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German Pages 348 Year 2014
Tobias Cheung Organismen. Agenten zwischen Innen- und Außenwelten 1780-1860
Tobias Cheung lehrt Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in Wissenschaftsgeschichte, Philosophie, Literatur, Ostasienstudien und Architekturtheorie.
Tobias Cheung
Organismen. Agenten zwischen Innen- und Außenwelten 1780-1860
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Inhalt
Vorwort | 9 I.
Einleitung | 11
II.
Erregungszustände. Cullens und Browns lebendige Systeme | 19
1. 2.
Cullens Regulationssystem | 20 Browns Erregbarkeitsprinzip | 29
III. Hufelands selbsttätiger Organismus | 43 1. 2. 3.
Selbsterhaltung und Selbsttätigkeit | 46 Zeugungsprozesse | 54 Die Heilkunst innerer und äußerer Lebensbedingungen | 64
IV. Treviranus’ innere Gleichförmigkeit | 73 1. 2.
Innen und Außen, oder die »Selbsttätigkeit« lebender Körper | 75 Der große Zyklus lebendiger Körper im »allgemeinen Organismus« | 83
V.
Brandis’ Grenzflächen | 89
1. 2. 3.
»Aneignung« und »Entfernung« | 90 Grenzflächen | 95 »Regulatoren« von Innen- und Außenwelten: Pflanze, Tier, Mensch | 100
VI. Schellings Prozesslogik organismischer Innen- und Außenwelten | 107 1. 2.
Individuationsprozesse | 109 Die »doppelte Außenwelt« des »Organismus« | 115
VII. Burdachs Normalzustand | 119 1. 2. 3. 4.
»Richtungen« des »Daseyns« zwischen Innen- und Außenwelten | 120 Die »Art des Daseyns« individueller Organismen | 125 Normalität und Abnormität, oder Gesundheit und Krankheit | 129 Tier und Mensch | 134
VIII. Der Gebrauch des Lebens. Cabanis und Lamarck | 137 1. 2.
Cabanis’ Wissenschaft des Menschen | 138 Lamarcks philosophische Zoologie | 179
IX. Milieu und Organismus. Broussais, Blainville, Comte und Bernard | 217 1. 2. 3. 4.
Broussais’ physiologische Doktrin | 218 Blainvilles Existenzbedingungen | 238 Comtes proleptisch-reaktive Organismen | 249 Bernards Widerständigkeit des »inneren Milieus« | 277
X.
Schlussbetrachtungen | 297
XI. Literatur | 303 XII. Personenregister | 339 XIII. Sachregister | 343
… si l’idée de vie est inséparable de celle d’organisation, elle l’est au même degré de celle du milieu en relation déterminée avec l’organisme. Charles Robin
Vorwort
In direktem Anschluss an meine Arbeiten zu Res vivens. Agentenmodelle organischer Ordnung 1600-1800 (2008), geht es mir in der vorliegenden Untersuchung in einem Zeitraum von 1780 bis 1860 um eine historische Skizze der Innen-Außenwelt-Problematik individueller Organismen – des Hineinragens der Außenwelt in die Innenwelt eines organischen Körpers und dessen Wechselwirkungen mit ihr –, und zwar ausgerichtet an einer Prozesslogik, die ihn umgreift, die seine Grenzen in Frage stellt und sie doch zugleich wieder gegen eine Außenwelt etabliert, der er als ein selbstaktiver, sich von ihr ablösender Innenraum widersteht. Das Faszinierende an dieser diskursiven Figur, die gleichermaßen französische Ideologen und deutsche Idealisten begeisterte, lag und liegt in der Erwartungshaltung, durch sie einen explanativen Apparat zu gewinnen, dessen Dimensionen sich von der Entstehung organisierter Körper bis zu ihren Vergesellschaftungsformen erstrecken. Durch den Fokus auf die Immanenz von Innen-Außenwelt-Verhältnissen und ihrer auf Reiz-Reaktions-, Gleichgewichts- und Reproduktions-Schemen beruhenden Dynamik schien es, im Zusammenspiel mit einer sich formierenden organischen Chemie, möglich, im gleichen Atemzug Unlebendiges und Lebendiges aufeinander zu beziehen und voneinander abzugrenzen, Gesundheit und Krankheit als normale und anormale Zustände auszuweisen, assimilative und perzeptiv-reflexive Operationen ineinander übergehen zu lassen, Kommunikationsmodelle an Grenzflächen zu binden, durch die hindurch das Innere-Eigene und das ÄußereFremde miteinander in Kontakt treten, indem sie das jeweils andere in sich hinein transformieren, und Modifikationen aus der Geschichte der Wechselwirkungen zwischen inneren Ordnungen und ihren Außenwelten zu erklären. Schellings Naturphilosophie und Comtes Positivismus können in diesem Sinne als Versuche angesehen werden, den scheinbar unbegrenzten Horizont dieser Prozesslogik in eine Denkform zu gießen; zugleich weitet sich im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts ihr Anwendungsbereich immer weiter aus und verbindet sich mit Soziologien, Ökologien, Ökonomien, Entwicklungs- und Evolutionstheorien.
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Organismen. Agenten zwischen Innen- und Außenwelten 1780-1860
Am Leitfaden einer sich neu etablierenden, von der Naturgeschichte bis in die Pathologie reichenden Physiologie führt die Untersuchung den Leser zu den Stationen eines Weges, der – ohne der einzig mögliche zu sein – sowohl die komplexe diskursive Konstellation des historischen Moments markiert, durch den sich die Innen-Außenwelt-Problematik individueller Organismen vom ausgehenden achtzehnten Jahrhundert an im schnellen Schritt öffnet, als auch, an seinen Grenzen, die Weite des Felds sichtbar macht, die aus der Öffnung resultiert. An dieser Stelle möchte ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die durch ihre Förderung während meiner Zeit als Heisenberg-Stipendiat die Arbeit an verschiedenen Orten und Instituten ermöglichte – hier wären besonders das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und das Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu erwähnen – und dem Umfeld von Familie, Freunden und Kollegen danken, deren Unterstützung und Kritik mir half, den Weg bis zur letzten Seite zu gehen.
I. Einleitung
In seinen Ideen zur Bearbeitung einer Geschichte der Physiologie (1815) entwickelt Emil Osann, der als Arzt zusammen mit Christoph Wilhelm Hufeland in Berlin arbeitet, die Grundlagen einer Wissenschaft, die sowohl den »Begriff eines allgemeinen in sich geschlossenen Lebens überhaupt« umfasst, in dem es um »das Verhältniss der verschiedenen Organe und Funktionen unter sich« geht, als auch das »Verhältniss der einzelnen lebenden Körper zur Aussenwelt, so wie deren Rückwirkung, wodurch ein gegenseitig bedingendes Wechselverhältniss entsteht«.1 Der »Process des Lebens«, der aus der Verbindung eines »in sich geschlossenen Lebens« und der »Außenwelt« hervorgeht, stellt für ihn den »Schlüssel zur Erklärung aller Erscheinungen« lebendiger Körper dar.2 Osanns »Schlüssel« öffnet das Thema der vorliegenden Untersuchung. Wenn man in Europa im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts vor allem in Deutschland beginnt, immer öfters von Organismen und ihren Außenwelten zu reden, hat die widerspenstige Geschichte eines lebendigen Dings, das sich sträubte, weder nur ausgedehnter Körper noch denkender Geist zu sein, bereits einen langen Weg zurückgelegt.3 Die allgemeine Problemlage dieses Wegs ist auf Regulationsdispositive innerer Ordnungen – etwa entlang von Seele-Körper-Schnittflächen – ausgerichtet, bis um 1800 mit Xavier Bichat und Georges Cuvier Agentenmodelle entstehen, deren organische Funktionssysteme auf einem bestimmten Verhältnis zwischen Innen- und Außenwelten beruhen. In ihren Modellen geht es nicht mehr nur um einen seelenartigen Regulator und seinen Körper, sondern auch um die Existenzfähigkeit der inneren Organisation dieses Körpers in der Welt, die ihn als lebendiges Ding umgibt. Vor Osann weist bereits Ignaz Döllinger, der unter anderem in Bamberg und Würzburg Physiologie, Anatomie und Pathologie unterrichtet, dieses Innen-Außenwelt-Verhältnis in seinem Grundriss der Naturlehre (1805) als eine »enge Verbindung« aufgrund von »Wechselwirkungen« aus: 1 | Osann 1815, 16-17. 2 | Ibid., 6. 3 | Siehe hierzu Cheung 2006b, 2008a und 2010b.
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Organismen. Agenten zwischen Innen- und Außenwelten 1780-1860
»Der menschliche Organismus ist nicht allein durch seine Eigenschaften und die ihm eigenen Erscheinungen als solcher bestimmt, sondern steht auch mit andern Dingen, auf die er wirkt, und die wechselseitig auf ihn wirken, in einer engen Verbindung; zur ganzen Sphäre seines Daseyns oder zu seiner Natur gehört also nebst den ihm unmittelbar zukommenden Eigenheiten auch noch ein besonders Verhältniss zu den äussern Dingen; […]« 4
Der Übergang von einem Diskurs über die innere Organisation eines lebendigen Dings, der am Anfang des siebzehnten Jahrhunderts unter den Titeln corpus organizatum, corps organisé und organisierter Körper einsetzt, in einen sich im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts herausbildenden Diskurs über die Wechselwirkungen zwischen den Innen- und Außenwelten von Organismen stellt zwar in vielen Aspekten eine Fortführung und Erweiterung eines sich über einen langen Zeitraum verändernden Problemzusammenhangs dar, zugleich entsteht jedoch erst durch den Übergang die Möglichkeit, die Wechselwirkungen selbst als konstitutive Momente der Existenzbedingungen und der Existenzfähigkeit dieser Körper auszuweisen.5 Während Bichat die Widerständigkeit »pflanzlicher« und »tierischer Ökonomien« gegen den destruktiven Einfluss äußerer Umstände hervorhebt, stellt Cuvier ein rationelles Prinzip der Naturgeschichte auf, das den »harmonischen« Zusammenhang zwischen inneren und äußeren Existenzbedingungen bestimmt.6 Für Cuvier ist der Organisationstyp eines Carnivoren dann existenzfähig, wenn »seine Kieferknochen so konstruiert sind, dass sie die Beute verschlingen können, seine Zähne es ihm erlauben, das Fleisch zu zerkleinern und zu zerteilen, das ganze System seiner Bewegungsorgane die Beute verfolgen und ihr auflauern kann, und seine Wahrnehmungsorgane es ihm ermöglichen, die Beute von Weitem wahrzunehmen«.7 4 | Döllinger 1805, 2. 5 | Die Ausdrücke organisierter Körper und Organismus werden im neunzehnten Jahrhundert oft synonym verwendet. 6 | Cuvier verweist an einigen Stellen auch auf die Widerständigkeit lebender Systeme gegen destruktive Einflüsse der Außenwelt. Vgl. Cuvier 1800-1805, Bd. 1, 2-3. 7 | Cuvier 1812, 58. Ähnliche Überlegungen finden sich in Étienne Lacépédes Histoire naturelle des poissons (1798-1802). Vgl. Lacépède 1798-1802, Discours sur la nature des poissons, Bd. 1 (1798), xiv: »Or, l’homme, les animaux à mammelles, les oiseaux, les quadrupèdes ovipares, les serpens, ne peuvent vivre, au moins pendant long-temps, qu’au milieu de l’air de l’atmosphère, et ne respirent que par de véritables poumons, tandis que les les poissons ont un organe respiratoire auquel le nom branchies a été donné, dont la forme et la nature sont très-différentes de celles des poumons, et qui ne peuvent servir, au moins long-temps, que dans l’eau, à entretenir la vie de l’animal.« Für Bichats und Cuviers Ansätze siehe Arène 1911; Coleman 1964; Foucault 1970; Daudin
I. Einleitung
Die vorliegende Untersuchung schließt an Bichats und Cuviers Ansätze an, folgt aber einem Weg, an dessen Anfang Prozesse, Stoff-Transformationen und Reiz-Reaktions-Schemen lebendiger Systeme stehen, die im Rahmen sich etablierender Physiologien Wechselwirkungen zwischen Innen- und Außenwelten erklären. Von hier aus reiht sich die Untersuchung in ein sich im neunzehnten Jahrhundert immer weiter öffnendes diskursives Feld des gegenseitigen In-sich-Hineinragens von Innen- und Außenwelt ein. Die nachfolgenden Texte kreisen um die ersten Entwürfe, die Variationen, die Differenzierungen und die Erklärungsansprüche der an Reiz-ReaktionsSchemen gebundenen Prozesslogik eines Agenten, der – Pflanzen, Tiere und Menschen umfassend – immerzu in sich und doch zwischen zwei Welten existiert. Genau auf diese diskursive Konstellation kommt es in der Untersuchung an. Ihr Ziel ist, zu verdeutlichen, warum sich lebendige Dinge zwischen 1780 und 1860 im Fokus von Debatten befinden, in denen es beständig um ihre Zwischen-Positionen und ihre Zustands-Formen geht, die sich in Hinsicht auf Innen- und Außenwelten einstellen. Das Zentrum der Untersuchung bilden lebendige Systeme individueller Körper, und nicht verschiedene AußenweltBegriffe oder Perspektiven einer Außenweltproblematik, die sich auf überindividuelle Einheiten – etwa in Form von Lebensgemeinschaften oder Populationen – beziehen.8 Ihren Horizont bestimmt Auguste Comtes und Charles Robins Forderung, die Physiologie um eine »Theorie der Milieus« zu erweitern.9 Den Gang der Untersuchung gliedern die Stationen eines Weges, die – unter verschiedenen Gesichtspunkten – Ordnungsformen individueller lebender Körper auszeichnen, deren allgemeines Leitgerüst um 1780 mit Cullen und
1983; Outram 1986; Appel 1987; Rey 1997; Huneman 1998; und Cheung 2008a, 231-256. 8 | Für die Bedeutungsverschiebungen des französischen milieu-Begriffs siehe Canguilhem 1998, 129-154. Zur Außenweltproblematik überindividueller Einheiten siehe Koller 1918; Eisel 1980; Moravia 1980; Trepl 1987; Acot 1988 und 1998, Deléage 1991; Drouin 1991; und Worster 1994. 9 | Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 3, 307; und Robin 1849, 133-134: »Toute idée d’être organisé vivant est impossible, si l’on ne prend en considération l’idée d’un milieu. Aussi l’idée d’être vivant et celle de milieu (air, eau, lumière, chaleur etc.), sont inséparables. On ne peut concevoir non plus une modification de l’un sans que survienne une modification de l’autre, par une réaction inévitable. Aussi l’étude du milieu sur l’être organisé vivant et celle de l’être sur le milieu sont-elles liées l’une à l’autre.« Ein ersten Schritt in die Richtung einer »Theorie der Milieus« hat für Richerand William Frédéric Edwards in De influence des agens physiques sur la vie (1824) unternommen. Vgl. Edwards 1824.
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Brown in der sich neu formierenden Physiologie entsteht.10 Fasst man diese Ordnungsformen in einer allgemeinen, einleitenden Charakteristik zusammen, stellen sie Prozesse dar, deren Aktivitätsketten auf Reiz-Reaktionsschemen beruhen, die – auf unterschiedlichen Organisationsebenen, denen ihrerseits spezifische Innen-Außenwelt-Verhältnisse entsprechen – in Einheiten und Teile eingebaut sind, deren Gesamtaktivität das Leben in einer bestimmten Klasse von Körpern auszeichnet. Ausgerichtet auf Ordnungsformen organismischer Agentenmodelle, für die Innen- Außenweltverhältnisse konstitutiv sind, unterteilen acht Schlüsselthemen die Untersuchung: (1) Erregungszustände, (2) Selbsttätige Organismen, (3) Gleichgewichtszustände, (4) Grenzflächen, (5) Prozessschemen organismischer Selbstproduktion, (6) Normalzustände, (7) Existenzbedingungen und äußere Umstände und (8) Milieu und Organismus. Cullens und Browns Ansätze leiten die Themenfolge ein (Kapitel 2). Während Cullen die Erregungszustände lebendiger Systeme an die Regulationsdispositive von Gehirnen bindet, verlegt Brown den Schwerpunkt seiner Pathologie auf ein »Prinzip der Erregbarkeit«, in dem allein die passive Reaktivität des ganzen Systems auf äußere Reize eine Rolle spielt. Browns passive Erregbarkeit kritisierend, entwirft Christoph Hufeland das Modell eines »selbstthätigen Organismus«, der nicht nur durch die Außenwelt bestimmt wird, sondern auch selbst durch eine ihm innewohnende »Lebenskraft« fähig ist, aktiv auf Reize zu reagieren und »Lebenszustände« zu regulieren (Kapitel 3). An diese Kritik schließt Gottfried Reinhold Treviranus’ Konzept der »inneren Gleichförmigkeit« organischer Prozesse und Strukturen an, die sich durch und zugleich gegen die Einwirkungen der Außenwelt-Reize erhalten (Kapitel 4). Hufelands »selbstthätige Organismen« und Treviranus’ »innere Gleichförmigkeit« verweisen auf drei Aspekte organischer Ordnung – nämlich die Rolle körperlicher Grenzflächen, die Prozesslogik organismischer Selbstproduktion und die Physiologie Organisations-spezifischer Normalzustände –, die anhand von Joachim Dietrich Brandis’, Schellings und Karl Friedrich Burdachs Agentenmodellen dargestellt werden (Kapitel 5-7). Georges Cabanis und Jean-Baptiste Lamarck kommt es nicht nur auf die Existenzbedingungen selbsttätiger Organismen, sondern auch auf die wechselnden Konstellationen »äußerer Umstände« an, von denen sie auf eine Weise »Gebrauch« machen können, dass er ihre innere Organisation sowohl im Rahmen individueller Entwicklungen als auch über Generationen hinweg differenziert und modifiziert (Kapitel 8). François Broussais, Henri de Blainville, Auguste Comte und Claude Bernard überführen die Schlüsselthemen der einzelnen Positionen in sie umfassende Milieu-Organismus-Theorien (Kapitel 9). 10 | Zur sich neu formierenden Physiologie und Pathologie siehe Rothschuh 1953; Lesch 1984; und Williams 1994.
I. Einleitung
Der Bogen, der sich von Browns Erregungslehre, Hufelands Makrobiotik und Cabanis’ Anthropologie bis zu Broussais’ Pathologie und Bernards MilieuTheorie spannt, wird von einer organischen Chemie begleitet, zu der unter anderem Torbern Bergman, Antoine Laurent de Lavoisier, Claude-Louis Berthollet, Antoine-François Fourcroy und Justus Liebig gehören.11 Während Lavoisiers Theorie der Atmung und der Wärmeproduktion ein allgemeines Modell für die chemische Regulation der Zyklen der Dekomposition und der Rekomposition in Organismen liefert und Bergmans Affinitätslehre Cabanis’ Entwürfe der ersten Bildung komplexer organischer Zusammensetzungen beeinflusst, resultiert aus den konvergierenden Bewegungen von Physiologie, Medizin und Chemie eine Diskurs-übergreifende Verschiebung, die von der zunehmenden Metaphysikkritik der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts in eine Zustands-Problematik im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts führt. Gekoppelt an das Triumvirat von Beobachtung, Erfahrung und Experiment, das zum Leitmotiv der Diskussionen über die Erkenntnisfähigkeit des Menschen und der objektiven Erkennbarkeit der Welt wird, sind Zustands-Modelle organischer Ordnung, die auf Gleichgewichten, Modifikationen und Transformationen beruhen, Teil des Übergangs von einer Substanz-orientierten Expressions- und Qualitätenlogik in Prozess-orientierte Erklärungsstrategien der Wechselwirkungen zwischen Körpern und ihren Kräften. Die Vielfalt der Zustände des Lebens, denen eine Renaissance humoralpathologischer Temperamentenlehren einhergeht, entpackt sich, angeregt durch Cullen und Brown, in Diätetik und Medizin als gesundes und krankes, normales und anormales, kurzes und langes, nervöses und lethargisches Leben.12 In diesem Schema besteht die Existenz des Lebendigen nur in einem modifizierbaren Zwischenzustand, dessen Grenzen Zeugung und Tod anzeigen und der sich zugleich zwischen zwei Polen verändert, von denen der eine auf die systemischen Konstanten der Stabilität, der Widerständigkeit und des Gleichgewichts von Prozessen und Strukturen und der andere auf die Momente des Wechsels, der Modifikation und der Störung durch äußere und innere Reize verweist, die ihrerseits zyklische Bewegungsfolgen auslösen und unterhalten. Der dynamische Zusammenhang beider Pole charakterisiert die Existenzform jedes lebendigen Körpers. Innerhalb dieses Gefüges wirken bei Menschen und höheren Tieren vor allem zwei Einflussgrößen regulierend: der Intellekt des Gehirns als reflexive Funktion des Nervenapparats und die auf Ernährung ausgerichteten Instinkte 11 | Siehe hierzu Ackerknecht 1944a und 1944b; Adolph 1961; Holmes 1985; Klein 1994; und Kim 2003. 12 | Siehe hierzu Canguilhem (1979a) und Arquiola & Montiel (2012). Für den englischen Kontext der Zustandsproblematik, der mit David Hartleys Observations on Man (1749) einsetzt, siehe Yolton 1983 und Dushane 2008.
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der Eingeweide. Der Raum, der sich zwischen diesen regulierenden Instanzen innerhalb des Reiz-Reaktionsapparates eines lebendigen Körpers öffnet und den Descartes’ Les passions de l’âme 1649 bereits anzeigt, erreicht in Cabanis’ Rapports eine Komplexität, in der duale Seele-Körper-Modelle durch Netzwerke interagierender »Reaktionszentren« ersetzt werden. Broussais’ Pathologie nimmt diese Komplexität auf. Durch ihn geht Cuviers und Bichats Typisierung von Organ- und Gewebesystemen in eine Typisierung von Lebenszuständen über. Genau so, wie es im chemischen Diskurs im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert nicht mehr allein um das Feste und das Flüssige, sondern um feste, flüssige und gasförmige Zustände geht, wird auch der Gegensatz von Lebendig und Tod sowie von Krankheit und Gesundheit zu einem Problem von Zuständen, deren Vielfalt die Dynamik von Wechselwirkungen spiegelt. Der Weg, auf den Browns, Hufelands, Cabanis’ und Broussais’ Ansätze führen, hat kein anderes Fundament mehr als Prozesse, Operationen und Zustände, die von Organisationen physischer Strukturen getragen und ausgeführt werden. Mit Nietzsche ließe sich in diesem Sinne sagen, dass Prozesse selbst zu Wesen, zu Agenten werden, und zwar innerhalb eines verräumlichten Innen-AußenDispositivs, dessen Passagenlogik das Verhältnis von Reiz und Reaktion und die Struktur organischer Grenzen bestimmt.13 In Fourcroys Système des connaissances chimiques (1801-1802) kennzeichnen spezifische »Zustände« Übergangsformen und Kombinationen von »Substanzen« oder »ersten Prinzipien« in Aggregatform. Fourcroy bezieht sich auf »Veränderungen chemischer Zustände«, die, innerhalb »aller möglichen Zustände«, zu neuen »Aggregationszuständen« (états d’agrégation), »Zuständen kombinierter Substanzen« (états des substances combinées), »Teilungszuständen« (états de division) und »Reinheitszuständen« (états de pureté) führen.14 Substanzen durchlaufen Serien von Zustandsformen – etwa den »Gaszustand« (état de gaz), den »Flüssigkeitszustand« (état liquide) und den »Festzustand« (état solide) oder verschiedene »Wärme-« und »Lichtzustände« (états de chaleur, de lumière) –, verändern sich innerhalb eines bestimmten Kanons von Zuständen (etwa den »fünf Zuständen« der Metalle) oder nehmen innerhalb einer Zustandsform besondere Zustände (etwa den »Säure-Zustand« (état d’acide)) an.15 Parallel zum Zustandsbegriff entwickelt sich in Fourcroys Ansatz das Begriffsfeld der »Operation« (opération). Es umfasst künstliche Eingriffe in den »natürlichen Zustand« (état naturel) eines Körpers (Operationen, die der »Kunst« (art) des Chemikers angehören), und »Operationen der Natur« (opéra13 | Vgl. Nietzsche 1977, 264 (2. Buch, 2. Kapitel, Nr. 73). 14 | Vgl. Fourcroy 1800-1801, Bd. 1, Discours préliminaire, xlvi, 69, 105, 142 und 128. 15 | Vgl. ibid., lxi, lxxiii und cviii; und ibid., 41 (»les trois états de solidité, de liquidité et de gazéité«), 65 (»repasser un gas à l’état liquide, et un liquide à l’état solide), und 133.
I. Einleitung
tions de la nature), die sowohl in als auch außerhalb von Körpern ablaufen. Zu den natürlichen »Operationen« zählt Fourcroy etwa die Wirkung der Wärme, die in Körper »eindringt« (pénètre), sie »erweitert« (dilate), sich mit ihnen »verbindet« (combine) und »ihren Zustand verändert«.16 Fourcroy betont des Öfteren, dass ein Chemiker nicht »denselben Weg« wie die Natur einschlagen kann, da er durch »chemische Operationen« (opérations chimiques) die Textur organischer Körper »zerbricht«, »manipuliert« und »verändert«, um etwas über ihre Zusammensetzung und Reaktivität zu erfahren.17 Allerdings entsteht für ihn zwischen den Experimenten des Chemikers und den Operationen der »Natur« ein Feld der Nachahmung, von dem sich der physiologische Diskurs speist. Die auf manipulierende »Vorgehensweisen« (procédés) oder »Künste« (arts) ausgerichteten chemischen Operationen sind für Fourcroy »meist Nachahmungen der Operationen der Natur«18. Der Chemiker »manipuliert« das, was die Natur selbst »modifiziert«. Kunst und Natur fusionieren in einem Begriffsfeld, in dem das »Labor«, in dem Operationen vorgenommen werden, sowohl innerhalb als auch außerhalb organischer Körpers liegen kann. Beide Operationsbereiche sind auf »Zustände« ausgerichtet. Unter diesen Zuständen gibt es keine kategoriellen Grenzen mehr, die Natur und Kunst unterscheiden – analog zur Verschiebung der Differenz zwischen toten und lebendigen, organischen und unorganischen, kranken und gesunden, normalen und anormalen Körpern. Die Nachahmung, vervielfacht und iteriert, wird selbst zu einer Abweichung, einer Modifikation, die in beide Richtungen – von der Kunst zur Natur und von der Natur zur Kunst – lesbar ist. Während den Brennpunkt dieser doppelten Bewegung die Ordnung organischer Körper repräsentiert, dient ihr als Vehikel eine Liste chemischer Operationen, zu denen Fourcroy unter anderen »Dissolution«, »Fusion«, »Infusion«, »Zerkleinerung«, »Verdauung«, »Verbrennung«, »Entzündung«, »Oxidation«, »Reduktion« und »Fermentation« zählt.19 Alle diese Operationen können sowohl »künstlich« als auch »natürlich« eingeleitet werden. 16 | Vgl. ibid., Discours préliminaire, xiii; und ibid., 123. 17 | Vgl. ibid., Discours préliminaire, xlii: »Mais le chimiste ne peut avoir ni la même marche ni le même but: aucun corps ne reste, pour ses re cherches, dans son état naturel; il en brisse le tissu […]«; und ibid., 90: »La chimie ne peut acquérir les résultats qu’elle cherche, elle ne peut connaître la nature, la composition ou la simplicité et la réaction des corps les uns sur les autres, sans les mettre en contact, les disposer à s’unir, les approprier, et favoriser en un mot entre eux l’attraction de composition, à l’aide de laquelle ils réagissent réciproquement: toutes ces méthodes qui rentrent dans l’analyse ou la synthèse, exigent certaines manipulations, certains procédés qu’on nomme opérations chimiques […]« 18 | Ibid., 89. 19 | Vgl. ibid., 90-95.
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Die von Fourcroy im Système etablierte Zustands-Logik findet sich, in abgeänderter Form, in Browns, Hufelands, Cabanis’ und Broussais’ Ansätzen wieder. Im Zentrum von Browns The Elements of Medicine (1795) steht eine pathologische Klassifikation reaktiver »Zustände« (states)20, die zwar noch keinen genauen Ort in der Textur organischer Körper erhalten, aber genau den Bereich differenzieren, auf den es Hufeland, Cabanis und Broussais ankommt: Browns Pathologie des »Lebenszustands« (state of life)21 ist eine Lehre vom dauerhaften »Zwischenzustand« (intermediate state)22 zwischen Gesundheit und Krankheit. Der Zwischenzustand charakterisiert den »allgemeinen Körper-Zustand« (general state of the body)23 eines individuellen Organismus, der als Agent zwischen Innen- und Außenwelten existiert.
20 | In den Elementa medicinae (1780) findet sich entsprechend der Ausdruck status, etwa corporis status. Vgl. Brown 1780, 2, 3, 17. 21 | Vgl. Brown 1795, Bd. 1, 55. Brown (ibid.) verwendet auch den Ausdruck »living state«. 22 | Vgl. ibid., 59. 23 | Vgl. ibid., 50.
II. Erregungszustände Cullens und Browns lebendige Systeme
William Cullen, der nach Robert Whytt seit 1766 Medizin an der Edinburgher Universität lehrte, und sein Assistent John Brown, der an derselben Universität Theologie und Medizin studierte, regen, auf getrennten Wegen, einen Diskurs über Erregungszustände »lebendiger Systeme« (living systems) an.1 Ihre Ansätze sind auf Pathologien auslösende Reiz-Reaktions-Schemen ausgerichtet, die bestimmte »Lebenszustände« (living states) charakterisieren, jedoch verfolgen sie unterschiedliche Erklärungsstrategien.2 Während Cullen in den Institutions of Medicine (1777) das Problem der »Erregbarkeit« (excitability) an die »Irritabilität des Gehirns« bindet, geht Brown in den Elementa medicinae (1780)3 von einem »Prinzip der Erregbarkeit« (principle of excitability) aus, 1 | Die Ausdrücke »lebendiges System« (living system) und »Lebenszustand« (living state) werden sowohl von Cullen und als auch von Brown verwendet. Vgl. Cullen 1785, 26 und 89; Brown 1787, Introduction, xc; und Brown 1795, Bd. 1, 36 und 234. Analog findet sich in ihren Arbeiten der Ausdruck »lebender Körper« (living body). Für biographische Details zu Cullen und Brown siehe Thomson 1832-1859; Thomas Beddoes’ Einleitung in Brown 1795, Bd. 1; William Cullen Browns Einleitung in Brown 1804, Bd. 1; Newton 1911; und Lawrence 1988a. Einen Überlick zur Geschichte und zum Aufbau der medizinischen Fakultät der Edinburgher Universität findet sich bei Lawrence 1988b. Für den historischen Kontext von Cullens und Browns Ansätzen siehe Hirschel 1846; Riese 1949; Bowman 1975; Henkelmann 1981; und Tsouyopoulos 2008, 61-105. 2 | Für einen Vergleich von Cullens und Browns Ansätzen siehe Henkelmann 1981, 1119. Cullen veröffentlichte 1769 eine Synopsis nosologiae methodicae und beteiligte sich auch an Debatten in der Chemie. Für Cullens Nosologie und Chemie siehe Bowman 1975, 153-177; Donovan 1975; und Kendell 1993. 3 | Nach einer Überarbeitung (1784) erschien 1788 die erste englische Übersetzung (Elements of Medicine). Zur Editionsgeschichte der Elementa siehe Overmier 1982. In Browns Observations on the Principles of the Old System of Physic, exhibiting a Compend of the New Doctrine (1787) findet sich eine auszugsweise Übersetzung
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das im Nervensystem wirkt, aber nicht von einem bestimmten Organ kontrolliert wird. Cullen erklärt »Lebenszustände« von innen her, indem er sie von Regulationsprozessen des »Gehirns« abhängig macht; Brown fokussiert hingegen auf die Reaktivität »lebendiger Systeme«, deren »Zustände« von Reizen bestimmt werden, die von außen her auf das System treffen. Zwischen dem durch Außen-Reize »erzwungenen Zustand« ( forced state)4 des Brownschen Prinzips und der Innen-Aktivität von Cullens regulativer Instanz entsteht der Spannungsbogen, der die allgemeine Problemlage lebender Körper zwischen Innen- und Außenwelten öffnet.
1. C ULLENS R EGUL ATIONSSYSTEM In dem historischen Abriss, der die First Lines of the Practice of Physic (17761784) einleitet, distanziert sich Cullen sowohl von humoralpathologischen Vorstellungen, die Krankheiten allgemein aus Veränderungen spezifischer Mischungen der Körperflüssigkeiten ableiten, als auch von Ansätzen, die in Harveyscher Tradition das Blut als vitale Substanz ausweisen.5 In Anschluss an Thomas Willis’ Reiz-Reflex-Schema entwirft Cullen in den Institutions of Medicine (1777) eine Pathologie, deren primäres Erklärungsziel die »verschie-
der lateinischen Ausgabe. Die Autorschaft der 1781 unter dem Namen Robert Jones erschienenen Schrift An Inquiry into the State of Medicine, on the Principles of Inductive Philosophy. With an Appendix containing Practical Cases and Observations, in der das Brownsche System dargelegt wird, ist umstritten. Während John Browns Sohn William Cullen Brown im Vorwort der Ausgabe von The Elements (1804, Bd. 1, clxvii) für seinen Vater als Autor plädiert, argumentiert Barfoot (1988, 27-28) für Jones. Siehe hierzu auch Henkelmann 1981, 9-11. 4 | Vgl. Brown 1787, Introduction, cvii: »[…] the living state […] is the effect of the exciting powers, acting upon the excitability, and producing the cause of the living state, the excitement, under the circumstances, and within the limits, that have been marked out […]«; und Brown 1795, Bd. 1, 58. 5 | Vgl. Cullen 1793, Bd. 1, Preface, xix-xxii; und Cullen 1789, Bd. 1, 79: »To conclude, I will not deny that the state of the fluids may have a share in distinguishing the different states of the body both in health and in sickness: but at the same time I must maintain, that we know little of the manner in which it may have this effect; that our theory of the human fluids is still very incomplete and imperfect that while in this condition it has been employed too rashly and too largely in every part of the system of physic; and that we have little temptation to do this, as it is highly probable that the state of the fluids depends very much upon other circumstances of the constitution, which are more fundamental, and more powerful in determining the several conditions of it.«
II. Erregungszustände
denen Zustände des Nervensystems« (different states of the nervous system) sind.6 Die regulative Instanz des in einem Faserkörper agierenden reaktiven »Nervensystems« situiert er im »Gehirn«: »[…] the beginning of motion in the animal œconomy is generally connected with sensation; and […] the ultimate effects of such motion are chiefly actions depending immediately upon the contrac tion of moving fibres, between which and the sentient extremities the communica tion is by means of the brain.« 7
Neben der Hauptmasse des Cerebrums unterscheidet Cullen im »Nervensystem« das Cerebellum, die Medulla oblongata und spinalis und die Fortsetzung der medullären Masse in die Nerven, durch die sie in verschiedene Regionen des Körpers verteilt wird.8 Von der regulativen Instanz »Gehirn« und ihrem System aus umreißt Cullen das Reiz-Reaktions-Schema der inneren Ökonomie menschlicher Körper, zu der Reizweiterleitung und Reizverarbeitung, Muskelbewegungen und die »natürlichen Funktionen« (natural functions) der »Umwandlung« (conversion) und »Assimilation« (assimilation) aufgenommener »Nährstoffe« (aliments) gehören.9 Friedrich Hoffmans materieller Auslegung Nerven-gebundener Animalgeister in Form feinster, beweglicher Substanzen folgend10, bestimmt Cullen das vermittelnde, Reiz-empfindliche physische Medium innerhalb des »Nervensystems« als ein sensibles »Nervenfluidum« (nervous fluid)11. Das Movens 6 | Vgl. Cullen 1789, Bd. 1, 89; und Bowman 1975, 125-126. Für Willis’ Reflexschema siehe Willis 1672, 5: »[…] unde sequitur, quamcunque Bruti actionem, velut automati mechanici motum artificialem, in eo consistere, quod sc. primo, sensibile aliquod spiritus animales afficiens, eosque introrsum convertens, sensionem excitet, a qua mox iidem spiritus, velut undulatione reflexa denuo retrorsum commoti, atq; pro concinno ipsius fabricæ organorum, & partium ordine, in certos musculosque determinati, respectivos membrorum motus perficiunt: […]«; Hierons & Meyer 1964; und Canguilhem 1955. 7 | Cullen 1785, 33. 8 | Vgl. Cullen 1785, 23-24; und ibid., 24, Anmerkung. 9 | Vgl. Cullen 1785, 31-32; und ibid., 153: »The conversion, or assimilation, of the aliments to the nature of the solids and fluids of the animal body; the farther changes of these fluids for various purposes, by secretion; and the application of some part of them in nutrition, or in increasing the growth of the body; make what are called the NATURAL FUNCTIONS.« 10 | Zu Cullens Einschätzung von Hoffmanns System siehe Cullen 1793, Bd. 1, Preface, xxi-xxxiv. Für das Problem der Materialität der Animalgeister siehe Clericuzio 1994. 11 | Vgl. Cullen 1785, 27, Anmerkung: »The condition fitting the medullary substance for having motion propagated in it, we suppose to be the presence of a certain fluid; which we therefore name the nervous fluid, without meaning however at present to determine
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dieses Fluidums, das sich in Nervennetzen bewegt, ist eine im »Gehirn« wirkende »Energie«, die sich als »Nervenkraft« (nervous power) auf das »Nervenfluidum« überträgt und zusammen mit den Muskelfasern, in denen die Nerven enden, spezifische Reiz-Reaktions-Einheiten bildet. Diese Einheiten nennt Cullen – in Anschluss an Hieronymus David Gaubius’ Institutiones pathologiæ medicinalis (1758) und gegen Hallers Dualismus zwischen sensiblen Nerven und irritablen Muskeln gerichtet – »vitale solide Teile« (vital solids)12, deren Bewegungen vom »Gehirn«, von der »Sensibilität« (sensibilité) der Nerany thing with regard to its source, nature, or mannner of acting.«; und Cullen 1789, Bd. 1, 93-94: »[…] we suppose the whole of the nerves, or the whole of the medullary substance of the nervous system, to be every where pervaded with the subtile elastic fluid above mentioned; and that this elastic fluid will always bring its seve ral parts to a balance with one another, so as to become of the same density in every part.« Für Cullens Theorie des Nervensystems siehe Bynum 1993. In First Lines of the Practice of Physics (1793) will Cullen keine Aussage über die »Natur« des Nervenfluidums selbst treffen. Vgl. Cullen 1793, Bd. 2, 262: »I beg, however, it may be observed, that by these terms [of excitability and collapse] I mean to express matters of fact only; and without intending, by these terms, to explain the circum stance or condition, mechanical or physical, of the nervous power or fluid in these different states.« Cullen vergleicht die Eigenschaften des Nervenfluidums jedoch mit elektrischen Phänomenen. Siehe hierzu Bowman 1974, 99-100. 12 | Vgl. Cullen 1785, 26-27: »These several parts of the nervous system are every where the same continuous medullary substance which we suppose to be, the vital solid of animals, so constituted in living animals, and in living systems only, as to admit of motions being readily pro pagated from any one part to every other part of the nervous system, so long as the continuity and natural living state of the medullary substance remains.«; und ibid., 68: »[…] we think it probable, that the muscular fibres are a continuation of the medullary substance of the brain and nerves […]« Gaubius schließt seinerseits Francis Glissons Perzeptionsmodell irritabler Fasern an. Vgl. Gaubius 1782, 60: »Duas itaque in solido vivo concipere facultates licet; alteram quasi sentientdi, qua stimuli suo quodam modo percipit; alteram movendi, qua sese contrahendo vim vi opponit ac repellit veluti, quod quietis suæ statum turbat.«; und Bowmann 1975, 116-118. Ein ähnlicher Ansatz findet sich auch in Erasmus Darwins Zoonomia; or, Laws of Organic Life (1793). Vgl. Darwin 1793, Bd. 1, 10: »The muscular fibres are moving organs intermixed with that medullary substance, which is continued along the nerves […]« Cullen weist jedoch darauf hin, dass es für die kontinuierliche Fortsetztung der Nervenfasern in die Muskelfasern noch keinen anatomischen Nachweis gibt. Vgl. Cullen 1785, 26, Anmerkung: »That the muscular fibres are a continuation of the medullary substance of the brain and nerves, has not been shown by the anatomists, nor universally admitted by the physiologists; but we now suppose it, and hope afterwards to render it sufficiently probable.«
II. Erregungszustände
ven und von zur »Kontraktion« fähigen Muskelfasern abhängen. In A Treatise of the Materia Medica (1789) geht Cullen davon aus, dass sich das in den Muskel-Nerven-Komplexen vorhandene Nervenfluidum, das schon aufgrund seiner »Elastizität« beständig »zur Kontraktion tendiert«, durch einen Impuls der »Nervenkraft« zusammenzieht und eine Muskel-»Kontraktion« auslöst.13 Die Stärke der Muskel-Kontraktion in »lebendigen Systemen« hängt für ihn »meist, vielleicht auch immer, von der vom Gehirn kommenden vis nervea« ab, die ihrerseits von der »Energie des Gehirns« reguliert wird.14 Als individuiertes »Ganzes«, dessen Teile das »Gehirn« vereint, gehört das körperliche »Leben« für Cullen dem dreiteiligen Wissensfeld der Boerhaavschen Physiologie an, das zwischen »chemischer Mischung« (chemical mixt), »hydraulischer Maschine« (hydraulic machine) und »belebtem nervösen Gerüst« (animated nervous frame) unterscheidet.15 Die Art, wie das »Gehirn« durch »erhaltende Kräfte« (vires conservatrices) auf die »natürlichen Funktionen« des Körpers wirkt, hält Cullen für gänzlich unbekannt.16 Er geht jedoch davon aus, dass die »Administration körperlicher Funktionen« nicht allein 13 | Vgl. Cullen 1785, 64: »[…]. the contraction of muscular fibres can be excited by a power communicated to them by a motion propagated along the nerves. This power is called the NERVOUS POWER […]« ; und 1789, Bd. 1, 105-106. 14 | Vgl. Cullen 1789, Bd. 1, 93 und 106-107. 15 | Vgl. Cullen, Introductory Lectures, 1827, Bd. 1, 409: »[…] it appears to me certain, that the human system can only be viewed in these three respects, that is, as a chemical mixt, as a hydraulic machine, and as an animated nervous frame […] «; und Bowman 1975, 134. Cullen steht der »Kunst« der »chemischen Analyse«, organische Susbstanzen herzustellen, jedoch kritisch gegenüber. Siehe Cullen 1785, 133: »It has, however, been also supposed, that this art has actually been, or might be, useful in investigating the virtues of vege table and animal substances; although it does not appear to me to have been in this particular successful. What has been cal led the Chemical Analysis, or the distillation of substances with out addition, has not answered the expectations entertained of it. After many very competent trials, it is now agreed, that such an analysis affords no correct nor certain information con cerning the constituent parts of mixts; and the application of this kind of resolution, therefore, is now entirely, or at least very much, neglected.« 16 | Vgl. Cullen 1785, 86-87: »In all, or any of these cases in which the action of the brain takes place, we do not perceive the manner that is, the mechani cal means, by which the several causes produce their effects; and we perceive only an institution of our Maker, establishing a connection between the several causes and the motions which ensue. At the same time we, for the most part, perceive, that the connections established are suited to the purpose of the animal oeconomy; and particularly, to the purpose of supporting the system in a certain condition for a certain time, and of averting what might hurt or destroy it. This constitution of the animal œconomy we call
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durch einen »Mechanismus des Gehirns«, sondern erst durch die Annahme eines »empfindenden Prinzips« (sentient principle) oder eines »Geistes« (mind), der auf das Nervenfluidum wirkt, hinreichend erklärt werden kann.17 Bei einer »Erregung« (excitement) durchläuft das Fluidum zunächst eine Bewegung von den »empfindsamen Nervenenden« (sentient extremities of the nerves) zum sensorium commune und dem Gehirn. Dort kann sie eine »Empfindung« (sensation)« hervorrufen, die anschließend »eine Bewegung vom Gehirn zu den Muskeln oder den Bewegungsorganen« einleitet.18 Jede »Verbindung« (connection) zwischen »Empfindungen« und Bewegungen hängt von einer »Intervention des Gehirns« ab.19 Diese Reiz-abhängige, regulierende Fähigkeit des »Gehirns« bezeichnet Cullen als »Irritabilität des Gehirns« (irritability of the brain).20 »Denkzustände« (states of thinking) und »WillensaktNATURE; and every where in the œconomy we per ceive the vires conservatrices and medicatrices naturae, so justly celebrated in the schools of physic.« 17 | Vgl. Cullen 1785, 88-90. 18 | Vgl. Cullen 1793, Bd. 2, 261-262; Cullen 1785, 30-31: »As the impulse of bodies on the sen tient extremities of a nerve does not occa sion any sensation, unless the nerve be tween the sentient extremity and the brain be free; and as in like man ner, volition does not produce any con traction of muscles, unless the nerve be tween the brain and muscle be also free; we conclude, from both these facts, that sensation and volition, so far as they are connected with corporeal motions, are functions of the brain alone; and we presume, that sensation arises only in consequence of external impulse producing motion in the sentient extremities of the nerves, and of that motion’s being thence propagated along the nerves to the brain; and, in like manner, that the will opera ting in the brain only, by a motion begun there, and propagated along the nerves produces the contraction of muscles.«; und Cullen 1789, Bd. 1, 57: »In these days, it is hardly necessary to show that the action of other bodies upon the human, is chiefly by the impulse of these bodies upon the extremities or other parts of the nerves of the human body, in consequence of which, a motion is propagated from the place of impulse along the course of the nerves, to their origin in the brain or medulla spinalis; and that, upon such occasion, there does for the most part arise a sensation. This again generally gives occasion to a volition; whereby a motion is produced, which being determined along the course of the nerves into certain muscles, or moving fibres, the action of these, as well as the various effects which their action is suited to occasion, are in consequence produ ced.« 19 | Vgl. Cullen 1793, Bd. 2, 262. 20 | Vgl. Cullen 1789, Bd. 1, 93-94 und 102-103: »This beginning of motion in the sensorium is most remarkable in those cases in which it is accompanied with, or appears to be excited by, volition. Except, indeed, in those cases, physiologists have commonly considered the brain as an inert and passive organ, having no motions taking place in it, but in propor tion to the impulses proceeding from the sentient portions of the nerves,
II. Erregungszustände
zustände« (states of volition) »intellektueller Operationen« werden jedoch auch durch »Modifikationen« des ganzen »Systemzustandes« und schwache Impulse der Nervenenden beeinflusst, die unter einer »Empfindungen« auslösenden Schwelle liegen.21 Das »Gehirn« als »Zentrum der Bewegung und Kraft« (centre of motion and power)22 des Nervensystems reagiert nicht nur durch das sensorium commune passiv auf Eindrücke der Nervenenden. Vielmehr greift es aktiv in die Verteilung des Nervenfluidums und damit in den »Sensibilitätszustand« (state of sensibility)23 des ganzen Körpers ein: »[…] it is highly pro bable, that in the brain, as being the principal seat of this [nervous] system, and to which all the other parts are in some measure united, there is a common centre of motion and power; from whence, in consequence of certain circumstances, the nervous fluid is de termined with greater force, and perhaps in larger quantity, into some parts than into others. This is what I would term the Action or Energy of the Brain […]«24
Während das hydraulische Netzwerk der Nerven dazu tendiert, von selbst ein »Gleichgewicht« (balance) in der Verteilung des Nervenfluidums und eine gleiche »Dichte« (density) in jedem seiner Teile zu etablieren, »unterstützt« (supports) das »Gehirn« durch von ihm ausgehende Impulse beständig die »Fülle der empfindenden Nerven«. Auf den mit Fluidum angefüllten Nerven beruht
and the sensations arising from thence. I am, how ever, disposed to believe, that in consequence of the impulses very constantly proceeding from the sentient portions of the nerves, and even independent of sensation arising at the same time, there is a new power and force of motion excited in the brain, and from thence very constantly directed into every part of the nervous system. This is what I have called the Energy of the Brain; and have alleged, that not only in conse quence of sensation and volition, but, without either of these, in consequence of certain other impulses, this energy is manifestly exerted, and excites, with more or less force, the contrac tions of moving fibres; and farther, that from the impulses very constantly proceeding from the sentient parts, though producing neither sensation or volition, the same energy is excited and ex erted so as to support the fulness both of the sentient nerves and of the inherent power of the moving fibres. From all this it will be understood, that under the title of the Irritability of the Brain, I comprehend the greater or lesser degree of readiness with which the energy of the brain is exerted in all its various operations upon the moving fibres.« 21 | Vgl. Cullen 1793, Bd. 2, 261-262; und 1785, 37. 22 | Vgl. Cullen 1785, 94. 23 | Vgl. Cullen 1785, 90. 24 | Cullen 1789, Bd. 1, 94. Vgl. ibid. 102-103.
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die den Muskelfasern »inhärente Kraft« (inherent power)25, die sich in Form verschiedener »Spannungszustände«26 zeigt. Das Verhältnis zwischen der Einflussgröße eines Reizes und der Reaktivität eines lebenden Systems oder eines seiner Teile ist für Cullen schematisch nur schwer erfassbar, da von »Empfindungen« nur indirekt auf Reizstärken geschlossen werden kann. Neben der Stärke und der Länge aktueller (»okkasioneller«) Reize hängt die Reaktivität des Systems von der Vorgeschichte seiner Reizung und angeborenen »Prädispositionen« (predispositions)27 ab. Reiz-Wiederholungen können zur »Gewöhnung« (habit, custom) an Reize und zu abgeschwächten oder modifizierten Reaktionsmustern führen.28 Prädisponierte »Systemzustände« (states of the system)29, durch die bei Erregung bestimmte Organe besonders affiziert werden, beruhen auf »Sympathien« (sympathies) oder »besonderen Verbindungen« (peculiar relations) zwischen diesen »Körperteilen« und dem »Gehirn«.30 Die Aktivität des »Gehirns« wird ihrerseits durch den »Zustand« des Nervenfluidums und den »Zustand der Blutbewegung« (state of the motion of blood) verändert.31 Des Weiteren wird der »Zustand« des Muskelsystems nicht nur vom »Zustand« des Nervensystems beeinflusst, son25 | Vgl. Cullen 1785, 64. 26 | Vgl. Cullen 1785, 71: »In living and healthy animals, the muscular fibres have a constant tendency to contract; and this tendency we call their TONE, or TONIC POWER.« 27 | Vgl. Vgl. Cullen 1793, Bd. 1, 35-36. 28 | Vgl. Cullen 1785, 40-41: »Within these limits [of degrees of forces of impression], however, our sensations are not exactly correspondent to the force of impression, nor do they make any exact estimate of that force. Usually sensation is relative to the change that is produced in the nervous system; and a sensation proves strong or weak, only as it is stronger or weaker than that which had immediately preceded it, or than that degree of force to which the nerves had been immediately before accustomed. For this reason too the limits are very variable.«; and ibid., 90: »The action of the brain is often determined and regulated by custom and habit; that is, by laws established by frequent and uniform repetition.«. 29 | Vgl. Cullen 1785, 86. 30 | Vgl. Cullen 1785, 86; und ibid., 106-107: »With regard to the connections established in the system it is to be observed, as of great consequence in pathology, that certain parts of the body which have a common function and con stitution, have thereby a peculiar relation to the brain, so as to be more liable to be affected by the different states of it, and in their turn by the difference of their condition to affect the brain. Such are, especially, the organs of voluntary motion; the alimentary canal, and especially the stomach; the circulatory system, and par ticularly the extremities of the vessels on the surface of the body; the uterine and genital system in females; and some others to be mentioned in the pathology.« 31 | Vgl. Cullen 1793, Bd. 2, 261.
II. Erregungszustände
dern auch vom Zusammenspiel anderer Faktoren. So können etwa wiederholte Erregungen die Muskelfasern stärken, während sie das Nervensystem schwächen.32 Neben der »Kraft der Eindrücke« ( force of impressions) der Reize und dem Regulationsdispositiv des »Gehirns« hängen die »heilsamen oder schädlichen« Wirkungen der »erregten Bewegungen« (excited motions) von »mechanischen Bedingungen des Systems« (mechanical conditions of the system)33 ab, die Cullen durch »Organisationszustände« (states of organisation)34 kennzeichnet. Die Ausweisung dieser »Zustände« – hierzu gehören etwa »Zustände der Flüssigkeiten« und der »festen Teile«, »Zustände der zellulären Textur«, »Zustände der Gefäße«, »Zustände der Membrane«, »Zustände der Nerven«, »Kontraktionszustände« der Muskeln und »natürliche Lebenszustände der medullären Substanz« – bildet den eigentlichen Corpus der Institutiones.35 Sie modifizieren den »Empfindungszustand« (state of sensibility)36 und den »Affektionszustand« (state of affection) des Nervensystems, auf dem wiederum der »Gesundheitszustand« (state of health)37 des ganzen menschlichen Systems beruht. Für therapeutische Maßnahmen, deren Maß die »gewöhnliche Ausführung der Funktionen« ist, unterteilt Cullen den allgemeinen »Lebenszustand« in eine an »Wach- und Schlafzuständen« orientierte zweipolige Logik der »Erregung« (excitement), die angemessen oder zu hoch sein kann, und des »Kollaps« (collapse), während dessen schwache Reize die »Ausführung der Funktionen« nicht mehr »hinreichend« unterstützen: »[…] I think it evident, that the ner vous power, in the whole as well as in the several parts of the nervous system, and particularly in the brain, is at dif ferent times in different degrees of mobility and force. To these different states, I beg leave to apply the terms of Excitement and Collapse, To that state in which the mobility and force are sufficient for the exercise of the functions, or when these states are any way preternaturally increased, I give the name of Excitement; and to that state in which the mobility and force
32 | Vgl. Cullen 1785, 64; und Cullen 1789, Bd. 1, 100: »With respect to sensibility, it is well known that the force of impressions in exciting sensation is by repetition constantly diminished; whereas, by a like repetition of motions, the readiness with which these motions are repeated, or what may be called the irritability of the parts, is as constantly increased.« 33 | Vgl. Cullen 1785, 90. 34 | Vgl. Cullen 1785, 17. 35 | Vgl. Cullen 1785, 18, 20-21, 26, 46 und 155. 36 | Vgl. Cullen 1789, Bd. 1, 89-90. 37 | Vgl. Cullen 1789, Bd. 1, 94.
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are not sufficient for the ordinary ex ercise of the functions, or when they are diminished from the state in which they had been before, I give the name of Collapse.« 38
Pathologische »Zustände«, die aus zu starken oder zu schwachen Reizen resultieren, führt Cullen hauptsächlich auf lokal im Körper wirkende »nahe Ursachen« (proximate causes) zurück, die unter anderem durch »Medikamente« und deren Effekt auf »empfindende und irritable Teile« aufgehoben werden können.39 Cullen weist jedoch darauf hin, dass Heilungsprozesse auch von der allgemeinen »Reaktion« des ganzen »Systems« abhängen, die zur Equilibrierung des Erregungszustands führen kann.40 38 | Cullen 1793, Bd. 2, 262. Vgl. Cullen 1785, 98: »[…] it is from thence probable, that the nervous fluid in the brain is truly capable of different states or degrees of mo bility, which we shall call its states of EX CITEMENT and COLLAPSE; but, with out intending, by these terms, to express or determine any thing with regard to the nature of the nervous fluid, or wherein its different states consist.« Siehe hierzu auch Thomson 1832-1856, Bd. 1, 311; und ibid., Bd. 2, 258. Zum Verhältnis von Wach- und Schlafzuständen siehe Cullen 1785, 99-100; und Cullen Bd. 2, 263: »That these different states of excitement and collapse take place on different occasions, must, I think, be manifest from numberless phenomena of the animal eco nomy: but it is especially to our present purpose to ob serve, that the different states of excitement and collapse, are in no instance more remarkable, than in the different states of waking and sleeping. In the latter, when quite complete, the motion and mobility of the nervous power, with respect to the whole of what are called the Animal Functions, entirely cease, or, as I would express it, are in a state of collapse; and are very different from the state of waking, which in healthy persons I would call a state of general and entire excitement.« 39 | Vgl. Cullen 1793, Bd. 1, 35-36: »The PREVENTION of diseases depends upon the knowledge of their remote causes; […] The CURE of diseases is chiefly, and almost unavoidably, founded in the knowledge of their proximate causes. This requires an acquaintance with the Institutions of Medicine; that is, the knowledge of the structure, action, and functions of the human body; of the several changes which it may undergo; and of the several powers by which it can be changed. Our knowledge of these particulars, however, is still incomplete, is in many resprects doubtful, and has been often involved in mistake and error. The doctrine, therefore, of proximate causes, founded upon that knowledge, must be frequently precarious and uncertain. It is, however, possible for a judicious physician to avoid what is vulgarly called theory, that is, all reasoning founded upon hypothesis, and thereby many errors which have formerly taken place in the Institutions of Medicine.«; und Cullen 1789, Bd. 1, 58. 40 | Vgl. Cullen 1793, Bd. 1, 61: »[…] I suppose, that, in every fever, there is a power applied to the body, which has a tendency to hurt and destroy it, and produce in it certain motions which deviate from the natural state; and, at the same time, in every fever which has its full course, I suppose, that, in consequence of the constitutions
II. Erregungszustände
Ähnlich wie Cullen entwirft Brown ein den Lebensprozess regulierendes Dispositiv, das zum einen die Reaktivität organischer Teile erhält und zum anderen durch äußere Einflüsse pathologisch modifiziert wird. Brown nimmt jedoch drei grundlegende Verschiebungen an Cullens Ansatz vor. Erstens extrahiert er das reaktive System aus Cullens »Gehirn«-zentriertem Regulationssystem und verlegt es in ein innerhalb des Nervensystems nicht genau loziertes Erregbarkeitsprinzip. Zweitens bestimmt er den Lebenszustand als einen durch äußere Reiz-Dispositive »erzwungenen Zustand« und legt damit weniger Gewicht auf die selbstregulierenden Eigenschaften lebendiger Systeme. Drittens kommt es ihm nicht mehr auf die komplexe Physiologie der inneren Ökonomie an, sondern allein auf ein quantifizierbares, therapeutisch einsetzbares Schema möglicher Reiz-Reaktions-Verhältnisse.
2. B ROWNS E RREGBARKEITSPRINZIP In Elements of Medicine (1788) bestimmt Brown »Lebenszustände« (states of life, living states), die, Pflanzen, Tiere und Menschen umfassend, lebendige Körper charakterisieren und sie von unlebendigen Körpern unterscheiden, durch Reiz-Reaktions-Schemen, deren allgemeines Prinzip »Erregbarkeit« (incitabilitas, excitability) ist.41 Sich an Newton orientierend, der von einem durch Beobachtung und Experiment wohlfundierten »Befund an Fakten« (stock of facts) auf ein ihnen zugrundliegendes, einfaches »Attraktions«-Prinzip schloss, ohne das Prinzip selbst erklären zu können, versucht Brown, alle Erscheinungen lebendiger Körper auf ein allgemeines »Erregbarkeits«-Prinzip zurückzuführen.42 of the animal œconomy, there are certain motions excited, which have a tendency to obviate the effects of the noxious power, or to correct and to remove them. Both these kinds of motion are considered as constituting the disease. But the former is perhaps strictly the morbid state, while the latter is to be considered as the operation of the vis medicatrix naturæ, of salutary tendency, and which I shall hereafter call the REACTION of the system.« Cullen kritiserte allerdings an Stahls Ansatz den auschließlichen Fokus auf die Selbstheilungskraft oder »Autocrateia« der Seele. Vgl. Cullen 1793, Bd. 1, Preface, xxiii. 41 | Im Folgenden wird aus der revidierten, 1795 erschienenen und von Brown übertragenen englischen Ausgabe The Elements of Medicine (1788) zitiert, die Thomas Beddoes edierte. Nähere Angaben zu dieser Edition finden sich bei Overmier 1982, 312-314. 42 | Vgl. Brown 1795, Bd. 1, 7; Brown 1787, Introduction, iv: »Sir Isaac Newton used the word attraction as a term which he did not pretend to explain, and never meant that his followers should engage in the attempt.«; und ibid., 21: »The several explanations of the
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Das »Erregbarkeits«-Prinzip ist das »einzige alles bestimmende Prinzip« (sole over-ruling principle) der »Lebenszustände« eines lebendigen Körpers.43 Es wirkt in höheren Tieren und Menschen innerhalb eines »Nervensystems«, dessen reaktive Einheiten aus »medullärer nervöser Materie« (medullary nervous matter) und »muskulären festen Teilen« (muscular solids) bestehen.44 Ähnlich wie Cullen bindet Brown damit zur Kontraktion fähige Muskeln in ein Nervensystem ein, in dem erregbare »Energie« vorliegt. Im Vorwort der Observations on the Principles of the Old System of Physic, exhibiting a Compend of the New Doctrine (1787) lehnt Brown jedoch Boerhaaves, Hoffmanns und Cullens Thesen zum Nervenfluidum ab. 45 Aufgrund fehlender Kenntnisse »chemischer« und »elektrischer Phänomene« ist für Brown die physiologische Ursache der Muskelkontraktion genauso unbekannt wie »die Weise, auf die jede Funktion im lebendigen System ausgeführt wird«.46 Während er dem Medizinstudenten empfiehlt, sich allein auf Anatomie zu konzentrieren47, geht er für seinen eigenen Ansatz davon aus, dass Muskelkontraktionen schematisch erfassbare Reaktionen auf Reize zugrunde liegen.48 cause of attraction, since Sir Isaac Newton delivered his venerable system to the world, are so many examples, directly in point, of this false mode of improving, or, to speak more properly, of corrupting a true doctrine.« 43 | Brown 1787, Introduction, lxiii. 44 | Vgl. Brown 1784, 22: »Incitabilitatis in animato copore sedes, materia nervosa medullaris, et firmum musculare, est, genus nervosum, dicenda. Cui insita incitabilitas non in alia sedis parte alia est, nec ex partibus constat, sed una toto corpore et indivisa proprietas. Quam rem, sensus, motus, mentis et animi actio, protinus, temporis puncto, nec ulla succedentis operis serie, a potestatibus incitantibus suborientata, firmant.«; und 1795, Bd. 1, 36: »The seat of excitability in the living body is the medullary nervous matter, and muscular solid; to which the appellation of nervous system may be given. In this the excitability is inherent, but is not different in different parts of its seat. This is evident, because the exciting powers will im mediately rouse into exertion any of the func tions that distinguish living animal systems; or, in other words, produce sense, motion, thought or passion.« 45 | Vgl. Brown 1787, Introduction, xxvii-xxxi. 46 | Vgl. Brown 1787, Introduction, iii: »But chemistry, whatever it may be at a future period, is still only little more than a mass of deductions drawn from random experiments, a group of phenomena, the mutual connection of which to one another, or their general relation to a common cause, is by no means traced, and their applications to use left equally limited and doubtful.«; und ibid.: »[…] that branch of knowledge [electricity] is still in its infancy […] «; und 1795, Bd. 1, 234. 47 | Vgl. Brown 1795, Bd. 1, 72. 48 | Vgl. Brown 1795, Bd. 1, 46: »Muscular contraction depends upon excitement, and is proportional to the degree of excitement. This is proved by all the phenomena
II. Erregungszustände
Zur Darstellung von Reiz-Reaktions-Schemen transformiert Brown Thomas Willis’ im Körper ausgebreitete sensible anima in ein Erregbarkeitsprinzip, dessen Ökonomie nicht, wie bei Cullen, zentral von einem »Gehirn« gesteuert wird, sondern von der Verteilung von »Energie«-Potentialen abhängt. Das Prinzip wirkt in jedem Teil, dem es »inhäriert«, gleich, doch ist seine »Energie« nicht in allen Teilen gleich verteilt. Teile lebendiger Körper, denen mehr Erregbarkeit innewohnt – etwa das »Gehirn« oder der Verdauungskanal – sind »lebendiger und empfindsamer« (more vivid and sensible). Entsprechend können Reize bei gleicher Reizstärke unterschiedlich auf affizierte Teile wirken.49 Je nach der Reizstärke und der Einbindung eines erregbaren Teils in das Nervensystem werden »Erregungen« (excitements) in verschiedenen Graden an andere Teile weitergegeben.50 »Erregungen« eines lebendigen »Systems« setzen sich für Brown aus drei zeitlich aufeinanderfolgenden Phasen zusammen: »Stimulus« oder »Reiz« (stimulus), »Affektion« (affection) und »Reaktion« (reaction). Die Reizung kann dabei von außen eingeleitet und im Inneren des Systems weitergeleitet und transformiert werden oder im Inneren selbst entstehen, etwa durch »äußere Agenten« (external agents) – neben Hitze, Luft, Nahrung oder andere aufgenommene Substanzen (wie Medikamente oder Gifte) zählt Brown hierzu auch das »Blut«, das Organen zugeführt wird –, Muskelkontraktionen, sinnliche »Wahrnehmung oder Perzeption« (sense or perception), »Leidenschaften« (passions), »Emotionen« (emotions), »Denken« und Wechselwirkungen zwischen von außen kommenden und im Inneren produzierten Reizen.51 of health and disease, and by the operations of all the exciting powers and of all the remedies.« 49 | Vgl. Brown 1795, Bd. 1, 38: »[…] the more excitability was assigned to any part originally, that is, the more vivid and sensible it is, the operation of each exciting power, whether acting with due force, or in excess, or in defect, is the more considerable. Thus the brain and alimentary canal possess more vivid excitabi lity, that is, more propensity to life, than other internal parts; and the parts below the nails, than other external parts.« 50 | Vgl. Brown 1795, Bd. 1, 37 und 43-44. Brown unterscheidet zwischen »allgemeinen Reizen« (universal stimuli) und »lokalen Reizen« (local stimuli). Allgemeine Reize affizieren direkt das ganze innere System, lokale Reize zunächst nur einen konkreten Teil. Vgl. Brown 1795, Bd. 1, 5-6: »The universal stimuli are exciting pow ers, so acting upon the excitability, as always to produce some excitement over the whole system. […] The local stimuli act only on the part to which they are applied; and do not, without previously producing an affection in it, affect the rest of the body.« 51 | Vgl. Brown 1795, Bd. 1, 3-5. In seinen 1791 begonnenen Physiologievorlesungen am College of Philadelphia schließt Benjamin Rush an Browns Prinzip der Erregbarkeit als »Stimulierbarkeit« (stimulability) an, beruft sich jedoch auf seinen Lehrer Cullen.
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Gemäß dem Prinzip, dass »Erregung alle Lebenserscheinungen reguliert« (excitement regulates all the phenomena of life)52, ist für Brown jeder »Lebenszustand« ein durch »erregende Kräfte« »erzwungener Zustand«. »Aktionen« (actions) im Körper sind immer »Reaktionen« auf vorherige Reizungen. Keine »Aktion« (und kein »Verlangen« (desire)) wird spontan erzeugt oder durch eine Art »Instinkt« oder »weise Vernunft« (wise reason) geleitet, sondern durch reaktive »Systemzustände« (states of the system) eingeleitet, die ihrerseits von den »Dispositionen« des »Baus des tierischen Gerüsts« (conformation of the animal frame) abhängen, die bestimmte »Aktionen« ermöglichen.53 Lebendige Körper verfügen für Brown über eine spezifische, jedoch je nach Lebenszustand und Lebensalter wandelbare Menge an »Erregbarkeits-Energie« (energy of the excitability), an der auch das »Gehirn« teilhat.54 Durch die in ihm vorliegende »Energie« ist der Körper fähig, spezifisch auf bestimmte ErVgl. Rush 1981, 87-88: »Yes, Gentlemen, the action of the brain, the contraction of every muscular fibre, the diastole and systole of the heart, the pulsation of the arteries, the peristaltic motion of the bowels, the absorbing power of the lymphatics, secretion and excretion, hearing, seeing, smelling, taste, and the sense of touch, thought itself; all depend upon the action of stimuli upon organs of sense and motion. These stimuli are external and internal. The external are light, sound, odors, heat, pure air, and the reflected stimulus of exercise. The internal stimuli are food, drinks, chyle, the blood, a certain tension of the glands which contain secreted liquors, [and] the reflected exercises of the understanding and of certain passions of the mind.« 52 | Brown 1795, Bd. 1, 58. Vgl. Brown 1787, Introduction, xci: »[…] the whole phenomena of life, health, as well as disease, consist in stimulus, and nothing else.«; und Brown 1795, Bd. 1, 14: »Since the general powers produce all the phenomena of life, and the only ope ration, by which they do so, is stimulant, it follows, that the whole phenomena of life, every state and degree of health and disease, are also owing to stimulus, and to no other cause.« 53 | Vgl. Brown 1787, 45-47: »There is in other animals as well as in man, a certain propensity, appetite, and antipathy. Hence arise many desires, many aversions. […] The desire in hunger is for food; after fulness, loathing takes place of appetite. Thirst begets an ardent desire for drink, and the quenching of the former produces an aversion to the latter. […] These things happen without any exertion of reason or of wisdom, and even without consciousness, or any judgement of the end, good or bad; nay, they happen in spite of man. […] The whole is governed by blind instinct, arising, by a law of necessity, from the state of the system.« 54 | Vgl. Brown 1795, Bd. 1, 7: »We do know not what excitability is, or in what manner it is affected by the exciting powers. But, whatever it be, whether a quality or a substance, a certain portion is assigned to every being upon the commence ment of its living state. The quantity, or energy, is different in different animals, and in the same animal at different times«; und ibid., Bd. 2, 200 (»energy of the excitability«).
II. Erregungszustände
regungsstärken zu reagieren, die ihrerseits »Wirkungen« der »Kräfte« von Reizen sind.55 Ausgehend von diesem Ansatz arbeitet Brown an einem quantifizierbaren Verhältnis zwischen »erregender Kraft« (exciting power) und erregter »Energie« – unabhängig davon, welche Reizquelle den »Prozess« (process) auslöst. Ob Erregungen durch Hitze, Luft oder verschiedene Medikamente ausgelöst werden, spielt für die »Operationsweise« (mode of operation) der Erregung keine Rolle.56 Alle »Lebenserscheinungen« (phenomena of life) und »Lebenszustände« werden durch Abfolgen von Reiz, Affektion und Reaktion »erzeugt« (produced) und »modifiziert« (modified). Erregungen »regulieren« (regulate) für Brown nicht nur den »Zustand« von festen Teilen und von Flüssigkeiten. Sie sind auch die »erste Ursache« ihrer »Bildung« ( formation) und die »alleinige Ursache« ihrer »Erhaltung« (preservation).57 Leben, als spezifischer Ordnungszustand von Körpern, die sich durch ihre Erregbarkeit von toten Körpern unterscheiden, beginnt und endet durch die Präsenz und Absenz von Reizen: »In all the states of life, man and other animals differ from themselves in their dead state, or from any other inanimate matter, in this property alone; they can be affected by external agents, as well as by certain functions peculiar to themselves, in such a manner, that the phænomena peculiar to the living state can be produced. This proposition extends to every thing that is vital in nature, and therefore applies to vegetables.« 58
55 | Vgl. Brown 1795, Bd. 1, 4: »The property, on which both sets of powers [of external and iternal agents] act, may be named Excitability; and the powers themselves, Exciting Powers.«; ibid., 5: »Since some of the exciting powers evidently act by impulse, and the identity of the effect of others implies the same mode of operation; and since they all possess a cer tain activity; they may be denominated stimulant, or stimuli.«; und ibid., Bd. 2, 200 (»energy of stimulus«). 56 | Vgl. Brown 1795, Bd. 1, 5: »That is, since sense, motion, mental functions, and the passions are the only, and constant, effects of the exciting powers, acting upon the excitability; and since these happen, whether one, or more, or all the powers, or whichever of them, act, the irresistible conclusion, that arises in the mind, is, that, the effect of the powers being the same, the mode of operation of them all must be the same. This mode of reasoning, which is certainly as just as it is new in medicine, will often occur, and, we trust, will stand the test of the most scrupulous scrutiny.« 57 | Vgl. Brown 1795, Bd. 1, 49: »The state both of the sim ple solids and fluids depends upon the state of health, which is regulated by the excite ment.«; und ibid., 58: »[…] excitement regulates all the phenomena of life […]« 58 | Brown 1795, Bd. 1, 3. Vgl. ibid., 4: »If the property which distinguishes living from dead matter, or the operation of either of the two sets of powers [external and internal exciting agents] be with drawn, life ceases. Nothing else than the presence of these is necessary to life.«
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Unter bestimmten »Umständen« (circumstances) und innerhalb enger »Grenzen« (limits, boundaries) kann der Prozess fortlaufender Erregung das System lebendiger Körper, das von sich aus zur »Auflösung« (dissolution) seiner physischen Ordnung tendiert, in einem »Zustand« erhalten, den ein »angenehmer, einfacher und genauer Gebrauch aller Funktionen« (pleasant, easy, and exact use of all the functions) charakterisiert.59 Diesen »Zustand« bezeichnet Brown als »Gesundheit«. Im »Gesundheitszustand« entspricht der reaktiven »Kraft des Lebens« (vigour of life) eine »Mittelmäßigkeit der Erregbarkeit« (mediocrity of excitability), durch die das System auf »angemessene« (appropriate) Weise auf Reize reagieren kann.60 Außen-Reize können entsprechend mit einer für den Erhalt »gesunder Zustände« (healthy states) »angemessenen Kraft« (due force) wirken oder durch »Überschuss« (excess) und »Mangel« (defect) »kranke Zustände« (diseased states) auslösen.61 Allein ein »mittlerer« oder »moderater Reiz« (mean, moderate stimulus), der auf eine »mittlere oder halb-aufgebrauchte Erregbarkeit« (mean or half consumed excitability) trifft, produziert eine Erregung, die Leben erhält.62 Der allgemeine Zustand der »Erregbarkeits-Energie« wird durch AußenReize nicht nur erhalten, sondern auch nachhaltig beeinflusst. Das entscheidende Moment der Erhaltung und der Modifikation lebendiger Körper liegt daher nicht in ihnen selbst. Vielmehr hängt der »erzwungene Zustand« ihres Lebens von den Einflüssen »fremder Kräfte« ab: »From all that has hitherto been said, it is certain, that life is not a natural, but a forced state; that the tendency of animals every moment is to dissolution; that they are kept from it, not by any powers in themselves, but by foreign powers, and even by these with
59 | Vgl. Brown 1795, Bd. 1, 1; und Brown 1787, Introduction, xci; ibid., cvii: »[…] the living state […] is the effect of the exciting powers, acting upon the excitability, and producing the cause of the living state, the excitement, under the circumstances, and within the limits, that have been marked out […]«; und ibid., 58: »If our natural tendency is to death, or the dissolution of that system, the living state of which is kept up by external powers acting upon the excitability […]« 60 | Vgl. Brown 1787, Introduction, cvi; und Brown 1795, Bd. 1, 16: »Every age, therefore, and every constitution, if the excitement be properly directed, has its appropriate degree of vigour.« 61 | Vgl. Brown 1795, Bd. 1, 38. 62 | Vgl. Brown 1795, Bd. 1, 15: »A mean stimulus, acting on a mean or half consumed excitability, produces the highest excitement. And the excitement becomes less and less, in proportion either as the stimulus is applied in a higher degree, or as the excitability is more accumulated.«
II. Erregungszustände
difficulty, and only for a time; and then, from the necessity of their state, they yield to death.« 63
»Gesunde« und »kranke Zustände« sind »Lebenszustände«, doch stellt der »kranke Zustand« nur einen »Schwächezustand« (state of debility) dar, der droht, in einen »morbiden Zustand« (morbid state) überzugehen.64 Für Brown kann kein lebender Körper dauerhaft eine ideale »Mittelmäßigkeit der Erregbarkeit« einhalten. Während ihrer »Existenz« treten unvermeidlich zu starke oder zu schwache Reize auf, die tendenziell pathologische »Dispositionen« und »Systemzustände« bedingen. Diese Veränderungen führen bei jedem lebenden Körper irgendwann zum »Tod«.65 Brown geht es in den Elements nicht primär um die Bedingungen der Lebensfähigkeit organischer Körper, sondern um Modifikationen ihrer »Systemzustände«, die zwischen dem Beginn des Lebens und dem Tod auftreten können. Durch eine Typologie möglicher »Lebenszustände« versucht er, Medizin als eine Wissenschaft zu etablieren, deren therapeutisches Potential auf der Steigerung und Minderung der Reizstärke und der Reizfrequenz beruht. Aufgrund praktischer Erfahrungen, die jedoch nicht durch experimentelle Arbeit gestützt werden, überführt Brown die Reiz-Reaktions-Logik der Ordnung des Lebendigen – jeder »Lebenszustand« wird »in einem Grad erzeugt, der dem Reiz-Grad entspricht« (produced in a degree, proportioned to the degree of stimulus)66 – in einen Therapieansatz, der Reiz-»Grade« in einem Korrelations-Schema zwischen Erregbarkeit und Erregung quantifiziert. Neben dem Verbrauch der Erregbarkeits-»Energie« durch starke Reize beruht das Schema auf der Regel, dass schwache Reize, die keine Erregung auslösen, zu einem »Überschuss« (abundance, excess) »akkumulierter« (accumulated) oder latent»schlafender« (dormant) Erregbarkeit führen: 63 | Brown 1795, Bd. 1, 58. 64 | Vgl. Brown 1787, Introduction, lxiv-lxv und lxxi; und ibid., 43. 65 | Vgl. Brown 1795, Bd. 1, 18: »And though a most exact measure of excitement be kept up, yet death at last, however late, will supervene.«; und ibid., 55: »If the just degree of excitement could be constantly kept up, mankind would enjoy eternal health. But two circumstances prevent that. Such is the nature of the sthenic diathesis, that it wastes the sum total of excitability assigned to every being upon the commencement of its living state, and thereby sooner or later induces disease, and afterwards death. This is one cause of mor tality. […] The asthenic diathesis is hurtful by not supplying the degree of excitement necessary to health, and thereby allowing the state of life to approach more nearly to that, in which death consists. This opens ano ther gate of destruction to mankind. […] Further, diseases and death are consequences of the change of either diathesis into the other.« 66 | Brown 1787, Introduction, xci.
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»The circumstances, under which excitement is produced, have two boundaries […] One of these is, exhaustion of the excitability from violence of stimulus. For all the stimulant powers may carry their energy to the degree, under which no excite ment will arise. The reason is, that the body becomes no longer susceptible to the operation of stimulus; another expression for which is, that the excitability is consumed. […] The other condition or circumstance, limiting excitement, is, a state of the exciting powers insufficient to produce excitement. As this case arises from deficiency of stimulus, and abundant excitability, it ought to be distinguished from the other, which supposes abundance of stimulus, and deficiency of excitability.« 67
Sowohl ein »Überschuss« an starken Reizen als auch ein »Überschuss« an Erregbarkeit durch zu schwache Reize erzeugt eine allgemeine »Schwäche« (debility) des »Systemzustands«. Brown bezeichnet den Zustand, der auf einen Reiz-»Überschuss« folgt, als »indirekte Schwäche« (indirect debility), und den umgekehrten Fall, in dem ein »Reizmangel« vorliegt, als »direkte Schwäche« (direct debility).68 Beide Arten der Schwächung können durch »Prädispositionen« (predispositions) – die etwa aus potentiell pathologischen Gewohnheiten oder individuellen Abweichungen des »Baus des tierischen Gerüsts« resultieren – schneller eintreten und verstärkt werden.69 »Prädispositionen« stellen 67 | Brown 1795, Bd. 1, 16-24. Vgl. ibid., 15: »This mutual relation obtains be twixt excitability and excitement, that the more weakly the powers have acted, or the less the stimulus has been, the more abun dant the excitability becomes; the more powerful the stimulus, the excitability be comes the more exhausted.«; und ibid., 24: »[…] excitability be comes abundant, because, in consequence of the stimuli being withheld, it is not exhausted. Thus, in the cold bath, the excitement is di minished, because the stimulus of heat is re duced, and, therefore, the sum of all the sti muli falls short; so that the excitability, be ing less exhausted by stimulus, is increased.« 68 | Vgl. Brown 1795, Bd. 1, 21: »The excitability thus exhausted by stimulus constitutes debility, which may be denominated indirect, because it does not arise from defect, but excess of sti mulus. […] Through the whole progress to indirect debility, the second application of every stimulus has less effect than the first, the third less than the second, and so forth to the last, which produces no more excite ment; this effect takes place in proportion to the degree or duration of the several ap plications, though each gives some excitement.« 69 | Vgl. Brown 1795, 9: »Vegetable matter in general, when used alone for nourishment, is hurtful; it is so, at least, to those who have been accustomed to better fare, and that by a debilitating opera tion; yet even vegetable food, since it supports life, however poorly, longer than a total want of food, must, of course, be stimulant. But, if asthenic diseases, in some instances, arise from vegetable food, and not always from fasting; this must be owing to a certain change pro duced in the system, by which the sum total of stimuli is rendered less fit to act upon the excitability. That this is the case, is proved
II. Erregungszustände
daher für Brown »Zwischenzustände« (intermediate states) dar, die »Krankheiten« einleiten können. »Krankheiten« und »Prädispositionen«, die aus »exzessiver Erregung« hervorgehen, nennt er »sthenische Krankheiten« (sthenic disease) und »sthenische Diathesen« (sthenic diatheses), und diejenigen, die auf »mangelhafte Erregung« folgen, »asthenische Krankheiten« (asthenic diseases) und »asthenische Diathesen« (asthenic diatheses).70 In einer Fußnote der englischen Übersetzung der Elementa entwirft Brown eine Skala mit achtzig Reiz- und Energie-»Graden«, um das Verhältnis von »erregender Kraft« und »Erregbarkeit« darzustellen 71, das seiner Erfahrung nach die »Lebenszustände« menschlicher Körper bestimmt: Erregende Kraft 0 10 20 30 40 50 60 70 80 Erregbarkeit 80 70 60 50 40 30 20 10 0 In diesem Schema liegen zu Beginn des Lebens achtzig Erregbarkeits-Grade vor, die mit achtzig Reiz-Graden »erregender Kräfte« korreliert werden.72 Wenn bei Reizungen »erregende Kräfte« mit einer Stärke von siebzig und achtzig Graden wirken, kommt es durch »Energie«-Verbrauch zu »indirekter Schwächung«, während bei Einwirkungen von unter vierzig Reiz-Graden »direkte Schwächung« eintritt.73 Samuel Lynch, ein Student Browns, hat das Schema mit Krankheits- und »Prädispositions«-Zuständen verbunden. Dieses
by the most stimulant food losing part of its effect by continued use, and requiring the substitution of another stimulus in its place, to produce equal excitement.« 70 | Vgl. Brown 1795, Bd. 1, 51-53. 71 | Vgl. Brown 1795, Bd. 1, 25, Fußnote 1. 72 | Vgl. Brown 1795, Bd. 1, 25-26, Fußnote 1: »At the commencement of life, the sum total assigned is understood to be 80, because no part, as yet, is wasted by the action of stimuli. Next it is wasted in proportion as these are applied from the beginning to the end of the scale. Its wasting is, therefore, owing to action and operation, but its accumulation to the reverse, the want of the action or operation of the exciting powers, as is expressed by the numbers placed above those first men tioned. Thus one degree of exciting power applied takes off one degree of excitability, and every subsequent degree impairs the excitability in a proportion exactly equal to its degree of force. Thus a degree of stimu lant or exciting power equal to 10, reduces the excita bility to 70 ; 20 to 60 ; 30 to 50; 40 to 40; 50 to 30; 60 to 20; 70 to 10; 80 to 0. And on the contrary, the subtraction of stimulant power allows the excita bility to accumulate.« 73 | Vgl. Brown 1795, 34.
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erweiterte Schema erschien zuerst in der englischen Beddoes-Ausgabe der Elementa von 179574:
Abbildung 1: Samuel Lynchs erweitertes ErregungsSchema von Krankheitszuständen.75
In den Elements fokussiert Brown nicht auf »lokale« oder »organische Krankheiten« (local, organic maladies), die durch »Verletzungen« (injuries) verursacht werden, sondern auf »allgemeine Krankheiten« (general diseases), die auf einer Erregung des ganzen Systems beruhen und »Prädisposition« voraussetzen.76 Alle »Krankheiten« – in Form lokaler »Entzündungen« (inflammations) oder chronischer Reiz-»Überschüsse« – resultieren für ihn jedoch aus bestimmten 74 | Siehe hierzu Overmier 1982, 313. 75 | Brown 1795, Bd. 1, nach der Einleitung, ohne Seitenzahl. 76 | Vgl. Brown 1795, Bd. 1, 70-72.
II. Erregungszustände
Erregungszuständen – und nicht aus »Mängeln fester Teile oder der Flüssigkeiten« ( faults of the solids or fluids): »It is the excitement alone, through its varying degrees, that pro duces either health, disease, or recovery. It alone governs both universal and local dis eases: neither of which ever arise from faults of the solids or fluids, but always ei ther from increased or diminished excite ment.« 77
Therapien oder »Kuren« sollten daher für Brown »niemals auf den Zustand der festen Teile oder Flüssigkeiten, sondern nur auf die Verringerung oder Verstärkung der Erregung (diminution or increase of excitement) abzielen«.78 Medikamente wirken als Reize immer entweder »stärkend« oder »schwächend« auf pathologische Erregungszustände.79 Neben bestimmten Stoffen, die wie Opium eine stark erregende Wirkung haben, 80 setzt Brown in seiner Therapie vor allem auf Blutentleerung und Kälte bei sthenischen sowie auf Blutvermehrung (aufgrund besonderer Nahrung) und Hitze bei asthenischen Krankheiten.81 Für ihn stellen allerdings nur drei Prozent der »allgemeinen
77 | Brown 1795, Bd. 1, 49. Vgl. Brown 1795, Bd. 1, 14-15: »Excitement, the effect of the ex citing powers, the true cause of life, is, within certain boundaries, proportional to the degree of stimulus. The degree of stimulus, when moderate, produces health; in a higher degree it gives occasion to diseases of exces sive stimulus; in a lower degree, or excess lively weak, it induces those that depend upon a deficiency of stimulus, or debility. And, as excitement is the cause both of diseases and perfect health; so that which restores the morbid to the healthy state, is a diminution of excitement in diseases of excessive stimulus, and an increase of excite ment in diseases of debility. These intentions are called Indications of Cure.«; und ibid., 51-52: »That this [excitement] is the only real origin of diseases and predispositions, is proved by the same powers, which produce any disease or predisposition, also producing the whole set of diseases to which it belongs; and by the same remedies, which cure any disease, or predisposition, also curing all the diseases and predispositions of its respective form.« 78 | Vgl. Brown 1795, Bd. 1, 40 und 49; und Risse 1970, 48: »According to Brown’s theory, there is only one form of treatment: the administration of stimulants.« 79 | Vgl. Brown 1795, Bd. 1, 42: »For, as the exciting powers are the same, and the excitability every where the same, it is impossible that the effect should not be the same. The excitement, therefore, is never increased in a part, while it is diminished in the general system – nor diminished, while the general excitement is increased. There is no difference here, but in degree; nor can different effects flow from one and the same cause.« 80 | Vgl. Brown 1795, Bd. 1, 19. 81 | Vgl. Brown 1795, Bd. 2, 1-9.
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Krankheiten« sthenische Krankheiten dar – entgegen der zu seiner Zeit gängigen humoralpathologischen Praxis der Blutentleerung.82 Da in seinem Ansatz Erregungen nicht nur der Antwort des Erregbarkeitsprinzips vorausgehen, sondern auch die Art der Antwort von der Reizstärke und der Reizfrequenz abhängt, blendet Brown Paracelsus’ inwendigen Arzt sowie die hippokratische vis mediatrix naturae aus: »That life is entirely regulated by excitement appears, 1. because the exciting powers have a stimulating effect only: 2. be cause the activity of the functions is propor tional to the strength of the exciting powers; and 3. because efficacious remedies are such as oppose deficient stimulus to excessive excite ment, and excessive stimulus to deficient ex citement.« 83
Angeregt durch Röschelaubs Dissertation De febri fragmentum (1795), die 1798 unter dem Titel Von dem Einflusse der Brown’schen Theorie in die practische Heilkunde erschien, kommt es in Deutschland zu einer intensiven Rezeption von Browns Ansatz, die neben Medizin und Diätetik auch Subjekt- und Naturphilosophie umfasst.84 Im Zentrum der Rezeption steht das Problem der Reduktion des »Lebensprinzips« auf die Reiz-Reaktions-Schemen eines »Erregbarkeitsprinzips«.85 Während Carl Arnold Wilman in Grundsatz der Beurtheilung des Brown’schen Systems (1800) das Prinzip der Erregbarkeit als ein »ganz neues 82 | Vgl. Brown 1795, Bd. 1, 85, Fußnote g; und Wiesing 1995, 68. Für Browns Kritik hippokratisch tradierter Therapien siehe Brown 1787, Introduction, lxii-lxxv. 83 | Vgl. Brown 1795, Bd. 1, 50-51; und ibid., 81: »Since every universal disease, every predisposition, depends upon increased or diminished excitement, and is removed by the conversion of that into the degree which constitutes the mean betwixt both; in order both to prevent and cure diseases, we must always use the indication proposed, and stimulate or debilitate; never wait, or trust to the supposed powers of nature, which have no real existence.« Ähnlich wie Cullen kritisiert Brown (1787, lxxv) die zentrale Rolle der Selbstheilungskraft der Natur in Stahls Ansatz. Zum Problemkontext der vis mediatrix naturae siehe Schott 1987. 84 | Für Röschelaubs Ansatz und zur Rezeption von Browns Erregbarkeitstheorie in Deutschland siehe Frank 1800 und 1803; Neubauer 1967; Risse 1971; Bole 1974; und Tsouyopoulos 1982, 1988 und 2008, 95-102. Für die Rezeption in anderen Ländern – etwa in Italien (Giovanni Rasori), Frankreich (François Broussais), England (Francis Carter, Thomas Morrison) und den Vereinigten Staaten von Amerika (Benjamin Rush) – siehe weiterhin Carter 1788; Morrison 1806; Hirschel 1846; Rath 1960; Henkelmann 1981, 19-24; Bynum & Porter 1988; Wiesing 1995, 70-81; Canguilhem 2000; und Tsouyopoulos 2008, 84-95. 85 | Brown bezeichnet »Erregbarkeit« als »Lebensenergie« (energy of life) (1795, Bd. 1, 79) und das »Erregbarkeitsprinzip« als »Lebensprinzip« (principle of life) (ibid., 2).
II. Erregungszustände
Zwischending zwischen dem Körper und den Aussendingen« einführt, durch welches das Verhältnis von Erregung und Erregbarkeit konstitutiv für die »Lebensprocesse« von »Organismen« wird 86, kritisiert Hufeland an Brown, dass dessen lebendige Systeme primär von Außen-Reizen abhängen, und retabliert, ähnlich wie Bichat, die Autonomie organismischer Existenz als eine Ordnung, die sich den zerstörerischen Kräften der Umgebung widersetzt. 87 In seiner Heilkunde verlagert Hufeland die regulierende Instanz des Lebenszustands 86 | Vgl. Wilmans 1800, 11; und ibid, 12: »Es sind überhaupt zur Erklärung des Verhältnisses zwischen einem lebenden Körper und seinen auf ihn einwürkenden Aussendingen nur drey Wege möglich: Entweder man schlüpft über den eigentlichen Sinn der Frage ganz hinweg, und stellt geradehin den Satz auf: auf Reiz folgt Reaction, ohne sich weiter um das diesen Begriffen zum Grunde liegende Object zu bekümmern; oder man hält den Lebensprocess für ein Resultat der Organisation der Materie, so dass die einwürkenden Aussendinge nur als stimuli zur eigentlichen Aeusserung des Lebens der Materie würken; oder man setzt zwischen die einwürkenden Aussendinge und den organisirten Körper ein Zwischending, nämlich ein Etwas, was man sehr uneigentlich mit dem Namen Lebenskraft belegt hat (denn das Wort Kraft sollte man doch nur von einer Eigenschaft eines Dinges gebrauchen, also hier entweder des Körpers selbst, oder jenes Zwischendinges), und von welchem man abnimmt [sic!], dass es die Einwürkung der Aussendinge percipire und durch seine innere Lebenseigenschaft die Lebensäusserungen der Materie hervorbringe.« Für Wilmans Erregungstheorie siehe Wiesing 1995, 92-104. 87 | In Johann Michael Leupoldts Ueberblick über die Geschichte der Medicin von ihrer Reformation bis zur Gegenwart (1838) zeigen sich auch die soziopolitischen Konsequenzen, die mit diesen Perspektiven verbunden wurden. Vgl. Leupoldt 1838, 356-357: Das Brownsche System »stellt, den bisher vorherrschenden Subjectivismus auf die Spitze treibend, aber eben damit sich auch von der ganzen bisherigen Geschichte der Medicin losreißend und sich ihr entgegenstellend, recht eigentlich eine Revolution auf diesem Gebiete dar, ein specielles Gegenstück gegen die demnächst ausbrechende allgemeinere französische Revolution. […] So drehte sich alles in dieser Lehre um das blose Abstractum der Erregbarkeit des Organismus durch äußere Einflüsse, die allen Theilen und Substanzen derselben zugesprochen wurden, ohne weitere Unterscheidung ihrer Besonderheiten und qualitativer Unterschiede nöthig zu finden, und deren eigene Natur sowohl, als die Art ihrer Affection man weder näher kenne, noch zu kennen brauche. Die innere Eigenthümlichkeit und Selbständigkeit des organischen Lebens wurde, wo nicht geleugnet, so doch großentheils ignorirt, und mit bloser Reizempfindlichkeit und Bestimmbrakeit für und durch die Außenwelt, die dabei ebenfalls nur als ein Aggregat von Reizen betrachtet wurde, verwechselt, das Leben mehr nur als ein von außen erzwungener Zusand angesehen, auf die besonderen Beziehungen, Stufen und Formen des Organismus fast gar nicht eingegangen, und anstatt seiner eigenen eingebornen Gesetzlichkeit, Zeitordnung u. s. w. mehr nur Willkühr und Zufall von außen statuirt.«
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in das Körperinnere zurück, schließt aber nicht an Cullens Gehirn-zentrierte Nervenpathologie, sondern, den Sensibilitätsdiskurs der Montpellierschen Schule aufnehmend, an die Traditionslinie der vis mediatrix an, die für ihn als Lebenskraft zwischen Innen- und Außenwelt vermittelt.
III. Hufelands selbsttätiger Organismus
In den Abhandlungen Ideen über Pathogenie und Einfluss der Lebenskraft auf Entstehung und Form der Krankheiten (1795) und System der practischen Heilkunde (1800-1805) entwickelt Christoph Hufeland, der Professor für Medizin und Pathologie in Jena und Berlin ist,1 ein »Organismus«-Modell »erregbarer lebender Wesen«, deren Reiz-Reaktions-Schemen auf »Äusserungen« einer »Lebenskraft« beruhen, die, ohne auf »Gehirne« angewiesen zu sein, durch »Reize« ausgelöst werden. Innere »Organisationsbeschaffenheiten« und die Ordnungen der Dinge in der »Außenwelt« ermöglichen und begrenzen als »innere« und »äußere Lebensbedingungen« das Wirken und die »Ausdrucks«Fähigkeit der »Lebenskraft«. 2 Hufeland hebt gegen Brown hervor, dass die »Selbstthätigkeit« des »Organismus« nicht nur durch »Aussendinge« erzwungen wird, sondern auch von den »Aktionen« und dem »Widerstand« der inneren »Lebenskraft« abhängt: »Der Organismus ist nicht blos etwas leidendes, durch Aussendinge bestimmbares und bestimmtes, sondern etwas selbstthätiges, sich selbst bestimmendes, selbst bei dem Affizirtwerden von aussen thätiges und auf die Aussendinge reagirendes, und ihre Wirkung spezifisch, daher sehr mannichfaltig, gestaltendes.« 3
Hufelands Unterscheidungen zwischen »Organismus«, »Organisation« und »Außenwelt« gehören dem Lebenskraft-Diskurs an, der sich im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts mit John Hunter in England und Friedrich Casimir Medicus, Johann Friedrich Blumenbach, Johann Christian Reil und Carl 1 | Für Hufelands Biographie und detaillierte Werksanalysen siehe Göschen 1863; Busse 1982; Pfeifer 1968 und 2000; Schipperges 1987; und Schönfeld 1988. 2 | Als Herausgeber des Journals der practischen Heilkunde verfasst Hufeland eine Reihe von Aufsätzen gegen den Brownianismus. Siehe Hufeland 1795a, 1797, 1799, 1805, 1811 und 1812. Für den weiteren Kontext von Hufelands Kritik siehe Risse 1971; Mayer 1993; und Wiesing 1995, 66-81. 3 | Hufeland 1811, 18.
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Friedrich Kielmeyer in Deutschland etabliert.4 Nachdem 1780 seine Schrift Über den Bildungstrieb erschienen war, stellte Blumenbach in der vierten Auflage des Handbuchs der Naturgeschichte (1791) regulative Eigenschaften von »Lebenskräften« – und zwar vor allem den »Bildungstrieb« für »Zeugung«, »Ernährung« und »Reproduction« oder »Wiederherstellung« – in das Zentrum organischer Ordnungen.5 Auf ähnliche Weise bezeichnet Hufeland die »Lebenskraft« als eine aus der Erfahrung abgeleitete und für die Ordnung des »Organismus« spezifische qualitas occulta, deren verschiedene Tätigkeitsbereiche an anatomische »Strukturen« und physiologische »Verrichtungen« gebunden, aber nicht – wie bei Reil – auf allgemeine Gesetze der Chemie und Physik reduzierbar sind.6 Die »Organisation« eines lebendigen Körpers ist für Hufeland eine »nach den Gesetzen des Organismus bewirkte Bindung und
4 | Vgl. Medicus 1774; Blumenbach (1780) 1791; Kielmeyer 1793 (in Kanz 1993); und Reil 1796. Eine eingehende Diskussion des Lebenskraft-Diskurses findet sich bei Lenoir 1982. 5 | Vgl. Blumenbach 1799, 17-18. Für Blumenbachs Modell von Lebenskräften siehe Lenoir 1980 und McLaughlin 1982. 6 | Vgl. Hufeland 1795a, 48: »Da wir das Wesen der Lebenskraft so wenig als irgend einer andern Kraft zu erkennen vermögen, so bleibt uns nichts anders üb rig, als ihre Aeusserungen und Verhältnisse, in so fern sie unsere Sinne fassen können, zu beobachten, zu sammeln und zu ordnen. Da durch allein können wir hoffen, ihrem We sen so nahe zu kommen, als es uns in die ser Sinneswelt möglich ist.«; Hufeland 1795b, 149-150; Hufeland 1811, 10-11: »Jene Grundkraft [die Lebenskraft] gehört zur übersinnlichen uns ewig unbegreiflichen Welt, aber die Gesetze ihres Wirkens können wir erkennen und bestimmen.«; Hufeland 1805, 117; und Reil 1796, 13-14. Neben Blumenbach orientiert sich Hufeland für seinen »Lebenskraft«-Begriff an August Unzers Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper (1771). Vgl. Unzer 1771, Vorrede, 3r-3v: »Diese blos physischen und mechanischen Kräfte der Bewegung sind es gleichwohl nicht eigentlich, welche den lebendigen thierischen Körper im natürlichen Zustande zu bewegen pflegen; sondern es wirken alsdann in ihm noch andere Kräfte in einer bestimmten Ordnung, nach ganz andern, als den uns bekannten physicalischen und mechanischen Gesetzen, und durch sie bewerkstelliget er die natürlichen Verrichtungen, wozu ihn seine Structur vermögend macht. Ein Reiz, der auf ein todtes Herz, auf einen völlig erstorbenen Muskel, auf die Arterien eines Leichnams keine Wirkung thut, unterhält im natürlichen Zustande den Umlauf, verändert den Puls der Schlagadern, und beweget Muskeln und Glieder. Diese besonderen bewegenden Kräfte, die das belebte Thier vor dem Leichnam voraus hat, ob sie gleich mit den blos physischen und mechanischen gemeinschaftlich in ihm wirken, heißen die eigentlichen thierischen Kräfte, und geben dem belebten Thier diejenige Natur, welche ich die eigentliche thierische Natur thierischer Körper nenne.«
III. Hufelands selbsttätiger Organismus
Formation der Bestandtheile«, und diese »Gesetze« leiten sich aus den ReizReaktions-Schemen der in ihm wirkenden »Lebenskraft« ab.7 Durch das Zusammenspiel von »Lebenskraft« und »Organisation« sind »Organismen« für eine gewisse Zeit zur »Selbsterhaltung« fähig. Während physische, von einer »Lebenskraft« geleitete »Prozesse« im »Ey« unter gewissen »Umständen« – zu denen eine »spezifische Konkurrenz« der Stoffe gehört, aus denen sich das »Ey« zusammensetzt – zur gesetzmäßigen »Ausbildung und Organisirung« lebender Körper führen, stirbt der »Organismus«, wenn »Lebenskraft« verbrauchende »Lebenstätigkeiten« und zerstörerische Einflüsse der »Außenwelt« zu einer die Erneuerung der »Lebenskraft« nicht mehr ermöglichenden »Disorganisation« der physischen Ordnung führen.8 Der tote »Organismus« weist zwar noch »Organisations«-Grade auf, doch sind sie für die »Reproduktion« der »Lebenskraft« nicht mehr hinreichend.9 Während des Lebens des »Organismus« stellen sich zwischen »Organisations«- und »Disorganisations«-Prozessen »Lebenszustände« ein, deren »Modifikationen« und »Normalzustände« Grundlage von Hufelands Pathologie sind. Ausgehend von einem für alles Lebendige (und alle Menschen) einheitlichen »Organismus«-Modell, das einen »Normalzustand« festlegt, versucht Hufeland, »Einheit der Begriffe in die verschiedenen Theile der Heilkunst« zu 7 | Hufeland 1800-1805, Bd. 1, 71 8 | Vgl. Hufeland 1795a, 53; ibid., 71-72; und 1800-1805, Bd. 1, 60. Für den Bildungsprozess organischer Körper orientiert sich Hufeland an Blumenbachs These, dass »keine präfomirten Keime existieren: sondern dass in dem vorher rohen ungebildeten Zeugungsstoff der organisirten Körper, nachdem er zu seiner Reife und an den Ort seiner Bestimmung gelangt ist, ein besonderer, dann lebenslang thätiger Trieb rege wird, ihre bestimmte Gestalt anfangs anzunehmen, dann lebenslang zu erhalten, und wenn sie ja etwa verstümmelt worden, wo möglich wieder herzustellen.« (Blumenbach [1780] 1791, 31). 9 | Für das Verhältnis von »Organisation« und »Disorganisation« in lebenden Körpern siehe Hufeland, Von dem Rechte des Arztes über Leben und Tod (1823), 1834, 248 und 293. Vgl. Hunter 1835-1837, Bd. 1, 241-242: »[…] [the] original or common matter has been first so decomposed, and then again so combined, as to become animal matter. This animal matter next became so arranged as to become alive. Now I shall observe that these combinations and arrangements are differently modified, so as to produce the various kinds of animal substances; some of which have their parts so disposed as to have motion amongst themselves, as muscles; others to have sensation, as brain and nerves; and in others the living parts are so disposed as to acquire other properties, as elasticity, rigidity, &c. […] Now if this idea of organization is just, organization and life are two different things; for, according to this definition, a dead body is as much organized as a living one, for in the dead body the same mechanism exists as in the living one.«
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bringen.10 Diese »Einheit der Begriffe« darf nicht nur deduktiv aus »Systemen« abgeleitet werden, sondern muss für ihn auch auf Erfahrungen beruhen, die aus der Medizin als »Kunst« hervorgehen.11 Hufeland schließt damit an Johann Georg Zimmermanns Von der Erfahrung in der Arzneykunst (1763) und Jean Senebiers L’art d’observer (1775) an, berücksichtigt aber zugleich tradierte antike Theoriegebäude. Das »Geschäft« des Arztes besteht für Hufeland in einem »fortdauernden Experimentiren in der Region des Lebens«, das, je nach dem Fortschritt der einzelnen Wissenschaften, durch Anatomie, Physiologie und Chemie gestützt wird.12
1. S ELBSTERHALTUNG UND S ELBST TÄTIGKEIT Für Hufeland ist das »Gesetz der organischen Natur«13 oder das »Hauptgesetz des Organismus«14, dass selbst die »kleinste Lebensäußerung« nicht ohne Reiz und Reaktion der »Lebenskraft« abläuft, »sowohl die ohne unser Wissen und Willen geschehenden innern Bewegungen der Circulation, Chylification, Assimilation und Sekretion, als auch die freiwilligen und Seelenwirkungen«15. Leben ist nichts anderes, »als die beständige Verkettung des passenden Reizes mit der Reizfähigkeit, und eine fortdauernde Kraftäusserung, hervorgebracht durch den Eindruck des natürlichen Reizes auf die Reizfähigkeit«.16 Dabei werden »Eindrücke« in einem lebendigen Körper »anders modificirt und reflectirt als in einem unbelebten«.17 Jede Wirkung eines »Aussdinges« muss »als eine aus dem äußerlichen Eindruck und der Reaction der Lebenskraft zusammengesetzte« angesehen werden.18 Drei Verschiebungen charakterisieren die Transformation von Browns Erregbarkeitsprinzip in Hufelands »Hauptgesetz des Organismus«: Erstens wirkt 10 | Vgl. Hufeland, 1795a, Vorrede, [4]; und Hufeland, Die Welt des Lebens (1815), 1834, 60. Für den weiteren Kontext der Problemlage der Medizin im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert siehe Moravia 1972; Tsouyopoulos 1982, 180-200; Mayer 1993, 11-13; Wiesing 1995; und Grmek & Fantini 1996. 11 | Vgl. Hufeland 1797, 143: »Medizin konstituiert Erfahrung, Theorie dient ihr blos als Regulatif, letztere muss aber immer bereit seyn, sich umzuändern und der Erfahrung anzuschmiegen, sobald sich diese ändert.« 12 | Hufeland, Die Welt des Lebens (1815), 1834, 52. 13 | Hufeland 1800-1805, Bd. 1, 143. 14 | Hufeland 1795a, 104. 15 | Hufeland 1800-1805, Bd. 1, 143. 16 | Hufeland 1795a, 104. 17 | Hufeland 1860, 31. 18 | Hufeland 1860, 31.
III. Hufelands selbsttätiger Organismus
die »Lebenskraft« nicht nur innerhalb des Nervensystems, sondern auch durch chemische »Operationen« in anderen Systemen, etwa im Zirkulationssystem des »Blutes«.19 Zweitens verbraucht das Wirken der »Lebenskraft« bestimmte physische Dispositionen der »Organisation« des »Organismus«. Für eine »Kraftäußerung« muss die »organische Grundmischung« so beschaffen sein, dass die Einwirkung eines »Aussendings« einen Reiz-erzeugenden Prozess der »Zersetzung« auslöst.20 Die Reaktion der »Lebenskraft« auf diesen Reiz ist wiederum an eine »Energie« verbrauchende »Anstrengung« gekoppelt. Aus der »fortdauernden Erregung oder in Thätigkeit-Setzung der Lebenskraft« resultiert eine beständige »Consumtion« und »Aufzehrung« der »Materie«, die »Kraftäußerungen« ermöglicht.21 Drittens koppelt Hufeland das Moment der »Selbstverzehrung« an den physiologischen »Prozeß« der »Selbstrestauration« (oder der »Selbsterschaffung«), der »fremde Stoffe« assimiliert, um sie für eine erneute »Kraftäußerung« zur Verfügung zu stellen.22 Für die Erhaltung des »Gleichgewichts« zwischen Dekomposition und Komposition ist der lebende 19 | Vgl. Hufeland 1860, 31. 20 | Vgl. Hufeland 1800-1805, Bd. 1, 234. 21 | Vgl. Hufeland 1795a, 97 (»Lebensverrichtungen«); und 1800-1805, Bd. 1, 143: »Das wirkende Leben selbst ist eine unaufhörliche Kraftäußerung und Handlung, folglich mit unaufhörlichem Kraftaufwand und beständiger Consumtion der Organe verbunden. Alles, wodurch sich die Kraft als handelnd und thätig zeigt, ist Kraftäußerung; […]« 22 | Vgl. Hufeland 1799, 54 (»Operation der Selbst-Consumtion«); 1800-1805, Bd. 1, 2: »Das Leben ist eine fortdauernde Erre gung oder in Thätigkeit-Setzung der Lebenskraft. Diese Erregung hat aber Aufzehrung der Kraft und Organe zur unmittelbaren Folge, die eben so unmittelbar Wiederersatz dieses Verlusts erfordert.«; ibid., 214: »Das Leben ist eine fortgesezte Erre gung, bey jeder Erregung geschieht eine ihr angemessene Aufzehrung der Erregbarkeit.«; und 1860, 41: »Jedes Leben ist folglich eine fortdauernde Operation von Kraftäußerungen und organischen Anstrengungen. Dieser Prozeß hat also nothwendig eine beständige Consumtion oder Aufreibung der Kraft und der Organe zur unmittelbaren Folge, und diese erfordert wieder eine beständige Ersetzung beyder, wenn das Leben fortdauern soll. Man kann also den Prozeß des Lebens als einen beständigen Consumtionsprozeß ansehen, und sein Wesentliches in einer beständigen Aufzehrung und Wiederersetzung unserer selbst bestimmen.« Hufeland bezeichnet den »Organismus« als »Reagens des Lebens« und das »Leben« als sich selbst verzehrende »Flamme«. Vgl. Hufeland 1800-1805, Bd. 1, 60; Hufeland, Die Welt des Lebens (1815), 1834, 53; und 1860, 42: »Man hat schon oft das Leben mit einer Flamme verglichen, und wirklich ist es ganz ein einerley Operation. Zerstörende und schaffende Kräfte sind in unaufhörlicher Thätigkeit in einem beständigen Kampf in uns, und jeder Augenblick in unser Existenz ist ein sonderbares Gemisch von Vernichtung und neuer Schöpfung.«. Der auf Blaise Pascal zurückgehende Vergleich des Lebens mit einer Flamme findet sich auch in Johann Heinrich Voigts Versuch einer neuen Theorie des Feuers (1793). Vgl.
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Körper daher nicht nur auf Reize, sondern auch auf ein »neues Zuströmen von materiellen Stoffen ausser uns« und einen »beständigen Wechsel« seiner Bestandteile angewiesen: »Unsre Bestandtheile wechseln unaufhörlich, werden uns durch Excretion entzogen, und durch Luft und Nahrung wiedergegeben, und die Operation des Lebens selbst supponirt einen beständigen Wechsel dieser Bestandtheile […]« 23
Hufelands Transformation von Browns Erregbarkeitsprinzip führt zu einer Verbindung zwischen Reiz-Reaktions-Schemen und assimilatorischen »Umwandlungs«-Prozessen, die nicht nur die Zusammensetzung, sondern auch die Verhältnisse von Flüssigem und Festen in der physischen Disposition oder »Organisation« bestimmen.24 Unter die »Kategorien« der »Erregbarkeit« und der »Umwandlung« lassen sich »alle Erscheinungen des Lebens bringen«.25 Ihre Verbindung wird durch eine »Lebenskraft« ermöglicht, die sowohl »Pro-
Voigt 1793, 163: »Wir können unser Leben mit nichts passender, als dem Brennen einer Lampe vergleichen. Der Körper ist das Dacht, und die Nahrungsmittel sind das Oel […]« 23 | Hufeland 1795a, 65. Vgl. ibid., 49: Die »allgemeine Karakteristik« der Lebenskraft »lässt sich nach den zwey Hauptverhältnissen, in wel cher sie steht, dem chemischen und animalischen am besten geben, und ist folgende: 1. Sie ist die Fähigkeit eines organischen Körpers, Eindrücke als Reize zu percipircn, und darauf nach ganz eignen, weder in der chemischen noch mechanischen Natur existirenden, Gesetzen zu reagiren. 2. Sie ist die Fähigkeit des organischen Körpers, selbst die Kräfte, Gesetze, und Verhältnisse, der chemischen Natur zu verändern, zum Theil ganz aufzuheben, zum Theil zu modificiren.«; 1800-1805, Bd. 1, 3: »Die Erhaltung des Lebens beruht also wesentlich auf folgenden Punkten: 1. Auf dem gehörigen Zugang der Stoffe von aussen, wodurch die Lebensoperation ge nährt, und die durchs Leben selbst verloren gehenden Stoffe ersezt werden. 2. Auf der gehörigen Beschaffenheit der Organe und dem gehörigen Grade und Art ihrer Lebensthätigkeit, wodurch es möglich wird, dass die von aussen mitgetheilten Stoffe ins Leben aufgenommen, organisch vereinigt und gestaltet, das verdorbene und überflüssige abgeschieden, und die Operationen vollkom men möglich werden, die sich auf den Zweck des Lebens beziehen: Denkgeschäft, willkührliche Bewegung und Fortpflanzung.«; ibid.,60-61; und 1860, 41: »Die nächsten Wirkungen der Lebenskraft sind, nicht blos Eindrücke als Reize zu percipiren und darauf zurück zu wirken, sondern auch die Bestandtheile, die dem Körper zugeführt werden, in die organische Natur umzuwandeln (d.h. sie nach organischen Gesetzen zu verbinden) und ihnen auch die Form und Structur zu geben, die der Zweck des Organismus erfordert (d.h. die plastische Kraft, Reproductionskraft, Bildungstrieb).« 24 | Vgl. Hufeland 1811, 10. 25 | Hufeland 1811, 9-10.
