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German Pages 381 Year 2023
Olaf Geramanis Stefan Hutmacher Lukas Walser Hrsg.
Organisationale Machtbeziehungen im Wandel Führung zwischen Zustimmung und Zwang
Organisationale Machtbeziehungen im Wandel
Olaf Geramanis · Stefan Hutmacher · Lukas Walser (Hrsg.)
Organisationale Machtbeziehungen im Wandel Führung zwischen Zustimmung und Zwang
Hrsg. Olaf Geramanis Hochschule für Soziale Arbeit Fachhochschule Nordwestschweiz Muttenz, Basel Land, Schweiz
Stefan Hutmacher Hochschule für Soziale Arbeit Fachhochschule Nordwestschweiz Muttenz, Basel Land, Schweiz
Lukas Walser Hochschule für Soziale Arbeit Fachhochschule Nordwestschweiz Muttenz, Basel Land, Schweiz
ISBN 978-3-658-42091-8 ISBN 978-3-658-42092-5 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-42092-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Ulrike Loercher Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany Das Papier dieses Produkts ist recyclebar.
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Der bekannte Basler Jacob Burckhardt (1818–1997) prägte das Diktum, dass alle Macht böse sei. Friedrich Nietzsche (1844–1900) bezeichnet den Willen zur Macht als Grundprinzip alles Lebendigen. Nicht breiter und divergenter könnte die Perspektive sein, unter der uns das Thema Macht entgegentritt: Die Macht der Liebe, die Macht der Worte und Ideen implizieren eine positive Gestaltungsmacht. Wenn Menschen sozial, politisch, kulturell oder wirtschaftlich machtlos sind und keine Entscheidungskompetenz besitzen, wird die Ohnmacht zum Politikum. Die „Mächtigen“ in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft stehen für ein verknöchertes Establishment und die damit verbundenen Strukturen. Es gibt Menschen, die Macht haben, Macht ausüben und an Macht partizipieren, und es gibt andere und zugleich scheint damit immer auch ein Stück Ungerechtigkeit einherzugehen. Wenn es spezifisch um das Thema Machtbeziehungen in Organisationen geht, dann geht es einerseits um die grundsätzliche Frage, worin die Handlungsmöglichkeiten der Mächtigen gegenüber den Untergebenen liegen und welches ihre Spielräume sind. Wer verfügt über welche Fähigkeiten, Probleme zu lösen, die für andere relevant sind? Wer leistet Hilfe und Unterstützung oder wer verweigert sich? Und auch wenn Machtausübung asymmetrisch sein mag, ist sie keineswegs einseitig. Machtbeziehungen sind Austauschbeziehungen, die immer auch interdependente Abhängigkeiten implizieren. Eine Person kann die eigenen Auffassungen nur dann durchsetzen, wenn eine andere Person bereit dazu ist, sich darauf einzulassen – und diese Bereitschaft, sich in die Machtbeziehung einzulassen, ist „im Prinzip“ mit viel Freiheit verbunden, wenn man bereit ist, das Androhungs- und Sanktionsszenarium billigend in Kauf zu nehmen. Insofern sind Organisationen und ihre Führungskräfte nicht lediglich Unterdrückungsapparate, sondern es braucht seitens der Untergebenen ein Minimum an Zustimmung und Kooperationsbereitschaft, worüber sich diese zugleich ihre Autonomie als frei Handelnde bewahren können. Machtbeziehungen basieren darauf, dass sie von den beteiligten Akteuren gemeinsam geteilt werden und ein Minimum an Akzeptanz voraussetzen. Allerdings ist Akzeptanz allein im Sinne der persönlichen Zustimmung nicht hinreichend für organisationale Machtbeziehungen. Es bedarf zusätzlich der Legitimation. Die Macht-Handlung sollte gerechtfertigt sein. Im Vergleich zu traditionalen Herrschaftsordnungen, die auf dem V
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Glauben an die Heiligkeit altüberkommener Herrengewalten beruhen, kann sich rationale Herrschaft auf Legalitätsglauben stützen. Gehorcht wird nicht den willkürlichen Anweisungen, die mit der Person des „Herrn“ verbunden sind, sondern „dem Recht“ bzw. dem „Vorgesetzten“, der als solcher seinerseits ebenso der unpersönlichen Ordnung gehorcht. Rational ist die moderne, bürokratische Form der Herrschaft Max Weber zufolge, soweit es sich um eine unpersönliche, versachlichte Ordnung handelt. Im Idealtypus der Bürokratie stehen die unpersönlichen Beziehungen, die Trennung von Amt und Person, die Trennung von Betriebs- und Privatvermögen, die sachbezogene Verteilung von Kompetenzen und die geprüfte fachliche Leistungsqualifikation der Beamten. In formalen Ordnungen treten rationale, unpersönlich-universalistische Regeln an die Stelle irrationaler, persönlich-partikularistischer Gesichtspunkte. Mithilfe derartiger Legitimationen werden Führungskräfte mit Organisationsmacht (Luhmann, 1975, S. 104) ausgestattet. Dies sind Möglichkeiten, über die berufliche Weiterentwicklung der Mitarbeitenden – Karriere oder Kündigung – zu entscheiden, ihnen materielle Anreize anzubieten oder mit Sanktionen zu drohen. Wie bei Max Weber besteht das Rationale dieser Konstruktion darin, dass die Ausstattung einer Person mit Organisationsmacht aus ihrer Rolle resultiert und nicht aufgrund ihrer besonderen Qualitäten wie Erfahrung, Charisma oder Überzeugungskraft. Solche Qualitäten sind für Führungskräfte zwar wünschenswert, um jedoch Einfluss auszuüben oder eine Abmahnung aussprechen zu können, braucht es keine besonderen Persönlichkeitseigenschaften. Allerdings stehen klassische Organisationsmodelle im Zuge des aktuellen Wandels weg von der Industriegesellschaft hin zu einer Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft unter grundlegendem Veränderungsdruck. Bereits 1969 hat Peter Drucker den Begriff der „Wissensgesellschaft“ geprägt. Seit den 1980er-Jahren vollziehen sich weitreichende Veränderungen in der Organisation von Unternehmen und von Arbeit. Im Bereich qualifizierter Arbeit soll die Organisation dezentraler und flexibler werden. Vor allem gilt es die Ressource Wissen und in ihrer Folge so notwendige Fähigkeiten wie Initiative, Kreativität und Innovation zu erschließen. Allerdings befinden sich diese Kompetenzen weitgehend im Besitz der Mitarbeitenden und lassen sich weder industriell erzeugen noch rational oder linear entwickeln. Je mehr Wissensexpertise aufseiten der Mitarbeitenden liegt, desto mehr verschieben sich die organisationalen Machtverhältnisse und desto größer die Unsicherheit aufseiten der Organisation. Nach Crozier/Friedberg (1979) gibt es vier zentrale Ungewissheitszonen in Organisationen: 1) besagtes Expertenwissen, 2) die Umweltbeziehungen der Organisation, 3) die Kontrolle von Informationsflüssen und Kommunikationskanälen und 4) die Nutzung von organisationalen Regeln. In all diesen Punkten kommt die Organisationsmacht mit ihrer klassisch-bürokratischen Kontrollform an ihre Grenzen: Geschäftsverteilungspläne, Budgetrichtlinien, Rollenbeschreibungen, Entscheidungsverfahren versagen unter Ungewissheit und so bestehen die aktuellen Lösungsideen darin, auf agile, sozio- oder holokratische Organisationskonzepte sowie auf Selbstorganisation zu setzen. Dabei gilt es nicht nur, die eigene Arbeit selbst zu organisieren, sondern auch die eigene Arbeit selbst mit anderen abzustimmen
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und zu koordinieren. Zwar handelt es sich hierbei auch um organisationale Strukturen und Verfahren, allerdings bringen diese die Machtverhältnisse keineswegs zum Verschwinden – was sie auch nicht vorgeben, allerdings verlagern sie sie stattdessen in die Informalität der Kooperationsbeziehungen. Keine offiziell-formale Hierarchie und keine positionale Macht mehr, keine vorgegebenen Entscheidungsverfahren oder entschiedene Entscheidungsprämissen – alles wird scheinbar kooperativ und auf gleicher Augenhöhe ausgehandelt. Wie lassen sich projektförmige, temporär befristete, hyperflexible Arbeitszusammenhänge organisationstheoretisch deuten? Wie lassen sich Kooperationsverhältnisse von Organisationen fassen, die einen gewissen Bestand, aber keine „gesatzte“ Grundlage haben? Was ist ein Organisationsbegriff wert, der zunehmend mit Begriffen wie Netzwerk, Felder oder Räume bzw. durch Substantivierung von Verben wie „Organizing“, „Strategizing“, „Sensemaking“ etc. ergänzt wird? Nicht zuletzt vollzieht sich im Zuge dessen eine weithin ungeplante Ausweitung informellen Arbeitshandelns und informeller Prozesse, die sich der organisationalen Objektivierung und Formalisierung entziehen. Wie verändert sich das Verhältnis zwischen Formellem und Informellem, und was genau ist das Informelle? Was dieses Nicht-Formale ist, ist recht uneindeutig und scheint sich vor allem über die Verneinung des Formalen definieren zu lassen: Das „Unterleben“ der Organisation, die „dunkle Seite“ neben der hellen, die Hinterbühne neben der Vorderbühne, die Abweichung von der Regel, das Menschliche neben dem Sachlichen. Wie aber wird an diesen Orten mit Macht umgegangen? Hier kann sich die Organisation nicht einfach aus der Affäre ziehen. Auch wenn die Arbeit zunehmend selbstorganisiert und tendenziell informell wird, bedarf sie dennoch klarer Rahmenbedingungen, durch die sie ermöglicht und unterstützt wird. So paradox sich die „Organisation des Informellen“ anhören mag, sie beinhaltet nicht die Transformation des Informellen in die formelle Organisation bzw. die Objektivierung und Formalisierung des Nicht-Objektivierten und des Nicht-Formalisierten, sondern die Anerkennung der besonderen Struktur des Informellen, dessen Ermöglichung sowie den darin enthaltenen Umgang mit Macht. Die Struktur unseres Sammelbandes Im vorliegenden Sammelband haben wir Expertinnen und Experten eingeladen, darüber nachzudenken, wie sich Machtbeziehungen im Fokus von Organisation gestalten und wie diese gegenwärtig von Eindeutigkeit oder Widersprüchlichkeit gekennzeichnet sind. Wer über den Zusammenhang von Macht und Organisation nachdenkt, wird unausweichlich mit der Frage konfrontiert, wie Führung stattfindet und welche Zwänge und Formen der Zustimmung sich durch den Wandel ergeben. In diesem Sinne freuen wir uns, Ihnen den vorliegenden Sammelband präsentieren zu können. Er ist in vier Teile gegliedert, wobei wir zu Beginn jedes Abschnitts kurz erläutern, unter welchem Fokus wir die jeweiligen Expertinnen und Experten eingeladen haben, an diesen Themen mitzudenken.
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Teil I – Gegenwartsbeschreibungen organisationaler Machtbeziehungen In welchen Zeiten leben wir? Was ist neu oder anders geworden in unserer Gegenwart mit Blick auf Organisation und Macht? Welche Kontinuitäten lassen sich in den Gegenwartsbeschreibungen ausmachen, welche Verbindungen zwischen Organisation und Macht müssen neu beschrieben werden, um die Veränderungen verstehen und einordnen zu können? Mit welchen Begriffen von Macht operieren wir und welche Sinndimensionen konstruieren wir dadurch? Aus unserer Sicht manifestiert sich insbesondere in Organisationen ein Spannungsverhältnis zwischen klassisch-spezifischen Bedingungen und Strukturen auf der einen und einer eher diffusen Handlungs- und Gestaltungsmacht auf der anderen Seite. Um Verschiebungen der Gegenwart entdecken und die möglicherweise neuen Konfigurationen der Macht verstehen zu können, ist es sowohl notwendig, die Konzepte zu kennen, die unser Denken über Macht und Organisation bislang geprägt haben, als auch zu akzeptieren, dass es ein zeitloses Bemühen ist, die unterschiedlichen Sinndimensionen von Macht, die auf die Menschen einwirken, zu verstehen. Der erste Teil widmet sich diesen Fragen aus sechs unterschiedlichen Perspektiven. Der Themenschwerpunkt wird eröffnet mit dem Beitrag von Olaf Geramanis. Unter dem Titel Macht in Gruppen und Organisationen – Zwei unterschiedliche Systemlogiken und die Konsequenzen für die Führung wird beleuchtet, wie unterschiedliche Handlungslogiken in Organisationen in Bezug auf Macht die jeweilige Organisationsdynamik konstituieren. Roland Reichenbach geht in Zur Kultur der kaschierten Dominanz der Frage nach, wie wir in Organisationen mit der Asymmetrie der Kommunikationsverhältnisse umgehen, welche Verhaltensweisen der Kaschierung sich daraus ergeben und was dies für situationssensibles Selbstpräsentationsmanagement bedeutet. In Entwicklungschancen oder Regressionsgefahr? – Die Verzahnung von äußerer Bedrohung und innerseelischer Dynamik und ihre Auswirkung auf die menschlichen Beziehungen richtet Markus Fäh den Blick auf die aktuelle Gegenwart und rückt die Perspektive des Einzelnen in den Fokus und damit verbunden die Frage nach dem seelischen Gleichgewicht in (Macht-)Beziehungen in Gruppen und Organisationen. Thomas Matys richtet seine grundlegende Analyse mit dem Titel Organisation und Macht. Soziologische Perspektiven auf die “Herrschaft durch Organisation“ und die Auswirkungen der Machtbeziehung auf die Erwerbsarbeit. Melanie Germann untersucht in Wenn die Generation Z die Spielregeln neu definiert, wie Erwartungen und Arbeitsmotive der jungen Generation von Berufseinsteigenden die Machtverhältnisse in Organisationen verschieben und skizziert entsprechende Handlungsimpulse für die Praxis. Den Abschluss des ersten Teils macht Barbara Lesjak mit Gender – jenseits der Binarität – Zur Gendergerechtigkeit in Gesellschaft, Organisationen und Teams. Sie geht der Frage nach, wie Organisationen auf gesellschaftliche Phänomene und Veränderungen reagieren und in welcher Art und Weise diese den Prozess der Wahrheitsfindung inszenieren.
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Teil II – Führung zwischen Zustimmung und Zwang Dieser Teil richtet den Blick auf die Beziehungsdimension und damit auf das Geflecht der Handlungsmöglichkeiten sowie deren Voraussetzungen für Führung. Diese Relationalität in Organisationen, dieses komplexe Beziehungsgefüge ist immer strukturell unterfüttert, wodurch Handlungs- und Antwortmöglichkeiten, Spielräume und Gestaltungsmöglichkeiten maßgeblich beeinflusst werden. Macht und Organisation sind ein ineinander verschränkter Komplex, in welchem Asymmetrien zur Regel gehören und worin man sich selbst beständig zwischen Zustimmung und Zwang bewegt. Organisationen sind daher ambivalente Orte der Negation und Affirmation von erteilten wie eigenen Machtansprüchen. Die Präposition „zwischen“ verweist auf die Ambivalenzen und Begrenzungen des Organisierens mittels Entscheidung durch Führung und kennzeichnet gleichzeitig das Vorhandensein von Entscheidungsräumen. Führungsentscheidungen sind demnach immer eine Suche nach tragfähigen Antworten unter Widersprüchlichkeit in sich verändernden Verhältnissen. Das Navigieren zwischen Zustimmung und Zwang erfordert die Fähigkeit, in der Komplementarität Alternativen des Handelns zu entwickeln, was eine Wahrnehmungsund Deutungsleistung erfordert. Die nächsten sechs Beiträge befassen sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit den wechselseitigen Deutungsleistungen, unter denen organisationale Machtbeziehungen zwischen Zustimmung und Zwang verstanden werden können. Heidi Möller und Thomas Giernalczyk eröffnen thematisch Teil II aus psychodynamischer Perspektive mit ihren Überlegungen zu Agilität.Macht.Containment und stellen die Frage, wie die Etablierung von personalem und strukturellem Containment in Organisationen gelingen kann und wie Führungskräfte durch Selbstreflexion ihre Ambiguitätstoleranz erweitern können. Klaus Eidenschink rückt die Frage der Entscheidungen ins Zentrum seiner Überlegungen in Paradoxien der Führung – Warum es in Organisationen selten so läuft wie gewünscht. Mithilfe der Unterscheidung Autorität, Führung und Macht arbeitet er Möglichkeiten und Begrenzungen heraus. Die Frage der Ungleichbehandlung von Frauen im Arbeitsleben greift Barbara Kuchler in Geschlecht im Arbeitsleben – Macht, Aussehen, Ausdrucksverhalten auf und beleuchtet in ihrer systemtheoretischen Analyse etablierte vorherrschende Ordnungen und legt deren Widersprüchlichkeiten frei. Mit Herausforderung Wachstum – Zwang zur Anpassung oder Freiheit für Entwicklung? gehen Maria Schmuck, Sara Willms und Johannes Willms der Frage nach, wie es um das Verhältnis zwischen dem persönlichen Wachstum der einzelnen Person und dem Anspruch der Organisation steht, wenn diese auf das „ganze Selbst“ zugreifen möchte. Theresia Volk diskutiert aus ihrer Praxis-Perspektive Power needs Belonging – Die Krise der Macht ist eine Krise der Zugehörigkeit. Ihre These lautet, dass dort, wo Zugehörigkeiten fehlen, auch die Haltbarkeit von Macht verfällt, und sie analysiert, was dies für Führungskräfte an Herausforderungen bedeutet. Abschließend diskutiert Andrea Kleinhuber in einer kritischen Lesart den Mainstream der Führungsentwicklung in Machtaspekte und Machtdynamiken – Blinde Flecken in der Führungsentwicklung. Im Zentrum der Kritik stehen die dominanten Diskurse und verbreiteten Herangehensweisen; dabei wird deutlich, dass Machtaspekte selten explizit adressiert, sondern zumeist ausgeblendet werden.
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Teil III – Organisationale Kontextgestaltung und ihre Machtdynamiken Organisationale Kontexte oszillieren zwischen sozialer Kontingenz und ihren selbst konzipierten Formen organisierten Handelns. In Bezug auf die Kontextbetrachtung ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, wie weit und komplex das Feld letztlich ist: Es geht um Fragen von Abläufen, Entlohnung, Beschäftigungszeiten und Arbeitsbedingungen, aber auch darum, wie die Sphäre des Sozialen innerhalb der Organisation organisiert werden kann. Organisationale Kontexte sind Orte der Aggregation, an denen sich einerseits koordiniertes Handeln und strukturelle Gegebenheiten im Zusammenwirken verdichten, sich andererseits gerade daraus immer auch Konflikte ergeben. Einerseits gibt es konzipierte organisationale Machtverhältnisse, welche sich durch Hierarchie-, Disziplinarisierungs- und Legitimationsformen manifestieren, und andererseits gibt es immer die Möglichkeit zur (Ent-)Subjektivierung der Macht und einer entsprechend neuen Konfiguration der Kontextverhältnisse. Die Gestaltung organisationaler Kontexte ist daher immer ein Sich-Bewegen in und mit Machtdynamiken, ein Ort, an dem sich andauernde Kompetenzkonflikte abspielen. Eine wesentliche Voraussetzung, um die Machtdynamiken zu verstehen, ist es, eine spezifische theoretische Perspektive zu wählen, von der aus eine Betrachtung erfolgen kann. Teil III bietet fünf unterschiedliche Perspektiven auf die Interpretation von Kontexten, auf deren Gestaltung und die möglichen machtdynamischen Folgen, die sich daraus ergeben. Eröffnet wird Teil III thematisch von Sven Kette mit Machtspiele ‚über Bande“ – Wie sich organisationale Machtverhältnisse im Zuge des Compliance-Managements wandeln, dabei wird analysiert, welche Konsequenzen sich aus der Symmetrisierung von Machtverhältnissen in Organisationen ergeben. Im Zentrum der Analyse stehen die formalen Strukturkontexte. Mit Macht im Labor – Problemstellungen im gruppendynamisch fundierten Organisationstraining beleuchten Matthias Csar und Ulrich Krainz, wie sich soziale Systeme konstituieren, wenn keine organisationale formale Struktur vorhanden ist, und diskutieren ausgewählte Phänomene des Organisierens sozialer Gefüge. Heiko Kleve nimmt mit Macht in Unternehmerfamilien – Die Governance von Familienorganisationen die Machtdynamiken dieser spezifischen Organisationsform in den Blick und zeigt auf, wie Formen der Bearbeitung in den verkoppelten Kontexten Familie, Eigentum und Unternehmen gelingen können. Die Analyse Einfluss und Ohnmacht der Personalentwicklung in KMU – Impulse aus einer organisationsethnografischen Studie von Evelina Sander, Carina Kröber, Franziska Anhalt und Michael Dick zeigt auf, welche Spannungsfelder sich für die Personalentwicklung bei der Einflussnahme und Gestaltung von organisationalen Prozessen zeigen, welche Quellen der Ohnmacht es gibt und welche Wirkung diese entfalten. Abschließend zeigen Falko von Ameln und Christoph Buckel mit Soziodrama als Simulation sozialer Systeme – Macht in Change-Prozessen auf, wie man die Komplexität von Veränderungsdynamiken methodisch beobachtbar macht und entsprechend den Möglichkeiten der Reflexion erweitern kann, um die jeweiligen organisationalen Kontexte mit ihren Machtdynamiken besser zu verstehen.
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Teil IV – Veränderungsherausforderungen organisationaler Machtbeziehungen Die Herausforderungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind vielfach beschrieben, doch wie genau wirken sich diese auf die Machtbeziehungen in Organisationen aus? Wie wirken sich technologische Innovationen auf die organisationale Verfasstheit aus? Wie kann dem Neuen begegnet werden? Welches Fortschrittsverständnis ist notwendig, um soziale und technologische Dimensionen zu verschränken, und welche Verschiebungen der organisationalen Machtbeziehungen lassen sich beobachten und beschreiben? In der Debatte darüber, welche Veränderungsherausforderungen sich aus all dem ergeben, erscheint es sinnvoll, die möglichen Dimensionen nicht in paradigmatischen Abgrenzungen zu denken, sondern sie von innen her zu untersuchen: Wo sind die möglichen Schwachstellen aufzuspüren, um nachfolgend sowohl praktische als auch ethische und moralische Fragen zu diskutieren? Die fünf Beiträge in Teil IV bewegen sich durch das spekulative Feld der kommenden Herausforderungen und tragen aus unterschiedlichen Perspektiven dazu bei, Unklarheiten und Ambivalenzen zu beleuchten. Sie bieten damit Anhaltspunkte für organisationales Handeln mit Blick auf die sozialen wie technischen Machtverhältnisse. Teil IV wird von Ulrich Lenz eröffnet mit dem Beitrag Machtverschiebung durch generative künstliche Intelligenz – und die Konsequenzen für das Transformationsmanagement. Dabei werden die Umbrüche der Mensch-Maschine-Interaktion analysiert und die Machtverschiebungen vom Menschen hin zu KI-Anwendungen aufgezeigt sowie entlang von ethischen Gesichtspunkten diskutiert. Maria Spindler geht in ihrem Beitrag Machtbewusstsein im Zeitalter von Artificial Intelligence – Urgency- und Desirezustände dynamisieren in funktional organisierter Gewohnheit der Frage nach, welche Verständnisse von Organisation eine Kultur der Dynamisierung ermöglichen und welche Handlungsprinzipien dafür förderlich erscheinen. Die Veränderungsherausforderung für Organisationen beleuchten Stephan Kaiser und Arjan Kozica in Hybride Arbeit, Freelancer, Gig-Working und Co: Machtdynamiken in grenzaufgelösten und dezentralisierten Arbeitsorganisationen. Sie untersuchen, wie sich durch neue Formen der organisationalen Mitgliedschaft und Zugehörigkeit die Machtdynamiken verschieben. Frank H. Baumann-Habersack richtet seinen Fokus auf die soziale Dimension in Die Macht der Autorität – Warum wir für die Transformation eine Evolution unseres Bewusstseins zu Autorität brauchen, dabei werden Transformationsperspektiven diskutiert, welche feststehende Machtasymmetrien hinterfragen und Haltungsfragen evozieren. Die Fallstudie Mythos „machtlose“ Agilität: Was passiert mit der Macht in einer agilen Transformation? von Sara Berli, Johann Weichbrodt und Katrina Welge zeigt auf, welche Herausforderungen eine breitere Verteilung von Macht in Organisationen darstellt und wie komplex sich die Transformation entsprechend gestalten würde. Noch ein Hinweis, bevor es losgeht: Beim Lesen werden Sie feststellen, dass sich einige der Beiträge in ihren Sichtweisen bestätigen und ergänzen, andere wiederum total gegensätzliche Positionen vertreten. Diese Perspektivenvielfalt ist beabsichtigt und gewollt. Sie spiegelt sich zugleich in den vertretenen Disziplinen und dem je spezifischen Theorie-Praxis-Bezug der Autorinnen und Autoren
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wider. Es geht uns daher nicht um die Vereinheitlichung einer Lehrmeinung, sondern darum, einen vielfältigen Diskurs anzustoßen. Wir wünschen viel Freude an der Lektüre! Ihre Herausgeber Basel Olaf Geramanis im Mai 2023 Stefan Hutmacher Lukas Walser
Inhaltsverzeichnis
Teil I 1
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Gegenwartsbeschreibungen organisationaler Machtbeziehungen
Macht in Gruppen und Organisationen – zwei unterschiedliche Systemlogiken und die Konsequenzen für die Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Olaf Geramanis 1.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Eine Definition von Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Macht in Organisationen und die Rückkehr der Person . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Der ewige Konflikt zwischen Person und Organisation . . . . 1.4 Unterscheidung von Interaktion, Gruppe, Organisation . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Alles Gruppe – oder was? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Machtdynamik in Gruppen und Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1 Legitimation via Rolle oder Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.2 Selbstverpflichtung durch Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.3 Unpersönliche und persönliche Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Fazit: Die Gruppe in der Organisation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Kultur der kaschierten Dominanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Roland Reichenbach 2.1 Das Phänomen der Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Zur Krise der Autoritätskrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Kaschierung von Befehl und Gehorsam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungschancen oder Regressionsgefahr? – Die Verzahnung von äußerer Bedrohung und innerseelischer Dynamik und ihre Auswirkung auf die menschlichen Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markus Fäh Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
Organisation und Macht. Soziologische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Matys 4.1 Annäherungen an das Problem – die Perspektive der Organisationssoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Organisationale Machtbeziehungen – das klassische Programm . . . . . 4.3 Ein verändertes Machtverständnis in Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 „Neue“ Arbeit in Organisationen – neue Machtkonstellationen? . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wenn die Generation Z die Spielregeln neu definiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Melanie Germann 5.1 Fachkräftemangel als Treiber für die Machtverschiebung . . . . . . . . . . . 5.1.1 Dynamiken in Organisationen, ausgelöst durch den Fachkräftemangel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Fachkräftemangel als Chance zur Inklusion? . . . . . . . . . . . . . 5.2 Generation Z . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Belastungstest für das Generationenkonzept . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Die Generation Z polarisiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Die Generation Z im Arbeitsleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Die Sozialarbeitenden von morgen verändern die Spielregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Arbeitgeberattraktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Organisationen der Sozialen Arbeit unter Druck . . . . . . . . . . 5.3.2 Ein Blick in die Praxis – Führungspersonen berichten . . . . . 5.4 Handlungsimpulse für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Impulse für Führungspersonen im Personalgewinnungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Impulse für Führungspersonen zur Personalentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gender – jenseits der Binarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Barbara Lesjak 6.1 Gerechte Geschlechterverhältnisse? Keine einfache Fragestellung . . . 6.2 Gender Mainstreaming: rechtlicher und institutioneller Referenzrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Politischer und pädagogischer Auftrag zur Beseitigung von diskriminierenden Machtverhältnissen . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Gender(kompetenz) in Bildungsinstitutionen . . . . . . . . . . . . . 6.3 Gender(kompetenz) zwischen Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Was ist theoretisch korrekt, was ist politisch korrekt, was ist praktisch korrekt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6.3.2 Normative und performative Dimensionen . . . . . . . . . . . . . . . Widersprüchlichkeit in Genderfragen: das Problem mit der doppelten Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1 Kollektive Wertfigur und normativer Imperativ . . . . . . . . . . . 6.4.2 Wessen Wahrheit gilt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Geschichten zur Geschlechterdifferenz oder zur Frage hinter der Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.1 Binäre Codierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.2 Kugelmenschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.3 Kritische Reflexion zu normativen Bildern . . . . . . . . . . . . . . . 6.6 Schlussbemerkungen und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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91 92 93 94 95 96 96 98 100
Führung zwischen Zustimmung und Zwang
Agilität.Macht.Containment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heidi Möller und Thomas Giernalczyk 7.1 Containment: Halt geben für die Entwicklung von Neuem . . . . . . . . . . 7.1.1 Personales Containment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Struktur-Containment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Containment und Machtbeziehungen im agilen Arbeitskontext . . . . . . 7.2.1 Hirtenmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Ordnungsmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Entwicklungsschritte der Führenden aus psychodynamischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1 Die Bedeutung der Ambiguitätstoleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2 Das Containment lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.3 Berufsbezogene Selbsterfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paradoxien der Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Eidenschink 8.1 Autorität, Führung, Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Paradoxe Verschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Wollen und Tun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Vergangenheit und Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Gut und böse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6 Widerspruch und Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.7 Entscheidungen und Enttäuschungszwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.8 Sicherheiten und Unsicherheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
105 106 106 106 107 108 109 110 111 112 114 117 118 121 121 124 126 128 129 130 131 132 134
XVI
9
Inhaltsverzeichnis
Geschlecht im Arbeitsleben – Macht, Aussehen, Ausdrucksverhalten . . . . . Barbara Kuchler 9.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Gesellschaft und Rollenverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Interaktion und Ausdruckskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10 Herausforderung Wachstum – Zwang zur Anpassung oder Freiheit für Entwicklung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Willms, Sara Willms und Maria Schmuck 10.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Grenzen des Wachstums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Die persönliche Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Neue Arbeit – neue Erwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.5 Synergie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.6 Leuchttürme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.7 Entwicklung im Erwachsenenalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.8 Strategien für die Entwicklung von Person und Organisation . . . . . . . 10.8.1 Nova Energica – Mindset matters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.8.2 Neufirm organisiert sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.8.3 Neue Wege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.9 Herausforderung Wachstum – kontinuierliche Entwicklung entwickeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.10 Starten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.10.1 Herausforderung und Unterstützung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.10.2 Aus Fehlern lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.10.3 Feedback . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.10.4 Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.10.5 Struktur, Tiefe, Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.11 Wir müssen lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Power needs Belonging . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theresia Volk 11.1 Die Krise der klassischen Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.1 Fehlendes Interesse an Machtpositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.2 Weniger explizite und implizite Zustimmung zu formalen Machtstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.3 Diffusion von Macht in modernen Organisationen . . . . . . . . 11.2 Die Krise der Zugehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.1 Soziale Zugehörigkeit: Teams erodieren . . . . . . . . . . . . . . . . .
135 135 138 143 147 149 151 152 153 154 155 156 156 157 159 159 160 162 163 164 164 165 165 165 166 166 167 169 170 170 171 172 173 174
Inhaltsverzeichnis
11.2.2 Fachliche Zugehörigkeit: Professionen verwässern . . . . . . . . 11.2.3 Ideelle Zugehörigkeit: Commitments lösen sich auf . . . . . . . 11.3 Haltlose Macht und der flexible Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3.1 Das Fehlen eines gemeinsamen Dritten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3.2 Machtlose Macht, paradoxe Führungsversuche . . . . . . . . . . . 11.3.3 Neue Haltbarkeit von Macht? Neue Zugehörigkeiten? . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Machtaspekte und Machtdynamiken – blinde Flecken in der Führungsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andrea Kleinhuber 12.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Machtaspekte in der Führungsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.1 Gängige Konzepte von Führung: (Post-)Heroen und alter Wein in neuen Schläuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.2 Die technizistische und funktionalistische Perspektive auf Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.3 Gängige Herangehensweisen und die Nicht-Befähigung zum Umgang mit Macht . . . . . . . . . . . . . . 12.3 Machtdynamiken im Kontext von Führungsentwicklungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3.1 Machtverhältnisse zwischen Stakeholdern . . . . . . . . . . . . . . . 12.3.2 Identitätsarbeit und die Konstruktion von Wahrheiten und Regulativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.4 Kritische Alternativen zum Mainstream . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.5 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil III
XVII
175 177 178 178 179 181 183 185 185 186 186 188 189 191 192 193 195 198 199
Organisationale Kontextgestaltung und ihre Machtdynamiken
13 Machtspiele „über Bande“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sven Kette 13.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2 Macht und Formalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3 Compliance Management als Metaformalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.4 Macht im Kontext von Metaformalität – und ihre Folgen für die Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
203 203 206 209 211 213 213
XVIII
Inhaltsverzeichnis
14 Macht im Labor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matthias Csar und Ulrich Krainz 14.1 Fokusbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2 Das Organisationstraining der Klagenfurter Schule . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3 Machtdynamiken im Organisationstraining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3.1 Macht und Ohnmacht der amorphen Menge . . . . . . . . . . . . . 14.3.2 Innen- und Außenpolitik von Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3.3 Notwendige Hierarchisierung zur Übernahme von Gesamtverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.4 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Macht in Unternehmerfamilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heiko Kleve 15.1 Ausgangspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.2 Macht – eine systemtheoretische Bestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.3 Unternehmerfamilien zwischen elementaren, informalen und formalen Machtdynamiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.3.1 Elementare Ebene von Macht in Unternehmerfamilien . . . . 15.3.2 Informale Ebene von Macht in Unternehmerfamilien . . . . . . 15.3.3 Formale Ebene von Macht in Unternehmerfamilien . . . . . . . 15.4 Macht und ihre Formalisierung durch Organisation der Unternehmerfamilie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.5 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Einfluss und Ohnmacht der Personalentwicklung in kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evelina Sander, Carina Kröber, Franziska Anhalt und Michael Dick 16.1 Theoretisch-konzeptionelle Grundlagen und empirische Basis der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.2 Personalentwicklung. Macht. Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.2.1 Zum Selbstverständnis der Personalentwicklung: Arbeit in einer Spannungsfeldlandschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.2.2 Quellen der Ohnmacht der Personalentwicklung . . . . . . . . . . 16.2.3 Impulse für eine (selbst)wirksame Personalentwicklung . . . 16.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Soziodrama als Simulation sozialer Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Falko von Ameln und Christoph Buckel 17.1 Das Soziodrama . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
217 218 219 221 222 224 226 228 230 233 233 235 237 238 241 242 243 247 248 251
253 255 255 260 264 266 266 269 272
Inhaltsverzeichnis
Ein mehrdimensionales Modell von Machtdynamiken in Veränderungsprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.2.1 Ebene 1: Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.2.2 Ebene 2: Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.2.3 Ebene 3: Formale Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.2.4 Ebene 4: Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.3 Konsequenzen für den Umgang mit Macht in Change-Prozessen . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XIX
17.2
Teil IV
276 276 278 281 284 285 286
Veränderungsherausforderungen organisationaler Machtbeziehungen
18 Machtverschiebung durch generative künstliche Intelligenz – und die Konsequenzen für das Transformationsmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Lenz 18.1 Generative KI: ein Evolutionssprung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.2 Macht und Einfluss in der Interaktion mit generativer KI: grundlegende Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.2.1 Machtverschiebung vom Menschen auf die Technologie einer KI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.2.2 Machtverschiebung von der Hierarchie zu Agenten einer dezentralen Einsatzkompetenz der KI . . . . . . . . . . . . . . 18.2.3 Technologische Entwicklungen als Treiber für die Akzeptanz der Einflussmacht generativer KI durch den Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.3 Kritische Diskussion der Machtverlagerungen durch generative KI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.3.1 Machtverschiebungen durch Besetzung menschlicher Unsicherheitszonen durch die KI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.3.2 Ethische Aspekte der Machtverschiebung auf KI . . . . . . . . . 18.4 Auswirkungen der Überlegungen zu Macht und Einfluss auf die Gestaltung von Transformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.5 Transformation der Transformation: ein kurzer Ausblick . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Machtbewusstsein im Zeitalter von Artificial Intelligence . . . . . . . . . . . . . . . Maria Spindler 19.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2 Womit haben wir es zu tun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2.1 Hoffnungen, Täuschungen und Gefahren . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2.2 Bewusstsein als Hintergrundfolie für Machtordnungen . . . .
291 291 293 293 295
297 300 300 302 303 305 305 309 310 311 312 315
XX
Inhaltsverzeichnis
19.3
Ein gemeinsamer Weg der Differenzierung und Integration unterschiedlicher Intelligenzen und Machtordnungen . . . . . . . . . . . . . . 19.3.1 Ein prozessorientiertes funktionales Macht- und Organisationsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.3.2 Disruptionen nutzen lernen: Urgency und Desire prozessieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Hybride Arbeit, Freelancer, Gig-Working und Co: Machtdynamiken in grenzaufgelösten und dezentralisierten Arbeitsorganisationen . . . . . . . . . Stephan Kaiser und Arjan Kozica 20.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.2 Die Wertschöpfung in einer grenzaufgelösten und dezentralisierten Organisation von Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.3 Machtdynamiken bei dezentralisierter und grenzaufgelöster Organisation von Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.3.1 Die Bedeutung von Macht in Organisationen . . . . . . . . . . . . . 20.3.2 Veränderung von Machtdynamiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.4 Abschließende Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Die Macht der Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Baumann-Habersack 21.1 Wenn nicht nur Freiheit endet, sondern auch Gewalt beginnt . . . . . . . 21.2 Autorität ist nur eine Form von Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.3 Ein neues Verständnis von Autorität erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.4 Die Evolution unseres Bewusstseins zu Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.5 Der persönliche Evolutionsprozess im Bewusstsein zu Autorität . . . . . 21.6 Wie können wir die Macht der Autorität für die Transformation nutzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Mythos „machtlose“ Agilität: Was passiert mit der Macht in einer agilen Transformation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sara Berli, Johann Weichbrodt und Katrina Welge 22.1 Wie konstituiert sich Macht in herkömmlichen und agilen Organisationsstrukturen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.1.1 Machtbegriff und Unterscheidung von formaler und informaler Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.1.2 Weiterbestehen von Macht in Agilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.2 Veränderung von Macht in einer agilen Transformation am Beispiel von HHM Aarau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
319 320 321 323 325 326 327 329 329 332 335 336 339 340 342 345 348 350 352 353 355
357 357 358 360
Inhaltsverzeichnis
Ein Ingenieurunternehmen begibt sich auf eine „Agile Transformation Journey“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.2.2 Neue Organisationsstrukturen schaffen neue Machtverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.2.3 Neue Entscheidungsgefäße für eine breitere Verteilung von Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.2.4 Verschiebung von Macht und Verantwortung in den (hierarchischen) Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.3 Fazit: Der „agilen Macht“ auf der Spur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XXI
22.2.1
360 360 362 364 366 368
Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Über die Herausgeber Prof. Dr. Olaf Geramanis leidenschaftlicher Gruppendynamiker. Dozent FHNW, Diplompädagoge (univ.), Coach, Supervisor und Organisationsberater (BSO), ausbildungsberechtigter Trainer für Gruppendynamik (DGGO). Jahrgang 1967, bis 2000 Offizier der Bundeswehr, ab 1999 wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Wirtschaftspädagogik der Universität der Bundeswehr München. Seit 2004 Dozent für angewandte Gruppendynamik und personenorientierte Beratung an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW in Basel. In der Weiterbildung und Dienstleistung in den Bereichen Beratung, Coaching, Change und Teamentwicklung unterwegs. Studienleiter des MAS Change und Organisationsdynamik. [email protected] I www.organisationsdynamik.ch Stefan Hutmacher Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz, Muttenz, Basel Land, Schweiz Lukas Walser Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz, Muttenz, Basel Land, Schweiz
Autorenverzeichnis PD Dr. Falko von Ameln Norden, Deutschland Franziska Anhalt Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland Frank Baumann-Habersack M.A. Burgdorf, Deutschland Sara Berli Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Angewandte Psychologie, Olten, Schweiz Christoph Buckel Soziodrama Akademie, Heidelberg, Deutschland XXIII
XXIV
Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Matthias Csar M.A. Fachhochschule Salzburg, Salzburg, Österreich Prof. Dr., Dipl.-Psych. Michael Dick Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland Klaus Eidenschink Eidenschink & Partner, Krailling, Deutschland PD Dr. phil. Markus Fäh Zürich, Schweiz Prof. Dr. Olaf Geramanis Fachhochschule Nordwestschweiz, Muttenz, Schweiz Melanie Germann Fachhochschule Nordwestschweiz, Olten, Schweiz Prof. Dr. phil., Dipl.-Psych., Thomas Giernalczyk M19-Manufaktur, Deutschland
München,
Prof. Dr. Stephan Kaiser Universität der Bundeswehr München, München, Deutschland PD Dr. phil. Sven Kette Universität Luzern, Luzern, Schweiz Andrea Kleinhuber Universitätsspital Basel, Basel, Schweiz Univ.-Prof. Dr. phil. Heiko Kleve Universität Witten/Herdecke, Witten, Deutschland Prof. Dr. Arjan Kozica ESB Business School, Reutlingen, Deutschland Mag. Dr. Ulrich Krainz Pädagogische Hochschule Oberösterreich, Linz, Österreich Carina Kröber Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland Dr. habil. Barbara Kuchler Universität Münschen, München, Deutschland Prof. Dr. Ulrich Lenz Hochschule für angewandtes Management, lsmaning, Deutschland Dr. Barbara Lesjak Pädagogische Hochschule Kärnten, Klagenfurt, Österreich PD Dr. Thomas Matys FernUniversität in Hagen, Hagen, Deutschland Prof. Dr. phil., Dipl.-Psych. Heidi Möller Universität Kassel, Kassel, Deutschland Roland Reichenbach Universität Zürich, Zürich, Schweiz Dr. Evelina Sander Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland Maria Schmuck Deutsche Hochschule für Gesundheit & Sport, Berlin, Deutschland Dr. Maria Spindler Wien, Österreich Theresia Volk thv.Management Consulting, Augsburg, Deutschland Johann Weichbrodt Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Angewandte Psychologie, Olten, Schweiz
Herausgeber- und Autorenverzeichnis
XXV
Katrina Welge Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Angewandte Psychologie, Olten, Schweiz Johannes Willms willms.partner, Göttingen, Deutschland Sara Willms willms.partner, Göttingen, Deutschland
Teil I Gegenwartsbeschreibungen organisationaler Machtbeziehungen
1
Macht in Gruppen und Organisationen – zwei unterschiedliche Systemlogiken und die Konsequenzen für die Führung Olaf Geramanis
Zusammenfassung
Die Hypothese dieses Artikels lautet, dass es im Zeichen neuer organisationaler Arbeitsformen zu einer beachtenswerten Verschiebung im Führungsverhalten und damit in der Verwendung von Macht kommt: Dabei gewinnt vor allem die Orientierung an Person und Gruppe massiv an Bedeutung. Auf eine Kurzformel gebracht bedeutet dies: Erfolgreiche Führung muss neben der Organisationsdynamik eine Expertise für die Gruppendynamik entwickeln. Allerdings stehen der Organisation für diese Aufgabe bislang fast keine adäquaten „organisationalen“ Reaktionsmöglichkeiten zur Verfügung. Um die Unterschiedlichkeit und Unvereinbarkeit der jeweiligen Handlungslogik von Organisation und Gruppe aufzuzeigen, wird die wiederaufgenommene systemtheoretische Diskussion dargestellt, in der die Gruppe – ebenso wie Interaktion, Organisation und Gesellschaft – als ein eigener Systemtyp gilt. Diese Unterscheidung ist bedeutsam, weil es dadurch möglich wird, zwei grundlegend unterschiedliche Macht- und Führungskonzepte zu erfassen und zu bewerten: 1) Das Führen von Rolleninhabern durch Rolleninhaber ist ein konstitutives Merkmal von Organisationen und es erzeugt Organisationsdynamik. 2) Das Führen von Personen durch Personen ist ein Merkmal von Gruppen und damit Teil der Gruppendynamik. Die zentrale Frage lautet: Wodurch lässt sich „nicht organisationale Führung“ innerhalb von Organisationen legitimieren?
O. Geramanis (B) Fachhochschule Nordwestschweiz, Muttenz, Schweiz E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 O. Geramanis et al. (Hrsg.), Organisationale Machtbeziehungen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42092-5_1
3
4
1.1
O. Geramanis
Einleitung
Man kann eine beliebige Aufzählung von Voraussetzungen und Bedingungen rund um das Thema „Leadership“ heraussuchen und wird auf eine mehr oder weniger ähnliche Aufzählung stoßen: Fünf Merkmale für ein gelungenes Leadership: (1) Visionäres Denken, (2) Überzeugende Motivation, (3) Empathische Kommunikation, (4) Persönlichkeit, (5) Risikobereitschaft.1 Drei dieser fünf Eigenschaften zeugen davon, dass sich die Führungskraft auf eine dezidiert persönliche Art und Weise auf ihr Gegenüber einlassen sollte. Um nicht nur selbst überzeugt zu sein – sondern auch „überzeugend motivieren“ und „empathisch kommunizieren“ zu können – muss ich mein Gegenüber schon ziemlich gut kennen. Und dass ich zudem meine ganze „Persönlichkeit“ in die Leadership-Waagschale werfen muss, dürfte vermutlich nicht explizit Teil meines Arbeitsvertrags gewesen sein. Vor allem handelt es sich bei allen drei Eigenschaften um Ressourcen, welche die Organisation rein formell nicht von mir verlangen kann. Sie sind nicht Teil der organisationalen Handlungslogik. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn sich daran nicht eine ganze Reihe von Problemen anschließen würde – vor allem in Bezug auf die Legitimität der daraus resultierenden Handlungen. Es ist die große Errungenschaft von Organisationen, dass sie auf Rationalität gegründet sind und in ihnen eine rationale Domestizierung sowohl der Subjektivität als auch der Macht gilt: „Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps.“ Und selbstverständlich wurde und wird auch innerhalb von Organisationen Schnaps getrunken, und die Mitarbeitenden sind nicht nur rationale Maschinen. Allerdings ist bei der Gegenüberstellung von formal – informal, dienstlich – privat, funktional – emotional stets klar, was offiziell kommunizierbar ist und was inoffiziell behandelt werden muss. In dem Moment, in dem wir uns auf die „Dark Side der Organisation“ begeben, verlassen wir auch ihre offizielle Handlungslogik. Wenn es infolgedessen zunehmend persönlich, emotional, informal und privat wird, wenn die Sehnsucht nach persönlicher Anerkennung bedeutsamer wird als fachliche Korrektheit, wenn Zusammengehörigkeit in Form von individueller Bezugnahme und die Wertschätzung persönlicher Einzigartigkeit zur Grundlage der Kooperation werden, dann braucht es auch für all diese „nicht organisationalen“ Kommunikationsformen wenn schon keine formalen, dann zumindest verlässliche Regelungen – oder eine Expertise darüber, wie man sich darin verhalten kann. Die Fragen, die sich daran anschließen, lauten: • Wodurch lässt sich „nicht organisationale Führung“ innerhalb von Organisationen legitimieren? • Auf welche Art und Weise können unterschiedliche Formen von Macht und Führung erfahren und durchgesetzt werden? • Welche Durchsetzungsformen gibt es neben den rationalen Mechanismen? 1 Führen statt verwalten; 5 Merkmale für gutes Leadership; von Iris Seithel, hr-heute.com.
1 Macht in Gruppen und Organisationen – Zwei unterschiedliche…
1.2
5
Eine Definition von Macht
Es gibt die Macht des Bösen und den Machtmissbrauch, es gibt die Macht der Liebe sowie die Macht der Worte und Ideen im Sinne einer positiven Gestaltungsmacht. Es gibt unzählige Möglichkeiten, das Phänomen „Macht“ beschreiben zu wollen. Foucault erklärt wie folgt: „Nicht weil sie alles umfasst, sondern weil sie von überall kommt, ist die Macht überall. (…) die Macht ist nicht eine Institution, ist nicht eine Struktur, ist nicht eine Mächtigkeit einiger Mächtiger. Die Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt“ (Foucault, 1983, 113). In diesem Sinne ist die Macht immer schon da und sie ist „… allen menschlichen Gemeinschaften immer schon inhärent …“ (Arendt, 1990, 53). Zugleich ermöglicht die Ausübung von Macht die Schaffung von Ordnung: „Macht ermöglicht es, Systeme so zu organisieren, dass sie trotz hoher Komplexität entscheidungsfähig bleiben“ (Luhmann, 2012, 87). Das Schwierige beim Thema Macht besteht darin, dass es nie ganz klar zu sein scheint, inwiefern Macht eine Bedingung der Möglichkeit für etwas anderes ist oder umgekehrt. Brauche ich Macht, um führen oder etwas durchsetzen zu können; oder erhalte ich Macht, weil ich führe und etwas durchsetze? Ist das Ausüben von Kontrolle bereits Macht oder lautet die Frage vielmehr: Unter welchen Bedingungen sind Menschen bereit, dass man Kontrolle über sie ausübt? Diesem Artikel soll ein handlungsorientierter Machtbegriff im Sinne von Hannah Arendt zugrunde gelegt werden: Hannah Arendt schreibt die Macht dem Wesen aller organisierten Gruppen zu, „[die Macht] entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln“ (Arendt, 1990, 45). Macht wird damit 1) zur Voraussetzung und Möglichkeit, innerhalb sozialer Systeme gemäß dem eigenen Interesse zu handeln, den eigenen Willen durchzusetzen und die Durchführung zu kontrollieren. Das allein genügt jedoch nicht. 2) Damit die gemeinsame Handlung überhaupt stattfinden kann, ist Akzeptanz aufseiten derjenigen notwendig, über die die Macht ausgeübt wird. Machtausübung und Machtbefolgung gemeinsam stellen einen kooperativen Akt dar. 3) Daraus folgt, dass Macht zu einem Teil der Absicht einer Person zugeschrieben werden kann, zum anderen Teil ist es Merkmal und Konsequenz einer sozialen Beziehung, die auf irgendeine Art gerechtfertigt sein muss, damit darüber Akzeptanz entstehen kann. Fazit: Die drei Merkmale einer Machtbeziehung lauten: 1) Es braucht eine individuelle Absicht, 2) die Bereitschaft anderer, zu folgen, und 3) die Legitimität der Handlung.2 2 Ohne zu sehr im Detail auf den machttheoretischen Diskurs eingehen zu können, ist das Verhältnis
von Macht und Gewalt interessant: Herrscht in der Machtbeziehung ebenfalls eine Form von Zustimmung, wenn Personen Gewalt angetan wird? Für Arendt ist Gewalt eine Technik der Verfügung, um Menschen einen fremden Willen aufzuzwingen, indem ihre Handlungsfähigkeit einseitig zerstört wird. Damit ist Gewalt gerade kein Zeichen von Stärke, sondern ein Ausdruck von Ohnmacht. Sie wird dann eingesetzt, wenn die Macht einer Mehrheit fehlt und diese durch (Waffen-)Gewalt
6
1.3
O. Geramanis
Macht in Organisationen und die Rückkehr der Person
Edgar Schein (1980, 20) versteht Organisation als „jede nach rationalen Gesichtspunkten erfolgende Koordination der Aktivitäten einer Anzahl von Menschen mit dem Zweck, ein gemeinsames, explizit genanntes Ziel vermittels der Aufteilung von Arbeit und Funktionen und vermittels einer hierarchisch geordneten Autorität und Verantwortlichkeit zu erreichen.“ Komprimierter lässt sich das Phänomen Organisation nicht beschreiben. Allerdings war es ein weiter Weg, bis es dazu kam. Die ursprüngliche Form der „Koordination“, oder besser der Machtausübung, im Kontext der frühen Industriearbeit sah deutlich anders aus. Richard Edwards bezeichnet die erste und früheste Form als einfache und persönliche Kontrolle, welche besonders durch Willkür, persönliche Macht, Autorität, Despotismus, informelle, unmittelbare und unstrukturierte Ausübung durch die Kapitaleigner gekennzeichnet ist. Edwards zufolge währte diese Form hauptsächlich zur Zeit der beginnenden Industrialisierung vom 19. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts und wurde durch die damals vorherrschenden kleinen Unternehmensgrößen und deren geografische Konzentration begünstigt (ders, 1981, 33 ff.). Die Form der persönlichen Kontrolle wurde durch das widerständige Verhalten der Arbeiter und die fortschreitende Industrialisierung zunehmend schwieriger, besonders aufgrund der Expansion der Unternehmen hin zu größeren und komplexeren Produktionskonglomeraten, des rapide steigenden Umfangs nicht manueller Arbeit sowie einer differenzierten Arbeitsteilung und geografischen Verteilung der Geschäftsaktivitäten. Letztendlich resultierte daraus eine immer größer werdende Distanz zwischen dem Management und der Arbeiterschaft (ebd., 61 ff.). Um sich diesen veränderten Rahmenbedingungen anzupassen, entwickelte sich eine zweite Form der Kontrolle: die strukturelle Kontrolle. Darunter fasst Edwards zwei verschiedene Ausprägungsarten zusammen: die „technische Kontrolle“ und die „bürokratische Kontrolle“. Konstitutives Merkmal dieser Kontrollformen sei, dass die Macht- und Kontrollausübung hinter der Arbeitsstruktur verborgen bleibe und nicht wie im Falle der einfachen und persönlichen Kontrolle für alle sichtbar und unstrukturiert erfolge (ebd., 123). Das 1911 (in deutscher Version 1919) von Frederick Winslow Taylor begründete „Scientific Management“ basierte auf der Erkenntnis, dass industrielle Arbeitsprozesse bis dahin unzulänglich strukturiert und die Arbeiter schlecht ausgebildet waren. Die Organisation von Produktionsprozessen sollte für den großen amerikanischen Massenmarkt tauglich gemacht werden. Der Weg führte über die Objektivierung von Arbeit durch horizontale und vertikale Spezialisierung. Horizontale Spezialisierung bedeutet
kompensiert werden muss. Sie markiert den Nullpunkt eines sozialen Verhältnisses, in dem sich die soziale Interaktion auf ein mechanisch wirkendes Kausalverhältnis ohne Interdependenz und Dynamik verengt. In der vorliegenden Definition besteht die Hauptfunktion von Macht darin, Dissens oder Widerstand gar nicht erst entstehen zu lassen.
1 Macht in Gruppen und Organisationen – Zwei unterschiedliche…
7
Arbeitsvereinfachung: Wenig qualifizierte Arbeitskräfte können parallel eingesetzt werden. Vertikale Spezialisierung bedeutet Arbeitsverteilung durch Trennung von Planungs-, Anweisungs- und Überwachungsaufgaben sowie Ausführung. Im Zentrum der Managementfunktionen stehen Planung, Organisation und Kontrolle, um einen möglichst effizienten Arbeitsvollzug zu gewährleisten. Durch die Anwendung wissenschaftlicher Methoden wird das bürokratische Unternehmen systematisch, planmäßig und berechenbar organisiert und geführt. Die Arbeitsprozesse sind funktional und hierarchisch geregelt. Die Arbeitskräfte sind für das System „austauschbar“, die Zuständigkeiten spezifisch geregelt, die Privatsphäre ist von der Arbeitssphäre getrennt. An dieses Abkommen müssen sich beide Seiten halten. Die Arbeitnehmerschaft kann sich dadurch auf eine faire Behandlung und gerechte Verteilung von Rechten und Pflichten berufen: Dies ist ein Rationalmodell von Arbeit bzw. eine rationale Art der Machtausübung.
1.3.1
Der ewige Konflikt zwischen Person und Organisation
Bereits in dieser ursprünglichen Konstruktion von Organisation liegt die Macht nicht allein in den Händen der hierarchisch Vorgesetzten. All diejenigen Mitarbeitenden, die über eine für die Organisation knappe Ressource verfügen (Informationen, Qualifikationen, Erfahrungen), verfügen in einem gewissen Maße über Macht.3 An diesem Punkt ist der ewige Konflikt zwischen Person und Organisation bereits grundgelegt: Einerseits müssen die Unternehmen ihre Abläufe so effizient und strukturiert wie möglich ausrichten, womit der Person wenig Freiraum für Kreativität und eigenständiges Arbeiten bleibt. Andererseits sind die Unternehmen mehr und mehr auf das Wissen, die Ideen, die Improvisationskraft und das Engagement der Mitarbeitenden angewiesen. In diesem Zusammenhang spielen moralische Imperative wie Verantwortungsbewusstsein, Eigeninitiative und Teamfähigkeit eine zentrale Rolle – das Problem besteht allerdings darin, dass all diese Verhaltensweisen weder genau spezifiziert noch formal vorgeschrieben und eingefordert werden können. Sie unterliegen ausschließlich der persönlichen Kontrolle und können nur freiwillig eingebracht werden. Jede Aufforderung seitens der Organisation, dies zu tun, endet in einem performativen Widerspruch.4 Ins Extreme gesteigert werden diese personalen Anforderungen aktuell in Zeiten von Agilität und Selbstorganisation.
3 Michel Crozier und Erhard Friedberg (1993) verweisen in ihrem Konzept der „Ungewissheitszo-
nen“ auf diese Phänomene, wenn man sich nicht sicher sein kann, ob die Expertin gerade wirklich „alles Menschenmögliche“ macht oder nur Zeit schindet. 4 Wenn eine Führungskraft sagt: „Seien Sie spontan und selbstverantwortlich“ oder „Sie sollen selbst denken und meinen Aufforderungen nicht mehr nachkommen“, dann herrscht der Widerspruch zwischen dem, was verlangt wird, und der Tatsache, dass es verlangt wird.
8
O. Geramanis
Und so scheint alles offiziell in die Organisation zurückzukehren, was man ursprünglich versucht hat, außen vor zu halten: Kommunikation, Kooperation und Interaktion.5 Oder gemäß Luhmann: Mit der Abkehr vom Herrschaftsmodell und vom Maschinenmodell der Organisation kam es zur (Wieder-)Einführung der Begriffe Person, Konsens, Motive, Integration (ders, 2000, 81 f.). Und zu guter Letzt – so meine These – kehrt auch die Gruppe in die Organisation zurück. Wobei es sich dabei eher um eine ungewollte Nebenfolge als um eine organisationale Strategie handelt: In dem Moment, in dem sich die Menschen in der Zusammenarbeit zunehmend als Personen und weniger als formale Rolleninhaber begegnen, werden Organisationen mit der Dynamik von Gruppen konfrontiert sein. Nun mag der eine oder die andere an dieser Stelle einwenden, dass Gruppen und Personenorientierung von jeher zentrale Bestandteile von Organisationen waren und sind: Von jeher gibt es in Organisationen Cliquen, Seilschaften, Rauchergruppen, Kaffeepausengruppen etc. und es gab immer eine Gemengelage von formellem und informellem Austausch. Das stimmt. Allerdings ist die Fragestellung dieses Artikels eine andere. Sie lautet: Wodurch lässt sich „nicht organisationale Führung“ innerhalb von Organisationen legitimieren? Die Frage lautet daher nicht, „ob“ sich Führungspersonen auch mal in ihrer Persönlichkeit zeigen und menschlich sein „dürfen“ – klar dürfen sie das –, sondern was passiert, wenn dies offiziell seitens der Organisation eingefordert wird. Um diese – zunächst unterstellte – Unvereinbarkeit deutlicher aufzuzeigen, braucht es eine genauere Definition davon, was genau eine Gruppe auszeichnet.
1.4
Unterscheidung von Interaktion, Gruppe, Organisation
Was haben ein Experiment, bei dem drei zufällig zusammengewürfelte Personen in kurzer Zeit eine Aufgabe lösen sollen, die Beforschung einer langjährigen Freundesgruppe und das „Stanford-Prison-Experiment“ miteinander zu tun? Die Antwort lautet: NICHTS! Das mag überraschen, denn allzu schnell wird einerseits jedwede Ansammlung von Menschen als Gruppe bezeichnet und geprüft, welchen Mehrwert sie generieren, und andererseits dient der Verweis auf eine potenziell allmächtige und tendenziell leicht aus dem Ruder laufende „Gruppendynamik“ dazu, „die Gruppe“ als etwas latent Gefährliches darzustellen, weil sie große Macht über ihre Mitglieder ausübt. Nun finden Beziehungen im Allgemeinen und Machtbeziehungen im Besonderen nicht im luftleeren Raum statt. Es sind keine „Robinsonaden“, bei denen wir von einem fiktiven Robinson ausgehen, der auf einer einsamen Insel Freitag trifft. Der Fokus dieses Artikels liegt auf Macht in Gruppen und Organisationen. Diese beiden Fokusse voneinander abzugrenzen, ist dann sinnvoll, wenn sie unterschiedlich „funktionieren“. Aus Sicht der Systemtheorie würde dies bedeuten, dass sowohl die Gruppe als auch die Organisation 5 Dirk Baecker (2003, 2010) spricht mit Bezug auf Edgar Schein von der „Wiedereinführung der
Kommunikation in die Organisation“ oder Kieserling (1994) von „Interaktion in Organisation“.
1 Macht in Gruppen und Organisationen – Zwei unterschiedliche…
9
eine eigene Art von „sozialem System“ mit einer jeweils eigenen Systemlogik darstellt. Dann gäbe es sowohl für die Gruppe als auch für die Organisation eine typische Art und Weise, wie sie sich nach außen hin abgrenzen, und eine je eigene Handlungslogik, die nach innen vorherrscht. Für die darin handelnden Personen bedeutet das: Wenn sie sich systemkonform verhalten wollen, müssen sie um die jeweiligen „Selektionskriterien“ wissen. Nun wird es der systemtheoretisch versierten Leserschaft schnell auffallen, dass es streng nach Luhmann (1975) im systemtheoretischen Sinne nur drei Systemtypen gibt, die eine eigene Systemreferenz aufweisen und rechtfertigen: Interaktion, Organisation und Gesellschaft – die Gruppe kommt darin nicht vor. Nur diese drei Systemtypen haben je eigene Prinzipien der Grenzbildung und der Selbstselektion. (1) „Interaktion“ findet in systemtheoretischem Sinn dann statt, wann immer man sich unmittelbar aufeinander bezieht und die Kommunikation im Hier und Jetzt der Situation fortsetzen oder einfach beenden kann: Personen begegnen einander im Zug, sie nehmen sich wahr und werden dadurch genötigt, in ihrem Handeln auf irgendeine Art Rücksicht aufeinander zu nehmen. Eine solche Interaktion strukturiert sich von selbst um die spontanen Themen und Beiträge der Beteiligten. Die gegenseitigen Erwartungen sind nicht vorab entschieden. Es gibt weder Rollen noch Positionen. Alles wird in Echtzeit ausgehandelt, wodurch solche Interaktionen immer nur eine begrenzte Zeit haben, und sie hören auf, sobald man auseinandergeht. Viele sogenannte „Gruppenexperimente“ sind genau genommen „Interaktionsexperimente“. Zumeist treffen sich fremde Menschen spontan auf irgendeine Art und Weise. Dann versuchen sie, etwas miteinander auszuhandeln, ohne dass klar ist, was denn das Gruppenspezifische an dieser Handlung sein soll. (2) „Organisationen“ stellen keine flüchtigen Erscheinungen dar, sondern sind im Prinzip auf Dauer angelegt. Sie verfolgen spezifische Zwecke (z. B. die Produktion von Gütern oder Dienstleistungen) und bilden hierzu – wie bereits angesprochen – intern Strukturen und Prozesse aus, die in erster Linie immer noch über Hierarchie mit formalen Rollen und Positionen funktionieren. Diese Strukturen dienen der Verwirklichung von Zielen. Organisationen verfügen über einen klar benennbaren Mitgliederkreis und sind damit eindeutig von ihrer Umwelt abgrenzbar. Für Kühl (2011), der eine „sehr enge Definition“ von Organisation verfolgt, besteht das zentrale Merkmal darin, dass diese Mitgliedschaft freiwillig ist. Organisationen weisen freie Ein- und Austrittsmöglichkeiten auf.6 Dies ist bedeutsam, weil an diese freiwillige Mitgliedschaft zugleich sehr spezifische Verhaltensanforderungen gekoppelt sind. Das „Stanford-Prison-Experiment“ oder auch das Experiment „Die Welle“, welches 1967 an der „Cubberley High School“ im kalifornischen Palo Alto durchgeführt wurde, waren genau genommen Organisationssimulationen. Auch hier war die Mitgliedschaft (weitgehend) freiwillig (Kühl, 2005, 2014). In den jeweils gegründeten Organisationen herrschte Organisationsdynamik: Es gab klare Hierarchien und spezifische Rollen, mit deren Hilfe der Organisationszweck erfüllt werden sollte. 6 In diesem engen Sinn sind bspw. Wehrpflichtarmeen, Klöster oder Therapeutenkammern keine
Organisationen.
10
O. Geramanis
(3) Der Vollständigkeit halber sei kurz der dritte Systemtyp angesprochen: Die „Gesellschaft“ schließlich wird als das umfassende Sozialsystem aller füreinander erreichbaren Handlungen definiert, was allerdings für den Fortgang dieses Artikels nicht weiter vertieft werden soll.
1.4.1
Alles Gruppe – oder was?
Die Ungenauigkeit dessen, was „landläufig“ als Gruppe bezeichnet wird, spiegelt sich darin wider, dass so unterschiedliche Zusammenschlüsse wie Vereine oder Verbände zu Gruppen werden. Ebenso wird bei Massenphänomenen oder großen Menschenansammlungen auf DIE potenziell gefährliche Gruppendynamik verwiesen. Einmal ist von Primär-, Klein- oder Face-to-Face-Gruppen die Rede, ein anderes Mal werden Gruppen über die Anzahl von Mitgliedern definiert, wobei nie ganz klar ist, warum es gerade drei, sieben oder zwölf Personen sind, die eine Gruppe ausmachen (ein sehr guter aktueller Überblick: Oliver König, 2023: Soziale Gruppen). Um dieser Beliebigkeit zu entgehen, gilt es nach einem Sinnzusammenhang von Kommunikation zu suchen, wodurch sich die Gruppe als ein Typ von Systembildung präsentiert, der nicht mehr auf Interaktion oder Organisation zurückgeführt werden kann. Die Frage lautet: Gibt es eine Form von Kommunikation, die typisch für Gruppen ist und auf diese Art und Weise nur in Gruppen vorkommt? Die erste dezidiert systemtheoretische Definition kam von Neidhardt (1979). Für ihn ist eine Gruppe dadurch ein eigenes soziales System, dass der Sinnzusammenhang durch unmittelbare und diffuse Mitgliederbeziehungen sowie durch relative Dauerhaftigkeit bestimmt ist. Dank dieser Definition war es bereits vor über 40 Jahren möglich, die Differenz der Gruppe zu anderen Systemtypen zu beschreiben. Die unmittelbare und diffuse Mitgliedschaft grenzt sich von der Organisation ab, in der eine spezifische Mitgliedschaft herrscht. Mithilfe der relativen Dauerhaftigkeit unterscheidet sich die Gruppe von der Interaktion, die sich ausschließlich im Hier und Jetzt vollzieht. Aktuell reduziert Kühl (2021) diese Kriterien nochmals auf ein Maximum, indem er sagt, dass allein das Kriterium „persönliche Kommunikation“ zur Selbstselektion von Gruppen ausreicht. Was genau ist damit gemeint? Zu Beginn dieses Abschnitts wurden drei Beispiele von Experimenten aufgezählt, wobei die „Freundesgruppe“ bislang noch nicht wieder angesprochen wurde. Der Prototyp für die hier vorliegende Definition von Gruppen als eigener Systemtyp wären besagte Freundesgruppen, aber auch Peergruppen bis hin zu gruppendynamischen Trainingsgruppen7 . In all diesen Gruppen ist „persönliche Kommunikation“ oder auch
7 Die Trainingsgruppe, oder auch T-Gruppe genannt, ist ein gruppendynamisches Lernformat nach
den folgenden Prinzipien: Das Hier und Jetzt sowie die Beziehungsebene dienen als thematische Vorgaben; es wird in Form eines mehrtägigen Laboratoriums durchgeführt; zu Beginn herrscht
1 Macht in Gruppen und Organisationen – Zwei unterschiedliche…
11
„personenorientierte Erwartungsbildung“ die bedeutsame Systemeigenschaft: In einer solchen Kommunikation ist fast alles, was eine Person betrifft, für die Kommunikationen zugänglich. Damit sich Personen derart persönlich aufeinander einlassen, reicht regelmäßiger Kontakt allein nicht aus, zugleich müssen sie sich füreinander interessieren. Diese persönliche Orientierung setzt sich dahingehend fort, dass in Gruppen auch bei der Vermittlung von Sachinformationen erwartet wird, dass die Mitglieder stets auch ihre persönliche Haltung zum Ausdruck bringen und auf die Persönlichkeit des Gegenübers Rücksicht nehmen. Es reicht nicht aus, nur zu einem bestimmten Anliegen persönlich auskunftswillig zu sein. All dies erfordert eine gute Personenkenntnis, damit man abschätzen kann, was die anderen verstehen und was nicht. Und es erfordert die Bereitschaft, sich selbst zu öffnen, damit die anderen einen ebenso kennenlernen können. Dementsprechend bedeutet Gruppenentwicklung, „in welchen Formen die Gruppe dem Einzelnen gestattet, sich selbst zu definieren, sich zu verteidigen, sich zu entdecken, sich einzureihen“ (Riesman, 1966, 116). Die Systemlogik der Gruppe gründet damit auf „persönlichen Mitgliederbeziehungen“. Hieraus lässt sich nun eine präzisere Antwort auf die potenzielle Gruppengröße ableiten: Wenn sich Personen einander öffnen und vertrauen sollen, müssen sie sich gegenseitig eine Form von Höchstrelevanz zuweisen (Peter Fuchs, 2014). Das ist aufwendig, woraus sich die zahlenmäßige Beschränkung aus den kognitiven Fähigkeiten der Mitglieder ableiten lässt: Auf wie viele derart intensive persönliche Beziehungen kann und will man sich einlassen?8
1.5
Machtdynamik in Gruppen und Organisationen
Nachdem die Unterschiede zwischen Gruppe und Organisation herausgearbeitet wurden, können nun anhand der drei Merkmale einer Machtbeziehung – individuelle Absicht, Bereitschaft, zu folgen, und Legitimität der Handlung – konkrete Vergleiche der Handlungsmöglichkeiten vorgenommen werden, dabei wird im jeweiligen Abschnitt die Organisation der Gruppe gegenübergestellt.
initiale Strukturlosigkeit und die Art und Weise der Kommunikation findet über Feedback statt (siehe ausführlich: König & Schattenhofer, 2022 sowie König, 2016). 8 In einer Gruppe von fünf Personen sind dies zehn Zweierkombinationen, die ausgehandelt und gepflegt werden müssen – in einer Gruppe von zehn Personen bereits 45 Zweierereignisse, von diversen weiteren Subgruppenkombinationen völlig abgesehen. Die mathematische Formel dazu lautet: n mal (n minus 1) geteilt durch 2.
