biehl und Locke 2017: 337). Wird der Ansatz Sozialer Navigation auf einen alltagsweltlichen Kontext übertragen, so interessiert vor allem auch die Möglichkeit nicht-zielgerichteter und unvorhersehbarer Bewegungen. Vigh betont, dass unser Navigieren keineswegs als Linie zwischen zwei Punkten auf einer Karte stattfindet, sondern dass die Bewegung des sozialen Umfelds all unser Bemühen unweigerlich beeinflusst (Vigh 2009: 432, eig. Übers.). »It destabilizes our coordinates and changes the map as we move along.« (Ebd.). Wir alle navigieren täglich mit den Welten, die uns umgeben und stehen dabei permanent mit vielfältigen Perspektiven in Verbindung (vgl. Hirschauer 2014). Diese Interferenz von Zugehörigkeitsverhältnissen verstehe ich als sich überlagernde Infrastruktur7 des Sozialen, welche die Arten und Weisen der Navigation beeinflusst und prägt. Dem von Fanon beschriebenen Fortschreiten, dem Tanzen einer »eigenen Choreographie« (Clemens 2015: 77), liegt selten ein widerspruchsfreies Zurechtfinden und Aufgehobensein in der Welt zugrunde, wie es eine idealisierte Vorstellung von Zugehörigkeit als egozentrierte, positiv empfundene Verortung voraussetzt (vgl. Pfaff-Czarnecka 2012: 12ff ). Wie bereits verdeutlicht wurde, impliziert die positive Konnotation des Dazugehörens eine normative Annahme fraglosen Aufgehobenseins und muss aus diesem Grund machtkritisch hinterfragt und analysiert werden. Menschen können simultan in und durch diverse, sich überlagernde und teilweise widersprechende Geschichten, ihre Biografie, Erinnerungen, Handlungen und Erlebnisse eingebettet und entbettet sein (vgl. Clemens 2015). Akteurinnen erschaffen sich, mit Welten navigierend, unaufhörlich. Die Navigation führt die »Erfindung in die Existenz ein« (Fanon 2015: 195). 7

Den Begriff der Infrastruktur greife ich von der Sozialanthropologin Joanna Pfaff-Czarnecka auf, die Identität »als wichtige Infrastruktur der Zugehörigkeit« versteht (Pfaff-Czarnecka 2012: 82). Ich erweitere diesen Ansatz und bezeichne Zugehörigkeitsverhältnisse als Infrastruktur_en des Sozialen, in denen wir uns bewegen und durch die wir bewegt werden.

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Pluralisierungen und Singularisierungen formen sich durch Interaktionen und Austausch, sodass eine relationale Perspektive auf Zugehörigkeit_en unausweichlich ist (vgl. May 2013). Durch die Fokusverschiebung, weg vom Dazugehören als Zustand, hin zu Zugehörigkeit als Praktik des Werdens, wird dieser Relationalität – ihren kontextuellen Besonderheiten, machtvollen Bedingungen und Wirkweisen – im Denken und Forschen Platz geschaffen (vgl. May 2011). Soziale Navigation beschreibt dann keine absolute Größe, sondern einen situations- und erfahrungsabhängigen Handlungsradius. Die Praktiken der Navigation sind durchdrungen von hegemonialen Markierungen, Begrenzungen und Raumordnungen, die darüber entscheiden, wer sich wie wohin bewegen darf, aber auch wer sich überhaupt wie wohin bewegen will (vgl. Korstanje und Muñoz de Escalona 2014). Meinem hier entworfenen Ansatz Sozialer Navigation liegt, wie bereits erwähnt, eine Prämisse des Werdens zugrunde (vgl. Deleuze und Guattari 1987). Wir sind auf vielfältige Weise ausgestattet mit verschiedenen Möglichkeiten, biografischen Anbindungen und Grundlagen, Familien, Heimat(en) und anderen Bezugssystemen, die uns anhaften. Zugleich ist jedes Leben ein Werden, ein Erschaffen und eine Bewegung und Zugehörigkeit wird damit zu einem Ausdruck der Sehnsucht und des Verlangens im Mit-Sein. Aus diesem Grund erfasse ich das Werden in Sozialen Navigationen, in Anlehnung an Karen Barad, als Onto-epistemo-logie (vgl. Barad 2003: 829). Nur so kann der »unbestimmte[n] Natur des Seins [...] am Scheitelpunkt von Stabilität und Instabilität, von Bestimmtheit und Unbestimmtheit, von Möglichkeit und Unmöglichkeit« (Barad 2012: 95) entsprochen werden. Daraus schlussfolgert Barad, dass sich die Dynamik des Werdens sowohl »der Akausalität ebenso wie dem Determinismus« (ebd.) widersetzt. Sein ist Werden und jedes Werden ist ein Mit-Werden und Mit-Geworden-Sein (vgl. Braidotti 2006a). Becoming ist nicht beliebig, sondern es beschreibt produktive Effekte vergangener sozialer Kräfte und die mögliche Formierung neuer Ereignisse aus gegenwärtigen und zukünftigen Prozessen. Für Deleuze ist das Selbst eine »constantly changing assemblage of forces, an epiphenomenon arising from chance confluences of languages, organisms, societies, expectations, laws and so on« (Stagoll 2010: 1). Es entsteht aus dem Zusammenfluss von Sprachen, Organismen, Gesellschaften, Erwartungen, Gesetzen und so weiter (ebd.). Eine solche Onto-epistemo-logie widersetzt sich der egozentrierten Fokussierung auf Essenzen und Originalität (vgl. Stagoll 2010). Der Zusammenfluss der Kräfte symbolisiert die Dynamik des Sozialen, deren wesentliche Maßeinheit die Zeit ist. Mit jedem Atemzug wird unser Körper, selbst wenn wir ganz in unbeweglicher Meditation versunken sind (vgl. Hạnh 2008). Im Becoming liegt das Zukünftige, etwas noch nicht Seiendes, ebenso verborgen wie dessen gegenwärtige Aktualisierung und dessen Vergangenheitsbezug. Eine Onto-epistemo-logie des Werdens nimmt biografische, räumliche, emotionale, zeitliche und politische Pluralisierungs- und Singularisierungspraktiken in den Blick (vgl. Butler und Spivak 2007; Foucault 1974). Für Deleuze und Guattari vollzieht

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sich der Zusammenfluss der Kräfte in der Assemblage (vgl. Deleuze und Guattari 1987: 4ff ). Das Zusammendenken des Werdens mit der Assemblage ermöglicht es, Ver- und Ent-Bindungen als Prozesse des »becoming-with« (Haraway 2008) zu berücksichtigen. Im Verbunden-Werden verbirgt sich so die Potentialität der Entstehung des Neuen. »The process of ›becoming-‹ is not one of imitation or analogy, it is generative of a new way of being […] one of removing the element from its original functions and bringing about new ones.« (Heckman 2002: 3). Wenn wir also jegliche Pluralisierungs- und Singularisierungsformen als zeitlich- und soziokulturell-gebundene Zustände verstehen, so eröffnen sich Möglichkeiten, über die sie konstituierenden Momente als Intersektionen zwischen der Physikalität materialisierter Objekte und Körper und dem Bewusstsein (vgl. Haraway 2016) und gleichzeitig auch mögliche alternative Realisierungsformen dieser Intersektionen nachzudenken (vgl. Landa 2007), statt auf nur eine bestimmte wahrnehmbare Form von Zugehörigkeit als vermeintliche Endgültigkeit zu fokussieren. Hegemoniale Zugehörigkeitspraktiken wiederholen ein a priori, das zukünftiges und gegenwärtiges Leben als dynamisches Mit-Sein und Mit-Werden unberücksichtigt lässt, indem es eine Version des Mit-Geworden-Seins in Dominanzverhältnissen fixiert (vgl. Attia et al. 2015). Jedes Werden entsteht aus rückwärtsgewandtem Blicken, Hören und Fühlen, um das Geworden-Sein verstehen und daraus mögliche Mit-Seins-Formen gestalten zu können. Zugehörigkeitsverhältnisse sind aber transformative Relationalitäten zwischen Körper_n und den Un_Wahrnehmbarkeiten von Welten, die diese konstituieren (vgl. Coleman 2012). Das Werden als Doing bewegt sich aus diesem Grund immer zwischen einem zugehörig-Machen und zugehörig-Gemacht-werden (vgl. Hirschauer 2014). Jede unserer Ver- und Entbindungen steht für die ambivalenten Bedingungen und Auslöser Sozialer Navigationen, die ihre Entstehung, Dauerhaftigkeit oder auch Auflösbarkeit ermöglichen. Hier zeigt sich die Notwendigkeit der Anerkennung, Akzeptanz und Wahrnehmbarkeit durch andere als essentielle Grundlage unserer jeweiligen Selbst-Verständnisse (vgl. Schaffer 2008: 111ff ). Der Singular ist nur denkbar, weil es den Plural gibt (vgl. Nancy 2004) und umgekehrt. Becoming kann ich nun in beide Richtungen produktiv denken, es schafft einerseits Möglichkeiten und Bedingungen der Verbindung, löst aber andererseits unter bestimmten Umständen auch ein (notwendiges) Entbinden aus. Das Potential von Nicht-Zugehörigkeits- oder die Verweigerung von Zugehörigkeitserfahrungen wird dann nicht nur in Debatten über deviante Subjekte, Transgender, Frauen, Geflüchtete oder migrantische Kollektive, sondern auch für die Forderung nach der Beteiligung einer zur Norm stilisierten unwahrnehmbar gemachten Mehrheit brisant (Pfaff-Czarnecka 2012; Hirschauer 2014). Daraus folgt die Forderung, fraglose Zugehörigkeitsannahmen als Reproduktion der Norm infrage zu stellen. Wenn ich Soziale Navigationen als Praktiken des Mit konzipiere, schließt das ein Ohne keineswegs aus, sondern explizit ein. Nur wenn das Mit vorausgesetzt wird, wird ein Ohne überhaupt wahrnehmbar. Eine Onto-epistemo-logie Rela-

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tionalen Werdens ist somit immer notwendigerweise immer politisch, da sie sich ihrer jeweiligen Materialisierungen, Hierarchisierungen und Verwaltungen nicht entziehen kann (vgl. Meißner 2013). Subjekte, Kollektive und deren Artikulationen werden in einer zeitlichen Entwicklung hervorgebracht, wie beispielsweise das post-koloniale Subjekt, die Feministin oder das queere Subjekt. Die Limitierungen ihrer Beweglichkeiten verdeutlichen sich beispielsweise in hegemonialen Diskursen und Politiken zur Migration. Diese werfen die Fragen auf, welche tatsächlichen und transnationalen Bewegungen von Personen und Gruppen in zeitgenössischen Gesellschaften des Westens, beispielsweise unter dem Stichwort »Armutsmigration«, als Problem propagiert und welche, unter dem Stichwort der »Zuwanderung von Hochqualifizierten«, als wünschenswert und gewinnbringend artikuliert werden (vgl. Castro Varela und Mecheril 2016). Wie Vigh schreibt, dient die Soziale Navigation als »illuminating practice« (Vigh 2009: 431), durch die die bewegte und ungleiche Beschaffenheit sozialer Verhältnisse sichtbar gemacht und somit Navigation als Praxis im Sinne eines Doing Belonging reflektiert werden kann. Ich möchte in diesem Zusammenhang zum vorläufigen Abschluss dieses Koordinaten noch auf eine theoretische Konzeptualisierung eingehen, die für eine kritische Theorie Sozialer Navigation diskutiert werden soll. Die Sozialwissenschaftlerin Tara J. Yosso konzipiert in ihren Ausführungen unter der Frage »Whose culture has capital?«, in Anlehnung an Bourdieus Theorie Habitus-bildender Kapitalformen8 , unter anderem ein »Navigational capital« als bereichernde Grundausstattung marginalisierter Communities im Sinne eines »community cultural wealth«-Ansatzes (vgl. Yosso 2005). Sie beschreibt es auf folgende Weise: »Navigational capital refers to skills of maneuvering through social institutions. Historically, this infers the ability to maneuver through institutions not created with Communities of Color in mind. […] Navigational capital thus acknowledges individual agency within institutional constraints, but it also connects to social networks that facilitate community navigation through places and spaces […].« (Yosso 2005: 80)

Yosso entwirft in ihrem Ansatz fünf weitere Kapitalformen: »Aspirational capital« – »to maintain hopes and dreams for the future«; »Linguistic Capital« – »intellectual and social skills attained through communication experiences in more than one language«, »the ability to communicate via visual art, music or poetry«; »Familial Capital« – »a sense of community history, memory and cultural intuition«; »Social capital« – »networks of people and community ressources«; und »Resistant capital« – »knowledges and skills fostered through oppositional behavior that 8

Die Kapitalformen umfassen: Soziales Kapital, ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, symbolisches Kapital und sollen hier nur erwähnt werden, da ich mich dem Habitus im fünften Kapitel zuwende.

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challenges inequality« (Yosso 2005: 77ff ). Sie kehrt damit den defizit-orientierten Blick einer hegemonialen Definition geeigneter »Ausstattung« von Individuen für das Bestehen in Gesellschaft um und deutet die Erfahrungen von Kindern und Angehörigen marginalisierter Gemeinschaften bewusst als positive Bereicherung (vgl. Yosso 2005). Ihr geht es damit gezielt um das Empowerment von Gemeinschaften, deren Erfahrungen in einer hegemonialen Perspektive marginalisiert werden, da sie diese Erfahrungen tendenziell differenzorientiert und defizitär betrachtet (ebd.). Ist es möglich, die Soziale Navigation in ein »Navigational capital«, ein Navigations-Kapital, zu übersetzen? In meinem hier etablierten konzeptionellen Verständnis Sozialer Navigationen als Praktiken des Mit erweitere ich Yossos Ansatz des »maneuvering through social institutions« (ebd.: 80) auf ein grundlegenderes Manövrieren in und mit Welten. Yosso spricht in ihrer Definition des »Navigational Capital« über die Abwesenheit und Nicht-Beteiligung von Communities of Color bei der Entstehung von Institutionen und der Entwicklung hegemonialer Organisationspraktiken (ebd.). Dies kann auf die Abwesenheit migrantischer, weiblicher, queerer oder Trans-Personen und anderer, nicht der Mehrheit zugeordneter, Subjekte und Gemeinschaften ausgeweitet werden. Es eröffnet auch die Frage nach den spezifischen Formen ihrer Abwesenheit und ihres Geworden-Seins (vgl. El-Tayeb 2011). Es bezieht eine kritische Reflexion der Bedingungen abwesender Anwesenheiten und anwesender Abwesenheiten ein. Ein Navigational Capital wäre dann der zusammenfassende Oberbegriff für die anderen, von Yosso vorgeschlagenen, Kapitalformen: es vereint Aspirationen, Sprache_n, Zugang zu Communities und Netzwerken, Widerstands-Wissen und -Fähigkeiten, ohne sich auf bestimmte, identitäre Fixierungen zu beschränken, sondern jeweils konkrete Kontexte und Zusammenhänge ihrer Aktualisierung wahrzunehmen (vgl. Fuhse 2010). Auf diese Weise ermöglicht die Reflexion eines möglichen Navigational Capital, Zugehörigkeit gleichzeitig als hegemoniale Praxis der Normbindung und -reproduktion zu dekonstruieren und als soziale Praxis der Intimisierung zu begreifen, die durch hegemoniale politische Entscheidungen, Vorgaben und Institutionalisierungen un_wahrnehmbar gemacht oder gar nicht erst erfahrbar wird. Schließt dann eine Onto-epistemo-logie des becoming ein, dass immer etwas Neues entstehen oder dass etwas zu einer ursprünglichen, wahren Bedeutung, finden muss? Jedes Werden unterliegt den spezifischen Ansprüchen und materiell-diskursiven Bedingungen, die seine jeweilige raumzeitliche Aktualisierung möglich machen. Wird die prinzipielle Leere der Zeit als Möglichkeit einbezogen, wird der Ausgang von Zugehörigkeitspraktiken notwendigerweise ungewiss (vgl. Braidotti 2006a). Die Navigation bekommt als Sinnbild des Werdens und zentrales Konzept dieser Arbeit bezogen auf die Realität globaler Fluchtbewegungen eine besondere Bedeutung. Als Begriff, der aus der Schifffahrt übernommen wird, weckt sie Assoziationen mit Nachrichten aus dem Mittelmeer – mit Booten, die kentern, weil Menschen sich bewegen wollen oder bewegen müssen. 5096 Geflüchtete sind im Jahr 2016 vor den Grenzen Europas ertrunken (vgl. UNCHR 2018). Dies

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sind die registrierten, offiziellen Fälle. Die EU verschärft ihre Grenzpolitiken, Identitäten werden unaufhörlich kulturalisiert und politisiert, sie werden zu Instrumenten, die Bewegung im wörtlichen Sinn, navigieren. Das Ziel der europäischen Abwehrbemühungen besteht insbesondere in der Zerstörung von Booten und der Überführung von Schlepperorganisationen. Dies hat jedoch nicht automatisch die grundlegende Anerkennung der eigenen Verantwortung an postkolonialen Ungleichheitsverhältnissen zur Folge und führt auch nicht unweigerlich zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Frage, wer überhaupt Teil welchen Wirs werden kann und unter welchen Bedingungen Menschen als (nicht-)zugehörig klassifiziert werden. In diesem Zusammenhang denke ich an Michel Foucaults Verständnis der Heterotopie. Für ihn sind Heterotopien »wirksame [...] Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.« (Foucault 1992: 39). In ihrer Form der Gegenplatzierungen symbolisieren sie auch einen Möglichkeitsraum zur kritischen Reflexion geltender Normen. Das Schiff ist nach Foucault »die Heterotopie par excellence« (Foucault 2013: 22). Für die Kolonisatoren hat es Verheißungen, Abenteuer und eine folgenreiche brutale Expansion ihrer Macht bedeutet. Für diejenigen, die sich auf Schiffen und Booten in eine ungewisse Zukunft bewegen, ist es ein lebensgefährdendes Symbol eben jener Foucault´schen Heterotopie. Als Ort des Widerstandes kann es aber auch ein Ausgangspunkt dafür sein, etablierte und essentialisierende Formen von Kollektivität und Gemeinschaft anders zu imaginieren. Es wird damit zu einem wirkmächtigen Ort des Mit, der für das Potential und die Herausforderungen unseres relationalen Werdens steht.

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4. Zwischen Plural und Singular

Ich versuche mir vorzustellen, wie wir uns anblicken und hören, ohne nur eine Repräsentation dessen zu vernehmen, das wir vermeintlich ausdrücken oder repräsentieren. Wenn ich nichts von dir und du nichts von mir weißt, auf welche Muster und Zusammenhänge greifen wir dann zurück, um uns zu be-greifen? Nie kann das Be-Greifen ein Erfassen der Ganzheit sein, vielmehr ist es die mühsame Anstrengung, von- und übereinander Sinn herzustellen, um aus den vielen Teilen ein Ganzes, und aus dem Ganzen Teile zu extrahieren. Substanzen entstehen in Beziehungen. Ich und Wir werden so zu Polen der Zentrierung: Wer dreht sich um wen? Drehe ich mich um dich, um mich, um uns? Wer dreht sich mit wem? Die Zentrierung ist Geschichte und Materialisierung zugleich. Wir binden uns nicht an unsere Umwelt, weil sie diese und jene Kultur hat oder Gemeinschaft ist, sondern weil wir durch Prozesse mit ihr ver- oder von ihr entbunden werden. Wir brauchen und nutzen Plurale, um Sinn und Halt in der Welt zu finden. Weil sie uns als sinnstiftend und notwendig vermittelt werden, weil unsere Welt nach ihnen aufgeteilt ist. Diese Teilung ist vor allem wirksam, weil sie machtvoll ist. Wenn wir eine Grenze passieren, zeigen wir einen Pass. Wir werden dort aufgehalten, begrüßt oder zurückgeschickt. Wir ist kein Wir. Ich wurde noch nie zurückgeschickt. Mit wem sind wir ein Wir? Ist diese Frage wichtig? Sollte es uns nicht vielmehr interessieren, warum wir (nicht) gesehen und gehört werden, uns (kein) Interesse entgegen gebracht wird und unsere Meinung (nicht) bedeutungsvoll ist? Meine Reise führt mich zu zentralen, konzeptionellen Stationen von Zugehörigkeitsverhandlungen. Ausgehend von Nancys Gedanken unseres »singulär plural sein[s]« (vgl. Nancy 2004) beziehe ich mich im folgenden Kapitel auf verschiedene Pluralformen, durch die unsere Existenzen immer bereits kollektiviert sind und werden, sowie auf Theorien der Singularisierung, die Vorstellungen des Individuums als vereinzelter Akteurin prägen (vgl. Elias 1999). Hegemoniale Kollektivierungspraktiken dienen der grundlegenden Stabilisierung sozialer Ordnungen. Sie werden entlang heterogener Kategorisierungen vollzogen – Alter, Geschlecht, sozialer Status, Religion, Familie und Herkunft sind mögliche »Varianten der Humandifferenzierung« (Hirschauer 2014: 171). Ich beschränke mich auf einige ausgewählte Pluralformen. Einleitend befasse ich mich mit dem ambivalenten Verhältnis von Gemeinschaft und Gesellschaft (vgl. Tönnies 2010). Im Anschluss daran

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wende ich mich, in Anlehnung an Étienne Balibars und Immanuel Wallersteins Klassiker »Race, Nation, Class. Ambiguous Identities« (Balibar und Wallerstein 1991), Nation, Kultur und Habitus unter Berücksichtigung ihrer materiell-diskursiven Mechanismen als kollektive Verortungsangebote und -zwänge zu. Darauf folgt eine Beschäftigung mit Subjekt und Identitätstheorien in ihrer Relevanz für eine mögliche Identifikation von Singularen. Um die Performativität und Prozesshaftigkeit unseres Singular- und Plural-Werdens einzubeziehen (vgl. Butler 2015), spreche ich, statt von Plural und Singular, von Pluralisierungen und Singularisierungen. Folgende Fragen inspirieren die nächsten Seiten: Welche reduktionistischen und bio-logischen Tendenzen ergeben sich aus einem Verständnis von Zugehörigkeit, welches das Eingebundensein des Individuums in bestimmte Wir-Formen als natürliche Bedingung erklärt oder voraussetzt? Was heißt es, unter den vielfältigen Bedingungen von Kollektivität, ein Subjekt zu sein und eine Identität zu haben? Eine Annäherung an diese Fragen folgt der Tradition dekonstruktivistischer Theorien über Gemeinschaften und Kollektivitäten, wie sie unter anderem Nancy vertritt (vgl. Nancy 1988) sowie der Philosophie des Ubuntu (vgl. Praeg 2014: 33ff ). Im Sinne dieser Philosophien ist eine Trennung zwischen Liberalismus, das Individuum bevorzugend, und Kommunitarismus, die Gemeinschaft in den Fokus stellend, unzureichend (vgl. Rosa et al. 2010). Da kollektivierende Prozesse jedem Individualismus immer bereits vorausgehen, müssen beide Perspektiven verschränkt gedacht werden. Ihre analytische Trennung lässt sich auf die Binarität des »Entweder-oder« westlichen Denkens zurückführen (vgl. Praeg 2014). So ist beispielsweise auch Bruno Latours Arbeit mit dem programmatischen Titel »Wir sind nie modern gewesen« (2008) von dem Versuch gekennzeichnet, eine Theoriebildung zwischen vermeintlich binären Entitäten, zwischen Subjekten und Objekten, Makro- und Mikrostrukturen aufzulösen (vgl. Latour 2008). »A sentence such as ›their disadvantaged position led to heightened competitiveness‹ should thus be translated as ›they responded to their disadvantageous situation by acting more competitively‹. Social actors themselves […] do all of the acting in social life, not some imaginary entities within or without them, as in the substantialist worldviews of self- or interaction.« (Emirbayer 1997: 307)

Rassismus, Nationalismus oder Klassismus lassen sich auf diese Weise als historisch bedingte Ungleichheits- und Marginalisierungserfahrungen verwobener, materiell-diskursiver Praktiken analysieren, statt sie auf identitäre oder singularisierende Erfahrungen zu reduzieren (vgl. Balibar und Wallerstein 1991). Sie operieren durch Praktiken der Homogenisierung und Fixierung von Singularen und Pluralen. Singularisierte und pluralisierte Beziehungsformen werden unterschiedlich charakterisiert: doch auch wenn es »keine Position, keine Kombination von Verknüpfungen und somit keinen Akteur ein zweites Mal« (Clemens 2015: 76) gibt und soziale Entitäten als statistisch relevante Größen geltend gemacht werden,

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ähneln und überschneiden sich unsere Erfahrungen und Lebensbedingungen. Unsere Leben sind keine Einzelfälle, obwohl sie individuell so erscheinen mögen. Individuum und Gemeinschaft bedingen sich gegenseitig, weder das eine noch das andere sind ohne einander denkbar. In der hier zu entwickelnden Theorie eines performativen Relational Becoming dienen die folgenden Formen der Pluralisierung und Singularisierung als Ausgangspunkte, um im daran anschließenden Kapitel Soziale Navigationen als Praktiken des Mit zu reflektieren, die weder eine liberale noch ein kommunitaristische Betrachtung bevorzugen (Kraus 2009; Hall 1996). Wir können als »relational beings« (Gergen 2009) nur durch Prozesse der Trans-Aktion beschrieben und verstanden werden. Wir sind, da wir im Austausch mit uns und anderen stehen. Zugehörigkeit wird praktiziert, erfahren und verweigert, da wir diesen Austausch navigieren. Es ist ein Kernanliegen der folgenden Navigation in Zugehörigkeitstheorien, eine Basis für den Versuch zu schaffen, die Dichotomie zwischen Ich und Wir und die quasi-natürliche Zuordnung zu Kollektiven zu entnaturalisieren, sie mindestens jedoch zu irritieren, um so den Weg zu einer anderen Grammatik von Zugehörigkeit_en zu beschreiten.

4.1 Pluralisierungsformen »So sind wir, die wir wir sagen, als wüssten wir, was wir da sagen und von wem wir sprechen.« (Nancy 2004: 10)

Wir betreten die physische Welt und sind qua Geburt pluralisiert. Wir werden in Familien geboren, die, ob sie uns zugänglich sind oder nicht, spezifische Geschichten teilen; wir werden als physische Körper in eine soziale Lage geboren und können uns weder dafür entscheiden, noch dagegen wehren. Bereits in diesem ersten Moment unserer Ankunft in der Welt wird das Ausmaß unseres Ausgeliefertseins deutlich: wir unterliegen der Einflussnahme durch die Welten, die uns umgeben und uns hervorgebracht haben (vgl. Butler 2012a). Wir sind zugleich neuer Singular und Plural in einer Welt alter Singularisierungen und Pluralisierungen. In Deutschland bekommt ein Neugeborenes zwischen der ersten und sechsten Woche nach der Geburt eine Steueridentifikationsnummer zugewiesen, insofern die Eltern mit ihrem Wohnsitz in Deutschland gemeldet sind. Der physischen Macht sozialer Einflussnahme und Kollektivierung scheint kein Entkommen, ohne unsere aktive Mitgestaltung werden wir in einen sozialen Kontext geworfen, der uns umarmt, loswerden will oder sich keiner der beiden Handlungen je wirklich sicher ist. Jedes Ich kann nicht ohne ein Du, ein Gegenüber, existieren. In der buddhistischen Lehre ist die Idee der Verbundenheit allen Lebens eine grundlegende philosophische Haltung: »We inter-are« (Hạnh 2008: 20) bedeutet hier, dass kein Leben ohne ein anderes möglich wäre, wir also grundlegend aufeinander

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angewiesen sind und uns gegenseitig in unserem Sein und Werden beeinflussen. Einerseits ist es ein Fakt, wenn wir die Tiefen der Quantenphysik und Philosophie in dieser Frage außen vor lassen, dass wir als vereinzelt wahrnehmbare Körper existieren, aber andererseits gleichzeitig immer Teil verschiedener Kollektivitäten und Vielheiten sind, die unsere Körper hervorbringen und gleichermaßen in sie eingeschrieben sind (vgl. Falb 2015). Eine Analyse von Zugehörigkeitspraktiken »jenseits des individuellen autonomen Subjektes« (Meißner 2015) verdeutlicht aus diesem Grund die Notwendigkeit, nach den Formen der Relationen und Beziehungen zu fragen, die implizite Subjekte bedingen (vgl. Rothberg 2015). Die sozialwissenschaftliche Begründung einer solchen »sozialen Ontologie radikaler Relationalität« (Butler zit. in Meißner 2015: 4), oder einer radikalen Onto-epistemo-logie sozialer Relationalität, geht nicht von Individuen als Träger_innen bestimmter Dispositionen aus, die ihre Positioniertheit im sozialen Gefüge bestimmen (ebd.). Vielmehr fokussiert dieser Ansatz auf die »sozial-materialen Bedingungen« (Meißner 2015: 4) und Beziehungen, die Individuen beispielsweise als mangelhaft, schutzbedürftig oder gefährdet in Beziehung zu anderen charakterisieren und auf diese Weise überhaupt erst hervorbringen. Uns haften nicht an sich bestimmte Eigenschaften an, die uns benachteiligen oder befähigen, sondern diese werden in jeweiligen sozialen Kontexten relevant oder irrelevant und auf diese Weise zur Norm(alität) oder zum sozialen Ziel erklärt (ebd.). »Am deutlichsten aber wird die Wirkung der Repräsentationen bei der Entstehung von Gruppen, insbesondere die Wirkung der Wörter, der Losungsworte und Theorien, die zur Schaffung einer Gesellschaftsordnung beitragen, indem sie für die Durchsetzung der Prinzipien der sozialen Gliederung und im weiteren Sinn der symbolischen Macht des ganzen Polit-Theaters sorgen, dass die Vorstellungen von der Welt und die politischen Gliederungen real und offiziell werden lässt.« (Bourdieu 2012: 133)

Jegliche Wir-Formen bilden eine soziale Ordnung und formen Hierarchien entlang eines generalisierten Universals (vgl. Glissant 2010). Analytische Herausforderungen ergeben sich hier unter anderem aus der Schwierigkeit, Grenzen ihrer Kategorien festzulegen und deren Wirk- und Geltungsbereiche abzustecken (vgl. Häußling 2009a). Der Soziologe Andrew Abbott bezeichnet das Verhältnis zwischen sozialen Kategorisierungen und deren Grenzen auf folgende Weise: »social entities come into existence when social actors tie social boundaries together in certain ways. Boundaries come first, then entities.« (Abbott 1995: 860). Bevor jedoch Grenzziehungen und Abgrenzungen stattfinden können, müssen angenommene oder tatsächliche Verbundenheiten vorhanden sein – wenn es kein Gefühl der Verbindung gibt, ist die Abgrenzung obsolet. »Only when we become homeless, do we start theorising about what it means to belong. Or only when we stop taking belonging for granted, does belonging become a problem for thought.« (Praeg 2014: 34). Statt Pluralisierungen als einheitliche Formen des Sozialen zu verstehen, können

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sie in ihrer Komplexität nur über ihre jeweiligen Bedeutungszusammenhänge verstanden werden. Im Kontext von »Globalisierung, Migration und kritischer [K.M.] Zeitgeschichte« (Messerschmidt 2009) besteht die Herausforderung an Gesellschaften, den Umgang mit Komplexität einerseits als notwenige Aufgabe der politischen Agenda zu berücksichtigen, um insbesondere im Umgang mit Rassismus und anderen Diskriminierungsformen ausgrenzende Praktiken und Wir-Formen charakterisieren zu können, und andererseits nicht gleichsam identitäre Kategorisierungen zu reproduzieren, durch die Kollektivierungen als gegeben und unveränderbar verstanden werden (vgl. Lorey 2008). Die Erziehungswissenschaftlerin Astrid Messerschmidt kritisiert aus diesem Grund die verschiedenen »selbstbezüglichen« Wir-Formen, die – besonders im Kontext von Migration – in Abgrenzung zum als fehlerhaft, bedrohlich und schwach markierten »Anderen« unterschieden werden: »das demokratische ›Wir‹, […] das emanzipierte ›Wir‹, […] das aufgeklärte ›Wir‹« (Messerschmidt 2009: 208). Diese Wir-Markierungen dienen der Grenzziehung und begründen die Existenz einer Dominanzkultur, die sich durch »Kategorien der Über- und Unterordnung [...] als ein Geflecht verschiedener Machtdimensionen« (Rommelspacher 1995: 22) ausdrückt. Der Dekonstruktion eines essentialisierenden Zugehörigkeitsverständnis muss aus diesem Grund eine kritische Haltung vorausgehen, die sich der Verführung und Verdinglichung eines bio-logischen und naturalisierenden Gruppismus widersetzt, und Kollektivierungen auf ihre hegemonialen Ein- und Ausschlussprinzipien befragt (vgl. Brubaker 2007). Denn Plurale sind nicht einfach, sie werden, materiell-diskursiv, hergestellt.

4.1.1 Gemeinschaft und Gesellschaft In seiner Betrachtung des Mit-Seins charakterisiert Nancy die Schwierigkeit, das »Zusammen« des Singulären treffend zu beschreiben (vgl. Nancy 2004: 10ff ). Gesellschaft und Gemeinschaft sind für ihn »nur Ausdrücke für das Problem«, das jeglicher Plural weder als »eine Summe noch ein Umfassendes« (Nancy 2004: 62) angemessen erfasst werden kann. Ich wende mich der Problematik dieser beiden »Ausdrücke« zu, indem ich zuerst auf die Gemeinschaft und anschließend auf die Gesellschaft eingehe. Die Publikation »Gemeinschaft und Gesellschaft« von Ferdinand Tönnies aus dem Jahr 1881 (Tönnies 2010) wird als Grundlage für die Entwicklung der Soziologie verstanden. Sie stellt eine frühe Auseinandersetzung mit Kollektivitäten und der Schwierigkeit dar, diese sowohl theoretisch, als auch rechtlich und sozio-kulturell zu fassen (Abels 2009; Treibel 2006). Gemeinschaft ist ein komplizierter und allgegenwärtiger Begriff. Er verweist auf einen uneindeutigen Gegenstand, dessen Komplexität bereits mit seiner Herleitung beginnt. Abgeleitet vom mittelhochdeutschen Wort »gemein«, ist es mit dem lateinischen »communis/commune« und dem englischen »mean« verwandt, und bezeichnet damit ursprünglich eine Eigenschaft, die mehreren Menschen gemein-

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sam ist. Gemeinschaft bezeichnet somit die Verbundenheit zwischen Menschen, das Zusammensein von »sich-ähnlich-Seienden« (Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache 2017b). Gleichzeitig dient das Adjektiv »gemein« als Abwertung und Fingerzeig auf bösartiges oder hinterhältiges Verhalten. Die begriffliche Grundlage für diese Verwendung entspringt »der Vorstellung, dass das, was vielen gemeinsam ist, nicht wertvoll sein kann« (Duden Online 2016). Ist das gemeine Volk eine boshafte Allgemeinheit? Und der gemeine Mann das stellvertretende Symbol dieser Allgemeinheit? Wer definiert die Allgemeinheit und an welchen Charakteristika wird dies festgemacht? Am Musikgeschmack? Am Kleidungsstil? Am Wohnort? Dem Geburtsort? Dem Vater? Der Mutter? Der Großtante? Gemein sein und verbunden sein sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Welche Schlussfolgerungen lassen sich hieraus provokant ableiten? Ist, wer in Gemeinschaft ist, gemein zu denen, die es nicht sind? Ist mensch in Gemeinschaft einer Allgemeinheit unterworfen, die Individualität und Subjektivität zwangsläufig vereinnahmt? Ist damit bereits die problematische Beziehung zwischen Individuen und Gemeinschaft_en im Wortsinn impliziert? So uneindeutig mögliche Antworten auf diese Fragen aussehen können, bleibt festzuhalten, dass wir immer in unterschiedlichen Bereichen Teil diverser Vergemeinschaftungen sind. Ob Liebesgemeinschaft, Fahrgemeinschaft, Wohngemeinschaft, Interessensgemeinschaft oder Lebensgemeinschaft, der Begriff des »Gemeinschaftlichen« ist im Alltag omnipräsent (Rosa et al. 2010: 18ff ). Wenngleich ich mir von der Fahrgemeinschaft, einem lokal und temporal bestimmbaren Plural, konkretere Vorstellungen machen kann, als von der deutlich abstrakteren Vision einer Solidargemeinschaft, so lassen alle diese Zusammenschlüsse Platz für Interpretationen und ideologische Aneignungen. Die Gemeinschaft zeichnet sich durch Überschaubarkeit aus – dabei ist es zunächst unerheblich, ob dies bedeutet, dass sich alle Teile des Ganzen tatsächlich anschauen oder lediglich potentiell auf Möglichkeiten des Überblickens zurückgreifen können. Gemeinschaft impliziert immer auch die Idee einer Unvollständigkeit, eines Zwischen-Raumes, der gestaltund damit auch veränderbar ist (vgl. Esposito 2004). Braucht es die physische Anwesenheit anderer, damit Gemeinschaft realisiert werden kann? Oder bin ich nicht immer in Gemeinschaft, ob allein oder mit anderen, da ich all meine Ideen, Aspirationen, Ängste, Erinnerungen, Freundschaften, Sorgen stets in mir trage und somit selbst in physischer Abwesenheit anderer in Gemeinschaft mit ihnen zur-Welt bin? In der Theorie finden sich eine Vielzahl von Abhandlungen, die sich der Unmöglichkeit widmen, Gemeinschaftsformen bestimmbar zu machen, und diese Herausforderung bereits in ihrem Titel tragen: von Maurice Blanchots 1983 erschienenem Band der »uneingestehbaren Gemeinschaft« (Blanchot 2007), über Giorgio Agambens »kommender« (Agamben und Hiepko 2003), Jean-Luc Nancys »undarstellbarer« (Nancy 1988), »herausgeforderter« (Nancy 2007b), und, aktuell, »verleugneter Gemeinschaft« (Nancy 2017), Benedict Andersons »vorgestellter« (Anderson 2006) und Marc Augés »illusorischer Gemeinschaft« (Augé 2015), hin zu »posttraditionalen Gemeinschaften« (Hitzler et al. 2009). Alle Ausführungen eint, Gemeinschaft durch den Zugriff auf ihre Vagheit und die sie charakterisierenden Unklarheiten erfassen,

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oder eben dekonstruieren zu wollen. Die kontinuierliche Infragestellung und Suche nach treffenden Theorien reproduziert Gemeinschaft »als ein nicht abschließbares, stets offenes Geschehen« (Bippus 2010: 9) der Sozialität des Menschen. Es mag durch die Auflistung der Arbeiten zur Unmöglichkeit der Erfassung von Gemeinschaften der Anschein aufkommen, dass besonders eine bestimmte Personengruppe unter diesem Forschungsinteresse zusammenkommt. Ich habe mich bemüht, zumindest in der deutsch- und englischsprachigen Wissenschaftsliteratur ähnliche Publikationstitel zu finden, die jedoch nicht von weißen Wissenschaftlern einer bestimmten Altersgruppe verfasst wurden. Dekonstruktivistische Abhandlungen über Gemeinschaft scheinen ein besonderes Interesse von Theoretikern zu sein, die in hegemonialen Kollektivanordnungen privilegiert positioniert und somit Teil einer dominierenden Gruppe im Wissenschaftsdiskurs sind. Im Gegensatz dazu betonen queer-feministische und rassismuskritische Theoretikerinnen vor allem auch die Bedeutsamkeit, die Gemeinschaftlichkeit für ein Verständnis der Entstehung und zur Bewältigung (kollektivierter) Marginalisierungserfahrungen in Dominanzverhältnissen hat (vgl. Ahmed 2000; Guthoff 2014; Eggers 2007; Yosso 2005). Ist es vor allem dann möglich – und nötig? – Gemeinschaft zu kritisieren, wenn ich nicht unmittelbar auf ihren Schutz und ihre solidarische Unterstützung angewiesen bin? Auf der Grundlage dieser schwierigen Ortsbestimmung lassen sich Gemeinschaftstheorien auf zweifache Weise reflektieren: eine ontologische, die sich auf die grundlegende menschliche Ko-Existenz und Sozialität bezieht, und eine politisch-ethische, welche die «Analyse, Konstruktion und Beurteilung konkreter Ausprägungen von Gemeinschaft« (Rosa et al. 2010: 20) beinhaltet. Ich beziehe mich auf beide Aspekte. Insbesondere wenn mit der Gemeinschaft eine grundlegende Form menschlichen Zusammenlebens erfasst wird, Mensch-Sein immer Mit-Sein bedeutet, so existiert dieses Mit-Sein nicht außerhalb, sondern vor allem durch dessen sozio-politische Bedeutsamkeit und Instrumentalisierung für Dominanzkulturen (vgl. Attia et al. 2015). Ein Mit-Sein ohne diverse Interessen, Themen oder soziale Beziehungsformen scheint undenkbar, wodurch die These »everything is political« (Praeg 2014: 9) zum zentralen Kern der Auseinandersetzung mit politisch-ethischen Fragen zur Beschaffenheit und Gestaltung des Mit im »erratischen System der Chaos-Welt« (Glissant 2005: 64) wird. Ein naturgegebener Zustand der Gemeinschaft, ein So-Sein der Welt, ist dabei ebenso ideologische Phantasie, wie die Vorstellung, dass alle Gemeinschaftsformen für alle jederzeit frei wählbar wären oder gleichgestellte politische Bedeutsamkeit haben. Gemeinschaftlichkeit entsteht, wächst, wird gestaltet und richtet sich ebenso regulierend und machtvoll an alle (Nicht-)Teilhabenden (Bippus 2010; Rosa et al. 2010). Hier wird die Gemeinheit (in) der Gemeinschaft auch als Modus ihrer Verklärung brisant, durch den normative und hegemoniale Vorstellungen der Sinnstiftung oder des Zusammenhaltes projiziert werden, die Ausschluss, Zwang zur Beteiligung oder Nichtbeachtung zur Folge haben können. Fehlende oder eingeschränkte Zugehörigkeitserfahrungen manifestieren sich dann in prekä-

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ren, vergemeinschaftenden Verhältnissen (Mecheril 2003: 295ff ). Vor dem Hintergrund prekarisierter und privilegierter Zugehörigkeitserfahrungen stellt sich die Suche nach gemeinsamen Elementen des Mit-Seins in Gemeinschaften als kontinuierliche Schwierigkeit und Herausforderung heraus (vgl. Wimmer 2002: 110ff ). Auch wenn der Fokus auf Gemeinsamkeit_en für ein Verständnis von Zugehörigkeitsprozessen immanent ist, darf er jedoch nicht zur unausweichlichen Voraussetzung erklärt werden (vgl. Pfaff-Czarnecka 2012). Insbesondere in Bezug zu faschistischen und anderen gewaltvollen Gemeinschaftsformen wird der Gemeinschaftsbegriff unter Bezug auf eine Ideologie des Gemeinsamen problematisiert (vgl. Rosa et al. 2010: 156ff ). Unter anderem die, im Namen einer identitär begründeten Volksgemeinschaft, begangenen Gewalttaten des Holocaust entziehen dem Begriff jede analytische Neutralität. Der Wunsch, Gemeinschaft zu dekonstruieren, sie ihrer quasi natürlichen Huldigung zu überführen, muss gewaltvolle Vergemeinschaftungspraktiken zum Ausgangspunkt der Analyse erklären (vgl. Balibar und Wallerstein 1991). Während gleichzeitig gilt, Vergemeinschaftungspraktiken in postkolonialen Verhältnissen auch als notwendige Prozesse der Stärkung und des Schutzes vor Marginalisierung ernst zu nehmen. Damit ist auf die »innere Ambivalenz des Gemeinschaftskonzeptes« (Rosa et al. 2010: 156) verwiesen. Ausgehend von dieser Ambivalenz wird der Gesellschaftsbegriff relevant. Gesellschaft kann als »kalter«, politischer Rationalisierungsversuch und Gegenentwurf verstanden werden, der Gemeinschaft als »warmer« Akteurin gegenübersteht (Rosa et al. 2010: 9ff ). Nicht die soziale und intime Verbundenheit oder das unbedingte Teilen gleicher Interessen werden als Prämissen ihrer Existenz vorausgesetzt, sondern die Gültigkeit rechtlicher Rahmenbedingungen, ihre bürokratische Organisation und Strukturierung lässt Gesellschaft als soziale und juristische Formation der Distanzschaffung und des Zusammenhaltes in Erscheinung treten (vgl. Treibel 2006). In der Distanz zum Individuum soll Gleichwertigkeit erzeugt werden, gleichzeitig macht die kapitalistische Gesellschaft Singulare regierbar, in dem diese Regeln, Normen und Pflichten unterworfen sind. Die Gesellschaft ermöglicht es, ein mit Rechten ausgestattetes Mitglied zu werden und sich als Teil eines Plurals zu begreifen, oder sie verweigert eben jene Rechte der Mitgliedschaft und Beteiligung. Menschen können aus diesem Grund nicht einfach als Mitglieder bezeichnet werden, ohne die »zeitlich fluktuierende[n] Affekte, Prozesse der Kategorisierung, politische[n] Rhetoriken, Organisationsleistungen und massenmediale[n] Rahmungen« (Brubaker 2007 zit. in Hirschauer 2014: 172) der Gesellschaftsorganisation zu erfassen. Auch wenn die materiell-diskursive Macht von Wir-Konstruktionen unbestreitbar relevant ist, so sind die Konturen und die Definitionsbereiche dessen, was – und wer – im gesellschaftlichen Wir gefasst werden kann, unter den Bedingungen eines komplexen Welt-Ganzen, notwendigerweise uneindeutig und unabgeschlossen (vgl. Ortner und Thuswald 2014). Diesen Gedanken widme ich mich ausführlicher im fünften Kapitel.

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Der Humangeograph Marco Antonsisch formuliert bezugnehmend auf diese Unabgeschlossenheit die Frage, ob mit der wachsenden Diversifizierung zeitgenössischer Gesellschaften nicht eher »Gemeinschaften der Zugehörigkeit« statt »Gemeinschaften der Identität« entstehen sollten (Antonsich 2010: 644, eig. Übers.). Der Komplexität ermöglichter und verweigerter Zugehörigkeitserfahrungen wird nicht in vollem Umfang gerecht, wer sie lediglich als positive Effekte für »communities of belonging« (ebd.) betrachtet. Auch wenn eine Definition und realpolitische Wirksamkeit solcher Zugehörigkeitsgemeinschaften und ihrer Entstehungsbedingungen aussteht, so lässt sich jedoch feststellen, dass keine Gemeinschaftsform ohne die individuelle Selbstbehauptung und Bezugnahme auf identitäre Kategorien auskommen kann (vgl. Hall 1996). Umgekehrt gilt aber auch, dass die Konstitution jedes Singulars, dessen, was mich als Person ausmacht, nur in Beziehung zu unabgeschlossenen, imaginierten, undarstellbaren und verleugneten Gemeinschaftsformen steht (vgl. Kraus 2009: 254). In den folgenden Absätzen widme ich mich drei zentralen Kollektivierungsformen Nation, Kultur und Habitus genauer, die weder ausschließlich in Formen der Gemeinschaft noch der Gesellschaft aufgehen. Gemeinschaft und Gesellschaft lassen sich als Formationen des Pluralen nicht strikt unterscheiden und trennen. Daraus folgend gilt, Pluralisierungen als »Mischformen der Idealtypen« zu reflektieren, »in denen sich gemeinschaftliche und gesellschaftliche Motive verschränken« (Rosa et al. 2010: 43). In dieser Feststellung verbirgt sich ein Bezug zur Grundaussage vorliegender Arbeit, jegliche Pluralformen als notwendigerweise unvollständige und beschränkende Fixierungen zu begreifen, die Zugehörigkeitserfahrungen und -praktiken zwar maßgeblich bestimmen, sie aber in ihrer dynamischen Komplexität nicht erfassen können.

4.1.2 Nation als machtvolle Imagination Wird die Frage Wer sind Wir? in einem öffentlichen Zusammenhang gestellt, so ist der Verweis auf die Nation als Kollektiv der Zugehörigkeit oder Abgrenzung naheliegend (vgl. Schumacher 2013). Nation ist eine machtvolle Akteurin politisierter Kollektivierung, über die Aus- und Einschlüsse verwaltet werden (vgl. Balibar und Wallerstein 1991). Worauf verweist ein Bezug auf die Nation als Akteurin der Pluralisierung? Auf einen politischen Wirkraum? Eine Form der Geschichtlichkeit? Auf Staatliche Praktiken der (Nicht-)Zugehörigkeit? Die Nation dient als Referenzrahmen für das Erschaffen kollektiver Identitäten, die als Werte- und Traditionsgemeinschaften Ausdruck finden und deren Existenz durch den Verweis auf die nationale Zu- und Zusammengehörigkeit ihrer Mitglieder perpetuiert wird (vgl.Schumacher 2013). Balibar betont daraus folgend den Zusammenhang zwischen Nationalismus und Rassismus. »[N]ationalism would be, if not the sole cause of racism, then at least the determining condition of its production« (Balibar 1991b: 37). Bereits in seiner Entstehungsgeschichte wird die imperiale Bedeutung des Nationen-Konzeptes deutlich. Als

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Instrument der Kolonialisierung durch die europäischen Kolonialmächte wurde die Nationalisierung unter anderem gewaltvoll auf den afrikanischen Kontinent übertragen, in dem bei der Berliner Konferenz vom 15.11.1884 bis zum 26.2.1885 im Reichskanzlerpalais in Berlin auf dem Reißbrett Grenzen gezogen und auf diese Weise Menschen zwanghaft zu nationalen Gebilden gruppiert wurden (vgl. Kopp 2011). Unter Berücksichtigung dieser gewaltvollen Geschichte der Kollektivierung durch Nationalisierung kann sich »der antikolonialistische Kampf [...] nicht auf Anhieb unter einer nationalen Perspektive« abspielen (Fanon 1981: 127), da diese mit »Leichtigkeit [...] von der Nation wieder zur ethnischen Gemeinschaft, vom Staat wieder zum Stamm übergeht« (ebd.). Die Macht von Nationen begründet sich in ihrer Bedeutung als Narrativ, ökonomischem Wirkraum und hegemonialer Instanz für kollektivierende Identitätssuche und -behauptung (vgl. Balibar 1991). Als Raum der Grenzziehungen und politischen Steuerung beeinflusst sie, wer sich begegnen und Lebensraum oder Waren teilen kann. Von der weltpolitischen Agenda ist sie in ihrer Brisanz seit der gewaltvollen Nationenbildung im Zuge kolonialer Praktiken nie verschwunden, auch wenn aktuell wieder stärker an die Oberfläche tretende nationalistische Bewegungen es anders erscheinen lassen (vgl. Ortega und Alcoff 2009). Nationen sind einerseits Gebilde von Menschen, denen u.a. eine gemeinsame Herkunft zugesprochen wird, und die, in Form des Nationalstaates, strukturgebende Ordnungssysteme des Sozialen darstellen. Sie sind, nach Laclau, für sich genommen »leere Signifikanten«, die durch spezifische Verweise auf »Traditionen, geschichtliche Ereignisse und Rituale« (Spies 2009: 8) sowie in Symbolen, Flaggen und Hymnen, wirksam werden. Die Verschiedenheit von Menschen und ihren Erfahrungen wird durch die Eingrenzung auf eine Nation und die Bezugnahme auf eine sie einende Geschichte gewaltvoll homogenisiert (vgl. Attia 2015). Die behauptete, gefühlte, tatsächliche oder angestrebte Einheit der Angehörigen eines nationalen Kollektivs findet über die Abgrenzung und Differenzierung eines Außen statt. »Das Andere des natio-ethno-kulturellen ›Wir‹, das ›Nicht-Wir‹, zeichnet sich in der Fantasie, die dieses ›Wir‹ ermöglicht, dadurch aus, dass es nicht hierher, an diesen Ort gehört und deshalb hier vermeintlich legitimerweise über weniger Rechte verfügt.« (Mecheril et al. 2010a: 13–14). Wer bestimmt über die vertretenen Werte und Traditionen? Welche werden als legitim anerkannt und in den Kanon aufgenommen? Welche Feste werden gefeiert und wer entscheidet darüber? Sinnstiftende Ausgestaltungen entstehen in einer sozialen Ordnung durch machtvolle Positionen derjenigen, die Teil haben und mitbestimmen dürfen. Über das Konzept der Staatsangehörigkeit wird die rechtliche und bürokratische Zugehörigkeit zum jeweiligen Nationalstaat bestätigt oder verwehrt. Für die deutsche Nation ist das Christentum ein Grundpfeiler des nationalen Selbstverständnis und nationaler Ritualisierungen, was beispielsweise an der Bedeutung ökumenischer Gottesdienste bei öffentlichen Anlässen sichtbar wird (vgl. Yılmaz-Günay 2010: 1ff ). Die Imagination einer darauf aufbauenden kollektiven Identität drückt ein Bedürfnis nach Sinnstiftung aus, da sie eigentlich »auf nichts Konkretes verweist«

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und ihr aufgrund dieser »Unbestimmtheit jeder mögliche Sinn zugewiesen werden kann« (Giesen und Seyfert 2013: 39). Der Zusammenschluss in einem Nationalstaat ermöglicht kollektive Sinnstiftung. Eine der einflussreichsten Publikationen der Nationen- und Nationalismusforschung ist das Werk »Imagined Communities« von Benedict Anderson (Anderson 2006). Andersons grundlegende These lautet, dass Nationen, nicht zuletzt aufgrund ihrer Größe, durch Imagination und einer belebten Vorstellung von Gemeinschaft und Gemeinsamkeit wirkungsvoll funktionieren (ebd.). Der Imagination, der Vorstellungs- und Einbildungskraft, wird hier eine besondere Rolle als Zugehörigkeitsgenerator zugesprochen: durch (angenommene) gemeinsame Geschichte_n, Metanarrative und tatsächlich geteilte Erfahrungen oder historisch-narrativ erfahrbare Geschichten, wird die Zugehörigkeit zu einer Nation ermöglicht und im Perpetuieren eben dieser Narrative mit aufrechterhalten (vgl. Anderson 2006: 204ff ). Imagination ist auch ein bedeutsamer Modus Sozialer Navigation, auf den ich im letzten Kapitel ausführlicher eingehe. Im Kontext der Nation dient Imagination der Vorstellung eines Kollektives, das die überschaubare quantitative Größe einer biologischen Familie, eines Freundes- oder Kolleginnenkreises übersteigt. Sie wird zur Akteurin, die über Nicht-Zugehörigkeiten entscheidet, wenn »die Annahme, man habe nur mit solchen Menschen viel gemeinsam, die zu irgendeiner Zeit auf dem selben Territorium gelebt haben wie man selbst« dominiert, obwohl »dieses Territorium [...] im Verlauf der Geschichte [...] wandelbar war.« (Clemens 2014: 50-51). Homi Bhabha, ein zentraler Theoretiker des Postkolonialen, hat sich unter anderem in seinem Werk »Nation and Narration« (Bhabha 2000) konkreter mit der Bedeutung von Geschichten und Erzählungen für die Beforschung des Nationenkonzeptes befasst. Er beschreibt darin die Nation als machtvolle materiell-diskursive Instanz westlicher Politik. »Nations, like narratives, lose their origins in the myths of time and only fully realize their horizons in the mind´s eye. Such an image of the nation - or narration - might seem impossibly romantic and excessively metaphorical, but it is from those traditions of political thought and literary language that the nation emerges as a powerful historical idea in the west.« (Bhabha 2000: 1)

Nationale Identitäten werden insbesondere in Diskursen re_konstruiert (vgl. Wodak et al. 1999). In seiner Wahlkampagne zum 45. Präsidenten der USA hat Donald Trump beispielsweise unter dem Motto »Make America great again« eine spezifische Erzählung der »großen Nation USA« verbreitet, deren populistische Funktion die eigentliche Komplexität der Aussage weitreichend übertreffen konnte. Wer ist in dieses Narrativ ein-, wer ausgeschlossen? Welche politischen Entscheidungen hat diese Vision zur Folge und an welche historischen Geschichte_n knüpft sie an? Geht es um das kolonial-imperiale Amerika, die Zeit vor der gewaltvollen Eroberung der First Nation Peop-

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le durch die Kolonisierung oder um die ungehemmte Explosion des Kapitalismus in den 80er Jahren? An diesen Fragen wird der Zusammenhang zwischen Nationalismus und Rassismus deutlich. »[T]he nation states, established upon historically contested territories, have striven to control population movements, and to the very production of the ›people‹ as a political community […]« (Balibar 1991b: 48). Unter einer machtkritischen Perspektive drängt sich die Frage auf, von welchem Narrativ beispielsweise Donald Trump oder auch die AfD in Deutschland und ihre politischen Agenden am meisten profitieren. So macht- und gewaltvoll die Nation als globale politische Akteurin ist, so kann ihre Abwesenheit gleichermaßen als macht- und gewaltvoll erlebt werden. Am Beispiel des Bemühens der Palästinenser um ihre internationale politische Anerkennung und Gleichwertigkeit durch die Möglichkeit, einen eigenen Staat zu bilden, wird dies konfliktreich verdeutlicht (vgl. Davis 2016: 51ff ). Das Teilen gemeinsamer Erfahrungen und Geschichten lässt Nationen auch als erstrebenswerte globale Schutzräume erscheinen, die ihren Mitgliedern Wahrnehmbarkeit und Aufgehobensein ermöglichen. Gleichzeitig sind sie machtvolle Grenzzieher, die durch staatliche Regularien darüber entscheiden, wer Teil des Kollektivs sein darf und wer nicht. Sie bringen somit sowohl auf politisch-struktureller als auch historisch-narrativer Ebene zugehörige und nicht-zugehörige Subjekte hervor, und sind wirksam, trotz, oder gerade wegen, ihrer imaginativen Stärke und »»transzendentalen« Größe« (Müller-Funk 2008: 13). Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist dies aus zwei Perspektiven bedeutsam: sowohl für die Theoretisierung Sozialer Navigation vor dem Hintergrund der Ermöglichung und Verhinderung tatsächlicher Bewegungen, als auch für den forschungspraktischen Zugang, der sich, unter Bezugnahme auf die Dekonstruktion naturalisierender und essentialisierender Praktiken, nicht auf einen spezifischen lokalen und historischen Ort begrenzen lässt und sich damit gegen einen methodischen Nationalismus wendet (vgl. Wimmer und Glick Schiller 2006). In der Verbindung zwischen Rassismus und Nationalismus wird auch der Zusammenhang zwischen national markierten, materiell-diskursiven Praktiken und jenen deutlich, die als kulturell identifiziert werden. Dies führt mich zur Kultur als Pluralisierungsform.

4.1.3 Kultur als Lesart Kultur ist ein Gewebe, das sich als menschlicher Alltag zeigt. Sie ist ein feines Netz, welches wir bewegen und durch welches wir bewegt werden (vgl. Geertz 1973). Mit diesem Gewebe wird eine weitere zentrale Pluralisierungsform angeführt, deren Mechanismen auch darin bestehen, sozialen Ein- und Ausschluss zu vollziehen und zu verwalten. Kulturelle Praktiken sind in Trans-Aktionen geschaffene Umgangs- und Ausdrucksformen, die das Gewebe stetig realisieren und aktualisieren. Diese Praktiken wirken als strukturierende und emotionalisieren-

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de Zugehörigkeitsmarker, da sie die soziale Welt in Vertrautes und Unvertrautes einteilen. Kultur vermittelt uns, zu wissen, wie es funktioniert – sei »es« die Art und Weise wie wir essen, wie wir sprechen, wie wir uns anziehen, was wir im Fernsehen schauen, welche Musik wir hören und welche Produkte wir auf dem Markt kaufen können. Dabei bleibt aber festzustellen, dass Kultur »nur als Objekt eines Diskurses« und nicht »an sich existiert« (Höhne 2001: 210). Welchen Einfluss hat Kultur als Diskursgegenstand auf Zugehörigkeitspraktiken? Um mich dieser Frage zu nähern, diskutiere ich im Folgenden insbesondere die Beschränkungen, die eine Bezugnahme auf Kultur für eine Erfassung von Zugehörigkeit_en ergeben. Alles, was wir tun, lässt sich als kulturelle Praktik erfassen – Kultur ist Kommunikation und Konstruktion, sie ist ambivalent, sie schafft eigenes und fremdes, sie ist McDonalds, Mozart, Fela Kuti und BBC. Sie ist Erfindung und Analyse, Begrifflichkeit und Tatsache. Sie ist Geschichte und beschreibt das spezifische Geworden-Sein von Welten. Wenn alles, was wir tun, auf eine Art und Weise als Kultur reflektiert werden kann, dann sind auch alle Praktiken, die auf Zugehörigkeiten abzielen, kulturelle Praktiken (vgl. Moebius und Quadflieg 2011). Aus diesem Grund wird Kultur im vorliegenden Text als Lesart der Verweigerung oder Ermöglichung von Zugehörigkeitserfahrungen kritisiert, da in ihrem Namen Diskriminierung und Ausgrenzung vorgenommen und gerechtfertigt werden (vgl. Attia 2009: 11ff ). Am Beispiel des Islams verdeutlicht Iman Attia, wie durch »die Konstruktion und Essenzialisierung einer ›islamischen Kultur‹ [...] unterschiedliche soziale Gruppen, gesellschaftliche Themen, politische Positionen, kulturelle Ausdrucksformen zusammengefasst und bedeutsame Differenzen in Klassenzugehörigkeiten, politischen Positionierungen, Migrations- und Fluchtgeschichten, Herkunftsgesellschaften außer Kraft gesetzt« (Attia 2009: 16)

werden. Kultur dient hier nicht als »Kontingenzmarker und Ent-Universalisierungsinstrument« (Reckwitz 2010: 18), sondern als eine vereinheitlichende Bündelung höchst komplexer Bestandteile. Dies erfordert einen differenzierten Kulturbegriff, der einerseits spezifische, historisch gewachsene Ausdrucksweisen, Traditionen, Sprachen und Geschichten und andererseits einen fluiden Rahmen kontinuierlicher Entwicklung und Veränderung in sozialen Settings erfasst (ebd.). Die »Kultur« gibt es nicht (vgl. Attia 2009: 11ff ). Den Kulturbegriff zu ent-universalisieren setzt daraus folgend voraus, kulturelle Praktiken als kontinuierliches Werden zu begreifen, um so der Annahme, es existierten in sich abgeschlossene und homogene Kulturen, dekonstruktiv und empirisch begegnen zu können. Kultur ist kein Container, der eine bestimmte Fracht transportiert, kein Rucksack, den Menschen auf dem Rücken tragen, sie ist kein begehbares Terrain, mit unveränderlichen Begrenzungen. Sie ist aber ein Symbol vielfältiger Diskurse und Materialisierungen von Tradition, Gegenwärtigkeit und Zukünftigem. Statt auf »fertige Produkte« zu fokussieren, müssen demzufolge kulturalisierte »Produktionspro-

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zesse« betrachtet werden (Bienfait 2006: 145). Die Verbreitung eines undifferenzierten Kulturbegriffes in Dominanzverhältnissen birgt insbesondere die Gefahr hegemonialer Kulturalisierung und einer vermeintlich unpolitischen Versuchung, formale, un_wahrnehmbare oder zugeschriebene Zugehörigkeiten immer dann als kulturell-identitär bedingt zu erklären und zu kategorisieren, wenn damit eigentlich auf race oder Ethnizität verwiesen wird (vgl. Balibar und Wallerstein 1991). Kultur wird auf diese Weise bezogen auf die Komplexität ihrer Un_Wahrnehmbarkeit bio-logisiert (vgl. Oyěwùmí 2005b), da Körper in ihrem Namen Kollektiven zugeordnet und diese Zuordnungen hierarchisiert werden. Rassismus verweist auf diese Prozesse kulturalisierender Stereotypisierung und Essenzialisierung und macht einen durch postkoloniale Theorien vorangetriebenen »gesellschafts- und herrschaftskritischen Kulturbegriff« »für die Analyse kultureller Hegemonie« (Attia 2009: 38) notwendig. Im Sinne einer Sensibilisierung für und Benennung dieser kulturalisierenden Zuordnungen, die von angenommenen Abweichungen einer unmarkierten Norm ausgehen, ist es unerlässlich, den analytischen Blick auf eben jene, nicht näher bestimmten, privilegierenden und als homogen angenommenen Normsetzungen zu richten (vgl. Nghi Ha et al. 2007). Balibar und Wallerstein bezeichnen den Zusammenhang von Rassismus und zeitgenössischem Kapitalismus unter dem dominanten Narrativ kultureller Differenzen als »racism without races«: »Ideologically, current racism, […] fits into a framework of ›racism without races‹ […]. It is a racism whose dominant theme is not biological heredity but the insurmountability of cultural differences, a racism which, at first sight, does not postulate the superiority of certain groups or peoples in relation to others but ›only‹ the harmfulness of abolishing frontiers, the incompatibility of life-styles and traditions […].« (Balibar 1991a: 21)

Die Folgen einer solchen »Differenzmarkierung zwischen positiven universellen Identitäten und negativen des konstitutiven Außen werden in kulturellen Hegemonien ausgetragen.« (Attia 2009: 19): »Die« können nicht Teil von »uns« sein, da »ihre« Kultur so anders ist als »unsere« – dies verlangt im politischen und medialen Alltag oftmals keine weitere Erklärung, als Begründung zur Abwertung und Ausgrenzung ist der Verweis auf unterschiedliche Kulturen funktional und produktiv. Antimuslimischer Rassismus ist eine Form kulturalisierten Rassismus (ebd.), bei dem Religion zum Diskursobjekt vermeintlich »kultureller Fremdheit« (vgl. Höhne 2001: 204ff ) und Kultur auf diese Weise zur machtvollen Akteurin rassifizierender und klassifizierender Strukturierungen wird, die hegemoniale Ordnungen stabilisieren und über kollektive Nicht-Zugehörigkeiten entscheiden. Dieser Prozess lässt sich wechselwirkend beschreiben: durch zugeschriebenes, un_wahrnehmbares und strukturelles nicht-zugehörig-Machen werden kulturelle Räume markiert, gleichermaßen wird Kultur über diese Praktiken als Nicht-Zugehörigkeitsmarker legitimiert. Kultur ist damit auch ein Effekt von Praktiken, die Kollektivität herstellen.

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Wenn Kultur der diskursiv hergestellte Bezugspunkt ist, der immer wieder verhandelt und transparent gemacht werden muss, um eben diese individuellen Verortungen zu zulassen, dann müssen notwendigerweise die herrschenden Machtverhältnisse und Prozesse des Positioniert-Werdens mitreflektiert werden. Ebenso wie die Homogenität kulturell Markierter im Außen imaginiert wird, so wird selbige auch für das Eigene, ein diffuses oder ebenso konkretisierbares Wir, nach Innen imaginiert. Weder im sogenannten Eigenen noch im als fremd Markierten findet sich jedoch eine homogene Eindeutigkeit, nach der Subjekte nach bestimmten Kriterien sortiert, gruppiert und vereindeutigt werden können (vgl. Elias 2013). Unsere interferierende Eingebundenheit in diese machtvollen Akte der Kulturalisierung ist ein wesentlicher Faktor für die Notwendigkeit, sich den Praktiken des Mit zuzuwenden, um der herausfordernden Mystifikation von Kultur als allumfassendem Erklärungsmuster (vgl. Bienfait 2006) eines »So-Seins« von Welt_en kritisch zu begegnen. Die soziale Wirklichkeit ist komplexer, als es einfache Kategorisierungen kultureller Gruppenzugehörigkeiten vermitteln (vgl. Lorey 2008). Wie beispielsweise in dem beschriebenen Videoclip der EU im Kapitel »Koordinaten« deutlich wurde, finden machtvolle Ein- und Ausgrenzungspraktiken, im Glauben an eine mögliche Sichtbarkeit von Kultur, auch auf der Ebene des Visuellen statt. Erneut wird damit das Primat des Sehens als Praktik der Zu-Ordnung perpetuiert. Doch neben dem Sehen ist das Hören gleichermaßen relevant für die Produktion kultureller Lesarten eines Nicht-Zugehörigmachens. Ebenso wie die Nation kann auch »Kultur als Text« (vgl. Bachmann-Medick und Clifford 2004) gelesen werden. In Narrationen und im Über-Sich-Erzählen werden Repräsentationen und Handlungsmuster vernehmbar, die als hybride Ausdrucksformen und somit vielfältige Navigationen mit Zugehörigkeitsverhältnissen expliziert werden (vgl. Bhabha 2004). Kultur steht in diesem Verständnis für ein notwendigerweise unabgeschlossenes System, denn jede »kulturelle Äußerung« bildet »das ›Eine-im-Anderen‹ ab« (Terkessidis 2010: 173). Wie Attia feststellt, sind »derartige Hervorhebungen und Visionen [...] zweifellos notwendig, um Essenzialisierungen zu dekonstruieren und alternativen Praxen Bedeutungsmacht zu verleihen.« (Attia 2009: 24). Gleichzeitig darf eine auf Diskurspraktiken abzielende Analyse von Kultur »die Folgen der Essenzialisierungen und Konstruktionen« nicht vernachlässigen, die »real sind und einen wesentlichen Aspekt im Lebensalltag von Subjekten haben, auch dann, wenn sie bestrebt sind, ihre dominante oder marginalisierte Position zu überwinden.« (ebd.). »Eine narrative Theorie von Kultur« (Müller-Funk 2008: 14) kann aufgrund der angesprochenen Pluralität des Begriffs dann auch nur einen möglichen Zugang beschreiben, ihre diversen Praktiken zu erforschen. Es kann nicht darum gehen, Kultur ausschließlich als Text zu »lesen« und zu interpretieren und somit jegliche materialisierte und auf Körper bezogene Implikationen außer Acht zu lassen. Gerade weil ein reduktionistischer Blick auf die diskursive Bedeutung von Kultur die Gefahr birgt, die Relevanz sozialer Praktiken und materieller Realitäten abzuerkennen, kann Kultur als analytisches

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Konstrukt nicht obsolet gemacht werden. Persönliche Geschichten und biografische Erfahrungen sind bedeutsame Zugänge zu den Praktiken des Mit, da sie sich aus materiell-diskursiven Bedingungen ergeben, auf diese beziehen und so wahrnehmbar und verhandelt werden. Daraus folgt die Notwendigkeit, »diskursive Macht und politische Herrschaft« miteinander in Beziehung zu setzen (Attia 2009: 23). »Unter zentraler Berücksichtigung von Neoliberalismus und Globalisierung« ermöglicht eine kulturkritische Analyse die Rekonstruktion des »kulturellen Beitrag[s] zu Ausbeutung und Beherrschung« (ebd.). Mit der Aufforderung, »stell dir vor, es ist Kultur, und keiner geht hin!« (Faschingeder 2006), wird Kultur somit als Kategorisierungsoption einer durch sie bedingten Hegemonialität kritisierbar. Die damit einhergehende Problematisierung, materielle soziale Bedingungen werden in kulturellen Politiken (»cultural politics«) unzureichend beachtet (vgl. Rossatto et al. 2006: 128), führt mich zum Habitus als weiterer machtvoller Kollektivierungsform.