III. Hufelands selbsttätiger Organismus
duct« der »Zersezbarkeit« der »organischen Grundmischung« als auch »unterhaltende Ursache« der »Organisation« der »Organismen« ist: »Die Lebensoperation ist also wesentlich sowohl im Ganzen als in jedem Augenblick aus zwey entgegengesezten Prozessen, Selbstverzehrung und Selbsterschaffung, zusammengesezt, welche beyde, das Leben inner lich constituirende Prozesse, aber wieder durch die Lebensäusserung (Erregung) erst möglich, und dadurch regulirt und bedingt werden.« 26
Reiz-Reaktions-Schemen und »Umwandlungs«-Prozesse hängen von einer chemischen Differenz ab, die zwischen der »Organisation« der Innenwelt des »Organismus« und dem »todten Zustand« der »umgebenden Natur« besteht. Der Übergang von Reizen und Stoffen aus der »Außenwelt« in die »Organisation« des »Organismus« charakterisiert zugleich das Verhältnis von »äußeren« und »inneren Lebensbedingungen«. Auf einem »fortgesetzten Kampf chemischer zerlegender Kräfte« der »Außenwelt« mit der »alles bindenden und neu schaffenden Lebenskraft« beruhend, führt der Übergang nicht zu einer Repräsentation der Ordnung des Äußeren im Inneren, sondern zu einer »Assimilation« des Äußeren an eine Ordnung im Inneren, die der »Außenwelt«
26 | Hufeland 1800-1805, Bd. 1, 3. Vgl. Hufeland 1800-1805, Bd. 1, 61-64; ibid., 69: »Erregung verzehrt und erzeugt zugleich Lebenskraft, – ersteres durch den mit jeder Kraftanstrengung verbundenen materiellen Verlust, lezteres durch den mit jeder Lebensäusserung verbundenen chemischen wiederersetzenden Prozess.«; ibid., 234: »Wenn wir auf die innere nächste Ursache des Lebens zurückgehen, so finden wir, dass sie auf einer bestimmten Gegenwart und Mischung und Darstellung von Stoffen beruht. Diese organische Grundmischung hat eine bestimmte Zersezbarkeit der sie constituirenden Stoffe und eigne organische Affinitä ten derselben zur unmittelbaren Folge. Diese organische Zersezbarkeit ists, was wir Erreg barkeit nennen, und deren Zustand folglich mit dem Zustand der Grundmischung in einem bestimmten Verhältniss stehen muss. Je ne organische Grundmischung kann aber nur durch Erregung erhalten werden, insofern nehmlich bey jeder Erregung eine gewisse Umtauschung von Stoffen und Veränderung ihrer gegenseitigen Lage geschieht, die zur Erhaltung jener organischen Grundmischung unentbehrlich ist. Erregung (Lebensäusse rung) ist also unterhaltende Ursache und zugleich Product jener innern Grundmischung und ihrer Zersezbarkeit.«; ibid., 242: »Die Erregbarkeit beruht auf der organi schen Zersezbarkeit der Materie, folglich auf dem dazu schicklichen Zustand der innern Organisation.«; 1811, 9-10; ibid., 18: »Jeder Act des Lebens, jede einfache Reizung, schliesst immer beides in sich, Erregung und chemischen Prozess.«; und 1860, 41: »Man kann also den Prozeß des Lebens als einen beständigen Consumtionsprozeß ansehen, und sein Wesentliches in einer beständigen Aufzehrung und Wiederersetzung unserer selbst bestimmen.«
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fremd ist.27 In der Innenwelt des »Organismus« werden materielle »Stoffe von aller Art« in ein »ganz neues eigentümliches Verhältniss« gesetzt, das in der »unbelebten Natur« nicht vorkommt.28 Die besondere organische »Chemie« der »Lebenskraft« besitzt damit nicht nur »Reizfähigkeit«, sondern auch bildendes Potential.29 Ähnlich wie in Alexander von Humboldts Aphorismen aus der chemischen Physiologie der Pflanzen (1794)30, reguliert die »Lebenskraft« für Hufeland die chemischen Gesetze der nicht-lebendigen Körper durch »Aufhebung« oder »Modifikation« ihrer »Bindungen«.31Die Gemische, die aus dieser 27 | Vgl. Hufeland 1860, 139. 28 | Vgl. Hufeland 1800-1805, Bd. 1, 59-60. Hufeland bindet die assimilative Dynamik an den Reizgrad und die Ähnlichkeit oder »Analogie« der »chemischen Beschaffenheit« der Nahrung mit der des aufnehmenden »Organismus«. Vgl. Hufeland 1800-1805, Bd. 1, 67-68: »[…] der materielle Uebergang der Nahrungsftoffe in die lebende Verbindung (Assimilation und Animalisation) richtet sich theils nach dem Grade jener Lebenserregung, theils nach der chemischen Beschaffenheit und grössern oder geringern Analogie der Nahrung mit dem organischen und zwar spezifisch-organischen Karakter, den sie erhalten soll. Je näher sie diesen ihrer Natur nach schon ist, desto leich ter wird sie ihn annehmen. So können Fleischspeisen am leichtesten, Vegetabilien schon schwehrer, Mineralien gar nicht animalisirt werden; […]« 29 | Vgl. Hufeland 1795a, Vorrede, [6-7]; 1811, 11; und ibid., 17-18: »Diese Lebenskraft, oder das innere Leben, offenbart sich auf doppelte Weise, einmal als Erregbarkeit oder Reizbarkeit im weitesten Sinne – d.h. die Fähigkeit nicht allein vital affizirt zu werden, sondern auch zu reagiren, worauf sich das Reizverhältnis des Organismus gründet; – zweitens als Schöpfungskraft, d.h. das Vermögen die Materie chemisch umzuwandeln, organisch zu gestalten, zu individualisieren, den Organismus zu reproduzieren, zu heilen; worauf sich das chemisch-organische Verhältniss gründet.« 30 | Der Text wurde bereits 1793 in Latein in Humboldts Florae Fribergensis specimen plantas cryptogamicas praesertim subterraneas exhibens veröffentlicht. Vgl. Humboldt 1794, 9: »Diejenige innere Kraft, welche die Bande der chemischen Verwandtschaft auflöst, und die freie Verbindung der Elemente in den Körpern hindert, nennen wir Lebenskraft.« 31 | Vgl. Hufeland 1795a, Vorrede, [7-8]: »Ferner habe ich gesucht, bey dem jezt so allgemeinen und rühmlichen Bestreben, die Chemie zur Erklärung der physiologischen und pathologischen Erscheinungen anzuwenden, die Grundlage anzugeben, nach welchen diese Anwendung gesche hen muss, und die Grenzen, über die sie nicht gehen darf, ohne uns in eine unbe lebte Welt, und also in eine todte Medizin hineinzuführen, die für die Praxis eben so nachtheilig werden müsste, als die einstmalige todte mechanische Medizin. Alles dies beruht lediglich auf dem Verhältniss der chemischen Kräfte zur Lebenskraft im organischen Körper, und auf dem einfachen Grundsatze, dass zwar chemische Kräfte, Agentien und Verhältnisse auch im belebten organischen Körper existiren, dass sie aber alle der Lebenskraft, als der hier herrschenden Kraft,
III. Hufelands selbsttätiger Organismus
»Umwandlung« hervorgehen und eine physisch abgegrenzte Innenwelt konstituieren, »widerstehen« ihrer »Zersezung« durch Einflüsse der »Außenwelt«, indem sie die fortdauernde Tätigkeit und »Reproduktion« der »Lebenskraft« ermöglichen. Lebendiges fault nicht.32 Vielmehr ist Leben als »beständiges Nehmen, Aneignen und Wiedergeben« ein »immerwährendes Gemisch von Tod und neuer Schöpfung«33:
untergeordnet, und folglich ganz anders modificirt sind, als in der todten Natur. Die feinste physische Chemie ist also noch immer keine animalische, und wer die Gesetze der tod ten unorganischen Chemie geradezu auf den belebten Körper übertragen wollte, ohne Rücksicht auf die Lebenskraft, die jene Gesetze erst organisch bestimmt, zu nehmen; der würde eben den Fehler be gehen, als wenn er chemische Erscheinun gen aus mechanischen Gesetzen erklärte; er würde, gesezt auch seine Chemie wäre noch so fein, dennoch den organischen Körper zum todten chemischen Laborato rium machen, und foglich würde derselbe auch aufhören, ein Gegenstand der Medizin zu seyn, die es blos mit dem belebten organischen Körper zu thun hat.«; ibid., 63-64; und Atmosphärische Krankheiten (1824), 1834, 304-305: »Wie wenig überhaupt die chemische Erkenntniss der Grundstoffe zur Erkenntniss der eigentlichen Natur eines Körpers in Beziehung auf das Lebende zureicht, zeigt uns die Analyse anderer Körper. Gifte und Nahrungs mittel, Arzneien von den allerentgegengesetztesten Wirkungen, Opium, Aloe und Zucker, haben die nehmlichen Grundstoffe, und wie himmelweit verschieden ist ihre Wirkung? – Alles beweist, dass es hierbei weit weniger auf die Grundstoffe, als auf die Verbindung, Form und Darstellung ankommt, in welcher sie in das Leben und in die Erscheinung eintreten.« 32 | Vgl. Hufeland 1795a, 54: »Nichts lebendes fault, oder mit andern Worten: So lange Lebenskraft einen Körper er füllt, hat das allgemeine chemische Gesetz der Fäulniss (so wie andre chemi schen Gesetze) keine Wirksamkeit in ihm.«; und 1860, 32: »Kein lebendiges Wesen fault: es gehört immer erst Schwächung oder Vernichtung der Lebenskraft dazu, um Fäulniß möglich zu machen.« Ein ähnlicher Gedanke findet sich auch Humboldt und Hunter. Vgl. Humboldt 1794, 9: »Daher giebt es kein untrüglicheres Zeichen des Todes, als die Fäulniss, durch welche die Urstoffe in ihre vorigen Rechte eintreten, und sich nach chemischen Verwandtschaften ordnen. Unbelebte Körper können nicht in Fäulniss übergehn.«; und Hunter 1835-1837, Bd. 1, 225: »Life is the preserver of the body from putrefaction […]« In der Makrobiotik erwähnt Hufeland (1860, 33), dass die »alles Leben zu vernichten scheinende Fäulniss« zugleich das »Mittel« ist, »wieder neues Leben zu entwickeln, und dass sie eigentlich nichts anderes ist, als ein höchst wichtiger Prozeß, die in dieser Gestalt nicht mehr lebensfähigen Betsandtheile aufs schnellste frey und zu neuen organischen Verbindungen und Leben geschickt zu machen«. Wenn Fäulniss als ein »Uebergang zu einem neuen Leben« nach »einigen Metamorphosen« des zersetzten Materials innerhalb des »großen Lebenszirkels« angesehen wird, stellt sie nur einen »scheinbaren Tod« dar (ibid.). 33 | Hufeland 1860, 139.
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»Die Lebenskraft ist das größte Erhaltungsmittel des Körpers, den sie bewohnt. Nicht genug, daß sie die ganze Organisation bildet und zusammenhält, so widersteht sie auch sehr kräftig den zerstörenden Einflüssen der übrigen Naturkräfte, in so fern sie auf chemischen Gesetzen beruhen, die sie aufzuheben, wenigstens zu modifiziren vermag. […]« 34
Aus dem systemischen Bezug zwischen »Erregbarkeit«, »Umwandlung« und »Widerstand« setzt sich das regulative Dispositiv zusammen, das »Organismen« gegenüber allen nicht-lebendigen Wesen als eine Klasse von Agenten auszeichnet, deren »Thätigkeiten« und »Handlungen« immer zugleich auf ihre innere »Organisation« und auf die umgebenden Körper einer äußeren Welt gerichtet sind.35 Das Dispositiv steht für das Selbst des »Organismus«, der als »in sich selbst zurückkehrender organischer Zirkel« existiert.36 Der »Zirkel« ist ein »Reproduktions«-Prozess, der Identität als spezifische Differenz zwischen einem Innen und einem Außen erhält. 34 | Hufeland 1860, 31-32. 35 | Hufelands Begrifflichkeit der Handlung bewegt sich noch in dem Übergangsfeld, das sich langsam aus dem breiten, organische und unorganische Körper, Kräfte und Ereignisse umfassenden Bereich ablöst, den im Englischen und Französischen vor allem der Ausdruck action kennzeichnet. Handlung verweist für Hufeland, im Unterschied zu Browns Bestimmung einer erregbaren Kraft, auf eine zielgerichtete Tätigkeit. Hufelands Kraft ist »handelnd und thätig«, und zwar sowohl im Inneren des Körpers als auch in Bezug auf seine Außenwelt. Vgl. Hufeland 1860, 42 und 143. 36 | Vgl. Hufeland 1800-1805, Bd. 1, Vorrede, xi-xii: »Es schien mir zu einer völlig befriedigenden und umfassenden Ansicht des lebenden Ganzen und aller darinn möglichen Veränderungen nöthig, es weder als eine blos erregbare Monade, noch als ein blos chemisches Laborato rium, sondern als das, was es wirk lich ist, eine beständige Verkettung beyder Verhältnisse des dynamischen und materiellen, wo die Erregbarkeit im mer die Materie und die Materie wieder die Erregbarkeit bestimmt, zu be trachten, und diesen ewigen Cirkel, diese sich immer gegenseitig bestimmende Wechselwirkung, oder, was es mit einem Worte ausdrükt, den Organismus, als die Grundursache aller Erscheinungen, und als den Hauptgegenstand, auf wel chen der Arzt zu wirken habe, aufzustellen.«; ibid., 69: »Organismus, Lebens kraft, Erregung, Lebensprozess sind sich gegenseitig als Ursache und Wirkung bestimmend, und die Hauptmomente des immer in sich selbst zurückkehrenden organischen Zirkels.«; und ibid., 215-216: »Erregung also bewirkt den innern Lebensprozess, dieser die organische Mischung und Darstellung der Stoffe, und diese producirt wieder die Erregbarkeit, ohne welche keine Erregung möglich wäre. Folglich ohne Reiz keine Erregung, ohne Erregung kein Organismus und keine Erregbarkeit, aber ohne Erregbarkeit auch keine Erregung, und eben so wenig würde beydes ohne das Geben und in einander Wirken solcher Stoffe möglich deyn, die zum Material des Organismus geschickt sind.«
III. Hufelands selbsttätiger Organismus
Nahrung, die »mechanisch (durch Härte, Ausdehnung) oder chemisch (durch reizende Stoffe)« die Verdauungsorgane erregt 37, wirkt – ähnlich wie atmosphärische »Luft«, »Wärme« und »Electricität« – zunächst als von außen kommendes »Aussending« und wird anschließend, »assimiliert und animalisiert«, zu einem Teil eines bereits bestehenden Reiz-Reaktions-Schemas des »Organisations«-spezifischen Systems des »Organismus«.38 Das »Gesetz des Organismus« enthält daher die Regel, »dass jede Organisation, jedes System den Reiz schon enthält, der zur Erregung seiner Reizfähigkeit und also zur Lebensäusserung erforderlich ist«.39 Erst die Fähigkeit zur Selbstreizung durch selbst erzeugte Reize ermöglicht die Dynamik, durch welche die innere »Organisation« sich selbst als Innenwelt erhält, die eine sie reizende »Außenwelt« umgibt. Die Fähigkeit zur Selbstreizung ist Grundlage der »Reproduktions«Prozesse, durch die das Innere aus dem Äußeren »gezeugt« und die Ordnung des »Organismus« zu einer »sich selbst und ihresgleichen reproducirenden, kleinen Welt« wird, die über ein »inneres Einheits-und Selbsterhaltungsprincip« verfügt und deren »Daseyn« und »Gestaltung« nicht »Product des all-
37 | Vgl. Hufeland 1800-1805, Bd. 1, 67. 38 | Vgl. Hufeland 1795a, 25-26: »Wir erhalten sie [Electricität] eben so gut wie der unbe lebte Körper aus der ganzen Natur, und sie ist ohne Zweifel ein höchstwichtiges Agens in der thierischen Oeconomie, aber sobald sie in die Verbindung mit Vitalität kommt, so ver liert sie einen Theil ihrer allgemeinen physischen und chemischen Eigenschaften, und hält dafür neue Affinitäten, Verhältnisse und Verwandschaften aus der animalischen Welt, folglich wird nun ihre Aufnahme, Bindung, Vertheilung, Anhäufung und Absonderung nach animalisch-chemischen Gesetzen voll bracht. Es ist nun animalische Ele ctricität.«; und 1800-1805, Bd. 1, 71: »So kann also das, was äussere Bedingung des Lebens (Reiz) war, innere Lebensbedin gung (Eigenschaft der lebenden Materie) wer den, und wird es gewöhnlich. Wer z. E. die Wärme blos als Reiz betrachtet, der irrt; sie geht zugleich in die lebende Materie über, und verändert ihren Zustand, ihre Cohäsion, selbst ihre Reizfähigkeit.« Neben spezifischen chemischen Operationen und »animalischer Electricizität« erwähnt Hufeland (Die Welt des Lebens (1815), 1834, 53), an Franz Anton Mesmer anschließend, auch den animalischen »Magnetismus« als »eine noch verborgene Kraft des Organismus, eine nur im Leben existirende und nur im Lebendigen sich äussernde Thätigkeit und Wechselwirkung«. 39 | Hufeland 1795a, 127-128. Vgl. Hufeland 1795a, 145: »Diess ist das Grundgesetz des Organismus, und das Wesen einer organischen Verbindung, liegt also darin, dass nicht allein die Reizfähigkeit da ist, sondern auch die verschiedenen Reize, die zur Erregung derselben nöthig sind, und die in so fern einen wesentlichen Theil der Organisation ausmachen. Erst durch die Ver bindung beyder wird organische Wir kung und reges Leben möglich.«
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gemeinen Naturlebens, sondern »das Werk eines ihr eigenen, selbstständigen, selbsttätigen, und eigentümlich gestalteten Lebens« ist.40
2. Z EUGUNGSPROZESSE Hufelands selbsttätiger »Organismus« ist aus sich selbst heraus fähig, seine innere Ordnung zu »erhalten«, indem er sie »reproduziert«. Durch diese »Reproduktion« »zeugt« er sich beständig selbst. Die Erhaltung dieser sich selbst »reproduzierenden« und »zeugenden« Ordnung bestimmt den »Zweck« seiner »Handlungen«. Die fortgesetzte »Umwandlung« der Stoffe im Inneren der »Organismen« ist Ausdruck einer kreativen »unaufhörlichen Metamorphose«, des »Erhobenwerdens« der Stoffgemische zu einer »höhern Potenz«, die im Moment des »Festhaltens« und der chemischen »Analyse« verschwindet.41 Sie markiert die »Kluft«, die chemische Zusammensetzung und organische Ordnung wie Tod und Leben voneinander trennt.42 Chemie kann die »materiellen Bedingungen und die Resultate des Lebens« darstellen, »aber nie das Lebendige selbst«.43 Durch zyklische, beständig modifizierend-alternierende »Zeugungen« und »Erzeugungen« von neu Aufgenommenem und bereits Vorhandenem »beginnt das Reich des Lebens, und schliesst sich das Reich der chemischen Analyse« 44: »Erzeugung ist es, was die lebende (organische) von der todten (chemi schen) Natur eigentlich und wesentlich unterscheidet. – Mit der Zeugung beginnt die organische Welt, und in ihr besteht ihr Wesen. – Aber Zeugung im weitern Sinn genommen. Nicht blos Erzeugung als Act der ersten Ent stehung, sondern als beständig fortdauernde Zeugung, in jedem Augenblicke und in jedem Punkte des Daseyns; denn Digestion, Assimilation, Animalisation, Reproduction, Secretion, genug, das ganze beständige Daseyn ei nes organischen Wesens, was sind sie anders als ewig fortdauernde Zeugungsprocesse?« 45
Den verschiedenen »Zeugungsprocessen« entsprechen für Hufeland drei »Modifikationen« der in »Organismen« wirkenden »Lebenskraft« oder »Grundkraft«: die »organisch bindende und erhaltende Kraft«, die »plastische und reproductive Kraft« und die »Kraft, Reize zu percipiren«.46 Durch die »bindende 40 | Hufeland, Die Gleichzahl beider Geschlechter (1819), 1834, 177. 41 | Vgl. Hufeland, Atmosphärische Krankheiten (1824), 1834, 305. 42 | Hufeland, Atmosphärische Krankheiten (1824), 1834, 305. 43 | Hufeland, Atmosphärische Krankheiten (1824), 1834, 305. 44 | Hufeland, Atmosphärische Krankheiten (1824), 1834, 306. 45 | Hufeland, Atmosphärische Krankheiten (1824), 1834, 305. 46 | Vgl. Hufeland 1795a, 46-110.
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Kraft« wird ein Körper »aus der Klasse der chemischen Verhältnisse in die organische Welt« versetzt.47 Sie bewirkt »Assimilation und Animalisation«, indem sie aufgenommene »Aussendinge« durch Verdauungsprozesse »zerlegt« und auf neue Weise »bindet«.48 Der Wirkbereich der »plastischen Kraft« ist für Hufeland nicht auf das beschränkt, was »manche Autoren den Bildungstrieb nennen« und allein der Entstehungsphase lebendiger Körper zurechnen, sondern umfasst auch die »immer fortdauernde Wiedererzeugung des Ganzen, und der einzelnen Theile nach derselben Form und Beschaffenheit«.49 Physischer Träger der »plastischen Kraft« ist für Hufeland das »Blut«.50 In seinen 1786 und 1787 am Royal College of Surgeons in London gehaltenen Vorlesungen hatte John Hunter bereits auf die zentrale Rolle des »Blutes« für die Vermittlung zwischen »Lebenskräften« (living powers) oder einem »Lebenprinzip« (life principle) und der mechanischen »Organisation« eines organischen Körpers hingewiesen.51 Hufeland verbindet in seinem »Organismus«-Modell Hunters Ansatz mit Browns Erregbarkeitslehre. Das im ganzen Körper »zirkulierende Blut« ist für Hufeland Ursache des »allgemeinsten ersten Lebensreizes«, der durch die »Last« der Flüssigkeit auf
47 | Hufeland 1795a, 64. 48 | Hufeland 1795a, 64. Hufeland nennt die »bindende Kraft« in einigen Texten auch »plastische Kraft«. Vgl. Hufeland 1811, 10: Der lebende Körper besitzt »das Vermögen, Aussendinge in sich aufzunehmen, in seine Natur umzuwandeln, die gewöhnlichen Verhältnisse der todten Chemie aufzuheben oder zu modifiziren, ganz eigne, sonst nirgends anzutreffende, Kombinationen und Gestaltungen hervorzubringen, (die organisch-chemische und plastische Kraft von mir genannt, jetzt Metamorphose.)«. 49 | Hufeland 1795a, 65-66. 50 | Hufeland 1795a, 70. Vgl. ibid.: »Es scheint mir, dass bey den Thieren das Blut der Theil sey, in welchem diese bildende Kraft vorzüglich wohnt.« 51 | Vgl. Hunter 1835-1837, Bd. 1, 229-240 (Chapter III: On the Blood). ; und ibid., 241-242: »[…] [the] original or common matter has been first so decomposed, and then again so combined, as to become animal matter. This animal matter next became so arranged as to become alive. Now I shall observe that these combinations and arrangements are differently modified, so as to produce the various kinds of animal substances; some of which have their parts so disposed as to have motion amongst themselves, as muscles; others to have sensation, as brain and nerves; and in others the living parts are so disposed as to acquire other properties, as elasticity, rigidity, &c. […] Now if this idea of organization is just, organization and life are two different things; for, according to this definition, a dead body is as much organized as a living one, for in the dead body the same mechanism exists as in the living one.« Für Hunters Lebensbegriff siehe Cross 1981.
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die widerstehenden Organe ausgelöst wird.52 Zugleich repräsentiert das »Blut« den Stoff des »Übergangs des assimilirten Nahrungssafts in den Zustand fester Organe«.53 Genau so, wie die »Atmosphäre« »Behälter« aller sich »entwickelnder und verflüchtigender Stoffe« der Erde und ihrer »Bewohner« ist, stellt das »Blut« einen »Behälter aller Organe und Theile« des »Organismus« dar.54 Die Lebendigkeit eines Körperteils hängt nicht von der in ihm wirkenden »Empfindungs- und Bewegungskraft« der Nerven, sondern vom »Einfluss« des »Bluts« ab.55 Zusammen mit allen anderen Körperflüssigkeiten gehen die »nervenbelebende Flüssigkeit« und der »Saame« erst aus Abscheidungsprozessen des »Bluts« hervor.56 Von den Besonderheiten der abgeschiedenen Flüssigkeiten hängt wiederum die spezifische Erregbarkeit jedes »Organs« ab.57 Aus dem »Blut« gehen jedoch nicht nur Flüssigkeiten, sondern auch »Fleisch«
52 | Hufeland 1795a, 28-29: »In dem belebten Körper ist eben ein gewisser Grad von Widerstand das grösste Erweckungsmittel der Kraft, denn die Last wirkt als Reiz auf die bewegenden Organe (so eine gehörige Quantität, Dichtheit des Bluts, selbst Hindernisse seines Durchgangs, vermehren die Circulation). Nur wenn die Last einen zu hohen Grad erreicht, dann be kommt die todte mechanische Kraft wieder die Oberhand, und die Lebenskraft unterliegt.«; und ibid., 128. 53 | Hufeland 1795a, 71. 54 | Vgl. Hufeland 1795a, 72: »Das Blut ist die Mutter, gleichsam der Behälter aller Organe und Theile.« 55 | Vgl. Hufeland 1795a, 74-75: »Ein Glied kann völlig paralytisch seyn, d.h. die Nerven desselben können ihrer Empfindungs- und Bewegungskraft (also ihrer Lebenskraft) beraubt seyn, und dennoch lebt das Glied fort, wird genährt, im organischen Zustand erhalten. Hier ist das Blut noch der einzige Leiter der Lebenskraft, denn die Nerven sind keine Conductoren mehr; und hier zeigt sich also die dem Blute beywohnende plastische Kraft, ohne Beyhülfe der Nerven, deutlich. – Sobald hingegen der Einfluss des Bluts durch Verknöcherung der Arterie, Geschwülste, oder Unterbindung gehemmt ist, dann erfolgt sehr bald Gangraen, Absterbung und Fäulniss, d.h. nun hört der Einfluss der organischen bindenden und plastischen Kraft auf, und die Bestandtheile gehorchen den allgemeinen chemischen Gesetzen der Zerstörung. – Diess ist zugleich ein Hauptbeweis, dass man die empfindende und bewegende Kraft, von der einfachen organischen und plastischen Kraft, als eignen Modificationen der Lebenskraft wohl unterscheiden müsse.« 56 | Vgl. Hufeland 1795a, 72. 57 | Vgl. Hufeland 1795a, 128: »So wie das Blut Lebensreiz fürs Ganze ist, so hat auch jedes besondre System seine eignen, specifischen Reize in den Säften, die es enthält oder absondert, und so richtet sich der Grad von Thätigkeit und Lebensäusserung jedes besondern Systems gar sehr darnach, ob seine Säfte in einem vollkommnen oder unvollkommnen Zustand befindlich sind.«; und 1811, 21.
III. Hufelands selbsttätiger Organismus
und »Gewebe« hervor.58 Das »Leben« des »Organismus« besteht aus einer »fortgesezten Generation aus dem Blute«59, und das »Blut« ist ein »Lebensreiz fürs Ganze«60. Neben den assimilatorischen und reproduktiven »Modifikationen« der »Grundkraft« verweist die »Kraft, Reize zu percipiren«, auf die Fähigkeit von »Organismen«, »Eindrücke als Reize zu empfinden (sie zu percipiren) und darauf auf eine ganz eigenthümliche Weise zurückzuwirken (zu reagieren)«.61 Durch Reiz-verarbeitende Prozesse der »Irritabilität«, der »Sensibilität« und der »spezifischen Reizfähigkeit« setzt diese Kraft Erregungen in mechanische Bewegungen um und speist sie in das »Nervensystem« ein. Die »Reizfähigkeit« durch fremde Reize und Stoffe, gekoppelt an assimilatorische Prozesse, charakterisiert das »specifische Verhältnis« des »Organismus« zur »Außenwelt«.62 Gegen Hallers Dualismus gerichtet, sind für Hufeland Irritabilität und Sensibilität »Äusserungen« ein und derselben »Grundkraft« in verschiedenen »Organisations«-Formen und »organischen Fasern«.63 Während »Irritabilität« auch im »Pflanzenreich« auftritt – Hufeland erwähnt in diesem Zusammenhang die auf Berührung reagierende Mimose (»Mimosa sensitiva«) und die Licht perzipierende Telegraphenpflanze (»Hedysarum gyrans«) –, setzt »Sensibilität« ein »Gehirn- und Nervensystem« voraus, das Erregungen auf besondere Weise verarbeitet und reguliert.64 Tierische Irritabilität zeigt sich in der 58 | Vgl. Hufeland 1795a, 75: »Aus Blut allein können sich organische Konkremente, polypöse Fleischgewächse, neue Membranen bilden. Ich habe bey Lungenentzündungen blos aus der ausschwitzenden coagulablen Lymphe das vollkommenste Zellgewebe, und neue Häute mit ganz neuerzeugten Blutgefässen zwischen Lunge und Pleura entstehen gesehen.« 59 | Hufeland 1795a, 76-77. 60 | Hufeland 1795a, 128. 61 | Hufeland 1860, 31. 62 | Vgl. Hufeland 1860, 31. 63 | Hufeland 1795a, 72 und 77: »Ich begreife unter dem allgemeinen Ausdruck, Reizfähigkeit, das Vermögen der organischen Faser überhaupt von Reizen afficirt zu werden, und bitte, dabei ja nicht an die Hallersche Reizbarkeit (Irritabilitas) zu denken, welche nur eine genauere bestimmte Art jener allgemeinen Fähigkeit ist, und sich dazu, wie die Spezies zum Genus verhält.«; und ibid., 81. 64 | Vgl. Hufeland 1795a, 77-80. Vgl. ibid., 88-89: »Die Irritabilität ist eine einfachere rohere Modifikation der Lebenskraft, denn wir finden sie schon in den einfachsten Graden der Organisation in der Pflanzenwelt, – da, wo das Gesetz der einfachen Reizung hinreicht. Sensibilität hingegen ist nur das Produkt und Eigenthum der Gehirn- und Nervenorganisation, und folglich auch nur denen Geschöpfen eigen, wo diese sich findet, und wo die Sphäre höherer geistiger Perceptionen anfängt.«
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auf einen Reiz folgenden »Zusammenziehung und Verkürzung« von »organischen Fasern« in Muskeln. Die »Contraction« erfolgt dabei immer an der Stelle, die »topisch vom Reize afficirt wird«. Zugleich können durch Muskelreizungen »Oscillationen« entstehen, deren Ausbreitung nicht an bestimmte »Organe« gebunden ist.65 Sensibilität beruht hingegen auf der Fähigkeit, einen perzipierten Reiz durch besonders hierfür bestimmte »Leiter« an einen anderen Ort zu »propagiren« und zu »reflectiren«.66 Dieser Prozess hängt nicht von Kontraktionen in »Muskelfasern«, sondern von Reaktionen der »Nervenkraft« in »Nervenfasern« ab.67 Genau so, wie die Blutgefäße »Leiter« des über »Lebenskraft« verfügenden »Blutes« sind, stellen Nervenfasern »Leiter« der »Nervenkraft« dar. Die »verschiedene Richtung und Reflexion des Reizes« entscheidet, ob es sich um eine »Empfindung« oder eine »Bewegung« handelt.68 Geht die Richtung der Reizung von äußeren »Nervenenden« zum allgemeinen »Vereinigungspunkt der Nervenfasern« kommt es zu einer »Empfindung«, umgekehrt wird eine Bewegung ausgelöst.69 In höheren Tieren und Menschen wirkt neben der »Nervenkraft« noch eine andere perzeptive Instanz: die »Seele«. Sie verfügt über »Seelenkraft« oder »Denkkraft«.70 »Nervenperceptionen« und »Seelenperceptionen« gehö65 | Hufeland 1795a, 80. 66 | Hufeland 1795a, 81. 67 | Vgl. Hufeland 1795, 82: »Sie [Sensibilität] reagirt nie durch Contraction oder Oscillation, wie die Irritabilität. Man mag einen Nerven noch so sehr reizen, er zuckt nicht, er bewegt sich nicht.« 68 | Vgl. Hufeland 1795a, 85. 69 | Vgl. Hufeland 1795a, 84-85. 70 | Vgl. Hufeland 1795a, 50-51: »Es existirt Lebenskraft ohne Denk kraft (Seele)[,] diese beyden Kräfte müssen wohl unterschieden werden, wenn wir nicht in den Fehler Stahls und mehrerer Engländer verfallen wollen, die die Seele zur Grundlage der Lebenskraft machten. Alle Pflanzen haben Lebenskraft, ob sie gleich keine Denkkraft oder Seele besitzen. Es giebt Thiere ohne Gehirn, und wahrscheinlich auch ohne Seele, (Polypen, Zoophyten) denen man dennoch nicht Lebenskraft absprechen kann. Selbst der Mensch lebt unter gewissen Umständen ohne Denkkraft (als Foetus, im Zustand der Apoplexie, Epilepsie, Asphyxie). Einzelne Theile, ganz vom Einfluss der See le getrennt, leben noch einige Zeit fort. Die denkende Seele ist blos in der Beziehung mit der Lebenskraft verbunden, dass sie auf sie influiren, sie leiten, richten und bestimmen kann, doch auch nur nach ge wissen Gesetzen und Grenzen, denn es giebt Organe, deren Lebenskraft ihrem Einflusse entzogen sind. Seele ist also nicht Lebenskraft selbst, sondern als einer der stärksten und unmittelbarsten Reize anzusehen, die auf sie wirken.«; und ibid., 95. Eine ähnliche Bestimmung des Verhältnisses von Nervenperzeption, Seelenreiz und physischen Reiz findet sich in Georg Anton Dorns Allgemeine Krankheitslehre zum Gebrauche für Anfänger (1814). Vgl. Dorn 1814, 461-463.
III. Hufelands selbsttätiger Organismus
ren allerdings verschiedenen »Operations«-Bereichen an.71 Die »Seelenkraft« ist nicht selbst innerhalb eines physischen »Leit«-Systems verortet, und ihre »eigenthümlichen Geistesverrichtungen«, die »Einheit in das Mannigfaltige« bringen, sind »nicht an Organe gebunden«.72 Die in ihr produzierten »Seelenreize« 73 wirken vielmehr im »Gehirn« auf eine von ihr unabhängige »Nervenkraft«, die ihrerseits die »Seele« affizieren, aber nicht in ihrer »geistigen« Tätigkeit bestimmen kann.74 Galls Organologie hat für Hufeland auf die be71 | Vgl. Hufeland 1795a, 95, Anmerkung. Einen durch die Nervenkraft perzipierten Reiz nennt Hufeland »Sensatio«. Vgl. Hufeland 1795a, 83. In Bezug auf die Seele spricht er vor allem von »Empfindung«, doch wendet er diese Unterscheidung nicht strikt an. 72 | Vgl. Hufeland 1805, 121-123. Zum »Geistigen« zählt für Hufeland (ibid., 143) auch der »Wille«: »[…] der Wille, etwas freies von der Organisation nicht abhängiges, d.h. etwas geistiges.« Die Fähigkeit, Einheit in Mannigfaltigkeit zu bringen, ist übergeordnetes Vollkommenheitskriterium in Hufelands scala naturae. Vgl. Hufeland 1795a, 5960: »So wie wir nun in der allgemeinen Na tur jede Organisation mit einer besondern Modification der Lebenskraft verbunden fin den, so sind nun in den vollkommnen Geschöpfen mehrere Arten der Organisation in einem und demselben Individuum vereinigt, und eben so in demselben Individuum verschiedne Modificationen und Grade des Le bens. Diese Manichfaltigkeit der Kräfte und Organe, zu einem Zweck und in ei ne Harmonie vereinigt, ists eben, was den Begriff von organischer Vollkommenheit ei nes Geschöpfs bestimmt. Den höchsten Grad dieser Vollkommenheit besizt der Mensch. Hier scheinen gleichsam alle in der übrigen Natur zerstreut liegenden Modificationen und Formen der Lebenskraft zu einem grossen Ganzen verbunden, und noch durch den Zutritt jenes göttlichen Funken, der höhern Denkkraft, veredelt.« Den VollkommenheitsStufen der scala naturae entsprechen »Stufen der Freiheit«. Vgl. Hufeland, Die Geichzahl beider Geschlechter (1819), 1834, 177-178: »Nun aber zeigen sich uns mehrere, und immer hö her führende Stufen der Freiheit, welche eben so viel Hauptformen der organischen Wesen bilden. Die niedrigste, noch festgewurzelt am Boden (sey er fest oder flüssig) ohne willkührliche Bewegung; die Ge schlechter noch in einem Individuum vereint (die Pflanzen). Mit dem Menschen fängt demnach ein ganz neuer Abschnitt in der Schöpfung an. – Die höhere geistige Freiheit tritt in die Natur ein. – Somit auch ein ganz neues Verhältniss seiner Natur selbst, eine ganz andere Ordnung der Dinge. Selbst die Thierheit im Menschen ist nicht mehr wahre Thierheit, selbst seine Organisation ist auf jene höhere Welt des Geistes und der Freiheit berechnet, in die sich hineinzuleben seine eigentliche Be stimmung ist. Der Mensch ist göttlichen Geschlechts, und auch sein Physisches trägt diesen Charakter.« 73 | Vgl. Hufeland 1795a, 90. Zwischen Körpern kommt es allein zu »materiellen Reizen« (vgl. ibid., 93). 74 | Vgl. Hufeland 1795a, 94-95: »Die Seele selbst ist ja als etwas ganz von der Nervenkraft verschiednes zu betrachten; sie wirkt darauf, entweder nur als ein Reiz, der sie afficirt, oder als das empfangende, das von der Nervenkraft affi cirt wird, und ihre
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sondere Rolle des »Gehirns« als physische »Bedingung der Seelenthätigkeit« hingewiesen.75 In Hufelands Leitsystem der Nervenfasern reagiert die »Nervenkraft« nicht nur durch den »allgemeinen Vereinigungspunkt der Nerven« (das »Sensorium commune«) und das »Gehirn« auf Erregungen, sondern auch durch »partielle Vereinigungspunkte«, durch die der Reiz »wieder auf denselben Nerven oder auf andere reflectirt« wird, »ohne zur Wissenschaft oder zum Bewusstseyn der Seele zu gelangen, wozu immer die Fortleitung der Reizung bis ins Gehirn nöthig ist«.76 Bei der Leitung eines Reizes durch partielle Vereinigungspunkte kommt es zu einer »Perception des Reizes durch Nerven und Reaction darauf durch Nerven« ohne »Bewusstsein« oder »Beiwirkung der Seele«.77 Neben dem Magen verfügen für Hufeland vor allem die »Abdominaleingeweide« über ein »Nervensystem«, »das seine eignen Sympathien, Vereinigungspunkte und Grenzen hat, und worauf die Seele nur sehr unvollkommen und bedingten Einfluss hat«.78 Analog zu Théophile de Bordeus sensibilité propre in Recherches anatomiques sur la position des glandes, et sur leur action (1751)79, bestimmt Hufeland die »spezifische Reizfähigkeit« als »spezifisch modificirte« Reiz-Perzeption und Reiz-Reaktion in einzelnen »Organen«.80 Zu diesen »Organen« zählt er neben den Sinnesorganen, die fähig sind, »Eindrücke als Reize zu percipircen, die
Reizung percipirt. Die Nervenkraft selbst wirkt unabhängig von der Seele, sie ist blos die Fähigkeit einen Reiz zu percipiren und fortzuleiten; […]« 75 | In Bemerkungen über Galls Gehirnorganenlehre (1805) lobt Hufeland Galls Arbeiten als »wichtigste, kühnste Fortschritte im Reiche der Naturforschung« (1805, 114). Vgl. ibid., 141-142: »[…] die Seele braucht in dieser sublunarischen Existenz eine materielle Bedingung (eine Organisation) um ausser sich und in sich thätig zu sein, um als ein Wesen dieser Sphäre herauszutreten, aber auch zugleich in ihre [sic!] Sphäre bestimmt und beschränkt zu werden. Die Seele selbst aber wird hierbei als ein ganz von der Körperwelt verschiedenes Wesen angenommen, welches zwar durch ein uns ewig unbegreifliches Zauberband in diesem Leben mit der Körperwelt verbunden aber nicht selbst Körper ist. – Dadurch allein unterscheidet sich der Materialist von dem Nichtmaterialisten, dass der erste den Körper als die einzige Ursache, der letztere aber blos als Bedingung der Seelenthätigkeit ansieht. Das letztere ist Galls Vorstellungsart […]«; und 1834, 32-33. 76 | Vgl. Hufeland 1795a, 95. 77 | Vgl. Hufeland 1795a, 94-95. 78 | Hufeland 1795a, 97-98. 79 | Siehe hierzu Bordeu 1751; Boury 2004; und Cheung 2008a, 179-195; und Cheung 2008b. 80 | Vgl. Hufeland 1795a, 101.
III. Hufelands selbsttätiger Organismus
gewöhnlich gar nicht als Reize auf die Lebenskraft wirken« 81, die »Organe« der »Absonderung«: »Eben aus dieser spezifischen Reizfähigkeit und Reaction lässt sich auch am befriedigendsten das wichtige Geschäft der Absonderungen erklären. Jedes absondernde Organ hat seine spezifische Reizfähigkeit, die nur für den Reiz derer Säfte und Partikeln empfänglich ist, welche hier abgeschieden werden sollen, z. E. die Leber für die Gallentheilchen, Nieren für die urinosen u. s.f. Also nur diese erregen Reaction, werden angehalten, und von dem Blute abgeschieden. Es ist eine eigne Art von animalischer Affinität oder Attraction, die auf den Gesetzen der spezifischen Reizung beruht.« 82
Während allgemeine und spezifische Reizfähigkeit die Reiz-Verarbeitung im Körper regeln, wird das »Gleichgewicht« der Lebensprozesse durch »Gesetze des Consensus« 83 oder der »Mitleidenheit« 84 und »Gesetze des Antagonismus«85 bestimmt. Die »Gesetze des Consensus« beruhen auf der »Fähigkeit der Organe, durch die Reizung eines andern Organs afficirt zu werden, sie
81 | Vgl. Hufeland 1795a, 101; und ibid., 101-102: »Zu dieser Klasse gehören die Modifikatio nen der Reizfähigkeit, die wir besondere Sinnlichkeit nennen. So hat das Auge eine spezifische Reizfähigkeit fürs Licht, das Gehörorgan für den Schall, das Geschmacksorgan für die schmeckbaren, das Geruchsorgan für die riechbaren Theile und Einflüsse.« 82 | Hufeland 1795a, 105. Vgl. Hufeland 1795a, 102-103: »So z.B. der Brechweinstein, die Ipecacuanha wirken auf die Zunge, auf die Augen, fast ganz ohne Reiz. Für den Magen hingegen sind sie so heftige Reize, dass davon die allerheftigste Konvulsion desselben (Erbrechen) entsteht. […] Hingegen Merrettig, Pfeffer, Senf, die auf der Zunge und äussern Haut die heftigste Reizung, ja Entzündung erregen, erregen im Magen nicht einmal das Gefühl von Brennen.«; ibid., 106: »Ich will hier nicht entscheiden, ob dies Wirkung einer spezifisch modificirten Irritabilität oder Sensibilität sey. Mir ist es wahrscheinlich, dass es in vielen Fällen die Wirkung beyder zugleich ist, der Sensibilität, durch ein spezifisches Gefühl, der Irritabilität, durch spezifische Reaction des Organs. Es ist genug zu wissen, dass es eine solche spezifische Modifikation der Lebenskraft gebe, und dass jedes Eingeweyde und Organ seine eigne habe, wovon die Bewegungen und Functionen desselben, im gesunden, und die wichtigsten Erscheinungen im kranken Zustand abhangen [sic!].«; und ibid., 207: »Jedes Absonderungsorgan hat eine spezifische Structur und eine eben so spezifisch modificirte Lebenskraft, folglich besizt es eine specifische Reizfähigkeit, vermöge welcher es nur im Stande ist die ihm bestimmten Bestandtheile zu percipiren und darauf zu reagieren.« 83 | Hufeland 1795a, 175. 84 | Hufeland 1795a, 175. 85 | Hufeland 1795a, 191.
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zu percipiren, und mit zu reagiren«.86 Sie vereinen die Tätigkeiten verschiedener Organe »zu einem Ganzen« und »zu einem Zweck«.87 Das »harmonische Zusammenwirken der Theile« ist »Hauptgrundlage des Organismus« zur »Erhaltung des Lebens«.88 Im Nervensystem gehen »Consensus«-Aktivitäten vor allem vom »Intercostalnerv« aus.89 Während das »Gehirn« für die »geistige Sympathie« zuständig ist, regelt der »Intercostalnerv« die »animalische Sympathie« oder die »thierische Nervenwirkung«.90 Der »Intercostalnerv« scheint Hufeland zugleich das »Verbindungsmittel des geistigen mit dem thierischen Menschen, des willkührlichen mit dem unwillkührlichen« zu sein.91 Er schließt damit an Samuel Tissots Modell nervöser »Sympathien« im Traité des nerfs et de leurs maladies (1778-1780) an, der ihm in Johann Gottlieb Ackermanns und Friedrich August Webers Übersetzungen vorlag. Tissot hatte den »Intercostalnerven« als einen Bereich des »Nervenstammes« bezeichnet, der am meisten dazu beiträgt, zwischen verschiedenen Organen »Vereinigung, oder Sympathie, zu verursachen«, indem er sich »mit dem größten Theil der Nerven des Körpers verbindet, und in die vornehmsten Werkzeuge, vornehmlich in das Herz, und in die Eingeweide des Unterleibs geht«.92 Die »Gesetze des Antagonismus« beruhen für Hufeland auf der Fähigkeit des »Organismus«, nach einer Erregung durch »entgegengesetzte Reizungen und Bewegungen«, die von nicht direkt affizierten »Organen« ausgehen, das durch die vermehrte oder verminderte »Kraftäusserung« eines Teils des Systems »aufgehobene Gleichgewicht« wieder herzustellen. 93 Antagonistische Bewegungen treten dann auf, wenn der Grad oder die Dauer einer Erregung zu 86 | Vgl. Hufeland 1795a, 175; und 182; Hunter 1835-1837, Bd. 1, 318: »By the principal of action, called sympathy, an action arises without an imediate impression in a secondary way, either acting in conjunction with the part imediately impressed, or taking the whole action on itself. This action without immediate impression is one of the most complicated principles in the animal body, especially the more complicated animals, because it is the compounding of actions.« 87 | Hufeland 1795a, 175. 88 | Hufeland 1795a, 175-176. 89 | Hufeland 1795a, 177-178. 90 | Hufeland 1795a, 178. 91 | Hufeland 1795a, 178. 92 | Tissot 1782, 59-60. Vgl. Tissot 1782, 60: » Das sechste [Nerven-]Paar, verbunden mit demjenigen des fünften Paares, von dem ich eben geredet habe, bildet, nebst einigen neuen Nervenästen, die aus dem Rückenmark kommen[,] den sogenannten Intercostalnerven, […]« Tissot (ibid.) verweist wiederum auf Jacob Winslows Arbeiten zur sympathischen Tätigkeit des »Intercostalnerven«, die sich im dritten Band von Winslows Exposition anatomique de la structure du corps humain (1732) finden. 93 | Hufeland 1795a, 192-193.
III. Hufelands selbsttätiger Organismus
einer »Störung in der Oeconomie« führt.94 Die Wiederherstellung von »Störungen« geht meist vom »Antagonismus der Secretionen und Excretionen« aus, weil die aus dem Sekretionssystem hervorgehenden »Säfte« und »mannichfaltigen Secreta« nicht nur die »wichtigsten Reize für die Gefässsysteme und für den ganzen Körper« liefern, sondern auch den »Karakter« der »Organisation« bestimmen, indem sie die »Beschaffenheit (verschiedne Verhältnisse und Verbindungen der Bestandtheile) sowohl der flüssigen als festen Theile« verändern.95 Das auf »sympathischen« und »antagonistischen Gesetzen« beruhende »Gleichgewicht« der »Lebenszustände« stellt für Hufeland die Grundlage einer »Heilkunde« dar, die neben inneren »Zeugungsprocessen« auch äußere »Lebensbedingungen« berücksichtigen muss, um »pathologische« in »normale Zustände« überführen zu können. Dem auf bestimmte »Organisations«Formen ausgelegten »Gleichgewicht« innerer Reiz-Reaktions-Schemen und Lebenszustände entspricht eine »natürliche«, die »Grenze des menschlichen Denkens« übersteigende Harmonie »äußerer Lebensbedingungen«, auf welche die innere Ordnung der »Organismen« abgestimmt ist und durch die ihre »Organisation« zugleich modifiziert wird.96 Zu den für die »Lebensentwickelung« und die »Selbsterhaltung« wichtigsten Komponenten äußerer »Lebens-
94 | Vgl. Hufeland 1795a, 194. 95 | Vgl. Hufeland 1795a, 199-207 und 226. 96 | Vgl. Hufeland Die Welt des Lebens (1815), 1834, 54. Gegen Thomas Robert Malthus’ Essay on the Principle of Population (1798) argumentierend, geht Hufeland in Ueber das Absterben der Länder, Italiens insbesondere, und dessen Vergiftung durch verdorbene Luft (1817) davon aus, dass zwischen wachsenden »Populationen«, die Natur kultivieren, und der »Erde«, die durch Kultivation »gedeiht«, ein »Kreislauf« wechselseitiger Anpassungen besteht, durch den sowohl die Menschen als auch die »Erde« ihr Ausdruckspotential verwirklichen und steigern können. Vgl. Hufeland, Ueber das Absterben (1817), 1834, 95-96: »Es ist gewiss eine der unrichtigsten, verderblichsten, und doch schon oft wiederholten Behauptungen, diejenige, welche Malthus gepredigt hat: dass der Menschen zu viel werden könnten, dass Ueberbevölkerung das grösste Unglück sey, und dass es ein Gegenstand der Regierung seyn müsse, sie zu beschränken. Den Regierungen im Ganzen darüber eine Leitung und ein Eingrei fen zu erlauben und aufzutragen, kommt mir eben so vor als wenn man den Aerzten im Einzelnen die Erlaubniss geben wollte, über die Notwendigkeit des Lebens Einzelner zu urtheilen und für sich zu entscheiden, ob dies Leben eben der Welt nothwendig und nützlich sey oder nicht. – Wohin würde das wohl führen! Vielmehr kehre ich den Satz um und sage: Das grösste Unglück für die Erde ist, wenn der Menschen zu wenig sind. Nicht blos der Mensch bedarf der Erde, sondern auch die Erde bedarf des Menschen, wenn sie gedeihen, und der grosse Kreislauf vollkommen erfüllt werden soll, der zu ihrem Leben gehört.«
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bedingungen« zählen »Luft«, »Wasser« und »Wärme«.97 In einer mikro-makrokosmischen Perspektive geht Hufeland davon aus, dass sich auch in der »Außenwelt« »Systeme« bilden, die eine besondere Art von »innerem Leben« aufweisen. Die »Luft«, die als »Atmosphäre« die Erde umgibt, stellt für ihn ein »geheimnisvolles Meer« dar, in dem sich »Licht, Wärme, Schall, elektrische und magnetische Kraft unaufhörlich durchkreuzen«, und zwar in Form »unaufhörlicher Metamorphosen und neuer Schöpfungen, vom Thautropfen an bis zum Blitz und Meteorstein«. Da sich in der Luft »Luftkeime« bilden, die zu Epidemien führen können, verschränkt sich Hufelands »Atmosphärologie« von »Luft«-»Systemen« mit der auf »Organismen« ausgerichteten Pathologie innerer und äußerer »Lebensbedingungen«.
3. D IE H EILKUNST INNERER UND ÄUSSERER L EBENSBEDINGUNGEN Hufelands Pathologie des Menschen geht von vier »Verbindungs- und Berührungsarten« der inneren »Organisation« mit »der ganzen übrigen Natur« aus, die Ursache verschiedener Krankheiten sind.98 Die ersten beiden Verhältnisse resultieren aus der »mechanischen« und der »chemischen Welt«, deren Einflüsse gemäß allgemeiner Gesetze auf alle – lebendigen oder unlebendigen – Körper gleich wirken.99 Das dritte »organische und animalische Verhältniss« beruht auf der spezifischen »Receptivität« lebendiger Körper, durch die bestimmte »Aussendinge« zu Reizen werden und Erregungen hervorrufen.100 Die »höhern Seelenfähigkeiten des Denkens«, der »Ideencombination« und 97 | Vgl. Hufeland 1799, 83-84: »Ein gewisser Grad von Wärme ist unentbehrliche Bedingung zum Leben, nicht blos als Reiz, sondern indem er die organische Materie in das chemische Verhältniss versetzt, in welchem die zum Leben unentbehrlichen Zersezungen, Bindungen und Umtausche der Stoffe geschehen können.«; und Atmosphärische Krankheiten (1824), 1834, 296 [326]: »Das Element der Luft ist die erste wesentlichste Bedingung zur Hervorbringung allerlei organischen Lebens, sowohl zur ersten Entwickelung, als zur beständigen Unterhaltung desselben. Nichts, keimt, nichts wächst ohne Luft, das vollkommene Thier kann keinen Augenblick der Luftnahrung entbehren. Selbst der Fisch stirbt im Wasser, dem man die Luft entzogen. Daher von Alters her die Annahme eines Lebensodems (Pabulum vitae) in der Luft bei Philosophen und Aerzten. Die zweite eben so nöthige Bedingung alles Lebens ist Wasser, – Thales nannte es das Göttliche in der Natur. – Die dritte, Wärme. – Nur in der Verbindung dieser drei ist organisches Leben und Lebensentwickelung möglich.« 98 | Hufeland 1795a, 15. 99 | Hufeland 1795a, 16-18. 100 | Hufeland 1795a, 19-21.
III. Hufelands selbsttätiger Organismus
der »Vernunft« führen schließlich zu einem »moralischen oder geistigen Verhältniss« mit einer »intellectuellen Welt«. Alle »pathologischen Zustände« des Menschen lassen sich auf »Modifikationen« der vier »Verhältnisse« zurückführen: »Dies sind also die verschiednen Verhältnisse, in denen der Mensch steht. Man könnte sagen, es sind die Welten, in denen er lebt, denn alles reducirt sich entweder auf mechanische oder chemische, oder vitale oder moralische Verhältnisse, und hierunter lassen sich auch alle Klassen pathologischer Eindrücke und Einwirkungen bringen.«101
Das »wichtigste pathologische Reagens«102 der ersten drei Verhältnisse ist die »Lebenskraft«, das des vierten die »Seelenkraft«. In Form von »Gemüths- und Gefühlskrankheiten« oder »hypochondrichen und hysterischen Uebeln« geht aus dem vierten Verhältnis eine »Quelle von Krankheitseinflüssen« hervor, von denen »das Thier nichts weiß«.103 »Heilungs«-Prozesse modifizieren die vier Verhältnisse, um »pathologische« in »normale Zustände« umzuwandeln. Für die Möglichkeit der Umwandlung geht Hufeland davon aus, dass sich jede »Abnormität der Lebens«104 aus »naturgemässen« Verhältnissen ableiten und auf sie zurückführen lässt: »Krankheit ist eine Abweichung des Lebens vom normalen Zustande, also eine innere Veränderung des Lebens selbst. Heilung ist Zurückführung zum normalen Zustande und Wiederherstellung desselben.«105
Neben dem Ideal »absoluter Gesundheit« als natürlicher Norm bezieht sich Hufeland auf einen »Kultur«-bedingten Begriff »relativer Gesundheit«, der – durch neue »Gewohnheiten« oder Reizüberflutungen – leicht gestörte »Lebenszustände« »civilisirter Menschen« charakterisiert: »Gesundheit heisst ein durchaus vollkommner regelmässiger und harmonischer Zustand der Organe, Kräf te und Functionen des menschlichen Wesens, gleichsam das Ideal der Gesundheit. – Diess ist ein Zustand, der sehr selten, wenigstens in den Klassen der verfeinerten und verkünstelten Menschen, angetroffen wird, und, nach dieser Bestimmung, wäre jezt der allergrösste Theil der civilisirten Menschen krank. Aber es giebt relatife Gesundheit, und das ists, was wir gewöhnlich Gesund heit nennen. Das heisst, der Zustand der Organe, Kräfte oder Functionen kann zwar etwas vom naturgemässen 101 | Hufeland 1795a, 22. 102 | Hufeland 1795a, 48. 103 | Hufeland 1795a, 21-22. 104 | Vgl. Hufeland, Die Welt des Lebens (1815), 1834, 56. 105 | Hufeland 1851, 43.
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abweichen, aber die Abweichung ist nicht von der Art, dass sie die Verrichtungen wirklich stört, oder als Abweichung percipirt wird.«106
Für die Beurteilung und Klassifizierung der in jedem Individuum »besonders modificirten Form« von »Lebenszuständen« bezieht sich Hufeland auf »Lebensarten«, in denen gewohnheitsmäßige Tätigkeits-Muster und »Stimmungen« zum Ausdruck kommen, die sowohl von »Außenwelt«-Verhältnissen als auch von »Temperamenten« abhängen. »Temperamente« bestimmt er als innere »Handlungs«-Dispositionen, die von »angeborenen« oder im Laufe der Existenz »aquirirten Organisationen« ausgehen.107 Während Johann Nepomuk Fritz in Verschiedene Grundsätze einer vernünftigen Lebensart (1775) die Lebensart noch allein auf geistige Tugenden des Menschen bezogen hatte, übertrug sie Hermann Samuel Reimarus in Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe (1760) auf die Instinktökonomien von Tieren.108 Hufelands Ansatz vereint bei106 | Hufeland 1795a, 2-3. 107 | Vgl. Hufeland 1795a, 114-115; 1800-1805, Bd. 1, 247-248: »Die verschiedene Modification der Er regbarkeit ist oft ganz deutlich mit einer verschiedenen Beschaffenheit der Organisation ver bunden, die entweder angeboren, oder acquirirt seyn kann. Daher die grosse Verschiedenheit des physischen Temperaments, die wir bey den Individuen finden, und die sich unter den nehmlichen Umständen erhält, also nicht Folge der äussern Reize, sondern der innern Grundmischung ist. Und hier bemer ke man, dass besonders diejenigen Organisationsbeschaffenheiten, die auf eine leichtere Zersezbarkeit deuten, auch eine leichtere Erregbarkeit, die entgegengesezten eine schwerere Erregbarkeit mit sich führen […] So vermehret Wärme die Zersezbarkeit der Organisation und demnach auch ihre Erregbarkeit, daher ist bey warmer Naturen und im warmen Klima die Erregbarkeit immer grösser, und man kann durch ein zu warmes Verhalten jedem Menschen eine kränkliche Erregbarkeit erkünsteln. Daher hebt Frost, indem er die Zersezbarkeit der Materie aufhebt, auch, die Erregbarkeit auf […]«; und 1835, 22: »Was die Alten den Planeten, die Constellation eines Menschen nannten, unter welchen er geboren sei, und welcher seine Schicksale regiere, das ist eigentlich seine Constitution, sein Temperament, seine individuelle Organisation. Es ist das herrschende Princip, welches seinem ganzen Seyn und Handeln die eigenthümliche Stimmung giebt, wodurch denn natürlich sein ganzes Verhältniss zur Aussenwelt, so wie der Aussenwelt zu ihm, und danach sein ganzes Schicksal selbst bestimmt wird. Und so würde allerdings, ohne sich eben einen Planeten zu denken, der Einfluss der Geburtsstunde sehr gegründet und von der grössten Wichtigkeit seyn; in sofern unstreitig durch die vorhandene Constellation, d.h. durch das Zusammenwirken aller materiellen dynamischen und psychischen Verhältnisse während der Zeugung und der Geburt, das Wesen und der Karakter des werdenden Geschöpfs bestimmt wird.« 108 | Für Reimarus’ Begriff der Lebensart siehe Cheung 2008a, 87-103.
III. Hufelands selbsttätiger Organismus
de Aspekte in der Existenzform des menschlichen »Organismus«. Für ihn hat jede »Klasse der lebenden Wesen« ein »ihr eigenthüm liches Leben und eigenthümliches Verhältniss zur Aussenwelt, einen specifischen Charakter. Anders lebt das warm blütige Thier als das kaltblütige, anders der Mensch als das Thier.«109
Die »Lebensart« der Tiere beruht für Hufeland als »Tätigkeits«- oder »Handlungs«-Muster – sowohl auf der Ebene einzelner »Organe« als auch auf der Ebene des ganzen Körpers – auf der »Konkurrenz« innerer und äußerer »Lebensbedingungen«, die auch das »Leben« selbst ermöglicht: »Das Leben entsteht durch die Konkur renz gewisser Bedingungen, die wir daher Lebensbedingungen nennen. Wir theilen sie in zwey Klassen: 1. Die Innern, welche in einem Organ schon vorhanden seyn müssen, wenn es le bend afficirt werden, und lebend reagiren soll: Organisation (eine bestimmte chemische Mischung, Textur und Form der Materie), und die daraus resultirende Lebenskraft. 2. Die Aeussern, alle Einwirkungen auf ein schon lebendes Organ, wodurch dessen Lebenskraft in Thätigkeit gesezt wird (Reize, Stimuli, Incitamenta).« 110
Die »Konkurrenz« der »Lebensbedingungen« setzt sich in den komplexen »Lebensarten« oder »Lebensweisen« der »civilisirten Menschen« fort, in denen sich »Stimmungen der Seele« mit »Stimmungen der Lebenskraft« zu einer »Totalität« vereinen.111 Das Verhältnis »innerer« und »äußerer Lebensbedin109 | Hufeland, Die Welt des Lebens (1815), 1834, 54. Vgl. Hufeland 1860, 268 und 437-440; und Schipperges 2003, 67-69. 110 | Hufeland 1800-1805, Bd. 1, 51. 111 | Vgl. Hufeland 1795a, 138: »[…] die Einrichtung des Schlafens und Wachens, der Ruhe und Bewegung, des Essens und Trinkens, der Auf enthalt in eingeschlossner oder freyer Luft, die Seelenbeschäftigung u. s. w. – Alles diess gebietet die Lebensart, und diess zusammen bestimmt den Menschen. Man erinnere sich nur an den Unterschied unter der Lebenskraft und Reaction eines in der Luft arbeitenden Bauern, und eines in eingeschlossner Stubenluft denkenden Gelehr ten; an die verschiedenen Krankheitsformen, die verschiedenen Klassen von Handwerkern und Ständen eigen sind, und also in ihrer Lebensweise ihren Grund haben.« Jede Heilkunde sollte für Hufeland die »Totalität« beider »Stimmungen« berücksichtigen. Vgl. Hufeland 1835, 24: »Ich glaube aber, es ist nothwendig, das Eigenthümliche des Menschen in seiner Totalität aufzufassen, nicht nach diesen einzelnen Beziehungen, sondern alles zusammennehmen, was ihn in seinen innern, materiellen, dynamischen und psychischen Verhältnissen constituiert und karakterisirt. Es entsteht hiraus das, was wir die verschiedene Natur eines Menschen nennen, und was im wesentlichen die Verschiedenheiten der Menschen bestimmt.«
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gungen« bestimmt jedoch nicht nur die charakteristische »Lebensart« eines individuellen »Organismus«, sondern auch dessen wechselnde »Lebenszustände« zwischen Gesundheit und Krankheit: »Gesundheit des Lebenden entsteht, wenn diese bey den Bedingungen, sowohl jede für sich als in ihrem gegenseitigen Verhältniss so beschafffen sind, dass dadurch sowohl die Lebensäusserung der einzelnen Organe, als die Zusammenwirkung des organischen Ganzen zur vollkommensten Erhaltung und Gebrauch des gesammten organischen Lebens hervorgebracht wird. Krankheit entsteht, wenn die Lebensbe dingungen, entweder in ihrer absoluten Be schaffenheit oder in ihrer relatifen Beziehung auf einander, entweder im einzelnen oder im ganzen, so verändert werden, dass dadurch entweder die gehörige Lebensäusserung des Einzelnen, oder die organische Zusammenwirkung aller einzelnen Theile, zur Errei chung der Hauptzwecke des Lebens, Selbsterhaltung und Gebrauch, gestört oder aufgehoben werden.«112
Für Hufeland verkannte Browns Pathologie, dass Reize zwischen »Lebenskraft« und »Organisation« vermittelnde Momente oder »Media« sind, die nicht nur den »Zustand« der »Lebenskraft«, sondern auch den der »Organisation« verändern. Jede »Einwirkung« auf das Lebendige, »sie mag mechanisch, chemisch oder geistig seyn, afficirt zu gleicher Zeit die Materie und die Lebenskraft, und bringt gleichseitige Veränderungen in beyden hervor«.113 Um den »Zustand der Lebenskraft« medizinisch beurteilen zu können, hält es Hufeland für notwendig, nicht nur die »verschiedene Beschaffenheit des Reizes«, der zur Erregung führt, sondern auch die »in der Organisation liegenden Gesetze und Mechanismen der Reaction« zu verstehen.114 Künstliche Eingriffe in Lebensprozesse, etwa »Heilkuren« oder Medikamente, können durch Veränderungen des »materiellen Zustandes« das »lebende oder dynamische
112 | Hufeland 1800-1805, Bd. 1, 51-52. Vgl. ibid., 217-218: »Erregung also bewirkt und erhält Gesundheit der Organisation dadurch, dass sie die Selbstaufreibung und Restauration im gehörigen Verhältniss und leztre in gehöriger Qualität erhält. Gesundheit aber der Organisation selbst besteht in der vollkommenen Integrität ihrer Mischung, in so fern diese den Grund der Vitalität enthält, und es erhellt hieraus, dass die Gesundheit nicht blos durch den Grad der Erregung, sondern auch durch die Qualität der zum Leben gegebenen und vorhandenen Stoffe und ihre qualitative Beschaffenheit bestimmt werden müsse.« 113 | Hufeland 1800-1805, Bd. 1, 69. 114 | Hufeland 1795a, 112. »Weichheit« und »Laxität« der »Organisation« hat etwa »leichtere Zersezbarkeit« und »leichtere Erregbarkeit«, und »Trockenheit« und »feste Cohaesion« »trägere Erregbarkeit« zur Folge. Vgl. Hufeland 1800-1805, Bd. 1, 247.
III. Hufelands selbsttätiger Organismus
Verhältniss umändern, und durch Veränderungen des dynamischen den materiellen Zustand«115: »[…] alle Mittel, alle Poten zen, die zur Heilung der Krankhei ten angewendet werden, wirken zwar mit Reiz (incitirend), aber nicht blos durch Reiz (nicht blos als Incitamente) im Lebenden, d.h. alle wirken auf das Reizverhältniss des lebenden Körpers, indem sie die Lebenskraft entweder excitiren oder deprimiren oder ihre spezifische Wirkungsart alteriren; aber sie bringen zu gleicher Zeit Verän derungen in dem materiellen Zustand der or ganischen Materie hervor, indem sie entwe der ihre chemische Mischung, oder ihre mechanische Kohäsion, Form und Structur ändern. Auf beydes zusammen muss gesehen werden, um einen richtigen und vollständigen Begriff von der Wirkungsart der Mittel zu haben.«116 115 | Hufeland 1800-1805, Bd. 1, 70. 116 | Hufeland 1800-1805, Bd. 1, 69-70. Hufeland (1800-1805, Bd. 1, Vorrede, xixiii, und 70-73) unterscheidet eine auf Reiz-Veränderungen ausgerichtete »dynamische Kurart« von einer auf materielle Veränderungen der »Organisation« ausgerichtete »materielle Kurart. Vgl. Hufeland 1800-1805, Bd. 1, 52-54: »Eine Veränderung des lebenden Zustandes kann nur durch die Veränderung der zwey Grundbedingungen des Lebens, der innern und äußern bewirkt werden. Jede krank hafte Veränderung beruht ihrem Wesen nach darauf. Folglich kann auch die Verände rung, die die Kunst zur Aufhebung des kranken Zustandes hervorbringt (die Heilung), nur dadurch bewirkt werden, dass wir Entweder die fehlerhaften innern Be dingungen des Lebens zweckmässig umändern, d.h. die chemische Mischung der Stoffe, den mechanischen Zusammenhang, die Form, selbst den Zustand der Lebenskraft, in so fern sie von jenen chemisch-mechanischen Bedingungen abhängt; Oder die fehlerhaften äussern Bedingun gen, d.h. die Reize entweder geben, oder neh men, oder umändern; Oder, dass wir beydes zugleich thun, welches, wenn es auch nicht primario geschieht, doch immer secundario erfolgt, indem keine Veränderung der äussern Bedingungen gedacht werden kann, die nicht eine Umänderung der innern nach sich ziehen sollte, (jede Vermeh rung oder Entziehung der Reize vermehrt oder vermindert die Lebenskraft, und bringt selbst Veränderungen in der chemischen Mi schung hervor,) und keine Veränderung der innern Bedingungen, welche nicht eine Ver änderung der äussern bewirkte, (theils durch das veränderte Verhältniss, indem durch ver mehrte Reizfähigkeit etwas Reiz werden kann, was es vorher nicht war, und umge kehrt, theils indem die mechanisch- chemische Beschaffenheit der Materie so verändert wird, dass das Reizverhältniss auch dadurch umgestimmt, ja oft ganz aufgehoben wird, […]).«; und ibid., 246: »Dieser Zustand der innern Organisation, der die Erregbarkeit bestimmt, wird zwar durch die Erregung, aber nicht blos durch ihren Grad, sondern auch durch die chemische Verschiedenheit der einwirkenden Materie und die dabey vorgehenden qualita tiven Veränderungen und Umtauschungen der Stoffe bestimmt. Daher kann kein directes Verhältniss zwischen dem Grad der Erregung und der qualitativen Veränderung der Organisation und der davon
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Während Browns Pathologie »materielle Verhältnisse« vernachlässigte, geht für Hufeland umgekehrt auch von den Positionen eine Gefahr aus, für die Leben nur »ein bestimmter chemischer Prozess« ist und »Heilmittel« allein »durch chemische Veränderungen der organischen Materie« wirken.117 Vertreter dieser Perspektive verkennen, dass das »wichtigste pathologische Reagens« eine »Lebenskraft« ist, für deren Wirken es keine »chemische« Erklärung gibt. »Heilmittel« können in Hufelands Heilkunde nur »äussere Bedingungen« eines »chemisch-animalischen Prozesses« dar, den, wie in hippokratisch tradierten Ansätzen, die »Natur selbst« macht.118 Zugleich legt Hufeland, ähnlich wie Samuel Hahnemann in seiner Homöopathik, Wert auf »Heiloperationen«, die zunächst »künstliche Krankheiten« hervorrufen, um anschließend »sympathische« und »antagonistische« Reaktionen zu verstärken.119 Die Dynamik dieses Selbstheilungsprozesses kann für Hufeland kein »Heilmittel« ersetzen. abhängenden Quali tät der Erregbarkeit existiren. Ueberdiess giebt es Einwirkungen, die unmittelbar auf Veränderung oder auch Destruction der Orga nisation wirken, wie diess die Erschütterungen, die Mittheilung verschiedener Gasarten durchs Einathmen, die Humboldschen Versu che, beweisen, wo die Erregbarkeit durch Veränderung der chemischen Mischung erhöht, vermindert, aufgehoben, wiedergegeben wer den konnte.« 117 | Hufeland 1800-1805, Bd. 1, 64. Hufeland räumt allerdings ein, dass der materielle Standpunkt für die Heilkunst sehr wichtig ist. Vgl. Hufeland 1800-1805, Bd. 1, 64: »Ich schätze daher die Bestrebungen der sich dieser Analyse widmenden Männer, besonders eines Reils, sehr hoch, und bin überzeugt, dass die darauf sich gründende Ansicht der lebenden Geschäfte unentbehrlich zu einer vollständigen Übersicht der physiologischen und pathologischen Gegenstände, so wie der therapeutischen Behandlung des Lebenden, ist.« 118 | Hufeland 1811, 20. Vgl. ibid.: »Immer ist’s also die Natur und nicht die Kunst, die die Krankheiten heilt, und die Medizin non est magister, sed minister naturae.«; und Hufeland 1795a, Vorrede, [7]: »Ferner habe ich gesucht, bey dem jezt so allgemeinen und rühmlichen Bestreben, die Chemie zur Erklärung der physiologischen und pathologischen Erscheinungen anzuwenden, die Grundlage anzugeben, nach welchen diese Anwendung gesche hen muss, und die Grenzen, über die sie nicht gehen darf, ohne uns in eine unbe lebte Welt, und also in eine todte Medizin hineinzuführen, die für die Praxis eben so nachtheilig werden müsste, als die einstmalige todte mechanische Medizin.« 119 | Vgl. Hufeland 1800-1805, Bd. 1, 54-55. Für Hufeland (1811, 20) sollten »Krankheitsmaterien« in der Pathogenie zu »Heilobjecten« werden. Die Lebenskraft spielt in Hahnemanns auf Symptome und Indikationskuren ausgerichtete Homöopathik jedoch gerade nicht die zur Selbstheilung führende Rolle, die Hufeland immer wieder gegen den Brownianismus hervorhebt. Vgl. Hahnemann 1829, 26, Fortsetzung der Fußnote 1: »Die jammervolle, höchst unvollkommne Anstrengung der Lebenskraft zur Selbsthülfe in acuten Krankheiten ist ein Schauspiel, was die Menschheit zum thätigen
III. Hufelands selbsttätiger Organismus
Wenn die »Selbstrestauration« der »Reizfähigkeit« der »Lebenskraft« nicht mehr stattfinden kann, tritt der »wahre Tod« des Individuums ein.120 Er wird nicht nur durch »zufällige Ursachen« – etwa durch übermäßig starke Reizungen oder Reizentzug, fehlende Nahrungsstoffe und Krankheiten –, sondern auch »natürlich« durch »das Leben selbst« eingeleitet, das im fortgeschrittenen »Lebensalter« zur »Erschöpfung der Lebenskraft« und zur »Unbrauchbarwerdung und Destruction der Organisation« führt.121 In Hufelands Makrobiotik oder die Kunst das menschliche Leben zu verlängern (1796) geht es um therapeutisch modifizierte »Lebensarten«, die, auf das regimen sanitatis von Galens sex res non naturales – Licht und Luft, Speise und Trank, Arbeit und Ruhe, Schlaf und Wachen, Sekretion und Exkretion und Affektionen der Seele – ausgerichtet, dem »Organismus« durch ein den »Lebensaltern« angepasstes »Gleichgewicht« zwischen »Consumtion« und »Regeneration« ermöglichen sollen, die »natürliche Grenze der Lebensoperation« zu erreichen.122 Mitleid und zur Aufbietung aller Kräfte unsers verständigen Geistes auffordert, um dieser Selbstqual durch ächte Heilung ein Ende zu machen. Kann die Natur eine im Organism schon bestehende Krankheit nicht durch Anbringung einer neuen, andern, ähnlichen Krankheit, dergleichen ihr äusserst selten zu Gebote steht, homöopathisch heilen, und bleibt es dem Organism allein überlassen, aus eignen Kräften, ohne Hülfe von aussen, eine neu entstandene Krankheit zu überwinden […], so sehen wir nichts als qualvolle, oft gefährliche Anstrengungen der Natur des Individuums, sich zu retten, es koste, was es wolle, nicht selten mit Auflösung des irdischen Daseyns, mit dem Tode, geendigt.« 120 | Vgl. Hufeland 1795a, 110: »Es giebt also Leben auch ohne Aeusserung desselben, ohne Bewegung. Es ist genug, wenn noch Reizfähigkeit da ist, oder wenn sie auch selbst fehlt, wenn nur ihre Wiedererweckung noch möglich ist. Nur erst dann, wenn nicht blos die Lebensäusserung, sondern auch die Reizfähigkeit, ja selbst die Möglichkeit ihrer Wieder erweckung verloren ist, ist es wahrer Tod.«; und 1860, 34: »Die Lebenskraft kann durch gewisse Einwirkungen geschwächt, ja ganz aufgehoben werden. Unter die sie vernichtenden gehört vorzüglich die Kälte, der Hauptfeind alles Lebens.« 121 | Vgl. Hufeland 1800-1805, Bd.1, 3-6. 122 | Vgl. Hufeland 1795a, 138; und 1860, 42-44. Eine ähnliche Ausrichtung der Makrobiotik findet sich bereits in James Mackenzies The History of Health, and the Art of Preserving it (1758). Vgl. Mackenzie 1759, 3-5: »Six things are known to be necessary to the life of man, commonly called the Six Non-Naturals, namely aliment, air; exercise and rest, sleep and wakefulness, repletion and evacuation, together with the passions and affections of the mind; in the proper use and regulation of which the art of preserving health principally consists.« Zur Problemlage der Makrobiotik siehe Gruman 1966. Zum Kontext der sex res naturales siehe Rather 1968; Niebyl 1971; Schipperges 1977, 1987, 54-68, und 2003, 32-58 und 67-69; García-Ballester 1993; Riha 2001; und Nowitzki 2005, 40-42.
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Organismen. Agenten zwischen Innen- und Außenwelten 1780-1860
Hufelands Versuch, nach Brown die Ordnungsform eines lebendigen Organismus zu entwerfen, dessen Lebenszustand nicht nur durch Außen-Reize erzwungen, sondern auch durch die Selbsttätigkeit einer inneren Kraft reguliert wird, setzt Treviranus in seiner neuen Wissenschaft, der »Biologie«, fort. Ähnlich wie Hufeland fokussiert Treviranus auf die Autonomie der inneren Ordnung des »Organismus«, deren physische Organisation Prozesse und Tätigkeiten ermöglicht, die Kosumption und Regeneration, oder Selbstverzehrung und Selbsterschaffung, in einem spezifischen Gleichgewicht halten. Treviranus nennt dieses unter variablen Außenwelt-Verhältnissen aufrecht erhaltende Gleichgewicht die »innere Gleichförmigkeit« lebender »Organismen«.
IV. Treviranus’ innere Gleichförmigkeit
Im Zentrum von Treviranus’ sechsbändiger Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte (1802-1822) steht ein Agentenmodell, das auf die »innere Gleichförmigkeit« eines »lebenden Organismus« ausgerichtet ist.1 Die innere Gleichförmigkeit stellt einen »Zustand« dar, der sich dynamisch durch den Abgleich zwischen inneren Ordnungsverhältnissen des Organismus und sich beständig verändernden »Einwirkungen« der »Außenwelt« einstellt. In Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern (1796) hatte Hufeland den Gesundheitszustand als eine Übereinstimmung zwischen der »Gleichförmigkeit der Struktur« organischer Teile und der »Gleichförmigkeit der Kräfte und Bewegungen« im Organismus ausgewiesen.2 Wie Hufeland geht Treviranus in seiner Heilkunde von einer solchen Entsprechung aus, richtet aber den »Gleichförmigkeits«-Begriff primär nach Außen aus, als innere Gleichförmigkeit gegen die Außenwelt. Treviranus’ innere Gleichförmigkeit hängt nicht nur von den Wechselwirkungen zwischen Strukturen, Bewegungen und chemischen Vorgängen innerhalb bestimmter »Grenzen« oder »Schranken« ab, die ein lebendiger Körper vorgibt, sondern auch von einer regulatorischen, selbsttätigen Instanz.3 Diese Instanz stellt für ihn eine »Lebenskraft (vis vitalis)« dar, die als »Damm« und »Mittlerin« gegen die Außenwelt wirkt.4 Auf den Schultern seines Göttinger Doktorvaters Blumenbach stehend, integriert Treviranus den nach innen 1 | Für eine detaillierte Rekonstruktion von Treviranus’ Entwurf einer »Biologie« siehe Hoppe 1971. 2 | Vgl. Hufeland 1798, 154. 3 | Vgl. Treviranus 1802-1822, Bd. 1, 20-21: »Die Gleichförmigkeit der Reactionen des Lebenden kann in mehrfacher Rücksicht Schranken haben. Diese können verschieden seyn in verschiedenen Individuen und in verschiedenen Theilen eines und desselben Individuum; verschieden in Beziehung auf die Qualität der Einwirkungen und verschieden in Betreff der Qualität der Reactionen.« 4 | Ähnlich hatte auch Hufeland (1798, 127) von der »Lebenskraft« gesprochen, die durch Assimilation unbelebter »Bestandtheile« der »umgebenden Natur« im Organismus
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Organismen. Agenten zwischen Innen- und Außenwelten 1780-1860
gerichteten Bildungstrieb in das Schema einer mit der Außenwelt wechselwirkenden Lebenskraft.5 Je nach ihrem Wirkaspekt zeigt sich die den Zustand innerer Gleichförmigkeit regulierende Lebenskraft im Körper in Form spezifischer »Lebens-« oder »Erhaltungskräfte«, etwa als »Bildungstrieb«, »Nervenkraft« oder »Reproductionskraft«.6 In Physiologische Fragmente (1797-1799) unterscheidet Treviranus weiterhin Kräfte, die zur »Erhaltung der Organe« und zur »Erhaltung der Lebenskräfte selber« (etwa durch ihren »Widerstand« gegen Kälte und Wärme« oder durch ihre »Gewöhnung« an »widernatürliche Reitze«) dienen.7 Durch den Zusammenhang von Reaktion, Widerstand, Assimilation und Reproduktion, der von diesem Kräftegefüge geleitetet wird, entsteht im Organismus ein Zustand innerer Gleichförmigkeit, der nur mittelbar von äußeren Einflüssen abhängt.8 Treviranus’ Agentenmodell innerer Gleichförmigkeit verweist damit auf einen »mittleren«, von innen her regulierten Zustand zwischen absoluter Äußerlich- und Innerlichkeit, räumlich begrenzt durch den Körper des Organismus und in der Zeit verändert durch Abfolgen äußerer und innerer »Modifikationen«. Außenwelt und Organismus bilden für Treviranus »Sphären« gegenseitiger Beeinflussungen entlang der Grenzen, die sie zugleich voneinander abgrenzen und aufeinander beziehen. ein »neues gleichförmiges Product erzeugt, dem in allen Punkten der Charakter des Lebens eingeprägt ist«. 5 | Treviranus’ 1796 abgelegte Dissertation trägt den Titel De emendanda physiologia. Für weitere biographische Angaben siehe Friedrich Tiedemanns Vorwort in Treviranus 1831-1833, Bd. 1; Focke 1912; und Hoppe 1971, 202, Fußnote 5. 6 | Vgl. Treviranus 1797-1799, Bd. 1, 55 und 105-109; und Treviranus 1802-1822, Bd. 4, 632. »Heilkräfte der Natur« leiten sich für Treviranus (1797-1799, Bd. 1, 105) teils aus der physischen »Organisation« und teils aus der Reaktion von durch »krankhafte Umstände« modifizierten, anderen Funktionen dienenden Lebenskräften ab. Es handelt sich daher bei den »Heilkräften« nicht um »im gesunden Körper schlummernde, und nur in Krankheiten erwachende Kräfte« (ibid.). 7 | Treviranus 1797-1799, Bd. 1, 107-109. Die Kälte und Wärme widerstehende Kraft nennt Treviranus (ibid., 108) »vis refrigerandi et calefaciendi«, und die »Eigenschaft« der »Gewöhnung« an ungünstige Außenwelten »assuescendi facultas«. Durch die Kälte und Wärme widerstehende Kraft ist es für Treviranus (ibid., 109) allen organisierten Körpern (Tieren und Pflanzen) möglich, einen »bestimmten Grad von Wärme in sich hervorzubringen«. Vgl. Treviranus 1797, 46-67. 8 | Vgl. Treviranus 1802-1822, Bd. 5, 183: »Alles physische Leben äussert sich durch räumliche Veränderungen, die zwar zum Theil durch äussere Ursachen veranlasst werden, aber mit dem Einfluss, den diese Ursachen auf Körper der lebenden Natur haben, nicht in Verhältniss stehen.«
IV. Treviranus’ innere Gleichförmigkeit
1. I NNEN UND A USSEN , ODER DIE »S ELBST TÄTIGKEIT« LEBENDER K ÖRPER Im ersten Band der Biologie (1802) führt Treviranus Leben als einen »Zustand« ein, der von Bewegungen in einem Körper abhängt, die »Produkte einer Wechselwirkung zwischen ihm und der Aussenwelt« sind.9 Zur Erhaltung ihres Lebens modifizieren organisierte Körper äußere »Einwirkungen« auf eine Weise, dass sie »dem Zustande des von ihnen afficirten Wesens angemessen werden«.10 Dieses »Vermögen« kennzeichnet die »Selbsttätigkeit der lebenden Wesen gegen zufällige Eindrücke der äussern Natur«.11 Aus der selbsttätigen Modifizierung der »Außenwelt« resultiert die »Gleichförmigkeit« der inneren »Organisation«.12 Kein materielles Ensemble lebloser Körper verfügt über ein solches Vermögen: »Keine Materie, ihre Form und Mischung mag beschaffen seyn, wie sie will, kann für sich gleichförmig reagiren, wenn die Ein wirkungen, wodurch diese Reaktionen hervorgebracht und unterhalten werden, zufällig und also veränderlich sind.« 13
Analog zum »Charakter des geistigen Lebens«, das perzipierte »Bilder« in eine andere, eigene »Welt« umwandelt, definiert Treviranus das »physische Leben« als einen »Zustand«, in dem die »Gleichheit« von »Einwirkung« und »Gegenwirkung« aufgehoben ist. Organismen »leben« in ihrer eigenen Welt, und diese Welt bleibt sich auch bei abweichenden Außenwelten innerhalb bestimmter Grenzen gleich: »Bey dem geistigen Leben ist […] das Gesetz von der Gleichheit der Einwirkung und Gegenwirkung aufgehoben. Der Spiegel der Seele wirft die Bilder des Weltalls nicht so zurück, wie er sie empfan gen hat, sondern verändert sie, und bildet sich aus ihnen eine andere Welt, die ihm angemessener ist, als die der Urbilder. So muss es auch bey dem physischen Leben seyn. Auch der lebende, aber seelenlose Körper steht unter zufälligen Ein flüssen, und er giebt dem Zufälligen bey diesen Einwirkungen den Schein der Notwendigkeit. Das physische Leben ist daher ein Zustand, den zufällige Einwirkungen der 9 | Treviranus 1802-1822, Bd. 1, 16-17. 10 | Ibid., 23. 11 | Treviranus 1831-1833, Bd. 1, 168. 12 | Für Treviranus bezeichnet die »Organisation« des »Organismus« dessen »Struktur der Teile« und »Mischung der Elemente«. Vgl. Treviranus 1797, 32: »Organisatio autem non solum structuram partium, sed et mixturam elementorum, ex quibus compositae sunt illae, comprehendit.« 13 | Ibid., 52. Für Treviranus’ Materietheorie und ihren Bezug zu Kants Kraftbegriffen siehe Treviranus 1802-1822, Bd. 1, 24-33; und Jager 1991, 75-130.
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Aussenwelt hervorbringen und unterhalten, in wel chem aber, dieser Zufälligkeit ohngeachtet, dennoch eine Gleichförmigkeit der Erscheinungen herrscht. […] Der Mensch und mit ihm jeder andere lebende Körper wächst, pflanzt sein Geschlecht fort, und verrichtet mit einem Worte alle vitalen Funktionen bey den verschiedensten Graden des Lichts und der Wärme, bey den verschiedensten Nahrungs mitteln u. s. w.«14
In Abgrenzung zur »leblosen Natur« bezeichnet Treviranus’ Formel der »Gleichförmigkeit der Erscheinungen bey ungleichförmigen Einwirkungen der Aussenwelt« 15 den »Charakter des Lebens« und den »Stempel der Eigenthümlichkeit« jedes lebendigen Körpers.16 Um innere Gleichförmigkeit zu erhalten, muss in lebenden Körpern eine Kraft vorhanden sein, die wie ein »Damm« die »Wellen des Universums« bricht, »um die lebende Natur in den allgemeinen Strudel nicht mit hereinzuziehen«.17 Durch diese Lebenskraft erhält die »veränderliche absolute Stärke der äussern Einwirkungen« im Innern lebender Organismen »relative Gleichförmigkeit«.18 Die durch das innere Reaktionsgefüge vermittelte Modifikation der äusseren Einwirkungen unterscheidet die »Thätigkeiten« lebender Organismen »unter dem Namen der Funktionen« von denen »lebloser« Körper »unter dem Namen der Actionen«.19 14 | Treviranus 1802-1822, Bd. 1, 23-24. Für Treviranus (ibid., 7) »grenzt« die »Region des Lebens« an die »übersinnliche Welt«. Für seine Ausführungen zur Eigenständigkeit der »geistigen Welt« siehe ibid., 56-57. 15 | Ibid., 39. Vgl. ibid., 18: »Es lässt sich daher als ein Merkmal des Lebens angeben: Streben nach Gleichförmigkeit der Gegenwirkungen bei ungleichförmigen Einwirkungen, welche die äussern Bedingungen der Reactionen sind.« 16 | Ibid., 39-40. 17 | Ibid., 51. Treviranus (ibid., 53) bezeichnet in diesem Zusammenhang die Lebenskraft auch als »Scheidewand«. 18 | Ibid., 51. 19 | Ibid., 60. Des Weiteren unterscheidet Treviranus die »Lebensäusserungen« der Pflanzen von den »Handlungen« der Thiere, die immer durch ein Nervensystem reguliert werden. Vgl. Treviranus 1820, 90-91: »Die Pflanze entsteht, wächst, vermehrt sich und äussert automatische Bewegungen ohne Mitwirkung eines Nervensystems. Bey dem Thier werden alle Lebensäusserungen, und selbst die vegetativen, die dasselbe mit der Pflanze gemein hat, durch den Einfluss eines solchen Systems vermittelt. Aber das Nervensystem des eigentlich thierischen, sensitiven Lebens, dessen Character willkührliche Handlungen sind, unterscheidet sich in mehrern Puncten von dem, welches der vegetativen Sphäre vorsteht. […] So lange es [im Tierreich] blosse Knoten ohne eine strangförmige Verlängerung des Gehirns, ein wahres Rückenmark, giebt, enthält das Gehirn immer eine ringförmige Oeffnung zur Durchlassung des Schlundes. Bey allen, mit einem solchen Hirnring versehenen Thieren ist die vegetative Sphäre von der sensitiven desto weniger geschieden, es sind hier die Centralorgane beyder Sphären desto
IV. Treviranus’ innere Gleichförmigkeit
Leben als »Funktions«-Zusammenhang ist der Materie »fremd«, und doch »modifiziert« die Lebenskraft im Inneren der Organismen nur das, was in allen Körpern in Form chemischer Vorgänge und mechanischer Bewegungen abläuft – allerdings auf spezifische Weise: »Die Bewe gungen, die wir an dem lebenden Organismus wahrnehmen, sind theils mechanische, theils che mische. Sie unterscheiden sich in keinem Stücke von denen, die wir in der leblosen Natur finden, als blos darin, dass die äussern Anlässe, denen sie ihr Entstehen verdanken, nicht unmittelbar, son dern durch die Lebenskraft modifizirt, auf die Materie des lebenden Körpers einwirken.« 20
Durch sein inneres »Funktions«-Gefüge schafft sich der Organismus die »Bedingungen seines Lebens bis auf einen gewissen Grad selbst«. 21 Neben der Atmung findet diese »Anpassung« in Prozesszyklen der Ernährung statt, denn »alles Lebendige muss beständig formlose Materie aufnehmen, sich verähnlichen und aneignen.« 22 Die assimilative Tätigkeit der Ernährung hat die Aufgabe, die »Mischung« des lebenden Organismus, die durch den Einfluss der Außenwelt »immerzu« verändert wird, zu »reproduciren«, und den »Stoff zum Wachsthum und zur Fortpflanzung des Geschlechts« zu bilden.23 Durch ihr »Wiederherstellungs«- oder Reproduktionsvermögen können Organismen nicht nur assimilierend tätig sein, sondern auch krankhafte Störungen ihres Systems aufheben und, in besonderen Fällen, zerstörte oder abgetrennte Teile erneut bilden.24 weniger begränzt, je gleichartiger die Ganglien ihres Nervensystems sind. Sie äussern Handlungen, die den Schein der Willkühr haben und nicht blos auf den Gesetzen der Erregbarkeit beruhen, doch aber ohne Ueberlegung und Wahl erfolgen. Der Instinct ist das einzige Princip ihrer Handlungen.« 20 | Treviranus 1802-1822, Bd. 1, 57-58. 21 | Treviranus 1802-1822, Bd. 4, 4. In der »speziellen Physiologie« seiner Dissertation De emendanda physiologia (1797) unterscheidet Treviranus (1797, 93102) vier Klassen organischer »Funktionen« (functiones): 1) »functiones, quae ad conservationem organisationis proxime spectant«, 2) »functionis, quibus vires vitales conservantur«, 3) »functiones naturae humanae, quae ad animae vires referuntur« und 4) »functiones, quarum peractio ultimum vitae humanae scopum constituit« (nämlich die »Fortpflanzung« (generatio)). 22 | Treviranus 1802-1822, Bd. 4, 4. Vgl. ibid., Bd. 1, 19: »Eine innere Bedingung gewisser Formen, worunter sich das Leben äussert, ist eine eigene Bildung der Materie des Lebenden.« 23 | Treviranus 1802-1822, Bd. 4, 3. 24 | Treviranus verweist etwa auf die abgeschnittenen Glieder eines »Wasser sala manders«. Vgl. Treviranus 1802-1822, Bd. 1, 69-70.
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Während der Ursprung alles Lebens in dem Prinzip eines »Bildungstriebs«25 und dessen »formenden oder plastischen Potenzen« 26 liegt, die in bestimmten Konstellationen »formloser Materie« spontan wirken, stellen sich mit der Entstehung einer »individuellen Form des Lebens« Wechselwirkungen mit der Außenwelt ein, die für diese Körper Lebens-erhaltend sind.27 Leben ist daher »nicht blos ein immanenter Zustand« und »reine Selbstthätigkeit«.28 Die zum Lebens-Erhalt notwendigen Bedingungen, die ein ausgewachsener Organismus durch seine »beschränkte Lebenskraft« nicht hervorbringen kann, 25 | Vgl. Treviranus 1802-1822, Bd. 4, 632. 26 | Vgl. ibid., Bd. 2, 404. 27 | Ibid., Bd. 6, 5. In der Epigenesis-Debatte geht Treviranus von John Turberville Needhams und Lazzaro Spallanzanis Positionen aus, führt aber auch eigene Experimente mit »Zoophyten« durch. Jager (1991, 241-273) geht hierauf ausführlich ein. Vgl. Treviranus 1802-1822, Bd. 2, 377-378: »Bey einem Rückblicke auf die bisher angeführten Erfahrungen sieht man bald, dass die Beweise für die Entstehung lebender Körper auf formloser Materie desto seltener werden, je höher wir im System der Natur zu den zusammengesetzten Organismen heraufsteigen. Die meisten derselben fanden wir bey den Zoophyten, weniger schon bey den Pflanzen, und gar keine bey den höhern Thierclassen. Dies liesse sich auch schon zum voraus erwarten. Es war zu vermuthen, dass der zusammengesetztere Organismus zu dem Grade von Ausbildung, den er besitzt, nur stufenweise veredelt werde, und dass also jene Entstehungsart bey ihm eine weit längere Zeit, als bey dem einfachern Organismus erfordere. Wir dürfen daher, gestützt auf die Analogie der Zoophyten, Pflanzen und niedern Thierclassen, annehmen, dass auch die Urformen der Säugethiere und Vögel einst auf dieselbe Weise erzeugt wurden, worauf in jetzigen Zeiten meist nur noch Zoophyten gebildet werden, wenn gleich ausser jener Analogie keine weitere Beweise für die Meinung vorhanden wären. […] was geschahe, als die lebende Natur noch im Werden begriffen war, kann nicht mehr geschehen, seitdem sie völlig organisirt ist. Wir dürfen also nicht mehr zweifeln, dass eben jenes thätige Princip, welches in Aufgüssen von verweslichen Substanzen eine microscopische Thier- und Pflanzenwelt bildet, nicht auch grössere und mehr zusammengesetzte Organismen sollte hervorbringen können.«; und ibid., 404: »Könnten wir jenen Lebensstoff in seinem formlosen Zustande darstellen, und nach Gefallen mit ihm experimentiren, so dürften wir die Natur nur geradezu befragen, um die Data, die uns zur Begründung unserer Wissenschaft nöthig sind, zu erhalten. Allein die chemische Analyse der lebenden Organismen liefert uns vier Stoffe, die ein gemeinschaftliches Eigenthum der Thiere, Zoophyten und Pflanzen sind, den Sauerstoff, Wasserstoff, Stickstoff und Kohlenstoff. Von diesen sind die beyden letztern wahrscheinlich noch einer weitern Zerlegung fähig. Ist also der Sauerstoff oder Wasserstoff unser Lebensstoff, oder entzieht sich dieser ganz unserer Wahrnehmung? Man sieht leicht, dass sich hierüber noch nichts entscheiden lässt.« 28 | Ibid., Bd. 6, 5.
IV. Treviranus’ innere Gleichförmigkeit
muss er »in der äussern Natur aufsuchen und sich anzueignen im Stande seyn«.29 Hierfür dient höheren Tieren das Vermögen, »von den Gegenständen der äussern Welt Eindrücke aus der Ferne zu empfangen, und diesen gemäss willkürliche Handlungen zu äussern«. 30 Die Innen-Außenwelt-Kontakte lebendiger Körper und der unaufhörliche »Wechsel« ihrer Bestandteile wird durch ein »beständiges Wirken und Gegenwirken« von Reizen eingeleitet und fortgeführt – auch wenn organische Einheiten bis zu einem bestimmten Grad Reiz-unabhängig tätig sein können.31 Die »Empfänglichkeit des lebenden Organismus für äussere Einwirkungen« bezeichnet Treviranus als »Receptivität«, während das »Reaktionsvermögen« dessen Vermögen ausmacht, »den Einwirkungen der Aussenwelt eine mehr oder weniger gleichförmige Thätigkeit entgegenzusetzen«.32 Durch sein Reaktionsvermögen »reagiert« jeder lebende Körper »auch wieder auf die Aussenwelt«.33 Im Inneren des Organismus werden rhythmische oder nur zeitweise auftretende »automatische Bewegungen« durch »äussere Ursachen« unterhalten oder hervorgerufen.34 Der beständig fortgesetzte Herzschlag wird durch das mit dem Herzen in Kontakt stehende Blut unterstützt, und die »Zusammenziehungen des Nahrungscanals« werden durch die »genossenen Speisen« und den Einfluss der »gastrischen Säfte« ausgelöst.35 »Stöhrungen«, die durch zufällige »äussere Einwirkungen« oder die »Reaktionen« eines einzelnen Teils 29 | Treviranus 1802-1822, Bd. 4, 639. 30 | Treviranus 1802-1822, Bd. 4, 640. 31 | Vgl. Treviranus 1802-1822, Bd. 4, 3; und 1831-1833, Bd. 1, 22: »Die Reizbarkeit ist indess nicht das erste wichtigste Attribut des Leben. Von keiner Erscheinung dieses Zustandes lässt sich darthun, dass sie ein blosses Product von Reizen und Reizbarkeit sey. Ein ausgeschnittenes Herz eines lebenden Thiers pulsirt noch eine Zeitlang. Dem Auge erscheinen noch Bilder, wenn es geschlossen ist.« 32 | Treviranus 1802-1822, Bd. 1, 62-63. 33 | Ibid., 64. Vgl. ibid., Bd. 4, 3-4: »Diese unaufhörlichen Veränderungen setzen einen Wechsel der Bestandtheile des lebenden Körpers voraus, wobey die Fortdauer desselben in einerley Form des Lebens nicht statt finden könnte, wenn er sich bey den Einflüssen der materiellen Welt blos leidend verhielte und nicht gegenseitig auf diese einwirkte. Ohne ein solches Einwirken würde auch kein Wachsthum und keine Fortpflanzung des Geschlechts möglich seyn.« 34 | Vgl. ibid., Bd. 5, 253: »Die automatischen Bewegungen gehen theils nur zu bestimmten Zeiten, theils ununterbrochen das ganze Leben hindurch vor sich. Zu jenen gehören die Bewegungen der Verdauungs- und Zeugungstheile, so wie aller Organe der Ortsveränderung; zu diesen die, an einen festen Rhythmus gebundenen Bewegungen des Herzens, der Lungen und des Gehirns.«, und ibid., 278: »Für jede automatische Bewegung lässt sich eine äussere Ursache angeben, wodurch sie veranlasst wird.« 35 | Vgl. ibid., Bd. 5, 278.
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im Inneren hervorgehen, können durch die »Rückwirkungen« nicht affizierter Teile aufgehoben oder »vernichtet« werden.36 Eingespannt zwischen »Receptivität« und »Reaktionsvermögen«, ist das Leben individueller Körper eine »Näherung zu jener Gränze« zwischen einer »vita maxima«, welches die Fortdauer des Lebens bei »absoluter Zufälligkeit« der äusseren Einflüsse und reiner Selbsttätigkeit ermöglicht, und einer »vita minima«, das den »Uebergang zum Leblosen« markiert.37 Auf jede »Uebertretung« dieser Grenze folgt eine »Zerstöhrung« des Organismus und ein »Erlöschen« des Lebens.38 So viele verschiedene »Stufen« dieser Näherung möglich sind, so »mannichfaltig ist auch der Grad des Lebens«.39
36 | Vgl. Treviranus 1802-1822, Bd. 1, 64 und 75. 37 | Treviranus 1802-1822, Bd. 1, 68-69. Vgl. Treviranus 1796, 31-32. Der vita minima als »Grad der Vitalität«, die dem »Zweck des Organismus« nicht angemessen ist, entspricht für Treviranus zugleich ein Grad der »Krankheit«. Vgl. Treviranus 1802-1822, Bd. 1, 73: »Da jeder Uebergang vom Leben zur leblosen Natur, oder zu einer andern Form des Lebens durch jene Gränze geschieht, die wir vita minima genannt haben, so ist jede Krankheit, absolut be trachtet, ein niederer Grad der Vitalität in einer ge wissen Form des Lebens. Aber Krankheit ist ein relativer Begriff, und als ein solcher involvirt er nicht nur einen niedern, sondern auch einen sol chen Grad des Lebens, der dem Zwecke des Organismus, wobey er statt findet, nicht angemessen ist. So können folglich Gesundheit und vita mi nima vollkommen mit einander bestehen.« Gesundheit ist analog »das Vermögen, Krankheit das Unvermö gen eines lebenden Körpers in der zur Erreichung der Zwecke seines Daseyns nothwendigen Sphäre der Zufälligkeit äusserer Einwirkungen sein Leben fort zusetzen« (ibid.). 38 | Treviranus 1802-1822, Bd. 1, 67 und 70. Vgl. Treviranus 1831-1833, Bd. 1, 72: »Das Uebergehen eines lebenden Organismus zur leblosen Natur, oder zu andern Formen des Lebens nennen wir Sterben, und alles Aufhören des Le bens überhaupt, oder einer bestimmten Form des selben Tod.«; und ibid., 168: »Aber weder der Besitz dieses Vermögens noch der übrigen Formen, unter welchen die Selbsttätigkeit der lebenden Wesen gegen zufällige Eindrücke der äussern Natur wirkt, kann den Tod aus zufälligen Ursachen ganz abwenden. Es können die Einwirkungen, die selber Bedingungen des Lebens sind, so heftig oder so schwach seyn, dass die Selbsttätigkeit sich dagegen nicht behaupten kann. Es kann der Tod von Ueberreizung auch bei sonstigen Einflüssen eintreten, die mit der Unterhaltung des Lebens nichts gemein haben. Es giebt ausserdem Kräfte, welche tödten, ohne dergestalt auf das Leben zu wirken, dass ihr nachtheiliger Einfluss Folge ihrer erregenden Wirkung seyn kann. Auf diese Art wird das Leben durch grössere mechanische Zerstöhrungen der Organisation, als das Reproductionsvermögen ersetzen kann, und durch Gifte aufgehoben.« 39 | Treviranus 1802-1822, Bd. 1, 69.
IV. Treviranus’ innere Gleichförmigkeit
Neben verschiedenen »Graden« des Lebens unterscheidet Treviranus die »Modalität« der Existenz verschiedener organisierter Körper. 40 Wie Cuvier bezieht Treviranus diese Modalität auf »Arten des Daseyns« oder »Formen des Lebens« in der Außenwelt, denen »verschiedene Organisationen« entsprechen. Jedem »Gegensatze dieser Formen« liegen »entgegengesetzte Organisationen« zugrunde.41 Treviranus bestimmt die »Modalität« der Existenz weiterhin nach dem »Verhältniss der Receptivität zum Reaktionsvermögen«. 42 Dieses Verhältnis nennt er »Temperament«.43 Der »Zweck der Thätigkeit des Lebenden« und jedes seiner Teile ist auf die »Erhaltung« der »Formen des Lebens«, der »Organisation« und des »Temperaments« ausgerichtet. Um hierzu fähig zu sein, befindet sich der lebende Körper in einem beständig aktualisierten Zustand der »Anpassung« oder »Accomodation« seiner inneren »relativen Gleichörmigkeit« an die umgebende Welt: »Alles Materielle besitzt das Vermögen, von äussern Einwirkungen verändert zu werden und diese wechselseitig wieder zu verändern. Bei dem Leblosen steigen und fallen Einwirkung und Gegenwirkung in immer gleichem Verhältniss. Sind fortdauernd einerlei Körper mit einander in Wechselwirkung, so wird der eine in demselben Maass verändert, wie er den andern verändert; Action und Reaction kommen endlich ins Gleichgewicht und der Erfolg ist Ruhe. Wenn es wahr ist, […] dass das Lebende selbstthätig wirkt, indem dasselbe die äussern Bedingungen seines Zustandes sich anpasst, oder sich nach diesen Bedingungen einrichtet, so muss für das Lebende ein anderes Gesetz der Einwirkung und Gegenwirkung als für das Leblose gelten, und wenn der Zweck der Thätigkeit des Lebenden Erhaltung der Form seiner Existenz ist, so kann für dasselbe dieses Gesetz nur seyn, dass Einwirkung und Gegenwirkung im umgekehrten Verhältniss gegen einander steigen und fallen. Hierdurch geschieht es, dass in den Erscheinungen des Lebens relative Gleichförmigkeit bleibt, obgleich die Einwirkungen, wodurch sie erregt werden, ungleichförmig sind […]« 44 40 | Ibid., 69. 41 | Ibid., 70; und Treviranus 1804, 23 (»Arten des Daseyns«). Treviranus lernte Cuvier persönlich während eines Parisaufenthaltes im Sommer 1810 kennen und bezieht sich in seinen anatomischen Studien des Öfteren auf Cuvier. Vgl. Focke 1912, 495. 42 | Treviranus 1802-1822, Bd. 1, 70. 43 | Ibid., 70. Treviranus (ibid.) kategorisiert vier »Temperamente«: »1) Geringe Receptivität mit starkem Reaktionsver mögen. 2) Grosse Receptivität mit schwachem Reaktions vermögen. 3) Geringe Receptivität mit schwachem Reaktions vermögen. 4) Grosse Receptivität mit starkem Reaktionsvermögen.« 44 | Treviranus 1802-1822, Bd. 1, 17-18. Vgl. ibid., 4: »In allem Lebenden ist eine Bildung und ein Wirken jedes einzelnen Theils für alle übrige[n] und des Ganzen nicht nur für alle Theile, sondern auch für einen gewissen, sich zunächst auf die Art desselben und dann auch auf andere Arten beziehenden Zweck unverkennbar. Diese Zweckmässigkeit
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Vom Gewohnten abweichende starke »Einflüsse« der Außenwelt können das »Verhältniss« des Lebenden gegen die Außenwelt verändern.45 Diese »Stöhrungen« machen das Lebendige »empfänglicher« für bestimmte Außen-Einwirkungen.46 Durch »starken Dünger« beeinflusste Pflanzen sind empfindlicher gegen Wärme, Kälte, Licht und Feuchtigkeit als andere, die an ihrem »natürlichen Standort« unter gleichen äußeren Verhältnissen aufwachsen.47 Die »Stärke und Ausdauer« der Tiere ist entsprechend von der »Beschaffenheit der Nahrung und des Mediums, worin sie athmen«, abhängig.48 Ein Tier, das ohne stöhrende Einflüsse seiner »Selbstthätigkeit« überlassen existiert, wird von seinem »Instinct geleitet in einer Sphäre leben, worin es jenen Einflüssen am wenigsten ausgesetzt ist«.49 Tiere versuchen daher, in eine ihnen »angemessene Sphäre« zu gelangen.50 besitzt nur das Lebende.«; ibid., 23: »Der höchste Character des Lebens bleibt: ein zweckmässiges Wirken aus einem selbstthätigen Princip, dessen Ziel die Fortdauer des Wirkens selber ist. Dieses Wirken muss in einer bestimmten Form statt finden, deren äusserer Ausdruck die Organisation ist.«, und ibid., 412: »Wenn ein Character des Lebens relative Gleichförmigkeit der Erscheinungen bei Ungleichförmigkeit der äussern Ursachen ist, wodurch dieselben veranlasst werden, so kann die Gleichförmigkeit dadurch erreicht werden, dass das Lebende entweder seinen Zustand den äussern Einwirkungen, oder diese seinem Zustand accomodirt.« 45 | Treviranus 1831-1833, Bd. 1, 165. 46 | Ibid., 165. 47 | Ibid., 165. 48 | Ibid., 165. 49 | Ibid., 165-166. Für Treviranus’ Instinktbegriff siehe Treviranus 1802-1822, Bd. 6, 6-7: »Diese Autonomie ist der thierischen Natur eigen, und das ihr zum Grunde liegende Princip ist der Instinkt, im allgemeinsten Sinne genommen. Der Organismus, der sie besitzt, handelt vermöge derselben mit dem Schein des Bewusstseyns und der Freyheit, und doch unbewusst und nach notwendigen Gesetzen. […] Nur in uns selber kennen wir mit voller Gewissheit ein bewusstes Leben. Bey den übrigen thierischen Wesen nimmt die Wahrscheinlichkeit, dass sie Bewusstsein ihres Daseyns haben, desto mehr ab, je mehr ihre Lebensäusserungen blos automatischer Art sind, und je weniger sie ihre instinktartigen Handlungen nach den äussern Umständen zu modifizieren vermögen.«; ibid., 12: »Bey den Thieren lässt sich jedoch nicht immer bestimmen, welche Handlungen durch ein Princip hervorgebracht werden, das sich seiner Thätigkeit bewusst ist, und welche von dem blossen Instinkt herrühren.«; und 1820, 91. 50 | Treviranus 1831-1833, Bd. 1, 166. Vgl. ibid., Bd. 2, 424: Der lebende Körper besitzt ein Vermögen, seine »Organisation« der »Sphäre, worin er sich befindet, […] anzupassen«. Treviranus (1820, 91) spricht auch von den »Sphären« der Tätigkeit »vegetativer« und »sensitiver Nervensysteme« in verschiedenen Organisationstypen von Tieren.
IV. Treviranus’ innere Gleichförmigkeit
Die Welt als Außenwelt eines Agenten wird in Treviranus’ Biologie zur Tätigkeits-»Sphäre« der Existenz eines individuellen, »lebenden Organismus«. Der Organismus ist, solange er lebt, an eine Außenwelt gebunden, die ihm ermöglicht, eine innere Gleichförmigkeit zu erhalten, deren Ordnung sich von der Außenwelt unterscheidet. Treviranus richtet die innere Statue des Lebendigen aber nicht nur nach Außen, sondern verschränkt deren »eigentühmliche« Sphäre auch mit der »Welt«, in der alle Organismen und »Gegensätze« ihrer Lebensformen gemeinsam existieren. Auf die kosmologische Dimension der »Sphären«-Verschränkung der Tätigkeitsfelder organisierter Körper hatte bereits Bonnet in den Principes philosophiques aufmerksam gemacht.51 In Anlehnung an Schellings Von der Weltseele baut Treviranus die Logik dieser Sphärenverschränkung in den großen »Zyklus« des »allgemeinen Organismus« der Natur ein.52
2. D ER GROSSE Z YKLUS LEBENDIGER K ÖRPER IM » ALLGEMEINEN O RGANISMUS « Der individuelle Organismus ist »Glied einer in sich zurückkehrenden Kette von Veränderungen« zwischen Organismen und der »leblosen Natur« des »Weltalls«.53 Die drei »Naturreiche« der Pflanzen, der Tiere und der »leblosen Natur« erhalten gegenseitig das »Gleichgewicht« dieser Kette von Veränderungen, wobei das mittlere Glied »immer Wirkung des vorhergehenden und zugleich Ursache des folgenden ist«54. Aus der Perspektive des Lebendigen stellt sich diese Kette als Nahrungskreislauf dar:
51 | Vgl. Bonnet 1755 [1754], 377: »Ainsi chaque Etre a sa Sphère dont l’Activité est proportionnée à la force du Mobile. Cette Sphère est renfermée elle même dans un autre Sphère; celle-ci, dans une autre encore; & les Circonférences s’étendent continuellement. Cette étonnante Progression s’élève par dégrès, des Infiniment Petits aux Infiniment Grands; de la Sphère de l’Atome à celle du Soleil; de la Sphère du Polype à celle du Cherubin.« Für Bonnets Ansatz siehe Cheung 2010a. 52 | Für Schelling unterscheidet sich Lebendes von Totem dadurch, dass »dieses jedes Eindrucks fähig ist«, jenem aber »eine bestimmte Sphäre eigenthümlicher Eindrücke durch seine eigne Natur zum Voraus bestimmt ist«. Vgl. Schelling 1798, 290-291. Treviranus kannte Schellings Schriften unter anderem durch seinen in Jena studierenden Bruder Ludolf Christian Treviranus. Siehe hierzu Hoppe 1971, 202-203; und Jager 1991, 202-203. 53 | Treviranus 1802-1822, Bd. 1, 66. Analog spricht Treviranus von einer »lebenden Natur«. Vgl. ibid., 78. 54 | Ibid., 66.