12
1.5.1
O. Geramanis
Legitimation via Rolle oder Person
Das Standardmodell einer hierarchisch strukturierten Organisation sind die Stellenordnung und die Weisungskette. Dies ermöglicht es, Stellen und Entscheidungen, die für formal bestimmte Positionen gelten, miteinander zu verketten. Die Kommunikation ist spezifisch und die gegenseitigen Erwartungen werden über Rollen ausgebildet. „Rollen sind Erwartungsbündel, die dem Umfang nach dadurch begrenzt sind, dass ein Mensch sie ausführen kann“ (Luhmann, 1972, 86). Eine solche Rolle lässt sich mit einer Schriftrolle vergleichen, auf der etwas niedergeschrieben wurde. Sie dient der Mitteilung von Informationen. Sie kann gelesen und transportiert werden. Was derart festgehalten wurde, kann verbreitet und multipliziert werden. Aber auch in der Vorführung von Schauspielen und Opern ist von Rollen die Rede. Die Darstellenden spielen eine andere Person, ohne diese andere Person zu sein, und sie spielen ihre Rolle nicht für sich allein, sondern vor einem Publikum. Inwiefern die Rolle mit individuell persönlichen Merkmalen korreliert oder nicht, ist nicht von Relevanz, solange es funktioniert. In Organisationen werden die Erwartungen an die Rollenträger und nicht an die Personen gerichtet. Derartige Rollenerwartungen können von unterschiedlichen Personen bekleidet werden, wobei die Erwartungen weiterhin an die Rolle geknüpft sind. Dadurch stellen Rollen für die Personen einen Schutz dar. Bei Rollen kann man kleinere Fehlgriffe ignorieren, da sie entweder anderen Rollen oder einer Fehlinterpretation der Person zugeschrieben werden können. Sie entlasten die Person davon, gegenüber den Erwartungen anderer persönlich verantwortlich zu sein. Ebenso wenig muss man die andere Person kennen, um mit ihr zusammenzuarbeiten. Sollte es verwundern, dass bislang noch nicht von „Teams“ die Rede war, dann liegt es daran, dass Teams zum Systemtyp „Organisation“ gehören. Teams sind typisch für formale Organisationen (Kühl, 2021/2; Geramanis, 2022). Sie unterliegen formellen Vorgaben und Planungen, erscheinen im Organigramm und sind durch organisationale Regeln und Erwartungen bestimmt (Statuten, Satzungen, Dienstvorschriften). Aufgrund ihrer Zweckorientierung stellen sie spezifische und spezialisierte Rollenerwartungen an ihre Mitglieder und grenzen darüber deren Spielraum und Handlungsmöglichkeiten ein. Die Mitgliedschaftsbedingungen sind festgeschrieben, Eintritt und Austritt formal geregelt. Die Teammitglieder sind austauschbar, müssen sich nicht persönlich füreinander interessieren und sind nicht verpflichtet, auf private Probleme Rücksicht zu nehmen. Fazit: Das Zusammenspiel der Rollen folgt organisationalen Notwendigkeiten und führt zu einer „funktionalen Stabilisierung“ (Luhmann, 1976, 376). Rollen sind funktional äquivalent austauschbar und ignorieren persönliche Bedürfnislagen. All das begründet die Organisationsdynamik: Es herrscht ein rationales Machtgefüge, in dem persönliche Motivation oder emotionale Begeisterung nicht vorgesehen sind. Gruppen sind ebenso wie Organisationen darauf angewiesen, das Verhalten ihrer Mitglieder zumindest grob erwartbar zu machen, wobei die Bereitschaft zur Selbstauskunft und zur persönlichen Ansprechbarkeit die zentrale Mitgliedschaftserwartung ist. Abstrakte
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Normen und spezifische Regeln sind von nachgeordneter Bedeutung. Man ist verpflichtet, über sich selbst Auskunft zu geben und Interesse für das Verhalten der anderen Mitglieder und für die Hintergründe dieses Verhaltens zu zeigen. „Gruppen personalisieren“ (Tyrell, 1983, 80). Das bedeutet aber auch, dass Gruppen einiges an Zeit brauchen, um diese gegenseitigen Erwartungserwartungen ausbilden zu können. Sie müssen den Mitgliedern in verschiedenen Situationen die Chance zur Selbstdarstellung und zur Beobachtung der Selbstdarstellung der anderen bieten. Das ist aufwendig, sehr persönlich und keinesfalls einfach, weil man sich explizit hinter funktionalen oder institutionalisierten Rollen, wie Vater, Ehefrau, Erstgeborener, verstecken kann.9 Wer in einer Gruppe als Person sichtbar werden will, darf sich nicht nur unauffällig und konform verhalten, sondern muss durch individuell zurechenbares Verhalten auffallen. Das bedeutet, mitunter auch von gewohntem Verhalten abzuweichen oder etwas Unerwartetes zu tun. Das ist riskant, denn dadurch könnte das eigene Ansehen auf dem Spiel stehen. Wer aber nur das tut, was alle anderen auch tun, bietet keine Möglichkeit der persönlichen Zurechnung und auch keine Anschlussmöglichkeiten für andere. Das mag sich etwas technisch anhören – in gruppendynamischen Trainings gehört dies mit zu den größten Herausforderungen, sich selbst aus der Gruppe abzuheben und sich von anderen zu unterscheiden. Diese Dynamik beinhaltet zwei Paradoxien: Erstens, die Einheit einer Gruppe wird erst dadurch möglich, dass sich die Mitglieder persönlich voneinander unterscheiden. Zweitens, so notwendig diese Differenzierung auch ist, eine explizite Rollendifferenzierung ist nur begrenzt möglich und nicht erwünscht. Man denke hierbei an einen Freundeskreis, in dem man selbst gerade nicht in ein enges Rollenkorsett eingepfercht und darauf reduziert sein will, sondern stets als ganzer Mensch sichtbar bleiben möchte, als Mensch, der sich auch verändern kann. Fazit: In Gruppen bleibt die „personenfokussierte Stabilisierung“ an den Bedürfnissen der Mitglieder ausgerichtet und bildet darüber ihre Orientierung. Dies ist zugleich sowohl Ursprung als auch Konsequenz der „Gruppen-Dynamik“. Die „Kraft“, die „Energie“ der Gruppe entwickelt sich dann, wenn ich mich selbst im Laufe des Gruppenprozesses als ganzer Mensch gesehen fühle und mein Gegenüber als ganzen Menschen wahrnehme: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“
9 Wenn eine Rolle institutionalisiert ist, ist die Person, die diese Rolle ursprünglich initiiert hat,
unsichtbar geworden. Institutionalisierung beendet die Zurechnung auf Personen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Kleidermode. Zunächst braucht man Mut, um einer neuen Mode zu folgen. Wenn man diese jedoch ohne jedes Risiko tragen kann, braucht es Eigensinn und Charakterstärke, dies gerade nicht zu tun. Die individuelle Zuschreibung nimmt im Laufe der Institutionalisierung der neuen Mode ab, und zwar so stark, dass sie schließlich zu einer Form wird, sich gänzlich unauffällig zu kleiden.
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1.5.2
O. Geramanis
Selbstverpflichtung durch Mitgliedschaft
Organisationen zeichnen sich dadurch aus, dass Verhaltenserwartungen formalisiert sind und die Mitgliedschaft an die Freiwilligkeit des Eintritts gebunden ist. Darin liegt der Clou der Luhmann’schen Organisationssoziologie (Kühl, 2011/2, 49), dass in Organisationen die Hierarchie nicht zwangsläufig durch explizite und zusätzliche Formen von Legitimation gestützt werden muss. Stattdessen erkennt das Organisationsmitglied bei Eintritt die existierende formalisierte Hierarchie freiwillig an. Es braucht auch kein besonderes Charisma der Vorgesetzten oder gar Attraktivität, durch die eine Anweisung zusätzlich gestützt werden müsste. Durch dieses Prinzip können Organisationen von der Frage nach der individuellen Motivation weitgehend absehen. Die Mitglieder müssen nicht von der Sinnhaftigkeit jeder einzelnen Vorschrift und Anweisung überzeugt werden – sie müssen sie befolgen. Ansonsten steht es ihnen frei, zu gehen, oder die Organisation trennt sich von ihnen.10 Weil jedoch der Eintritt nicht erzwungen ist, sondern freiwillig erfolgt, sind die Mitglieder zuvorderst an ihre eigenen Entscheidungen gebunden. Damit wird Scheitern zu einem persönlichen Versagen, und es besteht die Gefahr des Gesichtsverlusts, wenn man bereits kurz nach dem Eintritt wieder aussteigt, oder auch nach langer Zeit „zu plötzlich“ kündigt. Wer geht, produziert „Verlegenheit“ und „Peinlichkeit“ – nicht nur für sich selbst, sondern auch für das Gegenüber, was man allen lieber ersparen möchte.11 Das Besondere an dem Prinzip der Mitgliedschaftserwartung ist, dass es bereits dann verletzt ist, wenn man sich als Mitglied einer einzigen Anforderung der Organisation entzieht. Wer „eine Weisung seines Vorgesetzten“ nicht annimmt oder „einer Vorschrift aus Prinzip die Anerkennung verweigert“, rebelliert, so Luhmann (1976), weil die Ablehnung auch nur einer kleinen Anweisung als Rebellion gegen alle formalisierten Erwartungen in der Organisation interpretiert werden muss. Sollte sich eine Person in einer Organisation offen deviant verhalten, so ist sie nicht länger bereit, die bestehende Machtkonstruktion aufrechtzuerhalten. Fazit: Verweigert eine Person die formale Zustimmung zur Organisation, dann hat diese die Macht über die Person verloren. Restriktionen, Zwang und Gewalt sind keine legitimen Optionen, die Person in ihrer Freiwilligkeit zu halten. Der innere Kontrakt ist ebenso beendet wie die formale Mitgliedschaft. Konsequenterweise muss die Person ausgetauscht werden. 10 Selbstverständlich rekurrieren Führungsansätze seit der Geschichte bis heute auf eine „Great-
Man-Theorie“, auf Charisma, auf Industriekapitäne oder Unternehmenspatriarchen – allerdings sind all das systemtheoretisch gesprochen gar keine Eigenschaften von Organisationen, sondern – wie die Begriffe bereits implizieren – stehen für „Hochpersonalisierung“. 11 Es gibt viele Beispiele, in denen Personen in Organisationen Dinge tun, die ihnen persönlich zuwider wären oder die gegen ihre eigene Überzeugung laufen. Sei es das „Frisieren“ von Bilanzen, das Manipulieren der Abschaltvorrichtung bei Dieselmotoren bis hin zu Kriegsverbrechen (vgl. Kühl, 2011/2).
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Die Mitgliedschaft in Gruppen ist nicht nur daran gebunden, sich persönlich zu zeigen und andere ebenso darin wahrzunehmen, sondern diesen persönlichen Zugang dauerhaft lebendig zu halten. Person und Gruppe bringen sich wechselseitig überhaupt erst in Form einer Koevolution hervor. Wobei man nicht sagen kann, ab wann genau ein Freundeskreis begonnen hat zu existieren. Und obgleich ein gruppendynamisches Training einen offiziellen Beginn hat, braucht das soziale System der Gruppe eine Eigenzeit, um zur Gruppe zu werden. Auch für die Person selbst bedeutet das, dass sie erst im Laufe einer Freundschaft oder gegen Ende einer Trainingswoche weiß, welche Bedeutung sie als Person in dieser und für diese Gruppe hat. Im Handeln werden Erwartungen erzeugt, die erfüllt werden oder nicht, ohne offizialisiert zu werden. Mitgliedschaft ist das Ergebnis eines permanenten Aushandlungsprozesses, in dem Personen Identitätsangebote machen, die von den anderen aufgenommen, ignoriert, verändert oder weiterentwickelt werden. Es ist ein Prozess, in dem eine Person nur dann einen für sich „guten“ Platz in der Gruppe gewinnen kann, wenn sie einen Kooperationspartner abgibt, der mithilft, dass auch andere einen „guten“ Platz finden können. Im Zuge dessen bilden sich auf Gruppenebene sichtbare und latente Normen aus, und über diese gemeinsame Geschichte konstruiert die Gruppe ihre Mitgliedschaft. Obwohl Gruppen nicht über Möglichkeiten einer eindeutigen Mitgliedschaftszuweisung verfügen, besitzen sie darüber eine eigene Form der Grenzziehung. Es ist klar, wer dabei ist und wer nicht, und darüber entsteht das Gefühl der Zugehörigkeit. Und auch wenn ein Gruppenmitglied nicht anwesend ist, hat die Gruppe weiterhin Bestand. Weil die Mitgliedschaft nicht festgeschrieben ist, ist sie Chance und Risiko zugleich. Die Chance besteht darin, die Bedingung für die Mitgliedschaft immer wieder neu auszuhandeln – das Risiko besteht darin, genau das nicht mehr zu tun. In dem Moment, in dem das persönliche Interesse aneinander abnimmt und/oder in dem sich die Positionen der Gruppenmitglieder zu sehr ausdifferenziert und/oder verfestigt haben, ziehen organisationale bzw. institutionalisierte Tendenzen in die Gruppe ein. Die Gruppenkommunikation formalisiert sich und verliert ihre Unmittelbarkeit. Fazit: Das unauflösbare Spannungsfeld der Gruppendynamik (Geramanis, 2020, 24) liegt darin, dass man sich als Person in Gruppen sichtbar und einschätzbar machen muss, damit sich eine gemeinsame Erwartungsstruktur auf Gruppenebene ergibt. Diese Struktur darf allerdings nie starr, fest, organisiert oder institutionalisiert sein, weil das zugleich das Ende einer lebendigen Personenorientierung und damit der Gruppendynamik ist.
1.5.3
Unpersönliche und persönliche Führung
Im Sinne der Handlungslogik der Organisation ist die Macht von den persönlichen Qualitäten derjenigen, die die Macht innehaben, getrennt. Indem die Macht an die Führungsrolle gebunden wird, ist sie legitimiert, sie wird generalisiert und damit entpersonalisiert. Diesem Einfluss können sich die Geführten einfach unterordnen, ohne dass
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sie sich explizit vor sich selbst oder voreinander rechtfertigen müssten. So, wie die Führungsperson darin nicht greifbar ist und sich nicht persönlich verteidigen muss, müssen es auch die Geführten nicht. Das heißt keineswegs, dass die Ausgestaltung dieser Führungsrolle jederzeit eindeutig ist und ausschließlich auf Rationalität beruht. Sie verlangt Gleichbehandlung aller sowie ein Eingehen auf den Einzelfall. Sie verlangt Zurückhaltung in der Rolle, aber dennoch ein bedingtes Einmischen als Person. Die Führungsrolle muss die organisationale Stabilität sicherstellen, aber auch Veränderung herbeiführen. Sie muss das Verhältnis von Nähe und Distanz gegenüber den Mitarbeitenden handhaben und im Handeln sowohl Kontrolle als auch Unterstützung gewährleisten. Fazit: Professionelle Führung heißt, dass solche Dilemmata zwischen Führungsrolle und individueller Ausgestaltung, zwischen realer Begegnung und Instrumentalisierung, zwischen Vertrauen und Skepsis organisational nicht auflösbar sind, sondern stets von den konkreten Personen balanciert werden müssen. Wobei explizit persönliche Motivation durch die Führungskraft seitens der Organisation nicht vorgesehen ist – insofern ist das formale Motivationspotenzial begrenzt: Es beläuft sich auf finanzielle Anreize und Gratifikationen sowie Beförderungen auf höhere Positionen. Auch in Gruppen verfolgen Personen ein Interesse, wollen dieses durchsetzen und sind dabei auf Macht angewiesen. Ebenso muss auch in Gruppen die Machtausübung gerechtfertigt sein. In Anlehnung an Gerhard Preyer (2012, 116) werden Mitglieder unter den folgenden Bedingungen als mächtig wahrgenommen: Die Mitglieder sind bereit, einem bestimmten Gruppenmitglied zu folgen (1), wenn sich dieses Mitglied dadurch einen hohen Status erworben hat, dass es in den für die Gruppe wichtigen Aufgabenstellungen, seien es interne Differenzierungen oder externe Klärungen, aktiv geworden ist und zu Lösungen beigetragen hat. (2) Werden einem Mitglied bestimmte Persönlichkeitseigenschaften zugeschrieben, wie z. B. Willensstärke und Durchsetzungsvermögen, oder wurden im Verlauf der Gruppenaktivität bestimmte Fähigkeiten, Talente, Erfahrungen und Wissen als wirksam wahrgenommen, trägt dies zur Folgebereitschaft bei; (3) ebenso folgt man einem Mitglied, wenn es bestimmte externe Faktoren verkörpert, denen eine hohe Bewertung zuteilwird (z. B. erfolgreich, berühmt) und die auch in der Gruppe gelten. (4) Wenn ein Mitglied wirksam auf spezielle externe Randbedingungen reagiert, denen die Gruppe unterworfen ist, ist man bereit, diesem Mitglied zu folgen. Die Gegenseite dieser Aufzählung bedeutet, dass es in Gruppen immer dann langweilig und zäh wird und Personen machtlos sind, wenn niemand etwas will oder sich getraut, etwas zu wollen, oder wenn Personen nur von ihren rein individuellen Gefühlen erzählen ohne Brücke zur Situation. Ebenso reagieren Gruppen sensibel, wenn Äußerungen als sentimental oder unecht angesehen werden: All diese Formen von Erzählungen kommen vor allem aus der individuellen Vergangenheit, spielen lediglich der eigenen Eitelkeit zu oder kommen als unernste Spiele oder bloßes Experimentieren daher. Ebenso wenig kann man in Gruppen überzeugen, wenn man die eigene Individualität absolutistisch und erpresserisch darstellt: „Ich fühle das so!“ oder „Mein Gefühl sagt mir aber!“
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Um in Gruppen etwas durchzusetzen, gilt es einen Zusammenhang herzustellen zwischen dem eigenen subjektiven Empfinden und der sozialen Situation, die sich aus den je persönlichen Ereignissen ergeben hat! Man muss die Kraft und Fließrichtung der Gruppe erkennen, um sie nutzen zu können. Dennoch lässt sich auch darüber kein dauerhafter Führungsanspruch ableiten oder ein Anrecht auf Beibehaltung durchsetzen. In Gruppen haben Gleichrangigkeitsnormen eine hohe Bedeutung; Gruppen sind durch eine hohe Symmetrie in der Beziehung der Mitglieder untereinander gekennzeichnet – und zwar nicht nur zwischen einigen, sondern zwischen vielen Gruppenmitgliedern. Fazit: Wer in Gruppen wirksam werden und individuell etwas durchsetzen will, steht vor zwei Paradoxien. Erstens gilt es in besonderem Maße das Wohl und die Normen der Gruppe zu berücksichtigen und zweitens ist die eigene Handlungsfreiheit gegenüber der Gruppe umso eingeschränkter, je mehr der eigene Status auf Sympathiewerten beruht. In Gruppen hat man dann die Chance, etwas erfolgreich durchzusetzen, wenn das Tun von persönlichem Engagement getragen ist und zugleich das Beziehungsgefüge der Gruppe widerspiegelt. Das heißt, dass sich alle anderen ebenso als Mitverursacher berücksichtigt und eingebunden fühlen können. Der enge Personenbezug, die geringe Mitgliederzahl und die hohe Bedeutung von Egalitätsnormen machen es aus, dass sich Führung in Gruppen im günstigsten Fall abwechselt.
1.6
Fazit: Die Gruppe in der Organisation?
Auch wenn sich hinter dem Begriff der „Hierarchie“ etymologisch die „heilige Herrschaft“ verbirgt, so ist die hierarchische soziale Ordnung von Organisationen nichts Gottgegebenes, sondern eine soziale Errungenschaft, die aus einer spezifischen Kommunikation besteht und eine ganze Reihe an Instanzen voraussetzt. Sie zeichnet sich durch die Kommunikation von funktionalen, rationalen und verbindlichen Entscheidungen aus sowie durch die Tatsache, dass man die Entscheidungen auch unter eben diesem Fokus beobachtet. Wie erwähnt ist diese soziale Errungenschaft – in weiten Teilen – an ihre Grenzen gestoßen. In einem Zeitalter zunehmender Automatisierung und Digitalisierung rücken subjektive Potenziale und Ressourcen wie Kreativität, problemlösende und kommunikative Fähigkeiten, Motivation sowie Engagement in den Vordergrund. Informelle Kooperations- und Kommunikationsprozesse und erfahrungsgeleitete Phänomene nehmen an Bedeutung zu. Damit diese personalen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden können, braucht es eine Umgebung, in der sich die Personen gut aufgehoben wissen und das Gefühl haben, dass man sich für sie persönlich interessiert. Hierfür wäre die Gruppe der ideale Ort – wenn nicht ihre Handlungslogik der der Organisation diametral entgegengesetzt wäre. Aus diesem Dilemma gibt es einen Ausweg: So, wie die Organisation eine soziale Errungenschaft ist, tun wir gut daran, die Gruppe mit ihrer Ordnung ebenso wenig als etwas Natürliches anzusehen, sondern auch als eine soziale Errungenschaft. Das mag irritieren,
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weil es Freundschaften immer schon gegeben hat und „die Menschheit“ immer schon personenorientiert miteinander umgegangen ist. All das mag bis zu einem gewissen Grad stimmen. Demgegenüber lautet die Frage, ob und wie es gelingen kann, die Handlungslogik der Gruppe ihr selbst bewusst zu machen und dadurch auf Dauer zu stellen. Bislang spielt sich das, was in Gruppen passiert, weitgehend außerhalb des Bewusstseins ihrer Mitglieder ab. In einem Freundeskreis spricht man selten darüber, wer gerade Macht oder Führung hat, wie es um die Zugehörigkeit bestellt ist und wer wem nahe ist. Aber es ist möglich, darüber zu sprechen – und auch nicht mehr zu abwegig wie früher. In den Worten von Peter Heintel würde es sich dabei um eine „reife Gruppe“ handeln. Eine „reife Gruppe“ ist eine „sich selbst bewusste Gruppe“. Sie macht sich auf, ihre eigene Wahrheit bewusst zu konstruieren und die sich daraus ergebenden Muster gemeinsam zu erkennen. Eine solche Suche kann nicht außerhalb der Gruppe stattfinden. Ebenso wenig wäre es klug, der Gruppe von außen vorgefertigte Rollenmodelle und Kommunikationsstrukturen überzustülpen – dann hätten wir die Personenorientierung verloren und wären bereits wieder beim Team angekommen. Die Gruppe kann ihre eigene Orientierung nur finden, indem einzelne Mitglieder in die Ungewissheit hinein agieren und dieses Handeln anschließend gemeinsam auf Plausibilität prüfen. Eine auf diese Art reife Gruppe ist eine Gruppe, die gelernt hat, sich mithilfe dieses sich selbst untersuchenden Vorgehens selbst zu steuern (Geramanis, 2017). Statt Resultats-, Rollen- und Struktursicherheit entwickelt sie eine Sicherheit, welche über Kommunikation, Vertrauen, Zugehörigkeit und Feedback, d. h. über den gemeinsamen Prozess läuft. Je mehr Runden eine Gruppe hierbei erfolgreich dreht, desto sicherer wird sie darin. Das Geheimnis arbeitsfähiger Gruppen ist daher nicht die Schaffung von rationaler Ordnung und eindeutiger Orientierung, sondern Kompetenz darin, die Ungewissheiten und Ungleichgewichte in den Beziehungen zu thematisieren und zu balancieren. Es ist Selbstorganisation durch Selbstdiagnose. Eine solch reife Gruppe stellt definitiv eine evolutionäre Errungenschaft dar! Selbstdiagnose ist nicht voraussetzungslos und ihre Durchführung nicht risikolos. Hierfür braucht es einerseits eine ganze Reihe an personalen Kompetenzen, über die wir noch lange nicht in dem Umfang verfügen, in dem es notwendig wäre; ebenso benötigt eine Gruppe für all diese „Entscheidungsprozesse“ einen hohen Zeitaufwand. Es braucht viel Zeit, um ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Interessen der aus unterschiedlichen Kompetenzgebieten kommenden Mitglieder zu erreichen. Es braucht Zeit, weil die Kommunikations- und Kooperationsprozesse komplexer und unübersichtlicher werden, und es braucht Zeit, weil informelle Prozesse und nicht planbare Aspekte der Arbeitsabläufe einen bedeutenden Einfluss auf die Arbeitspraktiken bekommen. Damit wären wir am Beginn des Artikels und bei dem Zitat von Kierkegaard angekommen, in dem er davor warnt, „sich selbst zu wählen“, weil mit dieser Wahl etwas Unausweichliches und Ausschließliches verbunden zu sein scheint. Unter der Perspektive, dass ich mich selbst mit einer spezifischen Rolle verwechsle, dass ich mich selbst
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in Partnerschaft und Freundschaft nur fixiert und starr erlebe, tut man gut daran, diese Wahl nicht zu treffen. Wenn man demgegenüber die Mitgliedschaft in Gruppen als eine fortwährende gemeinsame – und immer nur vorläufige – Suche nach der eigenen Identität versteht, bleibt es eine spannende Suche, in der wir uns selbst viele Möglichkeiten einräumen.
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Prof. Dr. Olaf Geramanis leidenschaftlicher Gruppendynamiker. Dozent FHNW, Diplompädagoge (univ.), Coach, Supervisor und Organisationsberater (BSO), ausbildungsberechtigter Trainer für Gruppendynamik (DGGO). Jahrgang 1967, bis 2000 Offizier der Bundeswehr, ab 1999 wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Wirtschaftspädagogik der Universität der Bundeswehr München. Seit 2004 Dozent für angewandte Gruppendynamik und personenorientierte Beratung an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW in Basel. In der Weiterbildung und Dienstleistung in den Bereichen Beratung, Coaching, Change und Teamentwicklung unterwegs. Studienleiter des MAS Change und Organisationsdynamik. [email protected] I www.organisationsdynamik.ch
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Zur Kultur der kaschierten Dominanz Roland Reichenbach
Zusammenfassung
Asymmetrische Verhältnisse sind immer auch wechselseitige Abhängigkeitsverhältnisse; Autoritätsverhältnisse sind häufig Anerkennungsverhältnisse. Eltern sind abhängig von der Folgsamkeit ihrer Kinder, Lehrpersonen von jener ihrer SchülerInnen und Vorgesetzte von ihren MitarbeiterInnen. Führungskompetenzen sind nur in dem Grad wirksam, in dem die Mitarbeiterinnen bereit und fähig sind, sich führen zu lassen. Das Ideal der Gleichheit und damit die Erwartung symmetrischer Kommunikationsverhältnisse sind moderne Errungenschaften, welche auch sozial ungleiche InteraktionspartnerInnen unter Druck setzen, die Asymmetrie zu kaschieren. Mit der damit verbundenen strukturellen „Unaufrichtigkeit“ der Kommunikationsverhältnisse umzugehen, fällt nicht allen leicht. Dieser Umgang erfordert passende Masken, mehr oder weniger raffinierte Ausdrucksweisen, die Bereitschaft, den Gefühlsausdruck zu modellieren, d. h. ein situationssensibles Selbstpräsentationsmanagement. Vorbemerkungen Asymmetrische Verhältnisse zwischen Personen sind immer auch wechselseitige Abhängigkeitsverhältnisse. Auch sind menschliche Verhältnisse nie nur asymmetrisch, und es ist nicht immer gegeben, dass „oben“ die Macht und „unten“ Ohnmacht liegt. Ein Baby ist zum Beispiel ein vollkommen abhängiges Wesen, aber seine (Wirkungs-)Macht ist enorm; das Neugeborene bringt so einiges in der Welt der sich formierenden Familie durcheinander. Nach einer anstrengenden Nacht, in welcher die Eltern zigmal aufstehen mussten, schläft der Neuankömmling am Morgen wie ein in sich ruhender kleiner Gott, während die R. Reichenbach (B) Universität Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 O. Geramanis et al. (Hrsg.), Organisationale Machtbeziehungen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42092-5_2
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R. Reichenbach
Mutter und der Vater im Grunde genommen nicht so gut aussehen, jedenfalls nicht mächtig. Eltern sind abhängig von der Folgsamkeit ihrer Kinder, Lehrpersonen von jener ihrer SchülerInnen und Vorgesetzte von ihren MitarbeiterInnen. Manch Leitungsperson hält viel von ihren sogenannten Führungskompetenzen, doch ohne die Bereitschaft und Fähigkeit der MitarbeiterInnen, sich von ihr führen zu lassen, nützen ihr ihre Kompetenzen herzlich wenig. Das Ideal der Gleichheit und damit verbunden die Erwartung oder Unterstellung symmetrischer Kommunikationsverhältnisse sind moderne Errungenschaften. Hinter dieselben zurückzufallen, würde eher barbarisch anmuten, doch es gibt immer einen Preis für kulturelle Errungenschaften zu bezahlen. Nicht die Gleichbehandlung ist mehr rechtfertigungspflichtig, sondern die Ungleichbehandlung. Überall setzen sich sozial Ungleiche daher unter Druck, sich als gleichwertig zu adressieren. Gleichheit zu suggerieren, ist ein moralisches Hypergut, mitunter eine kontrafaktische Präsupposition. Mit der damit verbundenen strukturellen „Unaufrichtigkeit“ der Kommunikationsverhältnisse umzugehen, fällt nicht allein gleich leicht. Denn das Spiel der Gleichheit unter Ungleichen erfordert passende Masken, mehr oder weniger raffinierte Ausdrucksweisen, die Bereitschaft, den Gefühlsausdruck zu modellieren, d. h. ein situationssensibles Selbstpräsentationsmanagement. Die erste Regel dieses „Spiels“ lautet: Nimm es todernst! So zumindest könnte man mit Watzlawick sagen. Politische Korrektheit und „Wokeness“ werden heute kritisch diskutiert – diese Kritik ist sicher auch wichtig und nötig, doch ohne die verhaltenszähmende Normativität der wechselseitigen Adressierungen können Zusammenleben und Zusammenarbeiten schnell von brachialen und hässlichen Umgangsformen beherrscht werden. Es gilt, die zivilisatorische Fassade der Freundlichkeit und Höflichkeit zu bewahren. Das höfische Leben, das So-tun-als-ob, der „schöne Schein“, das decorum, die professionelle Freundlichkeit, das aufgesetzte Lächeln, kurz, die Fähigkeit, zu täuschen und sein „Inneres“ nicht immer ungefiltert nach außen zu tragen, hat angesichts des wenig kritisierten Ideals der Authentizität trotzdem einen vergleichsweise schlechten Ruf. Im Grunde ist dies spätestens seit Richard Sennetts 1974 erschienener Abhandlung zum Zerfall und Ende des öffentlichen Lebens. Oder die Tyrannei der Intimität bekannt, doch es macht den Anschein, dass zwischen dem authentischen Leben einerseits und dem geselligen Leben andererseits auch heute kaum unterschieden wird. Daher unterliegen auch das Phänomen der Autorität und damit verbundene Fragen der Macht einer Art Übereinkunft, wonach über die Einsicht in die Notwendigkeit von Autorität und/oder über das Bedürfnis nach Autorität Stillschweigen zu wahren und Autorität gleichzeitig, wenn es sozial erwünscht ist, in ein kritisches Licht zu setzen oder aber ganz zu verleugnen ist.
2 Zur Kultur der kaschierten Dominanz
2.1
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Das Phänomen der Autorität
Kaum jemand gibt freimütig zu, autoritätsgläubig zu sein. Es könnte als Zeichen mangelnder Reife und Autonomie gedeutet werden. Doch auch viele Erwachsene lassen sich bereitwillig führen. Ohne die Bereitschaft und Fähigkeit, sich führen zu lassen, ist soziales, gesellschaftliches und politisches Leben ganz unmöglich. Manche wünschen sich jedoch sogar eine „starke Hand“, Figuren, die Ordnung und Sicherheit versprechen. Viele lehnen dies hingegen reflexartig ab. Die oberflächliche oder scheinbare Ablehnung von Autoritäten gehört zur strukturellen Unaufrichtigkeit des modernen bzw. spätmodernen Lebens. Umgekehrt kann die Anerkennung legitimer Autoritäten als Ausdruck persönlicher Autonomie und Vernünftigkeit gedeutet werden (vgl. Raatzsch, 2007)1 . Autoritätsverhältnisse sind – im „positiven“ Fall – Anerkennungsverhältnisse (vgl. Sofsky & Paris, 1994); anerkannte Autoritäten können größtenteils auf autoritäres Verhalten verzichten (Arendt, 1994), da sie im Bereich des Handelns und Verhaltens dem „Gehorsam“ und im Bereich des Wissens dem „Glauben“ der „Geführten“ vertrauen können. Dies ist rollentheoretisch und austauschtheoretisch rekonstruierbar. Die leidvolle und missverständliche Diskussion um Autorität könnte um einiges geklärt werden, würde zwischen (i) der Anerkennung von Autorität (vgl. z. B. Arendt, 1994; Sofsky & Paris, 1994), (ii) autoritärem Verhalten (schon Lewin et al., 1939) und (iii) der autoritären Persönlichkeit (Adorno et al., 1950; Seipel & Rippl, 1999) begrifflich und phänomenal unterschieden (vgl. dazu Reichenbach, 2011). In einem gewissen Sinn steht die Anerkennung von Autorität im Gegensatz zum autoritären Verhalten. So meinte Hannah Arendt einsichtig: „Da Autorität immer mit dem Anspruch des Gehorsams auftritt, wird sie gemeinhin … für einen Zwang besonderer Art gehalten. Autorität jedoch schließt gerade den Gebrauch jeglichen Zwanges aus, und wo Gewalt gebraucht wird, um Gehorsam zu erzwingen, hat Autorität immer schon versagt“ (Arendt, 1994, S. 159). Andererseits sei „Autorität unvereinbar mit Überzeugen, welches Gleichheit voraussetzt und mit Argumenten arbeitet. Argumentieren setzt Autorität immer außer Kraft“ (ebd.). Der „egalitären Ordnung des Überzeugens“ stehe, so Arendt, die „autoritäre Ordnung“ gegenüber, die ihrem Wesen nach „hierarchisch“ sei. Wolle „man also Autorität überhaupt definieren, so würde es sich vor allem darum handeln, sie klar sowohl gegen Zwang durch Gewalt wie gegen Überzeugen durch Argumentieren abzugrenzen“ (Arendt, 1994, S. 159 f.). „Gehorsam“ und „Glauben“ passen zwar nicht ins zeitgenössische Selbstverständnis, dennoch werden Ratschläge immer wieder befolgt und den (je bereichsspezifischen) Experten/Expertinnen wird meist geglaubt, was sie sagen. Die Ärztin teilt mir mit, ich hätte eine Kniearthrose und dass die Schmerzen daher rühren würden. Sofort glaube ich ihr. Sie rät zu mehr Fitness, Fahrradfahren sei gut – also schwinge ich mich auf das Fahrrad. Sie hätte mir auch ein Medikament verschreiben können, dann würde ich dieses einnehmen, so dosiert, wie von ihr empfohlen. Das scheint ein unproblematischer 1 „Autorität und Freiheit sind keineswegs Gegensätze, und einem Autoritätsverlust entspricht kein
automatischer Freiheitsgewinn“, schreibt Arendt im Jahre 1955 (Arendt, 1994, S. 162).
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Fall von Autoritätsgläubigkeit zu sein. Ich glaube auch dem Steuerberater, der mir sagt, welche Abzüge ich vornehmen kann, und meiner Klavierlehrerin, die darauf pocht, dass der Fingersatz eingehalten wird. Es handelt sich in diesen drei Fällen um „situative“ und „limitierte“ Autoritäten – ich akzeptiere deren Meinungen und Handlungsanweisungen in Bezug auf bestimmte Fragen, nicht aber in Bezug auf andere; der Steuerberater hat mir nicht zu sagen, wie ich meine sozialen Beziehungen führen soll, die Klavierlehrerin geht es nichts an, dass ich rauche. Ich akzeptiere, dass mir der Polizist wegen Falschparkens einen Strafzettel übergibt, ich akzeptiere aber nicht, dass er mir mitteilen zu müssen meint, wie ich mich „beim nächsten Mal“ zu verhalten hätte, um der Buße zu entgehen. Falschparken ist meine Sache, mir dafür eine Buße auszuhändigen, ist seine Sache. Wer gegen (zeitlich und inhaltlich) limitierte Autoritäten dieser Art opponiert, hat wahrscheinlich ein Autoritätsproblem. Doch wenn der CEO des größten Pharmakonzerns im Land eine Kultur des „Unbossing“ verkündet („we create an unbossed environment“2 ), dann hat wahrscheinlich auch er ein Autoritätsproblem. Dieses ist anders gelagert und illustriert – fast sicher unbeabsichtigt – die strukturelle Unaufrichtigkeit in der modernen Arbeitswelt, in welcher soziale Unterschiede und soziale Macht peinlichst verdeckt werden müssen. Das für die Moderne konstitutive Ideal der symmetrischen Kommunikation führt zu eigenartigen Ambivalenzen, die keineswegs abgelehnt, aber verstanden werden müssen. Das fällt nicht allen gleich leicht. Wenn die Vorgesetzten sich nicht als Führungspersonen und damit auch Autoritäten verstehen müssen, so befriedigt dieses Selbstmissverständnis bei manchen Personen das zeitgenössische Motiv und die Gepflogenheit, sich auch unter Ungleichen als gleich zu adressieren. Für die „Untergebenen“, die – dank des Symmetrieideals – schon längere Zeit „MitarbeiterInnen“ heißen, ergibt sich damit die nicht immer einfach zu lösende Aufgabe, mit pseudo-partizipativen und pseudo-diskursiven Situationen und damit verbundenen Pseudo-Einigungen umzugehen (vgl. Pateman, 1970). In diesen Situationen arbeiten immer alle „miteinander“ und tragen „gemeinsame Verantwortung“, auch fällen sie möglichst «gemeinsame Entscheidungen“ – und das ist auch gut und schön. Doch: „Wer gehorchen muss, kann nicht mehr zustimmen, wer befehlen kann, muss nicht mit Argumenten überzeugen“ (Kopperschmidt, 1980, S. 113 f.; Hervorhebung R. R.). Wenn der Vater zur Tochter sagt: „Wir müssen da etwas miteinander besprechen!“, so weiß die Tochter mit der Zeit, was diese Rede bedeutet, nämlich, dass es jetzt darum geht, dem Anliegen des Vaters in einer Sache zuzustimmen, die sie anders beurteilt als er. Wenn sie nicht zustimmt, hört das „gemeinsame Gespräch“ sehr bald auf und wird ersetzt durch väterliche Aussagen wie: „Solange du noch unter meinem Dach lebst, sage ich dir, was du zu tun und lassen hast!» Die damit verbundenen Erfahrungen, dass nämlich die zunächst intendierte, behauptete und/oder erwartete Argumentationsintegrität zusammenbricht und sich am Schluss die Macht durchsetzt, sind für die Tochter wichtig für ihren weiteren Lebensweg. Dominus ist der Herr, er herrscht, er bestimmt, er setzt sich durch, kurz, er 2 https://www.novartis.com/about/strategy/people-and-culture/we-create-unbossed-environment
(abgerufen am 28.02.2023).
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dominiert; und die Tochter muss sich gegenüber dieser Dominanz emanzipieren, so viel ist klar. Das ist normal und gehört zur allgemeinen Menschenbildung. Die sozialen Anerkennungsleistungen sind fragil und erfordern in demokratischen Lebensverhältnissen mitunter subtile Anpassungsstrategien – auf allen Seiten der Beteiligten. „Subtil“ sind diese Leistungen, weil die Unterscheidung zwischen strukturell superioren und strukturell inferioren Positionen nicht notwendig mit der Unterscheidung zwischen mächtigen (wirkungsvollen) und ohnmächtigen (wirkungslosen) Positionen zusammenfällt. Wer – aus welchen Gründen auch immer, und seien sie legitim oder nicht – Macht über andere „besitzt“, muss in der Regel weder Zwang noch Gewalt einsetzen, aber es muss ihm oder ihr unter den Bedingungen der symmetrischen Moral (der wechselseitigen Anerkennung) gelingen, die im Führungsbereich immer nötigen Dominanzmanöver mit angemessenen Kommunikationsformen und Sprechakten zu kaschieren, sodass die mehr oder weniger offensichtlichen Unterwerfungsleistungen für jene, die sie zu zeigen haben (meinen), akzeptierbar sind. Daher «bitten» Vorgesetzte ihre Mitarbeitenden, dieses oder jenes zu tun, sie „befehlen“ nicht; doch diese „Bitten“ sind klare Handlungsanweisungen, d. h. haben Befehlscharakter. Nun ist Autorität nicht mit Macht gleichzusetzen, aber die Möglichkeit der Machtausübung bzw. des Machteinsatzes scheint die Bedingung zumindest vieler Formen von Autorität zu sein (vgl. Peters, 1960, S. 21). Die Figur des Vaters – zunächst auch: Gottes – steht prototypisch für diese Möglichkeit. Nach Peters wurden die Menschen bis in das siebzehnte Jahrhundert hinein in allen Lebensbereichen von der Vaterfigur dominiert (a. a. O., S. 25). Der „Vater“ ist die erste und vielleicht die älteste Form der Autorität (vgl. Kojève 1942/2004). Er kann belohnen und bestrafen. Wer weder belohnen noch bestrafen kann, von dem muss man sich nichts „sagen lassen“, man muss ihm das Ohr – das Sinnesorgan des Fürchtens und Gehorchens (vgl. Herzog (2002, S. 509) mit Rekurs auf Schleiermacher) – nicht leihen. Alexandre Kojève (1942/2004) unterschied zwischen vier – idealtypisch vorgestellten – Autoritäten, namentlich die Autorität des Vaters (le père), die Autorität des Herrn oder Meisters (le maître), die Autorität des (An-)Führers (le chef) und die Autorität des Richters (le juge), welche er vier philosophischen Traditionen (der scholastischen, der hegelianischen, der aristotelischen und der platonischen) zuordnet. Die Figur des Vaters ist die „erste“ Autorität, sie bezieht ihre Kraft aus der Vergangenheit. Es ist die Kraft von Sitte und Tradition, der eingeschleiften Gewohnheiten, dessen, wie „man es hier schon immer gemacht hat“. Die Autorität des Herrn und Meisters bezieht ihre Kraft aus der Macht, die sie in der Gegenwart gegenüber den anderen besitzt (Ich bin jetzt und hier der Boss, die Kommissionsvorsitzende, der gewählte Stadtrat, die im Dienst stehende Oberärztin etc.). Der „Führer“ bezieht seine Autorität aus der Möglichkeit des Versprechens, d. h. aus der Zukunft („We shall overcome“, „I have a dream“, „Yes, we can!“). Die Autorität des Richters liegt in der Verkörperung von Integrität, Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit, in gewisser Hinsicht ist sie also der „Überzeitlichkeit“ zu verdanken.
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Wohl stecken alle diese idealtypischen Autoritäten in der Krise, sicher aber die erstgenannte, traditionelle: Die Erfahrung der Alten ist entwertet, was sie von der Vergangenheit berichten, scheint „out-dated“ zu sein, bringt wenig oder nichts für die Bewältigung der Probleme in der Gegenwart mit ihrem – ja so unglaublichen – Wandel, und schon gar nichts für die Zukunft, die ja radikal offen ist. Doch die Krise ist eben auch typisch für die Moderne und die Autoritätskrise sowieso (vgl. Reichenbach, 2011). Nur, auch Krisen selbst können in eine Krise geraten, so kann man von der Krise der Autoritätskrise sprechen.
2.2
Zur Krise der Autoritätskrise
Führungspersonen verkörpern für MitarbeiterInnen und BürgerInnen zumindest zeitweilig einzelne oder aber alle der genannten Formen von Autorität, auch und gerade in modernen Gesellschaften: Sie beziehen ihre Glaubwürdigkeit und Anerkennung aus der Erfahrung der Vergangenheit, aus der Fähigkeit, in der Gegenwart situationskluge Entscheidungen zu treffen, aus der Möglichkeit, Zukunft, d. h. Belohnung, versprechen zu können und mitunter zu wissen oder wenigstens zu behaupten, was für alle gut ist und was nicht. Der Versuch, die Erwartungen an die Rolle der Autorität zu mindern oder zum Verschwinden zu bringen, ist weder politisch noch auch beispielsweise pädagogisch fortschrittlich oder psychologisch realistisch oder gar moralisch edel. Es handelt sich allein um den Versuch, das sowieso wirksame Phänomen der Autorität zu verschleiern. Dies ist die Kultur oder Unkultur der kaschierten Dominanz, die man im Zeitalter der politischen Korrektheit zu ertragen hat. Die Schwächung von „vertikalen“ – personalen und sozialen – Autoritäten in den Bereichen der Politik, der Religion, des Rechts, der Schule und der Familie verdankt sich auch der Unfähigkeit, attraktive Zukunft noch glaubhaft versprechen zu können (vgl. Meirieu, 2005; Revault d’Allonnes, 2005). Zumindest besteht ein Zusammenhang zwischen der Schwächung oder Krise der Autorität und dem Verblassen eines Zukunftshorizontes. Die scheinbare „Offenheit“ der Zukunft kommt in der Transformation der Fortschrittssemantik in die grassierende Innovationsrhetorik zum Ausdruck. Das Verblassen der temporalen Dimension von Autorität ist also nicht nur als Traditionsverlust (Delegitimierung der Imperative der Herkunft und des Herkömmlichen) zu verstehen, sondern auch als „Zukunftsverlust“. Die Schwächung der Autorität der Zukunft (z. B. des „Moderneprojekts“) wird mit der Etablierung von „horizontalen“ – mehr oder weniger anonymen – „Autoritäten“ kompensiert: der Autorität des Geldes und des Marktes, der Medien und der schnell agierenden „wissenschaftlichen“ Gremien (Steiner, 2005a, b). Diese horizontalen Autoritäten erinnern an die allgemeine und diffuse Autorität des „Man“ (vgl. Hunyadi, 2005, S. 23), um es in Anlehnung an einen in diesem Diskurskontext schon fast schlimmstmöglichen Autor – natürlich Martin Heidegger – zu formulieren. Die Autorität des Man ist „projektlos“ und gegenwartszentriert, und dem Wegfall von
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vertikalen Autoritäten folgt offenbar nur bedingt – oder als Illusion – eine Zunahme an Freiheitsgefühl (vgl. Arendt, 1994). Der Verlust an vertikaler, traditionaler Autorität wird allerdings nicht nur auf anonyme Weise „horizontal kompensiert“, sondern ist möglicherweise ein Grund für Überkompensationen in Form von (pseudo-)religiösen und (pseudo-)politischen Fundamentalismen und Gruppierungen, in denen die soziale Interaktion und Kommunikation nun umso rigider, vertikal-hierarchisch, strukturiert werden – allerdings, und dies ist bedeutsam, ohne überzeugende Anbindung an Herkunft und Zukunft (vgl. Meirieu, 2005, S. 91). Während die Rede von der „Krise der Autorität“ über einige Jahrzehnte als Topos des politischen und pädagogischen Diskurses gelten durfte, besteht die „Krise der Krise“ heute in der Vergleichgültigung gegenüber traditionalen bzw. vertikalen Autoritäten. Gegen Autoritäten, die nichts (mehr) zu versprechen (und zu belohnen) haben, muss niemand ankämpfen, von denselben kann sich aber auch niemand „befreien“. Wie aus einer entrückten, schon fast nostalgisch anmutenden Welt muten heute Schriften wie Liebels und Wellendorfs Schülerselbstbefreiung. Voraussetzungen und Chancen der Schülerrebellion (1969) an. Während der Kampf gegen die Autorität oder zumindest das Ringen mit der Autorität dieselbe in die Krise gestürzt haben mag, besteht die Krise der Krise der Autorität darin, dass ein solcher Kampf heute geradezu irrelevant erscheint: Wo insbesondere dem jugendlichen Lebensgestaltungswillen nur noch verständnisvolle Unsicherheit oder unsicheres Verständnis entgegengebracht wird, kann sich dieser kaum in argumentativ-diskursiver Auseinandersetzung artikulieren, sondern muss andere, womöglich sprachlose Formen der Verarbeitung dieses Friktions- und Resonanzmangels finden. Pädagogisch prekär ist daher nicht die Krise der Autorität – die vielmehr zum pädagogischen Programm der Moderne gehört –, sondern das Verschwinden dieser Krise, also die Autoritätskrise, die selber in der Krise steckt. Doch trotz der „Tyrannei der Gegenwart“, trotz „offener Zukunft“ und trotz Führungspersonen, die als Erben ohne Testament nicht genau wissen, wohin die Reise gehen soll, wird die politische, rechtliche, pädagogische, betriebliche, wissenschaftliche, religiöse (etc.) Autorität natürlich nie nur krisenhaft und die Krise der Krise nicht umfassend sein. Dafür sorgen schon allein die Differenzen von Alt und Jung, wissend und unwissend, kompetent und inkompetent, einsichtig und uneinsichtig u.v. a.m. Zu den Eigenheiten des politisch korrekten Diskurses gehört ironischerweise eine negative, zumindest aber ambivalente Einstellung zur Macht, die oft dämonisiert und deren Produktivität unterschätzt wird. Dass ohne das Faktum der Machtasymmetrie Fragen der Ethik hinfällig wären und das Konzept der Verantwortung nicht überzeugen könnte, interessiert offenbar weniger. Zwei wichtige Quellen der Macht liegen in der Möglichkeit, zu belohnen und zu verzeihen (nebst weiteren Machtquellen wie Bestrafung, Legitimation, Sachkenntnisse, Information, Attraktivität u. a., vgl. z. B. Buschmeier, 1994, S. 24). Die Fähigkeit, zu belohnen bzw. Belohnungen glaubhaft in Aussicht stellen zu können, ist mit der Praxis des Versprechens verwandt. Welchen Sinn sollte es machen, eine Person als Autorität anzuerkennen, die nichts zu versprechen hat? Versprechen können heißt, künftiges Handeln erwartbar,
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unsichere Zukunft ein Stück kontrollierbar zu machen. Der Macht des Versprechens steht die Macht – und damit auch die Ethik – des Verzeihens (Margalit, 2000) gegenüber: Sie ist eine performative kommunikative Leistung, in welcher die handelnden Personen die Macht über die Vergangenheit – wiederum nur ein Stück weit – wiedergewinnen (vgl. Arendt, 1996, S. 300 ff.). Ohne die zeitliche Dimensionierung ist nur schwer zu verstehen, was die Anerkennung von Autorität bedeuten soll, was sie leistet und was es heißt, die Möglichkeit zu schaffen, über die Vergangenheit und die Zukunft Macht zu erringen (Baier, 1994). Diese sozialbehavioristische Sicht auf asymmetrische Beziehungen drückt einen basalen Sachverhalt und eine nicht ganz einfache Wahrheit aus, die in zeitgenössischen Diskursen, ihrerseits vom Symmetriegebot dominiert, weniger zu interessieren scheint. Vor vielen Jahren hat der Soziologe und Austauschtheoretiker Peter Blau die Ambivalenz der erfolgreich zu erfüllenden Aufgaben stabiler Führung wie folgt beschrieben: „Stable leadership rests on power over others and their legitimating approval of that power. The dilemma of leadership is that the attainment of power and the attainment of social approval make somewhat incompatible demands on a person. To achieve power over others requires not only furnishing services that make them dependent but also remaining independent of any services they might offer in return. To legitimate a position of power and leadership, however, requires that a leader be concerned with earning the social approval of his followers, which means that he does not maintain complete independent of them.“ (Blau, 1964, S. 203) Führungsverhältnisse als Autoritätsverhältnisse sind von asymmetrischen Abhängigkeiten geprägt. Führung und Autorität sind keine Eigenschaften von Einzelpersonen, sondern von Beziehungen, in denen die Interaktion von rollenkomplementären Verhaltensmustern wechselseitige Abhängigkeiten ausdrückt, die nur teilweise und situationsgebunden symmetrisch sein können. Symmetrie ist vielmehr die Eigenschaft von Beziehungen zwischen Gleichfreien bzw. Gleichunfreien. Um die Illusion der Symmetrie aufrechtzuerhalten und das Problem der Asymmetrie abzumildern, das der Autorität innewohnt, die ihrem Wesen nach hierarchisch ist (Arendt 1955/1994, S. 159 f.), wurde immer wieder die Möglichkeit der „freiwilligen Folgsamkeit“ zu betonen versucht. So spricht beispielsweise Schott (2003) von der „Hinführung zur freiwilligen Folgsamkeit echter Autorität … als Erziehungs- und Bildungsziel“ (S. 291), wobei sich „echte“ Autoritäten an „zustimmungswürdigen Regeln“ orientieren würden. Man erahnt hier förmlich die Kraft von Überredungsbegriffen und pseudoanalytischen Differenztermen („echte“ versus „unechte“ Autorität; „freiwillige“ versus „erzwungene“ und/oder „blinde“ Folgsamkeit). Ein Problem besteht darin, dass die Kriterien und Fähigkeiten, um zwischen „echter“ und „unechter“ Autorität unterscheiden zu können, den AdressatInnen gar nicht oder kaum zur Verfügung stehen. Führung, insbesondere subtile Führung, ist von den Geführten nur bedingt von der Verführung zu unterscheiden. Wer sich – „freiwillig“ – führen lässt, vertraut der führenden Person. Asymmetrische Verhältnisse sind nicht nur Macht- und Vertrauensverhältnisse, sondern das Vertrauen in die Macht und die Macht des Vertrauens
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sind konstitutive Elemente jeder, nicht nur der asymmetrischen Langzeitbeziehung (vgl. Graen & Uhl-Bien, 1995).
2.3
Die Kaschierung von Befehl und Gehorsam
Führung besteht zu einem wesentlichen Teil aus einer Kommunikationspraxis, die von Handlungsanweisungen geprägt ist, deren Ausführung prompt oder zu einem späteren Zeitpunkt erwartet wird. Handlungsanweisungen können unabhängig davon, ob sie in rollenkomplementären und asymmetrischen Beziehungen erfolgen oder nicht, als kommunikative Dominanzmanöver verstanden werden, mit denen allein eine bestimmte Ordnung hergestellt werden kann (Volmer, 1990). Sie ermöglichen im Normalfall ein mehr oder weniger bewegliches soziales Gleichgewicht, in dem dominante und inferiore Positionen unterscheidbar sind (vgl. Reichenbach, 2007). Während es zahlreiche Vorstellungen davon gibt, was unter Autorität in einem kommunikativen Sinn verstanden werden kann, scheint die handlungs- und interaktionstheoretische Umsetzung der Frage, wie Autorität hergestellt, wie sie aufrechterhalten wird und wie sie verloren geht, in einem gewissen Sinn eher wenig behandelt.3 Die „politisch-moralische“ Brisanz der Rekonstruktion sozialer Komplementaritätsstrukturen erklärt sich aus der für das moderne Ethos unabdingbaren Anerkennung der Moral der wechselseitigen Achtung, die auf der Interaktionsebene das Ideal symmetrischer Kommunikation vorzeichnet.4 Die Möglichkeit einer prinzipiell herrschaftsfreien Kommunikation bzw. der Kommunikation ohne die Differenz zwischen dominanten und inferioren Positionen muss insgesamt als kritisch eingeschätzt werden. Die Pointe der unterschätzten und dem habermasianischen Ideal diametral entgegengesetzten Position von Watzlawick, Beavin und Jackson (1969) besteht darin, dass jede Kommunikationsbeziehung längerfristig Komplementaritätsmuster entwickelt, welche nicht zuletzt die Funktion haben mögen, symmetrische Eskalationen zu vermeiden. Symmetrie ist der Zustand, in welchem sich alle Beteiligten dauerhaft weigern, die inferiore Position einzunehmen. Komplementarität auf der anderen Seite benötigt das zumindest implizite und zumindest situationsgebundene Zugeständnis inferiorer Positionalität einzelner Akteure und eine entsprechende explizite bzw. expressive Praxis. 3 Im Rahmen von Untersuchungen zum „classroom management“ (früher auch „Klassenführung“
genannt) fokussiert sich das Interesse auf handlungspraktische Empfehlungen (vgl. Kounin, 1970; Mayr, 2006; Neuenschwander, 2006); dabei scheint tendenziell vernachlässigt zu werden, dass Autorität als Eigenschaft einer Beziehung und eines Anerkennungsverhältnisses aufzufassen ist, also intersubjektiv zu rekonstruieren wäre. 4 Und so gilt denn die sogenannte „pädagogische Antinomie“ als das zentrale (theoretische) Problem der „Autonomiepädagogik“ (Hügli, 1996; Benner, 1987). Freilich unterstellt jedes vernünftige Erziehungs- und Unterrichtskonzept nebst aller Rhetorik, die dem Ideal der symmetrischen Kommunikation geschuldet ist, zumindest implizit die dominante Position der Lehrperson oder der Erziehungsperson.
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Unter zeitgenössischen Kommunikationsbedingungen ist die Bedeutung von verdeckten Dominanzmanövern kaum zu unterschätzen. Man darf von „Kultur“ sprechen. Ausgehend vom Paradigma der Rollenkomplementarität und der damit verbundenen Unmöglichkeit von dauerhaft symmetrischen Kommunikationsbeziehungen kann Autorität im Lichte des sozialen Austausches verstanden werden (vgl. Reichenbach, 2007). Auch wenn es einem unsympathisch erscheint, so lautet die relevante Frage aus dieser Perspektive: Welchen Nutzen (Belohnung) kann der Gehorchende für seinen Gehorsam erwarten? Um den Gehorsam als Tauschakt richtig einzuschätzen, ist es bedeutsam, die subtilen Formen des Gehorchens und des Tauschens zu berücksichtigen. So fällt es erheblich leichter, einer Handlungsanweisung Folge zu leisten, wenn sie (freundlich) kaschiert wird: Einen Befehl ausüben zu müssen, ist nicht das Gleiche, wie einer Aufforderung nachzukommen oder eine soziale Erwartung nicht zu enttäuschen, eine Hoffnung zu erfüllen, die Artikulation eines Bedürfnisses, eines Gefühls ernst zu nehmen oder eine sogenannte „Ich-Botschaft“ als handlungsrelevant zu erachten. Sofern diese Sprachakte, die an mich gerichtet werden, bei mir eine Wirkung – womöglich ein bestimmtes Verhalten – erzielen sollen, sind sie allesamt als Dominanzmanöver zu verstehen. Plump ist es, bei den anderen nur mit Befehlen Wirkung erzielen zu können, subtil ist es, wenn dies schon durch die Abgabe einer sogenannten „Ich-Botschaft“ erreicht wird. Dem kaschierten Dominanzmanöver entspricht das kaschierte Gehorchen: die sogenannte „freiwillige Folgsamkeit“, die es unter Ungleichfreien gar nicht geben kann. In günstigen Bildungskontexten – seien die Milieus aus psychologischen, religiösen, politischen, ethischen oder anderen Gründen „subtilisiert“ worden – wird subtil geführt und die Kinder und Jugendlichen lassen sich auf subtile Weise führen. Die Voraussetzungen subtiler Führung und subtilen Gehorsams – lässiger Unterwerfung – sind vielfältig. Nicht zuletzt geht es um die Fähigkeit, Belohnungsaufschub ertragen zu können, austauschtheoretisch interpretiert: sich künftig höheren Gewinn oder geringere Kosten gegenüber momentanem geringem Gewinn oder höheren Kosten vorstellen und entsprechend gewichten zu können. Ein kleines Kind, noch impulsiv und in seiner Egozentrik steckend, ist zu beidem nicht fähig, weshalb seine Unterrichtung nur begrenzt möglich ist. Aber auch ältere Kinder oder Jugendliche können mit dieser Gewichtung, berechtigt oder nicht, große Mühe haben und der kurzfristige Nutzen, der aus der Verweigerung einer pädagogischen Handlungsanweisung resultieren kann, mag erheblich größer erscheinen als der unsichere, zukünftige Gewinn oder Nutzen, der durch Gehorsam in der Gegenwart, durch Befolgen der mehr oder weniger subtilen Handlungsanweisung, suggeriert oder vermutet wird. Die Fähigkeit, Strategien des vorgetäuschten Gehorchens bzw. vorgetäuschter Autoritätsanerkennung situationsangemessen einzusetzen, schafft günstige Austauschbedingungen, und die auf diese Weise sanft getäuschten Führungspersonen, die das ironische Täuschungsgeschäft im stillschweigenden Einverständnis durchaus akzeptieren, weil sie davon erheblich profitieren, werden oder sollten das implizite Tauschangebot nicht „knausrig“ behandeln (vgl. Reichenbach, 2007).
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Am Sprechakt des Befehlens selbst lässt sich illustrieren, worin die Leistung rollenkomplementärer Kommunikation besteht. „Der Befehl ist älter als die Sprache, sonst würden ihn Hunde nicht verstehen“, schrieb Elias Canetti in Masse und Macht (1960/ 1985, S. 335). Das schien ihm der Grund zu sein, warum man sich psychologisch mit der Bedeutung des Befehls kaum befasst habe. „Von klein auf ist man an Befehle gewöhnt“, so Canetti, „aus ihnen besteht zum guten Teil, was man Erziehung nennt; auch das ganze erwachsene Leben ist von ihnen durchsetzt, ob es nun um die Sphären der Arbeit, des Kampfes oder des Glaubens geht“ (ebd.). Wer dem Befehl gehorcht, anerkennt die Autorität des Befehlenden und garantiert somit eine bestimmte Disziplin. „Die Disziplin macht das Wesen der Armee aus. Aber es ist zweierlei Disziplin, eine offene und eine geheime. Die offene Disziplin ist die des Befehls“ (1960/1985, S. 349). Die letztere sei die Disziplin der „Beförderung“ (S. 350). „Beförderung ist nur der öffentliche Ausdruck für etwas Tieferes, das schon darum geheim bleibt, weil es in der Art seiner Funktion von den wenigsten begriffen wird. Die Beförderung ist der Ausdruck für das verborgene Wirken der Befehlsstacheln“ (S. 350). Der Befehl, so Canetti auf seine eigenwillige und eindringliche Weise, sei letztlich eine Art Todesdrohung, er leite sich vom Fluchtbefehl ab. „Der domestizierte Befehl, wie wir ihn kennen, verbindet die Drohung mit einem Lohne: Die Fütterung stärkt den Effekt der Drohung, doch ändert sie nichts an ihrem Charakter. Die Drohung wird nie vergessen. In ihrer ursprünglichen Gestalt bleibt sie für immer bestehen, bis eine Gelegenheit da ist, sie loszuwerden, indem man sie an andere weitergibt“ (a. a. O., S. 368). Man kann es auch weniger dramatisch formulieren: Wer immer nur Handlungsanweisungen befolgen muss, will auch etwas für sein Gehorchen kriegen – bei Canetti: sich zumindest der negativen Folgen des Gehorchens entledigen. Homans hat die Ansicht formuliert, wonach sich Befehle der Art nach nicht von Normen unterscheiden würden: „Sowohl Normen wie Befehle sind verbale Aussagen, und beide geben an, wie das Verhalten der Mitglieder einer bestimmten Gruppe sein sollte, nicht wie es wirklich ist“ (Homans, 1960, S. 386). Befehle setzen, werden sie ausgeführt, Normen in Kraft, aus Befehlen werden früher oder später Recht und Brauch (ebd., S. 387). Während es einer Theorie der Autorität um das Befolgen von Befehlen geht, beinhaltet die „von der gleichen allgemeinen Art“ zu sein scheinende Theorie der sozialen Kontrolle das Befolgen von Normen (S. 388). Daher verhält sich der Begriff der Autorität zu jenem der Demokratie – im Unterschied zu einem vielleicht verbreiteten Vorurteil – durchaus orthogonal: „Autorität wird manchmal durch demokratische Methoden geschaffen und erhalten, manchmal aber auch durch sie zerstört“ (S. 389). Zentral sind folgende Bestimmungspunkte: • „Die Autorität ist wie die Kontrolle von der Tatsache abhängig, dass die Nichtbefolgung eine Anzahl von Strafen und nicht nur eine mit sich bringt. Die Strafe ist dem Vergehen nicht angemessen, sondern steht zu diesem in keinem Verhältnis. • Die Strafen sind in den Beziehungen des sozialen Systems implizit enthalten und die Elemente des Systems derartig miteinander verbunden, dass, wenn ein Mensch
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einen Befehl verweigert, diese Handlung automatisch seinen Interaktionen und Freundschaften, seinem sozialen Rang und der vom Führer ihm gegenüber eingenommenen Haltung Schaden zufügt. • Die Bestrafung des Übeltäters durch den Führer ist nur eine von vielen der hier wirksam werdenden Kontrollen. Die Interessen der Anhänger sind ebenso wie die des Führers verletzt, und das trifft unserer Meinung nach überall zu, wo in einer kleinen Gruppe Autorität wirksam wird (Homans, 1960, S. 390 f.)“. Schlussbemerkungen Hinter der Kultur der kaschierten Dominanz – und damit verbunden des kaschierten Gehorsams – befindet sich eine erstaunlich einfach gestrickte „Psychologie“ des sozialen Austausches, des Gebens und Nehmens von einigen materiellen und sehr vielen nicht materiellen Gütern, die als Mittel eingesetzt werden, um ein anständiges, legitimes und möglichst zufriedenstellendes Arbeits- und Privatleben zu führen. Das Spiel der Autorität und der Führung besser zu verstehen, heißt auch, gegenüber den subtilen oder weniger subtilen Inszenierungen von Macht und Asymmetrie gelassener zu werden, ohne die das hierarchisch stratifizierte Arbeitsleben kaum vorstellbar ist. Zu viel Energie und Vitalität muss aufgebraucht werden, um den sinnlosen Kampf gegen die unvermeidbare und in vielen Formen vorzufindende Autorität zu führen.
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Roland Reichenbach Jg. 1962, studierte nach der Ausbildung zum Primarlehrer Klinische Psychologie und Philosophische Ethik an der Universität Fribourg/CH. Er hat seit 2013 den Lehrstuhl für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich inne. Forschungs- und Lehrtätigkeiten führten ihn in die USA, nach Kanada, Deutschland und Südkorea. Professuren an der Universität Münster (2002–2008) und der Universität Basel (2008–2012). Seine Interessenschwerpunkte sind die Bildungsphilosophie, Pädagogische Ethik, Politische Bildung und Verhandlungstheorie und -praxis. Letzte Buchveröffentlichungen: Grenzen der interpersonalen Verständigung. Eine Kommunikationskritik (2020) und Bildungsferne. Essays und Gespräche zur Kritik der Pädagogik (2020). [email protected]
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Entwicklungschancen oder Regressionsgefahr? – Die Verzahnung von äußerer Bedrohung und innerseelischer Dynamik und ihre Auswirkung auf die menschlichen Beziehungen Markus Fäh
Zusammenfassung
Äußere Bedrohungen wie das Coronavirus und der Krieg in Europa aktivieren innerpsychische Dynamiken und Prozesse. Was sind die Auswirkungen auf das seelische Funktionieren des einzelnen Menschen und die sozialen Beziehungen im Privaten wie in Gruppen oder Organisationen? Der Autor untersucht, wie die z. T. noch nie da gewesenen externen Einflüsse mit unserer psychischen Struktur und den in ihr ablaufenden Prozessen interferieren. Zum einen geht es um den Umgang mit potenzieller Reizüberflutung und Überwältigung, zum anderen um die innere Dynamik von rebellischen Triebwünschen, aggressivem Gewissen und überfordertem steuernden Ich. Hinzu kommt die Aktivierung spezifischer in der Entwicklung angelegter unbewusster Wunsch- und Angstfantasien. Es werden sowohl die Auswirkungen der heutigen Situation auf das seelische Gleichgewicht des Einzelnen und die (Macht-) Beziehungen in Gruppen und Organisationen als auch die möglichen Gefahren und Entwicklungschancen diskutiert
M. Fäh (B) Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 O. Geramanis et al. (Hrsg.), Organisationale Machtbeziehungen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42092-5_3
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Unsere Bemühungen um die Erkenntnis der Welt – die äußere materielle wie die innere psychische Realität – stehen auf schwankendem Boden. Das Ich steht vor einer wahren Herkulesaufgabe und ist dafür nicht eben gut gerüstet. Freud machte sich in dieser Hinsicht keine Illusionen: „Aber andererseits sehen wir dasselbe Ich als ein armes Ding, welches unter dreierlei Dienstbarkeiten steht und demzufolge unter den Drohungen von dreierlei Gefahren leidet, von der Außenwelt her, von der Libido des Es und von der Strenge des Über-Ichs. … In seiner Mittelstellung zwischen Es und Realität unterliegt es nur zu oft der Versuchung, liebedienerisch, opportunistisch und lügnerisch zu werden, etwa wie ein Staatsmann, der bei guter Einsicht sich doch in der Gunst der öffentlichen Meinung behaupten will.“ (1923b, S. 286 f.)
Anders ausgedrückt, das Ich ist korrumpierbar, es ist kein souveränes rationales Ego, das sich kühn und unbestechlich den inneren und äußeren Wahrheiten stellt und uns gelassen und stark durch die Gewässer des Lebens steuert. Von den Abhängigkeiten des Ichs ist die vom Über-Ich die wohl interessanteste, hält Freud fest: „Von den dreierlei Gefahren bedroht, entwickelt das Ich den Fluchtreflex, indem es seine eigene Besetzung von der bedrohlichen Wahrnehmung oder dem ebenso eingeschätzten Vorgang im Es zurückzieht und als Angst ausgibt. … Was das Ich von der äußeren Welt und der Libidogefahr im Es befürchtet, lässt sich nicht angeben; wir wissen, es ist Überwältigung oder Vernichtung, aber es ist analytisch nicht zu fassen. … Hingegen lässt sich sagen, was sich hinter der Angst des Ichs vor dem Über-Ich, der Gewissensangst, verbirgt. Vom höheren Wesen, welches zum Ich-Ideal wurde, drohte einst die Kastration, und diese Kastrationsangst ist wahrscheinlich der Kern, um den sich die spätere Gewissensangst ablagert, sie ist es, die sich als Gewissensangst fortsetzt.“ (1923b, S. 287 f.)