4.1.4 Habitus und die Reproduktion sozialer Ungleichheiten An Nation und Kultur als Vergemeinschaftungs- und Vergesellschaftungsformen anschließend, beziehe ich mich mit dem Konzept des Habitus auf ein weiteres theoretisches und empirisches Modell sozialer Pluralisierung, durch welches die Re_Produktion hegemonialer Ungleichheits-Ordnungen analysierbar wird (vgl. Fuhse 2010). Als zentrales Konzept der Arbeiten des Soziologen und »Theoretikers des Relationalen« (Löw 2012: 179), Pierre Bourdieu, wird der Habitus als Vermittler »zwischen dem System objektiver Regelmäßigkeiten und dem System der direkt wahrnehmbaren Verhaltensformen« (Bourdieu 2007: 40) verortet. Er ist ein »geometrischer Ort der Determinismen und Entscheidungen (déterminations), der kalkulierbaren Wahrscheinlichkeiten und erlebten Hoffnungen, der objektiven Zukunft und des subjektiven Entwurfs. […] (A)ls System der organischen und mentalen Dispositionen und der unbewußten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata bedingt der Habitus die Erzeugung all jener Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen, die der so wohlbegründeten Illusion als Schöpfung von unvorhersehbarer Neuartigkeit und spontaner Improvisation erscheinen, wenngleich sie beobachtbaren Regelmäßigkeiten entsprechen [...].« (Bourdieu 2007: 40)

Die »beobachtbare Regelmäßigkeit« des Habitus wird »durch und innerhalb« regelmäßiger und wiederkehrender »Bedingungen erzeugt« (ebd.). Damit beschreibt Bourdieu eine Kategorisierung des Sozialen, die sich in Körpern einschreibt und diese reproduziert. Der Habitus ist somit symbolisches Konstrukt einer verkörperten Sozialstruktur und beeinflusst, durch den vermeintlich naturalisierten Prozess der Inkorporation, unsere spezifischen Wahrnehmungsfähigkeiten (vgl. Bourdieu 2003: 322ff ). Paul Mecheril sieht in der »habituellen Disponiertheit« einen we-

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sentlichen Faktor unserer »habituellen Wirksamkeit« (Mecheril 2003: 162), dem Vermögen des Individuums, in Zugehörigkeitsverhältnissen handeln zu können. In seiner grundlegenden Relationalität, Körper als Ausdruck der Gesellschaft und Strukturierung der Welt und umgekehrt zu denken, ist der Habitus ein zentrales Konzept von Zugehörigkeitserfahrungen und -praktiken. Im Folgenden interessiere ich mich jedoch insbesondere für die Begrenzungen des Habitus-Konzeptes für dessen Anwendbarkeit auf ein dynamisches und relationales Zugehörigkeitsverständnis. Bourdieu beschreibt den Habitus als Vermittler zwischen strukturierender und strukturierter Struktur und damit als wesentliche Instanz zur Herstellung subjektiven Sinns und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen. Der Habitus umfasst physische, soziale sowie mentale Prozesse. Durch ihn wird ein »sense of one´s place« und ein «sense of the other´s place« (Hillier 2005) in der Gesellschaft vermittelt, er ermöglicht so einerseits die Beschreibung sozialer Formationen und andererseits die Verortung von Singularen im sozialen Gefüge (vgl. Bourdieu 2003, 2007). Subjekte werden auf diese Weise als »Träger eines inkorporierten Ensembles von Dispositionen« (Reckwitz 2010: 21) imaginiert und positioniert, die durch soziale Klassen hervorgebracht werden. Der Habitus vermittelt ein Wissen darüber, wo ich herkomme, wohin ich gehöre und wohin ich gehen kann. »Jede (oder jeder) hat diese und nur diese Stellung (oder eine angebbare Klasse benachbarter Stellungen [...]) inne, so daß es zwar theoretisch, aber nicht praktisch möglich ist, in zwei entgegengesetzten Regionen gleichzeitig Stellungen einzunehmen.« (Bourdieu 1984: 10)

Diese eindeutigen Platzierungen im sozialen Feld setzen sich nach Bourdieu aus verschiedenen Kapitalsorten zusammen, mit denen ausgestattet wir unsere »Stellung« beziehen: das soziale Kapital (z.B. Kontakte und Netzwerke), das kulturelle Kapital (z.B. kulturelle Güter), das symbolische (z.B. Bildungstitel, Prestige) und das ökonomische Kapital (z.B. finanzielle und monetisierbare Ressourcen) (Bourdieu 2003: 196ff). Diese Kapitalformen bedingen die Reproduktion sozialer Klassenunterschiede und die Unterscheidungen unseres Geschmacks (ebd.). Im übertragenen und wörtlichen Sinn bezieht sich dieser Prozess auf alle Lebensbereiche – welche Kleidung wir tragen, welche Bücher wir lesen, ob wir überhaupt lesen, welche Musik wir hören, was wir essen, wie und wo wir wohnen, mit wem wir befreundet sind, wen unsere Eltern kennen und wen wir kennen (lernen können). All das ist Bestandteil unseres Habitus.9 Wir bewohnen ihn (oder er uns), ohne dass wir uns ein Bild von diesem Haus machen, denn der Habitus »is so deeply ingrained in us that it operates largely in an unconscious fashion, such that much of our behaviour feels ›intentionless‹« (May 2013: 50). Die Kapitalformen bestimmen maßgeblich über mögliche Zugehörigkeitserfahrungen. Mit dem Habitus wird die Verinnerlichung und Reproduktion sozialer Normen erfasst, wodurch er ebenso zu einem Sinnbild für Zugehörigkeit_en als Bindung an die Norm wird. Die Fixierung dieser Bindung hat Bourdieu in seiner biografischen Entwicklung als Kind von Arbeitern in

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der französischen Universitäts- und Wissenschaftswelt selbst erlebt. Die Folgen der Spannungen und Widersprüche zwischen seiner akademischen »Weihung« und seiner sozialen Herkunft führten zu einem gespaltenen Habitus und nachhaltig ambivalenten Verhältnis zu akademischen Institutionen (Bourdieu 2008: 100). »[A] personal emergent property is unique to an individual because of her unique field position and trajectory. These relational experiences then cohere inside the internal structure of the habitus. In this way, the habitus is not only emergent, it is constantly emerging in relation to field dynamics.« (Decoteau 2016: 318)

Der Habitus beschreibt damit einerseits zwar einen, makrosoziologisch betrachtet, statischen Zustand des sozialen »Habens«, er nimmt aber auch Veränderbarkeiten und Entwicklungen des »Machens« in den Blick: Kapitalformen können akkumuliert und erworben werden, oder aber auch verschwinden. Auf diese Weise liefert der Habitus ein zentrales Konzept zur Benennung und Analyse der Prozesse, die soziale Ungleichheiten bedingen und aufrechterhalten. Allerdings besteht gleichermaßen die Gefahr identitätspolitischer Zuschreibungen eben dieser soziopolitisch hervorgebrachten Unterschiede in vermeintlich eindeutig identifizierbaren Singularitäten oder Pluralformen. »It is in this sense that I see the recent call to ›go back to class‹ as problematic, if it is to be understood as a call to prioritize class at the expense of race, gender, sexuality, or global imperialism. Rather, the call should be to transform the dominant culturalized and personalized identitarian politics into ›materialist identity politics‹.« (Leonardo 2003: 220 zit. in Cho 2006: 130)

Um diese materialisierten Identitätspolitiken der Eindeutigkeit angemessen analysieren zu können, braucht es kritische Perspektiven, mit denen habituelle Normierungsprozesse und ihre Reproduktion sozialer Ordnungen in Frage gestellt werden können. Eine fruchtbare Kritik an dem Konzept der Kapitalformen und der vermeintlichen Unhintergehbarkeit sozialer und kapitalistischer Ungleichheitsordnungen wurde, wie bereits erwähnt, von Tara J. Yosso formuliert (2005). Sie bezieht sich insbesondere auf die zentrale Leitkategorie, an der sich die Wertigkeit der Kapitalformen im sozialen Feld bemisst: das Wissen und die Prakti9

Das hier angesprochene Wir ist, erneut, ein sehr unbestimmtes, ohne konkreten sozialen Ort. Es ist ein Wir im allgemein möglichsten Sinn. Dies wäre selbstverständlich anders, wenn ich Formen der Unterscheidbarkeit benennen würde: trage ich Jogginghose oder Anzug, gehe ich zu McDonalds oder im 5-Sterne Restaurant essen. Und selbst hier wäre jedes Wir nur eine unklare Vorstellung kollektiver Homogenisierung und Erwartung, das den Widerspruch und soziale Kontingenz impliziert: Anzugträger gehen zu McDonalds, kritische Künstlerinnen wählen konservativ und Staatspräsidenten lesen keine Bücher.

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ken einer (weißen) Ober- und Mittelschicht, welche in einer hierarchischen Gesellschaft als wertvolles und anstrebenswertes Kapital angesehen werden (Yosso 2005: 70). Dieses normative Zentrum sozialer und politischer Macht wird durch Praktiken des Konsums und die Un_Zugänglichkeit kultureller Institutionen kontinuierlich reifiziert (ebd.). In Yossos Kritik wird ein wesentlicher Aspekt gesellschaftlicher Normierung und Hierarchisierung deutlich, nämlich die Fragen, welche Lebensstile, welches Wissen und welche Erfahrungen als erstrebenswert und wertvoll klassifiziert und welche im Gegenzug abgewertet werden. Für sie gilt, dass kulturelles Kapital nicht nur von einer Mittelklasse vererbt oder besessen wird, sondern dass sich dessen Wert vor allem auf die Akkumulation von Wissensformen und Fähigkeiten bezieht, die von privilegierten Gruppen in der Gesellschaft als wertvoll und erstrebenswert erachtet werden (Yosso 2005: 76, eig. Übers.). In diesem Zusammenhang kritisiert sie auch Bildungsinstitutionen, da diese, von spezifischen Normalitätsvorstellungen einer »guten« Bildung geleitet, nur jenes Wissen und Können als angemessene Voraussetzungen und Lernbedingungen anerkennen und fördern, das bereits durch das Bildungssystem als bedeutsam legitimiert wurde. Dies hat zur Folge, Schüler_innen als benachteiligt zu klassifizieren, wenn ihre sozio-kulturellen und familiären Kontexte sie für den schulischen (Kompetenz-)Wettbewerb weniger erfolgreich ausstatten, weil es zum Beispiel zu Hause nur einen (oder keinen) Computer, keine Nachhilfe, keine Bücher oder andere Notwendigkeiten gibt, nach den Kriterien dieses Wettbewerbs erfolgreich zu sein (vgl. Reimer et al. 2013; Pongratz 2017). Hier wird die relationale Perspektive sozialer Ungleichheit deutlich, die nicht den (Bildungs-) Maßstab an sich in Frage stellt, sondern dann lediglich versucht, durch bestimmte Förderprogramme und Normen den Status Quo des Anstrebenswerten zu erhalten.10 Natio-ethno-kulturalisierende Zugehörigkeitspraktiken werden dann für die Erklärung von Benachteiligungen instrumentalisiert, statt Benachteiligung als Effekt eben dieser Praktiken zu begreifen (vgl. Hamburger 2009). Der Habitus ist somit eine Technologie der Macht, über die Ein- und Ausschlüsse reproduziert werden. Ein grundlegendes Hinterfragen der sozialen Hierarchisierung durch die 10 »A […] student whose mother works in the garment industry may bring a different vocabulary, perhaps in two languages to school, along with techniques of conducting errands on the city bus and translating mail, phone calls and coupons for her/his mother (see Faulstich Orellana, 2003).« (Yosso 2005: 76). Im deutschen Schulkontext lässt sich dies an der immer wieder auf kommenden Diskussion über Mehrsprachigkeit in der Schule beobachten: Anstatt Mehrsprachigkeit bei Schüler_innen als Bereicherung anzuerkennen, werden bestimmte andere Sprachen als Deutsch, in der Regel Türkisch oder Arabisch, auf Schulhöfen verboten. Dies kann als Platzverweis in einer unhinterfragten sozialen Ordnung von Privilegien und normierten Standards verstanden werden, die einigen dienen und andere benachteiligen. (Ausführlicher zum »Monolingualen Habitus der multilingualen Schule« bei Gogolin 2008.)

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ungleiche Verteilung von Kapitalformen muss jedoch die Mechanismen ihrer gesellschaftlichen Anerkennung und Repräsentation kritisieren, anstatt lediglich zu schauen, wie mensch am besten eine, im neoliberalen System des Wettbewerbs, als »erfolgreich« gewertete Position einnehmen kann. In diesem Wettbewerb sind zwangsläufig einige privilegiert und viele benachteiligt. Die Akzeptanz dieses Systems demontiert jedoch nicht grundlegend das Streben nach einem möglichen gesellschaftlichen Aufstieg und die damit verbundene Notwendigkeit kapitalistischen Wettbewerbs. Ziel einer machtkritischen Pluralisierungsforschung und -reflexion muss es sein, diese sozialen Orte der Normierung und ihre machtvollen Implikationen infrage zu stellen. »We are not consciously aware that we are, in fact, making choices because we are not aware of the possibility of behaving differently.« (May 2013: 50). Eine intersektionale Analyse sozialer Ungleichheit muss den Habitus als Verkörperung gesellschaftlicher Ordnungen berücksichtigen. Mein Anliegen in diesem Abschnitt war es, die theoretischen Grundlagen der Unmöglichkeit zu explizieren, unter Bezugnahme auf spezifische Pluralisierungsformen der Komplexität und Dynamik von Zugehörigkeitspraktiken und -erfahrungen gerecht zu werden. Komplexe Grenzziehungspraktiken und Identifikationen bilden die zentralen Herausforderungen, Vielheiten nicht identitär und gleichzeitig machtkritisch und dekolonialisierend zu erfassen. Bevor ich mich im fünften Kapitel den Möglichkeiten zuwende, diese Vielheiten entlang biografischer, räumlicher, emotionaler, temporaler und politischer Zugehörigkeitsverhältnisse zu denken, führt mein Weg von den pluralisierten Gesamtheiten zur Extraktion von Singularitäten. Ich betrachte hierfür Theorien der Identitätsbildung und Subjektwerdung als zentrale Vorgänge der Singularisierung.

4.2 Singularisierungen »[M]any philosophies in the West have never convincingly managed to break out of this imperial odyssey to the self.« (Mischke 2013: 324)

Wenn ein Denken von Welten nur als Denken in Vielheiten sinnvoll ist, stellt sich die Frage, warum die Hinwendung zu Singularitäten an dieser Stelle notwendig ist. Nancy nutzt den Begriff der Singularität ja vor allem, um ihn von der Identitäts- und Subjektlogik westlicher Theorieentwicklungen abzugrenzen. Wie er sagt, ist »das Singuläre [...] von vornherein jeder Einzelne« (Nancy 2004: 61). Es ist jedoch weder ein »›ich‹ noch ›du‹, sondern lediglich das Unterschiedene einer Unterscheidung« (ebd.: 62). Jedes materiell-diskursive Singular existiert in diesem Verständnis nur als Teil aufeinander bezogener vergemeinschaftender Konstruktionen, die es hervorbringen. ›To be‹ heißt ›to be with‹ oder ›to be part of‹ – Sein

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ist Mit-Sein oder Teil-Sein, denn »das Singuläre ist ein Plural.« (ebd.: 61). Mit den folgenden Singularisierungen werden somit nur die Elemente theoretisch fokussiert, von denen ausgehend und mit denen Kollektivität gedacht wird und die als Produkte aus Vergemeinschaftungsprozessen entstehen. Aus diesem Grund betrachte ich im folgenden Abschnitt zwei wesentliche theoretische Zugänge, die das Individuum als vereinzelten Adressaten und Effekt einer Pluralität des Sozialen zu beschreiben versuchen: Subjekte und Identitäten.

4.2.1 Subjekte »Man frage mich nicht, wer ich bin und man sage mir nicht, ich solle der Gleiche bleiben: Das ist eine Moral des Personenstandes; sie beherrscht unsere Papiere.« (Foucault 1973: 30)

Aufbauend auf die vielfältigen und kritischen Möglichkeiten, Singulare zu denken, wird das Subjekt als »sensitizing instrument« (Reckwitz 2010: 11) zum Analysewerkzeug der Bedingungen und Praktiken, die es hervorbringen, statt zum Gegenstand, dessen Existenz bewiesen werden soll (ebd.). Im Folgenden möchte ich ausgehend von folgenden Fragen einen Überblick über ausgewählte Ansätze geben: Was ist das Subjekt? Welche Prozesse bringen es hervor? Und welche Rolle spielen diese Mechanismen für ein Nachdenken über Zugehörigkeiten? »Das« Subjekt lässt keine eindeutige Zuordnung zu: symbolisiert es nicht eher Pluralisierung als Singularisierung? Statt für das vereinzelt Subjektive, steht das Subjekthafte für das Benennbare, also jenes, was kollektivierbar ist bzw. kollektiviert wird. Das, wofür es eine Sprache und einen Ort gibt (vgl. Butler und Spivak 2007). Es braucht den Personenstand, um das Individuum von seiner vermeintlichen Einzigartigkeit in eine bürokratische Markierung zu überführen. Subjekte sind personifizierte Plurale. Ich kann mich bezugnehmend auf verschiedene Vielheiten erzählen: Mein Körper wird als weiblich und weiß wahrgenommen, meine Arbeit ist akademisch positioniert und mein Schreiben charakterisiere ich als politisch. Aber bin ich all diese Attribute oder sind sie lediglich Rahmungen, um eine öffentliche Form meines Seins zu beschreiben, um es sozial bedeutsam, wahrnehmbar und damit möglicherweise auch veränderbar zu machen? In die Vorstellungen von und über uns sind immer schon regulative Diskurse, Normen und Wertmaßstäbe eingeschrieben. Die diversen Subjektformen und möglichen Humankategorisierungen (vgl. Hirschauer 2016), zum Beispiel als Transgender, Kreative, Frau, Bisexuell, Mann, Kind, Arbeiter, Einheimischer, Geflüchteter, Rentnerin, Abenteurer oder Faulenzerin »gibt« es, da es einen Diskurs, soziale Normen und kulturelle Modellierungen, also materiell-diskursive Praktiken gibt, die diese Subjektformen in die Welt bringen und am Leben erhal-

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ten (vgl. Butler und Spivak 2007). Subjekte sind Ausdruck »kulturelle[r] Formen« und »gesellschaftliche Wesen«, da der »Einzelne als körperlich-geistig-affektive Instanz in bestimmten Praktiken und Diskursen zu einem« (Reckwitz 2010: 17) solchen Wesen gemacht wird, wie der Soziologe Andreas Reckwitz, bezugnehmend auf Butler, Bourdieu und Foucault, betont (ebd.). Subjekte sind »Träger des Habitus« (Bourdieu zit. in Reckwitz 2010: 39), und Ausdruck vergeschlechtlichender, rassifizierender, kulturalisierender, ableistischer und klassistischer Praktiken. Körper sind die öffentlichen und politisierten Orte dieser Subjektivierung. Als »Verankerungspunkte der Subjektivität« (Reckwitz 2010: 18) treten sie als Produkte und Produzent_innen von Gesellschaft in Erscheinung (vgl. Gebauer und Wulf 1998). Sie sind materiell-diskursive Manifestationen von Pluralisierungen – in und mit ihnen wird das Mit-Sein vollzogen. Subjektformen sind, haben und werden Körper, sie nehmen Einfluss auf Identitätsbildungsprozesse, gehen von Körper_n aus und gleichzeitig immer auch über selbige hinaus. Die Dimensionen der Subjektwerdung beziehen sich auf Identitätspraktiken und umgekehrt. »Das Ich wird um das spekuläre Bild des Körpers selbst herum gebildet« (Butler 1997: 113). Butler versteht dieses Bild als »projektive Idealisierung« (ebd.: 132), die durch unsere Existenz als soziale Wesen zustande kommt und kommen muss, um gesellschaftsfähig und damit wahrnehmbar zu sein. »Gerade der Umstand, dass gesellschaftlich eine kollektiv definierte und insofern alternativenlose Platzanweisung nicht erfolgt, erzwingt eine Selbstplatzierung durch das Subjekt. Wenn aber der Platz [...] und die ihn konstituierende Ordnung dem Subjekt keine eindeutigen Anweisungen mehr geben hinsichtlich der Frage, was es zu tun und was es zu sein hat, dann stellt sich ein Problem der Strukturierung bzw. der Ordnung.« (Silkenbeumer und Wernet 2010: 175)

Subjekte werden nicht als natürlich existente Entitäten, »sondern immer im Prozess« ihrer »permanenten kulturellen Produktion« (Reckwitz 2010: 10) kontextualisiert und analysiert. Sie existieren insbesondere auch in der Beschäftigung, Zusammenkunft und Kommunikation mit einem oder diversen Gegenübern (vgl. Zima 2000). Dies umfasst diskursive Praktiken der Selbst-Herstellung ebenso wie die komplexen materialisierten Machtverhältnisse, die Subjekte benennen, platzieren und hierarchisieren und in denen sie sich selbst benennen, platzieren und bewegen, wie es Foucault unter dem Begriff der »Technologien des Selbst« erfasst (Foucault et al. 1993). Er interessierte sich für die »Interaktion zwischen einem selbst und anderen und für die Technologien individueller Beherrschung, für die Geschichte der Formen, in denen das Individuum auf sich selbst einwirkt.« (Foucault et al. 1993, S. 27). Diese Techniken analysiert er unter den Begriffen »Selbstprüfung« und »Gewissensforschung«, (ebd.: 45) als ethische Akte »dramatischer oder verbalisierter Selbstenthüllung« (ebd.: 62), die eine Selbstsorge zum Ziel haben. »Selbstführung, Autonomie und Selbst-Kontrolle« (Hirseland und Schneider 2008: 5643) sind diskursive Bestandteile einer auferlegten Selbstsorge

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im Neoliberalismus, der sich durch die Zentrierung auf ein vermeintlich autonomes Subjekt und dessen Selbstverantwortlichkeit in seiner Beständigkeit auszeichnet. Für all diese Akte bleibt festzuhalten, dass sie Subjekten nicht »von Natur aus« (Reckwitz 2010: 38) innewohnen. »Vielmehr geht es darum, wie einzelne kulturelle Kontexte dem Einzelnen mehr oder minder nahe legen, sich auf die eine oder andere Weise wahrzunehmen, zu lesen und zu entziffern.« (ebd.). Mit Verweis auf den zurückgenommenen Videoclip der EU müssen diese Subjektivierungsweisen auch deswegen berücksichtigt werden, weil sie einen wesentlichen Einfluss darauf haben, »welche Subjektpositionen und soziale Praktiken in einer Gesellschaft als erstrebenswert und alternativlos erscheinen« (Reckwitz 2010: 70). So werden De_Legitimationen von Subjekten immer in einer sich historisch verändernden kulturellen und politischen Matrix der Hegemonialisierung vorgenommen, die auf Normierungen und strukturelle Ungleichheiten aufbaut (vgl. Laclau 2013). In dieser Matrix werden Subjekte als zugehörig oder nicht-zugehörig re_produziert. Zugehörigkeitsverhältnisse sind hegemoniale Wahrnehmungsverhältnisse eben jener kulturellen, politischen, materiellen und historischen Kriterienkataloge, durch die Subjekte konstituiert und un_wahrnehmbar werden. Eine kritische Theorie Relationalen Werdens muss notwendigerweise diese kulturellen und hegemonialen Modellierungen verschiedener Subjektpositionen reflektieren, damit Zugehörigkeiten einer bio-logik entzogen und als kulturelle Konstitution und Konstruktion analysiert werden können. Mit dem Verweis auf das Einstiegszitat von Foucault, in dem er die Norm des »Gleichbleibens« auf den Personenstand der Papiere überträgt (vgl. Foucault 1973), lässt sich das Verhältnis zwischen Identitäts- und Subjekttheorie sehr vereinfacht auf folgende Weise beschreiben: Die Frage nach dem Selbst ist eine identitäre, wohingegen der Hinweis auf den Personenstand, darauf, was die »Papiere beherrscht«, die gesellschaftliche Dimension der Subjektposition markiert (Reckwitz 2010: 17). Zugehörigkeitspraktiken vollziehen sich als Selbst- und Fremdverhältnis immer in Vermittlung zwischen diesen Dimensionen. Auf dem Papier steht mein Alter, ich besitze k_einen Pass, ich bin an einem bestimmten Ort geboren, ich habe bestimmte Geschlechtsmerkmale, eine Hautfarbe, Haarfarbe, Ausbildung oder Familie. Da Subjektpositionen aus objektivierbaren Zugehörigkeit_en entstehen und Zugehörigkeit_en aus Subjektpositionen abgeleitet werden, beherrscht der Personenstand nicht nur die Papiere. Entgegen Foucaults Erklärung zum Tod des Subjekts, dass »der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand« (Foucault 1974: 462), wird mein Verständnis des Subjekts für die Soziale Navigation in Zugehörigkeitsverhältnissen von den folgenden Bezügen geprägt: Dialogizität (Zima 2000), Resonanz (Nancy 2014), kollektiviertem Eigen-Sinn (Eggers 2007) und Verwobenheit (Rothberg 2009). Mit seinem Ansatz einer »dialogischen Subjektivität« konzeptualisiert der Literaturwissenschaftler Peter Zima (Zima 2000: 363) Subjekte nicht als Instanzen, sondern als Generatoren von Prozessen der Selbsterzählungen und des kommunikativen Austauschs. »Das dialogische Subjekt, das sich weder dem Zerfall durch

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Partikularisierung preisgeben noch einem abstrakten Universalismus unterwerfen will, optiert für eine Dialektik von Konsens und Dissens.« (Zima 2000: 403). Subjekte sind sowohl durch Anrufung und Sprache in der Welt als auch durch ihre Körperlichkeit, materiellen Rahmenbedingungen und Handlungen bedingt. Für Nancy ist das Subjekt somit ein »Subjekt des Hörens oder das hörende Subjekt, das Subjekt auf Empfang« (Nancy 2014: 37). Ein solches hörendes Subjekt ist weder ein ausschließlich phänomenologisches noch philosophisches, »letztlich ist es vielleicht gar kein Subjekt« (ebd.). Er beschreibt es als »Ort der Resonanz« (ebd.), an dem sich eine Stimme »moduliert« (ebd.). Es ist ein »Rauschen, dem wir lauschen, dem wir unser Ohr leihen.« (Nancy 2014: 38). Diese Gedanken sind leitend für die Bedeutung von Musik und Sound für die Modi Sozialer Navigationen. Obschon wir als semantisch-narrative Wesen immer in Diskurse eingebunden sind, die sich einem individualisierten Einfluss entziehen, kann soziale Praxis nicht ausschließlich als »Verkörperung von kulturellen Diskursen« (Villa 2010: 253) verstanden werden. »Menschen sind keine wandelnden, zu Fleisch gewordenen Codes oder Semantiken. Die Lebendigkeit des Tuns fordert die Ordnung der Diskurse immer heraus.« (ebd.). Mit dem Eigensinn lässt sich die »intersubjektive Praxis« dieser Lebendigkeit im Sinne einer »Widerspenstigkeit, Neukonstruktion, Unabsichtlich[keit] und kritische[n] Handlungsfähigkeit« beschreiben, durch die das Handeln in »gegebenen Verhältnissen [...] eine nicht zu unterschätzende [...] konstitutive Wirkmächtigkeit« hat (Villa 2010: 256). In Maisha Eggers Verständnis hat vor allem der kollektivierte Eigen-Sinn Potential zur kritischen Überschreitung »identitätspolitischer Herausforderungen« (Eggers 2007). So stellt sie fest, dass eine Kollektivierung »die symbolische Ordnung« gefährden kann, da in eigen-sinnigen Lösungen bereits »die Möglichkeit einer massenhaften, [...] kollektiven Widerständigkeit« verborgen ist (Eggers 2007: 255). Eigensinnige Kollektivierungen müssen die Überlagerung der Erinnerungen und Erfahrungen Marginalisierter berücksichtigen. Dies geschieht dann, wenn kollektive Erinnerung und Erfahrung nicht als »competitive memory – a zero-sum struggle over scarce resources« verstanden werden, sondern als Prozesse von »ongoing negotiation, cross-referencing, and borrowing; as productive and not privative« (Rothberg 2009: 3). Michael Rothberg entwirft aus diesem Grund die Position der »implicated subjects« (Rothberg 2009). Diese verwickelten Subjekte eröffnen eine Möglichkeit, Subjektpositionen zu denken, die sich eindeutigen Standpunkten und Pluralisierungen entziehen und die vielfältigen Verschränkungen, historischen und kollektiven Bezüge berücksichtigen, die ihre Existenz beeinflussen und bedingen. Implicated subjects nehmen im kollektiven Erinnern eine erkenntnisgenerierende Position zwischen »accommodation and marginalization« (Rothberg 2015) ein. Ich übernehme das Konzept der auf vielfältige Weise eingebundenen Subjekte, um auf die Interferenz von Zugehörigkeitsverhältnissen hinzuweisen, die notwendigerweise widersprüchliche und nicht eindeutig als zugehörig oder nicht-zugehörig identifizierbare Subjektpositionen hervorbringen. Auf diese Weise werden Uneindeu-

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tigkeiten und Un_Wahrnehmbarkeiten als Bedingungen und Ursachen Sozialer Navigation mitgedacht. Wie Fanon sagt, »in der Welt, in der ich fortschreite, erschaffe ich mich unaufhörlich. Ich bin solidarisch mit dem Sein, insofern ich es überwinde.« (Fanon 2015: 195). Ein Verständnis dialogischer, eigensinnig verwickelter und resonanter Subjekte bietet einen wichtigen Zugang für die Möglichkeiten und Einschränkungen diese Fortschreitens im Sinne einer Performativität von Zugehörigkeit. Die potentielle Beweglichkeit von Subjekten wird zum Stilmittel und Grundverständnis des Mit-Werdens und den Bedingungen ihres Handelns. Die Bewegung als Fortschreiten in einer historisch gewachsenen Welt wird dann als becoming-new zentral, wenn die materiell-diskursiven Bedingungen ihres Fortbestandes identifiziert, kritisiert und überwunden werden können. Unter der Frage »wer sagt ›ich‹ in uns?« (Kraus 2009), schließe ich dieses Kapitel mit einem spezifischen Aspekt der Subjektwerdung ab: der »Art und Weise« ihres Selbstverständnisses und ihrer »Selbstinterpretation« (Reckwitz 2010: 17), der Identität.

4.2.2 Identitäten Gäbe es in der Wissenschaft ähnliche Trendbarometer wie in der Modeindustrie, so würde Identität sicher den Platz der komfortablen Allwetterjacke oder des soliden Wanderschuhs einnehmen: ein Konzept, welches, anpassungs- und strapazierfähig, seit den 60er Jahren ein zentrales Konstrukt sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung ist, auch wenn dessen modische Beliebtheit deutlichen Schwankungen unterliegt, und es eigentlich niemand mehr so richtig schick, stilvoll und passend findet (vgl. Keupp 2006). »Who needs identity?« fragt Stuart Hall (Hall 1996) in seinem zentralen Aufsatz der Cultural Studies. Er reflektiert darin, unter Bezugnahme auf Butler und Foucault, die Rolle von Identität für Ausgrenzungs- und Essentialisierungspraktiken und fordert eine kritische Reflexion der Performativität von Identitäten (ebd.). Ich werde mich im kommenden Abschnitt ausführlicher auf Halls Identitätsverständnis beziehen. Warum und auf welche Weise wird Identität für Zugehörigkeitsverhältnisse relevant? Identität lässt sich als wandelbares Analyseinstrument getreu dem Motto eines anything goes einsetzen, während an anderer Stelle das Verschwinden des selbigen diskutiert wird. Dies führt den Soziologen Roger Brubaker und den Historiker Frederick Cooper in ihrem Text mit dem programmatischen Titel »Beyond ›identity‹« zu folgender Diagnose: »if identity is everywhere, it is nowhere« (Brubaker und Cooper 2000: 1). Menschen sind keine nebulösen Wolkenformationen, die sich je nach Wetterlage aufbauen, auflösen oder weiterziehen. Sie haben und sind auf spezifische Weise identifizierte und identifizierbare materiell-diskursive Phänomene. Unter Bezugnahme auf Butlers Performativitätstheorie sind diese Phänomene Effekte von Pluralisierungs- und Kollektivierungspraktiken und werden somit als un_

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wahrnehmbare Formen der Singularität relevant (vgl. Butler 2014). Identitäten sind Effekte der Performativität (vgl. Bell 1999: 3). Die Allgegenwärtigkeit von Identität verdeutlicht die Bedeutsamkeit und gleichzeitige Beschränktheit von Identitätskonstruktionen für Zugehörigkeitspraktiken (vgl. Pfaff-Czarnecka 2012: 23ff ). Die Soziologin Floya Anthias verweist auf die Schwierigkeit, Identität und Zugehörigkeit per definitionem zu unterscheiden, wodurch es wichtig wird, die konzeptionellen Zusammenhänge zu untersuchen, in denen beide Begriffe gebraucht werden (vgl. Anthias 2013). Worauf verweist Identität, was wird mit ihr ausgedrückt? Welche Rolle spielen hierbei Körper, Wahrnehmungen und Narrationen? Die Prozesse vermeintlich individueller Identitätsarbeit vollziehen sich nicht im stillen Kämmerlein, sie werden nicht zuletzt politisch und medial verhandelt und instrumentalisiert. »Man denkt an Identität, wenn man nicht sicher ist, wohin man gehört. (…) ›Identität‹ ist ein Name für den gesuchten Fluchtweg aus dieser Unsicherheit.« (Bauman 2007: 134). Aus- und einschließende Identitätspolitiken sind materialisierte Formen des Umgangs mit diesen vermeintlich individualisierten Unsicherheiten. Hall vergleicht »Identität mit einem Bus« (Spies 2009: 12). In dem er feststellt, »man könne nur irgendwo ankommen, indem man in den Bus einsteige«, dabei aber immer klar sein muss, »dass das Ticket, das man hierzu brauche, niemals die ganze Person verkörpere« (ebd.), verdeutlicht er die Relevanz von Identitätspraktiken für unsere Soziale Navigation. Um in einen Bus einsteigen zu können, muss er überhaupt erst einmal existieren, er muss erdacht, gebaut und wahrnehmbar sein. Die im vorherigen Kapitel diskutierten Plurale bedingen spezifische, materiell-diskursive Erscheinungsformen des Busses. Die in dieser Feststellung vollzogene und zu problematisierende Inszenierung von Identität als quasi natürlichem Zustand von Menschen und Kollektiven wird besonders im Kontext gesellschaftlicher Privilegierung und Marginalisierung einzelner Identitätskategorien deutlich. Das »Persönliche ist Politisch« lautete die zentrale Formel feministischer Bewegungen. Sie liefert jedoch nur dann eine kritische Analysehaltung, die Ursachen, Verantwortlichkeiten und Möglichkeiten zur Bekämpfung sozialer Ungerechtigkeiten zu identifizieren, wenn sie ein Zusammendenken zwischen der Frage »wer bin ich?« und »was muss getan werden?« ermöglicht. Die Feststellung, »[a]rticulating one‘s identity changed from being a path to political action to being the political action itself« (Bourne 1999: 136 zit. in Cho 2006: 130), verdeckt das widerständige Potential von selbstermächtigenden Identitätsbehauptungen in hegemonialen Ordnungen. Dies macht eine »postkolonial und queer informierte Kritik« ( Jungwirth 2007) an Identitätsdiskursen in den Sozialwissenschaften nötig. Denn diese Diskurse haben »soziale Differenzen als integrierte Differenzen [...] in Identitätsmodellen und Personenkategorien« eingeordnet und selbige dadurch mit hervorgebracht (ebd.: 305). Über Identitäten zu sprechen bringt Regime ihrer Normalisierung und Kollektivierung nur dann für eine Dekonstruktion zum Vorschein und Erklingen, wenn die Praktiken sozialer Ungleichmachung thematisiert werden, die sie bedingen (ebd.).

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Nicht zuletzt dreht sich diese Feststellung auch um die Frage, wer unter welchen Bedingungen welche Identität für sich beanspruchen und sich aus der Umklammerung eines Kollektivs lösen kann oder wer erst gar nicht als Teil eines identitären Kollektivs wahrgenommen wird (vgl. Wamper et al. 2011). Dies wird beispielsweise in der Analyse von Diskursen über Terrorismus und terroristische Akte wahrnehmbar: der rechte Islamfeind Anders Behring Breivik, der am 22. Juni 2011 bei einem terroristischen Akt 77 Menschen in Oslo ermordete, wird als weißer Einzeltäter isoliert, statt ihn als Teil eines identitären, weißen, rassistischen Kollektivs zu begreifen, wohingegen muslimische Terroristen immer wieder als Vertreter_innen einer religiösen Gruppe identifiziert werden (ebd.). Identitäten ver- und entbinden uns mit Kollektiven. Brubaker und Cooper plädieren aus diesem Grund auf eine Analyse, die eine identitäre, und damit limitierende, Sicht auf Individuen und soziale Gruppen als abgeschlossene und klar begrenzte Einheiten umgeht. Sie schlagen drei alternative Zugänge für eine solche kritische Identitätsforschung vor: 1) »identification and categorization« (Identifikation und Kategorisierung), 2) »self-understanding and social relation« (Selbstverständnis und soziale Beziehungen) und 3) »commonality, connectedness and groupness« (Gemeinsamkeit, Verbundenheit und Gruppierungen) (Brubaker und Cooper 2000: 14ff ). Hall attestiert ebenso einen Mangel an alternativen Konzepten, mit denen konkretisiert werden kann, was mit Identität nur defizitär zu beschreiben ist. Eines der von Brubaker und Cooper vorgeschlagenen Konzepte ist bereits in Halls Analyse relevant. Identifikationen versteht er als notwendige Praktiken, die Komplexität im Umgang mit Identitäten zu präzisieren (Hall 1996: 2). Für Hall sind Identifikationen wesentliche Artikulationsprozesse der Herstellung, Aufrechterhaltung und Veränderung symbolischer und sozialer Grenzziehungen. Sich identifizieren und identifiziert werden beschreibt Vorgänge, die sich in Identitätsbehauptungen und -zuweisungen manifestieren (können). Identifikationen implizieren auch illusorische Vorstellungen des »Identischen«. Niemand gleicht einer Sache oder anderen Person völlig, da jeder Mensch für sich genommen eine Besonderheit ist. Identifikationen umschreiben aus diesem Grund vielmehr Anknüpfungspunkte für Individuen, durch die Identität geformt und Zugehörigkeit praktiziert und gefühlt wird (vgl. Truc 2011: 162). Das Verhältnis von Zugehörigkeiten und Identifikationen ist ein komplexer und grundlegender Aspekt in den Verhältnissen des Mit-Seins, da »sich zu identifizieren« nicht automatisch auch bedeuten muss, zugehörig (gemacht) zu werden. Umgekehrt kann Zugehörigkeit auch ohne Identifikation erfolgen und empfunden werden (vgl. Pfaff-Czarnecka 2012: 23ff ). Mit Bezug auf die Philosophen Gilles Deleuze und Felix Guattari, die Identität als Rhizom (Deleuze und Guattari 1977) imaginieren, also ein verzweigtes Geflecht ohne identifizierbares Zentrum, rücken besonders die Verzweigungen in den Fokus des Erkenntnisinteresses. Obgleich auch eine Theorie des Rhizoms nicht ohne den Bezug auf die einzelnen Knotenpunkte, »nodes«, auskommt (Ka-

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plan 1996: 143), ergibt sich aus der Anwendung des Bildes eine Möglichkeit, vor allem die verschiedenen Verbindungen und Beziehungen zwischen den einzelnen Knotenpunkten zu betrachten. Eine Verbindung wird artikuliert, ohne dass damit zwangsläufig eine Aussage über eine identitäre Essenz oder Substanz geschaffen wird. In Anlehnung daran fordert Hall, unter Bezug auf Foucault, die Etablierung einer »theory of discursive practice« (Foucault 1970: xiv zit. in Hall 1996: 2), um sich insbesondere den Praktiken des Werdens und Geworden-Seins, statt des identitären Seins, in ihren historischen, kulturellen und sprachlichen Kontexten zu zuwenden. »[A]ctually identities are about questions of using the resources of history, language and culture in the process of becoming rather than being. [...] They arise from the narrativization of the self, but the necessarily fictional nature of this process in no way undermines its discursive, material or political effectivity, even if the belongingness, the ›suturing into the story‹ through which identities arise, is, partly constructed in fantasy, or at least within a fantasmatic field.« (Hall 1996: 4)

Zugehörigkeitspraktiken »vernähen« Personen in Geschichte(n) und ermöglichen, so Hall, überhaupt die Entstehung von Identitäten. Gleichzeitig entstehen Zugehörigkeiten in Identifikationsprozessen. Auch er weist also auf den wechselseitigen Einfluss von Identitäten und Zugehörigkeiten hin: die diskursiven, materiellen und politischen Verbundenheiten und Loslösungen an diverse Pluralisierungsformen beeinflussen die Identitätsbildung und umgekehrt. Wir sind in Geschichte_n und Geschichte_n sind in uns »vernäht« – story wird hier mit Verweis auf ihre Zeitlichkeit gleichermaßen zu history (ebd.). Hier schließen sich Theorien an, die sich nicht für den »ontologischen Standort« von Identität, sondern für »Praktiken der interaktiv und situativ eingesetzten Selbstverständigung und Verhandlung von Erfahrungen« (Griese 2010: 156) interessieren. Unter dem Begriff der »Narrativen Identität« (vgl. Ricoeur 1987; Somers 1994; Lucius-Hoene und Deppermann 2004) hat sich ein umfassender Forschungszweig entwickelt, der diese Praktiken insbesondere im Erzählen von und Sprechen über sich analysiert. Die einleitend angeführte Schwierigkeit, von Identität zu sprechen, sie somit in einer Greif barkeit zu fixieren und gleichzeitig ihrem unspezifischen Charakter gerecht zu werden, hat dem Ansatz Narrativer Identität für ihre theoretische Annäherung und empirische Rekonstruierbarkeit verholfen (Lucius-Hoene 2000; Kraus 1999). »Identitäten sind ›identity-in-talk‹, keine Attribute oder Besitzstände von Menschen, etwas, das in ihrer Persönlichkeit eingebaut oder angehängt ist, sondern etwas, das sie in Interaktion mit anderen lokal herstellen und einsetzen, um ihren sozialen Raum zu beanspruchen und sich anderen und sich selbst zu erklären.« (Lucius-Hoene 2010: 155–156)

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»Our stories are the tellers of us« (Cleave 2009: 1) wird so zur Maxime einer relationalen Praxis des Mit-Seins und -Werdens. Wenn wir also von narrativer Identitätsarbeit sprechen, dann muss dies als performativer, relationaler und situativer Prozess präzisiert werden. Die qualitative Dimension narrativer Identitätskonstruktion ermöglicht in ihrer räumlichen und zeitlichen Aktualisierung die Verhandlung darüber, was für ein Mensch ich bin und sein kann und als was für ein Mensch ich von meine_n Trans-Aktionspartner_innen wahrgenommen und behandelt werden möchte (vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2004: 168). Sie ermöglicht auch die Aushandlung darüber, was für ein Mensch ich sein will. Identitätskonstruktionen umfassen also immer eine soziale und eine persönliche Dimension. Wie Individuen fühlen, denken und handeln wollen, wie sie wahrnehmen, ist nicht zwangsweise deckungsgleich zu dem, was an sie herangetragen und von ihnen erwartet wird oder wie sie wahrgenommen werden. Identitäten sind raum-zeitliche Manifestationen unseres Mit-Seins. Statt eines Fluchtweges kann Identität dann als spezifische Ausdrucksform des Mit-Seins verstanden werden, »always producing itself through the combined processes of being and becoming, belonging and longing to belong« (Yuval-Davis 2011: 15). Dem Diskurs um die Fluidität und grundlegende Unabgeschlossenheit von Identitäten wird eine Perspektive Sozialer Navigation in Zugehörigkeitsverhältnissen entgegengesetzt, welche die Möglichkeiten der Verbindungen und Loslösungen beschreibt und auf diese Weise nicht identitäre Knotenpunkte als vermeintlich feststehende Pole, sondern die davon ausgehenden Relationen und Beziehungen fokussiert. Die vorgestellten Subjekt- und Identitätstheorien eint, dass sie ein Individuum als Träger_in von Informationen mit politischer Bedeutsamkeit vers(t)ehen. Für die vorliegende Arbeit richtet sich das Erkenntnisinteresse aus diesem Grund besonders auf eine theoretische Annäherung an die soziale Praxis des Doing Belonging, welches über eine Eingrenzung auf spezifische »natio-ethno-kulturelle« (Mecheril 2003) Subjektpositionen hinausgeht. Im Sinne Laclaus sind hegemoniale Pluralangebote immer unvollständig, da »es subjektive Elemente ›jenseits‹ der kulturellen Subjektpositionen gibt« (Laclau 1990 zit in. Reckwitz 2010: 80). In dieser erlebten Unvollständigkeit wird der Psyche ein »Wunsch nach Komplettierung« (ebd.) attestiert, dem, unter Berücksichtigung der Kontingenz des Sozialen, nie entsprochen werden kann. Denn »[d]ie Festlegungen von Sinn und Identität, vor allem in hegemonialen Projekten, erweisen sich [...] als Ergebnis kontingenter Entscheidungen, die immer auch anders ausfallen könnten.« (Laclau zit in. Reckwitz 2010: 79). Hegemoniale Ordnungen sind, entgegen der Hoffnung, dass sie dauerhafte und stabile Identitätsangebote liefern, »zum Scheitern verurteilt« (ebd.: 81). Da Kontingenz, Emergenz und inhärente Differenz im Mit-Sein zum Ausgangspunkt der Arbeit erklärt wird, interessieren nicht spezifische Subjektpositionen oder Identitätsverweise. Vielmehr stehen Trans-Aktionen als Aushandlungen, Widersprüche und Umgangsformen

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im Mittelpunkt, welche durch einen jeweiligen Eigensinn, ein Selbstverständnis und kollektivierende Formen der Mit-Teilung bedingt werden. »An intersectional and cosmopolitan imaginary is able to recognise diversities on the basis of shifting combinatories of location and positionality within a time and space framework. This involves the recognition of the global and intersectional nature of social bonds and interests and the need to move away from ethnocentric and national based lens […] .« (Anthias 2013: 1)

Kollektive Identität, Kulturelle Identität, Subjektivierungsweisen, Subjektbildungen und Subjektkritik – dies sind ausgewählte Schlagworte, unter denen sich Prozesse der pluralen Singularisierung oder singularen Pluralisierung vollziehen. Es wurde deutlich: ohne Plural ist kein Singular zu denken. Gleiches gilt umgekehrt, auch wenn die Singularität im Neoliberalismus als das Besondere, Einzigartige und Unverwechselbare in Abgrenzung zur Verbundenheit im Pluralen zum Maß der Dinge erklärt wird (vgl. Reckwitz 2017). Wissenschaft greift in der Beschreibung der sozialen Welt immer auf Kategorien zurück, die Distanz schaffen und so das Soziale zwar empirisch be_greifbar und wahrnehmbar erscheinen lassen, gleichzeitig aber die Komplexität des Lebens dafür preisgeben müssen. Es sollte verdeutlicht werden, warum und unter welchen Umständen es notwendig ist, Kollektivierungsprozesse und kollektivierende Kategorien einer kritischen Analyse zu unterziehen. Zugehörigkeit umfasst als komplexes System zur Beschreibung unseres Mit-Seins sowohl problematische Identitätspolitiken und Subjektivierungen, als auch machtvolle Gemeinschaftsordnungen. Und gleichzeitig eröffnet dieses System einen Weg, Positionen intersektional und offen zu denken, Zugehörigkeit auf diese Weise als soziale Praxis zu begreifen und den Blick auf die Bedingungen zu wenden, die zu ihrer Aktivierung, Aufrechterhaltung und Wirksamkeit beitragen. Das Phänomen Zugehörigkeit wird auf diese Weise nicht auf ein identitäres oder subjektspezifisches Bestehen in und von fixierten Gemeinschaften reduziert. Statt jedoch daraus folgend eine zunehmende Individualisierung und das Ende von Gemeinschaft zu beklagen, wird in dieser Arbeit der Tod eines sozio-kulturell endgültigen, souveränen und autonomen Subjektes (vgl. Meißner 2010) zur Prämisse erhoben. Dies geschieht aus der Notwendigkeit, das Singularisierte als Ausdruck von Praktiken der Anbindung und Loslösung zu denken. »Let us envision, then, a process of relational flow in which there is both continuous movement toward constraint, on the one hand, and an openness to the evolution of meaning on the other« (Gergen 2009: 46). Im nun folgenden Kapitel werden die Erkenntnisse und Kritikpunkte der vorherigen Seiten in interferierenden Zugehörigkeitsverhältnissen zusammengedacht. Die biografischen, räumlichen, emotionalen, temporalen und politischen Verhältnisse verdeutlichen die Untauglichkeit binärer und dualistischer Zugehörigkeitsverständnisse. Die Soziale Navigation mit

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den Verhältnissen reflektiert unser Mit-Sein als ambivalentes Werden, in dem wir uns tänzelnd, strauchelnd, grazil oder wild, und manchmal auch gar nicht, mit-einander bewegen können.

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5. Mit Welten verbunden – Von Welten entrückt »There are not two mutually isolated zones called ›world‹ and ›human‹ that need to be bridged by some sort of magical leap.« (Harman 2009: 57)

Die im vorherigen Kapitel erfolgte Reflexion verschiedener Möglichkeiten, Pluralformen zu erfassen, verfolgte insbesondere das Ziel, deren deterministischen Tendenzen aufzuzeigen und sie in ihrer Begrenztheit als brauchbare Konzepte für ein kritisches Zugehörigkeitsverständnis zu hinterfragen. Dadurch wird keineswegs ihre wirklichkeits- und sinnstiftende Bedeutung für die Aushandlung und Wahrnehmung materiell-diskursiver Zugehörigkeitspraktiken obsolet – es wäre absurd anzunehmen, diese machtvollen Pluralformen ließen sich ohne weiteres als Erklärungsmuster für das Verstehen von Welten ignorieren – allerdings vollziehen sich Analysen dieser Kollektivanordnungen und der mit ihnen einhergehenden Subjektivierungs- und Identifizierungspraktiken immer notwendigerweise entlang bestimmter a priori Grenzziehungen und Gegenstandsbestimmungen: will ich Nation erforschen, suche ich nach reifizierenden und identitätsstiftenden Praktiken in einem Kontext, in dem ich Nation verorte; interessiert mich das Phänomen Habitus oder Geschlecht, nutze ich dies als analytische Linse, um Auskunft über deren Relevanz zu erhalten. Jede Beschäftigung mit kollektivierenden Phänomenen setzt eine, obgleich kritische, Akzeptanz ihrer Wirkmächtigkeit notwendigerweise voraus (vgl. Baer 2014). Wie lässt sich dann aber Zugehörigkeit außerhalb einer Verhärtung kollektiver Formen denken? Im Sinne der »Dekonstruktion der Gemeinschaft«, wie sie unter anderem Nancy und andere Vertreter_innen der französischen Denkschule vollziehen (vgl. Rosa et al. 2010: 153ff ), steht die Kritik an einem »So-Sein« von Gemeinschaften und den ihnen zugeschriebenen Identitäten im Mittelpunkt. Aus diesem Verständnis heraus habe ich in meiner Forschungsarbeit aus meinem empirischen und theoretischen Material fünf zentrale Zugehörigkeitsverhältnisse erfasst: die biografischen, räumlichen, emotionalen, temporalen und politischen Verhältnisse. Diese Verhältnisse bezeichnen sowohl intimisierte als auch hegemonialisierte Welt-Beziehungen, die Aushandlungen über Beteiligung, Anerkennung, die Verteilung von Ressourcen und Bedingungen zur Beweglichkeit maßgeblich

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bestimmen. Sie können keineswegs als isolierte Verhältnisse verstanden werden. Um ihrer gegenseitigen Bedingtheit zu entsprechen, verwende ich das aus »der feministischen Technik- und Wissenschaftsforschung stammende Konzept« der Interferenz (vgl. Bath et al. 2013: 7ff ). Dieser Begriff bezeichnet die Überlagerung und gegenseitige Verstärkung oder Verhinderung von Wellensystemen (ebd.). Im Folgenden werde ich ausführen, warum dieser Begriff für die Dekonstruktion und Re:Politisierung von Zugehörigkeit als anthropologischer Grundkategorie fruchtbar ist. Ein Wesensmerkmal dekonstruktivistischer Theorien zur Gemeinschaft ist ihre theoretische Nähe zu relationalen Konzepten, da diese ebenfalls nicht soziale Kategorisierungen, sondern soziale Relationen fokussieren. So stellt der Soziologe François Depélteau, im Sinne des bereits angeführten »anti-kategorialen Imperativs« (Emirbayer und Goodwin 1994: 1414) folgende Herausforderung an eine relationale Forschung heraus: »[T]o get rid of any reifying concept, expression, and form of thinking. From a relational point of view, states, social classes, social movements, political parties, pressure groups, nations, firms, cultures, societies, gender, patriarchy, capitalism, etc. do not act, think, enable, nor constrain since they are neither people nor social things. […] No action is detached from more or less long chains of trans-actions. There is no pure «individual« action (or agency) outside, beside, or priorto social relations; and there is no «social« outside, beside, or priorto real, specific trans-actions.« (Dépelteau 2008: 62–63)

Aus diesem Grund kann Zugehörigkeit nur als relationale Praktik des Mit verstanden werden, die in Trans-Aktionen entsteht, empfunden und verworfen wird und nicht auf einen »natürlichen« oder wesenhaften Zustand verweist. Sie kann durch das Bedürfnis nach Verbundenheit sowohl realisiert als auch herausgefordert sein, indem es als erfüllte oder unerfüllte Trans-Aktion empfunden und verarbeitet wird. Unsere Körper, Gedanken und Gefühle sind durch die in unseren gewohnten Sozial-Universen (vgl. Dépelteau 2008) zur Verfügung stehenden Konzepte, Denkweisen und Welt-Wahrnehmungen geformt, die wiederum in unterschiedlichen Trans-Aktionen ausgedrückt und verwirklicht werden (vgl. Edwards 2005: 171). Uns ist zugänglich, was sich uns zugänglich macht und was wir uns zugänglich machen können. Nicht-Zugehörigkeitspraktiken erfassen sowohl die Notwendigkeit als auch ein Bedürfnis und Interesse an Trans-Aktionen. Im folgenden Kapitel beschreibe ich einen möglichen Weg, diese Praktiken des Mit als ein Doing Belonging in biografischen, räumlichen, emotionalen, temporalen und politischen Verhältnissen zu begreifen, und dabei eine Reifizierung beschriebener Kollektivanordnungen und die mit ihnen verbundenen machtvollen Vereinheitlichungsannahmen zu kritisieren. Die interferierenden Verhältnisse bilden eine historische, kulturelle und politische Infrastruktur des Sozialen, die uns und die wir alltäglich durch unser Manövrieren mitgestalten und auf diese Weise auch mehr oder weniger stabil halten oder in Bewegung versetzen. Im Sinne des Pluriversalen

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(vgl. Querejazu 2016) steht jedoch nicht die Zirkulation um ein vermeintliches Zentrum, sondern dessen Entmachtung im Fokus. Die konsequente, empirische und theoretische, Berücksichtigung der Relationalität von Welten ist ein Weg, diese Dezentrierung zu denken. Ein Vorgang, den Mignolo als »Delinking« (Mignolo 2007) bezeichnet. Die vorliegende Konzeptualisierung versteht Soziale Navigationen als Prozesse des De_Linking. Durch eine wahrnehmungskritische Annäherung werden Relationen nicht als externalisierte soziale Felder, sondern als mit Singularen verbundene Verhältnisse explizit, mit denen wir manövrieren. In diesem Verständnis sind Individuen immer bereits »implicated subjects« (Rothberg 2009) und »fields made flesh« (Desmond 2014: 562). Delinking steht für die Unabgeschlossenheit des Sozialen und impliziert die grundlegende Prämisse einer, in den Koordinaten dieser Arbeit ausgeführten, Onto-epistemo-logie Relationalen Werdens. Ich beginne das folgende Kapitel mit der Erfassung der Zugehörigkeitsverhältnisse. Ausgehend von musiktheoretischen Konzepten widme ich mich im Anschluss daran Sozialen Navigationen als Praktiken des Mit. Ich fasse diese Gedanken im Konzept der Oszillation als möglicher Form des Delinking zusammen.

5.1 Die Interferenz der Zugehörigkeitsverhältnisse »Furthermore, rather than being predefined and cartographically pinpointed, our environments and futures are […] contingent upon our knowledge of the past, our experience of the here and now as well as the emergent or potential possibilities and difficulties within it, entailing that the map is never a static set of coordinates but a dense and multidimensional imaginary, which is constantly in the process of coming into being.« (Vigh 2009: 429)

Unsere Um_Welten und Zukünfte sind durch ein Wissen über die Vergangenheit, die Erfahrungen im Hier-und-Jetzt, sowie das emergente Potential von Möglichkeiten und Herausforderungen bestimmt, die jedes Werden ebenso vorhersagbar wie unplanbar entstehen lassen (vgl. Vigh 2009: 429). Die Onto-epistemo-logie des Mit-Werdens verweist auf Möglichkeitsräume in Trans-Aktionen, in denen Abstand und Nähe, Loslösung und Anbindung, verhandelt werden und die immer bereits durch Machtverhältnisse mitbestimmt sind. Wahrnehmung, Aushandlung und Entwicklung sind Konstitutionsprozesse, die Mit erfahrbar und vollziehbar machen. Die Beschaffenheit der Zugehörigkeitsverhältnisse lässt sich als gleichzeitig intime wie öffentliche Karte beschreiben (vgl. Vigh 2009). Biografien, Räume, Emotionen, Zeiten und Politiken sind grundlegende Dimensionen, die unser MitSein ausmachen. Sie sind wesentliche Bestandteile der Karte. Doch statt sie als

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vorgegebenes statisches Set von Koordinaten zu verstehen, die einen spezifischen physischen Raum abgrenzen oder uns als veräußerlichte, begehbare Umwelt vorliegen, steht ihre dynamische Beschaffenheit im Fokus. Wozu sich der Metapher der Karte bedienen? Karten sind Signifikanten und Signifikaten von Weltbildern, die politische Agenden symbolisieren. Sie dienen der schriftlichen und symbolischen Repräsentation einer Perspektive auf die Welt, wodurch sie verschiedene Geschichten und Imaginationen repräsentieren und auch erschaffen können (vgl. Brotton 2013). Karten waren und sind machtvolle Werkzeuge kolonialer und sozialer Grenzziehung und Machterhaltung, da mit ihnen Welt gemacht, aber auch archiviert wird. Auf ihnen werden Grenzen gezogen, Zuordnungen katalogisiert und Differenzen geschaffen. Sie sind relevant, um sich oder andere in ihnen zu verorten oder ein imaginatives Bild von einer Reise zu bekommen, auf die man sich begeben will. Und gleichzeitig stehen sie für die Ungenauigkeit und Unabgeschlossenheit der hegemonialen Abbildung physischer und mentaler Orte, die ihre Verbindungen, Überlagerungen und Un_Wahrnehmbarkeiten nicht berücksichtigen können. Alles, was auf Karten vermeintlich wahrnehmbar wird, steht ebenso für das, was im Verborgenen bleibt (vgl. Hall 1994: 28ff ). »The map does not reproduce an unconscious closed in upon itself; it constructs the unconscious. […] The map is open and connectable in all of its dimensions; it is detachable, reversible, susceptible to constant modification. It can be torn, reversed, adapted to any kind of mounting, reworked by an individual, group, or social formation.« (Deleuze und Guattari 1987: 33)

Mit den Mitteln moderner digitaler Technologien ließe sich die Überlagerung und Modifikation der Verhältnisse vielleicht als virtuelle Realität abbilden, welche sowohl als begehbarer Ort, als auch eine mentale Vorstellung Raum für das Un_ Wahrnehmbare schafft und sich so der Mehrdimensionalität des Sozialen nähern kann. Da die vorliegende Arbeit jedoch in ihrer Offensichtlichkeit der Linearität von Texten unterworfen ist, ergibt sich eine Schwierigkeit bereits bei der Frage, mit welchem der Verhältnisse ich beginnen werde. Schreibe ich erst über die Bedeutung der Zeit oder des Raumes, widme ich mich erst der Macht von Emotionen oder der Relevanz politischer Verordnungen? Entscheide ich durch eine spezifische Reihenfolge, welche Dimension eine stärkere Gewichtung als andere bekommt? Die Verhältnisse bedingen sich gegenseitig und können nur aufeinander bezogen gedacht werden. Ihrer Trennung liegt der analytische Versuch zugrunde, die Komplexität des Phänomens Zugehörigkeit zu entwirren und auf diese Weise zu dekonstruieren. Analytisch hat sich folgende Reihenfolge als sinnhaft ergeben: Ich beginne mit den biografischen Verhältnissen und wende mich danach den räumlichen Verhältnissen zu. Im Anschluss betrachte ich die emotionalen und temporalen Verhältnisse, bevor ich mit den politischen Verhältnissen abschließe. Auch wenn Karten nach Deleuze und Guattari zwar immer zerstört, gedreht und modifiziert werden können (vgl. Deleuze und Guattari 1987: 33), repräsentie-

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ren sie dennoch erst einmal eine machtvoll stabilisierte, ungleiche soziale Wirklichkeit, in der über die Möglichkeiten der Trans-Aktion auch dadurch entschieden wird, wer überhaupt miteinander in Kontakt treten kann und wem dies verwehrt ist. Der verfolgte dekonstruktivistische Versuch, Zugehörigkeit als Praxis der Navigation in sozialen Verhältnissen zu konzipieren, soll nicht als entpolitisierender Vorgang der Beliebigkeit gelesen werden, welcher Subjektpositionen und ungleiche Positionierungen in Machtverhältnissen ignoriert. Stattdessen soll er Raum dafür schaffen, die mit Zugehörigkeit verbundenen Natürlichkeits- und Normalitätsannahmen zu entmachten und Zugehörigkeit als intimisierte und hegemonialisierte relationale Praxis zu re:politisieren.

5.1.1 Biographische Verhältnisse »Der Mensch ist in seinen Handlungen und in seiner Praxis ebenso wie in seinen Fiktionen im wesentlichen ein Geschichten erzählendes Tier.« (MacIntyre 1997: 288)

In unserer Begegnung erzählst du von dir. Natürlich, ich habe dich ja darum gebeten. Manchmal wirst du still und denkst nach, manchmal fließen die Worte ohne Pause. Wir sitzen uns gegenüber, Körper gewordene Geschichten, oder auch Geschichte gewordene Körper. Du sagst: »Man ist sein ganzes Leben, man ist so viele Sphären und hat so viel gesehen und dann heißt es immer: ›Ja, wer bist du?‹.« Wie soll diese Frage auch zu bewältigen sein, Ella, kann sie doch nur in dem Moment der Antwort, wenn überhaupt, berührt werden. Ein Leben leben und ein Leben erzählen sind zwei Seiten einer Medaille. Sie gehören zusammen und können einander doch nie vollständig erfassen. Mit dem biografischen Verhältnis wird eine wesentliche Gestaltungs- und Beziehungsform unseres Mit-Seins beschrieben, das Verwoben-Sein in Geschichte und Geschichten. Lebensgeschichten liefern einen wichtigen Stoff, aus dem wir Verständnis für uns und andere schöpfen, was die Biografie zu einer wesentlichen Sozialisationsinstanz macht (vgl. Hoerning und Alheit 2000). Sie kann als Archiv von und Geschichte über Nicht_Zugehörigkeitserfahrungen gelesen werden. Als Geschichte gewordene Zeit verbindet uns die Biografie mit der Vergangenheit, prägt unsere Gegenwart und reicht als Erwartungshorizont in die Zukunft (vgl. Mecheril 2003: 218ff ). Sie wird durch Emotionen stabilisiert und irritiert, lässt soziale Räume entstehen und macht sie für uns un_zugänglich. Mit Bezug auf die Bedeutsamkeit der von Bourdieu beschriebenen trans-generational wirksamen Kapitalformen, funktionieren Biografien als wichtige Generatoren von Zugehörigkeitserfahrungen (Bourdieu 2007, 2003). Für meine Annäherung an die Komplexität der biografischen Verhältnisse nutze ich folgende Zugänge: die Trans-Generationale Kollektivierung und das Zusammenspiel von Erinnerung und Erfahrung.

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Trans-Generationale Kollektivierung Wir sprechen über deine Familie, Ella. Du bist als Teil einer »riesigen Patchworkfamilie, die immer zwischen Deutschland und Brasilien hin- und hergewandert ist«, auf die Welt gekommen. »Meine Oma ist als Kind deutscher Migranten dort aufgewachsen und hat einen Konsul aus Deutschland kennengelernt. Das war mein Opa. Und die beiden haben dann dort auf einem wunderschönen riesigen Gebiet Bananenstauden angebaut. Dann haben sie Kinder gekriegt, drei Mädchen und eines war meine Mutter. Und weil dann Krieg war oder so, ich weiß es nicht genau, mussten alle Deutschen heim ins Reich. Und sie sind dann nach Deutschland gefahren. Eigentlich hätten sie auch einfach in Brasilien bleiben können.« Was wäre passiert, wenn sie dort geblieben wären? Deine Mutter hat in Deutschland deinen Vater kennengelernt, der auch aus Brasilien stammte. Die beiden haben, seit du auf der Welt bist, nie zusammengelebt. In Abgrenzung zur physischen Abwesenheit deines Vaters, der für dich nur als Geschichte und Verweis anwesend war, nimmt deine Mutter eine bestimmende Rolle ein: »das war auf jeden Fall immer so ein bisschen präsent, das Leben meiner Mutter. Sie könnte ein krasses Buch über ihr Leben schreiben«. Du bist ein Kapitel dieses Buches, da deine Geschichte aus ihrer entstanden ist. In dem du dich wiederholt als »das Kind von der Geliebten« bezeichnest, prägt ein Empfinden unvollständiger Zugehörigkeit deine weitere biografische Erzählung, auch wenn du dich als ein Teil einer Patchworkfamilie verstehst. Die Bezeichnung »Kind der Geliebten« kann wie ein Stempel gelesen werden, der dir als Markierung auf dein Leben gedrückt wurde und unter dessen Prägung du dich in deiner Familiengeschichte verortest. Bereits vor unserer Geburt sind wir Teil von Geschichten. Wir werden in Familien geboren, die eine spezifische Geschichte haben und in denen spezifische Geschichten kursieren, und wir werden in Kollektive geboren, die durch die Weitergabe von Geschichte_n existieren (vgl. Assmann und Hölscher 1988). Die kollektivierende Macht von Geschichten besteht insbesondere in ihrer transgenerationalen Relevanz und Sinnstiftung für die Gegenwart. Sie konservieren Erfahrungen und entscheiden über aktuelle Ein- und Ausschlüsse. Wir erinnern und beschreiben uns durch biografische Stationen, die wir selbst erlebt haben oder die uns als trans-generationale Narrative zugänglich gemacht werden. Wir stehen durch biografisch-diskursive Geschichte_n in Verbindung mit anderen und werden auf diese Weise vergemeinschaftet und sozialisiert (Hoerning und Alheit 2000; Bourdieu 2003). Biografische Geschichten sind somit keineswegs nur textueller Stoff der diskursiven Weitergabe von Ideen und Erfahrungen, denn sie entstehen aus materiellen Realitäten und Alltagserfahrungen, die in der physischen Welt greifbar sind und verarbeitet werden. Dies wird am Beispiel von Erinnerungsorten, Gedenkstätten, Familienalben oder der Weitergabe von Gegenständen deutlich. Die Art und Weise der Verarbeitung und unsere Empfänglichkeit für die vielfältigen Möglichkeiten kollektiv(ierend)er Erzählungen, unterliegen verschiedenen sozio-historischen und diskursiven Machtverhältnissen, die darüber entscheiden, was wie von wem erzählbar wird. Biografien kollektivieren und schaffen Subjek-

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te, in dem ähnliche Erfahrungen an ähnlichen Orten zu ähnlichen Geschichten führen. Mecheril spricht hierbei von »biographisierender Verbundenheit« (Mecheril 2003: 218ff ). Diese Verbundenheit entsteht durch die Historisierung und Archivierung von Geschichten, die als kulturelles Gedächtnis die Herausbildung nationaler, ethnischer oder kultureller Kollektive bedingen (vgl. Assmann und Hölscher 1988). Die biographisierende Verbundenheit durch trans-generationale Geschichten impliziert immer auch einen Verweis auf die kulturelle Hegemonie bestimmter (nationaler, kultureller, habitueller) Geschichte, welche die Marginalisierung von Erfahrungen zur Folge hat, die als nicht-zur-Norm-gehörig identifiziert und in Folge dem dominanten Narrativ untergeordnet werden (vgl. Attia 2015: 76ff ). Die kulturelle Hegemonie des Erinnerns hängt untrennbar mit dem Vergessen zusammen. Dessen politische Funktion ist es, (vermeintliche) soziale Stabilität erzeugen, in dem »um jeden Preis die Differenz und die Entstehung als solche« (Kofman 2014: 73) vergessen wird. Beide Aspekte, sowohl die Differenz als auch deren Entstehungsprozesse, »sind für die Gesellschaft Risiken des Wandels, der Instabilität, der Unsicherheit.« (ebd.). Das Vergessen beeinflusst die Möglichkeiten unserer Wahrnehmung, da es aus der Fülle an Eindrücken, Erlebnissen und Erzählungen nur einen bestimmten Bestand zugänglich macht und damit unsere Chancen, Neues zu hören und zu denken, eingrenzt. »Vergessen ist«, wie die Philosophin Sarah Kofman im Sinne Nietzsches sagt, »das Produkt einer Perspektivänderung, der die Wertschätzungen der alten Perspektive wie Sand durch die Finger rinnen, weil sie davon nur im Auge behält, was mit dem neuen Blickpunkt vereinbar ist.« (ebd.: 78). Das Konstrukt der Biographie kann also der Herausforderung, die Komplexität erlebter Wirklichkeiten abzubilden und diese trans-generational zu vermitteln, nie gänzlich entsprechen (vgl. Alheit zit. in Göymen-Steck 2011: 265). In einer relationalen Perspektive, welche das Kollektive immer als Produkt von Trans-Aktionen zwischen Akteur_innen betrachtet (vgl. Dépelteau 2008), dienen Biographien als Vergrößerungsglas und Vehikel für die Prozesse der Vergemeinschaftung und das Zugehörig-Machen. Dies bedeutet, dass wir uns immer am kollektiven Rahmen, an einer bestimmten Version der Familien- und Pluralgeschichten orientieren, in die wir biographisch und diskursiv eingebunden sein müssen, um als Subjekte überhaupt wahrnehmbar zu werden (vgl. Rosenthal und Bogner 2009). Eine Beschränkung biographisierter Erfahrungen auf nationale Geschichten verkennt dabei die Tatsache, dass diese immer auch auf etwas verweisen, was nationalen Grenzziehungen nicht standhält und diese übertritt. Wenn du von deiner Familie in der DDR erzählst, Anton, dann fühle ich mich verbunden, ich kenne die Geschichten und Anekdoten. Ich glaube zu wissen, was du meinst, da ich ähnliches erlebt habe. Es scheint, als gäbe es nur eine sehr eingeschränkte Version der Erfahrungen, die uns zur Verfügung steht. Ich habe einen Bezug zu deiner Erfahrung, da sie sich im gleichen Ort und

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zur gleichen Zeit abgespielt hat. Und dennoch unterscheidet sie sich. Meine Familie war nie oppositionell, religiös oder politisch engagiert und ich bin auch nicht in einer Großstadt aufgewachsen. Diese Erfahrung trennt uns. Wünsche ich mir, dass die vermeintliche Gemeinsamkeit unseres Bezugsrahmens auch zu mehr tatsächlich erfahrener Überstimmung führt? Das ich sagen kann, meine Geschichte ist auch deine Geschichte und umgekehrt? Wieviel Platz bleibt in unserem gemeinsamen Erleben der Auswirkungen des politischen Erfahrungsraumes für die Unterschiede, die deinen familiären Bezug zur DDR einen anderen sein lassen, als meinen? Im biographischen Erzählen beziehen sich Akteur_innen aufeinander, indem sie eigene Erfahrungen im Gegenüber erkennen, diese weitergeben oder sich davon abgrenzen. Die Biographie als Prozess »sinnstruktureller Handlungsgenerierung« (Silkenbeumer und Wernet 2010: 173) lässt sich hier zwangsläufig mit Bourdieus Habitusbegriff zusammendenken. Mit Bourdieu gesprochen ist die Klassifizierung der sozialen Welt zwar immer Teil unserer Erfahrungen und Beobachtungen, jedoch nicht vor-reflexiv. Als »diskursive Subjektfiguren« (Geimer 2013) sind wir zwischen habituell-impliziten Wissensstrukturen, die auch biografisch in uns eingeschrieben sind und reflexiven Wissensstrukturen, denen wir argumentativ und reflexiv begegnen können, verankert. In und durch diese historisch gewachsenen Diskurse werden wir als Akteur_innen platziert. In Trans-Aktionen werden diese Positionierungen ihrerseits aktualisiert, bestätigt oder aber auch verworfen und bestimmen auf diese Weise im Wesentlichen, wie ich über mich spreche(n kann), was ich erzähle(n kann), welche Erfahrungen ich als relevant bewerte(n kann) und welchen ich keine Bedeutung beimesse(n kann). Damit bestimmen sie auch, wie offen wir für unsere gegenseitigen Narrative sind und ob wir die Weitergabe trans-generationaler Geschichten als Bestärkung oder Distanzierung empfinden (vgl. Schapp 1981). Als Reaktion auf meine Frage nach deinen Erinnerungen an dein Aufwachsen Clara, beginnst du unser Gespräch mit dem Verweis auf die Erfahrungen deiner Familie und den Stellenwert, den diese für dein Selbstverständnis hat. »Also ich glaube diese Ost-West-Sache ist bei mir das Thema. Das ich halt im Osten der Stadt geboren bin und meine Familie in Ostdeutschland war und wir neunzehnhundertsiebenundachtzig ausgereist sind. Meine Eltern wollten in den Westen der Stadt. Das war eine große Aufregung und so, das habe ich halt mitbekommen. Ich war damals vier und ich habe die Gefühle von meinen Eltern schon mitbekommen. Die waren total aufgeregt und das war für die voll krass, denn sie wollten einfach aus der DDR raus. Mein Vater hat jahrelang unter diesem System gelitten. Sie haben einen Ausreiseantrag gestellt und dann sind wir raus.« Wie auch Antons Familie hat deine das Leben in der DDR als problematisch erlebt. Das Hören der Geschichten lässt mich an die Erfahrungen meiner Familie denken. Dieser Vorgang wird für mich erst in der Reflexion wahrnehmbar, in dem ich auf eure Geschichten in einer bestimmten Weise re-agiere: ich meine zu wissen, wovon ihr sprecht, Anton, Clara und Ann, da wir in unseren ersten Lebensjahren im gleichen politischen System sozialisiert wurden, auch wenn unsere jeweiligen familiären Erfahrungsbezüge sehr verschieden sind. Ich nehme eure Erzählungen unhinterfragt an, da mir der Kontext, auf den ihr euch bezieht, vertraut erscheint.