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»So wie endlich die leblose Natur dem Pflanzen reiche, und dieses dem Thierreiche seine Nahrung verschafft, so versorgen auch die Thiere wieder die Vegetabilien mit Nahrung, indem sie statt der eingeathmeten atmosphärischen Luft beständig kohlensaures Gas ausathmen, dessen Basis, die Kohlensäure, zum Unterhalte der Pflanzen dienet.« 55
Nach dem Tod von Pflanzen und Tieren setzen sich die »Uebergänge« zwischen »lebender« und »lebloser Natur« fort. Ein totes Tier »vermodert«. Seine Bestandteile kehren in die Atmosphäre und die Erde zurück. Aus ihnen werden neue Pflanzen gebildet, und aus diesen Pflanzen entstehen wiederum Tiere.56 Eine ähnliche Darstellung der zyklischen Dynamik des »grossen Organismus« und seiner »Wechselwirkungen« findet sich in Friedrich Tiedemanns Zoologie (1808): »Alle lebende[n] Wesen oder Organismen, sowohl Pflanzen als Thiere, bilden nur einen grossen Organismus oder ein Ganzes, in dem alle Theile in Wechselwirkung stehen oder Einfluss auf einander haben. Das Thierreich kann nur bey dem Pflanzenreich bestehen und umgekehrt das Pflanzenreich nur bey dem Thierreich. Ganze Thierordnungen leben von Vegetabilien, z.B. die wiederkauenden Säugethiere, die körnerfressenden Vögel und die mehrsten Insekten. Würden die Pflanzen verschwinden, so würden dadurch die genannten Thiere zernichtet, mit der Zernichtung dieser Thiere würden diejenigen zu Grunde gehen, welche jene Thiere tödten und sich durch sie ernähren, z.B. alle fleischfressenden Säugethiere und Vögel, fast alle Amphibien und Fische u. s. w. Die Pflanzen ernähren sich zum Theil von faulenden thierischen Substanzen, und da, wo sich solche in Menge finden, wächst Vegetation üppig empor.« 57
55 | Ibid., 67. Vgl. ibid., 66: »Jedes der drey Naturreiche ist folglich Mittel und zugleich Zweck, jedes ein Glied einer in sich zurückkehrenden Kette von Veränderungen, worin das mittlere immer Wir kung des vorhergehenden und zugleich Ursache des folgenden ist. Ferner äussern alle Erdarten eine Anziehung gegen den Sauerstoff des Luft kreises, der sich mit dem Kohlenstoff derselben verbindet, und so das Hauptnahrungsmittel der Pflanzen bildet. Das Thierreich aber, zu dessen Unterhalte der Sauerstoff ein nothwendiges Erforderniss ist, würde aussterben müssen, wenn die ser Stoff unaufhörlich der Atmosphäre entzogen würde, ohne wieder ersetzt zu werden. Dieser Ersatz geschieht durch die Ausdünstung der Pflan zen während der Tageszeit, wodurch die Atmo sphäre mit jenem, zum Athmen der Thiere erfor derlichen Bestandtheile wieder versehen wird.« 56 | Treviranus geht davon aus, dass »Eiweissstoffe« allen »thierischen« und wahrscheinlich auch allen »vegetabilischen Organismen« zugrunde liegen. Vgl. ibid., 66; und Treviranus, Ueber die organischen Elemente des thierischen Körpers, in Treviranus 1816, 118. 57 | Tiedemann 1808-1814, Bd. 1 (1808), 24-25.
IV. Treviranus’ innere Gleichförmigkeit
Neben der zyklischen Vernetzung von lebender und lebloser Natur gibt es für Treviranus innerhalb der leblosen Natur einen Kreislauf »unaufhörlicher Zersetzungen und Zusammensetzungen« zwischen »Atmosphäre« und »Wasser«.58 Diese »circulären Beeinflussungen und Hervorbringungen« setzen sich im »Sonnensystem« fort. Die Körper des Sonnensystems »stöhren und erhalten« sich in ihrem »Laufe« und ihren »Bahnen« und wirken gegenseitig auf die »Organisation ihres Inneren« ein.59 Im »sichtbaren Weltall« und seinem »gränzenlosen System« ist »alles organisirt«.60 Das Weltall ist ein »allgemeiner Organismus«61, jedoch ist dieser »Organismus« ohne Leben. Er generiert keine Lebenskraft – auch wenn die systemische Organisation des »leblosen Organismus«62 des Weltalls in der Ordnung lebender Organismen »weit deutlicher« zum Ausdruck kommt als in der aller anderen Klassen von Körpern.63 Der lebendige Organismus ist nicht nur von der Außenwelt für den Erhalt seines Lebens abhängig, sondern trägt auch zum Erhalt ihrer Ordnung und des Lebens anderer »lebender Individuen« bei.64 Auf jede »Abweichung« eines lebenden Organismus von der »zur Erhaltung des allgemeinen Organismus nöthigen Thätigkeit« folgt eine »entgegengesetzte Veränderung«. Diese Veränderung kann zur »Zerstöhrung« des Individuums führen.65 Neben dem Austausch und der Transformation von Stoffen beruht das »Gleichgewicht« des 58 | Vgl. Treviranus 1802-1822, Bd. 1, 34-35: »Wäre hier der Ort, diese Zeugnisse, die uns die Erfahrung für unsern Satz liefert, zu verfolgen, so würden wir zeigen, dass das Wasser und die Athmosphäre unserer Erde die Mittel sind, von deren unaufhörlichen Zersetzungen und Zusammen setzungen alle Thätigkeit auf diesem Planeten ab hängt; dass das Wasser den Stickstoff der Athmosphäre erhält, so wie die gehörige Menge Sauer stoff in derselben durch das Ausathmen der Pflan zen unterhalten wird; und dass umgekehrt die Athmosphäre wieder die Erhalterin der gehörigen Quantität und Mischung des Wassers ist. Wir würden zeigen, dass das Mineralreich die Gewässer in Stickgas umwandelt, indem es diesen einen Theil ihres Sauerstoffs entzieht, und dass die Ath mosphäre wieder in Wasser übergeht, indem der Stickstoff derselben mit ihrem Sauerstoff durch den elektrischen Funken verbunden wird.« 59 | Ibid., 36. 60 | Ibid., 36. 61 | Ibid., 68. 62 | Ibid., 58. Treviranus Bruder Ludolf Christian Treviranus spricht auch vom »schlafenden Organismus der unbelebten Natur«. Vgl. Ludolf C. Treviranus 1803, 4: »Im todten, oder eigentlicher, im schlafenden Organismus der unbelebten Natur wird die Form durch die Mischung bestimmt: im belebten Organismus der Pflanzen und Thiere aber ist umgekehrt die Form das Vorwaltende.« 63 | Vgl. Treviranus 1802-1822, Bd. 1, 60. 64 | Ibid., 68. 65 | Ibid., 67-68.
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allgemeinen Organismus der »lebenden Natur« auf dem »Gegensatz« der verschiedenen Organisations-»Formen des Lebens« und auf der »Fortpflanzung des Geschlechts«. Dabei erzeugt ein Individuum allgemein eine desto größere Anzahl von Nachkommen, je mehr die »Gattung«, zu der es gehört, »widernatürlichen Todesarten« ausgesetzt ist.66 Die Zahl der Nachkommen eines Tieres steigt, »je wehrloser es ist und je mehr Feinde es hat«. Die »Fortpflanzung des Geschlechts« kann durch die »Einwirkung eines ungleichartigen männlichen Zeugungsstoffs auf den weiblichen Keim« oder durch »Einflüsse anderer Potenzen« nach der »Erzeugung« zu »Abänderungen« der »Formen des Lebens« führen. Treviranus geht von einer »Mannichfaltigkeit in der Entstehung« lebender Körper aus67, lässt aber im Einzelnen offen, ob die verschiedenen »Gattungen« lebender Körper aus formloser Materie oder durch fortgesetzte »Abänderungen« oder »Degenerationen« bestimmter »Urformen« oder »protoplasta« hervorgegangen sind.68 Ihm kommt es vor allem auf die grundsätzliche »Biegsamkeit der Organisation« jedes lebenden Körpers an, seine »Organisation 66 | Ibid., 79. Die Zahl der Nachkommen eines Tieres steigt, »je wehrloser es ist und je mehr Feinde es hat« (ibid., 79-80). 67 | Treviranus 1804, 23: »Unsere bisherigen, obgleich noch so sehr eingeschränkten Erfahrungen zeigen uns schon so viele Mannichfaltigkeit in der Entstehung der lebenden Körper, daß die Hoffnung, bei noch größerem Reichthume an Beobachtungen, einst alle möglichen Formen der Erzeugung erschöpft zu finden, schon von dieser Seite nicht ohne Grund ist. Diese Hoffnung erhält noch mehr Wahrscheinlichkeit, wenn der Satz, daß im allgemeinen Organismus alle möglichen Arten des Daseyns wirklich vorhanden sind, seine Richtigkeit hat.« 68 | Vgl. ibid., Bd. 2, 499: »Jede Form des Lebens kann durch physische Kräfte auf eine doppelte Art hervorgebracht seyn: entweder durch Entstehung aus formloser Materie, oder durch die Abänderung der Form bey fortdauernder Gestaltung. Im letztern Falle kann die Ursache der Abänderung entweder in der Einwirkung eines ungleichartigen männlichen Zeugungsstoffs auf den weiblichen Keim, oder in dem erst nach der Erzeugung statt findenden Einflusse anderer Potenzen liegen. Durch jene Ursache werden Bastarde, durch diese Abarten gebildet. Ohne Zweifel werden sich dem Leser bey unsern bisherigen Betrachtungen schon längst Fragen aufgedrängt haben: auf welchem dieser Wege die lebende Natur ihre jetzige Gestalt erhalten hat? Ob alle verschiedene Gattungen der lebenden Körper aus formloser Materie hervorgingen, oder ob nur gewisse Urformen (protoplasta) auf diese Art hervorgebracht, und die übrigen durch Ausartung oder durch Bastarderzeugung von jenen entsprungen sind? Diese Fragen lassen sich theils gar nicht, theils hier noch nicht beantworten. Man sieht aber leicht ein, dass es keine Aenderung in den Resultaten unserer bisherigen Untersuchungen macht, ob alle, oder nur gewisse Gattungen aus Urformen, und im letztern Falle die übrigen durch Ausartung von diesen Entstanden sind.«; und Treviranus 1804.
IV. Treviranus’ innere Gleichförmigkeit
den Veränderungen der äussern Welt anzupassen«.69 Diese »Biegsamkeit«, die unter den »einfachen Zoophyten der Vorwelt« besonders ausgeprägt war, hat in Folge der »ewigen Umwandlungen« der »ganzen Natur« eine »zahllose Mannichfaltigkeit in die leblose Natur« gebracht.70 In Treviranus’ Biologie verändern sich die »Formen des Lebens« individueller Organismen, doch ist die unhintergehbare Existenzbedingung jedes Organismus der Erhalt einer inneren Gleichförmigkeit zwischen Innen- und Außenwelten. Die Art der Gleichförmigkeit ist je nach Organisationstyp relativ und verweist, wie in Hufelands Pathologie selbsttätiger Organismen, auf einen Normalzustand, der über die Lebensfähigkeit des Agenten entscheidet. Zugleich gehört Treviranus’ Gleichförmigkeitsmodell einer Prozesslogik des Eigenen und des Fremden (oder des Selbst und des Anderen) an, die sich durch körperliche Grenzflächen und verfaltete Häute hindurch verwirklicht. Die Bedeutung körperlicher Grenzflächen, die Prozesslogik des Eigenen und Fremden und die Physiologie Organisations-spezifischer Normalzustände leiten in den folgenden Kapiteln in die Ansätze von Joachim Dietrich Brandis, Schelling und Karl Friedrich Burdach über.
69 | Treviranus 1802-1822, Bd. 2, 423. Treviranus’ Ausdruck »Biegsamkeit der Organisation« verweist auf Blumenbachs in den Institutiones physiologicae (1786) vorgenommene Bestimmung der Formbarkeit oder »Biegsamkeit des menschlichen Gewebes« (cellulosae humanae mollities), durch die der Mensch sich verschiedenen äußeren Umständen anpassen kann. Theodor Georg August Roose, der auch bei Blumenbach studierte, bezog sich in Über die Gesundheit des Menschen. Ein physiologischer Versuch (1793) analog auf die »Biegsamkeit des Zellgewebs« als »Ursache der allgemeinen Verbreitungsfähigkeit des Menschen«. Vgl. Blumenbach 1786, § 33, 25; und Roose 1793, 38. Treviranus (1802-1822, Bd. 2, 424) verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Bedeutung von »Missgeburten« und »Missbildungen«: »Aber giebt es Beweise der Erfahrung für eine solche Biegsamkeit der Organisation? Allerdings giebt es deren, und selbst auf der höchsten Stufe der Organisation, bey dem Menschen. Hier sind es die Missgeburten, welche nicht nur aufs einleuchtendste beweisen, dass der lebende Körper ein Vermögen besitzt, seiner Organisation der Sphäre, worin er sich befindet, selbst dann noch anzupassen, wenn auch der Zustand der Gesundheit mit dieser unvereinbar ist, sondern auch von noch andern Seiten unsere Meinung von dem Entstehen der jetzigen lebenden Natur unterstützen.« 70 | Ibid., Bd. 2, 423-424. Vgl. Jager 1991, 274-275. Für den weiteren Kontext geologischer und organismischer Transformationstheorien siehe ibid., 200-352.
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V. Brandis’ Grenzflächen
Wie Hufeland und Treviranus geht Joachim Dietrich Brandis, der in Göttingen bei Blumenberg und Georg Christoph Lichtenberg studiert, in Versuch über die Lebenskraft (1795) und Pathologie oder Lehre von den Affekten des lebendigen Organismus (1808) von einer Dreiecksbeziehung zwischen Lebenskräften, organisierten Körpern als »Communicationswerkzeugen«1 und »Aussenwelten« aus.2 Eng an Blumenberg und Kant anschließend, stellt die »Lebenskraft« für Brandis eine »Tendenz zur organischen Zweckmässigkeit« dar, deren Annahme er aufgrund bestimmter Erscheinungen, die zur Bildung und Selbsterhaltung lebender Körper gehören, für notwendig hält, ohne, wie bei anderen gesetzmäßig wirkenden Kräften der Physik und der Chemie, ihre »letzte Ursache« bestimmen zu können.3 In seiner Physiologie fokussiert Brandis zum 1 | Vgl. Brandis 1795, 2-3 (auch: »Communications-Werkzeug«); und 1834-1839, Bd. 1, 361, 376, 389 und 456. Brandis spricht weiterhin von »Communicationsorganen« (vgl. Brandis 1834-1839, Bd. 1, 293) und der »Communication zwischen dem Reitzpunkte und dem Sensorio« (vgl. Brandis 1795, 35). 2 | Für weitere bio- und bibliographische Angaben siehe Brück 1884 und Kreipe 1967. 3 | Vgl. Brandis 1808, 1-2: »Weiter als bis auf diese Tendenz zur organischen Zweckmässigkeit, die wir auch Lebenskraft zu nennen pflegen, können wir in Erforschung der Ursachen des Lebens phänomens nicht dringen, wenn wir uns nicht auf das unsichere Feld der blossen Speculation wagen wollen, wo das für den Arzt bestimmte Forschen durch sinnliche Anschauung aufhört. Diese Tendenz zur organischen Zweckmässigkeit scheint in dieser Rücksicht das in der organischen Welt zu seyn, was Schwere, Affinität u. s. w. in der unorganischen und – die Gottheit in der geistigen Welt ist. Das heisst, wir können nur von ihren Wirkungen, nicht von ihnen selbst uns einen sinnlichen Begriff machen, und alle Bemühungen, sie selbst uns vorzu stellen, scheinen ihrer Natur nach fruchtlos zu seyn.«; und ibid., 7: »Wir sind nicht im Stande, die letzte Ursache des Lebensphänomens uns sinnlich darzustellen, aber wir können die Gesetze, nach welchen dieses Leben wirkt, die Orga nisation bildet und erhält, durch sinnliche Beobachtungen zum Theil bestimmen, so wie die Gesetze der Schwere, der Affinität u. s. w. bestimmt werden.«
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Organismen. Agenten zwischen Innen- und Außenwelten 1780-1860
einen auf den an Reiz-Reaktions-Schemen gebundenen »Assimilationsprocess«, durch den aus der Außenwelt aufgenommenes »Fremdes« in die innere Dynamik von Dekomposition und Komposition eingebunden wird, und zum anderen auf die Rolle von »Grenzflächen« und »Regulatoren«, durch die »Lebenskraft« und »Außenwelt« in Kontakt treten.
1. »A NEIGNUNG « UND »E NTFERNUNG « Ausgehend von einer Differenz zwischen »ponderabelen« und »imponderabelen Substanzen« (für die – wie bei den Phänomenen des Lichts, der Wärme, des Magnetismus und der Elektrizität – kein spezifisches Gewicht nachweisbar ist), unterscheidet Brandis im Menschen und in höheren Tieren zwei »Welt«-Zugänge zur Außenwelt. Während »Assimilationsprocesse« auf dem Austausch »ponderabeler Substanzen« beruhen, um den »Wirkkreis« des »vegetativen Lebens« eines Organismus zu erhalten, ermöglichen »imponderabele Substanzen« die das »sensorielle Leben«4 bestimmende »Aneignung« der Außenwelt durch die Sinne.5 Die Rolle der Außenwelt als materielle Ressource assimilatorischer Austauschbewegungen beruht auf dem inneren Tätigkeitsgefüge der Organismen. In lebenden Körpern sind alle Tätigkeiten und ihre Reiz-Reaktions-Schemen nicht nur in produktive Prozesse eingebunden, sondern bewirken auch – durch mechanische Abnutzung oder chemische Reaktionen – einen Verbrauch der beteiligten Teile oder Stoffe. Aus dem inneren Tätigkeitsgefüge resultiert daher ein beständiger »Wirkkreis« der »Destruction« und »Reproduction«: »[…] bey jeder organischen Bewegung geht das im Kleinen vor, was wir bey äussern Verletzungen nach einiger Zeit durch die Reproductionskraft geschehen sehen, bey jeder Bewegung wird etwas untauglich und muss wieder ersezt werden, und die Summe aller dieser im Kleinen ersezten Materie kann nach längerer oder kürzerer Zeit der ganzen Masse des Theils gleich werden.« 6 4 | Brandis bezeichnet das »sensorielle Leben« auch als »sensorielles System«. Vgl. Brandis 1808, 217: »Das sensorielle System stellt den eigenen momentanen Zustand des Organismus und einen grössern Theil der Aussenwelt, in Bezug des momentanen Zwecks dar und verändert nach dieser Darstellung den vege tativen Organismum, um ihn zum Theil oder ganz in eine andere Aussenwelt zu versetzen, die dem momentanen Zwecke mehr angemessen ist, worin das Zweckmässige besser zu erlangen und das Zweckwidrige zu vermeiden ist.« 5 | Vgl. Brandis 1808, 195. 6 | Brandis 1795, 102. Vgl. Brandis 1825, 304. In Ueber humanes Leben (1825) richtet Brandis sein Nervenmodell nach Carl Hartmanns Der Geist des Menschen in seinen
V. Brandis’ Grenzflächen
Der systemhafte Bezug aller inneren Tätigkeiten des Organismus zum Erhalt des ganzen Tätigkeitsgefüges und seiner materiellen Bedingungen wird für Brandis durch »Associationen« der lokalen Reiz-Reaktions-Schemen ermöglicht, die einzelnen Organen oder Sub-»Systemen« innewohnen. 7 Die »Thätigkeitsserien« oder »Haufen von Thätigkeiten« innerer Organe sind wiederum mit den Tätigkeiten vernetzt, die durch Reize der Außenwelt ausgelöst werden: »Jede lebendige Thätigkeit des ein zelnen Organs zieht auch Veränderungen in der Zweckmässigkeit anderer Organe nach sich, wodurch in diesen wieder lebendige Thätigkeiten entstehen müssen, wenn das Ganze seinen bestimmten Zweck beybehalten soll. Also jede lebendige Thätigkeit wird wieder zur Ursache anderer lebendiger Thätigkeiten und jeder Reiz als erste Ursache der lebendigen Veränderungen zieht gleichfalls eine Kette von lebendigen Thätigkeiten nach sich. Wir nennen dieses Causalverhältniss der lebendigen Thätigkeiten unter sich Association.« 8 Verhältnissen zum physischen Leben, oder Grundzüge zu einer Physiologie des Denkens (1820) aus. Für Hartmann ist jeder einzelne Nerv »Selbsterwecker« seines »inneren Lebens«, das in einer »in der Zeit fortschreitenden Thätigkeit« besteht, und zwar als »immerdar wiederholte Nervenbildung und als organische Wechselwirkung der gebildeten Nerven mit äußern Reizen« (Hartmann 1820, 87-89). Vgl. ibid., 85: »Das, was sich von dem Leben eines jeden, in sich geschlossenen Organismus überhaupt sagen läßt, ist auch auf das Leben eines jeden in dem Gesammtorganismus begriffenen Systems, im thierischen Körper also auch auf das Nervensystem anwendbar. Demnach ist das Leben des Nervensystems nichts anders, als diejenige, in allen, auch den kleinsten, Theilen des Nervensystems immerdar regsame Thätigkeit, vermittelst welcher die Nerven ihrer Substanz nach gebildet, immerfort verzehrt und wieder gebildet werden, und wodurch sie zugleich das Vermögen erhalten, mit äußern, auf sie wirkenden Einflüssen in organische Wechselwirkung zu treten, und bestimmte organische Bewegungen hervor zu bringen.« Zugleich verweist Brandis aber auf das Problem, dass sich Nervenbewegungen, oder Bewegungen in Nerven, mit »unseren Sinnen« nicht beobachten lassen. Vgl. Brandis 1795, 135: »Wir sehen weder Nervengeist in den Nerven fliessen, noch bemerken wir Schwingungen der Nervenfibern, noch können wir Zusammenziehung darin beobachten; unsere Sinne werden also nie unmittelbar competente Richter in dieser Sache werden.« 7 | Brandis spricht von »Systemen der Organisation« eines lebendigen Körpers. Vgl. Brandis 1795, 33 und 122; und Brandis 1834-1839, 332 und 361. 8 | Brandis 1808, 42-43. Vgl. Brandis 1795, 70; und 1808, 84-85. Im Zusammenhang »assoziirter Tätigkeiten« entwirft Brandis ein Wellen-Modell des Reizausbreitung. Vgl. Brandis 1808, 60-61: »Man könnte in dieser Rück sicht die Wirkung des Reizes, auf den ein zelnen Theil applicirt, welche er auf das Ganze ausübt, mit der Wirkung eines in eine Flüssigkeit geworfenen Körpers auf die ganze Flüssigkeit vergleichen, er verändert die Lage der Wassertheile, welche er berührt, macht dadurch eine Welle und diese bewirkt in den nächstgelegenen Theilen wieder Ver änderungen der Lage der Theile, wieder
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Brandis bindet Browns Reiz-Reaktions-Schemen organischer Erregbarkeit an die komplexe »Ausdrucks«-Logik der Lebenskraft. Als »Reaktion« stellt sich der durch einen Reiz ausgelöste »Ausdruck« der Lebenskraft nicht unmittelbar, wie in einer passiven Entladung, sondern vermittelt durch Prozesse ein, welche die Art der »Reaktion« an den »gegenwärtigen Zustand« des organischen Systems »anpassen«. Eine »Reaktion« der Lebenskraft findet daher nur in »Rücksicht« auf die »Form und Mischung« des reagierenden Organs statt, dessen Tätigkeitsserien wiederum mit den Tätigkeiten aller anderen Organe »associirt« sind. Erst nachdem eine solche »Anpassung« vorgenommen worden ist, kann es zu einer »Reaktion« kommen, die in Hinsicht auf das Reagierende »zweckmäßig« ist, indem sie zur »Aneignung oder Wegschaffung« des Reiz-generierenden Fremdstoffes im Rahmen assimilatorisch ausgerichteter Innen-Außenwelt-Verhältnisse führt, die dem Erhalt der gesamten »Organisation« eines individuellen Organismus dienen. Auf diese Weise wirkt das Regulationspotential der Lebenskraft sowohl lokal, modifiziert durch die »Organisation« eines Organs, als auch »in Uebereinstimmung mit der ganzen Organisation«9: Wellen, die sich auf einem vollkommen ruhigen Wasserspiegel, weit in Kreisen verbreiten, aber immer kleiner werden, bis sie sich zuletzt ins unendliche verlieren und gänzlich verschwinden. Bey Wasser, das aber schon vorher in Wellen bewegt war, werden diese Wellen zwar nach denselben Gesetzen bewegter Flüssigkeiten wirken, bald aber gänzlich unbemerkbar werden, weil andere Wellen ihre Kräfte aufnehmen und da durch mehr oder weniger modificirt werden; so wird die aufgehobene Zweckmässigkeit des einen Organs, die mit ihm zunächst verbundenen Organe zu einer veränderten Thätigkeit veranlassen, und diese wieder andere, aber diese verbreitete Wirkung des Reizes wird sich immer mehr verlieren und in sehr entfernten Organen unendlich klein werden; sie wird aber um so früher unmerklich wer den, als andere lebendige Thätigkeiten der selben Art den übrigen Organismum in Thä tigkeit setzen.«; und ibid., 65-66: »Niemals kann aber ein materieller Reiz als solcher allein die Tendenz zur Zweckmässigkeit umstimmen. So wenig als alle die Ursachen, welche das Meer wogen machen können, ein bleibendes Wogen, auch wenn sie aufgehört haben, zu bewir ken im Stande sind.« 9 | Vgl. Brandis 1808, 4: »Diese Tendenz zur organischen Zweck mässigkeit oder Lebenskraft kann nicht als einem einzelnen Theile der Organisation eigen gedacht werden; sie ist keine materielle Zumischung von ponderabelen Stoffen zu andern nach den im begrenzten Räume statt habenden Gesetzen der Affinität, sondern sie ist eine dem ganzen lebendigen Organismo eigene Kraft: jeder Theil des Ganzen trägt zur Zweckmässigkeit des Ganzen nach seiner Beschaffenheit bey, wird also von dieser Tendenz zur Zweckmässigkeit in seiner Existenz bestimmt, alle seine lebendigen Veränderungen werden durch diese Tendenz verursacht, und derselbe wirkt nicht in den einzelnen Theilen unabhängig vom Ganzen, sondern sie wirkt in den einzelnen Theilen, um dadurch ein Ganzes, eine individuelle Organisation hervorzubringen und zu erhal ten:
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»Zu der zweckmässigen Aneignung des tauglichen, und Entfernung des zweckwidri gen wird begreiflich erfordert a) Bestimmung des gegenwärtigen Zustandes des Organs, welcher etwas aufneh men oder entfernen soll, in Rücksicht seiner Form und Mischung; b) Bestimmung der Beschaffenheit des ponderabelen Reizes; c) Vergleichung zwischen dem gegenwärtigen Zustande des Organs und der Be schaffenheit des Reizes, ob derselbe für die Zweckmässigkeit des Organs passt und auf zunehmen, oder ihr nachtheilig und möglichst zu entfernen, oder ob er für die Zweckmässigkeit des Organs gleichgültig, und also indifferent sey. Diese drey Acte des Lebens oder der Tendenz zur vegetativen Zweckmässigkeit begreifen wir unter dem Namen Erregbarkeit. Wenn wir als Thatsache annehmen, dass jeder gesunde vegetative Organismus zweckmäßig gebildet ist, so ist die not wendige Folge, dass diese drey Acte in der Erregbarkeit enthalten sind. d) Nach dieser Vergleichung wird dann die lebendige Thätigkeit zur Aneignung oder Wegschaffung entweder bewirkt, entsteht lebendige Bewegung oder Mischungsänderung von bestimmter Art, oder bey Indiffe renz des Reizes wird sie nicht bewirkt.«10
Jede »Abweichung der Lebensthätigkeiten« von dem »Normalzweck der Erhaltung des eigenen Organismus gegen die Aussenwelt« stellt ein »Leiden« oder eine »Affection« dar, die in eine »Krankheit« übergehen kann. Da die Reaktionen lebendiger Systeme jedoch nicht »unmittelbar« auf Reize der Außenwelt folgen, sondern immer durch die Lebenskraft in »Rücksicht« auf das ganze System vermittelt werden, kann der Organismus zwar durch die Außenwelt in der Art seiner Reaktion »gestört« werden, hängt aber als reaktives System nur bedingt von ihrem direkten Einfluss ab. »Gesundheit« und »Krankheit« bezeichnen »Zustände« des Ausgleichs zwischen dem Regulationspotential der Lebenskraft, dem physischen »Organisations«-»Zustand« lebender Körper und der Einflussgröße der Außenwelt.11 Während die »Lehre von den abnormen Lebensäusserungen« für Brandis zur »Pathologie« gehört, kommt der »Physiologie« die »Lehre von den zweckmässigen Lebensäusserungen« zu: »Jeder lebendige organische Körper hat eine eigene Tendenz, ein in seiner Art vollkommnes zweckmässiges Ganze zu seyn; so lange er lebt, nimmt er das von der Aussenwelt in sich auf, was zu seiner individuellen Ausbil dung passt, sucht das von sich zu entfernen, die lebendige Thätigkeit z.B., welche in der Wurzel einer Pflanze, im Magen eines Thiers u. s. w. die erste Veranstaltung macht, etwas der individuellen Organisation bisher Fremdes von der Aussenwelt aufzunehmen und der Pflanze oder dem Thiere anzueignen, kann von der Lebenskraft nicht in dem thätigen Organe unabhängig von der übrigen Organisation hervorgebracht werden, sondern nur in Uebereinstimmung mit der ganzen Organisation wird das aufgenom men, was dem Ganzen passt, und das weggeschafft, was dem Ganzen nicht passt oder ihm nachtheilig seyn kann.« 10 | Brandis 1808, 47-48. Vgl. Brandis 1808, 4; und ibid., 50-51. 11 | Für Brandis’ Krankheitsbegriff siehe Kreipe 1967, 91-104.
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was derselben hinderlich ist, und er kann durch die Aussenwelt in seiner Ausbildung, oder in seiner Tendenz ein vollkommnes und zweckmässiges Ganze zu seyn, zwar auf man nigfaltige Art gestört werden, niemals aber, wie ein unorganischer Körper, unmittelbar und allein durch die Aussenwelt andere Form und Mischung erhalten.« 12
Wenn keine »Störungen« durch Außen-Reize oder Veränderungen der physischen »Organisation« vorliegen, resultiert aus der zur Selbsterhaltung dienenden Wechselwirkung zwischen Lebenskraft und Außenwelt ein »Gleichgewicht der lebendigen Thätigkeiten«13, das Grundlage des »Normallebens«14 individueller Organismen ist.15 12 | Brandis 1808, 1. Vgl. Brandis 1808, 29-30. Reize, die »Zweckmässigkeit befördern«, stellen keine »Leiden« dar. Vgl. Brandis 1808, 29: »Es ist z.B. kein Leiden, wenn in den Magen Nahrung gebracht, dadurch die absondernden Organe, die Muskelfibern, die einsaugenden Gefässe u. s. w. in zweckmässige lebendige Thätigkeit gesetzt werden, um den nöthigen Nahrungsstoff zu verdauen und in den Organismus weiter aufzunehmen, hingegen ist es ein Leiden, wenn in den Magen entweder gar nichts oder etwas nicht zu verdauendes und in den Organismus nicht aufzunehmendes gebracht wird, die einzelnen genannten Organe werden dann auf ver schiedene Art zweckwidrig afficirt.« Für Brandis verhält sich Nosologie zu Pathologie wie Anthropologie zu Physiologie (ibid., 30): »Nosologie verhält sich daher zu Pathologie wie Anthropologie zu Physiologie, erstere sucht den kranken Organismus in bestimmten einzelnen Fällen historisch zu schildern, letztere forscht den zweckwidrigen Lebensäusserungen der ein zelnen Theile nach, und sucht dadurch die Gesetze aufzufinden, nach welchen die Erscheinungen im kranken Organismus entstehen.« Nosologen orientieren sich für Brandis (ibid., 35) vor allen an »Symptomen«, die bestimmte »Krankheitsformen« charakterisieren und mit ihnen »unzertrennlich« verbunden sind. Fehlen die »Symptome«, kann auch die »Krankheitsform« nicht indiziert werden (ibid.). Brandis (ibid.) weist allerdings auch darauf hin, das jede »Krankheitsform« aus einer »Menge solcher Symptome« besteht. 13 | Vgl. Brandis 1808, 26. 14 | Vgl. Brandis 1808, 17. Brandis (1808, 29) spricht auch vom »Normalzweck der Erhaltung des eigenen Organismus gegen die Aussenwelt«. 15 | Die Wiederherstellung des »Normalzustandes« durch eine Lebenskraft vergleicht Brandis mit dem älteren Konzept der vis naturae medicatrix. Vgl. Brandis 1795, 69: »Das erste Fieber soll von der heilenden Natur erregt werden. So sehr ich überzeugt bin, dass der organische Körper so eingerichtet ist, dass er sich durch seine Einrichtung selbst gegen manche Gefahren, die ihm Zerstörung drohen, schützen kann, so muss ich doch gestehen, dass ich mir von dieser heilenden Natur, als eine eigene Kraft betrachtet, keinen deutlichen Begriff machen kann.«; und Brandis 1808, 9-10: »Diese wieder in ihre Normalgesetze zurücktretende Tendenz zur Zweckmässigkeit heisst bey den älteren Aerzten Heilkraft der Natur (vis naturae medicatrix), sie ist eben so wie die Reproductionskraft keine von der Lebenskraft verschiedene Kraft, sondern es ist
V. Brandis’ Grenzflächen
2. G RENZFL ÄCHEN Um organisierte Körper als »Communicationswerkzeuge« und komplexe »Leiter« zwischen Innen- und Außenwelten zu charakterisieren, koppelt Brandis die »Ausdrucks«-Logik der Lebenskraft an die Strukturen von »Grenzflächen«16, durch die hindurch sie sich »darstellt« und »Assimilationsprocesse« ermöglicht. Diese »Grenzflächen« bilden, miteinander verbunden, geschichtet und vielfach vernetzt, »communizierende« Räume. »Grenzflächen« und ihre Räume sind jedoch nicht nur Darstellungsmedien des »Ausdrucks« der Lebenskraft, sondern auch materielle Grundlage der Verzahnung von Innenund Außenwelt, die aus dem Prozess- und Tätigkeitsgefüge des lebendigen Organismus resultiert. Brandis überführt die physiologische und perzeptive Dynamik des Wechsels – des Aufnehmens und Abgebens und des Aneignens und Ausdrückens zwischen Innen- und Außenwelt sowie zwischen Dargestelltem (Fremden) und Darstellendem (Selbst) – in das Modell eines Grenzprozesses, in dem Begrenztes und Unbegrenztes entlang poröser, plastischer und rezeptiver Grenzen durch Reiz-Reaktions-Schemen in beständigem Austausch stehen. Im »vegetativ-thierischen Organismus« liegen für ihn drei grundlegende »Grenzflächen«-Systeme vor, die mit »ponderabelen Außenwelten« in Kontakt stehen, aber zugleich einen Einfluss »imponderabeler Substanzen« auf das »sensorielle Leben« ermöglichen: die »Lungen«, der »Darmkanal« und die mit einer »Oberhaut« überzogene »äussere Oberfläche des Körpers«. Ihnen sind jeweils bestimmte Funktionskomplexe im Körper zugeordnet: »Drey in ihrer Natur und Wirkungsart verschiedene Oberflächen bietet der vollkommnere vegetativ-thierische Organismus der ponderabelen Aussenwelt hauptsächlich dar, durch welche er mit ihr in nähere Ver bindung gesetzt wird, durch welche er aus ihr das tägliche aufnehmen und ihr das zweckwidrige wieder zurückgeben kann, welche aber dieselbe Kraft, welche den gesunden Organismum beständig erhält und neu entwickelt, das Taugliche für ihn aufnimmt und das Untaug liche entfernt, nur wirkt sie, wenn durch Krankheit mehreres untauglich geworden ist, wenn sie längere Zeit und heftiger in ihrer Normalwirkung gestört war, in dieser Wegschaffung des Untauglichen und Wiedererzeugung des Zweckmässigen deutlicher und kräftiger, und ihre Wirkungen in dieser Rücksicht müssen der Hauptgegenstand der Aufmerksamkeit des heilenden Arztes seyn.«; und ibid., 20-21: »Hört die Ursache auf, welche die Lebenskraft veranlagte anomal zu wirken, so kehrt dieselbe wieder in ihre alten Gesetze der Zweckmässigkeit zurück, und sucht den Organismum wieder möglichst vollkommen und zweckmässig herzustellen, wirkt also hier als Heilkraft der Natur; das Nachtheilige wird weggeschafft und das Zweckmässige wieder erzeugt.« 16 | Vgl. Brandis 1808, 381-382.
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auch alle mehr oder weniger dem Einfluss der imponderabelen Substanzen der Aussenwelt ausgesetzt sind und folg lich auf das sensorielle Leben unmittelbaren Einfluss haben. Nach dem verschiedenen momentanen Bedürfniss des Organismus und nach der verschiedenen Beschaffenheit der Aussenwelt müssen daher diese drey Flächen ihre sensorielle Thätigkeit mit der vegetati ven verbinden, um den Organismum in der möglichsten Vollkommenheit zu erhalten. Diese drey Flächen sind: 1) die innern Lungen in allen ihren Ver zweigungen, wodurch sie mit der atmosphärischen Luft in Berührung kommen, vom An fange der Nasenhöle und Mundhöle an bis in die Lungenbläschen; die ganze Funktion dieser Fläche in vegetativer und sensorieller Rücksicht nennen wir Respiration. 2) der innere Darmkanal in seiner gan zen Verbreitung vom Munde an bis zum letzten Ausgange. Die Funktion dieser Fläche nennen wir Verdauung. 3) die äussere Oberfläche des Körpers, welche mit Oberhaut (Epidermis) überzogen ist. Da ihre Funktion am meisten den objectiven Sinnen unterworfen und folglich am besten zur Vorstellung gebracht werden kann, so haben wir früh die verschiedenen Modifikationen derselben unterscheiden gelernt: sie transpirirt, indem sie Theile des eigenen Organismus der Aussenwelt wieder übergiebt, sie absorbirt, indem sie Theile der Aussenwelt aufnimmt […]«17
Während in den Lungen kein Austausch »ponderabeler Stoffe« zwischen der Luft und dem Blut stattfindet, sondern ein allein durch ihre »Berührung« eingeleiteter »Wechsel« ihrer jeweiligen »Mischungs-« und »Polaritäts«-Verhältnisse«, welcher der Tätigkeit und dem Erhalt des »sensoriellen Lebens« dient, wird ein Teil der mit der zweiten großen Oberfläche in Berührung kommenden »ponderabelen Aussenwelt« in den Organismus aufgenommen.18 Diese Aufnahme wird vor allem durch die »Schleimhaut« des Darmkanals vollzogen, die durch »lympahtische Gefässe« den »Charakter einer einsaugenden 17 | Brandis 1808, 316-317. 18 | Vgl. Brandis 1808, 320: »Dieses Bedürfnis des Organismus, atmosphärische Luft in die Lungen einzuziehen und als irrespirabele Luft wieder auszuhauchen, steht auf keine Weise mit dem Mischungsverhältniss des vegetativen Organismus, sondern lediglich mit der sensoriellen Thätigkeit des thierischen Lebens in Verhältniss: Nicht die Masse des organischen Körpers, nicht seine Zunahme an ponderabelen Stoff, nicht die vermehrte Absonderung ponderabeler Stoffe, machen den häufigern Wechsel der Atmosphäre in den Lungen nothwendig, sondern lediglich die vermehrte Aperception der Aussenwelt, das vermehrte Gemeingefühl, das vermehrte Bewusstseyn und die vermehrte Muskelbewegung. Der Fötus, der grösstentheils nur vegetirt, bedarf dieser Respiration gar nicht […]« Für den weiteren Kontext von Polaritätslehren, vor allem dem Einfluss von Johann Wilhelm Ritters galvanischem Modell tierischer Elektritzität, Mesmers Magnetismus und Schellings naturphilosophischer Polaritäts-Kosmologie siehe Schelling 1797 und 1798; Ritter 1798; Brandis 1836; Kreipe 1967, 104-119; Daiber 2000; und Frigo 2010.
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Fläche« hat.19 Die große, für den »Assimilationsprocess« benötigte Fläche begründet Brandis durch die ausgeprägte stoffliche »Differenz der Aussenwelt von dem eigenen Organismus«.20 Nach ihrer Aufnahme werden die »fremden« Stoffe durch chemische und mechanische »Operationen« sowie durch Wechselwirkungen mit dem »sensoriellen Leben« dem aufnehmenden Körpers angeglichen und in ihn eingebaut.21 Auf der großen Darmfläche verbreiten sich in Form komplexer Nervennetze »mittelbar Zweige von allen Nervenpaaren des ganzen Organismus«.22 Neben dem »Gemeingefühl«23, den spezifischen Sinnesnerven und dem »Gehirn«, die alle dem »sensoriellen Bewusstsein« dienen, bilden diese Netze ein dem »sensoriellen Leben« eigenes regulatives Metazentrum, das Brandis Abdominalgehirn (»Cerebrum abdominale«) nennt: »[…] in den ver schiedenen, zu den Verdauungsorganen ge hörigen Nervenknoten, bildet sich ein von dem durch die objectiven Sinne und das Gemeingefühl gebildeten sensoriellen Bewusstseyn verschiedenes sensorielles Leben, das zwar von jenem, durch Nervenleitung, auf mannigfaltige Art modificirt wird, aber nie mit demselben ganz vereinigt werden kann; nach diesem verschiedenen Einflusse auf das sensorielle Leben der Verdauungsorgane, wirkt die in seinen Wirkungskreis gebrachte Aussenwelt verschieden auf dasselbe und es wirkt verschieden auf die Aussenwelt zurück.« 24 19 | Vgl. Brandis 1808, 337; und ibid., 52-53: »Bey thätigen Verdauungsorga nen z.B. wird beym erwachsenen Menschen durch die äussere Oberfläche wenig oder nichts von fremden Stoffen in den Organis mum aufgenommen, ist aber die Lebensthätigkeit der Verdauungsorgane sehr gestört, so wird die Erregbarkeit der einsaugenden Organe bedeutend erhöhet.« 20 | Brandis 1808, 338. 21 | Brandis 1808, 338. Vgl. Brandis 1834-1839, Bd. 2, 376. 22 | Brandis 1808, 338. 23 | Zur Differenz zwischen »Gemeingefühl«, »Gefühl« und der Darstellungsweise der »objectiven Sinnesorgane« siehe Brandis 1808, 183: »Diese Function des Nervensystems nennen wir in den einzelnen Theilen ohne Vergleichung mit dem Ganzen und mit der Aussenwelt ausschliesslich Ge meingefühl (Coenaesthelis), in Vergleichung mit dem Ganzen durch das Bewusstseyn aber Gefühl (tactum). […] [Aufgabe der objectiven Sinnesorgane ist es, einen] Theil der Aussenwelt in eine ähnliche Darstellung des Ganzen durch die Unterscheidung der einzelnen Theile und, ihrer Eigenschaften aufzufassen und gleichsam in einem Bilde darzustellen. Dieses geschieht durch die vier äussern Sinne, Gesicht, Gehör, Geruch und Geschmack, und durch das Gefühl, in so weit als die Aussenwelt den vegetativen Organismus verändert.« 24 | Brandis 1808, 339. Vgl. Brandis 1808, 193: »Den ganzen Inbegriff aller gleichzeitigen Darstellungen der Aussenwelt in ihren einzel nen Theilen, mit der Vergleichung ihres Bezugs auf unsere Tendenzen oder Zwecke, welche momentan
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Unter den »Grenzflächen« des Organismus und »gegen die Aussenwelt hin« stellt die »Haut« das dritte große System dar.25 Im Unterschied zu den »inneren Flächen« der Lungen und des Darmkanals bildet die »Haut« eine »äussere Fläche«, die von einer »Oberhaut«, der »Epidermis«, bedeckt ist.26 Diese für Flüssigkeiten und Luft »undurchdringliche«, den »serösen Flächen« im Inneren ähnelnde Oberhaut unterscheidet sich in der »Art der Aufnahme des fremden Stoffs« von der Grenzfläche des Darmkanals, in deren äußerer »Schleimhaut« sich Öffnungen »einsaugender Organe« befinden, die mit einer Nervenpapille« verbunden sind.27 Eine solche »Schleimhaut« liegt erst unter der »Oberhaut«.28 In der »Oberhaut« dienen vor allem »Schweisslöcher oder Poren« der Aufnahme und Absorption von Stoffen.29 Dabei kann es passieren, dass durch die Öffnungen der Poren »fremde, nicht assimilirte Substanzen« in den Kör-
leben, nennen wir sensorielles Bewusstseyn. Dieses Bewusstseyn muss also um so vollkommner seyn, je mehr die äussern Sinne uns die Aussenwelt, in mannigfaltigern Beziehungen auf uns, darstellen, und je mehr Gehirnorgane also gleichzeitig leben, die den Sinnen diese verschiedenen Beziehungen mittheilen; je weniger uns die äussern Sinne die Aussenwelt in mannigfaltigen Beziehungen darstellen, je weniger Gehirnorgane also leben, die den Sinnen diese verschiedenen Beziehungen mittheilen, desto beschränkter ist das sensorielle Bewusstweyn, desto mehr nähert sich folglich der Lebensprocess dem vegetabilischen.« Brandis (1808, 182) bezeichnet das ganze »Nervensystem« auch als einen »sensoriellen Organismum«, der zur »objectiven Darstellung des eigenen Organismus und der Aussenwelt und zur Einwirkung auf den vegetativen Organis mus« wie ein »eigenes Geschöpf« mit einer »eigenen Organisation« in den vegetativen Organismus »eingepflanzt« ist. Die allgemeine »Function« des Nervensystem ist es, sich »fest an die vegetative Fiber anzuschließen und von den Veränderungen des vegetativen Organismus so afficirt werden, dass im sensoriellen Leben beständig eine Darstellung des momentanen Zustandes der einzelnen Theile des vegetativen Organismus entsteht« (ibid., 182-183). Während das »vegetative Leben« in »Intervallen oder Pulsen« tätig ist, die sich zwischen »Indifferenzpunkten« ausgesetzter »Erregbarkeit« einstellen, ist das »sensorielle Leben« des Nervensystems solange erregbar, als es physisch Reize weiterleiten kann. Vgl. Brandis 1808, 197-198. 25 | Vgl. Brandis 1808, 355: »Die dritte Fläche womit der Organis mus mit der Aussenwelt in Berührung kommt, ist die Haut.«; und ibid., 381: »Innerhalb dieser Grenzflächen des Or ganismus gegen die Aussenwelt hin, ist das wichtige Organensystem eingeschlossen, das den vegetativen Organismus nach der mo mentanen sensoriellen Zweckmässigkeit ein richtet, Muskelsystem ist seine allgemeine Benennung.« 26 | Brandis 1808, 355. 27 | Brandis 1808, 373-374. 28 | Brandis 1808, 355. 29 | Brandis 1808, 363.
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per gelangen und dort Krankheiten auslösen, ganz so, »als wenn die Aussenwelt unmittelbar an sie gebracht wäre«.30 Die »Haut« stellt während der Entwicklung und der fortgesetzten Existenz des Organismus dessen »unmittelbarstes Communicationsorgan«31 dar, durch das er, als gänzlich umschlossener Innenraum, in eine Außenwelt gestellt wird. Brandis’ Modell eines Individuatiosprozesses, der durch Assimilation, ernährende »Operationen« und »Grenzflächen« systematisch Innen- und Außenwelten verbindet und zugleich voneinander abgrenzt, findet sich im französischen Kontext in Anthelme Richerands Nouveaux élémens de physiologie (1802) wieder. Richerand, der als Chirurg am Hospital Saint-Louis in Paris arbeitet und Professor für externe Pathologie an der École de Médecine ist 32, interessiert sich für die digestive Dimension innerer Funktionen und leitet hiervon ein neues principium individuationis »ernährender Identifikation« (identification nutritive)33 ab, auf dem das »ganze Leben des Tieres« beruht. 34 »Oberflächen« stellen für ihn die materiellen Bedingungen dar, durch die organische »Aktionen« und »Funktionen« erst möglich werden. 35 »Reizungen« von »Oberflächen« initiieren und unterhalten Prozesse, und allein durch »Oberflächen« werden Stoffe aufgenommen und abgegeben. Während »Pflanzen« nur eine »äußere Oberfläche« (surface extérieure) besitzen, können »Zoophyten« durch eine »Aushöhlung« (cavité), die eine »innere Oberfläche« (surface intérieure) bildet, »aktiver« die zur »Verdauung« dienende »Absorption« und »Imbibition« durchführen.36 In der aufsteigenden série animale wird die »Aushöhlung« zu einem »ernährenden Schlauch« (tube nutritif ), dessen »Haut« sich, ausgehend vom einfachen »Sack« der Polypen, auf verschiedenste Weise faltet.37 Dieser 30 | Brandis 1808, 375. 31 | Brandis 1834-1839, Bd. 1, 293. 32 | Richerand studierte unter anderem bei François Chaussier und Xavier Bichat Medizin in Paris. Für weitere biographische Angaben und Werksübersichten siehe Sarrut & Saint-Edme 1837, Band 3, Teil 1, 32-34: und Dubois 1852. 33 | Vgl. Richerand 1817, Bd. 1, 521. 34 | Vgl. Richerand 1817, Bd. 1, 17. 35 | Richerand kritisiert, dass viel Zeit und Mühe in die Untersuchung der »Tiefen der Organisation« geflossen ist, während die »Oberfläche« vernachlässigt wurde. Vgl. Richerand 1808, Bd. 1, 51. 36 | Vgl. Richerand 1817, Bd. 1, 16. 37 | Vgl. Richerand 1817, Bd. 1, 16-17: »Tout animal peut être réduit par la pensée à un tube nutritif ouvert par ses extrémités; toute l’existence du polype paroît réduite à l’acte nutritif, comme toute sa substance employée à la formation d’un sac alimentaire dont les parois molles, très-sensibles et contractiles, travaillent à s’approprier par une sorte d’imbibition les substances qui y sont attirées. Depuis les vers jusqu’à l’homme, le
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»Schlauch« stellt für Richerand den »grundlegendsten Charakter« der »Tierheit« (animalité) dar.38 Durch seine »Öffnungen« werden »fremde Stoffe« der Außenwelt aufgenommen, die der kompositorischen- und dekompositorischen Dynamik physiologischer Prozesse dienen, und nicht-assimilierbare, »heterogene Stoffe« oder Verbrauchtes abgeführt.
3. »R EGUL ATOREN « VON I NNEN - UND A USSENWELTEN : P FL ANZE , TIER , M ENSCH Neben der Ordnung ihrer »Grenzflächen« unterscheidet Brandis die Organisationstypen von »Pflanzen«, »Tieren« und »Menschen« durch ihr regulatorisches Potential, in das Verhältnis von Innen- und Außenwelt einzugreifen. Die inneren Tätigkeiten der »Pflanze« beziehen sich für ihn allein auf »bestimmte Theile des Ganzen« der Außenwelt als »Macrocosmus«, um sie in ihrem Körper als »Microcosmos« wieder zu einer »begrenzten Einheit« zusammenzusetzen: »Wenn das Product dieser Thätigkeit, diese Individualität, nur allein im Begrenzten bemerklich ist, d. i. wenn nur im Raum bestimmte Theile vom Ganzen (vom Macrocosmus) getrennt und wieder zu einer begrenzten Einheit oder Individualität vereinigt werden, so nennen wir das vegetatives Leben und das Product Organismum. Wir nennen es vegetatives Leben, weil wir es an den Pflanzen ganz allein und ohne wahrscheinliche Beimischung anderer Lebensäußerungen am leichtesten bemerken können. Die Pflanze trennt vom Boden, worin sie gepflanzt, aus der Luft, womit sie umgeben ist, Theile, um sie mit sich selbst zu vereinigen und dadurch ihre Individualität, ihren Organismum (Microcosmus) zu schaffen und darzustellen.« 39
canal alimentaire forme un long canal, ouvert par ses deux extrémités, n’ayant d’abord, en longueur, que l’étendue du corps de l’animal, ne décrivant, par conséquent, aucune courbure en se portant de la tête à la queue et se continuant, vers la bouche et vers l’anus, avec l’enveloppe extérieure du corps, mais bientôt se contournant sur lui-même, et acquérant une longueur bien supérieure à celle du corps auquel il appartient. C’est dans l’épaisseur des parois de ce tube animé, entre la membrane muqueuse qui revêt son intérieur, et la peau avec laquelle cette membrane se continue, que se trouvent tous les organes qui servent au transport et à l’élaboration des humeurs, les muscles, les nerfs, en un mot, tout ce qui sert à l’entretien et à la conservation de la vie.« 38 | Richerand 1817, Bd. 1, 18. Bei Lamarck findet sich ein ähnliches Modell. Vgl. Lamarck 1802b, 112. 39 | Brandis 1825, 3-4.
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Im Gegensatz zur »Pflanze« kann das »Tier« die Außenwelt »mehr oder weniger selbst abändern«, indem es seinen Körper, sich selbst bewegend, »in eine andere Aussenwelt versetzt« und dennoch seine eigene Existenz erhält.40 Diese Fähigkeit zur Anpassung oder zur Erzeugung einer »Übereinstimmung« 41 zwischen Innenwelt und Außenwelt unterstützt in »Tieren« ein Nervensystem, das durch die Sinne eine Repräsentationsebene eröffnet, die das »Unbegrenzte« der Außenwelt als ein auf die innere Zweckmäßigkeit abgestimmtes »apercipirtes Ganzes« überträgt.42 Dieses im »Gemeingefühl« apperzipierte, »Bild«-artige Ganze dient dem Organismus, in Form von »Vorstellungen«, zum »Vergleich« mit seinem inneren, von »Instincten« ausgehenden Anspruchsgefüge. Aus dem Vergleich resultieren auf konkrete Dispositionen und Dinge der Außenwelt bezogene »Verlangen« sowie damit »associirte«, von einem »Willen« ausgelöste Tätigkeitskomplexe.43 Während das regulatorische Potential des »Tiers« sich immer auf seinen Körper als lebendigen Organismus bezieht, verfügt der »Mensch« über das »göttliche Vermögen«, sich selbst »ohne Rücksicht auf den eigenen begrenzten Organismum« als »Object« zu bestimmen. Durch diese Repräsentationsebene kann er das »Mannigfaltige im Unbegrenzten« mit sich selbst als »Einheit« betrachten:
40 | Brandis 1805, 180. 41 | Vgl. Brandis 1808, 180: »Diese Ortsbewegung des ganzen Organismus oder einzelner Theile um die Aussenwelt zu verändern, muss also mit der Zweckmässigkeit des Thiers übereinstimmen, wenn diese beybehalten werden soll; das Thier kann sich bey derselben nicht dem Zufall überlassen, der es bald in eine seiner Existenz nachtheilige Aussenwelt versetzen würde.« 42 | Vgl. Brandis 1825, 299 und 303. 43 | Vgl. Brandis, 1825, 4-5, 180-181 und 298. Wie für das »vegetative Leben« listet Brandis auch für das »sensorielle Leben« vier grundlegende »Bedingungen« des Aussenwelt-Bezugs auf (ibid., 180-181): »Um diese Ortsbewegung mit der eigenen Zweckmässigkeit in das nothwendige Ver hältniss zu setzen, wird erfordert a) Darstellung des eigenen momentanen Zustandes des ganzen Organismus in den einzelnen Theilen. Der eigene Organismus muss hier object [sic!] erkannt werden; b) Darstellung eines grössern oder gerin gern Theils des Raums der Aussenwelt, in welche sich das Thier versetzen kann, in ihren einzelnen Theilen nach dem räumlichen und qualitativen Verhältniss; c) Vergleich dieser objectiven Darstellung des momentanen Zustandes des eigenen Organismus in seinen einzelnen Theilen, mit dem dargestellten Raume der Aussenwelt, in Rücksicht der eigenen Zweckmässigkeit; d) Einwirkung aufs vegetative System, so dass dieses nach Verhältniss der Zweck mässigkeit schnell verändert und dadurch Bewegung und Ortsveränderung hervorge bracht werden kann.«
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»Der Hauptcharakter des Menschen ist: Mit diesem vegetativen und animalischen Leben zugleich das göttliche Vermögen zu vereinigen, ohne Rücksicht auf den eigenen begrenzten Organismum, das Mannigfaltige im Unbegrenzten, Absoluten in sich aufzunehmen und mit sich selbst als Einheit aufzufassen. Durch dieses göttliche Vermögen steht nicht bloß das, was auf seinen eigenen Organismum Bezug hat, sondern Alles, was ist, war und seyn wird, seine früheren Aperceptionen und Vorstellungen, die möglich zu habenden, mit ihm in näherer Relation; durch dieses göttliche Vermögen wird er sich selbst Object, er kann sich als ein Aeußeres betrachten, seine Existenz, Entwickelung, Verlangen und Abscheu beobachten und mit andern Erscheinungen vergleichen.« 44
In einer Reihe von Analogien verbindet Brandis das »göttliche Vermögen«, das allein »Menschen« auszeichnet, mit den regulatorischen Potentialen, die dem »Leben« von »Pflanzen« und »Tieren« eigen sind. In dieser Reihe stellen »geistiges« und »sensorielles Bewusstseyn« nur fortgesetzte Regulationsmechanismen organismischer Innen-Außenwelt-Verhältnisse dar, die über ein »höheres Potential« verfügen – auch wenn die »Organe« dieser Vermittlung für Brandis »noch unbekannt« sind und der »Physiologe« bei dieser »letzten Grenze« seiner Untersuchungen »bescheiden« stehen bleibt, um dem »Psychologen« die weitere Untersuchung zu überlassen45: 44 | Brandis 1825, 5. Brandis weist zugleich darauf hin, dass die verschiedenen Existenzformen der Pflanze und des Tieres in den verschiedenen »Lebensäußerungen« des Menschen vermischt und, durch »Masken« und »Nachahmungen« verstellt, kaum voneinander trennbar vorliegen. Vgl. Brandis 1825, 31-32: »In diesem mannigfaltigen Leben des Menschen, das bald als Pflanze durch äußere materielle Reitze und Contagien, bald als Thier durch sensorielle Reitze, Mitleidenschaft, Nachahmung, Gewöhnung, Abrichtung und Zeitrythmus, und bald in seinem humanen Leben durch innere Ueberzeugung, Erziehung, Enthusiasmus, Kunst und Harmonie bestimmt werden kann, in welchem sich diese Lebensveranlassungen unter einander so mischen, daß das Individuum selbst (niemand ausser ihm) mit der sorgfältigsten Prüfung kaum bestimmen kann, welchen Antheil jede an der Lebensäußerung hat, und wo wir uns doch jeden Augenblick auf Selbsttäuschung betreffen, wo oft ein thierisches Verlangen die Maske der Liebe annimmt, Nachahmung sich für Kunst, Gewöhnung für Erziehung, Zeitrythmus für Harmonie ausgiebt […]« 45 | Vgl. Brandis 1808, 216. Brandis erwähnt in diesem Zusammenhang vor allem Galls Organologie, kritisiert aber, wie Hufeland, dessen Physiognomie. Vgl. Brandis 1808, 216, Anmerkung: »Ich darf nicht erst erinnern, dass bey dieser Darstellung des sensoriellen Lebens mich Galls Entdeckungen sehr geleitet haben. Ich muss es bey dieser Gelegenheit gestehen, dass ich Galls anatomische Entdeckungen von der Structur des Gehirns, welche er auf eine so leichte und überzeugende Art darzustellen weiss, für die wichtigste unserer Zeit halte und überzeugt bin, dass vergleichende Anatomie und Physiologie durch sie eine ganz neue und höhere Richtung erhalten werden.«
V. Brandis’ Grenzflächen
»Dem Menschen allein ist noch auf ähn liche Art ein Regulator der sensoriellen Thätigkeiten oder des Lebens der Gehirnorgane gegeben, als das sensorielle Leben in Thie ren der Regulator des vegetativen Lebens processes ist. So wie das Gemeingefühl den ganzen vegetativen Organismum darstellt und durch die Vergleichung der Aussenwelt mit dieser Darstellung, nach einem bestimmten Zwecke, die instinktmässigen und willkührlichen Muskelbewegungen, als Veränderun gen des vegetativen Processes entstehn, so stellt ein höherer sensorieller Process, dessen Organe uns bis jezt noch unbekannt sind, die sensoriellen Fähigkeiten dar, diese Darstellung können wir vielleicht geistiges Gefühl nennen, es ist gleichsam die höhere Potenz von Gemeingefühl, wie das Gemeingefühl die höhere Potenz des organischen Gefühls genannt werden kann, alle sensoriellen Tendenzen, alle lebensfähigen Gehirnorgane werden in diesem geistigen Leben dargestellt, wie der vegetative Organismus im Gemeingefühl. Die wirklich durch das sensorielle Leben im sensoriellen Bewusstseyn erregten Vorstellungen sind für dieses geistige Leben die Aussenwelt, welche im Bezug hö herer Zwecke verglichen werden, wodurch geistiges Bewusstseyn entsteht, das Product dieser Vergleichuug ist geistiger Wille oder freier Wille, wie das Product der Verglei chung der Aussenwelt mit unserm Gemeingefühl, in Bezug einer sensoriellen Tendenz, Muskelbewegung, oder überhaupt Verände rung des vegetativen Lebensprocesses ist. Durch diesen freien Willen können wir das Leben der Gehirnorgane selbst moderiren, wie durch das sensorielle Leben der vegetative Process moderirt wird, […]. Diesen Regu lator des sensoriellen Systems nennen wir nach den verschiedenen Vorstellungen, die wir uns davon gemacht haben, Geist, Seele, Denkkraft u. s. w. Den höhern Zweck, welcher die Thätigkeit desselben bestimmt, wie die einzelnen Gehirnorgane die Thätigkeit des sensoriellen Lebens bestimmen, nennen wir Vernunft, die Darstellung der sensoriel len Thätigkeiten als Aussenwelt nennen wir Verstand, die Vergleichung zwischen dem vernünftigen Zwecke und den Mitteln, welche der Verstand darbietet, nennen wir Urtheilskraft.« 46
46 | Brandis 1808, 199-201. Vgl. Brandis 1808, 205-206: »Vernunft, Verstand und Urtheilskraft scheinen also im geistigen Leben dasselbe zu seyn, was im sensoriellen Leben Thätigkeit der Gehirnorgane, Thätigkeit der äussern Sinne und des Gemeingefühls und Aperception ist und was im vegetativen Leben Tendenz zur Zweckmässigkeit, Reiz und Erregung ist. Die Vernunft bestimmt den momentanen Zweck für das geistige Leben, wie das Leben des Gehirnorgans den momentanen Zweck für das sensorielle Leben und die Tendenz zur organischen Zweckmässigkeit den Zweck für das vegetative Leben bestimmt. Der Verstand stellt die Vorstellungen dar, wie die äussern Sinne und das Gemeingefühl die Außenwelt und den eige nen Organismum darstellen, und wie der Reiz das aufzunehmende oder zu entfer nende darstellt und die Urtheilskraft bestimt, ob das dargestellte zum Zwecke passt und dem Ganzen angeeignet werden soll, wie die Aperception bestimt, ob das durch die äussern Sinnesnerven und das Gemeingefühl dargestellte zum sensoriellen Zwecke passt und also beachtet werden soll oder wie die Erregung bestimt, ob der ponderabele Reiz angeeignet oder entfernt werden soll.«
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Das regulative Potential des Geistigen geht zwar über das der anderen »Leben« hinaus, da der »Regulator« »Mensch«, sich selbst zu »Subject« und »Object« machend, zum »Herr der Beziehungen« werden kann, unter denen die Außenwelt »apercipirt« wird, doch besteht eine »wechselseitige Bedingung und Beschränkung des einen Lebens durch die andern«.47 Der »sensorielle Organismus« wird durch den »vegetativen Lebensprocess« gebildet und erhalten, und das »geistige Leben« erhält durch das sensorielle Leben und dessen Nervensystem »Stoff zu Thätigkeiten«.48 Die Leben bauen als »Substrate« und »Communicationswerkzeuge« aufeinander auf, ohne durch räumlich ausweisbare »Sitze« deutlich voneinander getrennt zu sein.49 »Vegetatives«, »sensorielles« und »geistiges Leben« stellen nur »Anlagen« und Tendenzen« dar, deren Dif-
47 | Vgl. Brandis 1808, 206-207: »Durch das sensorielle Leben wird das Thier und der Mensch in dem Maass mehr Herr über die ponderabele Aussenwelt, als die Beziehungen mannigfaltiger sind, unter welchen er sie apercipirt, durch das geistige Leben wird der Mensch nicht unmittelbar Herr der Aussenwelt, aber er wird Herr der Beziehungen, unter welchen sie apercipirt werden kann, er kann durch die Vernunft den Punkt, den Erdball und die ganze Welt sich denken, er kann sich in die Stelle des kleinsten Thiers denken und zur Gottheit selbst erheben, der Verstand bietet ihm die Relationen dar, in welchen er als ein so gedachtes mit der übrigen Welt stehen könn te und die Urtheilskraft bestimmt, in wie weit diese Relationen passend oder nicht passend sind: so dringt er durch das geistige Leben in die Natur seiner selbst und der ganzen Aussen welt, wie er durch das sensorielle Leben seine sensoriellen Zwecke erreicht und wie er durch das organische Leben die ponderabelen Sub stanzen seiner Organisation wirklich aneignet.« 48 | Brandis 1808, 207. 49 | Vgl. Brandis 1808, 209-210: »So wie im vegetativen System diese Ten denz zur Zweckmässigkeit nicht auf ein besonderes Organ eingeschränkt oder einer besondern ponderabelen Substanz als beygemischt gedacht werden kann, eben so wenig kann der sensoriellen oder geistigen Tendenz ein räumliches Verhältniss beygelegt werden, und die Untersuchungen über den Sitz der Seele sind im allgemeinen eben so unstatthaft, als die Untersuchungen über den Sitz der Schwere der Affinität, der Electricität, des Galvanismus u. s. w., oder über den Sitz der vegetativen Tendenz zur Zweckmässigkeit seyn würden. So wie aber der ganze lebendige organische Körper das Substrat oder das Bedingniss des vegetativen Lebens ist, ohne welches dasselbe sich im Räume nicht äussern kann, so wie das Nervensystem das Bedingniss des sensoriellen Lebens ist, so könnte auch ein ponderabeles Substrat für das geistige Leben als möglich gedacht werden. Bis jezt hat aber der Physiologe noch keine Spur, auf welcher er ein solches Organensystem (einzelne Organe könnten noch weniger dazu hinreichen, als ein einzelner Nerv für das ganze sensorielle Leben) nachweisen könnte, und bis dahin muss er sich selbst der Beantwortung der Frage, ob das geistige Leben überall eines solchen ponderabelen Organensystems be dürfe, billig enthalten.«
V. Brandis’ Grenzflächen
ferenzierung und Aktivität von einem komplexen Netz organischer Wechselwirkungen zwischen Innen- und Außenwelten abhängen.50 Die umfassende Ordnung, die diesem komplexen Netz organischer Wechselwirkungen zugrunde liegt, fand Brandis in Schellings Identitätsphilosophie vor, in der es am Leitfaden eines Organismus-Modells um die »Selbstproduktion« und die »Selbstreproduktion« einer in Subjekt und Objekt entzweiten »Natur« geht.
50 | Vgl. Brandis 1808, 204-205 und 213.
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Erwachsen aus dem Problem der Selbstsetzung des Kantischen Subjekts der Apperzeption, überführt Schelling in seinem Frühwerk Fichtes im Subjekt verbleibende Differenzierung in Ich und Nicht-Ich in den Entwurf einer »Natur«, aus der als »Ursprung« und »Einheit« alles hervorgeht, was erfahrbar ist. Zu einer solchen »Construction« von »Natur« als »absoluter Voraussetzung« kommt für Schelling eine Form der Reflexivität, die nach den Bedingungen fragt, die es ermöglichen, die Differenz von Ich und Nicht-Ich zu erklären, ohne die Differenz immer schon vorauszusetzen.1 Dieses Fragen geht in Schellings Ansatz vom Subjekt aus, führt aber nicht wieder in das Subjekt (oder in einen Hegelschen »Geist«), sondern in eine »Natur« zurück, die dessen Existenz als »seyende« Totalität umfasst. Die Art der Umfassung rekonstruiert Schelling als den »Prozess« einer »Verwandlung des reinen Subjects« der »Natur« in ein »Selbst-Object«, in dem sie sich selbst, jetzt jedoch »entzweyt«, »reproduziert«.2 Dieses »Prozess«-Modell vermittelt zwischen seiner Identitätsphilosophie und einer »Wissenschaft der Natur«, in deren Zentrum das Innen- und Außenweltverhältnis »lebendiger Organismen« steht.3 Bereits in den während seiner Leipziger Studienzeit verfassten Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797) arbeitet Schelling an dem Bezugsfeld zwischen einem neuen Agentenmodell der Individuation und einer Erfahrungs1 | Vgl. Schelling 1799b, 11; Breidbach 1986 und 2004; und Pätzold 1993. Schelling rekurriert auch auf neuplatonische Modelle der Weltwerdung. Siehe hierzu SchmidtBiggemann 1998, 702-732. Für einen allgemeinen Überblick zu Schellings Position in der Romantik siehe Knittermeyer 1929. 2 | Vgl. Schelling 1799a, 28. Für Schellings Subjektbegriff der Natur siehe Krings 1985. 3 | Für den weiteren Kontext des Verhältnisses von Naturphilosophie, Naturgeschichte und sich etablierender biologischer Wissensbereiche siehe Mende 1975; Engelhardt 1985; Lohff 1990; Jantzen 1994; Wiehl 1994; Gerabek 1995; Bonsiepen 1997; Mischer 1997, 108-122 und 143-164; Bach 2001; Rudolphi 2001; und Blumentritt 2007.
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wissenschaft bestimmter Körper, die er »Organismen« nennt. In Von der Weltseele (1798) und Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799) setzt sich Schelling das Ziel, den Begriff eines sich selbst konstituierenden »Organismus« zu »construieren«, indem er ihn zugleich im Rahmen einer »wissenschaftlichen Physiologie«4 als »Naturerscheinung« darstellt.5 Hierfür rekurriert er auf zeitgenössische Organismus-Modelle, die bereits im Umfeld von Brown, Hufeland, Treviranus und Brandis vorgestellt worden sind. Vom Schema her auf ähnliche Weise wie später Xavier Bichat in Recherches physiologiques sur la vie et la mort (1800), jedoch im Kontext der Anthropologie gegen Rousseau gerichtet, hatte Georg Forster, der von 1778 bis 1784 am Collegium Carolinum in Kassel Naturgeschichte unterrichtet, in De la félicité des êtres physiques (1782) und Cook der Entdecker (1787) das »vorübergehende Leben« (vie passagère) organisierter Körper an die »Überwindung des Widerstands der Materie« gebunden, die alles »Zusammengesetzte« (composée) beständig »zersetzt« (décomposer) und ein »vollkommenes Gleichgewicht der Kräfte« anstrebt. Da ein solches »Gleichgewicht« für Schelling die »Ruhe des Todes« bedeuten würde, ist der »Widerstand« der inneren »Organisation« gegen die »äusseren Verhältnisse« die »Bedingung des Daseins« individuierter lebender Körper und der »Mannigfaltigkeit« ihrer »Gestalten« und »Vermögen«.6 Diese Fähigkeit zum Widerstand gegen die »Außenwelt« taucht auch in Schellings Ansatz an zentraler Stelle auf. Für Schelling beruht sie auf einem »positiven Princip des Lebens«, dessen »continuirlicher Einfluß« den materiellen »Proceß«, der die innere Ordnung der »Organismen« konstituiert, »immer neu anfacht und ununterbrochen unterhält«. Das »positive Princip« kann für Schelling »nicht in den Proceß selbst (etwa als Bestandtheil) eingehen, oder durch den Proceß erst erzeugt werden«. Das, was im Prozess »Product« ist, stellt allein – etwa in Form von Wärme, Nahrung oder elektrischen Ladungen – die auf physikalischen oder chemischen Vorgängen beruhenden »negativen Bedingungen« dar, deren »Conflict, (Trennung oder Vereinigung), den Lebensproceß selbst ausmacht«.7 Angeregt durch Christoph Heinrich Pfaffs Abhandlung über Brown’s System der Arzneywissenschaft (1796), kritisiert Schelling, dem auch Röschelaubs Pathologie bekannt ist, Browns Fokus auf die »negativen Bedingungen« des Lebensprinzips: 4 | Schelling 1798, Vowort, xii. 5 | Vgl. Schelling 1798, 184: »Der Begriff Leben soll construirt werden, d.h. er soll als Naturerschei nung erklärt werden.« 6 | Vgl. Forster 1843, Bd. 5/2, 62-64 und 260; und Mühlmann 1986, 54-58. 7 | Vgl. Schelling 1799, 198-199; Heuser-Keßler 1989, 21-22; und Köchy 1995. Breidbach (1999) verweist auf die besondere Bedeutung des Galvanisms für Schellings Ansatz.
VI. Schellings Prozesslogik organismischer Innen- und Außenwelten
»Der Schottländer Joh. Brown läßt zwar das thierische Leben aus zween Factoren, (der thierischen Erregbarkeit, und den erregenden Potenzen) (exciting powers) entspringen, was allerdings mit unserm positiven und negativen Princip des Lebens übereinzustimmen scheint; wenn man aber nachsieht, was Brown unter den erregenden Potenzen versteht, so findet man, daß er darunter Principien begreift, die unsrer Meinung nach schon zu den negativen Bedingungen des Lebens gehören, denen also die Dignität positiver Ursachen des Lebens nicht zugeschrieben werden kann.« 8
»Erregbarkeit« ist für Schelling keine passive Eigenschaft von »Organismen«, sondern, Carl Friedrich Kielmeyers Ansatz in dessen Karlsschulrede Über die Verhältniße der organischen Kräfte (1793) aufnehmend, Ausdruck ihrer in die kosmologische »Dynamik« der ersten Differenz der »Natur« eingebundenen aktiven »Selbstproduction«.9 »Organismen« eignen sich als »Subjecte« die »Außenwelt« an, umgekehrt wirkt die »Außenwelt« auf den Organismus als »Object«. Schelling versteht daher unter der »anorganischen« Dynamik der »Außenwelt« nur eine Gegen-Setzung zur »organischen« Innenwelt. Beide Ordnungsbereiche gehören einer einzigen, aus den verschiedenen Individuationsprozessen lebendiger Organismen zusammengesetzten »Prozessualität« der »Natur« an.10
1. I NDIVIDUATIONSPROZESSE In Schellings System gibt es weder permanente Dinge (etwa einfache Atome) noch an sich unveränderbare Substanzen, sondern nur »permanente Processe«, die »Scheinproducte« hervorbringen. Analog zu Leibniz‹ dynamischer Physik, aber in Differenz zu dessen Unterscheidung in Substanz und Akzidenz, sind Körper für Schelling Produkte wechselwirkender »primitiver Aktionen« oder »Tendenzen«, aus deren »Polarität« und »Konflikt« Räumlichkeit zuallererst hervorgeht.11 Produkte existieren für Schelling nur im Verlauf des 8 | Schelling 1799, 199. Für das Verhältnis zwischen Schelling und Brown siehe Mende 1979; Gerabek 1995, 84-92 und 351-375; und Bonsiepen 1997, 228-229 und 247267. Tsouyopoulos (1985) geht auch auf den Einfluss von Browns und Röschlaubs Pathogenie auf Schellings Krankheitsbegriff ein. Für Schellings Position zwischen Präformation und Epigenesis, die an Kielmeyer anschließt siehe Schelling 1798, 298; 1799a, 57-58; 2001, 292-293 (handschriftliche Anmerkung); und Bach 2001, 277-278 9 | Kielmeyer hielt die Rede an der Hohen Karlsschule in Stuttgart. Zum Verhältnis von Kielmeyer und Schelling siehe Hess 1994; Kanz 1994; Bach 2001; und Grote 2007. 10 | Zur Prozessualität von Schellings Naturbegriff siehe Heuser-Keßler 1986. 11 | Vgl. Schelling 1799a, 20-24; Küppers 1992, 77-80; Holz 1996; und Rudolphi 2001, 149.
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Prozesses »absoluter« oder »reiner Produktivität«. (Schaffendes) Subjekt und (geschaffenes) Objekt sind in produktiver Differenz identisch. Das materielle Werden des Unbedingt-Einen als Moment der Schöpfung der Welt und ihrer erfahrbaren Dinge besteht für Schelling in der Verdopplung der Produktionsbedingungen des »Ursprungs« in den Existenzbedingungen des Geschaffenen, dessen Dasein als bestimmte körperliche Ordnungsform kein »Endproduct« einer sich individuierenden Substanz, sondern nur sich selbst erhaltender »Zustand« ist, durch den der »Bildungsproceß« des »Ursprungs« für eine bestimmte Zeit und in einem sich von »Außenwelten« absondernden Körper »gehemmt« und zugleich »reproducirt« wird.12 Auf diese Weise ist das ursprüngliche Ganze als individuierter Körper das Ganze im »permanenten Prozess«. Die dynamische Existenz des Individuums vermittelt zwischen (ideellem) Unbedingt-Einem und (real) gewordener »Produktion« von Welt. Es ist »Mittler« der »Evolution« der Entfaltung des »Werdens« aller Dinge. Durch diese »Vermittlung« reproduziert sich die »Identität« des Absolut-Produktiven als Prozessform selbstreproduktiver Agenten in Differenz zu sich selbst selbst: »Es ist also E IN allgemeiner Dualismus, der durch die ganze Natur geht, und die einzelnen Gegensätze, die wir im Universum erblicken, sind nur Sprößlinge jenes einen Urgegensatzes, zwischen welchen das Univer sum selbst fällt. Aber was hat denn jenen Urgegensatz selbst hervorgerufen, hervor gerufen aus der allgemeinen Identität der Natur? Denn ist die Natur die absolute Totalität, so kann ihr auch nichts entgegengesetzt seyn, denn alles fällt in ihre Sphäre und nichts außerhalb derselben. Es ist unmög lich, daß dieses (von außen) Unbegränzte sich in ein Endliches für die Anschauung verwandle, als nur insofern es sich selbst Object, d.h. in seiner Unendlichkeit endlich wird. Jener Gegensatz also muß angenommen werden, als entsprungen aus allgemeiner Identität. Dadurch sehen wir uns getrieben auf eine Ursa che, die Heterogeneität nicht mehr voraussetzt, sondern selbst hervor bringt. Aber Heterogeneität hervorbringen heißt: Dupli12 | Vgl. Schelling 1799a, Grundriss des Ganzen, I: »Da über Natur philosophiren so viel heißt, als die Natur schaffen, so muß vorerst der Punkt gefunden werden, von welchem aus die Natur ins Werden gesetzt werden kann. […] Damit aus einer unendlichen (insofern idealen) productiven Thätig keit eine reelle werde, muß sie gehemmt, retardirt werden. Da aber die Thätigkeit eine ursprünglich unendliche ist, so kann es, auch wenn sie gehemmt wird, doch nicht zu endlichen Producten kommen, und wenn es zu solchen kommt, können es bloß Scheinproducte seyn, d.h. in jedem einzelnen muß wieder die Tendenz zur unendlichen Entwicklung liegen, jedes Product wieder in Producte zerfallen können.«; ibid., 10-11; und ibid., 28: »Die ganze Natur, nicht etwa nur ein Theil derselben soll einem immer werdenden Producte gleich seyn. Die gesammte Natur also muß in beständiger Bildung begriffen seyn, und alles muß in jenen allgemeinen Bildungsproceß eingreifen.«
VI. Schellings Prozesslogik organismischer Innen- und Außenwelten
cität in der Identität schaffen. Aber Duplicität ist auch nur in der Identität erkennbar. Die Identität muß also aus der Duplicität selbst wieder hervorgehen.«13
In Schellings »Construction« wird die Differenz der ursprünglichen Setzung, die vom Unbedingt-Einen der »Natur« zur Mannigfaltigkeit und »Heterogeneität« des Geschaffenen führt, in Form des Individuationsprozesses »lebendiger Organismen« zum konkreten Erfahrungsraum des allgemeinen Konstitutionsprinzips aller »Naturoperationen« und »Naturproducte«, durch die hindurch sich »Natur« beständig »Selbst-Object« ist.14 Schellings »Organismen« sind sich selbst reproduzierende »Producte« des »Prozesses« der Selbstdifferenzierung des Unbedingt-Einen. Der »Organismus« existiert, ohne besonderen substanziellen Grund, als Zustandsform und transitorisches »Scheinproduct« interagierender und konfligierender »Prozesse«, indem er in sich selbst die Produktivität des Unbedingt-Einen verdoppelt, die ihn in Differenz zum Unbedingt-Einen hervorbrachte. Diese logische Figur dient Schelling als Naht zwischen Identitätsphilosophie und »physiologischer Wissenschaft« des »Lebens«.15 Schellings Dynamisierung der Substanzmetaphysik nähert sich Spinozas Position, unterscheidet sich aber von ihr durch das Moment der »Selbstreproduktion« des Individuierten, dessen »Ursprung« weder materiell (etwa durch die »Verkettung« (concatenatio) mehrerer Körper auf verschiedenen Komplexitätsebenen) ausweisbar noch monadisch fundiert ist.16 Durch den individuellen »Organismus« wird für Schelling in der »Natur« nur erfahrbar, was der erste Grund ihrer »Verwandlung« in »Materie« als »Selbst-Object« ist.17 In Schellings Ansatz stellt die Fähigkeit des »Organismus« zur »Selbstproduktion« und zur »Selbstorganisation« eine »Potenzierung« der ersten Differenz der »Natur« in (»anorganische«) »todte Materie« dar, die sich zwar als universelles Ganzes »reproduciert«, nicht jedoch in »Form« eines individuierten Selbst. In diesem Sinne ist der individuelle »Organismus« die reproduzierte »Form des Seyns« der »Natur«.18 Diese »Form des Seyns« ist für Schelling 13 | Vgl. Schelling 1799a, 296-297; und Rudolphi 2001, 146-147. 14 | Vgl. Schelling 1799a, 29-30. 15 | Vgl. Folkers 1993; Heuser-Keßler 1993; und Pätzold 1993. 16 | Vgl. Spinoza 1972, Bd. 2, 96-106 (Ethica, pars II, propositio XIII) und 141-144 (ibid., pars III, propositio 2). Für Spinozas Position und vergleichende Perspektiven siehe Jonas 1965; Harris 1977; und Duchesneau 1978. 17 | Vgl. Schelling 1799a, 5-6. 18 | Vgl. Schelling 1799a, 158-159; und Schelling 2001, 326 (handschriftliche Anmerkung): »Vom höchsten Standpunkt angesehen ist freilich auch das Bestehen der todten Natur ein beständiges Reproducirtwerden. Aber das todte Objekt besteht nicht durch sich selbst, sondern durch die ganze übrige Natur.«
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weder »mechanisch« oder »chemisch« noch durch spezifische »Lebenskräfte« begründbar, die vorausgesetzt werden, ohne die »Ursache« der »Form« zu erklären.19 In Raum und Zeit existierend, besitzen sich individuierende, organismische »Scheinproducte« Körpergrenzen, durch die hindurch sie »assimilieren«, was für sie »Außenwelt« ist. Sie können »Außenwelt« aber nur »assimilieren«, indem sie der »Tendenz« der »Außenwelt« zur absoluten Angleichung alles Individuierten »widerstehen« und eine Innenwelt etablieren, in der sie die »Außenwelt« auf ihre Weise »reproduzieren«. Dieser sich in und gegen die »Außenwelt« vollziehende Prozess der Reproduktion produziert ein »Product«, dessen »Organisation« das »Gesetzmäßige« seines Seins als »Perennirendes« repräsentiert, selbst aber nichts anderes als das »im Conflict der Actionen Entstandne, gleichsam das Monument jener in einander greifenden Thätigkeiten« ist.20 Neben der Körpergrenze zeichnet sich für Schelling das »Scheinproduct« der Individuation durch eine »Sphäre« aus, in deren Tätigkeitssgefüge die »Außenwelt« eingreift und durch die hindurch das »Product« in der »Außenwelt« und innerhalb seiner Innenwelt zum Agenten einer sich selbst erhaltenden Ordnungsform wird.21 Ausgestattet mit einem gegen die »Tendenzen« oder »Kräfte« der »Außenwelt« gerichteten »Trieb« in der »Sphäre« seiner Innenwelt, existiert das Individuum »sich selbst constiuirend« als »assimilierender« und »organisierter« Körper in einer »Natur«, die ihrerseits zur »Neutralisation« aller materiellen »Mischungen« tendiert: »Keine Individualität der Natur also kann als solche sich behaup ten, ohne daß sie gerade wie der absolute Organismus [der Natur im Ganzen] darauf ausgehe, alles sich zu assimiliren, alles in der Sphäre ihrer Thätigkeit zu begreifen. Damit sie nicht assimilirt werde, muß sie assimiliren, damit sie nicht or ganisiert werde, muß sie organisiren. In dieser Handlung (der Entgegensetzung) scheidet sich für sie Inn res von Aeußrem. Sie 19 | Für Schellings Kritik mechanistischer und vitalistischer Positionen siehe HeuserKeßler 1989. 20 | Vgl. Schelling 1799a, 61-62: »Jede Organisation ist selbst nichts anders als der gemeinschaft liche Ausdruck für eine Mannichfaltigkeit von Actionen, die sich wech selseitig auf eine bestimmte Sphäre beschränken. Diese Sphäre ist etwas Perennirendes – nicht bloß etwas als Erscheinung vorüberschwindendes – denn sie ist das im Conflict der Actionen Entstandne, gleichsam das Monument jener in einander greifenden Thätigkeiten, also der Begriff jenes Wechsels selbst, der also im Wechsel das einzige beharrende ist.« 21 | Vgl. Schelling 1799a, 80-81: »Was in die Sphäre des Organismus tritt, nimmt von diesem Augenblicke an eine neue ihm fremde Wirkungsart an, die es nicht verläßt, ehe es der anorgischen Natur wieder gegeben ist.«; und Heuser-Keßler 1989, 25-26.
VI. Schellings Prozesslogik organismischer Innen- und Außenwelten
ist eine Thätigkeit, die von Innen nach Außen wirkt. Aber wie ließe doch diese Richtung anders sich unterscheiden, als im Gegensatz gegen eine andre Thätigkeit, die auf sie als auf ein Aeußres wirkt? Und hinwiederum, wie könnte diese auf sie als auf ein Aeußres wirken, wenn sie sich nicht selbst gegen die Aufnahme in jene Thätigkeit setzte, (der Identification mit der allgemeinen Naturthätigkeit wider strebte)? Durch dieselbe Handlung also, durch welche sie die gesammte äuß re Natur von ihrer Sphäre ausschließt, macht sie auch sich selbst in Bezug auf die gesammte Natur zu einem Aeußren. Die (für sie) äußere Natur wird gegen sie ankämpfen, aber nur insofern sie hinwiederum gegen die äußere Natur ankämpft. Ihre E MPFÄNGLICHKEIT für das Aeußere ist also durch ihre THÄ TIGKEIT gegen das selbe bedingt. Nur insofern sie der äußern Natur widerstrebt kann die äußre Natur auf sie, als auf ein Innres einwirken.« 22
Das Individuum konstituiert sich in Differenz zur »Außenwelt«, indem sie diese umwandelnd »assimiliert«, sich ihren zersetzenden Einflüssen durch »Handlungen« »entgegensetzt« und verändernd in die »Außenwelt« eingreift.23 Durch »Assimilation«, »Entgegensetzung« und »Einwirkung« passt 22 | Schelling 1799a, 68-69. Vgl. Schelling 1798, 180: »Die Natur, welche sich in Mischungen gefällt, und ohne Zweifel in einer allgemeinen Neutralisation enden würde, wenn sie nicht durch den steten Einfluß frem der Principien ihr eigen Werk hemmte, erhält sich selbst im ewigen Kreis lauf, da sie auf der Einen Seite trennt, was sie auf der andern verbindet, und hier verbindet, was sie dort getrennt hat.« Schelling (1798, 256) charakterisiert »Leben« auch als »ein beständig verhindertes Erlöschen des Lebensprocesses«. 23 | Die »Fortpflanzung« schließt für Schelling das »fortschreitende Individualisiren« eines »Organismus« ab. Vgl. Schelling 1798, 244-246: »Es kann also als Gesetz aufgestellt werden, daß das letzte Ziel der Na tur in jeder Organisation das allmählige Individualisiren ist, (was in diesem fortschreitenden Individualisiren gleichsam beyläufig entsteht, ist in Bezug auf diesen Zweck der Natur schlechthin zufällig), denn sobald in einer Organisation die höchste Individualisirung erreicht ist, muß sie nach einem nothwendigen Gesetz ihre Existenz einem neuen Individuum übertragen, und umgekehrt, die Natur läßt es in der Pflanze nicht zur Fortpflanzung kommen, ehe sie in ihr die höchste Individualisirung erreicht hat. Daher ist das allmählig fortschreitende Wachsthum, da die sprossende Pflanze von Knoten zu Knoten, von Blatt zu Blatt sich fortsetzt, nichts anders, als das Phänomen der allmähligen Individualisirung, und insofern Eine und die selbe Naturoperation mit der Fortpflanzung selbst. […] wir [müssen] es als allgemeines Naturgesetz ansehen, daß das Wachsthum aller Organisationen nur ein fortschreitendes Individualisiren ist, dessen Gipfel in der ausgebildeten Zeugungskraft entgegengesetzter Geschlechter erreicht wird.« Dabei stellt die »Trenunng in zwey Geschlechter« die höchste Individualisierungs-Stufe einer »Gattung« oder »Organisations«-Form dar. Vgl. ibid., 248-249: »Die Trennung in zwey Geschlechter ist in der Natur eben so nothwendig, als das Wachsthum, denn sie ist nur der letzte Schritt
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sich das Individuum an verändernde »Zustände« der Außenwelt an, erhält aber zugleich in sich einen relativen »Indifferenzzustand«, der sich durch ein »dynamisches Gleichgewicht« von Prozessen und eine relative »Homogeneität« der Stoffmischungen auszeichnet.24 Über absolute Indifferenz, statisches Gleichgewicht und reine Homogeneität zu verfügen, hieße, ohne Möglichkeit zur »Thätigkeit« das eine Unbedingte sein; dieses ist aber nur durch »Thätigkeit«.25 Die Prozesse der »Assimilation«, »Entgegensetzung« und »Einwirkung« setzen voraus, dass das von der »Natur« als »Scheinproduct« Unterschiedene selbst »empfänglich« für die »Außenwelt« ist, von der es sich unterscheidet. Ohne eine solche »Empfänglichkeit« würde das Unterschiedene als Innenwelt derselben Logik der absoluten Indifferenz unterliegen wie die »Natur« der »Außenwelt«. Zur Erklärung dieses Zusammenhangs integriert Schelling den Brownschen Erregbarkeits-Diskurs in die Problemlage der »ursprünglichen Duplicität« der »Natur«. zur Individualisirung; da Ein und dasselbe bisher homogene Princip in zwey entgegengesetzte Principien auseinandergeht. Wir können uns nicht erwehren, auch die Trennung in zwey Geschlechter nach den allgemeinen Grundsätzen des Dualismus zu erklären. Wo die Natur das Extrem der Heterogeneität (des gestörten Gleichgewichts) erreicht hat, kehrt sie nach einem nothwendigen Gesetze zur Homogeneität (zur Wiederherstellung des Gleichgewichts) zurück. Nachdem die Principien des Lebens in einzelnen Wesen bis zur Ent gegensetzung individualisirt sind, eilt die Natur durch Vereinigung beyder Geschlechter die Homogeneität wiederherzustellen.« Fortpflanzung ohne Trennung in »Geschlechter« ist für Schelling nur »Wachstum«. Vgl. Schelling 1799a, 57: »Sich selbst der Gattung nach reproduciren kann aber keine Orga nisation, welche die Stuffe der Trennung in entgegengesetzte Geschlechter nicht erreicht hat. Die Fortpflanzung der Pflanzen, und pflanzenähnlcher Thiere, durch Knospen oder Absenker ist nicht Zeugung, sondern nur Wachsthum, das durch äußre Einflüsse ins unendliche getrieben wer den kann.« 24 | Vgl. Schelling 1798, 208; und 1799a, 310-311. 25 | Vgl. Schelling 1798, 18-19: »Ohne ursprüngliche Heterogeneität würde keine partielle Bewegung in der Welt möglich seyn. Denn die entgegengesetzten Kräfte haben ein nothwendiges Bestreben, sich ins Gleichgewicht, d.h. ins Verhältniß der min desten Wechselwirkung zu setzen; mithin würde, wenn nicht im Universum die Kräfte ungleich vertheilt wären, oder wenn das Gleichgewicht nicht continuirlich gestört würde, zuletzt auf allen Weltkörpern alle partielle Bewe gung erlöschen, und nur die allgemeine Bewegung fortdauern, bis endlich vielleicht auch diese todten unbelebten Massen der Weltkörper in Einen Klumpen zusammenfielen, und die ganze Welt in Trägheit versänke.«; 1799a, 170: »Nun ist aber die ursprüngliche Duplicität Bedingung aller organischen Thätigkeit, Quelle aller Thätigkeit also die Ursache der Duplicität selbst.«; und 1799a, 185.
VI. Schellings Prozesslogik organismischer Innen- und Außenwelten
2. D IE » DOPPELTE A USSENWELT« DES »O RGANISMUS « Als »Perrenirendes« ist der »Organismus« assimilierend Außenwelt aufnehmender Körper. Die Bedingung für diese Art von »Empfänglichkeit« ist für Schelling eine »Sphäre der Receptivität«, die als Moment der Aufnahme des Anderen zugleich »Ursache« der Möglichkeit ist, auf das Andere als Äußeres zu wirken. Durch diese »Sphäre« hindurch fundiert Schelling das Brownsche Reiz-Reaktions-Schema in der »ursprünglichen Duplicität«, die als »Duplicität in der Identität« selbst nie »Object« der Erscheinungswelt, sondern nur »Ursache« ihres ständigen »Werdens« sein kann. »Erregbarkeit« oder »Sensibilität« stellt für ihn das Prinzip der Tätigkeit des »Organismus« in der »Sphäre« dar. Als eine solche »Ursache« der Vermittlung kann die »Erregbarkeit« nicht selbst »Product« des »Organismus« sein, sondern nur als »Gränze aller empirischen Erscheinungen« auf eine Logik verweisen, die allen seinen »Thätigkeiten« zugrunde liegt und sich objektiv als »Irritabilität« – etwa in Form der »Contraction« und »Extension« von Geweben – ausweisen lässt.26 Brown hat für Schelling nur die »erregenden Potenzen« und die »Erregung« als »negative Bedingungen«, nicht aber die »Voraussetzung der Erregbarkeit« und die »positive Ursache des Lebens« erklärt.27 Auf diese Weise baut Schelling die »ursprüngliche Duplicität« in eine Kosmologie des »Werdens« der »Natur« ein, deren »dynamische Organisation« aus einer sich beständig reproduzierenden »unendlichen Involution« von »Systemen« besteht. In diesem »Universum« »spiegelt« sich die »anorganische Welt« in einer »höheren Ordnung«, deren »Gränze« »Erregbarkeit« vom Ursprung her und »Irritabilität« von den Erscheinungen her anzeigt.28 Zugleich markiert »Erregbarkeit« die Differenz, die »lebendige« »individuelle Organismen« von »todter Materie« unterscheidet. Denn »Erregbarkeit« ist auf eine spezifische »Sphäre der Receptivität« angewiesen, die als »Medium« zwischen der Innen- und Außenwelt eines »individuellen Organismus« vermittelt. Durch diese »Sphäre« leben »Organismen« in einer »Triplicität« von »Welten«, in der Innen- und Außenwelt aufeinander und auf die beide »Welten« umfassende »Welt« der »ursprünglichen Duplicität in Identität« bezogen sind, deren »Einheit« sich wiederum in der vermittelnden »Sphäre« reproduziert.29 Die »todte 26 | Vgl. Schelling 1799a, 174: »[…] die Ursache der Sensibilität (oder was dasselbe ist, der organischen Duplicität überhaupt) muß in die letzten Bedingungen der Natur selbst sich verlieren. – Sensibilität als Phänomen steht an der Gränze aller empirischen Erscheinungen, und an ihre Ursache als das höchste ist in der Natur alles geknüpft.« 27 | Vgl. Schelling 1799, 168-169. 28 | Vgl. Schelling 1799a, 160 und 169. 29 | Vgl. Schelling 1799a, 177. Schelling vergleicht das Prinzip organischer »Triplicität« mit einer galvanischen Kette, deren »Triplicität« aus zwei Metallen und einem organischen »Leiter« besteht. Vgl. Schelling 1799a,176-179.
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Materie« hat hingegen keine »Außenwelt«, sie ist »absolut identisch mit ihrer Welt« und »empfänglich« für jeden »Eindruck«. Erst durch die »Sphäre der Receptivität«, die nur auf bestimmte »Eindrücke« reagiert, etabliert der »Organismus« in der allumfassenden »Natur« des »Universums« eine Differenz in Innen- und Außenwelt, die zugleich der Differenz zwischen »Organischem« und »Unorganischem« entspricht.30 Der »Organismus« als »organisierter« Körper und »Sphäre der Receptivität« ist »Vermittler« zwischen der inneren »Action einer höheren Ordnung« (der »Erregbarkeit«) und einer »Außenwelt«. Vermittelt durch den »Organismus«, hat die »Außenwelt« nur eine »indirecte Wirkung« auf das von innen her wirkende Prinzip der Tätigkeit der »höheren Ordnung«. Das für die »Einflüsse der Außenwelt« »unerreichbare« oder »nicht unmittelbar empfängliche« Prinzip wirkt seinerseits nur durch die Innenwelt des »Organismus« hindurch auf die »Außenwelt« ein, die ihn als Ganzes umgibt. Der »Organismus« ist damit »sich selbst das Medium«, durch das beide »Ordnungen« miteinander in Kontakt treten.31 Er repräsentiert eine »doppelte Außenwelt«, in 30 | Vgl. Schelling 1799a, 171: »Denn durch Receptivität für äußre Einflüsse überhaupt kann er [der Organismus] sich von dem Unorganischen nicht unterscheiden. Vielmehr dadurch allein unterscheidet sich das Lebende vom Todten, daß dieses jedes Eindrucks empfänglich ist; denn durch die Sphäre seiner Receptivität ist dem Organismus auch die Sphäre seiner Thätigkeit bestimmt. Die Sphäre seiner Receptivität muss also bestimmt seyn durch dieselbe Ursache, durch welche seine Natur überhaupt bestimmt ist.«; und Schelling 2001, 298 (handschriftliche Anmerkung): »Die todte Materie hat keine Außenwelt – sie ist absolut identisch mit ihrer Welt. – Die Bedingung einer Thätigkeit nach außen ist eine Einwirkung von außen. Aber umgekehrt auch die Bedingung einer Einwirkung von außen ist die Thätigkeit des Produkts nach außen. Diese Wechselbestimmung ist von der höchsten Wichtigkeit für die Construktion aller Lebenserscheinungen.« 31 | Vgl. Schelling 1799a, 158: »Der Organismus constituirt sich selbst. Aber er constituirt sich selbst, (als Object) nur im Andrang gegen eine äußre Welt. Könnte die äußre Welt den Organismus als Subject bestimmen, so hörte er auf erregbar zu seyn. Also nur der Organismus, als Object muß durch äußre Einflüsse bestimmbar seyn, der Organismus, als Subject muß durch sie unerreichbar seyn.«; ibid., 159: »Der Organismus (als Ganzes genommen) muß sich selbst das Medium seyn, wodurch äußere Einflüsse auf ihn wirken«; und ibid., 160: »Soll der Organismus erregbar (sein eigen Object) seyn, (welches äusserlich als beständige Selbstproduction, den äußern conträren Einflüssen, entgegen sich darstellt), so muß im Organismus etwas durch die Einflüsse seiner Außenwelt unerreichbares seyn, oder wie wir es näher bestimmt haben, etwas – ein Theil – (man erlaube uns indess, uns so auszudrücken) – des Organismus, der für die Einflüsse seiner unmittelbaren Außenwelt gar nicht unmittelbar empfänglich ist.« Siehe hierzu auch Tsouyopoulos 1993, 591-600.
VI. Schellings Prozesslogik organismischer Innen- und Außenwelten
der sich ein »dynamisches Gleichgewicht« zwischen den beiden Wirkmächten einstellt, für die er jeweils »Außenwelt« ist.32 Das »dynamische Gleichgewicht« stellt sich jedoch nur ein, wenn das innere Prinzip »erregt« wird, sich einer »Außenwelt« entgegenzustellen, die dazu tendiert, das Innerlich-Organisierte in einen »Indifferenzzustand« zu überführen. Eine solche »Erregung« kann nur durch ein »Object« eingeleitet werden, das als »Reiz« und »Störung« dem Prinzip äußerlich ist. Die »Lebensthätigkeit erlischt ohne Object«, sie kann nur »durch äußern Einfluß erregt werden«.33 Sie beruht auf einem »Gleichgewicht«, dessen Dynamik nicht allein vermittelnder Abgleich, sondern auch »beständiges Reproducirtwerden« der sich äußeren Einflüssen widersetzenden inneren Ordnung ist.34 Dieses »Reproducirtwerden« beruht auf dem »indirecten Effect« der äußeren Einflüsse, als »erregende Potenzen« und »Störungen« des inneren »Gleichgewichts« eine »Handlung« gegen die »Außenwelt« auszulösen, die das »Gleichgewicht« reproduziert.35 Da »Leben« immer dann aufhört, wenn sich das »beständige Reproducirtwerden« des »Gleichgewichts« durch »Störungen des Indifferenzzustandes« nicht mehr einstellt, ist für die fortgesetzte, kontinuierliche Existenz des »Organismus« notwendig, dass ihm eine »inwohnende, nie ruhende Ursache des Reizes« zukommt, die »nicht von dem zufälligen Zuströmen der äußeren Reize abhängig« ist.36 Diese ihm »inwohnende Ursache« stellen »in ihm circu-
32 | Vgl. Schelling 1799a, 159-160. 33 | Vgl. Schelling 1799a, 72 »In der Thätigkeit, welche das Absolut-Innere dem Aeußern entge gensetzt, liegt seine Receptivität für das Aeußre, und umgekehrt von seiner Receptivität für das Aeußre hängt seine Thätigkeit ab. Weder was die Thä tigkeit des Organismus, noch was seine Receptivität an sich ist, kann rein erkannt werden. Denn jene erlischt ohne Object, gegen welches sie an kämpft, und umgekehrt, nichts ist Object für sie, als insofern sie dagegen thätig ist.«; und ibid., 84. 34 | Vgl. Schelling 1799a, 84: »[…] gegen jede äußre Einwirkung veranstaltet das organische System in jedem Augenblick einen Antagonismus, der jener das Gleichgewicht hält. (z.B. der lebende Körper behält in der höchsten Temperatur seinen eignen Wärmegrad, nicht als ob die allgemeinen Gesetze der Wärmemittheilung in Ansehung seiner aufgehoben wären, (dies ist unmöglich), sondern weil er durch ent gegengesetzte Operationen – (z.B. dadurch, daß er die Capacität der in ihm cirkulirenden Flüssigkeiten vermehrt, daß er Processe, welche viel Wärmestoff absorbiren, beschleunigt) – den von außen eindringenden Kräften das Gleichgewicht hält.« 35 | Vgl. Schelling 1799a, 158 und 184. 36 | Schelling 2001, 333 (handschriftliche Anmerkung).
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lirende Flüssigkeiten« dar, die durch den Kontakt mit »organisierten« Strukturen Reize auslösen.37 Schellings Prozesslogik des »Widerstands«, des »dynamischen Gleichgewichts« einer »Sphäre der Receptivität«, der »doppelten Außenwelt« und der produktiven »Störung« ist zwar eng an seine Identitäts- und Naturphilosophie gekoppelt, eröffnet aber zugleich ein konzeptuelles Dach für nachfolgende Organismusmodelle, das von Karl Burdachs Physiologie organismischer »Normalzustände« bis zu Claude Bernards milieu intérieur reicht.
37 | Vgl. Schelling 1799a, 176: »Im Organismus selbst liegt kein Grund seines Gestörtwerdens. Er müßte also außer dem Organismus liegen. – (Als außer dem Organismus liegend muß aber alles nicht organisirte angesehen werden, also z.B. auch die Flüssigkeiten, die in ihm selbst cirkuliren – die sonach nicht zum Subject des Organismus gehören, […]«; und Schelling 2001, 333 (handschriftliche Anmerkung).
VII. Burdachs Normalzustand
Karl Friedrich Burdach, der zunächst als praktischer Arzt in Leipzig arbeitet und 1811 eine Professur für Anatomie, Physiologie und Gerichtsmedizin in Dorpat antritt, führt Schellings Naturphilosophie in ein »Natur« beobachtendes und reflektierendes Ich zurück, das sich durch die im Anderen der »Natur« erfahrende Mannigfaltigkeit der Erscheinungen als einheitliches Subjekt ihrer Erfahrbarkeit setzt. Ausgehend von dieser Setzung entwickelt Burdach jedoch ein Agentenmodell »individueller lebendiger Organismen«, das zum einen Browns Erregbarkeitslehre und zum anderen Schellings prozessuales Ordnungsschema der Individuation aufnimmt. Die Erschließung dieses Modells ordnet er der »Biologie« und der »Anthropologie« zu.1 Die spezifische Doppelausrichtung »lebendiger Körper« auf Innen- und Außenwelten bestimmt für Burdach sowohl ihre allgemeine Abgrenzung gegenüber »leblosen Körpern« als auch die Differenzen der verschiedenen Ordnungstypen und »Arten des Daseyns« von »Organismen«, die vom »see1 | Für weitere biographische Angaben siehe Hagner 1995. Breidbach (2005) geht ausführlich auf das Verhältnis von Schellings und Burdachs Ansatz ein. Für Burdachs Beurteilung und Kritik des Brownschen Systems siehe Burdach 1800; Burdach 18171819, Bd.1, 123-124: »Die dynamische Ansicht [der Lebensverhältnisse] wurde in ihrer Reinheit, mit größerer Schärfe und Folgerichtigkeit ausgebildet von John Brown. Wenn es nämlich ein Lebensprincip im Organismus giebt, welches durch die Einwürkungen dynamisch bestimmt wird, so kann es nur quantitative Veränderungen desselben geben, denn die Kraft ist ein Einfaches, welches nur vermehrt oder vermindert werden kann: die Arzneymittel, als eine Art dynamischer Einwürkungen, können alle nur in quantativer Hinsicht von einander verschieden seyn, die Lebensthätigkeit mehr oder weniger erregen, und nach dem jedesmaligen Stande derselben sie entweder steigern oder herabstimmen […] Aber der Grundirrthum seiner Theorie der Arzneymittel besteht vornehmlich darin, daß er das Lebensprincip als eine Monade betrachtet, welche überall auf gleiche Weise bestimmt wird; daß er also die verschiednen Formen des Lebens in verschiednen Kreisen des Organismus, und somit die besondre Reizempfänglichkeit für qualitativ verschiedene Einwürkungen übersieht.«; und Breidbach, ibid., 77-79.
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lenlosen Leben« der Pflanzen bis zum »seelenthätigen Leben« der Tiere und Menschen reichen.2 Unter dem Titel der »Selbsterhaltung« konstituiert sich das Selbst des Lebendigen für Burdach durch eine an »Thätigkeiten« orientierten Prozesslogik, die sich in und mithilfe von »organisierten« Strukturen verwirklicht. Lebendigkeit als Prozess zeigt sich in diesem Ansatz als »Wechselspiel von Bildung und Zersetzung«, das durch die involvierten Tätigkeiten selbst unterhalten wird. Tätigkeiten führen sowohl zur »Zersetzung« oder zum Verschleiß der beteiligten Strukturen und »Energien« als auch zur ihrer »Bildung« und »Reproduktion«. Der »Prozess« des »Wechselspiels« erhält einen beständig zwischen »Bildung« und Zersetzung« begriffenen und durch Innen-Außenwelt-Verhältnisse modifizierten »Normalzustand«, der zugleich Zweck der Tätigkeiten und Repräsentant des Selbst »individueller Organismen« ist. Ähnlich wie Treviranus verschiebt Burdach durch die Überführung des Selbst-Bezugs des Lebendigen in ein Innen-Außen-Verhältnis von Tätigkeits-Abläufen oder »Prozessen« das Problem der »Erhaltung« der inneren Ordnungsform organisierter Körper in »Gleichgewichts«-Modelle von »Normalzuständen«, deren grundlegende Mechanismen auf »Stoffwechsel« und »Erregbarkeit« beruhen. Er charakterisiert die »Gleichgewichts«-Zustände anhand von »Norm«-Begriffen, die von idealen »Gleichgewichten« für bestimmte Organisationstypen ausgehen, und bindet die »indviduelle Normalität« lebendiger Körper in eine Skala »normaler« Gesundheits- und »anormaler« oder »abnormer« Krankheitszustände ein.