Das Ich ist also vom Über-Ich her permanent von Kastrations- und Todesangst bedroht und ist nur allzu gern bereit, sich dem Über-Ich zu unterwerfen und rebellische Wünsche zu verdrängen. Dies geschieht allerdings größtenteils nicht in freier rationaler Abwägung, sondern als unbewusste Anpassung. Die Menschen auf diesem Planeten waren in den letzten vier Jahren einem grassierenden Virus ausgesetzt: SARS-CoV-2, das neben anderen Erkrankungen hauptsächlich die Atemwegserkrankung COVID-19 verursacht. Zu Beginn der Pandemie war das robust gesicherte Wissen über dieses neuartige Coronavirus beschränkt: Es kann zu schweren Erkrankungen mit tödlichem Ausgang führen; die Ansteckungswege sind bekannt, die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung bei einer Exposition ist erheblich; in der Behandlung werden verschiedene bekannte medizinische Maßnahmen, z. T. mit Erfolg, angewandt; Impfstoffe liegen nun vor, breit angelegte Impfkampagnen haben neben den Ansteckungen zu einer Stärkung der Immunabwehr in der Bevölkerung geführt. Es gibt nach wie vor eine Bandbreite von Unklarheit über die Gefährlichkeit des Virus und das Sterblichkeitsrisiko im Falle einer Erkrankung. Wir wissen nicht genau, warum die Erkrankung bei
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bestimmten Individuen einen harmlosen und bei anderen einen schweren oder gar tödlichen Verlauf nimmt. Wir hatten es in den Wellen der Pandemie mit einer unsichtbaren Bedrohung und einer in Teilen unbekannten Gefahrenlage mit ungewissem potenziellen Risiko, selber schwer zu erkranken oder zu sterben, zu tun. Wahrlich eine Herausforderung für unser ohnehin schon von äußeren Anforderungen, Triebwünschen und Ängsten geplagtes Ich! Die known knowns, known unknowns und unknown unknowns der globalen viralen Bedrohung reaktivierten in uns mit aller Macht die verdrängten Kastrations- und Vernichtungsängste. Die Regierungen und Gesundheitsbehörden stehen in einer solchen Situation im Auftrag, Maßnahmen zu ergreifen, die dem Schutz des Lebens als höchstem Gut dienen. Sie sind damit in einer ähnlichen Situation wie innerpsychisch das bedrängte Ich: Sie müssen auf schwankendem Boden möglichst realitätsgerechte Urteile fällen und Maßnahmen durchsetzen, um die Gefahr zu bannen und der Pandemie Herr zu werden. Es wurde mit Notrecht regiert, Freiheitsrechte wurden eingeschränkt, dem einzelnen Menschen wie auch Gruppen und Organisationen wurden Verbote und Beschränkungen auferlegt, Verzichtsleistungen zugemutet. Alles unter der Flagge der medizinischen Vernunft: Es ging darum, möglichst viele Menschen, besonders die vermuteten Risikogruppen, vor Ansteckung zu schützen, das Gesundheitssystem vor einem Kollaps zu bewahren und den Betroffenen die notwendige medizinische Hilfe zu sichern. Wie nun wirkte sich diese neue Situation auf das psychische Funktionieren des Einzelnen aus? Welche Auswirkungen stellen wir fest in den kulturellen Einstellungen und Werten und den sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen? Ich versuche in diesem Beitrag einige der durch die unsichtbare Bedrohung des neuen Coronavirus und die dagegen ergriffenen Maßnahmen ausgelösten psychischen und gesellschaftlichen Dynamiken zu untersuchen. Der überforderte psychische Apparat Die Freudsche Metapsychologie erstreckt sich im Spannungsfeld zwischen seiner ersten und zweiten Topik: von Ubw-Vbw-Bw zu Es, Ich und Über-Ich. Die menschliche Erfahrung ist ein Versuch, die Überwältigung durch die ultimative Realität (O nach Bion, 1965) durch Traumfunktion und Denkapparat zu bannen und letztlich als Gedanken zu denken und damit erträglich zu gestalten. Lacans drei Register der Erfahrung gemäß dem Konzept des Borromäischen Knotens Real-Symbolisch-Imaginär können ebenfalls als ein Konzept verstanden werden, wie das Subjekt mit a priori nicht denkbaren sinnlichen quasitraumatischen Körperund Welteinflüssen zurechtkommt (Lacan, 1975). Die Pandemie schaffte für die Psyche des Einzelnen wie für das gesellschaftliche Ganze eine Situation der Reizüberflutung und eine dauerhafte große Belastung mit unberechenbaren Auswirkungen. Sie war als globalisierte Stresserfahrung in dieser Form ein historisches Novum. Individuen, Gruppen und die Gesamtgesellschaft reagierten darauf gemäß ihren psychischen Dispositionen, kulturellen Werten und gesellschaftlichen Strukturen und mobilisierten
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entsprechende Bewältigungsstrategien auf der Basis ihrer affektiven Reaktionen, Denkprozesse, Wertesysteme und Machtverhältnisse. Ideologien als Auffassungen über die gesellschaftlichen Verhältnisse prallten mit einer neuen belastenden und herausfordernden Situation zusammen, gewisse Überzeugungen wurden erschüttert, andere erhielten Aufwind. Symbolisierungsdefizite und Regressionspotenzial Wir stehen aktuell nicht mehr unter der vollen Wirkung des sich in die Länge ziehenden Corona-Schocks. Trotzdem wäre es vermessen, anzunehmen, dass wir derzeit die vollen psychischen Auswirkungen erfassen und ermessen können. Wir verfügen jedoch über einige theoretische Instrumente, die uns beim Verständnis der psychischen Reaktionen helfen können. Die derzeit grassierende Pandemie konfrontierte uns in extremer Weise mit Krankheit und Tod, mit der Bedrohung, dass wir gewaltsam aus unserem gewohnten normalen Leben herausgerissen werden können. Es gibt einen regelmäßig von der Psyche in Gang gesetzten seelischen Mechanismus, wenn wir Erfahrungen ausgesetzt sind, die uns zu überschwemmen drohen. Die Psyche reagiert mit einer Notlösung, sie spaltet sich in einen abgetöteten und einen geretteten Teil. Wir verdoppeln uns in zwei Personen, die nichts voneinander wissen. Die Traumaforschung nennt dies Dissoziation. Eine Folge des Traumas ist, dass unser Verständnis von Normalität, das Urvertrauen, unser bis jetzt einigermaßen heiles Weltbild, alle unsere Halt gebenden Illusionen – Es kommt schon irgendwie gut! Man kümmert sich um mich! Es gibt Gerechtigkeit! usw. –, unser sicherer Mikrokosmos von Familie, Freunden, Arbeit, Schule und damit auch unser innerer bis anhin unerschütterlicher safe place mit einem Schlag zerstört werden. Die Konfrontation mit der neuen globalen tödlichen Bedrohung aktivierte im Einzelnen wie im Kollektiv diese für das seelische Überleben notwendigen Abwehrmechanismen. Um ein Mindestmaß an Normalität und stabilem psychischem Funktionieren aufrechtzuerhalten, flüchten Menschen im Allgemeinen in unterschiedlichem Ausmaß in dissoziative Muster: Einerseits erhalten wir uns quasihalluzinatorisch das Gefühl, seelisch weiter zu funktionieren, andererseits drängen wir mit einer vertikalen Spaltung der Psyche die Affekte ins Abseits. Diese brechen in bestimmten Momenten oder bei gewissen Personen und Gruppen in Form von aggressiven Ausbrüchen und Wahnbildungen (Verschwörungstheorien) durch. Da unsere Psyche mit der symbolischen Verarbeitung den unmittelbaren Fakten immer hinterherhinkt, haben wir es mit individuellen und kollektiven Symbolisierungsdefiziten und damit auch einem unabsehbaren Regressionspotenzial zu tun. Wahrheit Die Psychoanalyse arbeitet an der Schnittstelle zweier Welten: der äußeren Welt, die wir mit unseren Sinnen erfassen, und der inneren Welt mit unseren meist unbewussten Wünschen, Bildern, Gedanken und ihrer ungeheuren inneren Dynamik von Trieb und Abwehr. Sie steht
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im Dienste der kompromisslosen Suche nach der Wahrheit und ist damit selbst von einer menschlichen Triebkraft gespeist. Kant (1781) hat sich mit der Erkennbarkeit der Realität beschäftigt. Was wir von der Realität erkennen können, ist nur ein schwacher Abklatsch, gefiltert durch die Präkonzepte unseres Erkenntnisapparates, Zeit und Raum. Bion (1965) hat sich ebenfalls mit der Erkenntnistheorie befasst und nennt die uns nicht direkt zugängliche überwältigende Realität O (von Origin = Ursprung). Durch unsere Sinne und unsere Denkfunktionen erhaschen wir nur einen glimpse von der Realität, wir träumen konstant, wir erzeugen Gedanken, mit denen wir die Realität denken. Wenn wir die Realität nicht durch unseren Traumfilter und Denkvorgang erträglich machen könnten, würden wir von ihr überwältigt. In unserer Psyche streiten zwei gegensätzliche Passionen: leidenschaftlicher Drang, zu wissen, die Wahrheit herauszufinden, und die gegenläufige Tendenz: leidenschaftliches Nicht-wissen-Wollen – sich äußernd in Ignoranz, Verwerfung, Verleugnung, Verdrängung – nach Lacan eine der drei Basisleidenschaften, von André Green als travail du négatif (1993) herausgearbeitet. Diese beiden Tendenzen konnten wir zu Corona-Zeiten auch in uns selbst und bei anderen beobachten. Einerseits wollten wir genaues medizinisches Wissen über die Ansteckungsvorgänge und Krankheitsrisiken, den Verlauf und mögliche Behandlungen von COVID-19 erlangen, andererseits mochten wir vor den bereits bekannten Fakten die Augen verschließen. Es gibt zwei Arten des Umgangs mit der schmerzhaften Konfrontation von Wunsch und Realität: Halluzinieren oder Fantasieren. Halluzinieren ist der ursprüngliche. Das Subjekt besetzt eine befriedigende Erinnerungsspur und versieht sie mit einem Realitätszeichen, d. h., es schafft Wahrnehmungsidentität, es schafft sich ein Erlebnis, als ob die Befriedigung reell einträte bzw. immer noch bestünde, es halluziniert die schmerzhafte Realität der Frustration weg und halluziniert eine befriedigende Szene als Realwahrnehmung. Damit verschwindet der Mangel augenblicklich, aber auf Kosten des Realitätsbezugs. Das Subjekt wähnt sich im siebten Himmel, ist glücklich, es verwirft die Frustration, schmeißt sie gewissermaßen aus dem psychischen System hinaus. Mit der halluzinatorischen Lösung kann die Erfahrung eines überwältigenden Verlustes, der dem Subjekt als unerträglich erscheint, zunächst vermieden werden. Christian Kläui schreibt: „Treffen uns unerträgliche Versagungen, …, so kann der halluzinatorische Weg ,enthemmt’ werden, und wir wenden uns partiell von der Realität ab, und etwas von uns sitzt am metaphernlosen Ort der Wahrnehmungsidentität fest. … Oder es kommt schlimmstenfalls zu einer gänzlichen Abkehr von der Realität in einer halluzinatorischen Wunschpsychose. … Wo die Realität verhasst ist, kann das Verhasste auch, als Ausweg aus dem kaum erträglichen Hass, weghalluziniert werden.“ (2017, S. 72 f.)
Erst in einem nächsten Entwicklungsschritt wird aus der unerträglichen Wahrnehmung Erinnerung, die Halluzination wird abgelöst durch Fantasie und Denken. Die Psyche arbeitet
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dann nicht via Wiederherstellung des ursprünglichen Befriedigungserlebnisses halluzinatorisch, sondern besetzt die Erinnerungsspuren libidinös. Damit ist der Weg zu assoziativen Verknüpfungen, Verschiebungen, Metaphern, zum Wünschen als Begehren offen, und somit auch zur Trauerarbeit. In der psychischen Verarbeitung der Coronapandemie befanden wir uns mitten in diesem Prozess: Gelingt es uns, die halluzinatorischen Verleugnungen zu überwinden und die Fantasie sowie das Denken zu retten, um bei voller Anerkennung der unangenehmen und bedrohlichen Fakten, d. h. gemäß dem Realitätsprinzip, uns optimal zu schützen und gleichzeitig die verbleibenden Befriedigungsmöglichkeiten und damit die Lebenslust kreativ auszuschöpfen? Über-Ich-Festival Freud ging in der Schrift Das Unbehagen in der Kultur (1930a) ausführlich auf den Zusammenhang zwischen äußeren Einflüssen und der Errichtung, Weiterentwicklung und Stärke und Grausamkeit des Über-Ichs ein. Insbesondere interessierte ihn die Frage, warum das Über-Ich bei den Tugendhaften immer unerbittlicher wird und sich durch Triebverzicht in keiner Weise besänftigen lässt: „Anfangs ist zwar das Gewissen (richtiger: die Angst, die später Gewissen wird) Ursache des Triebverzichts, aber später kehrt sich das Verhältnis um. Jeder Triebverzicht wird nun eine dynamische Quelle des Gewissens, jeder neue Verzicht steigert dessen Strenge und Intoleranz … Das Gewissen ist die Folge des Triebverzichts; oder: Der (uns von außen) auferlegte Triebverzicht schafft das Gewissen, das dann weiteren Triebverzicht fordert.“ (1930a, S. 488)
Doch was ist die intrapsychische Erstursache dieser seltsamen Eigenart des Gewissens? Freud legt nun den Finger auf den entscheidenden Punkt, nämlich die energetische Quelle des Gewissens, den Aggressionstrieb: „Die Wirkung des Triebverzichts auf das Gewissen geht dann so vor sich, dass jedes Stück Aggression, dessen Befriedigung wir unterlassen, vom Über-Ich übernommen wird und dessen Aggression (gegen das Ich) steigert.“ (1930a, S. 488)
Die Aggression des Gewissens repräsentiert also nicht primär die Grausamkeit der äußeren Autorität, sondern die Triebaggression des Subjekts, die nun gegen es selbst gerichtet wird. Bereitwillig akzeptierte Verzichtsleistungen führen somit zu zweierlei: Sie aggressivieren einerseits die Triebseite der Psyche durch die frustrane Erfahrung, und sie steigern damit auch die bereits in der Entwicklung angelegte Aggressivität des Über-Ichs. Unter der Pandemiesituation und den durch die behördlichen Maßnahmen erzwungenen Verzichtsleistungen fanden wir nun exakt die Bedingungen, von denen Freud in diesem Zusammenhang spricht. Das Coronavirus und die getroffenen Maßnahmen veränderten die innerpsychische Dynamik: Das Ich unterwirft sich den Coronaregeln und stimmt einer Diktatur der gesundheitlichen Vernunft willig – Freud würde vielleicht sagen: liebedienerisch
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– zu: Man gab einander nicht mehr die Hand, Umarmungen im Freundeskreis wurden unterlassen, Feste, Partys, nachbarschaftliche Besuche und Konzerte wurden abgesagt, Großeltern besuchten ihre Enkel nicht mehr, die Altersheime verhängten Besuchsverbote und verordneten unseren Eltern und Großeltern Isolation und schnitten sie damit vom seelisch überlebenswichtigen Kontakt ab. Wobei es im Rahmen dieser Unterwerfungshaltung durchaus verschiedene Diskurse gab: Während die einen ein zwanghaftes Regime aufzogen, peinlich genau Hände wuschen und sich desinfizierten, die vorgeschriebenen Distanzen zwischen sich und dem Nebenmenschen (Freud, 1950 [1895], S. 426) strikt einhielten und ihre Angehörigen ermutigten und überwachten, dies ebenso zu tun, regredierten andere und wurden völlig hilflos: Was soll ich tun? Was sagt die Regierung? Wann kommen die nächsten Vorschriften? Als wäre es eine Zumutung und Überforderung, in dieser Gefahrenlage noch irgendeine Entscheidung erwachsen und autonom treffen zu müssen. Noch andere wiederum, mehr mit den rebellischen Wünschen identifiziert, opponierten gegen die auferlegten Verzichtsleistungen und Zwänge und versuchten sie zu umgehen. Das ängstliche Ich nimmt die neuen Regeln und Einschränkungen bereitwillig auf sich, will sich mit den Verzichtsleistungen arrangieren, ja – korrumpierbar, wie es ist – ihnen sogar Gutes abgewinnen: Endlich habe ich einmal Zeit für mich, Schluss mit der Alltagshektik, wie schön sind doch einsame Waldspaziergänge und beschauliche Lektüren vor dem Kaminfeuer im Eigenheim! Gesamthaft gesehen ließ sich die von Freud beschriebene Stärkung des Über-Ichs an der Zunahme von Lethargie und depressiver Symptomatik bei verschiedenen Individuen – besonders den am meisten durch die Freiheitsbeschränkung betroffenen jungen Menschen – beobachten. Wenn sich das Ich unbewusst dem Über-Ich andient, verstärkt es dessen Macht, auch dessen aggressiven Einfluss. Von der Angst terrorisiert, kastriert und vernichtet zu werden und sich „von allen schützenden Mächten verlassen zu sehen und zu sterben“ (Freud, ebd.), identifiziert es sich mit dem Aggressor und unterdrückt die rebellischen Es-Impulse. Es wird schleichend melancholisch, wenn es die lebendigen Regungen nicht mehr spürt. Reaktivierung unbewusster ödipaler Fantasien Tomas Pueyo Brochard ist ein 38-jähriger Schriftsteller, App-Entwickler ohne medizinischen Background, der sich mit der Coronapandemie intensiv befasst hat und im Online-Journal Medium am 19. März 2020 einen Beitrag mit dem Titel Coronavirus: The Hammer and the Dance publizierte, der zigmillionenfach gelesen und geteilt wurde (Pueyo 2020). Seine These: Die effektivste Bekämpfung des Virus besteht in der Strategie, die Ausbreitung des Virus zunächst mit harten Maßnahmen zu unterdrücken (The Hammer) und in einer anschließenden Phase diese Maßnahmen zu lockern und aufzuheben und die Ausbreitung des Virus auf tiefem Niveau genau im Auge zu haben und zu stabilisieren (The Dance).
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Im Falle eines erneuten Aufflammens müsse wieder zum Hammer und zu harten LockdownMaßnahmen gegriffen werden, denen wiederum eine Phase des Dance folgen würde. Dieser Hammer-and-Dance-Zyklus könne uns womöglich über einen längeren Zeitraum begleiten. Abgesehen von der praktischen Vernünftigkeit dieser Strategie zeigte sich darin m. E. auch ein Aspekt der unbewussten Dynamik, die durch das Coronavirus reaktiviert wurde: Die tödliche Gefahr des Virus wurde als Hammer erlebt, der jederzeit auf einen niedersausen und einen vernichten kann. Auch die dagegen ergriffenen Maßnahmen haben Kriegscharakter, die Epidemie soll niedergehämmert werden. Die Phase des Tanzes beschreibt dann ein bestimmtes Arrangement mit der Gefahr: Die Maßnahmen werden gelockert, man flirtet wieder mit dem Risiko, angesteckt zu werden, man nähert sich dem gefährlichen Virus wieder an, unter Einhaltung von definierten Sicherheitsmaßnahmen, um das Vernichtungsrisiko in Schach zu halten. Hat man sich aber im Verlaufe des Tanzes zu sehr angenähert und nehmen die Infektionszahlen wieder drastisch zu, ist man also vom tödlichen Hammer wieder bedroht, wird die Krieg-gegen-den-Virus-Maschinerie erneut angeworfen und das Virus erneut niedergehämmert. Der Flirt und Tanz mit dem Virus und die Angst vor dem Hammer bzw. die Identifikation mit selbigem Hammer bei der Bekämpfung des Virus zeigen, dass die unklare Bedrohungslage durch das Coronavirus in uns – individuell wie gesellschaftlich – auch eine innere unbewusste erotisierte aggressive Dynamik aktiviert, die wir aus dem ödipalen Geschehen kennen: die Trieb-Abwehr-Dynamik im Zusammenhang mit einem spezifischen passiv-aggressiven Triebwunsch, den Judith Le Soldat Apollwunsch oder Hammerschlagwunsch nannte (Le Soldat, 2015, S. 157 ff.). Dieser Wunsch entsteht laut ihr am Ende der ödipalen Entwicklung und stellt eine Verschmelzung der passiv-aggressiven Wünsche und des Strafbedürfnisses, man könnte auch sagen: eine Erotisierung der Kastrationsangst, dar. Er äußert sich in einem ausweglosen inneren Dilemma: Einerseits besteht im Subjekt die Wunschidee nach einem ultimativen passiv-aggressiven Orgasmus, d. h. eine schnelle Befriedigung in der Art einer maximalen analen Vergewaltigung zu erleiden und voll dranzukommen, andererseits ist dieser Wunsch unerfüllbar und nur schon der Versuch, ihn sinnlich zu realisieren, würde die Schmerzgrenzen und die Fähigkeiten des Körpers, die Erfüllung zu erleben, übersteigen, was deshalb aufgrund des Selbsterhaltungstriebs zu größter Panik und Vernichtungsangst führt. Eine Möglichkeit, die die meisten Menschen wählen, um mit diesem Apoll-Dilemma umzugehen, ist der sogenannte Apoll-Loop: Man nähert sich, getrieben vom Drang nach Befriedigung des Hammerschlagwunsches, der imaginären Apoll-Figur an, flirtet und tanzt mit dem Risiko, spielt mit dem Feuer, und ergreift im selben Moment die Flucht, da die Vernichtungsangst einen übermannt, und bringt sich in Sicherheit, nur um nach einer gewissen Zeit der Beruhigung den Tanz erneut anzufangen. Der klinischen Beispiele für Manifestationen dieses passiv-aggressiven Apoll-Wunsches und des Umgangs mit dem Apoll-Dilemma sind viele: Denken wir an Extremrisikosportarten, Glücksspiel und andere selbstgefährdende Praktiken oder die Dynamik in gewissen aggressivierten Liebesbeziehungen, in denen der Tanz von Verführung, Gefahr und Flucht immer wieder von Neuem aufgeführt wird.
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Der möglicherweise von uns im Umgang mit dem Virus abverlangte Tanz mit der Ansteckungs- und Todesgefahr erfordert von jedem von uns eine gewisse Portion Mut. Der Apoll-Wunsch kann hierbei als energetische Quelle für diesen unabdingbaren Mut genutzt werden, stellt aber eine immerwährende triebhafte Gefahr dar, zu leichtsinnig zu werden, die Risiken zu unterschätzen und vom unbewussten Drang nach dem Erleiden des ultimativen passiven Schlags fortgerissen zu werden. Und jetzt? Folgerungen für das Individuum und die Gesellschaft – Entwicklungschancen oder Regressionsgefahr? Was können wir derzeit an Veränderungen in der individuellen psychischen Dynamik und im Funktionieren von Gruppen und Organisationen beobachten? Welche Auswirkungen haben die Coronaepidemie und die sich nahtlos anschließende ebenfalls angsterzeugende politische Dynamik während des andauernden Ukraine-Kriegs auf die psychische Dynamik und das Befinden von Jugendlichen und Erwachsenen? Wie verändern sich Organisationen, welche Folgen hat die aktuelle never ending crisis auf die Arbeitswelt? Ich versuche, aus den obigen Überlegungen einige Folgerungen für diese Bereiche zu ziehen. 1. Akute Verschlechterung der Befindlichkeit von Jugendlichen und jungen Erwachsenen Die psychotherapeutischen Praktiker machten in der Corona-Zeit die Erfahrung, dass die Nachfrage nach psychotherapeutischer Unterstützung drastisch anstieg. Eine besondere Zunahme war bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen festzustellen. Noch heute sind die Auswirkungen spürbar. In den Medien waren in letzter Zeit verschiedene Meldungen über das unzureichende jugendpsychiatrische und -psychotherapeutische Angebot zu lesen. Die jungen Menschen litten besonders unter den durch die Pandemie-Maßnahmen erzwungenen Verzichtsleistungen: Kontaktverbot, geschlossene Clubs, Distanzpflicht im öffentlichen Raum. Wie oben erwähnt, lösten diese Maßnahmen bei einer Minderheit rebellische Impulse und Verhaltensweisen, bei der Mehrheit aber eine Verstärkung des aggressiven inneren Über-Ich-Drucks aus. Sie wurden depressiv, lethargisch, konnten sich zu nichts mehr aufraffen, fanden auch keine Freude mehr an den durchaus noch möglichen Vergnügungen. 2. Dramatisch gestiegener psychotherapeutischer Versorgungsbedarf Der psychotherapeutische Versorgungsbedarf stieg massiv. Die meisten Psychotherapeuten verzeichnen lange Wartelisten. Hinzu kam die immer noch unbefriedigende Lösung der psychologischen Psychotherapie in der Schweiz: Diese wurde bis Ende 2022 nur bezahlt, wenn ein Arzt die Behandlung an einen Psychologen delegierte und diesen in seiner Praxis anstellte. Selbstständig arbeitende Psychotherapeuten wurden von der Grundversicherung nicht bezahlt. Dieses Modell wurde per 01.01.2023
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geändert, seither können auch psychologische Psychotherapeuten über die Grundversicherung abrechnen, wenn die Behandlung von einem Arzt angeordnet wird. Dieses neue Modell drängte jedoch über 1500 Psychotherapeuten/Psychotherapeutinnen, die den neuen Akkreditierungsanforderungen nicht genügten, aus der Abrechnung über die Grundversicherung und verschärfte das psychotherapeutische Unterangebot. Die Folgen: Nicht nur die erwähnten jungen Erwachsenen, auch die unter der Homeoffice-Isolation leidende arbeitende Bevölkerung geriet vermehrt in unbehandelte psychische Krisen. Ob dieser psychotherapeutische Versorgungsnotstand wieder zurückgeht oder die Krise aufgrund der neuen Belastungen (Kriegsängste, Zustrom an Flüchtlingen) eher zu einer weiteren Zunahme des Bedarfs führt, lässt sich noch nicht endgültig abschätzen, die Zeichen deuten aber eher auf Letzteres hin. 3. Ein- und Umbrüche in bestimmten Wirtschaftsbereichen und Branchen Neben wenigen „Corona-Profiteuren“ (Pharma, Binnentourismus, Streaminganbieter usw.) litten verschiedene Wirtschaftszweige unter dramatischen Umsatzeinbrüchen. Vor allem das Gastgewerbe, die Kulturbranche und der Tourismus verzeichneten große Umbrüche: Zahlreiche Betriebe mussten schließen und sind nicht mehr geöffnet worden, Kulturveranstalter beklagen, dass sich der eingebrochene Besucherstrom auch nach dem Abklingen der Pandemie nicht wieder erholt habe. Die Menschen scheinen sich während der drei Jahre Pandemie innerlich umgestellt zu haben, häuslicher geworden zu sein. Man geht seltener ins Kino oder Theater, genießt das Heimkino und private Einladungen. Ob das ein vorübergehender Trend oder eine bleibende kulturelle Veränderung ist, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen. 4. Veränderungen in der Arbeitswelt: Homeoffice, Konflikte um Kontrolle und Selbstverantwortung Auch die Arbeitswelt, vor allem der Bereich, in dem in Büros gearbeitet wird, hat sich unter Corona massiv verändert. Homeoffice wurde von der verordneten Pflicht zu einer echten Alternative der normalen Arbeitswelt. In vielen Firmen ist es zu einem festen Bestandteil der Arbeitskultur geworden und wird flexibel eingesetzt. Die Meeting-Kultur erfuhr ebenfalls einen Wandel: Unter Corona waren Online-Meetings die verordnete Norm, jetzt haben Firmen und Mitarbeiter erkannt, dass physische Präsenz für einen großen Teil der Meetings nicht zwingend ist, vor allem dann nicht, wenn sie mit großer Reisetätigkeit verbunden ist. Die beruflich bedingte Reisetätigkeit scheint einen Wandel zu erleben, auch aus finanziellen und klimabedingten Erwägungen. Hingegen scheint die Reiselust wieder zurückzukehren. Das Fernweh scheint ein fester Bestandteil der menschlichen condition humaine zu sein. 5. Veränderung der politischen Kultur Von Beginn der Pandemie an war eine Spaltung der Bevölkerung in zwei Lager zu beobachten: Auf der einen Seite die „Vernünftigen“ , welche die einschränkenden behördlichen Maßnahmen mehr oder weniger willig oder widerwillig ertrugen und befolgten, auf der anderen eine lautstarke Minderheit – man schätzt Umfragen zufolge etwa fünfzehn bis zwanzig Prozent der Bevölkerung –, die gegen die Maßnahmen opponierte,
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bis hin zu einer radikalen Minderheit, die demonstrierend und auch gewalttätig gegen den Staat und seine Instanzen agierte. Es entlud sich mehrfach ein großer Hass auf die Institutionen und ihre Vertreter. Das politische Klima der Diskussion, das aufgrund des anonymen Ventils der sozialen Medien ohnehin mit einer zunehmenden Tendenz zur Verrohung, Vereinfachung und Gehässigkeit behaftet ist, verschärfte sich unter Corona. Es bildeten sich zwei unversöhnliche Lager, die sich gegenseitig beschuldigten und verunglimpften: die Maßnahmenbefürworter und -gegner. Die gleiche Tendenz lässt sich jetzt in der Ukraine-Frage feststellen. Es scheint keinen Raum für Diskussion und Differenzierung mehr zu geben. Die Kriegslogik beherrscht den Diskurs: Wer nicht für die gegen Russland ergriffenen Maßnahmen ist, wird als Feind und Putin-Freund verunglimpft. Auf der anderen Seite werden die Befürworter der militärischen Unterstützung der Ukraine pauschal als Kriegsgurgeln abgetan. Der Politik ist diese gefährliche Tendenz immanent: Es muss schließlich gehandelt werden, man hat keine Zeit für lange Reflexionen. Dennoch halte ich die durch die permanente Krisenlage zutage gebrachten Spaltungstendenzen in der Gesellschaft für ein gefährliches regressives Phänomen. Unreflektierte Angst und Entfesselung von Aggressionen sind ein Gespann, das zum ersten Mal seit der Kubakrise die Gefahr eines atomaren Schlagabtausches wieder in den Bereich des unmittelbar Möglichen rückt. Fazit: Angsthasen, Rebellen oder Pioniere – wohin entwickeln wir uns? Versuchen wir auf schwankendem Boden ein vorläufiges Fazit zu ziehen: Die drastisch gesteigerten Bedrohungen führen zu einer Veränderung der inneren psychischen Situation: 1. Die Symbolisierungs- und Denkfähigkeit wird erschüttert und bedroht. 2. Das Angstniveau und das Risiko der Überflutung der Psyche steigen. 3. Die Aggressivität im psychischen System und damit auch der Gewissensdruck nehmen zu. 4. Gefährliche regressive psychische Lösungen gewinnen die Oberhand: einerseits die depressive und ängstlich gehemmte Tendenz, andererseits die gefährliche Lust am Spiel mit dem Feuer. 5. Die psychisch reife und langfristig gesunde Lösung im Umgang mit Bedrohungen und neuen Situationen – individuell wie gesellschaftlich – verliert an Boden: Es wird zu wenig gedacht und reflektiert (stattdessen dominiert blinder Aktionismus), die kreative Fantasiefähigkeit zur Erarbeitung neuer Wege in unbekanntem Territorium scheint lahmgelegt (an ihrer Stelle wird auf verhängnisvolle alte Lösungen – Kalter Krieg, das Recht des Stärkeren und sture Machtpolitik – zurückgegriffen, anstatt auf Empathie, Zusammenarbeit und Frieden zu setzen). 6. Wie immer ist erst am Ende entschieden, wohin wir uns entwickeln, individuell wie als ganze Menschheit: Werden wir zu Angsthasen und angepassten Schafen, die sich durch die Herrschenden in den Abgrund treiben lassen? Werden wir zu gewalttätigen Rebellen,
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die unsere Umgebung und die Welt ins Chaos stürzen? Oder entwickeln wir uns zu mutigen Pionieren, die ihre Angsttoleranz stärken, auf sinnlose Aggression verzichten und gemeinsam mit anderen Verständigung und Kooperation suchen?
Literatur Bion, W. R. (1965). Transformations. William Heinemann. Freud, S. (1950 [1895]). Entwurf einer Psychologie (S. 387–477). G.W. Nachtragsband. Freud, S. (1923). Das Ich und das Es. GW XIII, 237–289. Freud, S. (1930). Das Unbehagen in der Kultur. GW XIV, 419–506. Green, A. (1993). Le Travail du Négatif . Minuit. Kant I. (1998 [1781]). Kritik der reinen Vernunft. Meiner. Kläui C. (2017). Tod – Hass – Sprache. Psychoanalytisch. Turia + Kant, Wien und Berlin Lacan J. (1975). Séminaire „R.S.I.“(Livre XIII). Ornicar. Le Soldat J. (2015). Grund zur Homosexualität. LSW 1. frommann-holzboog. Pueyo T. B. (2020). Coronavirus: The hammer and the dance. https://tomaspueyo.medium.com/cor onavirus-the-hammer-and-the-dance-be9337092b56. Zugegriffen: 28. Dez. 2020
Markus Fäh, PD Dr. phil. Psychoanalytiker, Coach, Supervisor, Organisationsberater in Zürich. Privatdozent an den Sigmund-Freud-Privatuniversitäten Wien und Berlin, Ausbildner und Lehranalytiker an verschiedenen psychotherapeutischen Ausbildungsinstitutionen in Europa. Autor von Sachbüchern und wissenschaftlichen Werken und Artikeln. [email protected] I www.markusfaeh.com
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Organisation und Macht. Soziologische Perspektiven Thomas Matys
Zusammenfassung
Der Beitrag behandelt das Phänomen der organisationalen Macht. Unterstellt, dass Organisation ein historisches Konstrukt zur Allokation von Ressourcen sowie zur systematischen Verfestigung sozialer und individueller Machtbeziehungen ist und dass eine grundsätzliche „Herrschaft durch Organisation“ besteht, werden zunächst klassische organisationale Machtkonzepte vorgestellt. Diese gehen im Grunde davon aus, dass sich Herrschende und Beherrschte in jeder Organisation kategorial gegenüberstehen. Sodann werden Organisationstheorien angeführt, die einen Wandel hin zu einem relationalen und prozesshaften Machtbegriff anzeigen. Gegen Ende wird auf die Verengung organisationaler Machtbeziehungen auf „Erwerbsarbeit“ eingegangen und bspw. Care- und Plattformarbeit als ebenso machtkonstitutiv begriffen. Mit bspw. Künstlicher Intelligenz finden auch neueste machtgenerierende Entitäten Erwähnung. Organisation als Modus scheint alternativlos geworden zu sein. Die Abschaffung dieses Modus ist aber wohl alles andere als einfach.
4.1
Annäherungen an das Problem – die Perspektive der Organisationssoziologie
Auf organisationale Machtbeziehungen zu schauen, ist interdisziplinär eigentlich unmöglich. Jede Disziplin für sich hat ihre eigene Perspektive, mithin ihr eigenes Interesse. Ohne Frage ist da zunächst die Betriebswirtschaftslehre. Für sie ist die Frage der Effizienz sämtlichen organisational sich vollziehenden Handelns zentral. Das heißt, gemünzt T. Matys (B) FernUniversität in Hagen, Hagen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 O. Geramanis et al. (Hrsg.), Organisationale Machtbeziehungen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42092-5_4
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auf den Aspekt von Macht in Organisationen, welche ‚ineffizienten‘ Prozesse in Arbeitsplanung und -vollzug sich identifizieren lassen und wie man ihnen begegnen kann. Dieses hehre Ziel soll hier nicht abqualifiziert werden, es soll allerdings an dieser Stelle die Perspektive der Soziologie danebengestellt werden. Für die Soziologie als Wissenschaft trifft wohl noch mehr als für andere zu, dass von einer einheitlichen disziplinären Perspektive keine Rede sein kann. Wenn wir allgemein unterstellen, dass Soziologie nach Interaktionen – sprich: Handlungen – fragt, nach ihren Voraussetzungen und Konsequenzen, nach ihren Bedeutungen für alle an diesen Handlungen Beteiligten, nach den Folgewirkungen, die diese Handlungen und ihre Interpretationen mit sich bringen, sowie – nicht Randthema – nach gesellschaftlichen Leitbildern, denen jenes Handeln unzweifelhaft unterliegt, dann kann man durchaus feststellen, dass es auch beim Phänomen Organisation maximale innerdisziplinäre Differenzen gibt. Auf einem Spektrum lassen sich zwei Pole identifizieren: Da ist auf der einen Seite die einer Quasianerkennung einer organisationalen Zweck-Mittel-Unterstellung. Das bedeutet, dass hier die Annahme als normal vorausgesetzt wird, jegliches organisationale Handeln folge einem vorgängig definierten Ziel, sämtliche Organisationen seien im Prinzip – quasi dem Modell einer GmbH gleich – (gemeinsame) Zweckverfolger und Ressourcenpooler (aufgrund Haftungsbeschränkung) (vgl. u. a. Miebach, 2012). Auf der anderen Seite gilt die Unterstellung des glatten Gegenteils: Organisationen sind ein historisches Produkt zur Allokation und praktischen Verfestigung sozialer Machtbeziehungen. Individuen unterliegen systematisch dem „Regierungsdispositiv“ (Bruch & Türk, 2007) Organisation, gleichsam einer „Herrschaft durch Organisation“ (Türk, 1995), die im Prinzip alternative Sozialitätsmodelle, wie etwa kooperative Eigenarbeit oder Subsistenzökonomie, gesamtgesellschaftlich verunmöglicht. Dieser Beitrag möchte den Ausschlag zur letzteren Perspektive nicht verhehlen, denn es handelt sich dabei m. E. um eine dezidiert soziologische: Es werden Selbstverständlichkeiten untersucht. Dies bedeutet zu fragen, wie sich eigentlich bestimmte gesellschaftliche Verfestigungsprozesse, wie bspw. der, der die Wirkmächtigkeit und Dominanz des Phänomens Organisation beschreibt, vollzogen. Mehr noch: Wie konnte Organisation zu einem alles durchziehenden Modus werden, sodass man in bestimmten Bereichen gar keine Idee hat, wie denn dieses oder jenes eigentlich ohne Organisation zu denken wäre? Für sich genommen wäre derart zu denken sicher spannend und wohl auch notwendig. Allerdings muss doch im Grunde jede und jeder zugeben, dass das eigentlich unmöglich ist. Man denke nur an die für jeden Arbeitnehmenden notwendige Regelung einer Krankenkassenmitgliedschaft: Gleich, ob diese ‚privat‘ oder ‚gesetzlich‘ organisiert ist, ohne (organisationale) Krankenkassenregelung geht es offenbar nicht – oder wie sollte es eigentlich gehen, sich nichtorganisational krankenzuversichern, etwa ganz ‚privat‘? Dies dürfte ja im Prinzip gar nicht möglich sein, zumal natürlich als Erstes das Solidaritäts- bzw. Poolingkonstrukt, dass also die Beiträge der vielen der/dem Einzelnen zugutekommen, angeführt wird. M. a. W.: Jede und jeder ist also dem Phänomen Organisation ausgesetzt – nicht selten eben implizit, d. h. die Kategorie Organisation
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läuft stets mit, unterliegt vielen Aspekten, ist im Grunde so selbstverständlich, dass niemand an ihr Kritik übt. Das hier zu thematisierende Phänomen der Macht gehört auch zu jenen Selbstverständlichkeiten – zahlreiche in Organisationen Arbeitende sind stillschweigend mit einem ‚Oben-unten-Arrangement‘ einverstanden, dies begründet sozusagen eine klassische Konstellation. Darum soll es zunächst im Folgenden gehen.
4.2
Organisationale Machtbeziehungen – das klassische Programm
Seit den 1930er-Jahren war der Begriff der human relations als Gesamtheit der menschlichen, spontanen, nicht von der Organisation vorgeschriebenen Sozialbeziehungen einer Unternehmung (vgl. Kieser & Walgenbach, 2003; Kieser, 2001, Pries, 1998) dominant. Aus dieser ur-verhaltenswissenschaftlichen Perspektive gibt es trotz (oder gerade wegen?) dieser Zentralstellung des Informellen reichlich Stoff für machtvolle Konflikte: Jenseits von etablierten, formulierten und sicher auch befolgten Regeln existieren offenbar Einstellungen und Verhaltensweisen bei Mitarbeitern/Mitarbeiterinnen, die im Verborgenen verbleiben und deren Merkmale bzw. Bestimmungsgründe nicht so leicht auszumachen sind. Dennoch müssen sie aber irgendwie von Managern/Managerinnen, also vorgesetzten Entscheidern/Entscheiderinnen, berücksichtigt werden, wollen diese doch den Bestand ihrer Organisation durch Anpassung an eine komplexe Umwelt sichern und dabei Unsicherheitsfaktoren reduzieren, die mit internen Machtkonstellationen zusammenhängen (vgl. Kieser/Walgenbach ebd., S. 40 ff.). Grundsätzlich werden hier zwei Prämissen unterstellt: 1. Mitglieder können nur begrenzt Informationen aufnehmen (was bei ihnen eine „bounded rationality“ (Simon, 1945) erzeugt). 2. Ihre Bereitschaft, sich in Organisationen zu engagieren, ist ebenfalls begrenzt. Aus diesem Grund behauptet bspw. Barnards Anreiz-Beitrags-Theorie (Barnard, 1970), dass Unternehmen ihren Mitgliedern bestimmte Anreize liefern müssten, damit diese dann gewünschte Outputs produzieren bzw. neue Mitglieder in die Organisation eintreten. Folgt man dieser Sichtweise, zeigt sich innerorganisationale Macht immer dann, wenn Mitglieder die zu leistenden bzw. erwarteten Beiträge höher als die (vermeintlich) gewährten Anreize einstufen und daraus zwangsläufig Konflikte entstehen. Auch der mikropolitische bzw. spieltheoretische Ansatz von Crozier und Friedberg (1979) fokussiert eher informelle Strukturen: Machtbeziehungen in Organisationen sind hier zentral, das Handeln von Mitgliedern ist machtvoll und machtdurchsetzt. Der Ansatz deckt eine zweite – eben informelle – Machtstruktur auf, die quer zu offiziellen Organigrammen, hierarchischen Anweisungsstrukturen und Stellenbeschreibungen liegt. Die Autoren verdeutlichen, dass es in Organisationen weder eine(n) rationale(n) EntscheiderIn noch hierarchische Determination gibt. Entscheidend sind vielmehr innerorganisationale Machtquellen (Expertenwissen, Kontrollinstanzen, die Weitergabe wichtiger Informationen sowie die Benutzung organisatorischer Regeln). Macht stellt Freiheit und Zwang
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zugleich dar. Crozier und Friedberg verwenden die Metapher des ‚Spiels‘: „Das Spiel erscheint … als grundlegendes Instrument kollektiven Handelns, das die Menschen erfunden haben, um ihre Zusammenarbeit und die damit unweigerlich verbundenen Machtund Abhängigkeitsverhältnisse zu strukturieren und zu regeln und sich dabei doch ihre Freiheit zu belassen“ (Crozier & Friedberg, 1979, S. 4). Die Autoren gehen davon aus, dass Organisationen keine zweckrationalen, strikt an ökonomischen Effizienzkriterien ausgerichteten Gebilde sind, sondern eher Arenen mikropolitischer Aushandlungsprozesse und Kämpfe. Das Handeln der Akteure muss gemäß diesem Ansatz als Verfolgung von Strategien angesichts bestimmter Spiele, Spielsituationen, Spielregeln und Ressourcen („Trümpfe“) rekonstruiert werden, mithilfe derer die Akteure/Akteurinnen bestimmte o. g. Machtquellen stärker oder schwächer in Anspruch nehmen können. Akteure/Akteurinnen können sich in „Unsicherheitszonen“ (ebd.) bewegen, die Vorgesetzte nicht so einfach überschauen können und Mitarbeitern/Mitarbeiterinnen Möglichkeiten bieten, ihren ChefInnen immer etwas vorauszuhaben. Genau diese Gemengelage ist dann auch Quelle intraorganisationaler Macht. Jenseits aller informellen Kräfte bedeutet die Befassung mit Macht in Organisationen natürlich auch, formale Strukturen zu betrachten – nicht zuletzt solche, die auf Karl Marx und seine Analyse der organisationalen Transformation von Arbeitskraft zurückgehen. Ab den 1970er-Jahren ist diese Perspektive für Gegenwartsgesellschaften (wieder) neu ausbuchstabiert worden: In der sog. Labour Process Debate war es zunächst v. a. Braverman (1985), der mit Blick auf Veränderungen im Verhältnis von Kapital und Arbeit die Rolle neuer Technologien sowie Steuerungs- bzw. Kontrollstrategien des Managements beleuchtete. Technologie und Kontrollstrategie werden dabei nicht als externe, unabhängige Variablen eingeführt, sondern als widersprüchliche und Widerspruch erzeugende Antworten auf Probleme, die die Konfrontation von Kapital und Arbeit mit sich bringt (vgl. Türk, 1995). Dabei geht es auch um die Ursprünge einer kapitalistischen Arbeitskontrolle, die aus Sicht der Unternehmen notwendig wurde, weil die MitarbeiterInnen eben nicht 1:1 das tun, was sie tun sollen. Braverman folgert, dass die wahre („reelle“) Subsumtion der Arbeiter unter den Produktionsprozess erst mit der Einführung der Maschine stattgefunden habe, da es ihnen so zunehmend verunmöglicht worden sei, subjektiven Eigensinn einzubringen; vielmehr bestimmten fremdgesteuerte, unpersönliche Kalküle und Prozeduren den Produktionsprozess, oft einhergehend mit Dynamiken der Dequalifizierung. Dabei müsse jede Organisation indes mit Widerständen und Konflikten rechnen, da sich menschliche Subjektivität nie vollends ausschalten lasse. Deshalb muss der Widerstand der Arbeitskräfte kontrolliert und ihr Potenzial mithilfe spezifischer Kontroll- und Lenkungsstrategien des Managements genutzt werden (vgl. Braverman ebd.). Eine solche Anerkennung von machtgeladenen Arbeitskonflikten, die auf Widerstand der Arbeitskräfte beruhen und nicht durch direkte Kontrolle regulierbar sind, findet sich auch bei Friedman (1987). Edwards (1981) zeigt, dass durch unpersönliche, bürokratische Kontrolle sogar die Loyalität der MitarbeiterInnen gesichert und explizite Konflikte
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damit vermindert werden können. Ein – konfliktärmeres – Mitwirken der ArbeitnehmerInnen bei ihrer eigenen Ausbeutung beschäftigt auch Burawoy (1985). Er diskutiert, wie sich organisatorische Kontrollformen von „despotischen“ (Burawoy, 1985, S. 21 ff.) zu „hegemonialen Fabriksystemen“ (ebd.) gewandelt haben – also einer Ordnung, die über Mechanismen der Erzeugung von Konsens Konformität hervorbringt (vgl. Türk, 1995, S. 82). Ein weiterer Grundlagentheoretiker in Bezug auf organisationale Macht ist Max Weber. Seine Macht- und Herrschaftssoziologie ist in der sozialwissenschaftlichen Theorietradition so einflussreich wie kaum eine zweite (vgl. Lemke, 2007, S. 24). Macht bezeichnet für Weber „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht“ (Weber, 1980 [1922], S. 28). Demgegenüber ist für ihn Herrschaft „die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“ (ebd.). In machttheoretischer Perspektive erscheint Folgendes besonders wichtig: Wenn es bei der Machtdefinition heißt: „… auch gegen Widerstreben …“, so zeigt sich, dass Weber durchaus mit Macht rechnet, die sich ohne Widerstand entfaltet, sich sogar auf Konsens stützt. Mitglieder in Organisationen können also widersprechen, müssen es aber nicht, sie können eben auch einverstanden sein. Im Unterschied zu Macht bezieht sich Herrschaft nicht nur auf die bloße Möglichkeit der Durchsetzung des eigenen Willens. Herrschaft ist vielmehr ein „Sonderfall von Macht“: Sie steht für jene Übermächtigung, die eine bestimmte institutionelle Form angenommen hat und bei den Betroffenen Anerkennung findet (vgl. ebd., S. 541). Geknüpft an das „aktuelle Vorhandensein eines erfolgreich andern Befehlenden“ (ebd., S. 29; Herv. i. Orig.), ist Herrschaft nicht in der Lage, Widerstand zu überwinden – und braucht dies in der Regel auch nicht, kann sie doch mit bestimmten „Motiven der Fügsamkeit“ (ebd., S. 122) rechnen. Ein Minimum an Gehorchenwollen, also: Interesse (äußerem oder innerem) am Gehorchen, so Weber, „gehört zu jedem echten Herrschaftsverhältnis“ (ebd.; Herv. i. Orig.). Weber arbeitet Herrschaft als institutionalisierte Macht heraus und verknüpft das Herrschaftsphänomen direkt mit Organisation. Für Weber spielt Herrschaft bei den „ökonomisch relevantesten sozialen Gebilden der Vergangenheit und der Gegenwart: der Grundherrschaft einerseits, dem kapitalistischen Großbetrieb andererseits, die entscheidende Rolle“ (ebd., S. 541). Herrschaft gilt hier als typische Sozialbeziehung in Organisationen und zugleich als das Grundproblem einer bürokratischen, heute müssen wir wohl sagen: einer jeden Organisation. Weber stellt die Frage, wie es möglich ist, Befehl-/Gehorsamsbeziehungen so zu institutionalisieren, dass Befehle mit hoher Wahrscheinlichkeit Gehorsam finden. Neben der Möglichkeit, sie über Tradition („traditionale Herrschaft“ – ebd., S. 122 ff.) oder Charisma („charismatische Herrschaft“ – ebd.) zu begründen und einsichtig zu machen, beschreibt er Optionen, sie über Rationalität, Legalität oder formale Korrektheit der Satzung zu legitimieren („legale Herrschaft“ – ebd.) (vgl. hierzu auch Matys, 2014). Wenn also Weber klar vor Augen hatte, dass Bürokratie bzw. Organisation die rationalste Form von Herrschaft darstellt, wird auch sein Diktum
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verständlich, dass wir nur deshalb von einer herrschaftsförmigen Gesellschaft sprechen können, weil Organisation als Herrschaftsmittel fungiert (vgl. Weber ebd., S. 128)1 .
4.3
Ein verändertes Machtverständnis in Organisationen
Wie bereits in der Einleitung angedeutet, kommen die meisten neuen Ansätze, Macht in Organisationen zu beschreiben, ohne Bezugnahme auf alte Ansätze offenbar nicht aus. Bspw. beziehen sich Institutionalisten auf machtgenerierende Konflikte, die sich aus den Strukturen in Organisationen ergeben. Bei ihnen liegt jedoch der Fokus auf der Legitimität formaler Strukturen (vgl. Hasse, 2006). Die Umwelt einer Organisation besteht für die Institutionalisten aus Kultursystemen, durch die organisationale Strukturen definiert und legitimiert werden (vgl. Kieser & Walgenbach, 2003, S. 46). Die kulturelle oder institutionelle Umwelt der Organisation umfasst eine Vielzahl von Bereichen, in denen jeweils verschiedene Vorstellungen von Rationalität bzw. „richtiger“ Organisationsgestaltung stehen. Macht in und von Organisationen im Anschluss an ältere Soziologie (Durkheim, Parsons, Berger und Luckmann) neu als gesellschaftlich eingebettet zu denken, konstituiert eine Reihe von Ansätzen, die dann als Neoinstitutionalismus beschrieben werden können (vgl. Türk, 2004, S. 923). Im Kern vereint die Ansätze, dass sie gegenüber dem lange Zeit dominierenden Paradigma der Rationalität von Organisationen eine kritische Position einnehmen, die spezifischen Funktionen von rationalem Handeln aufdecken und den Blick auf nicht rationale Handlungsmuster lenken. Sie bestreiten die These der rationalen Intention und lehnen eine grundsätzliche Effizienz- und „Survivalof-the-fittest“-These als – zusammengenommen – kontrafaktisch ab und entwickeln eine eher kulturalistische Perspektive. Klassischerweise werden in der Soziologie Institutionen als handlungsentlastend angesehen – eine tiefe Skepsis dieser Grundannahme vereint die Neoinstitutionalisten. Da sind zunächst evolutionäre Strukturbildungen in den einzelnen Organisationen. Um sie zu analysieren, wird auf kulturalistische und verhaltenswissenschaftliche Ansätze (vgl. vorn) zurückgegriffen: Routinen, Muster von Kooperations- und Kommunikationsformen, Handlungsstile etc. bilden hier die Institutionen als informelle Organisationsstrukturen, innerhalb derer Macht ausgeübt, verhandelt und internalisiert wird. Häufig wird auch das Verhältnis von Ziel und Handlung bzw. Organisationsmittel, z. B. Verfahren, Regeln oder Strukturen, umgekehrt: Dargelegte Ziele werden als Handlungsprodukte analysiert, im Sinne nachträglicher Rechtfertigung (Legitimation) vollzogener Handlungen, realisierter Strukturen und investierter Mittel. So legitimieren beispielsweise Organisationen ihre getroffenen Entscheidungen nachträglich als rationale Entscheidungen (z. B. vermittels Rechenschaftsberichten), obwohl die Entscheidungen eigentlich etablierten Regeln vergangener organisationsinterner Prozeduren folgten (vgl. 1 Selbstverständlich könnte mit Luhmanns Figur der „Machtketten“ gut an Weber angeschlossen
werden, an dieser Stelle soll allerdings darauf verzichtet werden (vgl. ausführlich Luhmann, 1988; Matys, 2014; auch zu anderen machtrelevanten Aspekten Luhmanns).
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Türk ebd., S. 926). Machtprozesse werden so in vielerlei Hinsichten organisationsseitig desymbolisiert. Daneben kann man seit mindestens den 1970er-Jahren ein gesteigertes Interesse an Fragen der gesellschaftlichen und kulturellen Einbettung von Organisationen beobachten. Das Augenmerk ist seitdem auf Passungsverhältnisse auf der soziokulturellen Ebene standardisierter und allgemein akzeptierter Praktiken und Regeln gerichtet. Meyer und Rowan (1977) gehen davon aus, dass Rationalität als ein in der Gesellschaft akzeptiertes und institutionalisiertes Muster der Handlungsorientierung und Situationsdeutung („Rationalitätsmythos“ – vgl. ebd.) zu betrachten sei. Sie wenden sich gegen voluntaristische Erklärungsmodelle rationalen Handelns (vgl. ebd., S. 303 f.) und gehen stattdessen davon aus, dass Organisationen in hochgradig institutionalisierten Kontexten von Vorstellungen operieren, auf welche Weise bestimmte Güter und Dienstleistungen rational zu produzieren sind (vgl. Hasse & Krücken, 2005). Organisationen sind genötigt, solche Praktiken und Verfahren zu implementieren, die vorgängig als rationale Konzepte definiert wurden. Auf diese Weise steigern sie ihre Legitimität und ihre Überlebenschancen und sichern Machtkonstellationen unabhängig von der unmittelbaren (dies meint hier: kurzfristigen) Effektivität solcher Praktiken und Verfahren. Institutionalisierte Produkte, Dienste, Techniken, Strategien und Programme fungieren als machtvolle Mythen und viele Organisationen übernehmen sie bloß rituell (vgl. Türk, 1997, S. 131). Zur Bewältigung der Anforderungen aus der Umwelt, der gesellschaftlichen Erwartungen, entwickeln Organisationen eine kontextuelle Doppelstruktur, die zum einen einen materiellen („relationalen“ – Meyer & Rowan ebd., S. 347; Übers. T. M.) Kontext des faktischen Handelns beschreibt, die sog. ‚action‘-Ebene, und zum anderen einen symbolischen („institutionellen“ – ebd., S. 353; Übers. T. M.) Kontext der Darstellung des Handelns, die sog. ‚talk‘-Ebene, markiert (vgl. dazu auch Brunson, 1989). Beide Kontexte beanspruchen unterschiedliche Ziele: materielle Effizienz und symbolische Legitimation. Zur Sicherung des Überlebens muss eine Organisation beiden Ansprüchen genügen, um Legitimität und Ressourcenzugang zu sichern. Nicht unerwähnt darf an dieser Stelle der Ansatz Meyers (2005) bleiben, der Organisation selbst als Institution betrachtet: Organisation(en) – als Modus und im Akteur-Plural – erhält bzw. erhalten Leitbildfunktion und wird bzw. werden als dominant den meisten Sozialprozessen unterlegenes „westliches“ (ebd.) Strukturprinzip, als „Weltkultur“ (ebd.), bestimmt. Damit ist die Form des, so könnte man ihn nennen, „[g]esellschaftstheoretischen Neoinstitutionalismus“ (Türk, 2004, S. 929; Herv. T. M.) thematisiert. Die Ansätze der beiden im Folgenden dargelegten Autoren, Pierre Bourdieu und Michel Foucault, sind seit Ende der 1980er-Jahre vermehrt in den Fokus einer – machtunterlegten –Organisationssoziologie geraten (vgl. Dederichs & Florian, 2004; Florian, 2008; Janning, 2004; Apelt & Wilkesmann, 2015; Burrell, 1988; McKinlay & Starkey, 1998; Türk et al., 2006; Hartz & Rätzer, 2013). Zunächst zu Bourdieu: Seine
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kultur-, macht- und ungleichheitstheoretischen Arbeiten behandeln Fragen der Formierung eines Habitus, also einer überindividuellen Struktur des Denkens und Handelns, welche moderne Subjekte ausprägen (vgl. Bourdieu, 1983, 1985). Im Grunde können Bourdieus Arbeiten als Fundierung für machttheoretische Prozesse in Organisationen verstanden werden. Bourdieu verdeutlicht, dass z. B. die Art und Weise, sich zu verhalten, zu sprechen, zu entscheiden, zu urteilen, Unterschiede zu machen, Geschmäcker auszubilden und sich abzugrenzen von anderen, stets ein Prozess ist, der in Wechselwirkung mit Gesellschaft erfolgt (vgl. Hillebrandt, 2011). Eine individuelle Struktur (= Muster des Denkens und Handelns: „Habitus“ – vgl. Bourdieu ebd.) steht also einer gesellschaftlichen Struktur (= durchaus von Organisationen geschaffene Muster des Denkens und Handelns; sozusagen die äußeren materiellen, kulturellen und sozialen Existenzbedingungen – als Erwartungen an die Individuen gerichtet: „Feld“ – vgl. Bourdieu ebd.) gegenüber. Was Bourdieu nun zum für uns bedeutenden Machttheoretiker werden lässt, ist seine Annahme, dass innerhalb der jeweiligen Felder – eben auch durch in sie inkludierte Organisationen – machtvoll gekämpft wird, und zwar um Positionen und Prestige zum Zwecke der Distinktion. Dies geschieht je nach Ausstattung mit bestimmten Kapitalien – ökonomischer, sozialer, kultureller oder symbolischer Natur. Die „Feld“-Implikationen zeigen sich also als Summe aller Machtbeziehungen bzw. aller Unterschiedsbeziehungen (vgl. Papilloud, 2003, S. 35) in einer jeden Organisation. Das, was wir mit Bourdieu als konstitutiv für neue Machtverhältnisse in Organisationen erkennen können, sind seine fundamentale Abkehr von bisher fix geglaubten Unterscheidungen, also etwa oben/ unten, Subjekt/Objekt, Führung/Ausführung bzw. Anweisung/Befolgung, und seine Hinwendung zu Relationalem, Rekursivem, wofür die Habitus-Feld-Figur steht. Habitus und Feld werden von Bourdieu auch als zwei Existenzweisen des Sozialen bezeichnet: leibgewordene und dinggewordene Geschichte, objektiviert in Sachen, in Gestalt von Institutionen – dafür steht der Begriff Feld –, inkorporiert, leibhaftig geworden in Gestalt eines Systems dauerhafter, übertragbarer Dispositionen – dafür steht der Begriff Habitus (vgl. Bourdieu & Wacquant, 1996; Hillebrandt ebd. und Hillebrandt, 2014). Im Grunde spezifizieren die seitens der Mitarbeitenden eingebrachten Habitus (im Plural) die Marxsche Transformationsproblematik in einer jeden Organisation. Auch Foucault hat machttheoretische ‚Qualitäten‘: Ähnlich wie bei Bourdieu können wir von ihm lernen, dass wir mit einer Vorstellung brechen müssen, Probleme und Konflikte in Organisationen entstünden einzig durch ein ‚Von-oben-nach-untenDurchregieren‘ bzw. durch den sich ergebenden Widerstand der Regierten. Seine Machtund Diskurs-Theorie zeichnet sich durch die konstruktivistische Sichtweise aus, dass die Dinge immer einen Beobachter benötigen, der über seine Perspektiven, seine Blicke, eine Ordnung herstellt. Foucault fasst Macht nicht als Eigentum, sondern als Strategie auf. Ihre Herrschaftswirkungen werden nicht einer Aneignung zugeschrieben, sondern Dispositionen, Manövern, Techniken und Funktionsweisen (vgl. Foucault, 1977 [1975]). Mit Foucault – im Prinzip in Bezug auf jegliche Arbeit – zu fragen heißt: „Wie werden Subjekte in postfordistischen Arbeitsverhältnissen genutzt, und welche Subjektivität wird
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durch Praktiken organisationaler Subjektivierung produziert?“ (Moldaschl, 2002, S. 135). Zwecks Beantwortung dieser Frage ist es wichtig, Foucaults Macht-Verständnis weiter zu explizieren: Den Machtbegriff gibt es für Foucault nicht. Foucault übersetzt Macht in die physikalische Formel eines Kräfteverhältnisses (vgl. Opitz, 2004, S. 27). Das heißt, Macht ist kein Substanz- sondern ein Prozessbegriff. Bezogen auf moderne – seien es mehr oder weniger erwerbsarbeitliche – Arbeitsorganisationen kann präzisiert werden: „Was es [mit Foucault] zu erklären gilt, ist die Frage nach der Präsenz, der Existenzformen und Wirkungsweisen von Macht in mehr oder weniger ,zwanglosen Verhältnissen‘, in denen formelle Über- und Unterordnungsrelationen zwischen den Arbeiten keine konstitutive Rolle spielen“ (Moldaschl ebd., S. 136; Herv. i. Orig.). Macht ist also für Foucault immanent und durchzieht alle Lebensbereiche; zudem ist sie nicht statisch, daher macht es auch keinen Sinn, Machtblöcke o. Ä. zu identifizieren. Macht ist relational, daher sollte besser von Machtverhältnissen gesprochen werden (vgl. ausführlich Lemke, 1997, 2007, 2017). Und Macht entfaltet sich innerhalb eines Diskurses, der für sich genommen eine Praxis kennzeichnet, die in einem andauernden Prozess wahre von falschen Aussagen unterscheidet (vgl. Kleiner, 2001, S. 92). Foucault nimmt nun nicht einfach irgendwelche objektiven Bedingungen, z. B. Marx’sche Produktionsverhältnisse, zum Ausgangspunkt und leitet etwa aus ihnen kausale Machtverhältnisse ab. Vielmehr schaut Foucault auf die Praktiken, die Techniken der Subjektivierung innerhalb der Arbeit (vgl. Moldaschl ebd., S. 137), womit hier die Gesamtheit der Prozesse, Formen und Techniken der Nutzbarmachung der Subjektivität der Arbeitenden für Zwecke der Arbeit bezeichnet sein soll. Foucault lehrt uns, dass wir uns von gängigen Vorstellungen, z. B. Macht als Repression, als Herrschaft durch Gewalt oder Ideologie, mehr und mehr verabschieden müssen. Macht ist für Foucault die Bezeichnung für eine komplexe strategische Situation. Ein grundlegendes (Macht-)Verhältnis ist für jeden Arbeitenden ein solches, was – mindestens seit dem 18. Jhd. – mit Disziplin in Zusammenhang steht. Die sich durchsetzende organisationale Machtform ist die Disziplinarmacht. Das Neue an ihr ist: Macht ist in jedem Einzelnen individualisiert.
4.4
„Neue“ Arbeit in Organisationen – neue Machtkonstellationen?
Verbinden wir nun diese zuvor ausgeführte Perspektive mit aktuellen Beschreibungen der Arbeitsgesellschaft als „Arbeit 4.0“ bzw. „Industrie 4.0“ (vgl. Ruinier & Wilkesmann, 2016; Pfeiffer, 2015), wird deutlich, warum moderne Arbeitssoziologie im Grunde von einem „doppelten Subjektivierungsprozess“ (Kleemann et al., 2002) auszugehen hat: Übliche Kontroll- und Entscheidungsmodi können wohl nicht mehr greifen, wenn beispielsweise die/der FacharbeiterIn selbst den selbstbewussten, fast stolzen Anspruch hat, den komplexen Produktionsprozess zu beherrschen. Baethge (1991) ist der Auffassung,
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dass es in hoch entwickelten Arbeitsgesellschaften zu einer zunehmenden normativen Subjektivierung des unmittelbaren Arbeitsprozesses komme: Gemeint ist damit, dass nicht etwa eine gezielte Anpassung der Organisation von Erwerbsarbeit an die subjektiven Bedürfnisse der Beschäftigten seitens des betrieblichen Managements stattfindet. Vielmehr bringen die Beschäftigten selbst vermehrt ihre Ansprüche in die Arbeit ein (vgl. Baethge ebd., S. 261). Normativ heißt hier die Geltendmachung persönlicher Ansprüche, Vorstellungen und Forderungen in der Arbeit – im möglichen konfliktären Gegensatz zu solchen, die sich aus dem funktionalen Interesse des Arbeitsprozesses speisen. Als Ursachen einer vermehrten Subjektivierung der Arbeit sieht der Autor besonders die Zunahme von Dienstleistungsarbeit (vgl. auch Ruiner & Wilkesmann 2016, S. 63 ff.), neue Rationalisierungskonzepte sowie die Tatsache, dass vermehrt Frauen eine Erwerbsbeteiligung einfordern (vgl. Baethge ebd., S. 265; Kleemann, 2012). Ob dieser Umstand sogar zu einem neuen Leittypus der Ware Arbeitskraft führt, stellte zumindest theoretisch Ende der 1990er-Jahre einen enormen Anziehungspunkt dar: Die These vom Arbeitskraftunternehmer (AKU) als neuem Leittypus von Erwerbsarbeit von Voß und Pongratz (1998) war aufgekommen. Die These besagte: Erwerbstätige müssen zunehmend unternehmerisch mit ihrer eigenen Arbeitskraft umgehen. Sie entsprechen damit organisationalen Forderungen nach mehr Eigenverantwortung und Selbstorganisation in der täglichen Arbeit (vgl. ebd.). Daran wird auch die weiter vorn vertretene Foucault-Pointe, Macht nicht länger als Substanz- sondern als Relationsbegriff zu begreifen, deutlich: Die arbeitenden AKU tragen durch ihre Selbstkontrolle zur Aufrechterhaltung einer organisationalen Machtkonfiguration bei. In den letzten Jahren hat nichts so sehr den Wandel von Arbeit und der durch Arbeit produzierten Machtfigurationen gezeigt wie die Performanz von Arbeit während der Coronapandemie. Sie hat an zahlreichen Stellen die Trends dieses Wandels aufscheinen lassen: Für alle Beteiligten spürbar hat sich hybrides Arbeiten verfestigt, was nichts anderes bedeutet, als dass räumlich sowohl bspw. in „physischen“ Gebäuden einer Organisation – sei dies nun ein Betrieb, eine Verwaltung oder eine Hochschule – als auch in privaten Räumen – i. d. R. „zu Hause“ – gearbeitet wird. Dies bedeutet nicht nur völlig neue Anforderungen an die Erledigung von Arbeitsvollzügen, sondern auch neue Machtstrukturen, und zwar sowohl aufseiten der Beschäftigten als auch aufseiten der Führung. Stichworte sind hier: Anwesenheit, Kontrolle und Kommunikation. Welche subjektiven Eigensinne ergeben sich bspw. aus dem Umstand, dass Mitarbeitende beim Arbeiten zuhause Zeiterfassungen zu umgehen versuchen, also bspw. EDV-Programme kursieren, mit denen physische Anwesenheit vorgetäuscht werden kann? Ein damit zusammenhängender Aspekt: Wenn moderne Organisationssoziologie ohnehin davon ausgehen muss, dass nicht irgendwelche Gebäude eine Organisation bilden, sondern die Subjekte sie täglich vermittels ihrer Handlungs- und Denkstrukturen in Bezug auf die entsprechende Organisation (re-)produzieren, werden neue Fragen der Organisationsidentität – um nicht zu sagen: der Corporate Identity – zentral. Doch das hier angeführte hybride Arbeiten wäre ja ohne einen Megatrend innerhalb des Wandels organisationaler Arbeit gar
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nicht möglich gewesen: die Digitalisierung. Zu ihr gehören bspw. „cloudworking“, Verfahren des digitalen Selbstlernens („Machine Learning“ und „Künstliche Intelligenz“), (für machtvoll befundene) algorithmische Bewertungs- und Streamingdienste („Facebook“ oder „Spotify“), aber auch cyberpsychische Vernetzung (‚Internet 4.0‘) oder Speicherung von und Umgang mit Massendaten („Big Data“) (vgl. Vormbusch, 2019: S. 177). All diese Aspekte kennzeichnen eine sämtliche Lebensbereiche durchdringende „Datafizierung“ (Wiegerling et al., 2020). Auch Verfahren der Mustererkennung (‚Data Mining‘) gehören dazu. Aktuell bestimmen Fragen, dass und wie Algorithmen in organisationale Entscheidungsstrukturen eingebunden werden, unter Umständen menschliche Entscheidungen sogar ersetzen sollen (vgl. Büchner & Dosdall, 2021) bzw. zu schnell bei allen beteiligten (menschlichen) Akteuren „algorithmisches Vertrauen“ (Leistert, 2017) entsteht, die Agenda. Daneben hat während der Coronapandemie gerade die Debatte um die Impfpflicht die Aufmerksamkeit auf die Macht von Organisationen gerichtet – Organisationen, die sensible Daten speichern, kategorisieren, weiterverarbeiten, aggregieren und kommunizieren können. Doch auch – so könnte man sie nennen – die „nicht sensiblen“ Daten waren und sind Ausdruck veränderter organisationaler Macht, man denke nur an Daten über Infektionszahlen, Infektionsgeschehen oder Gesundheitsverordnungen, naturwissenschaftliche und selbstverständlich sozialwissenschaftliche Erkenntnisse inbegriffen. Ohne die Analyse unnötig verkomplizieren zu wollen, aber, um es mit Anthony Giddens zu sagen, es hängt nun einmal „alles mit allem zusammen“: Die pandemischen Verhältnisse haben auch gezeigt, dass aufgrund eines ‚unsicheren‘ Arbeitsmarktes die sog. Plattformarbeit zugenommen hat: Zahlreiche Unternehmen haben sich Arbeit – konkret physisch zu verrichtende oder Wissensarbeit – auf speziell dafür geschaffenen Plattformen ausgesucht und zugekauft, was das Paradigma des Crowdworking verfestigt hat (vgl. Kirchner, 2019). Damit ist erneut vorn genannter Identitätsaspekt berührt: Was bedeutet es eigentlich für zahlreiche Organisationen, wenn zentrale Kerngegenstände, die ihre Identitäten fundamental ausgemacht haben, vermehrt durch Dritte, „Externe“ bzw. sogar anderen Organisationen Angehörende erdacht, bearbeitet und kommuniziert werden? Und welches Gewicht erhalten die plattformbetreibenden Organisationen selbst? Last, but not least soll ein Bereich angeführt werden, der gerade in der Coronapandemie eine besondere Beachtung erfahren hat: der Bereich der sog. Care- bzw. Sorgearbeit (vgl. Amelina & Lutz, 2019). Kaum ein anderes Thema könnte uns geeigneter vor Augen führen, dass es sich lohnen kann, einen analytischen Switch zu vollziehen, und zwar von der Macht der Organisationen zur Macht von Organisation: Mit Letzterem ist die Art und Weise gemeint, etwas in organisationaler Form zu tun, und nicht etwa privat (vgl. Punkt 1). Die im Care-Sektor zu verrichtende Arbeit ist allerdings beides: privat und organisational. Sie wird sowohl von Angehörigen privat als auch von Mitarbeitenden in Organisationskontexten verrichtet. In den letzten Jahren ist durchaus eine Verschiebung festzustellen, dass vermehrt Care-Arbeit durch extra dafür geschaffene Organisationen, etwa sog. Pflegedienste, verrichtet wird. Doch warum hat diese ‚Ver-Organisierung‘ nicht zu einer gesellschaftlichen Aufwertung dieses Arbeitszweiges geführt? Dies hat nach Meinung des
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Verfassers zentral mit (gesellschaftlich verteilter) Macht, und zwar in Bezug sowohl auf die privaten als auch auf die organisational verrichteten Bereiche der Care-Arbeit, zu tun: Denn im Grunde verbleibt Care-Arbeit offensichtlich stets im ‚unproduktiven‘ Bereich kapitalistischer Mehrwertproduktion: „Dort, in der Produktionssphäre, ist die primäre Machtasymmetrie zwischen Kapital und Arbeit angesiedelt, ebenso die darauf aufbauende Machtasymmetrie des bürokratischkapitalistischen Arbeitsmarktes. Dort wird Einkommen geschaffen und (ungleich) verteilt, und dort ist auch die offizielle Hierarchie der gesellschaftlichen Positionen verankert. Die zweite, inoffizielle Hierarchie, die sich vor allem zum Nachteil von Frauen auswirkt, hat ihre Grundlage in der Scheidung von bezahlter Produktions- und unbezahlter Reproduktionsarbeit. Denn in der Geldwirtschaft gilt die doppelte Faustregel: Arbeit, die nicht bezahlt wird, zählt nicht, Arbeit, die nicht zählt, wird nicht bezahlt.“ (Kreckel, 2004: 270 f.)
Ich möchte festhalten: Organisationale Macht bestand nicht nur darin, den gesellschaftlichen ‚Arbeits-‘-Bereich der Care-Arbeit sich eben nicht nur privat vollziehen zu lassen. Es wird zudem deutlich, dass Organisationen stets das aufnehmen und transformieren (müssen), was gesamtgesellschaftlich passiert, eingerichtet ist, verhandelt wird. Offensichtlich verhindert die gesellschaftlich verbreitete (Noch-)Nicht-Anerkennung von Care-Arbeit (bzw. die Ungleichheit bspw. zu ManagerInnen-Arbeit anderer Dienstleistungen) die Aufwertung auch von und durch Organisationen verrichteter Care-Arbeit. Fazit Versucht man ein Fazit zu ziehen, kann man Folgendes festhalten: Ältere Ansätze, die organisationale Macht thematisieren, beziehen sich zunächst vor allem auf die Dominanz industrieller Arbeit. Die Machtblöcke in den Arbeitsorganisationen sind stets in Form einer hierarchischen ‚Oben-unten-Figur‘, etwa Arbeitende vs. Leitung, modelliert. Dies wird auch nicht dadurch aufgehoben, dass zahlreiche Mitarbeitende diese Machtkonstellation stillschweigend anerkennen und reproduzieren. Die Leitenden beziehen ihre Machtvorteile stets aus ihrer Position innerhalb dieser Hierarchien einer offiziellen Struktur. Informelle Strukturen, etwa Routinen oder ‚Spiele‘, bieten Räume für die Gegenwehren der Mitarbeitenden, für Widerstand oder Kontrollentzug – als Formen, auf diese Weisen Macht in Organisationen zu erlangen, die sie offiziell nicht haben und auch nicht bekommen können. Neuere Machtansätze in Organisationen wollen uns helfen zu brechen mit Oben-unten-Vorstellungen in Bezug auf Arbeit in Organisationen. Beziehungsgefüge zwischen Ausführenden und Anweisenden in Organisationen sind relational und rekursiv. Vermehrt wird Rationalität als machtgenerierendes Thema erkannt, besonders die legitimatorische Funktion dieses Konzeptes wird betont. Subjektivierung von Arbeit wird zur Maxime in vielen Organisationen. Damit ist gemeint, dass Arbeitende zunehmend ihre Wünsche, Ziele und Gefühle in die Arbeit einbringen können – wird dies auch organisationsseitig eingefordert, sprechen wir von doppelter Subjektivierung. Aktuellste Forschungen zu organisationaler Macht fügen nun etwas Neues hinzu: Angesichts von Digitalisierung und Datafizierung treten plattform-
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und crowdbasierte Arbeitsformen auf den Plan, die nun auch die Organisationsformen, mithin Möglichkeiten der Machtausübung, erodieren bzw. zumindest verändern. Zunehmend werden gesellschaftliche Bereiche, z. B. Care-Arbeit, organisational verrichtet – wegen fehlender gesellschaftlicher Anerkennung gehören sie allerdings noch nicht zu den vordersten Punkten auf den Agenden zahlreicher Organisationen. Kehrt man also gegen Ende nun zu der in Punkt 1 erwähnten Frage zurück, wie denn Organisation zu einem alles verdrängenden – quasi alternativlos erscheinenden – Modus werden konnte, bleibt zu antworten: Organisation hat sich schrittweise verfestigt. Organisation scheint für zahlreiche Weisen ein gesellschaftliches Mit- und Füreinander herzustellen, das unhinterfragte Mittel geworden zu sein. Dieser Aspekt ist sicher sehr nah an dem Punkt, wie denn das Haben und Sagen in dieser Gesellschaft geregelt sein soll – offensichtlich ist eben erkannt worden, dass gesellschaftlich wirkende Macht mit Organisation besser zu erreichen ist als ohne. Herrschaft durch Organisation scheint verwirklicht. Die Alternative wäre die Abschaffung von Organisation. Dies dürfte allerdings angesichts der Komplexität des Organisationsphänomens kaum möglich sein. Formen von Eigenarbeit, Dekommodifizierung und Subsistenzökonomie weisen allerdings in eine alternative Richtung. Erlauben wir uns doch alle einmal, dies in Bezug auf unsere Krankenversicherung durchzuspielen.