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Das implizite Wissen, was wir vermeintlich teilen, hindert mich am Nachfragen nach den Beweggründen für den Ausreiseantrag. Da ich mich mit der familien-biografischen Erfahrung identifiziere, kann ich mir eine Vorstellung der Gründe machen. Doch das, was wir übereinander oder durch Geschichte wissen, korrespondiert nicht notwendigerweise mit dem, was wir oder unsere Familien auch tatsächlich erfahren haben. Trans-generationale Geschichten grenzen Wissen und Erfahrung voneinander ab oder verschmelzen beides miteinander. Und prägen so unser Selbstund Kollektivverständnis. Materiell-körperliche Erfahrungen setzen sich in Geschichten ab und werden durch ihre Archivierung in Geschichten kollektiviert. Sozialität wird in Diskursen thematisiert, hörbar gemacht und verhandelbar. In ihnen dringen Relationen hervor, während Relationen ebenso Diskurse hervorbringen und somit konstitutiv für das Nicht_Sag- und Un_Hörbare in Gesellschaften sind (vgl. Spies 2009: 10ff ). Können die Geschichten anderer überhaupt zu unseren Erfahrungen werden? Die Relevanz von Traditionen und das Fetischisieren bestimmter diskursiver Perspektiven auf Vergangenes implizieren sowohl für Subjekte einer kollektivierten Mehrheit als auch für marginalisierte Subjekte eine Tendenz der Fixierung auf Erfahrungen und spezifische trans-generationale Geschichten, der nur schwer zu entkommen ist. Was mache ich, wenn ich zwar ein Teil des Kollektivs bin, aber bestimmte Geschichten nicht teilen kann? Die Fokussierung auf Traditionen hierarchisiert Subjekte: wer nicht zu einem bestimmten Traditionsnarrativ zugeordnet wird, der bleibt in der Gegenwart aus der Geschichte ausgeschlossen oder wird nur über die Konstruktion des Außenseiters einbezogen (vgl. Wemyss 2009; Messerschmidt 2009; El-Tayeb 2011). Du beginnst deine Geschichte, Daniel, mit der Geschichte deiner Mutter. »Growing up…My mother was born in London but raised in Guyana. That’s in South America. When she came over here when she was like 13, she was still adjusting to the life here. She had me quite young, at the age of about 19/20, she was still learning about being British and coming from London. But the good thing about it was, that lot of Caribbean people were here at the time. Being from Guyana she is classed as Caribbean, they have the same sort of politics as the rest of the Caribbean. So yeah, that´s mainly about me«. Du sagst »that’s mainly about me« nachdem du von der Migrationserfahrung deiner Mutter erzählt hast. Durch den Bezug zur Geschichte deiner Mutter direkt zu Beginn unseres Gesprächs positionierst du dich und machst damit einen Ort transparent, an dem deine Reise begann. Ihre Biografie wird in Teilen zu deiner. Im weiteren Verlauf unseres Gesprächs spielt deine Familie eine wesentliche Rolle. Immer wieder kommst du auf die Biografie deiner Mutter zu sprechen und deren Bedeutung für dein Aufwachsen. In dieser kurzen Passage wird deutlich, wie der Bezug zur Geschichte deiner Mutter zu deiner Erzählung wird, um dein Geworden-Sein, auch als Teil eines Kollektivs, zu erklären. Die Gründe dafür können vielfältig sein, doch eine kritische Bezugnahme auf deine Unmöglichkeit zur Distanzierung muss unausweichlich mitgedacht werden. Hier wird die Macht und stete Aktualisierung kollektiver Zuordnungen in alltäglichen Trans-Aktionen relevant: die Migrationsbiografie deiner Familie ist das unsichtbare Skript, was deine Wahrnehmbarkeit als Schwarzen Körper im weißen nationalen

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Geschichtsnarrativ verbesondert und dir damit eine Position zuweist, in der du die Beweggründe deines »Hier-Seins« erklären musst. Im Ordnungsregime des Rassismus wird Geschichtlichkeit unterschiedlich gefordert. Wer kann seine Biografie verlassen bzw., um mit Glissants Forderung nach der Undurchsichtigkeit (opacity) zu sprechen: wer kann von einem Recht auf Undurchsichtigkeit Gebrauch machen und wer ist immer wieder mit der eigenen trans-generationalen Geschichte konfrontiert? In sozial ungleichen Verhältnissen sind wir uns nicht als soziokulturell verortbare Singulare selbst überlassen, sondern wir verhalten uns zu diesen Kontexten. Es soll an dieser Stelle erneut auf die Soziologin Oyèrónkẹ ́ Oyěwùmí verwiesen werden, die hier der Macht des Blickes eine wesentliche Rolle für soziale Differenzierungen zuschreibt (vgl. Oyěwùmí 2005b). Angeblickt- und Angehört-Werden sind eng miteinander verwobene soziale Praktiken, die Subjekte formen, indem sie sie auf unterschiedliche Weise mit Geschichten verbinden oder von Geschichten lösen. Sie produzieren auch dadurch bestimmte (nicht-zugehörige) Geschichten, wenn sie die im Verborgenen lassen, deren Legitimation bereits vorausgesetzt und nicht für erklärungsbedürftig befunden wird. Wie würden sich unsere Geschichten verändern (können), wenn wir uns losgelöst von der sozialen Kontrolle des (internalisierten) Blickes und der Erwartungen anderer an uns erzählen könnten? In einer kurzen Interaktionssequenz mit dir, Paul, wird mein Drängen auf eine bestimmte Erzählung, mein Bedürfnis und die Notwendigkeit des »Wissen-Wollens« im Forschungsprozess, deutlich. Auf mein Nachfragen »You didn‘t mention if you were born in this city or since when or how long you or your family lives here?« antwortest du knapp »I was born here.« Etwas in mir gibt sich damit nicht zufrieden, sodass ich weiterfrage »And your family? When did they move here or were they born here as well?« Wieder antwortest du knapp »I have no idea. I think they were born here.« Auch das führt mich nicht an das Ende meines Nachfragens: »Your mum?« »Yeah, my mum was born here.« »Your Grandparents?« »I don‘t know if my grandmum was born here. I‘ve never seen my grandad. He passed before I could get to know him, so I don‘t know.« In dieser Passage wird meine Verwobenheit in Un_Wahrnehmbarkeitsregime und ihre Bedeutung für das Hör- und Sichtbarmachen-Wollen Trans-Generationaler Geschichten deutlich. Da ich ein Verständnis für dich bekommen und deine Geschichte kennenlernen möchte, frage ich immer weiter nach und vollziehe damit einen machtvollen Akt des herausfinden-Wollens, der dich nicht als Singular sondern als Teil generationaler Verstrickungen begreift und diese Verstrickungen extrahieren möchte. In der Entwahrnehmung vielfältig-möglicher Geschichten etabliert sich ein soziohistorisches Narrativ als Norm. Diese narrativen Normen stellen Selbstverständlichkeiten her, die sich machtvoll in Trans-Aktionen wiederspiegeln, indem sie Akteur_innen auf eine bestimmte Geschichte zurückwerfen: »Du musst das doch erlebt haben, wie war das für dich?«. Ein spezifisches Hören-Wollen verunmöglicht »andere« Erzählungen oder auch Schweigen. Menschen erwarten voneinander bestimmte Geschichten und sind nahezu enttäuscht oder überrascht,

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wenn diese nicht geliefert werden können oder nicht geteilt werden wollen. Die Autorin Shumona Sinha beschreibt dies in ihrem semi-fiktionalen Buch »Erschlagt die Armen« über ihre Erfahrungen als Dolmetscherin einer Ausländerbehörde in Frankreich (Sinha 2015). Gerade das Asylsystem produziert als machtvolles Organ im staatlichen Ordnungsregime Zugehörigkeiten und positioniert und kollektiviert Menschen nach ihren Erfahrungen und dem (glaubhaften) Erzählen einer bestimmten, erwünschten, Geschichte. Sich als trans-generationaler Teil eines Kollektivs begreifen zu müssen und als solcher anerkannt zu werden, heißt auch, sich im Zweifel Erfahrungen aneignen zu müssen, die niemand in der Familie oder der Mensch selbst vielleicht nie gemacht hat. Dies verdeutlicht die Perfidität kollektiv(ierend)er, trans-generationaler Erzählungen, da sie auch dann machtvoll Subjekte hervorbringen, ohne dass diese einen Bezug zu einer unmittelbar persönlich erlebten Erfahrung widerspiegeln müssen.

Erinnerung und Erfahrung Die trans-generationale Weitergabe von Geschichten beeinflusst ebenso maßgeblich unsere Einbindung in biografische Verhältnisse, wie das Zusammenspiel unserer gemachten Erfahrungen und Erinnerungen. Autobiographische Geschichten ermöglichen einen umfassenden Einblick in vielfältige Aspekte: sowohl die komplexe Anbindung an Kollektive als auch die Verarbeitung subjektiver Erfahrungen, Lebensverläufe und den Umgang mit historischen »Wandlungs- und Transformationsprozessen« (Schulze 2006: 51ff ). In der zeit- und kontextabhängigen »biografischen Navigation« (Pfaff-Czarnecka 2012: 57) werden soziale Distinktionen, individuelle Orientierungsrahmen, Kategorien der Zuordnung und Abgrenzung vollzogen und verworfen (ebd.). Dies geschieht auch durch die Rückversicherung auf Vergangenes, auf Traditionen und als stabil erachtete Erfahrungen. Im Erinnern wählen wir aus, was uns wichtig und in unserer biografischen Narration stimmig erscheint, aber auch, was uns im jeweiligen Moment des Sprechens überhaupt zugänglich ist. »[E]xperience is produced in relation to recognizing ourselves in public discourse. Knowing is mediated through discourse whose effectivity lies outside the realm of immediate experience rather than being a direct product, therefore, of experience.« (Anthias 2002: 496–497). Bezogen auf Bourdieu spricht Anthias hier die Bedeutsamkeit des Benennens an – erst dadurch, das uns im Diskurs ein sozialer Ort zugesprochen wird, ist es möglich, den eigenen Erfahrungen eine Stimme und Bedeutung zu geben. Als Erfahrung wird das Wissen bezeichnet, was uns aus eigenem Erleben zugänglich ist. Der in Kolumbien geborene Schriftsteller Gabriel García Márquez betitelte seine Autobiografie mit der Aufforderung und Aussage, »Leben, um davon zu erzählen« (García Márquez 2004). Für Schriftsteller_innen ist die erzählende Verarbeitung des Lebens unausweichliche Existenzgrundlage. Doch auch für nicht

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Schriftsteller_innen ist die narrative Mit-Teilung von Eindrücken, Erfahrungen und Erinnerungen eine Grundlage der Vergemeinschaftung (vgl. Schapp 2012). In den Erzählungen deiner Mutter, Ella, wird dein Vater für dich physisch anwesend. Sie »hat eben immer so ein Bild aufrecht erhalten: der wunderbare Papa.« Du sagst, wenn er sich ohne Kontakt zu euch an einem anderen Ort befunden hat, war er »wie so’ne Art Gott, der so mit uns gelebt hat«. Deiner Mutter kommt hier die Rolle einer Mit-Autorin deines Lebens zu, denn in ihren Erzählungen über deinen Vater wird er für dich lebendig und anwesend. Auch wenn er in einem anderen Land und nicht präsent ist, ist er für dich »wunderbar«. Wir leben, um davon zu erzählen. Genauso erzählen wir aber auch, um davon zu leben. Erfahrungen werden zu Erinnerungen, aber auch die Geschichten anderer können zu unseren Erinnerungen werden. Mir fällt dazu eine andere Situation ein, in der du, Kie, von den Erfahrungen deiner Geschwister sprichst, die sie in dein Leben getragen haben. »I had older siblings as well. I am the youngest and I got two older brothers and an older sister. So I kind of saw a lot of stuff before it was even my time to go out an experience it«. Bevor es »deine Zeit« war, wurden die Erlebnisse anderer zu deinen und du hast die physische Welt außerhalb deiner bisherigen Erfahrungen bereits durch die Erzählungen deiner Geschwister auf eine bestimmte Weise kennengelernt und dir einverleibt. Ohne, dass du die Welt dort draußen durch eigenes Erleben kennengelernt hast, wurdest du bereits mit ihr vertraut gemacht. Geschichten beleben uns, da sie Abwesende_s anwesend sein lassen oder die Vergangenheit in die Gegenwart bringen. Wir lernen Welten durch die Geschichten anderer kennen, da sie unsere Welt-Wahrnehmungen prägen. Die Erfahrungen anderer werden so zu unseren Erinnerungen. Wie ist also das Verhältnis zwischen Erinnern und Erfahrung zu erfassen? Die Soziologin und Biographieforscherin Gabriele Rosenthal sieht kein dualistisches, sondern vielmehr ein dialektisches Verhältnis zwischen dem erlebten und erzählten Leben, da »die Gegenwart [...] den Rückblick auf die Vergangenheit, den Erinnerungsprozess, die vorstellig werdenden Erinnerungen und deren Ausdrucksformen in der Kommunikation« bestimmt. Gleichzeitig »steht die sich in der Gegenwart vollziehende Konstruktion der Vergangenheit in einer Abhängigkeit von der erlebten Vergangenheit; sie ist nicht unabhängig vom bisher Erlebten.« (Rosenthal 2010: 197). Erleben und Erzählen sind eng miteinander verwoben. Wir erinnern insbesondere auch die Themen, die für uns in der Gegenwart und im Verlauf unseres Lebens eine Bedeutung bekommen haben. Auch wenn wir aus dem vollen Repertoire an gelebtem Leben oder den Erfahrungen uns nahestehender Menschen schöpfen, ist uns das Erleben nie in seiner Vollständigkeit narrativ zugänglich und wir können immer nur ausgewählte Aspekte erinnern und erzählen. Der Blick auf das Vergangene konstituiert sich somit aus den Relevanzsetzungen in der Gegenwart und der antizipierten Zukunft, ebenso wie die Gegenwart aus dem Vergangenen und dem Zukünftigen schöpft (vgl. Rosenthal 2010). Zu Geschichte_n gewordene Erfahrungen werden zu machtvollen Akteur_innen unseres Selbstverständnisses, in dem wir sie erinnern und retrospektiv

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mit Be_Deutungen beladen. Dies verdeutlicht das Werden als grundlegenden Bestandteil biografischer und historischer Erzählungen. Im Erinnern und Mit-Teilen biografischer Erfahrungen und kollektiv(ierend)er Geschichte_n offenbaren sich wesentliche Prozesse des Mit-Seins. Geschichten werden gehört und als bedeutsam anerkannt oder auch missachtet (Eggers 2007).11 Diese haben einen wesentlichen Einfluss auf das Erzählen zukünftiger Geschichten, die notwendigerweise mit neuen Erfahrungen einhergehen müssen, statt historisch verankerte Narrative, die an geografischen oder identitären Fixierungen festhalten, zu wiederholen. Tatsächliche materielle Lebensbedingungen und die Praktiken, die bestimmte Erfahrungen für Menschen aufgrund ihrer Lebensbedingungen un_zugänglich machen, werden durch eine diskursive Universalisierung und Vereinheitlichung von Erinnerungen und Erfahrungen unwahrnehmbar.

5.1.2 Räumliche Verhältnisse 

»Space Is The Place.« (Sun Ra 1973)

In Räumen zu existieren kann viele Formen annehmen: es kann zu Hause sein bedeuten oder uns fehl am Platz sein lassen, es kann sich nach einem Dazwischen anfühlen, nach Beschränkung oder Unendlichkeit, wir können eingeladen oder ausgeladen sein, Räume durchqueren, zur Ruhe kommen oder rastlos immer weiterziehen, weil wir an ihnen nicht willkommen sind oder uns nicht wohlfühlen (können) – »[b]ecause I‘m lost where I belong.« (Triana 2010). Manchmal lassen uns Räume gleichzeitig drinnen und draußen sein, manchmal ist weder das eine noch das andere für uns vorgesehen. Ich kann aus ihnen fortgehen oder in ihnen ankommen. Sie sind flüchtige Imaginationen und lassen in ihrer Manifestation Zeit und Geschichten sichtbar werden. Menschliche Existenz manifestiert sich in all ihrem Facettenreichtum in Räumen (vgl. Bourdieu 1984, 1998). Die Geographin und Sozialwissenschaftlerin Doreen Massey beschreibt Raum als »Place [that, K.M.] can be imagined as articulated moments in networks of social relations and understandings.« (Massey 2005b: 154). Räume und Orte sind nicht einfach in der Welt vorhanden, sondern materialisierter Ausdruck und Rahmen menschlicher Aktivitäten. Ihre Mächtigkeit besteht in der Unausweichbarkeit ihrer physischen und imaginären Präsenz und Wirkung, denn in Räumen vergegenwärtigen wir uns. Sie bilden die Umgebungen 11 Eggers verweist auch auf den Diskurs über die »symbolisch immer wieder rekonstruierte Grenze zwischen theoretischem Wissen und Erfahrungswissen« und »dem hegemonialen Nutzen« dieser Grenzziehung in Kontexten der Wissensproduktion. Die Abwertung von Erfahrungswissen stellt auch eine Dominanzperspektive dar, die Nicht_Zugehörigkeiten hervorbringen und organisieren (vgl. Eggers 2007: 246).

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für Trans-Aktionen (ebd.: 17ff). Raumbezogene Zugehörigkeitsverhältnisse rücken besonders die dynamischen Kräften der Limitierung und Expansion des relationalen Werdens in den Fokus. Dies berührt koloniale Praktiken der Landnahme und Besitzergreifung von Räumen (vgl. Lossau 2002) ebenso wie die normativen Haltungen, die mit Ursprungsmythen und Verortungspraktiken einhergehen. Soziale Navigation findet als tatsächliche physische Bewegung des Wanderns, Umziehens, Fliehens oder Verreisens in räumlichen Verhältnissen statt. In diesen Verhältnissen laufen Beweglichkeits-Annahmen des »mobility« (Sheller und Urry 2006) und »spatial turn« (Döring und Thielmann 2008) und Vorstellungen zur Sesshaftigkeit und Verortung zusammen (vgl. Pfaff-Czarnecka 2012). Konkret begehbare Räume sind ebenso relevante Umgebungen für und von Zugehörigkeitspraktiken, wie all die imaginären Räume, die unser Mit-Sein beeinflussen. Sie existieren als Folge der sozialen Konstruktionsleistung, die durch Akteur_innen und deren Relationen gestaltet wird. Aus diesem Grund sind Räume keineswegs ausschließlich lokalisierbare Punkte, sondern sie werden durch »Spacing« und »Synthese« gebildet (Löw 2012: 198). Diese Begriffe beschreiben die relationale Anordnung sozialer Güter und Lebewesen an verschiedenen Orten, durch die Räume gebildet werden. Ich benutze die Begriffe Raum und Ort mit Bezug zur Unterscheidung, die Martina Löw in ihrem Band »Raumsoziologie« (2012) und Doreen Massey in ihren Ausführungen »For space« (Massey 2005a) vornehmen. Danach basieren »alle Raumkonstruktionen mittelbar und unmittelbar auf Lokalisierungen« (Löw 2012: 200), die von Massey als eine Sammlung von Geschichten beschreiben werden. Die materiell-diskursive Konstitution von Räumen bringt Orte hervor, die für Menschen unterschiedliche Bedeutung haben und die Menschen wiederum durch ähnliche Bedeutungen kollektivieren. Massey erfasst space (Raum) als eine »simultaneity of stories-so-far« und places (Orte) sind die Sammlungen dieser Geschichten, »articulations within the wider power-geometries of space.« (Massey 2005a: 130). Die Charakterisierung von Räumen und Orten erfolgt durch die Überlagerungen dieser Artikulationen und den Umgang mit ihnen. »And, too, of the non-meetings-up, the disconnections and the relations not established, the exclusions. All this contributes to the specificity of place.« (ebd.). Orte werden durch Räume hervorgebracht (vgl. Löw 2012: 203). Menschen können an den gleichen Orten, im gleichen Haus, dem gleichen Dorf oder dem gleichen Land leben, und dennoch gänzlich verschiedene Vorstellungen von diesen Orten und sehr diverse Zugehörigkeitswahrnehmungen haben. Unsere Verund Ent-bindungen zu unseren Lebensräumen, Erinnerungs- und Sehnsuchtsorten sind geprägt durch unsere »Wahrnehmungsschemata« (Löw 2012: 197). Orte können, je nach Betrachtung und Beziehung zu ihnen, flüchtig, flexibel, fixiert, peripher oder privilegiert sei (ebd.: 203). In der englischsprachigen Literatur wird Zugehörigkeit häufig mit »place-belongingness« (Antonsich 2010: 645), einer intimisierten und persönlichen Verbindung zu einem Ort, zusammengedacht. In den letzten Jahren hat sich die Humangeographie aus diesem Grund verstärkt mit Fragen des »place-attachment«

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beschäftigt, eben dieser Verbundenheit zu Orten und deren Bedeutung für Zugehörigkeitspraktiken und -empfindungen (vgl. Antonsich 2010; Lossau 2009). In der deutschsprachigen Forschung findet die Berücksichtigung des Raumes als zentrale Dimension der Weltaneignung und ihrer Navigation erst in den letzten Jahren verstärkt Einzug in sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen (vgl. Löw 2012: 10ff ). Eine verstärkte Bezugnahme zur Materialisierung von Räumen kann auch der materiell-diskursiven Wissenschaft, wie sie Donna Haraway und Karen Barad konzipieren, zugeschrieben werden (vgl. Haraway 2016; Barad 2012). In einer von Wissenschaftler_innen der finnischen Jyväskylä Universität durchgeführten Metastudie, in der wissenschaftliche Arbeiten zum Thema Zugehörigkeit (belonging) und deren zentrale Themenstränge untersucht wurden, stellte sich heraus, dass Zugehörigkeit und Raum vor allem im Kontext von »migration, mobility, and displacement of people and trans-local and national boundary-crossing processes« vorkommen (Lähdesmäki et al. 2016: 236–237). Außerdem beziehen sich die meisten der untersuchten Artikel, die Räumlichkeit (»spatiality«) und Zugehörigkeit verbinden, auf »ethnic, racial, or national minorities and/or otherwise marginalized groups« (ebd.). Dies lässt sich auf deutschsprachige Arbeiten über Zugehörigkeit_en übertragen, wobei jedoch die Bedeutung von Räumen und Orten eher marginal oder nur bezogen auf konkrete Sozialräume und spezifische Altersphasen, wie z.B. Jugend in Schule, Familie oder Migrationsprozesse, thematisiert wird (Hummrich 2011; Huxel 2014; Pfaff-Czarnecka 2012; Mecheril 2003). Raumbezogenen Untersuchungen über Zugehörigkeitspraktiken liegt also mehrheitlich die Annahme zugrunde, dass Raum insbesondere für diejenigen eine besondere Bedeutung zukommt, die einen unter bestimmten Prämissen vollzogenen Wanderungsprozess durchlebt haben und eben nicht als schon immer Dagewesene oder Dazugehörige identifiziert werden. Raum wird auf diese Weise als spezifischer Raum imaginiert und verfestigt. Raumbezogene Praktiken der Verortung und Grenzziehung kreieren Räume sind seit jeher mit Wanderungsprozessen und Veränderungen verbunden (Guldin 2014) und können für unterschiedliche Menschen gleichermaßen ir_relevant sein. Es gibt kein Leben außerhalb von Räumen und Orten und nicht zuletzt veranlasst auch ein spezifisches wissenschaftliches und gesellschaftliches Interesse Menschen dazu, sich bestimmte Verortungen anzueignen. Davon ausgehend, das eine auf Dauer angelegte und somit fixierte Vorstellung subjektiver Verortung unmöglich ist, muss das räumliche Verhältnis über eine materielle Vorstellung des Raumes, der uns physisch umgibt, hinausgehen. Wie bereits im Abschnitt Un_Wahrnehmbarkeiten verdeutlicht wurde, artikuliert Wahrnehmung Raum, indem sie »Beziehungen der Abhebung schafft, Zusammenhänge herstellt, Distanzen anordnet, Aufteilungen des Sichtbaren und des Unsichtbaren vornimmt« (Nowotny und Raunig 2016: 132). Räume vermitteln durch die Macht des Sichtbaren eine Vorstellung der binären Trennbarkeit von Welten. Drinnen und Draußen oder Einheimisch und Zugezogen sind räumliche Binaritätsvorstellungen, die Nicht_Zugehörigkeitsannahmen be-

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dingen. Diese Kritik wird aus postkolonialen Perspektiven, unter anderem über den Ansatz der Hybridität (Ha 2004, 2005) und des »dritten Raumes« artikuliert (Hannerz 1997; Bhabha 2004). Eine dekoloniale Perspektive kann sich jedoch nicht nur auf das Sichtbare und Unsichtbare der Raumproduktion beschränken, sondern muss auch die Beteiligung des Un_Hörbaren für die Wahrnehmung und Gestaltung von Räumen einbeziehen. Geräusche und Musik verbinden uns mit Orten, in dem wir beispielsweise bestimmte Lieder mit ihnen assoziieren oder sie distanzieren uns durch Klänge und Rhythmen, die uns missfallen. Wir hören, wo wir sind. Es ist damit jedoch nicht erfasst, dass wir keineswegs das Gleiche hören. »Soundscapes« (Schafer 1994), die akustische Umwelt, (ent-)bettet uns, ebenso wie ein visuelles Erleben unsere Raumerfahrung der Verbundenheit oder Distanzierung prägt. Das Ohr ist, wie die Stimme, ein raumwahrnehmendes und -schaffendes Organ, denn »as sound always-already goes beyond and outside itself, it provides a model for subtractive ontologies that resists both any notion of particular identity and criterion of communal belonging.« (Waltham-Smith 2016). Auch wenn wir im Raum les- und sichtbar werden, so lässt sich die Gesamtheit unserer möglichen singularisierten und pluralisierten Existenz nie in einem Raum zusammenbringen und erfassen. Sound ist immer bereits Verbindung und damit ein Symbol des Mit, denn er lässt sich weder auf eine partikulare Identitätsvorstellung, noch auf eine konkrete gemeinschaftliche Zugehörigkeit reduzieren. Unser Mit-Sein in Räumlichen Verhältnissen steht somit für die gleichzeitige Unmöglichkeit und Notwendigkeit, etwas situativ-flüchtiges wie Identität oder bedingt-greif bares wie Kollektivität an einen spezifischen Ort zu binden oder an einem konkreten Ort erfahrbar zu machen (vgl. Probyn 1996). Raumerfahrungen stehen für die Simultanität und Gleichzeitigkeit des Sozialen. Durch die Artikulation von Geschichten und Erinnerungen wird diese Gleichzeitigkeit wahrnehmbar. Sie vereinen hegemoniale Narrative und intimisierte Erfahrungen. Unter der Frage, welche Perspektiven auf Raum und Räume lassen sich also zugehörigkeitstheoretisch explizieren? beziehe ich mich auf folgende Raumverständnisse: Erfahrungsräume und Erinnerungsorte; Lebensräume sowie Ortswechsel und Sehnsuchtsorte.

Erfahrungsräume und Erinnerungsorte Wird Zugehörigkeit in einem raumbezogenen Sinn artikuliert, dann geschieht dies häufig unter Zugriff auf emotional konnotierte Begriffe wie Heimat, ein Zuhause oder als Verweis auf den Ort, an den eine_r vermeintlich gehört (vgl. hooks 2009). In einem Moment sprichst du von Heimat, Anton, und ich frage dich, was der Begriff für dich bedeutet. Deine Antwort wirkt als Ausdruck eines gedanklichen Stroms, der dich im Sprechen mitnimmt und auf dem sich langsam die Bedeutung deiner Gedanken entfaltet. »Das meine ich

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mit Heimat, dass mich ein Ort zu einer Zeitreise veranlasst. Bei manchen Orten fungiert das stärker und wo ich auch denke ›Na das ist doch irgendwie meins‹. Das lässt mich überall wohnen, dass ich dann bedächtig bin und dann taucht dieses Bild von diesem Ding auf: das gehört irgendwie mir. Es ist natürlich nicht meins, aber das Gefühl ist da.« In deiner Ausführung wird Heimat nicht als ein konkreter Ort greifbar, du beschreibst ihn über ein Gefühl, was dir verdeutlicht, dass dies ein Ort der Verbundenheit ist. Deine Antwort verstehe ich als Ausdruck der Bedeutsamkeit einer subjektiven Vorstellung von ›Heimat‹, die uns auf die eine oder andere Weise trägt oder auch fremd sein kann. Was impliziert diese, durch Heimat als konkrete oder abstrakte Ortsbezeichnung ausgelöste, Zeitreise? Heimat ist ein aufgeladener Begriff, da er verlangt, sich auf Wurzeln und Verbindungen zu beziehen, denen sie vielleicht schon längst bewusst den Rücken zugekehrt haben, denen sie erzwungen entkommen mussten oder die sie vielleicht nie hatten (vgl. Glissant 2010: 143–144). Und gleichzeitig funktioniert der Gedanke an eine Heimat auch als Anker, den Menschen auswerfen können, wenn sie eine bestimmte Version von sich einholen wollen. »Our home is where we belong, territorially, existentially, and culturally, where our own community is, where our family and loved ones reside, where we can identify our roots, and where we long to return to when we are elsewhere in the world.« (Hedetoft und Hjort 2002: vii). Statt Heimat als Zustand zu erfassen ist es sinnvoller, von »Beheimatungspraktiken« (Scheer 2014) zu sprechen, die uns an Orte binden oder, im gegenteiligen Sinn als »Entheimatungspraktiken«, von Orten lösen lassen. So wird die normative Konnotation, die der Heimat-Begriff impliziert, einer kritischen Reflexion unterzogen. Dies macht eine Unterscheidung zwischen Heimat und Zuhause notwendig. »Zugehörig ist man da, wo man vermisst wird« antwortest du auf meine letzte Frage, was Zugehörigkeit für dich bedeutet, Alina. Deine Antwort resoniert in mir, vielleicht, weil sie auf eine Grundaussage meiner Arbeit abzielt. Zugehörigkeit wird mit uns gemacht und als denkfühlende Praktik im Mit-Sein empfunden. Doch der Komplexität des Phänomens entsprechend, führt mich deine Aussage dazu, über die Beziehung zwischen Orten und unserem Zugehörigkeitsempfinden nachzudenken. Was heißt es für dich, vermisst zu werden? Verweist das »wo« auf einen konkret lokalisierbaren Ort, einen Punkt, den ich auf einer Karte festmachen kann? Oder lässt es sich als Gefühl oder Vorstellung interpretieren, die wir in uns tragen und die als Rückversicherung durch uns nahestehende Menschen sowohl Geborgenheit und Sicherheit, als auch Einschränkung und Zurückhaltung zur Folge haben kann? Vermisst zu werden lässt uns unseren Platz im Mit gewahrwerden, es bindet uns durch (gemeinsame) Erfahrungen an Orte und Menschen und kann dadurch gleichzeitig auch verhindern, dass wir diese Orte je verlassen können oder wollen. Kann ich mir das ›wo‹, über das Alina spricht, aussuchen und ist es mit Heimat gleichzusetzen? Braucht der Mensch Heimat – und wenn, kann es sie nur im Singular geben? Was bedeutet der Begriff für verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen? Heimat und Zu-

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hause stehen synonym für emotionale Beziehungen zu Erinnerungsorten und Erfahrungsräumen, wobei die Bedeutung dieser Ortsbezeichnungen für Menschen unterschiedlich und keineswegs eindeutig sein muss. »›[H]ome‹ and ›belonging‹ […] are affectively, rather than cognitively, defined concepts; the indicative, seemingly neutral, and very simple statement ›home is where we belong‹ really means ›home is where we feel we belong‹.« (Hedetoft und Hjort 2002: vii). Zuhause ist der Ort, an dem wir uns wohl- und mit dem wir uns verbunden fühlen. In einer affektiven Dimension des Räumlichen wird Vermisst-Werden und Vermissen zu einem bedeutungsvollen Gefühl, dass sich in Lokalität finden oder auch vergeblich suchen lässt. Es sind die Orte unserer Erinnerungen und die Räume, an denen wir bestimmte Erfahrungen gemacht haben, die uns eine Version von uns vermitteln, die uns in unserem Mit-Sein befähigen oder beschränken. Wir sprechen über die Orte, in denen du gelebt hast und aufgewachsen bist, Ella. Ich kenne die spezielle Gegend in der Großstadt nicht, auf die du dich beziehst: »Nee, du kennst das nicht, aber da habe ich gewohnt. Und da wohnt man eigentlich nicht, wenn man keine Kohle hat.« Mit deiner Aussage schließt du dich in dieses unspezifische »man« ein, ein »man«, was in deiner Erfahrung für fehlendes Wohlhaben steht und die soziale Schicht bezeichnet, zu der du dich zugehörig siehst. Wer kein Geld hat, wohnt »dort« normalerweise nicht. Deine damalige Lebenssituation hat dich nicht dazu berechtigt, deine Anwesenheit an diesem Ort zu legitimieren. Damit bezeichnest du einerseits diesen Sozialraum als Gegend für Menschen, die es sich leisten können müssen, da zu wohnen, und gleichzeitig positionierst du dich durch deine Beziehung zu dem Ort: da du kein Geld hattest, »gehörtest« du dort eigentlich nicht hin. Im Raum lesen wir nicht nur die Zeit als Ausdruck soziokultureller Geschichte und Geopolitiken (vgl. Schlögel 2006) oder die Verortung sozialer Klassen (vgl. Bourdieu 1984), sondern wir können auch unsere persönlichen Erfahrungen, Erinnerungen und biografischen Stationen im Raum lesen und so eine Beziehung zwischen beiden Perspektiven herstellen. Erinnerungen werden an Orten geformt und ebenso formen Erinnerungen unsere Vorstellungen von Orten. Konkrete Orte werden in ihrer Komplexität zu Erfahrungsräumen, in deren vielschichtiger Zusammensetzung wir auf eine bestimmte Weise sozialisiert und kollektiviert werden. So können die Adoleszenz, die Ausbildungs-, Arbeits- und Studienzeiten oder auch Freundschafts- und Familienbeziehungen als Erfahrungsräume betrachtet werden. Wir werden in konkreten Wohnorten und abstrakten, soziokulturell-historischen Zusammenhängen kollektiviert. Raumbildung ist eine relevante Form der Sozialisation (vgl. Ecarius und Löw 1997). Wir lernen uns durch Räume kennen und indem wir in ihnen auf eine bestimmte Weise wahrgenommen, ver- oder entortet werden, binden wir uns an sie oder lösen uns von ihnen. Im weiteren Verlauf erzählst du von einem anderen prägenden Ort deines Aufwachsens, Ella. Es ist ein Bauernhaus, in das deine Mutter nach einigen Jahren in der Stadt gezogen ist. »Das

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ist so ein Bauernhaus inmitten von richtigen Bauern, so richtig auf dem Dorf. Ich war ein Eindringling für die. Ich war das böse Mädchen mit den Hip Hop-Hosen aus der Stadt. Klar, das war bestimmt ein bisschen beidseitig, einerseits war ich der Eindringling, das ist ja ganz normal und andererseits hat das aber auch einfach nicht gepasst. Also die mit ihren Saufspielchen. Ich fand die auch alle doof. Aber ich war wenigstens nett. Die haben einen nicht mal gefragt ›Hey, wie heißt du?‹ oder irgendwie sowas. Das war schon so ein bisschen schwierig.« Du positionierst dich als ›Eindringling‹ und stellst damit erneut deine unbefugte Anwesenheit an einem Ort heraus. Wir merken, wenn etwas ›nicht passt‹ und unsere Anwesenheit nicht als kongruent mit den Menschen erlebt wird, mit denen wir einen Ort teilen. Diese Erfahrungen werden zu Ortserinnerungen, die unsere Navigation beeinflussen und darüber mitbestimmen, an welche Orte wir zurückkehren wollen. Die Sozialisation in einem konkreten räumlichen Kontext muss nicht zwangsläufig zu einer dauerhaften Bindung oder positiven Beziehung zu diesem Kontext führen. Verinnerlichte, ablehnende Fremdwahrnehmungen, mit denen wir uns in Abgrenzung zu unserem Selbstbild konfrontiert sehen, können die Distanzierung zu Orten vermeintlicher Einbindung zur Folge haben. Das Gefühl, dass etwas nicht »passt«, haftet dann unseren Beziehungen zu den Orten an, wenn sie uns als nicht-zugehörige Singulare zurücklassen, statt uns als einen Teil der Gemeinschaft aufzunehmen. Erinnerungsorte werden auf diese Weise zu Räumen somatisierter Erfahrungen (vgl. Eggers 2007: 248): wenn ich die Wahl habe, vermeide ich die Räume, die Unwohlsein in mir hervorrufen oder an denen ich negative Erfahrungen gemacht habe und halte mich bevorzugt an den Orten auf, in denen ich mich geschützt fühle und mit denen ich positive Erlebnisse verbinde. Du sprichst von deinen Erinnerungen an den Ort deines Aufwachsens, die deine Beziehung zum »Land« im Gegensatz zur Stadt geprägt haben, Alina. »Und auf dem Land war mit das prägnanteste für uns dort eine muslimisch-arabische Familie zu sein. Das gab es da im weiten Umkreis nicht. Im Dorf bei uns gab es noch einen türkischen Zahnarzt, aber die Kinder durften auch nicht mit uns spielen. Es gab unsere Familie und im Reihenhaus daneben noch eine kurdische Familie, die auch ungefähr so viele Kinder wie wir hatten. Das waren so die Kinder, die auch mit uns spielen durften und ganz viele Kinder aus dem Dorf durften halt nicht mit uns spielen. Weil wir irgendwie aufgrund der Kinderanzahl und noch aufgrund des Arabischsein ganz schnell diesen Asozialenstempel hatten.« In dieser Erinnerung wird die Überlagerung unserer Wahrnehmbarkeiten deutlich, durch die unsere Trans-Aktionen gefiltert und gestaltbar sind. In deiner Erfahrung spielte eure soziale Herkunft und die Herkunft deines Vaters eine bedeutsame Rolle für eure Akzeptanz als mögliche Spielgefährten der Nachbarkinder. Die Gründe des Zahnarztes, seine Kinder nicht mit euch spielen zu lassen, sind für deine Beziehung zu diesem Ort von Bedeutung, auch wenn sie nachträglich nur über deine Erinnerung rekonstruierbar sind. Es ist relevant für dich, welche Spur(en) sein Verhalten und das der anderen Nachbarn an dem Ort und damit in dir hinterlassen haben. Du hast sie als ausgrenzend erlebt und sie haben unter anderem dafür gesorgt, dass du dich von diesem Ort wegbewegen wolltest.

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Orten, die wir mit bestimmten Erinnerungen verbinden, lastet eine Klebrigkeit an, die sich nur schwer lösen lässt.12 Vielleicht lässt sich dieser klebrigen Konservierung nur durch neue Erfahrungen und Erinnerungen entkommen oder sie macht diese Orte für uns zu emotionalen Archiven negativer oder verweigerter Trans-Aktions-Erfahrungen, an die wir nicht zurückkehren wollen. Du, Anton, bist hingegen in einem Raum aufgewachsen, an den zumindest »damals alle hin wollten«. »Damals« und »alle« werden in ihrer Unbestimmtheit durch deine weiteren Ausführungen konkreter. Es sind Verweise, die auf eine spezifische Zeit und ein spezifisches Kollektiv abzielen. Der Raum ist ein Wohnhaus, das aufgrund der damalig besseren Ausstattung mit »Fernwärme«, »Heizung, und »Fahrstuhl« im Osten Deutschlands beliebt war. »Damals« ist die Zeit der deutsch-deutschen Teilung und »alle« bezeichnet das Kollektiv der Menschen, die im Osten gelebt haben. »Ich fand es total cool da. Meine ersten Erinnerungen sind voll cool, weil da gab es einen riesigen Abenteuerspielplatz. Es war eine Platte, oder nicht Platte, aber halt ein mehrstöckiges Haus, mit Fahrstuhl und so und das war schon sehr gut. Das sind meine ersten Erinnerungen.« Von anfangs sehr positiven Erinnerungen hat sich deine Beziehung zu dem Ort im Laufe der Zeit gewandelt. »Im Nachhinein finde ich diesen Ort, wo wir damals gewohnt haben, irgendwie völlig eklig. Wenn ich dort hin komme, kriege ich sofort Depressionen und finde es eklig.« Im Wandel der historischen Ereignisse hat sich auch deine Beziehung zum Ort deines Aufwachsens gewandelt. So wie die Orte unseres Lebens sich verändern, so unterliegen auch unsere Beziehungen zu diesen Orten einem Werden, insbesondere wenn wir die Erinnerungen mit unseren aktuellen Lebenssituationen in Beziehung setzen und eine Diskrepanz feststellen. Die emotionale Archivierung kann in beide Richtungen stattfinden. Liebgewonnene Orte werden uns fremd und stoßen uns ab oder Orte, die uns einst fremd waren, werden durch neue Perspektiven und Wahrnehmungen vertraut. In der Retrospektive werten wir unsere Erfahrungsräume und Erinnerungsorte unweigerlich anders, als sie uns in vergangenen Zeiten zugänglich waren. Wir sind mit vierzig nicht mehr die gleichen, die wir als Kinder auf dem Spielplatz im Wohnviertel waren und auch die Spielplätze und Wohnviertel unterliegen Veränderungen. »I mean again there was a lot of gang violence, there was a lot of violence in general. I guess that was one thing that I didn’t really like, but at the same time, what I did like was the unity. Even though people that didn’t really understand it would say ›oh, they are just a bunch of gangsters doing the wrong‹. But realistically, as we were saying before about groups, they had their group. And it was a very solid group and definitely unified, and that‘s what I liked about where I was living. The violence was something I disliked. I guess the place that I grew up in kind of made me become the person that I am today, in a sense.« Deine Erzählungen über dein Aufwachsen in einer Gegend, in der es viele Jugendgangs gab, Paul, fühlt sich fremd für mich an, da ich an einem 12 Ich führe den Aspekt der Klebrigkeit von Emotionen in den Emotionalen Verhältnissen in Anlehnung an Sara Ahmed ausführlicher aus (Ahmed 2004b).

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Ort aufgewachsen bin, wo es keine Gangs gab. In deiner Aussage werden die machtvollen Effekte von Zugehörigkeitsordnungen und -praktiken deutlich: auch wenn wir sie als einschränkend oder gewaltvoll erleben, können sie ein Gefühl des Vertrauens und Schutzes hervorrufen und lassen uns durch das Teilen gemeinsamer Erfahrungen Verbundenheit empfinden. Erfahrungsräume rufen ein Gefühl der Vertrautheit hervor, da sie für Verbindungen zu Menschen stehen, mit denen wir bestimmte Erlebnisse teilen, oder aber auch durch das Wissen, da sind noch Leute, die eine Version unseres früheren Ichs kennen und prägend für unsere Sozialisation waren. Sie sorgen für ein Dis_ Kontinuitätserleben. In diesem Sinne ermöglichen Erinnerungsorte auch eine Transzendenz zur Aktualität unserer Lebensräume. Wir begegnen in ihrer Symbolträchtigkeit dem Vergangenen und werden uns dadurch auf eine bestimmte Art und Weise wahrnehmbar und verständlich (vgl. Stepnisky 2006). Du berichtest von einer kürzlichen Erfahrung, Carla, als du eine Freundin in deiner alten Nachbarschaft besucht hast: »Letztens war ich in einem Haus und da waren ganz viele Leute von früher und da fühlt man sich dann auch wieder so zu Hause. Krass, ich bin ja wirklich von hier und ich kenne ja die ganzen Leute von früher. Witzig.« Das Vertraute spricht zu uns. Im Abgleich mit der Welt erkennen und vergewissern wir uns: das bin ich, von dort komme ich oder dahin gehe ich. Erinnerungsorte und Erfahrungsräume lassen uns auf Zeitreise gehen und auch wenn diese Reise keineswegs eine ausschließlich positive Erfahrung bereithalten muss, so ermöglicht sie eine Versicherung unserer eigenen Geschichtlichkeit und bestätigt unsere Existenz und Wahrnehmbarkeit im Mit-Sein. Auch negative und gewaltvolle Erfahrungen können eine räumliche Verbundenheit zwischen Menschen entstehen lassen, wenn sie diese Erfahrungen teilen.

Lebensräume Erinnerungsorte waren einst Lebensräume, also die Orte, an denen wir unsere alltäglichen Trans-Aktionen vollziehen, in denen wir essen, schlafen und unsere Arbeit verrichten. Nicht für alle Menschen sind die Orte ihres Aufwachsens und ihrer Erinnerung physisch die gleichen geblieben wie die Orte, an denen sie aktuell leben.13 Euer Lebensraum ist die Stadt. Wir sprechen über deine Beziehung zu der Stadt, in der du lebst, Maxim, und was dieser Lebensort im Unterschied zu dem Ort deines Aufwachsens in einem an13 Die einzige physische Gleichheit, die hier vorausgesetzt werden kann, ist die Lokalisierung der geograf ischen Koordinaten in einem GPS System. Denn eine tatsächliche Gleichheit kann aufgrund sozialer, kultureller und schlicht zeitlich-bedingter Veränderungen nicht realisiert werden.

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deren Teil des Landes für dich bedeutet. Dies wird dir immer deutlich, wenn du von dem Ort deines Aufwachsens zurück in die Stadt kommst »Man hat das Gefühl, dass man da zu Hause ist. Wenn ich wieder in die Stadt rein komme und die vertrauten Symbole sehe, dann denke ich mir so ›Ah ok, alles klar, jetzt ist alles egal, jetzt ist alles cool‹.« Deine Wahrnehmung und Erfahrungen an deinem Lebensort symbolisieren für dich ein Zuhause. Das Ankommen interpretiere ich in doppelter Weise: es umfasst ein physisches Eintreffen an einem Ort und die Begegnung mit einer mentalen Gestalt, die stressige Gedanken fortträgt und dir ein Gefühl der Vertrautheit vermittelt. Durch ein spezifisches Wissen über Orte werden diese als Räume der Nähe oder Distanz geschaffen. Unsere Lebensorte sprechen mit uns. Die Straßen, die Häuser, die Bäume, die Baustellen und Ruinen. Ihre Worte und Geräusche, die Soundscapes, sind nur auf die Weise wahrnehmbar, für die ich empfänglich bin (Schafer 1994). Höre ich eine Einladung zum Verweilen oder die Aufforderung, weiterzuziehen, sehe ich Wohlstand oder Armut, spüre ich Zuversicht oder Verzweiflung? Welche Geschichten haften den Orten an, an denen ich mich bewege und an welchen Geschichten habe ich teil? Lebensorte sind auch Orte von Projektionen und »habitual spaces« (Hillier 2005), also Räume in denen Habitualisierungen stattfinden und Menschen Kollektivierung erfahren und praktizieren (Bourdieu 1998). Lebensräume bestehen aus Gefühlsorten, aus Knotenpunkten (vgl. Kaplan 1996: 143), die bestimmte Emotionen in uns hervorrufen, durch die wir uns mit anderen verbunden fühlen oder die uns von ihnen trennen. Ein Gefühlsort deines aktuellen Lebensraumes, oder wie du, Ann, es ausdrückst, eine zentrale Andockstelle, ist eine Bar: »Andockstellen. Ich gehe eigentlich nur in ein- und dieselbe Bar, ständig. Da sind die Leute, die ich dann ein bisschen kenne und die ich mag und ich in meiner näheren Umgebung auch akzeptiere. Und da haben sich auch schon viele coole Bekanntschaften ergeben. Das ist so eine Andockstelle für mich, weil ich damit etwas sehr emotionales und Geborgenheit verbinde.« Die Bar ist ein Raum für deine Verbindung zu anderen Menschen, sie bietet dir Schutz und ist gleichzeitig eine Kontaktstelle mit der Welt, indem du dort mit neuen und vertrauten Menschen inter-agieren kannst. Sie wird durch die Verlässlichkeit der Wiederholung zur Andockstelle und einem Ort bewusst vollzogener Routine, der dir ein Gefühl des Aufgehobenseins vermittelt. Unsere Andockstellen sind nicht notwendigerweise dauerhaft, sie können sich mit der Zeit verändern, neue Formen annehmen oder gänzlich wegfallen. Die Orte, die wir bewohnen, in denen wir leben und unseren Alltag bewältigen, sind Ausdrucksformen vieler denkbarer Zugehörigkeitspraktiken: Wir werden an diesen Orten kollektiviert, wenn wir als materialisierte Wesen im physischen Raum lesund wahrnehmbar sind – durch unsere Kleidung, unsere An- oder Abwesenheit an spezifischen Orten des Konsums, der Freizeitgestaltung oder des Transportes und durch die Menschen, mit denen wir unterwegs sind. Nichts eint und trennt uns so sehr, wie Räume (vgl. Jameson 2015: 132). Menschen orientieren sich am Ge-

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meinsamen, sie verorten sich dort, wo auch andere sind, die ähnliche Dinge mögen, ähnliche Themen interessieren und die ähnliche Dinge tun (Pfaff-Czarnecka 2012). Die Kriterien der Ähnlichkeiten werden für ein spezifisches Erkenntnisinteresse, die »Leitunterscheidungen der Beobachtung« (Hirschauer 2014: 183), relevant. Im Sinne relationaler Analysen stehen die Beziehungen und Arten der Verbindungen im Fokus, statt Ähnlichkeiten nur über sozialräumliche Nähe, das gleiche Alter oder einen gleichen Kleidungsstil zu identifizieren. »Anstatt tatsächliche Netzwerkstrukturen zu untersuchen und Kategorien aus ihnen abzuleiten (wie in der Blockmodellanalyse), können Untersuchungen von persönlichen Netzwerken nur verschiedene vorfindliche Kategorien hinsichtlich ihres Zusammenhangs mit der Netzwerkzusammensetzung miteinander vergleichen.« (Fuhse 2010: 185)

Neben ihrer Funktion als Orte der Geselligkeit bieten Lebensräume auch Schutz und Solidarität in der Gemeinschaft, beispielsweise vor rassistischer Exklusion oder Diskriminierung. Sie können jedoch auch das genaue Gegenteil sein und zu Räumen gewaltvoller Ausgrenzungserfahrungen werden. Ein sehr einprägsames Beispiel für die Bedeutung lokaler communities, die durch ähnliche Erfahrungen verbunden sind, ließ sich nach dem symbolträchtigen Feuer in einem Hochhaus im reichsten Stadtteil Londons am 14.Juni 2017 beobachten (BBC 2017). Der anhaltenden Abwesenheit politischer Entscheidungsträger_innen und ihrer fehlenden Bereitschaft zur Übernahme der Verantwortung für das tödliche Feuer in dem Wohnhaus stand ein beeindruckendes Engagement der community vor Ort gegenüber, die sich sowohl um pragmatische Unterstützungsangebote sowie die Bewältigung des kollektiv erlebten Traumata kümmerten (vgl. Amrani 2017). Im Raum wird Gemeinschaft hergestellt und erfahrbar. Der geteilten Marginalisierungserfahrung der mehrheitlichen Community of Colour in dem Stadtteil steht eine gewinnorientierte Städtebaupraxis gegenüber, die im Sinne einer kapitalstarken Oberschicht Räume unzugänglich und, mit Blick auf die baulichen Zustände des Hochhauses, die zugänglichen Räume unbewohnbar macht. Großstädtische Lebensräume im globalen Norden sind gegenwärtig geprägt durch Diskurse und Praktiken der Besitznahme von Räumen, der Vermarktung und Privatisierung von Wohnräumen und den exkludierenden Folgen von Gentrifizierungsprozessen (vgl. Jameson 2015). Immobilien sind ein zentrales zeitgenössisches Thema politischer Entscheidungen und Raumpraktiken. »[..] in our time all politics is about real estate; and this from the loftiest statecraft to the most petty manoeuvring around local advantage. Postmodern politics is essentially a matter of land grabs, on a local as well as global scale. Whether you think of the issue of Palestine or of gentrification and zoning in American small towns, it is that peculiar and imaginary thing called private property in land which is at stake. The land is not only an object of struggle between the classes, between rich and poor; it defines their very existence and the separation between them.« ( Jameson 2015: 130)

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Auch wenn sich Jameson insbesondere auf den US-amerikanischen Kontext bezieht, so ist es im Zusammenhang mit Zugehörigkeitspraktiken immer eine entscheidende Frage, wie zugänglich Lebensräume und Orte für Begegnungen und die Gestaltung unseres Mit-Seins sind. Die Vereinnahmung und Veränderung von Lebensräumen betrifft auch die Unterscheidung zwischen urbanen und ländlichen Lebensräumen und deren Bedeutung für materiell-diskursive Zugehörigkeitspraktiken und politische Entscheidungsprozesse. Lebensräume bieten im besten Fall die Möglichkeit, sich mit ihnen zu identifizieren, um sie als Orte des Aufgehobenseins empfinden zu können. Dies berührt nicht nur die Auseinandersetzung mit den sozialen Möglichkeiten zur kapitalträchtigen Aneignung von Wohnraum, sondern auch andere Distinktionspraktiken (Bourdieu 1984), wie z.B. die Entscheidung, in welchem Café ich meinen Kaffee trinken gehe, und welche Cafés dafür überhaupt zur Auswahl stehen, oder mit wem wir in unserer täglichen Navigation durch Räume überhaupt in Kontakt kommen, mit wem wir also Räume teilen können und wer von ihnen ausgeschlossen ist. Nach Bourdieu sind die sozialen Orte Spielstätten der symbolischen Ordnung und somit Ausdruck der »heimlichen Gebote und stillen Ordnungsrufe« (Bourdieu 1998: 21) in Gesellschaften. Sie vermitteln und verwandeln »die sozialen Strukturen sukzessiv in Denkstrukturen und Prädispositionen« (ebd.). Diese »unmerkliche Einverleibung« (ebd.) ist gleichzusetzen mit einer »Somatisierung von Herrschaft« (Eggers 2007: 248), also der körperlich-spürbaren Verinnerlichung gesellschaftlicher Ordnung. Mit den Worten Ellas bedeutet das: »da wohnt man eigentlich nicht, wenn man keine Kohle hat«. In dem wir Räume als etwas bereits Gegebenes vorfinden, in dem wir uns »nur« zurechtfinden müssen, kann die eigene Präsenz in einem Raum mit einem Gefühl der Störung eben dieser empfundenen sozialen Ordnung, der bewussten Irritation oder einer unwahrnehmbaren Berechtigung der eigenen Präsenz an Orten einhergehen. Als Antwort auf meine Bitte, von deinem Aufwachsen zu erzählen, Daniel, entfaltest du eine Erzählung über dein Umfeld und das Aufwachsen an diesem Ort. In der Erzählung verdeutlichst du deine Eingebundenheit in ein soziales Umfeld, in dem du dich wohlgefühlt und mit dem du dich identifiziert hast. Das wird für dich symbolisch an der Frage »What gwaan? You´re allright?« wahrnehmbar. Wenn du diese Frage hörst, weckt sie Erinnerungen an die Alltagskonversation an deinem Wohnort. Sie ermöglicht dir das Erkennen von Menschen, die am gleichen Ort leben und ein Gefühl der Verbundenheit bei dir auslösen. Durch die ermöglichten und verweigerten Trans-Aktionen werden wir in Räumen subjektiviert und kollektiviert. In ortsgebundenen Trans-Aktionen entwickeln wir ein Gefühl darüber, wer wir sind und werden durch sie mit spezifischen Formen des räumlichen Mit-Seins vertraut gemacht. Bedingt nicht gerade die Wiederholung des Gleichen eine Verunmöglichung von Begegnungen jenseits des vertrauten, verinnerlichten und ritualisierten Raum-Er-Lebens? Gerade weil wir Menschen aus einem Bedürfnis nach Gewohnheit und Vertrautheit mit-einander-agieren, sind soziale Räume der Vermischung unerlässlich, wenn verschiedene

Mit Welten verbunden – Von Welten entrückt

Möglichkeiten der Anbindung und Loslösung gewünscht und ermöglicht werden sollen. Dies spricht nicht zuletzt auch politische Bestrebungen nach sozialer Durchlässigkeit an, also der Möglichkeit, zum Beispiel durch kollektive Bildungsräume neue und andere Orte für Menschen erschließbar zu machen. Lebensräume sind Orte des »Hier«, sie sind gegenwärtige Umgebungen, in denen wir uns und unsere Vorstellungen eines Mit-Werdens verwirklichen können. »Here we may live, since here we are living.« (Maffesoli 1996: 123). Um jedoch Lebensräume als Orte sozialer Ungleichheit und Arenen von Machtverhältnissen wahrnehmbar zu machen, kann die Forderung »here we may live« nur als Aufruf zur kontinuierlichen politischen Aushandlung von Zugehörigkeitsverständnissen und der An- und Enteignung eben dieses »hier« verstanden werden. »Hier« ist dann ein realer »meeting place« (Massey 2005b: 154) möglicher Intersektionen des Sozialen und nicht Ausdruck räumlicher Exklusivität, die manche ein- und viele ausschließt. Dafür müssen Lebensräume bewusst auch Platz für Menschen bieten, sich sicher und eingeladen zu fühlen, aus dem gewohnten Raum aus- und neue Räume betreten oder schaffen zu wollen.

Ortswechsel und Sehnsuchtsorte »So long I‘ve been gone, So many things have changed. But I know where I belong and I know when I reach that place.« (Fat Freddy’s Drop 2005)

Ortswechsel können Ausdruck von Sehnsüchten sein, in dem sie den Wunsch nach Loslösung von einem Ort oder nach Transzendenz, jemand anderes sein oder sich aus der eigenen Haut bewegen zu wollen, beflügeln. Auch James Baldwin beschreibt die Motivation seines Umzuges nach Paris im Jahr 1948 als Wunsch nach einem Ortswechsel, um sich dem Schreiben zu widmen. »I was trying to become a writer and couldn´t find in my surroundings, in my country, a certain stamina, a certain corroboration that I needed« (Baldwin und Giovanni 1973: 13). Doch egal, wohin wir gehen, wir nehmen immer Anteile von uns mit, die in aus Körpern und physischen Bedingungen bestehenden Welt nicht einfach zurückgelassen werden können. So reflektiert Baldwin seinen Wunsch, sich auf eine bestimmte Weise zurück lassen zu wollen: »You know, I’d be a fool to think that there was some place I could go where I wouldn’t carry myself with me or that there was some way I could live if I pretended I didn’t have the responsibilities which I do have. So I’m a cat trying to make it in the world because I’m condemned to live in the world.« (Baldwin und Giovanni 1973). Sehnsuchtsorte entstehen aus Materialisierungen und Erfahrungen im Hier-und-Jetzt. Die Sehnsüchte können vielfältig sein: vom Bedürfnis, an einem Ort ohne Rassismus zu leben, die familiären Geschichten eines Ortes zu kennen, sich unbeobachtet dort als zugehörig bewegen oder, ausgestattet mit Kapital und Möglichkeiten, überhaupt reisen oder umziehen zu können.

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In allen unseren Gesprächen spielen Ortswechsel und Sehnsuchtsorte eine Rolle. Ihr sprecht über die Bedingungen und Bedeutungen, die damit verbundenen Hoffnungen oder Erinnerungen und wie diese in bestimmten Momenten des Alltags nachwirken. Sei es der vertraute Geruch der Gegend, in der du aufgewachsen bist, Carla, oder die Palmen und die Wärme, die dich mit dem Ort eines Teiles deiner Familie verbinden, Ella, oder die prägenden Erfahrungen deines Aufenthaltes in einem anderen Land, Anton. Wir kommen auf die Bedeutung von Amerika für dich zu sprechen, Daniel. »It was always a thing like ›Wow, imagine living in America. Wow, you could do so much. It feels it’s more of a dream like you can become something and stand out.‹ This is how I felt when I went to America. I have felt all those things: I wanted to belong, like, yeah, being a black man in America, they´ve gone through civil rights and things like that. And fought against oppression, I felt ›Yes, I am like a black American‹.« Bevor du mit deiner Familie dorthin gezogen bist, hast du dir diesen Ort als Ort der Zugehörigkeit und Möglichkeiten ausgemalt, als einen Raum, der einer Version von dir Platz und Möglichkeiten verschafft und somit zu einem Ort der Vollständigkeit, Akzeptanz und Anerkennung ohne rassistische Zuschreibungen wird. Was hast du an dem Ort gefunden? Was hat er mit dir gemacht? »They didn´t even understand the kind of the culture, the Caribbean culture. Especially where I was staying. That´s where I got my sort of disconnection with America and kind of missed, where I came from, where I grew up. It was like ›ah I like this in America but I also don´t like that in America‹. So it was kind of a trap between. It was a jigsaw puzzle.« Deine Erfahrung beschreibst du als Puzzle. Du bist mit einer bestimmten Sehnsucht und bestimmten Erwartungen dorthin gegangen und statt das deine Erfahrungen dort zu einer Annäherung an diese Sehnsucht geführt haben, haben sie dich näher mit dem Ort deines Aufwachsens verbunden. In der Metapher des Puzzles steckt die Herausforderung, die eigenen Vorstellungen und Wünsche unserer Lebensgestaltung mit den realen Möglichkeiten in Übereinstimmung zu bringen. Durch Umzüge und Ortswechsel, sei es von der Stadt aufs Land oder von einem Land in ein anderes, ändern sich unsere Lebensräume und somit auch die sozialen Bezugspunkte. Ortswechsel ermöglichen es, eine neue Version von uns zu entwerfen. Auch wenn sich die Bedingungen der Mobilität je nach sozialen und finanziellen Ressourcen, sowie der politischen Berechtigung, unterscheiden (vgl. Korstanje und Muñoz de Escalona 2014), sind Menschen seit jeher in Bewegung (Sheller und Urry 2006). »Aufstieg«, »Abstieg«, »Eintritt«, »Austritt«, »Annäherung oder Entfernung« sind Verhältnisbezeichnungen zu »zentralen und wertbesetzten« Orten der Gesellschaftsordnung, die durch wiederholte »Bewegungen und Ortswechsel des Körpers [...] zu räumlichen Strukturen« werden und durch die diese »Strukturen [...] organisier[t] und qualifizier[t]« werden (Bourdieu 1998: 21). Durch Ortswechsel werden diese Verhältnisbestimmungen wahrnehmbar, gewohnte Zugehörigkeitspraktiken infrage gestellt oder auch Neuaushandlungen dieser Verhältnisse initiiert. Je nachdem, an welchem Ort ich mich in welchem Zustand wiederfinde erlebe ich den Ortswechsel als Herausforderung einer singularisierten Lebensgestaltung oder als machtvolle Eingrenzung meines Handlungsspielraums, wenn ich beispielsweise in einer Unterkunft für Geflüchtete leben muss, in der es kaum Gestaltungsspielraum gibt. Der Wechsel zwischen konkreten Orten lässt Vertrautes unvertraut

Mit Welten verbunden – Von Welten entrückt

werden lassen, ebenso wie im umgekehrten Sinn Unvertrautes vertraut werden kann. Erfahrungen von Reisefreiheit, Ungebundenheit, Uneindeutigkeit und Internationalität stehen nicht allen Menschen offen, noch sind sie für alle Menschen gleichermaßen erstrebenswerte und positiv konnotierte Bestandteile des Alltags. Werden globale Bewegungen, Migrations- und Fluchterfahrungen ganzheitlich in den Blick genommen, muss deutlich gemacht werden, das die Veränderung vermeintlicher sozio-kultureller und sozio-politischer Gewissheiten nie nur die sich »physisch« Bewegenden, sondern gleichermaßen die vermeintlich statisch »Vor Ort-Seienden« gleichermaßen betrifft (vgl. Pfaff-Czarnecka 2012: 16). Am Beispiel der deutsch-deutschen Teilung, des Mauerbaus und Mauerfalls, kann dies exemplifiziert werden: Ohne, dass Menschen sich physisch bewegt haben, wurden Gewissheiten und Umstände durch veränderte politische Bedingungen in Bewegung versetzt und damit neue Verbindungen hergestellt, die sich auf vielfältige Aspekte der Alltagsgestaltung und Identitätsbildung auswirkten. In diesem historischen Prozess hat ein Ortswechsel stattgefunden, ohne das Menschen dafür physisch einen spezifischen Ort verlassen mussten, um an einem anderen anzukommen. Durch den Wechsel von Orten können Ortsbezüge besonders hervortreten, während die Bewertung der damit einhergehenden Veränderungen immer auch von der Beziehung zum Prozess des Wechsels abhängt: Wünsche ich mir eine Veränderung oder wird sie gewaltsam erzwungen? Sind mit dem Ortswechsel Hoffnungen und neue Perspektiven oder Ängste und Unsicherheiten verbunden? Belonging drückt eine Sehnsucht und ein Verlangen, longing, nach der Existenz, being, in Verbindung aus (vgl. Pfaff-Czarnecka 2012: 19ff). Somit hängt Zugehörigkeit als Ausdruck dieser Sehnsucht nach Verbindung auch mit der Sehnsucht nach einem Ort zusammen, an der diese empfunden werden kann. Sie steht nicht für die Fixierung eines Ist-Zustandes, der Hörigkeit im Jetzt, sondern beinhaltet den dynamischen Verweis auf etwas Zukünftiges, der Hörbarkeit jeder potentiellen Form einer »Kommenden Gemeinschaft« (Agamben und Hiepko 2003). Die un_hörbare und un_erhörte Sehnsucht kann gleichermaßen symbolisch auch für die Unfähigkeit stehen, den Ort der Sehnsucht, egal ob damit ein physischer, ein mentaler oder sozialer Ort bezeichnet ist, je zu erreichen. »You only are free when you realize you belong no place – you belong every place – no place at all« (Angelou 1989: 22), antwortet Maya Angelou auf die Frage, welchen Preis sie für ihre Freiheit als »mobile, nomadic, free person« bezahlt hat. Und weiter antwortet sie auf die Frage »Do you belong anywhere?«: »I haven’t yet.« (ebd.). Die Nicht-Erreichbarkeit unserer Sehnsuchtsorte kann auch als Antrieb und Motivation gelesen werden, diese nicht in einer Zukünftigkeit zu suchen, sondern sie im Hier und Jetzt zu gestalten. Bezeichnungen wie verschwinden-wollen, nirgendwo, woanders oder dazwischen versuchen, dieser (räumlichem) Unerreichbarkeit und ihrer Bezogenheit auf unsere wechselseitige Abhängigkeit Ausdruck zu verleihen. Für Georg Simmel hat das »Zwischen« aus diesem Grund einen doppelten Sinn: »dass eine Beziehung zwischen zwei Elementen, die doch nur eine, in dem einen und in dem andern immanent stattfindende Begegnung oder Modifikation ist, zwischen ihnen, im Sinne des

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räumlichen Dazwischentretens stattfinde.« (Simmel 1992: 689). In räumlichen Begegnungen und Ortswechseln offenbart sich einerseits die Vielschichtigkeit unseres Seins und andererseits stehen sie für die Beschränktheit unserer Wahrnehmung und Sprache. Wir sind als physische Körper in einer Umgebung isoliert wahrnehmbar, doch unsere körperliche Präsenz an einem spezifischen Ort kann der Verschränktheit unserer Körper mit verschiedenen Umwelten und der Vielschichtigkeit ihrer Konstitutionsprozesse nur bedingt Ausdruck verleihen. Gloria Anzaldúa nähert sich dieser Beschränktheit in ihrem Buch «BORDERLANDS/LA FRONTERA« (1999), indem sie allgemeingültige Vorstellungen von Grenzen herausfordert und diese als psychische, soziale und kulturelle Gebiete aufzeigt, die wir und die uns bewohnen (Anzaldúa 1999). Unsere Positionen im sozialen Raum (vgl. Harré und Moghaddam 2003) und biografischen Gebundenheiten entscheiden maßgeblich darüber, wie wir diese, uns bewohnenden, Grenzgebiete ausstatten können oder wie unsere Gestaltungsmöglichkeiten, sie zu bewohnen, buchstäblich die Hände gebunden sind (vgl. Giroux und McLaren 1994). Im Austausch über eure Beziehung zu verschiedenen Orten wird mir deutlich, dass diese häufig durch Erfahrungen der Distanz oder auch des Unwohlseins geprägt sind. Für dich, Ann, war früh klar, dass du nur an einem anderen Ort den Kontext finden kannst, der es dir ermöglicht »du« zu sein und mit deinen verschiedenen Facetten in Kontakt zu treten. »Dieses Gefühl hatte ich schon sehr früh. Und sehr lange in mir und ich wusste halt, ich muss in eine größere Stadt. Weil in den Kleinstädten gehe ich ein. Ich fühlte mich permanent missverstanden. Und dort sind die Möglichkeiten nicht so gegeben wie hier.« Das erinnert mich an mein Gespräch mit dir, Ella und daran, welche Bedeutung dein empfundenes Uneindeutig-Sein für dein Selbstverständnis hat. »Also das ist halt so, ich bin dort die doofe, deutsche, hässliche, mit dem Stock im Arsch. Weil hier in Deutschland fühle ich mich ja gar nicht so! In Deutschland fühle ich mich wie die tolle Brasilianerin.« Diesen relationalen Zwiespalt, oder die Mehrdeutigkeit, sprichst du als Herausforderung an, dich an deinem der Orte als vollständigen Teil zu erleben. Deinen Zwiespalt mit deiner uneindeutigen Verortung verstehe ich als Ausdruck deines Wunsch nach einer Familie, die dir sowohl im Hier als auch im Dort einen sicheren Ort der Geborgenheit bietet und dich als zugehörig anerkennt. Du, Paul, sprichst ein ähnliches Dilemma an, was du allerdings weniger auf deine Familie als auf die Stigmatisierung beziehst, die mit deiner sozialen Herkunft verbunden ist. »Once you become a product of your environment then you are pretty much statistic to the higher class. And again, it kind, kind of goes back to stereotyping, I‘ve heard the saying that classism is racism‘s cousin, and I don‘t want to be a part of any of those isms and I don‘t want to be a product of my environment, I just want to be me an live life how I want to. Of course there are rules and boundaries to that, but I want to truly be myself and not be no one else’s, not follow people‘s trends. I just wanna be me, myself, really.« An dieser Stelle wird die Verwobenheit zwischen unserem sozialen Ort und seiner politischer Relevanz deutlich. Deine soziale Positionierung hält dich als »Statistik« fest, die dir Unbeweglichkeit zuschreibt und dich einem Gefühl des Ausgeliefert-Seins überlässt.