1. »R ICHTUNGEN « DES »D ASE YNS « Z WISCHEN I NNEN - UND A USSENWELTEN Jede Entität, der »Existenz« oder »Daseyn« zukommt, verfügt für Burdach über zwei konstitutive Eigenschaften: »Thätigkeit« und »Seyn«. Die »Thätigkeit« ist eine durch »Kräfte« ermöglichte Form der Bewegung, und das »Seyn« stellt die »raumerfüllende« und im Raum »beharrende Form« materieller Körperlichkeit dar. Die Form der Körperlichkeit ist das »Mittel«, in dem die der »Thätigkeit« zugrunde liegenden »Kräfte« zum Ausdruck kommen.3 Durch »Thä2 | Vgl. Burdach 1826-1840, Bd. 4, 4; und 1817, 21 (lebender Leib). 3 | Kräfte und deren koordinierte universelle Dynamik sind für Burdach »Ausstrahlungen« der »ideellen Einheit« Gottes. Materie als ein »Bestehendes« resultiert erst aus der »gegenseitigen Durchdringung entgegengesetzter Kräfte«. Vgl. Burdach, 1819-1822, Bd. 1, 18: »Das Hervortreten der Welt aus Gott kann nur erfolgen durch ein Ideelles, durch Thätigkeit, oder, sofern diese ein Bleibendes ist, durch Kraft. Die verschiedenen Kräfte sind also die ursprünglichen Ausstrahlungen aus der ideellen Einheit; was in
VII. Burdachs Normalzustand
tigkeit« und »Seyn« weisen individuierte Entitäten immer »drey Richtungen« ihres »Daseyns« auf, und auf diesen »Richtungen« beruht Burdachs Typologie der drei Entitäts-Klassen »Lebloses«, »Lebendiges« und »Seele«: »Jedes Wesen hat drey Richtungen seines Daseyns, nämlich ein Bestehen in sich, ein Verhältnis zu Andern, und eine Beziehung zum Ganzen. Das Bestehen in sich äussert sich im Leblosen durch Cohäsion, durch Zusammenhalten mittels des Gleich gewichtes der Kräfte; im Lebendigen durch Selbsterhaltung ununterbrochner Wechselbeziehung von Thätigkeiten und Bildungen; in der Seele durch Selbstanschauung vermöge der gegenseitigen Durchdringung der Vorstellungen. Die Beziehung auf andre Wesen stellt sich dar im Leblosen als Anziehung und Abstossung, im Lebendigen als Aneignung und Ausson derung des Fremdartigen, in der Seele als Anschauung der im organischen Körper gesetz ten Veränderungen und als Gegenwirkung, welche in demselben Veränderungen hervor bringt. Die Beziehung auf das Ganze endlich würkt im Leblosen durch Bewegung als Gra vitation, im Lebendigen durch Bildung als Fortpflanzung, in der Seele durch Gedanken als Idee.« 4
Die »Sphären« der Daseinsrichtungen der drei Entitätsklassen sind miteinander verschränkt. Lebendige Körper sind im Leblosen, und Seelen im Lebendigen tätig. Pflanzen, Tiere und Menschen repräsentieren das Lebendige, aber nur Tiere und Menschen verfügen für Burdach über eine (sich nicht aus
Gott schlechthin einig ist, tritt hier gespalten und in verschiednen Richtungen hervor. Jede Kraft kann nur dann sich äussern und zur Erscheinung in der Zeit kommen, wenn sie, indem sie bloss ein einzelnes Moment des wahrhaften Seyns ist, sich gleichsam vervollständigt durch ihr Zusammentreffen mit einer entgegengesetzten Kraft, und wenn sie, da sie an sich unendlich ist, durch eine andre begränzt wird: darum ist der Gegensatz der Kräfte die erste Bedingung alles Erscheinens in der Natur. Wo aber die Kräfte anhaltend einander gegenseitig hemmen, kommt es zu einem scheinbar ruhenden Erzeugnisse, zu einem stetigen Daseyn, der Materie. Die Kräfte sind also die Erstgeburt in der Welt, und das Dynamische oder das Innre an den Dingen, das in der Zeit Erscheinende ist das Anfängliche in der Natur, und folglich das Wesentliche, Begründende, Vorwaltende und Bestimmende; die Materie hingegen ist die räumliche Erscheinung, welche erst aus der gegenseitigen Durchdringung entgegengesetzter Kräfte entspringt, ohne dieselben nicht gedenkbar ist, und durch sie überall bestimmt wird.« 4 | Burdach 1819-1822, Bd. 1, 21. Vgl. ibid.: »Das Leblose, durch sich bloss verharrend, wird nur von aussen her zu Thätigkeiten bestimmt; das Lebendige bestimmt sich durch die Wechselwirkung seiner Glieder; in der Seele aber fällt Bestimmendes und Bestimmtwerdendes in eins zusammen, und tritt völlige Selbstbestimmung auf.«
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der Materie ableitende) Seele.5 Die Sphären sind nicht nur miteinander verschränkt, sondern durchlaufen auch »Potenzirungen«. Das »Gleichgewicht« des Leblosen als bloßes »Zusammenhalten mittels des Gleichgewichtes der Kräfte« zwischen Teilen »potenzirt« sich in der »Selbsterhaltung« des Lebendigen als aktiv produziertes Gleichgewicht eines zwischen Innen- und Außenwelt vermittelnden »Normalzustandes«, und die »Selbsterhaltung« »potenzirt« sich in der reflexiv gewordenen »Selbstanschauung« der Seele. Burdachs »Potenzirungen« folgen, wie bei Brandis, den Vollkommenheitsgraden einer scala naturae, in der die dem Menschen eigene Selbstanschauung der Einheit der Idee des göttlichen Schöpfungsplans am nächsten steht, während dessen Ausdifferenzierung in der »Materie« des Leblosen ihr Ende findet. Die Abfolge der drei »Stufen der Potenzirung«, gekoppelt an aufsteigende Freiheitsgrade vom Objektiv-Materiellen zum Subjektiv-Geistigen, stellt eine Umkehrung der Ausdifferenzieung des Schöpfungsakts dar.6
5 | Vgl. Burdach, 1826-1840, Bd. 4, 4: »Im organischen Reiche aber finden wir einerseits Wesen, deren Leben einzig auf äußeres Bestehen gerichtet ist, die Gewächse; andererseits solche, die durch ihre Äußerungen Innerlichkeit und Einheit im Seelenleben offenbaren, die Thiere und Menschen. Hiernach bezeichnen wir denn die in uns vereinten beiden Richtungen des Lebens als die pflanzliche und animale (ad animam pertinens), oder als die seelenlose und die seelenthätige. Man könnte sie auch äußerliches und innerliches Leben nennen, wenn die Begriffe von Äußerem und Innerem nicht relativ genommen werden und daher zu Missverständnissen Anlass geben könnten. Das seelenlose Leben kann nicht füglich plastisches Leben genannt werden, denn wiewohl es hauptsächlich auf materielle Production ausgerichtet ist, so schließt es doch auch dynamische Erscheinungen, als Erzeugung von Wärme und Elekricität in sich. Nennt man es automatisch, so folgt man nur dem Sprachgebrauche, der unter Automat gerade das versteht, was nur den Schein des wirklich Automatischen, d.h. des nach dem eigenen Triebe Handelnden an sich trägt. Am unpassendsten ist es aber, das Seelenthätige als ein Leben der äußern Beziehungen (vie des relations extérieures) zu bezeichnen, denn ein Verkehr mit der Außenwelt gehört zu beiden Richtungen des Lebens und ist gerade in der psychischen Sphäre verhältnissmäßig weniger wesentlich.«; und 1847, 340: »Die Seele ist immateriell […] Die Seele ist daher nicht unmittelbar mit dem Leibe oder dessen Materie, sondern mit dem Leben verwandt […]« 6 | Vgl. Burdach 1806, Bd. 1, 18. Vgl. Burdach, 1826-1840, Bd. 6, 592: »Jegliches Dasein muss, da es aus dem Ursein stammt, demselben auch entsprechen, jedoch so, dass es ihm näher oder ferner steht und seine Merkmale mehr oder weniger in sich trägt, da es als Besondres, neben Andrem Bestehendes beschränkt, mit bestimmten Eigenschaften in bestimmtem Grade ausgestattet ist.«
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Lebendige, individuelle Körper sind »Abbilder des Weltorganismus«.7 Im Rahmen einer Mikro-Makrokosmos-Logik wiederholen sich in ihnen Potenzierungsstufen der allgemeinen Ordnung des Weltalls (der »materiellen« Stufe des Leblosen, der »organischen« Stufe des Lebendigen und der »psychischen« Stufe des Seelischen), denen bestimmte Individuations- und Abgrenzungsprozesse entsprechen, die materiell als spezifische Einheiten von Teilen ausweisbar sind.8 Orientiert an der Typologie der Existenzweisen von Pflanzen, Tieren und Menschen, unterscheiden sich die potenzierenden Tätigkeiten lebender Körper nach Tätigkeits-»Richtungen«, die, ins Innere der tätigen Instanz oder nach außen hin verlaufend, Prozesse der Selbsterhaltung konstituieren. So, wie das »Ich« des »Bewusstseins« des Menschen nach außen hin auf »Objecte«, nach Innen hin auf sich selbst in Form von »Acten« eines »Subjects« und »wechselwirkend« auf beide Bereiche ausgerichtet ist, indem »Subject und Object mit einander in Berührung treten«, ist auch das »Leben« des Organismus auf eine »Außenwelt«, auf eine innere »Organisation« mit einem »Erregungs«oder »Lebensprincip« und wechselwirkend auf beide Bereiche ausgerichtet. Da das »Leben« in allen Tätigkeits-Richtungen »plastisch« oder »gestaltend« wirkt, ist die »Wechselwirkung«, die ihm zugrunde liegt, zugleich eine »Wechselbildung«.9 Während die »Anatomie« von der »verharrenden Form« (dem »Seyn«) der Organismen ausgeht und auf »mechanische Bewegungen« ausgerichtet ist, geht es in der »Physiologie« und der »Morphologie« um »chemische Processe« und »Umwandlungen«, die Gesetze des durch Tätigkeiten verursachten »Stoffwechsels« und der »Bildung« lebendiger Körper betreffen, die zusammen ein bestimmtes »Lebensprincip« charakterisieren.10 Die Tätigkeits-»Sphäre« des Prinzips wird durch »Erregungen« ermöglicht. 7 | Vgl. Burdach 1806, Bd. 1, 25; 1842-1848, Bd. 1, 38-41; und 1809, 19: »Jedes lebende Wesen ist demnach, als Abbild des Weltalls, ein eignes, abgeschlossnes und selbstständiges Ganzes, aber mit festbestimmter Gränze im Raume und Dauer in der Zeit; eine stetige Mannichfaltigkeit von Bildungen und Thätigkeiten, aber nicht allseitig und erschöpfend, sondern in bestimmter Quantität und Qualität; ein durch sich Thätiges und Bildendes, ein Selbstbestimmendes, aber dabey auch von den übrigen Theilen des Weltalls Abhängiges und von Aussen Bestimmtwerdendes.« Der »Weltorganismus« ähnelt wiederum dem göttlichen Grund, der ihn schaffte. Vgl. Burdach 1819-1822, Bd. 1, 17-18. 8 | Vgl. Burdach 1806, Bd. 1, 17-40. 9 | Burdach 1806, Bd. 1, 36. 10 | Burdach 1814, 12. Vgl. Burdach 1814, 1-2. Burdach (1826-1840, Bd. 6, 606) bezeichnet das »Lebensprincip« auch als »die in der Individualität sich aussprechende Idee des Organismus«. Vgl. Burdach 1847, 127: »Die Materie ist das wirklich Daseyende im Raume, das Bestehen der Dinge außer einander; ihr Gegensatz ist das mögliche oder
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Burdach unterscheidet »Erregungen« anhand von zwei »Richtungen« organischer Tätigkeit, die allgemein zur Potenzierung des Lebendigen gehören, nämlich als nach Außen gerichtete »Irritabilität« oder »Muskeltätigkeit«, durch die »das Innre ein Aeussres wird und das Subjective in das Objective sich umsetzt«, und als »Sensibilität« oder »Nerventätigkeit«, durch die »das Objective zum Subjectiven wird«, indem die Einwirkungen der äußeren Objekte einzeln als »Sensation« oder verbunden als »Consensus und Sympathie« zum »Subjekt« der »Acte« weitergeleitet werden.11 Aus dem »vereinten Wirken« von Sensibilität und Irritabilität geht »organisches Bestehen« hervor.12 Dieses organische Bestehen zeichnet sich gegenüber dem Bestehen lebloser Körper neben einer gesteigerten »Regsamkeit« und einem größeren »Kreis von Berührungspuncten«, auf die Reaktionen erfolgen, vor allem durch die Fortsetzung des »Gegensatzes« von Irritabilität und Sensibilität im Inneren aus. Da der Organismus einen »Impuls zur Thätigkeit in sich findet«, ist er »vom Äußern minder abhängig« und behauptet seine Daseinsweise gegen das von außen kommende »Fremde« durch »Umwandlung« und »Assimilation«. »Erregbarkeit« bezeichnet daher für Burdach allgemein das Vermögen des »Lebensprincips«, »unter der Bedingung von Einwirkungen diejenigen Thätigkeiten zu äußern, welche im Begriffe des Lebens gegründet sind«.13 Diese »Modalität« des Lebensprinzips ist »Typen«-spezifisch. Der »Typus« repräsentiert die »sich gleich bleibende Richtung der lebendigen Bildung« und das »in steter Erneuerung der Materie sich ununterbrochen herstellende Formenverhältniss« des Organischen.14 Leben zeigt sich in der »ununterbrochenen Verwirklichung des Typus« durch »Erregung«, »Wechselbildung«, »Umwandlung« und »Reproduction« im weiteren Sinne, weil jedes seiner Produkte »selbst wieder productiv, d.h. ein Grund neuer Productionen« wird.15
auch nothwendige Seyn in einer innerlichen, rein zeitlichen Thätigkeit erscheinend: das Gedankenbild, die Idee. Das Leben beruht also auf einer Idee; es verwirklicht dieselbe durch eine bestimmte Form des Daseyns, indem es der fremden Materie seinen eigenen Stempel aufprägt, und aus der solchergestalt geschaffenen Substanz nach eigenem Typus einen Kreis von Organen bildet, welcher der räumliche Ausdruck der Idee ist […]« 11 | Vgl. Burdach 1806, Bd. 1, 32-33. 12 | Vgl. Burdach 1806, Bd. 1, 35. Nerventätigkeiten sind für Burdach bereits Indiz einer »höhern Einheit« der Lebensprozesse in Form von »Selbstgefühl« und »Selbstbestimmung«, da es auch ein »Leben« ohne ein »Nervensystem« gibt. Vgl. Burdach 1826-1840, Bd. 6, 586-587. Für Burdachs Arbeiten über das Gehirn und das Nervensystem siehe Burdach 1806; und Meyer 1966 und 1970. 13 | Vgl. Burdach 1826-1840, Bd. 1, 604. 14 | Burdach 1842-1848, Bd. 1, 20. Vgl. Burdach 1826-1840, Bd. 1, 598. 15 | Vgl. Burdach 1806, Bd. 1, 36; und 1826-1840, Bd. 1, 598.
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2. D IE »A RT DES D ASE YNS « INDIVIDUELLER O RGANISMEN Individuelle Organismen verwirklichen ihre »Art des Daseyns«16 innerhalb der »Schranken der Endlichkeit«17. Die aus ihrem inneren »Lebensprincip« resultierende »Selbstbestimmung« unterscheidet »lebendige Wesen« kategorisch von »leblosen Dingen«, allerdings führt sie nur zu einer »Milderung« der »Abhängigkeit vom Äußern«.18 Um diese »Art des Daseyns« darzustellen, vereint Burdach Kants Zweck-Bestimmung der inneren Ordnung des Lebendigen und Cuviers Organisationstypen mit einem physiologischen Modell organischer Existenz. Der Organismus besteht für Burdach aus Teilen, die »durch ihre ineinander greifenden eigenthümlichen Thätigkeiten zu einem gemeinsamen Zwecke zusammenwirken, so daß sie einander gegenseitig bestimmen« und jeder sich selbst erhaltende Teil »zugleich den anderen dient und von ihnen wiederum aufrecht erhalten wird.«19 Die »Selbstbildung«, »Selbsterhaltung« und »Selbstbehauptung« organischer Körper finden allerdings nur innerhalb einer bestimmten Variationsbreite äußerer Einflüsse statt, die – ohne die »Natur« der Ordnungsform eines individuellen Organismus verändern zu können – die »Bedingungen für seine Thätigkeit« darstellen.20 Während die erste Bildung eines lebendigen Körpers für Burdach immer von einem »inneren Prinzip« ausgeht, das nicht aus physischen »Organisationen« resultiert 21, beruht dessen Existenz auf einer Dynamik von Stoffaufnahme, Stoffumwandlung und Stoffabgabe. Der individuelle Organismus ist 16 | Vgl. Burdach 1826-1840, Bd. 6, 588. 17 | Vgl. Burdach 1826-1840, Bd. 6, 603. 18 | Vgl. Burdach 1826-1840, Bd. 6, 19-20 und 601-603. 19 | Burdach 1847, 6. Vgl. Burdach 1842-1848, Bd. 1, 27: »Den Organismus erkennen wir als ein mannichfaltiges, in Wechselwirkung begriffne Theile in sich schließendes Ganzes, welches durch fortwährende, von ihm selbst bestimmte und auf Zwecke gerichtete Thätigkeiten besteht.« 20 | Burdach 1842-1848, Bd. 1, 14-15. 21 | Vgl. Burdach, 1826-1840, Bd. 1, 597; 1842-1848, Bd. 1, 14: »Im Samenkorne und im Eie sind weder die Formen, noch auch selbst die Stoffe des künftigen organischen Individuums vorhanden, und nur der darin waltende und wirkende Gedanke eines Organismus erzeugt die mannichfaltigen, zu einem geschlossnen Ganzen sich in einander fügenden Theile.«; und 1842-1848, Bd. 1, 41: »Das Leben ist nicht etwas, das erst hin und wieder zu Stande gebracht wird, sondern das Ursprüngliche, welches an den organischen Körpern nur in unsern Gesichtskreis tritt. Es ist hier nicht Folge der Organisation, der Mischung und des Baues, vielmehr bringt es dies alles erst hervor: die Bildung jedes organischen Körpers ist eine Schöpfung, welche aus unbestimmter Materie durch ein innres Princip organische Substanzen und Gestalten hervorruft, die sich von außen her durch Zusammensetzung nicht gewinnen lassen; denn das Leben ist
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ein »Durchgangspunct«22 für Stoffe, die er aufnehmen muss, da durch seine Tätigkeiten eine beständige »Abnutzung« und eine »gewisse Spannung« im »Gleichgewicht der Stoffe« entsteht.23 Dieses Wechselspiel zwischen Bildung und Zersetzung setzt sich zwischen allen Organen fort: »Die Selbsterhaltung wird durch einen unaufhörlichen äußern und innern Stoffwechsel bewirkt, durch einen chemischen Verkehr und Austausch der Stoffe sowohl zwischen dem Organismus und der Außenwelt, in gleichzeitiger und wechselner Ingestion und Egestion sich darstellend, als auch unter den verschiedenen [inneren] Gebilden.« 24
Im Raum zwischen dem Organe bildenden »Zellgewebsystem« und dem »mit der Außenwelt in Verkehr tretenden Hautsystem« wird nicht nur Fremdes verähnlicht und Abgenutztes ausgeschieden, sondern auch Eigenes immerzu »umgewandelt«. Feste und flüssige »Formen« bestimmen sich »wechselseitig« und gehen »ununterbrochen« ineinander über.25 Diese »Umwandlungen« finden in einem System aus Röhren und Höhlen statt, dessen begrenzte »Aneignungskraft« innerhalb der inneren Organisation von Außen nach Innen zunimmt: »Der eigentliche Bildungsprocess geht nur in Interstitien, Canälen, Schläuchen und Säcken, kurz in Höhlen mit einander gegenüber liegenden Wandungen vor sich; um von der organischen Substanz überwältigt zu werden, muß die anzueignende Materie von derselben eingeschlossen sein; je tiefer die Höhle liegt und je enger sie ist, um so bedeutender ist die in ihr vor sich gehende Umwandlung, wie denn gerade in den engen Wurzelanfängen der Lymphgefäße am Dünndarme als dem innersten Theile des Verdauungscanals die Chylusbildung ihren Hauptsitz hat. Die Aneignungskraft findet aber ihre Gränzen an der unzersetzbaren oder der Umwandlung in organische Substanz unfähigen Materie; ja der Organismus kann selbst einer Aneignung unterliegen, entweder vermöge seiner zu hohen Empfänglichkeit und unzureichenden Selbstthätigkeit […] oder vermöge der Übermacht des Fremden […]« 26
Unter den aus der Umwandlung hervorgehenden Flüssigkeiten unterscheidet Burdach »peripherische«, die »mehr der Außenwelt angehören«, und »cen-
der einzige Alchymist auf Erden, und vermag Stoffe zu zersetzen und umzuwandeln, die der chemischen Kunst einfach und unumwandelbar sind.« 22 | Burdach 1847, 126. 23 | Burdach 1842-1848, Bd. 1, 15. Vgl. Burdach 1826-1840, Bd. 6, 600. 24 | Burdach 1826-1840, Bd. 6, 605. 25 | Vgl. Burdach 1808, 26; 1826-1840, Bd. 4, 8; und1842-1848, Bd. 1, 25. 26 | Burdach 1826-1840, Bd. 6, 605.
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trale« Säfte.27 Zu den peripherischen Säften zählen der »Nahrungssaft«, der »zunächst aus den äussern Stoffen durch deren Vermischung mit Erzeugnissen des Organismus gebildet« wird, und die aus »Secretionen« erzeugten »Scheidungssäfte«, die »aus der organischen Substanz« selbst hervorgehen, »um nach außen abgesetzt zu werden«.28 Der centrale Saft oder das »Blut« als »Lebens-Saft« 29 vermittelt zwischen dem Nahrungssaft, aus dem er hervorgeht, und den »Scheidungssäften«. Das Blut ist daher der »Mittelpunct des Stoffwechsels«30. Die ganze »leibliche Lebensthätigkeit« besteht in seiner »Erzeugung, Entwickelung, Ausbildung, Umwandlung, Zersetzung, Vernichtung und Wiedergeburt«.31 Durch die »allgemeine organische Substanz« des »Blutes« ist es dem individuellen Organismus möglich, sein »in steter Erneuerung der Materie sich ununterbrochen herstellendes Formenverhältniss«32 als »innern Typus des Wechsels«33 zu erhalten: »Der centrale oder Lebens-Saft […] wird diejenige Flüssigkeit seyn, welche, aus dem Nahrungssafte hervorgegangen und die Scheidungssäfte erzeugend, den Mittelpunct 27 | Burdach 1826-1840, Bd. 4, 8-9. 28 | Burdach 1826-1840, Bd. 4, 9. 29 | Burdach 1826-1840, Bd. 4,9. 30 | Burdach 1826-1840, Bd. 6, 605. 31 | Burdach 1826-1840, Bd. 6, 605-606. Vgl. Burdach 1826-1840, Bd. 4, 7-8: »Das Leben äußert sich als individuelle Selbsterhaltung durch steten Wechsel der Materie; der Organismus empfängt Stoffe von der Außenwelt und setzt welche an sie ab; eben so empfängt jeder Theil das Material seiner Substanzbildung von andern und giebt wiederum das Verbrauchte zurück. Giebt es nun ein Glied in der organischen Kette, welches Stoffe aus der Außenwelt an sich zieht und an sie absetzt, den verschiedenen Theilen ihr Material gewährt und dasselbe zurückempfängt: so muss es das Centrale seyn.« Das Blut ist für Burdach nicht selbst lebendig. Vgl. Burdach 1847, 126: »Das Blut kann auch nicht das eigentlich Lebendige seyn, denn einerseits ist schon sein Daseyn durch eine Lebensthätigkeit bedingt, durch welche es gebildet worden ist: andererseits ist es unwirksam, wenn es nicht durch das Herz und die übrigen Organe in Bewegung gesetzt wird, ja es stirbt in der Gerinnung und weicht in seine Bestandhteile auseinander, wenn es aufhört zu fließen und vom lebendigen Leibe getrennt ist.« 32 | Burdach 1842-1848, Bd. 1, 20. 33 | Vgl. Burdach 1826-1840, Bd. 1, 6: »Alle organischen Wesen unterscheiden sich von den unorganischen Dingen durch ein stetiges Fortschreiten, d.h. durch einen bestimmten Verlauf ihres Daseyns, durch eine regelmäßige, in ihnen selbst begründete Umwandlung und durch ein bestimmtes von den äußern Verhältnissen unabhängiges Ziel ihres Daseyns. Sie zeichnen sich aus durch einen innern Typus des Wechsels, der durch die Außendinge zwar abgeändert werden kann, aber nicht durch sie gegeben wird, vielmehr ihren Aenderungen bis auf einen gewissen Punct widersteht.«
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unter den Säften einnimmt, den Körper durchströmt, um mit den verschiedenen Organen in Wechselwirkung zu treten, und ihre Materialität, so wie ihre lebendige Thätigkeit unterhält. Bestimmt, die verschiedenen Organe zu ernähren und zu beleben, muss er die verschiedenen Qualitäten derselben vereint in sich tragen, also den Charakter der Allgemeinheit haben, und die organische Substanz in flüssiger Form darstellen, so wie durch seine Verbreitung über alle Organe sich als ein Allgemeines bewähren.« 34
Der »Stoffwechsel« im Inneren individueller Organismen setzt sich im Stoff»Kreislauf« in der Außenwelt sowohl zwischen dem »unorganischen« und dem »organischen Reich« als auch zwischen Organismen fort: »Die Stoffe treten fortwährend aus dem unorganischen Reiche in das organische Reich über, und umgekehrt, so dass sie in einem Kreislaufe begriffen sind, wie innerhalb eines lebendigen Körpers. […] Die verschiednen organischen Wesen stehen […] in Wechselwirkung, bedürfen einander gegenseitig, und verhalten sich wie Organe eines und desselben lebendigen Ganzen. Flechten und Moose erzeugen sich zuerst auf unorganischem Boden; durch ihr Absterben und Verwesen aber bildet sich Dammerde, in welcher vollkommnere Gewächse wurzeln können, und auf diesen wachsen dann zum Theil selbst wieder andre Flechten und Moose. Das eine Thier nährt sich von einem andern, dies von Pflanzen: das Pflanzenreich dient als Organ, um aus lebloser Materie organische Substanz zu schaffen; das pflanzenfressende Thier vollzieht die Umwandlung der Pflanzensubstanz in thierische Materie; und diese dient bei ihrem Verwesen hinwiederum den Pflanzen als Nahrung.« 35
Dem »Stoffwechsel« der inneren Organisation und dem Stoff-Kreislauf der Außenwelt liegen System-bedingte »Harmonien« zugrunde, die ermöglichen, dass fortwährende Umwandlungen in demselben Organismus nach einem Schema ablaufen und Produkte hervorbringen, die seinen Selbsterhalt und den Erhalt anderer Leben unterstützen. Diese inneren und äußeren Harmonien oder Gleichgewichte sind auf die Daseinsarten lebendiger Organismen 34 | Burdach 1826-1840, Bd. 4, 9. 35 | Burdach 1842-1848, Bd. 1, 47-49. Vgl. 1847, 635: »Die verschiedenen organischen Wesen wirken auf einander ein, so daß keines für sich ohne alle anderen bestehen kann: sie verhalten sich wie Glieder eines Organismus.«; ibid., 637: »Das Athmen von Menschen und Thieren dient der Vegetation, da diese in einer an Kohlensäure reichen Luft besonders gedeiht; es macht aber die Atmosphäre zu[r] Erhaltung des Lebens von Menschen und Thieren selbst untauglich, und dem wird dadurch vorgebeuget, daß die grünenden Pflantheile im Sonnenlichte Kohlensäure aus der Atmosphäre einsaugen und Sauerstoffgas aushauchen.«; und ibid., 642: »Die Harmonie in der Natur kann aber nicht bloß darin bestehen, daß ein Glied das Daseyn eines andern fördert, sondern muß auch eine gegenseitige Beschränkung derselben in sich schließen.«
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abgestimmt und beziehen sich auf die Ordnungsform ihrer Typen. Je nach den Modifikationen, die sich durch die individuelle Situation eines konkret existierenden Organismus ergeben, stellen sich jedoch Abweichungen ein. Burdach bestimmt das Verhältnis von Typ und Abweichung ausgehend von einer »Norm«, die einen idealen, Typen-gerechten Zustand seiner »Art des Daseyns« kennzeichnet.
3. N ORMALITÄT UND A BNORMITÄT, ODER G ESUNDHEIT UND K R ANKHEIT Im ersten Band von Ueber die Erkenntniss und Cur der Fieber (1799-1815) hatte Johann Christian Reil Gesundheit auf einen »Maasstab« bezogen, der sich durch Abstraktion aus den »zahllosen Modificationen der Existenz der Menschenkörper« ableitet und unter allen Zuständen des »Wohlbefindens« den »Zustand der vollkommensten Existenz« bezeichnet: »Unter diesen zahllosen Modificationen der Existenz der Menschenkörper giebt es einige, die sich zwar nicht gleich, aber doch ähnlich, und die häufigsten sind, bey denen der Mensch sich wohlbefindet, in denen er zu beharren wünscht, und die mit dem Zweck seiner Selbsterhaltung und mit der längsten Fortdauer seiner physischen Existenz, bis zu dem seiner Art natürlichen Ziel, in dem besten Verhältniss stehn. Von diesen Modificationen abstrahiren wir uns einen Zustand der vollkommensten Existenz des Menschenkörpers, den wir Gesundheit nennen, und nehmen denselben als einen festen Punct (Maasstab, punctum fixum) an, ob er gleich in der Natur als solcher nicht vorkommt, sondern so unendlich viele Abstuffungen und Modificationen hat, als es Individuen giebt, von denen wir diesen Zustand prädiciren. Bey der Aufsuchung der Merkmale dieses Zustandes sehn wir nicht sowohl auf die höchstmögliche Vollkommenheit eines jeden einzelnen Organs, als vielmehr auf eine den Verhältnissen des Individuums angemessene Vollkommenheit derselben, und auf ihre Zweckmässigkeit zur vollkommenen Selbsterhaltung desselben und seiner Art, für eine Reihe von Zeit, die seiner Art angemessen ist.« 36
In den »Haupttypen« der Tierkörper entspricht dem »Maasstab« für Reil eine »Originalregel der Mischung« ihrer inneren »Organisation«. Dieser »Regel« nähern sich gesunde oder »normale Zustände« und von ihr weichen »unendlich« viele kranke oder »anomalische Zustände« durch einander bedingende Veränderungen der »inneren Constitution« des Organismus und der »äusseren
36 | Reil 1799-1815, Bd. 1, 3.
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Constitution« der Außenwelt ab.37 Gesundheit und Krankheit sind »Arten des Daseyns«38 oder »Arten der Existenz« 39, die von der »Normal-Mischung und Organisation«40 oder einfach »vom Normal abweichen«41. Die Grundlage jeder Heilkunde besteht daher in der Etablierung einer »Normal-Physiologie« 42, die unter anderem den »Normal-Grad der Lebenskraft« 43, die »Normal-Temperatur«44 eines Körpers und die »Normal-Stimmung« 45 der Reizbarkeit festlegt. Ähnlich wie Reil bestimmt Burdach eine »Norm«, von der er als allgemeines »Lebensprincip« eines Typus den »Normalzustand« Gesundheit, die »Normalität« der Tätigkeiten des Organismus und sein »Wohlseyn« ableitet, um eine »Pathologie« und »Pathogenie« der »Abnormität« schreiben zu können: 37 | Ibid., 4-5: »Unter der unzähligen Menge der Modificationen der Mischung und Form der thierischen Materie, die in einem Thierkörper möglich und würklich sind, giebt es einige, in den Haupttypen sich ähnliche, und einer Originalregel der Mischung sich nähernde Modificationen, in welchen wir den Grund dieses eigenthümlichen Zustandes suchen müssen, den wir Gesundheit nennen. […] Krankheit ist eine ursprüngliche oder durch etwas Aeusseres hervorgebrachte Abweichung von diesem angenommenen festen Standpunct der gesunden Mischung und Organisation, wodurch die Erscheinungen des Körpers nothwendig mit verändert (die Verrichtungen desselben verletzt) werden müssen. Sie erscheinen, verglichen mit dem gesunden, entweder ihrer Natur oder ihrem Grade nach anomalisch, und können der Form und dem Grade nach unendlich mannigfaltig seyn.« Vgl. ibid., 30-32: »Constitution bezeichnet: einen bestimmten äusseren oder innern Zustand der Menschen, der mit ihrem Gesundheitswohl in Beziehung steht. Herrschende Constitution nennt man theils den allgemeinen äusseren Zustand einer Masse von Menschen, die in einer Gegend zusammen leben, oder ihr gemeinschaftliches Verhältniss zu gewissen Dingen ausser ihnen, die auf ihre dermaligen Krankheiten einen merkbaren Einfluss haben […] Unter den äussern Dingen, mit welchen der Mensch in Verbindung steht, ist die Atmosphähre die allgemeinste und würksamste. Daher pflegt man auf dieselbe vorzüglich die äussere Constitution zu beziehn. […] Die äussere Constitution bewürkt zunächst in der Mischung der thierischen Materie eine Veränderung, und bestimmt dadurch die innere. Durch diese Mischungsveränderung werden in gleichem Verhältniss auch die Kräfte des Körpers, besonders seine sogenannten Lebenskräfte, ihrer Qualität und Quantität nach anders modificirt.« 38 | Ibid., 22. 39 | Ibid., 2. 40 | Ibid., 586. 41 | Ibid., Bd. 3, 311. 42 | Ibid., Bd. 1, 342. 43 | Ibid., 182. 44 | Ibid., 433. 45 | Ibid., 377.
VII. Burdachs Normalzustand
»Wenn wir die Natur eines speciellen Organismus erkennen wollen, so müssen wir zuvörderst die bestimmte Art und Weise erforschen, wie die allgemeine organische Kraft in ihm sich darstellt, also das, was in seiner Existenz und Thätigkeit das Ursprüngliche und Allgemeine ist. Wir abstrahiren also von den Erscheinungen, welche der individuelle Organismus bloss vermöge seiner individuellen Verhältnisse zeigt, und fassen die Norm auf. Die Norm ist der allgemeine Charakter, welcher allen Individuen einer bestimmten Art von Organismen gemeinschaftlich zukommt, die allgemeine Regel für ihre Existenz und Thätigkeit, das Princip, nach welchem die Naturkraft in ihrer ungehinderten Wirksamkeit in ihnen sich offenbart. Sie ist also eine blosse Idee, nicht das Princip eines individuellen Lebens, denn kein individueller Organismus stellt die ihm zum Grunde liegende Einheit absolut rein und ungetrübt dar. Die Naturlehre eines speciellen Organismus oder die Physiologie hat demnach die Aufgabe, die Norm seines Lebens und Seyns als eine specielle Form des allgemeinen Lebens und Seyns aus diesem zu deduciren.« 46 46 | Burdach 1808, 19. Vgl. ibid., 19-20: »Normalität ist die Beschaffenheit einer Thätigkeit oder Bildung an individuellen Organismen, welche jener Idee der Allgemeinheit entspricht. – Normalzustand ist der Zustand eines individuellen Organismus, wo seine gesammten Thätigkeiten und Bildungen normal sind oder Normalität besitzen, wo also der organische Charakter am reinsten und unbeschränktesten sich zeigt, wo die Identität von Er zeugung und Bildung, von Einheit und Mannigfaltig keit, von Zweck und Mittel, ungestört ist, wo alle dieser Art von Organismen ursprünglich zukommenden Bildungen und Thätigkeiten Statt finden und harmonisch in einander greifen. Man nennt die Ge sundheit einen natürlichen oder naturgemäßen Zu stand, in so fern er der ursprüngliche ist, und in ihm die ursprüngliche Naturkraft ungestört wirkt. Wir erkennen das Daseyn des Normalzustandes oder die Gesundheit eines individuellen Organismus daraus, dass alle einzelnen Thätigkeiten und Bildungen (Formen und Mischungen) desselben nicht nur ihren besonderen Zweck erreichen, (indem die Functionen mit einer gewissen Stärke, Leichtigkeit und Ausdauer, vor sich gehen,) sondern auch durch ein harmonisches Zusammenwirken wechselseitig einander befördern und unterstützen, so dass der gesammte Organismus frey und seinem Zwecke gemäss wirken kann. Diese Reihe von Erscheinungen, durch welche sich die Gesundheit als ein innerer Zustand offenbart, nennt man das Wohlseyn (valetudo prospera).« Burdach hebt zugleich hervor, dass auch »Abnormitäten« zu einem Verständnis des »Normalen« beitragen. Vgl. Burdach 1806, Bd. 1, 76: »Dieses regelmäßige Wirken [des Lebens] selbst bleibt ewig rätselhaft, wenn unsre Blicke nicht zugleich auf seine Abweichungen gerichtet sind: erst in der Aufhebung des Gleichgewichts der Kräfte kommen freiere Thätigkeiten zum Vorschein, und in dem Darniederliegen der bisher hemmenden Thätigkeit offenbart sich die Natur der siegenden Kräfte um so gewaltiger. So studirt der Psycholog in der Geschichte die pathologische Zergliederung des Gemüths großer Verbrecher und gewinnt für seine Wissenschaft fruchtbare Resultate, indem er den leisen Quell des Lebens belauscht und seinen wachsenden Strom bis an das von der Natur ihm gesetzte Ziel verfolgt.«
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Da die »Gleichgewichte« erhaltenden Tätigkeiten eines Organismus nicht ohne »Reize« stattfinden, die sowohl von der Außenwelt kommen als auch im Inneren erzeugt werden, hängt jeder seiner »Zustände« von dessen »Erregbarkeit« ab. Der »Erregbarkeits«-Grad repräsentiert für Burdach die »Norm« jeder Ordnung des Lebendigen. Er setzt sich aus »Reizbarkeit« und »Wirkungsvermögen« zusammen: »Der allgemeine Grund des organischen Lebens stellt sich im Menschen auf eine bestimmte Weise dar. Man nennt dieses organische Princip (Lebensprincip, Lebenskraft) Erregbarkeit, weil es nämlich als ein individueller Abdruck der allgemeinen, organischen Kraft zu seiner Äusserung der Erregung durch andere individuelle Thätigkeiten bedarf. Alles, was auf dieses organische Princip wirkt, heisst Reitz; die Äeusserung desselben Erregung. Man unterscheidet aber in der Erregung die Aufnahme des Reitzes oder die durch denselben im Organismus hervor gebrachte leidentliche Veränderung und die Reaction oder Gegenwirkung. Man betrachtet demnach auch die Erregbarkeit von zwey verschiedenen Seiten, nämlich als Reitzbarkeit (Reitzemfänglichkeit, Receptivität) und Wirkungsvermögen (Energie der Thätigkeit, Spontaneität).« 47
Durch den Doppelcharakter der Erregbarkeit gibt es auch »zweyerley Abnormitäten der Erregung, nämlich die des Wirkungsvermögens und die der Reitzbarkeit«.48 Beide Abnormitäten messen sich an einer »normalen Erregbarkeit«, 47 | Burdach 1808, 31. Vgl. 1819-1822, Bd. 1, 28: »So findet im organischen Leben keine Thätigkeit Statt ohne Reize, eben so wenig als im Leblosen eine Kraftäusserung sich entwickelt ohne äussere Einwürkung; aber das Lebendige unterscheidet sich nur dadurch, dass es aus den äussern Stoffen, die als Reize würken, sich innre Stoffe bildet, die nun als relative innre Reize, d.h. als durch eigene Kraft erzeugt, und im Organismus selbst enthalten, aber immer noch als ein Aeusseres für die zu reizenden Organe, sich verhalten.«; und Burdach 1847, 114: »Die durch ihre Mischung als Nahrungsmittel dienenden Substanzen erregen zugleich die Verdauungsorgane, so daß diese Blut aufnehmen, turgesciren, sich bewegen und stärker absondern.« Unter den Organen ist das »Herz« am wenigsten von einer »Sensibilität« für Außenreize abhängig. Vgl. Burdach 1826-1840, Bd. 4, 458-459: »[…] das Herz hat seine Bewegungskraft in sich, in seinen Muskelfasern; ganz unabhängig und für sich bestehend kann es freilich nicht seyn, denn jedes Organ lebt nur durch die Totalität des Organismus: aber der Einfluss der Sensibilität ist hier gebrochen, und es erscheint im Herzen mit dem Maximum von Irritabilität ein Minimum von Sensibilität, wie schon die Betrachtung seines Gewebes lehrt.« 48 | Burdach 1808, 34. Burdach (1808, 30) unterscheidet auch zwischen »oertlichen« und »allgemeinen Abnormitäten«: »Unter örtlichen Abnormitäten versteht man solche, die in einem einzelnen organischen Theile Statt finden; allgemeine Abnormitäten sind die, welche ein ganzes System einnehmen.«
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der eine »Lebensthätigkeit« des Organismus entspricht, die »bey starken Reitzen stark, bey schwachen Reitzen schwach, bey flüchtigen Reitzen schnell, bey anhaltenden Reitzen, langsamer vor sich geht« – unter der Voraussetzung, dass ein »mittleres Mass der gewöhnlichen Lebensreitze einwirkt«.49 Eine »abnorme« Mischung der Nahrungsmittel kann als »Krankheitstoff« und »Krankheitsreitz« eine »Abnormität der Erregung« veranlassen.50 Die »Normen« des Lebens unterscheiden sich nicht nur zwischen »Typen« oder »Species«. Vielmehr lässt sich innerhalb einer »Species« auch für jedes »Geschlecht« und »Alter« eine ihnen »eigenthümliche Norm« ausweisen.51 Diese Differenzierung setzt sich auf der Ebene einzelner organischer Körper fort. So, wie jeder lebende Mensch als »Folge seiner Individualität« keine »absolute«, sondern nur »relative Gesundheit« aufweist, stellt seine Existenz keine absolute, sondern eine »individuelle Normalität« dar.52 Während das Verhältnis zwischen innerer Organisation, Erregbarkeit und Außenwelt zu einer Typologie von »Norm«- und »Gleichgewichts«-Begriffen führt, spielt das Innen-Außenwelt-Verhältnis auch in Burdachs »Anthropologie« eine zentrale Rolle zur Abgrenzung von Tier und Mensch. 49 | Burdach 1808, 31-32. Vgl. ibid., 32: »Abnormität der Erregbarkeit ist Disproportion der Erregbarkeit zu den äussern Reitzen, vermöge deren diese nicht die gehörige Wirkung, sondern eine abnorme Erregung, hervor bringen, wo also starke Erregung auf schwache Reitze, schwache Erregung auf starke Reitze, schnelle Erregung auf anhaltende Reitze, langsame Erregung auf flüchtige Reitze erfolgt. So kann also bey dem Mittelmasse der gewöhnlichen Lebensreitze die Gesundheit nicht bestehen, die orga nischen Thätigkeiten stimmen nicht zusammen, und erreichen ihren Zweck nicht. Wegen dieser Dispro portion der Erregung zu den äussern Reitzen nannte man den abnormen Zustand widernatürlich.« 50 | Burdach 1808, 29-30. Vgl. Burdach 1808, 26: »Die Mischung der Nahrungsmittel kann bey normaler Thätigkeit der Assimilationsorgane eine Abnormität in der Mischung der Säfte hervor bringen.« 51 | Vgl. Burdach 1808, 21: »Jede Species von Organismen hat also ihre eigenthümliche Norm: so auch der menschliche Orga nismus. Aber jede einzelne Species von Organismen ist in sich wesentlich verschieden, erstlich nach dem Geschlechte, zweytens nach der Periode des Lebens oder nach dem Alter. Jedes Geschlecht und Alter hat daher seine eigenthümliche Norm. Die Norm des Geschlechtes und Alters ist demnach eine Beschrän kung, eine Modifikation der der Species zukommen den Norm, […]« 52 | Burdach 1808, 21-23. Burdach (1808, 21) verweist in diesem Zusammenhang auch auf Theodor Georg August Rooses Schrift Über die Gesundheit des Menschen. Ein physiologischer Versuch (1793). Vgl. Roose 1793, 21: »Der vollkommen gesunde Mensch, diess reizende Spielwerk der Phantasie, muss in allen, dem Menschen eigenthümlichen, Verrichtungen der möglich vollkommensten Harmonie geniessen.«, und ibid., 59 (»idealisch-gesunder Zustand«).
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4. TIER UND M ENSCH In Anthropologie für das gebildete Publicum (1837) geht es Burdach – wie seinem Schüler Karl Ernst von Baer in Vorlesungen über Anthropologie (1824) – um eine »vollständige«, Natur und Kultur umfassende, vom Lebendigen zum Staatsbürger reichende Anthropologie, deren Wissen sich nicht in »streng abgepferchte Professionen« einfügt, sondern eine »allseitige Menschenbildung« ermöglicht.53 Der Mensch, der als »Säugethier« der »Abtheilung der Mammalien« angehört, unterscheidet sich von »Orang-Utang« und »Schimpanse«, deren Sinne, innere Organisation und »sinnliche Klugheit« dem Menschen sehr ähnlich sind, durch einen erneuten »Blick nach Innen«: »Das Thier überhaupt hat nicht bloß sinnliche Vorstellungen und Triebe, sondern auch Einbildungskraft und Verstand. Es beurtheilt seine gegenwärtigen Verhältnisse nach früheren Erfahrungen, und handelt demgemäß: es hat also allgemeine Begriffe, abstrahiert von dem Einzelnen das Allgemeine, erkennt den ursachlichen Zusammenhang, und handelt nach Zwecken. Aber es schafft dieß Alles nur in einfacher Reihenfolge, durch Uebung der in ihm wirkenden Kräfte, und in steter Beziehung auf das Sinnliche. Der Mensch hingegen schaut nicht bloß die Gegenstände und äußeren Verhältnisse an, sondern wendet den Blick in sich, betrachtet seine eigenen Seelenthätigkeiten, und gelangt zu innerm Bewußtseyn.« 54
53 | Vgl. Baer 1824, Vorwort, ii; ibid., 4; und Burdach 1847, Einleitung, 3. Zum weiteren historischen Kontext der Anthropologie siehe Hoßfeld 2005, 51-87; Mühlmann 1968; Mann & Dumont 1990; und Pittelkow 1991. 54 | Burdach 1847, 622. Vgl. ibid., 616: »Indem der Mensch durch seine geistige Kraft von den Thieren durchaus verschieden ist, so gehört er doch als beseeltes organisches Wesen dem animalischen Reiche an, so daß er sammt den Säugethieren die Abtheilung der Mammalien bildet. Die Vierhänder geben den Wendepunct des Thierreichs ab, und bilden eine Reihe, welche an dem einen Ende aber durch den Orang-Utang (in Hinterindien und dessen Inseln) und den Schimpanse (in Guinea) dem Menschen sich nähern. Diese beiden Thiere, die man der Kürze wegen mit dem gemeinschaftlichen Namen der Orangs belegt, unterscheiden sich von den übrigen Vierhändern und ähneln mehr dem Menschen durch ihre äußere Gestalt und Gesichtsbildung; durch den Mangel an großen Hautmuskeln, Gefäßschwielen und Backentaschen; durch den mehr aufrechten Gang, so wie dadurch, daß sie nicht solche Grimassen machen, überhaupt nicht die Unruhe und Leidenschaftlichkeit der übrigen Affen zeigen, sondern mehr ruhig, bedächtig und klug sich benehmen; im Baue der Brust- und Unterleibsorgane stimmen sie mit dem Menschen fast ganz überein. Sie werden von den rohen Völkern ihres Vaterlandes für wilde Menschen gehalten […]«
VII. Burdachs Normalzustand
Durch ihren »Blick nach Innen« verfügen Menschen über »Selbstbewusstsein«, während Tieren nur ein »Selbstgefühl« und die Fähigkeit zur »Selbsterhaltung« eigen ist.55 Sich vom »Leitseile des Instincts« abkoppelnd, ist der Mensch jedoch nicht nur »frei«, weil er sich durch die »Geschmeidigkeit und Vielseitigkeit seiner Organisation« an das »Fremdartigste« gewöhnen kann und über nach Innen gerichtete reflexive Fähigkeiten verfügt. Vielmehr ist für die Entwicklung seiner »Culturstufen«, in denen er »selbstbestimmt« handeln kann, zugleich wichtig, dass er im Rahmen seiner »Gattungs«-Geschichte eine erneute Wendung nach Außen vollzogen hat (und diese auch in der Gegenwart beständig vollzieht), indem er zum einen reflexive Fähigkeiten zur »Umwandlung der Naturgegenstände« in »Dinge« einsetzt, die seine Defizite gegenüber dem Tier – etwa in Form von Instinktschwäche, fehlender Reißzähne und Haarbedeckung – ausgleichen, und zum anderen, angespornt von einem »Forschungstrieb« zur Erlangung »neuer Erfahrungen«, seine »schaffende Phantasie« zur »Combination von Mitteln« einsetzt, um verschiedenste Zwecke zu erreichen. Der Mensch ist damit im doppelten Sinne ein umwandelndes Wesen, die Außenwelt in sein Inneres und sein Inneres in selbstgeschaffene »Dinge« und »Verhältnisse« der Außenwelt transformierend. Zu diesen Dingen gehören neben »Geräthen« oder »Werkzeugen« auch die »Sprache«, durch die er in die »innigste geistige Gemeinschaft mit seiner Gattung« tritt.56 55 | Vgl. Burdach 1809, 29-30: »Den strengen Gegensatz zum reinen Wissen giebt Handeln ohne Wissen. Zwar giebt es kein Handeln, welches nicht mit einer Geistesthätigkeit in Verbindung stünde, aber dasjenige, bey welchem kein deutliches Bewusstseyn einer bestimmten Geistesthätigkeit Statt findet, nennen wir mit Recht reines Handeln. Dieses geht hervor aus der Natur des Menschen selbst vermöge seiner Anlagen durch einen bewusstlosen innern Drang, und ist eine instinctmässige Aeusserung der innern Kraft. Es bezieht sich entweder auf die körperliche, oder psychische, oder gesammte menschliche Natur des Handelnden; da es aber für immer isolirt und durch kein innres Princip verbunden ist, so läst sich nicht, wie von der reinen Kunde, eine wissenschaftliche Uebersicht von demselben geben.«; und 1842-1848, Bd. 2, 4: »Das Seelenleben der Thiere bewegt sich nur in den beiden ersten Sphären [der Selbsterhaltung und des Selbstgefühls], als den Kreisen der Sinnlichkeit, und artet sich gleich der leiblichen Gestaltung und Stoffbildung auf den verschiedenen Stufen der Thierreiche verschieden, da es eben der allgemeine Begriff des Lebens mit sich bringt, sich in einer Mannichfaltigkeit von Formen zu verwirklichen.« 56 | Vgl. Burdach 1847, 622-623: »Er [der Mensch] hat keinen sichern Instinct, um gleich dem Thiere die giftige Pflanze ohne Erfahrung zu unterscheiden. Er hat keine so starken Kauorgane, um alle Nahrungsmittel unzubereitet genießen zu können; seine Zähne, Nägel und Glieder setzen ihn an und für sich noch nicht in den Stand, um sich gegen wilde Thiere zu vertheidigen, andere zu seiner Nahrung zu erlegen, und mancherlei pflanzliche Nahrungsmittel zu gewinnen; seine Haut ist durch keine Haarbedeckung gegen
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In Cabanis’ »Wissenschaft des Menschen« und Lamarcks »philosophischer Zoologie« wird Burdachs erneute Wendung nach Außen, die zur »Umwandlung der Naturgegenstände« in der Außenwelt führt, zu einer Logik äußerer Umstände, deren Gebrauch nicht nur das Äußere verändern, sondern auch zu physischen Modifikationen des Inneren führen kann.
die Witterung geschützt. Er muß, um diesen Bedürfnissen abzuhelfen, vermöge seines Verstandes Erfindungen machen, und mit seinen Organen etwas bilden, was die Organe ersetzen oder vervollständigen oder erleichtern kann, das heißt: Werkzeuge schaffen, durch Umwandlung der Naturgegenstände Dinge hervorbringen, die nicht selbst Zweck, sondern Mittel zu weiteren Zwecken sind. So schafft er sich Wohnung, Bekleidung, Waffen und Geräthe nicht durch Kunsttrieb, nicht nach einem gleichförmigen Modell, wie die Individuen einer Thiergattung, sondern überall in verschiedener Weise. Denn sein Interesse an allen Naturerscheinungen hält den Forschungstrieb rege, und dieser führt ihn zu immer neuen Erfahrungen, die er weiter benutzt, indem seine schaffende Phantasie Combinationen von Mitteln erfindet. Und so ist denn auch sein Fortschreiten im Erkennen und Vermögen unermeßlich, indeß der eigenmächtig gewordene, vom Leitseile des Instincts sich befreiende Verstand zugleich auch mehr Gefahr läuft, dem Irrthume zur Beute zu werden.«
VIII. Der Gebrauch des Lebens Cabanis und Lamarck
In Georges Cabanis’ »Wissenschaft des Menschen« und Lamarcks »zoologischer Philosophie« geht es um die Existenzform eines organischen Agenten, dessen Innen- und Außenwelt-Verhältnis nicht nur durch seine innere Organisation bestimmt, sondern auch durch den »Gebrauch« (usage) verändert wird, den er von »äußeren Umständen« (circonstances extérieures) macht. Die verschiedenen Ausprägungen und Dimensionen dieser Veränderungen hängen grundsätzlich vom jeweiligen Organisationssystem ab und umfassen individuelle, vom Fötus bis zum adulten Körper reichende Entwicklungen, Gewohnheiten, Pathologien und erworbene Eigenschaften, die an nachfolgende Generationen weitergegeben werden. Während Cuviers vergleichende Anatomie auf einer notwendigen Harmonie zwischen inneren und äußeren Existenzbedingungen beruht, sind es Entwürfe diätetischer Regime, die, wie bereits in Hufelands Makrobiotik oder die Kunst das menschliche Leben zu verlängern (1796) deutlich wurde, die Bedeutung des Gebrauchs der »äußeren Umstände« und die modifizierende Wirkung dieses »Gebrauchs« auf »normale« und »anormale Zustände« hervorheben. In The History of Health, and the Art of Preserving it (1758) hatte James Mackenzie die »Kunst, Gesundheit zu erhalten«, auf den »rechten Gebrauch und die rechte Regulation« (proper use and regulation) der äußeren Umstände zurückgeführt, die er gemäß Galen in sex res non naturales unterteilte.1 Im ersten Band des Systems der practischen Heilkunde (1800) unterscheidet Hufeland entsprechend zwischen den »zwey Hauptzwecken des Lebens«, die in der »Selbsterhaltung« und dem »Gebrauch des Lebens« bestehen.2 Genau in dem 1 | Vgl. Mackenzie 1759, 3-5. 2 | Vgl. Hufeland 1800-1805, Bd. 1, 50-51: »Gesundheit des Lebenden existirt, wenn entweder der einzelne Theil für sich, oder das organische Ganze aller Theile so beschaffen ist und so lebt, dass dadurch die Erreichung der zwey Hauptzwecke des Lebens, Selbsterhaltung und Gebrauch des Lebens, vollkommen erreicht werden.«
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Raum, der sich durch diese Unterscheidung öffnet – nämlich der auf Existenzbedingungen beruhenden Selbsterhaltung und dem auf Umstände bezogenen Gebrauch des Lebens – entfaltet sich das diskursive Potential von Cabanis’ »Wissenschaft des Menschen« und Lamarcks »zoologischer Philosophie«. Cabanis’ und Lamarcks lebende Individuen sind »Umstandswesen« (êtres des circonstances), deren Existenz bestimmten »Zuständen« entspricht, die sich zwischen Innen- und Außenwelten einstellen. Ihre Ordnungsformen werden durch diese »Umstände«, unter denen Existenzbedingungen besondere, ihre »Lebensfähigkeit« ermöglichende Konstellationen darstellen, hervorgebracht und verändert. Damit verschieben Cabanis und Lamarck den negativen Aspekt der circonstances, den sie innerhalb des Theodizee-Diskurses als Ursachen der Sünden hatten und der in Jean Domats Rechtssystem als Abweichung in die Logik des Verbrechens überging, in ein Feld produktiver Prozesse, ohne ihre modifikatorischen und destruktiven Wirkungen auszublenden.3 »Umstände« erzeugen, variieren und vernichten. Ihr dreischichtiges Wirkpotential folgt nicht einer Ontologie von Substanz und Akzidenz, sondern einer Zustandsund Prozesslogik der Transformation.
1. C ABANIS ’ W ISSENSCHAF T DES M ENSCHEN Im Umfeld französischer Ideologen wandelt Cabanis, der nach einem Medizinstudium ab 1795 am Institut de France in Paris unterrichtet, den Cartesischen Dualismus zwischen res cogitans und res extensa in die »Perspektiven« eines einzigen »Wesens« (être) um, das als »organisierter« und »individueller Körper« den »Umständen« (circonstances) gemäß existiert.4 Ähnlich wie Paul Thiry d’Holbachs Système de la nature (1770), ist Cabanis’ Rapports du physique et
3 | Vgl. Domat 1701, Bd. 2, 205: »Ainsi, on considère hors de la personne le temps, le lieu, & les autres circonstances extérieures, où le crime a été commis, & ces deux sortes de circonstances, ou dans la personne, ou au-dehors, ont cela de commun, qu’elles font connoître la disposition où a été le criminel, par les vuës qu’il doit avoir, & des circonstances où il s’est trouvé.« 4 | Cabanis besuchte den Salon von Madame Helvétius. Zum Umfeld französischer Ideologen siehe Guillois 1894; Moravia 1964, 1966 und 1974; und Blanckaert 2010. Moravia (1974, 63-74), Staum (1980, 185-187), Richards (1982), Szyfman (1982, 4244) und Baertschi (2005) gehen auch auf den Einfluss von Diderot, Erasmus Darwin und Lamarck auf Cabanis’ Ansatz ein. Für bio- und bibliographische Angaben über Cabanis sowie Werksinterpretationen siehe Peisse 1844; Schiff 1886; Poyer [1910]; Staum 1980; Role 1994; Besançon 1997, 9-34; und Cipollini 1998, 13-18.
VIII. Der Gebrauch des Lebens
du moral de l’homme (1802)5 ein Traktat der »Verhältnisse« (rapports) zwischen »ideologischen« und »physiologischen Zuständen« (états idéologiques, physiologiques), die Teil eines übergeordneten »lebendigen« Prozessgefüges sind, das zwischen »Zuständen« von »inneren Organisationen« und »Umständen« von »Außenwelten« (mondes extérieurs) vermittelt und »innere Akte« (actes intérieures) mit »äußeren Akten« (actes extérieurs) koordiniert.6 Gegen Modelle innerer Statuen gerichtet, die, etwa bei Locke und Condillac, Reize eher passiv zum »Denkorgan« weiterleiten, legt Cabanis seiner Statue Kooperations-Modelle zwischen Lebens-erhaltenden und »intellektuellen Operationen« zugrunde, für die er an die sogenannten »Semianimisten« (zu denen Robert Whytt und Boerhaaves Schüler Jerome Gaub und Antoine Lecamus zählen), Lamettries homme-machine und dem Sensibilitäts-Diskurs der Montpellierschen Schule anschließt.7 In Cabanis’ Prozessgefüge beruhen die Wechselwirkungen zwischen »ideologischen« und »physiologischen Zuständen« auf einer »physischen Sensibilität«, die als aktive Instanz zugleich für die Vermittlung des »Verhältnisses« zwischen Innen- und »Außenwelten« zuständig ist.8 Dieses Gefüge verbindet Cabanis mit Temperamentenlehren, die für 5 | Für die erste Auflage wählte Cabanis noch den Titel: Traité du physique et du moral de l’homme. Destutt de Tracy hat für die zweite Auflage der Rapports (1805) einen längeren Table analytique geschrieben, den nachfolgende Auflagen übernehmen. Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 457-523. 6 | Vgl. Holbach 1770, Bd. 1, 2: »On a visiblement abusé de la distinction que l’on a fait si souvent de l’homme physique et de l’homme moral. L’homme est un être purement physique; l’homme moral n’est que cet être physique consideré sous un certain point de vue, c’est-à-dire, relativement a quelques-unes de ses façons d’agir dues a son organisation particulière.«; ibid., 80: »[…] l’homme est un tout organisé composé de différentes matieres; de même que toutes les autres productions de la nature il suit des loix généraux & connues ainsi que des loix ou des façons d’agir qui lui sont particulières & inconnues.«; Cabanis 1823-1825, Bd. 3, 8; ibid., 66-67; und Bd. 4, 273 und 339. 7 | Vgl. Lecamus 1753, Bd. 1, Préface, vii-viii: »Après avoir attentivement réfléchi sur les Causes Physiques, qui modifiant différement les corps, varioient aussi les dispositions des esprits, j’ai été convaincu qu’en employant ces différentes causes, ou en imitant avec art leur pouvoir, on parviendroit à corriger par des moyens purement méchaniques, les vices de l’entendement & de la volonté.«; Cabanis 1823-1825, Bd. 1, 144; und ibid., 276. Für Beziehungen zwischen Cabanis, Gaub, Lecamus und Lamettrie siehe Joussain 1958, 386-388; Rather 1965; Vartanian 1976; und Staum 1980, 58-63. Für Cabanis’ Verhältnis zur Montpellierschen Schule siehe Staum 1978. 8 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 3, 8: »[…] le moraliste et le médecin marchent tou jours encore sur la même ligne. Celui-ci n’ac quiert la connaissance complète de l’homme phy sique, qu’en le considérant dans tous les états par lesquels peuvent le faire passer l’action des corps extérieurs, et les modifications de sa propre fa culté de sentir: celui-
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ihn, ähnlich wie bei Gaub, Lecamus und Maine de Biran9, »Aktions«-Dispositive von »Lebensweisen« (genres de vie) darstellen, die durch besondere »Außenwelt«-Bezüge »Modifikationen« innerer Organisationen herbeiführen können. Resultante von Cabanis’ Ansatz ist eine »Wissenschaft des Menschen« (science de l’homme) oder eine »Anthropologie« (anthropologie), deren methodischer Ausgangspunkt das »tierische Leben« ist. In den Rapports wird der »ideologische Zustand« des Menschen, der ihn als moralisches und wissendes Subjekt unter »sozialen Umständen« (circonstances sociales)10 kennzeichnet, durch eine im Fötus beginnende »Geschichte« des »physiologischen Zustands« seiner »Tierheit« (animalité) erklärt.11 Es ist diese »Geschichte« – und nicht eine umfassende Geschichte der Menschheit, die Herders Ideen (1784-1791) bestimmt –, die als »Marsch« (marche) der Natur im Zentrum der Rapports steht.12
là se fait des idées d’autant plus étendues et plus justes de l’homme moral, qu’il l’a suivi plus attentivement dans toutes les circonstances où le placent les chances de la vie, les événements de l’état social, les divers gouvernements, les lois, et la somme des erreurs, ou des vérités répandues autour de lui.«; und ibid., 66-67: »La sensibilité physique est le dernier terme auquel on arrive dans l’étude des phénomènes de la vie, et dans la recherche méthodique de leur véritable enchaînement: c’est aussi le dernier résultat, ou, suivant la manière commune de parler, le principe le plus général que fournit l’analyse des facultés intellectuelles et des affec tions de l’âme. Ainsi donc, le physique et le mo ral se confondent à leur source; ou pour mieux dire, le moral n’est que le physique considéré sous certains points de vue plus particuliers.« Zum Kontext des Problemfelds psycho-physischer Wechselwirkungen und physiologisch ausgerichtete Perzeptionsmodelle siehe Figlio 1975 und Baertschi 1992. 9 | Vgl. Maine de Biran 1803; und Staum 1980, 259-265. 10 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 171. 11 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 3, 39-40: »Permettez donc, citoyens, que je vous entre tienne aujourd’hui des rapports de l’étude phy sique de l’homme avec celle des procédés de son intelligence; de ceux du développement systématique de ses organes avec le développement analogue de ses sentiments et de ses passions: rapports d’où il résulte clairement que la physio logie, l’analyse des idées et la morale, ne sont que les trois branches d’une seule et même science, qui peut s’appeler, à juste titre, la science de l’homme.«; und ibid., 92-94. In einer Fußnote bemerkt Cabanis (ibid., 40, Fußnote 1) über die »Wissenschaft des Menschen«: »C’est ce que les Allemands appellent l’anthropologie; et sous ce titre ils comprennent en effet les trois objets prin cipaux dont nous parlons.« 12 | Für Modelle der Entwicklung des fötalen Lebens, die von Aristoteles’ De Generatione Animalium über Lockes Essay on Human Understanding (1690) bis zu Ersamus Darwins Zoonomia (1794-1796) und Cabanis Rapports reichen siehe Duden & Schlumbohm 2002 und Guichet 2010.
VIII. Der Gebrauch des Lebens
1.1 Lebende »Kombinationen« Cabanis geht davon aus, dass sich alle »Erscheinungen des Universums« durch »Eigenschaften der Materie« erklären lassen, doch kommt es ihm nicht auf konstitutive Prinzipien einer Kosmologie, sondern auf die »Bedingungen (conditions)« und die »Umstände des Lebens« (circonstances de la vie) an.13 Seiner Einschätzung nach könnte es in naher Zukunft möglich werden, die Veränderungen zu bestimmen, die Materie durchläuft, wenn sie von einem »anorganischen Zustand« in einen »vegetativen Organisationzustand« und vom »Leben« einer Pflanze zum »Leben« höherer Tiere übergeht.14 Das grundlegende Modell der »Transformationen«, die zum Lebendigen führen, beruht für Cabanis auf dem Übergang chemischer »Affinitäten«, durch die »Moleküle« in komplexen »Kombinationen« (combinaisons) aufeinander reagieren, in die Reiz-Reaktions-Schemen und »Zustands«-Formen lebendiger, »organisierter Körper«. Dabei liegt die Besonderheit der »Kombinationen« der »ersten Bildungen« in ihrer »Tendenz, sich zu ko-organisieren« (tendance à se co-organiser).15 Diese Tendenz beruht auf einem sich selbst verstärkenden Prozess »reziproker chemischer Reaktionen« (actions chimiques réciproques).16 Das Entstehen »starker Affinitäten gegenseitiger Ko-organisation« (affinités puissantes de coorganisation mutuelle), die »lebensfähig« (douées de vie) sind, hängt zugleich von einem komplexen »Zusammenspiel von Umständen« (concours des circonstances) ab, die sich sowohl im Inneren als auch im Äußeren zwischen verschiedenen Stoffen einstellen.17 Der »aktuelle Wissensstand« erlaubt es für Cabanis allerdings nicht, die spezifischen »vitalen« Eigenschaften der »Organisationen« lebendiger Körper aus »mechanischen, physischen oder chemischen Hypothesen« abzuleiten.18 13 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 161. 14 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 242-243. 15 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 238, 318 und 328-330. 16 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 258-260 und 330. 17 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 11, 27 (Fußnote 1), 54, 76, 328-330 und 348. 18 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 281-282. Wie Lamettrie und Diderot hält es Cabanis für möglich, dass die »Sensibilität«, neben der »Attraktion«, ein der Materie innewohnendes primäres Prinzip ist. Vgl. Lamettrie, Traité de l’âme (1745), in Œuvres 1987, 141: »[…] nous ignorons si la matière a en soi la faculté immédiate de sentir, ou seulement la puissance de l’acquérir par les modifications, ou par les formes dont elle est susceptible; car il est vrai que cette faculté ne se montre que dans les corps organisés.«; Cabanis 1823-1825, Bd. 1, 446-448; Bd. 4, 253, Fußnote 1: »Tous les phénomènes de l’univers ont été, sont, et se ront toujours la conséquence des propriétés de la matière, ou des lois qui régissent tous les êtres; c’est par ces propriétés et par ces lois que la cause première se manifeste à nous: aussi Vanhelmont les appelait-il, dans
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Cabanis’ Szenario einer Naturgeschichte des »Lebens« beginnt mit einer Referenz zu Torbern Bergmans Disquisitio de Attractionibus Electivis (1775). Cabanis interpretiert das Austausch- oder Substitutionsprinzip, das Bergmans »mutuellen« und »elektiven Affinitäten« (affinités mutuelles, électives) zugrunde liegt, als chemische »Wahl« (choix)-Eigenschaft, die, ohne auf Newtons Attraktion zwischen großen Materiemassen reduzierbar zu sein, aus der »Qualität« von Teilen und ihren »Kombinationen« in »Zusammensetzungen« hervorgeht und durch bestimmte »äußere Umstände« – etwa »Hitze« – modifiziert werden kann: »[…] entre les substances qui jouissent d’une action chimique réciproque, l’attraction ne s’exerce plus au hasard; les molécules de la matière se re cherchent, se rapprochent, se mêlent avec une avidité très-inégale; les combinaisons déjà faites peuvent subir une désunion de leurs principes par la présence de différentes substances nou velles vers qui l’un d’eux se trouve plus forte ment entraîné; il peut même s’opérer alors entre deux ou plusieurs combinaisons, mises dans les rapports et dans la situation convenables, un tel échange de principes, que d’autres combinaisons entièrement étrangères à celles qui se détruisent, soient à l’instant même formées de leurs débris. Ici, l’attraction ne paraît plus une force aveugle, indifférente dans les tendances qu’elle affecte; elle commence à manifester une sorte de volonté; elle fait des choix; et voilà pourquoi, considérée dans cet ordre d’effets particuliers, elle a reçu d’un habile chimiste le nom attraction élective.«19 son style poétique, l’ordre de Dieu.«; ibid., 265-266: »Est-ce, par la sensibilité qu’on expliquera les autres attractions, ou par la gravitation qu’on expliquera la sensibilité et les tendances intermédiaires entre ces deux termes? Voilà ce que, dans l’état présent de nos connaissances, il nous est impossible de prévoir.«; und Cabanis 1824. Für vitalistische und spiritualistische Tendenzen in Cabanis’ Schriften siehe Joussain 1958; Staum 1974, 137-139; und Vartanian 1976. 19 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 260. Cabanis erwähnt Bergmann an dieser Stelle nicht namentlich. Vgl. ibid., 262: »La tendance des principes est une suite des lois générales de la matière: leur attraction élec tive ou leur disposition à se combiner avec pré férence réciproque, est une suite des caractères qu’elle a contractés dans ses transformations antérieures, et des circonstances dans lesquelles ses molécules ont été entraînées les unes vers les au tres: enfin, les propriétés nouvelles que la combinaison développe résultent de l’ordre et de la disposition dans lesquels les principes se réunissent et s’arrangent; en d’autres termes, elles résultent de l’organisation.«; ibid., 287: »Nous avons dit plus haut que les circonstances d’où l’organisation résulte forcent les matériaux qui doivent former les parties à s’unir suivant certaines lois d’affinités. Or, ces lois se rapportent à chaque ordre de circonstances; et du moment que la matière est organisée, des affinités nou velles y produisent une nouvelle série de mou vements.«; und ibid., 328: »Les matières vivantes ont une affinité mutuelle d’autant plus forte,
VIII. Der Gebrauch des Lebens
Nach Experimenten, die unter anderem Jean-Baptiste Fray durchgeführt hat, um aus unorganischen Substanzen »Zusammensetzungen« mit gänzlich neuen (organischen) Eigenschaften zu produzieren, hält es Cabanis für »notwendig, einzugestehen, dass unbelebte Materie mittels bestimmter Umstände (moyennant certaines conditions) fähig ist, sich zu organisieren, zu leben«20: »Enfin, nous n’éprouverions plus aujourd’hui peut-être, aucun étonnement, si les expériences finissaient par prouver qu’il suffit que des portions de ma tière, dans un certain état déterminé, se rencon trent et se pénètrent, pour produire des êtres vivants, doués de certaines propriétés particu lières: comme il suffit qu’un acide et une base alkaline ou terreuse soient mis en contact dans un état favorable à leur combinaison, pour qu’il en résulte un nouveau produit chimique dont la cristallisation suit des lois constantes, et dont les qualités n’ont plus aucun rapport avec celles de ses éléments.« 21
Mit seinem Affinitäts-Modell interveniert Cabanis in Präformations- und Epigenesis-Debatten zugunsten einer »direkten Zeugung« (génération directe) einfachster Pflanzenkörper aus unbelebtem, »mineralischen« Material.22 »Animalkulen« (animalcules) gehen für ihn aus pflanzlichen Stoffgemischen elles tendent à se coorganiser d’une manière d’autant plus directe, qu’elles sont déjà plus complètement animalisées.« In seiner Rezension von Claude Louis Berthollets Essai de statique chimique (1803) kritisiert Cabanis an dessen Ansatz die unscharfe Abgrenzung von Newtons »Attraktion« gegenüber der »Affinität« zwischen chemischen Zusammensetzungen. Vgl. Cabanis 1803, 14-15; und Staum 1980, 180-182. Zum Kontext der Affinitätsdebatten um 1800 siehe Klein 1994 und Kim 2003. 20 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 239. 21 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 243-244. Staum (1980, 184-185) geht näher auf den Einfluss von Frays Experimenten auf Cabanis ein. Cabanis erhielt von Fray 1804 ein Manuskript mit dem Titel Essai sur l’origine des substances organisées et inorganisées, das 1817 in Buchform erschien. Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 317: »Nous avons vu que les éléments ou les maté riaux dont les substances animales se composent, ne sont eux-mêmes que des combinaisons parti culières produites par la tendance continuelle de toutes les parties de la matière les unes vers les autres. Nous avons vu, par suite, que l’organisation résulte des tendances nouvelles que ces matériaux acquièrent en se formant; et qu’à mesure que les combinaisons se multiplient, ils suivent d’autres lois d’arrangement, ils acquièrent d’autres pro priétés; enfin, qu’il se manifeste d’autres affinités particulières, d’où naissent, à leur tour, de nou velles séries de phénomènes qui paraissent n’avoir plus aucun rapport avec ceux des combinaisons élémentaires antérieures. C’est ainsi que la ten dance vive de l’acide nitrique vers la potasse ne se montre ni dans l’azote, ni dans l’oxygène, et que les propriétés des différents éthers n’existent ni dans l’alcool, ni dans leurs acides respectifs.« 22 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 5, 68-71.
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hervor. Weiterhin kann es zu »zufälligen Erzeugungen« (génération fortuites) neuer Ordnungsformen aus degenerierten tierischen Zusammensetzungen kommen.23 Alle diese »Zeugungen« hängen von verschiedenen »Umständen« ab und sind Teil der »ununterbrochenen Transmutationen« (transmutations non interrompues) der »Erdzustände« (états de terre).24 Aus den »Transmutationen« resultiert ein »Marsch des Universums« und der Natur, der, je nach »Umstands«-Konstellation und im Rahmen vorhandener Stoffgemische, alle möglichen »Entwürfe« (ébauches), »Veränderungen« und »Zwischenstufen (échelons intermédiaires)« lebendiger Körper durchläuft und die »Reiche« der Mineralien, Pflanzen und Tiere in einem kontinuierlichen Feld ineinander übergehender Ordnungen miteinander verbindet.25 Welche aktuell existierenden und »möglichen Arten« (espèces possibles)26, neben denen der Animalkulen und einfachen Pflanzen, unmittelbar aus den ersten »Entwürfen« unbelebter Materie hervorgegangen sind und noch hervorgehen werden, lässt Cabanis offen. Sicher ist für ihn nur, dass Tiere und Pflanzen höherer Ordnungen sowie alle »Individuen der menschlichen Rasse« nicht mehr »unter unseren Augen« durch eine »direkte Organisation aus inerter Materie« entstehen. 27 23 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 237-256. Für Cabanis’ Kritik von »Keim«-Theorien siehe ibid., 242: »Je n’entreprendrai point, au reste, de déterminer si ces générations ont lieu spontané ment, ou par le moyen des germes. On peut ob server seulement que les personnes qui veulent que, sans germe, il ne puisse y avoir de généra tion, doivent, en même temps, établir que ceux de toutes les espèces possibles sont répandus partout dans la nature, attendant les circonstances propres à les développer: ce qui n’est, au fond, qu’une autre manière de dire que toutes les par ties de la matière sont susceptibles de tous les modes d’organisation. Mais pourquoi jugerions-nous nécessaire d’ad mettre l’existence de prétendus corpuscules qu’on ne peut ni saisir, ni rendre sensibles? Pourquoi regarderions-nous comme l’explication du phé nomène le plus important de la nature ce mot si vague de germe, que les dernières expériences sur la végétation, et même sur la génération pro prement dite des animaux, rendent bien plus vague encore?« 24 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 244-246; und ibid., 254. 25 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 256-257. 26 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 242. 27 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, Bd. 4, 243, Fußnote 1; ibid., 247-248; und ibid., 246-247: »Demanderait-on si l’homme et les grands ani maux, que nous ne voyons plus aujourd’hui se reproduire que par voie de génération, ont pu, dans l’origine, être formés de la même manière que des plantes à peine organisées et des ébau ches grossières d’animalcules? Nous l’ignorons absolument, et nous l’ignorerons toujours. Le genre humain n’a pu se procurer aucun renseignement exact touchant l’époque primitive de son existence: il ne lui est pas plus donné d’avoir des notions précises relativement aux circonstances de sa formation, qu’à chaque individu eu parti culier de conserver le
VIII. Der Gebrauch des Lebens
Analog zum Prozess der »Zeugung« stellt der »Tod« für Cabanis einen »Übergang« (passage) in einen Materiezustand dar, der sich vom »Zustand des Lebens« allein durch graduelle Veränderungen unterscheidet. Der »Zustand des Lebens« und der »Zustand des Todes« sind »natürliche Zustände« (états naturels) im Rahmen universeller »Transmutationen«, durch die es der »Natur«, im Gegensatz zur beschränkten Existenz »vergänglicher Wesen« (êtres périssables), möglich ist, in immerzu wiederkehrenden Zyklen »produktiv«, »fruchtbar« und »vielfältig« zu sein.28 Durch den »Übergang« inerter Materie in den »Zustand des Lebens« entsteht ein mit seiner »Außenwelt« wechselwirkender Innenraum, dessen Affinitäten den Reiz-Reaktions-Schemen einer »fühlenden« Existenz angehören. »Leben« in lebendigen Körpern vollzieht sich durch den Reiz-abhängigen »beständigen Gebrauch« (emploi régulier) einer Innen- und Außenräume verbindenen »Sensibilität«, deren allgemeiner Reaktions-»Modus« durch die »Organisation« physischer Teile festgelegt wird.29 Seine Fähigkeit, Innen- und Außenräume voneinander abzugrenzen und zugleich aufeinander zu beziehen, ermöglicht es einem organischen Körper, sich »selbst durch Gesetze zu leiten, die ihm eigen sind« (se régir par des lois qui lui sont propres). »Organisierte Körper« können sich daher bis zu einem gewissen Grad dem Einfluss der »Gesetze« entziehen, die alle anderen Körper bestimmen.30 Sie stellen jedoch keine besonderen ontologischen Entitäten, sondern physische »fühlende Kombinationen« (combinaisons sentantes)31 dar, die unter »günstigen Umständen« (circonstances convenables)32 durch »ko-organisierende« Affinitäten entstanden sind. Die aus diesen »fühlenden Kombinationen« (combinaisons sentantes)33 in »Ökonomien« höherer Tiere hervorgehenden Wechselwirkungen zwischen »äußeren« und »inneren Eindrücken« sind die »Quelle« (source) des Übergangs »physiologischer« in »ideologische Zustände«.34 Für Cabanis stellt die in der »philosophischen Sprache« oft vorgenommene Unterscheidung in »physisouvenir de celles de sa propre naissance; et il a bien fallu invoquer le secours d’une lumière surnaturelle pour persua der aux hommes ce qu’on devait croire à cet égard.« 28 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 1, 464; ibid., Bd. 4, 238-239; ibid., 244; ibid., 253; und ibid., Bd. 5, 67. 29 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 259. 30 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 258. 31 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 271. 32 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 238. Bei Cabanis findet sich auch des Öfteren des Ausdruck, dass »Umstände« die Bildung und den Erhalt einer Zusammensetzung »begünstigen« (favorisent). Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 328. 33 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 271. 34 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 3, 110: »Sujet à l’action de tous les corps de la nature, l’homme trouve à la fois dans les impressions qu’ils font sur ses organes la
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sche« und »moralische Fähigkeiten« nur eine Differenz zweier »Perspektiven« (points de vue) dar, die auf ein und demselben »Leben« beruhen.35 Die »Transformationen«, die von »fühlenden Kombinationen« zum homme connaissant führen, beginnen in den Rapports nicht mit einer Rekonstruktion der Stufenfolgen verschiedener Ordnungsformen der série animale, sondern mit der »Geschichte« der »Entwicklung« der Innenwelt des menschlichen »Fötus«.
1.2 Das Entstehen organischer Innenwelten Das Aktiv-werden der Sinnesorgane und das Reflexiv-werden des sinnlich Gegebenen in höheren Tieren – etwa die Zuordnung von Geruch und visueller Erscheinung – ist, ähnlich wie in Erasmus Darwins Zoonomia (1794-1796), für Cabanis die Folge eines »Lebens«, das mit der Innenwelt des Fötus beginnt.36 Wenn die Bildung von »Reaktionszentren« (centres de réaction) oder »Reaktionsherden« ( foyers de réaction)37 im Fötus einen bestimmten Komplexitätsgrad erreicht hat, setzt die »physiologische Geschichte« (histoire physiologi-
source de ses con naissances, et les causes mêmes qui le font vivre; car vivre, c’est sentir: […]« 35 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 3, 67 und 367. 36 | Vgl. Darwin 1818, Bd. 1, 393: »All animals, therefore, I contend, have a similar cause of their organization, originating from a single living filament, endued, indeed, with different kinds of irritabilities and sensibilities, or of animal appenticies; which exist in every gland, and in every moving organ of the body, and are as essential to living organization as chemical affinities are to certain combinations of inanimate matter. If I might be indulged to make a simile in a philosophical work, I should say, that the animal appetencies, are not only perhaps less numerous originally than the chemical affinities; but that like these latter, they change with every new combination; thus vital air and azote, when combined, produce nitrous acid; which now acquires the property of dissolving silver; so with every new additional part of the embryon, as of the throat or lungs, I suppose a new animal appetency to be produced. In this early formation of the embryon from the irritabilities, sensibilities, and associabilities, and consequent appetencies, the faculty of volition can scarcely be supposed to have had its birth. For about what can the fetus deliberate when it has no choice of objects? But in the more advanced state of the fetus, it evidently possesses volition […]«; und Dushane 2008, 35-39. »Sensibilität« ist für Darwin (1818, Bd. 1, 388) ein »Effekt« (effect) und eine »Ausdehnung« (extension) der »Irritabilität« verschiedener Organe in komplex organisierten Körpern. 37 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 306 und 410.
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que)38 der Sensationen der Sinnesorgane ein.39 Diese Entwicklung »physischer Sensibilität« ist Ausgangspunkt einer »Anthropologie«, die ihrerseits Grundlage jeder auf »Bewusstseins«-Akte zentrierten Philosophie ist. Cabanis kritisiert in diesem Zusammenhang Condillacs und Bonnets Modelle innerer Statuen, in denen die »physiologische Geschichte« des »ideologischen Zustands« erst mit der sukzessiven Aktivierung der fünf Sinnesorgane einsetzt, ohne die »Entwicklung« eines organischen »Systems« von »Reaktionszentren« zu berücksichtigen, in das die Aktivität der Sinnesorgane eingebettet ist.40 Cabanis leitet das Distinkt-werden des Innen-Außenwelt-Verhältnisses aus einer embryonalen Innenwelt ab, deren »Leben« noch keine »wahrgenommenen Sensationen oder Eindrücke« (sensations ou impressions perçues)41 einschließt. Durch die »Geschichte« des Übergangs des Fötus in eine neue Außenwelt außerhalb des Mutterkörpers kann er den »ideologischen Zustand« des Menschen von dessen »physiologischen Zustand« abgrenzen und zugleich beide »Zustände« als Entwicklungsprozesse aufeinander beziehen. Am Anfang dieser Doppelbewegung steht die »primitive Organisation« (organisation primitive)42 des Fötus und ein Reiz-Reaktions-Dispositiv, das Cabanis als »primitiven Instinkt« (instinct primitif )43 bezeichnet. »Primitive Organisation« und 38 | Cabanis 1823-1825, Bd. 3, 101. 39 | Zur Funktionsweise der Sinnesorgane siehe Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 469. 40 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 304-305: »Pour achever d’écarter les nuages, il me reste quelques observations à faire sur les belles analyses de Buffon, de Bonnet et de Condillac, ou plutôt sur une certaine fausse direction qu’elles pourraient faire prendre à l’idéologie, et […] sur les obstacles qu’elles sont peut-être capables d’opposer à ses progrès. Rien, sans doute, ne ressemble moins à l’homme, tel qu’il est en effet, que ces statues qu’on sup pose douées tout à coup de la faculté d’éprouver distinctement les impressions attribuées à chaque sens en particulier; qui portent sur elles des jugements, et forment en conséquence des déter minations. Comment ces diverses opérations pourraient-elles s’exécuter, sans que les organes dont l’action spéciale ou le concours est indispensable à la production de l’acte sensitif le plus simple, de la combinaison intellectuelle et du désir le plus vague, se soient développés par degrés; sans que déjà, par cette suite de mouvements que la vie naissante leur imprime, ils aient acquis l’es pèce d’instruction progressive qui seule les met en état de remplir leurs fonctions propres, et d’associer leurs efforts, en les dirigeant vers le but commun?«; und ibid., 311-314. Zum Verhältnis von Condillac und Cabanis siehe Cipollini 1998, 39-46. 41 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 303. 42 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 304. 43 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 305. Zu Cabanis’ Instinktbegriff siehe Cabanis 18231825, Bd. 3, 146-147: »Je me sers ici du mot instinct, non que je regarde comme suffisamment déterminée l’idée qu’on y attache dans le langage vulgaire; je crois même indispensable de traiter ce sujet plus à fond, et je me propose d’y revenir dans
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»primitiver Instinkt« stellen die notwendigen Bedingungen dar, damit sich »Leben« in Tieren manifestiert.44 Zwischen instinktiven Reiz-Reaktions-Schemen und »Bewusstseins«-Akten vermittelt die »Geschichte« des »Aktionsprinzips« (principe d’action) »physischer Sensibilität«.45 Es entsteht durch die chemischen »Wahleigenschaften« (propriétés d’élection)46 der ersten »fühlenden Kombinationen«, die allmählich ihre Aktions-»Sphären« (sphère) erweitern.47 »Fühlende Kombinationen« agieren wie »Gravitationszentren«, die über eine »Disposition« verfügen, unter
un Mémoire particulier: mais le mot existe; il est, ou son équi valent, usité dans toutes les langues; et les observations précédentes combattant une opinion qui tend à le faire regarder comme vide de sens, ou comme représentatif d’une idée vague et fausse, il était impossible de lui substituer un autre mot, qui nécessairement aurait eu l’air de dénaturer la question. J’observe d’ailleurs qu’il semble avoir été fait exactement dans l’esprit du sens rigoureux que je lui donne: en effet, il est formé des deux radicaux in ou ȑȞ, dans, dedans, et ıIJȓȗİȚȞ, verbe grec, qui veut dire piquer, aiguillonner. L’instinct est donc, suivant la signification étymo logique, le produit des excitations dont les stimulus s’appliquent à l’intérieur; c’est-à-dire juste ment suivant la signification que nous lui donnons ici, le résultat des impressions reçues par les or ganes internes.« 44 | Vgl. Destutt de Tracy in Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 502. 45 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 3, Préface, 13. 46 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 260. 47 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 260-261: »[…] entre les substances qui jouissent d’une action chimique réciproque, l’attraction ne s’exerce plus au hasard; les molécules de la matière se re cherchent, se rapprochent, se mêlent avec une avidité très-inégale; […] Si, nous élevant par degrés d’un ordre de phénomènes à l’autre, nous suivons l’attraction dans les affinités végétale, nous la trouvons jouis sant d’une propriété d’élection bien plus étendue, et, si je puis m’exprimer ainsi, d’une sagacité d’instinct bien plus éclairée. Dans les affinités animales, la sphère de sa puissance s’agrandit encore: ses choix deviennent plus fins, plus va riables, plus sages, ou quelquefois plus capri cieux.«; ibid., 264-265; und ibid., 326-327: »Par une loi générale et qui ne souffre aucune exception, les parties de la matière tendent les unes vers les autres. A mesure que ces parties, supposées d’abord le plus simple et le plus élé mentaires, viennent à se rapprocher, à se confon dre, à se combiner, elles acquièrent de nouvelles tendances. Mais ces dérnièrés attractions ne s’exer cent plus au hasard: c’est dès lors avec choix que les corps se recherchent, c’est avec préférence qu’ils s’unissent; et plus les combinaisons s’éloi gnent de la simplicité de l’élément, plus aussi, pour l’ordinaire, elles offrent, dans leurs nouvelles affinités, de ce caractère d’élection dont les lois paraissent constituer l’ordre fondamental de l’u nivers.«
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den umgebenden Teilen diejenigen »auszuwählen« (choisir), die ihrer Ordnung entsprechen.48 Durch die Differenzierung »partieller«, aber zusammenhängender »Reaktionsfoyers« ( foyers partiels de réaction)49 ist es »organisierten Körpern« möglich, auf wiederholte Reiz-Serien »einfacher« und zugleich abgestimmt auf das ganze Reaktionsgefüge des »Systems« der »tierischen Ökonomie« zu reagieren. »Reaktionsfoyers«, deren physische Einheit aus einem einzelnen »Organ« oder mehreren miteinander vebundenen »Organen« bestehen kann, erhalten von »fühlenden Enden« (extrémités sentantes) »Eindrücke«, die sich in ihnen wie in einem »zentralen Punkt« (point central) sammeln und auf die sie durch Reiz-»analoge« und »nachfolgende Bestimmungen« (déterminations analogues et subséquentes) reagieren, indem sie alle die Teile in Bewegung setzen, die unter ihre »Aktivitätssphäre« (sphère d’activité) fallen. Die zusammenhängenden reaktiven Bewegungs-»Bestimmungen« eines »Organs« repräsentieren ein »Aktions«-Dispositiv, das im Verbund mit allen »Organen« eine bestimmte »Rolle« oder »Funktion« übernimmt.50 Cabanis koppelt die »Komplexität« der in »Funktionen« differenzierten organisierten Körper an die Fragilität ihres »Lebenszustands«. Die Tendenz von »Kombinationen«, zu zerfallen, verstärkt sich, je »komplizierter und variierter« ihre Affinitäts-Verhältnisse, ihre »De-« und »Rekompositions«-Prozesse und die systemischen Abhängigkeiten unter ihren Teilen werden.51 48 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 261-262; und ibid., 262: »Nous disons qu’il se forme alors un centre de gravité, que l’attraction qui s’y exerce choisit parmi les principes environnants ceux qui sont analogues à ce noyau, qu’elle détermine immédiatement les lois de cette première réunion, et devient la cause médiate d’une suite de phénomènes ultérieurs, propres à chaque circonstance; car ces phénomènes naissent et se développent en conformité du phénomène primitif.« 49 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 305 und 410. 50 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 119; ibid., 318; und ibid., 399: »Les organes ne sont susceptibles d’entrer en action, et d’exécuter certains mouvements, qu’en tant qu’ils sont doués de vie, ou sensibles: c’est la sensibilité qui les anime; c’est en vertu de ses lois qu’ils reçoivent des impressions, et qu’ils sont déterminés à se mouvoir. Les impressions reçues par leurs extrémités sentantes sont trans mises au centre de réaction; et ce centre, par tiel ou général, renvoie à l’organe qui lui corres pond les déterminations dont l’ensemble consti tue les fonctions propres de cet organe.«; und ibid., 405: »Nous avons reconnu, dans les Mémoires précé dents, qu’une suite d’impressions reçues, et de réactions opérées par les différents centres sensitifs, sollicitent les organes, et déterminent les opéra tions propres à chacun de ces derniers.« 51 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 263: »Quand on coupe un polype en morceaux, la tête peut reproduire l’estomac et ses extrémités, les extrémités reproduire l’estomac et la tête, et ainsi de toutes les autres parties: il n’en est aucune qui, du moment qu’elle se
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Der sich entwickelnde Fötus verfügt über eine »Eindrücke« verarbeitende Innenwelt, die zur »Organisation« passende und unpassende »Eindrücke« (die später als »angenehme« und »unangenehme Eindrücke« wahrgenommen werden52) unterscheiden und »Präferenzen« ausbilden kann. Durch Habitualisierungen von »Serien von Eindrücken und Bewegungen« 53 etablieren sich im Fötus »automatische Operationen« (opérations automatiques), die zu einer anwachsenden »Komplexität« der »primitiven Organisation« und zu einer »sukzessiven« Differenzierung des »primitiven« Reiz-Reaktions-Schemas in neue »Reaktionsfoyers« und »Organe« führen.54 Des Weiteren entsteht zwischen trouve séparée de l’animal, ne soit capable de le reproduire tout entier, avec la somme de vie et l’ensemble des propriétés qui le caractérisent.«; ibid., 266-267: »J’observerai seulement que plus les phéno mènes quelconques d’attraction sont simples et bornés, plus aussi la combinaison dans laquelle ils ont lieu demeure fixe; que plus, au contraire, les phénomènes et la combinaison elle-même sont compliqués et variés, plus cette dernière est fugi tive ou facile à être détruite. Il est aisé de voir que cette règle s’applique très-directement aux grandes masses de la matière, dont l’état ne peut changer que par le bouleversement de notre uni vers.«, und ibid., 268-269: »J’ajouterai que les animaux tout à la fois les plus vivaces et les plus imparfaits par leur organisation sont ceux chez qui la vie est, pour ainsi dire, va guement répandue dans tout le corps; dont toutes les fonctions semblent pouvoir être indifférem ment exercées dans toutes les parties; qui sentent, se meuvent, respirent, digèrent etc. par les mêmes organes. Lorsque le système nerveux et le sys tème musculaire sont bien distincts, l’animal a des facultés supérieures, mais moins de ténacité de vie. Si les facultés se multiplient et se perfec tionnent, la vie est exposée à plus de dangers encore. Les causes de destruction deviennent plus nombreuses ou plus menaçantes à mesure que le système digestif, le système vasculaire, l’appareil respiratoire etc., deviennent plus distincts, qu’ils exercent un empire plus étendu les uns sur les autres, que tous sont unis par un lien commun plus étroit.« 52 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 3, 149-150; ibid., Bd. 4, 291; und ibid., 324 (Fußnote 1). 53 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 290. 54 | Für die »anatomischen« Grundkomponenten »organisierter Körper« siehe Cabanis 1823-1825, Bd. 3, 374-375: »Nous avons dit ailleurs que, sous le point de vue purement anatomique, le corps vivant peut se réduire à des éléments très-simples; savoir: 1° le tissu cellulaire, où flottent les sucs muqueux que l’influence vitale organise, et qui, recevant d’elle différents degrés d’animalisation, fournis sent à leur tour les matériaux immédiats des mem branes et des os; 2° le système nerveux, où réside le principe de la sensibilité; 3° la fibre charnue, instrument général des mouvements: encore même, comme nous l’avons fait observer, est-il assez vraisemblable que la fibre charnue n’est que le produit d’une combinaison de la pulpe ner veuse avec le tissu cellulaire, ou avec les sucs dont il est le réservoir; combinaison dans laquelle, ainsi que dans plusieurs
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allen »Reaktionsfoyers« ein »System« koordinierter »Aktionen«, dessen »vitale« Eigenschaften sich vom »Aktionsprinzip« chemischer »Kombinationen« ableiten, ohne auf deren »elektive Affinität« reduzierbar zu sein.55 Die Entstehung »partieller Reaktionsfoyers« und ihrer Reiz-ReaktionsSchemen im Inneren des Fötus bindet Cabanis an die Differenzierung von »Energie«-»Ökonomien«. »Energie« ermöglicht für Cabanis jede Art von »Aktivität« und »Bewegung«. Zwischen »Foyers« kann sie durch zirkulierende »Nährstoffe« und »Impulsionen« weitergegeben werden, liegt in ihnen aber auch in »Speichern« (ressorts) vor.56 Durch diese »Speicher« verfügen die »Reaktionszentren« über eine latente »Energie«-»Konzentration« (concentration)57, die sich durch einen Reiz entladen kann.58 Ähnlich wie »idioelektrische Substanzen« (substances idioélectriques), die »fähig sind, »Elektrizität« zu »akkumulieren« und »zurückzuhalten« – etwa Glas oder Resin –, können organische Körper allein durch die Ausführung ihrer »natürlichen organischen Funktionen« »elektrische Flüssigkeit« (wie in einer »Leidener Flasche«) »kondensieren«. Einzelne »Organe« verfügen über bestimmte »Energiegrade« (degrés d’énergie), die in verschiedenen Strukturen unterschiedliche »Zustände« annehmen (in Muskelfasern und Gefäßen liegt etwa »tonische Energie« und im Nervensystem »sensitive Energie«59 vor). Jede Muskelkontraktion stellt eine »elektrische Erschütterung« (secousse électrique) dar, die auf eine »Entladung
de celles dont la chimie nous offre les exemples, le caractère des parties constitutives disparaît entièrement pour faire place à de nouvelles propriétés.« 55 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 287: »Nous avons dit plus haut que les circonstances d’où l’organisation résulte forcent les matériaux qui doivent former les parties à s’unir suivant certaines lois d’affinités. Or, ces lois se rapportent à chaque ordre de circonstances; et du moment que la matière est organisée, des affinités nou velles y produisent une nouvelle série de mou vements.«; und ibid., 473: »Des différences essentielles et constantes dans les procédés de leur formatiou distinguent et classent ces êtres. Les compositions et décompositions des corps, qu’on peut appeler chimiques, se font suivant des lois infiniment moins simples que celles de l’attraction des grandes masses. Les êtres organisés existent et se conservent suivant des lois plus savantes que celles des attractions électives. Entre le végétal et l’animal, quoique tous deux obéissent à des forces qui ne sont proprement ni mécaniques, ni chimiques, il y a encore des différences générales et profondes.« 56 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 412. 57 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 68 (concentration d’énergie vitale). 58 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 19, 234, 412 und 423-426. 59 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 65 und 375.
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von Elektrizität« (dégagement de l’électricité) oder eine »elektrische Explosion« (explosion électrique) der mit ihnen verbundenen Nerven folgt.60 Für Cabanis kann der »Energiegrad« eines »Organs« nur aufrecht erhalten werden, wenn es zu einer regelmäßigen Abfolge von »Reizung« und »Reaktion« kommt, die durch eine beständige (»ernährende«) Flüssigkeitszufuhr unterstützt wird. Die ersten »Organe« des Fötus müssen »Gebrauch« (usage) von ihren Aktions«-Dispositiven und »Energie«-»Speichern« machen, um ihre Eigen-»Leben« (vies) im »Gesamtsystem« (système total)61 zu erhalten.62 Diese Art von »Gebrauch des Lebens« setzt sich in der Logik diätetischer »Regime« adulter Körper fort, die darauf angelegt sind, durch regelmäßige »Übungen« und Ernährungs-»Gewohnheiten« den »Energiegrad« zu restaurieren, der sich aus der »primitiven Energie« (énergie primitive)63 des Fötus im heranwachsenden »System« entwickelt hat.64
60 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 3, 381-390; ibid., 384: »Suivant cette manière de voir, les fibres charnues irritées opéreraient successivement, par leurs contractions, le déga gement de l’électricité condensée dans les nerfs qui les animent; et ces contractions pourraient se renouveler jusqu’au moment où le dégagement serait entièrement terminé.«; Torbern 1792, Bd. 2, 333-334: »Tous les corps de la nature sont susceptibles de l’électricité; mais ils diffèrent quant à la manière dont ils peuvent la recevoir. Les uns deviennent électriques par frottement, tels que le verre, les resines, le souffre, plusieurs pierres transparantes & opaques. On les appelle idioélectriques. Les autres deviennent électriques par la chaleur; telle est particulièrement la tourmaline. On pourroit les appeler pyro-électriques. De troisièmes ne deviennent point électriques par frottement; mais ils reçoivent l’électricité par communication. On les appelle anélectriques.«; und Turgeon & Whitaker 2000. 61 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 305. 62 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 287. 63 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 95. 64 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 90: »Em ployées avec réserve, les épiceries soutiennent la digestion stomachique, animent la circulation générale, renouvellent l’énergie des organes mus culaires, maintiennent le système nerveux dans un état continuel et moyen d’excitation: toutes circonstances propres à multiplier les impressions soit internes, soit externes; à faciliter les opéra tions de l’organe pensant; à rendre plus souples, plus libres, plus promptes toutes les opérations de la volonté; en un mot, à donner un plus grand sentiment d’existence, et à soutenir, dans un de gré constant, le ton des organes et toutes les fonctions de la vie.«; und ibid., 95: »Chez les sujets à fibres molles, dont les vaisseaux, droits et faibles, se trouvent noyés dans la graisse, l’exercice a besoin d’être fort modéré pour ne pas oser radicalement des forces musculaires dépourvues d’une énergie primitive réelle.«
VIII. Der Gebrauch des Lebens
Cabanis teilt die sukzessive »Bildung« und »Entwicklung« der »Organe« des menschlichen Embryos in drei Phasen ein.65 In der ersten Phase formen sich »zeitgleich« aus einem »pulsierenden Punkt« das »Blutsystem«, das eine sich selbst kontraktierende Flüssigkeit enthält66, und aus einer »weißlichen Masse« ein »Nervensystem«, in dessen »Verzweigungen« sich analog zu »elektrischen« Phänomenen »Erregungen« fortsetzen, ohne dass sich die »Nerven« selbst bewegen.67 Die beiden »Reaktionsfoyers« ermöglichen die kontinuierliche »Ausführung« von Reiz-Reaktions-»Serien« und die »Verkettung« (enchaînement) oder »Koordination« (coordination) ihrer »Aktionen«. Aus ihrer »Tendenz« zur »Wiederholung« (die jedem »Reaktionsfoyer« mit einem »Ener65 | Während der »Entwicklung« des Embryos verändern sich die räumlichen »Situationen« (situations) und die »Volumen«-Verhältnisse seiner »Organe«. »Organe« können auch verschwinden und wieder auftreten oder sich mit anderen »Organen« verbinden. Des Weiteren kann ein »Organ« bereits nahezu »gebildet« sein, ohne »Funktionen« aufzunehmen. Seine »Vervollkommnung« hängt von der Abstimmung seiner prospektiven »Funktionen« mit der »Entwicklung« anderer »Organe« ab. Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 264; ibid., 270-271: »Ajoutons que si les organes ne sont pas tous formés en même temps, les diverses époques où leur action commence sont encore bien plus distinctes. Il ne suffit pas qu’une partie existe pour que les fonctions qui lui sont assignées s’exécu tent: toutes, à peu près, sauf celles qui sont ex clusivement propres à l’enfance, et qui doivent disparaître dans un âge plus avancé, ont besoin de croître et de se développer pour atteindre au terme de leur perfection relative: quelquesunes même doivent rester engourdies dans une espèce de sommeil qui les empêche de croître propor tionnellement aux autres parties du corps; celles-ci n’acquièrent leur volume naturel qu’à l’approche de la première époque où leurs fonctions commencent, et souvent même elles l’acquièrent beaucoup plus tard.«; und 284-286. 66 | Cabanis verweist in diesem Zusammenhang auf Dumas’ Physiologie. Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 291-292, Fußnote 1: »On a vu, même hors des vaisseaux vivants, le sang se contracter et se dilater par mouvements alternatifs. Sont-ce les matériaux directs des fibres musculaires qui, flottant dans son sein, lui communiquent cette propriété? et n’entre-t-elle pas pour quelque chose dans la pulsation des artères? Voyez les Éléments de Physiologie de Dumas, professeur de Mont pellier, […]« 67 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 284. Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 3, 119: »Nous observerons aussi qu’en disant que les nerfs sont incapables de se mouvoir, nous avons entendu de se mouvoir d’une manière sensible, ou de faire éprouver à leurs parties des déplace ments reconnaissables par rapport à celles des autres organes qui les entourent. Tous leurs mou vements sont intérieurs; ils se passent dans leur intime contexture, et les parties qui les éprouvent ou qui les exécutent sont si déliées, que l’action s’en est jusqu’à présent dérobée aux observations les plus attentives faites avec les instruments les plus parfaite.«; ibid., Bd. 4, 282-283; und Besançon 1997, 58-60.
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gie«-»Speicher« innewohnt) geht der »Instinkt der Erhaltung« (instinct de la conservation) hervor.68 In einer zweiten Phase bilden sich die »Organe« des Verdauungssystems. Sie verweilen zunächst in einer Art »Schlaf«-Zustand, da das »Blutsystem« des Fötus sich direkt über die »Nabelschnur« (veine ombilicale) mit Nahrungsstoffen versorgt.69 Erst nachdem sich der Magen und die Eingeweide mit »gelatinösen Flüssigkeiten« gefüllt haben, weisen sie, zusammen mit der Leber, der Milz, der Bauspeicheldrüse und anderen sich sukzessiv zusammenlagernden »sekretorischen Drüsen«, erste »Spuren von Erregungen« (traces d’excitations) auf, deren neue »Affinitäten« zum »Instinkt der Ernährung« (instinct de nutrition) führen.70 In einer dritten Phase kommt es zu einer Erweiterung der »Fähigkeit« organischer Körper, abwechselnd »Zustände der Kontraktion« und der »Ausdeh68 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 288. Vgl. ibid., 286-287: »Dans l’homme, et dans les animaux qui se rap prochent de lui, le centre cérébral, qu’on peut regarder comme la racine et l’aboutissant du sys tème nerveux, et le centre de la circulation san guine, ou le cœur, d’où sortent toutes les artères, et où viennent se rendre toutes les veines, sont donc les premières parties organisées: ce sont les premières qui reçoivent les impressions vitales, qui exécutent des fonctions, ou dans lesquelles les impressions engendrent des déterminations analogues à la nature et au degré de leur sensi bilité naissante. Ainsi les impressions et les déter minations qui leur sont propres, ou leurs fonc tions, s’identifient avec l’existence elle-même; elles commencent avec la vie, et restent pendant toute sa durée étroitement liées à sa conservation.« 69 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 284 und 288-289: »Dans les premiers temps de la gestation, l’es tomac et les autres organes du fœtus, qui doivent concourir à la digestion des aliments, paraissent réduits à l’inaction la plus entière. La nutrition s’opère par la veine ombilicale: le sang qu’elle a amené vers le cœur va de là se distribuer à toutes les parties du fœtus; il y porte les principes de leur développement et les matériaux de toutes les sécrétions. Le surplus, ou le résidu de ce fluide nourricier, revient au placenta par le canal des deux artères correspondantes, qui remplissent, en quelque sorte, les fonctions d’artères pulmo naires: car c’est dans cette masse spongieuse qu’après avoir parcouru le cercle entier de la cir culation, le sang, en se remêlant avec celui de la mère, reprend une portion d’oxygène et les qua lités sans lesquelles il ne saurait servir à la nutrition. Pendant tout ce temps, l’estomac demeure replié sur lui-même, il n’éprouve guère d’autres mouvements que ceux qu’exige son développe ment organique. Les intestins paraissent ne con tenir que quelques restes de fluides, versés dans leur sein par les vaisseaux exhalants. Le foie s’or ganise, et prend un volume considérable; mais il n’envoie point encore de véritable bile dans le duodénum. On peut en dire autant de tous les autres organes qui secondent les fonctions du ca nal alimentaire: ils sont d’abord plongés dans une espèce de sommeil.« 70 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 289-291.
VIII. Der Gebrauch des Lebens
nung« (états de contraction, d’extension) einzunehmen. Diese oszillatorischen Bewegungen zeigen sich bereits während der ersten beiden Entwicklungsstadien in »zellulären Geweben« (membranes cellulaires) und in bestimmten Flüssigkeiten. Die allgemeine »Tendenz zur Kontraktion und zur Ausdehnung« wird aber erst durch das »Muskelsystem« zu einem eigenständigen »Reaktionsfoyer« mit einem »hohen Energie- und Intensitätsgrad«, der ermöglicht, »beträchtliche Widerstände« (résistances considérables) zu überwinden.71 Seinem »Aktions«-Dispositiv entspricht ein »Instinkt der Bewegung« (instinct de mouvement).72 Die drei »Reaktionsfoyers« der »Erhaltung«, der »Ernährung« und der »Bewegung« sind – je nach der »Rolle« (rôle), die ihnen in »tierischen Ökonomien« zukommen73 – in unterschiedlichen Abhängigkeits- oder »Subordinations«-Verhältnissen miteinander in der Innenwelt des Fötus verbunden.74 Sie bestimmen auch nach der Geburt das »Leben« des Fötus, erfahren aber durch den neuen Bezug des »organisierten Körpers« zur Außenwelt grundlegende »Modifikationen« ihrer Aktivitäts-»Zustände«.
1.3 Agenten zwischen Innen- und Außenwelten Der fötale Körper erhält noch fast alle seine »Eindrücke« »von Innen«. Im Wasser der »Fruchtblase« (amnios) schwimmend, führt er eine »innere Existenz (existence intérieure), die den Eindrücken der äußeren umgebenden Körper fremd ist«.75 Nach der Geburt kommt es in höheren Tieren zu einer Veränderung der »primitiven Organisation«, die das ganze »Tableau der Organe und Fähigkeiten« 76 betrifft: auf das Primat der Differenzierung der Innenwelt folgt die aktive Aneignung der Außenwelt, die bereits im Fötus vorbereitet wurde, aber erst jetzt konstitutiv für das vom Mutterkörper getrennte »Eigenleben«
71 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 291-292. Vgl. ibid., 292: »La tendance à la contraction et à l’extension, qui forme la propriété fondamentale de ces fibres, est donc parfaitement analogue à toutes les autres affinités animales; elle s’ensuit directement et nécessairement du caractère de l’organisation.« Die Muskelfaser ist das »Produkt einer Kombination der nervösen Masse mit dem fibrösen Schleim des zellulären Gewebes« (Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 474). 72 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 292-293. 73 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 423. Vgl. ibid., 150, 285, 347 und 396. 74 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 270 und 305. 75 | Cabanis 1823-1825, Bd. 3, 133. 76 | Dieser Ausdruck stammt von Destutt de Tracy, in Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 474.
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(vie propre)77 organisierter Körper wird.78 Während das »Verdauungssystem« und das »Muskelsystem« schon vor der Geburt »Operationen« ausführen konnten, ist die »Lunge« für die »Ausführung« ihrer »Blutzirkulation«, »Atmung«, »Blutbildung« und »Wärmeproduktion« umfassenden »Funktion« auf den direkten »Einfluss« der Luft angewiesen.79 Zugleich bewirkt der den ganzen Körper »umhüllende« Druck der Luft nach der Geburt eine Vielfalt von Reaktionen, die nicht nur das »Gleichgewicht« zwischen festen organischen Teilen und den in ihnen zirkulierenden Flüssigkeiten, sondern auch die Verteilung und Mischung verschiedener »Gase« und »Säfte« sowie den »Energiezustand« oder die »Spannung« der Gefäße betreffen. 80 Neben den »Sinnesorganen«, die wie das Auge erst in der (neuen) Außenwelt auf passende Reize treffen und ihre »Funktion« aufnehmen81, findet der grundlegendste Wechsel 77 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 271. 78 | Ein bestimmter Grad der Selbst-Differenzierung der Innenwelt des Embryos löst die Geburt aus. Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 133: »Si l’enfant tré pigne dans les derniers temps de la grossesse, s’il s’agite avec une inquiétude d’autant plus impétueuse et plus continuelle, qu’il est plus vivace et plus fort, ce n’est pas, comme l’ont dit presque tous les physiologistes, parce qu’il se trouve à l’étroit et mal à l’aise dans la matrice; il y nage au contraire au milieu des eaux. Mais ses mem bres ont acquis un certain degré de force; il sent le besoin de les exercer: son poumon a pris un certain développement; la quantité l’oxigène qui lui vient de la mère, avec le sang de la veine ombilicale, ne lui suffit plus; il lui faut de l’air, il le cherche avec l’avidité du besoin. Ces circonstances, jointes à la distention de la matrice dont les fibres commencent à ne pouvoir prêter davantage, et à l’état particulier où se trouvent alors les extrémités de ses vaisseaux abouchés avec les radicules du placenta, sont la véritable cause déterminante de l’accouchement.« 79 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 423. 80 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 16-17: »L’air pèse continuellement sur nous d’un poids très-considérable; il nous enveloppe de toutes parts; il nous presse par tous les points de notre corps, comme l’eau dans laquelle nage le poisson l’enveloppe et le presse en tous sens: mais avec cette différence que, par ses propres forces, le poisson peut, à volonté, s’élever à toutes les hau teurs du fluide qui forme son partage; tandis que nous sommes attachés à la base terrestre sur la quelle viennent s’appuyer les portions inférieures de l’air, et qu’il nous est impossible, sans le se cours de forces étrangères, de nous porter à de plus hautes régions. Cette pression, étant dans l’ordre de la nature, paraît nécessaire au maintien de l’équilibre entre les solides vivants et les humeurs qui circulent ou qui flottent dans leur sein; elle empêche l’expansion et la séparation des gaz qui entrent dans la composition des uns et des autres; elle tend à perfectionner la mixtion des sucs réparateurs, en soutenant l’énergie et le ton les vaisseaux.« 81 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 298: »Beau coup de faits physiologiques et pathologiques démontrent que l’action de la lumière extérieure n’est point
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der Reizverarbeitung für Cabanis in dem »Reaktionszentrum« statt, das die »Verkettung« aller »Zentren« zu einem »System« und, bis zu einem gewissen Grad, die »Leitung und Ausrichtung« (direction) ihrer »Aktionen« und »Bewegungen« übernimmt: dem »Nervensystem«. Das »Nervensystem« stellt in höheren Tieren den »besonderen Sitz der Sensibilität« (siège particulier de la sensibilité)82 dar. Gegen Haller gerichtet, hebt Cabanis hervor, dass dieses »System« auch Muskelbewegungen »leitet« und, aufgrund einer nicht erneuerbaren »partiellen Sensibilität« einzelner Nerven, die »Irritabilität« von abgetrennten Teilen ermöglicht.83 Für Cabanis ist »Sensibilität« jedoch nicht notwendig an »Nerven« gebunden. Er verweist auf Experimente, die zeigen, dass viele einfach organisierte Tiere, etwa »Polypen«, über Reiz-Reaktions-Schemen verfügen, ohne ein eigenes »Nervensystem« zu besitzen.84 Des Weiteren geht er davon aus, dass die Nervendichte eines Körperteils oder eines »Organs« nicht immer mit seinem »Sensibilitätsgrad« korreliert. Muskeln erhalten »verhältnismäßig viele« Nerven, sind aber »auf sehr obskure Weise sensibel«, während wenige Nerven zu den »äußerst« (excessivement) senindispensable pour que le centre cé rébral et même l’organe immédiat de la vue reçoivent des impressions lumineuses.« 82 | Cabanis 1823-1825, Bd. 3, 115. 83 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 3, 87; ibid., 115: »En portant la sensibilité dans les muscles, les nerfs y portent la vie; ils les rendent propres à exécuter les mouvements que la nature leur attribue […]«; und ibid., Bd. 4, 464: »Expérience. Quand on lie, on coupe tous les troncs des nerfs d’une partie, au même instant elle devient entièrement insensible, et la faculté de tout mouvement volontaire s’y trouve abolie: celle de recevoir quelques impressions et de produire de vagues mouvements de contraction subsiste en core quelque temps; et bientôt arrivent la cessation totale de la vie, et la décomposition. Conséquence. Les nerfs sont le siège particulier de la sen sibilité. Ce sont eux qui la distribuent dans tous les organes, dont ils forment le lien général et al.imentent la vie. Les impressions isolées, les mouvements irréguliers qui subsistent encore quelques instants après la section, tiennent à des restes d’une sensibilité partielle qui ne se renouvelle plus. L’irritabilité n’est qu’une conséquence de la sensibilité, et le mouvement un effet de la vie: car les nerfs sentent, mais ne se meuvent pas. Ils sont l’âme du mouvement des mus cles, mais ne sont point irritables directement.«; Bd. 4, 320; und ibid., 469. In seinem Artikel zur Guillotine (1795) hatte Cabanis noch Hallers Dualismus zwischen Irritabilität und Sensibilität vertreten. Vgl. Cabanis 1795, 162-165; und Chazaud 1998. 84 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 272: »Les recherches les plus attentives de l’anatomie moderne n’ont pu faire découvrir de nerfs ni d’appareil cérébral dans quelques animaux im parfaits, tels que les polypes et les insectes infusoires: cependant, ces animaux sentent et vivent; ils reçoivent des impressions qui déterminent en eux une suite analogue et régulière de mouve ments.«
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siblen »Hoden« führen.85 Der »Sensibilitätsgrad« eines »Organs« kann daher nicht anatomisch, sondern nur durch »Beobachtung« bestimmt werden.86 Wenn im Neugeborenen neben den »inneren Eindrücken« der »inneren Organe« eine zweite »Art von Eindrücken« (genre d’impressions)87 – die der »äußeren Eindrücke« – aktiv wird, kommt es im Inneren zu einem neuen Gefüge von Reiz-Reaktions-Ketten. An den »äußersten Enden« der Nerven seiner »äußeren Organe«, die allgemein »Sinnesorgane« heißen, entstehen durch »äußere Reize« (stimulants extérieures) und durch eine »Vielfalt äußerer Umstände« (variété des circonstances extérieures)88 »äußere Eindrücke« (impressions extérieures)89 oder »äußere Sensationen« (sensations extérieures)90, die mit »inneren Eindrücken« wechselwirken und ihrerseits auf das »Äußere« (extérieur) abgestimmte »äußere Bewegungen« (mouvements extérieurs) der Gliedmaßen und »Operationen der Intelligenz« auslösen. Neben der »beständig anwachsenden Sensibilität« (sensibilité toujours croissante)91 der mit »cerebralen Zentren« verbundenen Sinnesorgane des Neugeborenen durchlaufen auch die Reiz-Reaktionsschemen seiner auf die Aktivität »innerer Organe« ausgerichteten »Instinkte« durch ihre »Vermischung« mit den »Eindrücken« der »äußeren Welt« sukzessive »Modifikationen«.92 Der »Tastsinn« entwickelt sich zwar schon vor der Geburt so weit, dass er »Eindrücke« vermitteln kann93, doch wird er erst nach der Geburt zusammen mit allen anderen Sinnesorganen Teil eines »Nervensystems«, in dem er nicht 85 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 415-416. 86 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 416. 87 | Cabanis 1823-1825, Bd. 3, 147. 88 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 143. 89 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 362. 90 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 31, Fußnote. Cabanis bezeichnet die »Eindrücke« der Sinnesorgane oft allgemein als »Sensationen« (sensations). 91 | Cabanis 1823-1825, Bd. 3, 134. 92 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 271, 312-322; ibid., 324: »[…] sans entrer dans de nouveaux détails, il de meure bien prouvé que les tendances instinc tives qui surviennent dans le cours de la vie ré sultent, comme celles que l’animal manifeste en naissant, d’impressions internes absolument indépendantes, à leur origine, de celles que reçoivent les organes des sens proprement dits, quoique bientôt elles se mêlent à toutes les sensations, et puissent être modifiées jusqu’à un certain point par le jugement et par la volonté.«; ibid., 358: »[…] les diverses impressions internes fournissent, en quelque sorte, presque tous les matériaux des combinaisons de l’instinct, […]«; und ibid., 509-510. Für Beispiele sekundärer »Instinkte« siehe Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 322-324. 93 | Zur unterschiedlichen Entwicklung der Sinnesorgane siehe Cabanis 1823-1825, Bd. 3, 131; ibid., Bd. 4, 285; und Destutt de Tracy, in ibid., 470-471.