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PD Dr., Thomas Matys Promotion 2011, Habilitation 2022, wiss. Mitarbeiter im Projekt „Datenkulturen im Personalmanagement von KMUs in NRW“ am Lehrgebiet „Soziologische Gegenwartsdiagnosen“ des Instituts für Soziologie der FernUniversität in Hagen (Prof. Dr. Uwe Vormbusch), zuvor wiss. Mitarbeiter ebendort; Lehrbeauftragter an verschiedenen Universitäten. Forschungsschwerpunkte: Organisations-, Arbeits-, Wirtschafts- und Kultursoziologie sowie gesamtgesellschaftliche Analysen. www.thomas-matys.de
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Wenn die Generation Z die Spielregeln neu definiert Erwartungen und Arbeitsmotive der jungen Generation von Berufseinsteigenden angesichts eines von Fachkräftemangel geprägten Umfelds Melanie Germann
Zusammenfassung
Die demografische Entwicklung führt zu einer Verschiebung auf dem Arbeitsmarkt. Doppelt so viele Arbeitskräfte gehen in Rente wie junge Mitarbeitende auf den Arbeitsmarkt kommen. Junge Berufseinsteigende haben Auswahlmöglichkeiten wie nie zuvor und bringen andere Erwartungen an die Arbeitgebenden mit. Es lohnt sich deshalb, einen Blick auf die aktuell jüngste Generation auf dem Arbeitsmarkt und deren Wertvorstellungen und Arbeitsmotive zu werfen, denn dieses Zusammenspiel von demografischen und gesellschaftlichen Entwicklungen führt zu einer Machtverschiebung in den Organisationen. Führungskräfte geraten unter Druck, trotz Fachkräftemangel genügend qualifiziertes Personal zu gewinnen und zu halten. Die zentrale Frage lautet: Wie können Organisationen diese Erwartungen der Generation Z für die eigene Weiterentwicklung nutzen und was bedeutet dies für die Führungspersonen? Im Beitrag werden anhand einer Forschungsarbeit im Sozialbereich im ersten Teil die Erwartungen und Arbeitsmotive der aktuell jüngsten Generation von Sozialarbeitenden aufgezeigt und diskutiert. Anschließend liegt der Fokus auf der Arbeitgeberattraktivität. Was unternehmen Führungsverantwortliche ganz konkret, um junge Fachkräfte zu rekrutieren und längerfristig zu halten? Der Beitrag schließt mit einem Fazit und Handlungsimpulsen für die Praxis.
M. Germann (B) Fachhochschule Nordwestschweiz, Olten, Schweiz E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 O. Geramanis et al. (Hrsg.), Organisationale Machtbeziehungen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42092-5_5
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M. Germann
Fachkräftemangel als Treiber für die Machtverschiebung
Die demografische Entwicklung führt zu einer Verschiebung auf dem Arbeitsmarkt. Allein innerhalb der nächsten zehn Jahre gehen in der Schweiz eine Million Menschen in Rente und gleichzeitig rücken geburtenschwächere Jahrgänge nach (BFS, 2021). Der Fachkräftemangel-Index erreicht im Jahr 2022 einen historischen Rekordwert. Der Index war ganze 68 % höher als im Vorjahr (Fachkräftemangel Index Schweiz, 2022). Die Eintritte in den Arbeitsmarkt gleichen die Austritte bei Weitem nicht mehr aus. Dieser Umstand wird durch die Tatsache verschärft, dass Berufseinsteigende deutlich mehr Teilzeitbeschäftigungen bevorzugen als die vorangehenden Generationen. Aus diesen Gründen zeigen die Prognosen noch eine weitere Verschärfung der Situation an. Der Fachkräftemangel in der Schweiz wird sich jährlich verdoppeln und 2025 bereits 365.000 Arbeitsplätze, über 200 Berufe und 15 Branchen mit über 2,3 Mio. Arbeitsplätzen betreffen (Dynaskills, 2022). Die Auswirkungen sind vielerorts spürbar. Lieferengpässe bei Medikamenten, Preissteigerungen, Stau am Flughafen, geschlossene Spitalabteilungen und verschobene Operationen führen dazu, dass der Fachkräftemangel im Bewusstsein der Bevölkerung angekommen ist. Die verschiedenen Arbeitsbereiche und Berufsgruppen sind unterschiedlich stark davon betroffen. Von den Ende 2022 120.000 offenen Stellen in der Schweiz sind 75 % der Stellen im Dienstleistungssektor zu verorten. Exemplarisch wird am Beispiel des Berufsfeldes der Sozialen Arbeit aufgezeigt, welche Auswirkungen der Fachkräftemangel auf die Organisationen und deren Machtdynamiken mit sich bringt. Die Erkenntnisse daraus sind gut übertragbar auf weitere Bereiche im Dienstleistungssektor wie den Pflege- und Bildungsbereich.
5.1.1
Dynamiken in Organisationen, ausgelöst durch den Fachkräftemangel
In der Sozialen Arbeit verschärft sich die Situation insofern, als parallel zum demografisch bedingten Rückgang der verfügbaren Arbeitskräfte der Bereich der Sozialen Arbeit stark gewachsen ist (Brenke et al., 2018). Mit einem jährlichen Beschäftigungswachstum von drei bis fünf Prozent weist der Sozialbereich ein im Vergleich zu anderen Branchen überdurchschnittlich hohes Beschäftigungswachstum auf. Die Personalsuche erweist sich für die Arbeitgebenden als aufwendig, Stellen können teilweise nicht fristgerecht besetzt werden oder es müssen Kompromisse bei der Anstellung in Kauf genommen werden (König et al., 2012; Pfiffner, 2019). Die Hochschulen für Soziale Arbeit haben auf den erhöhten Bedarf reagiert und die Zahl der Studien- und Ausbildungsplätze erhöht. Seit dem Jahr 2015 hat sich die Anzahl Studierender im Fachbereich der Sozialen Arbeit schweizweit gar verdreifacht (BFS, 2021). Auch im Pflege- und Bildungsbereich ist die Zahl der Ausbildungsplätze erhöht und es sind QuereinsteigerInnen-Ausbildungen entwickelt worden. Untersuchungen haben
5 Wenn die Generation Z die Spielregeln neu definiert
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jedoch wiederholt gezeigt, dass trotz dieser Anpassungen im Ausbildungsbereich passende Fachkräfte häufig nur mit Mühe zu finden und manchmal schwer an die Organisationen zu binden sind (Pfiffner & Matti, 2021). Aus der Praxis wird von einer zunehmenden Fluktuation in den Sozialen Berufen berichtet. Beispielsweise liegt die Fluktuationsabsicht bei Mitarbeitenden mit drei oder weniger Dienstjahren bei 17,3 % und ein Drittel der Mitarbeitenden bewertet die Beschäftigungssituation als nicht optimal (Pfiffner, 2017). Dies legt die Vermutung nahe, dass ein Teil der Sozialarbeitenden einen Berufswechsel oder Ausstieg ins Auge fasst. Der Fachkräftemangel begünstigt Berufswechsel. Doch was konkret sind die Ausstiegsgründe und inwiefern haben diese einen Zusammenhang mit organisationalen Faktoren? Zwei empirische Untersuchungen haben die Ausstiegsgründe von Sozialarbeitenden untersucht.
5.1.1.1 „Ich hab’s gesehen“ – Ausstiegsgründe, neue Verhandlungsmöglichkeiten und die Rolle der Führung Die empirischen Befunde der Studie von Schneiders & Schönauer (2022) zeigen auf, dass die Zufriedenheit mit der erlebten Arbeitsrealität häufig nicht der Arbeitsorientierung der Beschäftigten in Sozialen Berufen entspricht. Um dem Fachkräftemangel in den Sozialen Berufen zu begegnen, ist es zentral, dieser Unzufriedenheit mit der erlebten Arbeitsrealität aktiv entgegenzuwirken. Eine Verbesserung der monetären Aspekte – sprich Einkommen, Arbeitsplatzsicherheit und bessere Aufstiegschancen – sowie der Zusammenarbeit mit Kollegen/Kolleginnen und Vorgesetzten sowie der Wertschätzung der Arbeit sind die zentralen Befunde. Gerade im Bereich der Kollegialität und Wertschätzung ist ein besonderer Handlungsdruck erkennbar, da sich hier bei allen Gruppen die höchsten negativen Diskrepanzen zwischen erlebter Arbeitsrealität und der Arbeitsorientierung zeigen. Darüber hinaus ist für die Bindung der Fachkräfte in den Sozialen Berufen zentral, sie entsprechend ihren Fähigkeiten einzusetzen, ihnen Möglichkeiten zu bieten, diese Fähigkeiten weiterzuentwickeln, sowie ihnen Raum für abwechslungsreiches und eigenverantwortliches Arbeiten zu bieten. Die Befragungsergebnisse zeigen, dass die Verbesserung der strukturellen Rahmenbedingungen wichtig ist, doch von zentraler Bedeutung wird die Implementation von Personalmanagementstrategien sein, die die von den Beschäftigten als zentral angesehene Wertschätzung und Anerkennung wieder stärker in den Mittelpunkt stellen. Die Studie von Savoirsocial (Fehr, 2018) hat 162 Berufsaussteigende aus dem Sozialbereich befragt mit dem Ziel, die Gründe für den Ausstieg zu untersuchen sowie Angaben zu den neu gewählten Berufsrichtungen zu erhalten. Die Ausstiegsgründe unterscheiden sich je nach Geschlecht, Alter und Bildungsstand. Ausstieg aufgrund eigener beruflicher Entwicklungswünsche rangiert auf der Liste ganz oben, allerdings vor allem bei Männern und Frauen ohne Kinder. Mangelnder Lohn, fehlende Weiterbildungsmöglichkeiten und geringe Anerkennung waren vor allem für nicht tertiär Ausgebildete ein Ausstiegsgrund. Die zu geringen Personalressourcen, der Handlungsspielraum und das
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Arbeitsklima respektive die Zusammenarbeit am Arbeitsplatz sind für alle Befragten zentrale Themen resp. Ausstiegsgründe. Wenn wir diese drei Faktoren im Zusammenhang mit dem Fachkräftemangel und dem Einfluss von Führungspersonen näher betrachten, zeigt sich, dass der Einfluss bei den Personalressourcen begrenzt, jedoch beim Handlungsspielraum und beim Arbeitsklima vorhanden ist. Die Untersuchung zeigt, dass die Führungsfunktion als zwiespältige Rolle wahrgenommen wird. Das Teamklima, der Handlungsspielraum und das Gefühl, dass die geleistete Arbeit anerkannt wird, können von Führungspersonen stark beeinflusst werden – positiv wie negativ. Dies bedeutet, dass Handlungsspielräume neu verhandelt werden müssen. Nun haben sich die Spielregeln dieser Verhandlungen insofern verändert, als Mitarbeitende beim Nicht-gehört- oder Nicht-ernst-genommen-Werden das Spielfeld verlassen können, indem sie kündigen. Schließlich warten die offenen Stellen auf diese Fachkräfte. Damit verschiebt sich die Macht ein Stück weit von den Führungspersonen zu den Mitarbeitenden. Das Arbeitsklima hat einen engen Zusammenhang mit dem Teamvertrauen. Die Metaanalyse von de Jong (2016) zeigt, dass einerseits das Teamvertrauen mit der Teamleistung zusammenhängt und dass andererseits die Interdependenz der Aufgaben, die Autoritätsdifferenzierung sowie Kompetenzdifferenzierung in Teams entscheidende Einflussgrößen darstellen. Gerade die Autoritätsdifferenzierung weist darauf hin, neue Führungsmodelle wie z. B. Shared Leadership einzuführen, um die Macht in Organisationen mehr zu verteilen. Die Ergebnisse der Befragung zeigen auch, dass Führungsfunktionen, aufgrund von mangelnden attraktiven und lohnrelevanten fachlichen Weiterentwicklungsmöglichkeiten, häufig von nicht für die Führung geeigneten Personen ergriffen würden. Hier stellt sich die Frage, wie in den Organisationen zukünftig Fach- und Führungskarrieren ermöglicht werden und welche Führungsmodelle sich am besten eignen, diesen Anforderungen gerecht zu werden. Zusammengefasst kann festgehalten werden, dass die Ausstiegsgründe auf hauptsächlich zwei Ebenen zu finden sind: Zum einen sind diese bei den „hard factors“ wie dem Lohn, Aufstiegs- und Weiterentwicklungsmöglichkeiten zu finden. Andererseits sind „soft factors“ wie Anerkennung, Wertschätzung und gelingende Zusammenarbeit relevant. Dass diese „soft factors“ wichtige Einflussfaktoren sind in Bezug auf die Arbeitszufriedenheit, wissen wir schon lange. Nun hat sich jedoch die Ausgangslage insofern verändert, als bei ungenügendem Vorhandensein dieser Faktoren, wie fehlender Wertschätzung von Vorgesetzten, Mitarbeitende ihre Stelle per sofort kündigen können und das auch tun, da genügend neue verfügbare Stellen auf dem Arbeitsmarkt vorhanden sind. Das bedeutet, dass sich die Handlungsmöglichkeiten der Mächtigen verringern und die Arbeitnehmenden mehr Einfluss auf die Spielregeln der Verhandlungen der unterschiedlichen Konstruktionen von Macht (z. B. Interaktion, Werte, Organisationspraktiken) erhalten.
5 Wenn die Generation Z die Spielregeln neu definiert
5.1.2
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Fachkräftemangel als Chance zur Inklusion?
Nebst den herausfordernden Folgen unterstützt der Fachkräftemangel jedoch auch begrüßenswerte Entwicklungen. So steigen aktuell die Chancen von Menschen mit einer Benachteiligung, eine Anstellung zu finden. Hierzu zwei Beispiele: Das Modell der Abteilung für berufliche Eingliederung (ParaWork) am Schweizer Paraplegiker-Zentrum, Menschen direkt nach dem Unfall zu begleiten und in jeder Phase optimal zu unterstützen, ist sehr erfolgreich. 60 % der Menschen mit Querschnittlähmung sind in der Schweiz beruflich tätig. In Deutschland, zum Beispiel, liegt der Erfolg der Wiedereingliederung in das Berufsleben nur bei knapp 40 %. Durch breitere Anwendung der Methoden und Technologien, die vom Paraplegiker-Zentrum Schweiz eingesetzt werden, könnten bis zu zusätzlich 500.000 Menschen in der Schweiz besser in den Arbeitsmarkt integriert werden. Organisationen im Non-Profit-Bereich, die sich auf erwerbsorientierte Eingliederung spezialisiert haben, berichten davon, dass Unternehmen aus der Privatwirtschaft aktiv Unterstützung und Beratung einholen, um Konzepte und Maßnahmen zu entwickeln, welche die Anstellung von Menschen mit Benachteiligungen ermöglichen. Nebst der Frage, inwiefern die Zuwanderung von Arbeitskräften aus dem Ausland, insbesondere im Rahmen der Personenfreizügigkeit mit der EU, den Arbeitskräftemangel dämpfen kann, eröffnen sich Möglichkeiten, berufliche Qualifikationen von in der Schweiz lebenden Migranten/Migrantinnen einerseits niederschwelliger und andererseits großzügiger anrechnen zu lassen. Insgesamt kann festgestellt werden, dass im Rahmen der aktuellen Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt die Chancen auf eine Anstellung für Menschen mit Benachteiligungen steigen. Das bedeutet, dass sich auch hier die Spielregeln verändern. Menschen, welche sich eher am Rande der Arbeitswelt und zum Teil auch am Rande der Gesellschaft befinden, erhalten neue Macht- und Einflussmöglichkeiten, indem sie auf dem Arbeitsmarkt eine Beschäftigungsmöglichkeit finden. Wenn es uns gelingt, die Strukturen in den Organisationen so anzupassen, dass mehr Inklusion möglich wird, kann dies ein bedeutender Schritt sein, die Diversität in Organisationen zu erhöhen.
5.2
Generation Z
Empirische Ergebnisse weisen darauf hin, dass nebst den demografischen Entwicklungen auch gesellschaftliche Veränderungen als relevante Einflussgrößen auf den aktuellen Fachkräftemangel angesehen werden sollen. Besonders den sich wandelnden Wertorientierungen, Anspruchshaltungen und Erwartungen nachrückender Generationen auf dem Arbeitsmarkt muss Beachtung geschenkt werden. Die populärwissenschaftlich genannte Generation Z, welche die Jahrgänge 1995 bis 2010 umfasst und die jüngste Generation auf dem Arbeitsmarkt darstellt, wird aktuell
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intensiv erforscht und erhält viel Beachtung. Im folgenden Kapitel soll kurz der Generationenbegriff diskutiert werden, um im Anschluss empirische Erkenntnisse speziell mit dem Fokus Arbeitswelt darzustellen.
5.2.1
Belastungstest für das Generationenkonzept
Im wissenschaftlichen Diskurs (vgl. Mannheim, 1928; Maas, 2019; Lütkehaus, 2020; Schröder, 2018) existieren unterschiedliche Meinungen dazu, was die Anwendung von Generationenkonzepten anbelangt. Plakative Zuschreibungen und Pauschalisierungen bergen die Gefahr, Altersgruppen zu stigmatisieren und wenig aussagekräftig zu sein (Höpflinger, 2019). Schröder (2018) zeigt in seiner empirischen Forschung auf, dass von der Literatur postulierte Generationsunterschiede zwischen den sogenannten Generationen Y, X, den Babyboomern, den 68ern sowie der sogenannten skeptischen Nachkriegsgeneration in Wirklichkeit kaum existieren. Er untersuchte, inwiefern gesellschaftliche Ereignisse während der Jugendzeit einer Geburtskohorte diese Generation lebenslang mit klar abgrenzbaren Einstellungsmustern zusammenschweißt. Hier ist wichtig, zwischen den Alters- und Periodeneffekten zu unterscheiden. Die Alterseffekte beziehen sich auf den Umstand, dass beispielsweise die Generation Z (Jahrgang 95 und jünger) sich aktuell in der Jugend- und „Jungen-Erwachsenen“-Phase befindet und daraus Gemeinsamkeiten abgeleitet werden können, die durchaus auch für Jugendphasen früherer Generationen Gültigkeit haben. So gehören beispielsweise zur Zeit der Jugend eine kritische Haltung und ein Hinterfragen von geltenden Normen und Werten – und dies seit jeher. Der Periodeneffekt hingegen bezieht sich auf die aktuelle Zeit und die damit verbundenen gesellschaftlichen Entwicklungen. Die Generation Z ist beispielsweise die erste Generation, welche mit dem Smartphone und dem nahezu immer verfügbaren Onlinezugang zum Internet aufgewachsen ist. Dies hat Auswirkungen auf den Umgang mit Wissen und die Art und Weise, wie kommuniziert wird. In der Kombination dieser Alters- und Periodeneffekte lassen sich nun für genau diese Generation, welche neu in den Arbeitsmarkt eintritt, tatsächlich auch empirisch belegte signifikante Unterschiede zu den früheren Generationen belegen (Maas, 2019, S. 10). Inwiefern sich diese Unterschiede über die ganze Lebenszeit halten werden, kann aus heutiger Sicht nicht beantwortet werden, ist jedoch auch nicht relevant für die aktuelle Diskussion. Demnach ist die Generationszugehörigkeit zwar ein wichtiger Ansatz, kann jedoch nicht ausschließliche Erklärungsgrundlage für differenziertes Denken und Handeln von Menschen sein, da Geschlecht, geografische Herkunft, sozioökonomischer Hintergrund oder Familienstrukturen ebenso bedeutende Einflussfaktoren darstellen. Auf aggregierter Ebene ist Generationszugehörigkeit jedoch in einer Vielzahl von Studien eine wichtige Dimension, um Verhalten zu prognostizieren (vgl. Klaffke, 2014).
5 Wenn die Generation Z die Spielregeln neu definiert
5.2.2
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Die Generation Z polarisiert
In der Tagespresse, der Wissenschaft und in der Kaffeepause in Organisationen ist die Generation Z Thema. Von eher negativ konnotierten Beschreibungen, wie „die Arbeit soll ausschließlich Spaß machen, Kollegen müssen nett sein ... Und der Freiraum und vor allem der Lohn muss ebenfalls angemessen sein. Aber bitte ohne Überstunden! Oder: Faul und verwöhnt? Jugendlichen fehlt es an Motivation, Leistungsbereitschaft und Belastbarkeit“ bis zu hoffnungsvollen Aussagen, wie „die Generation Z wird dafür sorgen, dass die Arbeitswelt mitarbeiterfreundlicher und lebenswerter ist, als wir sie derzeit oft erleben“ (Scholz, 2015, S. 6), ist alles zu finden. In der westlichen Welt war und ist das Aufwachsen der Generation Z von Wohlstand, Technologisierung und Angebotsvielfalt sowie grenzenlos erscheinenden Konsummöglichkeiten geprägt. Die Generation Z ist in einer Zeit aufgewachsen, in welcher die Ausbildungsmöglichkeiten nie besser waren, die Eltern tendenziell bedürfnis- und beziehungsorientiert ihre Kinder erziehen, das Smartphone und damit verbunden eine praktisch immer verfügbare Möglichkeit, online zu sein, eine Selbstverständlichkeit darstellt. Ihr Denken, Verhalten und Handeln sind ebenso schnelllebig wie entgrenzt und an einer umgehenden Bedürfnisbefriedigung interessiert. Die erlebten Bedrohungen wie beispielsweise der Klimawandel zeigen sich abstrakter als in den Generationen davor. Pechmann (2021) skizziert in diesem Zusammenhang einen um die Jahrtausendwende erfolgten Paradigmenwechsel. Die Zukunftsoffenheit und Gestaltungsfreiheit, wie sie das Denken und die Entwicklungen des 20. Jahrhunderts prägten, bestehen in dieser Form zunehmend nicht mehr. Stattdessen richtet sich das reflexive Denken darauf, den globalen Auswirkungen menschlichen Eingreifens in die natürliche Umwelt bewusst und mit größerer Weitsicht zu begegnen. Mit dieser neuen, die Generation Z prägenden Denkrichtung geht ein verändertes Werteverständnis einher, was aktuell Etiketten wie „Klimajugend“ oder „Generation Greta“ hervorbringt.
5.2.3
Die Generation Z im Arbeitsleben
Das interdisziplinär zusammengesetzte Team des Instituts für Generationenforschung (Maas, 2019) hat in einer groß angelegten Untersuchung erforscht, von welchen Werten die Generation Z geleitet wird und welche Rolle dabei die Karriere spielt. Ist es wirklich so, dass die aktuellen Jungen so ganz anders sind? Oder sehen wir sie nur anders? Ist es das Vorrecht des Alters, die Jugend kritisch zu betrachten? Oder hat dies also mehr mit den Betrachtenden zu tun? Die Generation Z weist ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein auf, welches auf die schnelle und stetige Bedürfnisbefriedigung zurückzuführen ist. Wenn junge Menschen
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dann auf den Arbeitsmarkt kommen und der Vorgesetzte nicht so agiert wie die Familie, löst dies Verunsicherung aus. Sie sind es nicht gewohnt, sich zu hinterfragen, und kündigen dann einfach (Maas, 2019). Dies bestätigt auch Scholz (2014). Seiner Forschung folgend gilt es, die Generation Z mittels sachbezogener Anweisungen und überschaubarer Aufgaben zu führen, um Überforderung und Frustration zu vermeiden. Wird die Generation Z mit zu komplexen Aufgabenstellungen konfrontiert, steigt die Gefahr des Scheiterns, was im Nachgang jedoch weniger zur Reflexion führt, sondern vielmehr den Abbruch des Arbeitsverhältnisses begünstigt. Verlässlichkeit, Durchhaltewillen und Loyalität sind gering ausgeprägt (S. 177 − 178). Die Generation Z hat ein großes Bedürfnis nach Struktur: Sie wünscht sich eindeutige Vorgaben und klare Arbeitszeiten, am liebsten von neun bis siebzehn Uhr. Die persönliche Einbindung wird hoch gewichtet. Die Studie von Maas (2019) zeigt, dass ein angenehmes Arbeitsklima die wichtigste Erwartung der Generation Z an den Arbeitsplatz ist. Eine Berufsschülerin schildert dies so: „Wir haben keine Lust auf unmenschliche Arbeit und unfreundliche Kollegen. Wenn ich jeden Tag ins Büro gehe, möchte ich mich dort auch wohlfühlen. Klar geht’s um Arbeit, aber ich bin ja jeden Tag dort. Da muss ich mich schon wohlfühlen und die Leute mögen“ (Maas, 2019, S. 21). Deshalb passt der transaktionale und transformationale Führungsstil gut zu dieser Generation. Dies bedeutet: klare Ziele und klare Vereinbarungen einerseits und andererseits individuelle Wertschätzung und Zuwendung sowie inspirierende Motivation. Anders als vorherige Generationen achtet die Generation Z stark auf eine Trennung von Privat- und Berufsleben, d. h. auf Work-Life-Separation. Sie erwartet hochstehende Strukturiertheit am Arbeitsplatz und strebt nach Teilzeitbeschäftigungen. Der Stellenwert der Arbeit und das Engagement orientieren sich an der entlohnten Leistungsvereinbarung, was die rationale und konservative Einstellung dieser Generation reflektiert (Maas, R. im Interview mit Gehm, 2019, S. 14). Sie definieren sich eben nicht nur über die Arbeit. Was in der Freizeit getan wird, Hobbys, Reisen, Mode – diese Dinge sind viel wichtiger (Maas, 2019, S. 22). Scholz (2014) sieht darin eine Chance, dass aufgrund dieser Forderungen der Generation Z die Arbeitswelt mitarbeiterfreundlicher und lebenswerter wird, als wir sie derzeit oft erleben. Scholz (2014) sieht die Einstellungen der Generation Z auch als eine Reaktion auf Beobachtungen, die sie in Bezug auf das Arbeitsverhalten der älteren Generationen machen. Die Generation Y war bei ihrem Jobeinstieg hoch motiviert. Sie haben Chancen gesehen und glaubten daran, dass sich Leistung lohnt und Loyalität auszahlt – und sind dabei auch schon mal im Burnout geendet. Die Vertreter der Gen Z haben hingegen erkannt, dass Karrierechancen relativ sind und dass sich eine Aufopferung im Beruf wenig lohnt. Der Job ist für sie Mittel zum Zweck und nicht Selbsterfüllung. Hier stellt sich nun die spannende Frage: Sind hohe Abbruchquoten an verschiedenen Stellen (beispielsweise wurden im Jahr 2021 22,4 % der Lehraufträge in der Schweiz aufgelöst, BFS, 2021) nun als fehlende Belastbarkeit der Generation Z oder als besondere Achtsamkeit mit sich selbst und den eigenen Ressourcen zu betrachten?
5 Wenn die Generation Z die Spielregeln neu definiert
5.2.4
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Die Sozialarbeitenden von morgen verändern die Spielregeln
Inwiefern die oben beschriebenen Aussagen zur Generation Z auch für die Berufsgruppe der Sozialarbeitenden dieser Generation gelten, hat Weber (2022) in ihrer deskriptivexplorativ angelegten Studie untersucht. Sie hat 502 Studierende der Sozialen Arbeit im deutschsprachigen Teil der Schweiz hinsichtlich ihrer Wertorientierungen, Arbeitseinstellung sowie ihres Resilienz- und Gesundheitserlebens befragt. Ihre Ergebnisse zeigen auf, dass junge und künftige Arbeitnehmende im Sozialbereich dem Berufsleben geringere Bedeutung beimessen, sich distanzierter positionieren und gleichzeitig ein höheres Belastungsempfinden anzeigen. Für ein Engagement außerhalb der regulären Arbeitszeit zeigen sie deutlich weniger Bereitschaft als ältere Generationen. Gleichzeitig sind dieser Generation geregelte Arbeitszeiten doppelt so wichtig wie den vorangehenden Generationen. Der folgende Auszug aus einem Interview mit einer Sozialarbeiterin (Jahrgang 1979) aus dem Bereich der stationären Kinder- und Jugendhilfe bietet ein passendes Praxisbeispiel dazu. Das Interview führte die Autorin im Rahmen ihres Dissertationsprojekts zum Thema „Erwartungen und Arbeitsmotive der aktuell jüngsten Generation von Sozialarbeitenden“. „Unsere erste Schicht endet bei uns gemäß Plan um 16 Uhr. Jedoch schaffen wir es praktisch nie, pünktlich Feierabend zu machen, da entweder die Jugendlichen noch etwas von mir wollen oder ich noch Journaleinträge nachführen muss. Nun sind zwei junge neue MitarbeiterInnen eingestellt worden und beide machen strikt um 16 Uhr Feierabend. Egal, wie die Situation auf der Wohngruppe ist oder ob es noch unerledigte administrative Aufgaben gibt. Dies hat zu Spannungen im Team geführt. Schließlich haben wir den Arbeitsplan angepasst. Neu sind wir alle nur noch bis 15.30 Uhr auf der Wohngruppe und die letzten 30 min sind für unerledigte Pendenzen, mit der Idee, dass nun alle pünktlich um 16 Uhr gehen können. Und das funktioniert tatsächlich. Zuerst war ich genervt von diesem abgrenzenden Verhalten der jungen Kollegen/Kolleginnen. Nun finde ich es eigentlich gut, dass damit auf den Missstand aufmerksam gemacht wurde, dass wir bis anhin fast täglich unbezahlt Überzeit gemacht haben.“ Sowohl eine Verschiebung hin zu materiellen Wertorientierungen (z. B. Lohn) und sinnstiftenden Handlungsmotiven ist zu beobachten als auch eine rationale Weltanschauung und die Suche nach sicherheitsstiftenden Rahmenbedingungen. Im Streben nach hochstehender Bildung verbunden mit bedürfnisorientierten Sozialisationsbedingungen wächst eine neue Generation Arbeitnehmender heran, welche in ihrer Konfliktfähigkeit geschwächt, hingegen in ihrem Auftreten selbstbewusst und fordernd der Arbeitswelt begegnet. Gleichzeitig muss der Selbstwahrnehmung von gesundheitlichen Beschwerden Beachtung geschenkt werden. Jede dritte Person der Generation Z gibt an, regelmäßig von fünf Krankheitssymptomen betroffen zu sein. Es sind vorwiegend psychosomatische und psychische Erkrankungen. Die Ergebnisse von Weber (2022) belegen die skizzierte Wertverschiebung ebenso, wie sie signifikante Unterschiede zwischen den Generationen ausweisen. Wer also glaubt, dass junge Sozialarbeitende anders eingestellt sind als der Rest der Bevölkerung, täuscht sich.
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Fazit: Die Generation Z ist gut ausgebildet, sie will mitgestalten und ist auf dem Arbeitsmarkt gefragt. Die Trennung von Beruf und Privatleben sowie Teilzeitbeschäftigung sind für diese Generation ein „Must“. Fairer Lohn, Entwicklungsmöglichkeiten und ein gutes Arbeitsklima sind ihnen wichtig. Es ist offensichtlich, dass die Generation Z mit ihren Anforderungen den Arbeitsmarkt herausfordert und die Machtverteilung zwischen Führungspersonen und Mitarbeitenden neu verhandelt werden muss. Machtausübung ist nicht einseitig und Machtbeziehungen sind Austauschbeziehungen. Eine Person kann die eigenen Auffassungen nur dann durchsetzen, wenn eine andere Person bereit ist, sich mit dieser in eine Beziehung einzulassen. Die Organisation und ihre Führungskräfte sind nicht lediglich Unterdrückungsapparate, sondern es braucht seitens der Untergebenen ein Minimum an Zustimmung und Kooperationsbereitschaft, um sich zugleich ihre Autonomie als frei Handelnde zu bewahren (Crozier & Friedberg, 1993). Und genau bei dieser Kooperationsbereitschaft sind aufgrund der oben skizzierten Veränderungen bei jungen Mitarbeitenden veränderte Handlungsmuster erkennbar. Eine Führungsperson schildert: „Die neu eingestellte Mitarbeiterin kam nach dem Mittag ihres ersten Arbeitstages zu mir ins Büro und erklärte mir, dass sie sich diese Arbeit anders vorgestellt habe und sie die Zusammenarbeit hier bei uns nicht ideal finde. Deshalb habe sie beschlossen, wieder zu kündigen. Ich konnte sie nicht einmal dazu bewegen, noch die erste Arbeitswoche hier zu verbringen und dann zu entscheiden. Schließlich wusste ich auch, dass sie mit ihren Qualifikationen und diesem Fachkräftemangel gleich wieder eine Anstellung haben würde. Das habe ich in meiner langjährigen Führungszeit noch nie erlebt.“ Hier zeigt sich nun diese Veränderung im Spannungsverhältnis zwischen der Macht, als Subjekt etwas zu bewegen, und dem Eingebundensein in gesellschaftliche und organisationale Machtstrukturen. Crozier und Friedberg (1993) definieren den „Spielbegriff“ als „indirekten sozialer Integrationsmechanismus divergierender und/oder widersprüchlicher Verhaltensweisen relativ autonomer Akteure“, der von Menschen geschaffen wurde, um die zur Lösung kollektiver Probleme notwendige Zusammenarbeit zu regeln. Es geht nun also darum, in dieser veränderten Ausgangslage die Spielregeln der Zusammenarbeit neu zu verhandeln. Die Frage stellt sich, inwiefern die Organisationen bereits sensibilisiert sind für diese veränderten Spielregeln und Führungspersonen Maßnahmen zur Erhöhung der Arbeitgeberattraktivität ins Auge fassen. Dieser Aspekt wird im nächsten Abschnitt aufgegriffen und diskutiert.
5.3
Arbeitgeberattraktivität
Im Zusammenhang mit den Erwartungen der jungen Generation rückt auch die Arbeitgeberattraktivität in den Fokus. Arbeitgeberattraktivität kann nach Berthon et al., (2005, S. 151) als „die wahrgenommenen Vorteile, die ein potenzieller Arbeitnehmer in der Tätigkeit für eine spezifische Organisation sieht“, verstanden werden. Organisationen sind
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heute stärker auf kompetente Arbeitskräfte angewiesen und darin gefordert, attraktive Arbeitsbedingungen zu schaffen, um eine Personalbindung erzielen zu können. Empirische Studien, die sich mit den Erwartungen von (angehenden) Mitarbeitenden und der Attraktivität von Arbeitgebern ganz generell befasst haben, gibt es einige (Berthon et al., 2005; Bruhn et al., 2013; Lievens et al., 2001; Lohaus & Rietz, 2015; Pfiffner, 2017, 2019; Ritz, 2011; Ruthus, 2013). Zusammenfassend lassen sich auf dieser Basis mindestens fünf zentrale Anforderungen identifizieren, welche in einem Zusammenhang mit der Attraktivitätswahrnehmung bzw. Anziehungskraft von Arbeitsstellen stehen: 1. Gute Arbeitsbedingungen (attraktive Arbeitszeitmodelle, ausgewogene Work-LifeBalance, gutes Arbeitsklima) 2. Angemessene Entlohnung und Aufstiegsmöglichkeiten 3. Attraktives Stellenprofil (interessante, vielfältige und herausfordernde Tätigkeiten) 4. Weiterbildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten 5. Selbstständigkeit und Entscheidungsmöglichkeiten Diese eher allgemein formulierten Anforderungen sind nachvollziehbar und nicht neu. Mit der Verknappung der Personalressourcen und den beobachtbaren Verschiebungen von Werten und Erwartungen der jungen Generation an die ArbeitgeberInnen wird jedoch ein genaueres Hinschauen notwendig. Dies selbstverständlich immer unter der Prämisse, auch die Diversität innerhalb der Generation zu berücksichtigen. Aufgrund der demografischen Entwicklung sind die Arbeitgebenden nun gezwungen, sich mit diesen Anforderungen ganz generell sowie spezifisch auf die Generation Z bezogen auseinanderzusetzen. Die Untersuchung von Maas (2019) zeigt jedoch, dass 90 % der Unternehmen in Deutschland auf diese Entwicklung nicht vorbereitet sind. Die meisten Unternehmen wissen nicht einmal etwas von unterschiedlichen Generationen am Arbeitsplatz, geschweige denn haben Strategien oder Konzepte entwickelt, um sich darauf einzustellen.
5.3.1
Organisationen der Sozialen Arbeit unter Druck
Den Organisationen der Sozialen Arbeit steht mit ihrer Einbettung im wohlfahrtsstaatlichen Kontext bei der Gestaltung dieser Arbeitsbedingungen ein beschränkter Handlungspielraum zu. Gerade die verwaltungsnahen Organisationen sind immer noch häufig hierarchisch und starr organisiert. Weiter kalkulieren Organisationen im Sozialbereich oft ein gewisses Maß an Freiwilligenarbeit mit ein. Diese Ausgangslage steht im Spannungsfeld mit der Beobachtung, dass wie oben aufgeführt materialistische Werte wie Autoritätsgläubigkeit, Gehorsam und Betriebstreue weniger zum Ausdruck gebracht werden als früher, während die persönliche Anerkennung
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sowie die Anerkennung der eigenen Leistung und adäquate Möglichkeiten der Mitsprache bzw. -gestaltung zu wesentlichen Motivatoren heranwachsen. Diesen Anforderungen kann mit passenden Führungs- und Personalmanagementkonzepten Rechnung getragen werden. Hingegen die Erwartung, gute Arbeitsbedingungen wie beispielsweise attraktive Arbeitszeitmodelle vorzufinden, kann je nach Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit nur schwer erfüllt werden. Im stationären Bereich sind nun einmal unregelmäßige Arbeitszeiten kaum zu verhindern und ein aus sozialarbeiterischer Sicht sinnvolles Bezugspersonenkonzept benötigt Kontinuität und kann mit vielen kleinprozentigen Anstellungen kaum umgesetzt werden. Auch wenn es um Spielräume geht beim Einkommen ist der Handlungsspielraum aufgrund der sozialpolitischen Rahmenbedingungen oftmals klein oder Anpassungen nur auf sehr lange Sicht hin möglich. Doch genau diese Faktoren entscheiden graduell zunehmend über die Bindung zum Arbeitsplatz und die Loyalität gegenüber Vorgesetzten wie auch Organisationen. Damit wird deutlich, dass der aktuelle Wertewandel gepaart mit der demografischen Entwicklung das Abhängigkeitsverhältnis entsprechend verschiebt. Der Fachkräftemangel führt schließlich zu einer Machtumkehrung zwischen Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden. Zusätzlich zeigt Weber (2022) in ihrer Untersuchung zudem auf, dass der verkannte Einfluss demografischer Entwicklungen, zunehmender Belastungsmomente sowie veränderter Wertorientierungen und Arbeitsmotive junger und künftiger Mitarbeitender sich destabilisierend auf Organisationen im Sozialbereich auswirkt. Die bisherige Konzentration der Organisationen im Sozialbereich auf zielgruppenorientierte Dienstleistungserbringung führte zu einer Vernachlässigung der personalpolitischen Dimension (Weber, 2022). Im Spannungsfeld zwischen knappen Ressourcen, ökonomischer Effizienzorientierung, sozialpolitischen Vorgaben, komplexen Problemstellungen und neuen Formen der Zusammenarbeit, z. B. aufgrund der Digitalisierung, wurde vielerorts im Sozialbereich die Weiterentwicklung des Personalmanagements nachrangig behandelt. Die aktuelle Ausgangslage setzt die Organisationen nun unter Druck, ihre Arbeitgeberattraktivität zu erhöhen. Die Höhergewichtung und Weiterentwicklung des Personalmanagements ist zwingend erforderlich, um Fachkräftelücken zu schließen.
5.3.2
Ein Blick in die Praxis – Führungspersonen berichten
Interviews und Fokusgruppengespräche mit Führungspersonen aus verschiedenen Feldern der Sozialen Arbeit zeigen auf, dass unterschiedliche Maßnahmen ausprobiert werden, um dem Fachkräftemangel zu begegnen und die Arbeitsattraktivität zu erhöhen. Aus Interviews mit zwölf Führungspersonen aus den Handlungsfeldern Soziale Arbeit (Sozialhilfe und Kindes- und Erwachsenenschutz sowie Beratungsstellen mit freiwilligen Angeboten), Sozialpädagogik (stationäre Kinder- und Jugendhilfe) und soziokulturelle Animation (Kinder- und Jugendarbeit) können folgende Erkenntnisse gewonnen werden.
5 Wenn die Generation Z die Spielregeln neu definiert
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Mit Ausnahme einer Organisation, welche im Bereich der freiwilligen Beratung unterwegs ist, kämpfen alle mit Schwierigkeiten bei der Personalrekrutierung und der längerfristigen Bindung von Mitarbeitenden. Besonders im sozialpädagogischen Bereich hat sich die Bewerbungslage drastisch verschlechtert. Egal ob Ausbildungsplätze, befristete oder unbefristete Anstellungen sowie mit oder ohne Führungsfunktion – zum Teil sind keine Bewerbungen dabei, welche die minimalen Kriterien erfüllen. Bei den Sozialdiensten können die Stellen noch besetzt werden, jedoch hat die Auswahl an potenziellen Mitarbeitenden auch abgenommen. Diese Entwicklungen haben die Führungspersonen dazu veranlasst, Anpassungen im Rekrutierungsprozess vorzunehmen, verschiedene Benefits anzubieten und konkrete Maßnahmen zur Erhöhung der Arbeitgeberattraktivität einzuführen. Von einer Entschädigung für Homeoffice, kostenloser Verpflegung (stationäres Setting), Dienstaltersgeschenken, der Möglichkeit, einen Teil des 13. Monatslohns als Ferientage zu beziehen oder Führungsfunktionen in Teilzeit zu übernehmen, bis zu Vermittlungsprämien von bis zu 100.000 CHF für angestellte Mitarbeitende bei erfolgreicher Vermittlung von neuen Arbeitnehmenden sind sehr unterschiedliche Ansatzpunkte genannt worden. Auffallend ist, dass die Maßnahmen nicht auf systematischen Befragungen oder Evaluationen beruhen und die eingeführten Maßnahmen eher punktuell und nicht im Sinne einer Weiterentwicklung des Personalmanagements eingeführt werden. Die Hypothese liegt nahe, dass der Druck, Anpassungen vorzunehmen, so hoch ist, dass rasch reagiert und ausprobiert wird und die Zeit zu fehlen scheint, konzeptionell vorzugehen. Zu den Arbeitszeitmodellen und deren Neugestaltung sind besonders viele Überlegungen zu beobachten. Die Schilderungen aus der Praxis stützen die Forschungsergebnisse, dass unregelmäßige Arbeitszeiten mit Nacht- und Wochenenddiensten gerade für die junge Generation der Sozialarbeitenden besonders unattraktiv erscheinen. In zwei Organisationen werden Überlegungen angestellt, ob es möglich wäre, eine Viertagewoche einzuführen, und eine Organisation überlegt sich, ein neues Konzept zur Abdeckung der Nachtdienste mit zusätzlichem Personal und anderer Finanzierung attraktiver zu gestalten. Freizeitwünsche bei der Dienstplanung zu berücksichtigen, ist eine Selbstverständlichkeit in allen Organisationen. Die Berücksichtigung der individuellen Lebensentwürfe kombiniert mit der Tatsache, dass praktisch überall nur in Teilzeit gearbeitet wird, lässt jedoch den Aufwand und die Komplexität bei der Arbeitsplangestaltung massiv ansteigen. Die Rekrutierung in anderen Berufsfeldern oder im Ausland hat ebenfalls Konsequenzen. Je nach Eingangskompetenzen, Vorerfahrungen und Ausbildung der neuen Mitarbeitenden müssen die Organisationen spezifisches Wissen vermitteln, damit die neuen Mitarbeitenden überhaupt ihre Aufgaben wahrnehmen können. Eine Sozialpädagogin aus Berlin benötigt Wissen zum Schweizer Sozialwesen, hingegen benötigt die studierte Sozialwissenschaftlerin Gesprächsführungskompetenzen. Um diese Nachqualifizierung nach der Anstellung zu ermöglichen, sind zusätzliche Ressourcen notwendig. Gerade im sozialpädagogischen Bereich werden häufig auch niedriger qualifizierte Mitarbeitende aus verwandten Berufen angestellt. Hier schildern die Führungspersonen
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ihre Überlegungen einerseits zu Möglichkeiten der Nachqualifizierung (z. B. verkürzte Ausbildung zum/zur Sozialpädagogen/Sozialpädagogin als Auflage) und andererseits zur Differenzierung von Rollen und Funktionen ähnlich wie im Pflegebereich. So kann die Mitarbeiterin mit der Ausbildung Fachfrau Betreuung auf der sozialpädagogischen Wohngruppe arbeiten und die Jugendlichen im Alltag begleiten, die Bezugspersonenarbeit und die Standortgespräche werden jedoch von der tertiär ausgebildeten Sozialpädagogin übernommen. Aus den Interviews mit den Sozialdiensten wird ersichtlich, dass die regionale Lage, die Organisationsstruktur sowie die Reputation Einfluss auf die Bewerbungslage haben. So haben ländlich gelegene, polyvalente Sozialdienste deutlich weniger Bewerbungen, die die Anforderungen erfüllen. Den Führungspersonen ist bewusst, dass aufgrund der sehr gut vernetzten jungen Generation der Sozialarbeitenden die Reputation der Organisation einen Einfluss hat. So kann sich ein ländlicher Sozialdienst mit einem guten Arbeitsklima, konkreten wertschätzenden Personalmaßnahmen sowie attraktiven Weiterentwicklungsmöglichkeiten einen spürbaren Vorteil verschaffen. In den Ausbildungspraktika kann dies den potenziellen zukünftigen Mitarbeitenden vorgelebt werden und schafft so einen realen Einblick. Dagegen sind die Versprechungen in den Stelleninseraten weniger greifbar. Mehrfach wird geäußert, dass die Ideen und Vorschläge der jungen Berufskollegen/ Berufskolleginnen erfrischend seien und sehr geschätzt würden. In einigen Organisationen wurden konkret neue Möglichkeiten zur Mitgestaltung geschaffen. Beispielsweise können Funktionen wie Projektverantwortungen, Fachleitungen oder Ressortverantwortliche attraktive Möglichkeiten zur beruflichen Weiterentwicklung bieten. Eine übergreifende Erkenntnis ist, dass der Matchingprozess zentral wichtig ist. Die Erfahrungen, dass neue Mitarbeitende entweder am ersten Tag oder in der Probezeit gerade wieder gekündigt haben, prägte die Führungspersonen. Dies komme auch deutlich häufiger vor als früher, was ja nicht erstaunt aufgrund der Situation auf dem Arbeitsmarkt und der geschilderten veränderten Wertvorstellungen der neuen Generation. Diese Erfahrungen haben zur Folge, dass nun klarer benannt wird, was die gegenseitigen Erwartungen darstellen. Und eine letzte Erkenntnis aus den Interviews zur Lohnpolitik. In verwaltungsnahen Organisationen sind Lohnreglemente kaum anzupassen. So werden in einer Organisation Erfahrungsstufen erst ab dem 25. Lebensjahr relevant, was für junge BewerberInnen unattraktiv ist. In zwei Organisationen, die in Leistungsverträge mit dem Kanton eingebunden sind, wurden Lohnerhöhungen vorgenommen, die über den vorgesehenen Betrag aus dem Lastenausgleich hinausgehen, und dazu nehmen die Trägerschaften ein finanzielles Risiko in Kauf. Noch vor ein paar Jahren wäre gemäß den Führungspersonen eine solche Maßnahme undenkbar gewesen. Eine verbreitete Strategie ist zudem, bei Bewerbungsgesprächen auf die indirekten monetären Anreize, wie kostenlose Parkplätze und Verpflegung oder großzügige Berechnung der Weiterbildungszeit als Arbeitszeit, hinzuweisen.
5 Wenn die Generation Z die Spielregeln neu definiert
5.4
79
Handlungsimpulse für die Praxis
Ausgehend von den dargestellten Forschungserkenntnissen und den Schilderungen aus der Praxis werden nun im Folgenden Handlungsimpulse für Organisationen aus dem Sozialbereich formuliert. Selbstverständlich sollen die allgemein verfassten Empfehlungen an den jeweiligen organisationalen Kontext angepasst werden.
5.4.1
Impulse für Führungspersonen im Personalgewinnungsprozess
Bereits der Prozess der Personalrekrutierung muss im Hinblick auf die geringe bis ganz schwindende Anzahl von Bewerbungen, welche die Minimalkriterien erfüllen, neu gedacht werden. Hier einige Ideen: Was wir bieten UND was wir erwarten Lassen Sie sich auf Ihre Stellenbeschreibungen von Mitarbeitenden unterschiedlicher Generationen Rückmeldung geben. Was spricht an? Was schreckt ab? Benennen Sie klar, was Sie bieten und was Sie erwarten. Hier kann hilfreich sein, Weiterentwicklungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten bereits explizit zu nennen – als Optionen in der Zukunft. Gehen Sie dabei unkonventionell vor, um die Aufmerksamkeit auf Ihre Stelle zu wecken. Wieso nicht ein kurzes Video drehen anstelle einer schriftlichen Ausschreibung? Nutzen Sie unterschiedliche Kanäle zur Verbreitung der Inserate und bedenken Sie dabei die kurze Aufmerksamkeitsspanne von potenziellen Mitarbeitenden der Generation Z. Einblicke ermöglichen! Mit Ausbildungs- und Praktikumsstellen kann konkret Werbung gemacht werden für die eigene Organisation. Wichtig ist hier, im Bewusstsein zu haben, dass Auszubildende aufgrund ihrer sehr guten Vernetzung ihre Erfahrungen in den jeweiligen Communitys weiterteilen. Junge Mitarbeitende wollen erfahren können, ob diese Werte auch gelebt werden und das Arbeitsklima wirklich so gut ist, wie in der Stellenausschreibung beschrieben. Bieten Sie Möglichkeiten, damit interessierte, potenzielle Arbeitnehmende sich einen Einblick verschaffen können in Ihre Organisation. Fahrplan war gestern – Flexibilität im Rekrutierungsprozess Bewerbungsfristen setzen ist vorbei. Reagieren Sie sofort auf eingegangene Bewerbungen. Seien Sie flexibel bei den Terminen für die Vorstellungsgespräche. Achten Sie auf die Zusammensetzung bei den Vorstellungsgesprächen. Wieso nicht junge Mitarbeitende miteinbeziehen beim Vorstellungsprozess? Die Flexibilität bezieht sich auch auf die ausgeschriebenen Stellenprozente. Nach Möglichkeit soll eine Bandbreite der Beschäftigung angegeben werden.
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5.4.2
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Impulse für Führungspersonen zur Personalentwicklung
In Bezug auf die oben dargestellten Forschungsergebnisse können folgende Maßnahmen in der Organisations- und Personalentwicklung als Impulse für die Weiterentwicklung gesehen werden. Weiterbildung neu denken! Berufliche Weiterentwicklungen ab dem ersten Arbeitstag anzubieten, rangiert auf der Attraktivitätsliste der jungen Generation ganz oben. Berufliche Weiterentwicklung bezieht sich nicht nur auf Weiterbildungen an den Ausbildungsinstituten, welche oftmals doch kostspielig sind und nur einer begrenzten Anzahl von Mitarbeitenden zur Verfügung stehen. Auch interne, kurze Weiterbildungsangebote können die Weiterentwicklung der Mitarbeitenden unterstützen. Indem beispielsweise diese neu erworbenen Kompetenzen benannt und ganz bewusst in der Organisation geteilt werden, kann diese Kompetenzerweiterung auch sichtbar gemacht werden. Ein Portfolio kann beispielsweise für den eigenen Lebenslauf genutzt werden sowie für die Reputation der Organisation, wenn diese Möglichkeit des Kompetenzerwerbs in dieser Organisation auf Plattformen wie LinkedIn gepostet wird. Lassen Sie auch Mitarbeitende untereinander ihr Wissen teilen. Eine digitale Liste mit dem ExpertInnenwissen Ihrer Mitarbeitenden kann hier sehr nützlich sein. Kurze Online-Webinare, auch organisationsübergreifend, sind eine Möglichkeit, mit wenig administrativem Aufwand niederschwellige Weiterentwicklungsmöglichkeiten anzubieten. Struktur bieten und Erwartungen klar benennen Bei ähnlichen Arbeitshaltungen und Wertvorstellungen passiert in einem Team vieles implizit. Sobald nun aber verschiedene Generationen mit unterschiedlichen Vorstellungen zusammenarbeiten, muss das für die jeweilige Gruppe Offensichtliche angesprochen werden. Klare Abmachungen und das Benennen von Erwartungen geben so Sicherheit und Orientierung – für alle. Wie verbindlich wird beispielsweise der Ferienplan verstanden? Ist dieser als eher vorläufig zu verstehen und ich kann den kurzfristigen Barcelona-Trip für nächste Woche einfach eintragen oder hat dieser tatsächlich eine verbindliche Note? Schließlich hilft das Benennen der Erwartungen auch, Konflikte zu vermeiden. Macht abgeben Führungsmodelle, die Autoritätsdifferenzierung beinhalten und Führungsaufgaben und damit auch Macht auf mehrere Mitarbeitende verteilen, bringen einen Mehrwert auf verschiedenen Ebenen mit. Dadurch entstehen Weiterentwicklungsmöglichkeiten gerade auch für junge Mitarbeitende und gleichzeitig bietet sich die Möglichkeit, auch auf der Führungsebene mehrere Perspektiven einfließen zu lassen.
5 Wenn die Generation Z die Spielregeln neu definiert
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Mitgestaltung erwünscht – Fehler machen erlaubt Mit flachen Hierarchien und der Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen – sei dies für einzelne Projekte, Fachgebiete oder Ressorts –, schaffen Sie attraktive Mitgestaltungsmöglichkeiten. Hier sind Organisationen mit einer lernenden Haltung und agilen Vorgehensweisen deutlich im Vorteil. Wichtig sind hier eine individuelle Begleitung und eine offene Fehlerkultur. Dies bedeutet, Mitarbeitende dürfen auch etwas ausprobieren, Fehler machen und daraus lernen. Die Grundlage dazu ist Vertrauen im Team und zu den Vorgesetzten. Gelebte Wertschätzung und Anerkennung Wertschätzung und Anerkennung gehören zu den wichtigsten Einflussfaktoren auf die Arbeitszufriedenheit. Jedoch ist die Wahrnehmung und Bewertung, was Wertschätzung ausmacht, höchst individuell. Ein erster Schritt, Wertschätzung zu zeigen, ist, dass Führungspersonen sowie die Mitarbeitenden sich darum bemühen, herauszufinden, was von wem als Wertschätzung erlebt wird. So kann die Idee, dass die neu eingestellte Mitarbeiterin die Erkenntnisse aus ihrer Bachelorthesis dem Team vorstellt, für die eine Person als Anerkennung und Wertschätzung ihrer Leistung angesehen werden und die andere Person kann sich dadurch enorm unter Druck gesetzt fühlen und deshalb bereits Kündigungsabsichten hegen. Feedback – unmittelbar und ehrlich Jährliche Mitarbeitendengespräche sind definitiv vorbei. Besonders die junge Generation von Sozialarbeitenden ist auf regelmäßige Feedbacks und Austauschgespräche angewiesen. Besonders in den ersten 6 Monaten sind wöchentliche bilaterale Gespräche mit der/dem MentorIn oder der vorgesetzten Person zwingend notwendig. Nach der Einarbeitungsphase ist es abhängig von der Zusammenarbeitsform, wie häufig Feedbackgespräche stattfinden. Feedbacks sollen im Idealfall zeitnah auf eine Aufgabe oder Situation erfolgen. Die Feedbacks sollen ehrlich sein und gegenseitig. So bekommen auch Vorgesetzte regelmäßig Feedbacks und der Diskurs über unterschiedliche Vorstellungen kann so gefördert werden. Gesund bleiben – Weiterbildung für Führungspersonen anbieten Die Auseinandersetzung mit der Gesunderhaltung der Mitarbeitenden muss systematisch auf der operativen und strategischen Ebene verankert sein. Seien Sie besorgt darum, dass Führungskräfte und Ausbildungsverantwortliche gezielt Weiterbildung erhalten, um gesundheitliche, insbesondere psychische Belastungen frühzeitig zu erkennen und passende Maßnahmen zu ergreifen. Fazit Es geht nur gemeinsam! Nach wie vor gehören Führungspersonen und Schlüsselpersonen im Rekrutierungsprozess in den Organisationen der Sozialen Arbeit eher den älteren
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Generationen an. Um diesen Passungsprozess zwischen der jungen Generation von Sozialarbeitenden und den Organisationen der Sozialen Arbeit noch besser kennenzulernen und abzustimmen, ist ein gemeinsames Vorgehen notwendig. Dazu benötigen wir aktuelles Wissen aus der Forschung, Erfahrungsberichte aus der Praxis sowie den gemeinsamen generationenübergreifenden Diskurs. Schließlich stellt sich die Frage, inwiefern die meisten Erwartungen der Generation Z nicht auch von allen vorangehenden Generationen geteilt werden. Ein gutes Arbeitsklima, fairer Lohn, genügend Freizeit und Möglichkeiten zur beruflichen Entwicklung fördern nun einmal die Arbeitszufriedenheit und Gesundheit der Mitarbeitenden ganz generell, egal welcher Generation sie angehören. Die Generation Z hat die Möglichkeiten und den Mut, diese Erwartungen nun auch kompromisslos einzufordern. Dies führt zu spürbaren Machtverschiebungen und verändert die Spielregeln in den Organisationen grundlegend. Im Idealfall lösen diese Machtverschiebungen Weiterentwicklungen im Bereich des Personalmanagements aus. Wenn wir die Anforderungen der BerufseinsteigerInnen als Chance für die Weiterentwicklung der Organisationen betrachten, machen wir uns auf den Weg zu einer gesünderen Arbeitswelt. Gleichzeitig bieten die Organisationen und das generationenübergreifende Zusammenarbeiten den jungen Mitarbeitenden einen wertvollen Rahmen zur persönlichen Weiterentwicklung.
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Melanie Germann seit 2021 Dozentin und Projektleiterin an der Hochschule für Soziale Arbeit Fachhochschule Nordwestschweiz. In der Weiterbildung und Lehre zu den Themen Führung, Organisationsentwicklung, Agilität und Teammanagement tätig. Langjährige Führungserfahrung in unterschiedlichen Bereichen. 2013 – 2021 Leitung der Führungs- und Managementstudiengänge an der Berner Fachhochschule, Departement Soziale Arbeit. Marte Meo Supervisorin. Gründerin des Netzwerkes FUTURAS* Frauen und Führung in der Sozialen Arbeit. [email protected]
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Gender – jenseits der Binarität Zur Gendergerechtigkeit in Gesellschaft, Organisationen und Teams Barbara Lesjak
Zusammenfassung
In vielen Organisationen hat sich in den letzten Jahren mehr oder weniger die Vorstellung etabliert, dass das „Gendern“ als Prinzip im Umgang miteinander eine Kultur der Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern begünstigen möge. Um diesem Phänomen auf die Spur zu kommen, wird die Fragestellung verfolgt, wie gerechte Geschlechterverhältnisse zustande kommen (sollen) und wie man überhaupt mit Unterschieden umgehen soll, sodass die jeweils Beteiligten aufgrund ihres Geschlechts nicht benachteiligt oder bevorzugt werden. Zunächst wird der Genderbegriff vor dem Hintergrund seines rechtlichen Referenzrahmens beschrieben – was bedeutet „Gender“ und was ist mit „Genderkompetenz“ gemeint? Im nächsten Schritt wird untersucht, welche Form der Vermittlung von Genderkompetenz in der Praxis zu welchen Wirkungen führt bzw. ob der Prozess der Wahrheitsfindung in Richtung mehr Gerechtigkeit eher normativ oder eher prozesshaft zu gestalten wäre. Am Ende wird auf das Thema noch ein kritisches Blitzlicht geworfen – welche Narrative sind hier vorherrschend und was sagen sie über den Umgang mit Unterschieden aus?
6.1
Gerechte Geschlechterverhältnisse? Keine einfache Fragestellung
Wie können gerechte Geschlechterverhältnisse hergestellt werden? Was bedeutet „gerechte Geschlechterverhältnisse“ und wie können sie auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene erreicht werden? Diese Frage verführt zu verallgemeinernden Antworten, die B. Lesjak (B) Pädagogische Hochschule Kärnten, Klagenfurt, Österreich E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 O. Geramanis et al. (Hrsg.), Organisationale Machtbeziehungen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42092-5_6
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für konkrete Herausforderungen in der Praxis oft nicht gut anwendbar sind. Das Allgemeine und das Konkrete sind jeweils in unterschiedlichen Bezugspunkten (Makro-, Meso-, Mikroebene) zu verorten – wo und durch wen soll die Frage nach Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern (m/f/d) diskutiert bzw. bewertet werden? Hier wird der Versuch unternommen, sich mit einer sozialphilosophischen Brille Zugang zu dieser Frage zu verschaffen. Die Orientierung für die folgenden Überlegungen ist klarerweise subjektiv – meine feministische Perspektive und Erfahrungen als Hochschulprofessorin und Gruppendynamikerin motivieren zur Untersuchung von Themen, die im täglichen Arbeitsleben auftauchen und nach professionellem Umgang verlangen. In diesem Beitrag geht es um den Zusammenhang zwischen Gender und Gerechtigkeit; dazu sollen Fragen aufgeworfen und diskutiert werden. Ein grundsätzlicher Überlegungsrahmen ist vor allem die Frage, wie man überhaupt mit Unterschieden umgehen soll, seien sie bezogen auf Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe, Religion, Kultur, Sprache etc. (aus diesem Problem ist die Gruppendynamik entstanden, mit einem politischen Auftrag für ein Lern- und Forschungskonzept für gesellschaftliche Lernprozesse, siehe u. a. Bradford et al., 1964, König, 2001, Krainz, 2006, Lesjak, 2009). Das Grundproblem, dass Unterschiede immer der Gefahr der Be- bzw. Abwertung unterliegen, sollte berücksichtigt werden, sowie auch die damit verbundene Konfliktanfälligkeit. Die Ursache von Konflikten sind unterschiedliche Standpunkte der jeweils beteiligten Akteure/Akteurinnen, die sich irgendwie einigen sollten mit dem Ziel, dass so etwas wie Gerechtigkeit in den sozialen Verhältnissen (die immer auch Machtverhältnisse sind) entstehen kann (Glasl, 2011, Schwarz, 2005). Daher ist das Thema Gender als solches ein konfliktträchtiges; oft wird es entweder vermieden oder zu sehr den Ansprüchen von politischer Korrektheit unterstellt, wo man immer auch zugleich einem Ideologieverdacht ausgesetzt wird – was die Untersuchung des Themas nicht einfacher macht. Die Auseinandersetzung mit Unterschieden ist jedoch unvermeidbar, so meine These, und daher ist auch dieser Konflikt zur Sprache zu bringen, zu „pflegen“ und auszuverhandeln, vor allem an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis. Auf einer allgemeinen gesellschaftlichen Ebene (Makroebene) ist diese Diskussion einerseits von vielen unterschiedlichen Standpunkten gekennzeichnet, die mit oder ohne Absicht auch ideologisch aufgeladen sind. Andererseits gibt es einen rechtlich verbindlichen Bezugsrahmen, der bestimmte Normen und Werte für gesellschaftliche Veränderungen forciert. Dahinter stehen politische Vorgaben, unterlegt mit bestimmten Wissenschaftsdisziplinen – insbesondere die Gender Studies –, die theoretische Grundlagen liefern. Dessen Impact auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse geht einher mit unterschiedlichen Reaktionen auf der Ebene von Organisationen (Mesoebene); einige nehmen es mit dem Gendern ernst, andere weniger. Auf der Mikroebene (Interaktionsebene in Teams), wo es Männer, Frauen oder diverse Personen gibt, können die Kooperationsbeziehungen von den Beteiligten mehr oder weniger selbst gestaltet werden; hier kann
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so etwas wie soziale Gerechtigkeit partizipativ aus dem Gruppenprozess heraus generiert werden. Je mehr Mitsprachemöglichkeiten, desto mehr Chancen auf Gerechtigkeit, zugespitzt formuliert. Die Analyse der jeweiligen Machtdynamik ist immer im Kontext dieser unterschiedlichen Handlungsebenen anzusetzen; die folgenden Ausführungen sollen Anhaltspunkte dafür liefern und zu kritischen Reflexionen anregen.
6.2
Gender Mainstreaming: rechtlicher und institutioneller Referenzrahmen
Genderkompetenz hat ihren Ursprung in den Anfängen der Gleichstellungspolitik, die das Ziel verfolgt, Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts zu vermeiden. Besonders ab den 1980er-Jahren sind entsprechende gesetzliche Regelungen auf nationaler und europäischer Ebene entstanden (etwa Gesetze zum Gewaltschutz; 1982 Ratifizierung der UN-Frauenrechtskonvention CEDAW „zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung“ in Österreich). Über die Weltfrauenkonferenzen ist das Konzept des Gender Mainstreaming eingeführt worden, die Europäische Union hat es 1996 für alle Bildungsprogramme übernommen und 1998 als horizontales Ziel für alle Gemeinschaftsaufgaben eingeführt. Nach und nach haben sich einzelne Staaten (z. B. Deutschland, 1999, Österreich, 2000) angeschlossen und entsprechende Gleichstellungspolitiken vorangetrieben1 , z. B. auch mit der Agenda 20302 .
6.2.1
Politischer und pädagogischer Auftrag zur Beseitigung von diskriminierenden Machtverhältnissen
Auf Grundlage dieses verfassungsmäßig verankerten Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsauftrags im Sinn des Gender Mainstreaming sind alle staatlichen Einrichtungen zu dessen Umsetzung verpflichtet (in Österreich; Ähnliches gilt im deutschsprachigen 1 Wichtig war in diesem Zusammenhang auch die Ratifizierung der Kinderrechtskonvention 1992;
demnach darf kein Kind aufgrund seines Geschlechts (oder anderer Merkmale) diskriminiert werden. Durch die Ratifizierung der sog. Istanbul-Konvention des Europarats 2013 verpflichten sich staatliche Einrichtungen, (präventive) Maßnahmen gegen alle Formen von geschlechterbezogener Gewalt durch Förderung der Gleichstellung und durch den Abbau von unterschiedlichen Rollenzuweisungen zu setzen (kulturelle Traditionen und Bräuche, die „im Namen der Ehre“ durchgeführt werden, dürfen nicht als Rechtfertigung von geschlechterbezogener Gewalt gelten). 2 Mit der Umsetzung der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung (Agenda, 2030) 2016 verpflichtete sich Österreich, an der Umsetzung der 17 Entwicklungsziele bis 2030 mitzuwirken; eines davon fordert „die Beseitigung von geschlechtsspezifischen Disparitäten in der Bildung, die Sicherstellung von Qualifikationen zur Förderung der Geschlechtergleichstellung, den Ausbau von geschlechtergerechten Bildungseinrichtungen, die Befähigung aller Mädchen und Frauen zur Selbstbestimmung und die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen.“
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B. Lesjak
Raum). Für Universitäten finden sich alle relevanten Gleichstellungsbestimmungen im Universitätsgesetz 2002, auch die Pädagogischen Hochschulen unterliegen entsprechenden Bestimmungen. In österreichischen Schulen gilt der Grundsatzerlass für das Unterrichtsprinzip „Reflexive Geschlechterpädagogik und Gleichstellung“ (2018), das dazu beitragen soll, „einen professionellen und reflektierten Umgang mit der Dimension des Geschlechts in der von heterogenen Lebenswelten der Schule zu entwickeln“ und die „Gleichstellung der Geschlechter zu fördern, insbesondere auch durch den Abbau von kulturell tradierten Geschlechterstereotypen und patriarchalen Rollenzuweisungen“.
6.2.2
Gender(kompetenz) in Bildungsinstitutionen
Im erwähnten Erlass bezieht man sich auf die Definition aus den „Empfehlungen der Hochschulkonferenz zur Verbreiterung von Genderkompetenz in hochschulischen Prozessen“ (2018) zum Aufbau einer „diversitätsorientierten Genderkompetenz“. Die dafür beauftragte Arbeitsgruppe beschreibt den Begriff Gender, basierend auf den Definitionen des UNHCR und der WHO, folgendermaßen: „Mit Gender ist das soziale Geschlecht gemeint. Dieses entsteht durch die Zuschreibung von geschlechtsspezifischen Fähigkeiten und Erwartungen an Menschen, egal welcher Geschlechtsidentität. Das soziale Geschlecht gründet folglich auf gesellschaftlichen Dynamiken und ist veränderbar und variabel innerhalb von Kulturen. Es definiert Rollen, Pflichten, Zwänge, Chancen und Privilegien.“ Beim Begriff Genderkompetenz stützt man sich auf die Definition des GenderKompetenzZentrums der Humboldt-Universität Berlin: „Genderkompetenz ist die Fähigkeit von Personen, bei ihren Aufgaben Genderaspekte zu erkennen und gleichstellungsorientiert zu bearbeiten. Genderkompetenz ist eine Voraussetzung für erfolgreiches Gender Mainstreaming. Gleichzeitig wird durch die Umsetzung von Gender Mainstreaming neue Genderkompetenz erzeugt. Genderkompetenz setzt sich aus den Elementen Wollen, Wissen und Können zusammen“3 (S. 35). Hier und auch in anderen Leitlinien wird darauf hingewiesen, dass „Genderkompetenz als Schlüsselqualifikation“ zu sehen ist. Das „Konzept der sozialen Konstruktion des Geschlechts“ wird der „naturalistischen Auffassung“ (Zuordnung von bestimmten Interessen, Fähigkeiten und gesellschaftlichen Aufgaben) entgegengesetzt. Metz-Göckel und Roloff (2002) führen aus, dass durch die begriffliche Unterscheidung zwischen Gender und Sex es „möglich geworden (ist) zu erkennen, dass sich Geschlechtsrollen je nach kulturellem Kontext unterschiedlich entwickeln, dass das (soziale) Geschlecht sozial, interaktiv, in Beziehungen unter den Menschen laufend hergestellt und immer wieder inszeniert wird und gerade deshalb auch veränderbar ist“ (S. 7). Sie unterstreichen, dass
3 In weiterer Folge werden insgesamt 36 Empfehlungen für vier Handlungsfelder formuliert – gen-
derkompetentes Management, genderkompetentes Handeln, genderkompetente Lehre, genderkompetente Forschung.
6 Gender – jenseits der Binarität
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der Begriff Gender „sowohl Frauen als auch Männer, und zwar in ihrer Relation zueinander“ umfasst. Und weiter: „Wenn Geschlechter sozial ‚gemacht‘ werden – die Theorie nennt das doing gender – wird damit ausgedrückt, dass Vorstellungen von Frauen und Männern, von männlichem und weiblichen Verhalten in sozialen Zusammenhängen entworfen und tradiert werden“ (S. 7). Demgegenüber sei in der Formulierung undoing gender „die Möglichkeit enthalten, die starren Vorstellungen von dem, was die Geschlechter ausmacht bzw. unterscheidet, zu differenzieren bzw. aufzulösen“ (S. 7; zur Definition von (un)doing gender siehe Hirschauer, 1994).
6.3
Gender(kompetenz) zwischen Theorie und Praxis
6.3.1
Was ist theoretisch korrekt, was ist politisch korrekt, was ist praktisch korrekt?
Angesichts der Entwicklungen im Zuge der Gleichstellungspolitik im deutschsprachigen Raum samt ihren institutionellen Errungenschaften vor allem im öffentlichen und im Bildungssektor (Gleichbehandlungs- und Antidiskriminierungsbeauftragte, Gleichbehandlungskommissionen, Einrichtungen für Frauenberatung, Gewaltschutz etc.) ist festzuhalten, dass sie zweifellos sehr viele positive Effekte im Sinn der Gleichbehandlung hervorgebracht haben. Zugleich ist aber evident, dass es im konkreten Zusammenleben von Frauen und Männern in Organisationen offenbar nicht immer einfach ist, mit Genderfragen „korrekt“ umzugehen. Möglicherweise sollten einige Fragen neu formuliert und fokussiert werden, vor allem auf aktuelle Entwicklungen vor dem Hintergrund einer pluralistischen, von religiöser, kultureller und sozialer Vielfalt geprägten Gesellschaft. Eine für diese Auseinandersetzung vermutlich wichtige Frage ist, wie es denn mit der eigenen Genderkompetenz aussieht. Die gendergerechte Sprechweise, eine besondere Aufmerksamkeit für Geschlechterdifferenz, insbesondere für die Mechanismen der Tradierung von alten Geschlechterrollen, kritisches Hinterfragen von autoritär gesetzten Normen – reicht das aus? Ist das angemessen? Nicht immer: Aus meiner Erfahrung kann ich feststellen, dass es hier sehr unterschiedliche Erwartungen, institutionelle Vorgaben und Kulturen gibt; mal wird etwa die gendergerechte Sprechweise verlangt (z. B. an Unis, wobei es je nach Fach und Fakultät Unterschiede gibt), mal nicht (z. B. in vielen kleinen und mittleren Unternehmen und sozialen Einrichtungen, in denen ich beratend tätig bin/ war). Auffällig ist, dass es einen deutlichen Unterschied gibt zwischen dem Wissenschaftssystem und dem Rest der Welt, salopp gesagt. Da kommen allerlei Verständigungsprobleme auf, oft ist unklar, von welchen theoretischen oder ideologischen Voraussetzungen ausgegangen wird. Woran erkennt man etwa, dass zwischen Männern und Frauen Gerechtigkeit im Sinn der Chancengleichheit hergestellt ist? Statistiken sagen, dass in einigen Branchen und Sektoren noch (viel) Aufholbedarf im Sinn der Gleichstellung besteht, in
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B. Lesjak
anderen Sektoren (z. B. öffentliche Verwaltung, Bildungssystem) wurden offensichtlich viele Ziele erreicht (Allgemeiner Einkommensbericht Österreich, 2022). Wenn dem so ist – wenn angenommen eine weitgehende formale Gleichstellung gegeben ist –, was bedeutet dann Genderkompetenz im alltäglichen Umgang miteinander? Woran erkennt man, ob jemand eine starre oder dynamische Vorstellung von Geschlechterrollen hat, und wie geht man mit der Veränderbarkeit von Geschlechterverhältnissen um?