Mit Welten verbunden – Von Welten entrückt

»I just want to be me«. Wer ist dieses ›me‹? »Man selbst sein wollen« erfasst die Sehnsucht, sich von Markierungen und Einschreibungen lösen zu wollen, die, auch im konkreten Raum, als bindend und einengend erlebt werden. Durch tatsächliche oder imaginierte Ortswechsel werden unsere Sehnsüchte und deren Begrenzungen wahrnehmbar und herausgefordert. Unsere Visionen von Transzendenz, dem Wunsch, man selbst oder eine_r andere_r sein zu wollen, sind auch durch den Habitus beeinflusst. Je nach Ausstattung mit verschiedenen Kapitalformen und deren Gestaltungsspielraum, ermöglichen sie selbstgewählte und -gestaltete Ortswechsel oder binden und verankern uns in einem Kontext. So werden insbesondere im räumlichen Verhältnis die Materialisierungen und Un_Erreichbarkeiten von Sehnsüchten wahrnehmbar. Wie bereits im Vorwort dieser Arbeit erwähnt, steht jedes geschriebene Wort für die unzähligen Möglichkeiten, die angesprochenen Themen anders oder auch andere Themen anzusprechen. So viel mehr könnte zur Bedeutsamkeit des Raumes geschrieben werden, insbesondere mit dem Blick auf virtuelle Räume und ihre Bedeutung für Kollektivierungen und Vergemeinschaftung, die ich hier gänzlich vernachlässigt habe. Dennoch möchte ich zum vorläufigen Abschluss der Gedanken zum Raum erneut auf die Bedeutung des Körpers in dessen exzentrischer und zentrischer Positionalität mit der Welt hinweisen (vgl. Plessner 1975). Wir sind als körperliche und geistige Wesen immer in einer Gleichzeitigkeit verhaftet, wir sind im Hier-und-Dort und einem Sowohl-als-Auch positioniert. Nur das Potential unseres Geistes, uns aus der physischen Welt zu tragen, scheint unendlich. Die Fähigkeit unserer zentrischen und exzentrischen Positionalität wird durch die Möglichkeiten der virtuellen Realität des Internets ergänzt und erweitert (Burkart 2006). Eine Verbindung zwischen physisch-greifbaren und virtuell-erlebbaren Räumen und deren Bedeutung für die Navigation in Zugehörigkeitsverhältnissen kann Inhalt einer eigenständigen Arbeit sein. Es sei an dieser Stelle jedoch darauf verwiesen, dass insbesondere unter Berücksichtigung der Un_Wahrnehmbarkeiten unsere Wirklichkeit immer bereits aus einer Vermischung dieser Sphären besteht und eine binäre Trennung in das »Tatsächliche« eines Hier und das »Scheinbare« eines Dort unmöglich ist (vgl. u.a. Wulf 2009).14 Geschichten zirkulieren und entstehen in Räumen und in Räumen sind und werden wir. 14 Zur weiteren Beschäftigung mit der Unterscheidung zwischen »the actual« und »the virtual« siehe Deleuze und Guattari in »A Thousand Plateaus« (Deleuze und Guattari 1987) und Deleuzes Ausführungen in »Dialogues II« (2012), in der er auf die zirkuläre Verbindung zwischen dem Tatsächlichen und dem Scheinbaren verweist. »Every actual surrounds itself with a cloud of virtual images. […] The relationship between the actual and the virtual takes the form of a circuit, but it does so in two ways: sometimes the actual refers to the virtuals as to other things in the vast circuits where the virtual is actualized; sometimes the actual refers to the virtual as its own virtual, in the smallest circuits where the virtual cristallizes with the actual.« (Deleuze und Parnet 2012: 151-152).

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5.1.3 Emotionale Verhältnisse »the ›truths‹ of this world are dependent on emotions« (Ahmed 2004b: 170)

Was bedeutet Sara Ahmeds Aussage, dass die ›Wahrheiten‹ dieser Welt von Emotionen abhängig sind für die vorliegende Arbeit? Welchen Einfluss haben die emotionalen Verhältnisse darauf, wie wir uns als fühlende und leibliche Wesen in Welten bewegen? Welche Kräfte wirken in diesen Verhältnissen und welches Verständnis von Emotionen liegt diesen zugrunde?15 Für eine Annäherung an diese Fragen beschäftige ich mich, nach einer kurzen Einführung, mit folgenden Effekten von Emotionen: Verbindende Gefühle, Distanzierende Erregungen und Klebrige Bindungen. Jede soziale Formation, in der wir uns wiederfinden oder der wir begegnen, ist grundlegend von Emotionen durchdrungen. Wir sind gerade wegen unserer komplexen Einbindungen immer gleichermaßen denkend und fühlend in der Welt. Wie ich bereits im Kapitel über den »Körper als Kompass« erwähnt habe, übernehme ich für das Zusammendenken beider Aspekte den Begriff des Sentipensar, des Denk-Fühlens (Escobar 2016; Fals-Borda und Moncayo 2009; Krishnamurthy 2017).16 Ein wesentliches Anliegen dieses Zusammendenkens ist es, die soziale und politische Hervorbringung dualistischer Konzepte, wie beispielsweise Individuum und Kollektiv, Körper und Geist oder Emotion und Sachverstand kritisch zu reflektieren und diese Trennungen im Forschen, Schreiben und Denken zu überwinden, indem sie relational und verwoben gedacht werden. Soll Zugehörigkeit als Zustand erfasst werden, so lässt sich dies über quantitative Analysen in Netzwerken visualisieren und explizieren, während jedoch die affektive Dimension von Zugehörigkeitspraktiken und -erfahrungen in einer solchen Analyse nicht aufgehen kann (Häußling 2009b: 101). Dies verlangt nach einem »relationalistischen Konzept von Emotionen« (ebd.). Denn »[n]ur 15 Seit Mitte der 1990er Jahre kann in der europäischen Literatur und Forschung ein verstärkter Fokus auf die Bedeutung von Emotionen nachgezeichnet werden (vgl. Senge 2013: 13ff ). Der theoretischen Komplexität des »emotional turn« kann im Rahmen dieser Arbeit keineswegs umfassend entsprochen werden. Ich beschränke mich auf die Aspekte der Emotionalen Verhältnisse, die für das hier erörterte Zugehörigkeitsverständnis als relevant gesehen werden (ausführlicher dazu u.a. bei: Reddy 2001; Senge und Schützeichel 2013; Wiemann und Eckstein 2013) 16 Insbesondere eine postkolonial informierte kritische Wissenschaft muss die gewaltvolle historisch gewachsene Trennung zwischen Verstand und Gefühl reflektieren. So stellt die Künstlerin und Wissenschaftlerin Grada Kilomba als zu kritisierende Prämisse objektiver und objektivierender Forschung fest: »we are asked to distance ourselves, our biographies and our bodies […] – and this is exactly the core of colonial knowledge production. There is a violent marginalization of certain bodies and simultaneously this fantasy of being objective, neutral, and universal.« (Kilomba und Sigmund 2017: 2).

Mit Welten verbunden – Von Welten entrückt

über ein solches Konzept wäre es beispielsweise möglich, ›types of ties‹ in überzeugender Weise zu differenzieren« und auf diese Weise »theoretisch und auch empirisch [...] über bestehende Grenzen der bisherigen Netzwerkforschung hinaus gelangen.« (ebd.). Hoffnung, Begehren, Wut, Freude, Genuss und Angst sind nur einige der zentralen Empfindungen, die Ver- und Entbindungen aus- oder auch auflösen können, sie in jedem Fall aber beeinflussen. Der Feststellung, »We, moderns, have lost our integral relation with the universe, […] we have become rational, dreamless people.« (Escobar 2016: 27) liegt die Illusion des Menschen als autonomes Wesen zugrunde, das sich absichtsvoll in einem Universum isolierter Objekte umherbewegt (ebd.). Um dieser Illusion zu entgegnen, muss die Annahme, Emotionalität und Rationalität seien zwei verschiedene, voneinander trennbare Zustände, kritisch analysiert und auf ihre normschaffende Wirkung hin befragt werden. Emotionen sind grundlegend für unser Mit-Sein und sie beeinflussen unter anderem, wie Subjekte geformt und mit welchen Eigenschaften und Wahrnehmbarkeiten sie gesellschaftlich belegt werden (vgl. Ahmed 2004b). Bevor ich mich der relationalen Produktionskraft von Emotionen zuwende, definiere ich mein zugrunde liegendes Verständnis von Emotionen. Sehr verkürzt ausgedrückt sind Emotionen »innerphysische Vorgänge« (Häußling 2009b: 81), die in der Relation »zwischen Kommunikation, Bewusstsein und Körper« (ebd.: 85) entstehen. Sie sind sowohl öffentlich als auch privat und trennen nicht einfach drinnen oder draußen, sondern beeinflussen als Zeichen (Ahmed spricht von »signs«) grundlegend unsere Trans-Aktionen. Ihre Wahrnehmbarkeit wird dadurch bedingt, dass sie reale Auswirkungen haben und grundlegend für das Bestehen machtvoller politischer Strukturen sind (Ahmed 2004b). Um der Komplexität emotionaler Regungen Ausdruck zu verleihen, bezeichnet die Anthropologin Michelle Rosaldo sie als »embodied thoughts« (Rosaldo 1984: 143). In dem sie Emotionen als verkörperlichte Gedanken beschreibt, denkt sie Geist und Körper als ineinander verschränkt. Wir denken und fühlen Angst, Zuneigung, Schmerz, Wut, Freude, Scham oder Traurigkeit, sei es bezogen auf unseren Atem, Herzschlag, unsere Haut oder andere organische Un_Wahrnehmbarkeiten, weil durch sie ein Verständnis des eigenen Mit-der-Welt-Seins sickert (vgl. Rosaldo 1984: 142ff ). Eben dieses gefühlte Wissen, oder wissende Fühlen, der eigenen Involviertheit lässt die fundamentale Bedeutsamkeit von Emotionen für unsere Sozialität hervortreten. Emotionen sind Relationalität. So können wir uns beispielsweise angezogen, abgestoßen, ausgeschlossen, eingebunden, hilflos oder wohlfühlen. Emotionen sind performativ, denn sie generieren Beziehungen: in dem wir beispielsweise jemanden als abstoßend wahrnehmen, empfinden wir Ekel (Ahmed 2004b: 82ff ). Diese, von Emotionen hervorgerufenen Äußerungen, haben alle eine Gemeinsamkeit: sie beziehen andere Menschen ein, sie entstehen in Diskursen, Begegnungen, imaginierten Erlebnissen und aus biografischen Erfahrungen. Sie sind somit grundlegende trans-aktionale Prozesse und auch pluralisierende Ergebnisse dieser Prozesse (Koivunen und Paasonen 2000; Senge und

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Schützeichel 2013). Die Welt der Emotionen lässt sich in vielfältigen Begriffen ausdrücken. Auch wenn das Fühlen eine universelle menschliche Fähigkeit ist, so sind ihre Ausdrucksformen kontextgebunden und unter anderem abhängig vom sozialen Status, der Zirkulation kulturalisierten Wissens und der Beziehung zwischen den Personen (vgl. Yeung 2005). Kurz gesagt: Emotionen sind ebenso kulturell und politisch gemacht, wie sie als körperliche Reaktionen real empfunden werden. Beide Perspektiven bedingen einander (Reddy 1997; Ahmed 2004b). Auf diese Weise wird Emotionen neben den Verhältnisdimensionen Raum, Zeit, Politik und Biografie eine gleichwertige Rolle zugesprochen. Der Schwierigkeit, Emotionen zu beforschen, kann in einer retrospektiven Methodologie nur durch den Zugriff auf emotionale Aussagen begegnet werden. Ich war sauer, es hat sich gut angefühlt, er ist verliebt oder das macht sie wütend sind Beispiele für solche emotionalen Aussagen. Dies setzt voraus, das Erlebnisse in unserem emotionalen Archiv gespeichert werden und sich reflexiv abrufen lassen können. So untersucht beispielsweise der amerikanische Soziologe und Historiker William M. Reddy (1997) die Dynamik und Bedeutsamkeit eben dieser emotionalen Aussagen, und wie sich diese im Prozess des Erinnerns und Äußerns verändern. Seine zentrale Erkenntnis bezieht sich auf deren Fluidität: Emotionale Äußerungen verändern sowohl den Gegenstand, auf den sie verweisen, als auch sie selbst verändern sich im Prozess des Verweisens. Sie sind dynamische Prozesse unseres Sozial-Seins (Reddy 1997). »An emotion statement […] is an effort by the speaker to offer an interpretation of something that is observable to no other actor. Such an effort is essential to social life, an inescapable facet of one‘s identity, one‘s relationships, one‘s prospects. As such, it has a direct impact on the feelings in question. If asked the question ›Do you feel angry?‹ a person may genuinely feel more angry in answering yes, less angry in answering no.« (Ebd.: 331)

Unter Bezugnahme auf die Zugehörigkeitsliteratur sind eben diese gleichzeitig emotionalisierten, also mit Emotionen versehene, wie auch emotionalisierenden, also Emotionen hervorrufende, Verhältnisse von zentraler Bedeutung. Wenn von Zugehörigkeit gesprochen wird, ist dies meist automatisch verbunden mit der Annahme eines Empfindens von Verbundenheit. So versteht unter anderem Johanna Pfaff-Czarnecka, wie bereits erwähnt, Zugehörigkeit als »emotionsgeladene soziale Verortung« in der Welt (Pfaff-Czarnecka 2012: 12). Diese Verortung entsteht »durch das Wechselspiel [...] der Wahrnehmungen und der Performanz der Gemeinsamkeit, [...] der sozialen Beziehungen der Gegenseitigkeit und [...] der materiellen und immateriellen Anbindungen oder auch Anhaftungen.« (Ebd.). Wenn Zugehörigkeit aber als Folge einer sozialen Verortung im Gemeinsamen und durch die daraus resultierenden Anhaftungen und Anbindungen entsteht, dann muss diese Verortung auch in ihren Begrenzungen und Einschränkungen wahrgenommen werden.

Mit Welten verbunden – Von Welten entrückt

Die Komplexität der uns zugeschriebenen oder wahrnehmbaren Anhaftungen, die keineswegs immer ein, in der Regel positiv konnotiertes, Vorhandensein etwas Gemeinsamen implizieren müssen (vgl. Nancy 1988), bedingt auch eine Komplexität an Empfindungen. Alle Anhaftungen können ebenso Spannungen der Gegensätzlichkeit erzeugen, die nicht nur ein Gefühl positiver Verbundenheit oder Verortung zur Folge haben. Ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit drückt sich als doppeltes Sozial-Sein aus, welches die Möglichkeiten und Verhinderungen der vielfältigen, intimisierten Verbindungen zur Welt mit hegemonialen Machtverhältnissen zusammendenkt. »Relational gewendet heißt dies, [...] weder sind Emotionen das Resultat einer konkret vorherrschenden Relation, noch ist diese Relation durch Emotionen verursacht, sondern vorgängig ist nur das Beziehungsgefüge mit seinen Dynamiken, in das man als Akteur (hinein) positioniert wird.« (Häußling 2009b: 9). »Sich zugehörig fühlen« und als »zugehörig (nicht) anerkannt werden« drücken die Ambivalenz von Zugehörigkeitspraktiken, als zeitliche und räumliche Synchronisationsbestrebungen zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung, aus. Relational betrachtet haben Emotionen verbindende, distanzierende oder klebrige Effekte. Diese Kategorien bedingen sich unweigerlich gegenseitig. Sentipensar ist keine soziale Einbahnstraße und kann nur in der komplexen wechselseitigen Beziehung zwischen der Vielzahl möglicher emotionaler Regungen einer Person und einer sie umgebenden sozialen Welt reflektiert werden. »Prozesssoziologisch-relationalistisch [...] ist es zunächst nur von Bedeutung, wie sozial wahrnehmbare Gefühlsäußerungen wirken und zu welchen Reaktionen sie Anlass« (Häußling 2009b: 91), oder eben keinen Anlass, geben.

Verbindende Gefühle Welche Assoziationen weckt ein Nachdenken über verbindende Gefühle? Aktiviert es Worte wie Liebe, Vertrauen und Zusammengehörigkeit? Oder kommen auch Trauer, Angst und Wut als Möglichkeiten der Verbindung in Betracht? Wenn Emotionen als »Kitt« (Häußling 2009b: 89) und Generator des Sozialen betrachtet werden, bedingen sie wesentlich die Bildung und das Fortbestehen von Gemeinschaften. Sie übernehmen als grundlegender Einflussfaktor eine sozialstrukturstabilisierende Funktion. So wird beispielsweise das Gefühl, etwas ist vertraut, häufig mit dem Attribut »familiär« assoziiert und auf diese Weise Ähnlichkeit und Verbundenheit ausgedrückt und praktiziert. Für dich, Ella, war eine Bezugsgruppe von Menschen mit ähnlichen Erfahrungen in einer von dir als turbulent beschriebenen Zeit deines Lebens relevant, weil sie dir eine Möglichkeit der Anbindung gab und dich aufgefangen hat, als du Unterstützung brauchtest. »Es wurde aber dann auch so schnell familiär! Wo du dann anfingst, dass du dich auf den anderen verlässt und aber auch wirklich, und dann, irgendwie, sich vertraut ist. Also das war halt auch wieder so ‚n schönes Gefühl Zugehörigkeitsgefühl. Das eben gemacht hat, das ich mich da auch extrem

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wohl gefühlt habe«. Sich aufeinander verlassen können, gegenseitig helfen und füreinander da sein hast du als wichtige Stütze erlebt, als es dir nicht gut ging und du dich alleine gefühlt hast. Als wir miteinander gesprochen haben, hast du keinen Kontakt mehr zu diesen Personen gehabt. Unsere emotionale Verbindung zu Menschen verändert sich auch in einer zeitlichen Dimension und ist abhängig von den jeweiligen Lebensthemen mit und Situationen in denen wir einander begegnen. Ähnliche Erfahrungen können ein Gefühl der Verbundenheit und des Vertrauens erzeugen, wenn es einen Raum zur Gegenseitigkeit und Mitteilung gibt, in dem wir wahrgenommen werden. Soziale Nähe, die auch durch das Teilen gemeinsamer Erfahrungen charakterisiert ist, hat einen Einfluss auf emotionale Regungen. So haben empirische Forschungen beispielsweise nachgewiesen, dass Freundschaften oder Partnerschaften häufig zwischen Personen mit ähnlichen sozioökonomischen Lebensbedingungen entstehen (vgl. Fuhse 2010: 183). Wir lieben also in uns vertrauten sozialen Kontexten und freunden uns eher mit »Gleichen« an. Doch ob dies daran liegt, dass die Wahrscheinlichkeit der Trans-Aktionen zwischen Menschen mit einem ähnlichen Status aufgrund (sozial-)räumlicher Nähe höher ist oder aber daran, dass die emotionale Verbundenheit aufgrund eines angenommenen Vertrauens in vermeintlich geteilte Erfahrungen entsteht, ist damit nicht ausgesagt (ebd.). Die Erforschung der Ursachen dieses Phänomens ist schwierig, da Kontingenz als wesentliche Bedingung für Soziale Beziehungen nicht einfach operationalisierbar ist. Auf welche Weise die Zusammensetzung unserer Umgebung – sozialräumliche Trennung, unterschiedliche Arbeitsfelder, Vermögen und der Zugang zu Netzwerken – die Möglichkeiten emotionaler Nähe bedingen oder verhindern, lässt sich nicht von der Beobachtbarkeit des Gemeinsamen trennen. Gemeinsame Gefühle werden kreiert, indem auf eine bestimmte Weise in sozialen Räumen häufiger inter-agiert wird bzw. überhaupt auch auf ähnliche Räume zurückgegriffen werden und so Kontakt entstehen kann (vgl. Fuhse 2010: 183–184). Lokalisierbare soziale Netzwerke prägen entscheidend die »sozialen Produktionsfunktionen«, die wiederum körperliches und mentales Wohlbefinden zur Folge haben können (Otte 2008 zit. in Fuhse 2010: 191). Deine Schulzeit war durch viele Schulwechsel geprägt, Ann. In Abgrenzung zu negativen Erinnerungen aus dieser Zeit, gab es jedoch eine Schule, die du mit einer positiv erlebten Einbettung verbindest. »Die einzige Schule, die für mich am angenehmsten war, war tatsächlich die für Hochbegabte, weil ich da keinen Rassismus gespürt habe. Und weil die Leute mich dann auch verstanden haben, wenn ich was gesagt habe, oder es halt eher akzeptiert haben, wenn ich irgendwie was geäußert habe.« Wir navigieren »spürend« durch unsere Umwelt und unser Aufgehobensein an sozialen Orten wird maßgeblich durch emotionale Erfahrungen mitgeprägt. Der von dir erlebte Rassismus an anderen Schulen ließ die Anerkennung und Akzeptanz, die du an der neuen Schule erfahren hast, besonders deutlich hervortreten, da du sie in Abgrenzung zu den vorher gemachten Erfahrungen als »angenehm« abgespeichert hast. Dies verdeutlicht die

Mit Welten verbunden – Von Welten entrückt

Bedeutung von Erfahrungsräumen vor allem als emotionale Archive, mit denen wir Erfahrungen der Einbettung oder Abstoßung verbinden. Auch geteilte Ausgrenzungserfahrungen können verbindende Emotionen zur Folge haben, da Wut oder Angst ebenso kollektivieren, wie es Gefühle von Zuneigung oder Fröhlichkeit vermögen. Aus diesem Grund soll hier eine Einteilung in »positive« oder »negative« Gefühle vermieden werden, da diese bereits eine normative Setzung implizieren, die sie vom jeweiligen sozialen Kontext und der Spezifik sozialer Trans-Aktionen entkoppelt und als universell erstrebens- oder ablehnenswert erklärt. Der verbindende Effekt von Emotionen baut auch auf der Macht gefühlter Nähe auf, wie am Beispiel der Nation als mächtiger Pluralisierungsform bereits verdeutlicht wurde. »[…] emotions work through the very failure to be located in a given object or in the failure to produce an object – which may include the nation or the globe – as given.« (Ahmed 2000: 21). »Ich bin Brasilianerin und habe halt das Glück, dass die Leute immer sagen ›Ah, echt, wow!‹ Du sprichst an dieser Stelle lachend von diesem »Glück«, Ella, denn die Möglichkeit, zwischen zwei räumlichen Bezugspunkten wählen zu können, wird für dich in bestimmten Kontexten zu einer stolzen Präsentation dieser Bezüge. Die von dir als bewundernd erfahrenen Reaktionen ermöglichen dir eine positive Identifikation. Sie lassen jedoch erst einmal auch keinen Platz für eine andere Perspektive. Nämlich deine oft geäußerte, tiefgehende Verunsicherung und Auseinandersetzung mit dem Wunsch, dich zu deiner Familie dort zugehörig zu fühlen und dich nicht als von außen hinzu kommend wahrnehmen zu müssen. Aufgrund deiner Familiengeschichte bist du mit zwei Orten verbunden. Du bist an einem Ort aufgewachsen, während du den anderen nur von Besuchen und längeren Aufenthalten kennst. »Und das ist ein großer Konflikt, in dem ich lebe.« Dieser Konflikt, den du beschreibst, lässt sich nicht sehen und auch nur dann hören, wenn du darüber sprichst. Er erfasst dein Gefühl der Distanzierung als isoliertes Ich, was zwar die Regeln und Rituale kennt, sich aber dennoch einem geschlossenen Kollektiv gegenüber sieht, dem du nur bedingt beitreten kannst. Du weißt zwar, »wie man Samba tanzt«, aber »wenn die loslegen, dann fühle ich mich trotzdem wie die, die es nicht weiß. Oder wenn sie singen. Sie singen alle los und kenne alle diese Lieder nicht. Wenn sie singen, dann fängt gleich was in mir an, sich unwohl zu fühlen.« Du hast dein Aufwachsen als Dilemma erlebt, da du gerne ein vollständiger Bestandteil dieser Gemeinschaft gewesen wärst. Und gleichzeitig ermöglicht dir die Abgrenzung von dort, auf eine positive Verbindung zu deinem Lebensort zurückzugreifen. »Das ist eigentlich dann das positive, was ich da rausziehe, dass ich eben hier sehr glücklich sein und hier ein gutes Leben führen kann.« In der Markierung durch die von dir erfahrenen Reaktionen auf deine Aussage »Ich bin Brasilianerin« wird deine, von dir als komplex empfundene emotionale Involviertheit, auf eine akzeptierte und anerkannte Version eines unspezifischen »anders« Seins reduziert. Die Äußerung der Anerkennung positioniert dich an einen unspezifischen sozialen Ort, jedoch in Abgrenzung zu anderen möglichen Positionierungserfahrungen. Auf eine Weise verbinden dich die Reaktionen mit dem Ort, während sie gleichzeitig der Ambivalenz deiner empfundenen Unvollständigkeit nicht entsprechen. So sagst du weiter »Wenn ich sage, ich bin Halb - keine Ahnung was, also es

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gibt ja so bestimmte Bilder von Ländern und dann hat man halt Pech oder Glück, was man jetzt gerade ist«. Nationale Relationen positionieren uns hierarchisch in globalen Machtverhältnissen, ohne das wir als Personen mit unseren biografischen und emotionalen Widersprüchlichkeiten in dieser Positionierung notwendigerweise bedeutsam sind. Sie bestimmen unsere emotionalen Bezogenheiten mit, denn unsere Selbstbehauptung entsteht in Wechselwirkung mit den Fremdwahrnehmungen, mit denen wir konfrontiert werden. Hegemoniale und persönliche Zugehörigkeitspraktiken, wie hier am Beispiel der Markierung als »Andere«, eröffnen auch den Blick auf Prozesse, die als Widerspruch oder auch bewusste Strategie zwischen zugehörig gemacht werden und sich zugehörig machen fühlbar sind (vgl. El-Tayeb 2011). Füge ich mich in die mir zugewiesenen Rollen bzw. wehre mich gegen den Blick von außen, wenn ich als eindeutig identifizierbar gelten oder mich durch Selbstzuschreibungen vermeintlich identifizierbar machen muss? Und was passiert, wenn ich mich in dem mir zugewiesenen Platz nicht wohlfühle? Hier lässt sich die Grenzmarkierung durch Emotionen im Kongruenzbestreben reflektieren: einerseits wird die Verbundenheit zu einem Ort in Abgrenzung zu einem spezifischen Außen genutzt, während in der Verbindung gleichzeitig auch emotionale Distanz und Zerrissenheit empfunden werden kann. Dies verdeutlicht die notwendige Situiertheit komplexer emotionaler Empfindungen. »We don’t have feelings for objects because of the nature of objects. Feelings instead take the ›shape‹ of the contact we have with objects« (Ahmed 2004a: 31), stellt Sara Ahmed mit Bezug zu Descartes heraus. Das Ansehen und die soziokulturelle Bedeutung von Orten und Menschen, mit und an denen wir interagieren, sind dann ebenso bedeutsam für die Entstehung verbindender Gefühle. Wir lieben oder hassen Menschen oder Dinge nicht, weil sie gut oder schlecht sind, sondern weil wir sie, je nach sozialem Bezugsfeld, als angenehm, begehrenswert, schmerzhaft oder abstoßend wahrnehmen. Fragt dich im Ausland jemand, woher du kommst, antwortest du, Anton: »Ich bin Berliner. Also ich bin nicht Deutscher oder so, ich sehe mich in erster Linie als Berliner. Also ich bin auch Deutscher irgendwie, aber ich würde das immer als meine Hauptidentitätsspeisung sagen. Mit den ganzen Subkulturen und Hintergründen fühle ich mich eher verbunden, oder fühle ich mich eher als eins, weil sie halt aus der gleichen Gegend kommen, als mit irgendwelchen Leuten aus einem anderen Bundesland«. Positiv erlebte Verbundenheiten entstehen aus positiven Identifikationen und auch aus dem Gefühl der Autonomie, über unsere persönlichen Referenzrahmen selbst entscheiden zu können. Die Frage »Woher kommst du?« ist ein anschauliches Beispiel für den Einfluss von Emotionen, die soziale Positionen und Kontexte bei uns auslösen. Während dich die Frage mit deinem Lebensort verbunden sein lässt, steht sie in einer postkolonialen Lesart auch für die problematische Unterstellung eines »Nicht-von-hier-Seins« oder gar als Aufforderung »an den eigentlichen Ort zurückzukehren«. Dieser Erfahrung entkommst du aufgrund deiner Sichtbarkeit als weißer Mann, die deine Legitimation, dich auf deinen Wohnort als Herkunftsort beziehen zu können, nicht grundlegend in Frage stellt. Während du aber an anderer Stelle in unserem

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Gespräch auch verdeutlicht hast, das deine Mit-Teilung deiner Herkunft aus dem Osten in deiner damaligen Schule sich wie ein »Coming out« angefühlt hat. »Woher« wir kommen ist keine unschuldige Einladung des Teilens von Geschichten. Es spielt eine Rolle, in welchen Trans-Aktionen diese Frage als distanzierende Zuordnung vorgenommen wird. Die Vielfältigkeit der Antworten auf das »Woher« symbolisieren ein kontext- und wahrnehmungsspezifisches Mäandern zwischen Abgrenzung und Anbindung. Menschen investieren in Gemeinschaften, wenn diese ein Gefühl der Zufriedenheit, Hoffnung und des Aufgehobenseins versprechen (vgl. Ahmed 2004b: 183ff ). Diese Vorstellung ist häufig nur in ihrer Abstraktion aufrecht zu erhalten und muss keineswegs gegenseitig sein. Hierbei stehen nicht all die möglichen Uneindeutigkeiten im Mittelpunkt, sondern die Praktiken, mit diesen Uneindeutigkeiten umzugehen und die häufig eingeschränkten Möglichkeiten, diese im sozialen Alltag und in Trans-Aktionen zu aktualisieren oder zu verwerfen. Auch einseitig empfundene emotionale Verbundenheit kann zu einem Zugehörigkeitsempfinden beitragen, solange diese nicht, gewaltvoll, infrage gestellt wird. »Solange Menschen bei ihren wiederholten Interaktionen positive Emotionen und das Gefühl gemeinsamer Verantwortung und Wirksamkeit erleben, bahnen sich positive Gefühle ihren Weg zu entfernteren Objekten bis hin zu Gesamtgesellschaften.« (Turner und Jonathan 2013: 205). Aus diesen Empfindungen entsteht dann eher die Bereitschaft zur Hingabe und ein Gefühl der Verpflichtung, sich an gemeinschaftlichen Aktivitäten zu beteiligen (ebd.). Damit wird erneut die politische Relevanz emotionaler Verhältnisse deutlich (vgl. Mouffe 2015: 34ff ). Die Vorstellung, ein Staat sei beispielsweise für die Ermöglichung von Glück verantwortlich, verkennt die damit verbundene Hörigkeit, die Glück nur als uneinlösbares und einseitiges Versprechen aufrecht erhält: »The happiness promised by the nation is what sustains investment in the nation in the absence of return, a happiness that is always deferred as the promise of reward for good citizenship.« (Ahmed 2004b: 196). Das Glücksversprechen wird zur Belohung für ein gutes Bürger-Sein. Natürlich empfinden wir nicht nur Verbundenheit bezogen auf die diversen Pluralisierungsangebote in sozialen Strukturen, sondern Zugehörigkeiten werden vor allem auch in intimen freundschaftlichen oder partnerschaftlichen Verbindungen ausgelebt und ausgehandelt. Die intimisierte Ebene zwischenmenschlicher Trans-Aktionen ist für empfundene Verbundenheit oder Distanzierung relevant, obgleich sie, wie bereits verdeutlicht, nicht vor-sozial, also jenseits jeglicher Positionierungen und archivierter Erfahrungen, stattfinden kann. Aus all den potentiellen sozialen Trans-Aktionen treffen wir tagtäglich immer nur eine Auswahl. Sympathien, negative Erfahrungen oder aber auch die fehlende Bereitschaft, sich auf andere einzulassen, sind relevante Faktoren für die Möglichkeiten kollektiver Anbindungen (vgl. Häußling 2009b: 82ff ). In einem Abschnitt sprichst du, Alina, über die Bedeutung von Freundschaften, die eine bestimmte Version von dir ermöglichen und soziale Positionierungen transzendieren. »Ich habe

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aus der Schulzeit meine besten Freundinnen und dann noch einen Kumpel, und da ist es irgendwie so, das ist schwer zu beschreiben. Es ist nicht so, dass ich mich mit denen dann auf einmal deutsch fühle. Sondern eher so, dass das so ein paar der wenigen in Anführungszeichen «Deutschen« sind, bei denen ich mein Arabischsein nicht merke. Wo sich irgendwie einfach dadurch, dass wir uns so lange kennen und emotional so krass verbunden sind, sich solche Sachen auch irgendwie transzendieren. Das sind auch zum Beispiel die Leute in meinem Leben, wo ich am allerwenigsten das Gefühl habe, dass sie weiß sind. Obwohl sie es sind.« In deiner Reflexion über die politische Brisanz von Subjektpositionen und der Bedeutung hegemonialer Ein- und Ausschlusspraktiken verortest du eure Freundschaft als etwas Besonderes. In diesem intimen Verhältnis der Vertrautheit und Nähe werden Positionen für dich transzendiert, sie verschwimmen und werden dadurch ihrer Bedeutsamkeit entzogen. Die Frage, was dein »Arabischsein« ausmacht, wird hier vor allem in Abgrenzung zu den Freunden als »deutsch« und »weiß« relevant, ohne, dass dies eine Definition deines »Arabischseins« notwendig macht. Eure Freundschaft ermöglicht für dich eine Transzendenz sozialer Positionierungen durch ein Sicherheits- und Verbundenheitsgefühl. Bei mir hinterlässt dies die Frage nach der Bedeutsamkeit und den Möglichkeiten von Transzendenz: Ist dies eher möglich, je persönlicher unsere Bindungen sind? Provoziert soziale Distanz Identitätsfestschreibungen und Abgrenzung? Aus welchen Bedingungen entsteht der Wunsch zur Transzendenz? Intimisierte Beziehungen fordern soziale Positionierungen heraus und machen sie situativ obsolet, auch wenn sie sie im gesamtgesellschaftlichen Gefüge nicht zum Verschwinden bringen. Das Persönliche ist immer politisch (vgl. Nghi Ha et al. 2007) und die hierarchisierte Materialisierung körperlicher Un_Wahrnehmbarkeiten spielt eine wesentliche Rolle bei der Gestaltung von Freund- und Partnerschaften (vgl. Fuhse 2010). Emotionen und emotionalisierte Äußerungen sind auch deswegen performativ, weil sie eine Geschichtlichkeit in sich tragen, die sie transgenerational wirksam machen und sich durch ihren Bezug auf spezifische und pluralisierbare Erfahrungen von eben diesen nur schwer entkoppeln lassen. Erst wenn durch Empathie, Mitgefühl und Verständnis eine Verbindung zu ihrer jeweiligen Aktualität ermöglicht wird, können sich »communities that feel« (Ahmed 2000) über spezifische Identitätskategorien hinweg bilden.

Distanzierende Erregungen Die verbindende Macht von Emotionen impliziert ebenso ihre gegenläufige Tendenz, wenn nämlich geteilte Erfahrungen und die Zuordnung zu einem Kollektiv zu Distanzierung und Entfremdung führen. »In other words, what separates us from others also connects us to others.« (Ahmed 2004a: 29). Dies kann zum Beispiel aus dem Gefühl heraus entstehen, nicht verstanden zu werden oder wenn kein Ort emotionaler Nähe in Vergemeinschaftung gefunden wird. Gleichermaßen kann die emotionale Kollektivierung von Menschen zur distanzierenden Erregun-

Mit Welten verbunden – Von Welten entrückt

gen anderer führen, wenn diese als nicht gleich fühlend oder aber auch intentional, aufgrund anderer Zuschreibungen, ausgeschlossen werden. »[A]lignment, I will suggest does not take place through ›the subject‹ simply ›inhabiting‹ the skin of the community, rather the skin of the community is an effect of the alignment of the subject with some others and against other others. Difference here is not what belongs to a particular body, but materialises as a relationship between bodies.« (Ahmed 2000: 16)

Dies macht Emotionen als Generatoren sozialer Grenzziehungen so bedeutsam: Wir sind einem auf spezifische Weise wahrgenommenen Außen ausgesetzt und in dem wir auf dieses Ausgesetzt-Sein re-agieren, werden Emotionen als Distanz-Marker relevant (Ahmed 2000: 10). Das Dilemma der Vereinnahmung verdeutlichst du an einem persönlichen Beispiel, Ella, ohne jedoch eine Handlungskonsequenz für dich daraus abzuleiten. »Ich empfinde mich eigentlich als Hip Hopperin, aber ich spring die ganze Zeit in der linken Szene rum. Und die finden mich ganz toll und ich glaube, die denken schon, ich bin eine von ihnen.« Wir stehen immer auf der öffentlichen Bühne des Sozialen, bezogen auf den jeweiligen Status ist diese Öffentlichkeit kleiner oder größer und einflussreicher oder desinteressiert. Sind wir mit starken Emotionen der Zuneigung oder Ablehnung konfrontiert, kann dies ein bestimmtes Verhalten provozieren. Sei es eine Identifikation oder Abwehr, wenn zum Beispiel das zugehörig-gemacht Werden zu einer Pluralform stattfindet, mit der wir aus unterschiedlichen Gründen nichts zu tun haben wollen. Was die einen emotional zusammenführt, kann zur emotionalen Distanzierung der anderen beitragen und umgekehrt. Emotionen haben aus diesem Grund keinen einheitlichen Effekt, sondern können, je nach ihrer sozialen Bewertung und ihrem Ursprung, verschiedene Wirkungen entfalten. Damit lässt sich verstehen, warum sich Bedeutungen von »Liebe« in verschiedenen Zusammenhängen unterschiedlich entfalten und verschieden geformte Sozialbeziehungen hervorbringen (vgl. Yeung 2005). Wie kann Distanzierung dann überhaupt erfasst werden? An einer Situation aus deiner Jugend, von der du berichtest Alina, werden Emotionen als Distanzmarker deutlich. »Für mich war das Familienleben, das ich zu Hause erlebt habe gleichbedeutend mit Arabischsein. Und das war scheiße. Und das wollte ich nicht. Und ich glaube dieser Wunsch, blond und blauäugig zu sein, war dann quasi die Essenzialisierung dessen, was ich haben wollte. Damit ging für mich auch zum Beispiel einher, wenn ich irgendwie deutsch wäre, dann dürfte ich auch am Wochenende bei einer Freundin übernachten. Und wenn ich deutsch wäre, dann dürfte ich ins Freibad gehen. Also für mich war Deutschsein ganz viel mit Freiheiten verknüpft. Zu der Zeit noch.« Empfundene Dissonanz wird damit zur Projektion einer Wunschvorstellung: wenn es anders (deutsch) wäre, wäre alles anders (besser). Dies zeigt die Macht und Verwobenheit von Ausgrenzungserfahrungen mit unseren intimisierten Sozialbeziehungen. Deine Familie und die soziale Welt außerhalb der Familie stehen sind miteinander verwoben.

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Du erzählst von einer anderen Situation, in der dieses Außen bei einem Eisdielenbesuch mit deiner Familie spürbar war: »Deutsch sein bedeutet auch, nicht das Gefühl zu haben, dass es peinlich ist, wenn die ganze Familie in eine Eisdiele geht. Weil du halt nicht angeguckt wirst als blonde Familie mit zwei Kindern. Oder du wirst auch nicht gefragt, ob eins davon vielleicht deins sein könnte.« Das Empfinden des »anders Seins« wird durch ein Gefühl der Scham wahrnehmbar und durch deine Erfahrungen mit Rassismus verstärkt. Du erlebst deine Familie als wahrnehmbaren Gegensatz zur unbenannten, aber sichtbaren Norm, die in ihrer Sichtbarkeit aber gar nicht mehr wahrgenommen wird. In deinem sozialen Bezugsrahmen und deiner biografischen Verwobenheit wird deine Familie auf eine bestimmte Art sichtbar. Du erlebst dein familiäres Eingebundensein in Distanz zu eurer damaligen Umgebung. Ich kenne das Gefühl, am falschen Ort doppelt sichtbar zu sein. Bleiben uns diese Erfahrungen besonders dann in Erinnerung, wenn unsere Beziehungen zu den Personen mit ambivalenten und widerständigen Gefühlen verbunden sind? Die Distanzierung ist ein Effekt emotionalen Erlebens. Wird dieses Erleben als negative Erfahrung abgespeichert führt es zur Vermeidung der Orte und Menschen, die als Auslöser verantwortlich gemacht werden. Scham ist eine solche ambivalente Emotion, deren Wirkungen zwischen Konformität und Widerständigkeit wechseln können (vgl. Krishnamurthy 2017: 64ff ). Wir sprechen über die Bedeutung einer religiösen Gemeinschaft für dich, Anton. Du sagst über eine Gemeinde, die du immer mal wieder aufsuchst: »Das ist so oft auch fern meiner Erfahrung, weil sie den erkalteten Kult praktisch ins Leben gerufen haben und die machen halt alle irgendwas. Ich weiß nicht genau, ob sie wissen, was sie da machen oder warum sie es machen. Es gibt auch viele ältere Leute und ich fühle mich nicht so aufgehoben vom vibe her. Es gibt eine sehr coole Pfarrerin da, die find‘ ich super. Aber ich würde mir gerne so ein bisschen mehr fire wünschen.« Du verstehst dich als religiös, empfindest aber keine emotionale Verbundenheit zur Gemeinschaft anderer Gläubiger in deiner Umgebung. Wünschenswerte oder empfundene Konsonanz kann so zur Dissonanz werden, wenn unserem Wunsch nach Verbindung und Entwicklung kein Platz gegeben wird oder soziale Reibungen zwischen eigenen Vorstellungen und den realen Möglichkeiten unüberwindbar werden. Wir interagieren in sozialen Situationen, in denen wir mit Menschen konfrontiert werden, die Dinge anders machen als wir, die sich anders verhalten und von denen wir uns als Konsequenz abgrenzen wollen. Dies ist jedoch keineswegs immer (eindeutig) möglich, denn Situationen verändern Verhalten und somit auch unsere Trans-Aktionen mit den Personen (vgl. Häußling 2009b: 83ff ). Insbesondere in Kontexten, wo unsere Einflussmöglichkeiten gering sind, können sich distanzierende Effekte von Emotionen manifestieren und uns ein Gefühl der Handlungsunfähigkeit geben. Doch auch vermeintlich bedeutungslose soziale Trans-Aktionen werden durch diese Empfindungen geleitet. Im weiteren Verlauf des Kapitels gehe ich ausführlicher auf die Bedeutung von Dissonanz und Konsonanz ein.

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»Sowas hast du ja oft, dass du von außen in eine Gruppe gerätst, die du nicht unbedingt verstehst. Ich habe vor kurzem auf Reisen eine Gruppe kennengelernt, mit denen ich mich gut verstanden habe. Einer war dann zu Besuch bei mir und da fiel mir auf, dass er viele Drogen genommen und sich komplett abgeschossen hat. Das war mir vorher nicht bewusst. Ich bin überhaupt nicht drogenmäßig und da ist mir bewusst geworden, er hat eine Mentalität, die ich eigentlich gar nicht kenne, eine völlig komische, verknöcherte seltsame Mentalität und da bin ich auch nicht Teil von diesem movement auf jeden Fall.«. Eine Urlaubsbegegnung wandelt sich für dich, Anton, zu einer emotionalen Herausforderung, da sich euer Mit-Sein nicht im gleichen Sinn entwickelt hat, wie es sich nach dem Kennenlernen anfühlte. Emotionen wandeln sich mit den Einstellungen, die wir zu Personen haben. Auch du, Carla, erzählst von Befremdungserfahrungen aus deinem Alltag. »Ich empfinde so eine Verbundenheit mit den Leuten, die hiergeblieben sind. Und wenn ich alle auf einem Haufen hätte, dann könnte ich eine Riesenparty machen, wenn alle, die ich kenne, irgendwie kommen würden. Es sind ja auch viele, die hier geblieben sind die ganze Zeit, die wollten zwar immer weg, aber sind nie weggegangen. Und manchmal kann ich mit den Leuten gar nicht connecten, weil ich halt in der Welt unterwegs war so. Ich mag halt auch diese internationale Atmosphäre voll gerne und mir ist es manchmal zu lokal.« Welche Konsequenzen ergeben sich aus Distanzierungserfahrungen? Müssen wir uns ähnlich sein, um unser Mit-Sein gestalten zu können? Oder bestimmt die Ähnlichkeit nur die Intensität unserer Ver-Bindungen? Im Sprechen und Nachdenken über das Verhalten der Anderen bewerten, ignorieren und interpretieren wird dies. In der spürbaren Anwesenheit in sozialen Trans-Aktionen sind wir jedoch unmittelbar auf unsere Handlungsmuster und Umgangsformen zurückgeworfen. Erfahrene Privilegierungen und Marginalisierungen prägen unsere Begegnungen in Machtverhältnissen. Die Macht der Gewohnheit und ein gesellschaftlich institutionalisiertes Kontinuitätsbestreben beeinflussen die Un_Möglichkeiten von Emergenz und tatsächlich realisierbaren, veränderten Handlungen (vgl. Hirschauer 2014). Ein weiterer wichtiger Einflussfaktor für das Empfinden distanzierender Erregungen ist deren unterschiedlich wahrgenommene Intensität. Die Sozialpsychologin Sylvie Droit-Volet erforscht die zeitliche Gebundenheit von Emotionen und wie wir bestimmte Emotionen unterschiedlich andauernd und intensiv wahrnehmen (Droit-Volet und Gil 2009). Sie hat in standardisierten Studien festgestellt, dass Wut beispielsweise am erregendsten und längsten wahrgenommen wird, gefolgt von Angst, Zufriedenheit und Traurigkeit (ebd.: 1946). Die Reaktion auf diese Erregungen kann sowohl im Sender als auch Empfänger ähnlich sein. Dieser neurologisch-mimetische Vorgang hat zur Folge, dass der Ärger einer Person Ärger in uns hervorrufen kann, und das die Angst einer Person auf uns alarmierend und verängstigend wirkt, ohne dass wir der potentiellen Gefahr dafür ausgesetzt sein müssen (ebd.: 1949). Emotionen können distanzierende Effekte auslösen, weil sie sozial übertragen werden.

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Beweglichkeit oder Fixierung werden durch die Festschreibung bestimmter Eigenschaften in Trans-Aktionen hervorgerufen. Eine Form, mit der die Festschreibung erfasst werden kann, ist die Klebrigkeit. Ihr widme ich mich in der letzten Dimension der Emotionalen Verhältnisse.

Klebrigkeit Trans-Aktionen finden in emotionalisierenden und emotionalisierten Verhältnissen statt und haben, je nach sozialem Kontext, verbindende oder distanzierende Folgen. Beide Effekte können in ihrer Verstetigung klebrig sein. Was aber ist mit Klebrigkeit gemeint? Die Klebrigkeit von Emotionen symbolisiert ihre dauerhafte Wahrnehmbarkeit durch historisierte Kontakte zwischen Körpern, Objekten und Zeichen (vgl. Ahmed 2004b: 90): »what is sticky threatens to stick to us.« (ebd.: 90). Emotionen setzen sich durch ihre stetige Wiederholung in Körpern fest. Mit Reddy kann der performative Effekt dieser Wiederholungen als tiefgreifender Einfluss »on one‘s whole emotional makeup« (Reddy 1997: 331) bezeichnet werden. Wie bereits erwähnt, hat die Bezeichnung von Dingen als ekelhaft, traurig, angsterfüllend, sympathisch, hoffnungs- oder schmerzvoll, soziale Effekte, denn die Bezeichnung generiert und entsteht aus sozialen und emotionalen Werten und Normen, die wiederum die damit assoziierten Subjekte hervorbringen (vgl. Ahmed 2004b). Mir fällt hierzu ein Abschnitt unseres Gesprächs ein, Maxim, indem du über die Stigmatisierung und Überidentifikation sprichst, die durch die spezifische Assoziation mit gesellschaftlich wenig geachteten Gruppen einhergehen kann. Du bleibst vage in deiner Äußerung, aber die Art und Weise, wie du darüber sprichst, lässt mich vermuten, dass du von einer persönlichen Erfahrung berichtest. »Letztendlich gibt es auch manchmal Gruppen oder Arten von Zugehörigkeit, die auch nichts anderes mehr zulassen. Du bist dann einfach damit abgestempelt. Und wenn du einmal dann abgestempelt bist, dann hast du auch nur noch das. Also versuchst du um Teufel komm raus alles zu tun, um das nicht nur beizubehalten, sondern auch noch zu verstärken. Weil das ist ja das einzige, was du noch machen kannst. Und das ist dann halt so ein bisschen gefährlich bei manchen Sachen. Weil wenn du dann echt schon abgestempelt bist, bleibt dir nix anderes übrig außer das, was du hast, und das ist dann nicht viel, zu verstärken.« Die emotionale Klebrigkeit von Zugehörigkeitszuschreibungen lässt sich in emotionale Regungen übersetzen, sei es durch eine Überbetonung oder Ablehnung der Zuschreibungen. Sie

Mit Welten verbunden – Von Welten entrückt

haften uns an und lassen sich schwer oder nur durch die Ablösung durch andere Identifikationsmöglichkeiten entkommen. Die von außen assoziierte Wahrnehmung hat eine Emotionalität zur Folge, die ein Innen durch die Re-Aktion hervorbringt. Um manche Zugehörigkeiten, und ein damit einhergehendes Selbstverständnis, nicht zu verlieren, verstärken oder verteidigen wir sie und bemühen uns als Resultat um Anbindung und Bestätigung. Die positive Erfüllung dieses Bemühens kann wiederum nur in neuen Trans-Aktionen erlebt werden. In einer »bürgerlich-moderne[n] Subjektordnung« wird »im Subjekt in seinem alltäglichen Verhalten, seinen Emotionen und seinem Begehren eine emotionalisierte ›Natürlichkeit‹« herangezüchtet (Reckwitz 2010: 7). Diese vermeintliche Natürlichkeit muss als Folge klebriger Bindungen an Ausdrucksnormen (Häußling 2009b: 92) reflektiert werden: sie bezieht sich auf »Erwartungen an Gefühlsäußerungen, Normierungen der Ausdrucksfähigkeit, Regeln und Gebote bekundbarer Gefühle« (ebd.), die wiederum den Körper als Kompass vereinnahmen und hervorbringen. Durch soziale Erwartungen an unsere Mimik, Gestik, Stimme, Haltung, Bewegung, unser Benehmen und Auftreten werden körperlich-emotionale Un_Wahrnehmbarkeiten überwacht, sanktioniert und korrigiert. Menschen werden so je nach Kontext als spezifische Subjekte wahrgenommen, mit denen spezifische Emotionen assoziiert werden. Die unterschiedliche Klebrigkeit von Emotionen lässt sich damit auch auf Geschlechterverhältnisse übertragen. Eine »höhere Schamanfälligkeit von Frauen liegt in ihrer sozialen Position in der gesellschaftlichen Hierarchie begründet und der entsprechenden sozialen Stratifizierung von Emotionen« (Krishnamurthy 2017: 67). Diese spezifischen Wahrnehmungen sind Folgen und Ursachen gelernter und verinnerlichter materiell-diskursiver Praktiken. »Zuneigung, Abneigung, Bewunderung, Verachtung und eine Fülle anderer Gefühle« ermöglichen oder verhindern auf diese Weise »bestimmte soziale Prozesse zwischen den Menschen« (Häußling 2009b: 82). Treue (vgl. Simmel 1992) oder Scham (vgl. Krishnamurthy 2017) sind zwei Beispiele kulturalisierter und sozialer Normen eben jener »emotionalisierten Natürlichkeit«, die durch ihre Klebrigkeit eine produktive Kraft von Hegemonialisierungen und Intimisierungen sind. Wir kommen auf ein Telefonat zu sprechen, an das du dich erinnerst, Carla. Eine Kollegin deiner Mutter rief bei euch zu Hause an und wollte sie sprechen. Auf deine Antwort »Sie ist in der Kaufhalle« hat die Kollegin amüsiert reagiert. Ihre Reaktion hat in dir ein Gefühl der Scham und ein Bewusstsein für deine Biografie ausgelöst. »Ich habe mich so ein bisschen dafür geschämt, weißt du. Vielleicht hatte ich doch auch ein bisschen dieses Gefühl, irgendwas ist mit mir anders als mit denen aus dem Westen.« Die »Kaufhalle« verbindet dich einerseits mit einem historischen Kollektiv, während dich das Wort als Metapher andererseits von spezifischen Praktiken der Gegenwart trennt. Soziale Scham wird einerseits durch verschieden gewertete Vergemeinschaftungserfahrungen ausgelöst, sie ist andererseits aber auch der Auslöser dafür, dass du möglicherweise

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zukünftig deine Sprache anpasst oder eben erst recht immer weiter von der Kaufhalle sprichst, um deine Verbundenheit auszudrücken. Scham klebt an uns, in dem sie sowohl auf die Verbundenheiten zu einem Kollektiv als auch die Distanzen zu einem anderen und deren unterschiedliche soziale Hierarchisierung verweist und dadurch als Emotion der Grenzziehung in Erscheinung tritt (vgl. Krishnamurthy 2017). Ebenso kann Angst als Ausdruck einer klebrigen Bindung an soziale Hierarchien und Subjektpositionen gelesen werden, die auf ein Spannungsverhältnis zwischen den eigenen Wünschen und der Bewertung und Wahrnehmung durch ein Außen hinweist (vgl. Ahmed 2004b: 62ff ). Du beschreibst deine Angst vor einer für dich bedeutungsvollen Reise, Ella. Du wusstest von der Möglichkeit eines Auftritts während der Reise, wo du dein Können zusammen mit anderen präsentieren konntest. »Ja, ich hatte ziemlich große Angst, ich war natürlich total glücklich, dass ich wusste, ich fahre dahin, aber ich hatte auch große Angst, weil ich dachte ›Ey, das ist halt die Geburtsstadt dieser Musik und dann bin ich da und womöglich fühle ich mich wie das letzte kleine Würstchen, was hier denkt, sie ist cool, weil sie die Musik cool findet und auch mal ein bisschen mitmachen will‹.« Wir verinnerlichen soziale Codes und Standards und imaginieren ihre Bedeutsamkeit für die Anerkennung durch Andere. Emotionen dienen der Legitimierung unseres Verhaltens, wenn dieses in einem soziokulturell akzeptierten Rahmen aufgeführt und anerkannt wird. In ihrer Klebrigkeit werden Emotionen nach Harrison White als »reziprok angelegte Kontrollprojekte« wahrnehmbar (White zit. in Häußling 2009b: 5). Eine Folge der Kontrollfunktion ist die Fixierung von Identitäten, deren Verhalten mit spezifischen Anforderungen verbunden ist. Die Kontrollfunktion ist jedoch nur dann wirkungsvoll, wenn Menschen sich auch kontrollieren lassen (ebd.). Oder, wie es Ahmed in Anlehnung an Butler ausdrückt: »emotions are crucial to politics, in the sense that subjects must become ›invested‹ in and attached to the forms of power in order to consent to that power« (Butler 1997 zit. in Ahmed 2000: 10). Auch wenn theoretisch immer alles so oder auch anders möglich ist, so beeinflussen die soziokulturell und politisch gewachsenen Ordnungen unsere Körper, deren Geschichten, emotionalen Verfasstheiten und Handlungsmöglichkeiten. Die Klebrigkeit von Emotionen besteht in ihrer Verhinderung von Ent-Bindungen. Insbesondere, wenn eine Erwartung an Loyalität oder Unterstützung internalisiert wird, individuelles Handeln nicht zu Enttäuschung führen soll oder kein Entkommen aus den sozialen Zwängen des eigenen Status führt (vgl. Haidt 2013: 110ff ). Dies spielt insbesondere bei familiären Anbindungen eine Rolle, die als unhintergehbar angesehen werden, da sich von ihnen nur schwer zu lösen ist. Ich erinnere mich an zwei Gesprächssituationen, einmal mit dir, Kie, und einmal mit dir, Alina, in denen ihr über euer Verständnis von Familie gesprochen habt. »You‘ve known them, you can‘t just get rid of them like that, you have no choice, whether they‘re your friends or not, because you can‘t get rid

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of them. You always put up with them, because you‘re stuck with them.« Du bist an deine Familie gebunden, Kie. Ein Entkommen aus der Verbindung ist nur schwer möglich, selbst dann, wenn es bewusst gewollt ist. Für dich ist hierbei die Unterscheidung zwischen Herkunfts- und Wahlfamilie entscheidend, Alina: »Also für mich ist der größte Unterschied zwischen Herkunftsfamilie und gewählter Familie, dieses ich liebe alle meine Familienmitglieder. Aber ich mag sie nicht sonderlich. Unbedingt. Alle. Gleich. Also, meine jüngste Schwester und ich zum Beispiel, wir haben nicht viele Anknüpfungspunkte und sie bezeichnet sich auch als sehr patriotisch und wollte eigentlich zur Bundeswehr gehen und damit kann ich überhaupt nichts anfangen. Einerseits gibt es eine ganz krasse Bindung und andererseits weiß ich auch, würde ich sie als fremden Menschen kennen lernen, würde sie auch nicht viel in meinem Leben sein«. Familiäre Verbundenheit kann als moralische Zwangsjacke und Herausforderung empfunden werden. Wenn sich die eigenen Werte und Vorstellungen nicht oder kaum mit denen der Familie decken geraten wir in ein emotionales Dilemma, und müssen lernen, mit der Diskrepanz zwischen unseren Vorstellungen und der (familiären) Realität umzugehen. Teil eines Wir zu sein, bedeutet in der Konsequenz der »stickiness« auch, auf bestimmte Art fühlen zu müssen. So kann auch die Anerkennung der eigenen Verwobenheit in eine bestimmte biografische Geschichte als schmerzhaft empfunden werden, wenn aus ihr kein Entkommen scheint und sie nicht in die aktuelle Lebenssituation integrierbar ist. Das Dilemma der Identifikation wurden bei Hall bezogen auf die Kulturalisierung von Identitäten (vgl. Hall 1994: 180ff ) und von Muñoz aus der Perspektive der Disidentifikation angesprochen (vgl. Muñoz 1999). Über deinen persönlichen Umgang mit der Klebrigkeit familialer biografischer Erfahrungen erzählst du, Ann: »Am Anfang war Familie für mich so durch den kulturellen clash dann so ein bisschen wie eine Zwangsjacke. Dass ich treu sein musste in der Familie. Es begann damit, dass ich zum Beispiel nichts mit anderen machen durfte. Und das ich dann Dinge machen musste, weil es halt Tradition war. Ich habe ja so ein konfuzianistischen Hintergrund. Bedingungsloser Gehorsam und Unterdrückung von Emotionen. Dass die Veröffentlichung von einem Ich oder von Emotionen nicht gewünscht war oder dass das unangenehm war. Deshalb wurde das dann auch oft ignoriert oder davon abgelenkt. Und ich konnte das halt nicht so gut, meine Emotionen zurück halten. Und jetzt ist der Familienbegriff, nach dem ich auch ein paar Jahre Abstand habe, hat sich der Begriff ein bisschen verändert. Mit der Zeit konnte ich mich dann auch mit mir selbst beschäftigen, ein bisschen reflektieren, ein paar Sachen hinterfragen oder einfach ein paar Sachen verzeihen.« Sind es also diese klebrigen Bindungen die uns, bei all ihrer sozialen und politischen Notwendigkeit, unbeweglich machen? Oder braucht es sie als fast schon ideologisches Mittel, um Kollektivierungen überhaupt stabil halten zu können? Wie verdeutlicht wurde, bestehen Machtverhältnisse auch aus der Steuerung emotionaler Regungen, da diese ein wesentlicher Garant für Kollektivierungen sind – sich als Teil von etwas zu fühlen, wirkt auch als Akt der Vergewisserung: ja, wir sind eins, wir gehören dazu oder zusammen (vgl. Haidt 2013). Auf diese Weise wird jedes »eins« Sein durch affektive Anteilnahme ebenso produziert. Die Annahme, »wir« denken und fühlen gleich, reguliert Gefühle, in

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dem vermeintlich abweichende Emotionen untergeordnet und deren Wahrnehmbarkeiten kontrolliert werden (vgl. Gould 2011). Emotionen kleben aber auch, da sie soziale Trans-Aktionen mühsam machen können. Die unmittelbare Ver-Bindung zwischen Menschen, das commitment, erfordert Aufmerksamkeit und die sozialen Verpflichtungen verlangen notwendigerweise die Bereitschaft, Zeit und Raum (mit-)zu teilen.17 Kollektivierende, materiell-diskursive Einbettungen haben einen Einfluss darauf, was wir wann wie fühlen sollen, können und wollen. Sie wirken als »emotionaler Habitus« (vgl. Flach und Söffner 2011). Welches Wir fühlt wie? Am Beispiel der Angst lässt sich die ein- und ausschließende Bedeutung eines kollektivierenden Gefühls verdeutlichen. Wer wird warum als Bedrohung angesehen? Und wer wird in das als bedroht empfundene Kollektiv eingebunden? Eine kritische Reflexion dieser Fragen zeigt, dass Emotionen Körper sowohl objektivieren als auch subjektivieren und damit hegemonial als unterschiedlich zugehörig werten. Da Emotionen Welt_en machen, ermöglicht die Reflexion ihrer sozialen und politischen Bedeutsamkeit, Welt_en anders fühlen und damit andere Welt_en hervorbringen zu können (vgl. Ahmed 2004b).

5.1.4 Temporale Verhältnisse »Time is the substance I am made of. Time is a river which sweeps me along, but I am the river; it is a tiger which destroys me, but I am the tiger; it is a fire which consumes me, but I am the fire.« (Borges 2000: 269)

Zeit ist eine zentrale Maßeinheit für die Bewältigung und Gestaltung unseres Mit. Ein Tag vergeht, die Zeit verfliegt, man verliert sich aus den Augen, bleibt in Kontakt, findet zueinander. Wir verhalten uns zur Zeit und gleichzeitig verhält Zeit sich zu uns. Unsere Körperlichkeiten, Wahrnehmungsgewohnheiten und die Möglichkeiten Sozialer Navigation stehen in einem zeitlichen Verhältnis. »[B]elonging is a fundamental temporal experience« (May 2016b: 13). Beziehungen entwickeln sich über die Zeit oder sie gehen auseinander, soziale Räume und 17 Diese Feststellung wirft weitere Fragen auf, die mit der Intention dieser Arbeit, wenn überhaupt, nur oberf lächlich thematisiert werden können. Insbesondere die Bedeutung virtuell verbrachter Zeit ist für die Emotionsforschung spannend. Bedingen die aus sozialer Nähe entstehenden sozialen Verpf lichtungen eine emotionale Überforderung in Echt-Zeit-Inter-Aktionen, die durch gesteigerte online Aktivitäten kompensiert wird? Was bedeutet ein singularisiertes Leben in der virtuellen Welt des Neoliberalismus? Ablösung und Vereinzelung? Oder eröffnen sie neue Möglichkeiten der Zusammenkunft und gar Solidarität zwischen Menschen mit ähnlichen Erfahrungen, die sich aber in sozialräumlicher Distanz zueinander befinden?

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Pluralisierungen sowie Singularisierungen entstehen und vergehen mit der Zeit. Zeit ist ein Maß unserer Sozialität. Sie spielt eine wichtige Rolle für das Empfinden, Entstehen und Vergehen von Emotionen (vgl. Reddy 2001), ebenso wie biografische Geschichten immer auch auf einen zeitlichen Verlauf verweisen. Relationales Werden findet in zeitlicher Vergänglichkeit statt. Das Vergehen von Zeit lässt sich aber weder mit einer normativen Entwicklungsvorstellung der Chronologie noch mit einer raumzeitlichen Fixierung eines Status Quo erfassen (vgl. Glissant 2010; Schlögel 2006). Ausgehend von dieser Feststellung interessiert hier nicht der chronologisierte Entwicklungsverlauf von Welt_en, wie er im Begriff der Moderne steckt (vgl. Mignolo 2007), sondern die mehrdimensionale Bedeutung von Zeitlichkeit für Zugehörigkeitspraktiken und Trans-Aktionen. Sowohl das Doing von Zugehörigkeit als auch das Doing dieser Arbeit bezeichnen Prozesse des Werdens. In dem Moment in dem ich diesen Text schreibe vollzieht sich ein kontinuierlicher Wandel innerhalb und außerhalb von mir. Während Zeit vergeht verändern sich meine Zellen, ich entwickle Gedanken, die ich zu Beginn meiner Forschung noch nicht hatte und verwerfe Ideen, von denen ich bisher überzeugt war. Die Welt außerhalb von mir und außerhalb dieser Arbeit bewegt sich ebenso, Menschen werden geboren, sterben, Freundschaften werden geschlossen und Beziehungen beendet. Auch die politischen Entwicklungen, die meinen Schreibprozess begleiten und beeinflussen, beziehen sich auf ein bestimmtes Zeit-Verständnis: so wird im Rahmen zeitgenössischer politischer Entscheidungen, zum Beispiel mit dem Volksentscheid über den Austritt Großbritanniens aus der EU (Brexit) vom 23.06.2016 (The Guardian 2017), häufig der Wunsch nach einem Zurückdrehen der Zeit und einer traditionalistisch-konservativen Rückkehr zu dem, was einmal war, ausgesprochen. Der Wunsch des Zurück entsteht aus einem nostalgischen Bedürfnis, ein bestimmtes ›damals‹ zu konservieren (vgl. May 2016a) so unmöglich diese Zeitreise im evolutionären Sinn je sein kann. Damit verbunden ist auch der Wunsch nach Exklusivität und Ausschluss, nach Abgeschiedenheit und Distanz, indem als nicht-zugehörig gewertete Subjekte und Kollektive nicht mitgedacht oder gewaltsame historische Entwicklungen ausgeblendet oder vergessen werden (vgl. Schumacher 2013; Ortega und Alcoff 2009). Wer profitiert von einem Zurückdrehen der Zeit und wem würden damit Rechte aberkannt und Zugänge verwehrt? Bereits mit dem Titel vorliegender Arbeit, Relational Becoming, werden die Un_Möglichkeiten des Werdens als einerseits Veränderung schaffende und andererseits Kontinuität herstellende Dimensionen von Zugehörigkeitspraktiken einbezogen. Werden ist Zeitlichkeit, die im jeweils erlebten Moment Vergangenes, Zukünftiges und Gegenwärtiges bündelt. Deleuze sieht in der Gegenwart den produktivsten Moment des Werdens, für ihn repräsentiert sie »the disjunction between a past in which forces have had some effect and a future in which new arrangements of forces will constitute new events.« (Stagoll 2010: 27). »Becoming per se« erfasst eine Version reiner und leerer Zeit (ebd.). Die Annahme einer Leere der Zeit lässt unsere sozialen Beziehungen als inhärent beweglich aufscheinen, impli-

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zieren sie doch immer das Potential der Emergenz und Kontingenz (vgl. Mouffe 2015; Hirschauer 2014). »Kontingent sind Humandiffenzierungen nicht nur, weil sie hergestellt und aufgebaut, sondern auch, weil sie gebraucht, übergangen und abgebaut werden können.« (Hirschauer 2014: 173). Kontingente Praktiken finden in einem komplexen Ökosystem des Zeit-Machens statt (vgl. Burdick 2017). Dieses Ökosystem lässt sich durch folgende Schlagworte erfassen, die materiell-diskursive Zeitlichkeit ausdrücken und verwalten: Beschleunigung (vgl. Rosa 2012), Nostalgie (vgl. May 2016a), Flüchtigkeit (vgl. May 2016b), Zeitlosigkeit, Dauerhaftigkeit und Entwicklung. Durch Standardisierungen wird Zeit messbar, sie kondensieren soziales Leben und machen es auf diese Weise rationalisier- und kontrollierbar. Dies geschieht unter anderem in der fast mythologischen Macht der Biographisierung von Lebensformen (vgl. Reckwitz 2017). In der »Bekenntniskultur« (Burkart 2006) verschränken sich soziokulturelle Lebensführung und hegemoniale Normierungen miteinander und kontrollieren komplexe Subjektivierungsvorgänge durch narrative Stilisierung. Zeit wird in ihrer Erzählbarkeit greifbar. »Time, equally in single cells as in their human conglomerates, is the engine of interaction. A single clock works only as long as it refers, sooner or later, obviously or not, to the other clocks around it. One can rage about it, and we do. But without a clock and the dais of time, we each rage in silence, alone.« (Burdick 2017: 17ff)

Zeit ist eine »engine of interaction« und damit ein essentielles Phänomen des MitSeins, welches nur in den machtvollen Varianten ihrer verschiedenen Ausdrucksformen verstehbar ist. In der Onto-epistemo-logie des Werdens befähigt uns Zeit, da sie als Maßeinheit des Wandels Möglichkeiten der Veränderungen bietet, und Zeit beschränkt uns gleichermaßen, wobei ihre relevante Limitierung vor allem darin besteht, dass wir aus der Vergangenheit gewonnenes Wissen und die Notwendigkeit gegenwärtigen Handelns in einem limitierenden Raum mit limitierenden (zeitlichen) Ressourcen zusammenbringen müssen. Aus diesen Erkenntnissen ergeben sich folgende Betrachtungsweisen der temporalen Verhältnisse: Konstruktionen von Beständig- und Dauerhaftigkeit als Im_Permanenz sowie Zeitgenossenschaft und Simultanität.