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nur das »Äußere« repräsentiert, sondern auch, im Gegensatz zu den »konfusen Eindrücken« (impressions confuses) »innerer Organe«, durch den »Zustand« seiner »Nervenverzweigungen« (état des ramifications nerveuses)94 »distinkte Eindrücke« (impressions distinctes) erzeugt. Während »lokale Nervenzentren« (centres nerveux partiels)95 die »Eindrücke« »innerer Organe« in »Aktions«-Serien von »Instinkten« umsetzen, werden die »Eindrücke« der Sinnesorgane innerhalb des »Nervensystems« direkt an das »cerebrale Zentrum« (centre cérébrale) weitergeleitet. Das »cerebrale Zentrum« zeichnet sich unter allen »Zentren« durch den »Charakter« aus, sowohl »allgemeines Zentrum« (centre commun)96 (und »allgemeiner Wille« (volonté générale)97) der »inneren Eindrücke« und damit Haupt-»Sitz der Sensibilität und des Lebens« (siège de la sensibilité et de la vie)98 als auch besonderes »Zentrum« der »Eindrücke« der Sinnesorgane zu sein.99 Im »Nervensystem« höherer Tiere besteht das »Nervenorgan« (organe nerveux) des »cerebralen Zentrums« aus »Gehirn« (cerveau), »verlängertem Mark« (moelle allongée), »Rückenmark« (moelle épinière) und verschiedenen Formen von »Nerven«-»Netzen«. Wie alle anderen »Reaktionszentren« »kommuniziert« das »Nervenorgan« nicht nur mit anderen »Organen«, sondern erzeugt auch in sich selbst Reiz-Reaktions-Ketten.100 Die reflexiven »Fähigkeiten« des »Gehirns« sind jedoch, stärker als bei anderen »Organen«, von seiner »Gebrauchs«-Geschichte abhängig.101 Im Anschluss an Destutt de Tra94 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 321. 95 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 296 und 321. 96 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 262 und 321. 97 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 280, 296 und 480. 98 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 3, 375; und Destutt de Tracy, in ibid., Bd. 4, 506. 99 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 320: »[…] les impressions, reçues par les extrémités nerveuses dont se composent les organes directs des sens, transmises au centre cérébral, y produisent des réactions et des déterminations conformes à leur nature, de la même manière que les impressions qui viennent des extrémités internes, et qui, jusqu’alors, ont été presque les seules qu’aient reçues les centres partiels et le cerveau.« 100 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 399-400 ; und ibid., 447: »Rappelons aussi que, indépendamment des impressions reçues par les extrémités sentantes ex ternes et internes, le système nerveux est encore susceptible d’en recevoir d’autres qui lui appartiennent plus spécialement; puisque leur cause réside ou agit dans son propre sein, soit le long du trajet de ses grandes divisions, soit dans ses différents foyers particuliers, soit à l’origine même des nerfs et dans leur centre commun.« 101 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 3, 40-41: »Exposés à l’action continuelle des objets extérieurs, portant en nous les causes d’impressions non moins efficaces, nous sommes d’abord déterminés à agir sans nous être rendu compte des moyens que nous
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cy beginnt die »Gebrauchs«-Geschichte des »Gehirns« und das »Bewusstsein eines gefühlten Ichs« (conscience du moi senti)102 für Cabanis bereits vor der Geburt, wenn der Fötus »Widerstände« (résistance) verspürt, die er durch eine »gewollte Anstrengung« (effort voulu) zu überwinden versucht.103 Während diese Reaktionen zunächst ohne eine in konkrete »Eindrücke« differenzierte Unterscheidung zwischen Innen- und Außenwelt auftreten, ist der Außenbezug nach der Geburt konstitutiv für die Etablierung eines sich »distinkt von anderen Existenzen« setzenden »Ichs«, dessen Aktivität als »Wille« auf die »Dinge« der »äußeren Welt« bezogen ist.104 Zwischen Innen- und Außenmettons en usage, sans nous être même fait une idée précise du but que nous voulons atteindre. Ce n’est qu’après des essais réitérés que nous comparons, que nous jugeons, que nous faisons des choix. Cette mar che est celle de la nature; elle se retrouve partout. Nous commençons par agir; ensuite nous soumettons à des règles nos motifs d’action: la dernière chose qui nous occupe est l’étude de nos facultés et de la manière dont elles s’exercent.« 102 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 3, 67-68: »Sans la sensibilité nous ne serions point aver tis de la présence des objets extérieurs; nous n’au rions même aucun moyen d’apercevoir notre propre existence, ou plutôt nous n’existerions pas. Mais du moment que nous sentons, nous sommes. Et lorsque par les sensations comparées qu’un même objet fait éprouver à nos différents organes, ou plutôt par les résistances qu’il oppose à notre volonté, nous avons pu nous assurer que la cause de ces sensations réside hors de nous, déjà nous avons une idée de ce qui n’est point nous-même: c’est là notre premier pas dans l’étude de la na ture.« Cabanis (ibid., Bd. 4, 278) spricht auch von »Ich-Gefühlen« (sensations de moi). Maine de Biran schließt auf ähnliche Weise an Destutt de Tracy an. Siehe hierzu Boas 1925. 103 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 294-295: »Le citoyen Tracy, mon collègue au Sénat, et mon confrère à l’Institut national, prouve, avec beaucoup de sagacité, que toute idée de corps extérieurs suppose des impressions de résistance, et que les impressions de résistance ne deviennent distinctes que par le sentiment du mouvement. Il prouve, de plus, que ce même sen timent du mouvement tient à celui de la volonté qui l’exécute, ou qui s’efforce de l’exécuter; qu’il n’existe véritablement que par elle; qu’en con séquence, l’impression ou la conscience du moi senti, du moi reconnu distinct des autres exis tences, ne peut s’acquérir que par la conscience d’un effort voulu; que, en un mot, le moi réside exclusivement dans la volonté.« Zum Verhältnis von Cabanis und Destutt de Tracy siehe Moravia 1964; und Staum 1980, 237-243. 104 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 295-296: »[…] le fœtus a déjà reçu les premières impressions dont se composent l’idée de résistance et celle de corps étrangers, et la conscience du moi: car, il exécute des mou vements qui sont bornés et contraints par les membranes dans lesquelles il est renfermé […] J’ajoute que, pour recevoir la sensation de résistance, la présence des corps extérieurs ne paraît pas indispensable, puisque le poids de nos propres membres et la force des muscles nécessaire pour les mouvoir, qui
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welt vermittelnd erwirbt das »cerebrale Zentrum« wie ein Muskelsystem, das durch ein »Regime« von Aktivitäten »einfacher und präziser« auf Reize reagieren kann105, durch wiederholte Reizung und »Übung« die »Fähigkeit«, unter dem »Gemisch« von »Eindrücken«, die in ihm zusammenlaufen106, »distinkte Eindrücke« zu »bemerken« (remarquer) und auszusondern.107 Diese Aussonsont l’un et l’autre très-variables, ne péuvent manquer de mettre le moi dans cette même situation d’où l’on sait maintenant que résulte pour lui l’idée des autres corps Ainsi, lorsqu’il arrive à la lumière, le fœtus porte déjà dans son cerveau les premières traces des notions fondamentales que ses rapports avec tout l’univers sensible, et l’action des objets sur les extrémités nerveuses, doivent successivement y développer. Déjà cet organe central, où vont aboutir les impressions, et d’où partent les déterminations; cet organe, qui ne diffère des autres centres nerveux partiels que parce que la volonté générale y réside ou s’y produit à chaque instant, a reçu plusieurs modifications qui commencent à le faire sortir des simples appétits de l’instinct. Ce n’est plus cette table rase que ce sont figurée plusieurs idéologistes: le cerveau de l’enfant a déjà perçu et voulu; il a donc quelques faibles idées; et leur retour ou leur habitude, a produit en lui des penchants. Tel est le point d’où il faut partir, si l’on veut, en faisant l’analyse des opé rations intellectuelles, les prendre véritablement à leur premiere origine.« 105 | Cabanis überträgt diesen Prozess auch auf »unbelebte Maschinen« und »Magneten«. Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 351-352; und ibid., 353-354: »Ce qui se passe dans l’action musculaire se passe également dans les autres fonctions: seulement ce sont d’autres organes, d’autres genres de mou vements, et par conséquent ce sont aussi d’autres résultats. Au reste, la physique nous offre, dans des machines inanimées, deux exemples de l’ac croissement de force et d’aptitude occasioné par la prolongation ou par le retour assidu des mêmes opérations. Les appareils électriques produisent, toutes choses égales d’ailleurs, d’autant plus d’effet qu’on s’en sert plus habituellement; et les aimants artificiels sont susceptibles d’acquérir, par la sim ple continuité d’action, une force très-supérieure à celle qu’ils avaient reçue d’abord.«; und ibid., 351-352. 106 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 280 und 296. 107 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 96: »L’effet direct de l’exercice est donc d’attirer les forces, et, si je puis m’exprimer ainsi, l’attention vitale dans les organes musculaires; de faire sentir plus vivement à l’individu, et d’accroî tre l’énergie de ces organes; de multiplier les im pressions extérieures, et d’en occuper tous les sens à la fois; de changer l’ordre des impressions internes, et de suspendre le cours des habitudes contractées pendant le repos.«; und Destutt de Tracy, in ibid., Fußnote 1: »On dit avec fondement, que les impressions répétées jusqu’à un certain point ne sont presque plus perçues; mais c’est uniquement par l’une des raisons qui sont notées dans le texte: car il reste toujours vrai qu’on apprend à sentir, c’est-à-dire, à remarquer, et à distinguer les im pressions qu’on reçoit; que ces impressions sont mieux remarquées et distinguées quand on y a donné plusieurs fois un certain degré d’atten tion; et que
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derung gelingt den »Operationen der Intelligenz« im allgemeinen unter den »äußeren Eindrücke« der Sinnesorgane besser, da sie gegenüber den mehrfach im »Nervensystem« modifizierten »inneren Eindrücken« von Anfang an einen höheren Grad an Distinktheit aufweisen.108 Das »denkende Organ« (organe pensant) überführt die »distinkt gefühlten«, »wahrgenommenen Eindrücke« (impressions distinctement senties, impressions perçues) als »Perzeptionen« (perceptions)109 in den »Aktions«-Bereich der »Operationen der Intelligenz«, die ausgehend von »Vergleichen« »Ideen« bilden und (»bewusst« gefällte) »Urteile« ermöglichen.110 Auf diese Weise »assoziieren sich« »physiologische Operationen« mit »intellektuellen Operationen« (opérations intellectuelles) in einem kontinuierlichen, Körper-immanenten Prozess, den Cabanis als »Metamorphose« (métamorphose) bezeichnet (wobei beide »Operations«-Arten »physische Operationen« (opérations physiques) darstellen).111 Durch seinen Doppelcharakter, »Regulator« (régulateur)112 aller »Reaktionsfoyers« und (reflexive) Instanz der Unterscheidung zwischen »innerer Organisation« und »äußerer Welt« zu sein, hält es Cabanis für gerechtfertigt, c’est par l’enchaînement facile des impressions et des mou vements, fruit nécessaire de l’habitude, que les unes et les autres ont enfin lieu, sans presque aucune conscience du moi.« 108 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 3, 446: »Mais, quoique toutes les parties externes ou internes soient susceptibles d’impressions, toutes n’agissent pas, à beaucoup près, au même degré sur le cerveau. Celles qui sont le plus capables de le faire d’une manière distincte et déterminée, ne le font pas toujours d’une manière directe.«; ibid., Bd. 4, 321: »[…] comme les impres sions qui viennent au cerveau des extrémités nerveuses internes sont loin d’être aussi distinctes, et de pouvoir être rangées et classées aussi métho diquement, que celles qui lui sont transmises par les organes des sens proprement dits, les pre mières et tous leurs produits ont toujours, et l ’on sent bien qu’elles doivent avoir en effet, quelque chose de plus confus et de plus indéterminé.«; ibid., 348-349; und ibid., 469: »A raison de l’organisation du sens par lequel elles ont été reçues, les impressions ont une relation plus ou moins di recte avec l’organe de la pensée.« 109 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 271 (Fußnote 1), 303 und 408. 110 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 303-304. 111 | Vgl. Cabanis 1823-1825, – Bd. 3, 66-67; und ibid., Bd. 4, 348-349. Zur »Assoziation« physiologischer und intelligenter Operationen in Cabanis’ Ansatz siehe D’Istria 1911. 112 | Cabanis verwendet das Wort »Regulator« (régulator) in einem anderen, jedoch analogen Zusammenhang, nämlich bezogen auf die »Arbeit« und die »Familie«, die wie »Regulatoren« auf das »affektive System« des Menschen wirken. Vgl. Cabanis 18231825, Bd. 4, 111 und 329.
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allein das »Gehirn« als Ort des »Ichs« zu bezeichnen.113 Mit Verweis auf Van Helmont und Bordeu liegt es für ihn jedoch nahe, »jedes beliebige Reaktionszentrum als eine Art wahrhaftes Ich (une sorte de moi véritable) anzusehen«, das über einen »partiellen Willen« (volonté partielle) verfügt.114 Die »Metamorphose«-Leistung des »Denkorgans«, die fremde (äußere) »Eindrücke« in eigene Reiz-Reaktions-Schemen umsetzt, ähnelt allgemein den »assimilatorischen« und »sekretorischen« Aktivitäten, durch die »Reaktionszentren« Äußeres in ihre »Aktivitätssphäre« einbeziehen.115 Innerhalb der kontinuierlichen »Transformations«-Ketten vernetzter »Reaktionszentren« vergleicht Cabanis die »Operations«-Weise des »Gehirns« mit einem »Magen«, der »Perzeptionen« verarbeitet und daraus »Gedanken« produziert116: »Dira-t-on que les mouvements organiques par lesquels s’exécutent les fonctions du cerveau nous sont inconnus? Mais l’action par laquelle les nerfs de l’estomac déterminent les opérations différentes qui constituent la digestion, mais la manière dont ils impreignent le suc gastrique de la puissance dissolvante la plus active, ne se dérobent pas moins à nos recherches. Nous voyons les aliments tomber dans ce viscère avec les qualités qui leur sont propres; nous les en voyons sortir avec des qualités nouvelles, et nous concluons qu’il leur a véritablement fait subir cette altération. Nous voyons également les impressions arriver au cerveau par l’entremise des nerfs: elles sont alors isolées et sans cohérence. Le viscère entre en action; il agit sur elles, et bientôt il les renvoie métamorphosées en idées, que le langage de la physionomie et du geste, ou les signes de la parole et de l’écriture, manifestent au-dehors. Nous concluons, avec
113 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 279. Zugleich ist das »Nervensystem« für Cabanis der Ort, in dem das »Ich« als »allgemeines Leben« (vie générale) existiert. Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 2, 173-174, Fußnote 1: »Les découvertes microscopiques ont appris que la vie est partout; que, par conséquent, il y a partout plaisir et douleur: et, dans l’organisation même de nos fibres, il peut exister des causes innombrables des vies particulières, dont la correspondance et l’harmonie avec le système entier, par le moyen des nerfs, constitue le moi. […] car le moi n’existe que dans la vie générale: et la sensibilité des fibres, lorsqu’elles sont isolées, ne correspond pas plus avec lui, que celle des animaux qui peuvent se développer dans différentes parties du corps.« 114 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 279, 319 und 378-379; und Tencer 1931, 126-127. 115 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 318 und 324. 116 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 3, 161: »Nous concluons, avec la même certitude, que le cerveau digère en quelque sorte les impressions; qu’il fait organiquement la sécrétion de la pensée.« Im Table analytique nennt Destutt de Tracy (ibid., Bd. 4, 466) das »Gehirn« einen »besonderen Verdauer« (digesteur spécial) und ein »sekretorisches Organ des Denkens« (organe sécréteur de la pensée).
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la même certitude, que le cerveau digère en quelque sorte les impressions; qu’il fait organiquement la sécrétion de la pensée.«117
Die formale Unterscheidung in »Sensationen im eigentlichen Sinn« (sensations proprement dites)118, die als »distinkte Eindrücke« der »äußeren Welt« innerhalb des »Nervensystems« direkt an das »Gehirn« weitergeleitet werden, und in »innere Eindrücke«, die »konfus und unbestimmt« (confuses et indéterminées) sind, gehört dem »Metamorphose«-Schema der höheren Tiere an, allerdings besteht in diesem Schema eine beständige Wechselwirkung zwischen den »nicht wahrgenommenen Eindrücken« (impressions inaperçues)119 aller »Zentren«, die sich ihrerseits gegenseitig beeinflussen, und den im Gehirn »wahrgenommenen Eindrücken« (impressions perçues). Die »Operationen der Intelligenz«, die »Eindrücke« nur bedingt filtern können, werden durch »Affektionen« »innerer Organe« modifiziert.120 Das »cerebrale Zentrum« entwickelt sich durch seinen »Gebrauch« innerhalb der »inneren Organisation« zu einer umfassenden regulatorischen Einheit, ist aber zugleich Teil der »Zustände« und Pathologien des »Gesamtsystems« aller »Organe«. Philosophen, die von einem »inneren Sinn« (sens interne) sprechen, müssen für Cabanis das Problem einer »Sensibilität ohne Sensation« (sensibilité sans sensation) oder »ohne wahrgenommene Eindrücke« berücksichtigen, weil aus dem »Spiel verschiedener Organe« ( jeu des différents organes) »Bestimmungen« (déterminations) hervorgehen, die durch »Kooperation« (coopération), »Verkettung« (enchaînement) und »Unterordnung« (subordination) alle Arten von »Operationen« verändern können.121 »Nicht wahrgenommene Funktionen« und »nicht wahrgenommene Aktionen« ( fonctions inaperçues, actes inaperçus)122 vermischen sich mit gewollten »Aktionen«, »Instinkte« mit »Gedanken«, »Leidenschaften« mit »Urteilen«. Cabanis’ Ordnung organischer »Gesamtsysteme« leitet sich aus Modellen dezentrierter regulativer Prozesse ab, die in physiologisch ausgerichteten Diskursen des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts entstehen. An Bichats und Legallois’ Arbeiten anschließend, verweist Cabanis auf Experimente, die 117 | Cabanis 1823-1825, Bd. 3, 160-161. 118 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 133. 119 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 408. 120 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 85; ibid., 320, Fußnote 2: »Je crois inutile d’ajouter que les impressions reçues par les sens, se conforment elles-mêmes aux habitudes instinctives antérieures, et qu’elles sont encore modifiées par les impressions internes actuelles.«; und ibid., 409. 121 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 225-226 und 273-276. Zum Kontext einer Psychologie des Unbewussten siehe Besançon 1997, 183-191. 122 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 233 und 274.
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zeigen, dass in Nervensystemen höherer Tiere »mehrere untergeordnete partielle Systeme« vorliegen, deren Eigenaktivität und spezifische Reiz-ReaktionsSchemen nur bedingt vom »cerebralen Zentrum« abhängt.123 Ausgehend von »Organ«-spezifischen »Sensibilitätsfoyers« ( foyers de sensibilité)124 entwickelt Cabanis des Weiteren Ordnungsmuster interagierender Wirk-»Sphären« (sphères) verschiedener »Organe«, die nicht nur auf Nervennetzen, sondern auch auf »Sympathien« beruhen, die von »Ähnlichkeiten« oder »Analogien der Struktur« und von räumlicher »Nähe« oder »Kontinuität« abhängen.125 123 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 2, 176-179; Bd. 4, 277; und ibid., 278: »Il faut donc encore considérer le système ner veux comme susceptible de se diviser en plusieurs systèmes partiels inférieurs, qui tous ont leur centre de gravité, leur point de réaction particulière où les impressions vont aboutir, et d’où partent des déterminations de mouvements. Or, ces sys tèmes sont plus ou moins nombreux, suivant la nature des espèces, l’organisation propre des in dividus, et diverses autres circonstances qui ne paraissent pas pouvoir être assignées avec assez d’exactitude.« In seiner Anatomie générale (1801) hatte Bichat darauf hingewiesen, dass die Nervennetze des cerebralen Zentrums des »tierischen Lebens« und der partiellen Nervenzentren des »vegetativen Lebens« ineinander übergehen und sich gegenseitig beeinflussen. Vgl. Bichat 1801, Bd. 1, 115-116: »Tous les anatomistes ont considéré jusqu’ici le système nerveux d’une manière uniforme; mais pour peu qu’on réfléchisse aux formes, à la distribution, à la texture, aux propriétés et aux usages des branches diverses qui le composent, il est facile de voir qu’elles doivent être rapportées à deux systèmes généraux, essentiellement distincts l’un de l’autre et ayant pour centres principaux, l’un le cerveau et ses dépendances, l’autre les ganglions. Le premier appartient spécialement à la vie animale; il y est, d’une part, l’agent qui transmet au cerveau les impressions extérieures destinées à produire les sensatious de l’autre part, il sert de conducteur aux volitions de cet organe qui sont exécutées par les muscles volontaires auxquels il se rend. Le second, presque par-tout distribué aux organes de la digestion, de la circulation, de la respiration, des sécrétions, dépend d’une manière plus particulière de la vie organique, où il joue un rôle bien plus obscur que celui du précédent. Chacun n’est point strictement borné aux organes de l’une et l’autre vie. Ainsi les nerfs cérébraux envoient ils quelques prolongemens dans les glandes, aux muscles involontaires etc.; ainsi le système nerveux des ganglions a-t-il quelques rameaux dans les muscles volontaires. C’est sur la disposition générale, et abstraction faite de ces exceptions particulières, qu’est fondée la division des deux systèmes nerveux, entre lesquels je n’établis point ici de parallèle pour faire sentir la différence, parce que l’exposition de chacun suffira pour convaincre de cette différence.« Für Modelle multipler Regulationszentren siehe auch Bichat 1801, Bd. 1, 213; Bichat 1802, 70-71 (Fußnote 1); Role 1994, 334-335; und Cheung 2013. 124 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 446. 125 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 310-311 und 412-414. Die Wirksphären von »Zentren«, die nicht an Nerven gebunden sind, stellt Cabanis oft lichtmetaphorisch dar.
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In höheren Tieren unterscheidet Cabanis neben dem »cerebralen Zentrum« drei regulatorische »Hauptzentren« ( foyers principaux). Ihre Wirk-»Sphären« bezeichnet er als »Regionen« (régions): erstens die »phrenische Region« (région phrénique), die Zwerchfell und Magen umfasst, zweitens die »hypochondrische Region« (région hypocondriaque), zu der die Leber, die Milz, ein großer Teile des Dünndarms und der »Bogen« des Dickdarms gehören, und drittens die »Region« der »Fortpflanzungsorgane«, des »urinären Systems« und des »Systems der unteren Eingeweide«.126 Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 446: »Il existe dans le corps vivant, indépendamment du cerveau et de la moelle épinière, différents foyers de sensibilité, où les impressions se rassemblent, en quelque sorte, comme les rayons lumineux, soit pour être réfléchies immédiatement vers les fibres motrices, soit pour être envoyées dans cet état de rassemblement au centre universel et commun.« Cabanis orientiert sich für die Ausweisung von »Sensibilitätsfoyers« an Dumas’ Principes de physiologie (1800-1803). Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 3, 263-264 ((Fußnote 1); Bd. 4, 27 (Fußnote 1); ibid., 291-292 (Fußnote 1); und Dumas 1800-1803, Bd. 1, 260-261: »Quoique les affections des élémens assemblés, retenus sous l’influence de la vie, paraissent de voir répondre à un seul et même centre; il est possible, dans la plupart des êtres un peu composés, de les distribuer en plusieurs systèmes ou départemens divers, d’admettre un centre particulier pour chacun, et de les faire néanmoins concourir tous ensemble vers un centre plus es sentiel et plus général. Une distribution de ce genre a lieu chez l’homme et chez les animaux, qui ont avec lui des analogies frappantes de con formation et de structure. Toutes les parties de leurs corps peuvent être rangées sous différens systèmes organiques, et chacun de ces systèmes a son centre, d’où partent les puissances qui l’animent et qui régularisent ses fonctions. Ainsi les nerfs divisés, répandus, distribués, forment le système nerveux ou sensitif dont le centre réside dans la tête. Les nombreuses divisions des vais seaux sanguins établissent le système vasculaire ou calorifique, qui a son centre placé dans la poi trine. Les organes digestifs et sécrétoires appar tiennent au système viscéral ou réparateur, dont le centre a son siège dans le bas-ventre. Les vaisseaux lymphatiques, les glandes et le tissu cellulaire, constituent le système absorbant ou collec teur qui, du canal thorachique, regardé comme son centre, aboutit a tous les points extérieurs de la peau. Enfin les organes de la génération de l’un et de l’autre sexe sont compris dans un dernier système qui, sous le nom de sexuel ou reproduc teur, a fixé son centre dans la cavité du bassin.« Ähnlich wie Bordeu hebt Cabanis die Besonderheit des »Drüsensystems« als »Sensibilitätsfoyer« hervor. Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 3, 308-309: »Or, tous les faits pathologiques prouvent que le système glandulaire forme, en quelque sorte, un tout distinct, ont les différentes parties communiquent entre elles, et ressentent vivement et profondément les affections les unes des autres.« 126 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 446. Cabanis (ibid.) weist darauf hin, dass die ersten beiden »Regionen« oft zusammen als »epigastrisches Foyer« bezeichnet werden, obwohl ihre »physischen und moralischen Effekte« ganz unterschiedlich sind.
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»Zustands«-Veränderungen der drei »Regionen« haben einen »beträchtlichen Einfluss« (influence considérable) auf die »Operationen der Intelligenz« und die »Bestimmungen des Willens«.127 Die Einflussgröße ihrer einzelnen »Organe« hängt von deren »Eigensensibilität« (sensibilité propre) und »Funktionen« ab.128 Dabei ist der »Eigensensibilitätsgrad« nicht notwendig an die »Bedeutung« einer »Funktion« gebunden.129 Die Leber, die Milz und die Lunge sind kaum »sensibel«, ihre »Funktionen« weisen jedoch einen großen »Einfluss« auf viele »Organe« aus.130 Alle »Zentren« – das »Gehirn« als »allgemeines Zentrum«, die »sekundären« Haupt-»Zentren« und die lokalen »Zentren« – sind miteinander durch einen »Kreis« (cercle) von Wechselwirkungen im übergreifenden »tierischen System« (système animal) verknüpft. In diesem »System« wird die »Abstimmung« (concert) und die »Harmonie« (harmonie) aller Aktivitäten durch den »allgemeinen Organisationsplan« (plan général d’organisation) der »primitiven Organisation« des Fötus als »Normalzustand« (état normal) vorgegeben, dem im adulten Körper die »Korrespondenzordnung« (ordre de correspondance)131 komplex vernetzter »Reaktionszentren« entspricht.132 Neben der Außen-Innenwelt-Schnittfläche differenziert sich damit nach der Geburt im Inneren »organisierter Körper« ein »Gesamtsystem« aktiv-reaktiver Einheiten, dessen »Aktions«-Dispositiv Cabanis hippokratisch als einen »Kreis« des »Lebens« ausweist, in dem »alles zusammenarbeitet, konspiriert und aufeinander abgestimmt ist« (tout y concourt, tout y conspire, tout y consent)133: »Dans cette chaîne non interrompue d’impres sions, de déterminations, de fonctions, de mouvements quelconques, tant internes qu’externes, tous les organes agissent et réagissent les uns sur les autres; ils se communiquent leurs affections; ils s’excitent, ou se répriment; ils se secondent, ou se balancent et se contiennent mutuellement: liés par des rapports de structure, ou de situation et de continuité, en tant que parties du même tout, ils le sont bien plus encore par le but commun qu’ils doivent remplir, par 127 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 275, 303 und 449-450. 128 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 415: »[…] le genre d’influence qu’exerce sur toutes les parties un organe majeur et prédominant dé pend surtout de deux circonstances particulières; je veux dire du degré de sa sensibilité propre et de l’importance de ses fonctions.«; und ibid., 422. 129 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 422. 130 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 422. 131 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 15. 132 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 15 (ordre de correspondance), 270-276 und 415 (plan général d’organisation). 133 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 3, 148 und 265; und ibid., Bd. 4, 11.
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l’influence que chacun d’eux doit exercer sur tous les actes qui concou rent à la conservation générale de l’individu. Ainsi, la nutrition peut être regardée comme la fonction la plus indispensable relativement à cet objet. Mais, pour que la nutrition s’opère, il faut que l’estomac et les intestins reçoivent l’influence nerveuse nécessaire à leur action; que le foie, le pancréas et les follicules glanduleux y versent les sucs dissolvants: il faut donc, d’une part, que l’organe nerveux soit convenablement excité par les impressions sympathiques qui déterminent cette influence; de l’autre, que la circulation des liqueurs générales et la sécrétion des sucs parti culiers s’exécutent avec régularité dans leurs or ganes respectifs. Or, pour que l’organe nerveux soit convenablement excité, il a besoin d’être sou tenu par la circulation; il faut, en outre, que la chaleur animale épanouisse les extrémités sen tantes les plus essentielles; et la marche de la circulation est à son tour soumise à la respiration, qui contribue elle-même très-puissamment à la production de cette chaleur. Si l’on considère successivement, de cette ma nière, toutes les fonctions importantes, on verra que chacune est liée à toutes les autres par des relations plus ou moins directes; qu’elles doivent s’exciter et s’appuyer mutuellement; que, par conséquent, elles forment un cercle dans le quel roule la vie, entretenue par cette réciprocité d’influence.«134
1.4 Transformationen Die Art und Weise des »Gebrauchs«, den ein »sensibler« Körper von seinem »Leben« macht, hängt nicht nur von seiner »inneren Organisation«, sondern auch von den »besonderen« oder »zufälligen Umständen« (circonstances particulières, circonstances accidentelles)135 seiner Außenwelt ab, die zu »zufälligen Modifikationen« (modifications accidentelles)136 und »zufälligen Dispositionen« (dispositions accidentelles)137 seines »allgemeinen Organisationsplans« führen können. In Cabanis’ Ansatz lassen sich drei allgemeine Formen von »Aktions«Dispositiven unterscheiden, die bestimmte »Aktionsweisen« (genres d’action) zwischen Innen- und Außenwelt charakterisieren: das »Temperament« (tempérament), die »Lebensweise« (genre de vie) und das »Regime« (régime).
134 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 411-412. Vgl. ibid., 400-401: »[…] nous voyons les organes partager les affections les uns des autres, entrer en mouvement de concert, s’exciter mutuellement, ou se balancer et se contrarier dans leurs fonc tions respectives. Un lien commun les unit; ils font partie du même système. Le degré de leur sensibilité, la nature et l’importance de leurs fonctions, certains rapports de situation, de structure, de but, ou d’usage, déterminent le caractère et fixent les limites de cétte influence réciproque.« 135 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 3, 376; und ibid., Bd. 4, 141 und 453. 136 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 8. 137 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 430.
VIII. Der Gebrauch des Lebens
Cabanis überführt antike Temperamentenlehren, vor allem in Rückgriff auf Galens Quod animi mores corporis temperamenta sequantur, in Modelle multipler »Sensibilitätszentren«, aus deren Zusammenhang ein »allgemeiner Sensibilitätszustand« resultiert, der sich zuerst im »primitiven Instinkt« zeigt. 138 Während der »allgemeine Sensibilitätszustand« das »Temperament« als inneren Habitus charakterisiert, erweitert Cabanis die Wirk-»Sphäre« organisierter Körper durch ihre »Lebensweisen« (genres de vie) in die »Außenwelt« hinein. Das »Temperament« stellt damit eine von der Innenwelt des Fötus ausgehende habitualisierte »Aktionsweise« (genre d’action) dar, die sich aus den »primitiven Dispositionen des Systems« (dispositions primitives du système) und den »Gewohnheiten der allgemeinen Sensibilität« (habitudes de la sensibilité générale) ableitet, während die »Lebensweise« nicht nur vom »Temperament«, sondern auch von den »besonderen Umständen« der »Außenwelt« geprägt und »modifiziert« wird.139 Lebende Individuen sind in der »Außenwelt« dem »Zufall der Umstände« (hasard des circonstances)140 ausgesetzt, die als »Chancen des Lebens« (chances de la vie)141 »Aktionen« begünstigen oder verhindern können. Zwischen dem »Temperament« und den neue Habitualisierungen einleitenden »Lebensweisen« vermittelt das »Regime« (régime), das als »Ensemble physischer Gewohnheiten« jede Art von »Lebensplan« (plan de vie) vertritt, der – instinktiv, durch »Zufälle« modifiziert oder im Rahmen einer Diätetik gewählt – den »Gebrauch« des »Lebens« in der Außenwelt regelt.142 Durch Wechselwirkungen zwischen allen drei »Aktions«-Dispositiven und ihrem modifikatorischen Einfluss auf die »innere Organisation« öffnet sich in Cabanis’ Ansatz ein Raum möglicher »Transformationen«, der, von den Muskeln bis zum »Denkorgan« reichend, den ganzen »physischen Zustand« eines lebenden Körpers umfasst: »[…] l’expression gé nérale régime embrasse l’ensemble des habitudes physiques; […] ces habitudes sont capables de modifier et même de changer non-seulement le genre d’action des or ganes, mais encore leurs dispositions intimes et le caractère des déterminations du système vivant. En effet, il est notoire que le plan de vie, suivant qu’il est 138 | Für dieses Modell bezieht sich Cabanis auf Johann Georg Zimmermanns Von der Erfahrung in der Arzneykunst (1763-1764) und verbindet dessen Pathologie der Umstände der Lebensart mit Bordeus Sensibilitätslehre. Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 3, 84-85. Für Cabanis’ Kritik antiker Humoralpathologien siehe ibid., 78-82. 139 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 429-430. 140 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 248. 141 | Cabanis 1823-1825, 1823-1825, Bd. 3, 8. 142 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 12 und 442. Cabanis (ibid., 56) spricht analog von den »Gewohnheiten des Temperaments« (habitudes du tempérament). Für Cabanis’ Begriff des »Regimes« siehe Cipollini 1998, 65-72.
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bon ou mauvais, peut améliorer consi dérablement la constitution physique, ou l’altérer et même la détruire sans ressource. Par cette in fluence chaque organe peut se fortifier ou s’affai blir; ses habitudes, se perfectionner ou se dégra der de jour en jour. Les impressions par lesquelles se reproduit l’ordre des mouvements conserva teurs, impressions qui tendent sans cesse à intro duire de nouvelles séries de mouvements, sont elles-mêmes susceptibles d’éprouver des chan gements notables. Si, par l’effet avantageux, ou nuisible du régime, les organes acquièrent de nouvelles manières d’être et d’agir, ils acquièrent également de nouvelles manières de sentir. Enfin, le changement primitif ne fut-il que circonscrit et local, ces modifications de la sensibilité sont le plus souvent imitées, en quelque sorte, par tout le système vivant.«143
An Hippokrates’ De aere, aquis et locis und Montesquieus L’esprit des lois (1748) anschließend, jedoch nicht auf die Ebene der »Völker«, sondern auf die des »Individuums« fokussierend, bestimmt Cabanis die »Außenwelt« eines »organisierten Körpers« allgemein als »Ensemble physischer Umstände« (ensemble des circonstances physiques).144 Ein solches »Ensemble« stellt das »Klima« eines »Ortes« dar.145 Ihm entspricht das »Regime« als »Ensemble aller Gewohnheiten des Lebens«. Je nach der Konstellation beider »Ensembles«, die »gewöhnlich abgestimmt aufeinander agieren«146, entsteht in Fortsetzung der »physiologischen Geschichte der Sensationen« des Fötus eine »Geschichte« 143 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 12-13. Vgl. ibid., 10: »Nous savons que nos idées, nos jugements, nos désirs, dépendent des impressions que nous recevons de la part des objets externes, ou de celles que nous éprouvons à l’intérieur, soit par les extrémités sentantes des nerfs qui se distri buent aux viscères, soit dans le sein même du sys tème nerveux; ou enfin du concours des unes et des autres, qui paraît presque toujours nécessaire au complément des sensations. Nous savons, en conséquence, que les changements survenus dans le caractère, dans l’ordre, ou dans le degré des im pressions internes, peuvent modifier singulière ment celles qui nous viennent des objets extérieurs.«; und ibid., 14: »Or, l’action de l’air, des aliments, des boissons, de l’exercice ou des travaux, du repos ou du sommeil, continuée pendant un long espace de temps, est-elle capable d’influer sur toutes les circonstances dont l’état physique se compose? C’est assurément ce que personne n’entreprendra de nier.«. 144 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 140-141. Im Table analytique bestimmt Destutt de Tracy Cabanis’ »Außenwelt« als »Ensemble aller natürlichen und physischen Umstände, in deren milieu wir an jedem Ort leben« (ensemble de toutes les cir constances naturelles et physiques au milieu desquelles nous vivons dans chaque lieu) (ibid., 498). milieu wird im Original nicht durch Kursivdruck hervorgehoben. Für den Einfluss von Montesquieu auf Cabanis siehe Cipollini 1998, 67. 145 | Cabanis (1823-1825, Bd. 4, 147-148) bezeichnet das »Klima« auch als die »Natur der Orte« (nature même des lieux). 146 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 442 und 449.
VIII. Der Gebrauch des Lebens
der »Transformationen« und »Modifikationen« der »primitiven Organisation«. Durch die Verschränkung von »Klima« (Außen), »Regime« (Aktion) und physischer »Organisation« (Innen) beginnt sich in Cabanis’ Ansatz die Logik zu etablieren, durch die das milieu nicht mehr nur einen Raum bezeichnet, durch den hindurch etwas geschieht, sondern auch ein Ensemble von Umständen, das durch seinen Bezug zu den »Aktions«-Dispositiven eines lebenden Körper zu einer umgebenden »Außenwelt« wird. Der »Normalzustand« eines organischen Körpers, der sich nach der Geburt aus seinem »allgemeinen Organisationsplan« ableitet, ist die Grundlage der »Abstimmung« zwischen dem »Orts«-typischen »Klima«, in dem er lebt, und dem (»Gewohnheiten« zum Ausdruck bringenden) »Periodizitätscharakter« (caractère de périodicité)147 seines »Regimes«, das vor allem »rhythmisch« auftretende innere »Bedürfnisse« wie Hunger und Schlaf und »aufeinanderfolgende Epochen des Lebens« (époques subséquentes de la vie)148 prägen. Bei höheren Tieren und Menschen wird dieses Grund-»Regime« durch »Leidenschaften« (passions), »Arbeitsweisen« (genres de travaux), »intellektuelle Gewohnheiten« (habitudes intellectuelles) und »soziale Gewohnheiten« (habitudes sociales) verändert.149 Des Weiteren können »Krankheiten« zu tiefgreifenden »Modifikationen« des »Regimes« führen.150 Je mehr wechselwirkende »Reak147 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 373. 148 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 321; und ibid., 431: »Aux différentes époques de la vie, le système contracte de nouvelles dispositions: les fonctions des organes ne s’exécutent pas de la même manière; il s’établit entre eux de nouveaux rapports.« 149 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, Bd. 4, 31 (Fußnote 1), 88, 234 und 453. 150 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 144-148; ibid., 234; ibid., 431-432: »Les causes capables de changer ou de modi fier le tempérament sont les maladies, le climat, le régime, les travaux habituels du corps ou de l’esprit.«; und ibid., 498: »Mais il a été prouvé que le tempérament, le régime, le genre des travaux, la nature et le caractère des maladies, in fluaient puissamment sur les opérations de la pensée: il ne s’agit donc que de faire voir que tout cela est extrêmement dépendant des circonstances physiques propres à chaque local.«; ibid., 437: »Quand la marche chronique des mêmes affections permet que cet état devienne une véritable habi tude, il se perpétue le plus souvent encore après que ses causes elles-mêmes ont entièrement dis paru.«; und 440-441: »Il est cependant quelques maladies qui produi sent des effets constants sur les dispositions et sur les habitudes des organes […] En général, pour influer sur le tempérament, une maladie doit pouvoir contribuer à produire les dispositions constantes des organes; elle doit même en faire partie. Pour l’altérer, il faut qu’elle efface leurs habitudes, et qu’elle les remplace par des habitudes nouvelles. Enfin, pour rendre le changement durable, il faut qu elle ait réduit à l’inaction les causes déterminantes de l’état an térieur, ou du moins qu’elle imprime à celles de l’état actuel un degré considérable de puissance et de fixité.«
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tionszentren« ein organisches »System« aufweist, desto einfacher kommt es zu pathologischen »Modifikationen«.151 Der »Normalzustand« des Menschen, der nicht nur auf einer hohen »Sensibilität« beruht und verschiedenste »Seinsweisen« (manières d’être) ermöglicht, sondern auch durch Erziehung »unendlich perfektionierbar« ist, unterliegt in stärkerem Maße als bei allen anderen Tieren den wechselnden »Umständen« der »Außenwelt« und der »Abstimmung« der »Operationen« seiner Innenwelt.152 Der »Zustand der Eingeweide« kann im Körper eines Menschen die »Ordnung der Gefühle und Ideen gänzlich umkehren« und zum »Wahnsinn« führen – ein »Zustand«, der für Cabanis »nichts anderes als eine Unordnung oder eine ungenügende Übereinstimmung gewöhnlicher Eindrücke (impressions ordinaires)« darstellt.153 Durch »besondere Umstände« und wiederholte »Versuche« (tentatives)154 der »Abstimmung« kann ein »langwährender« Modifikationsprozess »innerer Organisationen« einsetzen, der über »Aktionen« einzelner Organe und »besondere Fähigkeiten« hinaus auch »Transformationen« der »primitiven Dispositionen der Sensibilität« und des »natürlichen Temperaments« (tempérament naturel) betrifft, die als »neue«, »erworbene Temperamente« (tempéraments nouveaux, acquis) durch »Fortpflanzung« an nachfolgende Generationen »übertragen« werden.155 Diese »Weitergabe« (transmission) repräsentiert den 151 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 64-66. 152 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 9. 153 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 3, 86; ibid., Bd. 4, 122-123; und ibid., 425-426. Cabanis (1823-1825, Bd. 4, 355-356) verweist in diesem Zusammenhang auf Cullens Arbeiten zum Verhältnis zwischen »Schlaf« und »Delirium« (délire) oder »Wahnsinn« (folie): »Ce fut Cullen qui le premier reconnut des rap ports constants et déterminés entre les songes et le délire; ce fut surtout lui qui, le premier, fit voir qu’au début, et pendant toute la durée du sommeil, les divers organes peuvent ne s’assoupir que successivement, ou d’une manière très-inégale, et que l’excitation partielle des points du cerveau qui leur correspondent, en troublant l’harmonie de ses fonctions, doit alors produire des images irrégulières et confuses, qui n’ont aucun fonde ment dans la réalité des objets. Or, tel est, sans doute, le caractère du délire, proprement dit. Mais, faute d’un examen plus détaillé des sensa tions, ou de la manière dont elles se forment, et de l’influence qu’ont les diverses impressions in ternes sur celles qui nous arrivent du dehors, l’idée de Cullen est restée extrêmement incom plète: […]« 154 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 449. 155 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 146-147: »Mais l’empire des habitudes ne se borne pas à ces profondes et ineffaçables empreintes qu’elles laissent chez chaque individu, elles sont encore, du moins en partie, susceptobles d’être transmises par la voie de la génération. Une plus grande aptitude à mettre en jeu certains organes, à leur faire produire certains mouvements, à exécuter certaines fonctions; en un mot, des facultés particulières, développées à un plus haut degré, peuvent se propager de
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Übergang des »Gewohnheiten« erzeugenden Zyklus der »Wiederholung« (répétition, réitération) von (inneren und äußeren) »Aktionen« eines Individuums in den Zyklus der »Reproduktion« (reproduction) zwischen Individuen: »Si donc les causes de certaines impressions agis sent assez fréquemment, ou durant un temps as sez long, sur le système, elles pourront changer ses habitudes et celles des organes; elles pourront conséquemment introduire les dispositions acci dentelles, ou les tempéraments nouveaux, que ces habitudes constituent. Telle est la véritable source des tempéraments acquis.«156 race en race […]«. Cabanis (ibid., 147, Fußnote 1) belegt die Weitergabe »besonderer Eigenschaften« durch ein Beispiel aus Georges Leroys Lettres sur les animaux (die nach 1768 in mehreren Auflagen erschienen): »George Le Roi, dans ses Lettres sur les animaux, observe que, quoique le chien n’arrête point naturellement, les excellentes chiennes d’arrêt font des petits qui, très-souvent, arrêtent, sans leçons préalable, la première fois qu’on les met en présence du gibier.« Ein an Gewohnheiten gekoppeltes Modell generationsübergreifender Übertragungen findet sich auch bei Erasmus Darwin. Vgl. Darwin 1818, Bd. 1, 376: »The ingenious Dr. Hartley in his work on man, and some other philosopher, have been of opinion, that our immortal part acquires during this life certain habits of action or of sentiment, which become for ever indissoluble, continuing after death in a future state of existence; and add, that if these habits are of the malevolent kind, they must render the possessor miserable even in Heaven. I would apply this ingenious idea to the generation or production of the embryon, or new animal, which partakes so much of the form and propensities of the parent.« 156 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 449. Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 429: »Nous avons également reconnu que toute fonc tion, tout acte, tout mouvement quelconque, exé cuté dans l’économie animale, est produit par des impressions antérieures, soit externes, soit inter nes; que les impressions, en se réitérant, rendent les mouvements subséquents plus faciles; qu’elles- mêmes ont d’autant plus de tendance à se reproduire, qu’elles ont eu lieu plus souvent, ou duré plus long-temps; et qu’ainsi la répétition fréquente des mêmes impressions, et des mouvements qui s’y rapportent, est capable de modifier beaucoup l’action des organes, et même les dispositions pri mitives de la sensibilité.«; ibid., 430: »Les dispositions accidentelles étant susceptibles de se fortifier de plus en plus, de se fixer et de se transmettre dans les races, les tempéraments acquis sembleraient pouvoir être considérés sous deux points de vue différents: je veux dire, comme pro duits éventuellement chez les individus, sans qu’on puisse en trouver le germe particulier dans leur organisation originelle; ou comme développés lentement et successivement dans les générations, confirmés par l’action constante de leurs causes, et transmis des pères aux enfants, à travers une longue succession d’années.«; ibid., 430-431: »[…] Il faut donc entendre par tempérament naturel celui qui naît avec les individus, ou dont ils apportent les dispositions en venant au jour; et par tempérament acquis, celui qui se forme chez les individus par la longue persistance
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Die »Transformation« eines »natürlichen Temperaments« in ein »erworbenes Temperament« kann vom Menschen »nachgeahmt« werden, indem er durch »Züchtung« (cultivation) in »Fortpflanzungsprozesse« (procédés de la génération) eingreift oder »vollkommen künstliche Reproduktionen« (reproductions purement artificielles) durchführt.157 Die »Grenzen« der »Transformation« eines »Temperaments« hängen für Cabanis von der »Tiefe des ursprünglichen Eindrucks« (profondeur d’un empreinte originelle) der »primitiven Organisation« ab.158 Während der embryonalen Entwicklung können bereits auf »unwiderrufbare« Weise zwischen Individuen des gleichen Organisationstyps »prides impressions accidentelles auxquelles ils sont exposés.«; und ibid., 498: »Il est constant que la fréquente répétition des mêmes actes donne plus de disposition et de facilité à les exécuter, et que cette disposition se transmet et s’accroît dans les races par la génération. Des impressions constantes et continuelle ment répétées modifient donc les dispositions organiques d’une manière profonde, et qui se perpétue.« 157 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 8-9: »Ainsi l’on voit les plantes maniées par un ha bile cultivateur acquérir des qualités absolument nouvelles, imprimer à leurs produits un caractère qu’ils n’avaient pas primitivement. L’art a même su trouver les moyens de fixer ces modifications accidentelles et factices, tantôt en assujettissant à ses vues les procédés ordinaires de la génération, tantôt en opérant des reproductions purement artificielles; monument précieux de son pouvoir sur la nature! C’est encore ainsi que l’animal, tra vaillé par le climat et par toutes les autres cir constances physiques, reçoit une empreinte parti culière qui peut servir à constater et distinguer ces mêmes circonstances; ou nourri, cultivé, dressé systématiquement par l’homme, il acquiert des dispositions nouvelles, et entre dans une nouvelle série d’habitudes. Mais ces habitudes ne se rap portent pas uniquement à la structure et aux opé rations physiques des organes, elles attestent en core que le système intelligent et moral propre à chaque nature sensible s’est developpé par l’ef fet de cette culture, qu’un certain ordre d’impressions a fait naître en lui certaines inclinations et certains sentiments; et ces dispositions acquises qui paraissent chez l’animal gravées en traits plus distincts et plus fermes que dans la plante, s’y perpétuent aussi plus sûrement de race en race, et montrent aux yeux les plus irréfléchis combien le génie de l’observation et de l’expérience peut améliorer les choses autour de nous.« 158 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 148 und 432: »Observons seulement que la puissance de ces causes est toujours subordonnée, jusqu’à certain point, aux tendances qui résultent de l’empreinte originelle. Si cette empreinte est profonde, l’ex périence nous apprend qu’elle peut résister à toutes les impressions ultérieures; et lors même qu’elle est plus superficielle, elle tempère toujours l’action des causes qui tendent à l’altérer: car elle ne leur est soumise, qu’en tant que l’économie animale est susceptible de recevoir des séries d’impressions nouvelles; et le caractère de ces impressions dé pend lui-même, en grande partie, des dispositions antérieures de tout l’organe sentant.«
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mordiale Differenzen« des »Energiegrads und des Sensibilitätscharakters« auftreten.159 Nach der Geburt stellt sich eine »vollkommene Änderung der Dispositionen des Systems« (changement complet dans les dispositions du système) eines lebenden Körpers nur dann ein, wenn modifikatorische Umstände über sehr lange Zeiträume »vereint und aufeinander abgestimmt wirken«.160 In den Rappports unterstützt Cabanis Positionen, die davon ausgehen, dass »Arten« durch die »Umstände des Lebens« allein innerhalb der Grenzen ihrer »ursprünglichen Temperamente« oder »Dispositionen« (tempéraments, dispositions originelles) in Form von »akzessorischen Charakteren« (carac tères accessoires) modifiziert werden.161 Er weist jedoch zugleich darauf hin, dass keinesfalls »bewiesen« ist, dass die »Arten heute noch in ihrer primitiven Bildung« 159 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 3, 376-377: »Il est possible que les circonstances particulières qui président à la formation de chaque individu de la même espèce déterminent irrévocablement le degré d’énergie et le caractère de sa sensibilité: par exemple, il est possible qu’il y ait d’homme à homme des différences primordiales dans ce qu’on peut appeler le principe sensitif lui-même; il est du moins très-sûr que ces différences ont lieu d’espèce à espèce. Mais, comme nous ne savons point de quelle combinaison dépend le phéno mène de la sensibilité, tout ce que nous pouvons est de rechercher la cause de ses modifications dans celles des parties où cette faculté s’exerce, sans qu’une saine logique puisse jamais nous permettre de personnifier réellement la sensibilité elle-même en lui prêtant des qualités antérieures à l’existence de ces parties ou indépendantes des circonstances de leur organisation.« Cabanis hält es für möglich, dass nach der Geburt erworbene »Gewohnheiten« zur Bildung neuer »Nervenzentren« führen. Er weist des Weiteren darauf hin, dass »Sympathien« zunächst schwache »Modifikationen« verstärken oder in umgekehrter Weise anfangs starke Einflüsse abschwächen können. Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 15: »Quelquefois un effet très-faible en lui-même, ou déterminé par l’application fortuite et fugitive de sa cause à des organes de peu d’importance, acquiert secondairement une force considérable, ou fait naître dans d’autres organes, et même dans des organes essentiels, une série sympathique de nouveaux phénomènes très-frap pants. Quelquefois, au contraire, un effet forte ment prononcé dans l’origine, loin de transmettre au reste du système l’agitation de l’organe primi tivement affecté, s’affaiblit rapidement à raison de la disposition des autres organes, et bientôt disparaît sans retour.«; und ibid., 318319: »[…] dans le sys tème animal, il peut exister primitivement, ou se former par l’effet des habitudes postérieures de la vie, un nombre plus ou moins grand de ces centres nerveux qui, quoique liés et subordonnés au centre commun, ont leur manière de sentir propre, exercent leur genre d’influence, et restent souvent isolés dans leurs domaines respectifs, soit par rapport aux impressions reçues, soit par rapport aux mouvements exécutés […]« 160 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 453-454. 161 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 161-162.
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vorliegen.162 »Zufällige Veränderungen« (changements fortuits), die sich über Generationen hinweg verstärken, könnten zu »wichtigen Transformationen« (transformations importantes) geführt haben.163 Cuviers Annahme, dass »Arten«, die sich aus fossilen Tierresten in Ablagerungen rekonstruieren lassen und keinen rezenten lebenden Tieren »ähneln«, ausgestorben sind, ohne sich in anderen Organisationsformen fortzusetzen, berücksichtigt für Cabanis nicht, dass diese Differenzen möglicherweise aus sukzessiven »Modifikationen« hervorgegangen sind.164 Die »Geschichte« organisierter Körper, neue »Gewohnheiten anzunehmen« (contracter des habitudes), reicht für Cabanis so weit zurück, dass es »fast immer« unmöglich ist, ihre »primordialen Zustände« (états primordiaux) zu bestimmen.165 »Aktionen« und »Versuche«, die Innen- und Außenwelt aufeinander abstimmen, stellen für Cabanis Akte der »Verähnlichung« (assimilation) und der »Nachahmung« (imitation) dar. Sie reichen vom »physischen« bis zum »ideologischen Zustand«.166 Die Verdauung passt durch »assimilatorische« Prozesse »fremde Stoffe« an die »Organisation« des Körpers an. »Gewohnheiten«, die
162 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 248-249. Staum (1980, 187-188) hebt neben Lamarck vor allem den Einfluss von Étienne de Lacépèdes Discours sur la durée des espèces (1800) auf Cabanis hervor. 163 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 161-162: »Obser vons, en outre, que lorsque ces causes [modifiantes] sont insuf fisantes pour opérer d’une manière décisive sur les individus, elles n’en exercent pas moins une puissante influence sur les races: car des causes fixes et constantes, comme l’est en particulier le climat, agissent sans relâche sur les générations successives, et toujours dans le même sens; et les enfants recevant de leurs pères les dispositions ac quises, aussi-bien que les dispositions originelles, il est impossible que les races échappent à cette influence de causes qui s’exercent durant des espaces de temps illimités, quelque faible qu’on suppose leur action à chaque instant.«; und ibid., 248-250. 164 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 249-250. 165 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 6-8 und 430. 166 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 145: »Personne ne peut ignorer que la nature animale est singulièrement disposée à l’imitation. Tous les êtres sensibles imitent les mouvements sur lesquels leur observation a pu se fixer: ils s’imitent sur tout euxmêmes, c’est-à-dire qu’ils ont un pen chant remarquable à répéter les actes qu’ils ont exécutés une fois; ils les répètent d’autant plus facilement et d’autant mieux, qu’ils les ont exé cutés plus souvent; enfin, ils les répètent aux mêmes heures, et dans le même ordre de succes sion, par rapport, à d’autres mouvements que certaines analogies ou la simple habitude ont coor donnés, avec ces actes, dans leur souvenir. Cette tendance se montre plus évidemment encore dans les déterminations automatiques des animaux, que dans celles où le raisonnement a quelque part.«
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aus einer »physischen Tendenz zur Nachahmung« hervorgehen167, setzen sich in »Operationen der Intelligenz« fort, die durch »Zeichen« (signes) bestimmte »Eindrücke« kennzeichnen, um sie für besondere Zwecke (etwa zur »Erinnerung« und zur »Kommunikation«) zu verwenden und »erneut fühlen« (sentir de nouveau) zu können. »Soziale Instinkte« (instincts sociaux) übertragen in Cabanis’ Ansatz innere »Affinitäten« und »Sympathien« zwischen »Organen« auf präreflexive »Sympathien« unter Menschen.168 Eine solche Übertragung stellt für ihn eine »Fähigkeit« dar, »sich selbst zu imitieren« ( faculté de s’imiter soi-même)169, da man im Anderen nur seinen eigenen inneren Habitus wiedererkennt. Sie wandelt sich durch »Erziehung« zur reflexiven »Fähigkeit, Andere zu imitieren« ( faculté d’imiter autrui) und wird damit zur Grundlage jeglichen Wissens über das Andere der Natur.170 Akte der »Nachahmung«, die der »Koordination« zwischen Innen- und Außenwelt dienen, leiten auf diese Weise 167 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 146: »Et c’est […] sur ce penchant physique à l’imitation, sur cette puissance de l’habitude, qu’est fondée toute celle de l’éducation, par conséquent la perfecti bilité, commune à toute nature sensible, et dont l’homme surtout, placé sur le globe à la tête de la classe entière des animaux, paraît éminemment doué.« 168 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 330-331; und ibid., 337-338: »Du moment que nous supposons dans un être des sensations, des penchants, un moi, pour peu que cet être excite notre attention, il ne peut plus nous rester indifférent. Ou la sympathie nous attire vers lui, ou l’antipathie nous en écarte; ou nous nous associons à son existence, ou elle devient pour nous un sujet d’effroi, de repoussement, de haine et de colère. Il est aussi naturel, pour tout être sensible, de tendre vers ceux qu’il suppose sentir comme lui, de s’identifier avec eux, ou de fuir leur présence et de haïr leur idée, que de rechercher les sensations de plaisir et d’éviter celles de douleur. Sans doute, ces dispositions, aussitôt qu’elles commencent à s’élever au-dessus du pur instinct, c’est-à-dire, aussitôt qu’elles cessent d’être de simples attractions animales, ou des détermina tions relatives à la conservation de l’individu, à sa nutrition, au développement et à l’emploi de ses organes naissants; ces dispositions se rappor tent dès lors aux avantages que nous pouvons retirer des autres êtres, aux actes que nous de vons en attendre, ou en redouter, aux intentions que nous leur supposons à notre égard, à l’action que nous espérons ou n’espérons pas d’exercer sur leur volonté. Mais dans ces derniers senti ments il entre une foule de jugements inaper çus. Ce puissant besoin d’agir sur les volontés d’autrui, de les associer à la sienne propre, d’où l’on peut faire dériver une grande partie des phénomènes de la sympathie morale, devient, dans le cours de la vie, un sentiment très-réfléchi: à peine se rapporte-t-il, pendant quelques instants, aux déterminations primitives de l’instinct; mais il ne leur est jamais complètement étranger.« 169 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 352. 170 | Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 3, 95-96; und ibid., 352-355.
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von den »Animalisationsmodi« (modes d’animalisation)171 der »fühlenden Kombination« auf den »sozialen Menschen« (homme social)172 und dessen »soziale Ordnung« (ordre social)173 über.174 Nach 1800 geht Lamarck, ähnlich wie Cabanis, von einer chemischen Konstitutions- und physiologischen »Gebrauchs«-Geschichte der Organisation und der Sensibilität des Lebendigen aus. Im Zentrum von Lamarcks Ansatz steht jedoch nicht mehr eine Wissenschaft des Menschen und der Zusammenhang von ideologischen und moralischen Zuständen, sondern eine »zoologische Philosophie« der Tiere, in der auch der Mensch vorkommt. In dieser »zoologischen Philosophie« ersetzt das Infusorium die primitive Ordnung des Embryos und ein Vergleich verschiedener Organisationsformen der série animale dessen Entwicklung zu einem komplex organisierten Körper.
171 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 331. 172 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 126. 173 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 228. 174 | Cabanis 1823-1825, Bd. 4, 355: »Je n’ajoute plus qu’une réflexion; c’est que la faculté d’imitation qui caractérise toute nature sensible, et notamment la nature humaine, est le principal moyen d’éducation soit pour les indi vidus, soit pour les sociétés; qu’on la trouve, en quelque sorte, confondue à sa source avec les tendances sympathiques, sur lesquelles l’instinct social et presque tous les sentiments moraux sont fondés; et que cette tendance et cette faculté font également partie des propriétés essentielles à la matière vivante réunie en système. Ainsi, les causes qui développent toutes les facultés intel lectuelles et morales sont indissolublement liées à celles qui produisent, conservent et mettent en jeu l’organisation; et c’est dans l’organisation même de la race humaine qu’est placé le principe de son perfectionnement.« Für sein Modell des »sozialen Menschen« nähert sich Cabanis Rousseaus’ Ansatz. Vgl. Cabanis 1823-1825, Bd. 2, 189: »L’existence de l’homme n’est pas isolée et solitaire. La nature l’a fait être sociable: elle a rendu la société nécessaire au complément de sa vie; elle ne le fait naître qu’en société.«; ibid., Bd. 4, 329: »En effet, le système des affec tions dépend presque tout entier des rapports sociaux; et toute société civile quelconque a tou jours pour base, et nécessairement aussi pour ré gulateur, la société primitive de la famille.«; und Staum 1974. Für Differenzen zwischen Cabanis und Rousseau siehe Teysseire 1982, 32-34.
VIII. Der Gebrauch des Lebens
2. L AMARCKS PHILOSOPHISCHE Z OOLOGIE Die »Ordnungs«- und »Zustands«-Formen der »organisierten Massen« (masses organisées)175 von Pflanzen, Tieren und Menschen hängen für Jean-Baptist Lamarck, der seit 1793 Professor für »niedere Tiere« am Muséum d’histoire naturelle in Paris ist, von den kontinuierlichen Transformationsprozessen aller in der »Natur« vorkommenden »physischen Körper« ab, welche die physique terrestre seiner Hydrogéologie (1802) bestimmen, doch unterscheidet er erstere als »lebende Körper« von allen anderen, »unlebendigen Körpern«.176 Zur Ausweisung dieser Differenz schließt Lamarck an Reiz-Reaktions-Schemen physiologischer Modelle an, zu denen etwa Richerands Prinzip organischer Sensibilität und ernährender Identifikation gehört.177 »Erregte Bewegungen« 175 | Der von Lamarck häufig verwendete Ausdruck »organisierte Masse« findet sich auch in Georges Buffons Histoire naturelle, générale et particulière (1749-1804) im Kontext der Bildung und der ersten Ordnungsformen organischer Körper. Vgl. Buffon 1749-1804, Bd. 2 (1749), 359 und 361. In seiner Theorie der Erdentstehung und der Histoire naturelle des minéraux (1783-1788) bezieht sich Buffon unter anderem auf »Erdmassen« (masses de terre) und »Granitmassen« (masses de granit). 176 | Lamarcks physique terrestre und Theorie der Erde ist gegen Cuviers Katastrophentheorie gerichtet. Vgl. Lamarck 1794, Bd. 1, 19-24; 1802a, 83-84: »Les seules catastrophes qu’un naturaliste puisse raisonnablement admettre comme ayant pu avoir lieu, sont les catastrophes partielles ou locales, celles qui dépendent de causes qui n’agissent qu’en des lieux isolés: tels sont les bouleversements qui sont causés par des éruptions volcaniques, par des tremblemens de terre, par des inondations locales, par de violens ouragans etc.«. Siehe hierzu auch Carozzi 1964; Corsi 1988, 40-122; und Gohau 1997. Für Lamarcks Unterscheidung »lebender« und »unlebendiger Körper« siehe Barsanti 1997. Bio- und bibliographische Angaben über Lamarck sowie Werksinterpretationen finden sich bei Landrieu 1909; Tschulok 1937; Bourdier 1971; Burlingame 1973; Jordanova 1976 und 1984; Burckhard 1977; Barthelemy-Madaule 1979; Szyfman 1982, 3-29; Delange 1984; Corsi 1988; Laurent 1997 und auf der Webseite www.lamarck.cnrs.fr. 177 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 1, 385-400; und ibid., Bd. 2, 21-22 und 93-97. In der Philosophie zoologique (1809) weist Lamarck wiederholt darauf hin, dass sein Ansatz auf anderen Physiologien aufbaut. Vgl. Lamarck 1809, Bd. 1, 270: »Ce n’est point un traité de physiologie que l’on doit s’attendre à trouver ici: le public possède d’excellens ouvrages en ce genre, sur lesquels je n’ai que peu de redressemens à proposer. Mais je dois rassembler, à cet égard, des faits généraux et des vérités fondamentales bien reconnues, parce que j’aperçois qu’il jaillit de leur réunion des traits de lumière qui ont échappé à ceux qui se sont occupés des détails de ces objets, et que ces traits de lumière nous montrent, avec évidence, ce que sont réellement les corps doués de la vie, pourquoi et comment ils existent, de quelle manière ils se développent et
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(mouvements excités), und nicht durch Partikel-Kollisionen »kommunizierte Bewegungen« (mouvements communiqués), charakterisieren für Lamarck die Ordnung des Lebendigen.178 Neben den Reiz-Reaktions-Schemen »lebender Individuen« verweist Lamarck zum einen auf die Tendenz ihrer »inneren Organisation« (organisation intérieure), sich aufgrund der Dynamik wechselwirkender Teile in komplexere Systeme zu differenzieren, und zum anderen auf den modifizierenden Einfluss »äußerer Umstände« (circonstances extérieurs), die »Existenzweisen« (modes d’existences) und »Gewohnheiten« (habitudes) mitbestimmen. Reiz-Reaktions-Schemen, »innere Organisationen« und »äußere Umstände« konstituieren eine auf das »Leben« von Individuen ausgerichtete Physiologie, in der es um den Zusammenhang zwischen den allgemeinen physischen »Bedingungen« (conditions) der Existenz »lebensfähiger Körper« (corps doués à la vie) mit den Momenten geht, die zur Veränderung der Ordnung dieser Körper führen können. Ähnlich wie bei Cabanis öffnet sich in Lamarcks Ansatz ein Feld der Modifikabilität des »Typen«-Modells organischer Organisation, das den von Cuvier gesetzten Schwerpunkt in der vergleichenden Anatomie, der von den »Existenzbedingungen« unveränderlicher Organisationstypen ausgeht, durch Fragen nach dem »Gebrauch des Lebens« in der Außenwelt erweitert. Zugleich bindet Lamarck die Tendenz von Cabanis’ fühlenden Kombinationen, sich durch ihre interne Dynamik in komplexe Ordnungen organisierter Körper zu differenzieren, in einen »Marsch der Natur« ein, durch den sich »besondere Organisationssysteme« vervollkommnen. Letzten Endes überführt Lamarck Cabanis’ »Wissenschaft des Menschen« in das Agentenmodell einer »zoologischen Philosophie«, in dessen Zentrum nicht mehr der Mensch, sondern, ausgehend von einfachen Organisationsformen, die »besondere Individualität« (individualité spécifique)179 der Tiere steht.
2.1 Die E xistenzbedingungen lebensfähiger Körper Zur Darstellung der physischen »Bedingungen« der Existenz »lebensfähiger« Tierkörper geht Lamarck, analog zu seiner Vorgehensweise im »Pflanzenreich«180, nicht von der komplexen Organisation der Menschen und Wirbeltiere, sondern von den am einfachsten organisierten wirbellosen Tieren – »Polyse reproduisent; enfin, par quelles voies les facultés qu’on observe en eux ont été obtenues, transmises et conservées dans les individus de chaque espèce.« Für den Kontext von Lamarcks Physiologie siehe Schiller 1969. 178 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 331. 179 | Vgl. Lamarck 1802b, 114-117. 180 | Siehe hierzu Lamy 1997.
VIII. Der Gebrauch des Lebens
pen« und »Infusorien« – aus, in denen sich die »grundlegenden Bedingungen für die Ausführung vitaler Bewegungen« (conditions essentielles à l’exécution des mouvemens vitaux)181 finden.182 Unter den zehn »Klassen« wirbelloser Tiere, die Lamarck 1809 in der Philosophie zoologique unterscheidet, bilden die »Infusorien« die »ersten Skizzen des Lebens« (premières ébauches de la vie)183, die als »lebende Individuen«184 bereits über die »wichtigsten Fähigkeiten« der »Tierheit« (animalité) verfügen: »Les infusoires ne peuvent guères nous intéresser que sous le rapport de l’extrême simplicité de leur organisation, qui se trouve réduite à ce qui est strictement nécessaire pour produire en eux le phénomène de la vie animale, sans les faire jouir d’aucune faculté particulière. Ils nous offrent donc la seule organisation qui doive être considérée pour savoir ce qui est absolument essentiel à la production de la vie animale.« 185
Ausgehend von den »ersten Skizzen« lassen sich, in Form eines »Aufstiegs« (progression), »Typen« höherer »Komplexität« und »Differenzierung« abgrenzen, in denen bereits »besondere Organsysteme« und »besondere Fähigkeiten« vorliegen.186 Umgekehrt führt ein Weg der »Abstufung« (dégradation) 181 | Lamarck 1817c, 10. 182 | Vgl. Lamarck 1802b, 10: »Au point où sont actuellement les connoissances d’observations, le naturaliste-philosophe a lieu d’être convaincu que c’est dans ce qu’on appelle les dernières classes des deux règnes organiques, c’est-à-dire, dans celles qui comprennent les corps vivans les plus simplement organisés, que l’on peut recueillir les faits les plus lumineux et les observations les plus décisives sur la production et la reproduction des corps vivans dont il s’agit, sur les causes de la formation des organes de ces êtres admirables, et sur celles de leurs développemens, de leur diversité et de leur multiplicité qui s’accroissent avec le concours des générations, des temps et des circonstances influentes.«; und 1809, Bd. 1, 365: »[…] nous devons rechercher, dans la plus simple de toutes les organisations, en quoi consiste réellement la vie, quelles sont les conditions essentielles à son existence, et dans quelle source elle puise la force particulière qui excite les mouvemens qu’on nomme vitaux.« 183 | Vgl. Lamarck 1802b, 10-11; und 1809, Bd. 2, 63 und 104-105. 184 | Vgl. Lamarck 1794, Bd. 2, 223; und 1809, Bd. 2, 118. 185 | Lamarck 1812, 14. Die zehn Klassen umfassen: 1. Mollusken, 2. Cirripedien 3. Anneliden 4. Crustaceen 5. Arachniden 6. Insekten 7. Würmer 8. Radiata 9. Polypen 10. Infusorien. Für Lamarcks Taxonomien und Klassifikationsmethoden siehe Daudin 1926; Burckhardt 1977, 115-142; und Conry 1980, 120. 186 | Vgl. Lamarck 1812, 14: »A mesure ensuite que l’organisation se complique, on a des motifs suffisants pour assurer que les systèmes d’organes particuliers qu’on apperçoit, ne sont essentiels à la vie que dans les organisations dont ils font partie, et non ailleurs.«
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und »Reduktion« (réduction) zurück zu den »niederen Tieren«, deren Existenz innerhalb der Klasse der »Infusorien« auf einem »einfachen, homogenen, gelatinösen Körper« beruht, der »kaum Konsistenz« aufweist, keine »besonderen Organe« besitzt und allein aus einem »sehr delikaten zellulären Gewebe« aufgebaut ist.187 Ganz am Ende dieser »Abstufung« stehen die »Monaden« (monades), und unter diesen ist wiederum die monade terme »das unvollkommenste und einfachste bekannte Tier«, da ihr »extrem kleiner Körper« nur noch einen »transparenten, aber kontraktilen Punkt« bildet.188 Innerhalb der ersten »Skizzen des Lebens« kommt es durch »Erregungen« (excitations), die von »subtilen und sich beständig in Bewegung befindlichen Flüssigkeiten« ausgehen, zu Kontraktionen und Bewegungen. Lamarck unterscheidet zwischen »enthaltbaren Flüssigkeiten« ( fluides contenables) – etwa »atmosphärische Luft«, verschiedene »Gase« und »Wasser« –, welche die »Wände« (parois) der organischen »Punkte« nicht passieren, und »nicht-enthaltbaren« oder »subtilen Flüssigkeiten« ( fluides incontenables, subtiles) – zu denen er »Wärme« und »Elektrizität« zählt 189 –, die sich durch die »Wände umhüllender Membrane« bewegen können.190 Die »subtilen Flüssigkeiten«, die, in verschiedener »Proportion« und »Dichte«, überall auf der Welt vorhanden sind, dringen »beständig« aus den »umgebenden Milieus« (milieux environ187 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 1, 130; und 1812, Bd. 1, 212. Der »Aufstieg« ist für Lamarck (1809, Bd. 1, 134) Teil des »allgemeinen Plans der Natur« (plan général de la nature) und des »uniformen Marsches in ihren Operationen« (marche uniforme dans ses opérations). 188 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 1, 281. 189 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 17-18: »Tenter d’expliquer comment ces fluides agissent, et de déterminer positivement le nombre de ceux qui entrent comme élémens dans la composition de la cause excitatrice de tous les mouvemens organiques; ce seroit abuser du pouvoir de notre imagination, et créer arbitrairement des explications dont nous n’avons pas les moyens d’établir les preuves. Il nous suffit d’avoir montré que la cause excitatrice des mouvemens qui constituent la vie, ne réside dans aucun des fluides visibles qui se meuvent dans l’intérieur des corps vivans; mais qu’elle prend sa source principalement, savoir: 1) dans le calorique, qui est un fluide invisible, pénétrant, expansif, continuellement actif, se tamisant avec une certaine lenteur à travers les parties souples qu’il distend et rend irritables par ce moyen, se dissipant et se renouvelant sans cesse, et ne manquant jamais entièrement dans aucun des corps qui possèdent la vie; 2) dans le fluide électrique, soit ordinaire pour les végétaux et les animaux imparfaits, soit galvanique pour ceux dont l’organisation est déjà trèscomposée; […]« 190 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 86-87. Zum Verhältnis von Lamarcks Theorie »subtiler Flüssigkeiten« und Newtons Äthertheorie siehe Hodge 1971b, 351-352; und Conry 1981.
VIII. Der Gebrauch des Lebens
nants, ambiants) in »organisierte Körper« ein und »unterhalten dort das Leben« als einen »Organisations«-spezifischen und prozessual bestimmten »Zustand«.191 In einem nach 1800 entwickelten Schema dient Lamarck die »Skizze« der »inneren Organisation« der monade terme als Modell der »spontanen« Entstehung lebendiger Körper.192 Die »Animalisation« (animalisation) nicht-lebendiger »Zusammensetzungen« beruht entsprechend auf der Aktivität einströmender subtiler Flüssigkeiten, aus der nach und nach im Inneren plastischer »Materiemassen« (masse de matières) ein Verbund von »Zwischenräumen« (interstices) und »Hohlräumen« (cellules) unter den und innerhalb der Körperbildenden »Moleküle« entsteht. Diese »Anordnung« (arrangement) oder »Organisation« »begünstigt« für Lamarck »absorbierende« und »exhalierende« Austauschbewegungen, die sich sowohl zwischen den in »Hohlräumen« »enthaltenen« und den sie umgebenden »enthaltenden Flüssigkeiten« als auch zwischen dem ganzen Körper und der Außenwelt einstellen.193 191 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 1, Avertissement, xvi; und ibid., Bd. 2, 4-5. 192 | Für Lamarck sind allein lebende Körper fähig, »Kompositionen« (compositions) von »Molekülen« für »Zusammensetzungen« (composés) zu »produzieren«, die anschließend, verschiedene Dekompositions- und Aggregationsprozesse durchlaufend, Grundlage der Stoffe aller anderen Körper sind. Vgl. Lamarck 1794, Bd. 1, 31; und 1802a, 154. Während Lamarck vor 1800 die Präexistenz des Lebendigen unterstützt, geht er nach 1800 von der »spontanen« Erzeugung der »ersten Skizzen« organischer Körper. Damit entsteht in seinem Ansatz das Dilemma, dass die Existenz organischer Körper Voraussetzung und Resultat ein und desselben Prozesses ist. Lamarck hat zu dem Dilemma nicht Stellung genommen. Siehe hierzu Burckhard 1972; Russo 1981; Corsi 1988, 112-120; und Tirard 2006. 193 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 1, 372-373 ; ibid., Bd. 2, 86 ; ibid., 308: »Les animaux les plus imparfaits, tels que les infusoires, et surtout les monades, ne se nourrissent qu’au moyen d’absorptions, qui s’exécutent par les pores de leur peau, et par une imbibition intérieure des matières absorbées.« ;1820, 115-116: »En donnant l’existence aux corps inorganiques, et en formant pour cela différens assemblages de matières diverses, ce qu’elle parvient à faire tantôt par de simples réunions, tantôt par cohésion ou par agrégation de molécules, la nature a pu, parmi les corps qui sont résultés de ses opérations, en former qui soient propres à recevoir les premiers traits de l’organisation et les mouvemens qui constituent la vie. C’est effectivement ce qu’elle paroît avoir fait, en donnant lieu parmi les corps inorganiques, à de très-petits corps gélatineux de la plus faible consistance. Or, les fluides subtils des milieux environnans, pénétrant dans ces corps, produisirent, dans les interstices de leurs molécules cohérentes, un léger écartement qui transforma ces petites masses gélatineuses en masses cellulaires. Bientôt après, les petites cellules qui en résultèrent, recevant des ouvertures dans leurs parois, communiquèrent entre elles, et des liquides pénétrèrent dans leur intérieur. C’est
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Die »Produktion des Typs« Monade ist als Prozessschema allgemeine Grundlage der ganzen »Ordnung der Produktion der Tiere durch die Natur«.194 Durch beständige Bewegungen und Erregungen zwischen »subtilen Flüssigkeiten«, »Hohlräumen«, weichen »Wänden« und anderen, »enthaltbaren Flüssigkeiten« entsteht eine reproduktive Dynamik, die, im Inneren »organisierter Körper«, zu immer neuen Differenzierungen und »Kommunikations«-Systemen führt.195 Flüssigkeitsbewegungen bilden oder erweitern bereits angelegte »Passagen« (passages), »Strukturen« (structure) und »Verbindungen« (communications) zwischen »Hohlräumen«, die als »Organe« innerhalb des Prozessschemas bestimmte »Fähigkeiten« übernehmen und »Funktionen« ausführen.196 Auf diese Weise werden aus den ersten »Skizzen« des Lebens tierische »Organisationssysteme«. Die Dynamik der internen Selbstdifferenzierung »organisierter Materiemassen« nimmt erst dann ab, wenn sich die »umhüllenden« Elemente der Körper »verhärten«.
ainsi que ces petits corps gélatineux furent transformés en corps cellulaires, offrirent des parties contenantes et des fluides contenus, et reçurent alors les premiers traits de l’organisation. Dans cet état de choses, les fluides subtils des milieux environnans, toujours agités, se précipitant sans cesse, comme par saccades, dans l’intérieur de ces petits corps, et en sortant de même, jetèrent une succession de mouvemens dans les liquides contenus, en firent exhaler des portions, donnèrent lieu à ce que d’autres du dehors les remplaçassent, et dès-lors les corps dont il s’agit eurent la faculté de transpirer et d’absorber, et possédèrent la vie.«; und ibid., 144. 194 | Lamarck 1820, 148. 195 | Vgl. Lamarck 1817d, 128: »Tous les actes de la vie, tous les faits d’organisation, dans un corps, sont nécessairement le résultat de relations entre des fluides quelconques qui sont en mouvement, et les parties concrètes excitées qui contiennent ces fluides. Sans ces relations, sans ces mouvemens de parties, la vie seroit nulle ou sans activité, et aucune fonction organique ne s’exécuteroit.« 196 | Vgl. Lamarck 1944, 275; und 1802b, 7-8: »[…] le propre du mouvement organique est non-seulement de développer l’organisation, mais encore de multiplier les organes et les fonctions à remplir; et qu’en outre ce mouvement organique tend continuellement à réduire en fonctions particulières à certaines parties, les fonctions qui furent d’abord générales, c’est-à-dire, communes à tous les points du corps; […]«, und 1815-1822, Bd. 1, 139: »Toute faculté animale, quelle qu’elle soit, est un phénomène organique; et cette faculté résulte d’un système ou appareil d’organes qui y donne lieu, en sorte qu’elle en est nécessairement dépendante; […] Comme l’organisation elle-même, tout système d’organes particulier est assujetti à des conditions nécessaires pour qu’il puisse exécuter ses fonctions; et, parmi ces conditions, celle de faire partie d’une organisation dans le degré de composition où on l’observe est au nombre des essentielles; […]«
VIII. Der Gebrauch des Lebens
Der reproduktive und sich (durch zunehmende Verhärtung) zugleich selbst hemmende Prozess der »Produktion« organischer Körper bestimmt nicht nur den »Marsch der Natur« (marche de la nature) vom »Infusorium« zum Menschen, sondern auch den »Lebenslauf« jedes »lebenden Individuums«. Alles Lebendige »stirbt« nach einer bestimmten Zeit auf »natürliche« Weise, weil aus einem »Überschuss« assimilierter und solidifizierter Materie eine »progressive Verhärtung« (indurescence progressive) resultiert, die zu einer Reduzierung und Verlangsamung »organischer Bewegungen« – vor allem der »Kontraktilität« der Gewebe und regenerativer Prozesse – führt.197 Eine zu große Plastizität organischer Körper birgt hingegen die Gefahr, dass Individuen durch »ungünstige Umstände« sofort vernichtet werden. Die ersten »Skizzen« der Natur entstehen nicht nur, sondern verschwinden auch durch verschiedenste »Umstände« in großer Zahl.198 Neben den »Monaden« und anderen, einfach organisierten Animalkulen, die beständig »spontan erzeugt« werden, entstehen die »Organisationssysteme« komplexer organischer Körper »sukzessive« allein aus bereits geschaffenen, reproduzierten »Skizzen«.199 Dabei hängt die Veränderung der »Orga197 | Vgl. Lamarck 1794, Bd. 2, 216; 1802a, 118; 1802b, 8: »[…] le résultat de la nutrition est non-seulement de fournir aux développemens d’organisation que le mouvement organique tend à former; mais en outre que par une inégalité forcée entre les matières que fixe l’assimilation et celles qui se dissipent par les pertes, cette fonction à un certain terme de la durée de la vie, parvient à détériorer progressivement les organes; en sorte que par une suite nécessaire elle amène inévitablement la mort.«; und 1809, Bd. 2, 121-123. Lamarck argumentiert gegen Bichats These, dass der »natürliche Tod« von Außen verursacht wird, wenn organische Körper den zerstörerischen Einflüssen der umgebenden Welt nicht mehr widerstehen können. Vgl. Lamarck 1802b, 76: »Pour revenir à ce qui est relatif aux corps vivans, et réfuter l’hypothèse par laquelle on assure que tout ce qui environne ces corps tend à les détruire, il me suffit d’ajouter à ce que je viens de dire à cet égard, que la cause qui amène essentiellement la mort de chaque corps vivant, est en lui-même, et non hors de lui; […]« 198 | Vgl. Lamarck 1801, 22-23. 199 | Vgl. Lamarck 1802b, 104-105: »Sans doute il n’est jamais arrivé et il n’arrivera jamais, que des matières non organisées et sans vie, quelles qu’elles soient, aient, par un concours quelconque de circonstances, forme directement un insecte, un poisson, un oiseau, un lapin, et les autres animaux dans lesquels l’organisation est déjà compliquée et avancée dans ses développemens. De pareils animaux n’ont assurément pu recevoir l’existence que par la voie de la génération; en sorte qu’aucun fait d’animalisation ne peut les concerner. Mais les premiers linéamens de l’organisation, les premières aptitudes à recevoir des développemens internes, c’est-à-dire, par intussusception; enfin, les premières ébauches de l’ordre de choses et du mouvement intérieur qui constituent la vie, se forment tous les jours sous nos yeux, quoique jusqu’à
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nisationssysteme« zum einen vom Selbstdifferenzierungspotenzial innerer Organisationen (also der Eigenschaft, sich durch Flüssigkeitsbewegungen im Inneren zu differenzieren) und zum anderen vom Zusammenspiel dieses Potenzials mit den »günstigen« oder »ungünstigen Umständen« (circonstances favorables, défavorables) der »umgebenden Milieus« ab.
2.2 Tierische »Organisationssysteme« Drei Eigenschaften der inneren Organisation der ersten »Skizzen des Lebens« finden sich in allen, »Pflanzen« und »Tiere« umfassenden »Organisationssystemen« wieder: erstens bilden »feste und enthaltende Teile« (parties solides et contenantes) und »enthaltene und flüssige Teile« (parties contenues et fluides) die »zusammengesetzten Massen« (masses composées) ihrer Körper, zweitens bestehen ihre »festen und enthaltenden Teile« aus »zellulärem Gewebe« (tissu cellulaire), und drittens »agiert« in ihren Massen eine »erregende Ursache« (cause excitatrice), die organische Bewegungen auslöst.200 Den drei Eigenschaften entsprechen die vier »Fähigkeiten«, (1) sich durch »inkorporierte Materie« zu »ernähren« (se nourrir), (2) »selbst« die Substanzen zu »bilden« ( former euxmêmes), aus denen sich ihr Körper zusammensetzt, (3) »sich zu entwickeln« (se développer) und »sich« (ohne »Apposition von außen«) zu »vergrößern« (s’accroître), und (4) »sich selbst zu regenieren« (se régénérer eux-mêmes), indem sie »andere Körper produzieren«.201 Anhand ihrer Reiz-Reaktions-Schemen etabliert Lamarck zugleich eine allgemeine Differenz zwischen pflanzlichen und tierischen »Organisationssystemen«. Tierische »Irritabilität« (irritabilité) beruht auf einer auch nach dem »Tod« nachweisbaren lokalen »Kontraktion« von »Oberflächen«, die durch »Erregungen« (excitations) ausgelöst wird und nach einer gewissen Zeit nachlässt. Der nachlassenden »Kontraktion« entspricht eine »Ausdehnung« (distension) présent on n’y ait fait aucune attention, et donnent l’existence aux corps vivans les plus simples, qui se trouvent à l’une des extrémités de chaque règne organique.«; 1809, Bd. 1, 105; und 1820, 148: »Ainsi, relativement à l’ordre de la production des animaux par la nature, […] on sent qu’il lui a suffi d’avoir su instituer l’animalisation de la monade terme, pour avoir pu amener ensuite successivement la formation de tous les autres animaux jusqu’à l’homme; que, sans la production du type par lequel elle a commencé, il lui eût été impossible d’amener directement la formation d’aucun des autres animaux que nous avons cités; qu’en un mot, en comparant les termes des deux extrémités de leur immense série, on trouve en eux la plus grande dissemblance qu’il soit possible d’imaginer. L’homme est donc le terme le plus éminent de cette grande série de productions […]« 200 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 1, 408-410; und ibid., Bd. 2, 162. 201 | Lamarck 1809, Bd. 2, 115-116.
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des »irritierten Punkts«.202 In Abgrenzung zu der an Nervensysteme gebundenen »Sensibilität« (sensibilité) höherer Tiere beruhen irritable Bewegungen allein auf einer »besonderen Spannung« (tension particulière), die Lamarck als »Orgasmus« (orgasme) bezeichnet.203 Der tierische »Orgasmus«, der Browns Erregbarkeit in einen physischen Mechanismus überführt, kann verschiedene »Zustände« annehmen. Er entsteht durch subtile Flüssigkeiten, die beständig in »weiche« Gewebe eindringen und durch ihre »expansiven« Bewegungen die »Moleküle« der Gewebe in einem »bestimmten Abstand« (certain écartement) halten.204 Sobald ein »fremder Körper« (corps étranger) diese Gewebe »berührt« (touche), verschwindet ein »mehr oder weniger großer Anteil« der subtilen Flüssigkeit, so dass die »Moleküle«, ihrer natürlichen »Attraktion« folgend, näher zusammenrücken – und sich erst dann wieder voneinander entfernen, wenn subtile Flüssigkeiten erneut zufließen.205 Während Tierkörper über »permanent irritable« feste Teile verfügen, besitzen auch die »weichsten festen Teile« von Pflanzen nur einen »unvollkommnen Orgasmus« (orgasme
202 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 40, und Lamarck 1817g. 203 | Vgl. Lamarck 1802b, 79; 1809, Bd. 1, 43-44: »L’irritabilité est un phénomène propre à l’organisation animale, qui n’exige aucun organe spécial pour s’exécuter, et qui subsiste quelque temps encore après la mort de l’individu. Qu’il y ait, dans l’organisation, des organes spéciaux, ou qu’il n’y en ait aucun, cette faculté pouvant néanmoins exister, est donc générale pour tous les animaux. La sensibilité, au contraire, est un phénomène particulier à certains animaux, en ce qu’elle ne peut se manifester que dans ceux qui ont un organe spécial essentiellement distinct et seul propre à la produire, et en ce qu’elle cesse constamment avec la vie, ou même un peu avant la mort. On peut assurer que le sentiment ne peut avoir lieu dans un animal sans l’existence d’un organe spécial propre à le produire, c’est-à-dire, sans un système nerveux.«; und 1809, Bd. 2, 20-22. Für Lamarcks Verwendung des Ausdrucks orgasme und dessen weiteren Kontext siehe Warman 2009. 204 | Lamarck 1802b, 79. Lamarck nimmt an, dass die subtile Flüssigkeit »Wärme« den »Orgasmus« aufrecht erhält, während »Elektrizität« Bewegungen auslöst. Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 5 und 21. Des Weiteren »verdünnen« subtile Flüssigkeiten die »enthaltenen Flüssigkeiten« und erhöhen ihre Motilität. Vgl. Lamarck 1809, Bd. 1, 412: »Dans les animaux, la cause excitatrice des mouvemens organiques agit puissamment, et sur les parties contenantes, et sur les fluides contenus; elle entretient un orgasme énergique dans les parties contenantes, les met dans le cas de réagir sur les fluides contenus, et par-là les rend éminemment irritables; et quant aux fluides contenus, cette cause excitatrice les réduit à une sorte de raréfaction et d’expansion qui facilite leurs divers mouvemens.« 205 | Vgl. Lamarck 1802b, 79-82.
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imparfait), der zu keiner »Irritabilität« der Gewebe führt. Subtile Flüssigkeiten wirken daher in Pflanzen nur auf andere, »enthaltbare Flüssigkeiten« .206 Die Spannung, die der tierische »Orgasmus« hervorruft, kann »innerhalb bestimmter Grenzen« variieren, ohne die »Kohäsion« (cohésion) zwischen den »Molekülen« zu zerstören.207 Überschreitet die Spannung die Grenzen der »Kohäsion« zwischen den »Molekülen«, kommt es zu pathologischen Zuständen der »Erethie« und »Atonie«: »L’excessive tension que forme l’orgasme dans certaines circonstances, soit dans toutes les parties molles de l’individu, soit dans certaines d’entr’elles, et qui ne va pas néanmoins au point de rompre la cohésion des parties, est connue sous le nom d’éréthisme, dont le maximum produit l’inflammation; et l’excessive diminution de l’orgasme, mais qui ne va pas au point de le rendre nul, est en général désigné par le nom d’atonie.« 208
Während sich die »Kontraktilität« der monade terme, als erste »Skizze« aller tierischen »Organisationssysteme«, in höheren Tieren in Bewegungen der »Sensibilität« und der »Lokomotion« differenziert, geht ihre Fähigkeit, zwischen Außen und Innen Stoffe zu »absorbieren« und zu »exhalieren«, in Verdauungssysteme über, deren erste Form sich bereits in den »Faltungen« der »Polypen« zeigt. »Polypen« unterscheiden sich von »Infusorien« zum einen durch ihre »mehr oder weniger feste, beständige Hülle (enveloppe), in der sie hausen (habitent)«, und zum anderen durch ein besonderes Organsystem.209 Dieses Organ206 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 1, 93: »L’irritabilité dans toutes ou dans certaines parties, est le caractère le plus général des animaux; elle l’est plus que la faculté des mouvemens volontaires et que la faculté de sentir, plus même que celle de digérer. Or, tous les végétaux, sans en excepter même les plantes dites sensitives, ni celles qui meuvent certaines de leurs parties à un premier attouchement, ou au premier contact de l’air, sont complétement dépourvus d’irritabilité; […] «; ibid., 96: »Définition des animaux. Les animaux sont des corps organisés vivans, doués de parties en tout temps irritables, presque tous digérant les alimens dont ils se nourrissent, et se mouvant, les uns, par les suites d’une volonté, soit libre, soit dépendante, et les autres, par celles de leur irritabilité excitée. Définition des végétaux. Les végétaux sont des corps organisés vivans, jamais irritables dans leurs parties, ne digérant point, et ne se mouvant ni par volonté, ni par irritabilité réelle.«; ibid., 412-413; und ibid., Bd. 2, 80. 207 | Lamarck 1802b, 79. 208 | Lamarck 1802b, 79-80. 209 | Lamarck 1812, 17-19. »Organische Bewegungen« in »Polypen« werden allein durch »äußere Erregungen« ausgelöst. Vgl. Lamarck 1809, Bd. 1, 202-204 und 206207: »Les polypes étant éminemment irritables, ne se meuvent que par des excitations
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system besteht aus einem »einfachen ernährenden Kanal, der wie eine Sackgasse, oder ein Beutel, nur eine Öffnung hat, die zugleich Mund und Anus ist«.210 Alle im »System« erkennbaren »Punkt«-artigen Strukturen sind mit dem Kanal durch »Saug« (succion)- und »Absorptions« (absorption)-Prozesse verbunden.211 Ähnlich wie bei Richerand geht der Kanal aus der Einbuchtung und Faltung einer sehr weichen, perforierten Stelle der monadischen »ersten Entwürfe der Natur« hervor, die sich »durch die Gewohnheit (habitude), sich zu füllen, und durch den ständigen Gebrauch (usage) der Poren« so weit vergrößert, dass sie eine »Tasche« (poche) bildet.212 Aus dieser Tasche entsteht das »einfachste Organ der Verdauung«.213 Stülpt man die Körper »wie einen Handschuh« um, so dass ihre von »kleinen Poren« durchsetzte »äußere Haut« zur »intestinalen Membran« wird, kehrt man nur den Prozess der »Entstehung« (développement) des Kanals um, ohne ihr »Leben« zu unterbrechen.214 Die Bewegungen verschiedener Flüssigkeiten in tierischen Körpern leiten »Produktions«-Prozesse ein, führen aber durch die »Aktivität«, die sie in Organen auslösen, auch zum »Verlust« (perte) von Gewebemasse, der – in Form von »Ausscheidungen« (sécretions) – nur bedingt innerhalb des Körpers weiterverwendet werden kann und assimilatorisch-ernährende Bewegungen der extérieures et étrangères à eux. Tous leurs mouvemens sont des résultats nécessaires d’impressions reçues, et s’exécutent généralement sans actes de volonté, parce qu’ils n’en sauroient produire, et sans possibilité de choix, puisqu’ils ne peuvent avoir de volonté. La lumière les force constamment, et toujours de la même manière, à se diriger de son côté, comme elle le fait à l’égard des rameaux et des feuilles ou des fleurs des plantes, quoique avec plus de lenteur.« 210 | Lamarck 1802b, 36. Vgl. Lamarck 1801, 41-42. 211 | Lamarck 1802b, 36. 212 | Lamarck 1802b, 111-112. 213 | Lamarck 1802b, 112. 214 | Lamarck 1802b, 36 und 113-114. Vgl. Richerand 1817, Bd. 1, 17-18: »A mesure qu’on s’élève des animaux à sang blanc à ceux à sang rouge et froid, de ceux-ci aux animaux à sang chaud, et de ces derniers à l’homme, on voit les organes contenus dans l’épaisseur des parois du canal se multiplier; si l’on suit au contraire une marche descendante, on voit cette structure devenir de plus en plus simple, jusqu’à ce que l’on arrive au polype, réduit à la partie essentielle de l’animalité. La simplicité de son organisation fait qu’on peut le retourner à volonté, le renverser sur lui-même, et faire que la surface externe du sac devienne sa surface interne; les phénomènes nutritifs […] continuent d’avoir lieu, la surface extérieure étant très-analogue à l’interne, au contraire de l’homme et du plus grand nombre des animaux, chez lesquels la peau et les membranes muqueuses, quoique attenantes les unes aux autres, quoique liées par d’étroites sympathies, sont loin d’offrir une structure parfaitement semblable, et de se prêter à l’exercice des mêmes fonctions.«
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»Wiederherstellung« (réparation) anregt.215 Die Fähigkeit organischer Körper, Prozesse assimilativ-ernährender Kompositionen und Dekompositionen »im Gleichgewicht zu halten« (contrebalancer, balancer), ermöglicht es ihnen, ihre »Lebensfähigkeit« innerhalb eines bestimmten Grenzbereichs abweichender »Organisationszustände« zu erhalten. Dabei entspricht dem schwankenden »Verhältnis« (proportion) zwischen kompositorischen und dekompositorischen Prozessen der Verlauf ihres »Gesundheitszustands« (état de santé).216 Der »Assimilations«-Prozess der »Ernährung« ist nicht nur ein »Produktions«-, sondern auch ein »Identifikations«-Prozess. Tiere finden unter den »umgebenden Körpern« keine passenden »ernährenden Substanzen« vor, sondern müssen sie sich selbst zusammensetzen.217 Die aufgenommenen »aggregativen Moleküle« werden durch »Trennung« (désunion) oder »Zerstörung« 215 | Vgl. Lamarck 1944, 275-276; und 1809, Bd. 2, 98-99. »Pflanzen« besitzen kein »Verdauungsorgan«, sondern ernähren sich allein von »flüssigen« oder »gasartigen« Stoffen. Zugleich »produzieren« Pflanzen Materie, die Tiere für ihre »Ernährung« nutzen. Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 133. 216 | Vgl. Lamarck 1794, Bd. 2, 222-223: »Parmi les fonctions organiques qui servent à l’entretien de la vie de l’homme, la plus essentielle de toutes pour lui, consiste évidemment dans la faculté non interrompue qu’il a d’assimiler des substances étrangères à sa propre substance, afin de réparer plus ou moins complètement, mais sans cesse, les pertes que cet être vivant fait dans tous les instans de sa vie, par l’effet de la tendance à la décomposition de toutes les parties de son corps. Or, en supposant l’ordre naturel des choses toujours conservé, il est certain que la force d’assimilation d’une part, et de l’autre l’effectuation de la tendance à la décomposition, peuvent pendant tout le cours de la vie, subsister de manière que l’une n’interrompe jamais l’autre; quoique par l’effet même de la durée de la vie, elles diminuent toutes deux graduellement d’activité; et nous allons faire voir que c’est en cela essentiellement que consiste la santé. Mais lorsque par l’effet de quelque cause particulière, l’une suspend ou empêche la fonction de l’autre, alors le nouvel état de l’individu vivant qui est dans ce cas, n’est plus naturel, et la santé ne subsiste plus en lui.«; ibid., 226: »Ainsi l’état de santé dans l’homme et même dans tous les animaux, est donc évidemment constitué par une proportion telle, pendant toute la vie, que l’effectuation de la tendance à la décomposition du corps, ne détruise ni même ne diminue aucunement la force d’assimilation que produit le mouvement organique, ou, en d’autres termes, la faculté nutritive. Il est aisé de s’appercevoir que tout dérangement dans les fonctions des organes, toute suppression d’évacuation indispensable, et enfin tout obstacle particulier ou général, survenu dans les changemens nécessaires à la vie, altèrent immanquablement l’importante proportion que je viens de citer.«; und 1944, 276. 217 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 1, 376: »En vain prétend-on que les corps vivans trouvent dans les substances alimentaires dont ils se nourrissent, les matières toutes formées qui servent à composer leur corps, leurs solides et leurs fluides de toutes les sortes; ils
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(destruction) in einen Zustand versetzt, der es ihnen erlaubt, aus dem »Magensaft« (chyle) neue »Kombinationen« zu bilden, indem sie »die fremden Moleküle mit ihrer Substanz identifizieren« (en identifiant à leur substance et fixant les molécules étrangères).218 »Regeneration« als »Reproduktion« neuer, lebender Individuen setzt für Lamarck den Ernährungsprozess fort. Während »Infusorien« und »Polypen« sich einfach nur teilen, erzeugen höhere Tiere durch die »Zusammenführung« (réunion) überschüssiger, bereits »assimilierter Teilchen« (particules assimilées) »sehr kleine Körper«, deren Ordnung und Zustand den Körpern »vollkommen ähnelt, aus denen sie stammen«.219 »Fortpflanzung« (génération) beruht damit auf einer Serie assimilativer Prozesse, die, in sich verschränkt und verdoppelt, im Inneren eines individuellen tierischen »Organisationssystems« beginnen und sich in anderen fortsetzen.
2.3 Äußere Umstände Lamarcks »Prognostik« der Veränderungen der »Zustände« der physique terrestre beruht auf einem »Zusammenspiel« (concours) verschiedener »Umstände« (circonstances), die, stärker differenziert als in Cabanis’ Ansatz, je nach Kontext als circonstances favorables, défavorables, extérieures, possibles, locales, diverses, opposées, réunies, concomitantes, préexistantes, uniques, particulières, propres, analogues, semblables, extraordinaires, impérieuses, essentielles oder in Form ortsspezifischer situations und umfassender milieux variieren.220 Ein »äußerer Umne rencontrent dans ces substances alimentaires que les matériaux propres à former les combinaisons que je viens de citer, et non ces combinaisons elles-mêmes.« 218 | Lamarck 1815-1822, Bd. 1, 59. Vgl. Lamarck 1794, Bd. 2, 227: »On nomme digestion, la fonction naturelle par laquelle les alimens renfermés dans l’estomac et les intestins grèles, y subissent des changemens qui donnent lieu à la formation et à la séparation du chyle, liquide précieux qui doit servir à la nourriture du corps.«; und 1809, Bd. 2, 118: »En effet, chaque sorte de partie du corps animal sécrète et s’approprie, par une véritable affinité, les molécules assimilées qui peuvent s’identifier avec elle.« 219 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 119-121. 220 | Vgl. Lamarck 1802b, 142: »En effet, on peut maintenant assurer que rien n’est constamment dans le même état à la surface du globe terrestre. Tout avec le temps y subit des mutations diverses, plus ou moins promptes, selon la nature des objets et des circonstances.« Für Lamarcks Variationen des »Umstand«-Begriffs siehe Lamarck 1797, 286; 1802a, 20: »[…] des roches informes, ou quartzeuses, ou granitiques etc. ont pu, avec le tems et des circonstances favorables, être produites de la manière que j’indiquerai, s’amonceler les unes sur les autres, et à la fin constituer des amas assez considérables pour donner lieu à des montagnes de cette nature, qui se seront d’abord trouvées enchâssées dans la masse des terrains les plus élevés.«; ibid., 95:
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stand«, der einen organisierten Körper »umgibt« und »beeinflusst« – etwa eine »Atmosphäre« –, kann selbst aus einem »Zusammenspiel« mehrerer »Umstände« entstehen oder in einem Kollektiv von »Umständen« die Wirkungen anderer übertreffen. Lamarck bezeichnet »Umstände« daher auch als »Beeinflussungssysteme« (systèmes d’influence).221 Die »Umstands«-Logik der physique terrestre umfasst »Geologie«, »Meteorologie«, »Mineralogie« und »Biologie«.222 Genau so, wie »Säuren« (acides) keine unveränderbaren substanzhaften »Wesen« (êtres), sondern nur vergängliche, beständig modifizierte und neu gebildete »Umstandswesen« (êtres de circonstances) sind, ist auch das »Leben« kein »Wesen«, sondern allein »eine Ordnung und ein Zustand der Dinge«, in denen
»La postérité, très-vraisemblablement, regardera un jour comme une sorte de puérilité cet empressement qu’on met, dans ce siècle, à donner un nom particulier à chaque variation de substance minérale qu’on rencontre, et à la regarder comme constamment existante dans la Nature; car il est au contraire évident que telle de ces variations qui n’avait peut-être jamais eu lieu, a pu, par un concours fortuit de circonstances, recevoir l’existence dans un tems quelconque, et qu’elle la perdra dans un autre tems peut-être pour toujours.«; ibid., 205-206: »La fusion ne réduit les chaux ou oxides métalliques que parce qu’elle fournit à ces matières, la circonstance, l’état et le moyen qui peuvent leur faire acquérir assez de feu fixé pour changer leur combinaison et les métalliser.«; 1804, 113: » . l’état des choses dans chaque variation de l’atmosphère étant toujours le résultat du concours d’action de tous les systêmes d’influence, et non celui d’un seul systême agissant exclusivement.«; ibid., 140; 1805, 5; 1802b, 100; und 1810, 9-10. 221 | Vgl. Lamarck 1804, 113. Lamarcks »Umstands«-Begriff bezeichnet daher nicht nur einen passiv Bewegungen unterstützenden, intermediären umgebenden Raum, sondern auch ein bestimmtes Wirkpotential, das, wie bereits Newtons Ether, in Wechselwirkung mit der Ordnung lebender Körper tritt. Vgl. Conry 1981, 50: »[…] les milieux, dans les Principia ou dans l’Optique, peuvent se définir comme les sièges de forces productrices d’actions, car, même à titre d’intermédiaire, l’éther n’est jamais passif dans la mesure ou sa pénétration effectue la répulsion éléctrique, l’emanation, la réflexion-réfractaire lumineuse, le rechauffement des corps et la production de la sensation. Parallèlement, les milieux environnants lamarckiens […] seront influents par les fluides qu’ils renferment et ou les corps sont litteralement plongés dans une atmosphère. Ainsi, les fluides subtils, et le fluide éthéré éminemment, valent non seulement pour conditions du mouvement organique […], mais aussi pour causes des fonctions et ›agents de la nature‹ […]« Siehe hierzu auch Giulio Barsanti, in Lamarck 1976, Introduzione. xxiii-viii und xlix-li. 222 | Neben der »Biologie« spielen »Umstände« vor allem in Lamarcks »Meteorologie« eine wichtige Rolle. Für Lamarcks »Meteorologie« siehe Burlingame 1973, 154-190; Szyfman 1982, 47-50; und Delange 1997.