6.3.2
Normative und performative Dimensionen
Der Begriff Gender bedeutet die „Relation von Frauen und Männern zueinander“, so der Hinweis von Metz-Göckel und Roloff. „Beide sind aufeinander bezogen und vorwiegend durch Gemeinsamkeiten, aber auch einige kulturell bedingte Unterschiede gekennzeichnet“ (Metz-Göckel & Roloff, 2002, S. 7). Dieser relationale Aspekt fokussiert alltägliche Interaktionen zwischen Männern und Frauen, die als autonome, selbstbestimmte Wesen handeln, mehr oder weniger von Vernunft geleitet (das kennt man aus eigenen Erfahrungen). Wie Frauen und Männer miteinander umgehen, wird in ihrem jeweiligen Interaktionsrahmen jeweils selbst gestaltet, d. h., dass die „Machtverhältnisse“ der Geschlechter in einem dynamischen Prozess mit vielen Diskussionen und Auseinandersetzung, selbstbestimmend geregelt und so auch verändert werden können. Jede soziale Interaktion ist mit Bildern, Vorstellungen und Narrativen zur Geschlechterdifferenz von den beteiligten Personen sozusagen eingefärbt und erzeugt eine je spezifische Kultur des Umgangs miteinander, sei es in Teams und Organisationen oder im privaten Bereich. In jedem Fall geht es um die Gestaltung von Kooperationsbeziehungen, die nicht unbeeinflusst von den Geschlechterverhältnissen zustande kommen. Gender ist in diesem Bedeutungskontext kein formales Konzept, sondern ein performatives; es geht aus von der Veränderbarkeit von (autoritär oder demokratisch) gesetzten Normen, Vorstellungen und Denkweisen. Die jeweils konkrete, sozial konstruierte Gendergerechtigkeit kann daher keiner formalen Kategorie entsprechen, sondern ist als einzigartiges Ergebnis eines Aushandlungsprozesses unter den Beteiligten zu begreifen. Gender hat hier eine relationale Funktion und ist somit als Prozessbegriff zu verstehen, der eben nicht die formale Normierung, sondern offenes, prozesshaftes Aushandeln ermöglicht. Hingegen gewinnt die normative Dimension im Genderbegriff bzw. in den Gendertheorien in ihrer Anwendung neben einer Sensibilisierung für die Problemstellung auch einen anderen (vielleicht unerwünschten) Effekt – einen formalen bis dogmatischen Charakter. Mit der normativen versus performativen Ausrichtung von Genderkonzepten werden quasi einschlägige Bedeutungskontexte entworfen; sie sind mit unterschiedlichen Motiven, Interessen und Positionen verbunden. In der normativen Sprechweise wird der „Genderdiskurs“ zu einer Art Kampfhandlung, die oft von autoritären Zügen gekennzeichnet ist – es geht um Deutungshoheit und Überzeugungskraft. Die performative
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Sprechweise folgt hingegen einer dialogischen Methode; man will andere nicht überzeugen, sondern verstehen. Der „Genderdiskurs“ wird hier als Reflexionshandlung forciert, mit dem Ziel der Selbstaufklärung und Selbststeuerung im jeweiligen sozialen Kontext. Der Unterschied zwischen einer normativen und einer performativen Sprechweise ist oft schwer erkennbar und daher ist oft auch unklar, in welche Richtung ihre Appelle gehen. Wenn Genderkompetenz etwa bedeutet, dass starre Vorstellungen von dem, was die Geschlechter ausmacht, „aufzulösen“ sind, was genau ist darunter zu verstehen? Wenn etwa die Auflösung von konstruierten Geschlechterkategorien (besonders vonseiten der Genderforschung unmissverständlich gefordert) forciert wird, was bedeutet das für die biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern, sind sie auch „aufzulösen“? Oder ist das ohnehin nur ein akademisches Problem?
6.4
Widersprüchlichkeit in Genderfragen: das Problem mit der doppelten Wahrheit
Die widersprüchlichen Dimensionen von Normativität und Performativität (m. a. W. Prozesshaftigkeit), die in Gendertheorien selbst grundgelegt sind, verstärken die vordringliche Frage in ihrer methodischen Ausrichtung: Wie soll es gemacht werden? Sollen Geschlechterverhältnisse Top-down oder Bottom-up geregelt werden? Soll dieser Frage mit autoritären Normen und theoretischen Konzepten oder mit der Idee von Aushandlungsprozessen auf Augenhöhe unter den beteiligten Personen begegnet werden? Das Grundproblem scheint darin zu liegen, dass ein theoretisches Genderkonzept zugleich einen normativen Imperativ hervorbringt, der eine umfassende gesellschaftspolitische Wirkung beansprucht. Politische Korrektheit hinsichtlich Genderfragen wird somit selbst zur Norm mit Geltungsanspruch in allen Lebensbereichen. Da eine bestimmte Norm immer auch das Allgemeine, das Gesamtgesellschaftliche zu regeln beansprucht, steht sie unweigerlich im Widerspruch zu besonderen Systemen und Wertfiguren. Und das macht das Problem zu einem Machtproblem. Denn in der Genese und Konstruktion von normierenden Kommunikationssystemen, sprich von kollektiven Wertfiguren, werden institutionelle Deutungshoheit, Durchsetzungsmacht und strukturelle Gewalt gegenüber anderen Systemen etabliert. Die Form der Wertevermittlung hat dann oft die Charakteristik einer Propaganda, die zumeist normativ, mitunter auch moralisierend bis belehrend sein kann. Wir müssen gendern! Das kann in einer wohlwollenden Lesart Aufbruch vermitteln und motivierend sein, genauso kann dieser Appell aber auch abschrecken, weil er an erlebte Erfahrungen mit demonstrativer Normativität durch herrschende Autoritäten erinnert.
92
6.4.1
B. Lesjak
Kollektive Wertfigur und normativer Imperativ
Interessant ist in diesem Zusammenhang die sozial-strukturierende Wirkung der Normsetzung von Genderkompetenz – auf der einen Seite gibt es Personen, die sich ihr besonders verpflichtet fühlen (institutionell oder nicht institutionell legitimierte NormenwächterInnen zur Einhaltung von politischer Korrektheit). Ihre mehr oder weniger fordernd formulierten Imperative erzeugen auf der anderen Seite, bei den zu Belehrenden sozusagen, oft eine Ohnmacht gegenüber der herrschenden Norm, die sich in Form von vielgestaltigen Widerstandsphänomenen niederschlägt. Solche Phänomene sind vermutlich auch eine Reaktion darauf, dass mit dem Gender-Imperativ zugleich die unausgesprochene Unterstellung, nämlich dass man genderinkompetent sei, eingeführt wird. Bei dieser mitschwingenden Voreingenommenheit geht man davon aus, dass es weitgehend an Genderkompetenz fehlt und dieser Mangel daher entsprechende Kompensation erfordert. Problematisch wird dieser Bias dort, wo angenommen werden kann, dass die Mehrheit der mitwirkenden Akteuren/Akeurinnen durchaus über Genderkompetenzen verfügt (man denke an Settings im Bereich Wissenschaft, Bildung, öffentliche Verwaltung, Zivilgesellschaft, z. B. Tagungen, Seminare, Workshops, Klausuren etc.). Hier wird wieder das Dilemma deutlich, das jeder Machtdynamik immanent ist: Die Durchsetzung von formalen Kategorien auf dynamische Prozesse – auf das komplexe Leben – führt unvermeidlich zu vielfältigen Interessenkonflikten (König, 2016). Immer wenn etwas verordnet, aufgezwungen oder verlangt wird, entsteht zugleich auch eine Art Gegenmacht, die dies infrage stellt oder Alternativen fordert. Vor allem dann, wenn es keine eigene Beteiligung an Entscheidungsprozessen in der Form der direkten Kommunikation gibt, werden hierarchische Vorgaben infrage gestellt, angezweifelt, ignoriert oder abgelehnt, allein deswegen, weil sie quasi von oben kommen. Dazu ein Beispiel: Die Landesregierung eines Bundeslandes in Österreich hat im Dezember 2022 einen „Genderleitfaden“ beschlossen, woraufhin viele Medien sehr kritisch bis empört darüber berichtet haben – „Genderwahn“ hieß es in vielen Überschriften. Aus etwas seriöseren Medien war zu entnehmen, dass der Leitfaden eine Reihe von Berufsbezeichnungen ersetzen sollte (z. B. statt Bauer/Bäuerin soll es „landwirtschaftlich Beschäftigte/r“ heißen, statt Autor/Autorin soll es „literaturschaffende Person“ heißen), was offenbar zu einer breiten Widerstandsfront bei allen Medien stieß. Keine zwei Wochen nach Beschluss dieses Genderleitfadens verkündete die Landesregierung dessen Rücknahme (möglicherweise hat auch die Tatsache eine Rolle gespielt, dass etwa drei Monate später die Landtagswahl stattfand). Das verdeutlicht dieses Dilemma – ab wann beginnt eine Norm dogmatisch zu werden?
6 Gender – jenseits der Binarität
6.4.2
93
Wessen Wahrheit gilt?
Dieses Dilemma wird in der Sozialphilosophie auch als Theorie-Praxis-Problem diskutiert (Berger & Heintel, 1998). Die gesellschaftliche Arbeitsteilung im Geiste erzeugt eine strukturelle Differenz zwischen Denken und Handeln – die einen sind mehr für die Theorie, die anderen mehr für die Praxis zuständig. Wer aber sind die Zuständigen oder anders gefragt: die zuständigen Autoritäten in Genderfragen? WissenschaftlerInnen oder PraktikerInnen? Aus dieser strukturellen Differenz entstehen sozusagen zwei Arten von „Wahrheit“, eine theoretische und eine praktische (Berger & Heintel, 1998, S. 123–134). Diese „doppelte Wahrheit“ betrifft nicht nur Genderfragen, sie hängt maßgeblich mit gesellschaftlichen Fragen des Zusammenlebens zusammen, die vor allem den Umgang mit Unterschieden (nicht nur geschlechtsbezogene, sondern auch soziale, ethnische, religiöse, sprachliche, altersbedingte etc.) betreffen: Wie kommt man individuell und kollektiv zu Vereinbarungen, zu Wahrheit, zu Konsens, zu Übereinstimmung? Und wie soll der Prozess dieser Wahrheitsfindung gesteuert, organisiert und moderiert werden? Die Methodenfrage ist eine entscheidende, denn sie kann entweder normativ oder performativ ausgerichtet sein. Wahrheitsfindung bedient sich sozusagen unterschiedlicher Formen bzw. erzeugt unterschiedliche Arten von Prozessen: Eine normative Wahrheit (herrschende Gesetze, Normen, Vorschriften, Statuten, Geschäftsordnungen etc.) wird vorausgesetzt, um Prozesse, z. B. das Zusammenleben von Menschen, zu ermöglichen. Ihre praktische Wirkung verdankt sich dem sozialen Ordnungsprinzip der Hierarchie. Schwarz (2007, S. 183–186) führt aus, dass das „Wahrheitsaxiom“ eine zweiwertige, widerspruchsvermeidende Logik (klassische aristotelische Logik) voraussetzt und zugleich erzeugt. Die Prozesswahrheit wird hingegen nicht apriorisch vorausgesetzt, sondern ist ein nachgeordnetes Phänomen; sie ergibt sich gewissermaßen aus dem Chaos des Lebens, man kann auch von performativer Wahrheit sprechen. Dieses Ordnungsprinzip operationalisiert eine dialektische Logik, die den Widerspruch nicht ausschließt, sondern integriert (Schwarz, 2007, S. 104). Wahrheit (bei Hegel, (1987, orig. 1807) heißt es „Synthese“) entsteht aus dem Konflikt von These und Antithese; zwei oder mehrere Positionen werden im Zuge ihrer Interaktion „aufgehoben“ (in der Bedeutung von aufbewahren, höherheben und auflösen), d. h., es entsteht etwas Drittes. Praktischer gesprochen: Wahrheit bzw. geltende Antworten auf Genderfragen entstehen aus unterschiedlichen Wahrnehmungen, Standpunkten, Forderungen und Interessen bzw. aus der daraus resultierenden Meinungsund Willensbildung. Wahrheit oder Übereinkunft ist also ein Ergebnis eines Aushandlungsprozesses, an dem die Betroffenen aktiv teilgenommen haben. Hier ist der Prozess die Voraussetzung, damit dann Wahrheit herauskommt. Um so etwas wie Prozesswahrheit zu erreichen, sind wichtige Voraussetzungen zu berücksichtigen; die wesentlichste ist die direkte Kommunikation, die Kommunikation unter Anwesenden (zur Gruppendynamik in Kleingruppen siehe auch Geramanis, 2020, Antons & Stützle-Hebel, 2015, Edding & Schattenhofer, 2009, Heintel, 2006a,
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Krainz, 2005, Schwarz, 2007). Die performative Wahrheit bzw. der Prozess, der zu Vereinbarungen führt, unterliegt der Begrenzung auf das soziale Format Gruppe (zu Widerspruchsfeldern und Grenzdialektik siehe Heintel, 2005). Anders ist es im Kontext Organisation – zwar finden auch hier soziale Prozesse statt (daher spricht man auch vom „Prozess des Organisierens“, Weick, 1995), aber innerhalb einer Organisationsdynamik, deren vorherrschende Kommunikationsform die indirekte Kommunikation ist (Schwarz, 2007). Da die meisten Organisationen auch noch hierarchisch organisiert sind, werden Entscheidungen quasi immer von oben nach unten in der Form der indirekten Kommunikation durchgesetzt, mal freundlich, mal weniger freundlich. Jedenfalls werden die Betroffenen zumeist nicht vorher um Zustimmung gefragt. Sollen Geschlechterverhältnisse mit autoritären Normen oder mit der Idee von Aushandlungsprozessen auf Augenhöhe unter den beteiligten Personen „geregelt“ werden? Es ist wohl beides vonnöten – einerseits braucht es Normsetzung, andererseits braucht es Verhandlung. Das Zustandekommen von Normen ist ein dialektischer Prozess im Spannungsfeld zwischen Normativität und Selbstbestimmung. „Werte und Normen können nicht mehr aus einem bestehenden Weltanschauungszusammenhang hervorgeholt oder abgeleitet werden, sie müssen jeweils aus Widersprüchen erarbeitet und verbindlich gemacht werden“ (Heintel, 2006a, b S. 200). In den konkreten Lebensrealitäten von Organisationen und Teams geht es darum, die Bedingungen für die Möglichkeit von Normund Wertsetzungen herzustellen, um gelebte Selbstbestimmung zu ermöglichen. Paradoxerweise sind für dieses Unterfangen wiederum Autoritäten nötig, allerdings nicht mit dem Auftrag, eine bestimmte Norm zu setzen, sondern mit dem Auftrag zur Prozessgestaltung für die Entwicklung von kollektiver Selbststeuerung. Autorität hat in dieser Lesart mehr den Auftrag zur Selbstauflösung als zur Selbsterhaltung.
6.5
Geschichten zur Geschlechterdifferenz oder zur Frage hinter der Frage
Der hier diskutierte Untersuchungsgegenstand ist die Frage der Gendergerechtigkeit – da geht es um das Verhältnis der Geschlechter zueinander, unter dem Aspekt, dass der Zustand der Gerechtigkeit angestrebt wird. Das hätte keine Relevanz, wenn Männer und Frauen und Personen anderen Geschlechts nichts miteinander zu tun hätten, dann würde sich dieses Problem nicht ergeben. Dem ist aber nicht so und daher kommen wir der Frage nach der Regelung der Geschlechterdifferenzen nicht aus. Dass dieses Unterfangen oft mühsam ist, weil es Konflikte mit sich bringt, ist selbstredend, sollte aber trotzdem noch mal erwähnt werden. Letztendlich geht es darum, dass die Beziehungen zwischen Männern und Frauen bzw. zwischen diversen Geschlechtern so gestaltet werden, dass alle Beteiligten der Meinung sind, gerecht behandelt zu werden. Das verweist auf die grundsätzliche Beziehungsqualität, die vor allem in Zweierbeziehungen und als Interaktionen in Gruppen erlebt wird.
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Der Fokus auf die Beziehungsqualität rückt hier noch einen anderen Aspekt im Verhältnis der Geschlechter in den Vordergrund; er hängt zusammen mit der Frage nach dem Ursprung des Begehrens, der Anziehung (und Abstoßung), der Leidenschaft, der Sehnsucht, einige sprechen gar von Liebe. Woher kommt das alles und wie ist die Anziehungskraft der Geschlechter zu erklären? Wie kommt es zu individuellen und kollektiven Norm- und Wertvorstellungen und warum werden bestimmte Bilder bzw. Narrative heute favorisiert und andere weniger? Die Art und Weise, wie eine Gesellschaft mit Unterschieden umgeht, spiegelt sich in kollektiven Erzählungen, Mythen oder Narrativen wider; sie veranschaulichen die etablierten Wertfiguren bzw. untermauern deren Geltungskraft. Wenn man danach fragt, was sozusagen hinter den oben diskutierten Fragen steckt, so kommt man unvermeidlich mit aktuellen Vorstellungen über Geschlechterdifferenzen in Kontakt: Was sagen sie uns zum Thema Gender als soziale Ausformung des Geschlechts? Was ist die gerade aktuelle soziale Konstruktion von Gender? Welche Narrative werden erzählt und was sagen sie über den Umgang mit Widersprüchen bzw. Unterschieden aus? Wiewohl dies hier aus Platzgründen nicht umfassend bearbeitet werden kann, sollte dennoch der Blick auf den sozialkonstruktiven Charakter und die kulturbildende Wirkung von kollektiven Geschichten gerichtet werden. Für dieses Vorhaben möchte ich zwei Mythen gegenüberstellen und diskutieren. Zuerst wird das Narrativ der binären Codierung – die moderne Fassung von Geschlechtskonstruktion – unter die Lupe genommen. Dem wird der Mythos des Kugelmenschen – eine Geschichte aus der griechischen Antike – gegenübergestellt, um zu sehen, welche Unterschiede hieraus hervorkommen und welche Aussagekraft sie über die Vorstellungen und Bilder von Geschlechterdifferenzen enthalten.
6.5.1
Binäre Codierung
Der Mythos der binären Codierung der Geschlechter scheint heute allgegenwärtig zu sein, sowohl in diversen Medien wie auch in der Wissenschaft. Wenn man zu diesem Thema recherchiert (einschlägige Infoseiten von Gender Studies und queer-Netzwerken), so findet man z. B. in einem Queer Lexikon (2023) folgende Erklärung: „Das binäre (westliche) Geschlechtersystem geht davon aus, dass es nur zwei Geschlechter, nämlich männlich und weiblich, gibt. Es lässt keine anderen Geschlechter oder Zwischenstufen zu.“ Dieses Geschlechtersystem begründet die „Heteronormativität als dominante soziale Norm, die als Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern und Sexualitäten konstruiert wird“, heißt es auf der Homepage des Büros zur Umsetzung von Gleichbehandlung in Berlin (BUG, 2023). Häufig ist die Erklärung zu finden, dass bei der Geburt das Geschlecht zugewiesen und man daher auf eine heterosexuelle Binarität festgelegt werde. Es gäbe aber viele Menschen, die sich als „genderqueer“ oder „nichtbinär“ verstehen, sich also nicht als Frau oder Mann einordnen möchten – in diesem Zusammenhang wird auf Studien und wissenschaftliche Expertise verwiesen. Recherchen zu neuen Geschlechtskategorien ergeben bis
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B. Lesjak
zu 72 Geschlechter, wobei nicht gesagt werden kann, inwieweit dies wissenschaftlich fundiert ist.
6.5.2
Kugelmenschen
Der Mythos der Kugelmenschen wird in Platons Symposion (2013; original 416 v. Chr.) von Aristophanes erzählt, der im Zuge einer Diskussion zur Huldigung des Liebesgottes Eros dafür argumentiert, dass Eros der wichtigste unter den Göttern sei. Er sinniert über die ursprüngliche Verfassung des Menschengeschlechts und erklärt, dass wir einst anders waren: „Denn erstlich gab es drei Geschlechter von Menschen, nicht wie jetzt nur zwei männliches und weibliches, sondern es gab noch ein drittes dazu …“ (Platon, 2013, S. 38). „Mannweiblich“, heißt es, „Gestalt und Benennung aus dem männlichen und dem weiblichen zusammengesetzt“, das waren die Kugelmenschen. Sie waren dreigeschlechtlich (entweder männlich/männlich, männlich/weiblich oder weiblich/weiblich), in der Gestalt kugelrund, jeder hatte jeweils „zwei Angesichter auf einem kreisrunden Hals“, vier Arme und vier Beine und auch „zweifache Schamteile“. Diese Wesen konnten nicht nur aufrecht gehen, sondern sich radschlagend fortbewegen, und sie verfügten darüber hinaus über Kraft und Stärke. In ihrem Übermut wollten sie sich einen „Zugang zum Himmel bahnen, um die Götter anzugreifen“ (ebd., S. 38), woraufhin Zeus sie für diese Hybris bestrafte – er schnitt sie in zwei Hälften, und zwar so, dass ihre Geschlechter sich nicht berühren konnten. Eine geschlechtliche Vereinigung war fortan aber unmöglich und so kam es, dass diese geteilten Wesen auszusterben drohten. Aber das wollte Zeus dann auch wieder nicht und verlegte ihre Schamteile nach vorne, sodass sie einander wieder umarmen und Nachkommenschaft erzeugen konnten, zumindest einige davon. „Also sucht nun immer jedes sein anderes Stück“ (S. 41), wobei es unterschiedliche Orientierungen gibt, je nachdem, ob der ursprüngliche Kugelmensch zweigeschlechtlich (Frau/Mann) oder homogeschlechtlich (Mann/Mann oder Frau/Frau) war. Im Fall der Heterosexualität könne man sich aber nie sicher sein, ob die andere Hälfte tatsächlich dem ursprünglich getrennten Teil entspricht, daher seien diese Verbindungen „ehebrecherisch“ und unzuverlässig. Hingegen sei die homosexuelle Verbindung jene, die „Mut und Kühnheit“ hervorbringt (Aristophanes redet hier allerdings vorwiegend von der männlichen Homophilie). Aus dieser ursprünglichen Getrenntheit entstehen das Begehren und die Liebe, denn jeder Teil beabsichtigt „durch Nahsein und Verschmelzung mit dem Geliebten aus Zweien Einer zu werden“ (ebd., S. 42).
6.5.3
Kritische Reflexion zu normativen Bildern
Die Narrative, die in diesen Geschichten enthalten sind, sind offenkundig von gänzlich unterschiedlicher Art. Zunächst fällt auf, dass in der modernen Fassung über den
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97
Ursprung der Geschlechter behauptet wird, dass das westliche Geschlechtersystem nur zwei Geschlechter kennt. Das verwundert, weil man ebenso davon ausgehen könnte, dass es immer schon mindestens drei Geschlechter gab, zumindest in biologischer Hinsicht (früher: „Hermaphroditismus“, „Zwittrigkeit“, „Zweigeschlechtlichkeit“, medizinisch: Intersexualität). Die europäische Kulturgeschichte kennt also keineswegs nur die binäre Ordnung der Geschlechter und daher ist zu hinterfragen, warum heute der Mythos der binären Codierung erzählt bzw. auch geglaubt wird. Wieso hat die Idee von einer zweiwertigen Geschlechtlichkeit eine offenbar universelle Geltung und verdrängt eine bedeutende Denkfigur aus der griechischen Antike, die sehr wohl die Denkmöglichkeit von Dreiwertigkeit eröffnet? Bemerkenswert ist auch, dass in diesen Geschichten von unterschiedlichen Prämissen ausgegangen wird und daher andere Schlussfolgerungen abgeleitet werden. Beim Kugelmenschen wird sowohl die Dreigeschlechtlichkeit vorausgesetzt wie auch die Homo- und Heterosexualität als gleichberechtigte Formen des Begehrens und der sexuellen Orientierung. Hingegen ist im modernen Narrativ die Binarität die zentrale Prämisse, von der aus eine allgemein geltende Dualität der Geschlechter konstruiert wird, die dann wiederum mit einem heteronormativen Herrschaftsverhältnis gleichgesetzt werden (und daher seien sie zu de-konstruieren). Hier wird das Geschlechterverhältnis primär als Herrschaftsverhältnis gerahmt, wohingegen der Kugelmensch-Mythos ein ursprüngliches Begehren voraussetzt, das vom Prinzip her nicht auf Zwang, sondern auf Freiwilligkeit beruht. Hier wird das Geschlechterverhältnis nicht als Machtverhältnis, sondern als Liebesverhältnis beschrieben. Nach dem Motto „Sprache schafft Wirklichkeit“ ist gleichsam zu hinterfragen, woher die Idee von Binarität kommt. Was ist ein binärer Code überhaupt? Die Herkunft dieses Begriffs ist vor allem in der Computerwissenschaft, speziell in der Informationstechnik zu finden. Ein binärer Code ist eine Zahlenreihe bestehend aus Nullen und Einsern, damit werden Informationen durch Sequenzen von zwei verschiedenen Polen dargestellt. Man benötigt sie, um Computer zu programmieren (im technischen Sprachgebrauch werden hierfür auch die Synonyme „Maschinenprogramm“ oder „Maschinensprache“ verwendet). Dieser technische Sprachgebrauch – die Maschinensprache – prägt eine bestimmte „Denkungsart“, um mit Immanuel Kant (1977) zu sprechen, und scheint nicht nur in der Alltagssprache, sondern auch in Kultur- und Sozialwissenschaften zu dominieren. Man entwirft vorwiegend Theorien zur Gesellschaft, die einer zweiwertigen Logik folgen (Nassehi, 2019). In unserer Gesellschaft etablierte sich in den letzten Jahrzehnten eine umfassende „binäre Codierung der Kommunikation“, so lautet ein soziologischer Befund. „Die wichtigsten Funktionssysteme strukturieren ihre Kommunikation durch einen binären, zweiwertigen Code, der unter dem Gesichtspunkt der jeweils spezifischen Funktion universelle Geltung beansprucht und dritte Möglichkeiten ausschließt. Das Wissenschaftssystem arbeitet mit dem Code der zweiwertigen Logik“ (Luhmann, 2004, S. 75–76).
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Wir erleben quasi eine „Digitalisierung der Gesellschaft“, d. h., dass das zweiwertige Denken als kollektives Muster vorherrscht und laut Nassehi (2019) schon lange vor der technischen Digitalisierung in unserer Gesellschaft war. Das Problem steckt in der Komplexität der Gesellschaft, und die Lösung besteht darin, die Komplexität durch eine technisch binarisierte Repräsentation handhabbar zu machen. Problematisch wird dieses Muster allerdings, wenn es darum geht, lebende komplexe Systeme zu erfassen und zu begreifen. Da binäre Denksysteme immer als „Reduktionsperspektiven“ (Nassehi, 2019) auf die Weltkomplexität fungieren, vernachlässigen sie wichtige Faktoren im Sinne der Ganzheit und reduzieren soziale Phänomene auf einfache Theorien und Modelle. Soziales Leben wird in seiner Ganzheit, in seiner Sinnlichkeit in eine digitale Form gebracht und damit aber auch verzerrt und entstellt. Die Diskussion der beiden Narrative soll deutlich machen, dass sie Unterschiedliches über das Verhältnis der Geschlechter zueinander erzählen und damit bestimmte Bilder über den Umgang mit Unterschieden manifestieren. Im Kugelmensch-Mythos verursacht ein ursprünglicher Verlust von Ganzheit die homo- und heterosexuelle Anziehungskraft, von der alle menschlichen Wesen getrieben werden – sie wollen die ursprüngliche Ganzheit wiederherstellen. Die Botschaft im Mythos der binären Codierung der Geschlechter lautet anders: Die Menschen werden bei ihrer Geburt binär codiert. Das bedeutet, dass sie von vornherein passiv einer außenstehenden (unbekannten?) Instanz ausgesetzt sind, von der sie eben programmiert werden. Als Nullen und Einser stehen sie beziehungslos nebeneinander, denn sie haben lediglich eine formale Funktion für die Konstruktion einer zweiwertigen Programmatik. Das scheint die Vorstellung nahezulegen, dass Menschlichkeit (und Geschlechtlichkeit ist ein wesentlicher Aspekt davon) wie ein Computerprogramm geschrieben werden könnte. Ist die Gleichsetzung von Mensch und Maschine gewollt und wenn ja, wer hat was davon? So eine Frage stellt sich angesichts der heute vollzogenen, konsequenten Digitalisierung von Geschlechtlichkeit, die dem Ziel der binären Codierung der Kommunikation konsequent Folge leistet und die Problematik in Kauf nimmt, dass diese Art des Denkens zweiwertig, technisch-rational und hierarchisch ist. Folglich wären nicht bestehende Geschlechterdifferenzen aufzulösen, sondern die Konzeption des geschlechtsbezogenen Binarismus, um andere Prämissen für eine nichtbinäre Denkungsart zu schaffen.
6.6
Schlussbemerkungen und Fazit
Die Frage nach einem angemessenen Umgang mit Unterschieden zur Herstellung von gerechten Verhältnissen, insbesondere mit Geschlechterunterschieden, war der Ausgangspunkt meiner Überlegungen. Und ferner, ob Geschlechterverhältnisse Top-down oder Bottom-up geregelt werden sollen; soll dieser Frage mit autoritären Normen oder mit der Idee von Aushandlungsprozessen auf Augenhöhe unter den beteiligten Personen
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begegnet werden? Wiewohl beides eine Berechtigung hat, möchte ich Letzteres unterstreichen. Ich gebe zu bedenken, dass normative Konzepte und Bilder als richtungsweisende Interventionen in gesellschaftliche Veränderungsprozesse einwirken. Wenn dies aber überhandnimmt, dann kann das zu neuen, vielleicht ungewollten Konflikten und daraus resultierenden Machtverhältnissen führen (die dann mehr homonormativ als heteronormativ konstituiert werden) und das wäre möglicherweise kontraproduktiv für die Intention der Gleichbehandlung. Die Durchsetzung von theoretischen Konzepten auf dynamische Prozesse – auf das komplexe Leben – erfordert immer kritische Reflexionen, vor allem wenn eine Deutungshoheit der Wissenschaft für die Gestaltung der Praxis beansprucht wird. So wurde zum Thema Sprache deutlich gemacht, dass die Übertragbarkeit vom funktionsspezifischen Binarismus – von einer Maschinensprache – auf soziale Interaktionsprozesse äußerst problematisch ist, weil hier mitunter sonderbare Bilder zu Geschlechtlichkeit erzeugt werden (Mensch als Maschine, Geschlechtlichkeit als codiertes Programm). In sozialphilosophischer Betrachtung ist festzuhalten, dass solche Begriffe aus der Computerwissenschaft für die Beschreibung von sozialen Phänomenen, insbesondere für den Gestaltungsprozess von Geschlechterverhältnissen, vollkommen ungeeignet erscheinen, denn sie suggerieren, dass das Leben ein Prozess ist, der einer zweiwertigen Logik folgt. Am Ende bleibt festzuhalten, dass der Umgang mit Unterschieden etwas ist, wo wir auf unterschiedlichen Handlungsebenen (makro, meso, mikro) offenbar noch Lernbedarf haben. Vor allem das Zusammenspiel von normativen und prozesshaften Meinungsbildungsprozessen sollte in einen konstruktiven Ausgleich gebracht werden, sodass man von einem ideologischen Richtungsstreit zu echten Aushandlungsprozessen in konkreten Lebensrealitäten in Organisationen und Teams kommt. In allen sozialen Systemen ist es von essenzieller Bedeutung, Unterschiede welcher Art auch immer als Ressourcen zu nutzen und nicht der Gefahr zu unterliegen, in den damit einhergehenden Konflikten stecken zu bleiben. Unterschiede können negiert und ausgeschlossen oder anerkannt und integriert werden. Letzteres ist eine Leistung von Gruppen, wohingegen Organisationen eher dazu neigen, Unterschiede hierarchisch zu regeln (durch Unterordnung oder Ausschluss) (Heintel, 2005, Schwarz, 2007). Aufgrund ihrer strukturellen Voraussetzungen sind innerhalb der Gruppendynamik andere Aushandlungsprozesse möglich als im Rahmen der Organisationsdynamik (gruppendynamische Lernsettings richten den Fokus auf den Kompetenzerwerb im Umgang mit Unterschieden, siehe z. B. Geramanis, 2020, Lesjak, 2014, Spindler & Wagenheim, 2013, Lackner, 2006, Krainz, 2005a, Krainz, 2005b). Je nachdem, wie Aushandlungsprozesse strukturiert und gestaltet werden, können unterschiedliche Arten von Gerechtigkeit erzeugt werden (siehe dazu „normative Ethik“ versus „Prozessethik“, Heintel, 2006). Das ist insofern von Relevanz, weil die Form ihrer sozialstrukturellen Verankerung die Bedingung der Möglichkeit für gerechte Verhältnisse schafft – oder eben auch nicht. Die Gestaltung der Bedingungen, unter denen wir leben und arbeiten, ist eine immerwährende Herausforderung und heute geht es mehr denn je
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darum, als Gesellschaft zu lernen, Unterschiede zu besprechen, zu reflektieren und das Risiko des Konflikts auf sich zu nehmen.
Literatur Agenda 2030. (2016). https://www.bundeskanzleramt.gv.at/themen/nachhaltige-entwicklung-age nda-2030.html. Zugegriffen: 20. Febr. 2023. Allgemeiner Einkommensbericht Österreich. (2022). Statistik Austria. https://www.statistik.at/ser vices/tools/services/publikationen/detail/1442. Zugegriffen: 20. Febr. 2023. Antons, K., & Stützle-Hebel, M. (2015). Feldkräfte im Hier und Jetzt. Antworten von Lewins Feldtheorie auf aktuelle Fragestellungen in Führung, Beratung und Therapie. Carl-Auer Verlag. Berger, W., & Heintel, P. (1998). Die Organisation der Philosophen. Suhrkamp Verlag. Bradford, L., Gibb, J., & Benne, K. (1964). (Hrsg). T-Group theory and laboratory method. Innovation in re-education. John Wiley. Büro zur Umsetzung von Gleichbehandlung e. V. (BUG Berlin). https://www.bug-ev.org/. Zugegriffen: 21. Febr. 2023. Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination Against Women CEDAW. (1982). https://www.bundeskanzleramt.gv.at/agenda/frauen-und-gleichstellung/internationale-frauenrec hte-und-gleichstellung/konvention-zur-beseitigung-jeder-form-der-diskriminierung-der-frauen. html#:~:Text=%C3%96sterreich%20und%20CEDAW,Umsetzung%20der%20Konvention% 20zu%20berichten. Zugegriffen: 20. Febr. 2023. Edding, C., & Schattenhofer, K. (2009). (Hrsg.). Handbuch Alles über Gruppen. Beltz Verlag. Empfehlungen der Hochschulkonferenz zur Verbreiterung von Genderkompetenz in hochschulischen Prozessen. (2018). https://www.bmbwf.gv.at/Themen/HS-Uni/Gleichstellung-und-Div ersit%C3%A4t/Aktuelles/Empfehlungen-der-Hochschulkonferenz-zur-Verbreiterung-von-Gen derkompetenz-in-hochschulischen-Prozessen.html. Zugegriffen: 20. Febr. 2023. Geramanis, O. (2020). mini-handbuch Gruppendynamik. Beltz Verlag. Glasl, F. (2011). Konfliktmanagement. Ein Handbuch für Führungskräfte, Beraterinnen und Berater (10. Aufl.). Haupt Verlag. Grundsatzerlass „Reflexive Geschlechterpädagogik und Gleichstellung“. (2018). https://rundschre iben.bmbwf.gv.at/rundschreiben/?id=793. Zugegriffen: 20. Febr. 2023. Hegel, G. W. F. (1987). Phänomenologie des Geistes. Reclam. Heintel, P. (2005). Widerspruchsfelder, Systemlogiken und Grenzdialektiken. In G. Falk (Hrsg.), Handbuch Mediation und Konfliktmanagement (S. 15–35). VS Verlag. Heintel, P. (2006a). Das „Klagenfurter prozessethische Beratungsmodell“. In P. Heintel (Hrsg.), Beratung und Ethik (S. 196–243). Leutner Verlag. Heintel, P. (2006b) (Hrsg.). betrifft: TEAM. Dynamische Prozesse in Gruppen. Verlag für Sozialwissenschaften. Hirschauer, S. (1994). Die soziale Fortpflanzung der Zweigeschlechtlichkeit. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 46, 686–692. Kant, I. (1977). Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. Suhrkamp. König, O. (2016). Macht in Gruppen. Gruppendynamische Prozesse und Interventionen. Klett-Cotta. König, O. (2001). (Hrsg.). Gruppendynamik. Geschichte, Theorien, Methoden, Anwendungen, Ausbildung. Profil Verlag. Krainz, E. (2005a). Zur Morphologie der sozialen Welt. In G. Falk, P. Heintel, & E. Krainz (Hrsg.), Handbuch Mediation und Konfliktmanagement (S. 35–56). VS Verlag.
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Dr. Barbara Lesjak Professorin für Schulentwicklung und Führung (PH Kärnten) seit 2022; freiberufliche Trainerin, Beraterin, Lektorin an Universitäten. Arbeitsschwerpunkte in Training und Beratung: Teamentwicklung, Leadership-Training, partizipative Führung, Konfliktmanagement, Organisationsentwicklung, Coaching, Supervision, Mediation. Aus- und Weiterbildungen: Studium Philosophie und Gruppendynamik an der Universität Klagenfurt, Ausbildung in Training und Beratung (Österreichische Gesellschaft für Gruppendynamik und Organisationsberatung (ÖGGO), seit 2007 Lehrtrainerin); seit 2020 eingetragene Mediatorin nach § 8 Zivilrechts-Mediations-Gesetz. [email protected] I www.barbaralesjak.at
Teil II Führung zwischen Zustimmung und Zwang
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Agilität.Macht.Containment Heidi Möller und Thomas Giernalczyk
Zusammenfassung
Agilität gilt als modernes Organisationsprinzip. Im Kern hat es den Anspruch, Unternehmen in komplexen und sich schnell ändernden Märkten adaptiv zu steuern, sodass sie sich auch in der BANI-Welt (zu Deutsch: brüchig, ängstlich, nicht linear, unverständlich) erfolgreich entwickeln können. Ängste, Spannungen und negative Emotionen, die aus dieser brüchigen, nicht linearen und schwer verständlichen Umwelt entstehen, müssen in den Organisationen bearbeitet und bewältigt werden. Aus psychodynamischer Perspektive spielt dafür die Etablierung von personalem und strukturellem Containment in Organisationen eine zentrale Rolle. Im Anschluss an die Beschreibung des Konzepts ordnen wir es in den Machtdiskurs ein. Wir zeigen zum Schluss auf, wie Führungskräfte durch Selbstreflexion Ambiguitätstoleranz und Containment erlernen können, um in der BANI-Welt erfolgreich arbeiten zu können.
H. Möller (B) Universität Kassel, Kassel, Deutschland E-Mail: [email protected] T. Giernalczyk M19-Manufaktur, München, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 O. Geramanis et al. (Hrsg.), Organisationale Machtbeziehungen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42092-5_7
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106
H. Möller und T. Giernalczyk
7.1
Containment: Halt geben für die Entwicklung von Neuem
7.1.1
Personales Containment
Das Konzept „Containment“ geht auf Bion (1990) zurück. Es beschreibt, wie emotionales Lernen in der Interaktion stattfindet. Ursprünglich wurden damit vor allem frühe MutterKind-Beziehungen und Beziehungen innerhalb von Therapie gefasst. Inzwischen wird Containment auch für Beratung und Führung verwendet. Containment ist ein Kommunikationsmodell, das den Austausch von Sender und Empfänger darstellt und besonderes Augenmerk auf die Verarbeitungsprozesse im Empfänger legt. Sehr allgemein lässt sich der Prozess folgendermaßen beschreiben: Ein Behältnis (Container) nimmt ein „Etwas“ (Contained) in sich auf, wodurch sich beide Beteiligten verändern und etwas Drittes entsteht. Ein Sender sendet neben bewussten Inhalten auch unbewusstes Material. Obwohl es ihn beschäftigt, versteht er es selbst nicht bzw. kann es selbst nicht benennen. Der Empfänger, der eine Containingfunktion ausübt, versucht nicht nur, bewusste Inhalte, sondern auch das unbewusste Material (to be contained) durch emotionales Nachdenken zu verstehen. Um dies zu bewerkstelligen, braucht er „negative Kapazität“, das bedeutet, er muss inneren Raum für die Erzählung des Gegenübers zur Verfügung stellen und darauf achten, wie das Gesagte auf ihn wirkt, welche Gefühle, Gedanken und Erinnerungen es bei ihm auslöst (Genaueres s. 3.2). Bion spricht vom Prozess der Reverie, des Tagträumens, durch das Containment begünstigt wird. Wenn der Empfänger ein Muster oder Bild zur Erzählung des Senders entwickelt, meldet er dies an den Sender zurück, der auf diese Weise ebenfalls zu neuen Gedanken und zu einer veränderten Emotionalität findet. War das Konzept ursprünglich vor allem auf die persönliche Entwicklung bezogen, so wird es inzwischen auch auf den Arbeitskontext angewendet. Dort wird erfolgreiches Containment für die Verarbeitung von Spannungen und für die Entwicklung neuer Ideen und Kreativität genutzt.
7.1.2
Struktur-Containment
Organisational können Strukturen daraufhin untersucht werden, ob sie in der Lage sind, Emotionen zu containern und damit ausreichend Sicherheit zu geben, um die Aufgaben zu erledigen und ihre Weiterentwicklung zu fördern. Klare Aufgaben und Rollen, Zuständigkeiten und geregelte Prozesse sind ebenso wie die Schaffung von Reflexionsräumen Elemente von strukturellem Containment und sorgen dafür, dass unbewusste und erlebte Angst reguliert wird. Umgekehrt führt fehlendes strukturelles Containment zu Unsicherheit, durch die gemeinsame, psychosoziale Abwehr (Möller et al., 2022) gefördert wird und die Gefahr steigt, dass Teams „off-task“ arbeiten und ihre eigentliche Aufgabe nicht erfüllen. In agilen Kontexten wird das Containment durch definierte Prozesse gefördert. In traditionellen Kontexten erfolgt Containment mehr durch Führungskräfte, die damit ihre
7 Agilität.Macht.Containment
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Positionsmacht festigen. Struktur-Containment besteht somit aus zwei Ebenen, die erst in ihrer Kombination sicherheitsgebende und verändernde Wirkungen erzeugen: funktionale Strukturen und die institutionalisierten Reflexionsräume, in denen unterschiedliche Perspektiven, Bedürfnisse und Wünsche formuliert und anerkannt (nicht unbedingt befriedigt) werden. Nur durch die Etablierung beider Ebenen kann wirksames Containment entstehen. Ein Reflexionsraum inmitten chaotischer Strukturen bewirkt nichts, ebenso wenig wie gute, klare Strukturen und Rollen ohne regelmäßige Reflexion. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Settings zu schaffen, in denen „emotionales Denken“ regelmäßig erfolgen kann.
7.2
Containment und Machtbeziehungen im agilen Arbeitskontext
Nachdem wir die Funktion von personalem und strukturellem Containment als haltgebend und innovationsfördernd in agilen Organisationen beschrieben haben, nehmen wir nun einen Exkurs zu ausgewählten Aspekten der Machttheorie von Foucault (2005) vor. Wir beginnen mit einer allgemeinen Einführung und beschreiben anschließend, wie Containment auch als Machtbeziehung verstanden werden kann. Führung etabliert Machtbeziehungen. Machtbeziehungen überbrücken organisationale Unsicherheiten und nehmen Einfluss auf die Arbeitsformen und die Weiterentwicklung der Organisation. Sie ermöglichen, dass gemeinsam etwas gemacht wird, und verhindern auf der anderen Seite als dysfunktional definierte Interaktionen. Um Machtbeziehungen im agilen Arbeitskontext zu analysieren, knüpfen wir an die Machtdefinition von Foucault an: „[D]ie Macht ist keine Substanz. Sie ist auch keine geheimnisvolle Eigenschaft, nach deren Ursprüngen man forschen müsste. Die Macht ist nichts anderes als eine bestimmte Art von Beziehungen zwischen Individuen … Das unterscheidende Merkmal der Macht besteht darin, dass bestimmte Menschen mehr oder weniger das Verhalten anderer Menschen völlig bestimmen können – jedoch nie erschöpfend oder zwingend“ (Foucault, 2005, 218). Für das Verständnis von Macht in Organisationen ist es zielführend, zwischen verschiedenen Formen von Macht zu unterscheiden und sich im nächsten Schritt ihre spezifische Verflechtung anzuschauen. Foucault hat in seinen umfangreichen Arbeiten unterschiedliche gesellschaftliche und institutionelle Machttypen beschrieben. Für die Charakterisierung der Machtverhältnisse in agilen Organisationen greifen wir zwei Machtbegriffe heraus. Der erste Begriff ist die Hirtenmacht, sie wird von Foucault mit der Entwicklung des Pastorats und Pastoralmacht der katholischen Kirche in Verbindung gebracht. Als zweiten Begriff beziehen wir uns auf die Ordnungsmacht, die bei Foucault die staatliche Seite der Machtausübung beschreibt
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und die von ihm auch als Ordnungsmacht charakterisiert wird. Bevor wir diese Begriffe auf agile Organisationen anwenden, nehmen wir eine kurze Begriffsklärung vor.
7.2.1
Hirtenmacht
Der Begriff Hirtenmacht wird bereits in der Antike diskutiert und spielt für die Etablierung kirchlicher Machtstrukturen durch die Bildung von Pastoraten seit dem Mittelalter eine zentrale Rolle (ebenda, S. 200). Wir fassen die Prinzipien im Folgenden zusammen, weil sie auch für persönliche Führung sowohl in traditionellen als auch in agilen Organisationen zur Anwendung gebracht werden. Wir führen die zentralen Aspekte des Konzeptes aus und beziehen sie auf moderne Organisationskontexte. • Der Hirte kennt die Herde und den Zustand jedes Mitglieds, er kennt die Handlungen, den inneren Zustand des Individuums und wendet dafür die Gewissensleitung und die Gewissensprüfung an. In der traditionellen Führung setzt die Führungskraft in Mitarbeitergesprächen Ziele und kontrolliert deren Erreichung, in der agilen Führung wird diese Kontrolldimension reduziert und die Einladung zur Selbststeuerung (in vorgegebenen Grenzen) stärker betont. • Die Hirtin übernimmt Verantwortung für jedes Individuum. • Der Hirte rettet bei Gefahr individuell, er übt ein individualisiertes Wohlwollen aus. • Die Beziehung zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft und Hirtin ist eine individuelle Unterordnungsbeziehung. Diese Punkte betonen die individuelle Bindung zwischen Mitarbeitenden und Führenden. Über die kommunikative Einbindung und über offerierte Hilfe werden Nähe und Unterordnung geschaffen – sowie die Identifikation mit der Führenden gefördert. Somit wird eine wesentliche Voraussetzung für Followership hergestellt. Der Aspekt der Zuwendung im Zusammenhang mit Empowerment-Anforderungen, in der die Weiterentwicklung des Mitarbeitenden gefördert wird, spielt bei agilen Organisationen als Anforderung eine weitaus größere Rolle als in traditionellen Organisationen. • Die Hirtin sammelt versprengte Individuen ein, sie (die Hirtin) wendet sich den Einzelnen zu. Gerade in agilen Organisationen hat die Führungskraft das gesamte Team und seine Gruppendynamik im Blick, Mitarbeitende, die zu sehr an den Rand des Geschehens gedrängt werden, werden durch Interventionen wieder stärker integriert.
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• Der Hirte müht sich und er wacht. In der Organisation geht es um die Frage, wie engagiert eine Führungskraft ist und was sie in die Beziehungen hineingibt. Sie ist damit ein Rollenmodell, das über den Anspruch der Reziprozität dazu einlädt, ebenfalls Engagement zu entwickeln. • Hirtenmacht bezieht sich auf Individuen, nicht auf Territorien. Die Betrachtung, was Hirtenmacht nicht ist, dient der Grenzziehung und wird bei der Ordnungsmacht erneut aufgegriffen. Psychodynamisch betrachtet reaktivieren diese Hirtenbeziehungen in Organisationen im Rahmen der angebotenen und verpflichteten Beziehung Elternübertragungen, in denen sich das Individuum je nach Disposition fügt, sich fürchtet, sich auflehnt oder sich für die Zuwendung einen besonderen Platz in der Geschwisterreihe erobert. Generell fördert die Unterordnung unter den Hirten eine Form von Regression, bei der weniger selbstständig und selbststeuernd gedacht und agiert wird, als dies in anderen Situationen möglich ist. Agile Führung, bei der die Führungsrolle geteilt wird, können Elternübertragungen hinter Geschwisterübertragungen zurücktreten. Dies hängt damit zusammen, „dass einer von uns“ partiell Führung übernimmt und damit auf Augenhöhe agiert. Andererseits gewinnen die Peers in definierten Aspekten mehr Einfluss. Nicht nur die Geschwisterübertragung erfordert, dass Aushandlungsprozesse zu partieller Führung und Gefolgschaft regelhaft geführt werden müssen.
7.2.2
Ordnungsmacht
Das zweite Machtprinzip, auf das wir uns beziehen wollen, ist die Ordnungsmacht, die sich aus der Staatsmacht ableitet (Foucault, 2005). Sie arbeitet mit Gesetzen und Regeln, die nicht individuell, sondern allgemein sind. Ohne Ansehen der individuellen Lagen werden sie auf eine gesamte Organisation angewendet. Durch sie wird der Handlungsspielraum jedes Einzelnen strukturiert und Verstöße werden sanktioniert. Die Ordnungsmacht bezieht sich nicht auf einzelne Individuen, sondern auf alle Individuen, die sich auf einem Territorium befinden. Typische Beispiele für die Ordnungsmacht in Organisationen sind die Festlegung von Arbeits- und Urlaubszeiten, Funktionsbeschreibungen, Bezahlung und die Bildungsvoraussetzungen für bestimmte Rollen. Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass die Ordnungsmacht genauso relevant bleibt, aber in anderer Form ausgeübt wird. Insbesondere die Setting- oder Methodenmacht ist in agilen Organisationen elaborierter geworden. Das drückt sich dadurch aus, dass Meetingstrukturen wie Weekly, Monthly, Reviews und Retrospektiven obligatorische Verfahren in agilen Organisationen sind und damit als Elemente von Ordnungsmacht einzuordnen sind.
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Die psychodynamische Betrachtung der Ordnungsmacht lenkt den Blick auf den individuellen Umgang mit Regeln und Autorität. Regeln können anerkannt werden, man kann sich ihnen zähneknirschend unterordnen oder lustvoll unterwerfen, um sie dann in Identifizierung mit den Regeln an anderen zu statuieren. Ordnungsmacht ruft narzisstische Themen auf. Ist es mit dem Ich-Ideal, dem Größenselbst vereinbar, sich Regeln zu unterziehen? Gelten Regeln nicht nur für die anderen, sondern ebenfalls für mich? Ordnungsmacht mobilisiert auch Erfahrungen mit Strafe und die Angst davor, in einer Gruppe beschämt zu werden. Beschämung tritt ein, wenn klar wird, jemand zu sein, der die Regeln nicht kennt und damit den anderen Gruppenmitgliedern gegenüber nicht ebenbürtig ist. Wie ist nun Containment in diese Machttheorie einzuordnen? Personales Containment kann in diesem Sinne als eine Variante von Hirtenmacht verstanden werden. Die Führende sorgt für einen Kommunikationsprozess, in dem negative Emotionen der Geführten verstehbar und handhabbar werden und dies als Veränderungsprozess für beide Interaktionsteilnehmende charakterisiert wird. Strukturelles Containment beruht auf einer spezifischen Verwendung von Ordnungsmacht. Im Rahmen von strukturellem Containment werden Settings geschaffen, die Sicherheit geben, sodass Emotionen Raum bekommen und neue, kreative Sichtweisen auf Anliegen und Probleme entstehen. Der Bezug von Macht zu Containment verdeutlicht einmal mehr, dass Macht nicht vorschnell kritisch gesehen werden sollte. Vielmehr geht es bei der Analyse von Machtpraktiken darum, ihre Operationen und ihre Effekte zu erfassen. Eine psychodynamische Perspektive auf Führung räumt Emotionen einen hohen Stellenwert ein und fordert von den Führungskräften, Spannungen und Sorgen der Mitarbeiter aktiv aufzunehmen und zu containern. Die Schaffung von Reflexionsräumen stellt eine wichtige Voraussetzung dar, um Emotionalität auszudrücken und zu reflektieren. Das „Wie“ der Zusammenarbeit und die dabei entstehenden Stimmungen und Befindlichkeiten werden ernst genommen, neben der Berücksichtigung der Emotionalität erscheint ein regelmäßiges Erwartungsmanagement zentral. Das Aushandeln gegenseitiger Anforderungen, die Verteilung der Aufgaben und Verantwortlichkeiten stehen mit ihren emotionalen Konsequenzen im Mittelpunkt dieser Prozesse. Das Erwartungsmanagement ist eine Basis, mit der die Konsequenzen organisationaler Veränderungen bis auf die Handlungsebene der Führungskräfte hinunter klar beschreibbar sind.
7.3
Entwicklungsschritte der Führenden aus psychodynamischer Sicht
Im ersten Abschnitt unseres Beitrags sind recht voraussetzungsvolle Kompetenzen der Führungskräfte und Mitarbeitenden in agilen Kontexten beschrieben. Wie nun können diese Fähigkeiten und Fertigkeiten erworben werden? Sind sie erlernbar oder lediglich Talente (Buckingham & Coffmann, 2005), die jemand mitbringt – oder eben nicht? Im
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Folgenden wird die Didaktik zum Erwerb dieser Basiskompetenzen beschrieben, wie sie in Leadership-Development-Programmen verfolgt werden kann.
7.3.1
Die Bedeutung der Ambiguitätstoleranz
Ambiguitätstoleranz gilt als die Basiskompetenz für Führungskräfte, aber auch Teammitglieder, um die Herausforderungen komplexer Unternehmenswirklichkeiten zu bewältigen. Für Unternehmen, die die aktuellen Krisen (steigende Energiekosten, Inflation, Corona-Spätfolgen …) angemessen beantworten, die ständig Entscheidungen unter Unsicherheit treffen müssen, gilt die Ambiguitätstoleranz der Mitarbeitenden als Voraussetzung. Es bedarf der Fähigkeit, das Nebeneinander von Freud und Leid beruflichen Alltags, von positiven und negativen Aspekten der Folgen einzelner Entscheidungen „gleichermaßen gültig“ auszuhalten. Ambiguitätstoleranz ist dann vonnöten, wenn sich Herausforderungen nicht mit bewährten Handlungsstrategien lösen lassen. Sie ist wichtig, wenn es – wie notwendigerweise fast immer – Zielkonflikte in Organisationen gibt oder sich Führungskräfte mit ihren aus der Rolle stammenden Dilemmata (Neuberger, 2002) konfrontiert sehen. Else Frenkel-Brunswik, österreichisch-US-amerikanische Psychoanalytikerin und Psychologin, beschäftigte sich schon in den 1940er-Jahren mit dem Gegenstück zur Ambiguitätstoleranz, der Intoleranz der Ambiguität. Darunter verstand sie das Nicht-ertragenKönnen von Mehrdeutigkeit (vgl. Benetka, 2002). Es gibt Menschen, die mehrdeutige und gegensätzliche Sachverhalte nicht aushalten und nicht bewältigen können. Sie sind nicht fähig, zu mentalisieren, soll heißen, sie können sich selbst nicht von außen und den anderen nicht von innen anschauen (Taubner & Kotte, 2015). Perspektivenwechsel und Mehrperspektivität können infolge dieses Defizits nicht gelingen. Es herrscht eine starre, unflexible, zwanghafte Haltung vor. Zwischentöne und komplexe Sachverhalte irritieren und werden abgewehrt. Es fällt schwer, widersprüchliche Bedürfnisse bei sich selbst und bei den anderen wahrzunehmen und gelten zu lassen. Ambiguitätstoleranz hingegen ist für Stangl (2023) „eine für die Identitätsbildung entscheidende Variable, da Identitätsbildung offenbar immer wieder verlangt, konfligierende Identifikationen zu synthetisieren. Ohne sie ist ein Individuum nicht in der Lage, angesichts der in Interaktion notwendigerweise auftretenden Ambiguitäten und unter Berücksichtigung seiner Beteiligung an anderen Interaktionssystemen und einer aufrechtzuerhaltenden biographischen Kontinuität zu handeln“. Die Entwicklung der Ich-Identität lebt von Konflikten und Ambiguitäten. Werden Handlungsalternativen, Mehrdeutigkeiten, unstrukturierte Situationen und Inkompatibilitäten verdrängt oder geleugnet, fehlt dem Individuum die Möglichkeit, sich angesichts spezifischer Konflikte zu verorten. „Wenn die Ambiguitätstoleranz eines Individuums in einer konkreten Situation nicht ausreichend vorhanden ist oder wenn eine Situation so widersprüchlich ist, dass ein zu hohes Maß an Ambiguitätstoleranz gefordert wird, kommt es zur Abwehr, d. h., entweder verdrängt
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es alle Widersprüche zwischen den Erwartungen anderer und den eigenen Bedürfnissen, oder das Individuum beharrt auf den eigenen Bedürfnissen, d. h., die Rollenerwartungen werden nicht hinterfragt, sondern deren Bedeutung wird geleugnet“ (Stangl, 2023).
7.3.1.1 Kann man Ambiguitätstoleranz, den Umgang mit Ungewissheit, lernen? Um mit unstrukturierten oder offenen Situationen angemessen umgehen zu können, braucht es zunächst einmal die Anerkenntnis der Unvorhersehbarkeit des Lebens. Diese Konfrontation mit der Realität ist psychisch anspruchsvoll, denn sie bedeutet die Aufgabe der Illusion der Kontrolle: „Ich werde nie alles wissen können, ich werde Zukunft nur begrenzt selbst beeinflussen und handhaben können.“ Ambiguitätstoleranz zu entwickeln, bedeutet auch, den eigenen kognitiven Stil zu hinterfragen und ggf. zu ändern. Mentale Modelle, die von Entweder-oder-Mustern, von Schwarz-weiß-Denken oder einer binären Richtig-falsch-Konstruktion geprägt sind, erweisen sich hier als dysfunktional. Nuber (2012) denunziert in diesem Zusammenhang auch die Versuchung, blind dem Rat von Experten/Expertinnen zu folgen, um den Risiken des Daseins zu entkommen, als regressiv. Frei nach Lohmer (2000) macht es Sinn, wenn sich die Führungskräfte eine „Lizenz zum Nicht-Wissen“ verleihen. Das kann sie hindern, sich vorschnell von den Irritationen hin zum Greifen nach vermeintlichen Sicherheiten zu bewegen: sei es, sich vorschnell einer trendigen neuen Managementmethodik zu bedienen oder sich auf Positionsmacht gepaart mit Rechthaberei zu stützen. Souveränes Führungshandeln heißt hier, selbstbewusst zu vertreten, (noch) keine Antwort zu haben. Mithilfe von experimentellem Lernen, wie es das Agilitätsparadigma vorsieht, lässt sich ein Klima schaffen, das Mut unterstützt und das „fail early“ zu einem wünschenswerten Phänomen macht.
7.3.2
Das Containment lernen
Lazar (2000) beschreibt die Fähigkeit, Ungewissheit auch unter Stress auszuhalten als „negative capability“ und folgt hier einer Figur, die der englische Dichter Keats kreierte, um den Umgang mit Zweifeln und Unsicherheiten zu beschreiben. Auf das Modell der Beziehung von Container und Contained in Organisationen angewandt, bedeutet dies vor allem die Aufgabe der Führung, Spannungen, Ängste und Krisen zunächst stellvertretend für die Mitarbeitenden wahrzunehmen, aufzunehmen und zu verarbeiten und damit ein Gefühl basaler Sicherheit zu gewährleisten. Bion hat diesen Prozess des Denkens und Verarbeitens aus der frühen Mutter-Kind-Beziehung abgeleitet und als Containment beschrieben (siehe oben). Und gezeigt, wie der Sender seine nicht verarbeiteten Affekte und Erfahrungen (das Contained, also das Enthaltene, Aufgenommene) auf nonverbalem Weg in den Empfänger als den Container (den Behälter oder Aufnehmende) projiziert
7 Agilität.Macht.Containment
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(Lohmer & Möller, 2019, S. 37). Verfügt der Empfänger (in unserem Fall die Führung) über die Kapazität, als Behälter für solche Projektionen zu fungieren, d. h. unverarbeitete Elemente aufzunehmen und darüber nachzudenken (was Bion als Reverie bezeichnet), so kann er diese in einem stellvertretenden Verarbeitungsprozess dem ursprünglichen Sender (in unserem Fall den Mitarbeitenden) wieder zurückvermitteln – nun als in Worte fassbare Erfahrungen. Als hilfreich, um diese Kompetenz zu entwickeln, empfehlen wir die psychoanalytische Grundhaltung: mit gleichschwebender Aufmerksamkeit, ohne vorschnelle Bewertung, alles wahrzunehmen, was an Affekten, Körpersensationen und Fantasien in uns im Kontakt mit anderen entsteht. Ziel ist es, durch Leadership-Development-Programme – gern ergänzt mit Coaching-Angeboten – die Sinnerfassungskapazität zu erhöhen. Frei nach dem Motto: Es macht Sinn zu spüren! Die offene Aufmerksamkeit für innere und äußere Prozesse – heute gern auch unter dem Achtsamkeitsparadigma diskutiert – setzt die Arbeit am Affekterleben, an der Affektdifferenzierung, an der Affektmitteilung (Fonagy, 2022) und der Affektregulation (Sell et al., 2022) voraus. Toleranzerhöhung dem eigenen Innenleben gegenüber ist eine zentrale Aufgabe, der im Coaching von Führungskräften Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte. Awareness den leiblich affektiven Prozessen gegenüber erweitert zudem die Wahrnehmungskapazität im Außen (vgl. Hartmann-Kottek, 2012). Das Methodenrepertoire sieht hier auch das Focusing nach Gendlin (1998) vor. Die Perspektiverweiterung lässt sich durch Methoden des Psychodramas (v. Ameln & Kramer, 2014), durch Rollenwechsel und Rollentausch und Doppeln in all seinen Facetten erreichen. Für Führungskräfte bedeutet es im Arbeitsalltag, in der Gestaltung des Kontakts zu den Mitarbeitenden, eher eine fragende Haltung einzunehmen, auf Einschätzungen oder Tipps zu verzichten und zunächst einmal die Realität des Gegenübers zu explorieren. Gleichzeitig geschieht dies auch in der Führungskraft selbst, sie erkundet analog dazu die eigene Innenwelt und „hält“ zunächst die eigene Angst oder Unsicherheit, ohne sie mitzuteilen. In einem zweiten Schritt kann sie dann entscheiden, wie die Affekte sinnvoll in die Kommunikation getragen werden können. Neben der Einfühlung in das Gegenüber bietet sich die Klarheit in der Rolle als Entscheidungskriterium an. Containment lässt sich als Arbeitsmodell erlernen. Besonders geeignet sind dafür angeleitete Gruppen. Nach der Vorstellung des Modells geht es um die praktische Auseinandersetzung. Die Teilnehmenden werden eingeladen, in der Gruppe auf vorgestelltes Material einer Teilnehmenden, z. B. schwierige Führungssituationen, Konflikte, mit folgenden Antworten zu reagieren (Giernalczyk & Lohmer, 2022): 1. Wahrnehmung: Ich sage, was ich gehört habe. 2. Emotionen: Ich teile mit, welche Gefühle bei mir entstanden sind. 3. Bilder, Assoziationen, Erinnerungen: Ich stelle die in mir aufsteigenden Bilder, Tagträume, Erinnerungen und Assoziationen zur Verfügung. 4. Professionelles Nicht-Wissen: Ich stelle naive Fragen.
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5. Eigene Beobachtungen/Wahrnehmungen teilen: Ich sage, wie ich den anderen erlebt habe. 6. Problemdefinition: Ich sage, worin ich genau das Problem sehe, worunter die Beteiligten leiden. 7. Unbemerktes: Ich teile mit, welche Aspekte eine Rolle spielen, die bisher übersehen wurden („blinde Flecken“). 8. Hypothesenbildung: Ich biete mein Verständnis der Zusammenhänge und der vorherrschenden Dynamik an. 9. Intervention: Wir überlegen die nächsten Schritte. Die Erfahrung zeigt, dass es mehrmalige Durchgänge erfordert, bis die Teilnehmenden die verschiedenen Ebenen integrieren.
7.3.3
Berufsbezogene Selbsterfahrung
7.3.3.1 Die Organisation Um den großen Herausforderungen nach sozialisierter Macht, also dem produktiven Umgang mit der eigenen Machtmotivation, in agilen Kontexten entsprechen zu können, braucht es Leadership-Development-Programme, die über die reine Vermittlung von Skills hinausgehen. Um dem Anspruch der angemessenen Triangulierung zwischen den Anliegen der Mitarbeitenden und der Organisation zu genügen, bedarf es in Weiterbildungssettings einer Reflexion der eigenen Organisationserfahrung. Nur dann, wenn die Teilnehmenden ihre Erfahrungen in Organisationen in ihren Lerngruppen durchgearbeitet haben, sind sie in der Lage, förderliche Bedingungen für ihre Mitarbeitenden zu gestalten, die von Reichtum an Perspektiven gekennzeichnet sind. Organisationale Erfahrungswelten finden sich zwischen den Polen „Sicherheit spenden“ und „Bedrängnis erzeugen“. Sie können unterschiedlichster Art sein (Gehlen, 2009). Vor dem Hintergrund verschiedener reflektierter organisationaler Praxis wird der Weg frei, sich den Anliegen der Mitarbeitenden ohne die Verzerrungen durch die eigene organisationale Sozialisation zuzuwenden. Folgende Fragen haben sich als sinnvoll erwiesen, um sich diesem Prozess der Auseinandersetzung mit der eigenen organisationalen Vergangenheit zu widmen: • • • •
Welche Erfahrungen in Organisationen haben mich geprägt? Gibt es Erfahrungen, die sich in unterschiedlichen Organisationen wiederholt haben? Zu welchen Organisationen fühle ich mich hingezogen? Weshalb gerade zu diesen? Welche Affekte/Gefühle sind jetzt im Nachdenken über die einzelnen Organisationen aufgetaucht? • In welchen Positionen in welchen Organisationen hatte ich Erfolg und konnte gute Arbeit leisten?
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• In welchen Positionen konnte ich meine Werte leben? • Gibt es einen guten Platz für mich in Organisationen? • Was waren tiefgreifende Veränderungen in meinem Leben, wie habe ich sie erlebt und was habe ich daraus gelernt (vgl. Steinhardt, 2020)? Das Konzept der „organization in the mind“ meint das innere Bild, das junge Führungskräfte von Organisationen haben (vgl. Armstrong, 2005; Morgan, 1997). Diesem auf die Spur zu kommen und die sie leitenden impliziten Organisationstheorien kennenzulernen, macht den Weg frei zu einer weiterführenden Mehrperspektivität.
7.3.3.2 Der berufliche Werdegang Reflexion in der Gruppe fokussiert zudem die beruflichen Stationen der Weiterbildungsteilnehmenden. Diese sind auch unter der Ressourcenperspektive bedeutsam. Mit welchen Branchen und Organisationstypen sind die jungen Führungskräfte vertraut? Welche Erfahrungen in Rolle und Funktionen sind gemacht worden? Welche Bewegungen hat es im Hinblick auf Statuszuwachs oder -einbruch gegeben? Welche beruflichen Entscheidungen waren nötig: die Kündigung eines Beamtenstatus, die Frage nach einem Studium der Betriebswirtschaftslehre oder doch lieber der Psychologie? Werde ich Universitätspräsident und verzichte auf weitere wissenschaftliche Tätigkeit? Wie leicht oder schwer sind diese Entscheidungen gefallen? Gibt es Entscheidungen, die die Führungskräfte bereut haben, und wie bewerten sie die einzelnen Etappen? Wie viel Mobilität hat es gegeben? Waren die Karriereverläufe eher vertikale, horizontale oder spielte Zentralität eine Rolle? Gibt es einen roten Faden in der beruflichen Biografie? Die Reflexion eigener Ausbildungsverläufe, beruflicher Entscheidungen, absolvierter Weiterbildungen und erworbener Spezialisierungen ist identitätsprägend und bietet auch Ressourcen für die spätere Führungspraxis. Die Frage nach Professionalisierungswegen gibt zudem Auskunft darüber, wie junge Führungskräfte die Welt betrachten: Welche mentalen Modelle leiten sie? Es werden andere (oft implizite) Referenztheorien sein: Andere anthropologische Prämissen, andere Erkenntnistheorien prägen die Wahrnehmung, die Ingenieurin denkt sicherlich anders als eine Theologin über die Welt nach. Unterschiedliche Wissensbestände der Führungskräfte werden als zentral für den kognitiven Aspekt des Selbstkonzeptes und somit der Identität betrachtet. Rappe-Giesecke geht davon aus, dass die erwachsenen Teilnehmenden von Weiterbildungen ihre bisherige berufliche und private Sozialisation in die Weiterbildung einbringen, zu der „sich das neu zu erwerbende [Wissen] in Beziehung setzen muss“ (RappeGiesecke, 2009, S. 2). Damit neues Wissen an altes anknüpfen kann, stehen alle mentalen Modelle auf dem Prüfstand, die sich durch Erfahrungen in organisationalen Zusammenhängen geformt haben und die neue Rolle beeinflussen: „Die Umorganisation des Wissens berührt immer auch die Identitätskonzepte der Person. Sie verstärkt, erschüttert oder verändert Gewissheiten und Grundannahmen, Werte und Haltungen“ (Rappe-Giesecke, 2009, S. 3). Es braucht einen Raum, in dem nicht nur Neues gelernt, sondern im Besonderen
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Altes und vielleicht Dysfunktionales verlernt werden kann. Diese selbstreflexiven Lernvorgänge versteht sie als zwei parallele Prozesse, die sowohl kognitiv als auch in hohem Maße emotional ablaufen. Ein Umgang mit dieser Parallelität erfordert von den Ausbildenden oder Trainern/Trainerinnen didaktisch, über die reine Instruktion von Wissen hinauszudenken und Lernräume bewusst als geschützte Räume zu verstehen, in denen vor allem negative Emotionen selbstverständlich als Teil des Entwicklungsprozesses betrachtet und erwartet werden.
7.3.3.3 Die Selbstreflexion In Leadership-Development-Programmen, die die Entwicklung von Haltung und Reflexionsvermögen anstreben, geht es darum, die Wahrnehmung der eigenen Person als Instrument im Führungshandeln zu schärfen. Hierzu erfolgt eine Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft (Milieu) und der Biografie (Böning, 2015). Durch Panoramaarbeit (Petzold, 1983) oder Genogramme wenden sie sich dem Thema Arbeit zu. Wie sind sie zu dem geworden, was sie heute sind? Welche Bedeutung hat Arbeit in der Herkunftsfamilie, welche in den aktuellen sozialen Bezügen? Welche Milieus kennen die angehenden Führungskräfte? In diesem Zusammenhang können auch die Berufe der Eltern als Ressourcen angesehen werden. Die Mehrgenerationenperspektive kann im Hinblick auf die Ressourcen der High Potentials genutzt werden. Kinder aus Handwerkerfamilien haben sehr viel früher ein Bild von Arbeit gewonnen als Kinder von Verwaltungsangestellten. Die Einstellung zum Tätigsein bildet sich recht früh abhängig vom sozialen Milieu aus. Auch der Umgang mit Topmanagern kann einer jungen Führungskraft mit Aufstiegsbiografie deutlich schwerer fallen als der Tochter eines Vorstandsvorsitzenden. Die frühen Erfahrungen mit Macht und Einflussnahme lassen sich mit diesen Methoden ebenfalls erheben. Die impliziten Bilder von Führung können unbeachtete Perlen darstellen, die für die eigene Rollengestaltung nutzbar sind, sie können aber auch berufliche Entwicklungen blockieren. Jede Führungskraft – so setzen wir – muss sich im Laufe der Weiterbildung mit ihrer Geschichte zu Hierarchie, Macht und Einflussnahme auseinandergesetzt haben, um „good enough“ (vgl. Winnicott, 2006) führen zu können. Die Panoramatechnik sieht vor, innerlich Jahr für Jahr des bisher gelebten Lebens zurückzugehen: • Lassen Sie Ihre Erfahrungen mit Macht und Einflussnahme im Laufe Ihres Lebens wie ein Panorama von der Gegenwart bis hin zu Ihren ersten Erinnerungen vor Ihrem inneren Auge Revue passieren! • Nehmen Sie die Wachsmalstifte und verleihen Sie den inneren Bildern Ausdruck! Sozialisation heißt immer auch Erfahrungen mit Macht und Einflussnahme gemacht zu haben. Aus diesen Quellen speist sich die implizite Führungstheorie der High Potentials
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(und ebenso die ihrer Mitarbeitenden). Welche Modelle wurden in der Herkunftsfamilie gelebt? Welche Autoritäten begegneten mir in Schule, Ausbildung, Studium? In der Auswertung der Bilder stellten sich folgende Leitfragen als recht ertragreich heraus: • • • • • •
Welche Führungsmodelle haben mich geprägt? Wie genau? Was habe ich von ihm/ihr übernommen? Was davon hat sich bewährt? Wovon grenze ich mich bewusst ab? Mit welchen Autoritäten gab es Erfahrungen (unentdeckte Perlen), die ich jetzt nutzen kann und in mein eigenes Verhalten integrieren möchte?