Im_Permanenz Wir sind Gäste, Besuchende, Anwohnende, Kommende, Gehende und Bleibende. Die Uneindeutigkeit dieser Positionen liegt in der kontextuellen und diskursiven Materialisierung von Beständigkeit oder Diskontinuität. Sowohl in der Idee der Beständigkeit als auch der Veränderung finden sich normative Vorstellungen über die möglichen Zustände von Pluralisierungen und Singularisierungen und deren Fixierungen (vgl. May 2013). Die Schwierigkeit besteht in der definitorischen Uneindeutigkeit beider Verständnisse, da sie zwei vermeintliche Binaritäten darstellen, die

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in ihrer Dichotomie jedoch nicht aufrecht zu erhalten sind. Statt Kontinuität und Veränderung als Gegensätze zu betrachten, geht es mir darum, zu verdeutlichen, welche Implikationen ihr jeweiliges Doing für Zugehörigkeitserfahrungen hat. Ein lineares Verständnis von Zeitlichkeit als kontinuierliche Entwicklung und Fortschritt kann als koloniales und neoliberales Machtkonzept der »Moderne« identifiziert werden (vgl. Mignolo 2007). Bezogen darauf verweist May auf die Notwendigkeit einer kritischen Reflexion der Zeitlinse für Zugehörigkeitspraktiken. »This linear logic of how collective forms of belonging are depicted as built over time, the result of ongoing power struggles and taking place within linear chronological time where the present supersedes the past, mirrors Western narratives of history as progression.« (May 2016b: 3)

In ihrer Studie zur zeitlichen Wahrnehmung von Zugehörigkeiten und deren Bedeutung für den temporären Singular und Pluralisierungen stellten sich Aspekte der Zeitlosigkeit oder des »aus der Zeit Seins« von Zugehörigkeitsempfindungen als bedeutsam heraus. »Some enduring belongings gain their own temporality: either they are not affected by time or their temporal origin is unclear.« (May 2016b: 14). Das Gefühl der Zeitlosigkeit fordert die Chronologie als soziale Norm heraus und verdeutlicht den unterschiedlichen Konstruktionscharakter von Zeitlichkeit, der unter anderem in Form materialisierter Geschichte und Geschichten vermittelbar wird (vgl. Ricoeur 2003). Wir sprechen miteinander. In unserer gegenseitigen physischen Anwesenheit vergeht die Zeit und in ihr sammelt sich Zeit. Wir sind der Fluss, der Tiger und das Feuer, wie Borges sagt, wir werden bewegt und bewegen, wir zerstören und werden zerstört, wir verzehren und werden verzehrt. In unserer Begegnung sind wir kaum empfänglich für unsere verschiedenen Transformationen, für die Veränderungen in dir und mir, zu viel Aufmerksamkeit erfordert das Zuhören auf Gesagtes und eine Sensibilität für das, was unausgesprochen bleibt. Wir sind beide mit der Schwierigkeit konfrontiert, dieser Begegnung Sinn zu verleihen, wobei ich herausgefordert bin, meine Motivation, von dir über dich hören zu wollen, plausibel und Gesprächsanregend zu vermitteln. Wir sind herausgefordert, unsere Zeitempfindungen zu synchronisieren. Während du von deinen biografischen Erfahrungen sprichst, Carla, hältst du inne und stellst, mehr zu dir als zu mir sprechend, fest: »Da kann ich mich nicht mehr dran erinnern. Das sind Geschichten, die meine Eltern erzählen. Und ich hab halt mit meinem Vater immer viel über den Osten geredet«. Die Geschichten deiner Eltern sind zu Worten gewordene Erinnerungen und Erfahrungen. Sie sind kondensierte Zeit und machen Veränderungs- und Kontinuitätsempfindungen für dich hörbar. Über sie wird (biografische) Kontinuität und Sinn hergestellt. In ihrem transgenerationalen Bezug verbinden sie dich mit Vergangenem und ermöglichen es, eine gegenwärtige Version von dir zu verwirklichen und diese in einer Genealogie zu verorten oder von ihr zu distanzieren. Unsere Geschichten entstehen somit aus und mit der Zeit, sie sind eine Ausdrucksform temporaler Sinnstiftung und dienen der Archivierung unseres Lebens (vgl. Hühn et al. 2009). Biographien funktionieren als Kontinuitätserzählungen, in die

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Brüche und Veränderungen integriert werden, um sich selbst und anderen gegenüber schlüssig zu bleiben. So beschreibt die Psychologin Barbara Keddi in ihrem Buch »Wie wir dieselben bleiben. Doing continuity als psychosoziale Praxis« (Keddi 2011) die Funktion der »sozialen Institution« (ebd.: 133) des autobiografischen Ichs als Voraussetzung gesellschaftlichen Zusammenlebens. Das Gehirn ist ein Beziehungsorgan und bedingt Kontinuität in unserem Mit-Sein auch auf neuronaler Ebene (vgl. ebd.). Sie verdeutlicht in ihren Ausführungen ebenso, dass Kontinuität keineswegs gegeben oder gar stabil ist, sondern als Syntheseleistung zwischen verschiedenen Aspekten der eigenen Person und den möglichen Trans-Aktions-Verhältnissen immer hergestellt wird (vgl. ebd.). Auf diese Weise sind Praktiken der Kontinuitätsherstellung insbesondere auch biografisch-diskursive Bemühungen, eine schlüssige Version von sich zu erzählen. Dieses Bemühen hängt von den soziokulturellen und persönlichen Möglichkeiten der Erinnerungsfähigkeit, der jeweiligen soziokulturellen Sag- und Hörbarkeiten und der bestätigten Glaubwürdigkeit durch das Umfeld ab. Wir sind als »temporal selves« (May 2016b: 4) immer gebunden an den jeweiligen historischen Moment, von dem ausgehend wir uns, andere oder unsere Umwelten begreifen und erzählen können. Zeit wird im Raum wahrnehmbar. »Like I was saying, I never used to go there, I never used to go these places. And now I‘ve got friends from all those places. These are place I would never go to. I feel that it definitely took some time to open up to other people, from other areas and stop being locked into one mindset.« Deine Beziehung zu Orten hat sich im Laufe der Zeit gewandelt, Paul, und diese Veränderung wird in der Retrospektion empfunden. Mit Édouard Glissant ist dieses Bedürfnis der Kontinuitätsherstellung der Ausdruck eines Versuches, unsere grundlegende Beweglichkeit zu fixieren. Es gilt »the neutral rather than harsh actuality of the object; the tightening of a locus; the low regard for any thought claiming falsely to be final« (Glissant 2010: 26) zu entkommen und statt der Fixierung die Im_Permanenz und Wechselhaftigkeit von Welt_en ins Denken zu holen. Wir sprechen über die Bedeutung von Religion für dich, Anton. Deine Religiosität empfindest du in Abhängigkeit zu deiner jeweiligen Lebensphase als mehr oder weniger relevant und intensiv. »Wenn es gut läuft, dann bin ich religiös, aber ich habe auch manchmal religiöse Phasen, wenn es mir schlecht geht. Das wechselt immer sozusagen.« Dieses Wechselspiel bietet dir einen Raum, in dem du Zuflucht finden oder von dem du dich entfernen kannst, auch wenn er für dich immer präsent ist. Diese Möglichkeit überdauert Lebenserfahrungen und hilft dir, deine Gegenwart und Vergangenheit in Phasen zu strukturieren. Im Nachdenken über die biografische Abwesenheit von Religion in meinem Leben frage ich mich, ob Religion und religiöse Praktiken nicht auch einen wesentlichen Versuch darstellen, unserem Leben Kontinuität zu verleihen. Bietet Religion nicht genau eine Möglichkeit, Dauerhaftigkeit zu installieren oder mindestens eine Erklärung für Veränderungen, die es uns ermöglicht, nicht an der Komplexität und Unordnung des Lebens zu verzweifeln?

Mit Welten verbunden – Von Welten entrückt

Das Nachdenken über die temporale Bedeutsamkeit von Religiosität führt mich zur Relevanz von Ritualen und Tradition für die zeitliche Produktion kohärenter Vorstellungen von »wir« und »ich« (vgl. Haidt 2013). Auch außerhalb religiöser Kontexte spielen Traditionen und Rituale eine wichtige Rolle für die Herstellung und Konservierung von Pluralisierungen, Identitäten und Subjektivierungen (vgl. Wulf et al. 2001a). Sie dienen als Kontinuitätsvehikel, die ein Gefühl von Vertrautheit, Sicherheit und Ordnung vermitteln. Es kann an dieser Stelle nicht vertiefend auf die Rolle von Ritualen als Zugehörigkeitspraktiken für die performative Bildung und Gestaltung von Gemeinschaften (ebd.) eingegangen werden, vielmehr möchte ich auf ihre zeit- und vergangenheits-konservierenden Effekte für die Konstitution von Nicht-Zugehörigkeitserfahrungen eingehen. Indem sie Zeit strukturieren und verstetigen, ermöglichen Rituale eine planbare Verlässlichkeit des Zukünftigen (vgl. Gugutzer und Staack 2015). Sie stellen Serialität her, indem sie in verkörperten und körperproduzierenden Kontinuitätspraktiken wirken (vgl. Wulf 2015). »Rituale betonen die Performativität sozialen Handelns und sind an konkret körperliches Tun gebunden« (Niekrenz 2015: 43), was Körper zu zentralen Orten ritualisierten Mit-Seins und Mit-Fühlens macht. Rituale sind alltägliche und sakrale Anker, die in ihrer Institutionalisierung Permanenz bewirken. Dies ermöglicht einerseits Verlässlichkeit, hat aber auch eine Verfestigung von Normen und soziale Unbeweglichkeit zur Folge, die kaum Raum lässt für ein Becoming als becoming-new. Sie bieten, unter Ausschluss von als abweichend bewerteten Praktiken, den Rahmen für eine Vergewisserung dessen, wer ›ich‹ bin und wer ›wir‹ sind: ›Das machen wir (hier) immer so (und nicht anders).‹ Erst durch eine Distanzierung zu den jeweils gültigen und anerkannten Praktiken kann eine kritische Auseinandersetzung mit den soziokulturellen Annahmen und historischen Bedingungen stattfinden, die der Im_Permanenz dieser kollektivierten Selbstverständnisse zugrunde liegen. Das für diese Befremdung benötigte In-Distanz-treten ist durch bisher Unbeteiligte initiierbar oder entsteht aus der Erfahrung, dass das, was schon immer stattfand, keine Notwendigkeit oder gewünschte Wirkung mehr hat. Kontinuitäts- oder Veränderungsbestrebungen sind damit von einer Position der Marginalisierung oder Privilegierung in Machtverhältnissen abhängig und keineswegs universalisierbare Bedürfnisse. Bin ich von Diskriminierung oder Benachteiligung betroffen, wünsche ich mir möglicherweise eher eine Veränderung meiner sozialen Lage, als wenn mir diese Erfahrungen fremd sind. Und wenn ich mit meiner persönlichen Lebenssituation zufrieden bin, löst dies möglicherweise auch keinen Wunsch nach Veränderung aus. Dies verdeutlicht die Relevanz politischer Forderungen, in denen Vorstellungen der Unveränderlichkeit soziokultureller Kontexte re_produziert werden, ohne die Unterschiedlichkeit jeweiliger Bedürfnisse nach Kontinuität und das Recht auf sowie Möglichkeiten zur Veränderung zu berücksichtigen.

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Dies wird mir durch eine Passage aus dem Gespräch mit dir, Kie, besonders deutlich, in der du von deinen Erfahrungen in einer weißen Nachbarschaft berichtest, die deine Mutter zu einem Umzug bewogen haben. »It was only two black families we knew a couple houses away from us, like this lady called Rosie and her daughter. There was another family that lived just a bit further down. Coming back from primary school I do remember one time, I was nine years old and making my way back home from primary school I saw these guys on the footpath over the train bridge. They kind of threatened to chuck me over, or something. And that‘s where my mum thought, we should have to try and find a way to move.« Dies verdeutlicht die räumliche und emotionale Manifestation von Zeitlichkeit. Eure familiären Erfahrungen in einem konkreten Hier-und-Jetzt sind verbunden mit der historischen Kontinuität von Rassismus. Diese erlebte Kontinuität ist der Auslöser für das dringende Bedürfnis zur Veränderung eurer persönlichen Wohnsituation. Unter diesem Aspekt sind Forderungen nach sozialem Wandel oder Dauerhaftigkeit sozialer Zustände so zu kontextualisieren, dass sie Ausgrenzungserfahrungen berücksichtigen und nicht eine universalisierbare Zeitlichkeit annehmen (vgl. Eggers 2007). Jedes kritische historische Bewusstsein unseres vielfältigen Mit-Geworden-Seins muss sich entlang der Markierung jener Bruchstellen und Auslassungen entwickeln, die unsere Zeitgeschichte als Ergebnis kolonialer und ausgrenzender Expansions- und Zugehörigkeitspraktiken identifiziert (vgl. Attia 2015). Dies macht Dekolonialität zu einer zentralen temporalen Analysekategorie vielfältiger, materiell-historischer Zugehörigkeitspraktiken und -erfahrungen (vgl. Ha 1999). Mignolo bezeichnet diesen Vorgang als kritisches Grenzdenken. »[C]ritical border thinking is the method that connects pluriversality (different colonial histories entangled with imperial modernity) into a uni-versal project of delinking from modern rationality and building other possible worlds.« (Mignolo 2007: 498)

Sich von der Annahme der Rationalität der Moderne zu lösen heißt also auch, die unterschiedliche Bedeutung von Zeitlichkeit für verschiedene Subjektpositionen und Pluralisierungsformen mitzudenken. Wer wie unter welchen Bedingungen in Trans-Aktionen als zugehörig an_erkannt wird, unterliegt im Wesentlichen eben auch einer zeitlichen Perspektive. Bei allen Bestrebungen nach Dauerhaftigkeit hat menschliches Leben jedoch nur im Zusammendenken mit Veränderungen Bestand, denn »die gesamte menschliche Erfahrung [widerspricht, K.M.] dieser Unveränderlichkeit eines konstitutiven Elements der Person. Nichts in der inneren Erfahrung entgeht der Veränderung.« (Ricɶur 1987: 210). Und die Wahrnehmung von Veränderungen findet in Trans-Aktionen statt. Das etwas »anders« ist, als zuvor, setzt die Relation zu einer äußeren oder inneren Kontinuitätsannahme voraus. Veränderungen werden von uns unterschiedlich erlebt und bewertet. Es gibt die externen soziokulturellen und politischen Bedingungen, die uns verändern oder Veränderungen von uns abver-

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langen, oder die sehr intimen Momente unserer eigenen Zeitgeschichte, dir wir als Veränderungen wahrnehmen oder nachträglich als solche in unsere Lebensgeschichte integrieren. Dies wird mir in einem Abschnitt deutlich, indem du, Daniel, von eurem transkontinentalen Umzug und der damit verbundenen Hoffnung auf Veränderung erzählst. »It was better to stay here, even though we went over there for a better life and to escape things here. There is a saying, the grass isn´t always greener on the other side. That´s what we kind of realized and came back.« Die Verwendung der Metapher ›the gras isn´t always greener« dient dir als nachträgliche Erklärung für die Beweggründe des Ortswechsels in beide Richtungen, die du auch als ein Narrativ des persönlichen Scheiterns erzählen könntest. »Coming back was like being in a limbo because I just didn´t feel English anymore. It took me a time. I do feel now but at the time I didn´t. I started questioning the English culture and what we all represented. Even things like why we are actually here and why we are working in this capitalist society.« Der Faktor Zeit hat einen wesentlichen Einfluss auf unser Selbstverständnis, unsere Geschichten und unsere Emotionen. In deiner Erinnerung an diese Zeit sprichst von einem Gefühl des »limbo«. Ich verstehe den Limbo als Symbol für das möglichst geschmeidige Navigieren in unwegsamem Gelände, das sich unserer Kontrolle entzieht, da wir neue Erfahrungen in unser bisheriges Leben integrieren müssen. Diese Gedanken führen mich zu deiner Erzählung über die Zeit nach dem Fall der Mauer, Anton. Ohne das du dich bewegt hast, wurde der Raum um dich herum bewegt und verändert. Du beschreibst die Mit-Teilung, deine Verbindung zu diesem damals politisch nicht mehr existenten Ort, fast als eine Art öffentliches Bekenntnis. »Dann habe ich irgendwann aber gesagt, ich bin aus dem Osten. Das war dann so ein bisschen der Wendepunkt erstmal. Ich habe mich auch selbst als Außenseiter gesehen, das war in der achten Klasse so, dann habe ich wirklich auch selbst mit gleichen zu tun haben wollen.« Du bist mit deinen Erfahrungen in einen neuen Raum eingetreten und wurdest mit eben diesen Erfahrungen dort konfrontiert. Muss eine zeitlich wahrgenommene Veränderung notwendigerweise auch mit räumlichen Veränderungen einhergehen? Können wir eine andere Version von uns, einen anderen Blick auf uns überhaupt finden, wenn die Räume, in denen wir sind, die gleichen bleiben? Ein Bedingungs-, aber auch Hinderungsfaktor für die Gestattung oder Verwehrung von Veränderung, ist Vertrauen. Vertrautheit ist eine emotionale Dimension von Zugehörigkeitserfahrungen, die sich im zeitlichen Verlauf entwickelt und Verlässlichkeit herstellt (vgl. John und Knothe 2004). Mit-Sein und -Werden als veränderliche Dauerhaftigkeit oder kontinuierliche Veränderbarkeit zu imaginieren, muss die Effekte von Trans-Aktionen unterschiedlich wahrgenommener und kollektivierter Singulare fokussieren: Für wen ist Veränderlichkeit unter welchen Umständen in der Ordnung der Dinge erstrebenswert und überhaupt möglich und wem wird Kontinuität als Verordnung zur Unveränderlichkeit zugeschrieben? Die Annahme dauerhafter sozialer Relationen tendiert dazu, Eindeutigkeiten zu produzieren, die erst durch ein dynamisches Verständnis von Zeitlichkeit als kontinuierliche Transformation ihre einengende Macht verlieren und in ihrer Ambivalenz betrachtet werden können. Von der in die Zukunft gerichteten Frage der Dauerhaftigkeit wende ich mich im nächsten Abschnitt einer auf die Gegenwart abzielenden Wahrnehmbarkeit von Zeitlichkeit zu, der Zeitgenossenschaft und Simultanität.

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Zeitgenossenschaft und Simultanität Wir leben zur gleichen Zeit. Diese Tatsache macht unsere Begegnung überhaupt wahrscheinlich. Tatsächlich ermöglicht wird sie aber durch weitere Faktoren, auf die wir nur bedingt Einfluss nehmen können. Wie haben wir zueinander gefunden? Ich erinnere mich an philosophische Diskussionen über die Macht des Schicksals oder die Bedeutung des Zufalls. Unsere Begegnungen sind ein Beispiel für die Unvorhersagbarkeit unseres Mit-Seins. Sie waren nicht geplant, doch beliebig scheinen sie auch nicht. Wir teilen Geburtsjahre, Musikgeschmack und Wohnorte. Wir können einander verständigen, ob wir uns aber auch verstehen können, hängt von mehr ab, als dem bloßen Teilen von Raum und Zeit. (Wie) leben wir in Zeitgenossenschaft? Was bedeutet diese Zeitgenossenschaft für unser Zugehörigkeitsverständnis? Lässt sie uns näher aneinander rücken? Verbindet sie uns oder führt sie eher dazu, dass wir kaum einen sozialen Boden identifizieren können, auf dem wir etwas Gemeinsames gestalten können oder wollen? Wir sind in unserer lebendigen Präsenz in Raum und Zeit sowohl ge- als auch entbunden. »›Zusammen‹ bedeutet Simultaneität (in, simul): das ›zur selben Zeit‹. [...] Zeit impliziert sich selbst als ›gleichzeitig‹.« (Nancy 2004: 98). In der zentrischen und exzentrischen Positioniertheit unserer Körper sind wir gleichsam materiell-diskursiv anwesend wie auch abwesend (vgl. Plessner 1975; Barad 2012). Der ungleichen Gleichzeitigkeit anwesender Abwesenheit und abwesender Anwesenheit steht eine Universalisierung von Zeitlichkeit entgegen, die selbige als objektivierbaren Rahmen der Entwicklung und des Fortschritts denkt und nicht etwa als soziokulturelles und politisches Instrument, das Machtverhältnisse stabil hält. Zeit vergeht nicht gleich. Entgegen einer Universalisierbarkeit muss Zeit in ihren lokalisierten und globalisierten Bedeutungszusammenhängen analysiert werden. Ein Konzept kritischer Zeitgenossenschaft, unser Mit-Sein in gleichzeitiger globaler Anwesenheit, ermöglicht diese Ent-Universalisierung (vgl. Butler 2012a). »Ich stelle fest: Ich bin meine Verbindung zu dem ›Du‹, dessen Leben ich zu bewahren suche, und ohne diese Verbindung ergibt dieses ›Ich‹ keinen Sinn und hat seine Verankerung in dieser Ethik, die stets der Ontologie des Ego vorausgeht, verloren.« (Butler 2012a: 697). Für Butler impliziert diese gemeinsame und geteilte Welterfahrung mit Anderen eine ethische Verantwortung. Andere Autor_innen sprechen in diesem Zusammenhang vom Konvivialismus, um unter der Prämisse globaler Ungleichheitsbedingungen am Beispiel von Finanzkrisen, Klimawandel und militärischen Interventionen über neue Formen des Zusammenlebens nachzudenken (vgl. Adloff und Heins 2015; Gilroy 2004). Konvivialität entsteht aus Begegnungen und diese ergeben sich aus unserer »throwntogetherness« (Massey 2005a: 149ff ). »If we agree on this, everyday tension, conflict and frustration form part of a conceptual notion of conviviality, as well as situations of consensus, consideration and respect. The resulting

Mit Welten verbunden – Von Welten entrückt negotiation and translation processes, which form part of any convivial encounter, necessarily appear as fragile and changing.« (Nowicka und Heil 2015: 13–14)

In diesem Sinne ist Zeitgenossenschaft nur als komplexe Simultanität, als Gleichzeitigkeit von Verschiedenheiten und Ähnlichkeiten, denkbar. Die Gleichzeitigkeit und Überkreuzung unterschiedlicher sozialer Dimensionen unseres Mit-Seins liegt auch dem Konzept der Intersektionalität zugrunde (vgl. Winker und Degele 2009). In der Zeitgenossenschaft lassen sich Unterschiede und Gleichheiten nur relational erfassen, denn wenn vieles tendenziell gleichzeitig anwesend sein kann, entscheiden letztlich die materiell-diskursiv möglichen Trans-Aktionen über die konkrete Gestaltbarkeit der jeweiligen Anwesenheiten. Welche Pluralform oder welche Singularisierung in der jeweiligen Raumzeitbindung aktualisiert wird, hängt also wesentlich von den Rahmenbedingungen ab. »Zeitgenossenschaft als das die Verschiedenheit der Lebenswelten, Biographien, Geschlechter und Generationen übergreifende ist allenfalls noch als Datum gegeben, nicht mehr als ein Horizont, der die Rede von einem Wir oder Uns a priori legitimierte, weil er für alle gleichermaßen die Sichtbarkeit und Erfahrbarkeit von Welt begrenzte und als letzter gemeinsamer Bezugspunkt der individuellen Biographien in Anspruch genommen werden konnte.« (Wimmer 2002: 110)

Wenn Zeitgenossenschaft als deskriptives Datum verstanden wird, hebt dies die Bedeutung raumzeitlicher Entgrenzungen, auch durch ihre Virtualität, hervor. Orte der Zeitgenossenschaft sind divers und unterschiedlich erfahrbar und für diese Erfahrung muss mich nicht physisch an ihnen aufhalten. Sie entuniversalisieren damit raumzeitlich gebundene Singular- und Pluralformen und ermöglichen verschiedene Verbindungslinien zwischen ihnen. Kritische Zeitgenossenschaft wird auf diese Weise als Moment geteilter und teilbarer Erfahrungen erlebt (vgl. Hitzler et al. 2009). Wie finden Menschen zu-einander? »Ich lerne ganz schnell Leute kennen und dann hat man schnell in dem Moment ein Zugehörigkeitsgefühl. Man ist so eine kleine Gruppe, eine abgeschlossene Welt. Und wenn dann mal irgendetwas ist, egal, ob die Leute sich untereinander vielleicht auch manchmal überhaupt nicht gut verstehen, solange sie in einer Gruppe sind, dann ist es ein Zugehörigkeitsgefühl.« Stabile Kollektivität setzt nicht zwangsläufig eine bestimmte Dauerhaftigkeit voraus. Für dich, Maxim, hängt ein Gruppengefühl nicht notwendigerweise mit Einigkeit und Lang fristigkeit, sondern mit der Möglichkeit der Kontaktaufnahme, zusammen. »Ich nehme ja an diesem gesellschaftlichen Leben irgendwo teil und bringe meinen Background mit rein. Ich unterhalte mich mit Menschen oder habe mit Menschen zu tun, von denen es mir egal ist, wo sie herkommen. Und die Zusammenarbeit führt dann eventuell auch später irgendwann mal zu einem richtigen Zusammenleben. Mir ist wichtig, dass ich meine Gedanken weitertrage und dafür auch gerade stehe und sie mit Herzblut in die Welt trage.« Deine emotionalen Bin-

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dungen entstehen mit der Zeit und durch erlebte Anwesenheiten, Ann. Die Zeitgenossenschaft mit anderen ermöglicht es dir, dich der Welt mitzuteilen und deine Gedanken in die Welt zu tragen. Dafür ist es auch entscheidend, dass sich andere für uns interessieren und uns die Möglichkeit zur Mit-Teilung geben. Welche Bedeutung hat die Dimension Zeit für empfundene und realisierbare Kollektivierungen, wenn sie nur ein deskriptives Datum, aber kein begrenzender Horizont mehr ist? Müsste sie dann nicht eher Erfahrungs- oder Überzeugungsgenossenschaft heißen? Also auf das Teilen ähnlicher Interessen und Weltwahrnehmungen abzielen? Frederick Jameson problematisiert in seinem Aufsatz »The Aesthetics of Singularity« (2015) eine postmoderne Reduktion auf die Gegenwart in dem er fragt »[…] can the new temporality be made to reveal itself as the Jubilee, the moment of the forgiveness of all debts, and of the absolute new beginning?« ( Jameson 2015: 132). Wenn wir Zeitgenossenschaft als kritische Gegenwärtigkeit und Vergegenwärtigung denken, als Moment, in dem Vergangenes zugleich erinnert und vergessen und Neues erdacht und geschaffen werden kann, dann müssen die Implikationen dieser Forderung mitgedacht werden. In einem globalen Abhängigkeitssystem können wir uns von der Vergangenheit nicht befreien, denn sie wirkt in jeden Moment der Gegenwart auf die Möglichkeiten des Werdens. Und dennoch, um mit Deleuze’ Vorstellung der »leeren Zeit« zu argumentieren: jeder gegenwärtige Moment beinhaltet die komplexen Dimensionen eines Becoming und somit auch die Option eines anderen Werdens (vgl. Braidotti 2006b). Nicht zuletzt, da unsere innere Uhr bestens dafür ausgestattet ist, sich an sich wandelnde soziale und emotionale Umwelten die wir tagtäglich navigieren, anzupassen (Burdick 2017: 215-216, eig. Übers.). Kritische Zeitgenossenschaft berücksichtigt die unterschiedlichen Bedingungen unserer Weltwahrnehmungen und lokalen Gebundenheiten für die Navigation in postkolonialen Verhältnissen (Mignolo 2012: 194). Mignolo macht auf die Gleichzeitigkeit historischer Verwobenheiten verschiedener Erfahrungsräume und Erwartungshintergründe aufmerksam, die lokale und globale Zugehörigkeitspraktiken bedingen und verhindern (ebd.). Unter Berücksichtigung dieser diversen zeitlichen Bindungen und Entgrenzungen spielt Zeitlichkeit auch für die Entwicklung emotionaler Bindungen eine wesentliche Rolle. Wir lernen mehr oder weniger schnell, uns an verschiedene Zeiten und deren jeweilige Gegebenheiten und Anforderungen anzupassen, ohne dass wir dies unbedingt intentional anstreben müssen. »We bend time to make time with one another, and the many temporal distortions we experience are indicators of empathy; the better able I am to envisage myself in your body and your state of mind, and you in mine, the better we can each recognize a threat, an ally, a friend, or someone in need. […] it may be that a critical aspect of growing up is learning how to bend our time in step with others. We may be born alone, but childhood ends with a synchrony of clocks, as we lend ourselves fully to the contagion of time.« (Burdick 2017: 216)

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Unser Mit-Sein versetzt uns in die Lage, unterschiedliche Zeitlichkeiten zu synchronisieren. Verantwortlich dafür sind mimetische Prozesse der gegenseitigen Nachahmung, Anpassung und Veränderung (Wulf 2002: 89). Die Verkörperung unserer Zeitgenossenschaft hängt aber auch davon ab, welche emotionale Haltung wir in unseren Begegnungen haben. Empathie ist ein Beispiel unserer mimetischen Leistungen, die sich aus körperlich empfundener Gegenseitigkeit ergeben und Einfluss auf unser emotionale Verfasstheit nehmen. »[A]fter all, to embody another’s time is to place oneself in his or her skin.« (Burdick 2017: 214). »Ja, also ich fühle mich schon mit jedem Menschen, oder, nein, nicht mit jedem, aber mit vielen Menschen verbunden. Auch genre- und fächerübergreifend. Das muss kein Zusammenschluss oder eine community sein, denn darauf bin ich jetzt auch nicht so erpicht, weil das ist ja auch wieder eine Abgrenzung nach Außen oder nach Innen. Ich bin da offen, ich rede auch gerne mit Physikern, mit Ärzten oder mit Fensterputzern. Ich habe kürzlich draußen gefilmt und war sehr fasziniert davon, wie schön sie Fenster putzen können.« Zeitgenossenschaft wird uns vor allem in der physischen Präsenz eines Gegenübers bewusst. In dem meine Weltwahrnehmung mir diese Präsenz bewusst werden lässt, ermöglicht sie eine Empfindung der Verbundenheit. Die Art und Weise, wie du dein Gegenüber wahrnimmst und identifizierst, beeinflusst die Nachhaltigkeit oder auch Handlungsfolgen dieser Verbundenheit mit. Gehst du mit deiner Empfindung weiter, beginnst du ein Gespräch oder wirst vielleicht sogar inspiriert, als Fensterputzerin tätig zu werden? In der Zeit als zentraler Dimension und auch Maßeinheit des Werdens entwickeln sich Identifikationen oder die Sehnsucht danach in Abhängigkeit davon, ob Zeitgenossenschaft als Begegnung überhaupt realisierbar und anstrebenswert ist oder lediglich als Diskurs über globale Verantwortlichkeiten entpersonalisiert wird. Mimetische Synchronisierungen setzen spürbares Mit-Sein voraus, egal ob dieses Mit aus »throwntogetherness« (Massey 2005a) oder »assembled togetherness« (Mischke 2010) entsteht. Ihre Ermöglichung betrifft nicht zuletzt Fragen politischer Entscheidungen und Ordnungspraktiken. Ihnen widme ich mich in den abschließenden Politischen Verhältnissen.

5.1.5 Politische Verhältnisse »Injustice anywhere is a threat to justice everywhere. We are caught in an inescapable network of mutuality […]. Whatever affects one directly, affects all indirectly.« (Luther King Jr. 1963: 1)

Bevor ich nach einer Kaffeepause zurück an meinen Arbeitsplatz in der Bibliothek gehe, muss ich noch meine Sachen aus dem Schließfach holen. Seit einiger Zeit gibt es ein neues Schließsystem, statt Münzen benötigt man nun einen vierstelligen Code, um die Tür öffnen und schließen zu

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können. Ein Mensch bittet mich, zu erklären, wie das neue System funktioniert. Nachdem ich es gezeigt habe, werde ich gefragt, von welcher Seite des Europäischen Festlandes ich denn komme. Ich antworte und füge hinzu, dass hier doch auch Europa sei. Der Mensch nimmt meine fragende Aussage zum Anlass, mir einen Vortrag über das wahre Ziel des Europäischen Unions-Projektes zu halten. Dies bestehe einzig und allein darin, so bekomme ich erklärt, alles zu vermischen und Nationen aufzulösen, was ein großes Sicherheitsproblem darstellt. Ich merke schnell, die Person hat keine Absicht, mit dem Vortrag so schnell aufzuhören, und das sich unser Sicherheitsbedürfnis grundlegender nicht voneinander unterscheiden könnte. Er zeigt kein Interesse an einem Dialog oder meiner Perspektive außerhalb meiner Kompetenz, die Schließfächer bedienen zu können. Seine eindeutige Haltung zur Europa-Politik teilt er in elaborierter Sprache mit mir. Was macht es mit seinen Aussagen, wenn ich ihn als weißen Mann mittleren Alters identifiziere? Macht es seine Haltung verständlicher, nachvollziehbarer, bedrohlicher? Was macht es mit meiner Bereitschaft, ihm zuzuhören? Die Begegnung erinnert mich an das Werbe-Video der EU, welches ich in den Koordinaten dieser Arbeit erwähnt habe. Das Video vermittelte ein Bild eines nach Innen vereinten Europas, das sich gegen ein als bedrohlich dargestelltes Außen verteidigt. Ihn versetzt nicht nur die Vorstellung des Außen, sondern auch die eines komplexen Innen in Angst und Abwehr. Wieso glaubt der Mensch, dass es so leicht sei, die Welt in funktionierende Kategorien aufzuteilen? Und wie ist es zu schaffen, komplexe Strukturen und soziale Prozesse auf eine Weise in die Lebenswelt zu holen, dass ein denkfühlender Dialog des Mit entstehen kann? Wie ist es zu schaffen, Rassismus, Sexismus und Klassismus als zu Strukturen verhärtete systemische Praktiken der Abwertung zu verstehen und diese Themen von vermeintlich eindeutig identifizierbaren Polen des Liberalismus oder Konservatismus, einer weltoffenen Linken und nationalistischen Rechten, zu lösen und ihnen in ihrer Verwobenheit und Gewalttätigkeit zu begegnen? Seine Ängste sind Ausdruck eines weißen Privilegs und unterscheiden sich von denen der Menschen, die ein Teil sein wollen und in diesem Prozess mit der systemischen Gewalt des Ausschlusses konfrontiert werden, ohne eine Wahl darüber zu haben. Momente wie diese Begegnung werfen mich immer wieder auf die politische Brisanz des Themas meiner Arbeit, vielleicht werfen sie aber auch das Thema meiner Arbeit auf mich zurück. Ein Freund sagte zu mir, dass ist deine akademische Linse, du musst das Thema Zugehörigkeit wichtig finden, da du es wichtigmachst, weil du dich täglich damit beschäftigst. Ich denke im Gegenzug, diese Begegnungen suche ich mir nicht aus und sie haben nichts mit einer spezifischen theoretischen Linse zu tun. Sie sind zentraler Bestandteil der wilden, komplexen Realität. Und weil sie real sind, sind sie wichtig. Vielleicht muss ich zu Beginn die Frage klären, warum die »Politischen Verhältnisse« vorliegendes Kapitel nicht einleiten. Die Motivation dieser Arbeit ernst nehmend, nämlich Zugehörigkeit als intimisiertes und hegemonialisiertes anthropologisches Grundbedürfnis zu verstehen, macht es unmöglich, interferierende Zugehörigkeitsverhältnisse nicht immer gleichzeitig in ihrer intersektionalen politischen Bedeutsamkeit zu denken (vgl. Yuval-Davis 2011: 3ff ).

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Zugehörigkeitserfahrungen sind maßgeblich durch politische Praktiken beeinflusst. Ebenso entstehen diese Praktiken gerade auch aus spezifischen Nicht-Zugehörigkeitsverständnissen, denn unsere Un_Verbundenheit ist durch Ordnungen systematisiert, die unter anderem in Grenzziehungspraktiken realisiert werden (vgl. Pfaff-Czarnecka 2012). Diese Systematisierungen und Bürokratisierung von Relationalität, die ich an ausgewählten Pluralisierungen diskutiert habe, formen Subjekte, bilden Identitäten und schaffen, verhindern und beeinflussen auf diese Weise Trans-Aktionen. Sie verdichten und essentialisieren Vorstellungen des Ich, Wir und Die. Zugehörigkeitsverhältnisse sind politisierte Wahrnehmungs- und Normalisierungsverhältnisse. In Ordnungsregimen werden soziokulturelle Zugehörigkeitsempfindungen geschaffen, markiert, kondensiert und verwaltet (vgl. Dimitrova et al. 2012). Diese Ordnungsregime sind Ausdruck gesellschaftlicher und globaler Herrschafts- und Dominanzverhältnisse, durch die Singulare immer bereits pluralisiert sind (vgl. Mecheril 2003; Attia et al. 2015). Die politischen Verhältnisse lassen sich also durch jene bürokratischen und instituierenden Praktiken erfassen (vgl. Nowotny und Raunig 2016), die Un_Wahrnehmbarkeiten organisieren und politische Körper hervorbringen. Nira Yuval-Davis diskutiert in »The Politics of Belonging« (2011) verschiedene Zugehörigkeitspolitiken bezogen auf Staatsbürgerschaft, Nationalismus, Religion, Kosmopolitismus und die emotionale und politische Dimension der Fürsorge aus feministischer Perspektive (Yuval-Davis 2011: 18ff ). »The politics of belonging involves not only constructions of boundaries but also the inclusion or exclusion of particular people, social categories and groupings within these boundaries by those who have the power to do this.« (Yuval-Davis 2011: 18). Braucht es Kollektivierungen, damit Menschen regierbar sind? Eine strikt relationale Perspektive, welche die Trans-Aktionen zwischen Akteur_innen betrachtet und auf diese Weise nicht eine ihnen vorgelagerte Struktur priorisiert (vgl. Dépelteau 2008), scheint auf den ersten Blick nicht mit einem machtkritischen Forschungsverständnis vereinbar zu sein, welches notwendigerweise von der Macht historisch gewachsener Ordnungen der Ungleichheit und deren Verhärtung in Strukturen ausgeht. Die in dieser Arbeit vertretene relationale Perspektive auf Zugehörigkeitspraktiken impliziert Bedingungen und Folgen der Ungleichheit für die Un_Möglichkeiten der Trans-Aktionen zwischen Akteur_innen. Diese Bedingungen werden in der »Ordnung der Dinge« (Foucault 1974) wahrnehmbar, die jedoch nicht zwangsläufig eine statische Form von Singularisierung oder Pluralisierung festschreiben, sondern dazu beitragen, die Prozesse ihrer Entstehung zu reflektieren. So gilt es, sozioökonomische Bedingungen mit identitätspolitischen Steuerungen, normativen Setzungen und Praktiken verhinderter und ermöglichter Trans-Aktionen zusammenzudenken, denn »kulturelle Formen, Klassifikationen und Distinktionspraktiken [sind, K.M.] [...] wichtige und eigenständige Ebene[n] der Sozialstruktur.« (Fuhse 2010: 202). Identitäten und soziale Positionierungen beschreiben nicht notwendigerweise dauerhafte Fixpunkte, vielmehr sind sie Ergebnisse von Fixierungen, die auch als relationale Verhärtungen, oder Knotenpunkte,

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bezeichnet werden können (vgl. Kaplan 1996: 143). Zugehörigkeiten markieren in Form formeller Mitgliedschaften (Mecheril 2003: 147ff ) keine sozialen Eigenschaften  von Individuen, sondern reflektieren »Eigenschaften der Sozialorganisation« (Hirschauer 2014: 172). Mit dieser Perspektive lässt sich ein Doing Belonging konzeptualisieren, das nicht auf ein Nachdenken über Zugehörigkeit als essentialisierende Kategorisierung zugreift, da Ordnungen immer auch zu Übertretungen, Verquerungen und Neu-Anordnungen führen (Lorey 2008). Sozialer und auch methodischer Gruppismus (Brubaker 2007) verstellt den Blick auf reale Lebenskontexte, die Bedeutung mimetischer Alltagspraktiken und Ausgestaltungsformen materiell-diskursiver Bedingungen (vgl. Barad 2003: 812ff ). Durch den Fokus auf generalisierte Strukturen bleiben tatsächlich stattfindende Trans-Aktionen, die diskriminieren, marginalisieren und privilegieren, unwahrnehmbar (vgl. Fuhse 2010: 182). Die Idee eines freien und eigenständigen Willens, alles jederzeit neu und anders machen zu können, ist dafür ebenso unbrauchbar, wie die eines Determinismus, nach dem alles vorherbestimmt sei (vgl. Dépelteau 2008). »No specific social actor can transform any social structure according to his/her free will, but no social actor is determined by any social structure. […] Relational theory studies social structures, if any, but it sees them as more or less stable effects of trans-actions between interdependent actors.« (Dépelteau 2008: 60)

Wichtig ist hier die Betonung voneinander abhängiger Akteur_innen, die unsere konstitutive Angewiesenheit in den Fokus rückt, und nicht die Annahme einer singularisierten Unabhängigkeit (vgl. Meißner 2010). Eine Analyse unseres Gebunden-Seins macht die Trennung zwischen Liberalismus, bei dem das autonome Individuum im Zentrum steht, und Kommunitarismus, nach dem das Kollektiv unser Handeln bestimmt, obsolet (vgl. Rosa et al. 2010: 163ff ). Da wir als implicated subjects immer bereits Mit sind, muss eine Perspektivverschiebung weg von verallgemeinerten Strukturen hin zu konkreten Verwobenheiten und Kontexten stattfinden, die das verwobene und ambivalente Verhältnis von intimisiertem und hegemonialisiertem Welt-Werden erfasst. Die Anerkennung der Historizität patriarchaler, kolonialer und kapitalistischer Dominanzordnungen und deren Kontinuitäten sind somit notwendige Analyseperspektiven für die machtkritische Erforschung der ungleichen Verteilung sozialstrukturierender Ressourcen (vgl. Butler 2015). Werden die diversen Praktiken der Subjektivierung und Kollektivierung (beispielsweise Sprache, Bildungsmöglichkeiten, Zugänge zu Institutionen) berücksichtigt, kann jedes Wir nur als interferierendes Kräfteverhältnis in seiner raumzeitlichen Aktualisierung zu verstehen sein. Als raumzeitliches Kongruenzbestreben von Selbstund Fremdwahrnehmung ist die Kontinuität von Zugehörigkeitspraktiken konstituierend für die Arten und Weisen Sozialer Navigation. Da sie sich jedoch nicht in luftleeren und ahistorischen Räumen vollziehen können, sind wir gleichermaßen in unserer Unterschiedlichkeit Mitträger_innen der Kontinuität.

Mit Welten verbunden – Von Welten entrückt

Nur im Zusammendenken der singularisierenden und pluralisierenden Dimension sind die Effekte von Zugehörigkeitsverhältnissen als Befähigungen oder Verhinderungen zu verstehen, die auf unsere Körper, unsere Handlungsweisen und Geschichten wirken (vgl. Pfaff-Czarnecka 2012: 61–62). Dieses Zusammendenken entfalte ich im Folgenden beispielhaft an Un_Ordnungen und Begrenzungen sowie Bedürfnissen und Verantwortlichkeiten.

Un_Ordnungen und Begrenzungen »What I felt was that looking for work was a form of classism. Because people look down on other people sometimes and it‘s not good. You don‘t know who is suitable to your company by classing them. It‘s a bit mad to explain. I‘ve seen people look down on me and I‘ve seen people look down on some of my peers. It‘s like there‘s people out there who say, well, I‘m up here and you‘re down here and I want you to stay down here, because if you stay down here then it will benefit me more. Because who knows, the person who they feel is down could in time be above them and they don‘t want that.« Du erzählst mir von deinen Erfahrungen und Gefühlen deiner Arbeitssuche, Paul. Sie haben sich dir eingeprägt als Beweis eines Klassensystems, durch das du nicht als Menschen mit Qualifikationen, sondern als Vertreter einer Gruppe wahrgenommen wirst. Die Ordnungsweisen der Welt lassen keine_n von uns unbeeinflusst, auch wenn ihre Effekte keineswegs die gleichen sind. Wir alle bewohnen im Moment unserer Begegnung verschiedene soziale und ökonomische Positionen, durch wir Machtverhältnisse mehr oder weniger spüren können. Sei es, in dem sie uns Wege eröffnen oder verschließen. Und doch bleibt uns die vielfältige Dynamik des Sozialen verschlossen und wir sind darauf zurückgeworfen, wiederholte Erfahrungen unter einem bestimmten Muster abzuspeichern. Kategoriale Subjektivierungen sind Platzverweise in der soziopolitischen Ordnung. Durch sie wird uns angezeigt, von welchem sozialen Ort wir kommen, an welchen sozialen Ort wir gehören und an welchen wir gehen können. Jede Ordnung begrenzt. »Existieren heißt, relationiert zu sein; aber jeder Relationierung liegt eine Unterscheidung zu Grunde, die das Relationierte als zwei oder mehr Seiten einer Unterscheidung gegeneinander abgrenzt.« (Karafillidis 2010: 91). In der Vielzahl möglicher Ein- und Abgrenzungsmarkierungen sind Klasse, Hautfarbe, Herkunft, Alter, Be-Hinderungen, Nation und Gender wesentliche, sich überlagernde, Gruppierungsformen des Politischen (vgl. Barlösius 2004). In der Theoretisierung der sozialen Kategorisierung hat sich die intersektionale Betrachtung zur Differenzbeschreibung etabliert (Klinger und Knapp 2013; Winker und Degele 2009). Diese impliziert ein Nachdenken über die Wirkungen verschiedener, miteinander verwobener sozialer und ungleicher Positionierungen im gesellschaftlichen Machtgefüge. »Unter Intersektionalität wird dabei verstanden, dass soziale Kategorien wie Gender, Ethnizität, Nation oder Klasse nicht isoliert voneinander konzeptualisiert werden können, sondern

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Relational Becoming in ihren ›Verwobenheiten‹ oder ›Überkreuzungen‹ (intersections) analysiert werden müssen. Additive Perspektiven sollen überwunden werden, indem der Fokus auf das gleichzeitige Zusammenwirken von sozialen Ungleichheiten gelegt wird.« (Walgenbach 2012: 81 zit. in Walgenbach 2012: 1)

Wenn in der Relationalität von Zugehörigkeit verschiedene Arten und Weisen intimisierter Weltaneignung und Verbundenheiten berücksichtigt werden, Intersektionalität aber, in gewissem Maße, auf eine Beschreibung der sozialen Welt in Kategorien zurückgreifen muss, um die Verteilung von Macht, den Zugang zu Ressourcen, die Existenz und Wirkungen von (Mehrfach-)Diskriminierungen kritisch zu reflektieren, ergeben sich unweigerlich Herausforderungen (vgl. Lorey 2008). Diese Herausforderungen werden auch im Hauptanliegen dieser Arbeit deutlich, durch ein dekonstruktivistisches Denken Zugehörigkeit aus einem kategorisierenden natio-ethno-kulturellen Korsett zu befreien und als verschränkte soziokulturelle Komplexität anzuerkennen, die sich nicht auf strukturalistische Markierungen begrenzen lässt, diese aber immer mitdenken muss. Während ein dynamisches Verständnis die Gestaltbarkeit von Zugehörigkeitsverhältnissen als Potential zur Wahl fokussiert, lässt eine intersektionale Betrachtung deutlich werden, das jede Wahlfreiheit eben immer nur in eingeschränktem Maße entlang soziopolitischer Vorgaben möglich sein kann (vgl. Walgenbach 2012). Unser Mit-Sein ist durch den Zugriff auf und Zugang zu unterschiedlichen Ressourcen und Erfahrungen asymmetrisch (vgl. Yılmaz-Günay 2010). Das macht Zugehörigkeitsverhältnisse zu Abgrenzungsverhältnissen. Zugehörigkeitspraktiken implizieren dementsprechend Abgrenzungspraktiken, die binäre Kategorien in und durch Körper produzieren (vgl. Krishnamurthy 2017: 72ff ). In Körpern werden die Dimensionen unserer Wahrnehmbarkeiten bestimmt. Sie vereinen in all ihrer Verschiedenheit und Distanzschaffung gleichermaßen, da sie auf das potentielle oder tatsächliche Vorhandensein etwas Gemeinsamen verweisen (vgl. Blackman 2013). Als du mir von deinen Erfahrungen erzählst, Daniel, muss ich an Sarah Ahmeds autobiografischen Text »Living a Feminist Life« (2017) denken, in dem sie schreibt: »Think of this: how we learn about worlds when they do not accommodate us. Think of the kinds of experiences you have when you are not expected to be here.« (Ebd.: 10). Ein Gefühl des Aufgehobenseins kann nicht identisch zwischen zwei Menschen sein, zu viele Faktoren des Mit-Seins beeinflussen unser Empfinden. Doch wir sind auch deswegen unterschiedlich in der Welt, weil unsere Wahrnehmbarkeiten unterschiedlich hierarchisiert sind. »I always say, being a man, being black as well, is always a sort of identity of yourself that is out there and you become conscious about that. Before I moved to America I was just starting to become conscious about those things. Being of Caribbean descent but also living in Britain, I never felt English before I went to America. I was watching a lot of American television and I felt black men had better opportunities because I have seen them on TV. I didn´t see them here.« Wie, und vor allem was, lernen wir über die Welt_en, wenn sie

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uns nicht aufnehmen, wie Ahmed es ausdrückt? Wir brauchen Ankerpunkte und Plurale, um uns selbst zu erkennen und anerkannt zu fühlen. Hier wird die Politisierung räumlicher Verhältnisse deutlich – unser sozialer Platz wird zum Sehnsuchtsort, der den Wunsch nach Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit zugleich ausdrückt. Unsere verschiedenen Möglichkeiten, als Menschen anwesend zu sein, werden in konkreten Trans-Aktionen des Hier-und-Jetzt auf eine machtvolle Weise reduziert. Diese Reduktion ist in uns einverleibt, weil sie uns in Trans-Aktionen einverleibt wird (vgl. Gugutzer 2002). Die Möglichkeiten zur Gestaltung jeweiliger Situationen hängen somit nicht nur an unserem Willen zur Veränderung, sondern auch an den klebrigen Anhaftungen, die uns immer auf spezifische Versionen unserer Person reduzieren (vgl. Butler 1997). Wir sprechen über deine diversen Perspektiven auf dein Frau-Sein, Ella. Als Musikerin in einer männlich dominierten Szene stellst du einerseits fest, dass es »auf jeden Fall einen ganz großen Wert hat, dass ich eine Frau bin«, da du dich in einer bestimmten Sichtbarkeit wahrgenommen und anerkannt fühlst, während es dich ebenso auf Ängste und Erfahrungen des Nicht-Genügens und Ignoriert-Werdens zurückwirft. Deine Erfahrung, als Frau in der Musikszene wahrgenommen zu werden, ist für dich mit einer Bewertung deines Könnens assoziiert, die deine Fähigkeiten mit deiner Körperlichkeit in Verbindung setzt. »Es wurde dann davon ausgegangen ›Das ist eine Frau, die kann nicht rappen, der gebe ich keine beats‹.« In der Fremdwahrnehmung wirst du als Frau markiert und besonders beobachtet. Eine andere Erzählung verdeutlicht die Ambivalenz, die mit diesem Beobachtet-Werden und deiner eigenen Positionierung verbunden ist. Von einer spontanen Straßenparty, bei der andere Frauen in knappen Outfits anwesend waren, erzählst du von deinem Unwohlsein, auch in diesem Raum anwesend zu sein und der gleichzeitig empfundenen schützenden Macht deiner Kleidung, dich »verbergen« zu können. »Wir haben auch ein bisschen auf der Stelle getanzt. Ich hatte Gott-sei-Dank auch sehr große Sachen an und habe mich dadurch frei gefühlt und nicht so beobachtet. Das war schon schön.« Wir stehen in unserer Körperlichkeit unter ständiger Beobachtung und haben verschiedene Formen der Fremdwahrnehmung und Reaktionen auf unsere Körper verinnerlicht. Ich kann mich mit deinen Erzählungen identifizieren, da ich glaube zu wissen, wie es sich anfühlt, als weiblicher Körper in der Welt auf bestimmte Weise markiert und anwesend gemacht zu werden. In der Musikszene wird dir eine fraglose Zugehörigkeit abgesprochen, während dir gleichzeitig eine fraglose Zugehörigkeit zum Kollektiv der Frauen zugeschrieben wird. Bei der Straßenparty distanzierst du dich von spezifischen Praktiken anderer Frauen und einer eindeutigen Zuordnung zum gleichen Kollektiv. Ein wahrnehmungskritisches Zugehörigkeitsverständnis impliziert die Gestaltbarkeit des Doing Belonging auf eine Weise, welche die De-Legitimierung unterschiedlicher Körper einbezieht, diese aber nicht als Endpunkt setzt. Eine solche Erweiterung ermöglicht eine Hinwendung zu den Einflussfaktoren auf Zugehörigkeitsprozesse (vgl. Brighenti 2010). Abgrenzungsprozesse dienen der Findung, Schärfung und Verinnerlichung etwas als eigen Identifizierbarem. Sie sind wesent-

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lich für die Formung (nicht-)zugehöriger, und in diesem Sinne zu anderen gemachter, Subjekte und Körper (Hall et al. 2013). Dies findet nicht zuletzt Ausdruck in situativ unterschiedlichen Verhaltensweisen. Zugehörigkeitsverständnisse und -gefühle werden dann also auch durch die Frage hervorgebracht, ob Menschen sich sicher fühlen oder Angst vor rassistischen, sexistischen oder anderen diskriminierenden Übergriffen haben. Unser jeweiliges Umfeld beeinflusst unser Verhalten und unsere Bedürfnisse. Du erzählst mir von einem Gespräch mit einer Freundin, Alina. »Ich habe mit einer Freundin eine Unterhaltung darüber gehabt, wie es sich für uns anfühlt, im Fernsehen einen Komiker of Color zu sehen, der mit Stereotypen Späße macht, die man selber vielleicht, wenn man ganz alleine in seinem Wohnzimmer sitzt, irgendwie lustig finden kann. Es gibt so ein paar Sachen über die ich mich totlachen kann, wenn ich alleine bei mir zu Hause bin. Und in bestimmten Settings, je nachdem, wer dann da noch mit sitzt, würde ich es problematisch finden, solche Sachen überhaupt anzuschauen.« Unser Wohlbefinden und Gefühl des Schutzes hängt davon ab, wo wir uns befinden. Es beeinflusst auch die Effekte und Ursachen, nach denen Menschen gruppiert und bewertet werden. So beeinflussen Diskriminierungserfahrungen unsere soziale Beweglichkeit auch in dem Sinne, dass sie darüber entscheiden, wann und unter welchen Bedingungen ich mit wem verbunden oder solidarisch sein möchte oder kann. Die Performativität des Bedürfnisses nach Zugehörigkeit wird durch diverse Grenzziehungspraktiken der sozialen Un-Ordnung charakterisiert. »Unordnung ist dabei nicht unabhängig von Ordnung zu verstehen, sondern eher als ein Gefüge, das nicht dermaßen gerastert wird.« (Lorey 2008: 4). Was nach Innen als verbindendes und sinnstiftendes Element wirkt, wird häufig erst durch die Abgrenzung und das Ausschließen eines Nicht-Wir überhaupt definier- und wahrnehmbar (Wulf 2002: 83). Jedes Andere ist aber »nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb [...]. Aufgrund dieser Konstellation gibt es keinen festen Standpunkt diesseits oder jenseits des Anderen.« (ebd.). So unabgeschlossen kategoriale Konstruktionen zwangsläufig sind, helfen sie fraglos dabei, Komplexität zu reduzieren und ermöglichen die, häufig raum-zeitlich-gebundene, »Selbstverortung des Unterscheiders, der sich mit der Identifizierung von ›Anderen‹ seiner selbst vergewissert« (Hirschauer 2014: 173). Diese Identifizierung ist für empowernde und macht- sowie diskriminierungskritische Bewegungen unerlässlich (vgl. El-Tayeb 2011). Eine wesentliche Schwierigkeit für die Charakterisierung einer Beziehung zwischen Singularen und ihren Pluralisierungen besteht also in der Festlegung der Grenze, an der soziale Kategorien etabliert und über die Ein- und Ausschlüsse praktiziert werden. Grenzen und Grenzziehungen sind einerseits theoretische Metaphern und andererseits empirisch operationalisierbare Phänomene, deren – mindestens geografische – Existenz sich in konkret wahrnehmbaren Praktiken ausdrücken und analysieren lassen: Seien es sprachliche Unterscheidbarkeiten zwischen Regionen, die kartografische Behauptung einer Grenze, verschiedene Gesetze der Staatsbürgerschaft

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oder Ein- und Ausreiseregelungen (Hirschauer 2014; Anzaldúa 1999). Der Pass ist ein wesentliches machtvolles Symbol für die Gegenwärtigkeit und performative Produktion von Nicht-Zugehörigkeiten durch Grenzen. In der Relationalität seiner Bedeutsamkeit zeigt sich sowohl die materielle als auch diskursive Macht von Grenzziehungen, über die Un_Möglichkeiten von Bewegungen zu entscheiden. »Ich bin hier geboren, ich habe hier eine Staatsbürgerschaft. An der Staatsbürgerschaft will ich es nicht festmachen, aber ich habe hier irgendwie eine ungewählte und vielleicht nicht mal gewollte Zugehörigkeit, auf dich ich erst einmal keinen Einfluss habe. Und die mich ja auch in vielen Dingen schützt. Mit meinem Pass bin ich hier insofern sicher, als dass ich nicht abgeschoben werden kann.« Dein Pass bedeutet für dich, Alina, in deinem Lebensraum als schützenswerter politischer Körper aufgehoben zu sein. Für dich, John, steht dein amerikanischer Pass auch als Beweise für ein spezifisches Insider-Wissen und offizieller Bestätigung deiner Familiengeschichte. »Ich bin Amerikaner. Eigentlich bin ich als Deutscher geboren. Als ich fünf oder sechs war, hat meine Mutter mit Gericht durchgesetzt, dass ich meine Staatsbürgerschaft bekomme, weil ich mein Vater Amerikaner ist. Ich habe zwei Staatsbürgerschaften. Das überzeugt die Menschen meistens mehr, als wenn man irgendwelche Geschichten zu erzählen hat. Weil verreisen kann rein theoretisch jeder. Aber es kann nicht jeder den Pass haben. Ich hatte immer die neuesten Sachen, vor allem aus der Hip Hop Kultur, Bagg yklamotten, Schuhe, die hier erst zwei, drei, vier Jahre später angekommen sind.« Dein Pass ist Ausdruck deines Werdens und ermöglicht dir, dich in deiner Biografie authentisch zu repräsentieren. Er gewährleistet dir eine Zugehörigkeitsmarkierung, die sich mit deinen Erfahrungen decken. Der Pass ist ein wirkmächtiges Symbol des Politischen. Er hat eine Schutzfunktion, wenn er uns als zugehörig ausweist oder bestimmte Erfahrungen und Bedürfnisse legitimiert. Er kann in Form von Bewegungsfreiheit Autonomie verleihen und dient auch der formellen Anerkennung biografischer Erfahrungen. Die Verleihung und Anerkennung der Staatsbürgerschaft ver- bzw. entbindet uns von Menschen und Orten. Gleichermaßen ist der Pass ein machtvolles Instrument, das uns der Anerkennung durch ein politisches System ausliefert und materiell-diskursive Grenzziehungen symbolisiert. Deren Macht bezieht sich auch auf Formen struktureller Gewalt, die in sozialer Ungleichheit, Rassismus und Ausschluss wirksam werden. Das diese Praktiken auch willkürlich und steuerbar sind, beschreibt die Journalistin Atossa Araxia Abrahamian in ihrem Buch »The Cosmopolites« (2015) am Beispiel des globalen Kaufs und Verkaufs von Staatsbürgerschaften. Dieser florierende Markt dient der steuerlichen Begünstigung und vereinfachten Reisemöglichkeit kosmopoliter Wohlhabender, aber auch als Möglichkeit für Staaten, billige Arbeitskräfte einzukaufen. Insbesondere die Komoren dienen als Handelsplatz, staatenlosen Bewohner_innen der Vereinigten Arabischen Emirate (bidoon) Pässe auszustellen, um dort legal arbeiten können. »Transforming these men, women, and children without countries into Comorian citizens practically overnight.« (Ebd.). Die Untersuchung Abrahamians zeigt die relationale Macht materialisierter Zuge-

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hörigkeitspraktiken am Beispiel von Staatsbürgerschaften und ihrem Marktwert im globalen Kapitalismus. Der Pass ist ein Ausdrucksmittel globaler Kräfteverhältnisse und deren Hierarchisierungen, die nicht zuletzt politisch darüber entscheiden, wer unter welchen Bedingungen global sein kann (Abrahamian 2015).

Bedürfnisse und Verantwortlichkeiten Aus den Un-Ordnungen und Begrenzungen des Sozialen ergeben sich verschiedene soziale Bedürfnisse und auch Verantwortlichkeiten. Im alltäglichen Mit-Sein betrifft dies Fragen der Beteiligung, Mitsprache, Aneignung und Wahrnehmbarkeit. Wessen Bedürfnisse werden inszeniert und bekommen einen Raum und wer übernimmt Verantwortung für die Bereitstellung von Ressourcen und nötigen Veränderungen? Wann wird aus einem Sprechen für ein Sprechen von und Sprechen mit? Oder, anders ausgedrückt: if we are all moved by how bad things are, were are we moving to? And who is willing and able to move along? Die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit diesen Fragen stellt sich vor allem dann, wenn es um die Ab- und Anerkennung sozialer Rechte geht, die Menschen in ihrer Unversehrtheit einschränken (vgl. Dege et al. 2010). »Die Dämonisierung der Anderen« (Castro Varela und Mecheril 2016) betrifft gleichermaßen unser Mit-Sein in emotionalen Verhältnissen, in denen Körper und Handlungen von unterschiedlichen Menschen als Bedrohung oder Einschränkung empfunden werden. In einer asymmetrischen sozialen Ordnung gehen Befähigungen und Privilegien unweigerlich mit Verhinderungen und Benachteiligungen einher. Privilegien sind Ergebnisse historischer Entwicklungen in globalen Ungleichheitsverhältnissen, die Subjekten Ansprüche zugestehen und sie zur freien Lebensgestaltung berechtigen, während sie die Wahlfreiheit anderer einschränken (vgl. Pease 2010). Die Privilegierung kann verschiedene Formen annehmen, sei es monetäre Sicherheit und Handlungsmacht, Möglichkeiten der Ausbildung, kulturelle Partizipation, kontextspezifisches Wissen oder andere materielle und immaterielle Ressourcen, die für eine erwünschte Lebensgestaltung zur Verfügung stehen (Bourdieu 1984, 2003). Privilegierungen hängen unweigerlich auch mit den Möglichkeiten zur Beteiligung in Diskursen zusammen (vgl. Dege et al. 2010). »Benennungsmacht beweist sich in der Fähigkeit, die Vorstellungen, Kategorien und Begriffe zu prägen, welche in die Bilder eingehen, die sich die Menschen von der sozialen Welt machen. Über diesen Weg erlangen sie Gestaltungsmacht. Die Benennungsmacht ist ähnlich ungleich verteilt wie andere sozial strukturierende Ressourcen. Die Ausprägungen und Instrumente der Benennungsmacht sind Teil des Ungleichheitsgeschehens [...].« (Barlösius 2004: 185)

In Zugehörigkeitsverhältnissen privilegiert zu sein bedeutet auch, über Möglichkeiten der Nicht-Beteiligung und Un_Wahrnehmbarkeit verfügen zu können oder auch gar nicht erst mit der Aufforderung konfrontiert zu sein, sich auf eine be-

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stimmte Weise verhalten zu müssen. Wer soll nicht-zugehörig gemacht werden? Wie viele Menschen würden Einwanderungstests bestehen? Für wen gilt welche Moral? Wer hat die Macht zur Benennung und wer wird benannt? Benennungsmacht bedeutet auch, über die soziale Akzentsetzung bestimmen zu können und von dieser betroffen oder nicht tangiert zu sein. »Es gab einmal dieses von außen. Was bei mir dafür gesorgt hat, dass ich am liebsten in der Masse untergehen würde. Früher hätte ich die Worte dafür nicht gehabt, aber mittlerweile nenne ich das sichtbare Unsichtbarkeit. Du wirst über die Problematisierung deiner Person immer sichtbar gemacht, aber du bist ja insofern unsichtbar, weil du keine Agenda zum Handeln bekommst.« Du hast dich einem Gefühl der Handlungsohnmacht ausgeliefert gesehen, Alina, das es keine Agenda für deine Präsenz im Sozialen gab, die sich für dich und deine Erfahrungen interessiert hat. Gleichzeitig hast du dir gewünscht, in der Masse unterzugehen, um eben nicht sichtbar zu sein. Zugehörigkeit ist keine Einbahnstraße. Diskriminierung und Stigmatisierung ent-individualisieren Erfahrungen, weil sie keinen Platz dafür lassen, Singulare mit ihren Wünschen, Geschichten und Vorstellungen ernst zu nehmen. Sie beeinflussen, wie wir lernen, uns in Trans-Aktionen wahrzunehmen. »Meine jüngste Schwester zum Beispiel sagt «Nee, ich bin Deutsche« und ist sehr stringent, negative Sachen die sie erlebt, als Einzelfälle zu sehen.« Ebenso beeinflussen vergangene Trans-Aktionen, für welche Erfahrungen und Geschichten wir auf welche Weise empfänglich sind. Ein Denken nicht-identitärer Pluralisierungen impliziert die Herausforderung, Gewalt- und Ausgrenzungserfahrungen marginalisierter Kollektivierungen nicht zu relativieren (vgl. Jähnert et al. 2014). Insbesondere im Kontext von Debatten über kulturelle Aneignung oder die kritische Aufarbeitung historischer Verantwortlichkeiten müssen Machtasymmetrien zwischen sozialen Gruppierungen wahrnehmbar und die Perspektiven, von denen Kritik geäußert, und mit welchem Ziel diese geäußert wird, relevant gemacht werden (vgl. Eggers 2007). Bei dem Blick auf die An- und Verordnungen des Sozialen darf gleichzeitig die Frage nach dem Ziel von Veränderungsbemühungen nicht aus dem Blick geraten: geht es kritischen Perspektiven darum, gesellschaftliche Verhältnisse zu verändern oder darum, in den bestehenden Verhältnissen die Beteiligung möglichst vieler divers positionierter Akteure zu erhöhen? (vgl. Lorey 2008). »Es macht einen Unterschied, ob gleichsam die Herrschaftsbehauptung wiederholt wird, ein Leben jenseits von spezifischen Ordnungen sei nicht lebbar, oder ob die Kämpfe gegen die Aufrechterhaltung von Ordnungen selbst virulent gehalten werden. Das bedeutet, sich der Grenze von Ordnung, die immer auch durch die Konstituierung von Unordnung aufrechterhalten werden muss, zu verweigern und zu entziehen und so selbst Grenzen zu setzen.« (Lorey 2008: 4)

Benennungs- und Gestaltungsmacht sind zwei funktionale Aspekte die politische Verhältnisse bestimmen, ohne dass sie zwangsläufig an spezifischen Subjektpo-

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sitionen festgemacht werden können. Eine (kultur-)kapitalistische Gesellschaftsorganisation lebt von der Singularisierung und Individualisierung sozialer Lebensrealitäten und damit verbundener Abweisung von Verantwortlichkeiten (vgl. Jameson 2015; Reckwitz 2017). Um das eigene Fortkommen und Bestehen zu sichern, stehen nicht solidarische Aspekte des Mit-Seins im Vordergrund, sondern das Erreichen, die Erhaltung oder Verteidigung eines bestimmten Status Quo. Neoliberale Prozesse betreffen verschiedene Pluralisierungen und die ihnen zugeordneten Subjekte unterschiedlich stark, wie ich am Beispiel des Hochhausbrandes in London in den Räumlichen Verhältnissen verdeutlicht habe. Die auf die Sicherung der eigenen Existenz abzielenden Aspekte kapitalistischer Marktlogiken stellen eine neoliberale Version der Selbstverantwortlichkeit des Individuums für das eigene Schicksal in den Mittelpunkt politischer Praktiken (vgl. Dimitrova et al. 2012). Butler weist kritisch auf die Überforderung des Individuums hin, welches als Konsequenz dieser Zustände eine unerreichbare Verantwortung für das eigene Leben empfindet (vgl. Berbec und Butler 2017). »[D]ie Beherrschten – so die Herrschaftsvorgabe – [sollen sich, K.M.] als individualisierte Individuen [...] in ihrer nunmehr ›freigesetzten, riskanten Lebensgestaltung‹ [...] umso deutlicher ihren je eigenen Handlungsoptionen und -zwängen unterliegend begreifen« (Hirseland und Schneider 2008: 5647). Eine daraus resultierende Hinwendung zur Politisierung von Zugehörigkeitsverhältnissen verdeutlicht die Notwendigkeit, Praktiken des Mit zu konzeptualisieren. Denn »[e]s geht um Potenzialitäten politischen Handelns, die durch bestimmte Denkweisen ausgeblendet werden.« (Lorey 2008: 9). Diese Denkweisen beziehen sich auch auf die Vorstellung eines isolierten und autonomen Subjekts (vgl. Meißner 2010). Sozialer Handlungsspielraum erfasst einen Radius des Entbunden-Sein-Könnens in Gebundenheit und bezieht sich so unmittelbar auf die Einforderung politischer und sozialer Rechte (vgl. Hoff 2014). Die notwendige soziopolitische Zugehörigkeit ist einerseits ein Werkzeug zur Mitgestaltung und Beteiligung, während sie gleichzeitig immer eine Aufforderung zur Anpassung beinhaltet, in dem sie die Anerkennung und Einhaltung von Normierungen in Machtverhältnissen voraussetzt (vgl. Backhaus und Roth-Isigkeit 2016). Es gibt keine »Nicht-Orte« (Augé 2014) der Macht, an denen wir uns außerhalb der Wahrnehmbarkeiten unserer soziokulturellen Erscheinung aufhalten können. Es gilt, eben diese Unweigerlichkeit einerseits anzuerkennen und Verantwortung dafür zu übernehmen, und sie andererseits als klebrige Bindung an die Norm zu problematisieren, die Sozialität unbeweglich macht und Solidarität oder kritisches Mit-Werden unmöglich erscheinen lässt. Foucault fordert aus diesem Grund, »abzuweisen, was wir sind. Wir müssen uns das, was wir sein könnten, ausdenken und aufbauen, um diese Art von politischem »double bind« abzuschütteln, der in der gleichzeitigen Individualisierung und Totalisierung durch moderne Machtstrukturen besteht. Abschließend könnte man sagen, daß das politische, ethische, soziale und philosophische Problem, das sich uns heute stellt, [...] darin liegt, [...] uns sowohl vom Staat als auch vom Typ der Individualisie-

Mit Welten verbunden – Von Welten entrückt rung, der mit ihm verbunden ist, zu befreien. Wir müssen neue Formen der Subjektivität zustandebringen, indem wir die Art von Individualität, die man uns jahrhundertelang auferlegt hat, zurückweisen.« (Foucault in Dreyfus et al. 1994: 250)

In der Anerkennung einer Onto-epistemo-logie des Werdens liegt ein notwendiger Schritt, dieser von Foucault geforderten Neugestaltung der »Formen der Subjektivität« (ebd.). Eine Berücksichtigung der Bedeutsamkeit von Narrativen und Erzählungen kann hierbei ermöglichen, über Gemeinsamkeiten anders nachzudenken, und diese nicht bloß als Wiederholung des Gewohnten zu erwarten, sondern sie zu gestalten und Utopien zu entwerfen. Menschen sind mit verschiedenen Bedürfnissen in verschiedenen Welten zu Hause. Zugehörigkeitserfahrungen entstehen aus der Abgrenzung, sie brauchen den Agonismus (vgl. Mouffe 2015: 12), um politisch produktiv sein zu können. Welche Formen der Abgrenzung lassen sich jedoch identifizieren, wenn Zugehörigkeitsverhältnisse anders imaginiert werden? Dies holt Begriffe wie Postkolonialität (Spivak 2008), Transkulturalität (Griese 2006), Postnationalität (Hedetoft und Hjort 2002) oder Posthumanismus (Braidotti 2016) in die zeitgenössischen Debatten zur Auflösung identitärer Kategorien. Diese Ansätze tragen unterschiedliche Weise zu notwendigen Diskursverschiebungen bei, wenn sie auch die anhaltenden Wirksamkeiten ungleich gemachter rassifizierter, vergeschlechtlichter und klassifizierter Körper sowie deren Ressourcen und Lebensbedingungen adressieren. Bodies matter. Matters matter. Belonging matters. Eine »nomadic eco-philosophy of multiple belongings« (Braidotti 2006b: 35) muss aus diesem Grund auch berücksichtigen: unser Umgang damit matters. Neue »Formen der Subjektivität« müssen mit neuen Formen der Ver-Bindung einhergehen, um sozial produktiv zu sein und nicht lediglich im Gewand anderer Regierbarkeiten neue, unterworfene Subjekte hervorzubringen. Hegemonie hängt nicht von Popularität ab, sondern »von der Normalisierung der Idee [...], es gäbe keine Alternativen.« (Smith 1998: 232 zit. in Spies 2009: 8). Dies macht eine relationale Perspektive auf Zugehörigkeitsanordnungen notwendig und problematisch zugleich, da es die Frage nach den prinzipiellen Möglichkeiten einer Befreiung aus Unterwerfungen und des Unabhängig-Seins neu stellt. Aus diesem Grund geht es in vorliegender Arbeit nicht um die Analyse spezifischer Subjekt- oder Kollektivpositionen. »The relaying action […] does not depend on […] will or even […] power to relay. The consequences of the succession of relays go beyond the occasion of the first relay, or the original relay, which claimed to have started it all. […] This is why Relation, which is the world‘s newness, drives every possible fashion faster and faster. In contrast with the parade of fashions, Relation does not present itself as anything new. Indiscriminately, it is newness.« (Glissant 2010: 177)

Eine kritische Theorie relationalen Werdens muss die diversen Bedürfnisse und Verantwortlichkeiten, die sich aus der unterschiedlichen Wahrnehmbarkeit und Anordnung unserer Körper, aus ihrer De-Legitimierung und Dämonisierung, im

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sozialen Gefüge ergeben, zwingend berücksichtigen (vgl. Braidotti 2006b). Es geht insbesondere um den Umgang mit Ambiguität und den Spannungsverhältnissen, die sich notwendigerweise aus jeder möglichen »newness« ergeben. Auf welche Weise kann nun unsere gegenseitige Bewegtheit mit den Verhältnissen erfasst werden? Im folgenden Kapitel nähere ich mich einer Antwort am Beispiel musiktheoretischer Begrifflichkeiten, die als relevante Modi Sozialer Navigation im Prozess dieser Arbeit entstanden sind. Warum Musik für die Konzeptualisierung unseres Mit-Werdens als inspirierende Metapher dient und von welchen Komponenten unsere Trans-Aktionen unter anderem beeinflusst sind, führe ich auf den kommenden Seiten aus.