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sich die »Umstands«-Logik auf besondere Weise zeigt, nämlich anhand der Innen-Außenweltsbezüge »lebender Individuen«.223 Neben der internen Dynamik der Selbstdifferenzierung organisierter Körper, die, als »Macht des Lebens« (pouvoir de la vie), zu »regelmäßigen Übergängen« (gradation régulière) der »Vervollkommnung« in der série animale führt, stellen »äußere Umstände« die »zweite Ursache« der Modifikation organischer Ordnung dar, die, ohne den »Plan der Operationen der Natur« (plan des opérations de la nature) zu verändern, als »akzidentelle und modifizierende Ursache« (cause accidentelle et modifiante) »Verzweigungen« (rameaux), »Leerstellen« (lacunes) und »Anomalien« (anomalies) hervorbringt: »Le plan des opérations de la nature à l’égard de la production des animaux, est clairement indiqué par cette cause première et prédominante qui donne à la vie animale, le pouvoir de composer progressivement l’organisation, et de compliquer et perfectionner graduellement, non-seulement l’organisation dans son ensemble, mais encore chaque système d’organes particulier, à mesure qu’elle est parvenue à les établir. Or, ce plan, c’est-à-dire, cette composition progressive de l’organisation, a été réellement exécuté, par cette cause première, dans les différens animaux qui existent. Mais une cause étrangère à celle-ci, cause accidentelle et par conséquent variable, a traversé ça et là l’exécution de ce plan, sans néanmoins le détruire […] Cette cause, effectivement, a donné lieu, soit aux lacunes réelles de la série, soit aux rameaux finis qui en proviennent
223 | Vgl. Lamarck 1796, 251: »[…] lorsqu’on se sera donné beaucoup de peines pour augmenter la liste de ces prétendues espèces [des acides], il faudra toujours finir par reconnaître que toutes les matieres qui en sont l’objet, sont des êtres de circonstance, des êtres qui n’existent point dans la nature, ou qui n’y existent qu’accidentellement.«; 1817c, 9: »Les facultés générales des corps dont il s’agit, sont assurément le propre de la vie; puisque tout corps animé par la vie, en est dès lors doué. Or, comme je l’ai suffisamment démontré, la vie n’est point un être; mais c’est, dans le corps qui en est doué, un ordre de choses qui y permet une succession de mouvemens qu’une cause, toujours active, sait alors y produire.« ; und Corra 1908, 47: »En démontrant, avec insistance, que la connaissance de la constitution propre des êtres vivants ne suffit pas pour l’intelligence de leur nature, et qu’il faut, de plus, tenir grand compte de l’influence qu’exercent sur eux la température, l’humidité, la lumière, l’électricité, le climat, l’altitude, la composition chimique de l’atmosphère, la nourriture, les habitudes, le genre de vie qui leur est imposé, c’est-à-dire l’ensemble des circonstances dans lesquelles ils naissent et se développent, Lamarck eut donc le rare mérite de compléter la biologie, en lui assignant comme nouvel objet de recherches, après l’anatomie et la physiologie, l’étude des milieux; il est, en réalité, l’instituteur définitif de cet important problème.«
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dans divers points et en altèrent la simplicité, soit, enfin, aux anomalies qu’on observe parmi les systèmes d’organes particuliers des différentes organisations.« 224
Als Modifikatoren besitzen »Umstände« für Lamarck das »Vermögen« (pouvoir), die »Natur« zu »zwingen«, ihre Gesetze auf neue Weise »anzuwenden«.225 Dieser »Zwang« zur Modifikation wird besonders deutlich, wenn durch die Kultivation von Pflanzen an neuen »Orten« und durch die Domestikation von Tieren in die Konstellationen von »Umständen« eingegriffen wird, die diese Körper »natürlicherweise« umgeben.226 »Umstände« wirken jedoch 224 | Lamarck 1815-1822, Bd. 1, 133. Vgl. Lamarck 1809, Bd. 1, 107 und 221; 18151822, Bd. 1, 135-136; 1817b, 445; und 1820, 59. Zum gesetzmäßigen »Marsch der Natur« siehe Aron 1957; Conry 1980; und Burkhard 1981, 17. 225 | Lamarck 1809, Bd. 1, 132-133: »[…] la nature se trouve forcée de soumettre ses opérations aux influences des circonstances qui agissent sur elles, et de toutes parts ces circonstances en font varier les produits.«; und 1820, 142-143: »En effet, une cause dont la puissance est absolue, supérieure même à la nature, puisqu’elle régit tous ses actes, et dont l’empire embrasse toutes les parties de son domaine, ne saurait être ici passée sous silence. Cette cause réside dans le pouvoir qu’ont les circonstances de modifier toutes les opérations de la nature, de forcer cette dernière à changer continuellement les lois qu’elle eût employées sans elles, et de déterminer généralement la nature de chacun de ses produits; en sorte que c’est à cette même cause qu’il faut attribuer l’extrême diversité des productions de la nature. C’est une vérité incontestable, puisque partout l’observation l’atteste, qu’à l’empire des circonstances, qu’à la nécessité qu’il impose partout, ce que peut faire la nature est généralement assujetti. Ainsi cette cause, essentiellement déterminante, doit être ajoutée aux moyens que nous avons attribués à la nature; et dès-lors nous aurons le complément des causes qui ont amené l’existence de tous les objets que nous observons.« 226 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 1, 225-228: »Ceux qui ont beaucoup observé, et qui ont consulté les grandes collections, ont pu se convaincre qu’à mesure que les circonstances d’habitation, d’exposition, de climat, de nourriture, d’habitude de vivre etc., viennent à changer; les caractères de taille, de forme, de proportion entre les parties, de couleur, de consistance, d’agilité et d’industrie pour les animaux, changent proportionnellement. Ce que la nature fait avec beaucoup de temps, nous le faisons tous les jours, en changeant nous-mêmes subitement, par rapport à un végétal vivant, les circonstances dans lesquelles lui et tous les individus de son espèce se rencontroient.« Zu den modifizierenden »Umständen« zählt Lamarck auch die »Kreuzung verschiedener Rassen«. Vgl. ibid., 229-230: »Or, l’homme qui, pour le commerce, ou pour d’autre genre d’intérêt, se déplace même à de très-grandes distances, ayant transporté dans un lieu très-habité, comme une grande capitale, différentes races de chiens formées dans des pays fort éloignés, alors le croisement de ces races, par la génération, a donné lieu successivement à toutes celles que nous connoissons maintenant. Le fait
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nicht nur als Modifikatoren, sondern stellen, zusammen mit der »Zeit«, auch die »ersten Mittel« dar, welche die »Natur« anwendet, um organisierte Körper hervorzubringen.227 Die ersten »Skizzen des Lebens« sind Produkte »günstiger Umstände«, die als sich selbst erhaltende und »reparierende« Körper den dekompositorischen Tendenzen der »Natur« entgegenwirken.228 »Umstände« führen daher nicht nur zu »Anomalien« regelgerechter »Typen«. Vielmehr bestimmen sie »positiv das, was jeder Körper sein kann«.229 Als positiver Grund dessen, »was jeder Körper sein kann«, sind sie »unerschöpfliche« Ursache der »extremen Diversität der Produkte der Natur« und Ausdruck des (göttlichen) Grundes, der sie schuf und der durch sie die »Fruchtbarkeit« der Erde bestimmte.230 suivant prouve, à l’égard des plantes, combien le changement de quelque circonstance importante influe pour changer les parties de ces corps vivans.« 227 | Vgl. Lamarck 1801, 12-13. 228 | In Lamarcks auf Stahl und Hilaire Marin Rouelle aufbauender »analytischer Chemie« haben alle aus Komponenten verschiedener »Qualitäten« bestehenden »Zusammensetzungen« (composés) – im Gegensatz zu »Aggregaten« (aggrégats), deren Einheit auf einer »Affinität« (affinité) ähnlicher »Moleküle« (molecules) beruht – eine »Tendenz«, in einfachere Teile zu zerfallen, da der »natürliche Zustand« (état naturel) ihrer Komponenten durch ihre »Kondensierung« modifiziert wird. Je stärker die Modifikation der »Qualitäten« und »natürlichen Zustände« ausfällt, desto »instabiler« ist der »Kondensationszustand« (état de condensation) der »Zusammensetzung«. Vgl. Lamarck 1794, Bd. 1, 107; ibid., Bd. 2, 15-49; 1802a, 99-100: »[…] toute matière composée va sans cesse en se détruisant, c’est-à-dire, en changeant d’état et de nature; car elle subit en effet une multitude d’altérations qui changent successivement les proportions de ses principes et leur état de combinaison. Un regard jeté avec attention sur ce qui se passe continuellement sur notre globe et sous nos yeux, suffira pour mettre cette vérité dans son plus grand jour, et pour faire apercevoir que les principes de tout composé quelconque ont une tendance à se dégager de l’état de combinaison; tendance qui provient de ce que ces principes sont alors dans un état de gêne, de contrainte, et de ce que la plupart y sont tellement modifiés, qu’ils ne jouissent plus de leurs facultés naturelles.«; 1802b, 98-99; und 1815-1822, Bd. 1, 327. Für den weiteren Kontext von Lamarcks Mineralogie und Chemie siehe Gillipsie 1956, 328-332; Gohau 1971 und 2006; Burlingame 1981; und Goux 1997. 229 | Vgl. Lamarck 1820, 143: »[…] les circonstances déterminent positivement ce que chacun de ces corps peut être.« 230 | Vgl. Lamack 1801, 13: »Quant aux circonstances dont elle a eu besoin et dont elle se sert encore chaque jour pour varier ses productions, on peut dire qu’elles sont en quelque sorte inépuisables.«; und 1820, 143: »[…] c’est à cette même cause [les circonstances] qu’il faut attribuer l’extrême diversité des productions de la nature.« Lamarck bindet seine physique terrestre des Lebendigen in eine deistische Perspektive
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In Lamarcks Logik der »Umstände« ist der »organisierte Körper« ein Agent, der von seinem »sich selbst reproduzierenden« Leben in »umgebenden Milieus« »Gebrauch« (usage, emploi) macht und dessen Erhalt von der Möglichkeit des »Gebrauchs« abhängt. »Gemäß den Umständen« zu leben, heißt, »konform zum Gebrauch« (conformément à l’usage) des Lebens zu existieren.231 Die »allgemeine Form« ( forme générale) der Fische entspricht dem »Einfluss des dichten Milieus, das sie bewohnen« (l’influence du milieu dense qu’ils habitent)232; zugleich sind es die Fische, die das »Milieu« »bewohnen«, indem sie »Gebrauch« von ihrem »Leben« machen. Analog zum Modell der Entstehung der inneren »Organisation« der ersten »Skizzen des Lebens«, in denen subtile Flüssigkeiten durch eine »expansive Anstrengung« (effort expansif )233 Passagen und Hohlräume erzeugen, die ihre Dynamik unterstützen oder »begünstigen«, bezeichnet Lamarck den »Gebrauch des Lebens« (usage de la vie) als eine »Anstrengung« (effort) »lebender Individuen«, die Bewegungsmuster ihrer inneren Organisation mit den »umgebenden Milieus« zu korrelieren. Dieser »Anstrengung« entspricht ihre »Neigung zum Erhalt der Gewohnheiten« (penchant à la conservation des habitudes).234 Wenn langanhaltende Änderungen ein. Vgl. Lamarck 1809, Bd. 1, 67-68: »Sans doute, il faudroit être téméraire, ou plutôt tout-à-fait insensé, pour prétendre assigner des bornes à la puissance du premier auteur de toutes choses; mais, par cela seul, personne ne peut oser dire que cette puissance infinie n’a pu vouloir ce que la nature même nous montre qu’elle a voulu. Cela étant, si je découvre que la nature opère elle-même tous les prodiges qu’on vient de citer; qu’elle a créé l’organisation, la vie, le sentiment même; qu’elle a multiplié et diversifié, dans des limites qui ne nous sont pas connues, les organes et les facultés des corps organisés dont elle soutient ou propage l’existence; qu’elle a créé dans les animaux, par la seule voie du besoin, qui établit et dirige les habitudes, la source de toutes les actions, de toutes les facultés, depuis les plus simples jusqu’à celles qui constituent l’instinct, l’industrie, enfin le raisonnement; ne dois-je pas reconnoître dans ce pouvoir de la nature, c’est-à-dire, dans l’ordre des choses existantes, l’exécution de la volonté de son sublime auteur, qui a pu vouloir qu’elle ait cette faculté?«; und 1820, 12: » DIEU seul peut donc créer, tandis que la nature ne peut que produire.« Für Lamarcks Gottesbegriff siehe Grassé 1981. 231 | Vgl. 1815-1822, Bd. 1, ibid., 135-136. 232 | Lamarck 1809, Bd. 1, 156. 233 | Vgl. Lamarck 1794, Bd. 1, 55, 116 und 326. Zur Rolle der »Anstrengung« in Lamarcks Ansatz siehe Conry 1981, 54-55. 234 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 309: »J’ai dit que les fluides subtils, qui pénètrent et se meuvent dans l’intérieur de ces corps vivans, se frayant des voies particulières, qu’ils continuoient de suivre, commençoient à établir des mouvemens de même sorte, lesquels donnent lieu, conséquemment, à des habitudes. Maintenant, si l’on fait réflexion que l’organisation se développe avec la continuité de la vie, on concevra que
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der »Umstands«-Konstellationen eintreten, können – für den jeweiligen Beobachter eines kurzen Zeitraums »unmerklich«235 – in »Organisationssystemen« neue »Bedürfnisse« und »Gewohnheiten« entstehen, die Modifikationen der »Teile« des »Systems« einleiten.236 Denn die veränderten, zur »Gewohnheit« gewordenen »Aktions«-Folgen beruhen auf einem »bevorzugten Gebrauch (emploi par préférence) bestimmter Teile gegenüber dem Gebrauch von anderen« und führen in einigen Fällen zum »gänzliche Ausbleiben des Gebrauchs (défaut total d’emploi) von einem Teil, das unnütz (inutile) geworden ist«.237 de nouvelles voies ont dû se frayer, se multiplier, et se diversifier progressivement, pour faciliter l’exécution des mouvemens de contraction; et que les habitudes, auxquelles ces mouvemens donnent lieu, devenant alors entraînantes et irrésistibles, doivent se diversifier pareillement.«; und ibid., 326. Pflanzen und die »ersten Skizzen« tierischen Lebens verfügen jedoch über keine »Gewohnheiten im eigentlichen Sinne« (habitudes proprements dites). Vgl. Lamarck 1809, Bd. 1, 223: »Dans les végétaux, où il n’y a point d’actions, et, par conséquent, point d’habitudes proprement dites, de grands changemens de circonstances n’en amènent pas moins de grandes différences dans les développemens de leurs parties; en sorte que ces différences font naître et développer certaines d’entre elles, tandis qu’elles atténuent et font disparoître plusieurs autres. Mais ici tout s’opère par les changemens survenus dans la nutrition du végétal, dans ses absorptions et ses transpirations, dans la quantité de calorique, de lumière, d’air et d’humidité qu’il reçoit alors habituellement; enfin, dans la supériorité que certains des divers mouvemens vitaux peuvent prendre sur les autres.« 235 | Vgl. Lamarck 1802b, 142-143. 236 | Vgl. Lamarck 1801, 13-14: »L’oiseau que le besoin attire sur l’eau pour y trouver la proie qui le fait vivre, écarte les doigts de ses pieds lorsqu’il veut frapper l’eau et se mouvoir à sa surface. La peau qui unit ces doigts à leur base, contracte par-là habitude de s’étendre. Ainsi avec le temps, les larges membranes qui unissent les doigts des canards, des oies, &c. se sont formées telles que nous le voyons. Mais celui que la manière de vivre habitue à se poser sur les arbres, a nécessairement à la fin les doigts des pieds étendus et conformés d’une autre manière. Ses ongles s’alongent, s’aiguisent et se courbent en crochet pour embrasser les rameaux sur lesquels il se repose si souvent.«; 1802b, 9; ibid., 142-143: »Or si, relativement aux êtres vivans, la diversité des circonstances amène pour eux une diversité d’habitude, un mode différent d’exister, et par suite des modifications dans leurs organes et dans les formes de leurs parties, on doit sentir qu’insensiblement tout corps vivant quelconque doit varier dans son organisation et dans ses formes.«; und 1809, Bd. 1, 78, 221-222 und 231. Corsi (1988, 93-98) geht auf den Kontext von Lamarcks Beispielen ein. Hierzu gehört etwa François-Marie Daudins Traité élémentaire et complet d’ornithologie ou histoire naturelle des oiseaux (1800). 237 | Vgl. Lamarck 1809, Bd.1, 222: »Il est donc évident qu’un grand changement dans les circonstances, devenu constant pour une race d’animaux, entraîne ces animaux à de
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Der »bevorzugte Gebrauch« bewirkt »stetige Verstärkungen« und »Vergrößerungen« sowie Änderungen des »Baus« (confirmation) und der »Konsistenz« (consistence) der betroffenen »Teile«, während das »Ausbleiben des Gebrauchs« ihre »Abnahme und Schwächung« und selbst ihr »Verschwinden« zur Folge haben kann.238 Derartige »Entwicklungen« werden durch die »Fortpflanzung« als »erworbene Modifikationen« und »Fähigkeiten« (modifications, facultés acquises) an nachfolgende Generationen »weitergegeben« (transmises) und durch sie »verbreitet«.239 Die »Weitergabe« kann zur »Degradation der Organisation« (dégradation d’organisation) eines bereits ausgebildeten »Typs« oder zur Differenzierung »einfacher« in »komplexere Organisationen« führen. 240 Um die »essentiellen Organe«, ausgehend vom Ernährungsapparat, im Inneren organisierter Körper zu modifizieren, bedarf es für Lamarck des »Zusammenspiels der einflussreichsten Umstände und wesentlich längerer Zeiträume als zum Verändern äußerer Organe«.241 Lamarck schließt damit an Cuviers Unterscheidung zwischen stabilen Hauptsystemen im Inneren und stärker variierenden periphären Organsystemen an, geht aber zugleich von einer möglichen Veränderbarkeit »essentieller Organe« und ganzer »Organsysteme« durch »äußere Umstände« aus. 242 Analog zu seiner Unterscheidung nouvelles habitudes. Or, si de nouvelles circonstances devenues permanentes pour une race d’animaux, ont donné à ces animaux de nouvelles habitudes, c’est-à-dire, les ont portés à de nouvelles actions qui sont devenues habituelles, il en sera résulté l’emploi de telle partie par préférence à celui de telle autre, et, dans certains cas, le défaut total d’emploi de telle partie qui est devenue inutile.« 238 | Vgl. Lamarck 1801, 13; 1907 (1806), 111; 1809, Bd. 1, 222-223; und ibid., Bd. 2, 325: »[…] l’habitude d’exercer tel organe, ou telle partie du corps, pour satisfaire à des besoins qui renaissent souvent, donnoit au fluide subtil qui se déplace, lorsque s’opère la puissance qui fait agir, une si grande facilité à se diriger vers cet organe, où il fut si souvent employé, que cette habitude devenoit en quelque sorte inhérente à la nature de l’individu, qui ne sauroit être libre d’en changer.« 239 | Vgl. Lamarck 1802b, 9: und ibid., 143: »Toutes les modifications que chaque corps vivant aura éprouvées par suite des mutations de circonstances qui auront influé sur son être, se propageront sans doute par la génération.« Lamarck unterscheidet zwischen der nur eingeschränkten Erhaltungsmöglichkeit von »zufälligen« Modifikationen, die während der »Entwicklung« eines »Embryos« auftreten, und denen, die sich erst später während des »Lebenslaufs eines Individuums« einstellen. Vgl. Lamarck 1817b, 450. 240 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 1, 142-145. 241 | Vgl. Lamarck 1802b, 41-44; 1809, Bd. 1, 44-45 und 108-109; und ibid., Bd. 2, 130-131. 242 | Die Unterscheidung zwischen stabilen Hauptsystemen und stärker variierenden periphären Organsystemen findet sich um 1800 in mehreren Ansätzen siehe etwa Virey 1801, 119-120: »Les viscères principaux qui donnent le mouvement et la vie à la
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in »essentielle« und »besondere Organsysteme« grenzt Lamarck im Artikel Faculté (1817) modifizierbare »konstante Fähigkeiten« ( facultés constantes) – etwa der Ernährung und der Atmung –, »die der Einfluss der Umstände nicht auszulöschen vermag« (que l’influence des circonstances ne sauroit anéantir), von »veränderbaren Fähigkeiten« ( facultés altérables) ab – etwa der Lokomotion und der Kommunikation –, die während des »Marsches der Natur« gänzlich verschwinden können.243 Die Ordnungen und Variationen der série animale sind nach »sehr viel Zeit« und einer »nahezu unfassbaren Vielfalt beeinflussender Umstände« durch die Verschränkung der Selbstdifferenzierung der »Macht des Lebens« mit den Habitualisierungen entstanden, die sich zwischen individuellen »Organisationssystemen« und »äußeren Umständen« eingestellt haben: »[…] la puissance créatrice de la nature […], c’est-à-dire, l’état des choses qui existent a pu former directement les premières ébauches de l’organisation; elle a pu ensuite par l’emploi de la vie et à l’aide des circonstances qui favorisent sa durée, perfectionner progressivement son ouvrage, et l’amener au point où nous le voyons maintenant.« 244
Die von menschlichen Beobachtern innerhalb von »Klassifikationen« (classifications) vorgenommenen »Anordnungen« (distributions, placements), die für Lamarck auf »natürlichen Beziehungen« (rapports naturels) beruhen, repräsentieren »organisierte Massen«, deren »Hauptmasse« (masses principales) die »essentiellen Organe« der »ersten Skizzen des Lebens« bilden, die sich während des »Marsches der Natur« in »distinkte Massen« (masses distinctes) mit »beson-
machine animale sont moins susceptibles de recevoir des changemens que les organes de la circonférence. Plus une partie est éloignée du centre, plus elle subit d’altérations profondes. L’intérieur de l’animal vertébré et de la plante demeure presque entièrement semblable au type le plus parfait, tandis que l’extérieur, étant composé d’organes moins essentiels, est exposé davantage et avec moins de danger aux impressions des corps étrangers qui l’entourent. L’anatomie comparée met dans le plus grand jour cette importante vérité.« 243 | Vgl. Lamarck 1817c, 13-14: »Parmi les facultés particulières que possèdent beaucoup d’animaux différens, il en faut nécessairement distinguer de deux sortes; savoir: 1° Les facultés constantes et de première importance, comme celles qui sont dues à des organes ou des systèmes d’organes, par le résultat unique du pouvoir de la vie, et que la cause modifiante n’a jamais la puissance d’anéantir; 2° Les facultés altérables et d’importance inférieure, comme celles qui sont dues à des organes obtenus autant par l’influence des circonstances que par le pouvoir de la vie, et que d’autres circonstances maintenues peuvent ensuite altérer et même détruire.« 244 | Lamarck 1802b, 65-66.
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deren Organsystemen« differenziert haben.245 Konkrete Träger dieser »Massen« sind »lebende Individuen«.246 Im Gegensatz zu »Klassen« (classes) und »Familien« ( familles) stuft Lamarck »Gattungen« (genres) und »Arten« (espèces) meist als »künstlich« abgesonderte Ordnungen ein, die dem Naturforscher zur Orientierung dienen, relativ stabile »Kollektionen ähnlicher Individuen« (collections d’individus semblables) auszuweisen.247 245 | Vgl. Lamarck 1907 (1806), 119; 1802b, 40; 1809, Bd. 1, 108: »Il s’agit donc de prouver que la série qui constitue l’échelle animale réside essentiellement dans la distribution des masses principales qui la composent, et non dans celle des espèces, ni même toujours dans celle des genres. La série dont je viens de parler ne peut donc se déterminer que dans le placement des masses, parce que ces masses qui constituent les classes et les grandes familles, comprennent chacune des êtres dont l’organisation est dépendante de tel système particulier d’organes essentiels. Ainsi, chaque masse distincte a son système particulier d’organes essentiels, et ce sont ces systèmes particuliers qui vont en se dégradant, depuis celui qui présente la plus grande complication, jusqu’à celui qui est le plus simple.«; und ibid., 131. 246 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 1, 74: »Ainsi, parmi les corps vivans, la nature, comme je l’ai déjà dit, ne nous offre, d’une manière absolue, que des individus qui se succèdent les uns aux autres par la génération, et qui proviennent les uns des autres; mais les espèces, parmi eux, n’ont qu’une constance relative, et ne sont invariables que temporairement.« 247 | Vgl. Lamarck 1783; und 1809, Bd. 1, 75: »Néanmoins, pour faciliter l’étude et la connoissance de tant de corps différens, il est utile de donner le nom d’espèce à toute collection d’individus semblables, que la génération perpétue dans le même état, tant que les circonstances de leur situation ne changent pas assez pour faire varier leurs habitudes, leur caractère et leur forme.«; und 1817b, 441. Im Lemma Espèce der Encyclopédie méthodique (1817) bezeichnet Lamarck hingegen allein die »Art« als direktes »Objekt« seines Ansatzes. Vgl. Lamarck 1817b, 451. Zur relativen »Stabilität« der Ordungseinheit »Art« hat Lamarck unterschiedliche Positionen eingenommen. Vgl. Lamarck 1794, Bd. 2, 214: »S’il existe beaucoup de variétés produites par l’effet des circonstances, ces variétés ne dénaturent point les espèces […]«; 1802b, 9-10; 1801, 14-15; 1802b, 63; 1802b, 141-143; 1809, Bd. 1, 20-22 und 62-63; und 1817b, 450: »Les espèces sont donc ce que la nature et les circonstances ont pu faire à leur égard; elles n’ont d’autre stabilité que celle des circonstances dans lesquelles elles se trouvent; et si l’on suppose les circonstances partout invariables, les espèces, les variétés mêmes, le seront pareillement. Les espèces sont donc ce que la nature et les circonstances ont pu faire à leur égard; elles n’ont d’autre stabilité que celle des circonstances dans lesquelles elles se trouvent; et si l’on suppose les circonstances partout invariables, les espèces, les variétés mêmes, le seront pareillement. […] les espèces ne sont point immutables, et n’ont point de constance absolue, mais seulement une constance conditionnelle […]« Für Lamarcks Artbegriff siehe Hodge
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2.4 Inneres Gefühl »Nervensysteme« stellen für Lamarck eine grundlegende Modifikation der »Produktions«-Weise von »Bewegungen« in »Organisationssystemen« dar, deren »organische Akte« (actes organiques)248 auf Reiz-Reaktions-Schemen beruhen.249 Sie verlegen die »produktive Kraft« ( force productive), Bewegungen hervorzubringen und zu regulieren, aus der Außenwelt »in das Tier selbst« hinein. Tiere, die ein »Nervensystem« besitzen, verfügen über einen gesteigerten »Gebrauch des Lebens«, da sie fähig sind, die Schnittfläche der Innen- und Außenwelt ihres Körpers in sich zu reflektieren und durch »Aktions«-Ketten, die von »Gefühlen« und »Reflexionen« ausgehen, auf sich ständig verändernde Reizwelten zu reagieren. Der an komplexe anatomische Apparate und physiologische Prozesse gekoppelte Grad der Modifizierbarkeit dieser »Aktions«-Ketten stellt für Lamarck das Maß der »Vollkommenheit« höherer Tiere dar – auch wenn jeder »organisierte Körper« »in sich vollkommen«, das heißt unter bestimmten »Umständen« »lebensfähig« ist.250 Die »progressive Regularisierung« verinnerlichter Reiz-Reaktions-Ketten, die aus dem »Marsch der Natur« hervorgeht, führt zu kommunizierenden »Nervennetzen« und regulativen »Zentren«, die »Bewegungen« repräsentie-
1971a und 1971b; Mayr 1972; Burkhard 1985; und Levèbvre 2009, 43-50. Für die Ordnungseinheiten »Variation« (variation) und »Rasse« (race) siehe Lamarck 1817b, 450; und Burkhard 1985, 171. 248 | Lamarck 1809, Bd. 2, 253. 249 | Zur Rolle des Nervensystems in Lamarcks Ansatz siehe Decourt 1971. 250 | In diesem Schema stellt der Mensch den »vollkommensten Typ« dar. Vgl. Lamarck 1809, Bd. 1, 142: »Or, il est évident que l’organisation de l’homme étant la plus parfaite, doit être regardée comme le type d’après lequel on doit juger du perfectionnement ou de la dégradation des autres organisations animales.«; 1815-1822, Bd. 1, 135: »On verra, néanmoins, que, partout, les individus de chaque espèce sont pourvus de tout ce qui leur est nécessaire pour vivre et se reproduire dans l’ordre de facultés qui leur est assigné; l’on verra aussi que, partout où une faculté n’est point essentielle, les organes qui peuvent la donner ne se trouvent et n’existent réellement pas.«; und ibid. 138, Fußnote 1: »Qui ne sait que, dans l’état d’organisation où il se trouve, tout corps vivant, quel qu’il soit, est un être réellement parfait, c’est-à-dire, un être à qui il ne manque rien de ce qui lui est nécessaire! mais, la nature ayant composé de plus en plus l’organisation animale; et par là, étant parvenue à douer ceux des animaux qui possèdent l’organisation la plus compliquée, de facultés plus nombreuses et plus éminentes, on peut voir dans ce terme de ses efforts, une perfection dont s’éloignent graduellement les animaux qui ne l’ont pas obtenue.«
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ren, fortsetzen, transformieren und auslösen.251 Durch die Verwaltung und Differenzierung »interner Erregungen« (excitations internes) kommt es zu einer neuen »Beteiligung des Individuums« (participation de l’individu) an den »Regulations«-Prozessen der »Bewegungs«-Erzeugung.252 Ausgestattet mit einem Regelwerk selbst-gesteuerter Reiz-Reaktions-Ketten ist es »lebenden Individuen« möglich, ihre »Bedürfnisse« « – und zwar vor allem das erste und wichtigste Bedürfnis nach »Nahrung« – durch »Bewegungen« zu befriedigen, die nicht unmittelbar, wie bei Pflanzen und »einfachsten Tieren«, durch »umgebende Milieus« bestimmt werden. 253 Die Fähigkeiten »lebender Individuen«, innere und äußere Bewegungen »zu produzieren« (produire), zu »regularisieren« (régulariser) und »zu dirigieren« (diriger), dienen Lamarck als Kriterium der »Schnitte« (coupes), die das »Tableau« (tableau) seiner série animale teilen.254 Neben der Unterteilung in »Wirbellose« und »Wirbeltiere« findet sich im »Tableau« der Histoire naturelle des animaux sans vertèbres (1815-1822) innerhalb der »Wirbellosen« ein »Schnitt« zwischen den Tieren, die, »aphatisch« (aphatiques), nur über ein »irritables«, an lokale »Orgasmen« gebundenes Bewegungs-Dispositif verfügen, und »sensiblen Tieren« (animaux sensibles), die ein in »Zentren« differenziertes Nervensystem besitzen.255 Von den »sensiblen wirbellosen Tieren« unterscheidet Lamarck wiederum die »Wirbeltiere«, die nicht nur »sensibel«, sondern auch 251 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 1, 6: »[…] la force qui excite les mouvemens organiques, peut, dans les animaux les plus imparfaits, se trouver hors d’eux, et cependant les animer; […] ensuite cette force a été transportée et fixée dans l’animal même; […]«; und ibid., Bd. 2, 305-306 und 321-322. 252 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 309 und 331; und 1815-1822, Bd. 1, 379. 253 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 302-303: »On sait que les végétaux peuvent satisfaire à leurs besoins sans se déplacer, et sans exécuter aucun mouvement subit: la raison en est, que tout végétal, convenablement situé, trouve dans les milieux environnans, les matières dont il a besoin pour se nourrir; de sorte qu’il n’a qu’à les absorber et recevoir les influences de certaines d’entre elles. Il n’en est pas de même des animaux: car, à l’exception des plus imparfaits, qui commencent la chaîne animale, les alimens, qui servent à leur subsistance, ne se trouvent pas toujours à leur portée, et ils sont obligés, pour se les procurer, d’exécuter des mouvemens et des actions. D’ailleurs, la plupart d’entre eux ont, en outre, d’autres besoins à satisfaire, qui exigent aussi, de leur part, d’autres mouvemens et d’autres actions. Or, il s’agissoit de reconnoître la source où les animaux puisent cette faculté de mouvoir plus ou moins subitement leurs parties, en un mot, d’exécuter les actions diverses au moyen desquelles ils satisfont à leurs besoins.« 254 | Siehe hierzu Burkhard 1981. 255 | Lamarck führt die Unterteilung der »Wirbellosen« in »aphatische« und »sensible Tiere« 1812 im Extrait du cours de zoologie du Muséum d’histoire naturelle ein. Vgl. Lamarck 1812, 8-10; 1815-1822, Bd. 1, 378-380; 1817f, 335; und 1820, 204.
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»intelligent« (intelligents) und zu »Willensakten« (actes de volonté) fähig sind.256 »Aphatische Tiere« stellen für Lamarck »Infusorien«, »Polypen«, »Rädertiere« und »Würmer« dar, zu den »sensiblen Tieren« zählt er »Insekten«, »Arachniden«, »Crustaceen«, »Anneliden«, »Cirripheden« und »Mollusken«, und zu den »sensiblen und intelligenten Tieren« »Fische«, »Reptilien«, »Vögel« und »Säugetiere«.257 Der Übergang von »aphatischen« zu »sensiblen Tieren« ist an die »Entwicklung« eines »Motors« (moteur) im Nervensystem gebunden, der es ermöglicht, von innen her Reiz-Reaktions-Schemen und »Bedürfnisse« aufeinander abzustimmen.258 Diesen »Motor«, der wie ein »Wille« Bewegungen leitet, bezeichnet Lamarck in der Philosophie zoologique (1809) als »inneres Gefühl« (sentiment intérieur). Nach Sömmerings Überlegungen zum sensorium commune als Organ der Seele, Galls Organologie des Gehirns259 und Jean César Legallois’ Vivisektionen zur Bestimmung des »Sitzes des Lebens« 260, setzt Lamarcks Regulationsmodell des »inneres Gefühls«, zusammen mit Cabanis’ 256 | Lamarck 1815-1822, Bd. 1, 137-138. 257 | Lamarck 1815-1822, Bd. 1, 381. Zur Besonderheit der Nervensysteme der »Würmer siehe ibid., 456-458. 258 | Lamarck 1809, Bd. 2, 331. 259 | Lamarck kritisiert Galls systematische Korrelation zwischen Schädelformen und »Fähigikeiten« von »Gehirnen«. Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 362-364. 260 | Lamarck entwickelt den Begriff des sentiment intérieur in der Philosophie zoologique (1809) in Abgrenzung zu Legallois. Legallois veröffentlichte seine Experimente zum »Sitz des Lebens« zuerst im Nouveau bulletin des sciences (1807), anschließend in Expériences sur le principe de la vie, notamment sur celui des mouvemens du cœur, et sur le siège de ce principe (1812). Lamarck kritisiert an Legallois, nicht zwischen »Irritabilität« und »innerem Gefühl« unterschieden zu haben. Vgl. Lamarck 1809, Bd. 1, Avertissement, xi-xii; und 1815-1822, Bd. 1, 233-236 und 255-256: »Par exemple, M. Le Gallois, d’après différentes expériences qu’il a faites sur des mammifères mutilés pendant leur vie, prétend que le principe du sentiment existe seulement dans la moëlle épinière, et non dans la base du cerveau; il prétend même qu’il y a autant de centres de sensation bien distincts, qu’on a fait de segmens à cette moëlle, ou qu’il y a de portions de cette moëlle qui envoient des nerfs au tronc. Ainsi, au lieu d’une unité de foyer pour le sentiment, il y en aurait un grand nombre, selon cet auteur. […] D’une part, je vois que M. Le Gallois juge presque toujours de la sensibilité par des mouvemens excités qu’il aperçoit; en sorte qu’il prend des effets de l’irritabilité pour des témoignages de sensations éprouvées; et de l’autre part, je remarque qu’il ne distingue point, parmi les puissances nerveuses, celle qui vivifie les organes, et qui leur fournit des forces d’action, de celle, très-différente, qui sert uniquement au phénomène des sensations; comme il aurait dû distinguer aussi, s’il s’en était occupé, celle encore très-différente des autres, qui donne lieu à la formation des idées, et aux opérations
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System multipler Reaktionszentren, die Vernähung von Außen- und Innenwelt im französischen Kontext physischer Sensibilität fort. Jedes »Nervensystem«, das Regulation ermöglicht, enthält für Lamarck kommunizierende »Foyers« ( foyers) oder »Bezugszentren« (centres de rapport).261 Während bereits in »Rädertierchen« verschiedene »Ganglien« erkennbar sind, die »untereinander durch Netze kommunizieren«, kommt es erst in »Insekten« zu einem Zusammenschluss der »Ganglien« in einem »longitudinalen Mark« (moëlle longitudinale), dessen vorderstes »Ganglion« »eine Art kleines Gehirn« darstellt, in dem erste »Sinnesorgane« entstehen.262 In einem solchen »Zentrum« geht das »innere Gefühl« aus der »intimen Verbindung« (connexion intime) aller »Nerven« und der (durch die beständige »Aktivität« innerer Organe unterhaltenen) »allgemeinen Erschütterung« (ébranlement générale) der in ihnen enthaltenen »subtilen Nervenflüssigkeit«263 hervor, der qu’elles exécutent.« Für Legallois’ Vivisektionen und den weiteren Kontext der Debatte siehe Legallois 1807 und 1812; Schiller 1969, 46-48; und Cheung 2013. 261 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 184. Im Système analytique des connaissances positives de l’homme (1820) unterscheidet Lamarck den »distinkten Organismus« (organisme distinct) der »gröberen Organsysteme« (systèmes d’organes grossiers), die etwa Lokomotion, Verdauung und Sekretion betreffen, vom »indistinkten Organismus« (organisme indistinct) der »organischen Phänomene«, die, anatomisch kaum erfassbar, vom »inneren Gefühl« und dem »System der Intelligenz« ausgehen. Vgl. Lamarck 1820, 162-166. 262 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 186; und ibid., 229-230. Aus dem »verlängerten Mark« gehen die regulativen Zentren aller »Nervensysteme« hervor. Vgl. ibid., 197. 263 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 241-244: »[…] dans tout animal qui possède un système nerveux, il existe dans les nerfs et dans les foyers médullaires auxquels ces nerfs aboutissent, un fluide invisible, très-subtil, contenable, et à peu près inconnu dans sa nature, parce qu’on manque de moyens pour l’examiner directement. Ce fluide, que je nomme fluide nerveux, se meut dans la substance pulpeuse des nerfs et du cerveau, avec une célérité extraordinaire, et cependant n’y forme, pour l’exécution de ses mouvemens, aucuns conduits perceptibles. C’est par le moyen de ce fluide subtil que les nerfs agissent; que le mouvement musculaire se met en action; que le sentiment se produit; et que les hémisphères du cerveau exécutent tous les actes d’intelligence auxquels, selon leurs développemens, ils ont la faculté de donner lieu. Quoique la nature propre du fluide nerveux ne nous soit pas bien connue, puisque nous ne pouvons l’apprécier que par ses effets; depuis la découverte du galvanisme, il devient de plus en plus probable qu’elle est très-analogue au fluide électrique. […] Ce fluide électrique pénétrant sans cesse dans le sang, soit par la voie de la respiration, soit par toute autre, s’y modifie graduellement, s’y animalise, et acquiert, enfin, les qualités de fluide nerveux.« Die »sichtbaren Flüssigkeiten« in den »Nerven« dienen nur der Ernährung. Vgl. ibid., 179: »D’ailleurs, il est aisé de reconnoître que les fluides visibles qui pénètrent
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»obskure« oder »konfuse Sensationen« (sensations obscures, confuses) entsprechen.264 In Wirbeltieren verortet Lamarck den »Sitz des inneren Gefühls« in einem sensorium commune »am äußersten Ende des Rückenmarks«, während das »Foyer des Geistes« ( foyer de l’esprit) oder das »System der Intelligenz« in den beiden »gefalteten Hälften« des »Hypocephalus« operiert.265 Das sensorium commune stellt nicht nur das »wahre Gehirn« (véritable cerveau), sondern den eigentlichen Sitz des Lebens dar, der sich zusammen mit dem Bewegungssystem der »Muskeln« entwickelt hat. 266 »Muskeln« bestehen für Lamarck aus Fasern, Gefäßen und »Nervennetzen«.267 Ihre Bewegungen resultieren aus »Verdans la substance médullaire du cerveau et des nerfs, ne sont que nourriciers, et propres à fournir à des sécrétions; mais que ces fluides ont trop de lenteur dans leurs mouvemens pour pouvoir donner lieu aux phénomènes, soit du mouvement musculaire, soit du sentiment, soit de la pensée.« 264 | Die Vorstellung, dass organische Körper durch die Aktivität ihrer inneren Organe beständigen, oszillierenden »Erschütterungen« und »Erregungen« ausgesetzt sind, findet sich in mehreren Ansätzen der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, im englischen Kontext etwa bei David Hartley und Joseph Priestley und im französischen Kontext bei Charles Bonnet, Théophile de Bordeu und Diderot. Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 276-277; und 1817f, 332. 265 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 188-190 und 231. 266 | Zur Bestimmung des »Sitzes« des sentiment intérieur bezieht sich Lamarck nicht nur auf Legallois, sondern auch auf Vivisektionen von Francesco Redi Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 184-189. Lamarck hält es für legitim, über eine »unsterbliche Seele« im Menschen nachzudenken, allerdings macht es für ihn keinen Sinn, ihren möglichen »Sitz« zu bestimmen. Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 187: »Il suffit de penser que l’homme est doué d’une âme immortelle, sans que l’on doive jamais s’occuper du siège et des limites de cette âme dans son corps individuel, ni de sa connexion avec les phénomènes de son organisation: tout ce que l’on pourra dire à cet égard sera toujours sans base et purement imaginaire.« 267 | Vgl. Lamarck 1802b, 170. Das Muskelsystem ergänzt die Irritabilität organischer Teile. Vgl. Lamarck 1809, Bd. 1, 413-414: »Dans les animaux, qui tous ont des parties irritables, les mouvemens vitaux sont entretenus, dans les uns, par l’irritabilité seule des parties, et dans les autres, ils le sont à la fois par l’irritabilité et par l’ action musculaire des organes qui doivent agir. En effet, dans ceux des animaux dont l’organisation, encore très-simple, n’exige dans les fluides contenus que des mouvemens fort lents, les mouvemens vitaux s’exécutent seulement par l’irritabilité des parties contenantes et par la sollicitation dans les fluides contenus que provoque en eux la cause excitatrice. Mais comme l’énergie vitale s’accroît à mesure que l’organisation se compose, il arrive bientôt un terme où l’irritabilité et la cause excitatrice seules ne peuvent plus suffire à l’accélération devenue nécessaire dans les mouvemens des fluides; alors la nature
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kürzungen«, die durch zufließende »Nervenflüssigkeiten« ausgelöst werden, die den »Orgasmus« der Muskelgewebe für eine bestimmte Zeit aufheben. Dieser Zufluss wird vom sensorium commune geregelt, beruht aber zugleich auf besonderen »Zentren oder Speichern«, die gewährleisten, das neben »willentlich« oder »emotional« bedingten Bewegungen ausreichend »Nervenflüssigkeit« für die kontinuierliche Aktivität innerer »vitaler Organe« zur Verfügung steht.268 Die »Sensibilität« des »inneren Gefühls« und die an lokale »Orgasmen« gebundene »Irritabilität«, die auch in Geweben ohne Nerven vorliegt, stellen für Lamarck verschiedene »Produktions«-Weisen von »Erregungen« dar.269 Rousseaus »Gefühl der Existenz« (sentiment de l’existence) aufnehmend 270, ist Lamarcks »inneres Gefühl«, vom »Insekt« bis zum »Menschen«, Repräsentant des Gesamtzustandes der »inneren Organisation« und regulierende Instanz der Bewegungen, die sich als »Reaktionen« auf bestimmte »Erregungen« (excitations) einstellen.271 In höheren Tieren können diese »Erregungen« sowohl
emploie le système nerveux, qui ajoute le produit de l’action de certains muscles à celui de l’irritabilité des parties; et bientôt ce système permettant l’emploi du mouvement musculaire, le cœur devient un moteur puissant pour l’accélération du mouvement des fluides; enfin, lorsque la respiration pulmonaire a pu être établie, le mouvement musculaire devient encore nécessaire à l’exécution des mouvemens vitaux, par les alternatives de dilatation et de resserrement qu’il procure à la cavité qui contient l’organe respiratoire, et sans lesquelles les inspirations et les expirations ne pourroient s’opérer.« 268 | Vgl. Lamarck 1802b, 173-175; 1809, Bd. 2, 203; und ibid., 250-251. 269 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 1, Avertissement, x: »[…] le sentiment et l’irritabilité sont deux phénomènes organiques très-différens; qu’ils n’ont nullement une source commune, comme on l’a pensé; enfin, que le premier de ces phénomènes constitue une faculté particulière à certains animaux, et qui exige un système d’organes spécial pour pouvoir s’opérer, tandis que le deuxième, qui n’en nécessite aucun qui soit particulier, est exclusivement le propre de toute organisation animale.« Zur systematischen Abgrenzung zwischen »Irritabilität« und »Sensibilität« in Lamarcks Ansatz siehe Gissis 2010, 218-220. 270 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 279-281. Zur Doppelbewegung zwischen physischer und selbstbezüglicher »Sensibilität« bei Rousseau siehe König 2010, 175-176; und Guichet 2010. 271 | Lamarck 1809, Bd. 2, 281-282: »Le sentiment intérieur peut être considéré sous deux rapports très-distincts; savoir : 1 o. en ce qu’il est le résultat des sensations obscures qui s’exécutent, sans discontinuité, dans toutes les parties sensibles du corps: sous cette considération, je le nomme simplement sentiment intérieur; 2 o. dans ses facultés: car, au moyen de l’ébranlement général dont est susceptible le fluide
VIII. Der Gebrauch des Lebens
vom »Foyer der Sensationen« ( foyer des sensations)272 der Sinnesorgane als auch vom »Foyer des Geistes« ( foyer de l’esprit) ausgehen: »Ainsi, dans les animaux qui ont en eux-mêmes la puissance d’agir, c’est-à-dire, la force productrice des mouvemens et des actions, le sentiment intérieur qui, dans chaque occasion, fait naître cette force, étant excité par un besoin quelconque, met en action la puissance ou la force dont il s’agit; excite des mouvemens de déplacement dans le fluide subtil des nerfs, que les anciens nommèrent esprits animaux; dirige ce fluide vers celui des organes que quelque besoin oblige d’agir; enfin, fait refluer ce même fluide dans ses réservoirs habituels, lorsque les besoins n’exigent plus que l’organe agisse. Le sentiment intérieur tient lieu alors de volonté; car il importe maintenant de considérer que tout animal qui ne possède pas l’organe spécial dans lequel, ou au moyen duquel, s’exécutent les pensées, les jugemens etc., n’a point réellement de volonté, ne choisit point, et, conséquemment, ne peut dominer les mouvemens que son sentiment intime excite.« 273
Mit der Einführung des »inneren Gefühls« als übergeordnetes identitätsstiftendes Zentrum und Regulator komplexer Bewegungen leitet Lamarck zwei diskursive Verschiebungen ein. Zum einen überführt er die durch Nicolas Malebranche vertretene thomistische Tradition des »inneren Gefühls« als Ausdruck der Fähigkeit einer immateriellen Seele, sich selbst und zugleich subtil qui l’occasionne, il a celle de constituer une puissance qui donne aux animaux qui la possèdent, le pouvoir de produire eux-mêmes des mouvemens et des actions.« 272 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 258: »Le foyer des sensations est peut-être divisé et multiple dans les animaux qui ont une moëlle longitudinale noueuse; cependant on peut soupçonner que le ganglion qui termine antérieurement cette moëlle est un petit cerveau ébauché, puisqu’il donne immédiatement naissance au sens de la vue. Mais quant aux animaux qui ont une moëlle épinière, on ne sauroit douter que le foyer des sensations ne soit chez eux simple et unique; et vraisemblablement ce foyer est situé à l’extrémité antérieure de cette moëlle épinière, dans la base même de ce qu’on nomme le cerveau, et conséquemment sous les hémisphères.« Lamarck unterscheidet nicht systematisch zwischen »Sensationen« (sensations) und »Gefühlen« (sentiments). Dem »Tastsinn« ist als »allgemeiner Sinn« kein spezifisches Organ zugeordnet. Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 215: »Je nomme sens particulier chacun de ceux qui résultent d’organes spéciaux qui les font exister, tels que la vue, l’ouïe, l’odorat et le goût: quant au toucher, c’est un sens général, type, à la vérité, de tous les autres, mais qui n’exige aucun organe spécial, et auquel les nerfs ne peuvent donner lieu que lorsqu’ils sont capables de produire des sensations.« 273 | Lamarck 1809, Bd. 2, 312-313. Vgl. Lamarck 1817f, 332-333. Für Lamarcks Anschluss an andere Modelle physischer Sensibilität und Reflexivität siehe Lamarck 1809, Bd. 2, 175-176, 273-274, 349-350, 368 und 420. Jordanova (1981) und Gissis (2010, 228-235) gehen auf Lamarcks Konzept des »inneren Gefühls« ein.
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Gewissens-artig das (göttlich gesetzte) Rechte zu erkennen, in einen an Rousseau orientierten Diskurs der Naturgeschichte, in dem das »innere Gefühl« physisch bedingtes Moment der prozessualen Identität »lebender Individuen« ist. Zum anderen entwickelt Lamarck zwischen Hallers Irritabilitäts-Sensibilitäts-Dualismus274 und Cabanis’ (Irritabilität umfassenden) Sensibilitätsbegriff eine Position, die zwar grundsätzlich zwischen Irritabilität und Sensibilität unterscheidet, aber zugleich eine an Nervensysteme gebundene Sensibilität des »inneren Gefühls« vom Erregungssystem der Muskeln und vom reflexiven »System der Intelligenz« abgrenzt. Ausgehend von dieser Position entwirft Lamarck eine »zoologische Philosophie« (philosophie zoologique)275, die vom Regulationsproblem innerer, nicht »bewusst« wahrgenommener Sensationen zum »Ich« höherer Tiere führt.276 274 | Haller geht davon aus, dass irritable Erregungssysteme allein an Muskelfasern, sensible Systeme hingegen an Nervensysteme gebunden sind. Vgl. Haller 1752. 275 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 175: »Si le physique et le moral ont une source commune; si les idées, la pensée, l’imagination même, ne sont que des phénomènes de la nature, et conséquemment que de véritables faits d’organisation; il appartient principalement au zoologiste, qui s’est appliqué à l’étude des phénomènes organiques, de rechercher ce que sont les idées, comment elles se produisent, comment elles se conservent; […]« 276 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 281: »Ce sentiment intime et continuel, dont on ne se rend pas compte, parce qu’on l’éprouve sans le remarquer, est général, puisque toutes les parties sensibles du corps y participent. Il constitue ce moi dont tous les animaux, qui ne sont que sensibles, sont pénétrés sans s’en apercevoir, mais que ceux qui possèdent l’organe de l’intelligence peuvent remarquer, ayant la faculté de penser et d’y donner de l’attention.«; 1817f, 332: »Tout être sensible, c’est-à-dire, doué de la faculté de sentir, et ce n’est que dans le règne animal qu’il en existe de cette sorte, possède un sentiment intérieur, dont il jouit sans le discerner, qui lui donne une notion très-obscure de son existence, ou autrement, qui constitue en lui le sentiment de son être, et qui y donne lieu à ce moi si connu de nous, parce que nous avons le pouvoir d’y donner de l’attention. Ce sentiment intime d’existence, en un mot, ce moi en question nous étoit bien connu, comme je viens de le dire; mais le sentiment intérieur qui y donne lieu, constituant une puissance, d’une part, susceptible d’être émue par tout besoin senti, et de l’autre, capable de faire agir immédiatement, ne me paroît avoir été reconnu par personne avant moi. On ne s’en occupa point; on n’en rechercha ni la nature, ni la source […]«; und ibid., 336: »[…] tout animal qui possède un système nerveux ainsi composé, dont les parties s’étendent à peu près partout et vont se rendre à un foyer commun ou principal, jouit alors d’un sentiment intérieur auquel tout son être participe, qu’il éprouve continuellement sans le discerner, parce qu’il est, en quelque sorte, trèsobscur, et qui lui donne la conscience de son existence et des différens besoins qu’il peut éprouver.« Siehe hierzu auch Compayré 1878.
VIII. Der Gebrauch des Lebens
Aus dem Abgleich zwischen »nicht-bemerkten Sensationen« (sensations non-remarquées)277 oder »kleinen Perzeptionen« (petites perceptions)278, die bestimmte »Bedürfnisse« (besoins) repräsentieren279, und dem »innerem Gefühl« gehen Reaktionen hervor, die – mit oder ohne Beteiligung des »Foyers der Intelligenz«280 – als »innere Emotionen« (émotions intérieures) »einzelne« oder »zusammengesetzte«, »sukzessive Bewegungen« (mouvements simples, composés, successifs) auslösen – wobei letztere auf besonderen Reaktions-Schemen des »inneren Gefühls« beruhen, die Lamarck als »natürliche Neigungen« (penchants naturels), »Instinkte« (instincts) und »besondere Gefühle« (sentiments particuliers) bezeichnet.281 »Natürliche Neigungen« und »Instinkte« leiten sich aus dem allgemeinen »Bedürfnis« zur Selbsterhaltung ab, das sich bereits in den Assimilationsprozessen der ersten »organisierten Massen« zeigt. Während die »Aktions«-Ketten, die von »natürlichen Neigungen« in höheren Tieren ausgehen – hierzu gehören etwa die »Neigung«, »sein Wohlergehen zu suchen« (rechercher le bienêtre), oder die »Angst vor der Nichtung seines Wesens« (horreur pour l’anéantissement de son être)282 –, durch andere »Sensationen« oder regulative Einflüsse 277 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 274. 278 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 273. 279 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 332-333: »[…] tout besoin ne devient tel qu’à l’instant où l’objet qui manque à l’individu, ou celui qui le gêne ou lui nuit, a excité un mouvement quelconque au foyer dont il vient d’être question; et qu’alors, seulement, le besoin est ressenti. […] Les choses étant ainsi, il est évident que les besoins qui appartiennent aux sensations, parviennent facilement au sentiment intérieur par la sensation ellemême; […]« 280 | Vgl.Lamarck 1809, Bd. 2, 294-295. 281 | Vgl. Lamarck 1817d, 134: »L’action que le sentiment intérieur excite et dirige, n’est pas toujours un mouvement simple; mais elle est quelquefois un mouvement composé de plusieurs autres qui se succèdent; ce qui, en d’autres termes, signifie que l’action elle même, au lieu d’être toujours simple, se trouve quelquefois composée de diverses actions successives. Tout cela est relatif aux circonstances dans lesquelles certaines races se sont trouvées dans la nécessité de vivre; circonstances qui ont rendu plus difficiles, plus compliqués, les moyens de satisfaire à leurs besoins. Or, lorsque l’action à exécuter doit être compliquée de plusieurs mouvemens ou de plusieurs actions différentes et successives, chaque action particulière étant terminée, l’animal ressent aussitôt le besoin d’une autre action subséquente; et, dans l’instant même, son sentiment intérieur en excite l’exécution et la dirige sans erreur.«; und 1809, Bd. 2, 340-341. 282 | Im Système analytique (1820, 211-212) führt das »Bedürfnis« der Selbsterhaltung im Menschen zur »Selbstliebe« (amour de soi-même) und differenziert sich in sechs »allgemeine Neigungen« (penchants généraux): die Neigung (1) zur »Erhaltung seines
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modifiziert werden können, stellen »Instinkte« unveränderbare Reaktionsdispositive dar, die »unmittelbar« Bewegungen auslösen, wenn ein »Bedürfnis« vorliegt.283 »Natürliche Neigungen« und »Instinkte« werden an nachfolgende Generationen übertragen. Ihr Dispositiv bestimmt, als »Gewohnheit«, die »Produktions«-Weise von Bewegungen und begrenzt zugleich den regulativen Spielraum des »inneren Gefühls«.284 Dieses Dispositiv wird in »intelligenten Tieren« und »Menschen« durch »besondere Gefühle« erweitert, die sich nicht Wesens« (conservation de son être), (2) zur »Unabhängigkeit« (indépendance), (3) zum »persönlichen Interesse« (intérêt personnel), »sich selbst immerzu allem anderen vorzuziehen« (à se préférer en tout à tout autre), (4) »in jeder Hinsicht zu herrschen« (dominer, sous quelque rapport que ce soit), (5) sein »Wohlergehen zu suchen« (rechercher le bien-être), und (6) »große Angst vor der Nichtung seines Wesens« (horreur pour l’anéantissement de son être) zu haben. Im Artikel Homme (1817) bezieht sich Lamarck nur auf vier »allgemeine Neigungen«. Vgl. Lamarck 1817e, 272-274. Zum historischen Kontext von amour-propre und amour de soi siehe Fuchs 1977. 283 | Lamarck bezeichnet »Instinkte« auch als besondere »Neigungen«, bestimmt sie aber meist als eigenständiges Bewegungsdispositiv. Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 341: »Relativement à l’instinct, […] on y a vu que ce produit du sentiment intérieur est trèsdistinct des penchans, ainsi que des sentimens particuliers, et qu’il constitue une puissance qui fait agir immédiatement, chaque fois qu’un besoin senti sollicite une action.«; 1809, Bd. 2, 324-325: »Ainsi, l’instinct dans les animaux, est un penchant qui entraîne, que des sensations provoquent en faisant naître des besoins, et qui fait exécuter des actions, sans la participation d’aucune pensée, ni d’aucun acte de volonté. Ce penchant tient à l’organisation que les habitudes ont modifiée en sa faveur; et il est excité par des impressions et des besoins qui émeuvent le sentiment intérieur de l’individu, et le mettent dans le cas d’envoyer, dans le sens qu’exige le penchant en activité, du fluide nerveux aux muscles qui doivent agir.«; 1817f, 331: »L’instinct est, dans tout être sensible, le produit d’un sentiment intérieur qu’il possède; sentiment très-obscur qui, dans certaines circonstances, l’entraîne à exécuter des actions à son insu, sans détermination préalable, sans l’emploi d’aucune idée, et par suite, sans la participation de la volonté: telle est, pour moi, la véritable définition de l’instinct.«; und 1820, 216-217. 284 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 326: »Ce penchant des animaux à la conservation des habitudes et au renouvellement des actions qui en proviennent, étant une fois acquis, se propage ensuite dans les individus, par la voie de la reproduction ou de la génération, qui conserve l’organisation et la disposition des parties dans leur état obtenu; en sorte que ce même penchant existe déjà dans les nouveaux individus, avant même qu’ils l’aient exercé. C’est ainsi que les mêmes habitudes et le même instinct se perpétuent de générations en générations, dans les différentes espèces ou races d’animaux, sans offrir de variation notable, tant qu’il ne survient pas de mutation dans les circonstances essentielles à la manière de vivre.«
VIII. Der Gebrauch des Lebens
direkt auf die Selbsterhaltung der inneren Organisation eines »Typs«, sondern auf Reaktionsweisen (in Form von »Hass«, »Zorn«, »Toleranz« oder »Gerechtigkeitssinn«) beziehen, die ein Individuum während seines Lebens aufgrund verschiedener »Umstände« (zu denen Lamarck unter anderem das Alter, die soziale »Situation« (situation) und Vorurteile zählt) und in Abhängigkeit vom Ausprägungsgrad seiner »Neigungen« und seines »Verstandes« erwirbt. 285 »Sensible und intelligente Tiere« haben neben »besonderen Gefühlen« die Fähigkeit, »Eindrücke«, die ihre vom »inneren Gefühl« durch bestimmte »Bedürfnisse« und »Verlangen« (désir) gesteuerte »Aufmerksamkeit« (attention) auf sich ziehen286, als »Perzeptionen« oder »wahrgenommene Sensationen« (sensations remarquées) in ein spezielles »System der Intelligenz« einzufügen, dessen materieller Träger das »Gehirn« ist.287 In diesen Träger werden »Perzeptionen«, auf die sich die »Aufmerksamkeit« richtet, in Form von »Bildern oder besonderen Merkmalen von Objekten« (images ou des traits particuliers d’objets) physisch »eingeschrieben«. Die im Gehirn »eingeschriebenen Bilder oder Eigenschaften« (images ou traits tracés)288 verändern die Bewegungen der Nervenflüssigkeit, die »über sie fließt«. Das »Produkt« dieser Modifikation wird an das »innere Gefühl« weitergeleitet und gelangt von hier aus zurück in
285 | Vgl. Lamarck 1817e, 274-275. 286 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 391-392: »[…] l’attention n’est point en elle-même une opération de l’intelligence; mais elle en est une du sentiment intérieur, qui vient préparer l’organe de la pensée, ou telle partie de cet organe, à exécuter ses actes. On peut dire que c’est un effort du sentiment intérieur d’un individu, qui est provoqué, tantôt par un besoin qui naît à la suite d’une sensation éprouvée, et tantôt par un désir qu’une idée ou une pensée, rappelée par la mémoire, fait naître. Cet effort, qui transporte et dirige la portion disponible du fluide nerveux sur l’organe de l’intelligence, tend ou prépare telle partie de cet organe, et la met dans le cas, soit de rendre sensibles telles idées qui s’y trouvoient déjà tracées, soit de recevoir l’impression d’idées nouvelles que l’individu a occasion de se former.« Für Lamarcks Konzept der »Aufmerksamkeit«, in Abgrenzung zu Ansätzen der Ideologen, die »Aufmerksamkeit« an Willensakte binden siehe Jordanova 1981, 73-75. 287 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 273. 288 | Lamarck spricht auch vom »Sich-Eingravieren« (se graver) der Ideen. Vgl. 1809, Bd. 2, 377: »L’impression qui forme l’idée se trace donc et se grave réellement sur l’organe, puisque la mémoire peut la rappeler au gré de l’individu, et la lui rendre de nouveau sensible. Voilà, selon moi, le mécanisme probable de la formation des idées; celui par lequel nous nous les rendons présentes à volonté, jusqu’à ce que le temps en ayant effacé ou trop affaibli les traits, nous ait mis hors d’état de pouvoir nous en souvenir.«
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das »System der Intelligenz«.289 Im »System der Intelligenz« werden die durch das »innere Gefühl« angezeigten »Perzeptionen« in »einfache Ideen« umgewandelt, die dem System als operative Einheiten dienen.290 Wenn eine bestimmte Anzahl von »Ideen« in einem »Gedächtnis« (mémoire) vorliegt, können sie vom »Verstand« (raison) und der »Einbildungskraft« (imagination) mit anderen »Ideen« oder »Eindrücken« verglichen, beurteilt und in »zusammengesetzte Ideen« (idées composées) oder (durch Kontrastierung und Verallgemeinerung) in neue »Gattungen« (genres) überführt 291 sowie anschließend durch 289 | »Große Emotionen« hinterlassen »tiefe Spuren« im »Organ der Intelligenz« und können, ähnlich wie eine »Verletzung« des Organs, zum »Wahnsinn« (folie) führen, wenn das »innere Gefühl« die modifizierten Bewegungen der »Nervenflüssigkeit« nicht mehr lenken kann. Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 429: »On va voir que la folie prend aussi sa source dans une cause à peu près semblable, c’est-à-dire, dans celle qui ne permet plus au sentiment intérieur de diriger les mouvemens du fluide nerveux dans l’hypocéphale. En effet, lorsqu’une lésion accidentelle a causé quelque dérangement dans l’organe de l’intelligence, ou qu’une grande émotion du sentiment intérieur a laissé des traces assez profondes de ses effets dans l’organe dont il s’agit, pour y avoir opéré quelqu’altération; le sentiment intérieur ne maîtrise plus les mouvemens du fluide nerveux dans cet organe, et les idées que les agitations de ce fluide rendent sensibles à l’individu, se présentent en désordre et sans liaison à sa conscience.« 290 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 369-370. Lamarck bezeichnet die vom »inneren Gefühl« dem »System der Intelligenz« angezeigten »Sensationen« auch als »physische Gefühle« (sentiments physiques), während, in umgekehter Richtung, an das »innere Gefühl« weitergeleitete »Ideen« als »moralische Gefühle« (sentiments moraux) wahrgenommen werden. Vgl. ibid., 372: »Je nomme sentiment moral, ce que nous ressentons lorsqu’une idée, ou une pensée, ou, enfin, un acte quelconque de notre entendement est rapporté à notre sentiment intérieur, et que par là nous en avons la conscience. Je nomme sentiment physique, ce que nous éprouvons lorsque, par suite d’une impression faite sur tel de nos sens, nous ressentons une sensation quelconque, et que nous la remarquons.« 291 | Zu den neuen »Gattungen« gehört auch die Vorstellung des »Geistes« als eines »immateriellen Wesens«, das im »Gegensatz« zur »Idee des Körpers oder der Materie« steht. Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 412-413: »L’homme ne pouvant se former aucune idée solide que des objets, ou que d’après des objets qui sont dans la nature; son intelligence eût été bornée à l’effectuation de ce seul genre d’idées, si elle n’eut eu la faculté de prendre ces mêmes idées ou pour modèle, ou pour contraste, afin de s’en former d’un autre genre. C’est ainsi que l’homme a pris le contraste ou l’opposé de ses idées simples, acquises par la voie des sensations, ou de ses idées complexes, lorsque s’étant fait une idée du fini, il a imaginé l’infini; lorsqu’ayant conçu l’idée d’une durée limitée, il a imaginé l’éternité, ou une durée sans limites; lorsque s’étant formé l’idée d’un corps ou de la matière, il a imaginé l’esprit ou un être immatériel etc. etc.«
VIII. Der Gebrauch des Lebens
den »Willen« in »Akte« eingebunden werden, die das »Foyer des Geistes« mit dem »inneren Gefühl« in Verbindung setzen und »Emotionen« auslösen.292 Der »Geist« bezeichnet hier nur eine »Gedächtnis«, »Verstand«, »Einbildung« und »Wille« umfassende, sich aus physischen Konstellationen entwickelte Fähigkeit, die – auf einem »System« von »Operationen« beruhend, das nach gewissen »Regeln« Bewegungen »dirigiert« oder »leitet« – je nach Organisationstyp und »Gebrauch« in verschiedenen »Graden« vorliegt.293 Durch ihr besonderes regulatives Dispositiv können »intelligente Tiere« Bewegungsfolgen modifizieren und (durch Willensakte) unterdrücken, ohne jedoch die Instanz des »inneren Gefühls« gänzlich zu beherrschen.294 Während das »innere Gefühl« bereits »Insekten« und »Spinnen« befähigt, »äußerst komplizierte Aktionen« (actions très-compliquées) auszuführen, die »Bedürfnisse« befriedigen, ermöglicht das »System der Intelligenz« Individuen, Bewegungsfolgen zu »variieren«, »Emotionen« »abzuschwächen« (modérer) und den Spielraum ihrer regulativen Instanzen durch »Leidenschaften« ( passions), »Willensakte« und »Gedanken«, denen der Verstand »kein Maß aufzwingt«, zu erweitern.295 Diese Entgrenzung wird vom »zivilisierten Menschen«, der 292 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 330. »Zeichen« (signes) sind für Lamarck »Mittel« der Ordnung und der »Kommunikation der Ideen« (communications des idées), aber keine »unmittelbare Ursache der Bildung von Ideen« (causes immédiates de formation d’idées). Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 384-386. 293 | Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 337: »[…] les poissons et les reptiles ont encore un cerveau tellement imparfait qu’il ne peut remplir entièrement la cavité du crâne, ce qui indique que leurs actes d’intelligence sont extrêmement bornés, c’est au moins dans les oiseaux et les mammifères, qu’on doit reconnoître la faculté de vouloir, ainsi que la jouissance d’une volonté déterminatrice de plusieurs des actions de ces animaux; car ils exécutent évidemment différens actes d’intelligence, et ils ont effectivement l’organe particulier qui les rend capables de les produire.«; und 1817d, 137: »Effectivement, toutes les parties du système nerveux qui servent à la production du sentiment, et toutes celles dont les fonctions exécutent les actes de l’intelligence, reçoivent de l’habitude d’être exercées, non seulement une facilité plus grande dans l’exécution de leurs actes, mais en outre des développemens qui accroissent l’étendue et le pouvoir de l’organe, et même une composition progressivement plus grande de ses parties.« Lamarck bezeichnet den »Verstand« auch als einen »Zustand des Organs des Verstehens« (état de l’organe de l’entendement). Vgl. Lamarck 1809, Bd. 2, 443: »[…] la raison n’est point un objet particulier, un être quelconque que l’on puisse posséder ou ne pas posséder; mais c’est un état de l’organe de l’entendement, duquel résulte un degré plus ou moins grand dans la rectitude des jugemens de l’individu; […]« 294 | Vgl. Lamarck 1817d, 137-138; 1817e, 271-272; und 1820, 206. 295 | VGl. Lamarck 1809, Bd.2, 312-313: »[…] il importe maintenant de considérer que tout animal qui ne possède pas l’organe spécial dans lequel, ou au moyen duquel,
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Organismen. Agenten zwischen Innen- und Außenwelten 1780-1860
»in Gesellschaft lebt«, »perfektioniert«, führt aber zugleich zu »Fehlern«, »ungeordneten Gefühlen« und pathologischen »Neigungen«.296 Ähnlich wie Cabanis, dessen Weg von der »fühlenden Kombination« über den Embryo zum homme connaissant et social führte, gelangt Lamarck damit in seiner »philosophischen Zoologie« von der monade terme zum homme civis’exécutent les pensées, les jugemens etc., n’a point réellement de volonté, ne choisit point, et, conséquemment, ne peut dominer les mouvemens que son sentiment intime excite. L’instinct dirige ces mouvemens, et nous verrons que cette direction résulte toujours des émotions du sentiment intérieur, auxquelles l’intelligence n’a point de part, et de l’organisation même que les habitudes ont modifiée; en sorte que les besoins des animaux qui sont dans ce cas, étant nécessairement bornés et toujours les mêmes, dans les mêmes espèces, le sentiment intime, et, par suite, la puissance d’agir produisent toujours les mêmes actions. Il n’en est pas de même des animaux dans lesquels la nature est parvenue à ajouter au système nerveux un organe spécial (deux hémisphères plissés couronnant le cerveau) pour l’exécution des actes de l’intelligence, et qui, par conséquent, exécutent des comparaisons, des jugemens, des pensées etc. Ces mêmes animaux dominent plus ou moins leur puissance d’agir, selon le perfectionnement de leur organe d’intelligence; et quoiqu’ils soient encore fortement assujettis aux produits de leurs habitudes, qui ont modifié leur organisation, ils jouissent d’une volonté plus ou moins libre, peuvent choisir, et ont la faculté de varier leurs actions, ou au moins plusieurs d’entre elles.«; und ibid., 321: »Dans les animaux même qui jouissent de la faculté d’exécuter quelques actes de l’intelligence, ce sont encore, le plus souvent, le sentiment intérieur, et les penchans nés des habitudes qui décident, sans choix, les actions que ces animaux exécutent.« In den Recherches sur l’organisation des corps vivans (1802) geht Lamarck davon aus, dass es nur wenigen »intelligenten Tieren« (etwa »Vögeln« und »Affen«) möglich ist, Bewegungsfolgen, die von »Neigungen« und »Instinkte« ausgehen, durch »Nachahmung« (imitation) zu variieren. Vgl. Lamarck 1802b, 130-131. 296 | Vgl. Lamarck 1817d, 134-136; 1817e, 276; und 1820, 217. Der Prozess der »Zivilisation« stellt für Lamarck, ähnlich wie für Rousseau, eine Entfremdung von der »Natur« des Menschen dar, die pathologischen Charakter trägt. Vgl. Lamarck 1817e, 275: »Plus l’homme s’éloigne de la nature, plus il compromet son être physique, sa tranquillité, sa santé, sa liberté et son bonheur. La société, qui lui est si avantageuse sous certains points de vue, lui devient insensiblement très-nuisible sous mille autres: elle l’éloigne de plus en plus de la vie simple; le porte à multiplier à l’infini ses besoins, développe ses penchans, en leur fournissant des occasions de se diviser et sous-diviser en ramifications sans terme; exalte en lui, tantôt telle passion, tantôt telle autre, et même plusieurs à la fois, selon les circonstances de sa situation; enfin, multipliant ses intérêts, ainsi que les chocs que ceux-ci ont sans cesse à subir, elle l’expose continuellement à mille tourmens d’esprit dont l’influence sur sa destinée est, comme nous allons voir, des plus puissantes.«
VIII. Der Gebrauch des Lebens
lisé. Beide Wege beschreiben einen doppelten Öffnungsprozess, aus dem zum einen das Lebendigkeit konstituierende Verhältnis zwischen dem inneren Organisationssystem kapselartiger Materiemassen und ihrer Außenwelt und zum anderen die Existenzform eines Menschen hervorgeht, dessen Reflexivität und Gesellschafts-Bezug neue Regulations- und Gestaltungsdispositive des Innen-Außenwelt-Verhältnisses ermöglichen, durch das er als être des circonstances lebendig ist. Zugleich heben Cabanis und Lamarck durch ihren Fokus auf das Innen-Außenwelt-Verhältnis und am Leitfaden des Gebrauchs des Lebens die Modifikabilität der Organisationssysteme und der Existenzformen lebender Individuen hervor. Beide Momente – der doppelte Öffnungsprozess und die Modifikabilität lebender Individuen und ihrer Existenzformen – markieren die Grenzen des Problemfelds sich differenzierender Milieu-Organismus-Theorien im neunzehnten Jahrhundert.
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IX. Milieu und Organismus Broussais, Blainville, Comte und Bernard
Mit François Broussais, Henri de Blainville, Auguste Comte und Claude Bernard verfestigt sich im zweiten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts ein dichtes, dem Wissensfeld der sich etablierenden Biologie zugewiesenes Dispositiv, in dessen Zentrum der individuelle Organismus als Agent zwischen Innenund Außenwelten steht. Das Dispositiv entsteht durch vier konvergierende Bewegungen, die in den vorherigen Kapitel behandelte Themen fortsetzen und differenzieren: die erste Bewegung resultiert aus den mit Brown einsetzenden Debatten über die grundsätzliche Identität der Ordnungen des Lebens und der Krankheit als physiologischen, prozessual bestimmten Zuständen, die sich, durch Reiz-Reaktions-Schemen bestimmt, allein gradweise durch Modifikationen ihrer Intensität oder ihrer Verlaufsformen unterscheiden; die zweite Bewegung setzt sich aus physiologisch ausgerichteten Modellierungen organismischer Existenzformen zusammen, die auf Innen-Außenwelt-Verhältnisse und spezifische Gleichgewichte ausgerichtet sind; die dritte Bewegung geht aus dem zunehmenden Interesse an einer allgemeinen Milieu-Theorie der Außenwelt individueller Organismen hervor; und die vierte Bewegung beruht auf der systematischen Anbindung der ersten drei Bewegungen an die konstitutiven Momente eines positivistischen Wissensgebäudes, in dem es um Übergänge zwischen Medizin, Biologie, Psychologie und Soziologie geht. 1 Während Broussais Browns Reiz-Reaktions-Schema in eine die Pathologie umfassende »physiologische Doktrin« einbaut, überführt Blainville Cuviers »Wissenschaft organisierter Körper« in eine »Zoobiologie«, in der es um physiologisch geprägte Beziehungsverhältnisse zwischen dem Prozessgefüge innerer Organisationen und den »äußeren Modifikatoren« von »Milieus« geht. Comte bindet den in Broussais’ und Blainvilles Physiologien entstan1 | Zum Verhältnis von Broussais, Blainville, Comte und Bernard siehe Canguilhem 1979a, 18-31; und Braunstein 1986, 59-62 und 203-226. Braunstein (ibid., 54-62) vergleicht auch Magendies und Broussais’ Positionen.
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Organismen. Agenten zwischen Innen- und Außenwelten 1780-1860
denen organismischen Agenten in den methodischen Überbau der Wissenssysteme seines Cours de philosophie positive (1830-1842) ein. Zugleich verweist er im Rahmen seines Ansatzes auf die Bedeutung einer noch ausstehenden Milieu-Theorie der äußeren Existenzbedingungen lebender Körper. In seiner experimentellen Physiologie kehrt Bernard Comtes Außenwelt-Fokus um und untersucht die Widerständigkeit und die Unabhängigkeit selbstreproduktiver »innerer Milieus« individueller Organismen gegenüber den Einflüssen »äußerer Milieus«.
1. B ROUSSAIS ’ PHYSIOLOGISCHE D OK TRIN In seiner »neuen physiologischen Doktrin«, die er im zweibändigen Traité de physiologie appliquée à la pathologie 1822-1823 bestimmt, fokussiert François Broussais, der in Paris bei Bichat und Pinel Medizin studierte, auf spezifische Wechselwirkungen zwischen den Innen- und Außenwelten lebendiger Körper.2 Auf den Schultern von Bichats und Cuviers Typen-orientierter Anatomie organischer Funktionssysteme stehend, untersucht Broussais das Zusammenwirken »extra-individueller« und »intra-individueller Funktionen«3, das durch einen »Gleichgewichtszustand« (état d’équilibre)4 zwischen den Einflusssphären von Innenwelten und »Milieus« den Selbsterhalt eines »physiologischen Lebens« (vie physiologique)5 ermöglicht. In Broussais’ Ansatz setzt sich die Differenz von »Außerhalb« (extérieur) und »Innerhalb« (intérieur) oder »Außen« (externe) und »Innen« (interne) bis zu den kleinsten Einheiten fort, die zu einer »physiologischen Tätigkeit« (action physiologique)6 fähig sind. Jede Differenz wird durch »Oberflächen« (surfa2 | Für biographische Angaben und Werksinterpretationen siehe Gouraud 1839; Montègre 1839; Rémusat 1842, Bd. 1, 11-83; Dubois 1849; Reis 1864; Folet 1907; Rolleston 1939; Ackerknecht 1953; Braunstein 1986; Valentin 1988; und Tyouyopoulos 2008, 176-198. 3 | Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 2, 5: »Toutes les fonctions ont pour but la conservation de l’individu; mais les unes atteignent ce but en le mettant en rapport avec les corps extérieurs, ce sont celles que nous avons examinées; tandis que les fonctions dont l’étude va nous occuper remplissent le même objet sans l’intervention d’aucun rapport étranger.«; und ibid., 6 und 42-43. 4 | Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 2, 205. 5 | Broussais 1822-1823, Bd. 2, 6. 6 | Broussais 1822-1823, Bd. 2, 352. Broussais weist »physiologischen Tätigkeiten« bestimmte »Funktionen« zu. Die »Tätigkeit des Atmungsapparats« besteht etwa in den drei »großen Funktionen« der Luftzufuhr, der Ausatmung und der Tonerzeugung. Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 2, 51.
IX. Milieu und Organismus
ces) ermöglicht, die als (weiterleitende, hemmende, umwandelnde, verteilende) Grenzen das Aufgenommene nicht stempelhaft und passiv rezipieren, sondern in einen aktiven Assimilationsprozess der aufnehmenden Innenräume einspeisen. Verortet durch die Richtungszeiger »nach« (vers) und »hindurch« (travers), ist das aufgenommene »Fremde« beständig durch grenzüberschreitende »Passagen« (passages) auf dem Weg, zum Körper des aufnehmenden Selbst zu werden. Sein Ein- und Austritt in und aus dem Körper zeigt sich als transport, transfer, transformation, transmutation, transmission und échange. In höheren Tieren und Menschen charakterisieren vier Momente diesen »Prozess«: zunächst ermöglicht ein Reiz-Reaktions-Dispositiv, dass Wechselwirkungen zwischen Außen- und Innenwelten sowie zwischen (innerorganismischen) Außen- und Innenräumen stattfinden. Das Dispositiv beruht auf der Fähigkeit lebender Körper, durch Gewebe-»Kontraktionen« auf Reize zu reagieren. Zweitens leitet die Reiz-Interaktion eine »Oberflächen« durchdringende »Passage« in das »Kanal«-Labyrinth des Körperinneren ein. Während der »Passage« kommt es, drittens, zu physischen »Transformationen« des Aufgenommenen. Viertens kontrollieren »Regulatoren« (régulateurs) die »Regelmäßigkeit« (régularité) des konzertierten Zusammenwirkens aller »physiologischen Tätigkeiten«, um einen inneren »Gleichgewichtszustand« (état d’équilibre)7 aufrecht zu erhalten. Wie bei Burdach führt der Zusammenhang von Reiz-Reaktions-Dispositiv, Passage, Transformation und Regulation zu einem »Norm«-Diskurs »normaler Zustände« und ihrer pathologischen Modifikationen. Krankheiten gehen für Broussais aus Änderungen von »Lebenszuständen« (états de vie) hervor, die ihrerseits auf variierenden Einflussgrößen der Außen- und Innenwelt beruhen. Metaphysikern und Psychologen, die, »unabhängig vom Organismus«, auf eine »Seele« oder einen »Geist« rekurrieren, hält Broussais vor, dass sie die Wechselwirkungen zwischen organischen »Prozessen« und »intellektuellen Funktionen« nicht genügend berücksichtigen.8 Wie Cabanis an französische Ideologen anschließend, interessiert Broussais allein die physisch erfahrbare Ordnung organisierter Körper. Für seine »realen Fakten« ( faits réels) verweist er auf »Beobachtungen« durch die äußeren Sinne, und nicht auf die »innere Erfahrung« (observation intérieure) eines Selbst oder einer »Seele«.9 Das »Ich« 7 | Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 2, 205. 8 | Vgl. Broussais 1836, 2: »Lorsque l’étude des fonctions de l’encéphale fut appelée psychologie, on étudiait la indépendamment de l’organisme; […] Le mot ȥȣȤȘ (âme, esprit) présuppose un moteur, une puissance qui ne sont point accessibles à nos sens: c’est le comment, le quomodo des phénomènes physiologiques.« 9 | Vgl. Broussais 1828, Préface, xvi: »[…] bien que Cabanis soit loin d’être purgé d’ontologisme, il a, sur ses prédécesseurs, l’avantage d’en appeler à des faits réels
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ist für ihn nur ein »Phänomen«, das sich in »Gehirnen« durch das Zusammenspiel innerer und äußerer »Reizungen« (stimulations) einstellt.10 Broussais erhebt nicht den Anspruch, den »intellektuellen Bereich« (domaine intellectuel) des Menschen durch organische Wechselwirkungen hinreichend bestimmen zu können, geht aber davon aus, dass »von den molekularen Bewegungen der organischen Chemie bis zu den Erscheinungen der Intelligenz und des Instinkts eine ununterbrochene Kette«11 von Ursachen und Wirkungen reicht, die prinzipiell Physiologen, und nicht »Psychologen«, erklären können.12 Für sein Modell »intellektueller Funktionen«, das Tiere und Menschen umfasst, orientiert er sich an Luigi Chiaverinis Essai d’analyse comparative sur les principaux caractères organiques et physiologiques de l’intelligence et de que tout le monde peut vérifier, au lieu de s’en tenir à la spéculation systématique, et, en contemplant ces faits, il est impossible de ne pas en découvrir d’autres dont la médita tion devient funeste à l’ontologie. Les kanto-platoniciens l’ont pressenti, et sans savoir, à beaucoup près, ce qu’on pouvait trouver par l’observation de l’homme au moyen des sens, ils ont voulu flétrir d’avance les fruits de cette observation qu’ils ne sauraient empê cher. C’est là précisément ce qu’ils s’efforcent d’effectuer aujourd’hui en montrant à côté et plaçant bien au-dessus de l’observation par les sens, une prétendue observation qu’ils ap pellent intérieure, et qui, si nous les en croyons, dépasse la première de toute la hauteur qui sé pare le moral du physique, le ciel de la terre, le sacré du profane.« Siehe hierzu auch Braunstein 1986, 7-8, 110-116 und 121-124. 10 | Vgl. Broussais 1828, 171-172: »[…] le mot moi ne peut désigner autre chose qu’un phénomène qui se manifeste dans des conditions données qui con sistent, 1° dans l’existence d’un cerveau parfait, bien développé, et dans l’état de veille; 2° dans le fait de plusieurs stimulations d’origine in térieure d’abord, et ensuite d’origine extérieure, qui sont parvenues à ce cerveau. Ce n’est qu’à la faveur de ces conditions qu’un moi existe, et un moi ne peut être comparé qu’à lui-même. Cessez donc de le juger d’après de fausses comparaisons, et prenez-en désormais une autre idée.« 11 | Broussais 1822-1823, Bd. 2, 449. Vgl. 1826b, 110: »Les facultés intellec tuelles ne sont autre chose, pour les sens de l’observateur physiologiste, que le phénomène de la transmission de la stimulation dans l’appareil nervoso-encéphalique.« 12 | Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 1, 253-254: ibid., 442, Fortsetzung der Fußnote 1: »Dire que l’organisation du cerveau n’est qu’une condition de l’exercice de la pensée, c’est toujours dire que l’on ne pense pas sans cerveau; mais si l’on ne pense que lorsqu’on a un cerveau, il faut bien que ce soit parce-qu’on a un cerveau: or, si l’on ne pense que parcequ’on a un cerveau, il nous paraît assez probable que la pensée a lien par le moyen du cerveau. Reste à expliquer le comment; mais, puisqu’il est reconnu que nous ne pou vons y parvenir, il me semble assez sage de ne pas s’en occuper. Toutefois je n’entends parler ici que du physiologiste et du médecin.«; und 1828, Préface, xv-xvii. Broussais richtet seine Kritik der »Psychologen« vor allen gegen Théodore Jouffroy und Victor Cousin. Siehe hierzu Braunstein 2009, 66-68.
IX. Milieu und Organismus
l’instinct (1815), weist jedoch zugleich auf eine spezifische, Tieren grundsätzlich nicht eigene »menschliche Intelligenz« (intelligence humaine) hin, die sich vom »Einfluss der Eingeweide« ablöst und fähig ist, »abstrakte Ideen« zu bilden.13
1.1 Reiz, Reaktion und Milieus Neben einer Pathologie verschiedener Erregungszustände entwickelt Broussais eine allgemeine Physiologie des Reiz-Reaktions-Dispositivs.14 In dieser Physiologie operieren »Assoziationen von Organen und Tätigkeiten« in einem übergreifenden »Prozess«-Gefüge »extra-individueller« und »intra-individueller Funktionen«, deren Dynamik durch »Reize« bestimmt wird.15 Browns Ansatz folgend, geht Broussais davon aus, dass Tiere und Menschen auf »äußere Reize« (stimulans extérieurs) und »Wirkungen der Erregung« (effets de l’excitation) angewiesen sind, um sich am »Leben« zu erhalten. Reize wirken »anregend« und »modifizierend« auf »Kontaktflächen« (surfaces de rapport), die sie, »transformiert«, zu »Organen« oder zu »Gehirnen« als besonderen »Verbindungszentren« (centres de relation) weiterleiten, die ihrerseits »physiologische Tätigkeiten« unterhalten, einleiten oder hemmen. »Fremde Körper« (corps étrangers), die Reize auslösen können, nennt Broussais »äußere Agenten« (agens extérieurs) oder »äußere Erreger« (excitans extérieurs).16 Ohne »äußere Erreger« erlischt die Dynamik des inneren »Prozess«Gefüges.17 Organische Körper, die in sich über eine Art »erhaltende Kraft« 13 | Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 1, 135-163; Broussais 1836, 838-845; und Canguilhem 1979a, 24. 14 | Vgl. Broussais 1829-1834, Bd. 1, Propositions de médecine, i: »La vie de l’animal ne s’entretien que par les stimulans extérieurs (Brown); et tout ce qui augmente les phénomènes vitaux est stimulant.« Für Broussais’ Kritik an Browns System und Pathologie siehe Broussais 1826b, 150-164; 1829-1834, Bd. 1, 345-446; und Reis 1869, 68-70. 15 | Vgl. Broussais 1826b, 159-160; 1822-1823, Bd. 1, 8: »On doit entendre par organes une portion de ma tière animale conformée de manière à pouvoir rem plir au moins un des actes qui concourent manifes tement à l’entretien de la vie. Plusieurs organes réu nis et associés pour un but commun constituent un appareil. Le but commun de cette association d’orga nes et des actes qui en dépendent est une fonction; et le but, aussi bien que le résultat commun de l’en semble des fonctions, c’est l’entretien de la vie.«; und ibid., 99. 16 | Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 2, 279, 283 und 144: »[…] il faut étudier les organes digestifs dans leurs rapports avec les agens extérieurs qui peuvent les modifier.« 17 | Broussais, 1826b, 160 (modificateur), 161 und 159: »C’est sous l’influence continuelle de ces nombreuses causes d’excitation que la vie se maintient. Elle en dépend à tel point que, si ces causes viennent à manquer, la mort est inévitable.«
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Organismen. Agenten zwischen Innen- und Außenwelten 1780-1860
( force conservatrice) verfügen, können keineswegs »unabhängig und frei inmitten der Natur (au milieu de la nature)« existieren.18 Vielmehr hängen sie von den »Milieus« (milieux) ab, deren »fremde Körper«, ihre »äußeren Oberflächen« reizend und durchdringend, im kontinuierlichen Verbund »innerer Oberflächen« wirken: »L’homme ne peut exister que par l’excitation ou la stimulation, car les deux mots sont synonymes, qu’exer cent sur ses organes les milieux dans lesquels il est forcé de vivre. Ces milieux ne se bornent pas à stimuler la surface externe de son corps qui se compose de la peau et du sens de la vision; ils pénètrent par les ouvertures naturelles, ouvertures qui sont elles-mêmes des organes sensitifs, dans de vastes surfaces continues avec la peau; ces surfaces, que l’on peut regarder comme des sens in ternes, plongent dans l’intérieur de plusieurs de ses viscères, et reçoivent, comme les sens externes, la stimula tion ou l’excitation des corps étrangers.«19
»Organismen« nehmen aus der Außenwelt nicht nur Reize und Stoffe auf, um sie weiterzuleiten, sondern reagieren auch gegen von außen kommende Einflüsse von »Kräften«, die dazu tendieren, »organische Körper unorganischen Körpern anzugleichen« (assimiler les corps organiques aux corps bruts). »Organismen« können diese Kräfte bis zu einem gewissen Grad »neutralisieren«.20 Wie Bichat kennzeichnet Broussais lebendige, individuelle Existenz als einen andauernden »Konflikt« zwischen der »Assimilation« der Außenwelt durch die organische Innenwelt und der »Assimilation« der Innenwelt durch die Außenwelt. Während die »hauptsächlichen Funktionen« ( fonctions principales) höherer Tiere die »inneren Apparate« der »Eingeweide« (viscères) und der Atmung betreffen21, ist unter allen Reiz-auslösenden Stoffen der »Wärmestoff« (le calorique) der »wichtigste Erreger der Vitalität« (principal excitant de la vitalité)22 . 18 | Broussais 1826b, 159-160: »On à beaucoup exalté la puissance vitale, la force conservatrice. Cette force est sans doute faite pour exciter notre admiration, mais il ne faut pas trop lui accorder. On a représenté l’homme pour ainsi dire comme indépendant et libre au milieu de la nature à laquelle il semble commander. Voulez-vous juger de sa prétendue indépendance? Il n’est besoin pour le ter rasser de recourir à des puissances d’une activité héroï que, comme le poison, le feu, l’explosion d’un volcan; contentezvous de le soustraire pendant quelques minutes à l’influence excitante de l’oxigène et du calo rique; ensuite demandez-lui qu’il déploie cette force conservatrice que l’on a tant célébrée dans les maladies de toute espèce.« 19 | Broussais 1826b, 156-157. 20 | Broussais 1826b, 159. 21 | Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 1, 8; und ibid., Bd. 2, 45. 22 | Broussais 1822-1823, Bd. 1, 34.
IX. Milieu und Organismus
Wenn der Wärme-Reiz fehlt, »produzieren« die anderen Erreger nicht mehr ihre »gewohnte Wirkung« (effet accoutumé) und der »Tod« tritt ein – auch wenn einige »Eigenschaften der Gewebe« (propriétés des tissus), die zum »Erhalt der Existenz« nicht ausreichen, nach dem »Tod« noch nachweisbar sind.23 Von Geburt an ist jedes Tier mit »Organisations«-spezifischen »vitalen Affinitäten« (affinités vitales) ausgestattet, deren übergreifendes Reiz-ReaktionsSchema das Aufnahmeraster für »Oberflächen« und Nervennetze festlegt, in dem nur eine »bestimmte Ordnung äußerer Körper« (certain ordre de corps extérieurs) zur Wirkung kommt: »Aussitôt qu’un animal est né, les organes qui le composent sont conformés de manière à recevoir certaines impressions, tandis qu’ils sont insensibles à plusieurs autres; en d’autres termes, dès que leurs surfaces externes de rapport sont mises en contact avec certains corps de la nature, ils en éprouvent une stimulation qui va se répéter dans leur cerveau et dans leurs appareils nerveux intérieurs, et dé termine certains actes, tandis que les mêmes sur faces de rapport sont insensibles à l’action d’autres corps qui feraient des impressions sur d’autres animaux d’une conformation différente. Chaque être organisé a donc ses rapports particuliers fondés sur des affinités vitales qui lui sont propres, et qui n’ont lieu qu’entre lui et un certain ordre de corps exté rieurs. Aussitôt que ceux-ci lui sont présentés, il les reconnaît en vertu de la stimulation qui se dé veloppe dans son intérieur […]« 24
Die »Reizung« organismischer Innenwelten führt zu einer Änderung ihrer »Lebenszustände«. Physisch besteht diese Zustandsänderung in einer »Modifikation« des »Modus« (mode) der »Kontraktilität« (contractilité) von »Geweben« (tissus). »Gewebe« sind aus »Fasern« zusammengesetzt, die einzelne »Linien« (lignes) oder »Netze« ( filets) bilden.25 Die Veränderbarkeit des »Modus« der Kontraktilität hängt von der »Elastizität« (élasticité) und »Retraktilität« (retractilité) der tierischen Materie ab, die in tierischen »Fasern« aus Gelatine, Albumin und Fibrin zusammengesetzt ist.26 Broussais unterteilt »tierische Materie« allgemein in die »feste Materie«, die das »Gewebe der Organe« bildet, und in die »mobile Materie« der »Flüssigkeiten« (matière animale fixe, mobile).27 Durch die Kontraktion von »Fasern« als kleinsten Reiz-Reaktions-Einheiten werden Flüssigkeiten innerhalb der 23 | Broussais 1822-1823, Bd. 1, 34; und 1822-1823, Bd. 2, 268: »[…] il faut que les milieux qui les en tourent aient assez de calorique pour ne pas enlever trop rapidement à leurs corps celui que dégage l’exercice de leurs fonctions.« 24 | Broussais 1822-1823, Bd. 1, 124-125. 25 | Broussais 1822-1823, Bd. 1, 29-31. 26 | Broussais 1822-1823, Bd. 2, 206-207. 27 | Broussais 1822-1823, Bd. 1, 7-8.
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»Hohlräume« (cavités) und der »Intervalle« (intervalles) der »Gewebe« bewegt oder durch »Öffnungen« von »Oberflächen« gepresst.28 Der KontraktilitätsModus oder »Kontraktilitätszustand« (état de la contractilité)29 der Gewebe und ihrer »Fasern« kann erhöht oder vermindert werden, und jeder Veränderung des Modus entsprechen »Bewegungen«.30 Eine »lokale Erhöhung« (augmentation locale) der Kontraktilität führt dazu, dass »Flüssigkeiten oder mobile organische Materie zu diesem Punkt hingezogen werden«, so dass der erregte »Bereich« (région) der tierischen Ökonomie an »Dichte« zunimmt.31 Je nach Gewebeart kommt es dadurch zu »Volumen«- oder »Dimensions«-Veränderungen. Diese einen erregten »Punkt« oder »Bereich« charakterisierenden Veränderungen bezeichnet Broussais als »vitale Erektion« (érection vitale).32 Vitale Erektionen werden kontinuierlich »hervorgerufen« (provoquées). Jede lokale »Streckung« (alongemens) und »Anschwellung« (tuméfaction) der Gewebe, die nicht aus einer Muskeltätigkeit oder einer Flüssigkeitsstauung resultiert, beruht auf einer solchen »Erektion«, die ihrerseits, je nach Reizung und Gewebeeigenschaft, als »Erregung« (stimulation), »Reizung« (irritation) oder pathologische »Über-Reizung« (sur-irritation) verschiedene Grade und Formen durchläuft.33 Nach einem Reiz-Ereignis, das einen bestimmten »Grad« erreicht, kommt es zur »Weiterleitung« und »Transformation« des durch »Oberflächen« »reflektierten« Reizes oder der aufgenommenen Materie. In einfacher organisierten, niederen Tieren kann der »Transport« äußerer Materie ins Innere allein durch Öffnungen der »Außenseite des Körpers« geschehen. Die Tracheen der Insekten stellen nach außen hin »Mündungen« (embouchures) von »Kanälen« (canaux) dar, durch die Luft »bis zum Inneren der Gefäße vordringt«.34 In höheren Tieren werden Reize und Stoffe erst durch reflektierende oder transformierende »Kontaktflächen« weitergeleitet. Die Weiterleitung hängt dann von der Reiz-spezifischen »Affinität« zwischen dem Erreger und den Eigenschaften der Oberflächen ab, die über kontraktile »Fasern« und Nervennetze verfügen können sowie variable, zum Teil »regulierte« Öffnungen besitzen. Jede »sensitive Oberfläche, ob intern oder extern, weist eine besondere Organisation auf, die nur auf bestimmte Reize reagiert.35 Durch Reiz-empfindliche Fasern und Nervennetze werden Oberflächen zu »sensitiven Oberflächen«, 28 | Broussais 1822-1823, Bd. 1, 7-8. 29 | Broussais 1822-1823, Bd. 1, 23. 30 | Broussais 1822-1823, Bd. 1, 29. 31 | Broussais 1822-1823, Bd. 1, 30. 32 | Broussais 1822-1823, Bd. 1, 30. 33 | Broussais 1822-1823, Bd. 1, 30-32. 34 | Broussais 1822-1823, Bd. 2, 45. 35 | Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 1, 8 und 54; und Bd. 2, 234.
IX. Milieu und Organismus
die, bis zu einem bestimmten Reizgrad, eine »Passage« zulassen, verzögern oder hemmen können. Treffen die Erreger mit einer zu großen »Energie« auf, kommt es zu »Entzündungen«, »Desorganisationen« und »Auflösungen« der Oberflächen. Das »Leben« kann diesen Reizungen nicht mehr »widerstehen« (résister) und ihre »Passage« kontrollieren.36 Durch die »besondere Organisation« eines in sich verfalteten, kontinuierlichen Labyrinths »sensitiver Oberflächen«, die Häute, Membrane, Kanäle, Säcke, Organe und Organsysteme bilden, durchläuft das ins Innere Aufgenommene beständig Innen- und Außengrenzen und befindet sich in immer neuen Innen- und Außenwelten. Die »weit ausgedehnte Oberfläche der Haut (peau)« dringt in »natürliche Öffnungen« ein, die selbst »sensitive Organe« darstellen, und geht in zwei Kanalsysteme einer anderen, »inneren Oberfläche« (surface interne) über, die durch »Membrane« (membranes) der Nase in die Bronchien und durch den Mund in die Eingeweide führen.37 Die »Haut« und die »innere Oberfläche« sind sowohl miteinander als auch mit der Außenwelt »beständig in Kontakt«, die »erste mit der Luft und ihren Partikeln, die zweite mit der Luft, den Nahrungsmitteln, den Getränken und all dem, was in den Mund oder den Anus eingeführt werden kann«.38 Aus diesem Kontakt resultiert Erregung und Kontraktion sowie die Aufnahme von »Molekülen«, die in das jeweilige Innere durch eine »große Anzahl« von »Öffnungen« der Oberflächen eintreten und durch diese auch wieder austreten.39
1.2 Transformation und Assimilation Broussais führt die »Transformationen« aufgenommener Stoffe auf eine besondere, »organische« oder »lebendige Chemie« (chimie organique, vivante) 36 | Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 2, 122 (refuser le passage), 67 und 439: »Il en est de même de la chaleur, du contact des corps froids, de l’électricité, de l’eau, consi dérés comme puissances extérieures, agissant sur le corps vivant; leur action n’est modifiée que jusqu’à un certain point, et lorsque ces agens ont beaucoup d’énergie, la vie n’y résiste pas; les êtres organisés sont modifiés de la même manière que les corps bruts: ils sont lancés, attirés, incinérés, gelés, en un mot désorganisés.« 37 | Broussais 1826b, 157. Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 1, 53: »La peau nous offre la surface sensitive la plus éten due; c’est le premier sens que l’on trouve dans les animaux, et chez ceux du plus bas étage; c’est même le seul: considéré dans ses rapports avec l’échelle zoologique, c’est le sens universel dans lequel se dessinent peu-à-peu et se développent enfin tous les autres.« Broussais (1822-1823, Bd. 1, 8) unterscheidet zwischen der superficié der (äußeren) Haut und der surface interne der Membrane. 38 | Broussais 1826b, 157. 39 | Broussais 1826b, 157.
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zurück.40 Die Bewegungsmuster der »Kontraktilität« bestimmen im Passagenwerk des Körpers die »Richtungen« (directions) und den Verlauf der Weiterleitung, die »lebendige Chemie« die qualitativen Veränderungen der aufgenommenen Stoffgemische und ihre abschließende »Assimilation«. »Kontraktilität« und »lebendige Chemie« stellen die »grundlegenden Erscheinungen« (phénomènes fondamentaux) »tierischer Ökonomien« dar41: »[…] les mouvemens de contractilité de la matière animale fixe agitent les fluides, les poussent dans des directions déter minées par celles des vaisseaux, les forcent de sé journer en certains endroits, enfin conduisent au même lieu et mettent en rapport des fluides déjà différens entre eux. C’est en effet à cela que se ré duit le rôle de la contractilité; mais pendant qu’elle promène ou qu’elle retient les fluides, les affinités chimiques agissent, elles changent les combinai sons des molécules circulantes, en attirent quelques unes vers la matière fixe, d’où résulte la nutrition; en détachent d’autres de celle-ci pour les rendre à la matière mobile, ce qui constitue la décomposition; enfin, produisent, aux dépens de cette ma tière mobile, des fluides plus ou moins différens du sang; ce qui donne les sécrétions, et forme ainsi les différentes humeurs séreuses ou synoviales que l’on voudrait en vain attribuer au mécanisme trop simple de l’exhalation.« 42
In allen »Geweben« wirkend, sind die »vitalen Gesetze« (lois vitales) der organischen Chemie »untrennbar« vom »Lebenszustand« und repräsentieren, »auf gewisse Weise« (en quelque sorte), die »große Funktion« (grande fonction) des Lebens selbst.43 Im Inneren des Organismus leiten sich aus ihnen die »Trans40 | Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 2, 5-6. 41 | Broussais 1822-1823, Bd. 2, 388. 42 | Broussais 1822-1823, Bd. 2, 387-388. Vgl. ibid., 440: »A peine la matière nutritive est-elle intro duite dans l’estomac, que le jeu des affinités molé culaires auquel elle était soumise, et qui préparait son retour à l’état brut, est dénaturé; les affinités prennent une autre direction, et cette matière s’assi mile au corps avec lequel elle est mise en contact. Ce nouveau mode d’affinités chimiques persistera tant que cette même substance appartiendra au corps vivant; il cessera dès l’instant qu’elle sera éliminée, et sera remplacé par un autre.«; und ibid., Bd. 1, 30. 43 | Die Rückführung »vitaler Gesetze« auf eine spezifische Kraft hält Broussais für ein rein formales Problem, da für ihn der Begriff »Kraft« nur auf der »abstrakten Idee« beruht, dass man durch eine »unbekannte Ursache (cause inconnue)« bekannte Phänomene erklärt. Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 1, 28: »Les lois vitales consistent dans un certain nombre de phénomènes généraux, communs à tous les tis sus, et qui s’observent chez les animaux avec tant de constance et de régularité, que nous sommes portés à les considérer comme des lois inséparables de l’é tat de vie; […]«; und ibid., Bd. 2, 442-443: »Les lois dont nous nous occupons sont attri buées à des forces ou à
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formationen« und »Metamorphosen« (métamorphoses) der »Assimilation« ab, die während des Ernährungsprozesses Speisebrei in Blut, Blut in verschiedene Flüssigkeiten, Flüssigkeiten in feste Körper und feste Körper in Flüssigkeiten umwandeln.44 Die aus den Umwandlungen hervorgehenden »molekularen Kombinationen« (combinaisons moléculaires) stellen zugleich neue Reize dar, die sich in Reiz-Reaktions-Schemen einschreiben.45 Der Ernährungs-Prozess bestimmt das »Ende« ( fin) und den »Zweck« (but) jeder organischen Funktion.46 Die »Reproduktion« (reproduction) von Individuen ist für Broussais nur ein »besonderer Akt der Ernährung« (un acte particulier de nutrition), aus dem zur Fortpflanzung dienende Stoffgemische hervorgehen.47 Der »Sitz« (siège) der Ernährung ist »überall« (partout), da sich alle Gewebe kontinuierlich ernähren, um in Form von »Organen« bestimmte »Funktionen« ausführen zu können.48 Verschiedene Gewebearten beeinflussen zwar den lokalen »Modus« des Ernährungsprozesses, doch verändern sie nicht seinen allgemeinen Verlauf. 49 Diesen Verlauf kennzeichnen zwei Prozes-
des puissances; cette ma nière de s’exprimer ne porte aucune atteinte à la réalité des phénomènes, le mot force étant une idée abstraite par laquelle on désigne la cause inconnue des phénomènes; on peut donc se servir des mots force physique, force chimique. Celle-ci se divisera en force chimique des corps bruts, force chimique des corps organisés. Quant à nous, nous préférons employer le mot lois, qui ne nous porte point à remonter vers l’inconnu.« Für Broussais’ Rezeption von Julien-Joseph Vireys De la puissance vitale (1823) siehe Braunstein 1986, 124-125. 44 | Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 2, 124: »La transformation de la matière alimentaire en chyme est une opération de la chimie vivante que l’on constate, mais que l’on ne saurait expliquer […]« 45 | Vgl. Broussais 1826b, 159; und ibid., 161. 46 | Broussais 1822-1823, Bd. 2, 438. Ein Mensch, der zu keiner durch AußenweltReize angeregten »äußeren Tätigkeit« (action extérieure) fähig ist, kann allein durch künstliche Ernährung am Leben erhalten werden. Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 2, 116: »L’homme alors, dépouillé de tout mobile d’action extérieure, reste immo bile, ne témoignant ni appétit, ni désirs; ne sentant aucun besoin, il se laisserait mourir de faim et croupir dans ses excrétions, si ses semblables ne prenaient pitié de sa position. Toutefois la vie persiste, les alimens étant introduits par des secours étrangers dans son estomac, tant que les voies gastriques peuvent les assimiler, et que les innervations intérieures peuvent distribuer dans l’économie et offrir aux divers tissus les fluides assimilés qui doivent servir à leur nutrition.« 47 | Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 2, 6; ibid., 444-445; und ibid., Bd. 2, 484-485. 48 | Broussais 1822-1823, Bd. 2, 438. 49 | Broussais 1822-1823, Bd. 2, 438.
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se: die »Komposition« (composition) und die »Dekomposition« (décomposition) tierischer Materie.50 Während die aufgenommene Materie auf ihrem Weg durch den Körper mehrere Transformations-Phasen durch Trennungen, Stauungen, Mischungen, »innere Exhalationen« (exhalations intérieures) und »Sekretionen« (secrétions) durchläuft, finden die Dekompositions- und Kompositionsprozesse, die zur Assimilation und Abgabe von »Molekülen« in der »parenchymatischen« Gewebemasse der Organe führen, bei höheren Tieren nicht innerhalb eines geschlossenen »kapillaren Reseaus« (réseau capillaire) statt, sondern in »direktem Kontakt« (contact immédiat) zwischen den aus den »Poren« des Gefäßsystems der Blutzirkulation »ausgeströmten« (extravasés) und in die »Zwischenräume« (interstices) des Gewebes der Organe eingetretenen »Molekülen« der »flüssigen Materie« und den »Molekülen« der »festen«, jedoch »porösen« und »Moleküle« aufnehmenden »Materie«. Die »vitalen Eigenschaften der Gewebe« resultieren aus »molekularen Kombinationen«, die ihrerseits aus besonderen Affinitäten der »lebendigen Chemie« hervorgehen. Die »vitale Chemie« und ihr »Spiel molekularer Affinitäten« ( jeu des affinités moléculaires)51 »präexistiert« (préexiste) vor den »Eigenschaften der Gewebe«. Während der »Bildung« organisierter Körper heben die »Operationen der lebendigen Chemie« (opérations de la chimie vivante)52 die Gesetze der Physik und der »anorganischen« Chemie nicht auf, sondern »modifizieren« sie nur auf eine Weise, die es organismischen Innenwelten ermöglicht, durch die Eigenschaften ihrer »molekularen Kombinationen« zum einen die Wirkungen der zersetzenden, »attraktiven Kräfte« der Außenwelt zu »kontrabalancieren« (contre-balancer) und zum anderen die Stoffe aufzunehmen und zu transformieren, die lebendige Körper für den »Gleichgewichtszustand« der kompositorischen und dekompositorischen Prozesse ihrer eigenen Ordnung benötigen.53 Aus diesen assimilativ-balancierenden, reaktiven Tätigkeiten geht die »physiologische Geschichte eines Individuums« (histoire physiologique de l’individu)54 hervor.
1.3 Regulatoren, Bedürfnisse und Milieus In höheren tierischen Organismen beruhen die Bewegungen auslösenden Reiz-Reaktions-Schemen der »intra-« und »extra-individuellen Funktionen« auf den »Aktionsmodi« (modes d’action) der »Kontraktilität« und der »Sensibili50 | Broussais 1822-1823, Bd. 2, 438. 51 | Broussais 1822-1823, Bd. 2, 440. 52 | Broussais 1822-1823, Bd. 2, 388. 53 | Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 2, 439. 54 | Broussais 1822-1823, Bd. 2, 6. Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 2, 445.
IX. Milieu und Organismus
tät« (sensibilité).55 Während die »Kontraktilität« lokal zu Muskel-Kontraktionen von »Fasern« und zu Sekretionsbewegungen des vaskulären »Assimilationsapparates« (1‘appareil assimilateur) führt, gehört die »Sensibilität« dem »encephalo-nervösen Apparat« (l’appareil encéphalo-nerveux) an.56 Ihre »Aktionsmodi« verfügen über spezifische »Modifikatoren«, beeinflussen sich jedoch gegenseitig und bilden gemeinsam ein übergeordnetes Regulationsdispositiv mit multiplen Regulationszentren, deren vermittelndes materielles Medium die kontinuierlich miteinander vernetzten »Häute« und »Gewebe« sind.57 Interne oder externe »Verbindungs-Oberflächen« (surfaces de rapport), die Nerven enthalten, leiten Erregungen an den aus »Nervenbahnen« (cordons) und einem »Gehirn« bestehenden »encephalo-nervösen Apparat« weiter, der sie in Form von »Anregungen« (innervations) in das »Netz aller Gewebe« (trame de tous les tissus) »reflektiert« (réfléchit).58 Die Dynamik der Tätigkeiten in einem Organismus hängt nicht nur von den Eindrücken »fremder Körper« der Außenwelt, sondern auch von intern generierten assimilatorischen »Bedürfnissen« (besoins) ab, die ihrerseits Zeichen eines Mangels sind. Innere assimilatorisch-ernährende Tätigkeiten produzieren eine Bedürftigkeit, die sich als Bedürfnis-Reiz zeigt und regulatorische Prozesse initiiert. Die »Ausübung« (exercice) organischer Funktionen »zersetzt« und »dissipiert« die mobile tierische Materie, deren Zusammensetzung und Reaktivität ihrerseits Grundlage funktionaler Tätigkeitsmuster sind. Wenn zirkulierende Flüssigkeiten für die feste tierische Materie keine Nahrungsstoffe mehr zur »Wiederherstellung« (réparation) enthalten, entsteht im Organismus ein »Bedürfnis nach ernährenden Stoffen«.59 Dieser Vorgang ist die »Quelle von Bedürfnis« (source du besoin) und des »normalen Hungers« ( faim normal). Der »normale Hunger« ist zugleich ursprünglicher Sollwert
55 | Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 1, 125; und 1829-1834, Bd. 1, Propositions de médecine, i. 56 | Gegen Bichats Ausdruck einer organischen Sensibilität gerichtet, grenzt Broussais die »Kontraktilität«, die nicht zum »Gehirn« weitergeleitet, sondern nur »zwischen den Organen reflektiert« wird, von der »Sensibilität« (sensibilité) ab, deren Modifikation allein »intellektuelle Operationen« des »encephalo-nervösen Apparats« bestimmt. Vgl. Broussais, 1822-1823, Bd. 2, 119; 1826b, 160; und 1829-1834, Bd. 1, Propositions de médecine, i. 57 | Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 1, 53-54. 58 | Vgl. Broussais 1826b, 157-158. Für Broussais’ anatomische Beschreibung des »Gehirns« siehe Broussais 1828, 332: »Le cerveau, ou plutôt l’appareil encéphali que, qui se compose du cerveau proprement dit, du cervelet, de la protubérance annulaire et de la moelle allongée, centre commun de tout le système nerveux, […]« 59 | Broussais 1822-1823, Bd. 2, 113.
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organismischer Regulation. Das physische Zentrum des »Hungers« repräsentiert der »Magen« (estomac).60 Wenn Außenwelt-Reize in den encephalo-nervösen Apparat weitergeleitet werden, stimmt das »Gehirn« (als zentrales Steuerorgan für Außenbeziehungen) diesen Reiz zunächst mit den »Hungerreizen« (stimulations faméliques) ab, die im »Magen« konvergieren.61 Aus dieser Abstimmung geht ein nervöses »Anregungs«-Dispositif hervor, das, sich vom Nahrungsmangel als »Schmerz« ableitend, »Bedürfnis« (besoin) in »Verlangen« (désir) nach Abwesendem übersetzt.62 Die Tätigkeitsmuster, die zur »Lust« der »Befriedigung« (satisfaction) dieser Verlangen führen, bezeichnet allgemein der »Instinkt«.63 Der »Instinkt« bildet im »Gehirn« die erste Regulations-Instanz, die, bevor im Menschen der »Verstand« (raison) eine umfassendere, jedoch fragile und negativ-hemmende Kontrolle übernimmt64, für die »Befriedigung« des »Bedürfniszustandes« (état de besoin) zuständig ist. Reguliert durch »Instinkte«, ist es dem »Zentrum der Perzeption« möglich, die »Anwesenheit« (présence) »äußerer Körper« (corps extérieurs) auszuweisen, die zur »Befriedigung der Bedürfnisse« notwendig sind.65 Dabei unterscheidet Broussais im Menschen, entsprechend der Arbeits60 | Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 2, 113: »[…] la portion de la matière fixe qui est destinée aux rapports, c’est-à-dire la forme nerveuse de cette matière, éprouve une stimulation particulière; de quoique manière que naisse cette stimulation, toujours estil certain que le centre de perception la rapporte d’abord à l’estomac. Ce viscère paraît être alors le point de convergence de toutes les stimulations faméliques qui résultent du défaut de matériaux nutritifs dans les différentes parties du corps. Il est dans un état que le centre de perception juge douloureux, et qui fait naître le désir de l’alimentation. Ainsi donc c’est de l’organe destiné à l’assimilation des matériaux réparateurs que part la sensation qui détermine l’a nimal à rechercher ces matériaux.«; und 1828, 208-209. 61 | Broussais 1822-1823, Bd. 2, 113. Vgl. ibid., Bd. 1, 351. Die Funktion der »Fortpflanzung« leitet sich für Broussais zwar aus assimilativen Tätigkeiten ab, doch wird das »Bedürfnis« zur Fortpflanzung in den »Hoden« generiert. Vgl. Broussais 1822, Bd. 1, 111: »Que l’estomac soit rempli ou malade, les ac tes relatifs à la recherche et à l’appréhension des alimens disparaissent: que l’on enlève les testi cules, tous les actes qui ont rapport à la génération cessent d’avoir lieu […]« 62 | Aus der physiologischen Deutung des »Schmerzes« (douleur) (als Ausdruck eines »Mangels«) und der »Freude« (plaisir) (als Ausdruck einer »Befriedigung«) leitet Broussais die »Leidenschaften« (passions) und das ganze »Affekt« (affections)-Gefüge des Menschen ab. Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 1, 110; und ibid., 262. 63 | Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 1, 257. 64 | Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 1, 260; und 1826b, 92-93. 65 | Broussais 1822-1823, Bd. 1, 52. Vgl. 1822-1823, Bd. 1, 352: »La reconnaissance des corps extérieurs propres à satisfaire les besoins suppose que la stimulation faite par ces corps a été réfléchie par le centre cé rébral dans les viscères, et que ceux-ci, en
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teilung der beiden cerebralen Regulations-Instanzen des »Instinkts« und des »Intellekts«, zwischen »physischen Bedürfnissen« (besoins physiques) und »moralischen Bedürfnissen« (besoins moraux): »Les besoins physiques sont ceux (a) de la calorification, (b) de la respiration, (c) de la nutrition, (d) de l’exonération du superflu de la nutrition, (e) de l’exercice, (f) du repos et du sommeil, (g) de la conservation individuelle, (h) de la génération, (i) de l’exonération de son produit, (k) de la conser vation de ce même produit. Ces phénomènes sont encore instinctifs. […] Les besoins moraux, quoique très-multipliés en apparence, me semblent découler d’une seule source, la nécessité où nous sommes d’observer tous les corps de la nature, et de les comparer avec nous-mêmes; je la définis le besoin d’être excité à la pensée. Ce phénomène est purement intellectuel.« 66
Dem »normalen«, lebendige Existenz ermöglichenden Zustand des internen physischen Bedürfnisapparats des Menschen entsprechen bestimmte, zum Überleben und zur Fortpflanzung notwendige Außenwelt-Bedingungen – während für »moralische Bedürfnisse« eine solche Festlegung nicht besteht: »Les corps extérieurs en rapport avec nos besoins physiques sont, (a) le calorique extérieur pour la calorification, (b) l’air oxygéné pour la respiration, (c) les alimens et l’eau pure ou chargée de quelques principes pour la nutrition, (d) un lieu propre à l’exonération, (e) un espace propre à l’exercice; mais une foule de corps extérieurs développent et fortifient chez nous l’impulsion qui nous porte à sa tisfaire ce besoin; (f) un lieu propre au repos et au sommeil, (g) des corps animés ou inanimés pour repousser le raison de leurs besoins, ont répondu au centre de percep tion, d’où résulte l’instinct.« »Bedürfnis« und »Befriedigung« stellen für Broussais auch die »beiden allgemeinen Quellen« der »Perzeptionen« dar. Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 1, 257: »Les organes étant donnés chez l’homme placé au milieu de l’univers, il y a deux sources générales de perceptions; (a) les besoins; (b) les corps extérieurs destinés à les satisfaire.« 66 | Broussais 1822-1823, Bd. 1, 258. Dabei setzt das eigentliche intellektuelle (»abstrakte«) »Interesse« für Eindrücke der Außenwelt erst dann ein, wenn keine »physische Begierde« mehr besteht. Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 1, 260-261. Der »normale Zustand« des Bedürfnisgefüges »denaturiert«, wenn physische Bedürfnisse den intellektuellen dienen. Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 1, 189: »En d’autres termes: les sensations vis cérales, dont la destination primitive est de nous solliciter à la satisfaction des besoins physiques, peuvent être tellement dénaturées par l’influence du cerveau dans l’exercice de la pensée, qu’elles nous invitent à sacrifier le plaisir de pourvoir à nos be soins physiques à celui de satisfaire des besoins mo raux, c’est-à-dire des besoins d’origine purement intellectuelle. Ces considérations sont bien propres à nous démontrer l’étroite liaison qui existe entré les passions et l’intelligence, et cette association des viscères et du cerveau sur laquelle nous avons déjà tant disserté.«
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danger qui nous menace, et faire ces ser nos douleurs, ou un espace pour pouvoir fuir; (h) un individu de notre espèce, mais d’un sexe dif férent du nôtre, pour le besoin de la génération; (i) un lieu propre à l’exonération de son produit, et un individu qui puisse secourir la femme en travail; (k) tous les corps animés ou inanimés qui peuvent concourir à la conservation de nos enfans. Ces phénomènes tirent leur source de l’instinct. […] Les corps extérieurs en rapport avec nos besoins moraux sont aussi nombreux qu’il y a d’objets dans la nature; car nous ne nous contentons pas d’ob server ceux qui servent à nos besoins physiques: notre inquiète curiosité se promène sur tout l’univers, et se repaît de toutes les impressions qui en proviennent, soit directement, soit indirectement. C’est le principal caractère de l’homme; il est pure ment intellectuel. 67
Gegen Galls Primat des Gehirns als Regulationsorgan gerichtet und mit Cabanis von der Annahme ausgehend, dass der »Intellekt beständig von den Eingeweiden und die Eingeweide beständig vom Intellekt erregt« werden, kommt es Broussais im Traité de physiologie appliquée à la pathologie weniger auf eine Differenzierung des intra-cerebral verwalteten Bedürfnisapparats als auf das komplexe »Zusammenspiel« (concours) verschiedener inner- und außerorganismischer »Einflüsse« und »Modifikationen« im ganzen Organismus an.68 Neben dem »Gehirn«, das durch seine beiden Regulations-Instanzen »Instinkt« und »Intellekt« die »Skelett-Muskeln« des Bewegungsapparats leitet und zum »Regulator des Verhaltens des Menschen« (régulateur de la conduite des hommes) wird, ist der »große Sympatikus« (grand sympathique) des Rückenmarks »Re-
67 | Broussais 1822-1823, Bd. 1, 258-259. 68 | Vgl. Broussais 1822, Bd. 1, 110-111: »Je veux bien convenir avec le docteur Gall, à qui seul nous devons nos connais sances actuelles sur la structure du cerveau, et des idées plus précises sur les actes auquel il préside, qu’il existe des appareils nerveux intra-cérébraux destinés à un certain ordre d’idées; mais je ne sau rais lui accorder que le cerveau agisse indépendam ment des autres viscères.«; ibid., 152: »[…] le cerveau n’agit point isolément quand il ordonne des mouvemens en conséquence des impressions qui lui sont parvenues; c’est ici le cas d’examiner avec détail, sans pourtant se livrer à une fastidieuse minutie, les actes dépendans de ce viscère, où il est le plus dominé par les autres or ganes, et ceux où il paraît le moins assujetti à leur influence.«; ibid., Bd. 2, 527 (régulateur des actions); 1828, 201: »L’encéphale, considéré dans l’homme par faitement développé et jouissant de toutes ses facultés, est placé entre deux courans de stimulations; celles qui viennent des nerfs externes, celles qui viennent des nerfs internes, et que Cabanis a le premier fait rentrer dans l’idéologie, sous le nom d’impressions venant des organes. Les stimulations que l’encéphale reçoit de ces deux sources sont toujours ou avec phénomènes de conscience, ou sans phénomènes de conscience.«; und 1822-1823, Bd. 1, 261-262.