7.3.3.4 Die Selbstnarration In den Weiterbildungen wird die Selbstnarration zur Führungsidentität angeregt: Was für eine Führungskraft will ich sein? Wie sollen meine Mitarbeitenden mich wahrnehmen? Sie erhalten hierzu aufrichtige Resonanz und Feedback durch die Peers, was wiederum dazu dienen kann, den bisherigen Entwurf der Identität zu modifizieren und auszuprobieren, welche alternativen Selbstbeschreibungen und -präsentationen passend erscheinen. Welche Gefühle löse ich bei meinen Mitarbeitenden, Kollegen/Kolleginnen und Führungskräften aus? • Wie fühle ich mich, wenn andere mich so wahrnehmen und entsprechend auf mich reagieren? • Wie sieht es aus, wenn ich mich in potenzielle Co-Worker hineinversetze? • Was traut man mir zu? • Welche Ängste können entstehen? • Was unterstützt und was hindert ein tragfähiges Arbeitsbündnis? • Was kann/will ich evtl. damit tun, verändern, variieren oder nutzen?
7.4
Fazit
Hohe Komplexität und Mehrdeutigkeit der Umwelt kann durch Containment in agilen Organisationen bearbeitet werden. Containment wird dabei auch als Machtbeziehung verstanden. Führung ist Arbeit an der Macht (vgl. Neuberger, 2002). Allerdings unterscheiden sich die Machtbeziehungen in traditionellen Organisationen von agilen Organisationen. Agile Organisationen sind vermehrt darauf angewiesen, dass Führungskräfte über
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Selbstreflexion verfügen und als eine spezielle Form von Empowerment sich und die Mitarbeitenden dazu befähigen, Ambiguitätstoleranz zu erhöhen. Als wichtige Voraussetzung sehen wir dafür (Struktur-)Containment, mit dem Reflexionsräume zum „emotionalen Nachdenken“ genutzt werden. Diese neuen Fähigkeiten erwerben agile Führungskräfte über organisationsbezogene Selbsterfahrung und Auseinandersetzung mit Containment als moderne Form der Hirtinnen-Macht.
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Prof. Dr. phil., Dipl-Psych. Heidi Möller Prof. Dr. phil., Dipl.-Psych., Professorin für Theorie und Methodik der Beratung, Universität Kassel. Psychoanalytikerin, Supervisorin (DGSv) und Lehrsupervisorin, Organisationsberaterin und Coach. Wissenschaftliche Leiterin des postgradualen Masterstudiengangs Coaching, Organisationsberatung, Supervision (COS), UNIKIMS. heidi. [email protected] Prof. Dr. phil., Dipl.-Psych. Thomas Giernalczyk Psychoanalytiker und Geschäftsführender Gesellschafter von M19 – Manufaktur für Organisationsberatung GmbH, lehrt psychologische und therapeutische Interventionen an der Fakultät für Humanwissenschaften der Universität der Bundeswehr München. Mitgründer des Instituts für Psychodynamische Organisationsberatung München (IPOM), Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Supervision und Coaching e. V. (DGSv). [email protected] I www.m19-organisationsberatung.de
8
Paradoxien der Führung Warum es in Organisationen selten so läuft wie gewünscht Klaus Eidenschink
Zusammenfassung
Mithilfe der Unterscheidung Autorität, Führung und Macht werden Möglichkeiten und Begrenzungen von Einfluss in Organisationen untersucht. Dabei wird die These vertreten, dass Entscheidungen – als wichtigste Form von Einflussnehmen – immer janusköpfig sind. Führung kann nie nur sachlich richtig liegen, sozial motivieren und künftige, positive Wirkungen erzielen. Einflussnehmen in Organisation wird so zur Bereitschaft, durch das Lösen von Problemen neue und andere Probleme zu schaffen. Gestaltung von unwahrscheinlichen Kooperationen und Regulation von wahrscheinlichen Konflikten werden zu einem paradoxen Vorgang, der sich selbst permanent schwächt und daraus Stärke gewinnen muss.
8.1
Autorität, Führung, Macht
Warum wird über Führung eigentlich so viel diskutiert? Wie kommt es, dass sie so viel Anlass gibt für Klagen, für Schulungsprogramme oder Personalwechsel wegen schlechter Führung? Woher rührt die Inbrunst, mit der Alternativen zu Hierarchie gesucht werden? Die Vermutung, der hier nachgegangen werden soll, ist, dass dem sozialen Geschehen „Führung“ eine ganze Reihe von Paradoxien und Selbstwidersprüchlichkeiten innewohnen, die zu inkonsistenten und verstrickten Konzepten und Vorstellungen führen. (Handlungs-)Paradoxien sollen hier verstanden werden als Situationen, in denen das Richtige falsch und das Falsche richtig ist. Es gibt dann keine Lösungen mehr, die K. Eidenschink (B) Eidenschink & Partner, Krailling, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 O. Geramanis et al. (Hrsg.), Organisationale Machtbeziehungen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42092-5_8
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sich dadurch auszeichnen, dass alle zufrieden sind, dass alles richtig läuft oder zeitstabile Verhältnisse geschaffen werden können. Paradoxien führen immer dazu, dass etwas Bedeutsames zum Verschwinden gebracht werden muss, um handlungsfähig zu bleiben. „Autopoietische Systeme sind antagonistisch organisiert, daher sind sie immer im Konflikt, denn sie müssen stets pragmatische Paradoxien bewältigen“ (Simon, 2022, S. 1104). Die Regulation von Unvereinbarkeiten wäre dann auch ein Kernprozess von Organisationen. Um ein einfaches Beispiel zu nennen: Produktionsbereiche müssen für Routinen, Standardisierung, Communality, also für Sicherheit eintreten, während der Vertrieb sich für Flexibilität, Customizing und Ausnahmen, also für Freiheit starkmachen muss (Eidenschink & Merkes, 2021). Was sind die Folgen dieser These für Führung in Organisationen? Es ließe sich nicht verhindern, dass jede Entscheidung in Organisationen etwas besser und anderes schlechter macht sowie Gewinner und Verlierer erzeugt (siehe Luhmann, 2018, S. 405–433). Entscheider müssen somit (teil-)blind werden wollen, um überhaupt Entscheidungen treffen zu können. Oder – anders formuliert – Führung als der Ort, wo in Organisationen entschieden wird, könnte nie etwas sein, das ausschließlich positiv gesehen wird. Führung wäre ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und dabei auch das Böse schafft. Um diese Paradoxien genauer zu benennen und zu untersuchen, greife ich auf eine Begrifflichkeit zurück, die Niklas Luhmann in seiner Theorie der Macht entwickelt hat (siehe zu dieser Differenzierung: Luhmann, 2012b). Um der verworrenen Semantik des Machtbegriffs in der Soziologie zu entgehen, verwendet Luhmann den Begriff „Einfluss“ für alle Formen von Kommunikation, in denen eine Partei eine andere zur Übernahme der eigenen Ansichten veranlassen will (siehe dazu Luhmann, 2012a, b, S. 52–54). Fasst man nun genauer, wodurch derartige Versuche gekennzeichnet sind, lassen sich drei Spielarten von Einflussnehmen finden: Autorität, Führung und Macht (Luhmann, 2012b, S. 62–75). Jede dieser Formen von Einfluss spielt in einer der drei Sinndimensionen, die Luhmann nutzt, um soziale Komplexität zu ordnen. „Autorität“ als Ausdruck von Sachkenntnis generiert ihren Einfluss in der Sachdimension. „Führung“ ist an der sozialen Akzeptanz erkennbar, mit der Vorschläge von jemandem im Umfeld aufgenommen werden. „Macht“ wird als Möglichkeit definiert, auf die zukünftigen Möglichkeiten anderer einzuwirken. Schauen wir uns die drei Aspekte genauer an: • Luhmann versteht Macht als eine Form der Kommunikation, in der der eine den Anspruch erhebt, die Zukunft des anderen zu gestalten. Wer die zukünftigen Möglichkeiten des anderen verändern und beeinflussen kann, dessen Chancen steigen, dass der andere das tut, was man von ihm verlangt. Das lässt sich bewerkstelligen, indem man Angenehmes gewähren oder entziehen wird, oder indem man Unangenehmes androht. Macht nutzt also die Dimension der Zeit. Sie setzt allein auf das erwünschte Handeln des anderen („Du tust jetzt, was ich will!“). Ob der andere diese Handlung richtig findet oder ob er sie mit innerem Unwohlsein ausführt, spielt keine Rolle.
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• Wer auf Zustimmung setzt, nutzt eine andere Form der Beeinflussung, indem er sich mit Argumenten als sachliche Autorität präsentiert und auf die Vernünftigkeit des anderen setzt. Weil der andere die Entscheidung bzw. die Maßnahme als richtig ansieht, folgt er den Vorschlägen der Autorität. Er lässt sich überzeugen und gewährt auf diese Weise Einfluss auf sich. Autorität bewegt sich somit in der Sachdimension und versucht mithilfe von Vernunft Wirkung zu erzielen. Der „Adressat“ der Beeinflussung liegt also im Verstand des anderen. Er soll tun, was vorgeschlagen wird, weil er einsieht, dass es so sein muss. • Eine dritte Form von Einflussnahme sieht Luhmann in Führung. Sie versucht, durch Werben, durch Kontakt und emotionalen Sog Wirkung in Form von Gefolgschaft zu erzielen. Der andere soll sich dem Vorschlag anschließen, weil er es gerne tut und weil er die/den, die/der führen will, für die geeignete Person hält. Man vertraut und folgt aus emotionaler Bezogenheit. Hier wird die soziale Dimension genutzt, um über Sympathie und Charisma andere dazu zu bewegen, die vorgeschlagene Richtung als die richtige anzusehen („Bei mir seid ihr gut aufgehoben!“). Wirksam ist hier das innere Erleben des Geführten, der sich in guten Händen weiß. Nicht „Das“, sondern „Sie/Er“ überzeugt mich. Diese drei Formen von Einflussnahme wirken bei allen Entscheidungen in Organisationen mit: Es geht nicht ohne Sachverstand, nicht ohne Charisma und nicht ohne Belohnungen oder Bedrohungen. Das macht die Sache allerdings komplex und schwer zu durchschauen. Wie häufig, wenn es komplex wird, entwickeln sich kompensatorisch Konzepte, die versuchen, eines der Felder als das wichtigste oder wesentliche anzusehen. So betont Lean Management den Aspekt, dass Entscheidungen möglichst dort getroffen werden sollen, wo der meiste Sachverstand ist, Ideen von transformationaler Führung fokussieren auf die Beeinflussung von Mitarbeitern, während klassische Karriereweg- und Entlohnungssysteme über Belohnung und Bestrafung im Feld der Macht operieren. Ich komme darauf zurück. Organisationen müssen sich in der Flut der Entscheidungen, die täglich zu treffen sind, stabilisieren. Folglich dürfen diese Einflussfelder in Organisationen nicht nur situativ geregelt werden, sondern sie müssen sich verallgemeinern. Wenn täglich geklärt würde, wer den Assistenten und wer die Vorständin macht, würde das jede Organisation überlasten. Es braucht in der Sachdimension verlässliche und zeitstabile Orientierung, welchen Experten man fragen kann, wenn etwas nicht funktioniert und man sich nicht auskennt. Wessen und welche Autorität zählt, ist dann auch nicht primär der subjektiven Einschätzung überlassen. So kommt den formal nachgewiesenen Kenntnissen für die Einstellung – also für die Entscheidung, ob die Person zur Rolle passt – überragende Bedeutung in Organisationen zu. In der sozialen Dimension findet die Generalisierung von Führungseinfluss bevorzugt informell statt. Phänomene wie Seilschaften, Treue, Dankbarkeit und Loyalitäten, die aus
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gemeinsamen Vergangenheiten und aus sexueller, religiöser oder weltanschaulicher Orientierung erwachsen, wären dafür Beispiele. Wenn ganze Teams mit ihrer Führungskraft von einer Organisation in eine andere wechseln, ist das ein Beispiel dafür, wie wirksam solche informellen Verbindungen sind. Ebenso wird in der Zeitdimension die formale Macht, um zu kündigen und zu befördern, Gehalt zu erhöhen oder zu belassen, Autonomieräume zu vergrößern oder einzuschränken, nicht täglich neu ausgehandelt, sondern über Entscheidungsrechte geregelt. Diese Rechte werden über Positionen, Rollen und Funktionen in formale Strukturen gegossen. Auf der informellen Ebene wird latentes Wissen als Tipp weitergegeben: „Bitte doch den Beirat, ein gutes Wort für dich einzulegen, dann klappt das mit der Beförderung!“ Gibt es solchen generalisierten Einfluss nur unzureichend, werden Organisationen labil, zerfallen oder entstehen erst gar nicht.
8.2
Paradoxe Verschränkungen
Versteht man Einfluss in Organisationen als Ineinanderwirken von Autorität, Führung und Macht, muss man begreifen, wie diese drei Dimensionen zusammenspielen. Was passiert, wenn die Einflussmittel kombiniert werden? Tauchen wir in die paradoxe Komplexität des Phänomens weiter ein. Wie spielt der auf Autorität gegründete Einfluss mit den beiden anderen? Wenn die Expertin im Finanzbereich die Richtigkeit ihrer Anlagestrategie damit begründen würde, wie viel Zuneigung sie in ihrem Team hat und dass die Mitarbeiter für sie durchs Feuer gehen würden (= Führung) oder sie mit Sanktionen droht (= Macht), wenn man ihr nicht glaubt, würde ihre Autorität sofort sinken. Man würde fragen: Wieso braucht sie Zuneigung oder Drohung, wenn doch die Strategie sachlich richtig ist? Andererseits kommt die Autoritätszuschreibung nicht ohne soziale Konstrukte aus, worin Autorität abzulesen ist (etwa Abschluss an einer Eliteuni und ein Lobesartikel im Fachmagazin) und was als Erfolg zu werten ist. Führung hingegen schwächt sich, wenn sie mit Argumenten alles zu erschlagen versucht. „Du musst mitkommen, weil das ist der beste Italiener zu den günstigsten Preisen und am nächsten bei uns und mit dem sympathischsten Personal!“ Bei einer solchen Begründungsflut fällt es schwer, einfach aus Freude am Zusammensein mitzukommen. Die Kraft der Führung sinkt. Auch im Fall von Drohungen – „Wenn du nicht mit zum Essen kommst, fahre ich nicht mit dir in die Berge!“ – wird die Lust auf Essengehen mit dieser Person vermutlich abnehmen. Manager, die beliebt sind und überzeugend auftreten, verwenden daher oft überraschend wenig Sachargumentationen und sind mit Zukunftsversprechen gleich welcher Art zurückhaltend. Dennoch geht es auch hier nicht ohne die anderen beiden Formen. Wenn Führung ohne jegliches Machtmittel auszukommen hat – man denke an manche Projektleiter, Regionalverantwortliche oder andere Funktionen von lateralem Führen –, dann kann das sehr prekär werden. Ebenso wenn kein Verweis auf
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vergangene Erfolge möglich ist, da jeder sich fragt, wieso gerade der, der nichts von der Sache versteht, nun das Sagen hat. Zum dritten Aspekt: Wenn Mächtige sich in endlosen faktenbasierten Überzeugungsversuchen (= Autorität) ergehen, statt klar zu sagen, was sie entschieden haben, verlieren sie Macht, weil jeder wissen kann, dass Entscheidungen so gut wie immer auch anders hätten getroffen werden können. Auch der Hinweis auf Erfolge in der Vergangenheit droht Entscheidungen aufgrund von Macht zu schwächen, da diese meist Einschätzungssache sind. Die Reden von Mächtigen, die kurz vor der Ablösung sind, in denen sie ihre Erfolge und Meriten in den letzten Jahren auflisten, wirken entsprechend hilflos und schüren Unglaubwürdigkeit. Wer wirklich Macht hat, muss sie nicht auf Sacherfolge gründen. Verlieren Mächtige allerdings vollkommen die sachliche Bodenhaftung und soziale Zustimmungswerte, wird ihre Position prekär. Dann bleibt nur der Despotismus und der damit verbundene Kontrollaufwand durch Überwachungsaktivitäten. Egal wie man es dreht und wendet, sachlicher, sozialer und zeitlicher Einfluss bedingen einander und schränken sich wechselseitig gleichzeitig ein. Sie vermischen sich, wechseln sich ab, verstärken und untergraben sich gegenseitig: Wer recht hat, muss nicht drohen. Wer überzeugend und sympathisch auftritt, kann mangelnde Sachkenntnis kaschieren. Wer droht oder lockt, aber keine Argumente oder Mitstreiter hat, wird auf Dauer Akzeptanzprobleme bekommen. Wird die fachlich richtige Entscheidung getroffen, kann sie viele Interessen verletzen oder mit fachlichen Entscheidungen anderer Stellen in der Organisation kollidieren. Kurz gesagt, wie immer auch Einfluss gestaltet wird, man macht etwas verkehrt bzw. erzielt ungünstige Effekte. Diese lassen sich weder vorher abklären noch ist sichergestellt, dass das, was an dem einen Tag oder in der einen Rolle funktioniert, auch morgen in der anderen Situation günstig ist. Die Formen, die Organisationen nutzen, um sich zu stabilisieren, können also auch dann ihren Zweck erfüllen, wenn sie zu sachlich suboptimalen, sozial unerwünschten und künftig zu bedauernden Effekten führen. Aus meiner Sicht ist das vergleichbar mit der Fähigkeit der Psyche, mithilfe von problematischen Überlebensstrategien eine Identität und Handlungsfähigkeit auszubilden. Ebenso können für die Mitglieder ungünstige Formen der Gruppendynamik dem Erhalt von Teams und Familien dienen. Es gilt also, den Paradoxien nicht auszuweichen: Wenn ein Kompromiss gefunden wird, dem alle zustimmen, muss man damit rechnen, dass das Sachproblem damit nicht gelöst wird bzw. ein anderes erzeugt wird. Wenn alle zustimmen, ist meist deshalb allen Interessen gedient, weil die beste Sachlösung immer von einer der Interessengruppen abgelehnt wurde. Entscheidungsverfahren wie Konsent, die nicht auf Zustimmung setzen, sondern auf Verzicht auf Ablehnung, versuchen dem Rechnung zu tragen. Die Paradoxie zwischen Sach- und Sozialdimension lässt sich auf folgenden Nenner bringen: Man kann wählen zwischen einem Kompromiss, der das Problem nicht löst, oder einer Lösung, die keiner will. Versucht man, dieser Situation durch bloße Anweisung auf der Basis formaler Macht zu entkommen, läuft man Gefahr, beide Nachteile zu kombinieren. Sachlich notwendige, auch überlebensrelevante Entscheidungen, die sozial nicht durchsetzbar sind
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und nur Teilaspekte verbessern würden, gibt es in Organisationen wie in der Gesellschaft in Fülle. Für unsere Zwecke ist es wichtig, zu verstehen: Alle drei Mittel der Einflussnahme stehen in Organisationen zur Verfügung und können vorteilhaft oder nachteilig eingesetzt und kombiniert werden. So drängt sich der Gedanke auf, dass für effektive Entscheidungsprozesse alle drei Felder genutzt werden sollten. Wenn man sich auf die Klaviatur von Sachexpertise, Gemeinschaftsgefühl und Durchsetzungsmöglichkeiten einlässt, setzt man sich paradoxen Verhältnissen aus, die nicht „lösungsfähig“ sind, sondern die die Wahl lassen, welche Lösungsprobleme aus der gewählten Problemlösung erwachsen (Matthiesen et al., 2022). Befinden sich Autorität, Führung und Macht – wie bislang dargestellt – schon untereinander in erheblichen Spannungsverhältnissen, verwickeln sich die Verhältnisse zusätzlich enorm, wenn in Organisationen weitere wesentliche Aufmerksamkeitsfokusse wie Mitarbeiterzufriedenheit, strategische Ausrichtung, Werteorientierung, Konfliktbearbeitung und Entscheidungsprozesse ins Spiel der unterschiedlichen Einflussmöglichkeiten kommen. Diese Verstrickungen gilt es genauer zu verstehen.
8.3
Wollen und Tun
Aus Mitarbeitersicht wäre es am einfachsten, wenn die Führungskraft das will, was man selbst tun möchte. Dann wäre man frei. Aus Sicht der Führungskraft wäre es am einfachsten, wenn die Mitarbeiter das tun wollen, was man möchte. Dann könnte man sie in Freiheit lassen. Aus Sicht der Organisation wäre es am einfachsten, wenn getan würde, was getan werden muss. Dann würde die Freiheit den Notwendigkeiten nicht im Wege sein. Postmoderne Menschen suchen in Organisationen jedoch Freiheit(en) (Reckwitz, 2017). So sind die Fragen nach den Autonomie- und Entscheidungsspielräumen für Bewerber meist sehr wichtig. Kommt im Arbeitsalltag aber nun ein Experte (= Autorität) und sagt, wie etwas getan werden muss, damit es gut wird, endet die Autonomie. Kommt ein Vorgesetzter (= Macht) und ordnet an, was getan werden muss, dann ist es diesem Befehlsgeber im Zweifel egal, ob der Mitarbeiter sich dabei frei oder gut fühlt. Autorität und Macht engen beide den Alternativenraum für Handlungen deutlich ein. Ihr Fokus liegt auf dem Tun, nicht darauf, welche Gefühle diejenigen, die es tun, dabei haben. Wird getan, was nötig oder gewollt ist, ist es aus Sicht von Autorität und Macht eigentlich gut. Weil viele freie Menschen als Mitarbeiter nicht gern Mittel zum fachlichen Zweck oder ausführendes Organ einer Machtinstanz sind, können sich heutzutage Organisationen – anders als in Gilden-, Fließband-, Manufakturstrukturen oder Organisationen, die Abhängigkeitsverhältnisse nutzen können – nicht so aufstellen, dass das Erleben der Mitarbeiter in der Arbeit keine große Rolle spielt. Zudem kommt, dass moderne Organisationen mehrheitlich auf Arbeitsleistungen angewiesen sind, die nicht
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automatisiert, mechanisch und lustlos ausgeführt werden können, sondern Freiwilligkeit bedingen. Darum ist Führung als dritte Form von Einfluss in ihrer Bedeutung so gewachsen (Baecker, 2009, S. 17–21). Wie oben dargelegt, nimmt sie nicht das Handeln, sondern das Erleben der Mitarbeiter ins Kalkül. Wer sich führen lässt, orientiert sich daran, ob es sich gut anfühlt, jemandem zu folgen. Andersherum: Wer führt, versucht für Bedingungen zu sorgen, in denen die Mitarbeiter gerne das tun, was sie tun sollen. Die Bindung, die durch Führung entsteht, basiert auf emotionalen, nicht auf kognitiven Faktoren. Wer begreift, dass gut ist, was gesagt wird, der akzeptiert Autorität. Führung bringt die Führenden und die Geführten in eine affektive Übereinstimmung. Es entsteht ein Gefühl von „Wir“, das Ich und Du in den Hintergrund treten lässt. Die geteilte Perspektive auf die Welt vermittelt Orientierung, Sicherheit und Zuversicht auf beiden Seiten der Führungsbeziehung. Ist ein solches Miteinander erst mal etabliert, dann treten Fachkompetenz und Fragen von Incentivierung oder Benachteiligungen in den Hintergrund. Das macht Einfluss in Form von Führung unter komplexen Verhältnissen so attraktiv. Er muss sich nicht mit fachlicher Überzeugungsarbeit belasten und nicht den Nachteilen von Demotivieren durch machtgebundene Instruktionen aussetzen. Organisationale Notwendigkeiten – Strukturen, Prozesse, Rollen, Funktionen, Termine, Ressourcenlagen, Kundenanforderungen – können so im Gruppengefühl „untergehen“. Genau damit aber beginnt die Verstrickung. Die gemeinsame emotional getragene Weltsicht führt eine Verarmung von Alternativen mit sich. Der „Ingroup“ droht „Groupthinking“. In der Sachdimension schrumpft der Horizont der Lösungen auf den Tellerrand, in der Zeitdimension werden Machtansprüche delegitimiert („Das kannst du so mit uns nicht machen!“). Was sich nicht gut anfühlt, kann nicht richtig sein und darf auch nicht angeordnet werden. Die „Indifferenzzonen“ (so ein Begriff von Stefan Kühl (2023, S. 43)), also die Bereiche, wo Mitarbeiter einfach gegen Entlohnung etwas tun und keinen Begeisterungszwängen unterworfen sind, werden weniger oder verschwinden. Führung auf sich allein gestellt ist aufwendig, weil gute Gefühle füreinander anspruchsvolle Phänomene sind. Es bilden sich hohe Erwartungen an das Miteinander aus, was die Enttäuschung entsprechend hoch werden lässt, sollten diese Erwartungen nicht realisiert werden. Paart sich nun Führung mit passenden Inhalten in der Sachdimension, verstärkt sich dieser Effekt nochmals. Ein Beispiel für eine solche „Paarung“ ist das Konzept von „Purpose-Driven-Organisations“ (Fink & Moeller, 2018). Der sachliche Zweck einer Organisation wird über entsprechende Narrative zum Sinn für psychische Systeme aufgewertet. Der Film „Die stille Revolution“ illustriert diesen Vorgang eindrücklich. So werden Unternehmen tendenziell zu Orten der Heilung und Selbstverwirklichung erklärt. Die Sinnstiftung aufseiten der Organisationsmitglieder erfolgt durch Kombination von richtigem Tun und gutem Erleben. Ob die Führungskultur einer Organisation gut daran tut, solche Erwartungen aufzubauen, ist fraglich, da die ins Führungserleben hineinkopierten Wünsche weder auf Dauer befriedigt werden können noch psychologisch gesehen die Mitarbeiter wirklich glücklich machen. Organisationen, die sich nicht offenhalten,
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dort, wo nötig, rein mit Machtmitteln auf der Verhaltensebene zu agieren, fehlt diese Einflussmöglichkeit insbesondere dann, wenn die entsprechenden Maßnahmen umstritten und schmerzhaft sind. Die Schlussfolgerung aus diesen Zusammenhängen könnte wie folgt lauten: Freiheitserleben von Organisationsmitgliedern muss – strikt nach Immanuel Kant – auch in der „Einsicht in die Notwendigkeit“ bestehen. Anderenfalls wird die Selbstverpflichtung in der Ausübung der Organisationsrolle zu sehr an positiv bewertete Emotionen gebunden. Die Mitgliedschaft in Organisationen wäre so eben auch an die Bereitschaft gekoppelt, Unangenehmes und Nicht-Akzeptiertes trotzdem zu tun und die Führungskräfte davon zu entlasten, Bedingungen herstellen zu sollen, die keinen Anlass geben, sich über irgendetwas aufzuregen.
8.4
Vergangenheit und Zukunft
Die Verstrickungen, die sich aus dem Unterschied von Wollen und Tun ergeben, werden ergänzt durch jene, die sich aus dem paradoxen Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft entfalten. Üblicherweise wird die Vergangenheit als etwas angesehen, das feststeht, und die Zukunft als etwas, das offen ist. Diesen Aspekt der Zeit gibt es zweifelsohne. Organisationen sind hingegen Kommunikationssysteme, die vorrangig dafür gebaut sind, die Zukunft festzulegen und die Vergangenheit offenzuhalten (Baecker, Eidenschink/Merkes, Picht). Die üblichen Begriffe für die Festlegung einer Zukunft sind Strategie, Ziele, Planung. Um das Öffnen der Vergangenheit zu bezeichnen, haben sich Begriffe wie „lernende Organisation“, Change oder Transformation eingebürgert. Sie markieren die Aktivitäten, die nötig sind, um sich von dem Bewährten und in der Vergangenheit Praktiziertem zu lösen und nicht deterministisch in die Zukunft fortzuschreiben. Sowohl die Ausrichtung auf Ziele als auch das Aufgeben von Altem hat paradoxe Gegenpole. Denn ohne Beibehalten von Bewährtem sowie auch die Fähigkeit, auf Unerwartetes zu reagieren (Weick & Sutcliffe, 2003), lässt sich ein Unternehmen ebenfalls nicht organisieren. Exploit und Explore! Führung, die Menschen dazu motiviert, das Vertraute zu verfeinern und zu verbessern, macht es sich mit solchen Wünschen jedoch schwer, glaubhaft zu machen, dass gleichzeitig Neues und Unbekanntes bearbeitet werden soll. Das Gleiche gilt auch andersherum. Wer Menschen zu neuen Ufern motiviert, droht die, die im alten Land die Äcker bestellen, als die Gestrigen zu qualifizieren und damit zu entmutigen. Wählt man die naheliegende Lösung, weist man dies unterschiedlichen Bereichen – Produktion (Sicherheit) und Entwicklung (Freiheit) – zu, handelt man sich an den Schnittstellen und in den Entscheidungsgremien einen untilgbaren, aber notwendigen Dauerkonflikt ein. Solche aus der Struktur der Zeit erwachsenden Konflikte lassen sich nicht über Expertenlösungen, die immer Lösungen entweder für Exploit oder Explore sind, lösen. Ebenso wenig darf bei solchen Strukturkonflikten soziale Einigung entstehen,
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da die Organisation auf die kontinuierliche Bearbeitung solcher Wertkonflikte angewiesen ist. Werden solche Entscheidungen letztlich über Machtinstanzen (Hierarchie, Gremien etc.) getroffen, entstehen unweigerlich Verlierer in Organisationen. So lässt sich herleiten, dass Führungskräfte, die diese Paradoxie verstanden haben, gut daran tun, Verlieren zu normalisieren und Personen, die gut verlieren können („I disagree and commit!“), zu stärken. Komplexitätsgerechte Gestaltung von Führung darf somit nicht einseitig auf Durchsetzungsstärke setzen, da die Regulation zeitlicher Paradoxien damit unmöglich wird. HR-Programme, die Verliererkompetenz in Organisationen aufbauen, sucht man bislang meines Wissens vergebens. Bestenfalls werden solche Fähigkeiten unter den Stichworten „Kooperation“ oder „Zusammenarbeit“ geführt.
8.5
Gut und böse
Eine weitere Form der Verstrickung der drei Einflussfaktoren entsteht, wenn zusätzlich moralisch codierte Kommunikation (siehe dazu Luhmann, 1998, S. 180–184) in Organisationen eingeführt wird. Es gibt dann z. B. gute und böse Macht(ausübung), gutes und böses Führungsverhalten, gute und böse Entscheidungsfindung. Das Wort „böse“ wird in der Regel nicht so explizit gebraucht, sondern durch Adjektive wie schlecht, fragwürdig, unmöglich, autoritär, willkürlich etc. ersetzt. Das mindert nicht die Empörung, mit der entsprechende „Vorfälle“ emotional beobachtet werden, verschleiert aber, dass Moralisieren die genutzte Form der Kommunikation ist. Moralische Kommunikation bezieht sich im Kern auf Gewähren und Entziehen von Achtung der jeweiligen Person. Dadurch entwickelt sich häufig ein Double Bind für die Entscheidungsträger: Man soll richtig entscheiden und es soll als gut empfunden werden. Die Fälle, in denen das „Richtige“ auch von allen als „gut“ angesehen wird, sind in Organisationen allerdings selten. Das führt dazu, dass Sachentscheidungen übermäßig mit Fakten begründet werden – z. B. in Form von „Cover-my-ass“-Dokumentationen –, damit die Autorität nicht infrage gestellt werden kann. Führungsverhalten orientiert sich bei moralischer Aufladung weniger an echten Bindungswünschen, sondern an Gefälligkeit, Bewunderung und narzisstischen Symbiosen. Machtaktionen werden dann eher verdeckt und passiv-aggressiv in unauffälliger Form gepflegt oder die Mächtigen isolieren sich emotional und werten diejenigen, die sie moralisch schlecht bewerten, ihrerseits moralisch ab. Alle Einflussfaktoren werden durch moralischen Legitimationszwang unflexibel und die Kommunikation weicht auf Nebenschauplätze aus. Manchmal dient es auf der Schauseite der Organisationen auch dazu, dass bei schmerzhaften Entscheidungen die Beteiligten sich moralisch versichern, wie unangebracht dies ist, ohne dass dies Konsequenzen hat. So schützt Doppelmoral die Fähigkeit der Organisationen, handlungsfähig zu bleiben.
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Widerspruch und Konflikt
Organisationen sind um Konflikte herum gebaut. Autorität, Führung und Macht sind folglich auch Mittel, um organisationale Konflikte zu regulieren. Der Erfolg von Organisation bestimmt sich nicht zuletzt dadurch, wie sie mit Konflikten umgeht. Die in unserer Kultur übliche Empfehlung für den Umgang mit Konflikten lautet, sie zu lösen, zu befrieden, zu deeskalieren und in Frieden zu überführen. Das ist wichtig – keine Frage. Das steht allerdings im Widerspruch zu der organisationalen Notwendigkeit, dass Konflikte auch ausgelöst oder geschürt werden müssen (siehe dazu ausführlich Eidenschink, 2023). Wo Entscheidungen vertagt werden, weil der Konflikt gescheut wird, wo Konsens zu Blindheit und Selbstgefälligkeit führt, wo Harmonie zur Ignoranz von Anpassungsnotwendigkeiten verkommt, wo Kooperation zu Mittelmaß verleitet, da braucht es Einflussnehmer, die Widersprüchen nicht ausweichen. Die Konfliktkultur einer Organisation bestimmt ganz wesentlich mit, wie das Zusammenspiel von Autorität, Führung und Macht gestaltet wird und wie mit den Selbstwidersprüchlichkeiten, die damit einhergehen, umgegangen wird. Wenn z. B. der Chef den Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin die Chefin mit sachlichem Widerspruch behelligt, spielt es eine große Rolle, ob das jeweilige Gegenüber auf der sachlichen, sozialen oder zeitlichen Dimension reagiert. Ob in einer solchen Situation ein Fachgespräch entsteht, jemand Kritik als illoyal empfindet oder mit barschen Drohungen beantwortet, spielt für die Güte von Entscheidungen eine große Rolle. Nun ist es leider nicht so, dass die Regel „Bleibt sachlich!“ alles regeln könnte und dürfte. Wenn das Gegenüber für sachliche Argumente nicht offen ist, weil es sich mit seinen Meinungen verwechselt, nutzt autoritativer Einfluss nichts. Dann muss es persönlich oder bedrohlich werden dürfen. Werden Machtmittel eingesetzt, um fehlende Sachkenntnis zu kaschieren oder Antipathien auszuleben, findet der Konflikt in der falschen Dimension statt. Wie vielfältig die Verstrickungen hier werden können, weiß jeder, der in Organisationen gearbeitet hat. Schwierige oder schmerzhafte Entscheidungen lassen sich in Organisationen in vielen Fällen nicht durch einvernehmliche, vernunftorientierte Kommunikation in der gebotenen Schnelligkeit herbeiführen. Organisationen können in komplexen Verhältnissen nicht hoffen, mit der einen, richtigen, von Autorität gesättigten Lösung Entscheidungen zu finden. So einfach lässt sich das Falsche meist nicht vom Richtigen unterscheiden. Im Feld der Komplexität herrscht Durcheinander. Hier gilt es, über Widerspruch und Gegenwiderspruch herauszufinden, welche Entscheidungen welche Wirkungen und Nebenwirkungen erzielen. Management hat aus meiner Sicht die Aufgabe, für Unruhe zu sorgen, um die nötigen Anpassungskonflikte an sich verändernde Umwelten zu ermöglichen. Das macht Einflussnehmen als soziale Leistung überhaupt erst nötig. Organisationen und Umwelt wie unterschiedliche Subsysteme in der Organisation haben zum einen nicht die gleichen Interessen und zum anderen müssen sie sich ständig aneinander anpassen. Wäre dem nicht so, bräuchte es keine Autorität, keine Führung und keine Macht. Dann würde die
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konsensuale Verständigung auf den guten Zweck ausreichen. Wenn aber Ziele divergieren (Eidenschink & Merkes, 2021, S. 14–15), dann kommt genau über die Widersprüchlichkeit dieser organisationalen Ziele die vielfältige Wirklichkeit zu ihrem Recht. Dann wird erkennbar, dass Organisationen nur über die durch Einflussnehmen dirigierten Konflikte die nötigen Anpassungs- und Veränderungsprozesse verwirklichen können, um erfolgreich zu bleiben. Das wird leichter, wenn Mitglieder von Organisation unabhängig von ihrer Rolle Konflikte mögen und die Unruhe lieben lernen. Sonst bildet sich eine dysfunktionale Konfliktkultur, die jede Form von Einfluss erschwert. Nimmt man diesen Gedanken ernst, gehörte es zur Grundausbildung von Organisationsmitgliedschaft, die für Konflikte notwendigen Kompetenzen zu erlernen. Der Zugang zu kontaktvoller Aggression, ein wohlwollender Umgang mit Schuldgefühlen, die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung, die Bereitschaft, unbequem zu sein, Zivilcourage zu wagen oder Nachgeben können, wo nötig, und Interesse an Diversität wären die nötigsten Fähigkeiten. Wenn wesentliche Konflikte umgangen werden, können Organisationen „auskristallisieren“. Sie fahren sich in ihrer eigenen Tradition fest und finden aus der Erstarrung nicht so leicht heraus. Werden die Risiken transformativer Entscheidungen vermieden, nimmt man sich selbstverstärkende Erstarrungsprozesse in Kauf. So muss man sich nicht wundern, wenn der Schlachtruf des amerikanischen Managementdenkers Tom Peters am Ende seiner Theoriebildung „Destroy!“ lautet (Peters, 2008). Der Wille, etwas Gegebenes zu zerstören, kann in manchen Managementsituationen unabdingbar werden, wenn Organisationskulturen aus den genannten Gründen sich nicht mit gutem Willen und gutem Zureden aus ihrer Pfadabhängigkeit befreien können.
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Entscheidungen und Enttäuschungszwang
Die nächste Verstrickung, in die Einflussnehmen in Organisationen führt, hat komprimiert gesagt, drei Funktionen: Die erste besteht in der Koordination von Arbeitspaketen im Wertschöpfungsstrom. Aufbauorganisation nennt man dies landläufig. Das Sicherstellen von Kooperation und Kooperationswillen wäre die zweite Funktion. Ohne soziales Miteinander, das sich nicht primär im Gegeneinander oder Konkurrieren aufreibt, können viele Leistungen nicht sinnvoll erbracht werden. Es muss über „Ablauforganisation“ bestimmt werden, wer mit wem zu sprechen hat und wofür jeder zuständig ist. Zum dritten gilt es für Synchronisierung zu sorgen. Leistungspakete müssen terminiert werden, damit sie ineinandergreifen können. Fristen müssen bestimmt, Entscheidungspunkte müssen datiert werden. Die Gestaltung all dieser Bereiche erfolgt ständig durch Entscheidungen. Entscheidungen wählen zwischen zwei gleichwertigen und wünschenswerten Alternativen, die sich gegenseitig ausschließen. Anderenfalls sind Entscheidungen nicht notwendig. Es ist daher illusorisch, zu erwarten, dass Entscheidungen von allen sachlich bejaht werden können.
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Das Gegenteil ist der Fall. Entscheidungen führen immer ihre eigene Kritik mit sich, weil sie alle Argumente gegen sich haben, die für die in der Entscheidung verworfene Alternative gesprochen haben. Wenn eine Entscheidung keine Kritik auf sich zieht oder ziehen kann, dann ist sie keine Entscheidung. Das Richtige ist immer auch das Falsche. Je komplexer die Verhältnisse sind, desto deutlicher und prägnanter tritt dies zutage. Insbesondere Entscheidungen, die Prämissen von Zusammenarbeit und Organisation verändern wollen, operieren im Feld von Werten und damit von Wertekonflikten. Es geht dann um Kontrolle versus Vertrauen, Partizipation versus Entscheidungsfähigkeit, Kooperation versus Autonomie, Einzel- versus Teamorientierung, Schnelligkeit versus Gründlichkeit, Innovation versus Beständigkeit, Stabilität versus Flexibilität, Regel versus Ausnahme, Disziplin versus Experiment – die Liste möglicher Werte, die miteinander in Konflikt geraten können, ist endlos. Im Klartext: Man kann nicht gleichzeitig einander widersprechende, jedoch sinnvolle Alternativen verwirklichen. Management muss enttäuschen. Da jede gewählte Alternative keinesfalls auch die Ziele verwirklichen kann, die die verworfene Möglichkeit verwirklicht hätte, vernichtet jede Entscheidung immer auch mögliche Zukünfte. Alternative Ziele werden begraben, noch bevor diese Gegenwart hätten werden können. Ihre Zukunft wird Vergangenheit. Das macht jede (!) Entscheidung angreifbar. Denn es kann sich im Nachhinein (!) herausstellen, dass sie falsch war (natürlich ohne zu wissen, ob man das nicht auch bei den Alternativen hätte feststellen müssen). Über die „Richtigkeit“ einer Entscheidung entscheidet also die Zukunft, die Gegenwart werden wird. Jeder, der in Organisationen Einfluss hat, weiß selbst nicht wirklich, welche Daten und Fakten in die Entscheidung eingeflossen sind, was parallel an anderer Stelle entschieden wird, wie die Entscheidung in der Organisation verarbeitet wird, und er kennt – auch wenn er noch so klug ist – nie die Zukunft, die eintreffen wird. Organisationen, in denen Führungskräfte wie Mitarbeiter sehen können, dass Entscheidungen immer Willkür innewohnt, entlasten sich von den Erwartungen und den Enttäuschungen, die mit der Fantasie von nur richtigen und begründbaren Entscheidungen einhergehen.
8.8
Sicherheiten und Unsicherheiten
Das Zusammenspiel von Autorität, Führung und Macht im Kontext von hoher Komplexität kann aufgrund der hier skizzierten paradoxen Effekte nicht in sicheren Vorgehensweisen und Rezepten münden. Im Gegenteil – es generiert sich ein Feld von enormer Unsicherheit und Unkalkulierbarkeit (siehe dazu Baecker 1994, 2003; Wimmer 2012)Man ist in Organisationen heute mit Problemstellungen konfrontiert, die von einem hohen Anteil an Nichtwissen gekennzeichnet sind (= unsichere Autorität), die in eine schwer durchschaubare soziale Dynamik (= unsichere Führung) eingebettet sind und fast immer von Unklarheiten geprägt sind, ob und wie viel Kontrolle man über die künftigen Handlungsmöglichkeiten anderer hat (= unsichere Macht).
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Als Führungskraft hat man daher die Bedingungen für die eigene Wirksamkeit nie vollständig in der Hand (Luhmann/Kaube 2016). Der Umgang mit Unsicherheit, Intransparenz und den Gefühlen des Kontrollverlustes stellt an die Führungskräfte wie die Geführten außerordentlich hohe Anforderungen. Es ist sowohl herausfordernd, auf der Basis von sicherem Umgang mit Unsicherheit zu führen, als auch, sich im vollen Bewusstsein davon führen zu lassen, dass die Basis von Entscheidungen anderer immer riskant und durch Begründungen legitimiert wird, die auch anders hätten ausfallen können. Um alle angedeuteten Verstrickungen zu handhaben, sind Organisationen sehr viel mehr als früher auf Kommunikation angewiesen. Das ist deshalb so anspruchsvoll, weil die Verständigung über Entscheidungen meist nicht mit allen Betroffenen geführt werden kann. Kommunikation ist mit Abwesenden nicht möglich. So kommt es darauf an, dass Organisationen Wege finden, ihre Mitglieder dafür zu sensibilisieren, dass es normal ist, wenn ständig etwas entschieden und umgesetzt wird, was man falsch findet oder nicht nachvollziehen kann. „Management und Führung sind das Immunsystem der Organisation. Sie zünden, betreiben und regulieren Konflikte, die in der Organisation dafür sorgen, dass ihre Wachsamkeit und Ausspannung erhalten, ihr Alternativenbewusstsein gepflegt und ihre Suche nach neuen Lösungen herausgefordert werden kann“ (Baecker, 2011, S. 7). Die Regulation von Konflikten wäre in diesem Sinn der Kernprozess, der in Organisationen geformt werden muss, da die Koppelungen von Menschen und Organisation, Organisation und Teams, Organisation und Umwelten, Organisation und Gesellschaft permanent zu Widersprüchen, Dilemmata, Verwerfungen, Unvereinbarkeiten führen (ausführlich dazu Eidenschink 2023). Einseitige Ausrichtungen – egal ob Humanisierung der Organisation, Profitmaximierung, Shareholderoptimierung oder Enkeltauglichkeit – sind unterkomplex und damit dysfunktional. Stattdessen bekommt das Vertrauen zueinander immer größere Bedeutung, da Einflussmöglichkeiten wachsen oder sinken, je mehr oder je weniger Vertrauen Einflussnehmer haben (dazu aus weiblicher Sicht: Clement 2022). Management gerät so in eine maßgebliche Abhängigkeit von dem Ruf, den das Führungssystem und die jeweilige Person in der Organisation haben. Die Gestaltung von Zukunftsfähigkeit und die Pflege der Regulationsfähigkeiten können deshalb nicht als Aufgabe von einzelnen (hervorgehobenen) Personen verstanden werden, sondern als Fähigkeit der gesamten Organisation (Muster et al. 2021). Einflussnahme und Einflussnehmen-Lassen formen ein Zusammenspiel, welches die Mitglieder einer Organisation gemeinsam erbringen. Das funktioniert umso besser, je mehr die Beteiligten die geschilderten paradoxen Bedingungen kennen, denen jedwede Einflussversuche in Organisationen unterliegen. Autorität, Führung und Macht sind verwoben in Kommunikation, die von allen in der Organisation gestaltet wird. Wenn diese Kommunikation von der demütigen Einsicht getragen ist, dass alle zum Gelingen und Misslingen beitragen und beides unausweichlich ist, dann sind Organisationen krisenhaften und hyperbeschleunigten Herausforderungen besser gewachsen.
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K. Eidenschink
Literatur Baecker, D. (1994). Postheroisches Management. Merve. Baecker, D. (2003). Organisation und Management. Suhrkamp Taschenbuch Verlag. Baecker, D. (2009). Die Sache mit der Führung. Picus Verlag Ges.m.b.H. Baecker, D. (2011). Organisation und Störung. Suhrkamp Taschenbuch Verlag. Clement, U. (2022). Frauen führen besser: Wahrnehmungshilfen für Männer (und Frauen) (= Management/Organisationsberatung) (Erste). Carl-Auer Verlag GmbH. Eidenschink, K. (2023). Die Kunst des Konflikts. Konflikte schüren und beruhigen lernen. (2. Aufl.). Carl-Auer-Systeme Verlag und Verlagsbuchhandlung GmbH. Eidenschink, K., & Merkes, U. (2021). Entscheidungen ohne Grund: Organisationen verstehen und beraten: Eine Metatheorie der Veränderung (= Beraten in der Arbeitswelt). Vandenhoeck & Ruprecht. Fink, F., & Moeller, M. (2018). Purpose Driven Organizations: Sinn – Selbstorganisation – Agilität. Schäffer-Poeschel. Kühl, S. (2002). Sisyphos im Management. Die vergebliche Suche nach der optimalen Organisationsstruktur. WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA. Kühl, S. (2020). Brauchbare Illegalität: Vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen. Campus. Kühl, S. (2023). Schattenorganisationen: Agiles Management und ungewollte Bürokratisierung. Frankfurt, Campus Luhmann, N. (1998). Die Gesellschaft der Gesellschaft 1. Suhrkamp Verlag. Luhmann, N. (2012a). Macht (= UTB Soziologie 2377) (4. Aufl.). UVK Verl.-Ges. Luhmann, N. (2012b). Macht im System. Suhrkamp Verlag. Luhmann, N., & Kaube, J. (2016). Der neue Chef (Erste). Suhrkamp. Luhmann, N. (2018). Schriften zur Organisation 2: Theorie organisierter Sozialsysteme (= Luhmann, Niklas. Schriften zur Organisation). (1. Aufl., 2019). Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH ; Springer VS. Matthiesen, K., Muster, J., & Laudenbach, P. (2022). Die Humanisierung der Organisation: Wie man dem Menschen gerecht wird, indem man den Großteil seines Wesens ignoriert. Verlag Franz Vahlen. Muster, J., Bull, F.-R., & Kapitzky, J. (Hrsg.). (2021). Postbürokratisches Organisieren: Formen und Folgen agiler Arbeitsweisen. Verlag Franz Vahlen. Peters, T. (2008). Tom Peters essentials: Führung! Gabal Verlag GmbH. Reckwitz, A. (2017). Die Gesellschaft der Singularitäten: Zum Strukturwandel der Moderne (1. Aufl.). Suhrkamp. Simon, F. B. (2022). Formen (reloaded): Zur Koppelung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen. Carl-Auer Verlag GmbH. Weick., K. E., & Sutcliffe, K. (2003). Das unerwartete Managen. Wie Unternehmen aus Extremsituationen lernen. Klett-Cotta. Wimmer, R. (2012). Die neuere Systemtheorie und ihre Implikationen für das Verständnis von Organisation, Führung und Management. In J. Rüegg-Stürm & Th. Bieger, (Hrsg.), Unternehmerisches Management. Herausforderungen und Perspektiven (S. 7–65). Haupt.
Klaus Eidenschink Organisationsberater, Coachausbilder, Exekutive-Coach, Publizist. Studium der Theologie, Philosophie und Psychologie Leiter von „HEPHAISTOS, Coaching-Zentrum München“, Fortbildungsinstitut. Betreiber des Theorie-Portals „Metatheorie der Veränderung“. Coaching von Topmanagern und Unternehmensinhabern in Fragen der Konfliktbewältigung, Change Management und Persönlichkeitsentwicklung. [email protected] I www.eidenschink.de I www.metatheorie-der-veraenderung.info
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Geschlecht im Arbeitsleben – Macht, Aussehen, Ausdrucksverhalten Barbara Kuchler
Zusammenfassung
Die Ungleichbehandlung von Frauen im Arbeitsleben hat vielerlei Ursachen. Eine davon ist die in unserer Gesellschaft etablierte Kleider- und Aussehensordnung, die Frauen die schwerpunktmäßige Zuständigkeit fürs Gutaussehen zuweist. Männer sind im Arbeitsleben, und sonst, oft vergleichsweise unauffällig und mehr oder weniger „uniformiert“ gekleidet, und besondere Kennzeichen wie Marken und teure Qualität lenken die Aufmerksamkeit mehr auf Status als auf die individuelle Körpererscheinung. Dagegen sind Frauenmode sowie Schmuck- und Kosmetikstandards so angelegt, dass sie die Aufmerksamkeit auf den Körper und die individuellen Stilentscheidungen von Frauen lenken. Dies lädt – auf der Ebene objektiver Interaktionssignale, nicht unbedingt subjektiver Absicht – die Berufsteilnahme von Frauen mit dem Double Bind oder der widersprüchlichen Doppelbotschaft auf: „Ich sehe zwar super aus, aber ich will auf keinen Fall auf mein Aussehen hin beurteilt werden!“
9.1
Einleitung
Wer darauf hinweist, dass Geschlecht eine latente, aber wirkungsvolle Machtdimension in Organisationen ist, kann mit viel Zustimmung rechnen. Die Annahme ist, dass es ein diffuses Machtgefälle zwischen Männern und Frauen gibt, das sich in Blicken, Gesten, Sprüchen, Witzeleien, Nach-Feierabend-Kontakten und in der Folge in ungleichen Karrierechancen niederschlägt. Männer tragen, bewusst oder unbewusst, ihre B. Kuchler (B) Universität Münschen, München, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 O. Geramanis et al. (Hrsg.), Organisationale Machtbeziehungen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42092-5_9
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B. Kuchler
seit Jahrtausenden eingefahrene Vormachtstellung in heutige Unternehmen, Universitäten, Verwaltungen hinein, gleich wie aufgeklärt und fortschrittlich diese sich auf der Oberfläche geben. Nun kann nicht bestritten werden, dass es hier in manchen Fällen um Macht geht, etwa wo männliche Chefs mehr oder weniger willkürlich über Beförderungschancen verfügen oder wo etablierte Männernetzwerke das Nadelöhr zu Kontakt- und Karrierechancen darstellen. Inwieweit es sich insgesamt um ein Machtproblem oder um ein Problem anderer sozialer Mechanismen handelt, hängt vom verwendeten Machtbegriff ab. Mit einem breiten Machtbegriff, der all das unter „Macht“ subsumiert, was Ergebnisse hervorbringt, die manchen mehr nützen als anderen, wird man hier jede Menge Machtprozesse sehen. Ich arbeite aber mit einem engeren, systemtheoretischen Machtbegriff und sehe deshalb Macht nur als einen Teil – und vermutlich nicht mal den größeren Teil – des Problems. Systemtheoretisch gesehen ist Macht Drohmacht, ist also nur dann gegeben, wenn Drohungen im Spiel sind und einer der Beteiligten über stärkere Drohszenarien oder „Vermeidungsalternativen“ verfügt als der andere (Luhmann, 1988, 2012). Drohungen können unausgesprochen sein, müssen aber erlebbar im Raum stehen, damit sie sich als Drohung qualifizieren. Die bloße Verfügung über positive Anreizmittel oder Angebote genügt nicht, es sei denn, die Vorenthaltung dieser Dinge ist so massiv und widerspricht so deutlich sonstigen Erwartungen, dass sie als Drohung eingesetzt werden kann. Neben Macht gibt es auch andere soziale Einflussmechanismen, etwa andere Kommunikationsmedien wie Geld, Wahrheit, Liebe (Luhmann, 1975) oder andere organisationale Koordinationsmechanismen wie Vertrauen und Verständigung (Kühl, 2017). Man kann deshalb nicht rein von den Effekten her argumentieren, im Sinn von „Am Schluss haben Männer die besseren Posten“, denn es ist zusätzlich zu analysieren, über welche Mechanismen diese Effekte zustande kommen. Wenn man so ansetzt, fällt auf, dass geschlechtsspezifische Verwerfungen auch dort vorkommen, wo gar keine Machtasymmetrien vorhanden sind, etwa zwischen Kollegen oder sonstigen Gleichgestellten ohne auffällige Ressourcen- und Vernetzungsunterschiede oder auch zwischen Personen im öffentlichen Raum, die auf irgendeiner Diskursplattform miteinander zu tun bekommen und Kommentare übereinander abgeben oder Meinungen übereinander zum Ausdruck bringen. Es stellt sich die Frage, was dann der Hebel für die Zurücksetzung von Frauen ist, wenn es nicht oder nicht allein Macht ist. Worum könnte es sonst gehen, wenn Frauen anders beobachtet werden, sich kritischen oder interessierten (aber falsch interessierten) Blicken ausgesetzt sehen, von Männern nicht auf Augenhöhe behandelt werden? Ich möchte hier eine These ausprobieren, die nicht beansprucht, das ganze damit aufgemachte Feld abzudecken, aber die einen ebenfalls weit verbreiteten und wirkmächtigen Mechanismus herausgreift. Er liegt in der Dimension der Selbstdarstellung und des Ausdrucksverhaltens in der Interaktion, konkret in der Frage des Aussehens und der Präsentation des eigenen Körpers. Es gibt in unserer Gesellschaft nach wie vor
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eine Rollenverteilung, die Frauen die schwerpunktmäßige Zuständigkeit fürs Gutaussehen zuweist, selbst wenn die Zuständigkeit für Leistung und Berufserfolg zunehmend symmetrisiert wird. Frauenkleidung ist körperbetonter, formenreicher, detailreicher und erfordert ein höheres Maß an Stylingbewusstsein und individueller Selbstdarstellung als Männermode. Schmuck und Schminke tragen weiter dazu bei, die Aufmerksamkeit auf die Aussehensdimension zu lenken, mehr als bei den jeweiligen männlichen Pendants, gleich auf welcher Stufe von Förmlichkeit oder Lässigkeit. Dies setzt Interaktionssignale, die dann nur um den Preis von Double Binds wieder dementiert werden können. Es ist zwar das Selbstverständnis mehr oder weniger aller Frauen, im Beruf nur mit Blick auf ihre Leistung beurteilt zu werden, aber das äußere Erscheinungsbild vieler Frauen dementiert oder erschwert das, indem es permanent Anker oder Andockpunkte für optische und gendermarkierte Beobachtung liefert. Die – implizit und unbeabsichtigt – gesendete Doppelbotschaft ist: „Ich optimiere zwar mit viel Mühe mein Aussehen, aber ich will natürlich nicht auf mein Aussehen hin beobachtet werden!“ Oder: „Ich lasse zwar mithilfe von Make-up mein Gesicht dem klassischen Weibchenschema ‚große Augen‘ und ‚betonter Augenaufschlag‘ entsprechen, aber ich möchte natürlich nicht als Weibchen beobachtet werden!“ Diese Doppelung an Botschaften führt in der Folge zu allerlei Rumpeln und Knirschen in der Kommunikation. Diese These werde ich im Folgenden ausführen, gestützt auf die Interaktionstheorie von Erving Goffman. Sie liegt eher über Kreuz mit der aktuellen Gendersoziologie und mit dem derzeit dominierenden feministischen Diskurs, der die Freiheit und das Recht von Frauen betont, sich nach Belieben zu kleiden und trotzdem nicht gendermäßig beobachtet und diskriminiert zu werden, nach dem Motto „Ich kann einen pinken Minirock anziehen und trotzdem CEO werden“.1 Dieser Diskurs ignoriert das Problem der Doppelbindung durch widersprüchliche Interaktionssignale. Soweit es für meine These Anschlüsse in der gendertheoretischen Literatur gibt, liegen diese eher in älteren Texten, die die Darstellung von Frauen als Sexobjekt und die bereitwillige Einsortierung von Frauen entweder in die Rubrik Liebe/Heirat/Verführung oder in die Rubrik Hilfsdienste/Service/Unterordnung kritisiert hatten. Sie liegt vermutlich über Kreuz mit ziemlich vielem, aber ich glaube trotzdem, dass die Argumente halten.
1 Diese Formulierung entnehme ich – vielleicht nicht ganz wörtlich, aber auch nicht sehr verzerrt –
einem Post, den ich einmal auf LinkedIn gelesen habe. Ähnliche Äußerungen waren häufig in den Kommentaren zu meinem #OhneMich-Artikel zu lesen (Kuchler, 2017a, b), etwa: „Statt dass uns vorgeschrieben wird, was wir anziehen sollen, sollte es einfach egal sein, was jemand anhat. Egal, ob jemand Minirock oder Hose trägt, flache Schuhe oder Absätze – das sollte keinen Unterschied machen für die Frage, wie man wahrgenommen wird, wie man behandelt wird und wie weit man es im Job bringt.“
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9.2
B. Kuchler
Gesellschaft und Rollenverteilung
In unseren heutigen Kleidungs- und Aussehensnormen spiegelt sich eine alte, vor Jahrhunderten etablierte Rollenverteilung wider, der zufolge es bei Frauen mehr auf die Dimension Schönheit/Aussehen ankommt und bei Männern mehr auf die Dimension Leistung/Status. In Europa wurden mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und der Trennung von Privatsphäre und öffentlicher Sphäre die Lebensschwerpunkte so verteilt, dass Frauen dem Bereich Haus/Familie/Innenraum und Männer dem Bereich Beruf/ Außen/Öffentlichkeit zugeordnet waren (Hausen, 1976, 2012). Zu „Hause“ gehört die Zuständigkeit für Sichschönmachen, Sichpflegen, Gefallen, Attraktivsein, während im Berufsbereich eher andere Qualitäten wie Geist, Kraft, Kreativität, Durchsetzungsstärke u.Ä. gefragt sind. Auch für manche frühere Gesellschaften verschiedener Epochen und Kulturräume gilt, dass die unmittelbar körperlichen Merkmale Jugend und Fruchtbarkeit die entscheidenden Attraktivitätsmerkmale der Frau waren, während die Möglichkeiten, sich mit anderen Qualitäten, etwa besonderen Leistungen im Krieg oder auf der Jagd, hervorzutun, für Männer ausgeprägter waren. Die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ist aus dieser Rollenordnung eigentlich ausgestiegen, jedenfalls soweit es um die Sphäre Leistung/Beruf geht. Sie lässt auch Frauen zu höherer Bildung und höheren Positionen zu, billigt ihnen grundsätzlich alle Fähigkeiten zu Spitzenleistungen und Zugang zu allen denkbaren Karrieren zu. Sie ist aber nicht oder sehr viel weniger entschieden ausgestiegen, wenn es um die komplementäre Seite des Aussehens geht (auch nicht, wenn es um die Sphäre der Haushalts- und Sorgearbeit geht, aber das ist hier nicht das Thema). Dass es für Frauen wichtiger ist als für Männer, gut auszusehen, ist nach wie vor die Lebensrealität der meisten Menschen in westlichen Ländern. Frauen wenden mehr Zeit und Energie für Kleiderkaufen, Kleiderauswählen, Schminken und sonstiges Styling auf und werden stärker nach ihrem Aussehen beurteilt als Männer. Auf Partnermärkten kommt es für Frauen mehr und alternativloser aufs Aussehen an als für Männer – trotz der allgemeinen Bedeutung von optischen Filtern, noch mal verstärkt durch Online-Partnerbörsen –, gutes Aussehen ist für sie ein noch größerer Pluspunkt und schlechtes Aussehen ein noch größeres Handicap. Gut auszusehen ist grundsätzlich natürlich auch für Männer wichtig, aber erstens punkten diese auf dem Partnermarkt immer noch stark mit Attributen wie Status und Erfolg, und zweitens ist das männliche Aussehensideal heute durch das Ideal der „Coolness“ geprägt, was praktischerweise einen geringeren Aufwand an Styling impliziert. Den alltagsweltlichen Test darauf kann man machen, indem man sich fragt: Wie viele Paare sieht man auf der Straße, wo man sieht: Sie hat sich sorgfältig gestylt, er trägt irgendeine Hose, irgendein T-Shirt und irgendein Paar Schuhe? Diese asymmetrischen Aussehensstandards schlagen auch auf die Berufswelt durch. Sie machen nicht halt an den Grenzen der Berufssphäre, vielmehr handelt es sich um allgemeine Erwartungen und Gewohnheiten, die sich mehr oder weniger überall zur Geltung bringen, wenn auch natürlich je nach Kontext verschieden (Arbeit/
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Freizeit, Offizialität/Informalität, Festlichkeit/Sportlichkeit). Frauen erscheinen auch an ihrem Arbeitsplatz – soweit dieser freie Kleiderwahl zulässt – im Durchschnitt deutlich aufwendiger zurechtgemacht als Männer, mit sorgfältiger zusammengestellten Outfits, mehr Schmuck, mehr Make-up, insgesamt mehr optische Reize bietend. Dass das so ist, liegt teils an individuellen Entscheidungen, teils aber auch an den strukturellen Zwängen der Modeindustrie, die Frauenkleidung nach recht anderen Standards herstellt als Männerkleidung. Zum einen ist Frauenkleidung prinzipiell enger und körperbetonter, und zum anderen ist sie so viel detailreicher, variantenreicher, raffinierter und komplexer, dass jedes Outfit einer Frau zum Statement wird. Sich zu kleiden, ist für Männer und Frauen keineswegs ein Ereignis oder eine Lebensdimension von gleicher Bedeutung und gleicher Komplexität. Frauenkleidung ist gern eng, figurbetont, formenbetont und zeigt gern nackte Haut. Die Ausschnitte sind tiefer als bei Männern – das Tragen von Halsketten induzierend –, und das Zeigen nackter Schultern und nackter Beine ist für Frauen in sehr viel mehr Kontexten möglich und stilgerecht als bei Männern. Hauteng anliegende Kleidung ist normal. Aber auch, wo nicht an Stoff gespart, sondern extra viel Stoff verwendet wird – etwa weit geschnittene Hosen, leicht flatternd oder schwer fallend und faltenwerfend –, geht es um Form- und Blickfangeffekte, beispielsweise Betonung der Pobacken oder genussvolles Umspielen der Beine. „Brust und Po betonen“ ist nach wie vor die kürzeste Anleitung zur Kreation von Frauenmode. Dagegen ist Männerkleidung so gemacht, dass sie den Körper eher gleichmäßig umhüllt, nichts Bestimmtes betont, den Körper eher zweckmäßig bedeckt als präsentiert. Weiter ist Frauenkleidung formenreicher, farbenreicher, musterreicher, deshalb schwerer zu kombinieren als Männerkleidung. Beispielsweise können weibliche Tops irgendeine der folgenden Ärmellängen und -formen haben: Spaghettiträger, ärmellos, superkurz, kurz, Ellenbogen, dreiviertelarm, lang, Trompetenärmel, Ärmel mit wohlplatzierten Ausschnitten an Schulter oder Ellenbogen, Ärmel mit oder ohne Rüschchenansatz. Bei Männern gibt es kurze und lange Ärmel.2 An Ausschnitten gibt es bei Frauen VAusschnitt, U-Ausschnitt, U-Boot-Ausschnitt, Wasserfall-Ausschnitt, Serafino-Ausschnitt, hochgeschlossener Schnitt und zahllose andere Varianten. Bei Männern gibt es T-Shirt, Polohemd und Hemd. Oder nehmen wir Hosen. Für Frauen gibt es enge und ganz enge, weite und ganz weite Hosen, solche mit hohem Bund oder ganz hohem Bund, oder niedrigem Bund oder ganz niedrigem Bund, kurze und ganz kurze, lange und dreivierteloder siebenachtellange, es gibt Schlaghosen und Faltenhosen, Stretchstoffe und weich fließende Stoffe, es gibt fein auf die Körperform abgestimmte Musterungen (über der Pofalte zusammenlaufende Streifen) und noch einiges mehr. Bei Männern gibt es im Wesentlichen
2 Die Ärmel von Männer-T-Shirts enden praktisch und funktional in der Mitte des Oberarms, unauf-
fällig und locker fallend – ein Schnitt, der weder erotisch noch sonstwie blickziehend ist. Die Möglichkeit der Präsentation von Körperreizen (Bizeps), was sei’s durch geringere Länge, sei’s durch hautenge Stoffe bewerkstelligt werden könnte, wird nicht genutzt.
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B. Kuchler
lange und kurze Hosen, und Jeans und Stoffhosen. Es gibt hier sicherlich auch verschiedene Stoffe, in verschiedenen Dicke- und Wärmegraden, aber der Unterschied ist optisch kaum zu sehen. Selbst wenn sie unterschiedliche funktionale Eigenschaften haben, sind sie optisch einfach: Hosen. Grundsätzlich ist Männerkleidung sehr viel sachlicher, schlichter, praktischer, funktionaler. Kein Mann würde etwa auf die Idee kommen, Hosen anzuziehen, die keine Taschen haben, wo man Schlüssel und Handy hineinstecken kann, oder Schuhe, die so hohe Absätze haben, dass man darin nicht ergonomisch gehen kann und das natürliche Abrollen des Fußes verhindert wird. Für Frauen ist das normal. Form geht hier über Funktion, Schönheit über Pragmatismus. Die Formenvielfalt von Frauenkleidung ist schön und erfreut das Auge, muss dann aber natürlich kunstgerecht kombiniert werden. Nicht jede Hose geht mit jedem Oberteil, nicht jede Hose mit jedem Paar Schuhe usw., und zwar allein in der Form, die Kombination von Farben und Mustern noch gar nicht mitgerechnet. Während Männer in unserer Gesellschaft im Allgemeinen mit einem „binären System“ von Kleidung auskommen (Bachmann, 2015: 63), herrscht bei Frauen eine komplexe Kombinatorik, für die man Kunstfertigkeit entwickeln und Tag für Tag Energie aufwenden muss. „Binär“ heißt, dass der Kleiderschrank eines Mannes typisch Kleidung in zwei Kategorien enthält – Arbeit/Freizeit, oder brav/hip, oder Ausgehklamotten/Rumhängklamotten –, und innerhalb einer Kategorie ist dann mehr oder weniger jede Hose mit jedem Oberteil kombinierbar sowie mit jedem Paar Schuhe (Bachmann, 2015: 63 ff.). Für Frauen gibt es solche Vereinfachungen nicht. Hier gibt es keine klaren Kategorien, vielmehr lassen sich viele Kleidungsstücke zu vielen Gelegenheiten tragen, aber eben nach komplexen Regeln der Ästhetik und Kombinatorik, die es oft schwer machen, überhaupt etwas zu finden, was allen Kriterien entspricht und nicht durch irgendein Kriterium ausgeknockt wird: „nicht zu chic“, „nicht zu brav“, „nicht zu sexy“, „nicht wie meine Mutter“ usw. (Bachmann, 2015: 73 ff.). Es entsteht dann der Effekt, dass man vor dem vollen Kleiderschrank steht und feststellt, dass man „nichts zum Anziehen hat“, und im Effekt viel Zeit auf das Herausnehmen, Anprobieren, Weglegen und Wiederzusammenlegen von Kleidern verwendet (ebd.). Das ist nicht nur eine weibliche Kollektivneurose, sondern ein Effekt der Formenvielfalt der weiblichen Mode. Das Leben unter diesen Bedingungen erfordert nicht nur hohen Aufwand an Zeit, Geld, Lebensenergie, Raffinessekompetenz, sondern macht auch jedes Outfit, das man (frau) am Schluss trägt, zu einem Statement über die Person. Frauen setzen mit ihrer Kleidung immer ein Signal. Sie haben viel weniger als Männer die Möglichkeit, einfach eine unauffällige „Uniform“ zu tragen, die im jeweiligen Kontext üblich ist und keinen weiteren Aussagewert hat – sei es Anzug-und-Krawatte in sehr formellen Kontexten, Hemd-undHose in mittelformellen, Jeans-und-T-Shirt in informellen. Was immer eine Frau trägt, sagt etwas über sie als Person aus, wird beobachtet, kann Anlass zu Bemerkungen und musternden Blicken geben. Es ist eine Selektion aus einem viel größeren Auswahlbereich, und es ist der Auswahlbereich, der den Informationsgehalt einer Selektion bestimmt, nicht
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nur die Selektion selbst (Luhmann, 1972: 191). Das allein ist ein Grund dafür, dass Frauen mehr auf ihr Äußeres hin beobachtet werden als Männer: Es gibt dort einfach mehr zu sehen, es gibt mehr Information abzugreifen, nämlich mehr visuelle Reize und mehr Neuigkeitswert und Aussagewert. Es ist so ähnlich wie bei Angela Merkel, die über ihre Frühzeit als Ostfrau in der Westpolitik gesagt hat: „Die anderen hatten alle eine Frisur, ich hatte nur Haare.“ Im selben Sinn kann man sagen: Frauen haben immer ein Outfit, Männer haben nur etwas an. Für Männer gibt es in vielen Berufen eine Art Berufskleidung, die mehr oder weniger genormt ist und das Individuum hinter einer kontextgemäß adäquaten Aufmachung verschwinden lässt. Es kann sein, dass die Kleidung gewählt und teuer sein muss, aber das signalisiert dann Status, nicht Individualität. Die Kleiderordnung lässt Wahlfreiheit nur in Nuancen, sie lenkt die Aufmerksamkeit eher von der Person ab und auf die Sachkompetenz hin. Der Anzug des Politikers oder Anwalts sagt: „Ich bin ein kompetenter und seriöser Politiker/Anwalt/ …“, mehr sagt er nicht. Als Frauen vor hundert Jahren zum Berufsleben zugelassen wurden, wurde versäumt, entsprechende Berufsuniformen für sie nachzuentwickeln, wenn man von klassischen Frauenberufen wie Krankenschwester und Stewardess einmal absieht, die in ohnehin uniformierten Kontexten wie Krankenhäusern und Flugzeugen situiert sind. Frauen müssen sich in vielen Berufskontexten ihre Aufmachung selbst zusammensuchen, auf eigene Entscheidung und eigenes Risiko. Sie haben dafür im Prinzip das ganze Spektrum der Frauenmode zur Verfügung, mit allen genannten Chancen und Komplikationen. Das kann einerseits als Vorteil gesehen werden, nämlich als Freiheit der Wahl und Freiheit des Selbstausdrucks. Es kann aber auch als Nachteil gesehen werden, nämlich als Pflicht zur Expertise, Pflicht zur Ausstaffierung und Unvermeidlichkeit des Beobachtetwerdens. Diese beiden Seiten gehen Hand und Hand und sind gleichzeitig gegeben, unabhängig davon, was im bewussten Erleben der einzelnen Frau vorherrscht. Neben Kleidung betrifft das auch andere Aspekte des Körperstylings wie Frisur, Schmuck und Make-up. Man muss in dergleichen Dinge keine Aufmerksamkeit stecken, aber wenn man es nicht tut, wird man daraufhin beobachtet. Eine Frau, die eine gleichermaßen praktische, pflegeleichte Frisur trägt wie ein Mann, ihre Augenbrauen nicht zupft und weder Schmuck noch Make-up trägt, wird eben beobachtet als „Die schminkt sich nicht“. Eine reine Unterlassungshandlung – nicht schminken –, die von Millionen Männern täglich ebenso vorgenommen oder eben nicht vorgenommen wird, wird als Handlung und Personenmerkmal beobachtet. Soziologisch gesehen hängt die Möglichkeit, Unterlassungen als Handlungen zu beobachten, davon ab, dass Erwartungen bestehen, die die Handlung als normal, notwendig oder angemessen erscheinen lassen und die Unterlassung deshalb als Besonderheit, Merkwürdigkeit oder Fehlleistung hervorstechen lassen (Geser, 1986). Wie stark das in puncto Schminken der Fall ist, variiert natürlich je nach Kontext und Milieu. Aber jedenfalls besteht in unserer Gesellschaft offensichtlich breit gestreut die
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Erwartung, dass ein Frauengesicht mit Make-up verschönert werden muss und Anmutungen an volle Lippen (klassisch ein Fruchtbarkeitssignal) und auffälligen Augenaufschlag (klassisch ein Verführungssignal) aufweisen sollte.3 Und das ist nun nicht einfach eine andere Art, sich zu geben und sich zu präsentieren – eine weibliche Art, die anders, aber gleichwertig ist und in der Gesellschaft als gleichrangig behandelt werden sollte. Dergleichen könnte feministischerseits in Abwehr gegen Maskulinisierungsversuche wie den meinen gesagt werden. Es ist vielmehr eine Art, die vom Grundimpuls her auf den Bereich Partnerschaft/Liebe/Familie hin orientiert ist – nämlich auf Präsentation des Körpers und körperlicher Reize – und deshalb in der Berufssphäre fehl am Platz ist, wenn und soweit das mit den gleichen Berufschancen ernst gemeint ist. Es ist eine Art, die das klassische Schema „Frau = Familie, Mann = Beruf“ oder auch „Jane = schön, Tarzan = stark“ perpetuiert und in alle Bereiche des Lebens hineinträgt. Und es ist auch nicht so, dass es einfach die „Natur“ der Frauen ist, sich zu schmücken, oder dass Frauen einfach deshalb mehr angeschaut werden, weil an ihnen „natürlicherweise“ mehr dran ist. Letzteres ist als Spontanreaktion auf Thesen wie die meine manchmal zu hören: „Frauenkörper sind einfach von Natur aus geformter, an ihnen ist einfach mehr zu sehen, deshalb schaut man da mehr hin.“ Das ist aber schlicht sachlich falsch, auch wenn es uns so vorkommt, weil wir unser Leben lang in dieser Gesellschaft gelebt haben und unsere Sehgewohnheiten darauf eingestellt haben. Gesellschaften haben immer schon das, was in ihnen als soziale Ordnung gilt, naturalisiert und in die Ewigkeit zurückprojiziert. Tatsächlich sind Männerkörper genauso stark geformt, und es wären beispielsweise im Schritt eines Mannes sehr interessante Formen zu sehen, nur dass die von der Mode dezent im Unbetonten gelassen werden. In der Antike war es denn auch der männliche Körper, der als schöner und idealer galt und als besser geeignet, in Stein gemeißelt zu werden. Es ist ein gesellschaftliches Schema, dass der Frauenkörper optisch mehr zu bieten hat, es wird gesellschaftlich definiert und gesellschaftlich durchgesetzt, und die Mechanismen sind noch nicht einmal schwer zu sehen. Sie liegen vor unser aller Augen.