5.2 Relational Becoming »Passivity plays no part in Relation. Every time an individual or community attempts to define its place in it, even if this place is disputed, it helps blow the usual way of thinking off course, driving out the now weary rules of former classicisms, making the ›follow-throughs‹ to chaosmonde possible.« (Glissant 2010: 137)

Passivität ist in einer relationalen Betrachtung unserer Welt-Verbundenheiten unmöglich. Egal, wie wir uns verhalten und ob eine tatsächliche Option zu Handeln verfügbar oder überhaupt wahrnehmbar scheint, sind wir immer in Welt_en verwoben und Welt_en in uns. Es gibt keinen Zustand der Unabhängigkeit (Gergen 2009: xxi). Sein heißt anwesend-Sein und anwesend-Sein heißt, auf ganz unterschiedliche Weise, beteiligt sein. Dennoch scheint das theoretische Spektrum der Möglichkeiten zur Kontingenz weit entfernt von einer real-politischen und physisch-spürbaren ungleichen Ausgestaltung der Welt_en. Wir re-produzieren tagtäglich Versionen des Sozialen, die historische Kontinuitäten und eine vermeintliche Akzeptanz des ›So-Seins‹ unserer Welt_en wiedergeben, auch wenn dies nicht notwendigerweise mit einer moralischen oder faktischen Zustimmung zu politischen oder soziokulturellen Praktiken einhergehen muss (vgl. Backhaus und Roth-Isigkeit 2016; Haidt 2013). Mit den vorgestellten Perspektiven auf interferierende Zugehörigkeitsverhältnisse wurde die soziale Landschaft, die relationale Mehrdimensionalität beschrieben, die unsere Navigationen als Trans-Aktionen beeinflusst. In der Sozialen Navigation laufen die Verhältnisse zusammen. Wie verdeutlicht werden sollte, beschreibt Zugehörigkeit keinen ausschließlich und endgültig bestimmbaren Ort des Sozialen, sondern ist Effekt und Ursache unterschiedlicher Praktiken des Relationalen, »a process that is fuelled by yearning rather than the positing of identity as a stable state.« (Probyn 1996: 19). Die Vorstellung eines Wir oder Ich, welches in einem dauerhaft einheitlichen Rhythmus pulsiert, kann nur als Illusion

Mit Welten verbunden – Von Welten entrückt

bestehen (vgl. Lefebvre 2004). Aus diesem Grund wird Zugehörigkeit als ein »yearning«, ein Sich- Sehnen, nach einem Kongruenzerleben, dem Wunsch nach situativer Synchronisierung von Selbst- und Fremdwahrnehmungen, konzeptualisiert. Wie ich bereits in den Koordinaten der Reise verdeutlicht habe, bringt das Konzept der Sozialen Navigation »a perspectival and metaphorical shift that provides a good point of departure for a reworking of the relationship between agency and social forces.« (Vigh 2009: 433). Das Dilemma des Verhältnisses zwischen Handeln und Struktur ist in vielen sozial- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten diskutiert und reflektiert worden. Dies betrifft insbesondere jene, welche sich kritisch mit sozialer Ungleichheit und der daraus resultierenden Ohnmacht und Unterwerfung unter herrschende Machtverhältnisse beschäftigen (Solga et al. 2009; Graf et al. 2013). »›Herrschaft‹ und ›Macht‹ können nicht nur in Begrifflichkeiten von Verteilungsasymmetrien gedacht werden, sondern müssen als integraler Bestanteil [...] des menschlichen Handelns als solchem [...] erkannt werden.« (Giddens 1992: 84ff ). Zugehörigkeitspraktiken verstehe ich nicht aus der Gegensätzlichkeit zwischen individueller Handlungsmacht auf der einen und sozialstrukturellen Mächten auf der anderen Seite, sondern als Effekt miteinander verwobener Bedingungen Sozialer Navigation. Es gilt nun, die Soziale Navigation als Koordinate dieser Arbeit zu justieren: da unser Sein grundsätzlich als Mit konzipiert wird, erfasst die Soziale Navigation keine singularisierte Handlungsmacht in uns vorauseilenden Strukturen, sondern ist grundlegender Bedingungs- und Entstehungsfaktor des sozialen Gewebes (vgl. Nancy 2004). Sie lässt sich in der Enti-Tätigkeit des Mit ausdrücken und ermöglicht ein antikategoriales Zugehörigkeitsverständnis. »[T]he production of the world is not based on free will and self-action. The principle of trans-action is founded on the idea that the production of the social world happens through social relations and in a physical environment.« (Dépelteau 2008: 65). Nicht der vereinzelte Mensch steht, geht und tanzt in vorgefertigten Welt_en, sondern die Welt_en bewegen uns und wir bewegen sie.

5.2.1 Musik als Metapher »Ich sehe keinen anderen Sinn der Musik als den, übers klingende Erlebnis, über die eigene Struktur hinauszuweisen auf Strukturen, das heißt auf Wirklichkeiten, und das heißt: auf Möglichkeiten um uns und in uns selbst.« (Lachenmann 1996: 278) »If ›to hear‹ is to understand the sense […], to listen is to be straining toward a possible meaning, and consequently one that is not immediately accessible.« (Nancy 2009: 6)

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Der Kontext und das Ziel unserer Begegnung setzt voraus, das wir uns hören. Zueinander gewandt hören, aufeinander bezogen hören, zu-hören. Oder aber auch weg-hören, nicht hören wollen oder können oder unhörbar sein. Im Hören steckt mehr als die Fähigkeit, Geräusche und Klänge mit den Ohren wahrzunehmen. Da wir uns jedoch alle sprechend und hörend verständigt haben, beziehe ich mich auf eben diese Fähigkeit des kommunikativen Austauschs. Es gibt etwas, was ich im Forschungsprozess lange überhört habe. Und das betrifft die Bedeutung von Musik, die in all unseren Begegnungen deutlich wurde. Ihr seid alle in Musik involviert, ihr singt, produziert, rappt oder komponiert. »Musik ist grundsätzlich aus sich selbst für sich selbst da. Man kann natürlich Geld damit verdienen wollen, aber gerade wenn auf der Straße gemeinsam musiziert wird, oder wo auch immer gemeinsam musiziert wird, heißt es für mich, dass die Menschen den Moment leben. Und das ist immer gut finde ich. Weil es darum geht, gemeinsam mit anderen Leuten zu sein. Klar, es gibt auch Leute, die gerne alleine sind. Aber eigentlich geht es doch auch darum, Austausch mit anderen Menschen zu haben. Mit Musik wird so eine Sphäre für alle geöffnet, weil sie immer da ist.« Musik ist eine Sphäre, die für dich verfügbar und zugänglich ist, Ella. Du erzählst mir, wie dein Leben durch »vibes« bestimmt ist und wie du deinen Erfahrungen retrospektiv ein bestimmtes Gefühl, einen bestimmten musikalischen Fluss zuordnen kannst, Anton. »Alle vergangenen Jahre hatte ich einen vibe. Geruch, Musik und Gefühle im Bauch vermischen sich zu einem vibe.« Als ich meinen Blick und mein Gehör dafür geschärft habe, war es unausweichlich, Klang und Musik in mein Zugehörigkeitsverständnis einzubeziehen. Ich war ab diesem Zeitpunkt für Theorien empfänglich, die Musik als kulturelle Praxis mit Zugehörigkeitserfahrungen zusammendenken. Meine Aufmerksamkeit lenkte mich auf Nancys Arbeiten zum Gehör und der Resonanz. Die Veränderung meiner Wahrnehmung ermöglichte mir eine neue Beziehung zu meinem Forschungsmaterial. Ich begann, anders zu hören und über die Rolle von Klang als Medium und dessen Einfluss auf unser Mit-Mensch-Sein nachzudenken. Im Sinne der Constructing Grounded Theory wurde Musik als eine fruchtbare analytische Linse für die Konzeptualisierung der Sozialen Navigationen relevant. Musik vereint als sozio-kulturelle Praxis alle dieser Arbeit zugrundeliegenden Koordinaten: Körper spielen sowohl für das Musikmachen als auch das Rezipieren eine wesentliche Rolle, Klänge, Geräusche und Vibrationen werden von Körper_n aufgenommen und versetzen diese in Bewegung (vgl. Schafer 1994).18 Die Wirkung von Musik ist auf verschiedenen Sinnesebenen un_wahrnehmbar, nicht immer lassen sie sich kommunizieren oder gar bewusst reflektieren. Sound macht etwas mit uns, ohne dass dies unserem Bewusstsein immer zugänglich ist. Sound wird gespürt, er resoniert in uns, auch wenn das Gehör nicht ausgebildet oder vorhanden ist. Klänge sprechen uns an, stoßen uns ab und wecken Erinnerungen. Musik ist Bewegung. Musik bewegt. Sie bietet »als Abbild vom Menschen« (Lachenmann 1985) »existentielle Erfahrung« (Lachenmann 1996). Musik ist eine »technology of the self« (DeNora 1999) und dient als interpre18 Ich beziehe mich im Folgenden auf Musik und Klang bzw. Sound gleichermaßen, um die Vielgestaltigkeit auditiver Wahrnehmbarkeit zu erfassen.

Mit Welten verbunden – Von Welten entrückt

tative Linse (Liu et al. 2012, eig. Übers.) dafür, ihre Wirkung als »medicine of the mind« (Storr 1997) zu reflektieren. Es wurde bisher keine Gesellschaft auf der Welt gefunden, in der keine Musik vorkommt (vgl. Berendt 1985: 1). Dies ist keineswegs eine musiktheoretische Arbeit, welche die Vielfalt von Klangwelten, Tonleitern oder Instrumenten erfassen will. Vielmehr soll dieser letzte Abschnitt auf der Reise in das Spannungsverhältnis von Zugehörigkeiten als ein Versuch dienen, Musik als auditive Linse in das Nachdenken über unser Mit-Werden einzuführen und aufzuzeigen, wieso Klang und Sound eine fruchtbare Analyseperspektive für Zugehörigkeitserfahrungen bieten (vgl. Liu et al. 2012). Bereits an anderer Stelle habe ich Baldwin zitiert, der schreibt, dass menschliche Handlungen und Errungenschaften auf den ungesehenen oder unbemerkten Dingen basieren, und das es aus diesem Grund die Aufgabe von Künstler_innen ist, diese Unsichtbarkeiten wahrnehmbar zu machen. Es sei ihre Aufgabe, aufzuzeigen, dass sich die Welt im konstanten Wandel befindet und es keine andauernden Beständigkeiten geben kann (Baldwin 1999: 17–18). Dies ist eine Grundlage der hier vertretenen relationalen Perspektive des »relational flow« (Gergen 2009: 46) wie ihn auch Kenneth Gergen imaginiert, in dem er einerseits die kontinuierliche Bewegung innerhalb eingrenzender Rahmenbedingungen und andererseits die Möglichkeit der Entstehung und Entwicklung neuer Bedeutungen, also das Potential der Emergenz, zusammendenkt (ebd.). Sound verstehe ich als Symbol für diesen flow. Musik ist in Form von Klängen, Rhythmen und Tönen ein Sinnbild für Bewegung und ermöglicht eine Wahrnehmung von Zeit und Raum (vgl. Storr 1997). Wir haben Augenlider, aber keine Ohrenlider (Bull 2000: 118). In dieser Feststellung wird die relationale Bedeutung von Musik relevant: die Strukturen, die Musik vorgibt und durch die sie auch entstehen kann, sind keineswegs als feste Entitäten zu verstehen, sie sind nicht sicht- oder greif bar. Sie können zwar als Tonleitern, Harmonien oder Melodien theoretisiert werden, aber es sind erst die Verbindungen zwischen Tönen, durch die Sound entsteht und für uns wahrnehmbar wird. Eine Melodie ist eine Reihe von Tönen, die Sinn machen (Zuckerkandl 1956 zit. in Storr 1997: 170, eig. Übers.). Bereits im Wort »dazugehören« steckt das Hören als relevanter Wahrnehmungsprozess. Nancy schreibt in seinem Werk »Zum Gehör« (2014) von dem Zusammenspiel und der Verschränktheit innerer Schwingungen und äußerer Gespanntheiten von Körper_n (Nancy 2014: 13ff ). Musik wird keineswegs nur gehört, vielmehr wird sie ganzheitlich empfunden. Schall, Schwingung und Klang wirken in Körper_n als Resonanzräume (ebd.), deren Mit-Sein jedoch allzu häufig auf die wahrheitsstiftende Praktik des Sehens reduziert wird. Während der visuelle Sinn Distanz schafft, kreiert das Hören Verbindungen (vgl. Bull 2000: 118). Sei es durch die Erinnerung an bestimmte Lieder, das Eingebundensein in spezifische Subkulturen, das Hervorrufen von Emotionen, die Bindung an Orte oder das Verbot bestimmter Musik in politischen Systemen: durch Sound werden Geschichten, Räume, Emotionen, Zeit und Politik miteinander verbunden.

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Musik gestaltet Räume dadurch ebenso mit, wie sie selbige herstellt, sei es durch die Melodie beim Einkaufen, das Lieblingslied der Familie oder die mit Musik verbundene Erinnerung an frühere Erlebnisse. Unsere gegenwärtige Wahrnehmung ist immer auf Vergangenes bezogen (vgl. Sacks 2008). Im Klang wird das Vergangene mit dem Gegenwärtigen verwoben und damit auch auf Zukünftiges verwiesen, denn wir müssen bereits vergangene Klänge erinnern und mit kommenden verbinden, um überhaupt eine Melodie wahrnehmen zu können. Wir hören, wer wir sind und wir hören, wer wir sein können. Die musikalische Erfahrung entspricht dem »›inner life‹ of human beings which they picture as a continuously flowing stream. […] music was the first art to give us the sense of unification occuring in time rather than in space.« (Hegel zit. in Storr 1997: 173). Musik stiftet und begleitet Gemeinschaftlichkeit, ob kurzfristig bei einem Konzert oder Festival oder auch langfristig in Form von Hymnen oder wiederkehrenden Gesängen, deren ritualisierte Aufführung als Bestandteil von Vergemeinschaftungsprozessen funktionieren. Der Prozess des Musikmachens und -rezipierens dient nicht nur dem Ausdruck von Ideen und Gemeinschaftlichkeit, sondern er ist eine Form, diese zu generieren, ohne sie dafür vorauszusetzen. »[N]ot that social groups agree on values which are then expressed in their cultural activities [...] but that they only get to know themselves as groups (as a particular organization of individual and social interests, of sameness and difference) through cultural activity […].« (Frith 1996: 111)

Wird dies auf gesellschaftliche Zustände übertragen, stellt sich die Frage, wer an welche Klänge gewöhnt ist und für wen sich verschiedene Sound-Formen, Gesang, Melodie oder Instrumentalisierung wohltuend oder verstörend anfühlen. Das lässt sich auf Trans-Aktionen der sozialen Welt übertragen: Für wen bin ich empfänglich, welche Ideen und Perspektiven kann ich hören und (nach-)fühlen, welche Begegnung resoniert in mir und auf welche kann, und will, ich mich einlassen? In der Bewegung und Entstehung von Musik kann kein Ursprung ausgemacht werden – sie reist, kommt nicht an, aber bleibt an Orten kleben, wird dort konsumiert, gestaltet und verändert (vgl. Ismaiel-Wendt 2011). In seiner ganzen klanglichen und rhythmischen Vielgestaltigkeit stehen Sound und Musik als Symbol für das Werden, ein becoming-noise, »becoming-imperceptible« (Braidotti 2006a) und auch becoming-aware. Musik ist Trägerin politischer Botschaften und eine Analogie historischer Ereignisse und sozio-kultureller Kontexte. »Im Gesamt unseres Daseins bleibt sie als kulturelle Erfahrung eher ein Medium der Zuflucht in anderem Sinn

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allerdings für den Erkenntnis- als für den Verdrängungssuchenden.« (Lachenmann 1985: 19). Die sonore Beschaffenheit von Musik als etwas vermeintlich Unsichtbarem trübt den Blick auf die differenzierende, materiell-diskursive Macht von Hörbarem und Gehörtem. In ihrer Arbeit reflektiert die Englischprofessorin und kritische Soundforscherin Jennifer Lynn mit einem von W.E.B. Du Bois übernommenem Titel die »sonic color line« (Stoever 2016). Stoever analysiert die politische Brisanz des Hörens für die Vorherrschaft weißer Ideologie in Amerika. An den Aspekten Stimme, Musikgeschmack und Lautstärke verdeutlicht sie den Zusammenhang zwischen race und Sound. Sie analysiert dafür historische Soundspuren Afro-Amerikanischer Performer und zeigt daran, wie Klänge und Hören einerseits in rassifizierten politischen Verhältnissen verankert sind und diese andererseits, eben als »sonic color line«, aktiv mitproduzieren (ebd.). Sie rekonstruiert das Primat des Sehens und die Bedeutung des Auges zur Wahrheitsgenerierung als eine Folge der Aufklärung, in deren Rationalisierungsannahme die Ohren und das Hören mit Passivität, Selbstunterwerfung und emotionaler Fehleinschätzung verbunden wurden (ebd.). Stoever verweist aus diesem Grund auf Du Bois Perspektive der »sonic color line«, die er mit der Idee der europäischen Moderne, und somit dem Kolonialismus, verbindet, um eine kritische Theorie des »hörenden Ohrs« zu entwerfen. »Critiquing the propensity of European modernity to value evidence produced by the eye over evidence generated by the ear […] Du Bois asserts that whites’ obsession with looking caused an extreme distortion of vision. Whites cannot see through their veil of race – a product of hundreds of years of their ignorance, misrepresentation, and self- serving violence – and their loss of vision actually enables them to continue dehumanizing black people, characterizing them as abstract, shadowy »problems« rather than individual, rights- bearing subjects, modernity’s sine qua non.« (Stoever 2016: 10)

Das hörende Ohr ist immer ein kulturell und sozial hervorgebrachtes Ohr und wird somit zu einem zentralen Ort und Ausgangspunkt dekolonisierender, machtkritischer Bestrebungen (vgl. Lovesey 2016). Hörbarkeit ist eine analytische Perspektive des Zusammendenkens und der Bildung von Hören, Verstehen und Kommunizieren als zusammenhängende Vorgänge. Kommunikative Praktiken sind fraglos relevant, jedoch nicht ausschließlich bestimmend für Zugehörigkeitsprozesse (vgl. Hausendorf 2000). Das Mit ist nicht auf die »Ökonomie des sprachlichen Tausches« (Bourdieu 2012) zu reduzieren. Und dennoch lässt sich die Bourdieu´sche Frage, »Was heißt sprechen?« (ebd.), nicht von Zugehörigkeit als performativer, und damit auch sprachlicher Praxis des Machens- und Gemacht-Werdens durch die Gleichzeitigkeit von Sprechen, Hören und Gehört-werden trennen (vgl. Dege et al. 2010). In ihrem postkolonialen Klassiker »Can the Subaltern Speak?« (Spivak 2008) setzt sich Gayatri Chakravorty Spivak mit der Möglichkeit des Sprechen-Könnens der Subalternen auseinander, eine Perspektive, die es um die Notwendigkeit des Hörens und Zuhörens zu ergänzen gilt – denn Sprechen-Können

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allein verhallt, wenn es nicht auf Ohren trifft, die hören und Körper, die zugewandt sind und die wahrnehmen wollen und können (vgl. Steyerl 2002). Das Gehörmäßige bezeichnet den Zustand, die Qualität und auch Variationen des auditiv Wahrnehmbaren. Dies schließt die organischen Bedingungen des Hörsinns und der Hörorgane ein, geht jedoch darüber hinaus. Es findet sich für »aurality« im Deutschen keine entsprechende Übersetzung, aus diesem Grund übernehme ich den Begriff von der Philosophin Naomi Waltham-Smith, die mit ihm ein politisches Paradigma der Relationalität erfasst (Waltham-Smith 2016). »[A]urality is nothing other than the (im)possibility of this self- relation that it becomes the condition of possibility for rethinking every figure of relation and of community. [...] because the coming politics can no longer afford to be thought on the basis of ethics, morality, action, or agency, but only from the fundamental structure of relationality at the level of being, aurality provides a paradigm for politics. […] if aurality is the (im)possibility of relation, it is alwaysalready ontology and politics.« (Waltham-Smith 2016: 78–79)

Die eingeführte Distanzierung zum Paradigma des Visuellen soll keineswegs in eine Dominanz anderer Sinneswahrnehmungen übergehen. »Aurality« als politisches Paradigma zu erfassen, bedeutet nicht, dass nun Hörbarkeit und das zum-Ohr-Gehörende zum Maßstab normativer Ordnungen erklärt wird. Es geht vielmehr um eine Fokusverschiebung und -erweiterung, die sich einem ganzheitlichen Ansatz Sozialer Navigationen als hör-fühlbarer Praktiken des Mit widmet (vgl. Schaffer 2008). Dazu zählen Hören, Sprechen, Fühlen, Verstehen, Schmecken und Sehen gleichermaßen. Musik weist über das »klingende Erlebnis« und »über die eigene Struktur« hinaus, um das Eingangszitat des Komponisten und Kompositionslehrers Helmut Lachenmann aufzugreifen (Lachenmann 1996: 278). Sie dient der Schaffung ebenso wie der Abgrenzung verschiedener Wirklichkeiten, die mit der klassischen und klassen-distinktiven Trennung in Hoch- und Subkultur oder in Populäre Musik und Ernste Musik nicht erfassbar sind (vgl. Radano und Olaniyan 2016). Stattdessen müssen musiktheoretische Betrachtungen, oder solche, die von Musik und Sound inspiriert sind, einer dekolonialen Lesart unterzogen werden, die Ab- und Ausgrenzungsprozesse in der Produktion und Rezeption wahrnehmbar macht (vgl. Ismaiel-Wendt 2011). In solch einer kritischen, dekolonialen Wahrnehmungspraxis verschwimmen die Grenzlinien zwischen Herkunft, Originalität, Sample und Remix, zwischen Werktreue und Veränderung und es werden zusätzlich Fragen der Vermarktung, Kapitalisierung und Konsumierung relevant (ebd.). Musik als ein »Medium der sich selbst erfahrenden Wahrnehmung« (Handschick 2015) ernst zu nehmen, ermöglicht ein Nachdenken über Immanenzen, Transzendenzen und Fluiditäten, über das Werden und die »Möglichkeiten um uns und in uns selbst« (Lachenmann 1996: 278). Sie symbolisiert als Rhizom die kontinuierlichen Verflechtungen ihrer verschiedenen Variationsformen, die als »service

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of a virtual cosmic continuum« (Deleuze und Guattari 1987: 116) nicht nur das Hörbare, sondern auch die Unterbrechungen, Pausen und Stille umfassen.

5.2.2 Soziale Navigationen sind denkfühlende Praktiken »Beings do not simply occupy the world, they inhabit it, and in so Doing – in threading their own paths through the meshwork – they contribute to their ever evolving weave.« (Escobar 2016: 18) »wer einst fliegen lernen will, der muss erst stehn und gehn und laufen und klettern und tanzen lernen: – man erfliegt das Fliegen nicht!« (Nietzsche 2011: 216)

Im ersten Teil dieses Kapitels habe ich mich mit möglichen Zuständen interferierender Zugehörigkeitsverhältnisse befasst. Nun wende ich mich der Navigation mit diesen Verhältnissen zu. Soziale Navigation ist Bewegung und Bewegung steht symbolisch für die grundlegende Unfertigkeit der Welt_en. Beweglichkeiten und Bewegtheiten werden kontrolliert, eingeschränkt oder ermöglicht. Sie rücken Begriffe der Öffnung, Schließung, Mobilisierung, Passivität, Aktivität und Verhinderung in den Blick. Unsere Un_Beweglichkeiten finden nicht getrennt voneinander statt, sie sind miteinander verbunden. Die Navigation ist auf diese Weise eine performative Produktions- und Ausdrucksform des Mit. Wir begegnen Melodien unseres Lebens, sind ihnen ausgeliefert, tanzen nach ihnen, widersetzen uns einer bestimmten Bewegung oder führen sie anders aus, als gewohnt. Schwingen, klingen, rhythmisches wiederholen und synchronisieren, imaginieren, schweigen und instrumentalisieren sind die Praktiken Sozialer Navigation, auf die ich mich im Folgenden beziehe. Manche Melodien sind so klanggewaltig und vereinnahmend, dass sie Navigation nahezu unmöglich machen, während andere uns durchs Leben zu tragen scheinen und als passender Soundtrack empfunden werden. Die erfassten Praktiken umschließen in ihrer materiell-diskursiven Gesamtheit sowohl narrative und visuelle, als auch körperliche und verdinglichte Prozesse des Mit-Werdens. »[D]as gebundene und lebendige Erscheinen des Leibs [ist, K.M.] die Bedingung dafür, dass wir dem Anderen ausgesetzt sind, ausgesetzt dem Drängen, der Verführung, der Leidenschaft, der Verletzung, ausgesetzt in Formen, die uns tragen und erhalten, aber auch in Formen, die uns zerstören können. In diesem Sinne verweist die Exponiertheit des Leibes auf seine Gefährdetheit.« (Butler 2012a: 696)

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Un_Beweglichkeiten finden in unterschiedlichen Kräfteverhältnissen der Anziehung und Loslösung, der Ver- und Entbindungen, statt. Die Navigationen berücksichtigen die Einflussfaktoren und Arten und Weisen dieser Un_Beweglichkeiten, da Zugehörigkeitsverhältnisse ambivalente Spannungsverhältnisse darstellen, die immer auch die von Butler angesprochene Gefährdetheit implizieren (ebd.). Interferierende Zugehörigkeitsverhältnisse sind imaginiert, sie schwingen, werden rezipiert, instrumentalisiert und improvisiert. Mich interessiert, welche produktive Bereicherung sich aus der musiktheoretisch-inspirierten Konzeptualisierung Sozialer Navigation für die Dekonstruktion von Zugehörigkeit ergibt. Ich schließe dieses Kapitel mit einem Ausblick auf das Konzept der Oszillation (Hitchcock 1999) ab, indem ich es auf seine Tauglichkeit für die Konzeptualisierung der Navigation als unabgeschlossenem Prozess zwischen Anbindung und Loslösung befrage.

Schwingen und Klingen Ausgehend von der Auffassung, »die Welt ist Klang« (Berendt 1985), möchte ich in diesem Abschnitt auf die Relevanz von Schwingungen und Klängen eingehen. Nancy betrachtet Klang als übertragene Vibration, also eine Schwingung, die empfunden, aber auch wiedergegeben wird. »[T]o sound is to vibrate […] not only for the sonorous body to emit a sound, but […] also to stretch out […] to resolve into vibrations that […] place it outside of itself.« (Nancy 2009: 10). Wir bewegen uns in sonoren Landschaften (Deleuze und Guattari 1987: 340, eig. Übers.), die resonant, konsonant oder dissonant wahrnehmbar sind. Der Klang der Welt_en verweist auf die Suche nach Kongruenzerfahrungen, die uns mit-einander schwingen lassen und füreinander wahrnehmbar machen. Da Klänge schwingen, erzeugen sie Atmosphären (vgl. Berendt 1985). Sie lassen sich in ihrer Wiederholung als Frequenzen und in ihrer Wahrnehmbarkeit als Ausstrahlung erfassen. In einer Welt als Klang sind auch wir es, die Klänge erzeugen, sie spüren und wiedergeben. Wir klingen miteinander oder gegeneinander, wir übertönen uns oder klingen traurig, freudig oder wütend. Unsere Gespräche basieren auf der Klanghaftigkeit gesprochener Worte, Klänge schallen in und mit Körpern nach, wir empfinden sie als wohltuend oder verletzend und auch wenn wir nicht sprechen, klingen wir. Wie wir uns an-sehen, wie wir uns zu-hören und was wir dabei empfinden bedingt sich einander. Das Klangvolle ist immer schon ein außerhalb des Klanges an sich. Schwingen und klingen sind empfundene Prozesse, die als »vibrations of affect« (Henriques 2010: 79) soziale Ursachen und Wirkungen haben. Da sie für Verbindungen stehen, die in verschiedenen Formen vorgefunden werden, verweisen sie auf die materiell-diskursiven Relationen, durch die sie erzeugt und wahrgenommen werden. Einerseits berühren und bewegen sie Singulare in ihrer verkörperlichten Ganz-

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heitlichkeit, während diese Berührungen andererseits immer nur fragmentarisch in Relation zu Umgebungen erfahrbar sind. Ich kann nie als etwas Ganzes mit etwas in seiner Ganzheitlichkeit interagieren. In der trans-aktionalen Wirksamkeit stehen diese auditiven Fragmente symbolisch für das Denkfühlen des Mit-Seins, welches unsere Ver- und Ent-Bindungen in den Fokus rücken, statt auf isolierte Singulare zu verweisen, die ausschließlich rational mit der Welt in Kontakt treten können. »The vibrations of affect offer an escape from the cage of the autonomous, self-consistent, rational subject – liberating the relational subject. The practice of listening, in the broadest sense and senses, allows us to sink under and sync up with the dynamics of the vibrating world of intensities.« (Henriques 2010: 79). Sound und Klänge dringen in Körper ein, sie durchdringen und bewegen sie. Sie können als resonant, konsonant oder dissonant empfunden werden. Konsonanz und Resonanz bezeichnen den Widerhall und das Mitschwingen, welche sich in Gefühlen der Zustimmung und Anerkennung äußern. Sie beschreiben nicht das Vorhandensein von Schwingungen an sich, sondern eine Stimulation, auf die wir positiv reagieren (vgl. Rosa 2016). Der Soziologe Hartmut Rosa grenzt Resonanz und Konsonanz voneinander ab. Auch wenn beide Konzepte als Mitschwingen verstanden werden, so geht das Resonieren über den Einklang hinaus und bewirkt, in Rosas Verständnis als Gegenpol zur Beschleunigung und einer attestierten postmodernen Entfremdung des Menschen von sich, befriedigende und stabile Weltbeziehungen (vgl. Rosa 2016). In seiner Theorie liegt der Fokus auf Aspekten der Selbstwirksamkeit auf dem Weg zu einem ausgeglichenen, selbstwirksamen Leben. An dieser Stelle kann die normative Tendenz einer solchen »Soziologie der Weltbeziehungen« keiner ausführlichen Kritik unterzogen werden, sie soll aber als Anregung dienen, die Möglichkeiten des Resonierens und Konsonierens als Praktiken des Mit zu betrachten. Wir sind Oszillatoren, da wir schwingend mit unseren Umwelten inter-agieren und vibrieren (Le Guin 2004: 195, eig. Übers.). Im Rationalisierungsbestreben der Aufklärung und Moderne wurde die Abwesenheit von Resonanz zur Bedingung objektivierbarer und rationaler Gedanken, die in ihrer empirischen Wissenschaftlichkeit unempfänglich für Empfindsamkeiten ist. Auf die Frage, ob du dich als politische Person siehst, Daniel, antwortest du: »Not really, no. But as being someone who loves hip-hop and raps, there is always gonna be some of that in it. In dealing with current affairs and stuff like that.« Obwohl du dich nicht bewusst als politisch charakterisieren würdest, trägt der zeitgenössische und politische Bezug der Musik dazu bei, dass du dich mit politischen Themen beschäftigst. Da die Musik in die resoniert, »dringen« die Themen in dich ein. Reflexion und Distanzierung gelten als Maßstäbe für analytisches Denken und auf Argumenten beruhendes Handeln, wie der Musikethnologe Veit Erlmann in seinem Buch »Reason and resonance« ausführt (Erlmann 2014). Doch Resonanz-

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und Konsonanzempfinden werfen uns auf die Bedeutung der Anwesenheit unserer Körperlichkeit und damit auf die Notwendigkeit des sentipensar, des Denkfühlens, zurück. Wie lässt sich dies in einem politischen Sinn berücksichtigen? Jedes Mit umfasst die »virtuelle Mannigfaltigkeit« und »gegenwartsbezogene Aktualität« (Deleuze 1992: 311) des Seins und Werdens, also das, was in diesem Augenblick mit mir passiert, ebenso wie das, was bereits mit mir passiert ist oder noch mit mir passieren wird. Wo, mit wem und wie wir resonieren, ist nicht beliebig, sondern hängt mit unseren Erfahrungen und daraus resultierenden Wahrnehmbarkeiten zusammen. Resonanz kann ein Gefühl der Aufgehobenheit beschreiben, welches den Wunsch nach Stabilität ausdrückt. Dies betont Resonanz als Wohlfühlkonzept, dessen eigentliches Ziel es ist, in Einklang zu sein (vgl. Rosa 2016). Es drückt ein Bedürfnis nach Kongruenz aus, in dem wir durch Übereinstimmung Sinn herstellen und Gemeinsamkeit wahrnehmen können. »Ich habe mich mit Susanna bei unserem Masterstudiengang sofort verbunden gefühlt. Sie kommt aus Ungarn. Und wir haben uns die ganze Zeit voll gut verstanden. So ein bisschen wie Schwestern.« Du fügst etwas später hinzu, Carla, dass dies deiner Meinung nach an eurer Erfahrung des Aufwachsens in einem ähnlichen Lebenskontext liegt. Empfundene Gemeinsamkeiten lösen Resonanzerleben aus, da wir uns durch sie verstanden und gesehen fühlen. Um jedoch in eine Schwingung zu geraten, die uns aufeinander zu bewegen lässt, benötigt es mehr, als diese eine geteilte Erfahrung. Du und ich teilen diese Erfahrung ebenfalls und auch wenn wir einige Zeit miteinander verbringen, entsteht diese nachhaltige Resonanz nicht. Wie dauerhaft etwas mit uns resoniert hängt auch von unserem Bedürfnis und unseren Möglichkeiten ab, uns auf die Situation oder den Menschen einzulassen. In der Reduktion von Resonanz auf einen deskriptiven und normativen Begriff zur Erfassung gelungener Weltbeziehung wird dessen politische Bedeutsam- und Uneindeutigkeit verkannt (vgl. Rosa 2016: 747). Es spielt eine Rolle, von welcher Position Resonanz empfunden werden kann und welche Folgen sich aus dieser Resonanz ergeben. In Rosas Ansatz der gelingenden Weltbeziehungen werden Ausgrenzungserfahrungen und Marginalisierungen kaum benannt, obwohl sie für die bloße Möglichkeit von Resonanzerleben einflussreich sind. Unsere politischen Haltungen und Erfahrungen nehmen aber grundlegenden Einfluss auf die Bedingungen unseres Mit-einander-Schwingens, doch vor allem beeinflusst auch unsere räumliche Anwesenheit das Potential dieser verkörperlichten Wahrnehmung. Wer unter welchen Bedingungen mit wem und was in Schwingung gerät, muss aus diesem Grund immer in konkreten sozialen Situationen erfasst und kann nicht als »Metakriterium des gelingenden Lebens« (ebd.: 749) neutralisiert werden. »We come from that kind of area where we are kind of used to talk about the living circumstances and where the music relates to.« Du sprichst von deinem ersten Kontakt mit Rap aus New York, Kie, und warum dies für dich prägend war. »What they were saying in Hip Hop from New York

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related to what was going on there. It was not like that we embraced it for that or wanted to be like New York. But there was a similarity, maybe not as bad as in New York, but there was a similarity.« Deine Lebenswelt, die du als »that kind of area« nur oberflächlich charakterisierst und deren soziale Zusammensetzung für mich durch deinen Verweis auf Hip Hop aus New York als working class identifizierbar wird, wurde in dieser bestimmten Musikform für dich gespiegelt. Und auch wenn du dich von dem konkreten lokalen Erfahrungsraum distanzierst, so hat das Musikerleben mit dir und deinen Lebensumständen resoniert. Es ist eine Form von Resonanz, deren Bedeutung sich als soziokulturelle Wahrnehmungserfahrung manifestiert – sie zielt auf ein Gehört- und auch Gesehenwerden ab und wird durch ein bestimmtes Umfeld ausgelöst oder verhindert. Es liegt nahe, resonierendes Mitschwingen als eine natürliche Folge von Zugehörigkeitserfahrungen anzunehmen. Doch es muss kritisch angemerkt werden, dass insbesondere auch dissonante Empfindungen diese Zugehörigkeitsvorstellungen überhaupt erst erfahrbar machen oder voraussetzen. In der Vorstellung, Menschen seien durch ein straff gespanntes Pergamentpapier verbunden, geschieht folgendes: »touch just one part of it, just one allegiance, and the whole person will react, the whole drum will sound.« (Maalouf 2012: 22). Die Formen unserer Verbindungen entscheiden über das Ausmaß und die Empfindung der Berührung. Gibt es keinerlei Formen der An- oder Ver-Bindung, verhallen Klänge und Menschen sind gar nicht erst empfänglich für die Wahrnehmung vielfältiger Schwingungen. Und umgekehrt kann ein Übermaß an Resonanz sowohl zu Stillstand als auch zu radikaler Veränderung führen, wie es am Beispiel einer, durch den Gleichschritt einer bestimmten Anzahl von Menschen in Schwingung versetzten Brücke und des daraus resultierenden Potentials ihres Einsturzes deutlich wird. Da ich Zugehörigkeitsverhältnisse als Spannungsverhältnisse verstehe, ist das Dissonieren eine grundlegende Praktik, die uns spüren lässt, dass etwas nicht ganz stimmt oder etwas uns in Bewegung versetzen kann. Leben bedeutet auch, Dissonanzen zu ertragen. »Immer muss alles zu sein, und um die-unddie-Zeit darf ich nicht da-und-da langgehen und keine Ketten tragen. Auf jeden Fall nicht auffallen. Das ist eine extreme Unfreiheit für mich.« »A lot of things stick to me, because it was so different there.« In diesen beiden kurzen Aussagen von euch, Ella und Daniel, wird die soziale Bedeutung von Dissonanzerfahrungen deutlich: sie kleben an uns, weil sie das Bild, was wir von uns haben und die Wünsche und Erwartungen, die wir in uns tragen, herausfordern. Weil sie einen kontinuierlichen Abgleich zwischen dem, was ist, und dem, wie wir es uns wünschen, erfordern. Das Konzept der »emotionalen Dissonanz« (Häußling 2009b: 82ff ) erfasst die Widersprüchlichkeiten sozio-emotionaler Eingebundenheiten. Im Alltag werden kontinuierlich moralische und emotionalisierte Entscheidungen von uns abverlangt, die Handlungen zur Folge haben. Diese können im Gegensatz zu unseren Empfindungen stehen oder es wird für deren Gegensätzlichkeit erst gar kein Raum

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geschaffen, da es die Rahmenbedingungen oder sozialen Normen nicht zulassen (ebd.). Empfundene Dissonanz löst ebenso ein Bestreben nach Konsonanz, also der Befriedigung von Erwartungen, aus, wie das Erleben von Konsonanz zu Dissonanzen führen kann. Im Alltagserleben erfahren wir Reibungen, wenn unserem Wunsch nach Verbindung und Entwicklung kein Platz gegeben wird. Wir sprechen über deine Freunde in deiner Heimatstadt und deine Empfindungen zu deiner Arbeitsstelle, Carla. »Es sind ja auch viele in der Stadt geblieben die ganze Zeit. Sie wollten zwar immer weg, sind aber nie weggegangen. Und manchmal kann ich mich mit den Leuten nicht mehr verbinden, weil ich in der Welt unterwegs war. Ich mag diese internationale Atmosphäre gerne und mir ist es manchmal zu deutsch. Auch bei meiner Arbeit. Da ist alles auf Deutsch, man schreibt und kommuniziert in Deutsch. Ich würde gern auf Englisch arbeiten. Und auch mit anderen Leuten in Austausch sein.« Im Austausch mit deinem Arbeitsumfeld werden dir deine eigenen Bedürfnisse und Vorstellungen bewusst. Das Verhältnis erfordert von dir, dich auf andere Vorstellungen einzulassen und die Diskrepanz auszuhalten, oder bewusst eine Veränderung deiner Situation vorzunehmen. Nicht immer lässt sich ein Dissonanzerleben auflösen. Unstimmigkeiten und Widersprüche ergeben sich aus unbefriedigten Erwartungen, während sie gleichzeitig Folgen von Handlungen und Wahrnehmungen sind. Oft wissen wir es besser, und handeln dennoch entgegen dieses Wissens (Raab et al. 2010; Bem 1967). Dem Dissonieren kommt eine zentrale Bedeutung als Praktik des Mit zu. Die Angst vor Ausgrenzung oder Ausschluss aus einem gewohnten Umfeld kann dissonantes Verhalten ebenso auslösen, wie der unbedingte Wunsch, Teil einer Gemeinschaft werden zu wollen. Dissonanz muss im menschlichen Bestreben nach Harmonie und Konsistenz ausgehalten werden oder aber sie führt zu Akten widerständiger Transformation, wenn Harmonie und Konsistenz nur durch Ausgrenzung und Marginalisierung aufrecht zu erhalten oder zu erreichen sind. Dissonanz bedingt Disidentifikation, die der Performance- und Queer-Theoretiker José Esteban Muñoz als einen weiterführenden Akt beschreibt, der nicht nur den »Code« der Mehrheit auseinander nimmt, sondern diesen »Code« als Material nutzt, um entmachtete Positionierungen wahrnehmbar zu machen, die in der dominanten Perspektive unwahrnehmbar und unterdrückt sind (Muñoz 1999: 31). Die daraus resultierenden Widerstandspraktiken können verschiedene Formen annehmen, die nicht zwangsläufig hegemoniale Systeme der Unterordnung verändern. Doch bereits in der Wahrnehmung von Ungleichheits- und Ausgrenzungserfahrungen und der daraus entstehenden Motivation, diese verändern zu wollen, kann eben jenes dissonante Erleben der Beschaffenheit und Funktionalität der Machtverhältnisse entstehen und als Form des Widerstandes transformativ sein (Yosso 2005: 81). Dissonante Erfahrungen beeinflussen unsere Selbstwahrnehmungen und auf diese Weise auch den Verlauf unserer biografischen Erzählungen – so integrieren

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wir dissonante Erfahrungen, deuten sie um, blenden sie aus oder verschweigen sie. Ebenso verändern sie unsere emotionalen Äußerungen im Verlauf der Zeit (Reddy 2001). Wie bereits in den emotionalen Verhältnissen erwähnt, ist es aus diesem Grund »prozesssoziologisch-relationalistisch betrachtet [...] nur von Bedeutung, wie sozial wahrnehmbare Gefühlsäußerungen wirken und zu welchen Reaktionen sie Anlass geben« (Häußling 2009b: 91). Dissonantes Klingen und dessen Veränderbarkeit oder Verstetigung beschreibt eine grundlegende Dynamik unseres Mit-Seins. Woran können wir uns erinnern? Bleiben uns Erfahrungen der Abgrenzung und Dissonanz besonders hängen? Was machen diese Erinnerungen mit uns? »Am ersten Tag im Kindergarten gab es ein Mädchen, das mich geärgert hat. Ich war als Kind ein bisschen seltsam und sie hat dann gesagt «Anton, das da hinten ist das Gefängnis, und da gehst du nicht mehr raus.« Ich wusste überhaupt nicht, was ein Gefängnis ist und dann hat sie es mir erklärt und ich habe mich in die Gefängnis-Ecke gestellt. Als mich meine Mutter abholte und fragt ›Wo ist Anton?‹, stand ich noch in diesem Gefängnis. Das war so ein Moment, wo ich mich nicht zugehörig gefühlt habe.« Du erinnerst dich an diesen Moment. Auch wenn er viele Jahre zurück liegt, ist er Teil deiner Selbsterzählung geworden. Statt diese Erfahrung als Geschichte erfolgreicher Anpassung an den Willen anderer zu erzählen, liefert sie in deiner biografischen Erzählung einen wichtigen Stoff, um dein Empfinden als »anders« und als ausgeschlossenes Kind zu veranschaulichen. Dissonante Erfahrungen formen unsere Geschichten und beeinflussen auf diese Weise auch unsere zukünftigen Wahrnehmungen sozialer Trans-Aktionen. Sie sind ihrer Dauerhaftigkeit zäh oder flüchtig, je nachdem ob wir sie schnell vergessen können oder sie uns beständig anhaften. Mit der Darstellung unterschiedlich schwingender Klangdimensionen wurde deutlich, dass Weltaneignungen keineswegs auf die Prämisse der Sichtbarkeit begrenzt werden können und das die Schwingungen der Welt_en mit-verantwortlich sind für unser spürendes Werden. »The vibrations of affect offer an escape from the cage of the autonomous, self-consistent, rational subject – liberating the relational subject. The practice of listening, in the broadest sense and senses, allows us to sink under and sync up with the dynamics of the vibrating world of intensities.« (Henriques 2010: 79)

Unser Mitschwingen steuert und initiiert Soziale Navigationen und bringt uns zueinander oder entfernt uns voneinander. Wenn Klänge in einem bestimmten Takt pulsieren und auf diese Weise ein temporales (Gleich-)Maß vorgeben, werden sie als Rhythmen wahrnehmbar. »Everywhere where there is interaction between a place, a time and an expenditure of energy, there is rhythm.« (Lefebvre 2004: 15).

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Rhy thmisieren Rhythmen spielen bei der Beschäftigung mit allen beschriebenen Zugehörigkeitsverhältnissen eine zentrale Rolle, wobei für Henri Lefebvre insbesondere die Faktoren Zeit, Raum und Energie wesentliche Gestaltungsmittel für rhythmische Prozesse sind. Mit seinem Werk »Rhythmanalysis: Space, Time and Everyday Life« (2004) intendiert der Soziologe und Philosoph, die Rhythmusanalyse als neue Wissenschaft bzw. neuen Wissenschaftszugang zu begründen (ebd.: 3). Er misst Rhythmen eine grundlegende Bedeutung für den Ablauf, die Organisation und Strukturierung des weltlichen und menschlichen Alltagsverlaufs bei. »Rhythm and its entrainment of movement (and often emotion), it´s power to ›move‹ people, in both senses of the word, may well have had a crucial cultural and economic function in human evolution, bringing people together, producing a sense of collectivity and community.« (Sacks 2008: 246)

Rhythmen finden sich überall. Tag und Nacht wechseln sich ab, Rituale bilden einen Rhythmus, der Verlauf der Zeit wird durch Kalender rhythmisiert. Wir sprechen in einem bestimmten Rhythmus und auch unsere Erfahrungen ordnen wir in bestimmten, rhythmischen Systemen, was beispielsweise in biografischen Erzählungen und dem Sprechen Ausdruck findet. Der Rhythmus unserer tatsächlichen Bewegungen in der physischen Welt muss nicht zwangsläufig deckungsgleich sein mit dem unserer Erzählungen. Und gleichzeitig helfen uns diese Erzählungen dabei, einen eigenen Rhythmus zu finden und zu verstehen, wie wir uns bewegt haben und bewegen wollen. Du reflektierst über dein Leben, John, und stellst fest: »Ich habe immer alles so durchgezogen, dass ich mich irgendwie durchschlängeln konnte. Ob es in der Schule war oder beim Basketball, was ich zehn Jahre im Verein gespielt habe. Und jetzt hoffe ich, dass mein Leben langsam geregelte Bahnen annimmt. Ich habe so viel Zeit verplempert, für mich reicht es. Also, ich mache immer noch Blödsinn, aber im Großen und Ganzen habe ich ein Ziel und einen Plan.« Es ist dir wichtig zu betonen, dass dein früheres, sich anpassendes Durchschlängeln, nun dem rhythmischen Takt eines Planes gewichen ist, den du nach deinem Verständnis selbst bestimmst. Ein Ziel und einen Plan zu haben steht symbolisch für das Finden eines eigenen Rhythmus. Rhythmisierungen sind ein leitendes Muster für unsere Trans-Aktionen (vgl. Grüny und Nanni 2014). Als mehr oder weniger gleichmäßige Wechsel bilden sie raum-zeitliche Strukturierungen der Welten, die zum Beispiel linear, chronologisch oder anti_zyklisch erfassbar sind. Wiederholungen und Synchronisierungen formen rhythmische Welt-Gestaltungen. Rhythmen werden von Körpern gespürt, da sie unsere Bewegungen bestimmen (vgl. Sacks 2008: 246). Ein Beispiel ist der global unterschiedlich spürbare Wechsel der Jahreszeiten oder die in körperliche

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Bewegungen übersetzbare Empfindung von Rhythmen, wie sie beispielsweise im Tanz Ausdruck finden. Rhythmisches Wiederholen und daraus entstehende Synchronisationen stellen Kontinuitäten her und bewirken die Dauerhaftigkeit politischer Verordnungen. Es gibt keinen Rhythmus ohne »repetition in time and space, without reprises, without returns«, wie Lefebvre betont. Und gleichzeitig stellt er fest, »there is no identical absolute repetition, indefinitely. […] Not only does repetition not exclude differences, it also gives birth to them; it produces them.« (Lefebvre 2004: 6-7). Der Zusammenhang zwischen dem Wiederholen und Unterscheiden wird in der Frage »When do Norms become forms?« (Ahmed 2004b: 190) deutlich. Der Entstehungsprozess von Normierungen und Strukturierungen hängt mit der ausgrenzenden Macht ihrer Wiederholungen zusammen. Dies führt zur Bedeutung von Mimesis, der Nachahmung, und ihrer Rolle für die Wiederholung und Verstetigung von Handlungen. Aus mimetischen Prozessen resultiert performatives Wissen darüber, wie die Welt beschaffen ist und wie mensch Dinge »tut« (vgl. Wulf et al. 2001b). Mimesis ist eine Form, soziales Synchronisieren zu beschreiben, durch die uns Welten einverleibt werden und wir uns Welten einverleiben. Müssen wir also nur etwas oft genug wiederholen, damit es zur Gewohnheit wird und sich, auch als Rhythmus, normalisiert? Rhythmen spiegeln Ordnungssysteme wider, da ihre Repetition zu Verlässlichkeit führt. Wir sind häufig irritiert, wenn unser gewohnter Rhythmus, beispielsweise durch Ortswechsel, neue Interaktionspartner_innen oder neue Geschichten, beeinflusst und verändert wird. Die Relevanz pluralisierender Konstruktionen wie beispielsweise Nationen (und ihre Bürokratien), Kulturen (in Form von Traditionen), Ethnien (und ihre Herkunftsgeschichten) oder Religionen (und ihre Mythen) besteht auch darin, dass sie Alltag durch Wiederholungen und Nachahmungen organisieren und auf diese Weise stabil halten. Deine Erfahrungen als Kind haben dir einen bestimmten Alltagsrhythmus vermittelt, Ann, den du als Gegensatz zu dem Gleichaltriger erlebt hast. »Ich habe schon gespürt, dass ich die einzige war, die so aufgewachsen ist. In der Frage ›Na, Franzi, kommst du heute um fünf raus?‹ sind Informationen enthalten, die für mich komplett aus einer anderen Welt waren. Allein schon die Uhrzeit war für mich unmöglich, da bin ich zu Hause. Und lerne. Oder mache etwas im Haushalt oder helfe meinen Eltern. Und nach der Schule nochmal einen Grund zu haben, rauszugehen, das war für mich auch nicht in meinen Alltag integriert. Das hat mich auch geformt. Andererseits habe ich dann auch die Zeit gehabt, mehr zu lesen.« Unsere Rhythmen variieren je nach dem, in welchem Rhythmus wir sozialisiert sind. Manchmal kommen wir aus dem Rhythmus, wenn der Takt unserer Umgebung nicht mehr mit unserem übereinstimmt. Statt der Synchronisierung ist das Ziel dann eher, einen eigenen Rhythmus zu kreieren. Wenn wir an einen neuen Ort oder mit bisher unbekannten Menschen in Kontakt kommen, werden wir manchmal aus unserem Rhythmus gebracht, auch wenn Alltagsprozesse plötzlich anders gestaltet werden, als wir es gewohnt sind. Oder wir

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finden unseren eigenen Rhythmus gerade dadurch, dass wir an einen neuen Ort kommen, mit dem wir möglicherweise eine bisher unbekannte Synchronisation, einen neuen, resonanten flow, erleben. »The rhythm itself is now the character in its entirety; as such, it may remain constant, or it may be augmented or diminished by the addition or subtraction of sounds or always increasing or decreasing durations, and by an amplification or elimination bringing death or resuscitation, appearance or disappearance.« (Deleuze und Guattari 1987: 340)

Wenn ich mit Zugehörigkeit ein mögliches Kongruenzerleben im Mit-Sein beschreibe, bezieht sich dies auch auf ein Synchronisationsbedürfnis mit einem bestimmten Rhythmus. Dieser Synchronisationsvorgang findet insbesondere über Emotionen statt. Carl Jung versteht Synchronizität als Verbindung verschiedener Geschehnisse, zwischen denen wir aufgrund unserer Wahrnehmung und Erfahrung einen Zusammenhang herstellen ( Jung 2001). Damit wird die sozial-synchronisierende Funktion der Zeit beschrieben, die uns füreinander überhaupt empfänglich macht. Wie oft gehen wir an Menschen oder Orten vorbei, ohne diese wahrzunehmen. Bis es zu einem Moment der bewussten Trans-Aktion kommt und wir plötzlich empfänglich für deren Anwesenheit sind. Als Oszillatoren stimmen wir unsere inneren Uhren aufeinander ab, stellen uns aufeinander ein und beziehen uns aufeinander – wofür unter anderem der Begriff des Taktgefühls steht (vgl. Grüny und Nanni 2014). Bewegungen synchronisieren sich, sei es beim nebeneinander Herlaufen oder gemeinsamen Applaudieren. Ähnliches lässt sich an unseren Gehirnaktivitäten beobachten. So hat eine Studie des California Institute of Technology ergeben, dass sich bei der körperlichen Synchronisation der Bewegungen von zwei Teilnehmenden auch deren Gehirnaktivitäten synchronisieren. Die Forschenden schließen daraus, dass sich in kooperativen Beziehungen ein loses dynamisches System zwischen Gehirnen bildet (Yun et al. 2012). Die rhythmische Wiederholung hat das Potential, Verbindungen entstehen zu lassen. Lässt diese Erkenntnis die Schlussfolgerung zu, dass wir uns nur alle im gleichen Rhythmus bewegen müssen, damit soziale Ungleichheit oder Distanzierungen überwunden werden, da sich unsere Gehirne aufeinander einstellen, ohne dass wir viel dazu beisteuern müssen? Sicherlich ist diese Betrachtung nicht viel mehr als eine provokante Illusion, die sich nicht zuletzt kritisch damit auseinandersetzen muss, nach welchem Rhythmus wir uns bewegen, wer diesen vorgibt und vorgeben darf und wer folgen muss. Tanzen wir, stehen wir still oder folgt jede_r ihrem eigenen Rhythmus in freier Improvisation? (Ritualisierte) kulturelle und nationale Praktiken bauen auf Rhythmisierungen auf. In England wird mit Bildern von Gemeinschaftlichkeit und dem Spruch »This is how belonging looks like« für eine Aufnahme in die Armee geworben. Taktvorgabe und Rhythmisierung schaffen nicht nur in militärischen Gemeinschaften Zugehörigkeitserleben. Gleichklang verunmöglicht das Entdecken verschiedener Sounds,

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ermöglicht aber ein Empfinden von Geschlossenheit und Gemeinsamkeit. Auch der Habitus bezeichnet eine machtvolle Form des Rhythmisierens und der Wiederkehr. Er wird von Bourdieu als Kontinuum konzipiert. Dieses Kontinuum wird »durch und innerhalb von Bedingungen erzeugt, die durch [...] Regelmäßigkeiten bestimmt sind.« (Bourdieu 2007: 40). In ihrer Wiederholung und Regelmäßigkeit binden habituelle Erfahrungen Singulare an spezifische Umwelten und führen so zu ihrer Unbeweglichkeit. Rassismus und Sexismus bauen auf systematische Ausgrenzungspraktiken, die durch wiederholende Prozesse perpetuiert werden, da sie Menschen machtvoll auf identitäre Kategorien festlegen und diese hierarchisieren und diskriminieren. Rhythmen geben einen Maßstab für Bewegungen vor und strukturieren Zeitlichkeit und Handlungen, ganz im Sinne der Aussage »das haben wir (hier) schon immer so gemacht.« »Einmal etabliert, bietet Einbettung Repetition: Das macht man hier so. […] Vielleicht weiß auch der Körper einfach, wie er das letzte Mal hier relativ gut ›gefahren‹ ist. Akteure sind in vielerlei Hinsicht eingebettet, etwa geographisch oder auch in zeitlicher Hinsicht. […] Einbettung bedeutet nicht zwangsläufig, dass man sich [...] auch aufgenommen fühlt, sondern ist ein deskriptives Konzept, das nur meint, dass jeder Akteur eine Position einnimmt im Verhältnis zu den anderen [...].« (Clemens 2015: 75–76)

Selbstverständlichkeiten werden so Gewohnheiten, die unhinterfragt bleiben. Durch die stetige Wiederholung veränderter Praktiken kann auch das Rhythmisieren verändert werden (vgl. Bourdieu 2008). Somit lässt auch der Habitus einen Denk- und Handlungsraum für Reflexion zu, die in ihrer Zeitlichkeit und aus der Überlagerung sozialer Positionen Veränderungen ermöglicht (vgl. Decoteau 2016). »Our interstitial positionality offers us unique positions from which to reflexively evaluate and navigate our structural and cultural conditioning through embodied practices.« (Decoteau 2016: 316). Aki Krishnamurthy beforscht Scham als produktive Emotion in Geschlechterverhältnissen bezogen auf die Hexis, also die Verkörperung des Habitus, unter den Bedingungen und Veränderungen verkörperlichter Praktiken. Dies kann beispielsweise durch ein bewusstes, anderes körperliches Verhalten als Gegenbewegung (Widerstand) zur Gewohnheit (Wiederholung) ausgelebt werden: ich bewege mich bewusst in mir unbekannten Räumen oder ich verändere meine Reaktion auf Menschen, mit denen ich bestimmte Vorurteile verbinde. Krishnamurthy spricht in diesem Zusammenhang von einem »Körperwiderstand«, der von »Widerstandskörpern« ausgeht (Krishnamurthy 2017). Wenn ein reflexives Denken und Handeln in Machtverhältnissen als Möglichkeit anerkannt wird, Rhythmen zu verändern und aus dem Takt zu kommen, dann kann dieses Denken angeregt werden. Nur so kann es in abstrakter oder konkreter Form ein Bestandteil unseres Mit-Werdens sein. Dies führt mich zur Bedeutung des Imaginierens.

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Imaginieren »Imagination creates the situation and, then, the situation creates imagination. It may, of course, be the other way around: Columbus was discovered by what he found.« (Baldwin 2014: 32)

Beim Produzieren von Musik wird Imaginationskraft benötigt. Gleiches gilt für die alltägliche Bewältigung unseres Mit-Seins. Wir erfinden, fantasieren, bewerten, interpretieren und stellen uns vor: was morgen passiert, was unser Gegenüber denkt, warum der Verkäufer grimmig war, ob der Mensch neben uns in der U-Bahn Kinder hat und wie eine Welt jenseits existierender und uns vertrauter Machtverhältnisse aussehen kann. Ohne das Imaginieren wäre unser Mit-Sein undenkbar, da es jede Handlung, jede Bewegung und Begegnung von einer spezifischen materialisierten Präsenz entkoppelt und uns in andere Zeiten und Räume transportiert. Unsere Vorstellungskraft hilft uns, über mögliche Zukünfte und Versionen von uns nachzudenken, wodurch diese als Möglichkeitsräume gestaltbar werden (vgl. Haiven und Khasnabish 2014). Es ist schwierig, sich dem Imaginieren in dessen wirklichkeitsstiftender Bedeutung zu nähern: Inwiefern beeinflussen die tausend Gedanken, die uns durch den Alltag tragen, unsere Begegnungen und unser MitSein? Wie kann das (noch) nicht-Seiende thematisiert werden? Wie ist das Verhältnis zwischen Imagination und Un_Wahrnehmbarkeiten zu erfassen? Sehnsuchtsorte leben ebenso von Imaginationen wie die Geschichten, die wir über uns erzählen und auch unsere Emotionen sind durch unsere Vorstellungskraft mitproduziert (vgl. Krishnamurthy 2017; Andrews 2014). Was denkst du von mir, wenn du mich siehst? Woran denke ich? Wir machen uns ein Bild voneinander. Was wir dabei wahrnehmen, fühlen und sehen geht weit über eine beobachtbare Anwesenheit in der Begegnung hinaus. Im Verlauf unseres Gesprächs sagst du etwas, wodurch mir bewusst wird, dass du den Kontext unseres Gesprächs anders wahrnimmst, als von mir intendiert, Paul. »I don‘t really mean anything by it, I was just saying it in respect to whoever is listening.« Du gehst davon aus, unser Gespräch werden noch andere Menschen anhören außer mir und ich frage mich, inwiefern dich diese imaginativen Zuhörenden in deinen Aussagen beeinflusst haben. Haben sie dir über die Schulter geschaut? Deine Worte beeinflusst? Deine Aussagen geschliffen, sodass sie für eine andere, von dir imaginierte, Hörer_innenschaft Sinn ergeben? Bereits im Wortsinn ist die Imagination mit der Macht des Visuellen verknüpft. Sie bezeichnet die Einbildungs- oder Vorstellungskraft und zielt damit auf die Fähigkeiten zur Visualisierung ab (vgl. Hüppauf und Wulf 2009). Gleichzeitig eröffnet das Imaginieren eine Welt jenseits des Bildlichen. Es führt uns in die (künstlerische) Gestaltbarkeit der Welt_en durch Gedanken, Sounds und Geschichten.

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Imaginative Praktiken lassen aber auch unsere Erinnerungen präsent werden, sie beeinflussen unsere emotionale Beziehung zueinander und wecken Sehnsüchte. Musik ermöglicht dir eine Reise zu deiner Familie, Alina. »Das sind so Momente, wo ich zum Beispiel über Musik ganz schnell merke, da spricht mich etwas an. Dann höre ich mir irgendwelche arabische Musik an, also vielleicht sogar ganz klassische und habe Erinnerungen daran, als ich als kleines Kind in Jordanien im Haus meiner Großeltern in der Küche mit meinen Tanten und meiner Oma Essen gemacht habe und die gleiche Musik lief.« Musik weckt Erinnerungen und inspiriert unsere Imaginationskraft. Mit ihr können wir uns in Räume denken oder emotionale Zustände empfinden. Im Imaginieren liegt die Möglichkeit verborgen, mit Sprache zwar einerseits eine Version physischer Realität zu beschreiben, diese andererseits gleichermaßen aber in ihrer jeweiligen sprachlichen Erfassung auch mitzugestalten (vgl. Wulf et al. 2001b; Taussig 1993). Musik ist ein Medium, etablierte Grenzziehungspraktiken der materiell-diskursiven Welt nicht nur zu übertreten, sondern sie grundlegend zu irritieren und damit in einen Austausch über die durch sie transportierten imaginativen Welten, Erinnerungen und Visionen, aber auch kolonialen Fantasien, zu treten. »Die inflationäre Verortung von Musik, die Topophilie der Agenten populärer Musik ist Folge und häufig auch Instrument kolonialistischen Denkens und Handelns in Repräsentationssystemen.« (Ismaiel-Wendt 2011: 35). Unsere Beziehungen sind so sehr real, wie sie imaginiert sind – sie bewohnen »the place between the real and the really made-up« (Taussig 1993: xvii). Wir deuten und interpretieren, wir nehmen auf eine spezifische Weise wahr, wir fühlen, wir erinnern, wir hören und wir sehen. Das alles sind sinnliche Prozesse, die ohne Imagination nur schwer ausführbar sind. Imaginieren heißt jedoch keineswegs, dass damit illusorische Trugbilder sozialer Wirklichkeiten beschrieben werden. Sie speisen sich aus unseren Erfahrungen ebenso wie aus Diskursen, Medienbildern oder den politischen Rahmenbedingungen, in die wir verwoben sind (vgl. Jäger 1996). Für jegliche Kollektiv- und Gemeinschaftsform ist die Imagination eine notwendige Grundlage ihres Fortbestehens. Ich habe bereits im Kapitel »Pluralisierungen« auf die Bedeutung der Imagination als machtvolle Akteurin für die Existenz der Nation verwiesen (vgl. Anderson 2006). Je größer die räumliche Distanz oder Anzahl der potentiellen Gemeinschaftsmitglieder, desto notwendiger werden Rituale oder Praktiken, welche die Vorstellung von etwas Gemeinsamem perpetuieren (vgl. Wulf 2015). Die Macht der Vorstellung von Gemeinsamkeiten findet Ausdruck in der Angst einer diskursbestimmenden Mehrheit, im Kontext von Migrationsbewegungen und gesellschaftlichen Veränderungen würden nationale Traditionen zerfallen, wenn neue und bisher nicht praktizierte Rituale hinzukommen (vgl. Apitzsch 1999). Ein auf diese Weise imaginiertes Werden des Verlustes und Verzichts entsteht aus den Privilegien einer Mehrheit, Diskurse und Praktiken bestimmen zu können und sich

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mit einer Entmachtung und dem möglichen Entzug dieser Privilegien konfrontiert zu sehen. Das sehnsuchtsvolle Sein im Imaginativen ist auch ein wesentlicher Motor neoliberaler Gesellschaften (vgl. Heckman 2002). Menschen akkumulieren Produkte und streben damit einen bestimmten Lebensstil an, der das Versprechen auf ein besseres oder glücklicheres Leben transportiert. Hoffnung kann auch dazu führen, die Investition in soziale Normen zu verstärken, obwohl diese Investition sich nicht auszahlt, wie Sara Ahmed am Beispiel der Vorstellung der Nation als Glücksproduzentin verdeutlicht hat (Ahmed 2004b: 196). Die Hoffnungen und Vorstellungen eines besseren Lebens unterscheiden sich bezogen auf unser verschiedenes Gegenwärtig-Sein. Sara Ahmed betont die Bedeutung der Hoffnung insbesondere für das Ertragen gegenwärtiger Lebensbedingungen marginalisierter Subjekte und Gemeinschaften (Ahmed 2004b: 183ff ). »If we give up hope, of course, then there is no hope. So the emotion of hope keeps something open.« (Ebd.: 185). Hoffen impliziert Imaginieren. »So for me it’s just opening door after door after door after door after door. I don’t know where I’m gonna be living. I would love to live in a big house and have a nice car, but I guess it’s hard work and dedication. I don’t know if that’s gonna happen in 10-15 years, but I’m definitely gonna try it.« Deine Imagination existiert im Konjunktiv, Paul. Sie wird zu einer Lebensvision, von der du dich gleichzeitig distanzierst, indem du dich der Frage stellst, ob dein imaginierter Lebensstil für dich jemals erreichbar wird. Die soziale Treibkraft des Hoffens lässt sich auf das Werden in kapitalistischen Machtverhältnissen übertragen, ohne das die jeweilige Ausgangslage dafür prekär oder marginalisiert sein muss: wir hoffen auf den Lottogewinn, auf bessere Zeiten, auf einen neuen Job, auf den Kredit für das neue Auto oder darauf, den neuesten Turnschuh einer limitierten Edition kaufen zu können. Ideologie und Konsum binden unsere Imaginationen in einer Weise, die soziale Veränderung außerhalb vertrauter Systeme eines kapitalisierten Sozial-Seins zur Herausforderung machen (vgl. Haiven und Khasnabish 2014). Diese Form ideologischer Bindung bezeichnet Jameson in Anlehnung an Althusserl als Repräsentation der imaginierten Beziehung von Subjekten zu ihren realen Lebensbedingungen ( Jameson 2001: 51, eig. Übers.). Soziale Lebensbedingungen schaffen den materiellen Rahmen von Existenzen, während unsere Wahrnehmung eine imaginäre Beziehung zu selbigen voraussetzt. Die Fähigkeit zu Imaginieren wird somit unmittelbar durch unsere soziale Position und die damit einhergehenden Bedürfnisse bestimmt: Wenn ich Rassismus und Ausgrenzung erlebe, oder nicht weiß, wie ich die Schulausbildung meiner Kinder finanzieren kann, dann habe ich eine andere imaginäre Beziehung zu meiner sozialen Lage und Vorstellungskraft der Möglichkeiten des Entkommens, als wenn ich nie Diskriminierung erfahren habe und mir Dinge leisten kann, die ich nicht zwingend zum (Über-)Leben brauche. Je diverser Imaginationen sind, desto herausfordernder ist die Notwendigkeit, eine gemeinsame Sprache oder Form für sie zu finden,

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um unterschiedliche soziale Lebenswelten wahrnehmbar und Kritik an ungleichen Lebensbedingungen möglich und wirksam zu machen. Machtverhältnisse steuern Imaginationen, indem sie sie ermöglichen oder auch sanktionieren. Doch auch Imaginationen sind machtvolle Akteur_innen. Sie ermöglichen es uns, uns voneinander berühren zu lassen und im Moment des Gewahr-Seins zu handeln. »[T]he time for action [...] is now, when we must do the work of teaching, protesting, naming, feeling, and connecting with others.« (Ahmed 2004b: 188). Das Imaginieren nährt sich durch Erfahrungen, Erlebnisse und die materielle Welt, die uns umgibt und es befreit uns gleichzeitig davon, indem es uns die Freiheit gibt, Dinge anders und in ihren vielfältigen Möglichkeiten zu be-greifen und so Welt_en und uns anders zu imaginieren. »Our freedom to act in the world is a function of our ability to perceive things not only as they are, but as they are not.« (Warnoch zit. in Andrews 2014: 5). Zwei Aspekte möchte ich zur Bedeutung des Imaginierens als Praktik des Mit an dieser Stelle noch hervorheben, die Abstraktion und Konkretisierung. Damit wir im unmittelbaren Raum-Zeit-Verhältnis handlungsfähig sind, müssen wir konkretisieren. Damit wir über unsere Handlungen nachdenken und diese als Möglichkeitsformen reflektieren können, müssen wir sie gleichermaßen abstrahieren. Verallgemeinerungen dienen als machtvolle stereotype Vorstellung der Welt. Sie helfen, auf erlernte Verhaltens- und Erklärungsmuster zurückzugreifen, um zu verstehen, warum die Dinge so sind, wie wir annehmen, das sie sind. Oder wie sie uns in ihrer physischen Wahrnehmbarkeit erscheinen (vgl. Bischlager 2016). Dabei reduzieren wir die vielen Besonderheiten von Begegnungen auf erlernte Wahrnehmungsmuster. Und ohne, dass sich unser Verhalten in diesen Begegnungen imaginiert anfühlen muss, können wir diese Begegnungen in ihrer Diversität nur dann rekonstruieren, wenn wir uns mit Menschen austauschen, die in der gleichen Situation anwesend waren, und diese anders wahrgenommen haben als wir. Imaginieren und wahrnehmen sind also untrennbare Praktiken – ich kann mir vorstellen, was mir durch meine Erfahrungen und Wahrnehmungen zugänglich erscheint (vgl. Hüppauf und Wulf 2009). Wir navigieren imaginierend durch Welt_en. Unser Körper dient als wesentliche Projektionsfläche und Kompass dieser Navigation, da er unsere Imaginationen belebt und steuert und wir über ihn in Kontakt treten (ebd.: 152ff ). In der Vielgestaltigkeit des Imaginierens werden Mignolos Gedanken zur pluriversalen Weltwahrnehmung greifbar: verschiedene Welten, oder Weltwahrnehmungen, produzieren auch verschiedene Vorstellungswelten (vgl. Mignolo 2011). Auch in den zu Beginn dieses Absatzes zitierten Worten Baldwins wird das Potential von Imaginationen deutlich, Welten zu kreieren: es ist die Vorstellungskraft, die uns antreibt, Dinge zu tun, miteinander in Kontakt zu treten oder dies zu vermeiden, und gleichzeitig füttern unsere Handlungen unsere Vorstellungen (Baldwin 2014). Kolumbus ›entdeckte‹ eine Welt, doch wurde er auch durch das ›entdeckt‹, was er ›gefunden‹ hat. Das beschreibt die Bedeutungsmacht des Imaginierens auch als koloniale Praxis des Einvernehmens: wenn ich etwas imaginieren kann, kann ich es mir aneignen. Diese verkörperlichte Wechselwir-

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kung gilt auch für alltägliche soziale Trans-Aktionen. »Da symbolische Beziehungen internalisiert werden, hat das Subjekt den Anderen in sich, durch den es seine Identifikationen und seine Existenz als Person hat. Die imaginären Identifikationen bleiben [...] immer auf das Gegenüber angewiesen, auf Liebe, Bewunderung« (Langer 2013: 121). Jedes relationale Werden muss aus diesem Grund das Wechselverhältnis zwischen einer imaginierten und imaginierbaren Fremdwahrnehmung, im Sinne von Zuschreibungen, und einer imaginierten Selbstbeziehung, im Sinne von Selbstbehauptungen, berücksichtigen. Die Beziehung zwischen Imaginationen und Zugehörigkeitserfahrungen lässt sich mit dem Potential der Kontingenz und Emergenz erfassen: alles kann immer auch anders realisiert werden. Es gilt aus diesem Grund, um nicht vom Imaginären aus der sozialen Verantwortung einer materiellen Anwesenheit enthoben zu werden, eine Balance zwischen der Abstraktion und der Konkretisierung zu finden: imaginieren und phantasieren müssen auch im Abgleich zu den realen Lebensbedingungen stattfinden, um davon ausgehend zu überlegen, welche anderen Welten tatsächlich möglich sind (vgl. Haiven und Khasnabish 2014). Kunst, Musik und Literatur sind hierfür zentrale Ausdrucksformen. Beispielsweise wird in den feministischen und postkolonialen Science-Fiction Geschichten von Autor_innen wie Octavia E. Butler, Ursula K. le Guin oder Nalo Hopkinson deutlich: »Stories nurture a culture of possibility« (Yosso 2005: 78). Auch mit neuen Technologien der Virtual Reality werden andere, imaginative, Wirklichkeiten erfahr- und denkbar.19 Ebenso steht beispielsweise der Sound des Musikers Shabaka Hutchings für eine Generation visionärer Künstler_innen, die Imagination als politisches Mittel einsetzen, um Welten jenseits kolonialer Kontinuitäten und kapitalistischer Ungleichheiten (klanglich) wahrnehmbar zu machen (u.a. Shabaka and the Ancestors 2016). Über die imaginative und konkrete Kraft des Sounds, Situationen des Empfindens und Handelns zu kreieren, sagt er: »What we need to get is a situation in which people feel like they want to do something.« (Gooding und Hutchings 2018: 41). Dieses erreicht man seiner Meinung nach nicht, in dem man von sozialer Ungleichheit erzählt. »It´s by playing something that makes someone snap out of their sleep...trying to drop a bomb on people´s psyche […] stuff where people exit gigs and they´re just like, OK what do I do now?« (Ebd.). Genauso relevant wie das Fühlen ist unser zugängliches Wissen für die Möglichkeiten des Imaginierens. Wir werden, in dem wir denken und lernen. Und in dem wir mit-einander denken eröffnen sich uns neue Welten, die sich bisherigen, einschränkenden Erfahrungshorizonten entziehen können. Mit den Worten des Musikers 19 Ich möchte auf die Arbeiten des »Hyphen-Labs« verweisen, die zum Beispiel in ihrem Projekt »NeuroSpeculative AfroFeminism (NSAF)« unter anderem audio-visuelle virtuelle Realitäten mit Storytelling, Neurowissenschaft und politischer Imagination zusammenbringen, um andere soziale Realitäten jenseits der Privilegierung weißer Erfahrungsräume wahrnehmbar zu machen. Ausführlicher dazu unter: http://www.hyphen-labs.com/nsaf.html

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Fela Kuti gesprochen wird daraus eine Aufforderung: »Who No Know, Go Know« (Kuti 1975). Denken, Fühlen, Wissen und Handeln sind die zentralen Kategorien imaginierten, und damit auch realisierbaren, Werdens. »Thinking thought usually amounts to withdrawing into a dimensionless place in which the idea of thought alone persists. But thought in reality spaces itself out into the world. Thought draws the imaginary of the past: a knowledge becoming. One cannot stop it to assess it nor isolate it to transmit it. It is sharing one can never not retain, nor ever, in standing still, boast about.« (Glissant 2010: 1)

Im Denken sieht Glissant den Grundstein für ein »knowledge becoming«. Wer nicht weiß, ist aufgefordert, kennenzulernen. Auf diese Weise wird die Imagination zur Haltung und Handlung. Für eine weitere Beforschung der Rolle des Imaginierens im Mit-Werden ist folgende Frage zu reflektieren: Wann und unter welchen Bedingungen werden wessen Vorstellungen und Visionen realisiert? Eine Beantwortung ist im Rahmen vorliegender Arbeit nicht möglich, soll aber zu den nächsten Praktiken, dem Komponieren und Improvisieren, überleiten.