IX. Milieu und Organismus
gulator« der »splanchnischen Muskeln« der inneren Organe.69 Unter »Teilnahme« (partage) des Gehirns, mit dem er gemeinsam die »zentrale nervöse Masse« tierischer Körper bildet 70, etabliert der »große Sympathikus« die »Beziehungen« (rapports) zwischen den »Bedürfnissen« der Eingeweide und »regelt« (règle) ihre »besonderen Bewegungen«.71 Dabei setzt der »große Sympathikus« zum einen »cerebrale Erregungen« in die Sekretionsbewegungen der Eingeweide um und leitet zum anderen Reizungen der inneren »Gewebe« an das »Gehirn« weiter.72 69 | Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 1, 337 und 357; ibid., Bd. 2, 35; und 1828, 331 (régulateur de la conduite des hommes). Broussais (1822-1823, Bd. 1, 317318) unterscheidet zwischen »cephalischen« und »splanchnischen« oder »cephalosplanchnischen Muskeln«: »L’appareil musculaire de relation se divise naturellement en 1. o muscles céphaliques destinés à la progression, du déplacement du corps entier, ou de quelques-uns de ses appendices; 2. o muscles céphalo-splanchniques. Les premiers sont exclusivement aux ordres du moi; les secondes obéissent primitivement à l’instinct, et secondairement au moi.« 70 | Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 1, 350: »L’appareil nerveux se présente sous trois formes: 1. expansions sensitives, qui sont externes et in ternes, et que l’on trouve à la peau, dans les sens de la tète, et dans les surfaces internes dites membranes muqueuses; 2. la matière nerveuse centrale, qui est placée dans le crâne, et se prolonge dans le rachis; 3. les cordons sensitifs faisant communiquer les surfaces avec la matière nerveuse centrale; ce sont les nerfs.« 71 | Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 1: »Les muscles céphalo-splanchniques ou splanchno-céphaliques sont donc primitivement à la disposition des viscères pour la satisfaction des besoins instinctifs […]«; und ibid., Bd. 2, 34: »C’est donc comme régulateur des mouvemens destinés à faire parvenir la matière animale mobile aux tissus qui doivent l’employer, que le grand sympathique préside à la nutrition; et cette fonction, il la par tage avec les nerfs cérébraux.« 72 | Broussais 1822-1823, Bd. 2, 34-35. Broussais (1822-1823, Bd. 2, 121122) verdeutlicht das komplexe Zusammenspiel zwischen »Gehirn« und »großem Symapthikus« am Schluckakt während der Nahrungsaufnahme: »Les mouvemens masticateurs sont déterminés par la volonté, d’après l’impression faite sur le sens du goût, et transmise par lui au centre cérébral. Ils peuvent être suspendus par la volonté; mais aussitôt que le bol a franchi l’isthme du gosier, la portion de muqueuse qui le reçoit n’a plus besoin du concours de la volonté pour faire agir les muscles du pharynx. Elle demande au cerveau la contraction; et celui-ci obéit, parce qu’il y est invité par des cordons du grand sympathique. Toutefois, comme il se trouve dans le pharynx des nerfs cérébraux, si le bol alimentaire excite de la douleur, ou s’il plaît à la vo lonté de lui refuser le passage, les fibres pharyn giennes se contractent de bas en haut, et le bol est repoussé vers la cavité buccale. Ces muscles sont donc placés dans la série des céphalo-splanchniques.«
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In dem 1818 erschienenen Aufsatz Réflexions sur les fonctions du système nerveux en général, sur celles du grand sympathique en particulier bestimmte Broussais zum ersten Mal den Einflussbereich der beiden übergreifenden Regulationszentren. Zuvor hatte bereits Jean César Legallois in Expériences sur le principe de la vie (1812) den »Sitz des Lebens« in das »Rückenmark« junger enthaupteter Kaninchen verlegt. 73 Broussais zieht dem vivisektorischen Ansatz zur Lozierung regulativer Zentren Claude François Lallemands Befunde vor.74 In Observations pathologiques propres à éclairer plusieurs points de physiologie (1818) hatte Lallemand von der Geburt kopfloser menschlicher Föten berichtet, die kurz vor der Entbindung noch lebten.75 Ausgehend von diesen Beobachtungen differenziert Broussais zwischen dem durch den »großen Sympathikus« geleiteten »inneren Leben« (vie intérieure) und dem durch das »Gehirn« gesteuerten »Leben äußerer Beziehungen« (vie des rapports extérieurs). Während die »lebendige Chemie« für die »Assimilation« und die »Eingliederung« (appropriation) aufgenommener Materie in die »Gewebe« zuständig ist, reguliert der »große Sympathikus« durch das »Netz« (rameau) seiner »Ganglien« und ihre »nervöse Korrespondenz« (correspondance nerveuse) den Transport und die »Verteilung« (répartition) der Nahrungsbestandteile. 76 Allein unter seiner »Herrschaft« (empire) stehen die Muskelbewegungen des Herzens, der Eingeweide und der »Kapillargewebe« (tissus capillaires).77 Das 73 | Vgl. Legallois 1812 und Cheung 2013. In Réflexions sur les fonctions du système nerveux en général erwähnt Broussais Jean César Legallois’ Arbeiten nicht. 74 | Vgl. Broussais 1818, 11, 34-35: »Il est difficile, à la vérité, de prouver, par des expériences faites sur les animaux vivans, que le grand sympathique entretienne ces mouvemens, 1o. parce qu’il est impossible de détruire tous les nerfs qui se rendent à ces viscères; 2 o. parce que, quand on pourrait opérer cette destruction, par exemple, sur le troncs des gros vaisseaux qui s’abouchent au cœur, il en resterait encore assez dans les fibres musculaires de ce viscère pour leur conserver la propriété contractile, sous l’influence du sang qui lui arrive […]«; und ibid., 148-149: »Tous ces phénomènes et beaucoup d’autres ressortent bien davantage dans l’état pathologique, et ce sont autant d’expériences précieuses que les vivisections ne pourraient jamais fournir, et qui établissent de la manière la plus irréfragable, l’influence du grand sympathique, non-seulement sur les muscles des viscères, mais encore sur l’intérieur des tissus.« Vgl. Lallemand 1818, Avant-propos, x-xi: »Je dirai même que les vivisections ont fait faire des découvertes importantes; mais la pathologie n’offret-elle pas à chaque instant au practicien des moyens aussi nombreux, aussi variés et plus sûrs, d’arriver au même but?«. 75 | Vgl. Lallemand 1818, 40-101. Lallemand (ibid., 66-87) erwähnt Legallois’ Experimente. 76 | Vgl. Broussais 1818, 131 und 143-144. 77 | Vgl. Broussais 1818, 34 und 129; und Broussais 1824, 133-134.
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»Gehirn« kann diese Bewegungen nur »Beschleunigen«.78 Des Weiteren ist der »große Sympathikus« zur Gewährleistung der Atmungsbewegungen primärer »Regulator« der »Dehnmuskeln« (muscles dilatateurs) der Brust, des Diaphragmas und der Interkostalmuskeln. Nur wenn die »Dehnmuskeln« hierfür nicht benötigt werden, kann der »Wille« auf sie zugreifen – etwa für »Gesang« (chant) und »Sprache« (parole).79 Die für Bewegungen in der Außenwelt zuständige »Skelett-Muskulatur« kann der »große Sympathikus« nur indirekt »durch Vermittlung (par l’intermédiaire) des gemeinsamen Zentrums der Sensationen« beeinflussen.80 Wenn diese Skelett-Muskeln ruhen, »unterhält« (entretien) allein der »große Sympathikus« das »Leben«.81 Die Fähigkeit, zu »fühlen« (sentir), zu »wollen« (vouloir) und »bewusst etwas zu vollbringen« (exécuter avec conscience), ist für Broussais nur eine »intermittente Fähigkeit« ( faculté intermittente), die dem Leben aufsitzt, das der »große Sympathikus« steuert.82 Das Ziel des Zusammenspiels beider Regulationszentren ist die »Erhaltung« und »Wiederherstellung« eines »Gleichgewichts« zwischen »normalen« und »anormalen Lebenszuständen«. 83 Während Organisationstypen-spezifische Muster »gewöhnlicher Reize« (stimulans ordinaires) zur »normalen« Ausführung des Funktionsapparats und zur »Gesundheit« des Organismus
78 | Broussais 1818, 34. 79 | Ibid., 36-37. 80 | Ibid., 37. 81 | Ibid., 35-36: »Il est donc bien certain que les contractions des muscles des viscères, sont entretenus par le grand sympathique; et que si elles ne cessent pas, malgré l’ordre impérieux du centre sensitif, c’est parce que le grand sympathique s’y oppose. Or, la vie est en partie subordonnée à la contraction du cœur et à celle des autres muscles viscéraux; donc le grand sympathique, en entretenant la contraction de ces muscles pendant le repos des autres, entretien seul la vie, au moins en tant qu’elle leur est subordonnée.« 82 | Ibid., 41-42. Vgl. ibid., 42: »C’est donc avec raison que j’ai d’abord avancé que tous les mouvemens musculaires que l’on appelle volontaires, ne sont tels que sous condition; c’est-à-dire que les nerfs des muscles qui les font exécuter, quoique soumis à l’empire du centre sensitif, et par conséquent toujours cérébraux, ne sont à la disposition de la volonté, que lorsque les sensations ou les impressions communiquées au cerveau par les viscères, n’en ordonnent pas autrement. » 83 | Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 2, 392. Broussais (1822-1823, Bd. 2, 535) verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Fragilität des »normalen Lebenszustandes«: »Telle est la mort naturelle, dite la mort de vieillesse; mais tant de causes peuvent déranger l’équilibre avant cette époque fatale, que cette es pèce de mort est d’une extrême rareté.«
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notwendig sind, wirken stärkere Reize, aber auch die Abwesenheit von Reizen, pathologisch.84 Broussais’ Pathologie ist eine Physiologie der »Abweichungen« oder »Störungen« (dérangemens) von »Normalzuständen« (états normaux) und der »Wiederherstellung« (rétablissement) »regelmäßiger und gleichförmiger Operationen« (opérations regulières et uniformes) aus »anormalen Zuständen« (états anormaux). »Störungen« sind für Broussais, der Browns Erregbarkeitslehre und Bichats Gewebelehre miteinander verbindet 85, Ursachen für die lokale »Veränderung« (altération) von Erregungszuständen organischer Gewebe und des Gehirns.86 Zu starke lokale »Erregungen« (excitations) führen als »Reizungen« oder »Irritationen« (irritations) durch eine »Störung« des »Gleichgewichts der Ausdünstung und Absorption« (équilibre de l’exhalation et de l’absorp-
84 | Analog beruht die »gesunde« Lebensführung eines Menschen immer auf einer Mischung instinktiv-leidenschaftlicher und abstrakt-»intellektueller« Tätigkeiten. Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 1, 278: »[…] les travaux purement intellectuels, sans aucun mélange de passion, tels sont les sciences abstraites qui sont assez nombreuses, la description et le classement des corps de la nature ou des pro duits de l’art, les sciences descriptives, la mécani que, l’exercice forcé de la mémoire, les travaux du copiste, de l’analyste, de l’historien, la philologie, la bibliographie, en un mot, tout ce qui n’exerce que la pensée, en exigeant une attention vive et soutenue, entretient dans l’encéphale un état d’érection vitale qui le transforme insensiblement en un foyer permanent d’irritation: alors la tête devient pesante et douloureuse; il y à somnolence, ou bien il s’établit un opiniâtre de veille, une insomnie fatigante, et les phlegmasies du cerveau, soit ai guës, soit chroniques, ainsi que les hémorrhagies de ce viscère, sont imminentes. Elles paraissent bien souvent sous les formes de folie; de paralysie, d’idiotisme, et même d’apoplexie.« 85 | Vgl. Canguilhem 1979a, 29. Für Differenzen zwischen Broussais’ und Browns Therapieansätzen, vor allem hinsichtlich der Behandlung sthenischer Krankheiten siehe Folet 1907, 218: »Le Brownisme, c’est le Broussaisisme retourné. De même que Broussais attribuait, – théoriquement, – toutes les maladies à exaltation ou à la dépression de la vitalité des organes, Brown les imputait à la sthénie ou à l’asthénie. Seulement, en pratique Broussais, négligeant un des termes de sa dichotomie, voyait partout de l’irritation et saignait à outrance. Ainsi, mais à l’inverse, Brown y voyait de la faiblesse, de l’asthénie et hypertonifiait.«; Ackerknecht 1953b, 330: »Theoretically Broussais admitted overstimulation and understimulation; practically he always observed overstimulation (irritation).«; und Tsouyopoulos 2008, 182-185. 86 | Vgl. Ackerknecht 1953b, 330: »In the case of disease certain organs were overstimulated (pathological irritation). Such stimuli or disease causes could be: the modifiers (especially cold air), the ingesta’ (food, drugs, and miasma that were swallowed), and the percepta’ ( moral’ or psychological influences).«
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tion) zu einer lokalen »Entzündung« (inflammation) der betroffenen Gewebe, deren »erster Bereich« ( foyer primitif ) sich weiter ausbreiten kann.87 Durch heftige Erregungen findet eine höhere Aktivität in den betroffenen Geweben statt, aus der ein erhöhter Bedarf an neuen »Molekülen« und ein diesem Bedarf entsprechender »Ausstrom« (extravasation) aus den umgebenden Kapillargefäßen in die gereizten Gewebe resultiert.88 Entzündungsherde weisen deshalb, wie »vitale Erektionen«, Flüssigkeitszuströme und Schwellungen auf. Durch bestimmte Reizmuster können länger anhaltende Störungen des »normalen Lebenszustands« entstehen. »Wahnsinn« ( folie) oder »mentale Entfremdung« (aliénation mentale) folgen für Broussais aus einer »Überreizung« (surexcitation) des »Gehirns« und einer anschließenden permanenten »Störung« des Verhältnisses zwischen seinen Regulations-Instanzen – dem »Instinkt« und dem »Intellekt« –.89 Des Weiteren können Außenwelt-Einflüsse, die Broussais vor allem auf das »Klima« bezieht, aber auch Arbeits- und Lebensformen die »Temperamente« (tempéraments) von Organisationstypen generationsübergreifend »modifizieren«.90 Broussais’ Typologie »normaler Lebenszustände«, in der nicht das rational verwaltende »Gehirn«, sondern der »Magen« und die »Instinkte« die wichtigsten »Regulatoren« sind, beeinflusst zusammen mit Blainvilles OrganismusMilieu-Theorie in den zwanziger und dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts Comtes positivistisches Agentenmodell des Menschen.91 Während Broussais’ Typologie pathologisch auf lokale Irritationen und Entzündungen ausgerichtet ist, bestimmt Blainville die Innen-Außenwelt-Problematik als allgemeines Erklärungsprinzip einer »Biologie« der inneren und äußeren Existenzbedingungen organisierter Körper. 87 | Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 2, 393-394. Für pathologische Zustände, die nicht direkt aus »Entzündungen« hervorgehen, verweist Broussaois auf Stockungen des Blutkreislaufs und nervöse Störungen. Vgl. ibid., 251: »Nous avons dit ailleurs que chaque fois que l’encéphale était vivement stimulé par l’exercice de la pensée, son irritation se répandait, par les nerfs qui en émanent, dans toutes les parties du corps; mais quelle ne produisait des effets bien marqués que dans les tissus les plus mobiles, et qui sont destinés à se mouvoir les premiers dans les rapports. Or, ces tissus, ce sont les viscères, les organes sécréteurs et excréteurs qui leur sont annexés, et enfin la peau: le reste ne me paraît susceptible d’être ému que d’une manière consécutive, soit par le trouble de la circulation, soit par la propagation de l’irritation qui s’est d’abord développée dans les tissus les plus nerveux et les plus sanguins.« Für Broussais’ allgemeine Pathologie siehe Canguilhem 1979a, 23-30; und Foucault 1993, 155-198. 88 | Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 2, 234. 89 | Vgl. Broussais 1828, 331-332. 90 | Vgl. Broussais 1822-1823, Bd. 2, 535; und 563-569. 91 | Vgl. Comte, Système de politique positive, Bd. 4, 224.
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2. B L AINVILLES E XISTENZBEDINGUNGEN Blainville übernimmt 1832 Cuviers Lehrstuhl für vergleichende Anatomie am Muséum d’histoire naturelle.92 Nach Cuviers Leçons d’anatomie comparée (18001805) strebt Blainville im Cours de physiologie générale et comparée (1833) eine Synthese zwischen »statischer« (anatomischer) und »dynamischer« (physiologischer) Biologie an.93 Innerhalb der »Wissenschaften organisierter Körper« (sciences des corps organisés)94, deren Integral die »Biologie« bezeichnet, fokussiert er vor allem auf die »Zoobiologie« als »Wissenschaft des Lebens der Tiere« (science de la vie des animaux)95, in der es um die »Beziehungen« (rapports) der »inneren Organisation« (organisation intérieure)96 zu den »äußeren Umständen« (circumstances extérieurs) der »umgebenden Welten« (mondes ambiants) oder »Milieus« (milieux) geht.97 Zentrum dieses Bezugsfelds ist der individuelle »Organismus« als »Organisationstyp« (type d’organisation), dessen »Plan« (plan) auf Funktionsgefügen beruht, die für spezifische Wechselwirkungsverhältnisse mit »normalen Milieus« (milieux normaux) »kalkuliert« worden sind.98 Diese Abstimmung kann für Blainville nur ein »intelligenter« Gott geschaffen haben.99 Ab 1839 unterscheidet Blainville fünf »Typen« (Osteozoa, Entomozoa, Malacozoa, Actinozoa und Amorphozoa), die zwar distinkt ausweisbare Ordnungsformen darstellen, aber, im Unterschied zu Cuviers Ansatz, zugleich in
92 | Cuvier stirbt 1832. 93 | Biographische Angaben zu Blainville finden sich bei Nicard 1890. 94 | Blainville 1833, Bd. 3, 375. 95 | Neben zoobiologie erwähnt Blainville auch die Titel zoobie und zoonomie. Vgl. Blainville 1833, Bd. 1, 3 (zoonomie) und 17: »Il est de toute évidence, d’après la disgression que nous venons de faire sur les principales significa tions actuelles du mot nature, qui entre dans la composition du terme de physiologie, que celui-ci ne saurait plus convenir en aucune manière pour désigner la science de la vie: les Allemands ont parfaitement senti cela, et lui ont substitué avec raison la dénomination beaucoup meilleure de biologie. Cependant, comme celle-ci s’ap plique également à tous les êtres organisés, je propose celle de zoobiologie ou de zoobie pour spé cialiser la science de la vie des animaux.« 96 | Vgl. Blainville 1833, Bd. 1, 369-370. 97 | Blainville 1833, Bd. 1, 18. 98 | Vgl. Blainville 1840, 214-216. 99 | Vgl. Blainville 1840, 216. Blainville lehnt allerdings mathematische Erklärungen der Erscheinungen organischer Körper ab. Vgl. Blainville 1833, Bd. 2, 337: »[…] toute appréciation mathématique est absurde dans ce qui concerne les organismes […]« Für Blainvilles Organismusmodell siehe Balan 1979.
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den »allgemeinen Plan« einer série animale eingeordnet werden können.100 In Blainvilles série animale gibt es keine alle Ordnungen umfassende »Einheit des anatomischen Bauplans« (unité de composition anatomique) und keine Transformation eines Typs in einen anderen – wie bei Geoffroy Saint-Hilaire –, aber »Grade der Tierheit« (degré d’animalité), die sich, vom Menschen zu den Pflanzen absteigend 101, an der »Sensibilität« (sensibilité), der »Lokomotion« und dem »Milieu«-Bezug102 eines Organismus orientieren.103
100 | Vgl. Blainville 1840, 216« En sorte que l’on doit se borner à reconnaître dans chaque animal et dans la série que forment les animaux, l’existence d’un plan et des degrés de développement de ce plan, faisant partie du plan général des êtres créés, ou mieux le type de l’idée, c’est-à-dire l’exécution ou la mise en œuvre de la pensée de Dieu par sa volonté.«. 101 | Vgl. Blainville 1840, 217: »L’ensemble sérial […], que forment les êtres organisés constituant le règne animal, est nécessairement compris entre deux limites, l’une supérieure, qui est l’homme, le but et le premier terme de la création; l’autre, inférieure, qui sont les végétaux, troisième terme de cette création; les animaux en forment le second ou l’intermédiaire.«; und ibid., 218: »Une fois cette comparaison différentielle établie, il nous sera facile d’en tirer, par abstraction, les caractères maxima et minima de l’animalité et de la végétabilité, positifs dans un cas, négatifs dans un autre; c’està-dire du plus ou moins grand degré de rapprochement de l’homme ou du végétal de tel ou tel animal donné, et par suite de poser les principes qui pourront servir à établir la série de tous les animaux, dans le sens ascendant ou descendant.« 102 | Hierzu zählt Blainville (1840, 217-218) etwa folgende Eigenschaften: »De la propriété ou faculté d’éprouver et de sentir l’action des circonstances extérieures; De la propriété de les rechercher ou de s’y soustraire suivant qu’elles sont favorables ou défavorables; De puiser dans le milieu ambiant les éléments de la nutrition et de son augmentation […]« 103 | Vgl. Blainville 1840, 227: »Cinq types suivant lesquels l’animalité se dégrade, aussi bien que dans chacun d’eux, mais là en formant des degrés, tandis qu’ici ce sont souvent des nuances, quoique toujours distinctes. Il ne faut pas, en effet, croire que cette série puisse jamais être comparable à une série logarithmique, c’est-à-dire une série telle qu’entre chaque terme on puisse en intercaler d’autres à l’infini. Ce n’est pas même une série géométrique où les degrès sont toujours dans une raison égale, quelque longue qu’elle soit, et non sécable en demi, tiers et quart, En effet, les degrés d’animalité ou les espèces animales sont des êtres définis, c’est-à-dire un tout limité dans l’espace même de grandeur, composée d’un certain nombre d’organes réunis souns une forme déterminée et agissant sur le monde extérieur d’une manière également déterminée.« Blainville (1840, 213) bezeichnet die »Sensibilität« auch als die grundlegende Maßeinheit (»zoomètre«) der série animale. Für Blainvilles Konzeption der série animale siehe Blainville 1840, 217-237; Lessertisseur & Jouffroy 1979;
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Neben klassifikatorischen Aspekten der série animale interessieren Blainville die »Prozesse« und »dynamischen Zustände«, die innere Organisationen und »umgebende Welten« aufeinander beziehen. Hierfür versucht er, die allgemeine Basis der Wissenschaften organisierter Körper genau von dem »Herd« ( foyer) ein- und ausströmender Stoff kreisläufe her aufzubauen, der schon in Cuviers Anatomie Lebendigkeit konstituierte. Für Cuvier war das »wichtigste Phänomen des Lebens« nicht die »beständige Einheit (union constante) der Partikel« innerhalb eines organisierten Körpers, sondern, innerhalb »gewisser Grenzen«, ihre »kontinuierliche Zirkulation von außen nach Innen und von innen nach außen« (circulation continuelle du dehors au dedans, et du dedans au dehors): »[…] les corps vivans doivent être considérés comme des espèces de foyers, dans lesquels les substances mortes sont portées successivement pour s’y combiner entre elles de diverses manières, pour y tenir une place et y exercer une action déterminées par la nature des combinaisons où elles sont entrées, et pour s’en échapper un jour afin de rentrer sous les loi de la nature morte.«104
Wie Cuvier geht Blainville davon aus, dass die Differenz lebendiger und unlebendiger Körper nicht in der Materie und den »Elementen« zu suchen ist, die sie zusammensetzt. Spätestens nach den Versuchen von Friedrich Wöhler zur Synthese von Harnstoff aus Ammoniumcyanat (1828) ist es für Blainville »evident, dass die Materie oder die materiellen Elemente der Körper nicht in organische und in anorganische oder nicht organisierbare Materie unterschieden werden können, da sich alle organisierten wie auch alle nicht organisierten oder groben (bruts) Körper in identische Elemente auflösen« lassen.105 Vielmehr unterscheidet sich die physische Ordnung lebendiger und unlebendiger Körper allein durch die »verschiedenen Arten der Zusammenlagerung« (modes d’agroupemens) der Elemente, die »physikalisch« und »chemisch« in die umfassende »Organisation« organischer Körper wie in ein »allgemeines GitCanguilhem 1979b; und Appel 1980. Gohau (1979) geht auf Blainvilles Paleontologie und Aktualismus ein. 104 | Cuvier 1800-1805, Bd. 1, 5. 105 | Blainville 1840, 211. Vgl. Blainville 1833, Bd. 1, 31 und ibid. 73: »En effet, il suffit pour cela de rappeler que les chimistes ont décomposé les corps vivans en des élémens qui se trouvent dans les corps inorganiques; jamais ils n’ont trouvé que ces élémens, qui sont, entre au tres, l’oxigène, l’hydrogène, le carbone et l’azote, présentassent des propriétés différentes, selon qu’on les retirait des corps bruts, ou des corps organisés. Ils peuvent seulement être combinés en proportions différentes dans ces deux grandes divisions des êtres créés. Il est donc de toute évidence qu’il ne saurait y avoir de matière es sentiellement brute, et de matière vivante ou essentiellement capable de vie.«
IX. Milieu und Organismus
ter« (trame générale) eingebaut werden.106 In dieser umfassenden Organisation ist nicht das Feste, sondern das Flüssige repräsentativer Träger der Prozesse, die durch beständige »Kompositionen und Dekompositonen« (compositions et décompositions) sowie »chemische Metamorphosen« Lebendigkeit ermöglichen. Das Flüssige ist die »Quelle des Lebens« (source de la vie), die »progressive Solidifikation« (solidification progressive) sein Tod.107 Blainvilles Herd des Lebens ist ein »chemischer Herd« ( foyer chimique): »Un corps vivant est une sorte de foyer chimique où il y a à tous momens apport de nouvelles molécules et départ de molécules anciennes; où la combinaison n’est jamais fixe (si ce n’est dans un certain nombre de parties véritablement mortes, ou de dépôt), mais toujours pour ainsi dire in nisu […] La vie est donc le résultat d’une sorte de combinaison chi mique, ou mieux le moment de la tendance à la combinaison qui se répète pendant un temps plus ou moins long et avec une énergie plus ou moins forte. Ou bien, la vie est l’acte ou le résultat d’une combinaison in nisu, successivement répétée.«108
Organismen sind zwar »Materieverbindungen« (composés de matière), aber keine »physikalischen Instrumente« (instruments de physique), »Maschinen« (machines) oder »Schmelztiegel« (creusets). Ihre physische Ordnung ist den »allgemeinen Kräften« ( forces générales) des »umgebenden Milieus« (milieu ambiant) ausgesetzt, doch schließt Blainville von der Besonderheit der »Phänomene des Lebens« – die »Irritation«, »Kontraktion« und »Lokomotion« umfassen – auf »vitale Kräfte« ( forces vitales), die sich durch ihre spezifische Wirkweise von den allgemeinen Kräften unterscheiden, ohne in kategorialer Differenz zu ihnen zu stehen.109 Der Organismus widersetzt sich den äußeren Kräften nicht, indem er sie annihiliert oder »zerstört«, um am Leben zu bleiben. Vielmehr handelt es sich für Blainville um einen gegen die äußeren Kräfte gerichteten »Ausgleich« (contre-balancement), der, solange ein Körper lebt, von vitalen Kräften bestimmt wird.110 Zwischen dem äußeren Einfluss allgemeiner Kräfte (hierzu zählen 106 | Vgl. Blainville 1833, Bd. 1, 65-66: »Ainsi, de même que les organes d’un être vivant résultent de certains agroupemens de molécules, au milieu d’une trame générale, de même aussi les molécules qui composent l’univers, ou la matière s’agroupent de diverses façons, et for ment, par ces différens modes d’agroupemens, ce qu’on nomme des corps, lesquels par cela même qu’ils ne sont que dès parties d’une seule masse générale, réagissent continuellement les uns sur les autres.« 107 | Blainville 1833, Bd. 2, 3. 108 | Blainville 1822, 16. 109 | »Vitale Kräfte« leiten sich für Blainville von »allgemeinen Kräften« ab. Vgl. Blainville 1833, Bd. 1, 30; und Bd. 2, 325-342. 110 | Vgl. Blainville 1822, 17.
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etwa physikalische »Schwerkraft« (pesanteur) und chemische »Attraktion« (attraction)) und der inneren Ökonomie vitaler Kräfte stellt sich eine »Harmonie« ein, die einen beständigen Partikel-Austausch ermöglicht. Organische Körper sind in diesem Sinne Ausgleichsmaschinen, die aufgrund spezifischer Kräfte die Dynamik des Stoff kreislaufs der inneren Organisation an die Einflusssphäre des umgebenden Milieus anpassen.111 Das »Milieu« ist neben dem »Organismus« der Begriff, der Blainvilles Ansatz prägt und dessen Besonderheit anzeigt. Beide Begriffe finden erst mit Blainville in den sich etablierenden Lebenswissenschaften (und durch Comte auch in der Soziologie) systematisch Verwendung. Für Blainville und Comte ist das Bedingungsverhältnis zwischen Milieu und Organismus konstitutiv für die verschiedenen »Wissenschaften des Lebens« und die »Biologie« im Allgemeinen.112 Zugleich transformiert der Begriff des »Milieus«, der seit Newton meist nur Medium der Übertragung von Kräften und insofern Zwischenraum
111 | Vgl. Blainville 1822, 16: »En sorte que vivre c’est contre-balancer, du moins en apparence, avec plus ou moins d’avantage les lois générales de la nature; je dis contre-balancer et non détruire, parce que, dans un corps vivant, il semble qu’il y ait toujours deux ordres de forces perpétuellement agissantes, les unes vitales et les autres générales, et, quoi qu’on en dise, tout-à-fait aussi inconnues les unes que les autres, et en effet de même na ture; mais elles semblent différer, parce que les unes sont beaucoup plus mesurables que les autres, quoique évidemment les premières rentrent dans les secondes. C’est même l’art de rapporter les phénomènes vitaux aux lois générales qui constitue la véritable physiologie. Sans cesse en action, les forces vitales et les forces générales se contre-balancent continuellement, et le degré de vie est proportionnel au degré de supériorité des premières sur les secondes.« 112 | Vgl. Blainville 1833, Bd. 1, 92: »Je vous ai dit qu’en zoobiologie, il ne s’agit plus d’étudier les faits seulement en eux-mêmes, intrinsèquement comme cela a lieu en astronomie, en physique et en chimie, mais qu’on doit en outre rechercher les rapports de ces faits avec l’orga nisation, avec les autres phénomènes de celle-ci, avec les circonstances extérieures, et particulière ment avec le milieu dans lequel vit l’animal. C’est là le travail qu’il faut faire pour constituer la zoobiologie, pour lui donner des bases positives, autant que la chose est possible, et pour obtenir les résultats les moins variables que son étude puisse nous fournir.« Ein ähnlicher Ansatz, beeinflusst durch Broussais, findet sich auch in Michel Fodéras Discours sur la biologie ou science de la vie (1826). Vgl. Fodéra 1826, 11: »Les phénomènes dont la réunion constitue la vie de l’homme sont le résultat d’une multitude d’actions propres à l’organisme, entretenues par celles des agents extérieurs. Pour pouvoir se faire une idée exacte des fonctions de la vie, il faudrait les connaître dans leurs véritables rapports; il faudrait les étudier dans leur ensemble dans l’etat de santé, dans celui de maladie, et en rapport avec l’action des agents extérieurs.«
IX. Milieu und Organismus
war113, durch Blainville in ein Ensemble von Eigenschaften, die in Wechselwirkung mit der Einheit stehen, durch die sich die innere Organisation der Organismen als spezifische Ordnungsform lebender Körper erhält.
2.1 Organismus, Milieu und Modifikatoren Für Blainville »lebt« jeder Organismus »in« (vivre dans) einem »Milieu«.114 Dabei »hält« er sich im Milieu nicht nur wie irgendein Körper in einer Flüssigkeit »auf« (séjourne)115, sondern »bewohnt« (habite) es durch ein Netz aktiver Beziehungen und Einflusssphären, die auf die »Außenwelt« (monde extérieur) ausgerichtet sind.116 In diesem Sinne »vollziehen« Fische im »Milieu« des Wassers »die verschiedenen Akte des Lebens«.117 Langfristige »Aufenthaltsorte« (séjours) bezeichnet Blainville als »Wohnstätten« (habitations).118 Milieus besitzen ihrerseits physikalisch-chemische Eigenschaften, die als »allgemeine und spezielle externe Modifikatoren« (modificateurs externes générales et spéciaux) auf Organsimen wirken.119 Für Blainville stellen »Modifikatoren« alle Arten von äußeren Reizen dar, die im Inneren eines lebenden Körpers zu Irritationen und Kontraktionen führen, ohne eine Transformation von dessen Organisationstypus einzuleiten. Während Broussais vor allem auf die lokale Wirkung von »Modifikatoren« fokussiert, geht es Blainville, ähnlich wie Cuvier, um deren allgemeine Wirkung auf die ganze »innere Organisation« eines Organismus: »[…] c’est dans leur action sur la to talité de l’être organisé, et non sur telle ou telle de ses parties, que j’étudierai les modificateurs externes généraux; qu’ainsi je ne chercherai pas comment la lumière, par exemple, agit sur l’œil en particulier, pour donner lieu à la vision, ce qui serait étudier une fonction particulier; mais j’examinerai quelle est l’influence de cet agent sur toute la masse de notre corps.«120 113 | Vgl. Canguilhem 1998, 129-131. 114 | Siehe auch Blainville 1833, Bd. 3, 387: »L’organisme est plongé dans un milieu composé d’air et d’éau […]« 115 | Vgl. Blainville 1833, Bd. 3, 145, 147, 150, und 162. 116 | Vgl. Blainville 1833, Bd. 1, 95. 117 | Vgl. Blainville 1822, 553. 118 | Blainville (1833, Bd. 1, 154) spricht auch von »gewöhnlichen Aufenthaltsorten« (séjours habituels). Vgl. Blainville 1822, 197 und 377 (le milieu qu’habite l’animal); 1833, Bd. 1, 129 und 369-370; ibid., Bd. 2, 336 und ibid., 529; und ibid., Bd. 3, 133, 145, 147 und 150. 119 | Vgl. Blainville 1833, Bd. 3, 382. 120 | Blainville 1833, Bd. 3, 383. Vgl. Broussais 1822, Bd. 1, 6 und 22; und 1826, 131.
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Durch Untersuchungen der Wirkweise der »allgemeinen äußeren Modifikatoren« auf den inneren Funktionsapparat des Organismus ließe sich für Blainville die physiologische »Geschichte organischer Tätigkeiten« erklären, ohne sich in den anatomischen Details zu verlieren, die allein als Mittel der Ausführung der Tätigkeiten dienen: »L’étude de l’action des modificateurs externes généraux sur l’organisme vivant n’a guère été faite, et n’a surtout pas été séparée, dans les ou vrages de physiologie moderne, de celle des fonctions. Cette étude et son isolement sont néan moins des choses d’une grande importance, qui nous permettront, lorsque nous traiterons des fonctions de l’organisme, de les analyser plus fa cilement, en écartant des détails qui embarrasse raient alors notre marche. Ouvre un de nos traités de physiologie, et vous verrez combien l’histoire des actes organiques est embarrassée pour les descriptions anatomiques, non seulement des appareils, mais aussi des tissus, et par des considérations préliminaires de toute espèce, mais qui ne vous disent rien ou presque rien de l’action que les circonstances extérieures exercent sur l’être vivant.«121
In Blainvilles Ansatz ist das Milieu die allgemeine Form der »umgebenden Welt«, in welcher der Organismus »leben muss« (doit vivre)122, und zwar als »Organisationstyp« (type d’organisation), dessen systemischer Verbund der Teile genauso unveränderlich ist wie sein systemischer Bezug zur Außenwelt. Der Organisationstyp kann »modifiziert« werden, aber nicht in einen anderen Typ übergehen oder in einem Milieu überleben, das nicht seinem »natürlichen Milieu« (milieu naturel)123 entspricht.124 Den Zusammenhang des auf die »Modifikatoren« des »Milieus« abgestimmten inneren Funktions- und Tätigkeitsgefüges leitet er aus einer »unveränderbaren instinktiven Fähigkeit« ( faculté instinctive fixe) ab, welche »die notwendigen angeborenen Beziehungen (rapports innés nécessaires) eines Tiers mit den äußeren Existenzbedingungen
121 | Blainville 1833, Bd. 3, 381. Blainville beruft sich aber auch klassische Beispiele der vergleichenden Anatomie, um Milieu-Organismus-Verhältnisse zu charakterisieren. Vgl. Blainville 1822, 90: »Le milieu dans lequel l’animal doit vivre a aussi une in fluence sur la forme et le développement des ongles. En gé néral, plus l’espèce est, pour ainsi dire, terrestre, et plus les ongles sont forts; celles au contraire qui parcourent et voltigent dans les airs, comme les chauve-souris, ont le plus souvent quatre doigts de la main entièrement dépourvus d’ongles. Enfin dans les espèces aquatiques ces organes sem blent diminuer de plus en plus […]« 122 | Vgl. Blainville 1822, 90, 170 und 377; und ibid., Bd. 3, 398 (un animal destiné à vivre dans un milieu). 123 | Vgl. Blanville 1833, Bd. 3, 399. 124 | Vgl. Blainville 1822, 512.
IX. Milieu und Organismus
festlegt (détermine)«.125 Zwischen lebendigen Körpern und den »Umständen« des »normalen Milieus«, »in dem sie bestimmt sind, zu leben«, existiert eine »vollkommene Harmonie« (harmonie parfaite).126 Zugleich stellt das Innere des Organismus eine auf verschiedenste Weise in Innen- und Außenräume unterteilte »innere Organisation« dar, deren konstitutives Element die »Hülle« (enveloppe) des Organismus bildet.
2.2 Reaktive »Hüllen« Ähnlich wie Brandis und Richerand überträgt Blainville das Organismus-Milieu-Verhältnis in ein Grenzflächen-Modell in sich verfalteter »Hüllen« (enveloppes), die innerhalb der »inneren Organisation« Innen- und Außenräume schaffen, die, in Organe gegliedert, ein Funktionsgefüge etablieren, in dem die einzelnen, eine bestimmte »Rolle in der Ökonomie« (rôle dans l’économie) übernehmenden Funktionseinheiten sowohl auf sich selbst als inneres System wechselseitiger Bezüge als auch auf eine »Außenwelt« bezogen sind.127 Die »Dynamik«, die diesem doppelten Beziehungsgefüge zugrunde liegt, resultiert aus einem systemischen Verbund »konstruktiver« und »dekonstruktiver« Prozesse, der sich in allem Lebendigen findet.128 Die beiden Prozessformen lassen sich für Blainville aus den allgemeinen chemisch-physikalischen Vorgängen der »Attraktion« (attraction) und der »Abstoßung« (répulsion) ableiten und auf zwei »elementare Funktionen« von Pflanzen und einfachen Tieren übertragen – während sie sich in höheren Tieren in »sekundäre Funktionen« differenzieren. Dem »konstruktiven« Prozess entspricht die Funktion der »Ernährung« (nutrition), die durch eine besondere Form der »Attraktion«, nämlich durch die »Assimilation« (assimilation) äußerer Partikel, zum »Wachstum« (accroissement) und zum »Erhalt« (entretien) des Organismus führt, und dem »dekonstruktiven« Prozess die Funktion der »Fortpflanzung« (génération), die durch die Bildung neuer, dem Gewebe entnommener »Zusammensetzungen« (composés) und deren »Vereinigung« (réunion) die Erzeugung neuer Individuen des entsprechenden Organisationstyps ermöglicht – dies jedoch nur durch die zunehmende »Zerstörung« (destruction) der Gewebe der zeugenden Organismen.129 Die Fortpflanzung als »desassimilierende oder dekompositorische Fähigkeit« ( faculté désassimilatrice ou de décomposition), deren allgemeine »Abstoßungs«-Bewegung von innen nach außen geht, ist der Ernährung als »assi-
125 | Blainville 1822, Introduction, xliv. 126 | Vgl. Blainville 1833, Bd. 2, 4. 127 | Vgl. Blanville 1833, Bd. 1, 95; und ibid., Bd. 2, 5-6. 128 | Vgl. Blainville 1822, Introduction, viii-ix. 129 | Vgl. Blainville 1822, Introduction, xx-xxii.
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milierende oder kompositorische Fähigkeit« ( faculté assimilatrice ou de composition), die von außen nach innen wirkt, entgegengesetzt.130 An der äußeren Oberfläche charakterisiert Blainville die kompositorischen und dekompositorischen Prozesse durch Bewegungen der »Intussuszeption« (intussusception) oder »Absorption« (absorption) und der »Extussuszeption« (extussusception) oder »Ausströmung« (exhalation). »Absorptions«- und »Ausströmungs«-Bewegungen werden durch Reiz-Reaktions-Schemen angetrieben, die sich, je nach Organisationstyp, im Inneren auf verschiedene Weise zwischen Organen und ihren Innen- und Außenräumen fortsetzen: »Nous savons donc qu’un animal étant un corps organisé, est une certaine combinaison mobile d’un petit nombre de substances simples, de struc ture celluleuse, affectant une forme plus ou moins arrondie, agissant sur les corps extérieurs qui les environnent, et recevant une action de ceux-ci dans des limites déterminées; mais réagissant aussi continuellement les unes sur les autres, d’où résulte une augmentation, un accroissement par intussusception, ou mieux par absorption, et une di minution, un décroissement par exhalation ou extussusception […]«131
Die Weiterleitung des Außen-Reizes in das Innere ist an die Differenzierung der äußeren und inneren Oberflächen des Rezipienten gebunden, die ihrerseits, je stärker sie ausgeprägt ist, ein umso unabhängigeres und flexibleres Verhältnis des Organismus zum Milieu ermöglichen. Den »Ursprung« dieser Oberflächen und Grenzziehungen, innerhalb derer und durch die hindurch Reizung, Zirkulation und Austausch stattfinden, stellt für Blainville eine lebendige Körper umschließende kontinuierliche »Hülle« (enveloppe) dar, die zum einen als »Haut« (peau) die große, Milieu und innere Organisation trennende »äußere Hülle« (enveloppe extérieure) und zum anderen als »muköses Gewebe« (tissu muqueuse) in immer dichter werdenden Falten »innere Hüllen«
130 | Vgl. Blainville 1822, 18-19: »On peut donner le nom de faculté assimilatrice ou de composition à celle qui, terme de toutes les fonctions de la nutrition, produit l’entretien de l’individu; ce n’est, comme nous le verrons par la suite, qu’une modification de la pro priété la plus générale de la matière, de l’attraction molé culaire: nous nommerons par opposition faculté désassimilatrice ou de décomposition celle qui, résultat de toutes les fonctions de la génération, produit la destruction de l’individu ou l’entretien de l’espèce; c’est au contraire une modification de cette autre propriété générale de la matière, de la répul sion ou de l’expansion. Nous verrons que tout l’appareil de la nutrition agit de dehors en dedans ou par attraction vers le corps vivant, tandis que celui de la génération agit en sens inverse de dedans en dehors, ou par répulsion de molécules de l’intérieur de ce même corps vivant.« 131 | Blainville 1822, Introduction, xxii.
IX. Milieu und Organismus
(enveloppes intérieures) in Form von Organen, Kanälen und Drüsen bildet.132 Durch diese inneren Hüllen, deren »reaktive« Grenzen Stoffe filtern und chemische Transformationen einleiten, wird das von außen aufgenommene Leblos-Fremde in ein Lebendig-Eigenes überführt: »Mais dans ces différens rapports l‹ [sic!] action commençant à l’extérieur, ils ne pouvaient s’établir que par l’enveloppe de l’animal; cette enveloppe doit donc être regardée comme l’origine de tous les organes et de tous les appareils qui feront que celui-ci apercevra plus ou moins complètement les corps étrangers, qu’il pourra s’en approcher ou s’en éloigner, qu’il pourra les absorber pour se les assimiler, et enfin qu’il lui sera possible de les exhaler ou de les rejeter, après qu’il auront fait partie de lui. Mais, pour chacune de ces fonc tions, l’on conçoit aisément que cette enveloppe devra pré senter des modifications importantes dans quelques points de son organisation, modifications qui pourront exister dans une partie plus ou moins considérable de son éten due.«133
Während Pflanzen nur über eine »absorbierende und exhalierende Oberfläche« (surface absorbante et exhalante) verfügen, »erweitert« (s’étend) und »verdoppelt« (se double) sich die Oberfläche in Tieren und Menschen in eine Art »umgestülpte Tasche (poche rentrée)«.134 In dem »zylinderartigen Körper«, den Tiere und Menschen besitzen, gibt es zwischen der äußeren Haut und der Haut, »die sich nach Innen faltet« (qui se replie en dedans), eine »Gewebemasse« (masse des tissus), die Blainville als »Zwischenbereich« (partie intermédiaire) bezeichnet. Während sich an der »äußeren Oberfläche« die »Apparate« bilden, welche »die von der äußeren Welt erzeugten Sinneseindrücke vermitteln«, und die »innere Oberfläche« den »Höhlen- und Drüsenapparat (appareil crypteux et glanduleux) formt, der die für die Verdauung notwendigen Flüssigkeiten bereit stellt«, entstehen im »Zwischenbereich die eigentlich verarbeitenden »Organe«, die zum einen »die von der äußeren Oberfläche vermittelten Eindrücke« (les impressions transmises par la sur face externe) in Gefühle und Willensakte überführen und zum anderen »die von der inneren Oberfläche gelieferten ernährenden Materialien« (les matériaux nutritifs fournis par la surface interne) der Verdauung und Zirkulation zuführen.135 Schließlich differenzieren sich im 132 | Vgl. Blainville 1822, 24: »On donne à cette enveloppe de l’animal, qui entoure de toutes parts la masse de tissu cellulaire, diversement modifié, qui le forme, le nom de peau, quand elle est extérieure, et de membrane muqueuse, lorsqu’elle est intérieure.«; und 1840, 20-21. 133 | Blainville 1822, 22-23. 134 | Blainville 1840, 212 und 222. 135 | Vgl. Blainville 1822, 23; und 1833, Bd. 2, 8-9: »Puis nous avons vu que dans cette espèce de cylindre que représente le corps, il y avait une enveloppe plus ou moins distincte du tissu sous-jacent, et qui se replie en dedans aux deux extrémités
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»Zwischenbereich« auch die Organe, »die der Reproduktion und der Dekomposition dienen«.136 Neben dem System ineinander verfalteter Innen- und Außenräume, die Pflanzen und Tiere voneinander unterscheiden, bestimmt Blainville, ähnlich wie Bichat, »Sensibilität« und »Lokomotion« als »Maßstab der Tierhaftigkeit« (degré de l’animalité).137 Höhere Tiere und Menschen zeichnen sich für Blainville gegenüber Pflanzen durch ihr »reizbares Nervengewebe« (tissu nerveux ou excitant) und ihr »fleischiges, muskulöses oder kontraktiles Gewebe« (tissu sarceux, musculaire ou contractile) aus.138 Blainville stellt Cabanis’ homme sensible et moral jedoch nicht in das Kontinuum der scala naturae, das ihm Broussais zuwies. Für Blainville, der seit 1813 in engerem Kontakt mit Saint-Simon steht und zusammen mit Broussais Comtes Cours besucht139, können die komplexe sopour tapisser les ouvertures et la totalité du canal intérieur du cylindre. Il y a donc une surface en dehors de celui-ci et une surface en dedans, qui toutes deux ont pour caractère d’être en rapport avec les objets extérieurs; et entre ces deux surfaces se trouve comprise toute la masse des tissus de l’ani mal, les systèmes vasculaire, nerveux etc.« 136 | Blainville 1833, Bd. 2, 9. 137 | Blainville 1840, 213. 138 | Vgl. Blainville 1840, 212. Blainville ergänzt hierzu (ibid.): »Malheureusement le scalpel de l’anatomsite n’est pas encore parvenu à démontrer ces deux tissus dans tous les êtres organisés, qui donnent cependant des signes évidents de sensibilité et de locomotilité […]« Niedere Tiere besitzen für Blainville keine »Nerven«. Vgl. Blainville 1833, Bd. 2, 398: »Quant aux actinozoaires et à tous les autres animaux inférieurs, nous avons déjà vu qu’on ne pouvait y découvrir que des filets nerveux; on n’y distingue ni ganglions du grand sympathique ni ganglions viscéraux. Nous pouvons à priori, rejeter l’existence des premiers, partout où l’ho mogénéité de l’organisme, et la spécialité à peine ébauchée ou tout-à-fait nulle de ses diverses parties excluent la nécessité d’un lien physiolo gique, dont le seul but paraît être d’établir l’har monie entre des organes chargés de fonctions différentes.« 139 | 1822 veröffentlichte Comte bereits den Plan de travaux scientifiques nécessaires pour réorganiser la société, in dem er Kernpositionen seiner positiven Philosophie darlegte. Saint-Simon publizierte 1824 anonym den ersten Teil des ersten Bandes von Comtes Système de politique positive. Comtes Cours de philosophie positive erschien zwischen 1830 und 1842 in sechs Bänden. Appel (1980, 309) weist darauf hin, dass Blainville den Menschen 1822 noch als besondere Ordnung der Säugetiere in die série animale integriert, während er ihn im Artikel Animal im Dictionnaire des sciences naturelles (1840) nicht mehr erwähnt. Für Beziehungen zwischen Blainville, Saint-Simon, Cuvier und Comte siehe Pillon 1878; Gouhier 1979; Appel 1980; Pickering 1993-2009, Bd. 1; Grange 1996, 199-201; und Guillo 2003, 321-323.
IX. Milieu und Organismus
ziale Existenz des Menschen – die »Verbindung« (connexion) und »Abhängigkeit« (dependance) seiner Tätigkeiten »von anderen Individuen der Gesellschaft« – und seine reflexiven Fähigkeiten keine Resultante des physischen Lebens sein, sondern nur durch es modifiziert werden.140 In dem »Plan«, mit dem Gott die Welt schuf, ist die Beziehung zwischen Mensch und Welt grundlegend transzendent. Comtes Vision einer den Menschen umfassenden positiven Wissensmatrix steht Blainvilles theologisch-biologischer Doppelbestimmung entgegen.141 Doch führt Blainvilles auf das Organismus-Milieu-Verhältnis ausgerichtete »allgemeine und vergleichende physiologische Anatomie« (physiologie anatomique générale et comparée)142 zu dem Agentenmodell organisierter Körper, das Comte braucht. In einer Fußnote im dritten Teil des Cours de philosophie positive (1838) vermerkt Comte, dass ihn Blainvilles Vorlesungen an der Faculté des sciences de Paris zwischen 1829 und 1832 zur Grundlage seines eigenen Ansatzes geführt hätten.143
3. C OMTES PROLEP TISCH - RE AK TIVE O RGANISMEN Nachdem Lockes mentaler Sensualismus und Bordeus organischer Sensibilismus in den physischen Anthropologien der französischen Ideologen zu einer vom Ansatz her post-cartesianischen und post-revolutionären, alle Wissensfelder vereinenden »Wissenschaft vom Menschen« verschmolzen sind144, entsteht in einer zweiten großen Synthese in Comtes Cours de philosophie positive (1830-1842) das Modell eines alles Lebendige umfassenden Agenten, dessen 140 | Vgl. Blainville 1833, Bd. 1, 23-24 und 27. Zum Wechselwirkungsverhältnis zwischen dem homme moral und dem homme physique siehe Blainville 1833, Bd. 1, 95-96. 141 | Siehe hierzu Gouhier 1976a. 142 | Blainville 1822, 1. 143 | Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 3, 269, Fußnote 1; und Pickering 1993-2009, Bd. 1, 588-589. Ein Teil von Blainvilles Vorlesung wurde 1833 im Cours de physiologie générale et comparée veröffentlicht. 144 | Vgl. Cabanis 1802, Bd. 1, 7: »Permettez donc, citoyons, que je vous entretienne aujourd’hui des rapports de l’étude physique de l’homme avec celle des procédés de son intelligence; de ceux du développement systématique de ses organes avec le développement analogue de ses sentimens et de ses passions: rapports d’où il résulte clairement que la physiologie, l’analyse des idées et la morale, ne sont que les trois branches d’une seule et même science, qui peut s’appeler, à juste titre, la science de l’homme.« In einer Fußnote (ibid.) bemerkt Cabanis, dass die »Wissenschaft vom Menschen« in Deutschland »Anthropologie« genannt wird.
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Organismen. Agenten zwischen Innen- und Außenwelten 1780-1860
Existenzbedingungen äußeres Milieu und innere Organisation miteinander verbinden. Die Existenz dieses Agenten, den Comte »Organismus« nennt, beruht auf einer systemischen Ordnung, deren Prozessualität (Dynamik) und Konstruktion (Statik) die an Milieu-Umstände gebundene und insofern fragile Existenz eines Körpers durch Gleichgewichtszustände zwischen Assimilation und Desassimilation eine gewisse Zeit erhält (individuelle Existenz), in neuen Individuen reproduziert (generative Existenz) und in Kollektive einbindet (soziale Existenz). Comte, der zwischen 1817 und 1824 eng mit Claude Henri de Saint-Simon zusammenarbeitete und in Paris als Privatgelehrter Vorlesungen hielt, ist einer der ersten, der das explanative Potential dieses Agentenmodels in eine umfassende Theorie der Moderne einbaut, in der »Biologie« und »Soziologie« zu Leitwissenschaften werden, ohne zugleich aufeinander reduzierbar zu sein.145 Der Etablierung des biologischen Fundaments des Agenten widmet er sich im Cours ab der vierzigsten Lektion des dritten Bandes (1838), später nimmt er das Thema im ersten und vierten Band des Système de politique positive ou traité de sociologie (1851-54) wieder auf.146 Jede Philosophie sollte für Comte von der Beziehung zwischen »Mensch« und »Erde« als »Außenwelt« (monde extérieur) ausgehen.147 Im Gegensatz zu 145 | Vor allem durch den Einfluss Charles Robins und Louis Auguste Segonds wirkt Comtes Positivismus auf die 1848 (unter anderem durch Claude Bernard) gegründete Société de biologie ein. Siehe hierzu Gley 1901, 165: »Cette Société a donc joué, depuis qu’elle existe, un rôle absolument prépondérant dans le mouvement biologique française. Or, la Société de biologie est née littéralement sous les auspices de la philosophie positiviste.«; Pickering 1993-2009, Bd. 2, 516-580; und Braunstein 2009, 121-124. Pickering (ibid., 1993-2009, Bd. 1, 588-604) und Kremer-Marietti (2001) gehen allgemein auf Comtes »Biologie« ein. McCormick (1976, 81-84) hebt Unterschiede zwischen Comtes, Lamarcks und Treviranus’ Bestimmungen der »Biologie« als Wissenschaft hervor. Für Comtes Kritik an materialistischen Positionen siehe Brausntein 2009, 136-138. Zum Verhältnis zwischen Comte und Saint-Simon siehe Gouhier 19321941, Bd. 3, und 1976b; und Pickering 1993-2009, Bd. 1, 101-244. Pickering (ibid., 606-624) und McCormick (1976, 99-108) besprechen auch Comtes Abgrenzung der »Biologie« von »Physik« und »Chemie«. Biographische Angaben über Comte finden sich bei Gouhier 1931; Pickering 1993-2009; und Fedi 2000. 146 | Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 3, 487-845; 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 564-736; und ibid., Bd. 10 (Système de politique positive, Bd. 1), 216-229. 147 | Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 3, 269-270: »L’étude de l’homme et celle du monde extérieur constituent nécessairement le double et éternel sujet de toutes nos conceptions philosophiqes. Chacun de ces deux ordres généraux de spéculations peut être appliqué à l’autre, et lui servir même de ëint de départ. De là résultent deux manières de philosopher entièrement différentes, et même radicalement opposées, selon qu’on
IX. Milieu und Organismus
»Theologie« und »Metaphysik« beginnt die »positive Philosophie«, die beide in der Geschichte der »Menschheit« ablöst, nicht mit kosmologisch ausgerichteten Ursprungsfragen und deren Abstraktion in logische Prinzipien. Vielmehr fokussiert sie, um einen sicheren Ausgangspunkt zu gewinnen, von dem aus Moderne beginnt, genau auf das Zwischen, das »Mensch« und »Erde« verbindet. Hierfür wandelt Comte die innere Ordnung des Menschen in die eines tierischen »Organismus« und die Erde in sein »Milieu« (milieu) um. Die innere Sphäre des Organismus existiert jedoch nur durch ein »Gleichgewicht« (équilibre) auf- und abbauender Austauschbewegungen, deren Prozessualität beständig eine »Oberfläche« durchdringt, die materiell Bedingung zweier auf einander ausgerichteter und doch getrennter raumzeitlich bestimmbarer Bereiche ist. Während eine derartige »Harmonie (harmonie) zwischen dem Lebendigen und dem Milieu die fundamentale Bedingung des Lebens (condition fondamentale de la vie)«148 repräsentiert, finden »an der trennenden Oberfläche (surface de séparation) zwischen dem Organismus und dem Milieu notwendig die wichtigsten grundlegenden Phänomene des tierischen Lebens«149 statt. Durch die Verschränkung des homme physique et moral mit dem homme sensible et social entwickelt Comte die Vision, die Transkriptionen zwischen Innen und Außen, die Organizität und Reflexivität kennzeichnen, in ein Feld zu überführen, dessen Immanenz nicht mehr allein von der Innerlichkeit eines einzelnen Agenten, sondern von wissenschaftlich objektivierbaren Verhältnissen zwischen Milieus und Agenten abhängt. In Comtes Ansatz wird der Organismus zu einem neuen, umfassenden Fundament, auf dem nicht nur Lebendigsein, Fühlen, Denken und Reproduktion, sondern auch Geschichte, Gesellschaft und Fortschritt beruhen. Comte visiert die »totale Ausdehnung der Biologie« (extension totale de la biologie)150 auf die Soziologie an – mit der Einschränkung, dass das Sozial-Kollektive, das er, unter dem Einfluss von Turgot, Condorcet und Saint-Simon, in ein Dreistadien-Schema gesellschaftlichen
procède de la considération de l’homme à celle du monde, ou, au contraire, de la connaissance du monde à celle de l’homme. Quoique, parvenue à sa pleine maturité, la vraie philosophie doive inévitablement tendre à concilier, dans leur ensemble, ces deux méthodes antagonistes, leur contraste fondamental constitue néanmoins le germe réel de la différence élémentaire entre deux grandes voies philosophiques, l’une théologique, l’autre positive, que notre intelligence a dû suivre successivement, comme je l’établirai, d’une manière spéciale et directe, dans le volume suivant.« 148 | Comte 1830-1842, Bd. 3, 289. 149 | Comte 1830-1842, Bd. 3, 580-581. 150 | Comte 1830-1842, Bd. 3, 311.
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Organismen. Agenten zwischen Innen- und Außenwelten 1780-1860
Fortschritts (Theologie, Metaphysik und Wissenschaft) einbindet, keine Naturwissenschaft hinreichend erklären kann.151 Individuelle Agenten verfügen für Comte als tierische und menschliche Organismen grundlegend über zwei regulierende, in sich stark differenzierte und, je nach Organisationstyp, entwicklungsfähige Instanzen: den »persönlichen Instinkt« (instinct personnel), der »egoistisch« auf die Erhaltung der eigenen Existenz ausgerichtet ist, und den »sozialen Instinkt« (instinct social), der »sympathisch« auf Gemeinschaft abzielt. In höheren Tieren vermitteln beide Instanzen, die ihren Sitz im Gehirn haben, zwischen sensorischen Reizen und motorischen Reaktionen. Durch diese »vitale Vermittlung« (intermédiare vital) unterscheidet Comte lebende Organismen kategoriell von Cartesischen Maschinen, deren Performanz nur darauf beruht, Reize und Bewegungen ohne »spontan« intervenierende Instanzen mechanisch aneinander zu koppeln. Comtes Organismus verhält sich zu seinem Milieu, und zwar spezifisch gemäß der Transitionsstufen, die aus seiner durch Ereignisserien, Erfahrungskontexte und Sozialisierungsprozesse geformten »Instinktentwicklung« (essor instinctif ) hervorgehen. Anhand verschiedener »Tätigkeits«-Klassen entwirft er eine scala naturae, in der sich die fast ausschließlich durch das äußere Milieu bestimmten »Tätigkeiten« der Pflanzen auf einen organisierten Austausch von Stoffen beschränken, Tiere durch ihre Instinktökonomien spontan »Tätigkeiten« ausführen, und komplex sozialisierte, reflexive Menschen gestalterischbeherrschend in Milieus »tätig« sind. Innerhalb von Comtes Instinktökonomien sind bestimmte Instinkte allein auf die Erhaltung eines inneren Gleichgewichts ausgerichtet. Comte nennt diese Instinkte, die vorausgreifend auf Ereignisse reagieren, »primordiale Tendenzen« (tendances primordiales)152 . Durch die proleptische und reaktive Regulation von (physiologischen, sensorischen, motorischen, emotionalen, reflexiven) Prozessen etablieren und retablieren primordiale Instinkte beständig das lebendige Subsistenz ermöglichende Gleichgewicht. Das proleptisch-reaktive Regulationsdispositiv eines Organisationstyps kann sich für Comte nicht verändern, denn jede Veränderung hieße, »Bedürfnisse« (besoins) vorauszusetzen, denen kein Verlangen entspricht. Die Spezifizität der »biologischen Harmonie« (harmonie biologique) erfordert, dass jedem tierischen und menschlichen Organismus bestimmte, in Hinsicht auf Milieu-Anpassungen »unzerstörbare« (indestructible) Instinktökonomien organisationstypisch »eigen« (propre) sind. Der neue Mensch der Wissenschaften ist in diesem Sinne immer der alte, 151 | Für Comtes Soziologie und Fortschrittstheorie siehe Waentig 1895; Lévy-Bruhl 1900, 245-394; Kempski 1974; Kremer-Marietti 1982, 143-203, und 1983; Guillo 2000a, 2000b und 2003, 295-319; Grange 1996, 231-299; Cherni 1999, Bd. 2, 640755; und Gane 2006. 152 | Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 3, 564.
IX. Milieu und Organismus
jedoch »entwickelt« und »vervollkommnet« er sich innerhalb der Grenzen, die seine verschiedenen »Organisationszustände« zulassen.153
3.1 Comtes Organismusmodell Der organismische Blick, den Comte im dritten und vierten Band des Cours de philosophie positive einführt, ist, wie bei Blainville, in sich verdoppelt: er wendet sich nicht nur von der inneren Organisation nach Außen, um das Innere zu erklären, sondern auch von Außen zurück in das Innere, um zu erklären, warum das Innere im Äußeren zweckgerichtet und angepasst agiert. Comtes »Theorie organischer Milieus« (théorie des milieux organiques)154 ist immer zugleich eine Theorie »subjektiver Milieus« (milieux subjectifs)155. Beide Blickpunkte konstituieren die Biologie als eine Wissenschaft, die das »Feld der Einheit« (domaine de l’unité) öffnet, und zwar der »Einheit« lebendiger Individuen, ihrer »Kollektive« und ihrer »Institutionen«.156 Dabei haben Bichat und Cuvier für Comte »die wirklich positiven Grundlagen der Wissenschaft organisierter Körper« gelegt, an die Gall und Lamarck anschließen.157 Comtes in sich verdoppelter Blick reagiert auf Bichats Suche nach der materiellen Disposition organischer Funktionen im Inneren der Organismen. Von diesem chirurgischen Innenblick aus wendet er sich Lamarcks circonstances extérieures und Geoffroy Saint-Hilaires monde ambiant zu, um Cabanis’ Anthropologie des homme sensible et moral und Galls Organologie des Gehirns in ein Bezugsfeld innerer und äußerer Existenzbedingungen zu integrieren. Während es Lamarck und Saint-Hilaire für Comte vor allem auf die Modifikabilität des Inneren durch äußere Einflüsse ankam, übernimmt er die systemische Totalität des Bezugsfelds innerer und äußerer Existenzbedingungen aus Cuviers vergleichender und Blainvilles physiologischer Anatomie.158 153 | Für die Kopplung biologischer und soziologischer »Entwicklungs«-Modelle in Comtes Ansatz siehe Guillo 2003, 321-338. Pickering (1989) geht auf Comtes Verhältnis zu Herder und der deutschen Philosophie ein. 154 | Vgl. Comte 1968-1971, Bd. 10 (Système de politique positive, Bd. 4), 224. 155 | Vgl. ibid., 227. 156 | Vgl. Comte 1968-1971, Bd. 10 (Système de politique positive, Bd. 4), 218 (la biologie ouvre le domaine de l’unité). 157 | Comte 1830-1842, Bd. 3, 294. 158 | Für die Bedeutung von Cuviers Prinzip der Existenzbedingungen für Comtes Organismusmodell siehe McClellan 2001. Cherni (2003) untersucht das Verhältnis von Anatomie und Physiologie in Comtes Ansatz. Ähnlich wie Cuvier und Blainville zieht Comte eine »vergleichende Methode« dem experimentellen Eingriff vor, der zu Störungen in lebenden »Systemen« führt. Siehe hierzu McCormick 1976, 119-129; Pickering 19932009, Bd. 1, 593-595; und Kremer-Marietti 2001, 27.
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Organismen. Agenten zwischen Innen- und Außenwelten 1780-1860
In der Biologiegeschichte von Comtes Cours ist Lamarck zugleich der erste, der eine »allgemeine Theorie organischer Milieus« (théorie générale des milieux organiques) entworfen und sich mit ihrer »Rekonstruktion« beschäftigt hat. Doch hebt Comte hervor, dass es Lamarck in dieser Theorie um eine »totale Unterordnung« des Organismus unter das Milieu (subordination totale envers le milieu) ging159, die zu einer sich unbestimmt fortsetzenden »Transformation« der »Arten« führt, die auf zwei Eigenschaften ihrer Exemplare beruht: Erstens auf einer »grundlegenden Fähigkeit des Organismus, sich gemäß der äußeren Umstände, in die er gesetzt ist, zu verändern«, und zweitens auf der »Tendenz«, durch »erbliche Weitergabe die zunächst direkten und individuellen Veränderungen« in den folgenden Generationen »zu fixieren«, wenn sich das »umgebende Milieu« gleich bleibt.160 Dabei übersieht Lamarck für Comte, dass sich die Arten nur innerhalb des Bereichs der »äußeren Variationen« (variations extérieures) des Milieus verändern können, der »kompatibel mit ihrer Existenz« (compatibles avec leur existence) ist.161 Lamarck untergräbt daher das »Prinzip des Gleichgewichts« (principe d’equilibre)162, das Cuviers Prinzip der Existenzbedingungen zugrunde liegt.163 159 | Comte 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 665. 160 | Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 3, 561: »[…] 1) l’aptitude essentielle d’un organisme . à se modifier conformément aux circonstances extérieures où il est placé […] 2) la tendance, non moins certaine, à fixer dans les races, par la seule transmission héréditaire, les modifications d’abord directes et individuelles, de manière à les augmenter graduellement à chaque génération nouvelle, si l’action du milieu ambiant persévère indentiquement.«; und 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 609. Für Comtes Kritik an Lamarck siehe Braunstein 2009, 115-120. 161 | Comte 1830-1842, Bd. 3, 567: »Néanmoins, on ne saurait guère douter, surtout d’après la lumineuse argumentation de Cuvier, que les espèces ne demeurent aussi, par leur nature, essentiellement fixes, à travers toutes les variations extérieures compatibles avec leur existence.«; und ibid., 571: »Quoi qu’il en soit, nous pouvons désormais, en nous restreignant pleinement à notre sujet actuel, regarder comme démontrée la discontinuité nécessaire de la grande série biologique. Les divers transitions pourront, sans doute, y devenir ultérierement plus graduelles, soit par la découverte d’organismes intermédiaires, soit par une étude mieux dirigée de ceux déjà connus. Mais la fixité essentielle des espèces nous garantie que cette série sera toujours composée de termes nettement distincts, séparés par des intervalles infranchissables.« Siehe hierzu auch Grange 1996, 218-219. 162 | Ibid., 562. 163 | Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 3, 563-564: »Si l’on conçoit que tous les organismes possibles soient successivement placés, pendant un temps convenable, dans tous les milieux imagina bles, la plupart de ces organismes finiront, de toute nécessité, par disparaître, pour ne laisser subsister que ceux qui pouvaient satisfaire aux lois générales
IX. Milieu und Organismus
Comte folgt Cuvier: Die »Arten« bleiben »konstant« ( fixes) – auch wenn eine »rationelle Theorie der notwendigen Wirkung (action) verschiedener Milieus auf unterschiedliche Organismen noch fast gänzlich aussteht«164 und »Arten« in eine »biologische Serie« eingeordnet werden können, die, an Blainville anschließend, konkret in Organisationstypen gegliedert ist und zugleich im Rahmen einer auf den Menschen ausgerichteten »beständigen zunehmenden organischen Komplikation« (complication organique toujours croissante) graduelle Unterschiede aufweist.165 de cet équilibre fondamental: c’est probablement d’après une suite d’éliminations analogues que l’harmonie biologique a dû s’établir peu à peu sur notre planète, où nous la voyons encore, en effet, se modifier sans cesse d’une manière semblable. Or, la notion d’un tel équilibre général deviendrait inintelligible, et même contradictoire, si l’or ganisme était supposé modifiable à l’infini sous l’influence suprême du milieu ambiant, sans avoir aucune impulsion propre et indestructible. Il est incontestable que l’exercice sollicité par des circonstances extérieures déterminées tend à altérer, entre certaines limites, l’organisa tion primitive, en la développant davantage sui vant la direction correspondante. Mais, cette influence du milieu, et cette aptitude de l’organisme, sont certainement très circonscrites. Pour les concevoir indéfinies, il faudrait admettre, avec Lamarck, contre l’ensemble des observations les plus irrécusables, que les besoins peuvent toujours créer les facultés, au lieu de se borner à en exciter le développement quand l’organisation primitive l’a rendu possible, et lorsque, en même temps, les obs tacles extérieurs ne sont pas trop considérables: et, d’ailleurs, d’où pourraient réellement provenir les besoins, s’il n’existait point de tendances primor diales?«; und Waentig 1895, 116-117: »Bei ihm [Comte] stehen sich die Eigenschaften des Organismus und die des ›système ambiant‹ als gleichberechtigte Potenzen gegenüber; die Wirkung des Milieus wird nicht als eine im wahren Sinne schöpferische, wie bei Lamarck, sondern als eine mehr mechanische, wie etwa später bei Darwin, hingestellt. Das Leben, ein Stoffwechselprozess, bietet nach Comte das Schauspiel einer ununterbrochenen Wechselwirkung zwischen Organismus und Umwelt, welche eine Harmonie zwischen den beiden letzteren herzustellen strebt, indem einerseits die Umwelt unfähige Organismen aussscheidet und untergehen lässt, andrerseits die Organismen sich bis zu einem gewissen Grade dem Milieu anpassen, ja dasselbe zu ihren Gunsten umgestalten.« 164 | Ibid., 570. Vgl. ibid., 571. 165 | Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 3, 554-555: »Il me suffit simplement de rappeler ici, à ce sujet, comme un résultat général de l’ensemble des études biologiques, que les espèces animales, considérées sous le point de vue statique, offrent évidemment une complication organique toujours croissante, soit quant à la diversité, à la multiplicité, et à la spécialité de leurs élémens anatomiques, soit quant à la composition et à la variété de plus en plus grandes de leurs organes et de leurs appareils; en second lieu, que cet ordre fondamental correspond exactement, sous le point de vue dynamique, à une vie toujours plus complexe et plus active, composée de fonctions plus nombreuses,
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Organismen. Agenten zwischen Innen- und Außenwelten 1780-1860
Das »Prinzip des Gleichgewichts« beruht für Comte nicht nur auf einer von innen her bestimmten physischen Grenze, einer Oberfläche, die solange unaufhebbar ist, wie Organismen als lebendige Körper existieren, sondern auch auf einer Grenze der Anpassung, die immer zwischen zwei Sphären stattfindet und Organismen dann sterben lässt, wenn ihre Organsysteme mit den äußeren Variationen nicht mehr »kompatibel« sind. Die von innen her bestimmte Grenze ist in diesem Sinne nicht undurchlässig und absolut, sondern rezeptiv und porös. Als rezeptive und poröse Grenze ist sie Bedingung des Austausches und der Kommunikation. Wie Blainville betont Comte, dass Bichat bereits das »zelluläre Gewebe« (tissu cellulaire) als »einheitliche Basis aller organischen Strukturen« einführte166, jedoch fälschlich von einem »absoluten Antagonismus zwischen toter
plus va riées, et mieux définies; et que, enfin, ce qui est moins connu quoique également incontestable, l’être vivant devient ainsi, par une suite néces saire, de plus en plus modifiable, en même temps qu’il exerce, sur le monde extérieur, une action toujours plus profonde et plus étendue. C’est par l’indissoluble faisceau de ces trois lois fondamen tales que se trouve désormais rigoureusement fixé le vrai sens philosophique de la hiérarchie biolo gique, chacun de ces aspects devant habituellement dissiper l’incertitude que pourraient laisser les deux autres. De là résulte nécessairement, en effet, la possibilité de concevoir finalement l’ensemble des espèces vivantes disposé dans un ordre tel que l’une quelconque d’entre elles soit constamment inférieure à toutes celles qui la précèdent et constamment supérieure à toutes celles qui la suivent; quelle que doive être d’ailleurs, par sa nature, l’immense difficulté de réaliser jamais, jusqu’à ce degré de précision, ce type hiérarchique.«; ibid., 571: »Quoi qu’il en soit, nous pouvons désormais, en nous restreignant pleinement à notre sujet actuel, regarder comme démontrée la discontinuité nécessaire de la grande série biologique. Les divers transitions pourront, sans doute, y devenir ultérierement plus graduelles, soit par la découverte d’organismes intermédiaires, soit par une étude mieux dirigée de ceux déjà connus. Mais la fixité essentielle des espèces nous garantie que cette série sera toujours composée de termes nettement distincts, séparés par des intervalles infranchissables.«; Für Comtes Hierarchie-Modell der série animale siehe McCormick 1976, 133-148; und Grange 1998, 204-211. 166 | Comte geht von einem »primitiven Gewebe« (tissu primitif ) aus, das Grundlage aller anderen Gewebe ist. Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 3, 529 und 534. Für Comtes Gewebetheorie siehe McCormick 1974. Im Système de politique positive erwähnt Comte (1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 649), dass Theodor Schwanns Zelltheorie Bichats Ansatz vervollständigt habe. Schwanns Mikroskopische Untersuchungen über die Übereinstimmung in der Struktur und dem Wachstum der Tiere und Pflanzen erschien 1838. Klein (1959, 10-22) und Stanguennec (1984) gehen auf Comtes Rezeption von Zelltheorien ein.
IX. Milieu und Organismus
und lebender Natur« ausging und einen »chimärischen Kampf (lutte chimérique) für den »essentiellen Charakter des Lebens« hielt: »La profonde irrationalité d’une telle conception consiste surtout en ce qu’elle supprime entièrement l’un des deux éléments inséparables dont l’harmonie constitue nécessairement l’idée générale de vie. Cette idée suppose, en effet, non-seulement celle d’un être organisé de manière à comporter l’état vital, mais aussi celle, non moins indispensable, d’un certain ensemble d’influences extérieures propres à son accomplissement. Une telle harmonie entre l’être vivant et le milieu correspondant caractérise évidemment la condition fondamentale de la vie. Si, comme le supposait Bichat, tout ce qui entoure les corps vivants tendait réellement à les détruire, leur existence serait, par cela même, radicalement inintelligible […]« 167
Gegen Bichats Antagonismus gerichtet, geht Comte davon aus, dass innerhalb »angemessener Grenzen der Variation« (limites de variation convenables) die Wirkung des Milieus »erhaltend« (conservatrice) ist.168 Analog zu Cuviers Theorie geologischer Revolutionen und der Auslöschung der Arten hat das Milieu für Comte erst nach »zu großen Perturbationen« (trop grandes perturbations) eine »zerstörerische« Wirkung und führt zum Verschwinden der entsprechenden »Organisationstypen«.169 Dabei spiegelt die Komplexität der Faktoren des Milieus, von denen die konkrete Existenz eines Organisationstyps abhängt, diejenige seiner inneren Ordnung. Ein höher entwickelter, in sich stark differenzierter Organismus ist zwar in ein dichtes Netz äußerer Faktoren eingebunden, doch ist seine innere Ordnung zugleich »mit ausgedehnteren Variationsgrenzen kompatibel« (compatible avec des limites de variation plus étendues), wenn es nur um Veränderungen einzelner Faktoren geht.170 Wie Cuvier 167 | Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 3, 288-289. 168 | Comte spricht oft von der »Kompatibilität« (compatibilité) zwischen Milieu und Organisationstyp. Vgl. Comte 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 644: »Tout corps inerte subsiste, quoique sous divers modes, dans la plupart des milieux réels, et même idéaux. Il faut, au contraire, à chaque être vivant un milieu convenable, qui ne saurait, à aucun égard, varier au delà d’étroites limites sans susciter l’incompatibilité.« 169 | Comte 1830-1842, Bd. 3, 289. 170 | Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 3, 291-292: »Le mode d’existence des corps vivants est […] nettement caractérisé par une dépendance extrêmement étroite des influences extérieures, soit pour la multiplicité des diverses actions dont il exige le concours déterminé, soit quant au degré spécial d’intensité de chacune d’elles. Il importe même de remarquer, afin de compléter cette observation philosophique, que, en général, cette dépendance augmente nécessairement, par la plus grande complication qu’éprouve le système des conditions d’existence à mesure que les fonctions se développent en se
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Organismen. Agenten zwischen Innen- und Außenwelten 1780-1860
in der vergleichenden Anatomie strebt Comte eine »natürliche Methode« (méthode naturelle) an, die auf der »Subordination der Charaktere« (subordination des caractères) und der »Übersetzung der inneren Charaktere in äußere Charaktere« (traduction des caractères intérieures en caractères extérieures) beruht.171 Grundlegender Bezugspunkt jeder natürlichen Methode muss für Comte das »unteilbare Ensemble (ensemble indivisible) der verschiedenen Existenzbedingungen« eines Organismus sein – wobei »Pathologien« (pathologies), wie in Broussais’ Ansatz, allein »Veränderungen« (altérations) anzeigen, zu denen er fähig ist.172 Zu diesem »unteilbaren Ensemble« gehören auch die »Tätigkeits«-»Modi« (modes), die organismische Existenzformen charakterisieren.173 Das »rationelle Tableau« (tableau rationnel), das aus dem Prinzip der Existenzbedingungen hervorgeht, wird in Comtes Ansatz zur Grundlage und Norm in einer »Biologie« der Tiere, die sich aus statischer »Biotomie«, dynamischer »Bionomie« und natürlicher »Biotaxonomie« zusammensetzt.174 Comte geht davon aus, dass Pflanzen die »einzigen organisierten Körper« sind, die in einem »unbeweglichen Milieu« (milieu inerte) »direkt« anorganische in organische Materie umwandeln können.175 Im Gegensatz zu Pflanzen diversifiant davantage […] si des fonctions plus variées multiplient inévitablement les relations extérieures, l’organisme, en s’élevant ainsi, réagit en même temps de plus en plus sur le système ambiant […] son existence exige un ensemble plus complexe de circonstances extérieures, mais […] elle est compatible avec des limites de variation plus étendues de chaque influence prise à part.« 171 | Comte 1830-1842, Bd. 3, 572. 172 | Comte 1830-1842, Bd. 3, 471. Vgl. Comte 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 651-652: »L’état pathologique était jusqu’alors rapporté à des lois toutes différentes de celles qui régissent l’état normal: en sorte que l’exploration de l’un ne pouvait rien décider pour l’autre. Broussais établit que les phénomènes de la maladie coïncident essentiellement avec ceux de la santé, dont ils ne diffèrent jamais que par l’intensité. Ce lumineux principe est devenu la base systématique de la pathologie, ainsi subordonnée à l’ensemble de la biologie.« Siehe hierzu auch McCormick 1976, 85-88; Canguilhem 1979a, 18-31; Henkelmann 1981, 78-79; Grange 1996, 209-211; und Braunstein 2009, 13-17. 173 | Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 3, 464; und Comte 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 661. 174 | Comte 1830-1842, Bd. 3, 471-476. 175 | Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 3, 368: »[…] c’est dans le grand acte de l’assimilation végétale que la matière brute passe réellement à l’état organisé; toutes les transformations ultérieures qu’elle peut éprouver de la part de l’organisme animal sont nécessairement bien moins tranchées. Ainsi, l’organisme végétal est réellement le plus propre à nous dévoiler les véritables lois élémentaires et générales de la nutrition […]«; und 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 594: »En effet, les
IX. Milieu und Organismus
besitzen Tiere sowohl »passive Funktionen« ( fonctions passives), die auf »Stimuli« (stimulans) des Milieus reagieren, als auch auf »Zugriffspunkte« (points d’appui) im Milieu ausgerichtete »aktive Funktionen« ( fonctions actives). Tiere können ihr Milieu rezipieren und in es intervenieren, auch wenn die »äußere Welt die notwendige Basis ihrer Existenz« ist.176 Wie in Bichats Theorie zweier Leben sind Tiere in Comtes Biologie für die Erhaltung ihrer inneren Organisation neben einem aktiv auf das Milieu ausgerichteten Funktionskomplex auf ein »vegetatives Leben« angewiesen, das die Ernährung und die Erneuerung »instabiler« organischer Strukturen durch »simultane Assimilation und Desassimilation« oder »Komposition und Dekomposition« ermöglicht.177 Diese »ernährende Existenz« (existence nutritive) und »beständige materielle Erneuerung« (continuelle rénovation matérielle) ist allen Organismen eigen und unterscheidet sie kategoriell »von unlebendigen Körpern, deren Zusammensetzung sich immerzu gleich bleibt«.178 Der »Harmonie« zwischen Assimilation und Desassimilation im Inneren entspricht, ähnlich wie bei Blainville, an der Organismus-Milieu-Schnittfläche eine »Harmonie« zwischen »Absorption« und »Exhalation«.179 Am äußersten Pol organischer Differenziertheit beschränkt sich das Leben eines Organismus darauf, durch Oberflächen zu absorbieren und zu exhalieren, während zwivégétaux sont les seuls êtres organisés qui vivent directemment aux dépens du milieu inerte. Tous les autres restent impuissants à vivier la matière inorganique, qu’ils ne peuvent s’approprier qu’après son élaboration végétale.« 176 | Comte 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 606. 177 | Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 3, 676: »Le résultat lé plus immédiat et le plus néces saire de l’ensemble des fonctions organiques, con siste dans l’état continu de composition et de décomppsition simultanéés qui caractérise finalement la vie végétative.«; und 1968-1971, Bd. 10 (Système de politique positive, Bd. 4), 219-220. Ein Organ ist umso »vegetativer« veranlagt, desto mehr es im Inneren des Organismus und desto weiter es von der Organismus-Milieu-Schnittfläche entfernt liegt. Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 3, 581: »Les organes vraiment intérieurs, privés de toute relation directe et continue avec le milieu ambiant, conserveront une importance capitale pour les phénomènes végétatifs, base primitive et uniforme de la vie générale: mais il seront, par leur nature, purement secondaires, quant à la définition essentielle des divers modes, ou plutôt des divers degrés, d’animalité.« 178 | Comte 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 586. 179 | Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 3, 296: »[…] une organisation disposée de manière à permettre cette continuelle rénovation intime, et d’un milieu susceptible à la fois de fournir à l’absorption et de provoquer à l’exhalation […] Telle est, à mes yeux, la première base élémentaire de la vraie philosophie biologique.« Comte spricht auch von einem »Konflikt« (conflit) zwischen Absorption und Exhalation. Vgl. Comte 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 586.
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schen den Oberflächen Flüssigkeiten oszillieren, die der Assimilation dienen oder Produkte der Desassimilation sind.180 Der konkrete Tod lebendiger Systeme tritt für Comte »kontingent« durch bestimmte Ereignisse ein, die dazu führen, dass Assimilations- und Desassimilations-Prozesse nicht mehr ausgeführt werden können. Comte verweist jedoch zugleich auf ein besonderes »biologisches Gesetz«181 des Alterns, nach dem während des Lebens eines Individuums exhalatorische gegenüber absorbierenden oder auf bauende gegenüber abbauenden Prozessen abnehmen, ohne dass diese Tendenz direkt an besondere Tätigkeiten des Agenten gebunden ist.182 Die Fähigkeit zur »organischen Vererbung« (hérédité organique) dient in Comtes Ansatz der zeitlich unbeschränkten Erhaltung der jeweiligen Organisationstypen jenseits des Todes der Exemplare einer »Art« (espèce), wobei begrenzte Variationen und die Weitergabe individuell erworbener »Gewohnheiten« (habitudes) oder »ausreichend tiefer Modifikationen« (modifications suffisamment profondes) möglich sind. Kein Organisationstyp entsteht für Comte spontan in einem bestimmten Milieu. Vielmehr setzt jeder Organismus seine eigene Existenzfähigkeit immer schon voraus und perpetuiert sich als individuierter Typ in einem Milieu, das seinerseits Teil einer »allgemeinen Harmonie« (harmonie générale) ist, die alle Milieus und »Tätigkeits«-Dispositive 180 | Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 3, 520-521: »A l’origine inférieure de la hiérarchie biologique, l’organisme vivant, placé dans un milieu invariable, se borne réellement à absorber et exhaler par ses deux surfaces, entre lesquelles circulent ou plutôt oscillent les fluides destinés à l’assimilation et ceux qui résultent de la désassimilation.« 181 | Kontinuierliche materielle Erneuerung, Tod als déclin und Reproduktion als »Vererbung« stellen für Comte die drei großen »biologischen Gesetze dar. Vgl. Comte 1852, 100: »La première loi de végétante, base nécessaire, de toutes les études vitales, sans excepter le cas Humain, consiste dans la rénovation matérielle à laquelle est constamment assujetti tout être vivant. À cette loi fondamentale succède celle du développe ment et du déclin, aboutissant à la mort, qui, sans offirir en elle-même la suite nécessaire de la vie, en devient partout le résultat constant. Enfin, ce pre mier système biologique se complète par la loi de la reproduction, où la conservation de l’espèce com pense la destruction de l’individu.« 182 | Vgl. Comte 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 588-589. Comte weist auch darauf hin, dass dem Menschen die Notwendigkeit des eigenen Todes nur durch »Vertrauen« (confiance) auf Andere oder durch »Analogie« bekannt ist, bis sich die Erfahrung des eigenen »Niedergangs« (déclin) einstellt. Vgl. ibid., 589: »[…] le véritable esprit positif ne tente point d’expliquer la mort comme conséquence nécessaire de la vie. Leur vraie connexité est tellement contingente […] Sous le régime normal, l’obligation de mourir ne sera plus souvent reconnue personnellement que par confiance ou par analogie, jusqu’à ce que le déclin se prononce assez pour la faire directement sentir.«
IX. Milieu und Organismus
von Organismen umfasst. Organisationstypen enthalten von Beginn an, als »Keim« (germe), die »primordialen Tendenzen« (tendances primordiales) oder »Instinkte« (instincts), aus denen alle zum Erhalt der organischen Existenz nötigen »Bedürfnisse« (besoins) eines Individuums hervorgehen, und zwar während einer »Entwicklung« (développement), die in »Phasen« einfachere Organisationszustände »primitiverer« Organisationstypen der série animale durchläuft.183 Jedes dieser Bedürfnisse ist biologisch fundiert und kann erst dann entstehen, wenn ihm eine entsprechende »Tendenz« vorausgeht. Ein Bedürfnis vorauszusetzen, auf das eine »Tendenz« folgt, hieße für Comte, Ursache und Wirkung zu vertauschen.184 Genau so, wie die innere Organisation das »gesamte Ensemble« innerer Umstände umfasst, die für das Leben eines Organismus notwendig sind, bezeichnet das Milieu das »gesamte Ensemble äußerer Umstände, von welcher Art auch immer, das für die Existenz eines bestimmten Organismus notwendig ist« (ensemble total des circonstances extérieures, d’un 183 | Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 3, 360-361: »[…] l’état primitif de l’organisme même le plus élevé doit nécessairement représenter, sous le point de vue anatomique ou physiologique, les caractères es sentiels de l’état complet propre à l’organisme le plus inférieur, et ainsi successivement; quoique on doive, d’ailleurs soigneusement éviter toute prétention, à la fois puérile et absurde, à retrouver minutieusement l’analogue exact de chaque terme principal relatif à la partie inférieure de la série organique dans la seule analyse, bien plus et tout autrement circonscrite, des diverses phases du développement de chaque organisme supérieur. II reste, néanmoins, in contestable qu’une telle analyse des âges offre, à l’anatomie et à la physiologie, la propriété essentielle de réaliser, dans un même individu, cette complication successive d’organes et de fonctions qui caractérise l’ensemble sommaire de la hiérarchie biologique, et dont le rapproche ment, devenu ainsi plus homogène et plus complet en même temps que moins étendu, constitue un ordre spécial de comparaisons lumineuses, qui ne pourrait être entièrement suppléé par aucun autre. Quoique utile à tous les degrés de l’é chelle organique, c’est, évidemment, dans l’es pèce humaine, et dans le sexe mâle, que cette analyse doit nécessairement acquérir la plus grande valeur, puisque l’intervalle entre l’origine et le maximum du développement est alors aussi prononcé qu’on puisse jamais le concevoir, tous les organismes ayant, à peu près, le même point de départ. Malheureusement, l’extrême difficulté d’explorer ici l’organisation et la vie intra-utérines, qui sont, néanmoins, sons ce point de vue, les plus importantes à analyser, entrave beaucoup encore la principale application de ce précieux moyen d’instruction.« Für Comtes »Entwicklungs«-Theorie als Rekapitulationsmodell der aufsteigenden »Stufen« in der série animale und im Kontext von Geoffroy Saint-Hilaires vergleichender Anatomie siehe Grange 1998, 207-208; und Guillo 2000a und 2003, 323-327. 184 | Vgl. Comte 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 588 und 592; 1852, 100-102; und 1830-1842, Bd. 3, 563-564.
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genre quelconque, nécessaires à l’existence de chaque organisme déterminé )185. Während Organisationstypen Grenzen der Variation vorgeben, schließen »organische Milieus« bestimmte Organisationstypen aus, die nicht darin existieren können.186 Eine biologische Wissenschaft der »verschiedenen grundlegenden Bedingungen der allgemeinen Existenz lebendiger Körper« (diverses conditions essentielles de l’existence générale des corps vivans) muss daher neben Organisationstypen auch immer eine »Theorie organischer Milieus«187 beinhalten, die sich auf physikalische und chemische oder »mechanische« und »molekulare« Abläufe bezieht.188 Milieu und Organisationstyp stehen sich in »reziproker Aktion« (action réciproque) gegenüber: »Sans doute, chaque organisme déterminé est en relation nécessaire avec un système également déterminé de circonstances extérieures […] Mais il n’en résulte nullement que la première de ces deux forces co-relatives ait dû être produite par la seconde, pas plus qu’elle n’a pu la produire: il s’agit seulement d’un équilibre mutuel entre deux puissances hétérogènes et in dépendantes.«189
In kosmologischer Perspektive entspricht der Dynamik der »reziproken Aktion« zwischen Organismus und Milieu das allgemeine, von Newton etablierte Gesetz des »Gleichgewichts« (équilibre) von Aktion und Reaktion.190 Träger der aus der Dynamik reziproker Aktionen resultierenden Prozessordnung sind, im Inneren des Organismus, Organe, ihre »Tätigkeiten« (actes) repräsentieren 185 | Comte 1830-1842, Bd. 3, 301. 186 | Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 3, 630: »Rien de plus manifeste, en effet, que cette irrésistible nécessité qui, dans l’ensemble de la hiérarchie organique, restreint le dévelop pement de la vie entre certaines limites détermi nées de l’échelle thermométrique extérieure, et qui resserre spécialement ces limites à l’égard de chaque famille et même de chaque race vivante; […]« Organismen können sich für Comte allerdings auch an ein verändertes Milieu anpassen, ohne die »Abstimmung« (consensus) ihrer inneren Organe zu verändern. Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 3, 325: »[…] la vie est bien moins compatible avec l’altération des organes qu’avec celle du système ambiant; et, de plus, le consensus des différens organes entre eux est tout autrement intime que leur harmonie avec le milieu.« 187 | Comte 1830-1842, Bd. 3, 618. 188 | Vgl. ibid., 618-621. 189 | Comte 1830-1842, Bd. 3, 363. Vgl. Comte 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 735: »Les deux termes généraux de ce dualisme [entre le monde et la vie] ne peuvent jamais rentrer l’un dans l’autre, puisque 1’organisme ne résulte point du milieu quoi qu’il le suppose.« 190 | Für Comtes Auslegung von Newtons Gesetz des »Gleichgewichts« zwischen Aktion und Reaktion siehe Comte 1830-1842, Bd. 1, 680-683.
IX. Milieu und Organismus
»Funktionen« ( fonctions). Das einem Organisationstyp eigene Funktions-Ensemble bezeichnet das »Ensemble der Resultate der reziproken Aktion, die kontinuierlich zwischen Organismus und Milieu ausgeführt wird« (ensemble des résultats de l’action réciproque continuellement exercée entre l’organisme et le milieu)191. Es beruht auf der »notwendigen Ko-Relation« (co-relation)« zwischen »angepasstem Organismus« (organisme approprié) und »passendem Milieu« (milieu convenable), wobei die Wirkung eines einzelnen Organismus auf das Milieu oft vernachlässigbar ist: »Nous avons reconnu, en effet, que l’idée de vie suppose constamment la co-relation nécessaire de deux élémens indispensables, un organisme approprié et un milieu convenable. C’est de l’action réciproque de ces deux élémens que résultent inévitablement tous les divers phénomènes vitaux, non-seulement ani maux, comme on le pense d’ordinaire, mais aussi organiques. Il s’ensuit aussitôt que le grand pro blème permanent de la biologie positive doit con sister à établir, pour tous les cas, d’après le moin dre nombre possible de lois invariables, une exacte harmonie scientifique entre ces deux inséparables puissances du conflit vital et l’acte même qui le constitue, préalablement analysé; en un mot, à lier constamment, d’une manière non-seulemenl générale, mais aussi spéciale, la double idée d’organe et de milieu avec l’idée de fonction. Au fond, cette seconde idée n’est pas moins double que la pre mière: car, d’après la loi universelle de l’équiva lence nécessaire entre la réaction et l’action, le système ambiant ne saurait modifier l’organisme sans que celui-ci n’exerce à son tour sur lui une influence correspondante.«192 191 | Comte 1830-1842, Bd. 3, 303. Vgl. Comte 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 643: »Pour mieux concevoir cet état systématique de la biologie, il y faut regarder chaque fonction comme le résultat spécial d’une relation déterminée entre le milieu et l’organisme.« 192 | Comte 1830-1842, Bd. 3, 301-302. Vgl. ibid., 302: »La notion de fonction ou d’acte doit comprendre, en réalité, les deux résultats du conflit, mais avec cette distinction essentielle que, la modification organique étant, par sa nature, la seule vraiment importante en biologie, on néglige le plus souvent la réaction sur le milieu, d’où est résultée habituellement l’acception moins étendue du mot fonction, affecté seulement aux actes organiques, indépendamment de leurs conséquences externes.«; und 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 646: »Quant à la réaction nécessaire que subit le milieu dans toute opération vitale, elle doit certainement figurer en biologie. Mais elle s’y trouve naturellement comprise dans la fonction ou acte, à titre d’élément essentiel de chaque résultat organique. C’est seulement ainsi qu’une telle réaction acquiert une véritable importance. Envers le milieu lui-même, elle reste presque toujours négligeable, sans excepter la plupart des cas d’action collective. Le plus grand de tous les êtres n’exerce qu’une faible influence inorganique, qui n’intéresse réellement que sa propre existence: pour peu qu’on s’élève dans l’atmosphère, tout le travail matériel de l’humanité devient insensible. Mais,
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Während Organismus und Milieu entlang der äußersten Haut direkt aufeinander wirken, kommt es im Organismus zu Ketten von »intermediären Operationen« (opérations intermédiaires), die zwischen Reiz und Reaktion oder »Wahrnehmen« (sentir) und »Bewegen« (mouvoir) vermitteln. Diese Vermittlung wird für Comte primär durch die »primordialen Tendenzen« von Instinkten und ihre Transformation in Bedürfnisse und Affekte geleitet. Primordiale Instinkt-Ökonomien stellen den Kern der dynamischen Selbsterhaltung des Organismus dar, von dem aus vegetative und tierische Funktionen alle anderen Tätigkeiten bestimmen – auch wenn der Mensch durch seine Reflexivität zur »Umkehrung dieser grundlegenden Ordnung« (inversion de cet ordre fondamental) fähig ist.193 Die Fähigkeit zur Umkehrung ist allerdings immer Teil der komplexen Transformation, die von der Wirkungsmacht der Instinkte bis zum Sozialen reicht.
3.2 Instinktökonomien und »soziale E xistenz« Die »grundlegenden Eigenschaften der Humanität« zeigen sich für Comte erst im »sozialen Zustand« (état social) einer sich bereits über lange Zeiträume entwickelten »Zivilisation«, die nach seinem Dreistadiengesetz Theologie und Metaphysik als dominierende Wissensformen durchläuft, um sich schließlich im Zeitalter positiver Wissenschaft zu vollenden.194 Die »Basis« (base) und der »Keim« (germe) der Eigenschaften, auf denen das Wissen der »Soziologie« aufbaut, finden sich jedoch nicht in einer Anthropologie, die den Menschen in einer spezifischen Ontologie fundiert, sondern in der »biologischen Wissenschaft«, die allgemein Ordnungsformen des Lebens in lebendigen Körpern erklärt.195 Der »Übergang« von der biologischen in die soziale Wissenschaft vollzieht sich in Comtes Ansatz am Leitfaden einer Instinktökonomie, die »erster unentbehrlicher Grund« (premier fondement indispensable) der organismischen Ordnungen ist, die von der Pflanze bis zum Menschen reichen. 196 Erst durch au point de vue biologique, la modificatoion quelconque du milieu par l’être est, au contraire, toujours notable, soit comme signe de l’acte vital, soit d’après sa réaction ultérieure sur l’organisme.« Siehe hierzu auch Grange 1996, 211-216. Für Comte (ibid., 570) gibt es noch keine differenzierte »rationelle Theorie« des Milieu-Einflusses auf Organismen: »En un mot, la théorie rationnelle de l’action nécessaire des divers milieux sur les divers organismes reste encore presque tout entière à former.« 193 | Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 3, 709. 194 | Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 3, 299. 195 | Comte verwendet den Ausdruck »Soziologie« (sociologie) erst ab 1839. Vorher bezieht er sich meist auf eine »soziale Physik« (physique sociale). Vgl. Gane 2006, 24. 196 | Comte 1830-1842, Bd. 3, 346.
IX. Milieu und Organismus
diesen »Grund« erhält die soziale Wissenschaft einen »rationellen Ausgangspunkt« (départ rationnel).197 Bestünde kein »Grund«, wäre der Mensch – und alle anderen Ordnungsformen organisierter Körper – nur eine transitorische Erscheinung, die sich je nach Milieu-Reizen durch die Schaffung neuer »Bedürfnisse« und »Affekte« unbestimmt wandeln ließe. Instinktökonomien sind an die statisch-anatomische und dynamisch-physiologische Ökonomie der Organismen gekoppelt. Ein Verdauungsapparat setzt einen »Ernährungsinstinkt« (instinct nutritif ) voraus, der Existenz-erhaltende Bedürfnisse in ihnen angemessene Tätigkeiten umsetzt Durch diese Korrelation zwischen Funktionskomplexen und Instinkten lassen sich Instinktökonomien in positives Wissen eingliedern. Instinkte bilden Regulationsdispositive. Sie leiten die »intermediären Prozesse«, die zwischen Reiz und Reaktion vermitteln und das Verhältnis zwischen »inneren Wahrnehmungen« (sensations intérieures) und der »Befriedigung vielfältiger essentieller Bedürfnisse« (satisfaction des divers besoins essentiels) bestimmen.198 Als Regulationsdispositive sind Instinkte auch der »Grund« der »Tätigkeiten«, die von der »inneren Wahrnehmung« und den »Affekten« bis zu sozialem Verhalten und reflexiven Prozessen reichen. Comtes Soziologie beruht auf den Differenzierungen primordialer Instinktökonomien in spezifisch organisierte »Tätigkeits«-»Sphären« (der Affektion, des Intellekts, des Sozialen). Diese »Sphären« stellen in der tierischen Ökonomie ein »unentbehrliches Zwischenglied (indispensable intermédiaire) zwischen der durch sinnliche Eindrücke vermittelten Wirkung der äußeren Welt auf das Tier und dessen Reaktion durch Muskelkontraktionen« dar.199 Comte situiert Instinktökonomien im Gehirn. Vor Gall konzentrierten sich Physiologen für ihn nur auf »Funktionen«, die »unmittelbar an die beiden elementaren Ordnungen äußerer Beziehungen (ordres élémentaires de relations extérieures) gebunden waren, nämlich die passiven zum Wahrnehmen (sentir) und die aktiven zum Bewegen (mouvoir)«.200 Die »intermediären Operationen« der Tiere wurden meist negiert und beim Menschen auf metaphysische »reine Entitäten« bezogen (etwa eine »Seele« und einen »Körper«).201 Erst Gall hat die beiden Ordnungen äußerer Beziehungen durch eine »grundlegende Dekomposition des Gehirns in mehrere intellektuelle und vor allem affektive Organe«
197 | Comte 1830-1842, Bd. 3, 299. 198 | Comte 1830-1842, Bd. 3, 740-741. 199 | Comte 1830-1842, Bd.3, 839. 200 | Für Galls Organologie und ihren Kontext siehe Hagner 1997. 201 | Comte 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 673-674. Comte (ibid.) erwähnt Leroy als einen frühen Kritiker dualistischer Leib-Seele-Modelle, in denen beide Sphären unmittelbar aufeinander wirken.
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differenziert.202 Von einem positiver Wissenschaft verpflichteten Gehirnorganologen fordert Comte jedoch, »das Gehirn niemals isoliert vom Ensemble des Organismus« zu betrachten.203 Er hält Gall vor, die mit anderen inneren Organen »korrespondierenden Funktionen« ( fonctions correspondantes) des Gehirns nicht genügend berücksichtigt zu haben.204 Neben einer Gehirntheorie, die »im Kern synthetisch« ist 205, folgt für Comte aus Galls Arbeiten eine neue Verortung des »Geist« (esprit)-Diskurses der »Metaphysiker«, der in vor-positivistischer Zeit im Rahmen der Transformation theologischer Annahmen dazu diente, eine »ideale Differenz« zwischen der »menschlichen und der tierischen Natur« zu etablieren.206 Comte geht davon aus, dass »Alltagserfahrungen« (expériences journalières) »auf unzweideutige Weise« zeigen, dass »Affektionen (affections), Neigungen (penchans) und Leidenschaften (passions) die Hauptbewegungseinheiten (principaux mobiles) des menschlichen Lebens« sind, die dynamisch-wechselwirkend individuelle Existenzweisen charakterisieren, ohne auf einen »Geist« oder die »Einheit eines Ichs« (unité du moi) ausgerichtet zu sein.207 Der »spontane und unabhängige Antrieb« (impulsion spontanée et indépendante) der »Hauptbewegungseinheiten«, die sich auch bei Tieren zeigen, ist »unabdingbar für ein erstes Erwecken (premier éveil) und die kontinuierliche Weiterentwicklung verschiedener intellektueller Fähigkeiten, denen sie ein permanentes Ziel (but permanent) zuweisen«.208 Ohne eine solche »Zuweisung« (assignement) würden die Fähigkeiten »in ihrer allgemeinen Ausrichtung notwendig vage« und bei vielen »dumpf-unaufgeweckt« bleiben.209 In höheren Tieren und Menschen leiten Affekte, Neigungen und Leidenschaften den »Übergang« (passsage) vom »fixierten Verstand« (raison fixée) primordialer Instinktökonomien zum »mobilen Instinkt« (instinct mobile) eines reflexiv gewordenen Verstandes ein, der zugleich, ohne kategoriale Differenz, 202 | Comte 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 670. 203 | Ibid., 673. 204 | Vgl. ibid., 638, 674 und 677. 205 | Ibid., 675. 206 | Comte 1830-1842, Bd. 3, 777-778. Siehe hierzu Guillo 2003, 328-329; und Braunstein 2009, 66-67. Eine ähnliche Kritik des Geist-Diskurses findet sich bei Broussais. Vgl. Broussais 1822, Bd. 1, 110-117. Für Überschneidungen zwischen Galls, Comtes und Broussais’ Positionen siehe Temkin 1947; McCormick 1976, 275301; und Braunstein 2009, 153-165. Macherey (1989, 52-57) verweist auch auf den Einfluss von Louis Gabriel Ambroise de Bonalds Recherches sur les premiers objets des connaissances morales, (1818) auf Comtes Kritik. 207 | Comte 1830-1842, Bd. 3, 777-778. 208 | Ibid., 778. 209 | Ibid.