3 Hierzu eine persönliche Anekdote. Bei meinem ersten und einzigen Fernsehauftritt war die Mas-
kenbildnerin, vorsichtig gesagt, erstaunt angesichts meines Gesichts, das sich ihr mit ungezupften Augenbrauen und ohne jede Anmutung von Schminke oder Gesichtscreme darbot. Sie hat sich nur mühsam davon abhalten lassen, mein Gesicht in allerlei Hinsichten zu verschönern – „Aber ein bisschen Farbe auf die Lippen wäre doch schön!“ –, und war nur mit einigem Überzeugungsaufwand dazu zu bringen, mir nicht mehr Maske angedeihen zu lassen, als sie auch einem Mann geben würde. Ähnliche Erfahrungen macht wohl die Schauspielerin Kate Winslet, die inzwischen für ihren außergewöhnlichen Mut gefeiert wird, sich ohne Schminke in der Öffentlichkeit zu zeigen. Es gibt spezielle Hashtags dazu wie #nofilter und #nomakeup, die für Männer undenkbar wären und ex negativo die Stärke der Schminknorm für Frauen erweisen.
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Interaktion und Ausdruckskontrolle
Die herrschende Meinung heutzutage besagt, dass Frauen sich anziehen können, wie sie wollen, und trotzdem von anderen – von Kollegen oder Chefs, Journalisten oder Parteifreunden – nicht als Frau angeschaut und beurteilt werden dürfen. Wer gern kurze Röcke oder enge Blusen ins Büro anzieht, muss das tun dürfen, ohne deshalb musternden Blicken und anerkennenden oder spöttischen Sprüchen ausgesetzt zu sein und inhaltlich nicht mehr ernst genommen zu werden. Das ist die Freiheitszone und in gewisser Weise Privatsphäre der einzelnen Frau, die entlassen ist aus sozialer Kontrolle und enthoben der Beurteilung durch andere. Viele Frauen versichern denn auch: „Ich ziehe das ja nicht an, um irgendwen zu beeindrucken, ich ziehe es an, weil es mir gefällt.“ Das ist Konsens, jedenfalls in akademisch-linksliberalen Milieus, und davon abzuweichen produziert absehbar einen Shitstorm. Aber das muss ja noch nicht heißen, dass es soziologisch durchdacht ist. Ich beziehe mich im Folgenden auf einen soziologischen Klassiker, Erving Goffman, den Urvater der Interaktionssoziologie. Interaktionssoziologen untersuchen das Verhalten von Menschen in Face-to-Face-Interaktionen, also Situationen mit Kopräsenz und wechselseitiger Wahrnehmung. Goffman hat hierzu das Gesetz formuliert, dass Menschen in solchen Situationen unweigerlich eine Selbstdarstellung abgeben, oder dass „wir alle Theater spielen“ (Goffman, 1969, 1971, 1973, 1974). Interaktionsteilnehmer sind so gesehen laufend dabei, Ausdruckskontrolle und Eindrucksmanagement zu betreiben. Die Zweiheit von „Ausdruck“ und „Eindruck“ verweist auf die beiden Seiten des sozialen Geschehens: Man versucht den körperlichen und verbalen Ausdruck des eigenen Selbst zu kontrollieren, um den Eindruck, den andere von einem gewinnen, in gewünschte Bahnen zu lenken. Dabei muss es nicht unbedingt um egoistische Interessen des Darstellers gehen – um das Interesse, gut wegzukommen und als toller Hecht dazustehen –, es kann auch um Bedürfnisse der Gruppe gehen, der man angehört und für die man tätig ist, oder gar um das Wohl des Gegenübers, also des Adressaten der Darstellung, und das Wohl der allgemeinen Sozialordnung, in die man eingebunden ist. Ich erläutere das an Beispielen. Man denke etwa ans Zugfahren. Wenn eine geübte Zugfahrerin und Vielfahrerin in einen Zug steigt, wird sie – wie ich aus langjähriger eigener Erfahrung weiß – durch vielfältige kleine Strategien den Mitreisenden zu erkennen geben, dass sie eine Vielfahrerin ist, dass sie sich im Zug auskennt, dass sie ihre Routinen und Ansprüche hat und dass die anderen im Vergleich zu ihr nur Sonntagsfahrer sind, die ihr besser nicht in die Quere kommen. Sie wird zielsicher ihren Lieblingsplatz ansteuern, den Stecker ihres Notebooks blind in die Steckdose stecken und im Vorbeigehen lässig Licht und Temperatur regulieren, während ihre Mitpassagiere noch damit beschäftigt sind, die richtige Sitz- und Wagennummer zu finden. Das ist eine Selbstdarstellung im Eigeninteresse, die besagt: „Ich bin cool, lasst mich zufrieden.“ Ein Beispiel für die Selbstdarstellung im Interesse der Gruppe liefert dagegen der Kellner, der darum bemüht ist, die Speisen
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„seines“ Restaurants zu preisen und in allem einen Eindruck von Tadellosigkeit und Erlesenheit zu vermitteln, obwohl er am Erfolg des Restaurants in den meisten Fällen kein persönliches Interesse hat (Goffman, 1969). Es gibt aber auch viele Situationen, in denen Ausdruckskontrolle dem Wohl der Mitmenschen dient. Man stelle sich etwa vor, man hat einen Schlüssel in einem Park verloren und sucht ihn im Gras und Gebüsch neben dem Weg. Wenn nun Passanten vorbeikommen, wird man durch die Art seiner Bewegung oder durch murmelnde Geräusche zu erkennen geben, dass man etwas sucht, damit die Passanten nicht etwa angesichts einer Gestalt im Busch beunruhigt sind. Hier hat derjenige selbst gar nichts von seiner Selbstdarstellung, der Nutzen fällt bei den anderen Teilnehmern an, denen unnötige Beunruhigung und Wachsamkeit erspart bleibt. Ausdruckskontrolle ist auch ein öffentliches Interesse. Wir sind, als kompetente Bewohner des öffentlichen Raums, laufend dabei – nebenher und unbewusst –, die anderen zu beruhigen über möglicherweise befürchtete Gefahren und ihnen zu signalisieren, dass nichts Außergewöhnliches vor sich geht, dass man ein normaler, harmloser Zeitgenosse ist und dass alles in Ordnung ist (Goffman, 1974: 184 ff., 2005). In diesem Sinn hat Goffman etwa beobachtet, dass Fahrgäste in einer vollen UBahn, die so eng nebeneinanderstehen, dass sie sich berühren, automatisch die Muskeln derjenigen Körperpartien anspannen, wo Berührung stattfindet, um zu signalisieren: „Ich muss hier sein, um mich festzuhalten, es ist anstrengend, es macht mir keinen Spaß, es ist nicht etwa so, dass ich die Berührung genieße.“ Auch Kleidung und sonstige Aussehensattribute haben ein Moment von Selbstdarstellung und Eindrucksmanagement. Die weiße Kleidung des Arztes signalisiert Sauberkeit, die grüne Kleidung des Försters oder Jägers signalisiert Naturnähe und Naturkompetenz.4 Die wohlgewählte Kleidung einer Vortragenden oder einer Bewerbungskandidatin signalisiert Wertschätzung und sorgfältige Vorbereitung, ebenso wie im Zeitalter der Zoomkonferenzen ein ordentliches Zoomfenster mit neutralem Hintergrund und guter Beleuchtung Wertschätzung und Vorbereitung signalisiert (Krejci & Peteranderl, 2021). Und dieses basale Gesetz menschlichen Zusammenlebens gilt auch für die Kleidung, mit der jemand morgens ins Büro geht. Er oder sie sendet dadurch Interaktionssignale, ob er oder sie will oder nicht. Wer wohlgestylt mit farblich sorgfältig aufeinander abgestimmten Klamotten und allerlei fein akzentuierten Accessoires ins Büro kommt, möglicherweise hörbar auf Absätzen klackernd, lenkt die Aufmerksamkeit auf seinen Körper und sein Aussehen, bietet Wahrnehmungsreize und bedient Informationseinholungs- und Ablenkungsbedürfnisse. Das jedenfalls mehr als jemand, der in unauffälligem, täglich mehr oder weniger gleichem, accessoirearmen Aufzug erscheint; hier ist in dieser Dimension schlicht nichts zu holen, die Aufmerksamkeit muss sich anderen Dimensionen zuwenden. 4 Die grüne Kleidung von Jägern ist von rein expressivem Wert und hat keinerlei instrumentel-
len Wert. Unter instrumentellen oder Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten müssten Jäger vielmehr rote oder orange Kleidung tragen, erstens weil Wildtiere Rottöne schlecht sehen können, während sie Grüntöne sehr gut sehen können, und zweitens weil Rot den Jäger vor versehentlichem Erschossenwerden schützt.
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Oder auch: Wer sich mit Make-up im Gesicht seinem Gegenüber präsentiert, sendet das Signal, dass ihm Jugendlichkeit und anziehendes Äußeres wichtig sind, sonst könnte er die Falten unüberdeckt und die Wimpern unbetont lassen. An dieser Stelle höre ich schon den Aufschrei empörter Frauen: „Deshalb muss mir doch nicht mein Job unwichtig sein, und deshalb muss ich doch nicht weniger kompetent sein!“ Nein, nicht qua schlechthinniger Inkompatibilität dieser beiden Qualitäten in einem Menschen. Aber es ist ein Problem der Interaktionssignale. Man kann noch so tolle Arbeit machen und noch so intelligente Argumente bringen; wenn man, schon bevor man den Mund aufmacht, Interaktionssignale gesendet hat, die in Richtung Körperlichkeit und körperliche Attraktivität gehen, lenkt man die Aufmerksamkeit und die Anschlussoptionen in bestimmte Richtungen, was das Einschlagen anderer Richtungen unwahrscheinlicher macht. Der Topf der mentalen Personwahrnehmung und der interaktionellen Persondarstellung ist dann teilweise schon mit diesem Aspekt gefüllt, und es bleibt weniger Aufmerksamkeit für andere Aspekte übrig – etwa für die Projekte, die die Person pusht, für die guten oder schlechten Argumente, die sie fährt, oder für die Potenziale, die sie als Bündnispartner gegen Kollegen x oder Türöffner beim Kunden y haben könnte. Diese Interaktionsdynamik ist unabhängig davon, ob die Person die Absicht hat, andere mit ihrem Aussehen zu beeindrucken. Beeindruckt werden sie trotzdem, nämlich ihre Eindrücke werden geformt und gefärbt. Normalerweise haben wir für diesen Vorgang, wie gesagt, eine hohe internalisierte Ausdruckskontroll- und Eindrucksabschätzungskompetenz, die wir als kompetente Gesellschaftsmitglieder jeden Tag in vielen Situationen anwenden. Nur in diesem Punkt bestreitet der gängige Diskurs die Notwendigkeit einer solchen Ausdruckskontrolle und Eindrucksabschätzung und verkündet in fröhlichem Solipsismus das Recht von Frauen, beliebige Kleidung zu tragen, ohne daraufhin beobachtet zu werden. Postuliert wird einfach, dass die Interaktionspartner eben nicht darauf achten oder hinterher davon abstrahieren sollen. Ganz bestritten wird die Notwendigkeit von Ausdruckskontrolle natürlich nicht, und jeder Frau ist klar, dass sie nicht im tief ausgeschnittenen Dekolleté in eine Vorstandssitzung gehen kann oder dass es jedenfalls unpassende Kleidung für gegebene Anlässe gibt. Aber die Grenzen werden eben relativ großzügig gezogen, das heißt mit hoher Asymmetrietoleranz und selbstverständlicher Akzeptanz des Umstands, dass Frauenkleidung eben bunter, formenreicher, blickfangreicher, blickziehender „ist“ als Männerkleidung, und dass Frauen sich eben schminken und Männer nicht. Wir leben in einer Überlagerungs- oder Übergangssituation, in der die neue Struktur, wonach Frauen und Männer gleichberechtigt am Berufsleben teilnehmen, und die alte Struktur, wonach Männer mit Beruf/Leistung/ Sachkompetenz und Frauen mit Ehe/Attraktivität/Behaglichkeit identifiziert sind, beide ihre Finger im Spiel haben und mit Situationselementen präsent sind. Der jetzige Feminismusdiskurs reflektiert das nicht und hält soziologisch naiv einfach die eine Seite der Sache hoch (gleichberechtigte Teilnahme) und ignoriert oder verharmlost oder privatisiert die
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B. Kuchler
andere Seite (ungleiche Aussehensnormen), indem er die schlichte normative Forderung erhebt, dass diese eben interaktionell und organisational folgenlos bleiben solle. Was damit aber maximal erreicht werden kann, ist, dass aus solchen visuellen Reizen und Situationszutaten keine Handlungen folgen, also keine anzüglichen Blicke, Bemerkungen oder gar Berührungen. Was nicht verhindert werden kann, ist, dass dergleichen Interaktionssignale wahrgenommen werden. Man kann nur Handeln normieren, nicht Erleben, sagt Luhmann (1986: 237 ff.). Man kann jemandem nicht verbieten wahrzunehmen, dass die Kollegin einen tollen Hintern hat, wenn sie mit ebendiesem an seinem Schreibtisch vorbeigeht. Das kann man natürlich unter keinen Umständen, egal ob sie diesen Hintern mit einer Jeans, einem Minirock oder einem Kartoffelsack bekleidet. Aber dass gut designte Hosen und Röcke, die von der Modeindustrie ausdrücklich zu dem Zweck hergestellt werden, „Eyecatcher“ zu sein, nichts dazu beitragen, wird man wohl auch nicht behaupten können. Zu Ende gedacht läuft die ganze Situation auf einen Double Bind hinaus. Ein Double Bind ist eine Kommunikation, mit der zwei widersprüchliche Botschaften gleichzeitig gesendet werden, wodurch der Empfänger in eine unmögliche Position gebracht wird. In diesem Fall wird ein Interaktionssignal gesendet und gleichzeitig dementiert. Die Botschaft ist: „Ich sehe super aus, aber ich möchte auf keinen Fall auf mein Aussehen hin beobachtet werden!“ Oder: „Ich bin hier mit allen Insignien der Weiblichkeit, aber ich möchte auf keinen Fall als Frau beobachtet werden!“ Oder hochgerechnet auf die gesellschaftliche Dimension: „Ich demonstriere am eigenen Leib, dass es bei Frauen immer noch stark aufs Aussehen ankommt, aber das soll natürlich nicht heißen, dass es bei Frauen aufs Aussehen ankommt!“ Man kann hier natürlich einfach formal-juristisch denken, kann Rollenpflichten und Abstraktionspflichten normieren und festhalten, dass Merkmal x in Kontext z nicht berücksichtigt werden darf. Aber Soziologen wissen, dass nicht alles, was formell oder politisch oder wertemäßig unangreifbar ist, deshalb auch umsetzbar ist. Die Formalordnung ist immer nur ein Teil der „wirklichen“ sozialen Realität, daneben gibt es viele andere Aspekte, Erfordernisse, Strukturen, die sich formaler Regelung entziehen oder im Widerspruch dazu stehen, aber deshalb nicht aufhören zu existieren (Luhmann, 1964; Kühl, 2011, 2022). In Bezug auf Interaktion gilt speziell, dass das Erfordernis der Konsistenz, also des Sich-selbst-treu-Bleibens, unauflöslich über allem steht und an Interaktionsteilnehmer unvermeidbar herangetragen wird (Luhmann, 1969; Kieserling, 1999), und dass deshalb zwei so stark auseinanderlaufende Signale nicht mehr reibungsfrei verarbeitet werden können. Die Idee, das Aussehen von Personen solle folgenlos bleiben und Männer wie Frauen sollten ungeachtet ihres Äußeren gleichermaßen und ausschließlich nur für ihre Sachleistung gewürdigt werden, geht an den Realitäten der Aufmerksamkeitsökonomie und den Gesetzen des Interaktionsgeschehens vorbei. Es gilt: Wer Hingucker anzieht, muss damit rechnen, dass jemand hinguckt. Wer in durchgestyltem, die Vorzüge des eigenen Körpers hevorhebenden Outfit in der Arbeit erscheint, braucht sich nicht zu wundern, wenn er auf seinen Körper hin beobachtet wird.
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Oder dasselbe auf Gesellschaftsebene formuliert: Eine Gesellschaft, deren Mode- und Make-up-Industrie nach wie vor so asymmetrisch Frauen mit dem Desiderat des Gutaussehens identifiziert, braucht sich nicht zu wundern, wenn es an der Teilhabe von Frauen am Bereich Karriere/Leistung/Status hapert. Die subjektiv aufrichtige Intention, niemanden beeindrucken zu wollen und sich nur „für sich selbst“ schön zu machen, hilft dagegen nicht. Aussehen ist per definitionem etwas, was primär auf der Außenseite des Menschen stattfindet und zunächst einmal für die anderen da ist. Das eigene Aussehen kann man an sich selbst nur begrenzt verifizieren und genießen. Ob die Ohrringe, die man trägt, zur Halskette passen und die Halskette zum Ausschnitt, kann man überhaupt nur im Spiegel feststellen, und der Spiegel ist ja schon die Simulation des Blicks der anderen. Dass dieser Blick so internalisiert ist, dass man dann auch „für sich selbst“ schön sein will, kann sein. Aber das ändert nichts an der grundsätzlichen Für-andere-Qualität der Sache. Nun kann man sagen: Das ist doch bei anderen Personmerkmalen auch so – wenn etwa jemand kleinwüchsig ist oder im Rollstuhl sitzt oder eine andere Hautfarbe hat als die Bevölkerungsmehrheit –, dass ein wahrnehmbares Personmerkmal vorhanden ist, von dem aber in der Interaktion und in der organisationalen Kommunikation abstrahiert werden soll. Ja. Aber Erstens sieht man an diesen Beispielen auch, wie schwer und voraussetzungsvoll das ist, wie viel zivilisatorisches Niveau das erfordert und dass man es auf dem heutigen Stand der Gesellschaft noch nicht flächendeckend erwarten kann. Und zweitens sind Letztere ja Personmerkmale, die von der Natur gesetzt werden, und von der Gesellschaft in Gegenwehr gegen naturbedingte Überformung zu ignorieren versucht werden, aus gesellschaftlichem Fortschritt heraus oder aus gesellschaftlicher Verantwortung gegenüber der Menschheit heraus, der Menschheit in jeder Person. Aber bei der Geschlechterproblematik setzt sich die Gesellschaft ja selbst die Signale, die sie sich dann mühsam zu ignorieren aufgibt. Die geschlechtermäßige Ungleichheit der Aussehensnormen ist eben nichts Naturgegebenes, es ist nicht so, dass Frauenkörper einfach von sich aus nach figurbetonter Kleidung, Halsketten und Wimperntusche schreien. Es ist die Gesellschaft, die sich diese Asymmetrie gegeben hat – in früheren Zeiten, als manches noch anders war –, die sie aber auch heute nicht aufzugeben bereit ist, obwohl sie sich und ihren Mitgliedern damit eine Menge Probleme einbrockt.
9.4
Fazit
Der aktuelle Stand der Genderfrage ist geladen mit Double Binds. Neben dem hier aufgezeigten Double Bind des „Ich sehe zwar blendend aus, aber ich will nicht auf mein Aussehen hin beurteilt werden“ gibt es noch einen weiteren Double Bind, der in gendergerechter Sprache steckt, in ihren Dopplungen, Sternchen-Beimischungen und Pronomina-Verrenkungen. Der offiziellen Absicht nach geht es dabei darum, an einer bestimmten Stelle nichts über das Geschlecht auszusagen, das Geschlecht erwähnter
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Personen im Unbestimmten und Unbeachteten zu lassen. Aber das geschieht mit so komplexen, unaussprechlichen und unintuitiven Formulierungen, dass die Aufmerksamkeit unweigerlich auf genau die Dimension gelenkt wird, um die es angeblich nicht gehen soll. Beim Lesen eines genderkorrekt formulierten Textes kann man nicht nicht an die Genderdimension denken, obwohl die ursprüngliche Absicht doch war, den Leser von der Genderspur fernzuhalten. Vielleicht ist die Lage in der Genderfrage so verkorkst, dass wir ohne Double Binds nicht auskommen. Aber auch dann müssen wir sie sehen und aufdecken; unaufgedeckte Double Binds machen verrückt, das weiß man aus der systemischen Forschung. Auf jeden Fall glaube ich, dass wir auch in anderen Richtungen als der Machtfrage über die Sache nachdenken müssen, etwa eben in der Richtung von Darstellungsproblemen und Interaktionssignalen. Der Verweis auf Macht wirkt ja oft als diskurstechnische Keule. Jemand sagt: „Das hat ja auch mit Macht zu tun!“ Rumms. Das sitzt, das steht dann im Raum, die anderen sind erst mal ruhiggestellt oder stimmen ein. Das ist aber Quatsch. Macht ist nicht „der“ Faktor, der die Ordnung des sozialen Lebens erklärt. Macht ist auch nur ein Aspekt an komplexen sozialen Verhältnissen und nicht immer der wichtigste. Macht ist eine voraussetzungsreiche und immer nur partielle Kategorie (Luhmann, 2012). Auf jeden Fall basaler sind elementare Interaktionsprinzipien wie Selbstdarstellung, Personenwahrnehmung, Eindrucksorganisation und Konsistenzerwartung (Luhmann, 1969, 1972). Es gehört zu den „Kollateralschäden“ des Feminismus, dass sich eine „Viktimisierung des Frauenbildes“ eingeschlichen hat (Hirschauer, 2018: 18), insofern Frauen sich typisch auf der Seite der Ohnmacht und der Opfer von hartnäckigen männlichen Machtstrukturen positioniert finden. Im Gegensatz dazu propagiert die Systemik – ganz unabhängig von der Geschlechterthematik – schon lange die Idee, auch die vermeintlich schwächere oder ohnmächtige Partei in der „Täterperspektive“ zu sehen, also auch nach ihrem Beitrag zu einer gegebenen Problemsituation zu fragen (Simon und Rech-Simon, 1998; Retzer, 2001; Schlippe und Schweitzer, 2016). Das hat den Nachteil, dass man dann auch mit schuld ist, aber den komplementären Vorteil, dass man dann auch selbst etwas ändern kann. In diesem Fall müsste man, um etwas zu ändern, nur etwas weglassen: nämlich die Schminke weglassen und die Raffinesse des Kleiderschranks reduzieren, was man, ganz ohne auf Entgegenkommen der Männer zu warten, aus eigener Entscheidung und täglicher morgendlicher Entscheidungshoheit einfach tun könnte. Das ist sicherlich eine naive Hoffnung angesichts all des soziologischen Wissens um das Gewicht von Sozialisation, erlernter Identität, Peerdruck unter Frauen, Konkurrenz unter Frauen auf Partnermärkten usw. Aber der Idee nach wäre es trotzdem einfach und – um einen Aktivistenslogan zu kopieren – „keine Vision ist auch keine Lösung“.
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Literatur Bachmann, C. (2015). Kleidung und Geschlecht. Ethnographische Erkundungen einer Alltagspraxis. transcript. Geser, H. (1986). Elemente zu einer soziologischen Theorie des Unterlassens. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 38, 643–669. Goffman, E. (1969). Wir alle spielen Theater (5. Aufl.). Piper. Goffman, E. (1971). Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Suhrkamp. Goffman, E. (1973). Interaktion. Spaß am Spiel – Rollendistanz. Piper. Goffman, E. (1974) Das Individuum im öffentlichen Austausch. Suhrkamp. Goffman, E. (2005). Reaktionsrufe. In Ders: Rede-Weisen (S. 151–198). UVK. Hausen, K. (1976). Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. In W. Conze (Hrsg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas (S. 363–393). Klett. Hausen, K. (2012). Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte. Vandenhoek & Ruprecht. Hirschauer, S. (2018). YouToo. Die Soziologie sexueller Belästigung. Nds, 3, 18–21. Kieserling, A. (1999). Kommunikation unter Anwesenden. Suhrkamp. Krejci, G., & Peteranderl, A. (2021). Systemische Gruppendynamik Online. Workshop bei SimonWeber-Friends. Kuchler, B. (2017a). #OhneMich. In: Zeit Online, 12.11.2017. https://www.zeit.de/kultur/2017a-11/ sexismus-metoo-sexuelle-uebergriffe-aussehen. Kuchler, B. (2017b). Ungeschminkte Wahrheiten. In: Zeit Online, 28.11.2017. https://www.zeit.de/ kultur/2017b-11/aussehen-frauen-maenner-koerperreize-ohnemich-debatte. Kühl, S. (2011). Organisationen. Eine sehr kurze Einführung. VS. Kühl, S. (2017). Laterales Führen. VS. Kühl, S. (2022). Der ganz formale Wahnsinn. 111 Einsichten in die Welt der Organisationen. Vahlen. Luhmann, N. (1964). Funktionen und Folgen formaler Organisation. Duncker & Humblot. Luhmann, N. (1969). Legitimation durch Verfahren. Rowohlt. Luhmann, N. (1972). Rechtssoziologie, 2 Bde. Rowohlt. Luhmann, N. (1975). Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien. In Ders.: Soziologische Aufklärung 2 (S. 170–192). Westdeutscher Verlag. Luhmann, N. (1986). Ökologische Kommunikation. Westdeutscher Verlag. Luhmann, N. (1988). Macht, 2 (durchges). Enke. Luhmann, N. (2012). Macht im System. Suhrkamp. Retzer, A. (2001). Passagen. Klett-Cotta. Schlippe von, A., & Schweitzer, J. (2016). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I. Vandenhoek & Ruprecht. Simon, F. B., & Rech-Simon, C. (1998). Zirkuläres Fragen. Carl Auer.
Dr. habil. Barbara Kuchler ist Soziologin, Systemtheoretikerin und systemische Familientherapeutin. Sie hat derzeit ein DFG-finanziertes Forschungsprojekt an der Fakultät für Soziologie der Universität München. Zu ihren Forschungsthemen gehören Geld und Finanzen, Politik und Macht, Liebe und Familie. Sie betreibt den Blog „Familienknatsch“ und wechselt öfter zwischen einer soziologisch-begrifflichen und einer systemisch-praktischen Sichtweise hin und her. [email protected], [email protected]
Herausforderung Wachstum – Zwang zur Anpassung oder Freiheit für Entwicklung?
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Johannes Willms, Sara Willms und Maria Schmuck
Zusammenfassung
In diesem Beitrag geht es um das Verhältnis des persönlichen Wachstums der einzelnen Person und den Anspruch der Organisation, dass die Akteure bestmöglich zu ihrem Zweck beitragen sollen. Wie gestaltet sich das Verhältnis von Mensch und Organisation, wenn nicht nur eine spezifische Arbeitsleistung erwartet wird, sondern eine einzelne Person ihre Kreativität oder „das ganze Selbst“ in die Organisation einbringen soll? Welche Konflikte und Chancen ergeben sich, wenn die Organisation erwartet, dass sich „das Mindset“ oder „das Selbst“ der Akteure weiterentwickeln soll? Zielt nicht ursprünglich ein Großteil der Arbeit in Human Resources darauf ab, dass sich Personen entwickeln, um den Anforderungen der Organisation gerecht zu werden? Ist es auch möglich, dass es die Aufgabe der Organisation ist, dass sich die Akteure in Freiheit entwickeln? Was bedeutet es für unser Verständnis von Organisationen, wenn wir die Kontroverse wechselseitig denken? Der Beitrag geht der Frage nach, inwieweit sich Grundannahmen über das Verhältnis von Organisation und Person ändern.
J. Willms (B) · S. Willms willms.partner, Göttingen, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Willms E-Mail: [email protected] M. Schmuck Deutsche Hochschule für Gesundheit & Sport, Berlin, Deutschland
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 O. Geramanis et al. (Hrsg.), Organisationale Machtbeziehungen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42092-5_10
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10.1
J. Willms et al.
Einleitung
Steht das persönliche Wachstum im Widerspruch zum Wachstum der Organisation? Sollten Organisationen darauf achten, dass die Personen sich den Zielen der Organisation anpassen, oder sollten sie die freie Entfaltung der Individuen fördern? Können wirtschaftliche Organisationen überhaupt einen Beitrag für Persönlichkeitsentwicklung leisten, wenn sie unter permanentem Optimierungsdruck sind? Organisationen sind Arenen, in denen die funktionalen Anforderungen der modernen Gesellschaft und die Bedürfnisse der einzelnen Personen ausgehandelt werden, so sagen Rosa et al. (2021). „Konkret vermitteln sie zwischen den systemischen Imperativen der dynamischen Stabilisierung und den subjektiven Ansprüchen auf Selbstverwirklichung und ein gelingendes Leben.“ Aus dieser soziologischen Perspektive sind Organisationen „als Arenen ständiger Konfrontationen zwischen einander widersprechenden und manchmal unvereinbaren Zielsetzungen zu betrachten“ (ebd.). Als Coaches mit pädagogischen, psychologischen und sozialwissenschaftlichen Hintergründen sind wir für die Entwicklung von Personen tätig. Ebenso sind wir als Beratende immer wieder mit der Entwicklung von Organisationen befasst. Beruflich beschäftigen wir uns mit wirtschaftlichen Unternehmen verschiedener Größen, vom Start-up bis zum Konzern. Das Zitat von Rosa et al. kann man auf den ersten Blick so verstehen, als seien das Wachstum der Organisation und das Wachstum der Person zwei sich widersprechende Punkte. Aus unserer Sicht muss dies nicht so sein. In diesem Artikel wollen wir der These nachgehen, dass die Entwicklung der Person und die Entwicklung der Organisation Hand in Hand gehen können. Beides können kreative, schöpferische Prozesse sein, die sich wechselseitig verstärken und befruchten. Dafür beschreiben wir, welchen Anspruch das Wachstum der Organisation an die Person hat und welche neuen Ansprüche Personen heute an Organisationen stellen. Wir skizzieren unser Verständnis von persönlichem Wachstum und welchen Nutzen dies für Organisation bringen kann. Zwei Vignetten geben wieder, was wir im Feld beobachten. Sie schildern Strategien, die die Entwicklung der Organisation mit der Entwicklung der Person verbinden. Wir überprüfen beide Strategien auf ihre Stärken und Schwächen und schlagen einen Weg vor, mit dem Organisationen beginnen können, eine entwicklungsorientierte Kultur zu gestalten. Eine entwicklungsorientierte Kultur ist Ausdruck davon, dass in der Organisation sowohl das Wachstum der Organisation als auch die Entwicklung der Menschen als Zweck der Organisation tief verankert ist. Die folgenden Fragen machen das Thema erfahrbar. Wie wirkt die Organisation, in der ich arbeite, auf mich? Erlebe ich mich in ihr als kreativer als sonst? Oder erlebe ich mich außerhalb der Organisation kreativer? Begrenzt die Organisation meine persönliche Entwicklung? Schränkt meine Beziehung zur Organisation meine Entwicklungsmöglichkeiten ein?
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Antworten auf diese Fragen haben sich in den letzten 10 bis 20 Jahren verändert. Dass ein Unternehmen die Kreativität der Mitarbeitenden einschränkt, galt als selbstverständlich. Ein Unternehmen wurde als etwas gesehen, das viele Menschen koordiniert, um einem wirtschaftlichen Zweck zu dienen. Dass ein Unternehmen mich als Person in eine positive Richtung entwickeln könne, hätte man nicht erwartet. Persönliche Entwicklung im Berufsleben ist heute hoch auf der Agenda. Dass die persönliche Entwicklung dem Unternehmen nutzt, ist nicht mehr abwegig. „Wenn ich nicht wachse, wächst mein Unternehmen auch nicht“, fasste ein Gründer seine Erfahrungen der Unternehmensentwicklung zusammen.
10.2
Grenzen des Wachstums
Wenn über Wachstum im Kontext von Unternehmen gesprochen wird, denkt man schnell an den wirtschaftlichen Ertrag. Unternehmen investieren in die Zukunft und erwirtschaften Gewinn. Wachstum wird quantitativ betrachtet. Ein wirtschaftliches Unternehmen wächst anhand von Umsatz und Profit. Dafür müssen meist mehr Menschen im Unternehmen arbeiten. Ohne Mitarbeitende, die spezifische Fähigkeiten einbringen, kann sich eine Firma nicht entwickeln. Daran wird auch Maschinenlernen wenig ändern. Doch das wirtschaftliche Umfeld hat sich verändert. Früher bewarb man sich bei Unternehmen. Heute werben Unternehmen um BewerberInnen. Seit dem Ende der Coronapandemie weiß es jede Gaststätte: Ohne Mitarbeitende läuft nichts. Dr. Joachim Kreuzburg, CEO der Sartorius AG, formulierte kürzlich für das erfolgreiche Unternehmen aus der Biopharmabranche: In der Zukunft seien die Grenzen des Wachstums nicht durch die geschäftlichen Opportunitäten, sondern durch den Fachkräftemangel gesetzt (Göttinger Tageblatt, 31.12.22). Neben dem vorwiegend quantitativen Wachstum durch mehr Mitarbeitende, mehr Produktion und mehr Umsatz versuchen viele Unternehmen im Wettbewerb dadurch zu wachsen, dass sie anders arbeiten und dadurch ihre Innovationsfähigkeit verbessern. Über neue Formen der Zusammenarbeit soll mehr Agilität erreicht werden. Engere Beziehungen zu Kunden und Lieferanten sollen zu exklusiven Kooperationen führen. Neue Produkte und Services sollen schneller entworfen und vermarktet werden. Crossfunktionale Teams sollen die internen Abteilungsgrenzen überwinden. Durch eine neue Kultur der gegenseitigen Hilfe sollen neue und kreativere Lösungen entstehen. Durch das Design der Organisation soll hervorgebracht werden, was nicht angeordnet werden kann. Innovationen kann man nicht erzwingen. „Früher haben wir den Menschen beigebracht, dass sie tun, was wir sagen. Heute wollen wir ihnen beibringen, dass sie etwas tun, was wir ihnen gar nicht sagen können, weil wir es selbst nicht wissen.“ So sagte es uns ein HR-Direktor im Gespräch. Führungskräfte versuchen durch die Struktur der Organisation Begegnungen und Kommunikationsprozesse zu ermöglichen, die zu Synergien führen. Damit aus den Begegnungen der Menschen Neues entsteht, braucht
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J. Willms et al.
es Offenheit, Diversität und Neugier. So tritt bei Umstrukturierungen häufig das Thema „Mindset“ in den Vordergrund. Organisationen erwarten von Mitarbeitenden ein neues Mindset, mehr Offenheit, mehr Verantwortung und mehr Gestaltungskraft. Die Menschen sollen kreativer sein.
10.3
Die persönliche Grenze
Der Anspruch einer Firma, das Mindset der Personen zu verändern, ist diskussionswürdig. Wie Menschen denken und fühlen, ist ein innerlicher Vorgang. „Die Gedanken sind frei“ ist ein populärer Gedanke in Deutschland. Dass Unternehmen die innere Einstellung von Menschen beeinflussen wollen, kann man als ausufernde wirtschaftliche Systemrationalität im Habermasschen Sinne betrachten (Habermas, 1981). Die Logik des Wirtschaftslebens dehnt sich aus auf die privatesten Bereiche der guten Lebensführung, auf das Selbstverständnis der Personen. Ein wirtschaftliches Unternehmen erwartet von Angestellten, neue geschäftliche Opportunitäten zu eröffnen und dafür ihr unternehmerisches Selbst zu entdecken. Die Firma verlangt eine emotionale Bindung und die Identifikation mit dem Purpose der Organisation. Das menschliche Innenleben ist Marktteilnehmer. Das Ich ist eine Marke mit Unique Selling Points und kontinuierlichem Selbstoptimierungsdruck. Gleichzeitig kann man den Anspruch der Unternehmen nachvollziehen. Die Einstellung zur Arbeit, Emotionen und Gedanken bestimmen mit, welche Ergebnisse erzielt werden. Wie man Verantwortung übernimmt, ob man sich mit der Arbeit identifiziert, sich auf einen kreativen, schöpferischen Prozess einlässt, der etwas bedeutet, macht einen Unterschied. In wenigen Jobrollen reicht es, vorgeschriebene Tätigkeiten auszuführen. In einer sich verändernden Welt ist die Erwartung, dass sich Personen weiterentwickeln, legitim. Wir sehen in dieser Auseinandersetzung, dass sich im Laufe der zurückliegenden Jahrzehnte offenbar Annahmen über unser Berufs- und Privatleben verändert haben. Die Grenzen sind verschwommen. Viele Menschen arbeiten zu Hause und das ganze Leben besteht aus Arbeit. Früher sah man die berufliche Rolle und die private Person getrennt voneinander. Heute stellt man eher Gemeinsamkeiten in den Vordergrund. Wie ich meine Rolle erfülle, hängt damit zusammen, wie ich als Person bin. Man spricht sogar davon, „das ganze Selbst“ in die Organisation einzubringen. Damit meint man einerseits die intrinsische Motivation, das wirkliche Wollen. Es meint andererseits auch, dass wir uns am Arbeitsplatz wohlfühlen und als Person gesehen werden wollen. Das beinhaltet auch, dass man offen über Bedürfnisse neben der Arbeit redet und diese ihren Raum bekommen.
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10.4
155
Neue Arbeit – neue Erwartungen
Am Ende der Pandemie 2022 wurden neue Erwartungen von Menschen an Unternehmen deutlich. Was bis dahin als normal galt, wurde als veränderbar erlebt. Die Auseinandersetzung um das Homeoffice bildet dabei die Spitze des Eisberges. Catrin Hinkel, CEO von Microsoft Schweiz, spricht davon, dass es notwendig sei, „die Erwartungen der Mitarbeitenden mit den Unternehmenszielen in Einklang zu bringen“ (Handelszeitung 19.03.2022). In einer Befragung von Microsoft Anfang 2022 geben 36 % der Befragten an, dass Gesundheit, Familie und Freizeit einen höheren Stellenwert als ihre Arbeit haben. Von allen Befragten hatten bereits 20 % ihren Job seit der Pandemie gekündigt, 50 % der jüngeren überlegen dies zu tun (ebd.). Eine gute Work-Life-Balance ist eine Toppriorität bei Berufseinsteigern. Diese Zahlen sind aus Unternehmenssicht alarmierend. Die Unternehmen riskieren ihr Wachstum, wenn sie für die Arbeitnehmenden nicht mehr attraktiv sind. Mit dem Fachkräftemangel haben sich die Machtverhältnisse am Arbeitsmarkt verschoben. Die Anzahl der Unternehmen, die ihren Stellenbedarf nicht decken können, hat sich in den letzten 10 Jahren verdoppelt (Plusminus, 2023). Im deutschen Mittelstand versucht man „NewWork“-Elemente einzuführen, um die Attraktivität als Arbeitgeber zu erhöhen. Doch ein paar Büromöbel und kosmetische Veränderungen reichen nicht. Laut der Studie von Microsoft geht es um einen neuen Stellenwert der Arbeit. Die Arbeit soll in ihrer Quantität nicht das gesamte Leben bestimmen. Auch wie gearbeitet wird, soll sich ändern. Die kommende Generation von Führungskräften möchte die bestehenden Erwartungen nicht mehr erfüllen (Dierke & Houben, 2022). Die alten Rollenbilder ziehen nicht mehr. Geht die Sinnkrise in der Arbeitswelt noch tiefer? Der Vordenker von New Work, Frithjof Bergmann, fordert, das Verhältnis von Arbeit und Mensch radikal neu zu praktizieren (Bergmann, 2004). Nicht der Mensch soll der Arbeit dienen, sondern die Arbeit soll den Menschen dienen. Der Mensch soll im Mittelpunkt stehen. Organisationen, der gesamte Prozess der Arbeit, auch das, was wir für Arbeit halten, braucht eine Neubestimmung. New Work nach seinem Vordenker ist heute sicherlich Utopie. Doch die Rolle von Unternehmen in der Gesellschaft wird stärker thematisiert. Das Lieferkettengesetz thematisiert die Menschenrechte und der Klimawandel macht deutlich, wie wichtig es ist, dass die Wirtschaft nicht Profitinteressen von wenigen bedient. Lange galt Corporate Social Responsibility als Tätigkeit der Marketingabteilung. Heute prüfen Investoren und Geldgeber den Nachhaltigkeitsbericht des Unternehmens. Von Unternehmen wird zunehmend erwartet, als Good Corporate Citizen das Gemeinwohl zu achten. Wirtschaft muss gut für people & planet sein.
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10.5
J. Willms et al.
Synergie
Unternehmen müssen Mitarbeitende gewinnen. Ein jüngerer Trend auf dem Bewerbermarkt ist, die Arbeitszeiten auf vier Tage pro Woche zu begrenzen. Diese beliebte Option erlaubt Mitarbeitenden neben der Erwerbsarbeit mehr Zeit für das eigene Leben. Für beide Seiten ein guter Kompromiss. Eine weitere Option wäre, mehr eigenes Leben in die Arbeitszeit zu holen. Wenn Unternehmen mehr die Persönlichkeitsentwicklung der Mitarbeitenden fördern, schaffen sie damit ein Angebot, für das es offenbar eine große Nachfrage gibt. 76 % der Angestellten gaben im Work Trend Index von Microsoft an, dass sie länger für eine Firma arbeiten würden, wenn sie mehr Unterstützung für Lernen und Entwicklung bekommen würden (Microsoft, 2022). Die Möglichkeiten, zu lernen und zu wachsen, sind aus Sicht der Angestellten der wichtigste Treiber einer erstrebenswerten Unternehmenskultur (ebd.). Die Schaffung einer Unternehmenskultur, die Lernen und Entwicklung als wesentliche Säulen umfasst, könnte ein Weg sein, Synergie aus den sich zunächst widersprechenden „systemischen Imperativen der dynamischen Stabilisierung und den subjektiven Ansprüchen auf Selbstverwirklichung und ein gelingendes Leben“ (Rosa et al., 2021) herzustellen. In einer sich verändernden Welt müssen Unternehmen die Dynamik kontinuierlichen Wandels an die Mitarbeitenden weitergeben und gleichzeitig die Mitarbeitenden fördern, diesen Wandel zu gestalten. Eine entwicklungsorientierte Unternehmenskultur würde aus unserer Sicht bedeuten, dass es in der Organisation selbstverständlich ist, Lernherausforderungen anzunehmen, und ebenso selbstverständlich, sich dabei gegenseitig zu unterstützen, diese zu bewältigen. Als Lernherausforderungen gelten dabei sowohl die Herausforderungen der Organisation, ausgelöst durch Marktanforderungen, als auch die Herausforderungen der Personen, die sich in der Bewältigung der Herausforderung weiterentwickeln können.
10.6
Leuchttürme
Dass es möglich ist, die Entwicklung der Person mit der Entwicklung des Unternehmens zu verschmelzen, zeigen Kegan et al. (2016) in ihrem Buch An everyone Culture. Sie beschreiben verschiedene Organisationen, die die Entwicklung der Personen zum Kern ihrer Tätigkeit erhoben haben. Diese Organisationen sind jedoch keine karitativen Institutionen, sondern wirtschaftlich erfolgreiche Unternehmen, die teilweise Marktführer sind. Diese Deliberately Developmental Organizations (DDOs) haben Unternehmenskulturen hervorgebracht, die die Mitarbeitenden herausfordern, sich als Personen zu entwickeln, und sie dabei auch unterstützen. Die kontinuierliche Verbesserung der Arbeitsergebnisse wird getragen von persönlicher Potenzialentfaltung. Dafür haben diese Organisationen Praktiken entwickelt, die von allen genutzt werden und in der wirtschaftlichen Tätigkeit
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angewendet werden. Als ein prominentes Beispiel dafür dient der Hedgefonds Bridgewater. Als Hedgefonds besteht das Geschäftsmodell in Anlagestrategien und Investitionen. Die Persönlichkeitsentwicklung geschieht unter anderem anhand der eigenen Urteilsfindung. Die Techniken, die Bridgewater für das Lernen entwickelt hat, unterstützen Glaubwürdigkeit, Transparenz und Integrität der Personen. Personalentwicklung wird bei Bridgewater daher nicht als separate Kostenstelle gesehen. Man kann davon ausgehen, dass die persönliche Entwicklung die wirtschaftliche Tätigkeit direkt verbessert, sie kann davon nicht unterschieden werden.
10.7
Entwicklung im Erwachsenenalter
Was ist unter Persönlichkeitsentwicklung im Erwachsenenalter zu verstehen? Eine Schwierigkeit des Begriffs Mindset ist, dass er sehr unscharf benutzt wird. Eine trennscharfe Perspektive bietet die konstruktivistische Entwicklungstheorie von Robert Kegan, die sich mit Mindsetentwicklung beschäftigt. Kegan beschreibt verschiedene Arten, wie Menschen ihr Selbst konstruieren (Kegan, 1986). Das Charakteristische an seiner Theorie ist die zunehmende Entfaltung des Selbst durch ein bestimmtes Subjekt-Objekt-Verhältnis, das als verschiedene Entwicklungsstufen beschrieben werden kann. Das Subjekt-ObjektVerhältnis bezeichnet, was als Ich in der Beziehung zum Nicht-Ich erlebt wird. Die jeweilige Weiterentwicklung besteht darin, dass das Subjekt der einen Stufe zum Objekt der folgenden Stufe wird. So entwickelt das Individuum eine größere Kontaktfläche zur Welt und wird in seinem Selbstverständnis Schritt für Schritt freier. Die konstruktivistische Entwicklungstheorie beschäftigt sich mit dem Mindset, anhand dessen Menschen ihr Selbst beschreiben. Dieses meist unbewusste Set von gedanklichen Annahmen über sich selbst und das Verhältnis zur Welt beeinflusst das weitergehende Denken und Verhalten von Menschen. Die grundlegenden Annahmen über unser Selbst schränken den Handlungsspielraum ein, sie spielen eine Rolle dabei, wann man sich angegriffen fühlt, wann man sich verteidigen muss. Sie beeinflussen, wie wir mit der Welt und mit anderen Menschen in Beziehung treten. Mit seiner Theorie beschreibt Kegan, wie sich Menschen im Erwachsenenalter weiterentwickeln können. Mit dem Wechsel vom Subjekt zum Objekt beschreibt er fünf Stufen der Selbstentwicklung, von denen im Allgemeinen die Stufen 3, 4 und 5 als Entwicklungsstufen des Erwachsenenalters beschrieben werden. Auf jeder Stufe hat die Person ein unterschiedliches Verständnis davon, was ihr Selbst ist. Auf der ersten Stufe, in der frühesten Kindheit, hat der Mensch noch kein von der Umwelt unterscheidbares Verständnis von sich. Auf der zweiten Stufe identifiziert sich der Mensch mit den eigenen Bedürfnissen. Er sieht die Welt durch seine Bedürfnisse. Sie sind das Subjekt, der Mensch wird dadurch gesteuert. In der Entwicklung zur dritten Stufe, zum sozialisierten Selbst, lernt der Mensch, sich von seinen Bedürfnissen zu unterscheiden. Nun kann eine Beziehung zu den eigenen Bedürfnissen eingegangen werden. Dadurch kann der Mensch seine
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Fähigkeit, auf die Bedürfnisse von anderen und deren Erwartungen einzugehen, freier von seinen eigenen Bedürfnissen nutzen. Das sozialisierte Selbst entspricht der Vorstellung einer erwachsenen Person, die die Erwartungen der Gesellschaft vollumfänglich erfüllen kann. Diese Erwartungen sind internalisiert und damit die Brille, durch die, die Person die Welt betrachtet. Der Mensch identifiziert sich als Person, die ein vermitteltes Set von Erwartungen erfüllt und dadurch ein guter Mensch ist. Die weitere Entwicklung folgt dem Muster der „Subjekt-zu-Objekt“-Verschiebung. Die Person bekommt eine eigene Sicht auf die Erwartungen, denen sie folgt, und entwickelt zunehmend eine eigene Erwartung an sich selbst. Diese Stufe nennt Kegan das „SelfAuthoring Mind“, der Geist, der sich selbst erschafft. Personen, die ihr Selbst auf diese Weise konstruieren, erleben sich als unabhängiger und können eine offenere Beziehung zu anderen eingehen, auch wenn diese andere Wertvorstellungen haben. Sie können von anderen Wertvorstellungen lernen, ohne dadurch ihre eigenen Wertvorstellungen infrage gestellt zu sehen. Für die Arbeitswelt ist die Erwachsenenentwicklung vom sozialisierten Selbst zum sich selbst erschaffenden Selbst von hoher Bedeutung. Menschen mit einem sozialisierten Selbst tendieren dazu, Entscheidungen anhand eines feststehenden Sets an vermittelten Werten oder gemachten Erfahrungen zu treffen. Das mag Vorteile hinsichtlich der Berechenbarkeit haben, kann jedoch zu Einschränkungen in komplexen Situationen führen, in denen Entscheidungen bei widerstreitenden Interessen zielorientiert gefällt werden müssen. Die fünfte Entwicklungsstufe nennt Kegan das „Self-Transforming Mind“. Während sich das Selbst der vierten Entwicklungsstufe mit den selbst gewählten Werten erschafft, identifiziert sich das sich selbst transformierende Selbst mit dem Prozess des Werdens. Das Selbst der fünften Stufe erkennt, dass es seinen eigenen Werten nicht immer entspricht, und lässt sich mehr und mehr auf eine Vieldeutigkeit seiner selbst ein. Das sich selbst erschaffende Selbst hat seine Person klar, unabhängig und unterscheidbar hervorgebracht. Das sich selbst transformierende Selbst identifiziert sich mit der Bewegung zwischen verschiedenen Polen. Für die Arbeitswelt kann hier ein Vorteil in Situationen liegen, in denen Entscheidungen bei vielen widersprüchlichen Informationen in einer sich dynamisch verändernden Umwelt getroffen werden müssen. Die Selbstentwicklung des Menschen kann sowohl einen persönlichen Vorteil als auch einen organisationalen Vorteil bedeuten. Aus unseren Erfahrungen im Coaching, das die Selbstentwicklung von Personen unterstützt, können wir sagen, dass die Person sich als freier, unbeschwerter und offener erlebt. Für das Leben in Organisationen ist vor allem der bessere Umgang mit Komplexität ein Gewinn. Das Selbst, das sich als offener und weniger fixiert erlebt, hat eine größere Kontaktfläche und kann mehr Informationen umfassender verarbeiten. Die Entwicklungstheorie weist für Organisationen und die für sie tätigen Personen vielversprechende Perspektiven auf, wie das zunehmende Wachstum der Person die Wertschöpfung der Unternehmen verbessern kann.
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Strategien für die Entwicklung von Person und Organisation
Bei unseren Beobachtungen des Feldes stellen wir fest, dass sich Organisationen damit beschäftigen, wie die Entwicklung der Organisation und die freie Entfaltung der Person miteinander verbunden werden können. Dazu zählen wir Experimente mit organisationalen Designs, neue Führungskonzepte und umfassende Talententwicklungsmaßnahmen. Zwei verschiedene Strategien destillieren wir aus unseren Beobachtungen heraus. Eine Strategie setzt darauf, die Persönlichkeitsentwicklung gezielt zu fördern. Die andere Strategie schafft offenere Strukturen, in denen sich Personen frei entfalten können. Wir schildern die Strategien anhand von konstruierten Fällen. Beide Fälle bestehen jedoch jeweils aus mehreren konkret beobachteten Unternehmen, für die wir in verschiedenen Rollen gearbeitet haben.
10.8.1 Nova Energica – Mindset matters Nova Energica sucht die Transformation. Getrieben durch die Veränderung der Energiewirtschaft ändert sich das gesamte Geschäftsfeld. Nachdem in der alten Welt große Projekte in Öl, Gas und Atom durchgeführt wurden, muss nun auf Wind, Wasser, Solar und Speichertechnologie gesetzt werden. Während das alte Geschäftsfeld durch große stabile Anlagen geprägt war, die über einen langen Zeitraum konstante Leistungen erzeugten, werden nun viele kleinere Anlagen in dynamischen Netzwerken in dezentraler Steuerung verbunden. Ähnlich sieht es in der Neustrukturierung der Organisation aus. Die unterschiedlichen Bereiche müssen neue dynamische Formen der Zusammenarbeit entwickeln, anstatt auf die Order der Zentrale zu warten und die Strategie in Fünfjahresplänen umzusetzen. Während in der alten Welt von Nova Energica wenige Projekte großer Ingenieurskunst langsame kontinuierliche Verbesserung erfuhren, sind in der neuen Welt radikale Veränderung, dynamische Kollaboration und die Entwicklung von neuen unbekannten Formen die Norm. Ein zentraler Baustein der Transformation ist ein neuer Führungsstil, ausgehend von der Spitze des Unternehmens. Der CEO lebt es vor und sieht sich als Lernender – weniger als Oberboss. In seinen wöchentlichen Videopodcasts spricht er über den Umgang mit Unsicherheit, über die Rolle des Unternehmens für die Gesellschaft und davon, wie die Entwicklung der Person die kulturelle Entwicklung des Unternehmens unterstützt. Basierend auf entwicklungspsychologischen Ansätzen fördert Nova Energica die Mindsetentwicklung der Mitarbeitenden durch Lernreisen. Die Lernreisen unterstützen die Teilnehmenden dabei, ein persönliches Entwicklungsziel zu verfolgen. Durch die Arbeit mit dem „Immunity-to-Change“-Ansatz von Robert Kegan und Lisa Lahey entdecken die Lernenden, wie unbewusste Denkmuster das eigene Verhalten eingrenzen (Kegan & Lahey, 2009). Mit kleinen Lernexperimenten überprüfen sie limitierende Annahmen, erweitern das eigene Denken und damit auch den eigenen Handlungsspielraum. In dem
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Prozess entdecken und überwinden die Teilnehmenden Ängste, die sie zuvor unbewusst blockiert haben. Dies erleben viele als eine starke persönliche Entlastung. Für die meisten Teilnehmenden sind die Lernreisen ein tiefer Blick nach innen – mit einem starken Effekt für die eigene Tätigkeit im Unternehmen. Sie beschreiben zum Teil persönliche Transformationen ihrer Denk- und Verhaltensmuster. Sie lernen sich selbst besser kennen und können sich kreativer einbringen und eine bessere Wirkung erzielen. Die Lernreisen dauern zwei Monate und werden zunächst für Führungskräfte und später für alle Interessierten angeboten. Sie finden online statt und verbinden die professionelle Anleitung von Übungen mit Peer-to-Peer-Lernen unter Kollegen/Kolleginnen. Nova Energica steht als Vignette für die Unternehmen, die Persönlichkeitsentwicklung als einen Faktor der kulturellen Transformation ansehen. Persönlichkeitsentwicklung wird aus der Strategie heraus abgeleitet und durch spezialisierte Abteilungen gefördert. Dies soll dazu beitragen, dass die Angestellten besser mit Komplexität umzugehen lernen und sich kreativer einbringen. Die Teilnahme an den Lernreisen ist freiwillig. Die Mitarbeitenden wählen sich ihre Entwicklungsziele selbst und sind darüber nicht rechenschaftspflichtig. Wir haben diesen Prozess in verschiedenen Unternehmen eingeführt, beobachtet und mehrere hundert Führungskräfte darin begleitet. Aus unserer Sicht zeigt sich deutlich, in welchem Ausmaß Persönlichkeitsentwicklung einen Unterschied für die Performance in Unternehmen machen kann. Die handelnden Personen werden risikobereiter, Gespräche intensiver und die psychologische Sicherheit steigt in Peer-Learning-Formaten miteinander, Vertrauen baut sich auf. Während sich durch die Lernformate deutliche Entwicklungsschritte für die teilnehmenden Personen erreichen lassen, bleibt es eine Herausforderung, das kontinuierliche Lernen in der Organisation zu verankern. Damit die intensive Aufbauarbeit zur Kulturentwicklung wird, braucht es einen langen Atem.
10.8.2 Neufirm organisiert sich selbst Für die zweite Vignette beschreiben wir Neufirm, ein fiktives Unternehmen, das in der IT-Branche tätig ist. Mit agilem Projektmanagement fing es an. 300 Personen arbeiten an verschiedenen Standorten. Heute ist Neufirm Vorreiter in Sachen New Work. Das Unternehmen gehört den Mitarbeitenden, die alten Formen von Besitz und traditionelle Führungsstrukturen sind abgeschafft. Kollegiale Führung und die freie Entfaltung auf Basis der eigenen Stärken und Interessen sind konstituierende Elemente. Jede Person soll machen, was sie am besten kann. Auf Basis der eigenen Stärken kann man neue Dinge lernen und in neue Rollen hineinwachsen. Was Neufirm in den letzten Jahren geschaffen hat, ist beeindruckend. Die Auftragsbücher sind voll, neue Kunden stehen Schlange und als Arbeitgeber ist Neufirm beliebt.
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Die Firma ist auf einem steilen Wachstumskurs. Ein Beleg dafür, dass die neue Arbeitswelt funktioniert, wenn man konsequent seinen Weg verfolgt und nicht bei den ersten Schwierigkeiten einknickt. Selbstverständlich tauchen neue Herausforderungen für das Unternehmen auf. Wenn man die alten Hierarchien abschafft, merkt man, welche Funktionen unerfüllt bleiben. Wie wird entschieden, wer was machen darf, wenn alle machen können sollen, was sie wollen? Wer zeigt Grenzen auf, wenn sich doch alle frei bewegen können sollen? Wie findet man die eigenen Stärken heraus – und was ist mit den eigenen Schwächen? Gelingt es, Personen an das Unternehmen zu binden, die millionenschwere Projekte managen können, wenn man keinen Karrierepfad mehr anbieten kann, weil man ohne Hierarchie nicht aufsteigt? Unternehmen, die auf Selbstorganisation setzen, definieren ihre Strukturen häufig so, dass die freie Entfaltung von Kreativität unterstützt wird. Machtausübung von Personen soll vermieden werden, das Kollektiv genießt Autorität. Oft sedimentieren sich informelle Hierarchien und Stabilität wird über Personen, die Altvorderen, gewonnen. Wie offen die Kommunikation gehalten werden kann und welche Tabus sich etablieren, wird für die Lernfähigkeit des Unternehmens entscheidend. Wie gelingt es, die Komfortzonen zu verlassen und auch lieb gewonnene Regeln zu hinterfragen? Entwicklung fokussiert sich bei Neufirm auf Skills. Jede Rolle wird mit den Fähigkeiten beschrieben, die notwendig sind, um sie erfolgreich auszuführen. Die Skills werden in verschiedenen Levels unterschieden: Beginner, Expert, Pro. Dieses Skillmapping wirkt weniger wie ein herkömmliches Stellenprofil, eher erinnert es an ein Fantasy-Rollenspiel. Der Held kann durch neue Abenteuer seine Fähigkeiten verbessern und steigt in einen neuen Level auf. So können auch Statusbedürfnisse von Personen einen Raum finden und der Zugang zu manchen Rollen lässt sich begrenzen. Neufirm steht für verschiedene Unternehmen, die durch flache Hierarchie ihren Mitarbeitenden die freie Entfaltung der Person bieten wollen. Die Personen können mitgestalten und genießen einen hohen Freiheitsgrad. Es wird darauf geachtet, dass die Strukturen den Bedürfnissen entsprechen. Arbeitszeitmodelle und Arbeitsort sind meist hochflexibel und selbstbestimmt. In diesen Organisationen bleibt es eine Herausforderung, darauf zu achten, wie wir arbeiten und was wir persönlich dafür mitbringen. In einer Kultur, die nur auf Stärken setzt, werden Schwächen leicht zum Tabu. Aus dem Anliegen heraus, das Gute im Menschen zu stärken, wird es unangemessen, Kritik zu üben. Wenn wir vermeiden, auf unsere Schwächen zu sehen, dann verspielen wir genau die Möglichkeiten, die uns in unserer Entwicklung einen großen Schritt voranbringen können. Wir lernen dann vor allem informativ und nicht transformativ. „Wenn wir nur unsere Stärken stärken, bekommen wir immer bessere Raupen – aber niemals Schmetterlinge“, sagte Robert Kegan einmal zu einem allein auf Stärken beruhenden Lernansatz.
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10.8.3 Neue Wege Die Vignetten Neufirm und Nova Energica illustrieren zwei verschiedene Wege, wie das persönliche Bedürfnis nach Selbstaktualisierung von Personen für das Wachstum der Organisation genutzt wird. Beide Wege sorgen dafür, dass mehr Entwicklung in Organisationen geschieht, beide haben dabei das Wachstum der Organisation im Blick. Und beide Wege bieten den Personen Freiheit zur Entwicklung. Dies kann aus Überzeugung der Unternehmensgründer sein, ist jedoch auch eine gelungene Adaption an komplexere Marktbedingungen. Beide Strategien könnten sich gegenseitig bereichern. Flache Hierarchien, im Beispiel von Neufirm, und ausgefeilte Programme zur Persönlichkeitsentwicklung bieten den Mitarbeitenden sinnstiftende Angebote und unterstützen die Kreativität. Ein gutes Beispiel für die Synergie aus beiden Strategien zeigt ein Projekt der Abteilung für angewandte Psychologie der Fachhochschule Nordwestschweiz mit der Firma Pragmatic Solutions auf. Über einen längeren Zeitraum hinweg entwickelte sich das Unternehmen als kollegial geführtes Unternehmen. Es wurde organisiert auf Augenhöhe. Mobil-flexible Arbeitsbedingungen, kollegiale Führung, faire Entlohnung und gemeinsam geteilter Besitz. Ein wichtiger Schritt in der Unternehmensentwicklung war es, als persönliches Lernen in die Unternehmensentwicklung integriert wurde. In einem Abschnitt der Unternehmensentwicklung wurde ein Programm zur Persönlichkeitsentwicklung auf Basis des „Immunity-to-Change“-Ansatzes durchgeführt. Wir gestalteten die Durchführung wie oben beschrieben. Jede Person arbeitete an einem persönlichen Entwicklungsziel. Die Teilnehmenden unterstützten sich gegenseitig in ihrer Zielerreichung. Die Evaluation durch die Fachhochschule konnte aufzeigen, dass das persönliche Lernen starke Effekte für die Organisationsentwicklung bewirkte. Durch die gemeinsame Entwicklungsarbeit konnte jede einzelne Person für sich an ihren die eigene Person betreffenden Zielen weiterkommen. Mit der gemeinsamen Unterstützung wuchs das Vertrauen untereinander. Auf diese Weise konnten die kollaborativen Strukturen die Vorteile für das Unternehmen besser entfalten. Das hohe Maß an Selbstorganisation und die geteilte Verantwortungsübernahme erzielten stärkere Effekte. „Wir sind auf eine neue Stufe gekommen“, sagten die Teilnehmenden dazu. In Interviews gaben Gründer und Mitarbeitende von Pragmatic Solutions an, dass mit dieser Arbeit die inneren Abstimmungsprozesse wesentlich leichter wurden, sie nach außen selbstbewusster auftraten und sich insgesamt die Produktivität und Geschäftsentwicklung verbessert hat. Die Projektergebnisse geben einen deutlichen Hinweis, dass gezielte Programme zur gemeinsamen Persönlichkeitsentwicklung die Entwicklung von offenen Strukturen mit gemeinsamer Verantwortungsübernahme befruchten und die intendierte Wirkung dieser Strukturen verstärken. Und es wird deutlich, dass die Arbeitswelt sehr gut geeignet ist, Unterstützungsformate zu etablieren, die weit über die Entwicklung von Fähigkeiten hinausgehen, indem sie die Selbstentwicklung der Personen direkt unterstützen. Das
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Lernen der Person und die Entwicklung der Organisation können zwei Seiten der gleichen Medaille sein.
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Herausforderung Wachstum – kontinuierliche Entwicklung entwickeln
Wir haben diesen Artikel mit der Frage begonnen, in welchem Verhältnis das Wachstum der Personen und das Wachstum der Organisation stehen. Dabei stellen wir fest, dass wir heute auf eine deutlich höhere Bereitschaft für sehr persönliches Lernen in der Arbeitswelt stoßen als noch vor 10 oder 20 Jahren. Man kann dies im Zusammenhang mit einer Ausdehnung von Prinzipien der Arbeitswelt auf das Privatleben der Menschen sehen. Und man kann dies als eine Chance für Entwicklung begreifen. Die Menschen können sich in der Arbeitszeit weiterentwickeln und damit mehr persönliche Freiheit erlangen. Organisationen können neue innovative Organisationsdesigns erfolgreich implementieren und damit Vorteile im Wettbewerb um die besten Ideen erlangen. Die Vermittlung zwischen den „systemischen Imperativen der dynamischen Stabilisierung und den subjektiven Ansprüchen auf Selbstverwirklichung und ein gelingendes Leben“ (Rosa et al.) kann zum beidseitigen Vorteil gelingen. In der Vignette Nova Energica ist der Ausgangspunkt für mehr Persönlichkeitsentwicklung im Unternehmen die Erkenntnis, dass es für die Erreichung der strategischen Ziele eine offenere Unternehmenskultur braucht und dafür mehr Selbstverantwortung der Mitarbeitenden. In der Vignette Neufirm wird ein Unternehmen in seinen Grundstrukturen so geplant, dass es der freien Entfaltung der Persönlichkeit Rechnung trägt, was als Arbeitgebermarke großen Vorteil bringt. Der Ausgangspunkt kann für Unternehmen sehr unterschiedlich sein, doch die Intention ist in beiden Fällen, das Wachstum des Unternehmens mit dem Wachstum der Personen zu verbinden. Kegan et al. (2016) beschreiben, dass sie in den Unternehmen, die sie als Deliberately Developmental Organizations (DDOs) bezeichnen, einen Dreiklang aus Home, Edge und Groove vorfinden. Unter Home verstehen sie, dass die Menschen sich in der Organisation gut aufgehoben und unterstützt fühlen. Als Edge bezeichnen sie, dass der Arbeitsalltag immer wieder persönlich herausfordernd ist und man an seine eigene Wachstumsgrenze kommt. Als Groove bezeichnen sie, dass es in der Firma gemeinsame Praktiken zum Lernen gibt. Übungen, Workshops, Rituale, die hierarchieübergreifend von allen erlebt werden und das gemeinsame Lernen verankern. Die Methoden und Praktiken fördern das Lernen als Zweck der Organisation. Es sind Übungen, die im Organisationsalltag durchgeführt werden und nicht neben der Arbeit. Die Organisation ist genauso für ihre wirtschaftliche Tätigkeit wie auch gleichzeitig für die persönliche Entwicklung der Mitarbeitenden da. In dieser Community erlebt sich jede Person zugehörig und gleichzeitig herausgefordert, sich weiterzuentwickeln. Über die bestehenden Grenzen hinauszuwachsen ist die Norm.
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Organisationen, die der Herausforderung, zu wachsen, damit begegnen wollen, dass sie Lernen und Entwicklung auf eine neue Stufe bringen wollen, müssen sich auf einen langfristigen Prozess über mehrere Jahre einlassen. Ein Ziel dabei ist, eine Kultur zu schaffen, die wir als entwicklungsorientierte Organisationskultur bezeichnen. In einer entwicklungsorientierten Organisationskultur ist tief verankert, dass das organisationale Wachstum und das persönliche Wachstum zwei Seiten der gleichen Medaille sind. Eine Kultur kann man nicht erzwingen, sie ist das Ergebnis eines kollektiven Lernprozesses (Schein, 2016). Man kann eine Kultur nicht im engeren Sinne planen. Doch man kann die Intention verfolgen, sie erschaffen zu wollen. Damit dies geschieht, braucht es eine Vielzahl von konsistenten Entscheidungen über einen längeren Zeitraum hinweg. Die Menschen, die für die Organisation arbeiten, lernen über einen längeren Zeitraum, was wirklich wichtig ist in dieser Organisation. Dies setzt eine hohe Integrität der Führenden voraus.
10.10 Starten Als Startpunkt für diesen langfristigen Prozess wird man sich in der Organisation am besten über den aktuellen Stand des Unternehmens klar. Aktuell arbeiten wir im Rahmen einer Studie mit sechs verschiedenen Unternehmen daran, sie beim Aufbau einer entwicklungsorientierten Organisationskultur zu unterstützen. Für die Feststellung des Startpunkts nutzen wir acht Parameter: das Verhältnis von Herausforderung und Unterstützung, den Umgang mit Fehlern, Feedback, Übungen, Struktur, Tiefe und Kultur. Durch quantitative und qualitative Erhebungen rund um diese Parameter erforschen wir, wie Organisationen den Prozess gestalten können, um nachhaltigen Erfolg zu erzielen. Die Ergebnisse der Studie werden 2024 vorliegen.
10.10.1 Herausforderung und Unterstützung Als einen zentralen Aspekt für eine entwicklungsorientierte Organisationskultur sehen wir das Verhältnis von Herausforderung und Unterstützung in der Organisation an. Wie fühlen sich die Menschen unterstützt, wie fühlen sie sich herausgefordert? Überwiegt das eine oder das andere deutlich? Oder gibt es eine gute Balance? Daraus lassen sich für die Gestaltung des Prozesses Schlüsse ziehen. Was braucht es für den Aufbau einer haltenden Community und welche Anreize können gesetzt werden, um aus bestehenden Komfortzonen aufzubrechen? Sich herausgefordert zu fühlen und sich unterstützt zu fühlen, sind subjektive Empfindungen, die es gilt, bei allen Interventionen im Blick zu halten. Die folgenden Parameter beziehen sich auf Praktiken in der Organisation und deren Umfang.