Komponieren und Improvisieren »I just wanna be me and live life how I want to.« Ich wiederhole diesen kurzen Ausspruch von dir, Paul, denn er birgt philosophische und politische Implikationen über Zugehörigkeit als Erfahrung und Kongruenzbestreben. Was heißt es, du »selbst« sein zu wollen? Gibt es dieses Selbst? Und ist es, wenn ja, je möglich, sich dieser Wunschversion je anzunähern? Es steht für mich insbesondere als Bedürfnis, sich aus bindenden und einengenden Markierungen und Lebensverhältnissen lösen zu können, die dieser Annäherung im Weg stehen, ohne vielleicht genau wissen zu müssen, was »being me« alles bedeuten kann. Verweist es auf einen Zustand? Auf Umstände? Auf ein Gefühl der Autonomie? Auf die Imagination von Beweglichkeit? Ausgehend von der Kraft des Imaginativen soll es nun um die Bedeutung der Gestaltungsformen von Zugehörigkeitsverhältnissen gehen. Mit den Begriffen der Komposition und Improvisation sind hierfür zwei musiktheoretische Konzepte relevant, die symbolisch für verschiedene Ausgestaltungsmöglichkeiten stehen. »Geht man bei dem Versuch, Improvisation dadurch zu bestimmen, dass man sie von Komposition abgrenzt, [...] so zeigt sich, das Definitionsbemühungen entweder in Verlegenheit geraten oder in Willkür verfallen, und zwar darum, weil es sich streng genommen überhaupt nicht um isolierbare, gegeneinander abgeschlossene Bereiche, sondern um eine Skala von Möglichkeiten handelt, [...] auf der es sozusagen nichts als Übergange und Zwischenformen gibt und deren Extreme, die absolute Komposition und die absolute Improvisation, sich ins Irreale, Ungreifbare verlieren. Die musikalische Wirklichkeit besteht [...] aus Gebilden, die

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Der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus verwehrt sich einer klaren Unterscheidung zwischen Komposition und Improvisation und verweist so auf die Verwobenheit beider Konzepte. Nun ist unser Leben sicherlich stärker durch materiell-diskursive Bedingungen gebunden, als es die, theoretische, Unbegrenztheit einer Klangwelt vermittelt. Wie lässt sich die musikalische »Skala von Möglichkeiten« auf unser (Über-)Leben übertragen? Eine Komposition erfasst ein fixiertes Arrangement, während Improvisation die Stegreifschöpfung des in einer Situation Entstehenden und Spontanen bezeichnet. Wie bereits in den Temporalen Verhältnissen verdeutlicht, bewegen wir uns in permanenten Zuständen der Kontinuität und Veränderung (vgl. Keddi 2011). Sowohl Komponieren als auch Improvisieren sind performative Konzepte, die die Konstitution von Singularisierungen und Pluralisierungen symbolisieren. »Improvisation implies a deep connection between the personal and the communal, self and world. A «good« improviser successfully navigates musical and institutional boundaries and the desire for self-expression, pleasing not only herself but the listener as well.« (Wallace 2010: 21). Auch wenn sich das Zitat auf die Besonderheit der musikalischen Improvisation bezieht, so beeinflussen ebenso kompositorische Praktiken die Freiräume und Beschränkungen zur Gestaltbarkeit unserer Leben und beziehen Aspekte von Kreativität und Verbundenheit zu Welt_en mit ein. »Wenn du irgendwo am Meer, mit Sand unter den Füßen, an so einem kleinen Tisch mit Orangensaft Fisch isst und vorher noch Zitrone darauf spritzt, die Luft riechst und dann isst, schmeckt dir der Fisch übertrieben gut. Wenn du aber genau das Gleiche in einer Kneipe um die Ecke hast, denkst du «Wie banal«. Es muss alles ein bisschen stimmen, auch bei Zugehörigkeit, es muss das Umfeld passen.« Auch wenn mich deine Beschreibung der Situation unmittelbar ans Meer geführt hat, bleibt anzunehmen, dass es für uns beide, Maxim, Unterschiede darin gibt, wie genau wir dieses »passen« definieren. Die Kompositionen unseres Alltags haben viel mit den kleinen Inter-Aktionen zwischen uns und unserer Umwelt zu tun. Manchmal bezieht sich dies auf die Poesie von Momenten, die es uns ermöglichen, die Welt anders wahrzunehmen und für einen kurzen Augenblick aufscheinen lassen, das jedes Sein ein Werden mit und in einer Umgebung ist. Die Interferenz der Zugehörigkeitsverhältnisse ermöglicht unterschiedlich verwobenen Subjekten jeweils ein unterschiedliches Maß an (kompositorischem) Handlungsspielraum: wir gestalten unser biografisches Narrativ und müssen mit unseren Erfahrungen umgehen lernen, ebenso fordert uns unsere Anwesenheit in lokalen physischen Räumen heraus, auf diese zu re-agieren, und nur bestimmte Aspekte unserer Persönlichkeit können gleichzeitig gegenwärtig sein und sich entwickeln. Die Frage nach den Kompositionsmöglichkeiten und dem Zwang zur

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Improvisation hängt mit dem sozialen Kontext und unserer Wahrnehmung selbiger zusammen: fühlen wir uns eingeschränkt und beobachtet, beeinflusst dies unsere Gestaltungsmöglichkeiten und deren Imagination auf eine andere Weise, als wenn wir das Gefühl haben, unbeobachtet Neues ausprobieren zu können. Zugehörigkeitspraktiken unterscheiden sich durch die unterschiedliche Klebrigkeit der sozialen Bedingungen, die sie hervorbringen (vgl. Yuval-Davis 2011). »Ich will hier die Ansicht vertreten, daß der kritische Geist, wenn er sich erneuern und wieder relevant werden soll, in der Kultivierung einer – um mit William James zu sprechen – unbeirrt realistischen Haltung zu finden ist, in einem Realismus allerdings, der es auf das abgesehen hat, was ich matters of concern, Dinge, die uns angehen oder Dinge von Belang, nicht matters of fact, Tatsachen, nennen will.« (Latour 2007: 21)

Im Zusammenspiel zwischen Komponieren und Improvisieren werden die Narration und das instrumentelle Arrangement zentrale Gestaltungsmittel, »matters of concern«, die Latour als Notwendigkeit einer kritischen Weltbeziehung anspricht. Sie sind einerseits als strategische Mittel einsetzbar und können andererseits, in ihrer Verwendung und Rezeption, auch missbraucht werden. Mit den Gestaltungsmitteln wird das soziale Leben der Dinge erfasst (Appadurai 2011), zu denen wir einen Zugang haben und die dadurch unser Mit-Werden beeinflussen. Die Aufforderung, make sure you take all your belongings with you, steht nicht nur für die persönlichen Gegenstände, die wir auf Reisen mit uns herumtragen, sondern für die vielfältigen An- und Abwesenheiten der Lebensgestaltung. Welche »Dinge« besitze ich? Zu welchen Kontexten habe ich gedanklichen und materiellen Zugang? Unter welchen Bedingungen können meine Gedanken zu Dingen, und damit Gestaltungsmitteln, werden? Die einzelnen Aspekte dieser Arbeit lassen sich auf verschiedene Materialisierungen beziehen: Wohnort und Wohnraum, Pass, Schulausbildung, Kleidung und finanzielles Kapital. Das Komponieren steht für eben jene materielle Ebene des Mit, die in Bourdieus Kapitalformen als Gestaltungsformen des Sozialen teilweise erfasst wird (vgl. Bourdieu 2007). Was ich trage(n kann), wohin ich reise(n kann), was ich konsumiere(en kann), wie ich spreche(n kann) und wo ich lebe(n kann) ist in Körpern manifestiert und beeinflusst, beschränkt und ermöglicht die Fähigkeit zur Improvisation. Materialitäten ver- und entbinden uns von Welten, da sie Zugänge eröffnen oder verhindern (vgl. Appadurai 2011). Nicht nur die greifbare materielle Ausgestaltung unserer Welten trägt zum unterschiedlichen Komponieren und Improvisieren bei, auch unsere Fähigkeiten und die Möglichkeit zur Reflexion des eigenen Handelns und der raumzeitlichen Positionierung beeinflussen unsere Kapazitäten und Bedürfnisse der Mit-Gestaltung, wie die Soziologin Claire Laurier Decoteau mit dem Ansatz des reflexiven Habitus verdeutlicht (vgl. Decoteau 2016). Sie beschreibt Reflexivität als etwas, das aus der empfundenen Abgrenzung zwischen Positionen im sozialen Feld und der zeitlichen Veränderung entsteht, da der Habitus selbst immer vielschichtig ist.

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Reflexivität wird zu einem Mittel der Komposition und Improvisation, da es die Gestaltbarkeit des Mit-Einander in den Fokus rückt. Remix, Remake und Sampling sind musikalische Gestaltungspraktiken, die ungeplante, neue Stile entstehen lassen und die emergente Verbindung zwischen Komposition und Improvisation symbolisieren. »You got like the 50s, 60s, 70s kind of Caribbean music. And even in the 80s 90s. Then Hip Hop developed in the early 80s and slowly continued to the 90s. There was Reggae still, but now Hip Hop kind of dominated the sound. And when you mix the two together, you have music like, Soul 2 Soul. ›However do you want it…‹. That is borrowing from the Black Diaspora. So we are borrowing from the Caribbean sound, the Reggae based, sound and we are borrowing from Hip Hop culture in America. And then you got it speeding up here. You got Drum and Bass and that is this place to me. Borrowing from the Caribbean styles of music and stuff. And making something for your own.« Für dich spielt die Musikkultur eine zentrale Rolle, Daniel. Sie symbolisiert eine Form des Wahrgenommen-und Zuhause-Seins, mit der du dich identifizierst. Wenn kollektivierende und ausgrenzende Konzepte wie Nation oder Kultur keine Form der Anbindung hergeben, steht die Musik als soziokulturelle Praktik quer zu diesen fixierenden Entitäten, auch wenn sie zwangsläufig in historische Kontexte eingebunden und somit immer auch politisch ist. Musikalische Kompositionen und Improvisationen sind mehr als kulturelle Praktiken. Mit ihrem Potential, neues entstehen zu lassen, wirken sie als verbindende und unterstützende Vehikel zur Vergemeinschaftung. Wir sind auf eine paradoxe Weise die Expert_innen unseres Lebens. Paradox, da wir transgenerationale Geschichten und Erfahrungen als spezifische Bedingungen unserer Herkunft und Körperlichkeit mit uns herum tragen und durch diese geformt werden. Und gleichzeitig komponieren und improvisieren wir unseren Lebensweg und Alltag, da die uns eigenen Un_Wahrnehmbarkeiten der Welt_en nie vollständig mit-teilbar oder ausschließlich auf eben diese spezifischen Erfahrungen zurückzuführen sind (vgl. Stenger 2017). Die Erfahrungen situativer Widersprüchlichkeiten zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmungen und dem Bedürfnis des Konkruenzerlebens führen dazu, die Grenzbereiche ihrer Mitteilbarkeit, insbesondere unter Berücksichtigung dekolonialer und machtkritischer Perspektiven, immer wieder neu verhandeln zu müssen (vgl. Mignolo 2011). Den situativen Un_Möglichkeiten der Mit-Teilung wird hierbei eine besondere Bedeutung zuteil. Indem ich mich erzähle, teile ich eine bestimmte Version von mir mit (Ricoeur 1987). »Identitäten sind ›identity-in-talk‹, [...] etwas, das sie in Interaktion mit anderen lokal herstellen und einsetzen, um ihren sozialen Raum zu beanspruchen und sich anderen und sich selbst zu erklären.« (Lucius-Hoene 2010: 155–156). Diese Version, so improvisiert sie uns in Momenten erscheinen mag, führt zur Komposition einer narrativ mitgeteilten Form unserer vielfältigen Identität. Wie in dieser Arbeit an unterschiedlichen Stellen verdeutlicht wurde, spielt das Bild, was wir von uns selbst haben und im Erzählen über uns ausdrücken, eine zentrale Rolle für unsere materiell-diskursive Navigation mit der Welt.

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Das Erzählen über uns ist eine Form der Sichtbarmachung und des Sichtbarwerdens jenseits der visuellen Wahrnehmbarkeit des Körperlichen (vgl. Bourdieu 2012). Jede Komposition oder Improvisation reflektiert auch die Hörbarkeit verschiedener Erfahrungen und Perspektiven (Stoever 2016). Die Narration betrachte ich aus diesem Grund als eine Art Songtext, dessen Einsatz mehrere Funktionen hat. Als strategisches Mittel dient er der Mitteilung ungehörter Geschichten, der Abgrenzung aber auch der Wiederholung gewohnter Narrative, die ein Gefühl der Verortung und Verbundenheit vermitteln. Ebenso dienen sie der Abgrenzung und der Bestärkung: in dem ich mich erzähle, ob im unmittelbaren oder symbolischen Sinn, kann ich mich begreifen und verständlich machen. Geschichten und Narrative sind ein bestimmender Teil der Fixierung aber auch improvisierten, situativen Entstehung von Welt_en. Sie symbolisieren eine Suche nach einer »wahren« Erfahrung der Welt, für die Fiktionalisierungen nicht unerheblich sind. In seinem Aufsatz »Die biographische Illusion« spricht Bourdieu von der Biografie als Wunschvorstellung, da sich Leben nicht »als eine einzigartige und für sich selbst ausreichende Abfolge aufeinander folgender Ereignisse« (Bourdieu 1990: 80) begreifen lässt, sondern die biographischen Ereignisse »Platzierungen und Deplatzierungen im sozialen Raum« bezeichnen (ebd.). Die Arbeiten Paul Ricœurs ermöglichen es, Biografie, in Anlehnung an Bourdieu, als Ausdruck von Fiktionalisierungen zu begreifen, »either by referring to it as a ›biographical tale‹ […] or by talking about a ›biographical justification‹« (Truc 2011: 157). Die Relevanz Ricœurs Beitrags zur Vielgestaltigkeit des Mit-Seins besteht darin, dass er wesentliche Aspekte zusammenführt, die als gegensätzlich für eine Vorstellung von Gleichheit, »sameness«, angesehen werden, nämlich »diversity, variability, discontinuity, instability« (ebd.: 162). Die Interferenzen des Sozialen verunmöglichen eine fixierte Vorstellung komponierter Gleichheit. In der Fiktionalisierung fließen Imagination und Improvisation zusammen, da sie uns als Hilfsmittel zur Navigation dienen. Einerseits sind wir die Akteur_innen unserer Geschichte_n, andererseits aber auch deren manipulierende Autor_innen, je nachdem, was in der Gegenwart von uns verlangt wird und für wen wir in der Trans-Aktion glaubwürdig und stimmig erscheinen müssen oder wollen. Dies sind keineswegs rationale Vorgänge, sondern denkfühlende Praktiken des Mit. Ein prägendes biografisches Ereignis wurde für dich zu einer zentralen Geschichte, die du, Clara, auf folgende Weise erzählst: »Es war der totale Stress, wir sind gerannt, mein Scheißkoffer geht auf, alle Sachen liegen um mich rum und ich bin in Panik, ob wir den Zug kriegen oder wegen mir verpassen. In dem Moment war alles das Spotlight auf mir und dann kam diese Riesenfrau mit ihrem beigen Mantel und hat mir geholfen, das einzusammeln mit ihrem kleinen Sohn. Das war mein Engel. Ich habe das Bild immer noch vor mir, von dieser großen Frau mit diesem großen beigen Mantel. Und dann sind wir zum Gleis gerannt und haben den Zug bekommen.« Die rettende Frau ist dir als Engel in Erinnerung geblieben, sie hat dir geholfen, deine Sachen einzusammeln, damit deine Familie den Zug besteigen kann, der euch die Ausreise aus der DDR

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ermöglicht hat. Es bleibt reine Spekulation, aber an dieser kurzen Erzählpassage lässt sich die Bedeutsamkeit von Fiktionalisierungen herausstellen: wie würdest du die Geschichte erzählen, hätte eure Ausreise nicht stattgefunden? Wenn ihr den Zug verpasst hättet? Welche Rolle bekäme die Frau? Wäre sie weiterhin der rettende Engel oder würde sie vielleicht als Hindernis in eurem Ausreiseprozess vorkommen, wäre ihre Erwähnung überhaupt notwendig? Das improvisierte oder komponierte Erzählen von Ereignissen wirkt wie ein Vergrößerungsglas unserer Wahrnehmungen. Es fokussiert einzelne Ereignisse als zentral, während die Umgebung verschwommen in den Hintergrund tritt oder ganz ausgeblendet wird (vgl. Gibbs 2005). In der Wiederholung von Geschichten werden Erfahrungen fiktionalisiert und eben diese Fiktionalisierungen werden wiederum zu Erfahrungen. Auf diese Weise kann in der narrativen und hörbaren Wirklichkeitskonstruktion keine Ursprünglichkeit gefunden werden, denn alles, was wir als Geschichten erinnern, ist immer bereits »made up« (Taussig und Levi Strauss 2005). Biographie ist damit ein unabdingbares soziales Konstrukt kompositorischer und improvisierter Trans-Aktionen, mit denen das »›Laientheaterstück‹ namens Gesellschaft« erzählt und aufgeführt wird (Göymen-Steck 2011: 267). In der kollektivierten Praxis verfestigen sich bestimmte Geschichte_n zur dominierenden Norm, auf die sich bezogen werden muss, während andere keinen Raum bekommen oder ungehört bleiben (vgl. Jäger 1996). Indem »Gesellschaftsstruktur, Performanz und Identität als veränderbar, kontingent und bisweilen so merkwürdig opak einander bedingend in Erzählungen aufscheinen« (Göymen-Steck 2011: 267), öffnet sich das Ohr für das Potential, über komponierte und improvisierte Mit-Teilungen Verbindungen herzustellen und diese Mit-Teilungen als Generatoren des Becoming ernst zu nehmen. Mit Fanons Worten führt dies zu der Aufforderung, die Erfindung in die Existenz einzuführen (Fanon 2015: 195). »Also mich interessieren viele Leute. Das ist immer impulsiv und ich will mich gar nicht irgendwem anschließen oder Menschen mit ähnlichen Gedanken aktiv suchen. Entweder finde ich sie oder nicht. Und außerdem brauche ich auch nicht die Menschen, die so denken, wie ich, weil ich das überflüssig finde. Die Personen sollen woanders ihr Unwesen treiben und dort Einfluss ausüben. Ich suche nicht aktiv nach Leuten, die so sind wie ich, weil ich glaube, das ist auch gar nicht so nützlich. Ich will lieber Leute, die teilweise stabiler sind als ich oder die ein höheres Vernunftlevel bestiegen haben als ich. Das gibt mir Halt und einen neuen Input. Ich bringe eh meinen eigenen Twist in die Sache rein, in die Information, die ich von Menschen bekomme oder die Emotionen. Ich bringe dann das ein, was ich von mir einbringen kann.« Deine Aussage, Ann, lässt mich über die Herausforderungen von Zugehörigkeit als soziale Praxis des Mit-Werdens nachdenken. Was heißt es, wenn wir bewusst nicht das Gemeinsame suchen, sondern Verbundenheit vor allem im Verschieden-Sein empfinden? Vermittelt uns die Wahrnehmung der Gestaltbarkeit unseres Lebens ein Gefühl des Einflusses und der An_Erkennung? Wenn Zugehörigkeiten nicht gleichbedeutend mit Gemeinsamkeiten sind, was braucht es dann, um über den eigenen Erfahrungsradius hinauszutreten und sich zugehörig zu machen?

Mit Welten verbunden – Von Welten entrückt

Wie wir die Komposition gestalten, welche Bedürfnisse und Fähigkeiten wir uns zur Improvisation aneignen und welche dieser Aspekte für ein Relational Becoming wichtig sind, steht nicht immer im Erklärungszusammenhang mit der erwartbaren Reproduzierbarkeit des Sozialen – ungewohnte soziale Situationen fordern neue Arrangements des Gegebenen voraus oder verlangen manchmal eben auch, dass wir uns gänzlich neu ausstatten. Ob und vor allem wem dies möglich ist, hängt nicht zuletzt von den Bedingungen der politischen und räumlichen Verhältnisse ab, die Menschen die Beteiligung an den Gestaltungsformen ermöglichen oder verweigern.

Schweigen und Stille Stille steht stellvertretend für die Aspekte der Un_Wahrnehmbarkeit, die sich nicht nur auf das Hörbare beziehen (vgl. Malhotra und Carrillo Rowe 2013), denn sie symbolisiert sowohl die Abwesenheit von Geräuschen und Sprache, das Nicht-Gesagte, Nicht-Sagbare, Unhörbare oder Ungehörte als auch die Unbeweglichkeit (Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache 2017c). Stille kann uns beruhigen, sie kann aber auch zu Nervosität und Halluzinationen führen. Sie ist eine Zustandsbeschreibung, deren Ursachen und Praktiken das Ver-Schweigen, Vergessen, Auslassen oder die strategische Entscheidung des Nicht-Mit-Teilens, nicht Mit-Teilen-Wollens oder -Könnens sind. Das Schreiben über die Stille offenbart ein Paradox: die Wahrnehmbarmachung des Abwesenden. Ein musikalisches Beispiel der Komplexität von Stille ist John Cages Musikstück »4´33´´« aus dem Jahr 1952 (Cage 1952). Hier wird die Stille zur Komposition, in der Cage 4 Minuten und 33 Sekunden lang an seinem Piano sitzt und: nichts spielt. Das Musikstück kreiert einen Raum der Stille, dessen Unhörbarkeit aber keineswegs die Abwesenheit von Klängen und Schwingungen zur Folge hat. Je nach Aufführungsort spielen verschiedene Geräusche oder Bewegungen eine Rolle, seien es die der unmittelbaren räumlichen Umgebung, die des Publikums oder der Außenwelt. Ein weiteres populäres Musikbeispiel über die Stille ist Simon & Garfunkel Lied »The Sound of Silence«. Sie singen über die Unfähigkeit der Menschen, in einer durch ständigen Klang verschmutzen Welt tatsächlich hören zu können, in dem sie beklagen »Ten thousand people, maybe more, People talking without speaking, People hearing without listening [...] No one dared, disturb the sound, of silence« (Simon & Garfunkel 1965). Es ist dieser laute Sound, der wirkliches Zuhören unmöglich macht und dazu führt, »within the sound of silence, in restless dreams« und inmitten von Menschen doch alleine zu sein (ebd.). Nun geht es mir hier nicht um eine musiktheoretische Besprechung dieser Werke, sondern um deren soziale Symbolik für das Schweigen und die Stille. Was nehmen wir in Stille wahr? (Wie) »spricht« Stille zu uns? Klingt sie für uns nach einer Bedrohung? Nach Erleichterung? Nach einer Metapher?

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»I think, maybe because of past experiences that I‘d been through, I just kind of closed myself out of certain things. I wouldn‘t really talk to nobody. I wasn‘t really a keen talker. I remember going school one day and I saw one of my friends talking to a girl. I was going to my friend and said hi and she was like «oh my gosh, this the first time I ever heard you speak.« Oh ok! I guess that‘s just how quiet I was.« Stille schafft einen Zustand, der Unsicherheiten oder Stillstand im Miteinander bedeuten kann. Kann ich dich nach diesen vergangenen Erfahrungen fragen, die du als Ursache für deine Stille anführst, Paul? Was berechtigt mich dazu? Wie bereits erwähnt sind die Formen der Stille variationsreich. Und doch erlaubt der Begriff keine Pluralisierung, es gibt die Stille, aber nicht die Stillen. Und auch gibt es zur Stille kein Verb, was ihr machen beschreibt. Das Stillen ist ein Vorgang des Ernährens und Beruhigens, dessen Verwendung im Sozialen auf bestimmte Formen des Mit-Seins begrenzt ist. Schweigen oder die Abwesenheit von Körpern führen zu Stille, beispielsweise als ein Ergebnis von Zensur oder eigener Entscheidung. Schüchternheit oder Unsicherheit sind Eigenschaften und Verhaltensweisen, die im Mit-Einander als Schweigen wahrnehmbar sein und zu Stille führen können. Welche Dinge empfinden wir als sagbar, welche nicht? Was erinnern wir? Was sanktionieren wir? Im Sprechen über sich, im Umgang miteinander und in dem Kontakt zwischen einander erfüllt die Stille verschiedene Funktionen (vgl. Kraus et al. 2017). Wir verschweigen aus Scham oder Desinteresse, wir sprechen das Offensichtliche nicht an, da es uns möglicherweise banal erscheint oder wir uns unwohl dabei fühlen, unsere Unsicherheit mit-zuteilen. Schweigen lässt sich auch dann wahrnehmen, wenn wir nicht zu_hören können oder wollen. Ich habe in den Koordinaten dieser Arbeit bereits im Zusammenhang mit dem Körper und der Relevanz der Un_Wahrnehmbarkeiten auf Glissants Forderung nach »opacity« und die Bedeutung impliziten Wissens, tacit knowledge, verwiesen (vgl. Hirschauer 2016). Der Fokus auf diese beiden Aspekte des Mit erweitert die soziokulturelle Beschränkung einer visuellen Erfahrung unserer Umwelten. »Widespread consent to specific opacities is the most straightforward equivalent of nonbarbarism. We clamor for the right to opacity for everyone.« (Glissant 2010: 194). In der Meditation ist die Stille eine Form der Kontemplation zur Entspannung und Erkenntnis, während Opacity auf das Aushalten der Undurchsichtigkeit abzielt. Beide Aspekte vereint ein »nonbarbarism« – das Unbekannte und Unvorhersehbare soll nicht gewaltsam aufgedeckt werden. Unser Alltag ist auf das Erkennen, Aufdecken und die Sichtbarkeit ausgerichtet, und gleichzeitig müssen wir mit den Abwesenheiten leben, die eben jenes Entdecken erschweren oder verunmöglichen. Wer spricht über was? Wer traut sich, zu sprechen? »Manchmal bin ich bei irgendeiner Soli Veranstaltung und versuche, mich nicht so doll zu unterhalten, weil ich Angst habe, dass die mitkriegen, dass ich nicht so viel Plan habe. Haben die vielleicht auch keine Ahnung? Und ich denke immer, da kann ich nichts dazu sagen, denn es ist bestimmt eh falsch.« Du schweigst, Ella, da

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du den anderen mehr Wissen und somit auch Deutungshoheit zuschreibst. Die Konfrontation mit anderen ist machtvoll und kann uns in den Glauben versetzen, das unser Beitrag unwichtig oder wertlos ist. Dabei spielt auch unsere Imagination und spezifische Wahrnehmung von Situationen eine zentrale Rolle dafür, dass wir Trans-Aktionen verweigern oder vermeiden. Insbesondere Wissenschaftler_innen beteiligen sich an der Gestaltung der Welt als Klang, denn wir sind auf die Generierung von Worten und Sprache angewiesen (Dhawan 2012: 57). Wir müssen uns an der Lautstärkenregulierung der Welt_en beteiligen, die auf eine bestimmte Art und Weise wahrnehmbar ist. Oftmals verschließt sie dies vielfältige Arten des Hörens und Zuhörens. Wie der Aktivist und Künstler Hamja Ashan in seinem Buch »Shy Radicals« beschreibt (Ashan 2017) leben wir in einer »extrovert world order« (ebd.). Wir partizipieren an dieser extrovertierten Weltordnung, auch durch die Aushandlung zwischen Formen hegemonialen Hörens und subversiven Schweigens (Dhawan 2012). Unsere Geschichte(n) entfalten sich nicht in Isolation voneinander oder zu der Welt, die uns umgibt. Und sie entfalten sich auch nicht immer dann, wenn wir es uns wünschen, sondern sie folgen ihrer eigenen Zeitlichkeit. »Also das war halt so: Wir waren bei einem Familienbesuch und mein Onkel Peter war dabei. Meine Schwester sagte in einem Moment, ich hab in der Stasi-Akte von Michael geguckt, und da gibt es einen, der ihn observiert hat, der heißt Knut. Ich werde am Montag zur Behörde gehen und fragen, wer dieser Knut ist. Da sagt mein Onkel: »Das war ich.« Das war übel, also praktisch der Bruder hat den eigenen Bruder bespitzelt.« In deiner Erfahrung, Anton, wird die raumzeitliche Bedeutung von Stille und Schweigen wahrnehmbar. Es gibt Momente, in denen uns die Mit-Teilung unmöglich ist, während uns andere Situationen dazu anregen und wir einer Mit-Teilung nicht (mehr) ausweichen können oder wollen. Dies trifft besonders auf politisch brisante und demütigende Erfahrungen zu, die Scham in uns oder anderen auslösen. In der Stille offenbart sich also Macht. Zwischen denen, die sprechen und denen, die schweigen; denen, die hören und denen, die nicht gehört werden. Als Folge von Zensur verweist Stille auf die gewaltvolle Ausblendung bestimmter Perspektiven und Erfahrungen oder, wie am Beispiel der Bespitzelung in der DDR, zum genauen Gegenteil von Undurchsichtigkeit: in politischen Systemen wird spezifisches Wissen generiert, um Kontrolle auszuüben (vgl. Dimitrova et al. 2012). Kontrolle und Sanktionen erhalten, durch Sprechverbote und das Abwesend-Machen diverser Perspektiven und Erfahrungen in Folge hegemonialer Verordnungen und Begrenzungen, einen normativen Status Quo aufrecht (vgl. Dhawan 2007). Erst durch das Wahrnehmbarmachen der Stille wird sie zum Möglichkeitsraum für Reflexion und Begegnung. Im Nachdenken und Nachspüren ihrer Ursachen und Bedeutsamkeit einer »extrovert world order« finden sich sozio-historische Spuren abwesend-gemachter Geschichten und Körper (vgl. Spivak 2008; Butler und Spivak 2007). Gleichzeitig ist Stille ein performativer Akt des Widerstandes, sich eben nicht auf

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eine bestimmte Weise an der Extraversion der Weltgestaltung zu beteiligen (vgl. Ashan 2017). Ihre Macht entfaltet sich in dem Kontext eines vermeintlichen Vakuums der Unsicherheit über das Abwesende und ein Noch-Nicht-Wissen-Können. Im Schweigen werden soziale Positionierungen herausgefordert: wer sind die Zuhörenden, wer die Sprechenden? Kann Stille diese Positionen verändern? Verändert uns Stille? Manchmal gibt es Auslöser, die die Stille durchbrechen und ein Vehikel der Mit-Teilung werden. »I came into music and it was boosting my confidence and my communication skills as well. I talk to certain people about music and they‘ll be like ›oh, I like music too‹. And that was just a general connection and relation, that music brings in terms of unity, I think. And that was the key for me to open up a bit more.« Musik hat für dich als eine Art Türöffner gewirkt, Paul. Sie wurde zum Medium, durch das du dich von einer Version von dir wegbewegen konntest, um dich dir und anderen auf eine neue Weise anzunähern. Musik ist hier ein Symbol deines relationalen Werdens. Zu kritisieren ist die Universalisierung des philosophischen Ausspruchs »Je leiser du wirst, umso mehr kannst du hören«. Wer leiser werden und wer zu- und neu-hören lernen muss spielt in hegemonialen Aushandlungsprozessen eine wesentliche Rolle (vgl. Steyerl 2002). »In the cause of silence, each of us draws the face of her own fear - fear of contempt, of censure, or some judgment, or recognition, of challenge, of annihilation. But most of all, I think, we fear the visibility without which we cannot truly live.« (Lorde 2012: 42). Mit diesen Worten beschreibt Audre Lorde, die sich als »Black Lesbian Feminist Mother Poet Warrior« hör- und sichtbar in der Welt positionierte, die Notwendigkeit, Stille in Sprache und Handlung umzuwandeln und dadurch füreinander wahrnehmbar zu werden. In der Abwesenheit gewohnter Geräusche, Bewegungen und Geschichten liegt das Potential für die Öffnung und Veränderung von Räumen (vgl. Malhotra und Carrillo Rowe 2013). Schweigen kann uns von Vertrautem entfremden, wenn wir bereit sind, der Stille zuzuhören.

Rezipieren Ich sehe was, was du nicht hörst. Ich höre was, was du nicht fühlst. Ich fühle nicht, was du hörst. Du hörst mich, ich sehe dich nicht. Alle bisherigen Praktiken hängen auf die eine oder andere Weise unmittelbar mit der Bereitschaft und Un_Möglichkeit ihrer Rezeption zusammen. Unter Rezeption werden die gegenseitige Auf- und Übernahme und das verstehende Verarbeiten soziokultureller Symbole und Praktiken erfasst. Dies umfasst körperliche, emotionale, politische und räumliche Empfänglichkeiten, ebenso wie die Reflexion der damit zusammenhängenden Un_Wahrnehmbarkeiten – ihre Interpretation, An-

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eignung und Instrumentalisierung. Wie nehmen wir Schwingungen wahr? Wie Rhythmen? Imaginationen? Wie reagieren wir auf und interpretieren Stille? Das Rezipieren eröffnet einen wesentlichen Diskursraum zu zentralen Aspekten des Mit. Dies betrifft Fragen der Anerkennung, Repräsentation, des Konsum und der Macht, und somit auch die Frage, wem welche Rezeptions- und auch Urteilsfähigkeiten zu- oder abgesprochen werden. Wir nehmen in unserer alltäglichen Navigation kontinuierlich wahr und beurteilen und bewerten diese Wahrnehmung, um handlungsfähig zu sein (vgl. Bourdieu 2003; Haidt 2013). »We listened to a lot of that music where they were talking about rough things. And that kind of made you walk down that way a bit, cause everyone was into it. Obviously you kind of just learn, you grow up and think nah, man, I can‘t listen to these things all the time. I can‘t let that stuff into my head all the time.« In dieser Aussage ziehst du eine Verbindung zwischen deiner Lebensgestaltung und der Musik, die du konsumiert hast, als du jünger warst, Kie. Die Dinge, die wir konsumieren, beeinflussen unser Selbstbild und umgekehrt verbinden sie uns mit unserem sozialen Kontext. Sie wandeln sich mit der Zeit in ihrer Bedeutsamkeit: was wir früher mochten, was in uns resoniert hat, können wir unter Umständen heute nicht mehr nachvollziehen. Dieser Prozess kann als bewusste Distanzierung vollzogen oder erst in retrospektiver Betrachtung reflektiert werden. Ich frage mich, wie sich die Bedeutung dieser kurzen Passage ändern würde, wenn du an dieser Stelle erwähnen würdest, das du von Rap und Hip Hop sprichst? Ist es, ohne das es explizit Erwähnung findet, klar, da in Klassischer oder Neuer Musik eher selten über »rough things«, wenn überhaupt, gesprochen wird und das Aufwachsen mit Klassik dich möglicherweise nicht zu der Entscheidung gebracht hätte, dieses »Zeug« nicht die ganze Zeit in deinen Kopf zu lassen, da es dich negativ beeinflusst? Was macht es in der Folge mit uns, wenn wir bestimmte Dinge über einander (nicht) wissen? Welche stereotypen Bilder werden aktiviert, welche kommen uns aber auch überhaupt nicht in den Sinn? (Kulturelle) Welten stiften Sinn und sind immer bereits politisch aufgeladen (vgl. Attia et al. 2015). Wir werden in Zusammenhänge aus Bedeutungen, Zwängen, Möglichkeiten und Beschränkungen geboren, die uns auf eine bestimmte Weise ausstatten. Diese Ausstattungen verweisen auf Fragen des Geschmacks und Stils, auf die lokalen (Produktions- und Konsum-) Bedingungen und Zugänge, den politischen Kontext und somit auf unsere distinkten sozialen Eingebundenheiten (vgl. Bourdieu 2003). Sie stehen für die Arten und Weisen, wie wir unsere Umwelten aufnehmen und von ihnen aufgenommen werden. So sagt Bourdieu, selbst die »objektivistischste Theorie« müsse »die Vorstellungen in sich aufnehmen, die sich die Akteure von der sozialen Welt machen; genauer: muss in Rechnung stellen, was diese zur Konstruktion der Sicht von sozialer Welt, und damit zur Konstruktion dieser Welt selber beitragen« (Bourdieu 1984: 15-16 ). Mecheril expliziert darauf auf bauende Gedanken unter dem Begriff der »habituellen Wirksamkeit« (Mecheril 2003: 161) an vier Zugängen: der Assoziation, Signifikanz, Legitimität und Affirmation. Diese Aspekte lassen sich als grundlegende

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Rezeptionsvorgänge beschreiben: Unser Mit-Sein erweckt immer Verknüpfungen zu den uns zugeschriebenen Umwelten. Daraus entsteht eine, unserem spezifischen Mit-Sein anhaftende, Bedeutsamkeit, durch die unser Handeln wiederum zugelassen und bestätigt wird (ebd.: 163). Das Rezipieren und die damit verbundene Wirksamkeit sind »Relationsphänomene« (ebd.: 169), denn unsere Ausstattungen vermitteln immer, ob unmittelbar oder subtil, eine Beziehung zu spezifischen kollektiven Ordnungen. Sie werden gesehen, gefühlt, geschmeckt oder gehört und, geprägt durch unsere Erfahrungen und Vorlieben, auch unterschiedlich bewertet. Die Ausstattungen sind Artefakte der Positions-Aushandlung in Machtverhältnissen: mit dem Anzug bin ich als Mitarbeiter einer Bank, je nach Status, sehr wahrscheinlich anerkannter als mit Turnschuhen, das Kreuz an der Halskette weist mich eher als Zugehörige im oberfränkischen Schwimmbad aus, wohingegen das Tragen eines Hijab bereits bei Eintritt in den selben Ort die Hervorbringung einer materiell-diskursiven Grenzlinie symbolisieren kann. An diesen Beispielen soll die Macht habitualisierter Un_Wahrnehmbarkeiten für Rezeptionspraktiken verdeutlicht werden. Das Kreuz wird in einem spezifischen räumlichen Kontext auf eine bestimmte Weise gelesen, weil es mit Bedeutung beladen wird. Ebenso der Hijab und der Anzug. Diese Symbole gleichen sich in ihrer politischen Bedeutsamkeit jedoch keineswegs, vielmehr repräsentieren sie verschiedene Formen soziokulturell aufgeladener Materialitäten und Diskurse, über die Normativität und soziale Ordnung hergestellt wird (vgl. Mecheril 2003: 168ff ). Sie sind mit Anerkennung oder Ablehnung verbunden, sie rufen ein Verlangen hervor oder werden als Abgrenzung wahrgenommen (vgl. Hitchcock 1999). Dies rückt die materiell-diskursiven Praktiken ihrer sozialen Organisation in den Mittelpunkt (vgl. Hahn 2011). Wer darf was in welchem Raum tragen? Wer entschiedet darüber? Wer hat das Privileg, kulturelle Normen aufzustellen und ist aufgrund der biografischen Einbindung und Subjektposition »autorisiert«, zu verbieten? Sind diese Positionen nur bestimmten Subjekten vorbehalten? Mit den, im Migrationskontext zu politischen Forderungen gewordenen, Begriffen der Integration, Assimilation und Akkulturation wurden und werden immer wieder machtvolle Kämpfe geführt, die sich letztlich auch um Formen der Rezeption drehen und keineswegs auf nationale oder kulturelle Grenzziehungspraktiken beschränken (vgl. Attia et al. 2015; Dimitrova et al. 2012). Deren migrationsspezifische Instrumentalisierung und diskursive Besetzung erfordert einen kritischen Bezug auf andere theoretische und performative Ansätze, die ein Denken außerhalb binärer Grenzziehungen ermöglichen, wie zum Beispiel Hybridität (vgl. Ha 2005), Transkulturalität und Transnationalisierung (vgl. Schiller 2005) oder auch Queerness (vgl. El-Tayeb 2011). Doch auch diese Konzepte laufen Gefahr, im Vokabular des Nationalstaates verortet zu bleiben (Nowicka und Heil 2015: 10, eig. Übers.) und natio-ethno-kulturelle Grenzziehungen zu reifizieren, wenn sie nicht explizit darauf verweisen, diese Kategorisierungen grundlegend durch andere Rezeptionsstrategien in Frage zu stellen. Das Rezipieren als Praktik des Mit

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steht symbolisch für das Aushandeln von Positionen der Interpretationsmacht und Repräsentation (vgl. Hall et al. 2013). Sie ist ein wesentlicher Modus Sozialer Navigation, da die Arten und Weisen und Möglichkeiten zur Wahrnehmung, Deutung und Aneignung in kapitalistischen Verhältnissen auch unmittelbar mit der Konsumierung und Vermarktung von sozial und kulturell aufgeladenen Artefakten zusammenhängt. Das Rezeptionsvermögen entscheidet auch über den sozialen Status und die Möglichkeiten politischer Mitbestimmung in Pluralanordnungen und umgekehrt. Wir sprechen über die Veränderung deines Eindrucks der Musikszene hier, Kie. »I remember when I was young, when Grime music kicked in and you go to a shubs, it‘s like a little house party basically where everyone‘s like listening to music, it would be predominantly black kids from London. And recently I went to a party with some younger people, it was my friend‘s cousin‘s party, and they were 18 or around that age, and it‘s completely different. There were different people there. It‘s more like pop music now that everyone listens to on the radio.« Am Beispiel von Grime zeichnest du eine Entwicklung nach: von der Hausparty für mehrheitlich Schwarze Jugendliche bewegt sich die Musik in den Mainstream, sie wird im Radio gespielt und auf diese Weise vermarktet und konsumiert. Durch die Kommerzialisierung findet ein soziokultureller Transformationsprozess statt, der Fragen der Aneignung und auch Autorität über kulturelle Praktiken aufwirft. Wer bekommt die Möglichkeit, an der Hegemonialisierung beteiligt zu sein und davon zu profitieren? Nun lässt sich die Bedeutsamkeit des Rezipierens nicht auf die Kommerzialisierung kultureller Praktiken und Produktionen reduzieren. Ebenso erfordert das Konzept der »Kulturellen Aneignung« eine kritisch-empirische Reflexion, die Vorgänge der Benennung, Kontextualisierung, Verkörperlichung und materiellen Veränderbarkeit berücksichtigen muss (vgl. Hahn 2011: 11), um nicht als kategorisierendes Mittel zur Vereindeutigung instrumentalisiert zu werden. »Kulturelle Aneignung beschreibt einen stets reflexiven Prozess, der von Akteuren und sozialen Gruppen vorangetrieben wird, auch wenn er nicht in jedem Fall und in jedem einzelnen Schritt steuerbar ist.« (Hahn 2011: 13). Diese Perspektive ermöglicht es, Aneignungen auch als strategischen Prozess der Unterwanderung hegemonialer Normierungen zu betrachten (ebd.), die performativ sind und soziale Normen irritieren und verändern können (vgl. Lagaay und Lorber 2012). Rezeptionen sind sowohl durch Identifikation als auch Disidentifikation identitätsstiftend (vgl. Muñoz 1999). Durch sie werden Singulare und Plurale, ihre Vorlieben und Lebensweisen, geprägt und gebildet. Wie entstehen unsere Interessen und Anbindungen? »So macht das wahrscheinlich jeder. Es kommen ein paar Sachen vorbei und mit irgendwas kann man sich gut identifizieren. Was vielleicht auch gar nicht unbedingt am Sound liegt, das wäre eine Theorie, und dann bewegt man sich halt darin. Aber die Szenen grenzen sich halt so sehr ab, oft auch durch die Kleidung

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und so weiter. Man begibt sich damit in so eine Sphäre rein.« In der »Sphäre« zu sein heißt, Teil zu sein und Teil zu haben. Bevor das geschieht ist, muss unser Interesse und unsere Aufmerksamkeit geweckt werden. Wir müssen auch Teil sein wollen. Wird dem Wunsch stattgegeben, entstehen Identifikationen und Anpassungen, die aber auch zur Gestaltbarkeit führen können. Das, womit wir uns umgeben, formt uns. Noch mehr formt uns, wie wir unsere Umgebung wahrnehmen. Aus diesem Grund möchte ich erneut die Notwendigkeit des Sentipensar, des Denkfühlens, als Grundlage einer Onto-epistemo-logie des Werdens anführen, welche die Verschiebung vom Primat der Sichtbarkeit zur Hör- und Fühlbarkeit ermöglicht. Wie ich bereits mehrfach betont habe, geht es dabei nicht um eine ableistische Hierarchisierung der Fähigkeiten zur Wahrnehmung, sondern um eine diskursive und materielle Sensibilisierung für eben jene Hierarchisierung. Wahrnehmung ist eine Form des Handelns, es ist nichts, was uns passiert, es ist etwas, das wir tun (Noë 2005: 1, eig. Übers.). Rezeptionspraktiken sind ein wesentlicher Modus der Sozialen Navigation, da sie Aspekte der Deutungshoheit, Definitionsmacht und Sozialen Kontrolle betreffen. Der Sozialen Reproduktion symbolischer Ordnungen liegt ein zentraler Wiedererkennungseffekt zugrunde: Wenn Menschen sich repräsentiert, gesehen und gehört fühlen, steigert dies das Selbstwertgefühl und nicht zuletzt auch die mit sozialer Anerkennung verbundene Möglichkeit politischer Macht und Einflussnahme (vgl. Martín Alcoff 2006). Daraus folgt für die vorliegende Arbeit die Forderung, den Möglichkeiten der Rezeption in Zugehörigkeitsverhältnissen mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Wie werden Informationen und Perspektiven vermittelt und aufgenommen? Wie können sie verändert werden? Eine Berücksichtigung dieser Fragen verlangt eine kritische, dekolonial-relationale Lesart des Sozialen, die Produktionsweisen und Aneignungspraktiken von Symboliken und Produkten im jeweiligen soziokulturellen Kontext hinterfragt. Unter anderem schließt dies Kleidungsstile, Musikvorlieben oder andere konsumierbare Praktiken ein. Diese Lesart nimmt singulare und plurale Ausgrenzungserfahrungen in den Blick und ernst, anstatt sich auf gewohnte Deutungshoheiten und historisch gewachsene Machtverhältnisse zu verlassen oder die politischen Implikationen sozialtheoretischer Erkenntnisse zu ignorieren. In diesem Sentipensar steckt das Potential, durch kritische Rezeptionspraktiken nicht zu fragen, wer hat das Recht, etwas zu tragen/sagen/tun?, sondern: Welche verschiedenen möglichen Folgen haben bestimmte Praktiken für verschiedene Singular- und Pluralisierungen? Auf diese Weise wird nicht eine spezifische hegemoniale Agenda des Erlaubens und Verbietens verfolgt, sondern es werden Aushandlungs- und Aneignungsprozesse, also das Wie statt das Wer, stärker berücksichtigt. Dies ermöglicht eine Fokusverschiebung von der Intention auf die Wirkung soziokultureller Praktiken des Mit für Subjekte. Eine auf diese Weise kritische Rezeptionspraxis initiiert Prozesse zur Destabilisierung von Normalität im Sinne eines »Undoing« (vgl. Pease 2010).

Mit Welten verbunden – Von Welten entrückt

Adaptieren und Transformieren Musik lebt von Transformationen. Sounds, Melodien und Klänge verändern sich durch ihr unterschiedliches Arrangement. Zwischen der Wahrnehmung von Harmonie, dem Empfinden von Resonanz oder Dissonanz liegen nur minimale Transformationen. Der Vorgang des Übertragens eines Tonstücks in eine andere Tonart wird als Transponieren bezeichnet. Rosi Braidotti beschäftigt sich mit diesem Vorgang in ihrem Werk »Transpositions. On nomadic ethics« (Braidotti 2006b). Unter Berücksichtigung ethischer Haltungen aus dem Umweltschutz, Feminismus, Antirassismus und Technologie-Studien bezieht sie das Transponieren auf verschiedene materiell-diskursive Vorgänge: unter anderem auf Übersetzungsleistungen, Transplantationen und Transzendenz (vgl. ebd.). Ihr ist es wichtig, in diesem Zusammenhang »the making of ethical subjects« kritisch zu reflektieren (ebd.: 5), in dem sie der Frage nachgeht, welche Bedingungen für die Kultivierung des Bedürfnisses nach sozialem Wandel und einer daraus resultierenden »in-depth transformation of the dominant, unitary vision of human subjectivity« (Braidotti 2006b: 5) möglich sind. Die Beschäftigung mit dem Transformieren findet sich also in Forderungen und Konzeptualisierungen des Sozialen Wandels, der Queer-Theorie, Ansätzen sozialer Gerechtigkeit, machtkritischer Bildung und der Dekolonialisierung. Transformation ist ein einendes Ziel dieser Agenden, wobei sich sowohl die Prozesse und Praktiken, diese durchzusetzen, als auch der angestrebte Zustand nach der Transformation, voneinander unterscheiden und wiederum in machtvollen Verhältnissen, Systemen der Repräsentation und mit ungleichen Ressourcen enden können (vgl. Hünersdorf und Hartmann 2013; Barlösius 2004). Das Anpassen und Umformen Effekte und Ursachen menschlicher Trans-Aktionen sind, ist mit Bezug auf die Dynamiken des Sozialen eine unausweichliche Tatsache, allerdings sind die Möglichkeiten, auf diese zu reagieren oder sie bewusst zu initiieren, abhängig von Privilegien und Sozialen Positionierungen, wie ich bereits ausführlicher in den Temporalen Verhältnissen besprochen habe. »Sustainable ethics allows us to contain the risks while pursuing the original project of transformation. This is a way to resist the dominant ethos of our conservative times that idolizes the new as a consumerist trend, while thundering against those who believe in change. Cultivating the art of living intensely in the pursuit of change is a political act.« (Braidotti 2006b: 268)

Nach Braidotti ist wirkliche Transformation nur möglich, wenn sie sich dem dominanten (und konservativen) Ethos des Neuen als konsumbezogenem Trend widersetzt und stattdessen als möglicher politischer Akt tatsächlicher Veränderung begriffen wird. Da Umformungen nicht nur auf Fragen der Radikalität von Transformationsbestrebungen, sondern insbesondere auch auf gegenseitige Verhinderungen und Ermöglichungen unserer Lebensgestaltung hinweisen, sind sie eine wichtige Form Sozialer Navigation. Welche Wirksamkeit haben Transformationsbestrebungen?

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Zielen sie auf eine Erweiterung des Handlungsspielraumes? Eine Umverteilung von Kapitalformen? Und was heißt »Un_Doing« in diesem Zusammenhang? Ist es überhaupt möglich, etwas zurück zu nehmen und dadurch zu verändern? Im Verlauf dieser Arbeit habe ich immer wieder über die Bedeutung von Zugehörigkeit als klebrige Bindung an die Norm gesprochen, durch die Menschen miteinander in Beziehung stehen oder miteinander in Beziehung gebracht werden. Auch wenn diese Beziehungen auf unterschiedlichen Ebenen qua Geburt vorgefunden werden, sich also einem aktiven Zutun erst einmal entziehen, so lassen sie sich im Verlauf des Lebens durchaus gestalten (vgl. Lagaay und Lorber 2012). Umformungen sind Neugestaltungen des Sozialen, die sich unter anderem durch ein Undoing situativ oder strukturell manifestieren können. Feststellen zu wollen, dass und wie etwas auch nicht geschehen kann oder getan wird, macht die soziale Praktik des Undoing zu einem empirischen Problem. »Die häufigste Antwort liegt in der Identifizierung von Erwartungsstrukturen (z. B. eine dringend benötigte Hilfeleistung), auf die bezogen etwas erkennbar nicht stattfindet. [...] Anders als [...] Praktiken des Absehens, der Dethematisierung und Deinstitutionalisierung, die einen klaren empirischen Bezugspunkt haben, den sie negieren, ist not Doing X kein möglicher empirischer Gegenstand. Der Begriff undoing X bezeichnet daher nicht nur ein Objekt, er ist auch ein konzeptueller Hinweis, der von der Forschung eine viel größere Offenheit dafür verlangt, dass etwas anderes geschieht, als die Leitunterscheidungen des Beobachters erwarten lassen wollen.« (Hirschauer 2014: 183)

Bezogen auf die Schwierigkeit ihrer Feststell- und somit Wahrnehmbarkeit beschränkt sich diese abschließende Praktik des Mit nicht nur auf ein Undoing, sondern berücksichtigt weitere Aspekte der Transformation und Anpassung. Ich reduziere Umformungen dabei nicht auf das Potential der Emergenz, also das Auftreten des Ungeplanten und Unvorhersehbaren, sondern denke sie insbesondere als bewusste, in diesem Sinne auch strategische, und damit immanente Optionen des Mit-Werdens (vgl. Schadler 2013). Die »Leitunterscheidungen des Beobachters«, auf die Hirschauer verweist (Hirschauer 2014: 183), sind die zentralen Bewertungsinstanzen. Eine Trans-Aktion umformen zu können, setzt zuerst einmal die Rezeption und Bestimmung eines spezifischen Zustands der materiell-diskursiven Wirklichkeit voraus. Ohne die Wahrnehmung eines (veränderungsbedürftigten) Status Quo ist die politische und soziokulturelle Bedeutung von Transformationen weniger relevant. Zäsuren des Kolonialismus, des Patriarchats, des Kapitalismus und anderer systematisierter Formen sozialer Ungleichheit lassen sich erst durch die Wahrnehmung der marginalisierenden und gewaltvollen Praktiken erreichen, die sie charakterisieren und aufrecht erhalten. Die Analyse und Diagnose des Seins als eine spezifische, wahrnehmbare Form der Gegenwärtigkeit steht am Beginn der Möglichkeiten zur Veränderung. Um beispielsweise über Geschlechtergerechtigkeit überhaupt nachdenken zu können, brauche ich ein faktisches Wissen der materiell-diskursiven Realität, die diese Forderung notwendig macht. Dazu

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zählen Einkommensunterschiede ebenso, wie ein Nachdenken über die performative Hervorbringung des Geschlechts (vgl. Butler 2014). Von welchem Standpunkt aus wird eine Transformation dann als Ende oder Neuanfang betrachtet? Und wie ist das Verhältnis zwischen Singular und Plural zu bestimmen, wenn Umformungen nicht als gegenseitige Prozesse des Einverständnisses wahrgenommen werden? Diese Fragen beziehen sich auf eben jene Klebrigkeit, aber auch auf den Schutz und das Ausgeliefertsein durch Zugehörigkeitspraktiken. Unser Alltag verlangt zu einem bestimmten Grad immer Flexibilität und soziale Anpassung, die wir ebenso unbewusst wie automatisiert, durch Rhythmisierungen von Routinen, vollziehen (vgl. Keddi 2011). Anpassen und Umformen sind zentrale Praktiken des Mit, da ihr Möglichkeitsrahmen und ihre Bedingungen immer bereits durch unsere Relationalität bestimmt sind. Wir sind in hohem Maße von Anderen, als wesentlichem Bestandteil unseres sozialen Kontextes, abhängig, da sie Transformationen zulassen, mittragen, anerkennen oder auch verhindern können (vgl. Braidotti 2006b). Umformungen stehen hierbei nicht automatisch für radikale Brüche oder Veränderungen, denn als immanente Praktiken verdeutlichen sie auch das, was längst in einer bestimmten Form anwesend oder zu erahnen ist. Sie erlauben uns aber, in Trans-Aktionen diverse Aspekte auszuleben. Braidotti spricht in ihrer Theorie des nomadischen und posthumanen Subjekts unter der Prämisse der Dynamik des Sozialen von der Notwendigkeit, neue Formen der Verbundenheiten mit unseren Umwelten zu erdenken, die nicht nur Mit-Sein zwischen Menschen einbeziehen. »A new model of kinship is needed, which moves beyond the subject-object distinction imposed by classical rational thought and induces instead new forms of empathy, a new sense of connection.« (Braidotti 2006b: 208). Das Sonore, Klang und Schwingungen, symbolisieren das Potential dieser neuen Variationen der Verwandtschaft. In dem Sound Körper durchdringt, versetzt er diese, ob bewusst oder nicht, in Bewegung. Vermeintliche Grenzen zwischen Innen und Außen lassen sich so nicht mehr identifizieren – es sind die Vorgänge der Durchdringung, die reflektiert werden können (vgl. Storr 1997). Was macht etwas mit mir? Was machst du mit mir? (Wie) bin ich berührbar? Der Beat und Rhythmus eines Musikstückes können sich ändern, die Form des Klanges entwickelt sich, eine Melodie verschwindet, Bass setzt ein, der wiederum beispielsweise durch eine Saz, ein Saxophon oder eine Violine abgelöst wird. Transformationen sind für Musik unerlässliche Praktiken der Veränderung einzelner Variablen, die sich auf die Wahrnehmbarkeit des Ganzen auswirken und spürbar sind. Becoming ist nur als beständiges Potential der Transformation denkbar, da es sich eben nicht auf fixierte Subjektpositionen, sondern auf deren situative Aktualisierung, Reduktion, Erweiterung und Beweglichkeit bezieht (vgl. Schadler 2013; Hirschauer 2014). »I’m a bit like a transformer,« sagst du, Paul, in unserem ersten Treffen über dich. »Well, I’m from quite a few places. I’m from Eg ypt, South-Africa, St Lucia, and England. I guess sometimes I’m a bit like a transformer because sometimes I turn into the Eg yptian, and sometimes I

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turn into the African, so I am kind of scrabbled. But of course, living in London the Britishness comes into play as well.« Du nutzt das Bild des Transformers, um dich und deine diversen geografischen Familienbezüge zu erfassen, ohne dich auf einen festlegen zu müssen. Die faktische Unterscheidbarkeit zwischen den verschiedenen Aspekten muss an dieser Stelle keine Rolle spielen. Vielmehr ist der Transformer ein raum-zeitliches und biografisches Konstrukt, durch welches du auf verschiedene Geschichten und Kontexte zurückgreifen kannst. Als wir uns ein zweites Mal treffen, frage ich dich nach »Paul, dem Transformer« und bitte dich, mir eine für diesen Transformationsprozess symbolische Geschichte zu erzählen. In deiner Antwort wird deutlich, dass diese Selbstbeschreibung in der Situation unseres ersten Gespräches aufkam, und du keine feste Vorstellung dieses »Transformers« mit dir herumträgst. »Paul the Transformer, hmmm. I‘m a kind of guy that goes through phases, hence the reason why I probably said transformer. And probably why I‘ve got no tattoos because nothing is solid for me at the moment. I‘ve been through certain periods of my life. At one point I wasn‘t one for communication, I didn‘t really talk to no one, I was pretty much mute. So I guess the transformer-aspect of things has come where I‘ve had to learn how to communicate. Just growing up and changing from boy to a man maybe.« Von dem Transformer mit diversen biografischen und lokalen Bezugspunkten rückt die zweite Reflexion stärker deine bewussten Trans-Aktionen mit der Welt im Prozess deines Erwachsenwerdens in den Vordergrund. Ich stelle mir die Frage, ob wir im Privaten, in unseren Selbsterzählungen und unserem Selbstbild, leichter ein Transformer sein können, als unter Beobachtung im sozialen Raum, wo wir immer den Blicken und Zuschreibungen von außen ausgeliefert sind und nur bedingt beeinflussen können, welche Transformationen anerkannt und ermöglicht werden. Wohingegen unsere Imagination und Selbstwahrnehmungen im Verborgenen einen nahezu unbegrenzten Raum der Veränderbarkeit darstellen können. Sind Transformationen nur bedeutungsvoll und real, wenn sie gesehen und gehört werden können? Die vielleicht naheliegendste und scheinbar raumzeitlich-ungebundene Möglichkeit der Umformung, mit der ich auch diesen Text verfasse, ist die Digitalisierung. Meine Arbeit entsteht am Computer, mit all den Vorzügen und Nachteilen, die ein Internetzugang für das Schreiben, oder gerade auch prokrastinierendes Nicht-Schreiben, eines Textes birgt. In diesem Text gibt es keinen Raum, den Möglichkeiten des sozialen und politischen Transformationspotentials des Virtuellen ausführlicher nachzugehen, dennoch stellt es einen relevanten sozialen und politischen Trans-Aktionskontext dar, der hier wenigstens Erwähnung finden soll. Mit den Mitteln der Digitalisierung werden identitätspolitischen Praktiken weitere Dimensionen des Fest-, Um- und Neuschreibens hinzugefügt (vgl. Burkart 2006). In der Virtualität wird unsere exzentrische Positionalität (Plessner 1975) herausgefordert, da sie mir auf eine Weise erlaubt, soziale Grenzen zu übertreten, mich neu oder anders zu erzählen (vgl. Persson 2007), und mich aus den Zwängen analoger und unmittelbarer Kontakte physischer Anwesenheiten zu entbinden. Diesem »Terror of Total Dasein« (Steyerl 2015) ist jedoch nur temporär zu entkommen, denn insbesondere die Präsenz in der Virtualität durch Fotos, Texte und andere Sichtbarkeiten impliziert auch dort eine Form permanenter Anwesenheit.

Mit Welten verbunden – Von Welten entrückt

Virtualität steht damit nicht automatisch für Freiraum, Selbstbestimmung oder Loslösung, sondern ist, wie jedes soziale Medium, von ihrem Gebrauch und der Rezeption abhängig. Das Virtuelle bietet jedoch einen Ort des Transformationspotentials, da ich mich in ihm anders imaginieren und bisher wenig beachteten oder ausgelebten Aspekten Raum geben kann. »Ich bin in so ein paar Gruppen. Zum Beispiel gibt es bei Facebook eine Gruppe, die sich »radical muslims« nennt und wo sich Muslime zusammen finden, die sagen, »ok, wir sind feministisch und beschäftigen uns mit Queerness und mit race aus einer muslimischen Perspektive.« Die verstehen sich als emanzipatorisch in ihrer Politik und sagen ganz klar auch »wir sind Muslime«. Es gibt so eine digitale Verbindung zu Kanada und den USA und dort gibt es dann auch wirklich eine Räumlichkeit dafür, dass sich Leute freitags zum Gebet treffen, wo zum Beispiel auch Frauen vorbeten. Wo du als schwuler Muslim oder lesbische Muslima hin kannst, wo du komplett tätowiert sein kannst und als Moslem anerkannt wirst. Da ist die Regel, jeder ist willkommen.« Diese für dich bedeutsame Verbindung im Virtuellen, Alina, verdeutlicht welche Beschränkungen analoge Räume für unser Wohlbefinden darstellen können. Über die virtuelle Zusammenkunft ist es für dich möglich, deine Religiosität auf eine Weise kennenzulernen, wie es dir in analogen Räumen vielleicht nicht möglich ist, da du dich dort nicht aufgehoben fühlst und aus diesem Grund nicht in die Moschee gehst. Soziale Navigation findet ihren Ausdruck als Praktik der Transformation besonders in Räumlichen Verhältnissen, da »(s)oziale Räume [...] durch vorherrschende Sicht- und Handlungsweisen hergestellt« (Mecheril 2003: 169) werden. Unsere biografischen Erfahrungen können in andere Narrative und andere körperliche Praktiken übertragen werden, wenn uns vielfältige Räume für deren Auslebung zur Verfügung stehen oder wir diese schaffen können. So lassen sich Sehnsuchtsorte zumindest temporär realisieren. Die Verortbarkeit von Geschichten beeinflusst wiederum die Hör- und Sichtbarkeit verschiedener Erfahrungen, die letztlich in strukturelle Bedingungen übertragen werden und durch diese Veränderung erfahren können. In Alinas Beispiel ist es erst das Treffen im virtuellen Raum, was dann zum Erschließen neuer Orte in der analogen Welt führt. Die Virtualität steht für das imaginative und fixierende Potential von Transformationen gleichermaßen, da sie die Frage aufwirft, wie Verbindungen und Gemeinsamkeiten als Visionen zwischen Plural- und Singularformen auch im analogen Mit-Sein denkbar sind. Haben Technologien eine transformatorisch-kollektivierende Macht? Welche neuen audio-visuellen Narrative müssen dafür entworfen werden?  »Selbstthematisierung heute erfolgt vielmehr vor allem öffentlich und expressiv, mit möglichst vielen Zuschauern bzw. vor möglichst großem Publikum.« (Burkart 2006: 42). Die gegenseitige Bezugnahme auf und Anwesenheit eines tatsächlichen oder imaginierten Publikums bilden dabei gleichermaßen das Potential und die Herausforderung zur Transformation. Als Instanz der sozialen Kontrolle verhindert dieses Publikum Veränderungen, es motiviert und politisiert aber auch

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dazu, Zustände kritisieren und umformen zu wollen. Es ist dann eine Frage der Zusammenfindung und strategischen Intervention, diese Umformungen materiell-diskursiv wirksam werden zu lassen. Eine sich aus diesen Feststellungen ergebende Theorie des Posthumanen entzieht sich essentialisierenden Fokussierungen auf ein vermeintlich im Hier-und-Jetzt fixiertes Subjekt, ohne jedoch die Macht materiell-diskursiver Wirklichkeitsschaffung zu ignorieren. »A radically immanent intensive body is an assemblage of forces, or flows, intensities and passions that solidify in space, and consolidate in time, within the singular configuration commonly known as an ‚individual‘ self. This intensive and dynamic entity […] is rather a portion of forces that is stable enough to sustain and to undergo constant, though non-destructive, fluxes of transformation.« (Braidotti 2006b: 157)

Analogie und Virtualität lassen sich, wie bereits mehrfach erwähnt, nicht eindeutig differenzieren, da die Strömungen (»fluxes«) der Transformation solchen Grenzziehungen nicht entsprechen. Braidotti bezeichnet die Kräfteverhältnisse aus diesem Grund als transversal, also quer zueinander verlaufend. Ich spreche in dieser Arbeit unter besonderer Berücksichtigung von Sound und Schall von interferierenden, also sich überlagernden, gegenseitig verstärkenden und abschwächenden, Zugehörigkeitsverhältnissen, die zeitgleich Pluralisierungen und Singularisierungen hervorbringen. In diesem Sinne werden Umformungen auch nicht als spezifische, auf eine Diagnose folgende, Prozesse reflektiert, sondern als beständiger Fluss des Mit-Werdens. Das »Immerimwerdensein macht eine Bestimmung von Subjekten schwierig. Was allerdings beschrieben werden kann, sind die sich realisierenden Komponenten, die mit dem gemeinsam auftreten, was Subjekt genannt wird.« (Schadler 2013: 49-50). Es braucht also einen Kontext oder Fixpunkt, durch den ich mich identifiziere und identifiziert werden kann, um mich wiederum disidentifizieren zu können oder disidentifziert zu werden (vgl. Muñoz 1999). Adaptieren und Umformen lassen sich in zwei verschiedene, aber zusammenhängende, Richtungen denken: einerseits im Sinne der Forderungen Édouard Glissants nach »opacity« (Glissant 2010: 111ff ), dem Recht auf Undurchsichtigkeit, und andererseits auf Braidottis Gedanken über ein, von Deleuze und Guattari eingeführtes, »becoming-imperceptible« (Braidotti 2006a). Undurchsichtigkeit und Unmerklich-Werden stehen für das Bedürfnis, die Prämisse des Sichtbaren verlassen zu können. Einen dazu vermeintlich widersprüchlichen, jedoch notwendigerweise damit verbundenen Weg der Transformation ist der bereits im Abschnitt »Subjekt« angeführte »Kollektivierte Eigen-Sinn«, wie ihn Maisha Eggers vorschlägt (Eggers 2007). Durch diesen Eigen-Sinn wird das kritische und widerständige Potential von Sichtbarkeit in den Fokus gerückt. »Ein Verständnis von Eigen-Sinn als riskantem Akt der Infragestellung herrschender Vorstellungen auf der Grundlage kritischer Auseinandersetzungen könnte hierbei handlungsleitend

Mit Welten verbunden – Von Welten entrückt sein. Die Überschreitung von Widerständigkeit im ›Kleinen‹, im persönlichen Bereich, hin zu einer gezielten Kollektivierung von kritischen eigensinnigen Handlungen als politischem Projekt könnte zum Motor für eine nachhaltige Destabilisierung von Unterwerfungspolitiken werden.« (Eggers 2007: 246)

Es gilt für jede erwünschte transformatorische Praxis zu fragen, wie sich die kritische Trans-Aktion zur symbolischen Ordnung verhält: »Destabilisiert sie die herrschende Sicht/Ordnung nachhaltig? Stellt sie einen symbolischen Widerstandsakt dar oder entpuppt sie sich als eine »dominierte Strategie«, weil sie letztlich die symbolische Ordnung signifiziert, also wiederholt und festigt?« (Eggers 2007: 253). Im strategischen Adaptieren, Irritieren und Transformieren normativer Zugehörigkeitsordnungen muss die reifizierende Macht von Trans-Aktionen berücksichtigt werden, der vor allem durch die Reflexion und Bewusstwerdung der Bedeutung relationaler Praktiken, statt durch eine kontinuierliche Fixierung auf spezifische Subjektpositionen, widerständig begegnet werden kann. Dafür ist folgende Forderung essentiell: »the ›active‹ back into activism« (Braidotti 2006a: 2) zu holen.