IX. Milieu und Organismus
von eher auf Nahrungserwerb ausgerichteten Tätigkeitsfeldern »egoistischer Instinkte« (instincts égoistes) der Tiere zu denen »sozialer Instinkte« (instincts sociaux) und der »Humanität« des Menschen führt.210 Um den »Übergang« in seinem Ansatz zu verorten, kritisiert Comte zum einen Condillacs Sensualismus und die Ansätze der Ideologen (zu denen er auch Cabanis’ Anthropologie rechnet), die alle »Fähigkeiten« allein auf »transformierte Sensationen« zurückführen, ohne die spezifischen Differenzen der von Gall und Johann Caspar Spurzheim im Gehirn verorteten »primordialen Dispositionen« (dispositions primoridiales) oder der »Instinkte« zu berücksichtigen211; zum anderen bindet er mögliche Modifikationen der »Dispositionen«, mit Verweis auf Leroys Lettres philosophiques sur l’intelligence et la perfectibilité des animaux (1768), an »Praxen« und habitualisierte Tätigkeitsmuster, die sich aufgrund bestimmter Milieu-Organismus-Verhältnisse einstellen212 . Diese Modifikationen betreffen allerdings für Comte immer nur die »Fülle der Entwicklung der Fähigkeiten« (plénitude du développement des facultés), und nicht die Entstehung der den Fä210 | Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 3, 788; und Comte 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 16, 23 und 99. Comte (1830-1842, Bd. 3, 787-788) verweist in diesem Zusammenhang auf Blainville, bei dem sich eine ähnliche Gegenüberstellung von »fixierten« und »mobilen« Fähigkeiten, allerdings beschränkt auf den Menschen, findet. Vgl. Blainville 1822, Introduction, xliv-xlv: »Démontrer que l’espèce humaine se distingue nettement de toutes les autres, en ce qu’elle seule a reçu la faculté d’améliorer la succession des individus ou l’espèce, par une éducation et une instruction proportionnelles à l’avancement de la société, ce qui convertit un besoin physique en un devoir moral; montrer enfin que cette faculté instinctive, fixe, qui détermine les rapports innés nécessaires d’un animal avec les cir constances extérieures, est devenue chez l’homme seulement instinct mobile, c’est-à-dire raison ou génie, pour se proportionner à l’état de la société et à la difficulté des circonstances dans lesquelles il peut vivre, sont des considérations qui entrent aussi dans le but que nous nous sommes proposé, et dont elles feront ressortir l’importance.« 211 | Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 3, 788-790; und Temkin 1947, 297. 212 | Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 3, 787-788: »[…] G. Leroy a très judicieusement démontré que, chez les mammifères et les oiseaux, cette idéale fixité dans la construction des habitations, dans le système de chasse, dans le mode de migration etc., n’existait que pour les naturalistes de cabinet, ou pour les observateurs inattentifs. On doit nécessairement concevoir, mais alors sous un point de vue nécessairement commun à l’homme et aux animaux, que lorsque, par une suffisante uniformité de circonstances, une pratique quelconque, ayant acquis tout le développement que comporte l’organisme correspondant, a pu devenir assez profondément habituelle à l’individu, et même à la race, elle tend, par cela même, á se reproduire spontanément, sans aucune stimulation extérieure; sauf à se modifier ultérieurement, avec plus ou moins de facilité, si la situation vient à éprouver un changement inaccoutumé.«
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higkeiten zugrunde liegenden »Dispositionen« oder ihre Transformation in neue »Dispositionen«.213 Während Veränderungen des Ernährungssystems den »Übergang« von der »Vegetabilität« zur »Animalität« kennzeichnen, lässt sich der »Übergang« von der Animalität zur »Humanität oder Sozialität« (humanité ou socialité) an der Entwicklung der Funktionen des Gehirns erkennen.214 Tiere üben diese Funktionen meist nur für die »Erhaltung des Individuums« (conservation de l’individu) und »periodisch für die der Art« (celle de l’espèce) aus.215 Der »egoistische Charakter« der »tierischen Einheit« (unité animale) zeigt sich bei den »niederen Wesen« (êtres inférieurs) durch »Verteidigung und Angriff« zum Zwecke der Ernährung.216 Sie weitet sich als Tendenz zur »Domination der anderen« (domination sur toutes les autres) und zur Etablierung »exklusiver Herrschaftsbereiche« (empires exclusifs) auf jede »tierische Art« (espèce animale) sowie jede »menschliche Population« (population humaine) aus.217 Höhere Tiere beginnen erst dann, »für andere zu leben« (vivre pour autrui), wenn ihre »Bedürfnisse zur Arterhaltung« (besoins relatifs à la conservation de l’espèce) die der Erhaltung des Individuums aufheben.218 Doch bleibt die Befriedigung von Bedürfnissen für Comte bei allen »geselligen Tieren« (animaux sociables) immer auf die Gegenwart beschränkt, ohne Vergangenheit und Zukunft einzubeziehen.219 Erst die »menschliche Gesellschaft« zeichnet sich durch eine »kontinuierliche Kooperation aufeinanderfolgender Generationen« (coopération continue des générations successives) aus, die »erste Grundlage der Evolution unserer Art« ist.220 Menschliche »Kooperationen« charakterisieren alle »sozialen Zustände« (états sociaux), die, zuerst spontan und später systematisch, in spezifische »permanente Institutionen« (institutions permanentes) übergehen.221 213 | Vgl. Leroy 1802, 107; und Comte 1830-1842, Bd. 3, 788. 214 | Vgl. Comte 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 620. 215 | Ibid. Comte (ibid., 609) hebt auch die Fähigkeit zur »Sauberkeit« (proprété) hervor, welche die Vervollkommnung höherer Tiere kennzeichnet: »[…] les plus nobles animaux tendent, en effet, sous divers aspects, à perfectionner leur nature physique, surtout par la proprété.« 216 | Ibid., 612. 217 | Vgl. ibid., 616: »Chaque espèce animale tend, en effet, à l’empire exclusif de la terre, comme chaque population humaine à la domination sur toutes les autres.« 218 | Ibid., 611. 219 | Ibid., Dédicace, xxxiv. 220 | Vgl. ibid.; und ibid., 620. 221 | Ibid., Dédicace, xxxiv. Comte bezieht sich in diesem Zusammenhang oft auf den »Kult« der »Verehrung« der Toten und der Ahnen. Vgl. ibid., 634: »[…] aucune espèce ne comporte autant que la notre une tendresse collective, source directe de la vraie sociabilité. Il en est à peu près de même pour le sentiment intermédiare, ou
IX. Milieu und Organismus
Eine der wichtigsten »Institutionen«, die den Fortschritt der »Humanität« prägt, stellt in Comtes Ansatz die »Sprache« (langage) dar, und zwar vor allem die Herausbildung der »Institution der künstlichen Zeichen« (institution des signes artificiels) aus den »natürlichen Zeichen«.222 Sprache dient für Comte dem »Ausdruck« (expression) des Individuums und der »Kommunikation« (communication).223 Das Bedürfnis nach Kommunikation ist »biologisch« fundiert, differenziert sich jedoch »sozial«. Tiere kommunizieren; sie verfügen, je nach Organisationsgrad, über verschiedene natürliche und abstrakte Zeichensysteme sowie über »unwillkürliche« und »willkürliche Sprachen« (langages involontaires, volontaires).224 Dass sie ihre Sprachen nicht bis zum Niveau der Menschen vervollkommnen, liegt zum einen an ihrer physischen Konstitution und zum anderen an dem »grundlegend kollektiven Charakter«225 jeder Sprache, der eine »angemessene Gesellschaft« (société convenable)226 voraussetzt.227
la vénération proprement dite. Vico a dignement érigé le culte des morts en privilége essentiel de l’humanité.« 222 | Vgl. Comte 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 627. Im zweiten Band des Système de politique positive entwickelt Comte eine »positive Theorie der menschlichen Sprache«. Vgl. Comte 1968-1971, Bd. 8 (Système de politique positive, Bd. 2), 216-263. Zu Comtes Sprachtheorie siehe Rey 1971, 65-66; KremerMarietti 1983, 210-251; und Kremer-Marietti 1988. 223 | Vgl. Rey 1971, 55: »L ANGAGE , chez Comte, désigne tout système de signes apte à fonder une communication, ainsi que l’ensemble des fonctions exerçables par ces systèmes.« 224 | Vgl. Comte 1968-1971, Bd. 8 (Système de politique positive, Bd. 2), 223224: »Tous les vrais naturalistes, et surtout George Leroy, ont d’ailleurs reconnu que ce langage volontaire et perfectible se développe aussi chez les autres animaux supérieurs. Chaque espèce y institue, suivant son organisation et sa situation, sa langue naturelle, toujours intelligible essentiellement pour les races plus élevées, et même comprise aussi par les êtres moins éminents, quant aux degrés communs de vitalité. Un tel langage se perfectionne graduellement d’après l’essor successif des impulsions intérieures et des influences extérieures qui déterminèrent sa formation. Il ne paraît immobile chez les animaux que faute d’un examen assez approfondi. Toutefois, en tant que toujours subordonné à la socialité correspondante, il comporte nécessairement les mêmes limites naturelles, et subit aussi de semblables entraves artificielles.« 225 | Vgl. Comte 1968-1971, Bd. 8 (Système de politique positive, Bd. 2), 255. 226 | Vgl. Comte 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 627. 227 | Vgl. Comte 1968-1971, Bd. 8 (Système de politique positive, Bd. 2), 223: »Outre que ce langage volontaire est réllement le seul qui doive nous intéresser directement, il comporte seul un progrès décisif, à mesure que la société se complique et s’étend. Il ne semble particulier à l’humanité que d’après notre socialité supérieure.«
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Sprachen setzen sich für Comte aus »Zeichen« (signes) zusammen. Jedes Zeichen lässt sich theoretisch auf ein ursprüngliches Zeichen, ein signe proprement dit, zurückführen.228 Ein solches »natürliches Zeichen« bezieht sich auf eine »bestimmte gewohnheitsmäßige Verbindung« (certaine liaison habituelle) zwischen »Bewegung« (mouvement) und »Empfindung« (sentiment). Zeichen gehen also primär aus der Habituierung einer bestimmten Bewegungs-Empfindungs- oder Empfindungs-Bewegungs-Abfolge hervor. Auf einen bestimmten Milieu-Reiz folgt »gewohnheitsmäßig« eine der inneren Organisation gemäße Bewegungs-Reaktion, genau so wie »jede Bewegung objektiv eine korrespondierende Empfindung reproduziert«. Im Gehirn »repräsentiert« eine empfangene Empfindung »subjektiv« die sie hervorbringende Bewegung. Die Empfindung kann ihrerseits in abstrakte Zeichen überführt werden, die das Gehirn »nach Außen« in eine Bewegung »übersetzt«. 229 Da Zeichen in »unwillkürlichen Sprachen« immer direkt mit Tätigkeiten und den sie inspirierenden »Neigungen« (penchans) verbunden sind, nennt Comte diese Sprachen auch »Aktionssprachen« (langage d’action).230 Aktionssprachen werden nicht nur von allen »ähnlich organisierten« Individuen, sondern »durch die gemeinsame Basis der Organisation« (d’après le fond commun d’organisation), die allem Lebendigen eigen ist, auch von höheren Tieren verstanden. Der Übergang von einer »biologischen« in eine »soziologische Theorie der Sprache« bezeichnet für Comte die »allmähliche Dekomposition und Vereinfachung unwillkürlicher Zeichen« in »willkürliche Zeichen«.231 Dabei ordnet er den sich in höheren Tieren differenzierenden affektiven und reflexiven Funktionskomplexen verschiedene Sprachen zu – eine eher synthetische Bildsprache des Sehsinns und eine aus Tönen aufgebaute Sprache des Hörsinns –, die Ereignisse an der Milieu-Organismus-Schnittfläche Organ-spezifisch übersetzen.232 Der Entwicklung der menschlichen Sprache vom »mimischen« zum »oralen« und »schriftlichen Kommunikationsmodus«233 entspricht für Comte ihr »logisches Ziel« (destination logique)234, »Gedanken (pensées) zu reproduzieren 228 | »Wahre Zeichen« sind daher »niemals arbiträr«, und kein »Genie« könnte eine »reale Sprache konstruieren«. Vgl. ibid., 220-221. 229 | Vgl. Comte 1968-1971, Bd. 8 (Système de politique positive, Bd. 2), 220. Comte (ibid., 222) spricht auch von einer »konstanten Verbindung zwischen einem objektiven Einfluss (influence objective) und einem subjektiven Eindruck (impression subjective)«. 230 | Ibid., 222. 231 | Ibid., 223. Nach Comte (ibid., 255) waren auch für Hobbes »willkürliche Zeichen« nur eine »einfache Extension der unwillkürlichen Zeichen«. 232 | Vgl. ibid., 231. 233 | Vgl. ibid., 243. 234 | Vgl. ibid., 240.
IX. Milieu und Organismus
und zu multiplizieren«, um »unsere allgemeinen Mittel mentaler Kombination so weit wie möglich zu vervollständigen (compléter)«.235 Doch »binden« (lient) sich Zeichen »weniger intim und spontan« an Gedanken als Bilder und Empfindungen. Die logische Vervollkommnung der Sprache hängt daher für Comte neben der »Fixierung« leicht »veränderbarer« und »auslöschbarer« Resultate »spekulativer« Überlegungen236 davon ab, »abstrakte Begriffe«, Bilder und Empfindungen möglichst »geschickt« (hereusement) aufeinander zu beziehen237. Die kommunikative »Effizienz« interner mentaler Differenzierungen ist immer an ein organisches »Ensemble der Mittel des Ausdrucks« (ensemble des moyens d’expression) gebunden, und zwar vor allem an vokale Apparate. Beim Menschen steht es um die »Harmonie« zwischen (cerebraler) interner Differenziation und Ausdrucksmitteln besser als bei allen anderen Tieren, deren »vokale Imperfektion« ein Kommunizieren ihrer inneren Vorgänge durch eine »künstliche Sprache« (langage artificiel) verhindern kann.238 Jede positive Analyse der »mentalen Existenz« des Menschen sollte für Comte mit der Beobachtung der durch Ausdrucksmittel gelenkten Tätigkeiten beginnen. Ohne ein solches Material, dessen Grundlage Reiz-Reaktions-Schemen sind, kann es kein objektives Wissen über interne Differenzierungsprozesse geben. Der direkte Sprung von einer »inneren Beobachtung« (observation intérieure) zur epistemischen Konstitution eines »Ichs« (moi), den die »klassische Psychologie« beständig zu unternehmen versucht, ist für Comte unmöglich.239 Die »berühmte Theorie des Ichs« hält er für eine von einem »gänzlich fiktiven Zustand« (état purement fictif ) ausgehende Theorie »ohne
235 | Ibid., 240. 236 | Vgl. Vgl. Comte 1968-1971, Bd. 8 (Système de politique positive, Bd. 2), 249. 237 | Vgl. ibid., 241. 238 | Vgl. Comte 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 636-637. Comte (ibid., 636) erwähnt in diesem Zusammenhang Cervantes’ Coloquio de los perros (1613). 239 | Comte hält es bereits methodisch für »absurd«, »sich selbst beim räsonnieren zu beobachten«. Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 3, 36; und Comte 1968-1971, Bd. 10 (Système de politique positive, Bd. 4), 220: »En effet, l’homme peut observer ce qui lui est extérieur; il peut observer certaines fonctions de ses organes autres que l’organe pensant. Il peut même, jusqu’à un certain point, s’observer sous le rap port des diverses passions qu’il éprouve, parce que les organes céré braux dont elles dépendent sont distincts de l’organe observateur proprement dit, et encore cela suppose que l’état de passion soit bien peu prononcé. Mais il lui est évidemment impossible de s’obser ver dans ses propres actes intellectuels, car l’organe observé et l’or gane observant étant, dans ce cas, identiques, par qui serait faite l’observation?»
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wissenschaftliches Objekt«.240 Eine positive Wissenschaft über die Themen, die von Ich-Theorien tradiert wurden, kann nur von dem »allgemeinen Gleichgewicht (équilibre général) verschiedener tierischer Funktionen« ausgehen.241 Das Ich repräsentiert, in der Tiefe und an der Oberfläche des Organischen, einen Prozess, der auf Wechselwirkungen von Instinktökonomien mit Organismus-Milieu-Schnittflächen beruht. Zusammen mit der Metaphysik des Geistes verwirft Comte damit eine Ich-zentrierte »Psychologie« und fördert eine anatomisch, physiologisch und semiotisch ausgerichtete »Phrenologie«, die ihren Anfang in den Ausdrucksmitteln und Sprachen der Tiere nimmt.242 In jeder Fortschrittstheorie, deren Grund nicht mehr im Geist, sondern im Organismus, und deren Ziel nicht mehr im Theologischen, sondern im Humanen liegt, ist für Comte zu berücksichtigen, »dass die Neigungen, die am wenigsten nobel und am meisten tierisch sind, gewöhnlich die energetischsten (les plus énergetiques) und folglich die einflussreichsten sind«.243 Das »affektive Leben dominiert und koordiniert« die »ganze Existenz«.244 Der Mensch ist durch seine besondere Reflexivität zwar zur »Umkehrung dieser grundlegenden Ordnung« fähig, doch entwickelt er kein »intellektuelles oder moralisches Attribut«, das sich nicht auch »in schwächeren Graden bei allen höheren Tieren wiederfindet«245.246 Leroy hat für Comte klar gezeigt, »dass eine Menge Tiere bei ausreichender Stimulation deutlich bis drei zählen«247 und eine »perfektible Sprache« (langage perfectible) besitzen248. Des Weiteren verfügen Tiere über ein ganzes Spektrum »sympathischer«, »solidarischer«, »reproduktiver« und »erhaltender« Instinkte, die auf eine Gruppe von Individuen oder die »Art« im Ganzen bezogen sind. Am Ende des ersten Bandes des Système de politique positive ou Traité de sociologie (1851) fasst Comte in einem Tableau das Spektrum regulativer Prozesse
240 | Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 3, 782. Zum Verhältnis von Comte zu Descartes siehe Smithner 1968 und Buzon 1991. 241 | Comte 1830-1842, Bd. 3, 782. 242 | Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 3, 33-36 und 773-783. Für Comtes’ Verhältnis zur Psychologie siehe Lévy-Bruhl 1900, 219-243; Auguste 1908; McLaren 1981; Guillo 2003, 327-330; und Braunstein 2009, 136-138. 243 | Comte 1830-1842, Bd. 3, 788. 244 | Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 3, 709. 245 | Vgl. Comte 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 624. 246 | Durch seine Reflexivität entsteht im Menschen zugleich die »fatale Trennung« zwischen »Geist und Herz«. Vgl. Comte 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 611. 247 | Comte 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 626. 248 | Comte 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 223-224.
IX. Milieu und Organismus
in höheren Tieren und Menschen zusammen.249 Hierfür geht er von zehn »affektiven Motoren« (moteurs affectifs) aus, die als grundlegendes »Prinzip« aller Tätigkeiten durch »Impulsionen« sowohl zu aktiven »Neigungen« als auch zu passiven »Gefühlen« (sentiments) führen. Die »Motoren« unterteilt er in sieben »persönlich-egoistische« (ernährender, sexueller, materneller, destruktiv-militärischer und konstruktiv-industrieller Instinkt sowie Dominanz- und Anerkennungsbedürfnis) und drei »sozial-altruistische« Antriebe (Zuneigung, Verehrung, Güte).250 Die ersten fünf egoistischen Instinkte sind weiterhin in »Instinkte der Erhaltung« (instincts de la conservation) unterteilt, und zwar erstens in Instinkte des »Individuums« (ernährender Instinkt) und der »Art« (sexueller und materneller Instinkt), und zweitens in »Instinkte der Vervollkommnung« (instincts de perfectionnement) durch »Destruktion« (destruction) und »Konstruktion« (construction).251 Auf die zehn affektiven »Motoren« des allgemeinen Tätigkeitsprinzips folgen fünf »intellektuelle Funktionen« ( fonctions intellectuelles), die durch »Rat« (conseil) vermittelnd in die »Impulsions«-Dynamik eingreifen, indem sie zum einen synthetisch, analytisch, induktiv und deduktiv etwas erfassen 252 und zum anderen mimisch, oral und schriftlich »Ausdruck« (expression) und »Kommunikation« (communication) ermöglichen.253 Den letzten Bereich regulativer Prozesse bilden die drei »praktischen Qualitäten« (qualités pratiques) »Mut« (courage), »Vorsicht« (prudence) und »Beharrlichkeit« (perséverance). Sie resultieren aus dem Abgleich von Impulsion und Rat und bestimmen die spezifische Art der »Ausführung« (exécution) einer Tätigkeit.254 Um longue duréeTransformationen zu verdeutlichen, die in seinem Tableau klassische, seit der Antike andauernde Themen neu anordnen, versieht Comte alle drei Bereiche mit entsprechenden Titeln: affektive »Motoren« repräsentieren das »Herz« (cœur), intellektuelle Funktionen den »Geist« (esprit) und praktische Qualitäten den »Charakter« (caractère):
249 | Comte 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 726. Comte (ibid.) nennt das Tableau Classification positive des dix-huit fonctions intérieures du cerveau ou Tableau systématique de l’âme. 250 | Vgl. ibid.: instinct nutritif (1), instinct sexuel (2), instinct maternel (3), instinct militaire (4), instinct industriel (5), besoin de domination ou ambition temporelle (6), besoin d’approbation ou ambition spirituelle (7) sowie attachement (8), vénération (9) und bonté (10). 251 | Comte 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 726. 252 | Die Operation des Erfassens bezeichnet Comte (ibid.) allgemein als conception. 253 | Ibid.: conception synthétique (11), conception analytique (12), conception inductive (13), conception déductive (14), communication (15). 254 | Ibid.: courage (16), prudence (17), persévérance (18).
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Abbildung 2: Comtes Tableau der achtzehn inneren Funktionen des Gehirns.255
Innerhalb der scala naturae bestimmt und begrenzt Comtes Tableau das Spektrum möglicher Beziehungen zwischen Organismen und Milieus. Es ist zugleich Grundlage der »dynamischen« Entwicklungen und »zunehmenden Komplikationen« (complications croissantes), die bei höheren Tieren und Menschen aus dem Wechselspiel zwischen egoistischen und altruistischen affektiven »Motoren« hervorgehen und zu einer »sozialen Existenz« (existence sociale)256 führen, die ermöglicht, alle »Tätigkeits«-Bereiche des Tableaus miteinander in einen Prozess der Harmonisierung und Abstimmung einzubeziehen.257 Auf diese Weise werden die »sozialen Instinkte« und die »Soziologie« zum Ausgangs- und Endpunkt eines alle Organismen umfassenden »Fortschritts«. Ausgangspunkt der Entwicklung der Tiere zu einer alle Tiere umfassenden »Tierheit« und der Menschen zur »Humanität« sind die in allen Tieren und Menschen angelegten »Keime der Soziabilität« (germes de sociabilité)258.
255 | Comte 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 726. 256 | Comte 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 622. 257 | Zur Analogie zwischen organismischer »Entwicklung« und dem »Fortschritt« des Menschen siehe Guillo 2003, 324-327. 258 | Comte 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 611.
IX. Milieu und Organismus
Der Weg zum Sozialen ist schon in den Reiz-Reaktions-Schemen der Pflanzen und der niederen Tiere undifferenziert und quasi unkennbar-verdichtet angelegt, doch kann ihn allein der Mensch zu Ende gehen.259 Analog zur individuellen »Entwicklung« (développement) präformierter »Keime«, während der sich die aufsteigende série animale als »Komplikations«-und »Vervollkommnungs«Prozess (perfectionnement) einfacher »primordialer« Organisationsformen je nach dem Organisationsgrad des jeweiligen Organisationstyps wiederholt, steht am Ende des Weges der Menschen die vollkommene Organisationsform einer Gesellschaft, in der sich die »totale Entwicklung der menschlichen Intelligenz« (développement total de l’intelligence humaine)260 innerhalb des Tableaus vollzieht, das die Instinktökonomien aller Organisationstypen umfasst.261 Die drei gesellschaftlichen »Stadien«, die Menschen durchlaufen, resultieren aus der »unwiderstehbaren sozialen Tendenz der menschlichen Natur«.262 259 | Zur Verwirklichung dieser in die »Natur« des Menschen eingeschriebenen Tendenz und im Namen einer zu sich selbst findenden »Humanität« hält es Comte für angemessen, das Menschen Tiere und fortgeschrittenere (oder »zivilisiertere«) Nationen andere Nationen als Mittel verwenden. »Soziokratie« (sociocratie) und »Biokratie« (biocratie) oder »soziale Politik« (politique sociale) und »Tierpolitik« (politique animale) sind zwei Momente derselben Logik. Vgl. Comte 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 619. Im Plan des travaux scientifiques nécessaires pour réorganiser la société (1822) weist er die Aufgabe, die Humanität zu sich selbst zu führen, der »europäischen Zivilisation« und hier wiederum dem »okzidentalen Europa« zu. Vgl. Comte 1970, 82: »La vraie doctrine organique peut seule produire cette union, si impérieusement réclamée par l’état de la civilisation européenne. Elle doit forcément la déterminer en présentant, à tous les peuples de l’Europe occidentale, le système d’organisation sociale auquel ils sont tous actuellement appelés, et dont chacun d’eux jouira d’une manière complète à une époque plus ou moins rapprochée, suivant l’état spécial de ses lumières […] En considérant, sous ce point de vue, la nouvelle doctrine organique, il est clair que la force destinée à la former et à l’établir, devant satisfaire à la condition de déterminer la combinaison des différents peuples civilisés, doit être une force européenne.« 260 | Comte 1830-1842, Bd. 1, 3. 261 | Analog zu seinem Organismusmodell fokussiert Comte für die Darstellung spezifischer Gleichgewichtszustände in verschiedenen »Gesellschaftssystemen« auf statische Elemente und dynamische Prozesse. Vgl. Comte 1968-1971, Bd. 10 (Système de politique positive, Bd. 4), 229; und 1970, 50. Für den Zusammenhang von »Entwicklung« und »Vervollkommnung« in Systemtheorien organisierter Körper vor Comte siehe Cheung 2001 und 2005; und Guillo 2003, 324-325. 262 | Comte 1830-1842, Bd. 4, 539. Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 1, 3: »En étudiant ainsi le développement total de l’intelligence humaine dans ses diverses sphères d’activité, depuis son premier essor le plus simple jusqu’à nos jours, je crois avoir découvert une grande loi fondamentale, à laquelle il est assujéti par une nécessité invariable, et qui
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Durch die Einschreibung eines sozial ausgerichteten Gesamtinteresses, das alle cerebral lozierten Fähigkeiten auf bestmögliche Weise entwickelt und koordiniert, in die auf Organismus-Milieu-Verhältnisse ausgerichtete Instinktökonomie der Biologie des Menschen, gewinnt Comte nicht nur eine rationale Basis, die ihm ermöglicht, Rousseaus volonté générale, Condorcets tableau historique des progrès de l’esprit humain, Quetelets physique sociale und Saint-Simons physiologie sociale neu zu formulieren, sondern auch eine Perspektive, den Menschen über sein biologisches Fundament hinaus in eine »Humanität« zu führen, dessen soziales Wissen alle anderen Wissensformen reguliert, ohne sich theologisch oder metaphysisch zu legitimieren.263 Positives Wissen gipfelt in dem Wissen des Menschen um seine grundlegend »soziale Existenz«. Diese Existenz ist zum einen biologisch fundiert und zum anderen spezifisch sozial organisiert. Zwischen biologischer Fundierung und sozialer Organisationsdynamik besteht jedoch für Comte kein unmittelbares Ursache-Wirkungsverhältnis, sondern eher eine Art »Analogie«.264 Soziale Organisationen grenzen sich als Tätigkeits- und Wissensbereiche, deren verschiedene historische Phasen generationsübergreifend auf menschliche Gesellschaften einwirken, von den unveränderlichen primordialen Instinktökonomien eines Organismus ab. Gegen Cabanis, Saint-Simon und Quetelet gerichtet, käme es für Comte einer »bedauernswerten Konfusion der Doktrinen gleich, Soziologie direkt aus »pu-
me semble pouvoir être solidement établie, soit sur les preuves rationnelles fournies par la connaisance de notre organisation, soit sur les vérifications historiques résultant d’un examen attentif du passé. Cette loi consiste en ce que chacune de nos conceptions principales, chaque branche de nos connaissances, passe successivement par trois états théoriques différents: l’état théologique, ou fictif; l’état métaphysique, ou abstrait; l’état scientifique, ou positif.«; und ibid., Bd. 4, 386: »Cette préférence est, à mes yeux, d’autant plus motivée que, même sous l’aspect pratique, la qualification de développement a, par sa nature, le précieux avantage de déterminer directement en quoi con siste, de toute nécessité, le perfectionnement réel de l’humanité; car, il indique aussitôt le simple essor spontané, graduellement secondé par une culture convenable, des facultés fondamentales toujours préexistantes qui constituent l’ensemble de notre nature, sans aucune introduction quel conque de facultés nouvelles.« Siehe hierzu auch Greene 1969; und Guillo 2003, 323-325. 263 | Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 3, 299; und Comte 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 62. Kremer-Marietti (2003, 82) spricht in diesem Zusammenhang von Comtes »Biosoziologie« im Gegensatz zu einer »Soziobiologie«, in der die »Soziologie« der »Biologie« untergeordnet ist. 264 | Für Comtes »Analogie« zwischen »sozialen« und »biologischen« Erklärungsmustern siehe Fedi 2003.
IX. Milieu und Organismus
rer Biologie« abzuleiten.265 Comtes »sozialer Organismus« (organisme social)266 ist in diesem Sinne kein (biologischer) Organismus.267 . Nach Comtes Modellierung des »Übergangs« des Organismus-Milieu-Verhältnisses in »soziale« Existenzformen, die sich in »Gesellschaften« verwirklichen, und seiner Forderung nach einer »Wissenschaft der Milieus«, verlegt Bernard in seiner experimentellen Physiologie den Blick zurück in die innere Autonomie des Individuell-Lebendigen gegenüber den wechselnden und verschiedenartigen Einflüssen der Außenwelt.
4. B ERNARDS W IDERSTÄNDIGKEIT DES » INNEREN M ILIEUS « Während Comtes Positivismus, ähnlich wie Cabanis’ und Lamarcks Überlegungen zum Gebrauch des Lebens, auf die Konsequenzen der Übertragung des Milieu-Organismus-Verhältnisses in die Außenwelt hinein ausgerichtet ist, fokussiert Bernard in seiner experimentellen Physiologie, an Bichat anschließend, auf die »Widerständigkeit« der inneren Organisation individueller Organismen gegen die Einflusssphäre der Außenwelt, in der sie, angetrieben durch Reiz-Reaktions-Schemen, leben.268 Diese »Widerständigkeit« transformiert in Bernards Ansatz in die Dynamik einer Zwischenzone, die innerhalb des Organismus liegt und doch zwischen Außenwelt und Innenwelt vermittelt. Alle Erscheinungen lebendiger Körper unterliegen dieser »doppelten Be-
265 | Vgl. ibid.; und Comte 1968-1971, Bd. 7 (Système de politique positive, Bd. 1), 621-622. Für Comtes Abgrenzung von »Biologie« und »Soziologie« siehe Vgl. McCormick 1976, 247-275 266 | Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 4, 13. 267 | Vgl. Comte 1830-1842, Bd. 4, 483-483: »Le phénomène principal de la sociologie, celui qui établit avec plus haute évidence son originalité scientifique, c’est-à-dire l’influence graduelle et continue des générations humaines les unes sur les autres, se trouverait dès-lors essentiellement absorbé, ou du moins dissimilé au point d’être entièrement méconnu, en vertu d’impossibilité manifeste où serait ainsi notre intelligence de deviner les principales phases effectives d’une évolution aussi complexe, sans l’indispensable prépondérance directe de l’analyse historique proprement dite.«; und Canguilhem 1974. Für Comtes Kritik von Cabanis, Saint-Simon und Quetelet siehe Braunstein 2009, 88-96. 268 | Gley (1901, 169), Canguilhem (1979, 32-33) und Normandin (2007, 520-523) gehen auf den Einfluss von Comtes Ansatz auf Bernard ein. Für Bernards experimentelle Methode und seine vitalistischen Tendenzen siehe Roll-Hansen 1976; Coleman 1985; Gayon 1996 und 2006; Holmes 1997; und Normandin 2007.
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dingung« (double condition).269 Jedes lebende Wesen existiert »in einem Milieu, dessen Zentrum es ist und das es für die Erscheinungen des Lebens nutzt«270; für Bernard wäre es jedoch zugleich »nicht exakt, zu sagen«, dass Organismen »in einer äußeren Welt« leben271. Seit dem Ende der fünfziger Jahre nennt Bernard die Zwischenzone, in Differenz zum »äußeren Milieu« der Außenwelt, »inneres Milieu« (milieu intérieur).272 Bernards Modell des »inneren Milieus« nimmt Hufelands und Treviranus’ Schlüsselkonzepte organismischer Selbsttätigkeit und Gleichförmigkeit auf und verbindet sie mit der assimilatorischen Dynamik, die in Brandis, Richerands und Burdachs Ansätzen die Vielfalt organischer Bewegungen in ein einziges, wechselwirkendes und an Grenzflächen gebundenes Prozessgefüge überführte, das Leben konstituiert, indem es den dekompositorischen Effekt jeder Aktion durch reproduktiv-kompositorische Tätigkeiten kompensiert. Schelling bestimmte die formale Voraussetzung einer solchen dekompositorisch-kompositorischen Lebensaktivität als die Fähigkeit eines Organismus, sich selbst und damit etwas in ihm zu erhalten, indem er sich selbstreproduktiv zu einer doppelten Außenwelt verhält: eine in seinem Inneren und eine in der Welt, die ihn unmittelbar umgibt.273 Um die Dynamik des »inneren Milieus« zu erklären, untersucht Bernard unter dem Titel einer »allgemeinen Physiologie«, die, ähnlich wie in Broussais’ Doktrin, Medizin und Psychologie umfasst 274, auf die »grundlegenden 269 | Vgl. Bernard 1866, 6: »La manifestation des phénomènes de la vie est soumise aussi à cette double condition qui se trouve, d’une part dans l’être vivant, c’est-à-dire dans l’organisme manifestant le phénomène, et d’autre part dans le milieu où vit cet être organisé. Si l’on altère ou si l’on détruit organisme, sans modifier le milieu, la vie s’arrête aussitôt. Altérez ou supprimez le milieu, en laissant l’organisme intact, et la vie cessera également. Le phénomène vital n’est donc tout entier ni dans l’organisme seul, ni dans le milieu seul: c’est, en quelque sorte, un effet produit par le contact entre l’organisme vivant et le milieu qui l’entoure.«; 270 | Bernard 1854, 412. 271 | Vgl. Bernard 1876, 7. 272 | Bernard führt 1857 den Ausdruck »inneres Milieu« ein. Vgl. Grmek 1997, 132137. Zur Genese von Bernards Modell des »inneren« Milieus siehe Haldane 1929; Holmes 1963a, 1986 und 1991; Grmek 1967 und 1997, 121-179; Bange 1991; und Tsouyopoulos 2008, 236. Holmes (1986, 15) hebt besonders die Bedeutung der Wärmeregulationstheorien von Carl Bergmann und Justus Liebig für Bernards MilieuModell hervor. 273 | Tsouyopoulos (2008, 231-238) geht detailliert auf das Verhältnis von Schellings und Bernards Organismusmodell ein. 274 | Vgl. Bernard 1867b, 890: »La physiologie est destinée à servir de base à toutes les sciences qui veulent arriver à régir les phénomènes de la nature vivante […]«; ibid.,
IX. Milieu und Organismus
Bedingungen der Erscheinungen des Lebens«275, die vom Einzeller bis zum Menschen die Selbstreproduktions-Prozesse der »Assimilation« und der »Ernährung« betreffen. Die Träger dieser Prozesse erstrecken sich über alle organismischen Ordnungsebenen bis hin zu den kleinsten »histologischen Elementen«.276 Nach einer zunächst ablehnenden Haltung schließt sich Bernard 892: »Mais la physiologie ne saurait borner son rôle à expliquer les fonctions les plus grossières du corps humain; elle doit éclairer aussi les mécanismes de la psychologie, elle est appelée par conséquent à réagir directement sur les opinions philosophiques.«; und 1872, 9: »[…] Pour moi, j’admets franchement qu’il n’existe qu’une seule science en médecine, et que cette science est la physiologie, appliquée à l’état sain comme à l’état morbide.«; und ibid., Fußnote 1: »[…] la physiologie est le pivot scientifique sur lequel tournent toutes les sciences médicales.« Siehe hierzu auch Grmek 1997, 181-206. 275 | Vgl. Bernard 1866, 8-9: »La physiologie générale considère l’organisation des êtres vivants à un tout autre point de vue […] c’est la science qui a pour objet de déterminer les conditions élémentaires des phénomènes de la vie. Elle ne doit donc plus s’occuper de la variation des appareils organiques dont la structure, pour la même fonction, diffère beaucoup aux différents degrés de l’échelle des êtres. Son but, c’est de remonter à la condition élémentaire du phénomène vital, condition élémentaire du phénomène vital, condition qui est identique chez tous les animaux. Elle ne cherche pas à saisir les différences qui séparent les êtres, mais les points communs qui les réunissent et constituent l’essence des phénomènes vitaux. Pour la physiologie générale, tous les caractères anatomiques de classe, de genre, d’espèce, doivent disparaître: ce sont seulement des formes diverses de manifestations de la vie: mais chacune de ces formes ne constitue point une condition esssentielle de la vie, car tous les animaux et tous les végétaux, quelle que soit d’ailleurs celle de ces formes qu’ils présentent, vivent également, et réunissent tous, par conséquent, en dehors de ces caractères variables, l’ensemble des conditions élémentaires de la vie.«; 1872, 9; und ibid., 151. Henri Dutrochet weist auf ähnliche Weise die Physiologie als Wissenschaft einer allgemeinen Theorie des Lebens aus. Vgl. Dutrochet 1826, Avertissement, v; und 1828, 55. 276 | Bernard unterscheidet im Organismus zwischen »aktiven« und »passiven histologischen Elementen«. Vgl. Bernard 1867a, 115: »Au point de vue de l’organisation, on pourrait séparer les pro duits organisés ou les éléments histologiques constitutifs des diverses parties du corps vivant en deux groupes: les uns étant essentiellement actifs dans les manifestations vitales; les autres ayant, au contraire, à remplir des rôles passifs dans la construction orga nique et dans le jeu des divers mécanismes vitaux. Les éléments histologiques actifs, tels que les éléments musculaires, nerveux, glandulaires etc. ne sauraient fonctionner isolément et sans l’in tervention de certaines connexions organiques nécessaires. Ces éléments, pour constituer les organes ou les appareils locomoteurs et sécréteurs, ont besoin d’être reliés par une sorte de langue commune, le tissu cellulaire, et d’être combinés avec des tissus passifs, tels que les tissus fibreux,
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in seinen 1859 beginnenden Vorlesungen zur experimentellen Pathologie am Collège de France Virchows Zelltheorie an.277 Die Zelle, deren »vitale Autonomie«278 Virchow in seinem Aufsatz Cellular-Pathologie (1855) erwähnt, wird in Bernards Ansatz zum Ursprungs-Ort der Fusion assimilatorisch-ernährender Prozesse. Im Traité de chimie anatomique et physiologique normale et pathologique (1853) hatte Charles Robin die Organismus-Milieu-Schnittfläche bereits von einem flüssigen »Milieu des Inneren« (milieu de l’intérieur) unterschieden, das die »Bedingung der Tätigkeit« (condition d’action) der festen organischen Teile ist, die es umgibt.279 Wie Robin geht Bernard in seiner ersten Vorlesung für den neu eingerichteten Physiologie-Lehrstuhl an der Faculté des sciences de Paris 1854 davon aus, dass Organismen nur dann adäquat verstanden werden, wenn Physiologen die zwei ineinander verschränkten Gleichgewichte der »makrokosmischen« Milieu-Organismus-Schnittfläche und des »mikrokosmischen« inneren Milieus berücksichtigen. 280 Bernard unterscheidet entsprechend zwischen einem »äußeren oder extra-organischen Milieu« (milieu extérieur ou extra-organique) und einem »inneren oder intra-organischen Milieu« (milieu intérieur ou intra-organique).281 élastiques, cartilagineux, os seux etc. D’où il résulte que l’expression fonctionnelle d’un organe ou d’un appareil quelconque sera toujours la résultante des pro priétés manifestées par des éléments actifs et passifs réunis et associés.«; und 1877a, 87-88. 277 | Siehe hierzu Grmek 1997, 141-149 und 376-388; und Tsyouyopoulos 2008, 233-236. 278 | Vgl. Virchow 1855, 32. 279 | Vgl. Robin & Verdeil 1853, Bd. 1, 13-14: »Remarquez donc qu’il est impossible de concevoir un être organisé vivant sans un milieu dans lequel il puise et rejette; l’un est l’agent, l’autre fournit les conditions d’activité. L’agent a son tour se subdivise en divers ordres de parties aussi indispensables les unes que les autres: d’une part les solides qui agissent essentiellement; et de l’autre les humeurs qui les maintiennent en état d’agir; humeurs qui sont les conditions d’action, jouant par rapport aux solides le rôle que le milieu intérieur joue par rapport a l’organisme total, et enfin par lesquelles s’établit la liaison entre l’intérieur et l’extérieur, entre le milieu général et l’être organisé. Que le milieu général disparaisse ou s’altère, l’agent cesse d’agir; que s’altèrent les humeurs (ce milieu de l’intérieur), et tout cesse dans les solides, aussi bien que s’ils disparaissent eux-mêmes, aussi bien que s’ils étaient détruits.«; Holmes1986, 7; und Grmek 1997, 133-134. 280 | Der Titel der Vorlesung ist: Cours de physiologie générale. Sie wurde von Paul Lorain in Le moniteur des hôpitaux zusammengefasst und veröffentlicht. Siehe Bernard 1854; Holmes 1986, 8; und Grmek 1997, 126-127. 281 | Vgl. Bernard 1865b, 108-109; und ibid, 170: »[…] il y a en physiologie deux milieux à consi dérer: le milieu macrocosmique, général, et le milieu microcosmique,
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4.1 Selbstreproduktion, Assimilation und Ernährung In seiner Physiologie geht es Bernard, vom Infusorium bis zum Menschen, um die »Unabhängigkeit« (indépendance) eines »inneren Milieus«, das als »geschlossener Zirkel« (circle fermé)282 von »Tätigkeiten«, die innerhalb eines Körpers ablaufen, dem »äußeren Milieu« gegenübersteht und ihm, im Anschluss an Bichats Lebensbegriff, »widersteht« (résiste) – während es Cuvier für die Bestimmung der Existenzbedingungen organisierter Körper auf die Abhängigkeit der inneren Ordnungsform von der umgebenden Welt und die hieraus resultierende Harmonie zwischen beiden Welten ankam.283 Für Bernard konstruiert Cuvier die Ordnung des Lebendigen vom Toten aus, von der »mechanischen Disposition« einer »Kadaver-Anatomie« (anatomie cadavérique), deren Sinn nicht in der »intimen«, selbstreproduktiven Ordnung des Inneren, sondern in der Außenwelt liegt.284 In Abgrenzung zu dieser »Kadaver-Anatomie« particulier à l’être vivant; le dernier se trouve plus ou moins indépendant du premier suivant le degré de perfectionnement de l’organisme.« 282 | Vgl. Bernard 1865b, 152: »En effet, dans les organismes complexes, l’or ganisme de la vie forme bien un cercle fermé, mais un cercle qui a une tête et une queue, en ce sens que tous les phénomènes vitaux n’ont pas la même im portance quoiqu’ils se fassent suite dans l’accomplis sement du circulus vital. Ainsi les organes musculaires et nerveux entretiennent l’activité des organes qui pré parent le sang; mais le sang à son tour nourrit les or ganes qui le produisent.« 283 | Vgl. Bernard 1865b, 170-172; 1867a, 5; 1966, 28; und Bichat 1994, 57: »La vie est l’ensemble des fonctions qui résistent à la mort.« Neben Bichat bezieht sich Bernard (1966, 28) in diesem Zusammenhang auch auf Philippe-Jean Pelletan: »Tous les contemporains de Bichat ont partagé sa façon de voir et paraphrasé sa formule. Un chirurgien de l’École de Paris, Pelletan, enseigne que la vie est la résistance opposée par la matière organisée aux causes qui tendent sans cesse à la détruire.« Ähnlich wie Bichat weist Cuvier im ersten Band der Leçons d’anatomie comparée (1800) auf die Widerständigkeit dynamischer, lebendiger Systeme gegen zersetzende physikochemische Kräfte hin. Vgl. Cuvier 1800-1805, 2-3. Bernard (1966, 28-29) erwähnt die Passage in Cuviers Schriften: »Cuvier lui-même développe, dans un passage souvent cité, cette pensée que la vie est une force qui résiste aux lois qui régissent la matière brute: la mort est la défaite de ce principe de résistance, et le cadavre n’est autre chose que le corps vivant retombé sous l’empire des forces physiques.« 284 | Vgl. Bernard 1865b, 187-188: »L’anatomie cadavérique peut bien rendre compte des dispositions mécaniques de l’organisme ani mal; l’inspection du squelette montre bien un ensem ble de leviers dont on comprend l’action uniquement par leur arrangement. De même, pour le système de canaux ou de tubes qui conduisent les liquides; […] Mais quand nous arrivons aux éléments actifs ou vitaux qui mettent en jeu tous ces instruments passifs de l’organisation, alors l’anatomie cadavérique
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bezieht Bernard seine physiologischen Forschungen auf Prozesse des »inneren Milieus«: »La vie de l’organisme n’est qu’une résultante de toutes les actions intimes; elle peut se montrer plus ou moins vive et plus ou moins affaiblie et languissante, sans que rien dans le milieu extérieur puisse nous l’expliquer parce qu’elle est réglée par les conditions du milieu in térieur. C’est donc dans les propriétés physico-chimi ques du milieu intérieur que nous devons chercher les véritables bases de la physique et de la chimie animale.« 285
Die Eigenschaft, ein »inneres Milieu« etablieren zu können, stellt für Bernard kein Kriterium für eine kategorielle Differenz zwischen Organismen und solchen Maschinen dar, die in ihrem Inneren einen bestimmten Temperatur-, Druck- oder Feuchtigkeitswert aufrecht erhalten können.286 Vielmehr untern’ap prend rien et ne peut rien apprendre. Toutes nos con naissances à ce sujet nous arrivent nécessairement de l’expérience ou de l’observation sur le vivant; et quand alors l’anatomiste croit faire des déductions physiolo giques par l’anatomie seule et sans expérience, il oublie qu’il prend son point de départ dans cette même physiologie expérimentale qu’il a l’air de dédaigner. Lors qu’un anatomiste déduit, comme il le dit, les fonctions des organes de leur texture, il ne fait qu’appliquer des connaissances acquises sur le vivant pour interpréter ce qu’il voit sur le mort; mais l’anatomie ne lui ap prend rien en réalité; elle lui fournit seulement un caractère de tissu.«; 1865b, 192; 1867b, 876; und 1872, 7. Bernard hebt des Weiteren gegen Cuvier hervor, dass experimentell in das lebendige System organischer Körper interveniert werden kann, ohne das System lebensbedrohlich zu destabilisieren. Hierfür bezieht er sich unter anderem auf Reiz-Experimente an der Unterkieferdrüse lebender Hunde. Vgl. Bernard 1864b, 37. Zugleich weist Bernard aber auf die Fragilität und die »delikaten Bedingungen« des »inneren Milieus« hin, die sich nicht »künstlich« erzeugen lassen. Vgl. Bernard 1966, 360: »[…] cette condition de l’identité du milieu est bien restric tive. Il serait, dans l’état actuel de nos connaissances, impossible de réaliser artificiellement le milieu inté rieur dans lequel vit chaque cellule. Les conditions de ce milieu sont tellement délicates qu’elles nous échappent. Elles n’existent que dans la place naturelle que la réalisation du plan morphologique assigne à chaque élément. Les organismes élémentaires ne les rencontrent que dans leur place, à leur poste: si on les transporte ailleurs, si on les déplace, à plus forte raison si on les extrait de l’organisme, on modifie par cela même leur milieu, et, comme conséquence, on change leur vie ou bien même on la rend impossible.« Siehe hierzu auch Grmek 1997,175-177. 285 | Bernard 1865b, 170-172. 286 | Vgl. Bernard 1865b, 170: »Nous retombons ainsi dans la distinction que j’ai établie depuis longtemps et que je crois très-féconde, à savoir, qu’il y a en physiologie deux milieux à consi dérer […] D’ailleurs ce que nous voyons ici pour la machine vivante
IX. Milieu und Organismus
scheidet sich für ihn der Innen-Außenwelt-Bezug lebendiger Körper von dem unlebendiger Körper durch »Perfektions«- oder »Vollkommenheits« (perfection)-Grade der »Unabhängigkeit« (indépendance) eines »schützenden inneren Milieus« (milieu intérieur protecteur) gegenüber einem »äußeren Milieu«.287 Diese Unabhängigkeit ist umso größer, je höher ein Lebewesen in der »Stufenleiter der Organisation« (échelle de l’organisation)288 steht. In »warmblütigen Tieren« und Menschen erreicht die »Unabhängigkeit« einen so hohen Grad, dass sie nicht mehr primär durch ihren Bezug auf eine bestimmte äußere Welt, sondern »in« ihrem eigenen »organischen Milieu« leben: »Cette indépendance devient d’ailleurs d’autant plus grande que l’être est plus élevé dans l’échelle de l’organisation, c’est-à-dire qu’il possède un milieu intérieur plus complètement protecteur. Chez les végétaux et chez les animaux infé rieurs, ces conditions d’indépendance diminuent d’in tensité et créent des rapports plus directs entre l’orga nisme et le milieu ambiant. Dans les vertébrés à sang froid, nous voyons encore se conçoit facilement, puisqu’il en est de même pour les machines brutes que l’homme crée. Ainsi, les modifi cations climatériques n’ont aucune influence sur la marche d’une machine à vapeur, quoique tout le monde sache que dans l’intérieur de cette machine il y a des conditions précises de température, de pression et d’humidité qui règlent mathématiquement tous ses mouvements. Nous pourrions donc aussi, pour les machines brutes, distinguer un milieu macrocosmique et un milieu microcosmique. Dans tous les cas, la per fection de la machine consistera à être de plus en plus libre et indépendante, de façon à subir de moins en moins les influences du milieu extérieur. La machine humaine sera d’autant plus parfaite qu’elle se défendra mieux contre la pénétration des influences du milieu extérieur; quand l’organisme vieillit et qu’il s’affaiblit, il devient plus sensible aux influences extérieures du froid, du chaud, de l’humide, ainsi qu’à toutes les autres influences climatériques en général.« 287 | Vgl. Bernard 1859, 9-10. Bernard (1865b, 106) spricht auch von einem »Schutzsystem des inneren organischen Milieus« (système protecteur du milieu organique). In Leçons sur les phénomènes de la vie communs aux animaux et aux végétaux (1878) unterscheidet Bernard zwischen einem »latenten Leben« (vie latente) – etwa eines Samens –, das gegenüber dem äußeren Milieu »chemisch indifferent« ist und in keinem Austauschverhältnis steht, einem »oszillierenden Leben« (vie oscillante), dessen Wechselwirkung mit der Außenwelt sich phasenweise oder rhythmisch – wie beim Winterschlaf der Tiere – verändert, und einem »konstanten Leben« (vie constante) höherer Tiere, die relativ unabhängig von Veränderungen der Umgebung sind. Vgl. Bernard 1966, 67-124. Kein lebender Körper existiert jedoch in »chemischphysikalischer Indifferenz« zur Außenwelt. Vgl. Bernard 1865b, 166: »Le corps vivant, surtout chez les animaux élevés, ne tombe jamais en indifférence chimico-physique avec le milieu extérieur, il possède un mouvement incessant, […]« 288 | Vgl. Bernard 1859, 9-10.
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le milieu extérieur avoir une grande influence sur l’aspect des phénomènes; mais chez l’homme et les animaux à sang chaud, l’indépen dance du milieu extérieur et du milieu interne est telle, qu’on peut considérer ces êtres comme vivant dans un milieu organique propre. Nous n’avons pas encore pu pénétrer avec nos instruments dans ce milieu intérieur de l’être vivant, mais son influence est très grande.« 289
Die »Unabhängigkeit« lebender Körper hängt für Bernard vor allem von ihrer Fähigkeit ab, aufgenommene Stoffe auf eine Weise zu transformieren, zu speichern und zu disponieren, dass sie dem Selbsterhalt ihrer inneren Organisation dienen.290 Dieser Fähigkeit entsprechen die organischen Prozesse der »Assimilation« und der »Ernährung«. Durch sie reproduziert sich die organische Organisation als eine Lebens-erhaltende Ordnung, die aufgrund ihrer »instabilen Bestandteile« und dem »desorganisierenden« Einfluss äußerer Faktoren eine »Tendenz« aufweist, »zu verderben und sich zu verschmutzen« (tendance à se corrompre et à se vicier).291 Im Erhalt des »Reproduktions«-Zyklus von Komposition und Dekomposition – den Bernard auch als Zyklus der »Ernährung« (nutrition) und »Entnährung« (dénutrition) bezeichnet – liegt die »Ursache des Lebens« und die »Macht der Organisation, welche die lebende Maschine schafft und ihre beständigen Verluste ersetzt«.292 Die »Macht der Organisation« zeigt sich zum einen in der »kontinuierlichen Mutation der Teile (mutation des particules), die das lebendige Wesen zusammensetzen«293, und zum anderen in der »Reproduktions«-Prozesse ein289 | Bernard 1859, 9-10. Siehe hierzu auch Grmek 1997, 105-120. 290 | Vgl. Bernard 1966, 122. 291 | Vgl. Bernard 1854, 450: »[…] un tissu se nourrit incessament aux dépens des substances qu’il puise dans son milieu, en même temps il se dénourrit, il perd de sa substance dans son fonctionnement incessant. Nutrition entraîne dénutrition: ces deux choses sont en rapport direct l’une avec l’autre.«; und 1867a, 48: »Le milieu intérieur, ayant de la tendance à se corrompre et à se vicier, a besoin de se renouveler et d’être constamment mis en mouvement. Il faut, en un mot, qu’il soit toujours en circu lation.« 292 | Vgl. Bernard 1867a, 133: »Les corps vivants sont des composés instables qui se désorga nisent sans cesse sous les influences cosmiques qui les entourent; ils ne vivent qu’à cette condition, et la mort arrive par l’usure et la destruction de la substance organisée. Pour que la vie continue, il faut donc que la matière vivante qui forme les éléments histologiques se renouvelle constamment à mesure qu’elle se décom pose. De sorte que l’on peut regarder la cause de la vie comme résidant véritablement dans la puissance d’organisation qui crée la machine vivante et répare ses pertes incessantes.«; 1867b, 885; und 1877a, 360: »Nous admettons dans l’être organisé deux ordres de phénomènes, les uns d’organisation ou d’assimilation, les autres de désorganisation ou de désassimilation.« 293 | Vgl. Bernard 1966, 35.
IX. Milieu und Organismus
leitenden, »kontinuierlichen Kommunikation (perpétuelle communication)«294 zwischen organischen Teilen und ihren äußeren Milieus. Das »organische Bauwerk« (édifice organique) eines individuellen Organismus ist in »andauernder ernährender Bewegung (perpétuel mouvement nutritif ), die »keinem Teil Ruhe lässt«.295 Jedes Teil ernährt sich, ohne Unterbrechung, »in dem Milieu, das es umgibt und in das es seine Abfälle (déchets) und seine Produkte (produits) wieder entlässt«.296 Diese »molekulare Erneuerung« (rénovation moléculaire) ist »für den Blick ungreif bar« (insaissable pour le regard), doch lassen sich Anfangs- und Endzustände sowie Zwischenphasen beobachten.297 Die Gesamtheit der ernährenden Bewegungen vermittelt für Bernard den Eindruck eines »Materiestroms, der ununterbrochen den Organismus durchquert und seine Substanz erneuert (un courant de matière qui traverse incessamment l’organisme et le renouvelle dans sa substance)«.298 »Leben« heißt »Sich-ernähren«, und Ernährung ist die »beständige Kreation organisierter Materie« (création continuée de la matière organisée). Den Prozess der »Kreation« situiert Bernard, ähnlich wie John Goodsir299, im »Kern« (noyau) der »Zellen«: »La faculté de nutrition appartient à toutes les parties vivantes sans exception: vivre et se nourrir sont deux expressions synonymes. La nutrition exige deux ordres de conditions distinctes. Il faut un milieu préparé convenablement et de telle manière qu’il renferme toutes les matières alimentaires et toutes les conditions indispensa bles à la réparation ou à la régénération des éléments histologiques. […] Mais il faut de plus que l’élément organique possède la viabilité, c’est-à-dire l’aptitude à se nourrir, qui n’est autre chose que l’aptitude à la reproduction. […] on ne saurait regarder la nutrition comme une simple assimilation alimentaire chimique et directe, mais au contraire comme une création continuée de la matière organisée au moyen des procédés histogéniques propres à l’être vivant.« 300 294 | Vgl. ibid., 387. 295 | Vgl. Bernard 1966, 35. 296 | Vgl. Bernard 1966, 35. Bernard spricht auch von »ernährenden inneren Milieus« (milieux intérieurs nutritifs). Vgl. Bernard 1867b, 889. 297 | Vgl. Bernard 1966, 35. 298 | Vgl. Bernard 1966, 35. 299 | Goodsir geht von zellulären »Ernährungszentren« (centres of nutrition) aus. Vgl. Goodsir 1868, Bd. 2, 389-392. 300 | Bernard 1867a, 92. Bernard (1867a, 99.) unterscheidet in »Zellen« eine »umgebende Haut« (enveloppe), einen »Inhalt« (contenu) und einen »Kern« (noyau), der selbst einen »kleinen Kern« (nucléole) enthält. Vgl. Bernard 1867a, 99: »La nutrition paraît, au premier abord, impossible à localiser, puisqu’elle est un attribut commun à tous les éléments histolo giques sans exception. Cependant il est permis de la rattacher à la propriété spéciale d’une partie organique élémentaire, qui lui sert en quelque sorte
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Bernards Bestimmung der »Macht des Lebens« als »histogener Prozess« der Ernährung wird durch ein breites Umfeld physiologischer Studien gestützt.301 Richerands Fokus auf die Lebens-konstituierende Bedeutung »ernährender Identifikation« setzt sich nicht nur in Blainvilles, sondern auch in François Magendies Physiologie fort. Im Précis élémentaire de Physiologie (1833) koppelt Magendie, mit dem Bernard lange Zeit zusammenarbeitete, den Ernährungsprozess eng an die »vitale Tätigkeit« (action vitale) der Komposition und Dekomposition im Inneren des Organismus: »La vie de l’homme et celle des autres corps organisés est fondée sur ce qu’ils s’assimilent habituellement une certaine quantité de matière qu’on nomme aliment. La privation de cette matière pendant un temps limité entraîne nécessairement la cessation de la vie. D’un autre côté, l’observation journalière apprend que le corps de l’homme, de même que celui de tous les êtres vivants, perd chaque instant une certaine quantité de la matière qui le compose; c’est même sur la nécessité de réparer ces pertes habituelles que repose le besoin des aliments.« 302 de centre ou d’élément directeur: c’est le noyau de la cellule organique primitive.«; 1966, 151-152: »L’étude des êtres inférieurs est surtout utile à la physio logie générale, parce que chez eux la vie existe à l’état de nudité, pour ainsi dire. Elle est réduite à la nutri tion: destruction et création vitale […] C’est en définitive dans l’intimité des phénomènes de la nutrition que se manifeste surtout la loi de l’unité vitale chez les animaux et chez les végétaux.«; und ibid., 198: »Le noyau est un appareil de synthèse organique, l’in strument de la production, le germe de la cellule.« 301 | Siehe hierzu auch Tsouyopoulos 2008, 233. Zur Rolle der Assimilation und der Ernährung in den sich etablierenden Lebenswissenschaften des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts siehe Hall 1969, Bd. 2, 149-170; McCollum 1957; Holmes 1975; und Rheinberger 1986. 302 | Magendie 1833, 34-36. Vgl. ibid., 37: »Tous les phénomènes de la vie peuvent donc se rattacher, en dernière analyse, à la nutrition et à l’action vitale […]« Von einer ähnlichen Unterscheidung zwischen lebendigen und unlebendigen Körpern geht auch Henri Milne-Edwards in den Éléments de zoologie (1834) aus. Vgl. Milne-Edwards 1834, 3: »Tous les êtres vivans et eux seulement, ont la faculté de durer pendant un temps et sous une forme déterminés, en attirant sans cesse dans leur composition, en s’appropriant une partie des substances environnantes, et en rendant au monde extérieur des portions de leur propre substance; en d’autres mots, ces êtres ont LA FACULTÉ DE SE NOURIR, et lorsque l’espèce de tourbillon qui détermine le renouvellement des matériaux dont leur corps est composé s’arrête sans retour, ce corps meurt, et ne tarde pas à se détruire complètement: or, ce mouventent a toujours une durée limitée et la MORT est partout une suite nécessaire de la vie. […] Le mouvement continuel de composition et de décomposition qui constitue le travail nutritif dont les êtres vivans sont le siège, échappe lui-même à nos sens; mais l’existence nous en est révélée par
IX. Milieu und Organismus
Thomas Thomson, Justus Liebig und Jules Béclard ergänzen Magendies Position, indem sie, ähnlich wie Hufeland und Burdach, Assimilations- und Ernährungsprozesse eng mit den Eigenschaften des »Blutes« verbinden. In A System of Chemistry (1802), einem Handbuch, das bis 1832 in sechs Auflagen erscheint, stellt Thomson die »Assimilation« als den grundlegenden lebenserhaltenden »Prozess« (process) dar, »durch den die verschiedenen Bestandteile des Blutes zu Teilen der verschiedenen Organe des Körpers werden«.303 In Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Physiologie und Pathologie (1842) erklärt Liebig organische Ordnungen durch einen »fortdauernden, mehr oder minder beschleunigten Stoffwechsel«, der »in jedem Momente des Lebens« stattfindet und von einer an sich nicht erkennbaren »Lebenskraft« generiert wird.304 Wie Thomson weist Liebig auf die zentrale Rolle des Blutes hin, das zur Bildung organischer Teile notwendig ist und durch das jedes Teil ernährt wird: »Alle Theile des Thierkörpers bilden sich aus einer eigenthümlichen, in seinem Organismus circulirenden Flüssigkeit, in Folge einer, jeder Zelle, jedem Organe oder Theile eines Organs inwohnenden Thätigkeit. Die Physiologie lehrt, daß alle Bestandtheile des Körpers ursprünglich Blut waren, oder daß sie wenigstens den entstehenden Organen durch diese Flüssigkeit zugeführt worden sind.« 305
Innerhalb dieses physiologischen Diskurses über die »Macht des Lebens« folgt Bernard der experimentellen Ausrichtung von Eugène Chevreul, für den »die Transformationen (transformations), die organisierte Körper an der Materie der Nahrungsstoffe vornehmen, die sie von außen aufnehmen, um sie des faits nombreux et faciles à constater.« Siehe hierzu auch Burdach 1826-1840, Bd. 4, 7-8: »Das Leben äußert sich als individuelle Selbsterhaltung durch steten Wechsel der Materie; der Organismus empfängt Stoffe von der Außenwelt und setzt welche an sie ab; eben so empfängt jeder Theil das Material seiner Substanzbildung von andern und giebt wiederum das Verbrauchte zurück.« 303 | Vgl. Thomson 1832, 515: »The process by which the different ingredients of the blood are made part of the various organs of the body is called ASSIMILATION. Over the nature of assimilation the thickest darkness still hangs; there is no key to explain it, nothing to lead us to the knowledge of the instruments employed. Facts, however, have been accumulated in sufficient numbers to put the existence of the process beyond reach of doubt.«; und ibid., 518-519. 304 | Vgl. Liebig 1842, 8-9: »Die gewöhnlichen Erfahrungen geben ferner zu erkennen, daß in jedem Momente des Lebens in dem Thierorganismus ein fortdauernder, mehr oder minder beschleunigter Stoffwechsel vor sich geht, daß ein Theil der Gebilde sich zu formlosen Stoffen umsetzt, daß sie ihren Zustand des Lebens verlieren und wieder erneuert werden müssen.« 305 | Ibid., 8.
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sich zu assimilieren«, Objekt der »physikalisch-chemischen Wissenschaften« sind.306 Bernard kritisiert aber zugleich eine auf »rein statische Resultate« ausgerichtete Chemie, die allein erklärt, »was in einem Haus passiert, indem sie das beobachtet, was durch die Tür hereinkommt und was durch den Schornstein entweicht«. Ein Chemiker kann zwar für Bernard beide »extreme Enden der Ernährung« exakt bestimmen, doch wenn er anschließend das »Dazwischenliegende« (intermédiaire) interpretieren möchte, steht er vor einem »Unbekannten«, dessen Realität vor allem von der »Einbildung« abhängt. Bernard fokussiert daher auf »experimentelle Untersuchungen im inneren Milieu des Organismus« (expérimentation dans le milieu intérieur de l’organisme).307
4.2 Das »innere Milieu« Nach langjährigen Forschungen zur Wärmeregulierung und zur Ernährung der Tiere in den vierziger und fünfziger Jahren kommt Bernard in seiner Introduction à l’étude de la médecine expérimentale (1865) zu dem Schluss, dass »im organischen Milieu eine unendliche Anzahl physiko-chemischer Erscheinungen stattfinden, die ihrerseits zu vielen anderen Produkten führen, die wir noch nicht kennen und von denen die Chemiker in ihren statischen Gleichungen keine Kenntnis nehmen«.308 Als »Produzenten« ihrer eigenen Wärme sind Tiere für Bernard keinesfalls, wie die meisten Physiologen seiner Zeit (unter ihnen Liebig und Jean-Baptiste Dumas309) annehmen, von pflanzlich auf be306 | Vgl. Chevreul 1837, 673: »Je crois avoir démontré que c’est principalement à la chimie qu’il appartient d’expliquer les transformations que les êtres organisés font éprouver à la matière des aliments qu’ils puisent au dehors pour se l’assimiler, et que beaucoup de phénomènes naissant de ces transformations peuvent être rapportés aux sciences physico-chimiques.« Zum Verhältnis von Chevreul und Bernard siehe Schiller 1967, 129-138; und Gayon 2006. Im Cours de physiologie générale (1854) lehnt Bernard Bichats Dualismus »physiko-chemischer« und »vitaler Kräfe« strikt ab. Vgl. Bernard 1854, 449; 1865b, 202-203; und 1966, 66. 307 | Bernard 1865, 228. Vgl. Olmsted & Olmsted 1952, 68. 308 | Bernard 1865, 228. Vgl. ibid., 286-287. 309 | Vgl. Liebig 18, 2 und 50; und Dumas 1842, 6-7: »Nous avons reconnu, en effet, par des résultats de toute évidence, que les animaux ne créent pas de véritables matières organiques, mais qu’ils les détruisent; que les plantes, au contraire, créent habituellement ces mêmes matières, et qu’elles n’en détruisent que peu et pour des conditions particulières et déterminées. Ainsi, c’est dans le régne végétal que réside le grand laboratoire de la vie organique; c’est là que les matières végétales et animales se forment, et elles s’y forment aux dépens de l’aire; Des végétaux, ces matières passent toutes formées dans les animaux herbivores, qui en détruisent une partie et qui accumulent le reste dans leurs tissus; Des animaux herbivores, elles passent
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reitetem Zucker abhängig, sondern stellen in ihrer Leber selbst den Zucker her, der durch das »Blut« in den Verbrennungsprozess ihres »inneren Herds« ( foyer intérieur) eingespeist wird.310 Zugleich geht Bernard von einem regulativen Mechanismus aus, durch den die Leber wie ein Speicher bei niedrigem Zuckergehalt im »Blut« eine in ihr enthaltene »glykogene Materie« in Zucker umwandelt und im umgekehrten Fall aus dem überschüssigen Blutzucker wieder »glykogene Materie« herstellt. In Leçons de physiologie experimentale appliquée à la médecine (1855-1856) hatte Bernard noch behauptet, dass die Leber immer die gleiche Menge an Zucker produziert, ohne selbst über eine regulative »Intelligenz« zu verfügen.311 Erst toutes formées dans les animaux carnivoires, qui en détruisent ou en conservent selon leurs besoins; Enfin, pendant la vie de ces animaux ou après leur mort, ces matières organiques, à mesure qu’elles se détruisent, retournent à l’atmosphère d’où elles proviennent.« 310 | Vgl. Bernard 1855b; und 1865b, 228; 1876, 10: »Les êtres vivants ont la faculté de produire de la chaleur. Ils ne sont pas entièrement abandonnés aux influences du dehors, comme les minéraux, dans la température suit les alternatives de la température extérieure. Par cela seul qu’ils vivent ils possèdent en eux une source de calorique qui leur permet de réagir sur le milieu ambiant et de lui résister. La chaleur animale se manifeste précisément par cette action réciproque, par ce conflit entre le foyer intérieur et la température extérieure.«; 1877a, 307: »En résumé, la formation du sucre dans le foie s’accomplit en deux actes: un acte que nous appellerons pour le moment vital, c’est-à-dire subordonné à l’influence de la vie, parce que nous ne pouvons pas encore le réaliser en dehors de l’organisme, c’est la production, la sécrétion de la matière glycogène dans le foie; un acte chimique qui correspond à ce que nous avons vu se passer dans le foie lavé, qui s’accomplit cependant dans l’organisme vivant, aussi bien qu’en dehors de lui après la mort. En d’autres termes: L’act chimique, c’est la transformation du glycogène en sucre. L’acte vital, c’est la production du glycogène au sein du tissu vivant.«; und Lesch 1984, 198: »The first twelve years of Bernard’s scientific career were the most productive of important and original work in experimental physiology. The glycogenic function of the liver, the role of pancreas in the digestion of fats, and the existence of the vasomotor nerves are all discoveries whose essentials date from the period 1841-1853. The beginnings of Bernard’s studies of the action of poisons and their use in physiological analysis also date from those years.« 311 | Vgl. Bernard 1855-1856, Bd. 1, 155-156: »Quelle que soit la nature de l’alimentation, le foie fabrique toujours la même quantité de sucre, et c’est ce sure seulement qui apparaît dans le sang sortant par les veines hépatiques. […] Les organes de nutrition, sans conscience de leur rôle, exécutent leurs fonctions propres, quand ils en ont les éléments nécessaires, et qu’ils y sont sollicités par une cause excitante; mais on ne saurait placer là aucune intelligence spéciale à l’organe. Ce n’est point parce qu’il reonnaît les aliments que l’estomac sécrète le suc gastrique; c’est en raison
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seine vivisektorischen Rückenmarksversuche zum »großen sympathischen Nerv« im Nackenbereich von Hasen, durch die er auf die wärmeregulatorische Rolle antagonistisch wirkender Nervenpaare aufmerksam wurde, brachte ihn auf die Spur, derartige Mechanismen auch auf andere Prozessschemen in Organismen zu übertragen – und dadurch Treviranus’ Modell innerer Gleichförmigkeit neu zu formulieren.312 Das »Blut« wird in Bernards Physiologie zu dem vermittelnden Moment, durch welches das »Gleichgewicht« kompositorischer und dekompositorischer Prozesse aufrechterhalten wird und eine spezifische Differenz zwischen innerer Organisation und Außenwelt entsteht. Denn das Medium »Blut« repräsentiert einen Kommunikationsraum des Austausches für Transformations-, Assimilations-, Produktions- und Exkretionsprozesse: »[…] le sang est donc un véritable milieu dans lequel tous les tissus rejettent leurs produits de décomposition, et dans lequel ils trouvent pour l’accomplissement de leurs fonctions des conditions invariables de température, d’humidité, d’oxygénation, en même temps que les matériaux azotés, hydro-car bonés et salins sans lesquels les organes ne peuvent se nourrir.« 313
Das »Blut« als »inneres«, »physiologisches Milieu« (milieu physiologique)314 ermöglicht für Bernard zugleich die »Beständigkeit der Konstitution« ( fixité de seulement d’un phénomène d’excitation qu’il reçoit, […] Le foie de même produit à l’état physiologique du sucre sous l’influence de toute excitation nerveuse ou sanguine, sans s’inquiéter de savoir s’il lui arrive ou non dans l’organisme du sucre par une autre voie.« 312 | Siehe hierzu Holmes 1963a, 371-375. 313 | Bernard 1859, Bd. 1, 43. Grmek (1997, 177) zitiert in diesem Zusammenhang aus einer Vorlesung, die Bernard am 18. Juli 1877 gehalten hat: »L’organisme est un équilibre. Aussitôt qu’un changement survient dans l’équilibre, un autre arrive pour rétablir.« Vgl. Bernard 1865a, 336. Béclard bestimmte bereits im Traité élémentaire de physiologie humaine (1855) das Blut als das »Milieu aller Erscheinungen der Ernährung«, auf das jeder »Regeneration«-Prozess angewiesen ist. Vgl. Béclard 1855, 420: »Le sang est le milieu de tous les phénomènes de nutrition. C’est lui qui fournit les matériaux de réparation que la digestion renouvelle sans cesse; c’est lui qui reçoit, pour les conduire vers les organes d’expulsion (glandes) les matériaux usés par le mouvement de la vie.«; und ibid., 447: »La régénération des tissus et le mouvement de nutrition sont dans une corrélation étroite. On pourrait même, sans doute, conclure des phénomènes de régénération des tissus (que les tissus aient été détruits accidentellement ou expérimentalement) aux phénomènes de la nutrition proprement dite.« Für die Rolle des Bluts als Lebensprinzip im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts siehe Tsouyopoulos 2008, 213-215. 314 | Vgl. Bernard 1865b, 130.
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constitution)315 und die »Widerständigkeit« (résistance)316 der inneren Organisation gegenüber Veränderungen der Außenwelt. Der Organismus lebt nicht »in der Außenwelt«, sondern »in einem inneren Milieu«, das als vermittelnder Zwischenraum zugleich in Beziehung zur »Außenwelt« steht.317 Der Übergang von der »allgemeinen äußeren Atmosphäre« (atmosphère extérieure générale)318 der Außenwelt in eine »organische innere Atmosphäre« (atmosphère organique intérieure)319 ist ein Übergang in ein »vollkommen geschlossenes« flüssiges »Milieu«, in dem organische Teile existieren und miteinander »kommunizieren«: »Tous les éléments organiques vivent, en effet, dans des solutions organiques, et peuvent vivre que là.« 320
Bernard vergleicht Organismen mit Wasser-gefüllten »Vasen« (vases) oder »Gefäßen« (bocaux), in denen jedes organische Teil seinerseits ein Gefäß darstellt, das mit einer ihm eigenen Flüssigkeit gefüllt ist: »Le corps d’un animal peut se comparer à ces bocaux remplis d’eau dans lesquels nous élevons des animaux: le bocal est évidemment au milieu de l’air, mais les animaux n’y sont pas; ils vivent plongés dans l’eau. L’organisme d’un animal aérien dans son ensemble représente donc en quelque sorte un vase qui contient tous les éléments
315 | Vgl. Bernard 1966, 122. 316 | Vgl. Bernard 1966, 122 317 | Vgl. Bernard 1859, Bd. 1, 42: »Considéré ainsi d’une manière générale, le sang con stitue un véritable milieu organique, intermédiaire entre le milieu extérieur dans lequel vit l’individu tout entier et les molécules vivantes qui ne sauraient être impunément mises en rapport direct avec ce milieu extérieur.« 318 | Vgl. Bernard 1865b, 206. 319 | Vgl. ibid. 320 | Bernard 1865a, 333. Vgl. Bernard 1865a, 334: »Chez les vertébrés, le liquide organique ambiant est complètement clos; ce liquide, c’est le sang, appelé aussi liquide nourricier; les éléments histologiques vivent au milieu du sang, comme les poissons vivent dans l’eau; ils y prennent les éléments nutritifs dont ils ont besoin, et y rejettent leur excréments, c’est-à-dire les matières impropres à la vie. […] Quand les liquides organiques ambiants sont clos dans des systèmes particuliers, comme cela a lieu chez les animaux supérieurs, il faut nécessairement, pour se renouveler, qu’ils puissent se mouvoir, et communiquer par échange avec le milieu cosmique général; cet échange se fait par l’absorption, qui introduit dans le sang les matières nutritives convenables, et les exhalations et les excrétions qui en extraient les matières devenues impropres à la vie.«
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histologiques, et leur permet d’être sans cesse humectés par des liquides organiques convenables.« 321
Die Flüssigkeitsströme, die den Stoffaustausch im Inneren innerer Milieus kennzeichnen, sind Ströme zwischen den komplex in sich verfalteten Häuten organischer Hohlräume. Ihren Verlauf bestimmt für Bernard die »Differenz zwischen der dem Element eigenen Flüssigkeit (liquide propre de l’élément) und der umgebenden Flüssigkeit (liquide ambiant).322 Kombiniert mit »einer Art elektiven Attraktion« zwischen inneren und äußeren »Molekülen«, geht aus dieser Differenz das »grundlegende Phänomen des Lebens« (phénomène essentiel de la vie) hervor: »[…] lorsque deux liquides différents sont séparés par une membrane organique, il s’opère […] un échange entre ces deux liquides au travers de la membrane qui les sépare; le liquide extérieur passe en partie à l’intérieur, tandis que celui de l’intérieur passe à l’extérieur. […] Si les deux liquides devenaient identiques des deux côtés de la membrane, l’endosmose s’arrêterait aussitôt, et il n’y aurait plus aucun mouvement dans les liquides.« 323
Die »Endosmose« führt zum Einfluss der Nahrungsbestandteile des »Blutes« in die organischen Elemente und ermöglicht den Prozess der »Ernährung«: »En effet, la vie n’est qu’un échange entre l’intérieur et l’extérieur, et c’est cet échange qui constitue la nutrition. Or la nutrition des éléments histologiques s’opère par endosmose, et ne peut dès lors s’accomplir que si les conditions de l’endosmose existent.« 324
In Recherches anatomqiues et physiologiques sur la structure intime des animaux et des végétaux, et sur leur motilité (1824) hatte Henri Dutrochet bereits osmotische Erscheinungen ins Zentrum der an Reiz-Reaktions-Schemen und Irritabilität 321 | Ibid. 322 | Vgl. Bernard 1865a, 333. 323 | Ibid., 333. Vgl. Bernard 1854, 449-450: »La nutrition est donc une propriété fondamentale appartenant à tous les êtres vivants, animaux et végétaux; c’est une sorte d’attraction élective qu’exerce une molécule vivante sur le milieu ambiant pour attirer à elle les éléments qui dovent la constituer. . La fibre musculaire attire la fibrine; la fibre nerveuse attire l’albumine et la graisse; les cellules, suivant leurs fonctions, attirent tels ou tels éléments; un os attire les phosphates et la chaux. […] Ainsi donc, cette propriété de se nourrir est, pour les tissus, la propriété capitale.« Siehe hierzu auch Grmek 1997, 129-130; und Tsouyopoulos 2008, 233. 324 | Bernard 1865b, 333. Vgl. ibid., 334: »Mais l’arrêt de l’endosmose, c’est l’arrêt de la nutrition, et par suite l’arrêt de la vie.«
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gebundenen Innen-Außen-Dynamik einer Pflanzen und Tiere umfassenden »lebenden Ökonomie« (économie vivante)325 gestellt.326 In der Architektur dieser Ökonomie unterscheidet Dutrochet nicht »feste« und »flüssige Bestandteile« (constituantes solides et liquides), sondern »beinhaltende« und »enthaltende Teile« (parties contenantes et contenues).327 Ausgehend von Dutrochets Modell fokussiert Bernard sowohl auf die »beständigen Austauschbewegungen« (mouvements incessants d’échange) zwischen »histologischen Elementen«, die ihrerseits im Inneren ein »eigenes Milieu« (milieu propre) aufweisen328, und den umgebenden »ernährenden Flüssigkeiten« (liquide nourricier), in der die Elemente »wie Fische im Wasser« leben, als auch auf den durch »Absorption und Exhalation oder Exkretion« bestimmten Austausch zwischen dem »innerem« und dem »äußeren Milieu«.329 Bernard überführt damit Comtes Innenraum intermediärer Operationen in das »innere flüssige Milieu« eines Organismus, durch das hindurch Tiere leben, ohne in direktem Kontakt zum »äußeren Milieu« zu stehen: »[…] il y a pour l’animal réellement deux milieux: un milieu exté rieur dans lequel est placé l’organisme, et un milieu inté rieur dans lequel vivent les éléments des tissus. L’existence de l’être se passe, non pas dans le milieu extérieur, air atmosphérique pour l’être aérien, eau douce ou salée pour les animaux aquatiques, mais dans le milieu liquide intérieur formé par le liquide organique circulant qui entoure et baigne tous les éléments anatomiques des tissus; […] Un organisme complexe doit être considéré comme une réunion d’êtres simples qui sont les éléments anatomi ques et qui vivent dans le milieu liquide intérieur.« 330
325 | Dutrochet 1824, 204; und 1828, 219. 326 | Vgl. Dutrochet 1826, Avertissement, vi, und 188. Dutrochet untersuchte osmotische Erscheinungen mithilfe eines »Endosmeters« (endosmètre). Siehe hierzu Dutrochet 1828, 1-54. Thomas Graham führte 1854 den Begriff der »osmotischen Kraft« (osmotic force) ein. Vgl. Graham 1854 und 1854-1855. 327 | Vgl. Dutrochet 1826, 191; und Dutrochet 1824, 205. 328 | Vgl. Bernard 1865b, 210-211: »L’animal le plus inférieur a son milieu organique propre; un infusoire possède un milieu qui lui appartient, en ce sens que, pas plus qu’un poisson, il n’est imbibé par l’eau dans laquelle il nage. Dans le milieu organique des animaux élevés, les éléments histologiques sont comme de véritables infusoires, c’està-dire qu’ils sont encore pourvus d’un milieu propre, qui n’est pas le milieu organique général. Ainsi le globule du sang est im bibé par un liquide qui diffère de la liqueur sanguine dans laquelle il nage.« 329 | Für Dutrochets Modell der Absorption und Exhalation siehe Dutrochet 1826, 211. 330 | Bernard 1966, 113.
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Die gleichen »grundlegenden Existenzbedingungen« gelten auch für das »Leben« des Menschen: »Il ne serait pas exact de dire que nous vivons dans le monde extérieur. En réalité, je ne saurais trop le répéter, nous n’avons pas de contact direct avec lui, nous n’y vivons pas. Notre existence ne s’accomplit pas dans l’air, pas plus que celle du poisson ne s’accomplit dans l’eau ou celle du ver dans le sable. L’atmosphère, les eaux, la terre, sont bien les milieux ou se meuvent les animaux, mais le milieu cosmique reste sans contact et sans rapports immédiats avec nos éléments doués de vie. La vérité est que nous vivons dans notre sang, dans notre milieu intérieur.« 331
Das »Blut« repräsentiert für Bernard das »innere flüssige Milieu«, doch bleibt es eingebunden in ein System der »Reziprozität« (réciprocité) zwischen allen »histologischen Elementen«. Als »Sekretionsprodukt« hängt es von den sich gegenseitig beeinflussenden Aktivitäten aller inneren Organe ab.332 Die wechselseitige Aktivität, die zur Sekretion des »Nahrungssaftes« führt, koppelt Bernard an die Reiz-Reaktionsschemen, welche die »Irritabilität« aller organischen Teile bestimmen. In Anschluss an Virchows Aufsatz zur Reizbarkeit der Zelle (1858) nennt er die grundlegende physiologische Eigenschaft lebendiger Körper ihre »nutritive Irritabilität« (irritabilité nutritive): »[…] la propriété commune, la propriété la plus générale, la propriété essentielle de tout élément organique, c’est l’irritabilité nutritive, c’est la nutrition. La nutrition consiste dans la fonction de l’élément qui attire les principes du dehors, les incorpore pour un temps, puis les rejette: c’est la faculté d’être en relation d’échange constant avec le milieu qui le baigne par un perpétuel mouvement d’assimilation ou de désassimilation.« 333 331 | Bernard 1876, 7. 332 | Vgl. Bernard 1865b, 114: »Les propriétés des corps vi vants ne se manifestent à nous que par des rapports de réciprocité organique. Une glande salivaire, par exemple, n’existe que parce qu’elle est en rapport avec le système digestif, et que parce que ses éléments histologiques sont dans certains rapports entre eux et avec le sang; supprimez toutes ces relations en isolant par la pensée les éléments de l’organe les uns des autres, la glande salivaire n’existe plus.« 333 | Bernard 1877a, 89. Vgl. Virchow 1858, 7: »Die Reizbarkeit ist, vom Standpunkt der cellularen Theorie aufgefasst, eine Eigenschaft und demnach ein Kriterium jeder lebenden Zelle und jedes lebenden Zellderivates, nicht blos einzelner bevorzugter oder höher organisirter Theile, wie etwa der Nerven, der Muskeln oder des Eies. Diese Eigenschaft äussert sich dadurch, dass das lebende Element (die vitale Einheit) durch Einwirkungen, welche ihm von aussen d.h. entweder von anderen Elementen oder Theilen desselben Organismus her zukommen, zu gewissen Thätigkeiten (Actionen, Reactionen) bestimmt werden kann.«; und ibid., 22: »Genug, die nutritive Rei zung findet
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Das System, das allgemein die Initiation, die Hemmung und die Intensität der Sekretions- und Austauschprozesse in höheren, zu einem »unabhängigen Leben« (vie indépendante) fähigen Organismen steuert 334, stellt für Bernard das »Nervensystem« (système nerveux) dar, das chemische Abläufe durch die »Verengung« (reserrement) und die »Erweiterung« (dilatation) von Gefäßen modifiziert, die für Sekretionsprozesse zuständig sind.335 Im Nervensystem des Menschen unterscheidet Bernard zum einen zwischen dem »cerebrospinalen System« (système cérébro-spinal), in dem Bewegungen durch Willensakte eines »Bewusstseins« ausgelöst werden, und dem System des »großen Sympathikus« (grand sympathique).336 Ohne »Bewusstsein« ausgeführte Bewegungen, die vom System des »großen Sympathikus« ausgehen, nennt Bernard »Reflexbewegungen«. Entsprechend weist er die »Sensibilität ohne Bewusstsein« (sensibilité sans conscience) als »Reflex-Sensibilität« (sensibilité reflexe) aus.337 Die »Reflex-Sensibilität«, die zu »mechanischen da statt, wo die gereizten Gewebe liegen, nicht da, wo Nerven und Gefässe sind. Die Nerven können gelähmt sein, und doch erfolgt die Reizung, […]« 334 | Vgl. Bernard 1966, 114: »Les conditions nécessaires à la vie des éléments qui doivent être rassemblées et maintenues constantes dans 1e milieu intérieur, pour le fonctionnement de la vie libre, sont celles que nous connaissons déjà: l’eau, l’oxygène, la chaleur, les substances chimiques ou réserves. Ce sont les mêmes conditions que celles qui sont néces saires à la vie des êtres simples; seulement chez l’animal perfectionné à vie indépendante, le système nerveux est appelé à régler l’harmonie entre toutes ces conditions.« 335 | Vgl. Bernard 1864b, 40: »Avec ces deux seuls modes d’action, reserrement ou dilatation des vaisseaux, le système nerveux gouverne tous les phénomènes chimiques de l’organisme.« Bernard untersuchte die Funktionsweise des Nervensystems durch »künstliche Exitanten« (excitants artificiels) – zu denen etwa die Wirkungen von Giften oder von Galvanisationsexperimenten zählen – vor allem an Froschkörpern. Vgl. Bernard 1858, Bd. 1, 1-2 und 134; 1865b, 201; und 1872, 12-13. Er wies allerdings auch auf Bewegungen (etwa der Eingeweide) hin, die nicht durch Nerven bestimmt werden (1858, Bd. 1, 361-362): »Nous signalerons enfin certaines formes de mouvement qui existent dans les intestins ou dans d’autres organes splanchniques, et qui sont évidemment indépendants des nerfs, quoique, dans certains cas, ces mouvements puis sent être déterminés par l’influence nerveuse. […] Il y a d’autres mouvements qui semblent encore in dépendants du système nerveux. Tel sont, par exemple, les mouvements de contraction rhythmique qui se pas sent dans les conduits biliaires de quelques oiseaux […]« Für Bernards Nervensystem-Experimente siehe Grmek 1973. 336 | Vgl. Bernard 1858, Bd. 1, 25, und 1866 (15. Lektion), 235-389. 337 | Vgl. ibid., 321; und ibid., 352: »Quand, par la section de la moëlle, la volonté a été supprimée nous avons, dans ce mouvement inconscient et sans but, un exemple de mouvement purement réflexe.« Bernard spricht auch von »unbewusster Sensibilität«
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Bewegungen« und »Sekretionen« führt 338, kennzeichnet, in Bichatscher Tradition, das »organische Leben« (vie organique) der inneren Organe oder das »Leben der Ernährung« (vie de nutrition), die »wahrgenommene« oder »bewusste Sensibilität« (sensibilité perçue, consciente) hingegen das »äußere Leben« (vie extérieure).339 Zwischen dem »organischen« und dem »äußeren Leben« bestehen Wechselwirkungen, die von der Physiologie zur Anthropologie und Psychologie führen. Bernard baut diesen Weg jedoch nicht mehr, wie Comte, in ein umfassendes positivistisches Wissensgebäude ein. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf der physiologischen Logik der »Solidarität« innerer Teile, durch die Organismen als Agenten zwischen Innen- und Außenwelten fähig sind, die Variationen ihres inneren Milieus selbst zu »kompensieren« und »auszugleichen«.340 Erst durch diese Fähigkeit wird für Bernard die Existenz eines Körpers möglich, dessen Innenwelt sich von einer Außenwelt ablöst und bis zu einem gewissen Grad unabhängig von ihr wird.
(sensibilité inconsciente) und »subjektiver Sensibilität« (sensibilité subjective). Vgl. ibid., Bd. 2, 8. 338 | Vgl. Bernard 1864b, 36. 339 | Vgl. Bernard 1858, Bd. 1, 366; Bernard 1864a, 30-32; und 1966, 285. 340 | Vgl. Bernard 1865b, 152: »Il y a là une solidarité organi que ou sociale qui entretient une sorte de mouvement perpétuel jusqu’à ce que le dérangement ou la cessation d’action d’un élément vital nécessaire ait rompu l’équilibre ou amené un trouble ou un arrêt dans le jeu de la machine animale.«; und 1966, 355-360.
X. Schlussbetrachtungen
Unter dem Decknamen der Physiologie entwickeln sich von Cullen und Brown bis Comte und Bernard Agentenmodelle individueller Organismen, für die Innen-Außenwelt-Verhältnisse konstitutiv sind. Die Besonderheit dieser Modelle beruht auf einer Prozess-Logik, die beide Wechselwirkungsebenen – das innere System der Teile und die Innen-Außenweltverhältnisse des ganzen Körpers – durchdringt und der Erhaltung bestimmter Gleichgewichts-Zustände innerhalb eines physischen Gerüsts organisierter Strukturen dient, in dem sich durch Grenzflächen hindurch (innere) Innen-Außenwelt-Bezüge fortsetzen. Der Themenkanon, der die Innen- und Außenweltproblematik von Organismus-Modellen im Gang der Untersuchung charakterisiert, schreibt sich im neunzehnten und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in mehrere Entwicklungslinien ein. Hierzu gehören sich verdichtende Übergangsfelder zwischen Physiologie und Chemie, die metabolische Zusammenhänge zwischen Konsumptions-, Zersetzungs- und Re-Produktionsprozessen zur Erhaltung von Gleichgewichtszuständen experimentell erschließen und mit verschiedenen inner-organismischen Einheiten in Verbindung bringen – zu denen neben Organen, Geweben und Fasern vor allem Zellen gehören –, an Vererbungstheorien gekoppelte Debatten über die Grenzen der Transformierbarkeit und Modifikabilität organischer Ordnungsformen, und neue Regulationsdispositive, die, an Bernards Ansatz anschließend, die Autonomie lebender Systeme und ihre Rückkopplungsmechanismen betreffen. Die Öffnung des Diskurses, die von der inneren Ordnung organisierter Körper in die Außenweltproblematik des Organismus hinein verläuft, setzt sich nicht nur auf der Ebene individueller Existenz fort, sondern geht auch in Wissensfelder über, die das Verhältnis lebender Körper zu überindividuellen Einheiten betreffen, die in Außenwelten als spezifische Gemeinschaften auftreten. Während der Milieu-Begriff, der sich mit Blainville und Comte formte, ein mit inneren Organisationen wechselwirkendes Ensemble äußerer Umstände chemischer und physikalischer Art darstellte, das zur Existenzfähigkeit eines Individuums notwendig ist, resultieren, je nach Ansatz und Perspektive, aus den Wechselwirkungen mit überindividuellen Einheiten – etwa in Form von
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Populationen in Evolutionstheorien, von Lebensgemeinschaften in Ökologien, von tierischen Gemeinschaften in Ethologien und von menschlichen Gesellschaften in Soziologien – neue Interaktionsfelder, deren komplexe Dynamik sowohl den Zusammenhang der Einheiten als systemische Gefüge als auch einzelne Individuen und ihren Milieu-Bezug betrifft. Vor Comtes Übergangsmodell von Instinktökonomien in soziale Existenzformen hatte Saint-Simon die umfassenden Erklärungsansprüche, die aus dieser Dynamik resultieren, 1813 im Programm seiner »sozialen Physiologie« umrissen, in dem er funktional differenzierte Wechselwirkungen zwischen den Innen- und Außenwelten lebender Individuen auf die Existenzformen von Gesellschaften übertrug und durch diese Übertragung zugleich Anschlusspunkte für Theorien fortschreitender Arbeitsteilung eröffnete, die von Adam Smiths Ökonomie bis zu HenriMilne Edwards Zoologie der série animale und Émile Durkheims Soziologie reichen.1 Saint-Simons »Physiologie« ist eine Wissenschaft der Existenzbedingungen lebender Individuen, ihres »Wohlergehens« und der auf ihre natürlichen Existenzweisen abgestimmten Gesellschaftsordnungen, in der sie zu »Organen eines sozialen Körpers« werden.2 Brandis’ Bestimmung des Organismus als »Communicationswerkzeug«, dessen Körper sich aus interaktiven, in sich verfalteten Grenzflächen zusammensetzt, lässt sich mit Saint-Simons Entwurf einer sozialen Physiologie verbinden, ist aber auch Teil eines in Jakob von Uexkülls Umweltlehre im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts kulminierenden Problemkontexts, in dem es in semiotischer Perspektive um die Spezifik des Ausdrucks-Verhältnisses zwischen lebenden Körpern und ihrer Außenwelt geht. Dieses AusdrucksVerhältnis betrifft sowohl, in Schellings Terminologie, die innere »Sphäre der Receptivität«, die Äußeres und Fremdes assimiliert und zugleich dem Ausdruck des Inneren dient, als auch Interaktionen zwischen dem Körper und 1 | Für Beziehungen zwischen Saint-Simon, Milne-Edwards und Durkheim siehe Guillo 2003. Zur Rolle der schottischen Aufklärung in diesem Zusammenhang, hier vor allem von Adam Fergusons An essay on the history of civil society (1767) siehe Lehmann 1930. 2 | Vgl. Saint-Simon 1965, 56: »Le domaine de la physiologie, envisagée d’une manière générale, se compose de tous les faits qui se passent chez les êtres organisés. La physiologie examine l’influence des agents extérieurs sur l’organisation; elle apprécie les modifications que ces agents déterminent dans l’exercice de nos fonctions; elle nous fait connaître ceux dont l’action par l’économie est contraire à notre santé, à notre bien-être, à la satisfaction de nos besoins ou de nos désirs, et ceux qui ont pour effet nécessaire d’augmenter l’étendue de nos moyens d’existence, de multiplier les forces de réaction propres à résister aux forces délétères qui nous environnent, enfin, de satisfaire le plus complètement possible nos premiers besoins et de nous procurer une plus grande somme de plaisirs et de jouissances.«
X. Schlussbetrachtungen
der Außenwelt. In beiden Fällen wird der Körper zu einem Medium, einem Zeichenträger, der zum einen etwas in ihm Wirkendes zum Ausdruck bringt, das sich entlang von Grenzflächen zwischen Innen- und Außenwelten wie eine materielle Spur manifestiert, und in den sich zum anderen eine Außenwelt einschreibt, in der er agiert. Mit Cabanis und Lamarck entstehen um 1800 Organismus-Modelle, die sowohl auf Innen-Außenwelt-Verhältnisse, die harmonische Korrelationen voraussetzen, als auch auf Veränderungen der Innen-Außenwelt-Schnittfläche fokussieren, die Transformationen, Modifikationen und Deformationen von Organisationstypen einleiten. Im Rahmen seiner Teratologie untersuchte Saint-Hilaire im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts den modifizierenden Einfluss »umgebender Milieus« auf sich entwickelnde »Keime« und das »Leben von Embryos«. Die hieraus resultierenden Ordnungsformen stellten für ihn Veränderungen der »Formen« eines allem Lebendigen zugrundeliegenden »einheitlichen Bauplans« dar, aus dem sich auch die Organisationstypen ableiten lassen, deren systemische Geschlossenheit Cuvier für prinzipiell unveränderbar hielt.3 Zwischen Saint-Hilaires und Cuviers Positionen oszilliert im ganzen neunzehnten Jahrhundert eine von vergleichenden Anatomien, allgemeinen Physiologien, Pathologien und Evolutionstheorien bis zu Gesellschafts-, Literatur- und Kunsttheorien reichende Debatte, in der es, in Kombination mit Modellen angeborener und erworbener Eigenschaften, um die Grenzen der Variabilität und die Rolle der Außenwelt für Veränderungen der Innenwelten lebender Individuen geht. Nachdem Balzac im Vorwort der Comédie humaine (1842), mit Referenz zu Lamarck und Saint-Hilaire, den modifizierenden Einfluss »natürlicher« Außenwelten auf das Wirkgefüge einer »Gesellschaft« hingewiesen hatte, in der sich Menschen allein durch ihre Tätigkeiten in spezifischen »Milieus« in »soziale Arten« – etwa Arbeiter, Dichter und Prediger – differenzieren, exponierte er in den anschließenden Erzählungen in der Figur des Louis Lambert einen »vitalen Antagonismus«, der aus dem Zusammenhang zwischen einem »inneren«, aus sich selbst heraus »aktionellem Wesen« (être actionnel ou intérieur) und einem hiervon gänzlich gelösten, in physische Reiz-Reaktions-Schemen eingebundenen »äußerem oder reaktionellem Wesen« (être extérieur ou réactionnel) hervorgeht.4 Mit dieser Figur reiht sich Balzac in die in der Untersuchung skizzierte Geist-Körper-Problematik anthropologischer Fragestellungen ein, die parallel zur Hufelandschen Kritik des Brownschen Außenwelt-De-
3 | Vgl. Saint-Hilaire 1833, 68-70; und Appel 1987. 4 | Vgl. Balzac 2008, 155-156; und Starobinski 1975. Für Balzacs Milieu-Begriff siehe Buteron 1934; Sacy 1948 und 1950; und Somerset 2002.
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terminismus verläuft.5 Cabanis’ Wissenschaft des Menschen kreiste beständig um den Zusammenhang »physiologischer Zustände« mit den »intellektuellen Operationen« eines Gehirns, das durch Reiz-Reaktions-Schemen in multiple, miteinander vernetzte regulative Zentren eingebunden ist, deren Grenzflächen und Einflusssphären von der Außenwelt bis ins Innerste der Körper, von »Sensationen« ohne bewusste Wahrnehmung bis zur Entstehung von »Ideen«, und von bestimmten Tätigkeitsfeldern des Gehirns bis in die Außenwelt reichen. Saint-Simons Programm, das einen solchen Zusammenhang durch eine »soziale Physiologie« in Gesellschaftsformen der Außenwelt hinein überträgt, tritt in der Moderne immer wieder in Form von Regulationsdispositiven auf, die Fragen nach der Autonomie und dem Einfluss der jeweiligen inneren und äußeren Wirksphären aufwerfen. Damit kehren die Schlussbemerkungen zur Einleitung der Untersuchung zurück. Während Novalis in Blüthenstaub (1798) auf die sich in sich selbst vertiefende innere Welt des Geistes und der Fantasie verwiesen hatte, um den Menschen im Rahmen einer sich etablierenden romantischen Bewegung aus Reiz-Reaktions-Schemen zu lösen, die ihn an seinen Körper bannen, etablierte Osann in seinen Ideen zur Bearbeitung einer Geschichte der Physiologie (1815) die Differenz auf der Ebene des Lebens selbst: »Als ein Nachfolger Cullens ist der so berühmt gewordene schottische Arzt John Brown zu betrachten; ein Arzt, welcher den heftigsten, für die Physiologie wichtigsten Streit entzündete. Alle bisher angenommenen Begriffe von Lebenskraft verwerfend, stellte er als Grund der Erscheinungen des Lebens, Erregbarkeit, auf, das heisst: eine Empfänglichkeit für äussere Eindrücke; eine Ansicht, durch welche der lebende Körper alle Eigenthümlichkeiten und Selbstständigkeit verliehrt, und zu einem Sklaven der Aussenwelt erniedrigt wird.« 6 5 | Für die in paulinischer Tradition stehende Problemlage des homo duplex, die Georges Buffon 1749 in seiner Histoire naturelle, générale et particulière aufgreift siehe Buffon 1749-1804, Bd. 2 (1749), 429-444; ibid., Bd. 4 (1759), 69-70; Markschies 1998; und Conybeare 2000, 131-160. 6 | Osann 1815, 94-95. Vgl. Novalis 1798, 74: »Die Fantasie setzt die künftige Welt entweder in die Höhe, oder in die Tiefe, oder in der Metempsychose zu uns. Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unsers Geistes kennen wir nicht. – Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft. Die Außenwelt ist die Schattenwelt, sie wirft ihren Schatten in das Lichtreich. Jetzt scheint es uns freylich innerlich so dunkel, einsam, gestaltlos, aber wie ganz anders wird es uns dünken, wenn diese Verfinsterung vorbey, und der Schattenkörper hinweggerückt ist. Wir werden mehr genißen als je, denn unser Geist hat entbehrt.« Für den Kontext von Novalis’ Ansatz siehe Hagner 1998 und Welsh 2001.
X. Schlussbetrachtungen
Die Wirkmächtigkeit der diskursiven Konstellation, lebende Individuen als Agenten zwischen Innen- und Außenwelten zu bestimmen, liegt nicht, wie Hegel deutlich machte, in einer Entscheidung für oder gegen die eine Seite, sondern in dem Spannungsfeld, die Ordnungsformen des Zwischen-Seins nicht mehr durch eine physiko-theologische Setzung – wie es in Instinkt-Theorien oft der Fall gewesen ist –, sondern durch die Immanenz des Verhältnisses selbst in Form von Wechselwirkungen zu erklären, durch die Eigenes und Fremdes beständig in das jeweils Andere hineinragen.7 Die Transzendenz der aufsteigenden Linie, die von der Welt-Körper- zur Körper-Seele- und Seele-GottSchnittfläche führte, verfaltet sich durch diese Wendung in ein Beziehungsgeflecht zwischen Regulatoren, Körpern und Außenwelten. Im Zentrum dieses Geflechts steht der Organismus als ein Umstandswesen, dessen Existenzform als Prozess und Organisation zwischen Innen- und Außenwelten vermittelt.
7 | Für Hegels Naturphilosophie des Organismus siehe Breidbach 1980 und Peterson 1991.
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Personenregister
Ackermann, Johann Gottlieb 62 Aristoteles 140 Baer, Karl Ernst von 134 Balzac, Honoré de 299 Béclard, Jules 287, 290 Bergman, Torbern Olof 15, 142, 278 Bernard, Claude 6, 14-15, 118, 217-218, 250, 277-297 Berthollet, Claude Louis 15, 143 Bichat, Xavier 11-13, 16, 41, 99, 108, 164-165, 185, 218, 222, 229, 236, 248, 253, 256-257, 259, 277, 281, 288, 296 Blainville, Ducrotay de 6, 14, 217, 237-249, 253, 255-256, 259, 267, 286, 297 Blumenbach, Johann Friedrich 43, 44-45, 73, 87 Boerhaave, Herman 30, 139 Bonnet, Charles 83, 147, 205 Bordeu, Théophile de 60, 163, 166, 169, 205, 249 Brandis, Joachim Dietrich 5, 14, 87, 89-105, 108, 122, 245, 278, 298 Braunstein, Jean-François 217-218, 220, 227, 250, 254, 258, 266, 272, 277 Broussais, François-Joseph-Victor 6, 14-16, 18, 40, 217-237, 242-243, 248, 258, 266, 278
Brown, John 5, 14-16, 18-20, 29-41, 43, 46, 48, 52, 55, 68, 70, 72, 92, 108-109, 114-115, 119, 187, 217, 221, 236, 297, 299-300 Buffon, Georges Leclerc de 147, 179, 300 Burdach, Karl Friedrich 6, 14, 87, 118-136, 219, 278, 287 Cabanis, Pierre-Jean-Georges 6, 1416, 18, 136-178, 180, 191, 203, 208, 214-215, 219, 232, 248-249, 253, 267, 276-277, 299-300 Carter, Francis 40 Chevreul, Eugène 287-288 Comte, Auguste 6, 9, 13-14, 217-218, 237, 242, 248-277, 293, 296-298 Condillac, Étienne Bonnot de 139, 147, 267 Cullen, William 5, 13-15, 19-31, 40, 42, 172, 297, 300 Cuvier, Georges 11-13, 16, 81, 125, 137, 176, 179-180, 198, 217-218, 238, 240, 243, 248, 253-255, 257, 281282, 299 Darwin, Erasmus 22, 138, 140, 146, 173, 255 Daudin, François-Marie 197 Descartes, René 16, 272 Destutt de Tracy, Antoine Louis Claude 139, 148, 155, 158-161, 163, 170 Diderot, Denis 138, 141, 205
340
Organismen: Agenten zwischen Innen- und Außenwelt 1780-1860
Döllinger, Ignaz 11-12 Domat, Jean 138 Dorn, Anton Georg 58 Dumas, Charles-Louis 153, 166 Dumas, Jean-Baptiste André 288 Dutrochet, René Joachim Henri 279, 292-293 Edwards, William Frédéric 13, 286, 298 Ferguson, Adam 298 Fichte, Johann Gottlieb 107 Fodéra, Michel 242 Forster, Johann Georg Adam 108 Fourcroy, Antoine-François 15-18 Frank, Joseph 40 Galen 71, 137, 169 Gall, Franz Joseph 59-60, 102, 203, 232, 253, 265-267 Gaub, Jerome 139-140 Gaubius, Hieronymus David 22 Goodsir, John 285 Hahnemann, Samuel 70 Haller, Albrecht von 22, 57, 157, 208 Hartmann, Carl 90-91 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 107, 301 Helvétius, Anne-Catherine de Ligniville 138 Hippokrates 170 Hoffman, Friedrich 21, 30 Holbach, Paul Thiry de 138-139 Hufeland, Christoph Wilhelm 5, 11, 14-16, 18, 41, 43-73, 87, 89, 102, 108, 137, 278, 287, 299 Humboldt, Friedrich Wilhelm Heinrich Alexander von 50-51 Hunter, John 43, 45, 51, 55, 62 Kant, Immanuel 75, 89, 107, 125, 220 Kielmeyer, Friedrich 44, 109 Lacépède, Étienne de 12, 176 Lallemand, Claude François 234
Lamarck, Jean-Baptiste 6, 14, 100, 136-138, 176, 178-215, 250, 253-255, 277, 299 Lamettrie, Julien Offray de 139, 141 Lecamus, Antoine 139-140 Legallois, Jean 164, 203-205, 234 Leibniz, Gottfried Wilhelm 109 Leroy, Charles-Georges 173, 265, 267-269, 272 Leupoldt, Johann Michael 41 Liebig, Justus 15, 163, 278, 287-288 Locke, John 139-140, 249 Mackenzie, James 71, 137 Magendie, François 217, 286-287 Maine de Biran, François-Pierre 140, 160 Medicus, Friedrich Casimir 43-44 Milne-Edwards, Henri 286, 298 Morrison, Thomas 40 Newton, Isaac 19, 29-30, 142-143, 182, 192, 242, 262 Nietzsche, Friedrich Wilhelm 16 Novalis [Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg] 300 Osann, Emil 11, 300 Pfaff, Christoph Heinrich 108 Pinel, Philippe 218 Rasori, Giovani 40 Reil, Johann Christian 43-44, 70, 129-130 Reimarus, Hermann Samuel 66 Richerand, Anthelme 13, 99-100, 179, 189, 245, 278, 286 Ritter, Johann Wilhelm 96 Robin, Charles Philippe 7, 13, 250, 280 Röschelaub, Andreas 40, 108 Roose, Theodor Georg August 87, 133 Rousseau, Jean-Jacques 108, 178, 206, 208, 214, 276 Saint-Hilaire, Geoffroy 239, 253, 261, 299
Personenregister
Saint-Simon, Claude Henri de 248, 250-251, 276-277, 298, 300 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 5, 9, 14, 83, 87, 96, 105, 107-119, 278, 298 Schwann, Theodor 256 Segond, Louis Auguste 250 Spinoza, Benedictus de 111 Thomson, Thomas 19, 28, 287 Tiedemann, Friedrich 74, 84 Tissot, Samuel 62 Treviranus, Gottfried Reinhold 5, 14, 72-87, 89, 108, 120, 250, 278, 290 Uexküll, Jakob von 298 Unzer, Johann August 44, 94, 126, 252 Virchow, Rudolf 280, 294 Virey, Julien-Joseph 198, 227 Voigt, Johann Heinrich 47-48 Weber, Friedrich August 62 Whytt, Robert 19, 139 Willis, Thomas 20-21, 31 Wilmans, Carl Arnold 41
341
Sachregister
Abnormität, abnorm 6, 65, 93, 120, 129-133 Abstimmung 153, 167, 171, 230, 238, 262, 274 Affinität 15, 49, 53, 61, 89, 92, 104, 141-143, 145, 149, 151, 154, 177, 195, 223-224, 228 Aggregat 16, 41, 183, 190, 195 Anpassung 63, 77, 81, 92, 101, 252, 256 Assimilation 21, 46, 49-50, 54-55, 73-74, 90, 95, 97, 99, 113-114, 124, 133, 176, 185, 190, 209, 219, 222, 225-234, 245, 250, 258-260, 279, 281, 284-287, 290, 294 Atmung 15, 77, 96, 156, 165, 168, 199, 204, 206, 218, 222, 231, 235 Attraktion 29, 141-143, 187, 242, 245, 292 Austausch 85, 90, 95-96, 126, 142, 183, 242, 246, 251-252, 256, 283, 290, 292-293, 295 Bauplan 239, 299 Bedürfnis 96, 136, 171, 197, 202-203, 209-211, 213, 228-233, 252, 261, 264-265, 268-269, 273 Blut 20, 26, 31, 39-40, 47, 55-58, 61, 67, 79, 96, 127, 132, 153-154, 156, 227-228, 237, 283, 287, 289-290, 292, 294, 300
Chemie 9, 15, 19, 44, 46, 50-51, 54-55, 70, 89, 195, 220, 225-226, 228, 234, 241, 245-246, 250, 287-288, 297 Dekomposition 15, 47, 90, 100, 151, 157, 183, 190, 195, 226, 228, 241, 245-246, 248, 259, 265, 270, 278, 284, 286, 290 Denken 11, 31, 57-58, 63-64, 66-67, 91, 104, 162-163, 205, 251 Diätetik 15, 40, 169 Embryo 146-147, 153, 156, 173-174, 178, 198, 214, 299 Empfindung 24-27, 56, 58-59, 270271 Energie 22-23, 30-35, 37, 40, 47, 120, 132, 151-152, 155-156, 161, 175, 205, 225, 241 Ernährung 15, 44, 77, 152, 154-155, 190-191, 198-199, 204, 227, 245, 259, 265, 268, 279, 281, 284-288, 290, 292, 296 Existenzbedingung 6, 12, 14, 87, 110, 137-138, 180, 218, 237-238, 244, 250, 253-254, 258, 281, 294, 298 Exkretion 71, 290, 293 Fötus 96, 137, 140, 146-147, 150-152, 154-155, 160, 167, 169-170 Fortpflanzung 48, 77, 79, 86, 113-114, 121, 166, 172, 174, 191, 198, 227, 230-231, 245
344
Organismen: Agenten zwischen Innen- und Außenwelt 1780-1860
Foyer 146, 149-151, 153, 155, 159, 162, 165-166, 203-205, 207-209, 213, 236-237, 240-241, 289 Geburt 66, 87, 121, 127, 155-156, 158, 160, 167, 171, 175, 223, 234 Geologie 179, 192 Gewebe 16, 57, 87, 115, 132, 155, 182, 185-189, 206, 219, 223-224, 226229, 233-234, 236-237, 245-248, 256, 295, 297 Gewohnheit 36, 65-66, 137, 152, 169171, 173, 175-176, 180, 189, 196-197, 210, 260, 270 Gleichförmigkeit 5, 14, 72-77, 79, 81-83, 85, 87, 278, 290 Gleichgewicht 9, 14-15, 25, 47, 61-63, 71-72, 81, 83, 85, 94, 108, 114, 117118, 120-122, 126, 128, 131-133, 156, 190, 217, 218, 219, 228, 235-236, 250-252, 254, 256, 262, 272, 275, 280, 290, 297 Grenze 9-10, 15-17, 34, 43, 50, 58, 60, 63, 70-71, 73-75, 80, 95, 102, 112, 145, 147, 174-175, 181, 188, 215, 219, 225, 240, 247, 253, 256-257, 263, 276, 297, 299 Grenzfläche 5, 9, 14, 87, 89-90, 95, 98-100, 245, 278, 297-300 Harmonie 59, 63, 102, 128, 133, 137, 163, 167, 172, 242, 245, 248, 251252, 255, 257, 259-260, 262-263, 271, 281, 295 Haut 57, 61, 64, 87, 95-96, 98-99, 126, 134-135, 142, 151, 156, 172, 189, 220, 225, 229, 233, 246-247, 264, 277, 285, 292 Hohlraum 183-184, 196, 224, 292 Humanität 264, 267-269, 274-276 Identität 52, 105, 107, 110-111, 115, 118, 131, 207-208, 217 Individuum 59, 66, 71, 73, 85-86, 102, 110, 112-114, 125, 129, 170, 173,
185, 198, 202, 211, 228, 260-261, 268-269, 273, 297 Infusorium 178, 185, 281 Irritabilität 19, 24-25, 27, 57-58, 61, 115, 124, 132, 146, 157, 186-188, 203, 205-206, 208, 292, 294 Klima 66, 170-171, 174, 176, 193-194, 237, 283 Kombination 16, 45, 55, 64, 135-136, 141-142, 145-146, 148-149, 151, 155, 178, 180, 191, 214, 227-228, 271, 299 Kommunikation 9, 177, 184, 199, 213, 256, 269-270, 273, 285, 290 Komposition 17, 47, 90, 151, 156-157, 182-184, 190, 193, 213, 227-228, 237-239, 241, 246, 255, 259, 284, 286 Kooperation 139, 164, 268 Kreislauf 63, 83, 85, 113, 128, 237, 240, 242 Lebensweise 67, 140, 168-169 Leidenschaft 31, 102, 134, 164, 171, 213, 230, 236, 266 Magen 60-61, 93-94, 154, 163, 166, 191, 217, 230, 237, 286-287 Membran 27, 57, 100, 150, 155, 160, 182, 189, 197, 225, 233, 247, 292 Modifikator 194-195, 217, 229, 243244 Nervenflüssigkeit 204, 206, 211-212 Normalität 6, 120, 130, 131-133 Oberfläche 95-97, 99, 186, 218-219, 222-225, 229, 246-247, 251, 256, 259-260, 272 Osmose 292-293 Passage 16, 108, 145, 184, 196, 219, 225-226, 233, 281 Perzeption 22, 31, 58, 60, 107, 140, 162-163, 209, 211-212, 230-231 Pore 98, 183, 189, 228 Regime 71, 137, 152, 161, 168-171, 260
Sachregister
Regulator 5, 11, 90, 100, 103-104, 162, 207, 219, 228, 232, 235, 237, 301 Reproduktion 9, 45, 51-54, 74, 77, 112, 120, 173-174, 191, 227, 248, 251, 260, 284 Schöpfung 47, 51, 59, 64, 71, 110, 122, 125 Sekretion 21, 32, 46, 54, 63, 71, 127, 154, 163-165, 168, 189, 204-205, 226, 228-229, 233, 289, 294-296 Selbsterhaltung 5, 45-46, 53, 63, 68, 89, 94, 120-123, 125-127, 129, 135, 137-138, 209, 211, 264, 287 Sinnesorgane 60, 97, 146-147, 156, 158-159, 162, 204, 207 Soziologie 9, 217, 242, 250, 251-252, 264-265, 274, 276-277, 298 Sprache 135, 145, 235, 269-272 Stoffwechsel 120, 123, 126-128, 255, 287 Störung 15, 63, 77, 94, 117-118, 236237, 253 Sympathie 26, 60, 62, 124, 165, 175, 177, 189 Typus 124, 127, 130, 243 Umwandlung 21, 48-49, 51-52, 54, 65, 87, 123-128, 135-136, 227 Variation 125, 192, 199, 201, 210, 254, 256-258, 260, 262, 279, 296 Vererbung 260, 297 Vervollkommnung 153, 193, , 268, 271, 273, 275 Widerstand 6, 12, 15, 43, 52, 56, 74, 108, 118, 155, 160, 218, 277, 281, 291 Zelle 183, 245, 280, 282-287, 292, 294, 297 Zersetzung 47, 85, 120, 126-127, 297 Zerstörung 56, 94, 190, 245 Zeugung 5, 15, 44-45, 54-55, 63, 66, 79, 86, 95, 101, 113-114, 122, 127, 131, 143-145, 183, 202, 245
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Science Studies Diego Compagna (Hg.) Leben zwischen Natur und Kultur Zur Neuaushandlung von Natur und Kultur in den Technik- und Lebenswissenschaften Mai 2014, ca. 250 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2009-2
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Catarina Caetano da Rosa Operationsroboter in Aktion Kontroverse Innovationen in der Medizintechnik 2013, 392 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2165-5
Hannah Fitsch ... dem Gehirn beim Denken zusehen? Sicht- und Sagbarkeiten in der funktionellen Magnetresonanztomographie Mai 2014, ca. 240 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2648-3
David Kaldewey Wahrheit und Nützlichkeit Selbstbeschreibungen der Wissenschaft zwischen Autonomie und gesellschaftlicher Relevanz 2013, 494 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2565-3
Sibylle Peters (Hg.) Das Forschen aller Artistic Research als Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft 2013, 262 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2172-3
Susanne Draheim Das lernende Selbst in der Hochschulreform: »Ich« ist eine Schnittstelle Subjektdiskurse des Bologna-Prozesses
Ulrich Salaschek Der Mensch als neuronale Maschine? Zum Einfluss bildgebender Verfahren der Hirnforschung auf erziehungswissenschaftliche Diskurse
2012, 242 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2158-7
2012, 226 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2033-7
Gert Dressel, Wilhelm Berger, Katharina Heimerl, Verena Winiwarter (Hg.) Interdisziplinär und transdisziplinär forschen Praktiken und Methoden
Katharina Schmidt-Brücken Hirnzirkel Kreisende Prozesse in Computer und Gehirn: Zur neurokybernetischen Vorgeschichte der Informatik
April 2014, ca. 280 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2484-7
2012, 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2065-8
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