5.3 Oszillation zwischen Anbindung und Loslösung »[Die Erde] ist Welt, die nicht von Welt ist, eine Welt, die an der Welt und am Sinn der Welt krankt. Sie ist Aufzählung – und tatsächlich dringt an die Oberfläche nur die Zahl, das Wuchern dieser Pole der Anziehung und Abstoßung.« (Nancy 2004: 10ff)

Wenn Leben Bewegung ist, dann heißt es, herauszufinden, auf welche Arten und Weisen diese Bewegungen stattfinden. Im Verlauf dieses Kapitels habe ich verdeutlicht, auf welch vielfältige Weisen wir in interferierenden Zugehörigkeitsverhältnissen verwoben sind und wie diese unsere Möglichkeiten zur Sozialen Navigation beeinflussen. Musik dient als Metapher für diese Prozesse, da sie es ermöglicht, wissenschaftliche und soziokulturelle Fixierungen auf das Primat des Sehens um andere Sinneseindrücke zu ergänzen. Auf diese Weise konzipiere ich eine relationale Zugehörigkeitstheorie am Konzept der Sozialen Navigation. Die verschiedenen, musiktheoretisch-inspirierten Vorgänge verstehe ich als Praktiken des Mit, als Prozesse der Relation. Diese Praktiken des Mit scheinen konzeptionell nur sinnvoll und vollständig zu sein, wenn sie die Möglichkeit eines Ohne einbeziehen. Aus diesem Grund schließe ich dieses Kapitel mit der Oszillation als einer bedeutsamen Bewegungsform ab, die symbolisch für die in dieser Arbeit zu vermittelnde Dynamik Sozialer Navigation als relationale Praktik steht und es verunmöglicht, Zugehörigkeit als deterministische Zustandsbeschreibung zu verstehen. Nancy erfasst Anziehung und Abstoßung als Prozesse der Welter-

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fahrung (Nancy 2004: 10ff ). Das Bild der Anziehung und Abstoßung lässt sich im Konzept der Oszillation zusammenführen. Oszillation bezeichnet physikalische und geologische Schwingungsbewegungen, die unter anderem als Vibrationen oder Schwankungen spürbar sind. Es ist ein Phänomen, welches insbesondere auch für die Entstehung und Verbreitung von Schallwellen, und somit für die Wahrnehmbarkeit von Musik und Klängen, verantwortlich ist. »Oszillationen sind Schwingungen oder Schwankungen um einen Bezugspunkt oder Richtwert. [...] Im Rahmen der Oszillationen kann sich durchaus eine allmähliche Verschiebung der Durchschnittswerte, eine gleitende Veränderung der Normen ergeben.« (Vester 2008: 146). Bezogen auf Zugehörigkeitspraktiken verdeutlicht diese Definition die Macht von Normierungsverhältnissen. Ich übertrage dies auf soziokulturelle Un_Beweglichkeiten und auf die materiell-diskursiven Weltbezüge, in denen wir uns wiederfinden, da sie unsere Existenz grundlegend mitbestimmen (vgl. Hitchcock 1999: 25ff ). Oszillation ist ein Konzept des Denkfühlens. »In terms of social domination, oscillation is not just about hegemony´s violence or repression, but also about its doubt, its perplexity, its inkling of its own inability.« (Ebd.). Mit dem Fokus auf die vielfältigen Vorgänge Sozialer Navigation wird die Bewegung zwischen Anbindung und Loslösung als Oszillation analysierbar. Auch wenn sich die oszillierenden Schwankungen erst einmal um einen Richtwert, im Fall von Zugehörigkeit um Pole der Identifikation und Disidentifikation, bewegen, können sie ebenso zu Verschiebungen der Norm führen. »[D]oes oscillation simply imply a binary opposition [...]?« fragt der Kulturwissenschaftler Peter Hitchcock in seinem Werk »Oscillate Wildly« (Hitchcock 1999: 26). In einer möglichen Antwort verweist er auf die Komplexität von Oszillationsprozessen, »that cannot guarantee the poles between which they occur.« (Ebd.). Relationales Werden findet eben (nicht) in (luftleeren) Räumen statt, es braucht Materialitäten, Diskurse, Körper und Emotionen, die in Schwingung versetzt werden können und in Schwingung versetzen. Welche Komponenten jedoch miteinander re-agieren und in Schwingung geraten, ist nur bedingt erfassbar. Die Berücksichtigung von Kontingenz verhindert nicht, das Oszillation stattfindet, lässt aber ein Denken, Handeln und Fühlen außerhalb der Berechenbarkeit sozialer Wirklichkeit zu (vgl. Mouffe 2015). Jedes Verorten und Positionieren offenbart sich dann als Vorgang einer Setzung, deren Geworden-Sein und Werden interessiert. Diese Perspektive hält sich nicht bei der Benennung eines Status quo oder Identifikationspunktes auf, sondern berücksichtigt die Bewegungen-dort-hin und das Potential einer Wegbewegung gleichermaßen. Die epistemologische Trennung zwischen determinierender Struktur und autonomer Handlung (agency) ist auf diese Weise nicht aufrecht zu erhalten, da ein Mit-Werden in biografischen, temporalen, räumlichen, emotionalen und politischen Verhältnissen nur als dynamische Überlagerung beider Aspekte denkbar ist (vgl. Bath et al. 2013). Anbindung und Loslösung sind wechselseitige und ambivalente Prozesse, die nicht getrennt voneinander stattfinden. Sie sind situativ bedeutsame und sich

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verstetigende Dynamiken, die uns keineswegs immer bewusst zugänglich sind (vgl. Hirseland und Schneider 2008). Bedürfnisse und Praktiken eines (situativen) Kongruenz- und Synchronisationsbestrebens wirken sowohl als Auslöser, als auch als Ergebnis von Oszillationsprozessen, in deren Folge Zugehörigkeit (nicht) empfunden oder (nicht) zugestanden wird. Wir wollen, und müssen, in Übereinstimmung mit unseren relevanten Umwelten sein. Bewusst und unbewusst stattfindende mimetische Prozesse wirken auf das Einpendeln und Anpassen in diesen Umwelten. Wir schwingen mit. Keineswegs planen und gestalten wir unseren Alltag jeden Tag so, als gäbe es kein Gestern oder keine konstanten Umgebungen, in die wir eingebettet sind. Doch die Uneindeutigkeit des Sozialen und unsere potentielle Beweglichkeit eröffnen einen Raum der Gestaltung, in dem wir uns aufeinander zu bewegen und überhaut mit-werden können: »Instead of uncertainty just meaning that categories become less clear or that differences unknown, uncertainty addresses the impossibility to know how an encounter with difference and inequality will play out. […] People are therefore permanently prepared to react to new social constellations.« (Nowicka und Heil 2015: 13)

In jedem Werden liegt das Potential der Ver- und Ent-Bindung gleichsam verborgen. Verbindungen können unter anderem durch die Wiederholung etwas als gemeinsam Angenommenem klebrig werden. Unsere biografisierten, temporalisierten, lokalisierten, emotionalisierten und politisierten Einbettungen sind sowohl wohlig und schützend als auch zugleich machtvoll und brutal, wenn sie als Umklammerung keine Möglichkeiten der Bewegung zulassen oder nur im Mangel Realisierung finden (vgl. Korstanje und Muñoz de Escalona 2014). Pluralisierungen geben in ihrer Diversität und Unbestimmbarkeit Rückhalt und Bestätigung und bedingen auf eine Weise als notwendige Kollektivierungen die Hervorbringung von Singularen (vgl. Agamben und Hiepko 2003). Zugehörigkeit ist somit eine soziale und politische Kraft, die wirklichkeitsstiftend ist, da sie als in Trans-Aktionen entstehende emotionale Empfindung in Zweifel gezogen, machtvoll ausgehandelt oder verweigert werden kann. Sie ist als Konstruktion real, weil sie in ihren Konsequenzen real ist. Weil durch sie Subjekten Möglichkeiten eingeräumt und anderen eben diese verwehrt werden (vgl. Pfaff-Czarnecka 2012). Zugehörigkeit erfasst ein zugleich intimisiertes und hegemonialisiertes anthropologisches Grundbedürfnis der Relation, was uns vor allem dann zugänglich ist, wenn es uns zugänglich macht oder gemacht wird. Ich erinnere mich erneut an deine Aussage »zugehörig ist man da, wo man vermisst wird«, Alina. Das Vermisst werden impliziert für dich eine Bedeutsamkeit, doch ist es eine Aussage über den Wert unserer Relationen? Es ist vor allem eine Zustandsbeschreibung unserer gegenseitigen menschlichen Gebundenheit. Dabei ist es vorerst sicherlich unerheblich, ob wir diese Gegenseitigkeit anerkennen oder uns ihrer überhaupt bewusst sind. Auch die philosophische, juristische und

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soziale Implikation des »(zu) mir selbst Gehörens« setzt die Anerkennung einer Beziehungsform voraus, in der wir mit uns selbst und anderen in Kontakt treten können. Egal, wie eingebettet wir objektiv sein mögen, wir können uns dennoch verloren, losgelöst oder einsam fühlen. Wir sind abhängig vom Wahrgenommen und Aufgenommen werden durch andere. Vermisst zu werden verleiht uns in diesem Sinne eine emotionalisierte Präsenz. In dieser Gegenwärtigkeit liegt ein Potential für unser Selbstverständnis verborgen: Was bedeutet es für dich, vermisst zu werden? Bestärkt es dich, deinen Weg zu gehen? Oder hält es dich zurück? Die Oszillation umfasst unser denkfühlendes Mit-Sein, in dem Relationen und Akteur_innen nur als miteinander verwoben in Erscheinung treten können. Die Perspektive des eingebundenen Subjektes einnehmend, lässt sich die Enti-Tätigkeit des Mit als Dimension unserer konstitutiven Angewiesenheit erfassen (vgl. Meißner 2010). Ohne die unabdingbare Relationalität menschlichen Werdens wäre mit dem Konzept der Sozialen Navigation nichts weiter beschrieben, als eine auf individualisiertes Überleben reduzierte Existenz menschlicher Organismen, die unverbunden nebeneinander existieren. Unsere gegenseitigen Abhängigkeiten und der ambivalente Wunsch, sowohl dazugehören und als auch sich abgrenzen zu wollen, bedingen ein Mehr des Sozialen – sie bedingen verschiedene Zustandsformen der Navigation, sie führen zum Schweigen, Imaginieren, gegenseitigen Wahrnehmen, zu Stillstand und Bewegung. Sie stabilisieren Zugehörigkeitsverhältnisse durch un_wahrnehmbare Trans-Aktionen zwischen Menschen, in dem sie die Komplexität unserer möglichen Beziehungen mit Welt_en auf eine öffentliche, wahrnehmbare Existenz in Machtverhältnissen reduzieren, statt das Veränderungspotential in Trans-Aktionen anzuerkennen. Nicht dualistische Praktiken zwischen ›entweder oder‹, sondern die Relationalitäten des ›sowohl als auch‹ erfassen dann den Prozess des Werdens in eben jener Komplexität. ›Immer‹ wird durch ›manchmal‹, ›vielleicht‹ oder ›nicht mehr‹ ersetzt, was die vermeintliche Endgültigkeit unseres Mit-Seins um die Anerkennung der Möglichkeiten der Gestaltbarkeit, des Widerstandes und der Veränderungsfähigkeit ergänzt. Erneut kommt mir die Bedeutung von Religion für dich in den Sinn, Anton. Du beschreibst ihre Dynamik und zeitlich wechselnde Relevanz. Sie wird damit zum Ausdruck der Temporalität von Zugehörigkeitsverhältnissen und kann als Oszillation erfasst werden. »Mystik ist die Erfahrung von Gott. Und für mich ist das nur eine Erfahrung von Gott sozusagen, die ich habe oder auch nicht, manchmal ist es stärker, manchmal nicht. Manchmal fühle ich mich da näher dran, manchmal auch nicht, manchmal bin ich auch komplett unreligiös. Gerade jetzt ist zum Beispiel so eine Phase, wo ich nicht sonderlich religiös bin, und manchmal ist es halt stärker.« Deine Empfindung, dein Narrativ und deine Beziehung zu deinem Glauben, sind für mich in unserem Austausch nicht zu erfassen. Sie stehen dir nicht auf die Stirn geschrieben, vielleicht müsste ich dich in deinem Alltag begleiten und regelmäßig zu deinem Glauben befragen. Ich kann dich als Ergebnis unseres Gesprächs vielleicht als religiös oder gar als Christ kategorisieren, doch

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der Komplexität und Dynamik deines spirituellen Selbstverständnisses kann das nicht gerecht werden. Deine religiöse Beziehung bewegt sich zwischen Anbindung und Loslösung. Oszillation meint keineswegs die situative Flüchtigkeit von Trans-Aktionen oder die angepasste Bewegung einer trägen Masse, die sich dennoch nur um ein vermeintliches Zentrum der Normativität bewegt. Auch wenn Bewegungen immer bereits in mehr oder weniger deutlichen Spuren der Einbindung und Identifikation stattfinden, ist nur bedingt voraussehbar, wie sich Welten entwickeln (vgl. Hitchcock 1999: 173ff ). »[A]n oscillatory approach is interested in laws of motion yet is similarly nonpredictive. If there is a crystal ball, it is suspended from the end of a pendulum.« (ebd.: 174). Jeder Universalismus-Annahme geht immer ein normativer Kern voraus, der jedoch, getarnt als humanistisch und gut gemeint, genau dadurch entmachtet wird (vgl. Mouffe 2015). Da jedoch auch ein kosmopolitisch-universalistischer Diskurs von Privilegien bestimmt wird (ebd.), muss dieser sich mit dem Ziel einer globalen Allgemeingültigkeit von Zugehörigkeitsvorstellungen kritisch auseinandersetzen. Die Kristallkugel sieht nur den begrenzten Ausschnitt, der für sie wahrnehmbar ist. Sie ist, wie Hitchcock sagt, an einem Ende des Pendels befestigt. Das andere Ende gerät aus ihrem Blickfeld. Soziale Navigationen sind aber Prozesse der Oszillation, die uns auf vielfältige Weise mit dem Netz des Sozialen verweben können – und so erst langsam das andere Ende des Pendels offenbaren. Aus jeder Verbundenheit kann zwangsläufig Enttäuschung entstehen, wenn Erwartungen und Wünsche, die an das Verbunden-Sein gekoppelt werden, unerfüllt bleiben oder sich nicht auf eine Weise gestalten, die mit uns resoniert. Unerfüllte Erwartungen führen zwar nicht automatisch zu Distanzierung und Ent-Bindung, sie können jedoch eine produktive Kraft entwickeln, mit der Narrative und damit auch Haltungen veränderbar sind, die ihrerseits als Auslöser zur Normverschiebung dienen. Du sprichst über deine Haltung zu der Wohnungspolitik und Sozialen Verdrängung in deiner Stadt, Daniel, und stellst für dich fest: »London now, to be honest, I’m upset with my city, but I´m attached to my city. And that’s it.« Was heißt es, wenn wir »attached« sind? Emotionale Verbundenheit mit Menschen und Orten kann zu Enttäuschung führen, weil sich unsere Hoffnungen oder Vorstellungen nicht erfüllen. Verbindungen können uns traurig oder wütend machen, wenn das Gefühl der Ohnmacht überwiegt, über keine Handlungsmacht zu verfügen, aber gleichzeitig eine positive emotionale Bindung erlebt wird. Das Aushalten der Widersprüchlichkeit erfolgt als oszillierender Prozess, der nicht zwangsläufig eine Veränderung, hier einen Ortswechsel oder politisches Engagement in einer stadtpolitischen Initiative, zur Folge haben muss. Die Frage, der wir bei der Feststellung sozialer Missstände aber auch nicht entkommen können, lautet dann: wie schaffen wir es, das eben nicht alles beim Alten bleibt, sondern empfundene Widersprüche spürbare Folgen haben und Zustände nachhaltig in Bewegung versetzen?

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Eine durch Irritationen ausgelöste Distanzierung zu unseren gewohnten Narrativen und Alltagshandlungen macht es dann möglich, neue Aspekte wahrzunehmen und in unser Denken und Handeln zu integrieren. Wie wirkungsvoll diese Integration jedoch für eine tatsächliche Transformation sozialer Ordnungen sein kann, bleibt unter Berücksichtigung der Strukturierung des Alltäglichen und der Macht von Wiederholungen und Gewohnheiten in einer scheinbar fixierten materiellen Realität nur für den jeweiligen, hör-, spür- und überschaubaren Kontext zu beantworten. Tragen wir Veränderungsbestreben in uns oder bleiben Ideen der Veränderbarkeit des Sozialen lediglich als archivierte Visionen am Leben, als Utopien, an die wir uns klammern, die sich aber einer Umsetzung in der materiell-diskursiven Wirklichkeit entziehen, da wir in bürokratischen und symbolischen Ordnungssystemen immer wieder auf das Leben in Kategorien zurück geworfen werden? An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf die Ausführungen Tara Yossos zum »Navigational Capital« zurückgreifen, die ich bereits in den Koordinaten der Arbeit als möglichen Bezugsrahmen der Theoretisierung Sozialer Navigation erwähnt habe (vgl. Yosso 2005). Yosso ergänzt die Kapitaltheorie Bourdieus um weitere Kapitalformen, die sie für eine kritische feministische und postkoloniale Betrachtung marginalisierter Subjektivierungen als relevant identifiziert. Sie verschiebt den defizit-orientierten Blick hegemonialer Kategorisierungen, wie sie unter anderem dem Bildungssystem zugrunde liegen, in dem sie »aspirational, navigational, social, linguistic, familial« und »resistant« Kapitalformen entwirft, mit denen Angehörige marginalisierter Communities aufgrund ihrer biografischen Erfahrungen und spezifischen Lebenskontexte in besonderer Weise ausgestattet sind (vgl. Yosso 2005). Ist die im Rahmen vorliegender Arbeit entworfene Konzeptualisierung der Arten und Weisen Sozialer Navigation als »Navigational Capital« erfassbar? Das Konzept des »Navigational Capital« hat im Kontext meiner Arbeit nur dann Potential, wenn dessen Erfassung nicht a priori an spezifische Identitäten oder Subjektpositionen gebunden ist, sondern bezogen auf Erfahrungen und Fertigkeiten intersektional erfasst wird. Dabei steht nicht die Frage im Mittelpunkt, wer aufgrund einer (zugeschriebenen) Position möglicherweise »Navigational Capital« besitzt oder nicht, sondern welche Gestaltungsmöglichkeiten es in einer komplexen Welt für Menschen mit ihren verschiedenen Erfahrungsbezügen bietet. Unter dieser Voraussetzung dient der Ansatz nicht dazu, strukturelle und hegemoniale (Nicht-)Passungsverhältnisse durch Einfügung und Anpassung stabil zu halten und auf diese Weise kontinuierlich Mehr- und Minderheitsangehörige zu re_produzieren, sondern situativ zu schauen, welche Bedingungen und Erfahrungen Trans-Aktionen ermöglichen oder verhindern und damit ein spezifisches Mit-Werden bedingen. Statt eine quantifizierbare Erfassung sozialer Möglichkeiten vorzunehmen, sollten Praktiken des Mit-Werdens nach ihrer jeweiligen Gestaltbarkeit und Funktion befragt werden. Auf diese Weise müssen beispielsweise Konzepte der Diversität und Hybridität einer sehr genauen und kritischen Reflexion unterzogen und auf ihre Funktionalität in Dominanzverhältnissen untersucht werden (vgl. Ha 2005): Geht

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es ihnen darum, nur den sozialen Status Quo zu erhalten oder Machtverhältnisse tatsächlich grundlegend in Frage zu stellen und verändern zu wollen? »In diesem Sinne mag [...] vor allem auch die Erwartung, die Wahrnehmung, das ›Für-wahrnehmen‹ dessen, was die Teilhabe des Einzelnen an der Gesellschaft in der Gegenwart und Zukunft ermöglicht oder verhindert, verheißt oder verweigert, von entscheidender Bedeutung für die alltagspraktische Erfahrung von Macht und Herrschaft sein [...].« (Hirseland und Schneider 2008: 5646)

Eine Kategorisierung und Quantifizierung vielfältiger Lebenszusammenhänge läuft im Rahmen einer neoliberalen Reduktion auf Kompetenzen und Fähigkeiten Gefahr, sich darauf zu beschränken, wie unser singularisiertes Sein »erfolgreich« zu bewältigen ist und es so als spezifischen, anstrebenswerten Status Quo wiederum in Normierungen und Hierarchisierungen zu fixieren. Im Sinne relational wirksamer, intersektionaler Verschränkungen, kann das Konzept des »Navigational Capital« dazu dienen, eben jene Normierungen zu analysieren. Es gilt dann, Praktiken zu entwerfen, die das Übertreten und in Frage stellen sozialer Grenzziehungen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken und auf diese Weise die Peripherie zum Zentrum zu machen. Einen Vorgang, den Mignolo »Delinking« (Mignolo 2007) nennt. Er kritisiert mit diesem Prozess, wie bereits erwähnt, einen Kosmopolitismus, der sich nur ausgehend von einem Zentrum in großen Kreisen nach Außen bewegt und dabei die außen liegenden Orte miteinander unverbunden lässt (Mignolo 2000: 15-16, eig. Übers.). Aus diesem Verständnis heraus wird ein Prozess des »delinking from modern rationality« (Mignolo 2007: 498) notwendig, um andere mögliche Welten erschaffen zu können. Oszillation ist ein Prozess, der Delinking durch eine kontinuierliche Trennung und Wegbewegung von vermeintlichen Zentren und Polen der Normierung ermöglicht. Statt von einem hegemonialen Zentrum nach außen zu denken, Mignolo bezeichnet das als »neue Mittelalterlichkeit«, ermöglicht ein plurizentrisches und dekolonisiertes Weltbild die Einbeziehung verschiedener »subalterner Satelliten« – »diversality will be the project that connects the diverse subaltern satellites appropriating and transforming Western global designs.« (Mignolo 2000: 15). In Ergänzung zur Oszillation schließe ich auch Glissants Konzept des Umherirrens, »errantry«, in ein Denken der Bewegung ein (Glissant 2010: 11). Umherirren wird mir vor allem dann ermöglicht, wenn ich unmerklich und undurchsichtig sein kann, wenn nicht mein Ankommen an einem spezifischen Ziel oder die Identifizierung binärer Pole meiner Un_Beweglichkeit, sondern mein unvorhersehbares Werden mit Chaoswelten im Mittelpunkt stehen. »[T]his thinking of errantry, this errant thought, silently emerges from the destructuring of compact national entities that yesterday were still triumphant and, at the same time, from difficult, uncertain births of new forms of identity that call to us. […].

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Glissant betont, dass Umherirren weder apolitisch sei noch die Möglichkeit zur Identifikation und Identitätsbildung ausschließe. Vielmehr beschreibt er damit die Suche nach Formen der Freiheit in jeweils spezifischen Umgebungen (ebd.), oder eben Zugehörigkeitsverhältnissen. Oszillieren und Umherirren stehen für Bewegungsformen, die, unter der Berücksichtigung konkreter Kontexte und Ressourcen, soziale Veränderung ermöglichen können, ohne notwendigerweise auf fixierte und fixierende Singular- oder auch Pluralisierungsformen zurückzugreifen. »Oscillate Wildly« ist der Name eines Musikstücks der Band »The Smiths« aus dem Jahr 1985 (The Smiths 1987). In dieser Arbeit dient der Ausspruch als Agenda des Hinterfragens, Kritisierens, Unzufrieden-Seins und der Widerständigkeit, aber auch des hoffenden, fokussierten und liebevollen Mit-Werdens. »Die Zukunft ist ungewiss« und »die Vergangenheit verändert sich ständig« (Helfferich 2011: 66). Angewendet auf das Veränderungspotential eines Mit als kontinuierlichem, relationalem Werden in machtvollen Dominanzregimen, werden die hier entwickelten Gedanken zur Aufforderung eines möglichen Delinking: Oscillate Wildly in Errantry.

6. Navigation ist Werden »The activity of thinking is as relentless and repetitive as life itself, and the question whether thought has any meaning at all constitutes the same unanswerable riddle as the question for the meaning of life; its processes permeate the whole of human existence so intimately that its beginning and end coincide with the beginning and end of human life itself.« (Arendt 1998: 171)

Diese Arbeit gelangt als Reise an ihr vorläufiges Ende. Auf Reisen werden oft Souvenirs gesammelt und zur Erinnerung Fotos gemacht. Manchmal, wenn die Zeit und Umstände es zulassen, werden diese nach der Reise in ein Album sortiert, wo sie auch dafür dienen, das Erlebte zu konservieren oder in Form von Geschichten und Anekdoten später mitzuteilen. Was ist es wert, in unserem gemeinsamen Album festgehalten zu werden? Wie habt ihr diese Reise geprägt und maßgeblich beeinflusst? Sicherlich wäre diese Arbeit nicht, was sie geworden ist, wenn ich mit anderen Menschen gesprochen hätte. Es wäre ein anderes »Doing Belonging« dabei herausgekommen. Vielleicht eines, in dem es weniger um die Herausforderung der Oszillation und dafür mehr um die Unhinterfragbarkeit der Festschreibung gegangen wäre. Wer kann schon wissen, wohin ich mit Anderen gereist wäre. Mir wurde deutlich, dass wir uns einander nur annähern können, in dem wir unsere jeweilige Agenda offen legen, uns verletzbar machen, in dem wir verdeutlichen, was wir wollen und auch offen lassen, ob sich aus diesen Bedürfnissen überhaupt je ein Wir ableiten lassen kann. Wir waren und sind vereinzelt und sicher bleiben wir es auch. Und gleichzeitig waren wir verbunden, auch ohne weitergewachsene Verbindungen. Diskriminierungs- und Ungleichheitserfahrungen stehen am Anfang und Ende dieser Arbeit. Vielleicht ist dies eine Folge meiner Wahrnehmung, die sich der brutalen Macht Sozialer Ordnungen und der Gewalt, aus der sie entstehen und die aus ihr folgen, nicht entziehen kann. Und gleichzeitig habe ich gelernt, dass Klassifizierungen in ihrer Unterkomplexität Halt geben, denn sie helfen, uns zu identifizieren, uns einen Platz zuzuweisen, auch um diesen überhaupt je verlassen zu können. Nicht jedes Wir gleicht sich in der Möglichkeit, einen kollektivierten Willen zu formen und diesem auch folgen oder ihn durchsetzen zu können. Keiner kann der eigenen Haut und den eigenen

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Erfahrungen entkommen. Aber es gibt Möglichkeiten zur Transformation. Und so liegt es in der Natur des Mit-Seins begründet, sich anders gegenüber treten zu müssen. Zu verlernen und neu zu lernen. Uns dem Mit-Werden und Mit-Geworden-Sein zu widmen, statt das (isolierte) Sein als Zustand hinzunehmen. Der eigenen Position, dem eigenen Eingebunden-Sein in Zugehörigkeitsverhältnisse bewusst zu werden, um gemeinsam auch neue gestalten zu können. Sind wir jetzt, am Ende der Reise, ein Wir? Seid ihr nun ein Teil von mir und ich ein Teil von euch, auch wenn unsere Kontaktzone, die Zeit der Begegnung, längst vergangen ist? Haben wir eine gemeinsame Zukunft? Brauchen wir eine? Gehören wir gar zusammen? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass diese Arbeit nur durch den direkten, konservierten, und wieder und wieder rekapitulierten (und somit auch fiktionalisierten) Dialog mit euch entstehen konnte. Das macht sie für mich zu einem Relationalen Artefakt. Die zentralen Eindrücke der Reise arrangiere ich in diesem Abschlusskapitel als rückblickenden Bericht, den ich entlang verschiedener Fragen an mich nachzeichne. Diesen Zugang, das eigene Vorgehen und Forschungsinteresse in einem imaginierten Interview zu reflektieren, übernehme ich von dem Philosophen Leonhard Praeg und seinem Werk »A Report on Ubuntu«, das er mit eben solch einem imaginierten Dialog zwischen ihm und einer Studierenden beginnt, um auf diese Weise in sein Forschungsthema einzuleiten und auf wesentliche Fragen aufmerksam zu machen (vgl. Praeg 2014: 6ff ). In meiner Arbeit bekommt das imaginierte Interview die Funktion der Zusammenfassung, des Abschlusses und Ausblicks auf mögliche Weiterreisen. Sie soll dazu einladen, weitere Fragen zu entwerfen und sich, mit Arendts Worten, unaufhörlich dem Denken als unabgeschlossener und sich wiederholender Aktivität zu widmen. Dafür benötigt es eine Auseinandersetzung im analogen Mit, die nur außerhalb dieser Seiten stattfinden kann. Was hast du auf den vorherigen Seiten gemacht? Wo warst du überall? Ich habe mich auf den zurückliegenden Seiten der Dekonstruktion, oder, im musikphilosophischen Sinn, Dekomposition, des Phänomens Zugehörigkeit mit dem Anspruch gewidmet, das Konzept aus dem Korsett eines biologischen und binären Determinismus auf fixierte Kollektivitätsformen und Subjektverständnisse zu lösen. Bezugnehmend auf Jean-Luc Nancys Ausführungen des singulär pluralen Mit-Seins (Nancy 2004), habe ich die relationale Praxis des Doing Belonging als Enti-Tätigkeit des Mit reflektiert, die sich eindeutig individualisierbaren oder kollektivierbaren Zuordnungen entzieht (vgl. Mecheril 2003). Dafür habe ich in einem fiktoanalytischen Vorgehen (vgl. Taussig 1997; Mischke 2013) empirisches Interviewmaterial aus Gesprächen mit jungen Erwachsenen und theoretische Reflexionen miteinander verwoben, um mich Zugehörigkeit sowohl als Machtund Dominanzverhältnisse stabilisierendem Phänomen, als auch intimisiertem Welt-Verhältnis zu nähern. Wir sind nie nur uns selbst überlassen, doch ebenso wenig sind wir ausschließlich Repräsentant_innen hegemonialer oder marginalisierter Kollektive. Diese doppelte Bedeutung von Zugehörigkeit_en beschreibe ich

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als Oszillation, als Schwingungsbewegungen zwischen Anbindungen und Loslösungen im Spannungsfeld zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmungen. Begonnen habe ich dieses Vorhaben mit der Darstellung meines forschungstheoretischen und -praktischen Zugangs und der Einführung zentraler Koordinaten, die meinem Zugehörigkeitsverständnis zugrunde liegen. Dazu zählt die begriffliche Diskussion des »Da-Zu-Ge-Hörens« (vgl. Dépelteau 2008; Pfaff-Czarnecka 2012) ebenso wie die Thematisierung der materiell-diskursiven Konstruktion von Körper_n (vgl. Butler 1997), die Bedeutung phänomenologischer Perspektiven für unser Mit-Sein, die ich als Un_Wahrnehmbarkeiten und »embodied thoughts« (Rosaldo 1984: 143) erfasse, sowie die Einführung und Verwendung des zentralen Begriffes der Arbeit, der »Sozialen Navigation« in Anlehnung an den Anthropologen Henrik Vigh (Vigh 2009). Im Anschluss daran habe ich mich mit ausgewählten Theorien beschäftigt, die das Phänomen Zugehörigkeit als wirksame Grundlage und Effekt des Sozialen verstehen. Dies berücksichtigt verschiedene Pluralisierungsformen, über die Menschen kollektiviert und in ihrer Identitätsbildung und Subjektwerdung beeinflusst werden (vgl. Elias 1999). Gemeinschaft, Gesellschaft, Kultur, Nation und Habitus sind relevante diskursive und soziopolitische Kollektivierungsformen, durch die Welten organisiert und strukturiert werden. Im Anschluss an die Darstellung dieser Kollektivierungstheorien widmete ich mich Vorgängen der Singularisierung unter Berücksichtigung von Subjekt- und (narrativen) Identitätstheorien (vgl. Foucault et al. 1993). Die wechselseitige Dynamik zwischen Singularisierungen und Pluralisierungen verdeutlicht die Schwierigkeit, Zugehörigkeiten als »natio-ethno-kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten« (Mecheril 2003) zu erfassen, da so unsere gegenseitige konstitutive Angewiesenheit (Meißner 2010) immer bereits auf diese Kategorien reduziert wird. Aus der Feststellung, dass »Kategorien [...] unser Gefängnis, unser unauflösbares Zwangsverhältnis« (Lorey 2008: 4) sind und der forschungspraktischen Herausforderung, soziale Kategorien im Schreiben über Zugehörigkeiten nicht zu reifizieren, entstand das Kapitel »Mit Welten verbunden – Von Welten entrückt«. Dieser Titel steht symbolisch für die Interferenz fünf zentraler Zugehörigkeitsverhältnisse, die aus der Beschäftigung mit meinem empirischen und theoretischen Forschungsmaterial hervorgingen: die biografischen, räumlichen, emotionalen, temporalen und politischen Verhältnisse. Diese Differenzierung zielte auf die Dekonstruktion sich überlagernder, intersektionaler Ebenen des Sozialen ab und ermöglichte es, Zugehörigkeit als relationales Bedürfnis zu konzipieren, das in materiell-diskursiven Trans-Aktionen aktualisiert und geschaffen wird (vgl. Hirschauer 2014). Eine These dieser Arbeit lautet, dass ein deterministisches Verständnis von Zugehörigkeit auch ein wesentlicher Faktor für die Hartnäckigkeit und Reproduktion von Ungleichheitsverhältnissen ist. Eine Perspektive, die das (Nicht-)Handeln von Akteur_innen einerseits oder die Unüberwindbarkeit sozialer Strukturen andererseits fokussiert, kann der Komplexität und den Zwängen sozialer Wirklichkeiten nicht entsprechen (vgl. Dépelteau 2008). Um in der Analyse weder die Strukturen noch die Akteure zu be-

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vorzugen, nutze ich das Konzept Sozialer Navigation. Musik diente als Metapher und Philosophie zur Konzeptualisierung verschiedener Navigations-Modi, die für unser relationales Werden bedeutsam sind. Die Betonung von Klängen und Musik ermöglichen es, das Primat des Sehens und der Sichtbarkeiten (vgl. Mignolo 2011; Schaffer 2008) um Wahrnehmungs- und Mit-Seins-Praktiken des Hörens (vgl. Stoever 2016) und damit Denkfühlens (vgl. Escobar 2016) zu erweitern. Die musiktheoretisch-inspirierten Praktiken des Mit – rhythmisieren, schwingen, schweigen oder transformieren beschreiben somit nicht autonomes Handeln in fixierten Zugehörigkeitsverhältnissen, sondern unsere Verwobenheiten und Abhängigkeiten und damit auch die Aufrechterhaltung dieser Verhältnisse. Die Enti-Tätigkeit des Mit ermöglicht es, Struktur- und Handlungstheorie zusammenzudenken, und auf diese Weise Zugehörigkeit nicht durch eine Reduktion auf soziale Kategorisierungen und den limitierenden Umgang mit selbigen, sondern durch die Relationalität des Mit-Seins und -Werdens zu begreifen. Das Werden ist die Onto-epistemo-logie eines denkfühlenden »becoming with« (Haraway 2008), welches diese Reise in vorliegender Form auch ermöglicht und begleitet hat. Jede Relation ist auch eine dynamische Form der Übersetzung und Vermittlung. Zugehörigkeit impliziert jedoch die Vorstellung eines Zustands. Dein Ziel war es aus diesem Grund, Zugehörigkeit als Zustandsbeschreibung zu entmachten und zu re:politisieren. Ist es dann aber überhaupt noch sinnvoll und notwendig, an Zugehörigkeit als Analysekategorie festzuhalten? Während ich mit meiner Arbeit beschäftigt, von ihr genervt, in sie versunken oder zutiefst inspiriert war, fanden in der Welt außerhalb meines Textdokuments, meiner Interviews und all den Büchern kontinuierlich politische Aushandlungen über Zugehörigkeiten statt – Wahlen wurden verloren oder gewonnen, oder entzogen sich, je nach Perspektive, einer eindeutigen Zuordnung. Es wurden Debatten über Familiennachzug und Unisextoiletten geführt, während Menschen auf Booten im Mittelmeer gesunken sind, die sich auf den Weg in eine von ihnen zu gestaltende Zukunft gemacht haben. Es wurde verhandelt, wer in politischen, künstlerischen oder akademischen Zusammenhängen was aus welcher Position sagen kann, und wer besser zu schweigen habe. Unzählige materiell-diskursive Zugehörigkeitspraktiken fanden, mal explizit als solche benannt, mal schweigend ausgetragen, statt, ob auf wahrnehmbaren politischen Bühnen, in Hinterzimmern, Abstellkammern, Innenhöfen, Asylbehörden oder Clubs. Und sie haben reale und, in Form von Rassismus, Klassismus, Sexismus oder anderen Diskriminierungsformen, teils sehr gewaltvolle Auswirkungen auf Kollektive und Individuen. In der Retrospektive wird also umso deutlicher, was bereits im Koordinaten »Da-Zu-Ge-Hörigkeit« manifestiert wurde: »belonging matters« (Pfaff-Czarnecka 2012: 7). Es ist bedeutsam, weil es ein Mittel der Zuordnung ist, das soziale Ein- und Ausschlüsse verwaltet, und postkoloniale, kapitalistische und patriarchale Machtverhältnisse in materialisierten Hierarchisierungen re_produziert. Es ist aus diesem Grund notwendig, die hinter diesen Reproduktionen liegenden Mechanismen aufzudecken und sich kritisch mit der Rolle von Zugehörigkeit für die Aufrechterhaltung

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Sozialer Ungleichheiten zu beschäftigen. Normative Ordnungen reproduzieren Ungleichheiten auch entlang sozialer Erwünschtheit und Anpassung, wobei das (weiße) bürgerliche Subjekt als kategorialer Maßstab (vgl. Reckwitz 2010: 7) bzw. unwahrnehmbar gemachtes Zentrum wirkt, von dem ausgehend (Nicht-)Zuordnungen vollzogen werden. Zugeschriebene oder zugesprochene Zugehörigkeit dient damit einerseits der Legitimation und Berechtigung, Handlungen aus einer bestimmten Position heraus nicht rechtfertigen zu müssen und diese unhinterfragt zur Norm erklären zu können. Und andererseits kann die Aberkennung oder Verweigerung von Zugehörigkeitserfahrungen zu der unerfüllten und teilweise auch unerfüllbaren Anstrengung führen, unbedingt Teil sein und »dazugehören« zu wollen. Die normative Grundhaltung, die hinter der sozialen Erwünschtheit von Zugehörigkeit als Anpassung und (passiver) Teilhabe steht, berücksichtigt dabei nicht, dass (Nicht-)Zugehörigkeiten damit zwangsläufig immer entweder privilegiert sind oder marginalisiert werden. In dem ihnen verschiedene Wertigkeiten zu- oder abgesprochen werden, bekommen sie eine unterschiedliche Bedeutung im globalen oder kosmopoliten Tauschhandel. Eine, obgleich intersektionale, Analyse, die sich zwangsläufig auf soziale Kategorisierungen und deren Re_Produktion stützt, hat die Tendenz, interferierende Prozesse des (Nicht-)Dazugehörens entweder auf struktureller oder akteursbezogener Perspektive zu vereinheitlichen. Dies geschieht, wenn Kategorien, wie zum Beispiel Geschlecht oder Herkunft, zwangsläufig auf einer der beiden Ebenen statistisch und binär verdinglicht werden. Tsing bezeichnet dies als »scalable research«, der nur Daten zulässt, die in den Forschungsrahmen passen (Tsing 2015: 38). Wenn der Ausgangs- und, wenn auch vorläufige, Endpunkt wissenschaftlicher Analysen die Zuordnung und Kategorisierung ist, lässt sich ihre Verstetigung und »Re/Produktion [...] (auch, K.M.) durch kritisch-reflexive Dekonstruktion« kaum umgehen, da diese wiederum lediglich »auf reformierende Dynamiken bürgerlich kapitalistischer Gesellschaften« (Lorey 2008: 4) verweist, statt grundlegend und mutig neue Fragen zu stellen (vgl. Tsing 2015). Ein Denken des Werdens und Geworden-Seins sozialer Relationen bezieht sich daraus folgend auf den Anspruch, kollektivierte Geschichte_n und Erfahrungen kritisch zu singularisieren sowie singularisierte Geschichte_n und Erfahrungen kritisch zu pluralisieren. Die Frage, ob dann Zugehörigkeit als Beschreibung menschlicher Eingebundenheit aufzugeben sei, ist mit Verweis auf die materiell-diskursive Komplexität des Phänomens nicht eindeutig zu beantworten. Einerseits wäre das Fazit dieser Arbeit ein klares Ja, da nur auf diese Weise relationale Praktiken außerhalb ihrer normativen und deterministischen Setzung in den Fokus rücken können. Und andererseits darf die Notwendigkeit einer kritischen Zugehörigkeitsforschung für die Analyse sozialer Ungleichheits- und Dominanzregime keineswegs negiert werden. Zugehörigkeit ignorieren zu können, ist ein Ausdruck sozialer Privilegierung. Ich schlage aus diesem Grund mit der Konzeptualisierung Sozialer Navigation eine Re:Politisierung vor, welche die Dynamik und Relationalität unserer Un_Beweg-

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lichkeiten in Zugehörigkeitsverhältnissen in den Blick nimmt. Nicht die Verdichtung in Kategorien ist hierbei das Ziel, sondern das Eröffnen von Denk-, Kritik- und Aktivitätsräumen unter den Bedingungen sozialer Ungleichheit. Diese Räume lassen sich nicht auf Vereinheitlichungen reduzieren, ohne dabei beliebig zu werden. Auf diese Weise wird Zugehörigkeit als anthropologisches Grundbedürfnis ernst genommen, ohne es jedoch als solches außerhalb hegemonialer Normierungen zu verorten. Die Re:Politisierung des Phänomens liegt auch darin begründet, es für die Erfassung soziale Prozesse nicht obsolet zu machen, sondern es vielmehr als klebrige Bindung an die Norm (Ahmed 2004b: 89ff ) und Reproduktion des Gewohnten insbesondere für Gesellschaftskritik und soziale Transformation ernst zu nehmen. Daraus ergeben sich notwendige Auseinandersetzungen darüber, wem es freisteht, sich von machtvollen Einbindungen zu entfernen oder von deren vermeintlicher Unwahrnehmbarkeit zu profitieren. Wann und unter welchen Bedingungen ich als Vertreterin eines Plurals gesehen werde, hängt auch von den mir zur Verfügung gestellten und umsetzbaren Möglichkeiten ab, auf verschiedene Weisen sichtbar oder unsichtbar (»opaque«) zu werden, wie es Glissant fordert (Glissant 2010: 194), oder auch hörbar und gehört zu werden (vgl. Steyerl 2002). Eine kritische Zugehörigkeitsforschung muss sich also nicht nur mit Möglichkeiten der »Kollektivität nach der Subjektkritik« ( Jähnert et al. 2014) beschäftigen, sondern gleichermaßen Kollektivitätskritik betreiben, indem die machtvolle Hervorbringung und die Ein- und Ausschlussmechanismen konventioneller Pluralisierungen hinterfragt werden. Dies schließt auch ein, dass wir uns genau ansehen, welche Ursachen und Effekte die Singularisierung und Kollektivierung des Menschen für die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung hat. Beispielsweise attestiert Frederic Jameson einem, zwischen Egoismus und Pseudo-Kollektivität mäandernden, neoliberalen Singular eine »subjektive Not«, die sich zwischen »genocide« und »luxury hobbies« bewegt ( Jameson 2015: 130). Aus dieser Dynamik fordert er eine notwendige qualitative, ontologische und methodologische Unterscheidung zwischen individuellen und kollektiven Erfahrungen. Gleichzeitig verweist er aber auch auf die Unmöglichkeit dieses Vorhabens: »To project either of these impossible tasks is Utopian; to refuse them is frivolous and nihilistic. But it is the political dilemma we must face in conclusion.« (Ebd.). Der Versuch, dieses politische Dilemma zu überwinden, kann beispielsweise über den von Maisha Eggers vorgeschlagenen »Kollektivierten Eigen-Sinn« (Eggers 2007) geschehen. Unter kritischer Berücksichtigung neoliberaler, kulturalisierender, vergeschlechtlichender und rassifizierender Pluralisierungs- und Singularisierungspraktiken besteht dann die Herausforderung an relationale Theorie- und Empiriebildung, die Kriterien und Bedingungen dieser Praktiken so zu reflektieren, ohne sie weder als strukturell oder individuell, noch als liberal oder kommunitaristisch zu vereinheitlichen. Am Beispiel möglicher Formationen nicht-individualisierter oder individualsierbarer Imaginationen Sozialen Lebens, kollektivierter Kreativität und politischer Möglichkeitsräume (vgl. Gilbert 2014),

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wie den »Commons« (Gilbert 2014) oder der »Assemblage« (vgl. Landa 2007; Butler 2015), wird ein Mit außerhalb eines deterministischen Zustands des »Entweder-oder« nicht nur denkbar, sondern auch möglich. Das kritische Potential relationaler Forschung zeigt sich also vor allem auch daran, mit welchen Möglichkeiten dekolonialer Dezentrierung und sozialer Transformation sie sich eben dieser hegemonialen westlichen Denktradition der Binarität mit innovativen empirischen Studien entziehen kann. Deine Arbeit ist der Dekonstruktion und Re:Kontextualisierung der Aussagen: »Ich bin«, »Du bist«, »Wir sind« gewidmet. Rosi Braidotti, Karen Barad und Donna Haraway sind Vertreterinnen einer Theorie des Posthumanen, bei der Verflechtungen und nicht-biologische Verwandtschaftspraktiken im Mittelpunkt stehen, ohne den Menschen als zentralen Fokus zu privilegieren. Daran lassen sich auch kosmopolitische Visionen einer Weltgesellschaft anschließen. Welche Bedeutung haben diese Perspektiven für eine Theorie Relationalen Werdens und die Annäherung an die Frage, »Wer ist Wir?«? Nancy sagt, »Wir« ist »jedes Mal ein anderer, jedes Mal mit anderen« (Nancy 2004: 65). In ihrer Radikalität ist diese Aussage anschlussfähig an die häufig unterstellte Beliebigkeit und Ahistorizität eines postmodernen Relativismus. Aus diesem Grund gilt es, sie einer kritischen Kontextualisierung zu unterziehen. Wie verdeutlicht wurde, ist jedes »Wir« ebenso beliebig und fragwürdig, wie es machtvoll und notwendig ist. Es symbolisiert als unterkomplexe Variable den Versuch, ein bezeichenbares Zentrum zu identifizieren, ohne jedoch auf die diversen Praktiken, die zu seiner Entstehung und Aufrechterhaltung beitragen, zu verweisen. Jede Bestimmung ist eine Begrenzung, die nie auf alle Bestandteile, Bedürfnisse und Vorstellungen eingehen kann (vgl. Jähnert et al. 2014). In den Theorien des Posthumanismus rückt die Aufmerksamkeit auf eben jene komplexen Verwobenheiten materiell-diskursiver Praktiken (vgl. Barad 2003), die Welt_ en erst hervorbringen. Die Autor_innen denken Verbundenheiten nicht in den Gegensatzpaaren Natur/Kultur, Körper/Geist, Mensch/Umwelt oder eben Zugehörig/Nicht-Zugehörig. Sie stellen sich gegen eine binäre Weltwahrnehmung (vgl. Schadler 2016), da sie Beweglichkeit und Dynamik »für das unabschließbare Werden der Welt« (Barad 2012: 95) voraussetzen. Ich habe diese Arbeit mit einem Zitat Nietzsches begonnen, in dem er die Entdeckung des Menschen als Herausforderung bezeichnet, die vielleicht nie erreicht werden kann. Dem fügt er hinzu: »Ein Versuchen und Fragen war all mein Gehen: - und wahrlich, auch antworten muss man lernen auf solches Fragen! [...] Den Weg nämlich – den giebt es nicht.« (Nietzsche 2011: 216). Würde ich diese Arbeit noch einmal schreiben, mit meinem jetzigen Wissen, oder bewussterem Unwissen, den entstandenen Fragen und wahrnehmbaren Lücken, würde ich den Menschen möglicherweise immer noch ins Zentrum meines Interesses rücken. Eine umfassendere Studie über die ihn konstituierenden Relationalitäten würde ich jedoch um ethnografische Methoden erweitern, die es mir ermöglichen, den Menschen in seinem Umfeld so zu begleiten, dass ich die »concrete forces or material variables that compose it and

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sustain it« (Braidotti 2006b: 183), die Dynamiken seines Werdens in ihrer materialisierten Komplexität in Verbindung mit ihrer sprachlichen Reflexion, Narrativität und Erzählbarkeit, umfassender berücksichtigen kann. Das ist sicherlich das größte Dilemma dieser Arbeit: ich wende mich einem singularisierten, sprachfähigen Ego zu, um genau dessen vermeintliche Isolierung und Egozentrierung kritisch zu hinterfragen. Jede Annäherung an ein Werden und Geworden-Sein kommt nicht ohne die raum-zeitliche Dis-Identifikation spezifischer Seins-Formen normierter Gleichheiten aus. Unter Berücksichtigung des Werdens und Geworden-Seins als biografische, räumliche, emotionale, temporale und vor allem auch politisierte Prozesse, müssen die Fragen »Wie bin ich/wie sind wir geworden« und »Wie kann ich/können wir werden« insbesondere bezogen auf ihre jeweiligen Materialisierungen im Mittelpunkt stehen (vgl. Braidotti 2006b). Für eine solche Verschiebung sind die Perspektiven des Posthumanismus herausfordernd und bereichernd. Sie ermöglichen ein Nachdenken darüber, was es bedeutet, (zu) etwas, (zu) anderen, oder (zu) sich selbst (zu) gehören (zu können), wenn Singular- und Pluralkonstruktionen als komplexe, diskursiv-narrative, bio-politische, technisierte und sozio-kulturelle Aspekte des Mit-Seins auch alles »jenseits des Menschen« (vgl. Braidotti 2016) einbeziehen. In der konstitutiven Angewiesenheit und unausweichlichen Verbundenheit von menschlichen und nicht-menschlichen Akteur_innen wenden sich diese Forschungsperspektiven gegen Paradigmen, die den Individualismus zum Kern ihres reflexiven Denkens erklären (vgl. Tsing 2015). Jegliche soziale Formen werden in diesem posthumanen Verständnis als nomadische Gefüge und Subjekte, die »verleiblicht und eingebettet, [...] relational und affektiv« (Braidotti 2016: 37) sind, und damit strikt als Beziehungssubjekte, konzipiert. Diese posthumanen Beziehungsgefüge erfordern eine kritische Berücksichtigung der sie konstituierenden vielfältigen anwesenden Abwesenheiten und abwesenden Anwesenheiten, die jenseits gegeneinander abgrenzbarer natio-ethno-kultureller Mächte verortet sein müssen, da sie einer solchen Fixierung nicht standhalten können. Es ist die Aufgabe des jeweiligen Forschungsvorgehens nachzuvollziehen, auf welche Weise das Eine immer bereits Anteil an der Konstitution des Anderen hat und nach welchen Parametern sich sowohl das Eine als auch das Andere überhaupt angemessen erfassen lassen (vgl. Nancy 2004: 64ff ). Dies erfordert auch, neue Wege in der wissenschaftlichen Annäherung zu gehen, welche die unterschiedliche Zirkulation von Artefakten, Präsenzen und Aktivitäten in virtuellen und analogen Räumen ebenso berücksichtigen, wie die Diskurse darüber. Zugleich gilt es unter Berücksichtigung der Theorien des Posthumanismus die Methoden und Bedingungen der Wissensproduktion kritisch zu beleuchten – welche thematischen Setzungen werden, mit welchem Interesse, reproduziert? Wie und mit wem werden bestimmte Themen wiederum (nicht) beforscht? Diese Fragen legen eine Perspektive nahe, die die Welt in ihrer Gesamtheit als Ort der Anbindung und Loslösung reflektiert. Charakteristisch für eine Theoretisierung solcher kosmopolitischer und weltgesellschaftlicher

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Ideen ist die Frage nach der Auflösung, schwindenden Einflussnahme oder dem steten Wandel lokaler Kollektive für die Verortung von Individuen (vgl. Calhoun 2003). Die kosmopolitische Perspektive scheint für die Erfassung einer viel zitierten Transnationalität und des Einflusses von Globalisierungsprozessen auf Alltagspraktiken und (Nicht-)Verortungen fruchtbar zu sein (Yuval-Davis 2011: 145ff ). Der Zusammenhang zwischen posthumanen Zugehörigkeitsvorstellungen und Kosmopolitismus ist insbesondere vor dem Hintergrund der Vision einer Weltgemeinschaft naheliegend: verändern sich gewohnte – kollektive und diskursive – Bezüge auf lokaler Ebene, steht immer noch das große Ganze – die Welt – als Verortungsangebot zur Verfügung. Doch dieser Welt-Bezug ist keineswegs ein homogenes, unpolitisches Projekt und betrifft verschiedene Personen in verschiedenen sozialen Positionen auf verschiedene Weise (ebd.). Auch, und insbesondere, eine Beschäftigung mit kosmopoliten Theorien muss sich aus diesem Grund kritisch mit der Gefahr ihrer Elitisierung (vgl. Pfaff-Czarnecka 2012: 69) und der ökonomischen Macht, die hinter Behauptungen und Annahmen einer Weltbürgerschaft stehen, auseinandersetzen. Der vergemeinschaftenden Vision einer globalen »community« stehen die unterschiedlichen real-politischen und ökonomischen Bedingungen und Möglichkeiten gegenüber, die ihre jeweilige Umsetzung tatsächlich ermöglichen oder verhindern. Auch das »kosmopolitische Konzept der Weltbürgerschaft« neigt dazu, »Diskriminierungserfahrungen und Rassismen [...] zu verdrängen« wenn es suggeriert, dass es »sich um eine aufgeklärte Position an der Spitze des gesellschaftlichen Fortschritts« (Messerschmidt 2009: 46) handele. Eine kritische Beschäftigung mit kosmopolitischen Ideen musst die Diaspora-Forschung und die Bedeutsamkeit von Gemeinschaften für die Anerkennung und Wahrnehmung von Marginalisierungs- und Unrechtserfahrungen berücksichtigen (vgl. Mignolo 2000). Die Verbundenheit einer Festival-Gemeinschaft, die sich für eine Woche als gesellschaftliche Utopie erlebt, hat kaum die gleiche politische Bedeutsamkeit wie die einer Gemeinschaft von Sinti oder Romnja, die gewaltvollen Ausschließungserfahrungen und Machtverhältnissen ausgeliefert sind, deren territoriale Zerstreuung aber als Lebensgefühl der »Ungebundenheit« vermarktet werden kann. Auch die Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe kritisiert die »›postpolitische[n]‹ Vision« (Mouffe 2015: 7) eines kosmopolitischen Weltzugangs, da diese Vision die »Konfliktdimension im gesellschaftlichen Leben« (ebd.: 10) ausblendet. Sie attestiert »der unbefragten Hegemonie des Liberalismus« (ebd.: 17) ein »Unvermögen, politisch zu denken«, da diese die »Überwindung des Wir-Sie-Gegensatzes« (ebd.: 22) zum Ziel hat, statt Kanäle für eine produktive agonistische Aushandlung von Konflikten bereitzustellen. Da Konflikte aber unweigerlicher und notwendiger Bestandteil des Sozialen sind, sieht sie in einer »kosmopolitischen Demokratie« die Gefahr der Hegemonie einer »einzigen Hypermacht« (ebd.: 14). Dies kann als Plädoyer für Zugehörigkeit im Sinne einer politischen Selbstbehauptung verstanden werden.

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Hierfür kann die konsequente Einbeziehung des Posthumanen als Denkraum helfen, soziale Kategorisierungen und Ein- und Ausschlussprozesse nicht in der Tradition eines »aufgeklärten« westlichen Liberalismus, der ein rationales Ego in den Mittelpunkt stellt, zu isolieren, sondern das Zusammenspiel komplexer menschlicher und nicht-menschlicher Kräfte im Sinne eines Pluriverse zu berücksichtigen. Musik und Klänge lassen sich hierfür weiter elaborieren, da ihre Funktion eben auch darin besteht, »übers klingende Erlebnis, über die eigene Struktur hinauszuweisen auf Strukturen, das heißt auf Wirklichkeiten, und das heißt: auf Möglichkeiten um uns und in uns selbst.« (Lachenmann 1996: 278). Statt sich auf die Suche nach einer möglichen Wahrheit oder der Richtigkeit einer Idee zu begeben, muss, unter Verbindung künstlerischer Praktiken, ökonomischer Bedingungen und Zukunfts-Imaginationen, »anderswo, in einem anderen Bereich«, »eine ganz andere Idee« gesucht werden, »so daß zwischen beiden etwas geschieht, was weder in diesem noch in jenem steckt.« (Deleuze et al. 1980: 17). So lassen sich beispielsweise Verbundenheiten zwischen Menschen, Technologien und Ökologien im Sinne mannigfaltiger Umwelten auch in Soundpraktiken und sonic relations weiterdenken. Der in dieser Arbeit vorgeschlagene Ansatz, die Prozesse der Anbindung und Loslösung als soziokulturelle Oszillation zu verstehen, verhilft einer kritischen Wahrnehmungstheorie, nicht spezifische Entitäten als fixierte Pole, zwischen denen Bewegungen stattfinden, zu begreifen, sondern die Dynamiken ihrer Produktion, Erhaltung und Veränderbarkeit im Zusammendenken menschlicher und nicht-menschlicher Kräfte wahrnehmbar zu machen. Ein Ziel kritischer Wissenschaft sollte es immer auch sein, eine Anschlussfähigkeit an die soziale Wirklichkeit außerhalb akademischer Erkenntnisgenerierung herzustellen. Wie kann ein posthumaner Ansatz »Relationalen Werdens« in pädagogische Praxisfelder übertragen werden? Autonomie, Identität und Vernunft sind erklärte Ziele institutioneller Bildungsbemühungen (vgl. Pongratz et al. 2004). Diese Ziele müssen unter einer Prämisse der Enti-Tätigkeit des Mit neu verhandelt werden. In relationalen Ansätzen, die sich beispielsweise an einer Kritik der Kompetenzmessung, wie sie unter anderem durch die PISA Studien vorgenommen wird, abarbeiten, geschieht dies bereits. Diese Ansätze kritisieren die Annahme eines autonomen Subjektes als autonom Lernenden (vgl. Clemens 2014) in einem System kompetitiven Individualismus (vgl. Pongratz 2017). Unter den Schlagworten Entrepreneurship und soziales Unternehmertum finden auch ökonomische Ansätze des individualistischen Wettbewerbes immer stärker Einzug in Bildungskontexte (vgl. ebd.). Auch wenn eine tiefgehende Analyse dieser gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen hier nicht stattfinden kann, ist es notwendig, für eine weitere Beschäftigung auf sie zu verweisen. Diese Entwicklungen betreffen maßgeblich strukturelle Fragen der Bildungsorganisation und -institutionen, ebenso wie die finanziellen Ressourcen und Möglichkeiten, die für Bildungsprozesse zur Verfügung stehen und das Bildungsverständnis, was ihnen zugrunde liegt. So engagieren sich beispielsweise Stiftungen und Unternehmen gegen soziale (Bildungs-)Ungleichheit, für die Erhöhung der Chancengerechtigkeit und bessere

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Bildungserfolge marginalisierter Schüler_innen, bei gleichzeitiger Internationalisierung und Ausbau eines »Bildungs-Wettbewerbs« durch globale Vergleichsstudien, die ihrerseits Ausgrenzung zur Folge haben. Eine auf diese Weise fördernde Pädagogik muss sich selbstkritisch mit ihrem Beitrag zu »machtvollen Differenzierungsprozessen« auseinandersetzen, durch die sie »verschiedene Subjektpositionen und Selbstverständnisse« (Hartmann 2013: 266) mit hervorbringt. Für die Analyse vielfältiger Einflussfaktoren insbesondere auf formale Bildungsprozesse bedeutet das, »nicht statistische Analysen von individuellen Merkmalen durch[zu]führen, sondern immer soziale Netzwerke mit den in ihnen verfügbaren und verteilten Ressourcen« und »verknüpften Einschränkungen« (Fuhse 2010: 179) zu betrachten. Das schließt auch ein Bewusstsein für die Verwobenheiten und Reproduktionen von, durch derartige Analyse- und Fördervorhaben bedingte, Ungleichheitsordnungen ein (vgl. Baker 2012). Pädagogische Kontexte sind gerade auch durch ihre Institutionalisierung unweigerlich Kontexte der Zuordnung und formal initiierte Bildungsbemühungen streben immer eine spezifische Sozialisation und Kulturalisierung, eine systematische Anpassung, ihrer Akteur_innen an (vgl. Raithel et al. 2009: 59ff). Statt Bildung als »kritisch-dekonstruktives Projekt« (Hartmann 2013: 274ff ) mit dem Ziel eines individuell-befreiten Lebens zu konzipieren (ebd.), wäre nun genau das Gegenteil im Sinne einer relationalen und dekolonialen Bildung: in der radikalen Anerkennung und Reflexion der Hervorbringung von Welt_en, sollte eine machtkritische Verbundenheit statt eine neoliberale Egozentrierung resistenter Individuen im Neoliberalismus zum Ziel erklärt werden. Dies kann nicht ohne die gleichzeitige Berücksichtigung interferierender, postkolonialer, patriarchaler und neoliberaler Praktiken erfolgen. Eine Pädagogik der Interkulturalität, Diversität oder Migration lässt sich unter dieser Prämisse dann nicht mehr aufrechterhalten, da sich ihre Themen notwendigerweise aus der Erfassung natio-ethno-kultureller Grenzziehungen ergeben (vgl. Mecheril et al. 2013; Mecheril et al. 2010b; Hamburger 2009). Die Aussonderung und Verbesonderung dieser Themen in Sub- oder Teildisziplinen (vgl. Mecheril et al. 2013: 13ff ) verkennt jedoch die materiell-diskursiven Bedingungen ihrer globalen menschlichen, technischen und ökologischen Ursachen und Ausdrucksformen. Werden kritischer Kosmopolitismus und Posthumanismus konsequent zusammengedacht, sind Queerness und Dekolonialität keine Metaphern zur Kritik an Verhältnissen, sondern konkrete Handlungsmaximen. Im Sinne einer darauf begründeten relationalen Pädagogik des Mit Handelnde erkennen ihre Verantwortung in der Aufrechterhaltung und Reifikation sozialer Verhältnisse ebenso, wie sie dann »queere Einsprüche« (Hartmann 2013) für eine kritische Erkenntnisgewinnung ernst nehmen. Reflexive Offenheit und Kreativität ermöglichen es, vielfältige Themen, Perspektiven, Hör- und Fühlbarkeiten, einzubeziehen. Denn »schließlich und letztendlich [besteht, K.M.] die grundsätzliche Pflicht der Pädagogik« auch darin, »zukunftsfähige Prinzipien aufzuspüren« (Klepacki 2010: 272). Welche Formen diese »Zukunftsfähigkeit« annehmen kann, muss Bestandteil einer denkfühlenden Analyse sein.

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Welche offenen Fragen beschäftigen dich und welche Impulse trägst du aus deiner Arbeit? Für die Beantwortung dieser Frage müsste ich eigentlich in jedes Kapitel, jeden Abschnitt dieser Arbeit eintauchen und alles Nicht-Gesagte und Unvollständige zum Vorschein holen. Vielleicht ist genau das ein zentrales Ziel jedes wissenschaftlichen Arbeitens, nämlich am Ende mit mehr Fragen aus dem Prozess zu gehen, als selbiger Antworten liefern konnte. Einer der wichtigsten Impulse dieses Prozesses ist die Feststellung, dass Hegemonie nicht von ihrer Popularität abhängt, sondern von der »Normalisierung der Idee [...], es gäbe keine Alternativen« (Smith 1998: 232). »What´s These Worlds Coming To?« fragen Jean-Luc Nancy und der Astrophysiker Aurélien Barrau in einem publizierten Gespräch (Nancy und Barrau 2015). Trans-Aktions- und Netzwerkanalysen stellen heraus, das wir uns bevorzugt in Systemen der Gleichheit bewegen. Algorithmen sind also keine neuen Phänomene der Ära Internet, sondern womöglich in einem uns innewohnenden Bedürfnis nach Ähnlichkeit verankert. Bezogen auf das Pluriverse, oder eine Kosmologie des Pluriversalen (vgl. Querejazu 2016), fragen Nancy und Barrau nach der Aneignung und Montage möglicher Welten und welche davon ihre sein kann (vgl. Nancy und Barrau 2015). Diese Frage offenbart eine unauflösbare Ambivalenz: sie ist unbedingt zu stellen und ebenso zurückzuweisen, da jede mögliche Welt zwangsläufig ihre (und unsere) sein wird. Zukunft ist jetzt, es gibt kein kommendes, auf das zugesteuert werden kann, ohne das Jetzt als Möglichkeitsraum des Werdens ernst zu nehmen. Der Potentialität des »Becoming-with« kann nur gerecht werden, wer auch ein »potential-not-to-be« (Waltham-Smith 2016: 102) zugesteht. Sonst wird aus der »genuine potentiality« (ebd.) lediglich ein Zwang zur Realisierung wartenden Potentials, also des immer bereits irgendwie Intendierten und Vorhandenen (ebd., eig. Übers.). Die Konzeptualisierung Sozialer Navigationen als Praktiken des Mit handelt auch von der Kritik identitärer Separierungsprozesse im Glauben an eine unvermeidliche und notwendige Individualisierung des Sozialen. Eine Bedingung des Individualisierungsbestrebens ist auch der Vergleich und die Bewertung dieser Vergleiche. Für kapitalistische und prekäre Praktiken der Ver_Wertung besteht hierin eine treibende Kraft der Umsatzsteigerung. Andreas Reckwitz spricht in diesem Zusammenhang von der »Gesellschaft der Singularitäten« im »Kulturkapitalismus« (Reckwitz 2017), welcher »authentische Subjekte mit originellen Interessen und kuratierter Biografie« zum Maß aller Dinge erklärt (ebd.). Bezogen auf die Kulturalisierung und Kommodifizierung des Sozialen stellt sich spätestens dann die Frage nach der Bedeutung vermeintlicher Authentizität des Individuellen, wenn Menschen sich keine Krankenversicherung oder Wohnraum (mehr) leisten können. Hier fließen Zugehörigkeitsverhältnisse in der Brisanz lokalisierbarer Zeitgenossenschaft zusammen. Eine der relevantesten Impulse meiner Arbeit ergibt sich aus eben jener aufrichtigen Potentialität, Alternativen zu denken und der Verantwortung von Wissenschaft, diese mit ihrem Werkzeug entwerfen zu helfen. Ich habe diese Arbeit im Kapitel »Wissenschaffende Prozesse« mit dem Verweis auf Glissants »Denken der Spur« (Glissant 2005: 13) begonnen.

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Die für mich im Verlauf des Forschens am bedeutungsvollsten gewordenen Spuren sind Tonspuren, denn Musik symbolisiert die Un_Beweglichkeiten eines Relational Becoming. In Form von »Tracks« gestalten Tonspuren nicht eine spezifische und fixe Form der sozialen Welt, sondern »mehrere Elemente einer Bewegung« ( Jochen Bonz 2008: 127 zit. in Ismaiel-Wendt 2011: 55). Tonspuren befreien in ihrer Vielschichtigkeit von »kulturelle[r] [...], ethnisierte[r], heteronormierte[r] und soziale[r] Überdeterminierung« (ebd.) und bringen vielfältige neue Verbindungen hervor. »Nach der Dekonstruktion kommt das Spiel« (Ismaiel-Wendt zit. in Alisch 2012): Es ist ein Spiel mit vielfältigen Formen von Chaoswelten. Dieses Spiel berücksichtigt Poesie, Musik, Fotografie, Tanz und die Vielfalt kreativer Produktions-, Auslegungs-, Ausdrucks- und Umgangsformen mit diesen Welten. Es bezieht unsere affektive Leiblichkeit ebenso ein, wie es Räume für deren gleichzeitig zentrische und exzentrische Positionierung schafft. Illustriere ich das am zentralen Gedanken meiner Arbeit – am Beispiel einer Philosophie des Klangs Zugehörigkeit als Praktiken des Mit zu erfassen – geht es in der Komposition nicht darum, notwendigerweise Gleichklang oder Harmonie zu erzeugen. Judith Butler stellt dazu, in Anlehnung an Hannah Arendt, fest: »To act in concert does not mean to act in conformity.« (Butler 2015: 157). Gerade Kakophonien und Dissonanzen machen die Un_Möglichkeiten von Bewegungen und die Veränderbarkeit der Welten für uns wahrnehmbar: so wie wir hören können, wie und was wir geworden sind, können wir auch hören, was und wie wir werden können. Wir spielen erneut zusammen, mit den gleichen Karten wie zu Anfang. Doch statt »odd one out« heißt das Spiel nun »ir_relation«. Ich erzähle euch von der fantasievollen Gruppierung imaginierter Tiere des Schriftstellers Jorge Luis Borges. Er unterscheidet »a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, 1) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen« (Borges 1966: 212). Unsere Aufgabe ist es, aus unseren Karten un_mögliche Verbindungen herzuleiten. In welcher Beziehung stehen die Personen und Dinge zueinander? Wie sind sie das geworden, was wir von ihnen wahrnehmen, und wie können sie etwas werden, von dem sie, und wir, noch nichts wissen? Wieder sehen wir Orange, Birne, Apfel, Banane und einen Schuh. Ebenso wie eine Postfiliale, Bäckerei, Optiker, Zeitschriftenladen und eine Polizeistation, sowie ein Kind, eine junge Frau, einen jungen und einen älteren Mann. Deren Mit und Ohne ist so divers, wie für uns un_wahrnehmbar. Uns fallen Begriffe ein, die bereits in dieser Arbeit an unterschiedlichen Stellen vorgekommen oder auch neu sind. Wir sammeln sie auf einer Liste. Nicht alle existieren als Verben, doch das hindert uns nicht daran, sie als Praktiken des Mit zu imaginieren. Da stehen nun: polyfon, kakofon, liminal, oszillieren, transversal, verstärken, opak, emergieren, kontingent, interferieren, mäandern, umher-irren und pluriversal. Wir nutzen sie als Einladung, mit ihnen nicht nur die Dinge auf den Karten zu kombinieren, sondern auch ihre vermeintlichen Eindeutigkeiten auf den Kopf zu stellen und auf mögliche Un_Wahrnehmbarkeiten zu befragen.

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Foucault schreibt über Borges’ Taxonomie: »Bei dem Erstaunen über diese Taxonomie erreicht man mit einem Sprung, was in dieser Aufzählung uns als der exotische Zauber eines anderen Denkens bezeichnet wird – die Grenze unseres Denkens: die schiere Unmöglichkeit, das zu denken.« (Foucault 1974: 17). Meine Arbeit entspringt der vermeintlichen Unmöglichkeit eines solchen anderen Denkens. Sie ist dem Zauber des Staunens und der Fragen gewidmet.

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Soziologie Sighard Neckel, Natalia Besedovsky, Moritz Boddenberg, Martina Hasenfratz, Sarah Miriam Pritz, Timo Wiegand

Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit Umrisse eines Forschungsprogramms Januar 2018, 150 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4194-3 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4194-7 EPUB: ISBN 978-3-7328-4194-3

Sabine Hark, Paula-Irene Villa

Unterscheiden und herrschen Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart 2017, 176 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3653-6 E-Book PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3653-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3653-6

Anna Henkel (Hg.)

10 Minuten Soziologie: Materialität Juni 2018, 122 S., kart. 15,99 € (DE), 978-3-8376-4073-1 E-Book: 13,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4073-5

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Soziologie Robert Seyfert, Jonathan Roberge (Hg.)

Algorithmuskulturen Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit 2017, 242 S., kart., Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3800-4 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3800-8 EPUB: ISBN 978-3-7328-3800-4

Andreas Reckwitz

Kreativität und soziale Praxis Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie 2016, 314 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3345-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3345-4

Ilker Ataç, Gerda Heck, Sabine Hess, Zeynep Kasli, Philipp Ratfisch, Cavidan Soykan, Bediz Yilmaz (eds.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Vol. 3, Issue 2/2017: Turkey’s Changing Migration Regime and its Global and Regional Dynamics 2017, 230 p., pb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3719-9

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