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10.10.2 Aus Fehlern lernen Der Umgang mit Fehlern ist eine Praktik, die für eine Lern- und Entwicklungskultur bedeutsam ist. Wer Fehler begeht, verstößt gegen Erwartungen in der sozialen Einheit. Am Umgang mit unerwünschten Ereignissen lernen die Akteure daher, welche Risiken in dem sozialen System bestehen. In vielen Organisationskulturen verliert die Person an Reputation, wenn sie mit einem Fehler in Verbindung gebracht wird. Damit eine lernorientierte Kultur entsteht, muss die Norm sich dahingehend verändern, dass es ein geringes Risiko ist, einen Fehler zu verursachen. Fehler zeigen die Grenzen des bestehenden Systems auf. Sie sind Hinweise darauf, wo eine gemeinsame Verbesserung von Strukturen und Abläufen geschehen kann. Wird dieser Aspekt in der Fehleranalyse ausgeklammert, lernen die Personen, dass sie Verantwortung alleine zu tragen haben. Damit wird die gemeinsame Verantwortung für die Weiterentwicklung negiert.
10.10.3 Feedback Ein weitere wichtige Praxis für den Aufbau einer entwicklungsorientierten Kultur ist die Schaffung einer hohen Dichte von Feedback in den Arbeitsabläufen. Feedback ist eine zentrale Ressource für die Weiterentwicklung. Gleichzeitig sind Feedbackgespräche für viele Menschen unangenehm. Die Befürchtung, negativ beurteilt zu werden, oder die Angst, die Beziehung zu der anderen Person zu verschlechtern, sind häufig im Vordergrund. Konstruktiv Feedback geben und nehmen kann ein erster kollektiver Lernprozess sein, der den Weg zu einer nachhaltigen Entwicklungskultur markiert. Gelingt es, sowohl wertschätzendes als auch herausforderndes Feedback im Arbeitsablauf zu verankern, so entsteht eine Quelle kontinuierlichen Lernens für das Wachstum der Personen und der Organisation.
10.10.4 Übungen Ein lernorientierter Umgang mit Fehlern und viele Gelegenheiten für Feedback sorgen für mehr Beobachtungen des alltäglichen Geschehens in der Organisation. Diese Beobachtungen dienen als Ausgangspunkt dafür, gemeinsam Lernformate für die bessere Bewältigung des Arbeitsalltags zu entwerfen. Jedes Unternehmen entwickelt seine eigenen Übungen, die praktiziert werden können, um dem Zweck der Organisation zu dienen und die eigene Persönlichkeit weiterzuentwickeln. Hier ist jedes Unternehmen aufgefordert, die Tätigkeiten zu definieren, die der Einzigartigkeit des Unternehmens entsprechen. Gelingt es der Organisation, diese Lernformate im Organisationsalltag zu etablieren, dann wird es über einen Zeitraum hinweg dazu führen, dass sich diese Erfahrungen im gemeinsamen Gedächtnis als bedeutsam niederschlagen. Eine entwicklungsorientierte
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Kultur entsteht und sorgt dafür, dass die Organisation wächst und die Personen jeden Tag ein Stückchen besser macht.
10.10.5 Struktur, Tiefe, Kultur Die weiteren drei Parameter beschreiben, inwieweit entwicklungsorientierte Praktiken in die Struktur der Organisation eingebunden sind, wie weitgehend Lernen und Entwicklung im kollektiven Denken verankert sind und wie umfangreich die Person in den Lernprozess eingebunden ist. Unternehmen, die eine entwicklungsorientierte Kultur etablieren, schaffen damit ein Sinnangebot für die Mitarbeitenden. Es gibt gute Gründe, anzunehmen, dass die Förderung von Persönlichkeitsentwicklung in der Arbeitswelt auch positive Effekte für den Planeten haben kann (Zeuch, 2022). Zumindest bekommt das Leben in der Arbeitswelt damit eine hohe persönliche Bedeutung und fühlt sich sehr lebendig an. Die Kollegen/ Kolleginnen gehen miteinander tiefe soziale Bindungen ein und helfen einander gegenseitig in ihrer Entwicklung.
10.11 Wir müssen lernen Das Verhältnis zwischen Unternehmen und den für sie tätigen Menschen ist in Bewegung. Menschen müssen nicht Sklaven des Wachstums der Organisation sein. Organisationen können als soziale Systeme für Menschen eine haltende Umgebung in zweierlei Bedeutung sein. Sie bringen kulturelle Normen hervor, die dem Einzelnen Orientierung und Sicherheit bieten. Dieser Halt kann zurückhalten, den Status quo schützen und Veränderungen sanktionieren. Es kann jedoch auch eine Norm entwickelt werden, die Mut für Veränderungen unterstützt, zum Lernen einlädt und fordert, über sich hinauszuwachsen. Unternehmen können hier umfangreiches Potenzial erschließen, wenn sie gezielter die persönliche Entwicklung der Menschen unterstützen. Sie können Veränderungsprozesse erfolgreicher gestalten und ihre Innovationsfähigkeit erhöhen. Organisationen können ein Ort sein, an dem wir uns weiterentwickeln und unsere besten Eigenschaften entdecken. Wir setzen viel Hoffnung in diesen Prozess, da er vermutlich auch dazu führen wird, dass wir die Organisationen, die wir erleben, weniger als gegeben hinnehmen, sondern diese Organisationen gestalten. Wenn die Organisation mich besser machen kann – dann können wir auch die Organisationen besser machen. Das, so hoffen wir, ist ein wichtiger Beitrag dafür, dass wir in den Organisationen die Mittel erkennen, mit denen wir unsere gemeinsame Welt wirklich besser machen können.
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Literatur Bergmann, F. (2004). Neue Arbeit, Neue Kultur. Arbor Verlag. Dierke, K. W., & Houben, A. (2022). Next generation leadership, Ausgabe 4/2022. Zeitschrift für Organisationsentwicklung. Göttinger Tageblatt. (31.12.2022). Sartorius-Chef Kreuzburg: Arbeitskräftemangel begrenzt Wachstum. Habermas, J. (1981). Theorie des kommunikativen Handelns. Zwei Bände. Handelszeitung. (2022). Hohe Erwartungen an die hybride Arbeitswelt. Veröffentlicht am 18.3.2022. 9:10 Uhr. https://www.handelszeitung.ch/insurance/human-resources-hohe-erwartungen-an-diehybride-arbeitswelt. Zugegriffen: 28. Febr. 2023. Kegan, R. (1986). Die Entwicklungsstufen des Selbst: Fortschritte und Krisen im menschlichen Leben. Kindt Verlag. Kegan, R., & Lahey, L. (2009). Immunity to change. How to overcome it and unlock the potential in yourself and your organization. Kegan, R., Laskow Lahey, L., Miller, M., Fleming, A., & Helsing, D. (2016). Everyone culture: Becoming a deliberately developmental organization. Harvard Business Review Press. Microsoft. (2022). Work trend index. https://www.microsoft.com/en-us/worklab/work-trend-index/ hybrid-work-is-just-work. Zugegriffen: 28. Febr. 2023. Plusminus. (2023). ARD. Sendung. Zugegriffen: 8. März 2023. Rosa, H., Lindner, D., & Oberthür, J. (2021). Missing Link: Wie Organisationen die imperative dynamischer Stabilisierung und das individuelle Streben nach Selbstoptimierung zur Passung bringen. In V. King, B. Gerisch, & H. Rosa (Hrsg.), Lost in Perfection. Zur Optimierung von Gesellschaft und Psyche. Suhrkamp Verlag. Schein, E. (2016). Organizational Culture and Leadership. Wiley. Zeuch, A. (2022). Innere transformation als Ddeep leverage point. Veröffentlicht am 9. Mai 2022. https://unternehmensdemokraten.de/2022/05/09/innere-transformation-als-deep-leveragepoint/. Zugegriffen: 28. Febr. 2023.
Johannes Willms ist Organisationsberater und Executive Coach. In seiner Arbeit verbindet er die persönliche und professionelle Entwicklung und hilft, eine neue Führungsqualität zu verwirklichen. Seine Ausbildung hat er bei Pionieren für transformatives Lernen und Beratung gemacht. Er lernte Dialogische Beratung bei Martina Gremmler-Fuhr und Reinhard Fuhr am Gestaltzentrum Göttingen. Eine vertiefende Coaching-Ausbildung im „Immunity-to-Change“-Ansatz erhielt er bei den Harvard-Psychologen Robert Kegan und Lisa Lahey. [email protected] I www.willmscoaching.de Sara Willms arbeitet als Coach und Kommunikationstrainerin mit dem Schwerpunkt Persönlichkeitsentwicklung. Sie hat bei Pionieren aus dem Bereich der transformativen Entwicklung gelernt und ein vierjähriges Training in Dialogorientierter Beratung bei Dr. Reinhard Fuhr und Dr. Martina Gremmler-Fuhr am Gestaltzentrum Göttingen absolviert. Sara ist zertifizierter Coach für den „Immunity-to-Change“-Ansatz von Robert Kegan und Lisa Lahey. [email protected] I www.willmscoaching.de
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Maria Schmuck studierte in Greifswald Psychologie. In ihrer Masterarbeit befasste sie sich mit dem Phänomen der Aufrechterhaltung und Weitergabe von Kulturen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Deutschen Hochschule für Gesundheit und Sport.
Power needs Belonging
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Die Krise der Macht ist eine Krise der Zugehörigkeit Theresia Volk
Zusammenfassung
Der Beitrag beschreibt die Krise der klassischen Macht in Organisationen: Das Interesse an Machtpositionen, die sog. Führungsmotivation, lässt nach. Gleichzeitig sinkt die Zustimmung zu formalen Machtstrukturen. Nicht zuletzt ist eine Diffusion klassischer Vorgesetztenmacht zu konstatieren: Wer was wo bestimmen darf, ist unübersichtlich geworden. Theresia Volk reflektiert – aus ihrer Praxis als Beraterin und Change Managerin –, welchen Anteil daran eine ganz andere Entwicklung hat, die der arbeitsweltlichen Flexibilisierung. Klassische organisationale Zugehörigkeitsformen, wie das Team (sozial), die eigene Berufsrolle (professionell) oder die Identifikation mit einem übergeordneten Ganzen (ideell), schwinden. Die verbindliche Zugehörigkeit zu einem sozialen, professionellen oder ideellen „Wir“ ist aber nicht Folge, sondern Voraussetzung für verbindliche und gelingende Machtbeziehungen, so die These. Denn Grundlage für Autorität ist eine externe Größe, an der sich diejenigen, die Autorität ausüben, wie diejenigen, die ihr folgen, gemeinsam orientieren (Hannah Arendt). Wo Zugehörigkeiten aber fehlen, verfällt auch die Haltbarkeit von Macht. Zwei Entwicklungen und eine These Zwei sehr verschiedene Entwicklungen, wie ManagerInnen – also klassische Machthabende – sie erleben, sollen im Folgenden beschrieben werden. Einerseits eine Art Krise der klassischen Macht: Die Reichweite von Entscheidungsgewalt, die Klarheit über „Ober“ und „Unter“, die Rolle des Chefs bzw. der Chefin sind undeutlich geworden. Gerade die T. Volk (B) thv.Management Consulting, Augsburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 O. Geramanis et al. (Hrsg.), Organisationale Machtbeziehungen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42092-5_11
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Vorgesetztenmacht scheint mehr und mehr überfrachtet und unattraktiv geworden zu sein. Mit neuen Rollenanforderungen versehen mäandert sie durch die modernen Organisationsdesigns. Immer weniger Menschen streben nach ihr und wo sie trotzdem auftaucht und Ansprüche stellt, begegnet ihr zumindest Skepsis, wenn nicht gar offene Ablehnung. Die andere Entwicklung ist eine seit Langem andauernde und große Erfolgsgeschichte: die Flexibilisierung der Arbeitswelt. Flexibilisierung, Individualisierung und Entgrenzung haben enorm große ökonomische und organisationale Potenziale freigesetzt und unternehmerische Antworten auf viele aktuelle Herausforderungen ermöglicht. Niemand will auf diese großen Möglichkeiten und Freiheiten verzichten, weder Organisationen noch ihre Mitglieder. Gleichzeitig sind durch diese Entwicklung, quasi auf der Hinterbühne, alte organisationsspezifische Bindungsformen abhandengekommen. Sie sollen in diesem Beitrag im betrieblichen Zusammenhang „Zugehörigkeiten“ genannt werden. Da ist z. B. die soziale Zugehörigkeit zu einem Team, die professionelle zu einem Beruf oder die ideelle zum unternehmerischen Großen und Ganzen. Die These: Mit dem Schwinden dieser Bindungsformen sind ehemals selbstverständliche Ressourcen verloren gegangen, die notwendig sind für eine Strukturierung von Macht und Führung in Unternehmen – und für deren Akzeptanz. Dass auf sie nicht mehr zurückgegriffen werden kann, verringert die Haltbarkeit von Macht. Die Suche nach neuen organisationalen Bindungsformen könnte den aktuellen Machtdiskurs erweitern. Der Beitrag schildert zunächst, wie die klassische Macht in eine Krise geriet, analysiert anschließend, was die vorausgegangene Krise der Zugehörigkeit damit zu tun hat und beschreibt schließlich die Auswirkungen der haltlosen Macht.
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Die Krise der klassischen Macht
11.1.1 Fehlendes Interesse an Machtpositionen Der flächendeckende Fachkräftemangel allein würde schon ausreichen, um mittelbar einen Führungskräftemangel nach sich zu ziehen. Aber das ist noch nicht einmal der entscheidende Punkt. Die Erwerbstätigen selbst streben immer seltener Führungsfunktionen an, die sog. Führungsmotivation lässt rapide nach. Die regelmäßigen weltweiten Umfragen der Boston Consulting Group (A. Amerland, 2021) konstatieren schon seit Jahren ein nachlassendes Interesse an Managementfunktionen. Und nicht zuletzt denkt fast die Hälfte derjenigen, die bereits Führungsverantwortung haben, nicht etwa an den nächsten Karriereschritt, sondern immer öfter ans Aussteigen (Th. Volk, 2018). Die Gründe sind vielfältig, weisen aber alle in dieselbe Richtung: Führung, nein danke. Da sind zum einen die ins Uferlose gestiegenen Anforderungen an Führung, zu bestaunen in den zahllosen Neuerscheinungen auf dem LeadershipBuchmarkt, in denen jeweils die neuesten „Needs“ an die moderne Führungskraft
11 Power needs Belonging
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postuliert werden. Auch die Trennung von Führungsrollen liefert zwar einerseits einen praktikablen Ansatz, um Entscheidungen dort zu installieren, wo sie am sinnvollsten getroffen werden, gleichwohl macht sie Führungshandeln auch komplexer. Nicht selten verunsichern diese Maßnahmen, wo sie unterstützen sollten. In vielen Feldern, beispielsweise im gesamten Sozialbereich, ist der Aufstieg in eine Führungsrolle finanziell nicht besonders lohnend; dafür potenzieren sich aber der Ärger mit den Ex-Kollegen/Kolleginnen, die tägliche Mangelverwaltung und die Einsamkeit. Das ist gerade in Branchen, in denen das kollegiale Miteinander oft noch einen hohen Stellenwert hat, Gift für die Führungsmotivation. Bei den gut ausgebildeten Generationen X, Y, Z und den folgenden verhindert ein verändertes Wertesystem den lange Zeit für selbstverständlich gehaltenen Griff nach der „Macht“. Alltägliche Verausgabung in so mühsamen wie unverbesserlichen Unternehmensroutinen, wachsende Gefühle von Sinnlosigkeit und – allen individuellen Resilienzertüchtigungen zum Trotz – zunehmende Erschöpfungserscheinungen lassen unzählige Führungskräfte nach inneren und äußeren Auswegen Ausschau halten. Und die potenziell Nachrückenden sehen ihnen genau zu und bemerken, was mit ihnen passiert und wovon sie selbst lieber die Finger lassen sollten.
11.1.2 Weniger explizite und implizite Zustimmung zu formalen Machtstrukturen Einhergehend mit der fehlenden Motivation, selbst das Steuer in die Hand zu nehmen, sinkt die Bereitschaft junger (und auch nicht mehr junger) Fachkräfte, sich einer formalen Macht prinzipiell unterzuordnen. Gesellschaftlich sind diese Trends bereits seit Langem zu erkennen: Die Zahl der Mitgliedschaften in etablierten asymmetrischen (Macht-) Strukturen, seien es Parteien, Vereine, Kirchen oder Gewerkschaften, nimmt seit Jahren ab. Das bedeutet nicht unbedingt, dass generell das Engagement für bestimmte Themen abnimmt. Es werden nur keine „All-inclusive“-Blankoschecks mehr unterschrieben, sondern der eigene Einsatz wird projektiert, also zeitlich und inhaltlich spezifiziert und limitiert. In diesem Beitrag geht es nicht um ein Zurück-zu, sondern um ein Verständnis dafür, welche Folgen dies mit sich bringt. In den Unternehmen ist zum Beispiel generell eine stetig größere Kommunikationsleistung gefordert, wenn bestimmte Dinge verlangt werden. Das sog. „Mitnehmen der Leute“ ist fast schon ein Mantra: Es ist das Synonym für den permanenten Rechtfertigungsdruck, dem „die Macht“ seit Längerem ausgesetzt ist. Man will etwas einsehen und verstehen, um es zu tun. Vom allerorts lauernden Vorwurf der „mangelnden Wertschätzung“ verfolgt, sehen sich Führungskräfte zu permanenten Informations-, Feedback- und Motivationsschleifen genötigt. Auch agile Initiativen mögen manchen nicht zuletzt deshalb attraktiv erscheinen, weil sie die irrige, aber angenehme Vorstellung bedienen, Macht, insbesondere deren hässliche Seite, umgehen zu können oder überflüssig zu machen.
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Das vermehrte Informations- und Kommunikationsgeschehen in den Betrieben erhöht allerdings nicht die Zustimmungsraten, sondern ist selbst ein Phänomen der Kontingenz. „Jede Entscheidung umgibt sich mit Information“, formuliert Luhmann so lapidar wie treffend (N. Luhmann, 2000). Er hat den illusionären Kern dieser Rationalisierungsversuche schön freigelegt. Loyalitäten, diese gegenseitigen Akzeptanzstabilisatoren, können sich im inflationären Fluktuationsgeschehen nurmehr begrenzt ausbilden. Mehr noch: „Great Resignation“ (S. Webers, 2023; 15) macht sich breit. Unternehmen sehen sich mit Kündigungswellen, Teilzeitforderungen von EinsteigerInnen oder „Gar-nicht-erst-bewerben-Trends“ konfrontiert. Es sind Phänomene einer schwelenden Krise und wachsenden Abneigung vieler gegenüber den arbeitsweltlichen Verfasstheiten in all ihren betrieblichen Mach(t)arten. Und nicht zuletzt ermöglicht auch der Fachkräftemangel eine ganz neue Ansprüchlichkeit. Die so eröffnete Machtverschiebung ist in diese Beschreibung noch gar nicht miteinbezogen.
11.1.3 Diffusion von Macht in modernen Organisationen Wer was wo bestimmt, bestimmen darf und kann, ist unübersichtlich geworden. Die Bereichsfürsten, die Top-down ihre Silos beherrschten, sind erfreulicherweise eine aussterbende Spezies. Das klassische Organigramm mit der übersichtlichen Kästchenanordnung wurde ersetzt, zuerst von der schlichten Matrix (Funktion/Produktgruppe), dann zu der Matrix hoch n (Funktion/Geschäftsfeld/Produktgruppe/Region etc.). Ziel war und ist immer, die herrschende Komplexität der Umwelten und Märkte bestmöglich abzubilden. Inzwischen existieren i. d. R. mehrere Organisationsdesigns parallel. Es gibt nach wie vor „Command and Control“, daneben breiten sich agile Netzwerke aus; globale Plattforminfrastrukturen treffen auf pragmatische lokale Schattenorganisationen. Die Macht verschiebt sich von der Linienorganisation zur Projektleitung, zur Projektmoderation, zur Selbstorganisation, zur algorithmischen Dunkelverarbeitung und wieder zurück, jeweils von Fall zu Fall zu Fall, und in vielen Mischformen. Stabile Koordinaten und feste Rollen sind Mangelware. Noch „der letzte Rest organisationaler Verbindlichkeit [wird] zur strategischen Variable“, wie Baecker formuliert (D. Baecker, 2018; 175). Erlebt wird das zwiespältig. Die passendste Machtkonfiguration muss jeweils situativ hergestellt und verargumentiert werden. Das fordert einerseits viel von den Protagonisten und Protagonistinnen – Überblick, Anpassung, Initiative –, ermöglicht andererseits aber auch viel: Spielraum, Tempo, neue Lösungen. Nichtsdestotrotz handelt es sich bei diesen hyperflexiblen Organisationsmodellen um eine strukturelle Überforderung. Erlebt wird sie als individuelle Überforderung. Neben diesen ganz eigenen Herausforderungen des Daily Business stellt sich, spätestens dann, wenn irgendwo ein größerer Schaden entstanden ist, die grundsätzliche Frage
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nach der Verantwortung. Eine eindeutige ursächliche Zuordnung hat in einer komplexen Organisation fast immer etwas Willkürliches. Die Frage, wo in einer Organisation denn nun jemand – oder etwas – Macht hat, Verantwortung trägt, Entscheidungen trifft oder schlicht zuständig ist, ist nicht mehr eindeutig zu beantworten (vgl. ausführlich: Th. Volk, 2022). Natürlich hat Macht sich nicht einfach aufgelöst. Aber sie ist unkenntlich geworden, fluide und schwer zu greifen für das einfache und auch für das mit Führungsfunktionen ausgestattete Organisationsmitglied. Das ist erst einmal kein Grund zur Klage – auch wenn es auf den Fluren oft so klingen mag –, sondern eine Feststellung veränderter Machtgegebenheiten.
11.2
Die Krise der Zugehörigkeit1
Auf der Suche nach den Ursachen für diese Machtverschiebungen schauen wir indessen meist in die falsche Richtung. Es liegt nicht an den „Macht-Habern“ (unfähige oder überforderte Führungskräfte) oder an den Führungs- wie Gefolgsunwilligen (empfindsame Mimosen, die keinen Druck mehr aushalten können) und auch nicht an den unübersichtlich gewordenen Hierarchien (sind wir noch Abteilung oder schon agil?) oder den globalen Herausforderungen, für die selbstverständlich neue Antworten gefunden werden müssen. Ein tiefer Zusammenhang – so die These – liegt im Schwinden von ehemaligen Selbstverständlichkeiten: im Verlust prägender, beruflicher Zugehörigkeiten. Es soll hier explizit um die betrieblich Dazugehörenden gehen, um diejenigen, die mit einem unbefristeten Vertrag ausgestattet sind. Denn auch ihre arbeitsweltlichen Zugehörigkeiten verflüchtigen sich. Drei zentrale Zugehörigkeitsformen, die in Betrieben eine Rolle spielen, prägten über Generationen hinweg die Arbeitswelten, mögen diese sich auch noch so sehr gewandelt haben. Immer gab es • eine soziale Zugehörigkeit zu einem Arbeitsteam oder einer Gruppe, • eine fachliche Zugehörigkeit zu einer Profession, einem Beruf, einem Expertisegebiet, • eine ideelle Zugehörigkeit als Zustimmung zu Sinn und Zweck des eigenen Tuns im Konkreten und zum Unternehmenszweck im Allgemeinen,
1 Ich verwende den Begriff der Zugehörigkeit hier in einem offenen, eher umgangssprachlichen
Sinn, um erlebte Erfahrungen zu verdeutlichen. Zugehörigkeiten gibt es vielfältige: ethnische und nationale, familiäre, regionale; Zugehörigkeiten zu einer Generation, einem Milieu, einer Sprache, einem Fußballclub. Zur begrifflichen und konzeptionellen Einordnung siehe J. Pfaff-Czarnecka 2015 und das Heft 2/ 2015 der Zeitschrift Supervision mit dem Schwerpunkt Zugehörigkeit.
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auch wenn diese Zugehörigkeiten im Einzelnen durchaus unterschiedlich ausgeprägt waren. Im Zuge der weltweiten Dynamiken der Entgrenzung, der Individualisierung und der Flexibilisierung von Arbeit haben feste Bindungen an Bedeutung eingebüßt. Teilweise mussten sie offensiv aufgebrochen werden, um neue Formen der Kooperation zu ermöglichen. Denn lange schon waren geschlossene Systeme mit ihren starken und starren Kopplungen in und für Organisationen dysfunktional geworden. Aktuell aber, so scheint es, sind die Gewinne aus dieser Flexibilisierung abgeschöpft. Und die Kosten schlagen zu Buche (Th. Volk, 2015). Denn diese Zugehörigkeiten prägten nicht nur den Zusammenhalt unter Gleichen, sie stabilisierten auch die Machtverhältnisse unter Ungleichen, sprich: Machtbeziehungen wurden akzeptiert, weil und insofern sich jemand als zu etwas oder jemandem zugehörig definierte. Zugehörigkeiten ermöglichen nicht nur ein gemütliches, geborgenes Aufgehobensein, sondern auch die „Unterwerfung durch machtvolle soziale Codes“ (J. Pfaff-Czarnecka, 2015; 6). Zustimmung zu Machtbeziehungen muss nun verstärkt anderweitig – und mitunter teuer – hergestellt und stabilisiert werden. Eine Funktion, die vorher viele der Zugehörigkeitsformen erfüllt haben.
11.2.1 Soziale Zugehörigkeit: Teams erodieren Eine soziale Zugehörigkeit zu einem Team kann sich kaum noch ausbilden. Regelmäßige Reorganisationen, Fusionen, durchlässige Grenzen zwischen internen Angestellten und externen Dienstleistern, Projektarbeit, befristete Verträge, virtuelle Teams, über den Globus verteilte Berichtslinien und insgesamt eine viel kürzere Verweildauer auf einer bestimmten Position verunmöglichen eine stabile soziale Eingebundenheit am Arbeitsplatz. Jede neue Teilaufgabe, jedes neue Projekt würfelt die Personen, mit denen jemand zu tun hat, wieder neu aus. Die dahinterliegenden Erfordernisse sind auf sozial stabilere Weise kaum zu erfüllen. Damit gehen aber mehr und mehr Ressourcen verloren, auf die man bisher unbesehen bauen konnte: • Sowohl angemessene Anpassungsleistungen als auch notwendige Konfliktklärungen – beides sind Sozialkompetenzen, die auszubilden eine gewisse Anstrengung erfordert – können inzwischen vermieden werden. Es lohnt sich nicht mehr; bald ist man schon in einer neuen Konstellation. • Damit einhergehend nimmt die soziale Kontrolle ab: der kollegiale Tritt vors Schienbein ebenso wie das schnelle Unter-die Arme-Greifen, wenn der Kollege, die Kollegin schwächelt. Aus dem Verschwinden dieser sozialen Mechanismen – die natürlich immer auch ambivalent waren und sind und die neben den Vorteilen auch einige Nachteile zeitigten – folgt unmittelbar ein erhöhter allgemeiner Kontrollaufwand.
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• Vertrauen, Luhmanns großer komplexitätsreduzierender Faktor, entsteht nicht mehr. Das daraus folgende wuchernde Komplexitätsmanagement kostet die Betriebe viel Geld und die Beschäftigten Nerven und Zeit. • Dadurch, dass Zeiten gemeinsamer Tätigkeiten kaum mehr dauern, breitet sich auch eine Art Erinnerungslosigkeit aus. Wer will sich denn noch die Kompetenzen oder Leistungen der permanent wechselnden Kollegen und Kolleginnen merken? Die Klage um fehlende Wertschätzung hat auch hier einen Ursprung. „Anerkennen“ kommt von „kennen“. Wer sich nicht mehr kennt, kann auch immer weniger erkennen und anerkennen. Viele heute selbstverständlich anmutende Aufgaben haben auch in der sozialen Fragmentierung eine ihrer Ursachen und werden im täglichen Doing gelöst: Schnittstellenklärungen werden zur Daueraufgabe (immer auch mal wieder zum Dauerärger). Der kommunikative Aufwand multipliziert sich. Die Dokumentation von Arbeitsständen muss vom mündlichen Austausch weg nun verschriftlicht werden. Aber die unzähligen Orte, an denen jeder und jede die eigenen und fremden Dokumente und deren zig Versionen speichert, fressen munter Datenkapazitäten und werden dann zum entscheidenden Zeitpunkt doch nicht gefunden. Dagegen fast schon nachrangig ist die soziale Seltsamkeit, mit „Kollegen/Kolleginnen“ zwar einen Büroraum zu teilen, mit diesen aber nichts weiter zu tun zu haben, da alle unterschiedlichen Berichtslinien zugeordnet sind. Da ist bisweilen das Homeoffice für manche ein angenehmeres Sozialumfeld als das enge Nebeneinander von Nicht-zueinander-Gehörenden im Betrieb. Dass in vielen Stellenausschreibungen mit „Teamspirit“ geworben wird, macht die Sache nicht besser, sondern bestätigt eher den Verdacht, dass genau dieser fehlen könnte bzw. immer schwieriger herzustellen ist. Jede Historikerin weiß einzuschätzen, was es bedeutet, wenn in den Quellen bestimmte Themen besonders hervorgehoben werden – oft ist es ein Indiz dafür, dass sie alles andere als selbstverständlich sind. Wo die Luft dauerhaft sauber ist, ist dies nicht weiter erwähnenswert; nur wo sie oft verschmutzt ist, wird die „gute Luft“ zu einer interessanten Aussage. Ähnliches gilt für andere Begriffe dieser Art: Vertrauen, Begeisterung, Leidenschaft …
11.2.2 Fachliche Zugehörigkeit: Professionen verwässern Nur noch selten arbeitet jemand in seinem erlernten Beruf, jener Profession2 , in der er oder sie sich einst hat ausbilden, prüfen und zertifizieren lassen. Die Visitenkarten mit ihren kreativen Bezeichnungen klingen beeindruckend, geben aber kaum noch eine professionelle Herkunft zu erkennen. Oft ist die ursprüngliche Ausbildung völlig irrelevant
2 Ich wende den Begriff über die klassischen Professionen – Ärzte/Ärztinnen, Juristen/Juristinnen,
Geistliche – hinaus auf jede geregelte berufliche Ausbildung an.
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für die aktuelle Tätigkeit. Das ist nicht verwunderlich. Ausbildungsberufe können ihr Versprechen auf einen Kompetenzerwerb, der lebenslang hält, längst nicht mehr einlösen. Learning by Doing und lebenslanges Lernen sind die neuen Fundamente, auf denen berufliche Karrieren aufgebaut sind. Das ermöglicht ein schnelleres Anpassen an veränderte Betriebs- und damit Kompetenzerfordernisse. Professionelle Zugehörigkeit in einer Fach-Community aufzubauen, war ein langwieriger Prozess. Sie entstand in der Regel dadurch, dass jemand sich wissenschaftlich fundiertes Spezialwissen aneignete und innerhalb geregelter Ausbildungsgänge einen anerkannten Abschluss erwarb. Er oder sie verfügte dann oft über exklusive Handlungskompetenz, übte fach- und sachgerecht die erlernte Tätigkeit aus, war vernetzt mit seinen bzw. ihren Fachkollegen und Fachkolleginnen. Berufsethische Normen und Selbstkontrolle durch Berufsverbände sicherten Qualitätsstandards und gaben Orientierung. Diese Standards geraten unter Druck: Sie legen fest, aber heute wird immer größere Beweglichkeit gebraucht. Die Funktionen von Angestellten fußen nicht mehr in der einen Profession, sondern sind multipel geworden. Das Denken über den Tellerrand des eigenen Bereichs hinaus, interdisziplinäre Arbeitsformen und der stetig wachsende Managementbedarf bei Projektplanung, Finanzierung und Koordinierung überlagern selbst bei einfachen Tätigkeiten die rein fachliche Perspektive. Argumentationslinien, die sich hauptsächlich auf professionelle Faktoren beziehen, sind hoffnungslos unterkomplex angesichts organisationaler und finanzieller Kontexte. Dadurch geraten aber wichtige Orientierungslinien ins Wanken. „Jeder weiß, was gut und schlecht ist. … Jeder Fliesenleger weiß, dass das aber nun kein rechter Winkel war, was er da gemacht hat. … die … wollen alle gute Arbeit machen“, so ein O-Ton aus einer Studie zur psychosozialen Situation in deutschen Organisationen (R. Haubl & G. Voß, 2013; 52). Da schildert jemand seine gefühlte De-Professionalisierung und die damit verbundene Verletzung des eigenen fachlichen Anspruchs. Fast die Hälfte der Befragten tendiert in der Folge dazu, das eigene fachliche Ethos außerhalb der Organisation, in der er oder sie beschäftigt ist, zu verwirklichen (ebd., 32). Der Fachkräftemangel erledigt ein Übriges: Jede Kraft wird gebraucht, zur Not auch ohne „Fach-“ davor. Es liegt auf der Hand, dass solch eine Arbeitsweise nicht nur den Selbstwert, sondern auch die Akzeptanz gegenüber denen, die sie einfordern und einfordern müssen, schmälert. Dies ist die Verbindung zum Thema Macht: Wo immer weniger kenntlich wird, was noch mit „Fug und Recht“ – also mit Befugnis, gemäß geltender fachlicher Standards – gefordert werden kann, ist auch immer weniger Fügsamkeit garantiert. Auch wenn es kein Zurück zu den alten Berufsprivilegien geben kann, so geht damit natürlich ein Stabilisator verloren, der vielfach eine Zustimmung zu Machtbeziehungen leicht ermöglichte – weil man sich an dieselbe Fachlogik gebunden fühlte.
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11.2.3 Ideelle Zugehörigkeit: Commitments lösen sich auf Drei Steinmetze werden gefragt, was sie tun – so die bekannte Metapher von Peter Drucker –, es antwortet der erste: „Ich verdiene hier mein Geld.“ Der zweite: „Ich mache die besten Steinmetzarbeiten im ganzen Land“ (sic! Hier spricht der Profi). Und der dritte antwortet: „Ich baue eine Kathedrale!“ So wie der zweite stolz ist auf seine professionellen Fertigkeiten, ist der dritte stolz, weil er Teil von etwas Großem ist, mit dem er sich augenscheinlich identifiziert. Die Slogans großer moderner Unternehmen sollen zur Identifikation einladen, klingen aber oft seltsam abstrakt: die „Nummer 1 am Markt“ oder „Wir entwickeln Zukunft“, „Nie aufhören zu denken“, „Nicht ob, sondern wie“, „Voll dabei“, „Für ein besseres Bauen“ … Um sich darunter etwas vorzustellen, bedarf es einiger Mühen – das Bild einer Kathedrale ist klarer und wirkmächtiger. Aber heute werden keine Kathedralen mehr gebaut (wiewohl Fußballtempel und Firmenzentralen gewisse Ambitionen erkennen lassen). In einer vielfältig und filigran verfassten Arbeitsteilung ist der konkrete Beitrag der Einzelnen zum Gesamtergebnis nicht mehr ohne Weiteres erkennbar. Aber auch die Frage „Wozu das Ganze?“ kann oft nicht mehr beantwortet werden, selten sogar auch nicht mehr verantwortet. Wenn ein Pharmaunternehmen als oberstes Ziel ausgibt, seine Preise am Markt durchzusetzen, statt den Krebs zu besiegen, wenn Produktionsunternehmen ihr Geld nicht mehr mit ihren Produkten, sondern mit ihren Kreditgeschäften verdienen, wenn Versicherungen Produkte entwickeln, die noch nicht einmal Insider auf Anhieb verstehen, dann geht ganz allmählich die innere Überzeugung für diese Geschäfte verloren. Wo Verständnis fehlt, wird Einverständnis schwierig. Wenn binnen Jahresfrist nicht nur Produktpaletten ausgetauscht, sondern auch Lieferanten, Kunden, ja sogar Rechtsform, Logo oder Name des Bereiches oder der Firma ersetzt werden, bleibt es ein frommer Wunsch, „Leistung aus Leidenschaft“ zu entwickeln. Vielfach sollen Leitbildentwicklungen das Fehlen der inneren Zustimmung kompensieren, Marketingabteilungen entwickeln elegante Sprachbilder, die verfangen sollen. Das alles sind Zusatzkosten, die entstehen, weil die ideelle Zustimmung von Beschäftigten zu ihrer Firma nicht mehr selbstverständlich ist, weil es eben nicht mehr ihre, sondern nur mehr eine Firma ist, in der sie heute gerade beschäftigt sind, aber morgen vielleicht schon nicht mehr. Das Bedürfnis, etwas Sinnstiftendes zu tun, Teil eines beeindruckenden Ganzen zu sein, bleibt hier wie dort ungestillt, also ist es gleichgültig, wo ich mich verdinge3 . So weit, so bekannt in einer arbeitsteiligen und offenen Arbeitswelt. Aber Commitments, und seien sie auch nur zeitweise gültig, hängen unmittelbar mit der Zustimmung zu
3 „Verdingung“ heißt die Fremd(sic!)unterbringung von Kindern zur Lebenshaltung in der neueren
Schweizer Geschichte. So Markus Lischer (2013).
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Machtverhältnissen zusammen. Wo Führungskräfte ihr Commitment zu einer Geschäftsidee des Unternehmens zurücknehmen, offen oder verdeckt, da lässt nicht nur ihr Engagement nach, sondern auch die Einwilligung zu Entscheidungen des Topmanagements oder der Investoren.
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Haltlose Macht und der flexible Mensch
Loyalität ist eng gekoppelt an Zugehörigkeit. Mit dem Verlust von Zugehörigkeiten – auch wenn dieser gar nicht als Verlust, sondern als Befreiung erlebt wird – beginnt die Erosion von Loyalitäten, diesen Bindungs- und Haltestrukturen. Machtverhältnisse und Machtverhalten – auch in diesen Begriffen steckt ein „Halten“4 – sind aber angewiesen auf diese Stabilisatoren. Ohne sie kann Macht, wenn überhaupt, nur mehr mit massiven Push- oder Pull-Maßnahmen durchgesetzt werden. Und immer nur für kurze Zeit.
11.3.1 Das Fehlen eines gemeinsamen Dritten Was ist das entscheidende Verbindungsstück zwischen der Krise der Zugehörigkeit und der Krise der Macht? Dazu ein kurzer Rückgriff auf Hannah Arendt und ihren Begriff von Autorität (H. Arendt, 1957; 159 ff.). Arendt erkennt in der Autorität eine legitime Macht (vs. die illegitime Macht, die es auch gibt). Legitimiert ist der Anspruch der Autorität auf Gefolgschaft „dadurch, daß sie sich auf eine Quelle beruft, die außerhalb oder über der Machtsphäre derer liegt, die gerade die Gewalt innehaben“ (ebd. 162). An dieser übergeordneten Quelle orientieren sich die Machthabenden ebenso wie die Gefolgsleute. Sie ist das grundlegende verbindende Element, die Legitimation – und oft auch die Motivation! – für die Ausübung von Macht. Dass diese externe Quelle im Wesentlichen von allen anerkannt wird, hat zur Folge, dass ausgeübte Macht in aller Regel anerkannt wird. Die Ausnahmen lassen sich über Sanktionen händeln. Aber es bedarf keiner grundsätzlichen Stabilisierungsmaßnahmen. Erst wenn diese gemeinsame externe Quelle nicht mehr besteht, folgen entweder • Zwangsmaßnahmen – das bedeutet in einer Organisation hohe Kontrollkosten und große Durchsetzungsprobleme – oder • Überzeugungsmaßnahmen – die Anzahl von Gremien, die enormen Informations-, Argumentations- und Diskussionsbedarfe sowie die zahllosen Anstrengungen, die eine
4 Etymologisch steckt im „Verhältnis“ nicht nur die Relation, sondern auch „Verwahrung, Erhal-
tung“; ebenso wie das Verb „verhalten“ ja auch immer noch „zurückhalten“ meinen kann. Vgl. Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache DWDS: https://www.dwds.de/wb/Verhalten (Zugriff: 08.02.2023, 10.30 h).
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Organisation heute in diesem kommunikativen Feld unternimmt, unternehmen muss, sprechen eine deutliche Sprache. Dazu Arendt: „Wo Gewalt gebraucht wird, hat Autorität immer schon versagt. Andererseits ist Autorität unvereinbar mit Überzeugen, welches Gleichheit voraussetzt und mit Argumenten arbeitet. Argumentieren setzt Autorität immer außer Kraft“ (ebd. 159). Ein Betrieb ist nach wie vor asymmetrisch konstituiert. Allerdings ist die Autorität in Organisationen nicht außer Kraft gesetzt, sondern sie ist einfach kaum noch auffindbar. Der gemeinsame Anhaltspunkt, das übergeordnete Dritte, dem alle verbunden sind und aus welchem unmittelbar Verbindlichkeit entsteht, ist immer weniger greifbar. Für die beschriebenen Zugehörigkeiten sind dies • die kollegiale Loyalität, die auch die Führungskraft als einen Teil des Teams miteinschließt, • die fachlich-instrumentelle Logik einer Profession und daraus folgend die geschriebenen und ungeschriebenen Branchengesetze und -gepflogenheiten oder eben • die gemeinsame Identifikation mit einer „Kathedrale“. Einzigartig zu sein ist heute gesellschaftlich attraktiver als einem Kollektiv anzugehören. Auch Führungsmotivation entstand in der Vergangenheit oft dadurch, dass jemand Interesse an einem Kollektiv hatte, dieses zu begleiten, zu verstehen, zu entwickeln. Heute entwickelt stattdessen jeder und jede eine eigene Welt. Was vormals vielleicht nur eine feine intellektuelle Volte systemischer DenkerInnen war, ist profane und erfahrbare Realität geworden: Wirklichkeiten sind individuell konstruiert. Ambiguitäten, Subjektivitäten, Multiperspektivitäten, Parallelwelten, so weit das Auge reicht. Und selbst wo die Subjektivierung wieder neue Massenphänomene zeitigt, bleibt doch jede und jeder für sich. Gesellschaftliche Auswirkungen sind längst erkennbar (Großbritannien hat 2018 ein Einsamkeitsministerium eingerichtet!).
11.3.2 Machtlose Macht, paradoxe Führungsversuche Warum tun Beschäftigte, was sie tun sollen? Wegen der Führungskraft? Weil sie von ihr gelobt werden? Weil sie von ihr sanktioniert werden können? Nein. Gefolgschaft entsteht zu einem nicht unwesentlichen Teil aus einer Zugehörigkeit. Die Zugehörigen folgen jemandem, weil sie dadurch ihre Interessen voranbringen. Interessen, die sie aufgrund ihrer Zugehörigkeiten selbst entwickeln, keine von außen aufoktroyierten. Ob es sich um eine Bande Halbstarker, eine Reisegruppe oder eine Fußballmannschaft handelt: Individueller Führungsanspruch und strukturelle Machtverhältnisse werden akzeptiert, weil und wenn sie den Gruppenmitgliedern Vorteile bringen bei jenem Anliegen, dem diese sich freiwillig (!) und gemeinsam (!) verschrieben haben. Es ist das, womit sich jemand
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identifiziert (ideelle Zugehörigkeit) oder wozu sich jemand zugehörig fühlt (soziale Zugehörigkeit), was anzieht und antreibt. Und eben nicht der Chef oder die Chefin. Zugehörigkeit erzeugt Bindung. Loyalitäten binden, Standards binden, Commitments binden. Es sind die Individuen selbst, die sich binden, nicht eine externe Macht, nicht die Führungskraft. Ich binde mich selbst! Und zwar an etwas, was außerhalb von mir liegt: an Kollegen und Kolleginnen, an professionelle Standards, an eine Idee oder ein Vorhaben, dem ich zum Gelingen verhelfen will. Wo diese Selbst-Bindung, diese Verbindlichkeit nicht mehr existiert, verlieren Machtstrukturen ihren Nutzen und ihre Selbstverständlichkeit – sie verlieren ihre Macht. Wenn in einer Fußballelf die einen Handball, die anderen Hockey und einige gar Schach spielen wollen und zudem alle zu unterschiedlichen Zeiten aufs Feld kommen und wieder gehen, dann ist da zwar eine schöne Diversität zu bestaunen, aber die fehlende Anbindung, das fehlende gemeinsame Dritte, der fehlende Zusammenhalt verunmöglichen sinnvolle Führung. Die verbindliche Zugehörigkeit zu einem sozialen oder ideellen „Wir“ ist nicht Folge von, sondern Voraussetzung für Macht. Macht kann die Bindekräfte, die eine Gemeinschaft auszeichnen, nicht herstellen, sondern ist, umgekehrt, darauf angewiesen. Führung, diese asymmetrisch konstituierte Machtstruktur einer Organisation bezogen auf ihre Gruppierungen, ist eine soziale Dienstleistung und keine persönliche Kompetenz. Wenn aber kein „Wir“ mehr vorhanden ist, sondern nur mehr der vereinzelte „flexible Mensch“ (Sennett) in der „flüchtigen Moderne“ (Bauman), dann wird jeder Führungsversuch zum undankbaren Paradoxiemanagement. Loyalitäten entstehen nur, wenn sie Zeit haben, sich auszubilden. Diese Zeit hat und nimmt sich kaum noch jemand. Darüber hinaus werden sie – aus guten Gründen – immer weniger angestrebt. Schon immer war die Verwechslung des Unternehmens mit einer Familie ein großer Fehler. Jede Selbst-Bindung schmälert zudem die eigenen Optionen. Es bringt definitiv Nachteile, in einem flexiblen Marktgeschehen gebunden zu sein. Nichtsdestotrotz gibt es nach wie vor das tief verankerte Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Es ist in jedem Change-Prozess eine heikle Situation, wenn bei der Kommunikation der neuen Aufbaustruktur noch einige Adressierungen offen sind. Je weniger Zugehörigkeiten sich ausbilden, umso mehr werden paradoxerweise ihre ehedem orientierenden und stabilisierenden Funktionen jetzt auf Führungskräfte projiziert. Diese können sie aber nicht erfüllen. Denn Zugehörigkeiten orientieren und stabilisieren nachhaltiger als jede Führungskraft. Weder eine Person, egal in welcher Position, noch das oft beschworene Verhältnis Führungskraft – MitarbeiterIn, sondern nur „eine fundamentale Geneigtheit zu etwas außer mir selbst“, so formulierte es J. Gauck einmal etwas pathetisch (2009), setzt nachhaltige Leistungsbereitschaft frei. Und darum geht es in Organisationen: um die Freisetzung, die Strukturierung und die Nutzung von Leistung und den nachhaltigen Erhalt ebendieser Leistungsbereitschaft.
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11.3.3 Neue Haltbarkeit von Macht? Neue Zugehörigkeiten? Hannah Arendt konstatierte den grundsätzlichen Autoritätsverlust in der Moderne bereits vor über 60 Jahren und sie bezog ihn auf den politischen, den öffentlichen Bereich. Aber auch im Wirtschaftssektor lassen sich die beschriebenen Haltlosigkeiten bereits seit Langem verfolgen. Zygmunt Bauman prangerte sie in seinen Polemiken Flüchtige Zeiten und Flüchtige Moderne an (Z. Bauman, 2008, 2009). Richard Sennett (1998) beschrieb diese Drifts der Arbeitswelten auf Organisations- wie auf Individualebene bereits Ende des letzten Jahrtausends treffend: • Die Ablösung langfristiger („heiliger“) Ordnung durch ein „Regime kurzfristiger Zeit“ • Der Übergang fester institutioneller Muster in mäandernde „Strukturen“ • Das Vermeiden langfristiger Bindungen und die „Hinnahme von Fragmentierung“ bei den Einzelnen • Ein grassierender Deutungsverlust („Im flexiblen Regime ist das, was zu tun ist, unlesbar geworden“) • Der flexible Mensch: ein „nachgiebiges Ich, eine Collage von Fragmenten“ – ohne Kohärenz Aber: „Wie kommt es, dass etwas, das ständig vor unseren Augen abläuft und äußerst wirksam ist, zwar offenkundig ist, aber nicht gesehen wird?“, so fragt François Jullien (2010) und widmet ein ganzes Buch diesen „stillen Wandlungen“ und ihrer frappierenden Unsichtbarkeit. Denn „was sich immer und überall dem Blick darbietet, wird gerade deshalb nicht wahrgenommen – man konstatiert nur sein Ergebnis“ (J. Jullien, 2010; 7). Das beschriebene Verschwinden der Zugehörigkeitsformen geschieht offensichtlich. Das hat nicht nur eine Krise des Zusammenhalts zur Folge, sondern eben auch eine Krise der Macht. Die Gewinne der Flexibilisierung standen lange im Fokus zusammen mit den Versuchen, sie zu mehren. Heute scheinen sie abgeschöpft zu sein und die verlorenen Ressourcen gelangen in den Blick. Es ist nicht weiter erstaunlich, dass die Lösungen für gestern die Probleme von heute begründen. Das ist in vielen Feldern der Fall. Und auch heute müssen neue Lösungen gefunden werden. Dazu müssen aber die aktuelle Situation und ihre tieferen Ursachen wirklich reflektiert werden. Nach wie vor wird, oft reflexartig, in ein Weiter-so investiert und interveniert im Versuch, entstehende Lücken aufzufüllen. Beispiele dafür sind: • Immer komplexere Strukturen, in denen globale Wertschöpfung und Arbeit organisiert werden • Immer kürzere Intervalle, in denen reorganisiert wird • Immer höhere, anspruchsvollere Anforderungen an die moderne Führungskraft • Motivationsangebote und Workshop-Eventisierung, die Zugehörigkeitsgefühle erzeugen sollen
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• Leitbildentwicklungen – nicht selten werden daraus Wunschlisten gegen Kränkungen und vermisste Wertschätzung. Im Einzelnen ist gar nichts gegen diese Maßnahmen einzuwenden, nur sollte man sich klarmachen, dass sie für alles Mögliche gut sein mögen, aber fehlende Bindestrukturen damit keineswegs behoben werden, im Gegenteil. Viele Anstrengungen der Unternehmen gelten gezielt der Mitarbeiterbindung und der Teamarbeit, z. B. bei der Neuzusammensetzung von Teams etc. Aber diese Maßnahmen können die faktisch „dünne“ und austauschbare Zugehörigkeit nicht festigen. „In der Gegenüberstellung zwischen dem tief verankerten Bedürfnis nach Verbindlichkeit des Zugehörens einerseits und den spätmodernen Erfordernissen der Organisationen, flexibel zu bleiben, andererseits, … wird Belonging stets heraufbeschworen, jedoch nie wirklich befriedigt“ (J. Pfaff-Czarnecka). Einen Mangel festzustellen, auch und gerade, wenn noch keine Lösung dafür in Reichweite ist, das wäre ein erster Schritt zu einem seriösen „face reality“. Aber genau das fällt in der Lösungs- und Optimierungswut unserer Gesellschaft und Arbeitswelt schwer. Das verbreitete Muster sieht folgendermaßen aus: Wo es (noch) keine Antwort gibt, wird einfach die Frage getilgt. Das Zugeben und Aushalten einer Schwäche, die erst einmal nicht behebbar ist, scheint zu riskant. Nahezu zwanghaft geht der Reflex in Richtung Lösungsproduktion, oft auch mit schlecht gemachten Instantprodukten: Sozialkitsch, Nostalgierituale, Klettergerüste oder Massenevents als manipulative Ersatzkulte. Dennoch werden sich neue Zugehörigkeits- und Bindungsformen ausbilden. Moderne und flexible ArbeitnehmerInnen, die sich nicht mehr mit Leib und Seele einer Organisation anheimgeben – diese Zeiten sind endgültig vorbei –, werden sie finden. Aber sie lassen sich weniger produzieren als vielmehr nach und nach entdecken. Dafür gilt es wach und wahrnehmungsinteressiert zu bleiben und gegen Scheinlösungen resistent. Bis dahin sollte der Blick bewusst erweitert werden: Wo können Zugehörigkeiten, (Selbst-)Bindungen, Stabilisatoren unterstützt werden? Im Change Management kann das heißen: • Fokus auf Stabilisierung statt ausschließlich auf Effizienzerhöhung; Was bei globalen Lieferketten inzwischen wieder in den Blickpunkt gerät, ist auch ein Faktor bei organisationsinternen Change-Vorhaben: Wie stabil ist die neue Konstellation? Was soll nicht verändert werden? • War vor Jahren noch das Lewin’sche „unfreezing“ die anspruchsvollste Hürde im Change Management, so gilt dies inzwischen vermehrt für das „freezing“. • Wo immer es möglich ist: eine Re-Verortung/Re-Sozialisierung von Verantwortung und Verantwortlichkeit durch klare und einfache(re) Strukturen und Prozesse. • Für ein stabiles Commitment gilt es, Sinn und Zweck von Tätigkeiten nicht rhetorisch heraufzubeschwören, sondern faktisch immer wieder freizulegen: – Welches ist mein Beitrag in meinem Team? – Welches ist der Beitrag meines Teams für das Unternehmen?
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– Welches ist der Beitrag meines Unternehmens für unsere Kunden/Kundinnen und die Gesellschaft? Diese drei Fragen sollte jeder und jede Beschäftigte beantworten und verantworten können. Dafür sind Führungskräfte zuallererst verantwortlich, nicht für Lobeshymnen und Motivationsfeuerwerke. By the way: Insbesondere die dritte Frage nach dem Gemeinwohlnutzen der Unternehmung wird relevanter werden. Sie sollte so früh wie möglich ehrlich angegangen werden, wenn KundInnen, MitarbeiterInnen und InvestorInnen sich hier binden sollen. Und die Beschäftigten selbst? • Sozial: Kollegialität pflegen – belastbare Beziehungen sind verlässliche Trittsteine im reißenden Fluss der Veränderungen. • Fachlich: Tiefenbohrungen anstellen, auch wenn sie Zeit kosten. Tiefes Verstehen ist sehr befriedigend. • Ideell: Das innere Referenzsystem immer wieder kalibrieren. Wozu, weshalb, warum? Welches ist meine Kathedrale? Was kann und will ich verantworten? Was nicht mehr? • Selbstwirksamkeit, Einfluss und Machtkompetenz erhöhen. Denn sie sind erstrebenswerter und nähren besser als jedes Lob der Vorgesetzten (vgl. Th. Volk, 2019). • Nicht zuletzt auch: Führung wagen. „Alles könnte auch anders sein, und nichts lässt sich ändern“, formuliert Luhmann (1971, 44) trefflich unsere Gefühlslage, dass wir nämlich mitunter meinen, nichts ändern zu können, dass sich aber alles selbstverständlich permanent ändert. Aber ganz machtlos sind wir nicht. Das gilt gesellschaftlich, aber eben auch für Organisationen. Arbeitsweltliche Macht- und Zugehörigkeitsstrukturen bedingen einander und können nur zusammen verstanden und allmählich verwandelt werden.
Literatur Amerland, A. (2021). Führungskraft werden? Nein, danke. https://www.springerprofessional.de/per sonalentwicklung/transformation/null-bock-auf-fuehrung-und-karriere/7070038. Zugegriffen: 28. Jan. 2023, 12.20 h. Arendt, H. (2012). (Original 1957): Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Piper. Baecker, D. (2018). 4.0 oder Die Lücke, die der Rechner lässt. Merve. Bauman, Z. (2008). Flüchtige Zeiten. Leben in der Ungewissheit. Hamburger Edition. Bauman, Z. (2009). Flüchtige Moderne. Edition suhrkamp. Gauck, J. (2009). Winter im Sommer – Frühling im Herbst. Siedler. Haubl, R., Voß, G. et al. (Hrsg.). (2013). Belastungsstörung mit System. Die zweite Studie zur psychosozialen Situation in deutschen Unternehmen. Vandenhoeck & Ruprecht. Jullien, F. (2010). Die stillen Wandlungen. Merve.
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T. Volk
Lischer, M. (2013). „Verdingung“, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 4.3.2013. https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016581/2013-03-04/. Zugegriffen: 5. Febr. 2023 12.30 h. Luhmann, N. (1971). Politische Planung. Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung. Westdeutscher Verlag. Luhmann, N. (2000). Entscheidungen in der „Informationsgesellschaft“. Vortragsskript. https:// www.fen.ch/texte/gast_luhmann_informationsgesellschaft.html. Zugegriffen: 30. Jan. 2023, 11.00 h. Pfaff-Czarnecka, J. (2015). Zugehörigkeit heute. In Supervision. Mensch Arbeit Organisation (S. 4–11). Heft 2.2015. Sennett, R. (2000). Original 1998): Der flexible Mensch. Siedler. Volk, T. (2015). Hallo, braucht mich jemand? Zugehörigkeiten unter Druck. Über das Verschwinden sozialer, professioneller und ideeller Ressourcen. Und die Kompensationen. In Supervision. Mensch Arbeit Organisation (S. 12–19). Heft 2.2015. Volk, T. (2018). Wenn Führungskräfte nicht mehr auf-, sondern aussteigen wollen. In Supervision. Mensch Arbeit Organisation. Heft 2.2018 (S. 36–38). Psychosozial-Verlag. Volk, T. (2019). Spielen, um zu gewinnen. Macht und Wirksamkeit in Organisationen. Vandenhoeck & Ruprecht. Volk, T. (2022). Keine Antwort, nirgends. Verantwortungsdiffusion in hypermodernen Organisationen. In Supervision. Mensch Arbeit Organisation (S. 38–43). Heft 4.2022. Weber, S. (2023). Die Welt geht unter und ich muss trotzdem arbeiten? Kiepenheuer & Witsch.
Theresia Volk Theresia Volk berät Persönlichkeiten und Unternehmen in ihren Entscheidungs- und Entwicklungsprozessen. Sie kennt die Innenansichten von Organisationen aus eigener langjähriger Führungserfahrung. Mehr als die Hälfte der DAX-Unternehmen gehört zu ihrem Kundenkreis, ebenso wie Institute und Hochschulen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Als Rednerin und Autorin – 2011 nominiert für den deutschen Wirtschaftsbuchpreis – setzt sie Impulse bei aktuellen Zukunftsfragen für Unternehmen und Gesellschaft. [email protected] I www.theresia-volk.de
Machtaspekte und Machtdynamiken – blinde Flecken in der Führungsentwicklung
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Andrea Kleinhuber
Zusammenfassung
Im Mainstream der Führungsentwicklung wird Macht selten explizit adressiert, sondern meist ausgeblendet. Dies geschieht z. B., indem komplexe soziale Prozesse als rein psychologische verstanden werden oder indem Macht als vermeintlich neutrale Ressource im Dienst von unproblematischen Zwecken behandelt wird. Als Konsequenz bleiben zentrale Einflussfaktoren auf Führungserfolg sowie ethische Fragestellungen unterbelichtet und die Entwicklung von relevanten Machtkompetenzen wird nicht gefördert. Der Beitrag untersucht solche „blinden Flecken“ der Führungsentwicklung im Zusammenhang mit gängigen Führungskonzepten, dominanten Diskursen, verbreiteten Herangehensweisen und charakteristischen Machtdynamiken und beleuchtet, wie diese einem aufgeklärten Zugang zu Machtaspekten der Führung gegenüberstehen. Ein kurzer Blick auf alternative Führungsentwicklungsansätze ergänzt die Betrachtung.
12.1
Einleitung
Dieser Beitrag befasst sich mit Macht im Kontext von Führungsentwicklung (FE) und geht im Wesentlichen zwei Fragen nach: 1) Was wird in der FE bezüglich Macht und deren Handhabung vermittelt? 2) Wie manifestiert sich Macht in der FE-Praxis selbst? Im Zusammenhang mit der ersten Fragestellung verweisen Trehan & Rigg (2011) auf eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen der Machtausstattung von Führungspositionen und dem Mangel an Vorbereitung auf den Umgang mit Macht in der traditionellen A. Kleinhuber (B) Universitätsspital Basel, Basel, Schweiz E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 O. Geramanis et al. (Hrsg.), Organisationale Machtbeziehungen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42092-5_12
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A. Kleinhuber
FE. Bezogen auf die zweite Frage stellen Carroll & Nicholson (2014) fest, dass FESettings von Machtdynamiken durchdrungen sind, diese alle Beteiligten umranken, es jedoch an Bewusstsein und Kompetenz zum konstruktiven Umgang damit fehlt. Dazu passt, dass in der FE-Literatur allgemein selten auf Machtthemen eingegangen wird und noch weniger auf negative Effekte. FE wird grundsätzlich als positiv angesehen; Kritische Kommentare beziehen sich primär auf Aspekte wie ungenügende Effektivität und unklare Kosten-Nutzen-Verhältnisse. Ungute Auswirkungen und Schattenseiten von FE werden höchst selten behandelt. Können Machtaspekte und Machtdynamiken also als „blinde Flecken“ der FE erachtet werden? Der Beitrag folgt dieser Spur mit Rückgriff auf wissenschaftliche Untersuchungen zur FE, darunter theoretische und empirische Arbeiten. Der Fokus liegt auf dem Spektrum der FE, das in der Literatur als Mainstream gefasst und als dominante Praxis verstanden wird. Zuerst werden vorherrschende Konzepte und Herangehensweisen beschrieben und dahingehend erkundet, ob sie einem differenzierten Verständnis von Machtaspekten der Führung sowie einem befähigten und verantwortungsvollen Umgang damit zuträglich sind oder nicht. Danach werden Machtdynamiken innerhalb der FE in den Blick genommen, insbesondere Machtverhältnisse zwischen diversen Stakeholdern sowie Mechanismen und Instrumente der Kontrolle, Normierung und Identitätsregulierung. Eine darauffolgende kurze Darstellung Mainstream-kritischer alternativer Ansätze dient als abschließender Kontrapunkt. Der Beitrag adressiert ein komplexes, vielfältiges Terrain und erhebt mit seinen Befunden keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit oder komplette Allgemeingültigkeit. Sein Ziel liegt im Aufspannen einer vernachlässigten Perspektive auf FE und in der Anregung zu weiterer Ergründung und Reflexion dieses Themas.
12.2
Machtaspekte in der Führungsentwicklung
12.2.1 Gängige Konzepte von Führung: (Post-)Heroen und alter Wein in neuen Schläuchen Im FE-Mainstream wird Führung in aller Regel als Qualität, Kompetenz oder Aktivität von einzelnen Führungspersonen verstanden. Die individualisierende und psychologisierende Betrachtung von Führung hat zur Folge, dass zentrale Kontextfaktoren und die Wechselwirkungen zwischen Akteuren, Strukturen, Prozessen, Führungsinstrumenten und kulturellen Rahmenbedingungen innerhalb von Organisationen ausgeblendet werden. Komplexe soziale und politische Prozesse werden in dieser Perspektive zu einfacheren psychologischen, was systemische Aspekte und Machtfragen verschleiert. Erfolg oder Misserfolg einer Führungsperson werden zu ihrem individuellen Problem (Collinson & Tourish, 2015; Reynolds, 1999a, b; Sinclair, 2007a).
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Nach wie vor dominieren heroische, idealisierende Bilder von Führung die gängigen Konzepte. In ihnen hallen noch die „Great-Man“-Theorien nach, welche die Führungsforschung über lange Zeit zur intensiven Suche nach den essenziellen Eigenschaften herausragender Leader motiviert haben. Die Tendenz zur Glorifizierung von Führung und Führungskräften bleibt auch in der als „New Leadership“ benannten Strömung, die Konzepte wie visionäre, charismatische und transformationale Führung umfasst, bestehen (Wilson, 2016). Leadership erscheint darin als erhabenes, fast schon übernatürliches Wirken außergewöhnlicher Persönlichkeiten. Die Geführten werden dagegen als gefügige, formbare Wesen dargestellt, abhängig von Führungskräften, die bestimmen, was in ihrem besten Interesse ist (Wilson et al., 2021). Oder als eine Art „Geister-Armee“ (Little & Bendell, 2021), stumm und inaktiv bis zu dem Moment, wenn ein visionärer Leader sie inspiriert und potenziert. Manchmal auch als irrige, eigennützige Elemente, die es auf Spur zu bringen gilt. Jedenfalls handelt es sich um Subjekt-Objekt-Beziehungen, in denen die Führenden als transformierende Kraft auf die Geführten einwirken. Die Überlebensfähigkeit solcher Vorstellungen von Führung, in denen die Führenden als omnipotent und grandios erscheinen und die Geführten als gewöhnlich, wenn nicht gar etwas erbärmlich, ist bemerkenswert und erklärungsbedürftig in einer Zeit, in der es nicht an alternativen Konzepten mangelt (z. B. geteilte, kollektive, demokratische Führung oder auch „Unbossing“). Zwar wird inzwischen vor den Schattenseiten z. B. des transformationalen Führungsansatzes gewarnt (Tourish, 2013) und in der Folge vor Führungsskandalen in Unternehmen, die zuvor als Musterbeispiele für diesen Ansatz gefeiert wurden (z. B. Enron), gewannen „demütigere“ Ansätze wie dienende, ethische, spirituelle oder authentische Führung an Popularität. Den Platzhirsch der New-Leadership-Strömung haben sie aber längst nicht verdrängt, außerdem behalten auch sie eine Leader-zentrische Perspektive bei, in der die Geführten eine nebensächliche Rolle spielen (Turnbull James & Ladkin, 2008). Zudem schleicht sich in diese (scheinbar) postheroischen Ansätze häufig wiederum eine Komponente von Idealisierung, Romantisierung und der „Great-Man“-Logik ein (Ford et al., 2022, Sergi et al., 2021). Dass diese hochfliegenden Ideen narzisstische Verführbarkeiten bedienen, liegt auf der Hand. Mag sein, dass ihre Persistenz auch als Hinweis auf „archaisch-archetypische Bilder“, die unsere Zuschreibungen zu Führung unbewusst prägen, verstanden werden kann (Schrader & Wenzl, 2015). Kulturanthropologische Untersuchungen verweisen jedoch auf die Existenz alternativer, nicht Leader-zentrischer Führungskonzepte (z. B. Edwards, 2015). Damit steht in Zweifel, dass es hier um universell-menschliche Grundannahmen zu Führung geht, und es stellt sich die Frage, welche Perspektiven, Erfahrungen und Interessen sich in den dominanten Vorstellungen ausdrücken – und welche ausgeschlossen sind. Der enge Fokus auf das Individuum etwa kann als zentrales Merkmal einer westlichen Denkweise mit ihren Narrativen von persönlicher Autonomie und kontextunabhängigem Erfolg verstanden werden (Chandler, 2021; Collinson, 2003). Hierzu passt die Vorstellung von Führungspersonen als alleinig rational gesteuert und quasi körperlos. Bei genauerer Betrachtung liegen dahinter aber häufig implizite Annahmen einer weißen, heteronormativen Maskulinität als Idealtypus
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von Führung, der auf unhinterfragten patriarchalen und rassistischen Vorannahmen basiert (Sinclair, 2007b; Wilson et al., 2021). Auch die vergleichsweise „sanfter“ auftretenden Ansätze wie z. B. authentische oder dienende Führung stehen in der Kritik, wesentliche Differenzen und Machtaspekte auszublenden. So haben bspw. geschlechtsbezogene Erwartungsschemata einen Einfluss darauf, welches Auftreten bei Frauen respektive bei Männern als authentisch gelesen wird (Liu et al., 2015). Auch kann gleiches Verhalten bei einem Vertreter einer ethnischen Mehrheit anders interpretiert werden als bei Angehörigen von Minderheiten. Es ist der soziale Kontext mit den darin eingebetteten Machtverhältnissen, der bestimmt, wer sich etwa als „servant leader“ konstruieren kann und wer einfach nur als „servant“ wahrgenommen wird (Liu, 2019). Die vermeintliche Bescheidenheit dieser Konzepte wird deshalb auch als neue Maskierung für fortbestehende Machtbeziehungen und Ungleichheiten beschrieben; ihre „exzessive Positivität“ (Alvesson & Einola, 2019) verschleiert die Schattenseiten von Führung ebenso wie deren Herausforderungen im Echtbetrieb von Organisationen. Ob man diese neueren Theorien nun als Alternative zur transformationalen Führung betrachten will oder als Reinkarnation mit etwas weniger Grandiosität – was sie gemeinsam haben, sind übermenschliche Anforderungen, die sie an Führungspersonen stellen (Alvesson & Einola, 2019; Collinson & Tourish, 2015). Dem unerreichbaren Ideal steht der verlässliche Umstand menschlicher Unvollkommenheit gegenüber, welcher aber ausgeblendet wird zugunsten von zuweilen klischeetriefenden, substanzlosen oder gar „fantasmatischen“ (Little & Bendell, 2021) Vorstellungen.
12.2.2 Die technizistische und funktionalistische Perspektive auf Macht Angesichts der Allgegenwart von Macht in Organisationen ist wahrlich erstaunlich, wie wenig explizite Aufmerksamkeit das Thema in der Führungsliteratur und in der FE bekommt. Clegg & Ross-Smith stellen fest: „[T]hose engaged in the academic discipline of management have frequently ignored power or use sophisticated linguistic devices to avoid naming it as such“ (2003, S. 91). Wenn das Thema behandelt wird, dann zumeist im Sinne von Nützlichkeitserwägung. Macht wird primär als Ressource betrachtet, die es mittels objektiver Analyse und effizienten Vorgehens im Dienste der organisationalen Zielerreichung einzusetzen gilt. Die Handhabung von Macht wird dabei eher konzeptuell erwogen – als kalkulatorische Transaktion zwischen Individuen oder Kollektiven. Die gelebte und gefühlte Erfahrung von Menschen kommt darin nicht vor (Sutherland et al., 2015). Im technizistischen Verständnis von Macht erscheint Führung als wertfreie, objektive, moralisch und politisch neutrale Tätigkeit. Im Fokus stehen Modelle und Tools, denn FE soll in erster Linie praktische, direkt umsetzbare Erkenntnisse und Lösungen bieten. Dass dabei Menschen mitunter betrachtet werden, als wären sie „gemietete Güter“ (Bierema &
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Callahan, 2014), erscheint unter der Schirmherrschaft der instrumentellen Rationalität als unproblematisch, wenn nicht gar als Sachzwang. Welche Interessen diese Rationalität bedient, wird nicht hinterfragt. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass alle Angehörigen einer Organisation ein unitäres Interesse teilen und dass allein das Topmanagement befähigt ist, geeignete Wege zu dessen Umsetzung zu bestimmen. Mit der Vorstellung von Macht als neutrale Ressource werden problematische Aspekte wie Narzissmus und Hybris, Gier, dramatische Fehlentscheidungen oder unethische Praktiken ausgeblendet. Die Tendenz zur „purification“ und Verklärung von Führung geht sogar so weit, dass dort, wo solche Phänomene himmelschreiend offenkundig werden, den fraglichen Individuen mitunter einfach der Status „Leader“ aberkannt wird. Stattdessen deklariert man sie als „just a few ,bad apples‘“ (Sinclair, 2007a, S. 29). Diese „Faule-Äpfel“-Theorie von Korruption und Dysfunktionalität vermeidet, sich mit dem Fass zu beschäftigen, in dem diese Äpfel verfault sind (Collinson & Tourish, 2015). Mabey (2013) untersucht verschiedene Diskurse im Feld der FE und liefert einen Erklärungsansatz für die Dominanz des funktionalistischen Diskurses mit Verweis auf dessen Unfähigkeit, sich selbst als Diskurs zu betrachten und zu reflektieren. Reflexivität beinhaltet für Mabey ein Sich-selbst-Hinterfragen „by ,turning back‘ on our own knowledge, truth claims, language and so on in order to scrutinize the various impacts that our research may have on constructions of the social world“ (2013, S. 370). Aufgrund seiner objektivistischen Grundannahmen kann der funktionalistische Diskurs nicht in diesem Sinne reflexiv sein. Seine vorgeblich wertfreie Rationalität und Effizienzorientierung erscheinen als einzig schlüssige Konsequenz daraus, wie die Dinge nun mal halt sind. Was als ideologiefrei dargestellt wird, legitimiert aber letztlich die Machtverhältnisse des Status quo. Zwar mangelt es nicht an Kritik an der klassisch funktionalistisch ausgerichteten Führungsausbildung, wobei vor allem Business Schools als deren Inbegriff ins Visier genommen werden. Diese hätten ihre Mission, das Gewissen des Kapitalismus zu sein, verfehlt und ihre Studierenden davon befreit, sich mit Fragen von Moral, Ethik und Verantwortung herumschlagen zu müssen (Ghoshal, 2005). Im Nachgang zu gravierenden Skandalen und Krisen (z. B. der Finanzkrise von 2008) sind durchaus vielen MBAund Executive-Programmen Module zu Themen wie Ethik hinzugefügt worden. Jedoch fokussieren diese häufig v. a. auf Compliance und juristische Themen und kaum auf ein grundsätzliches Hinterfragen gängiger Führungspraxis. Durch die Behandlung in gesonderten Modulen bleiben die Grundannahmen und Führungskonzepte, die Nährböden für unethisches Verhalten bieten, abgeschottet (Chandler, 2021).
12.2.3 Gängige Herangehensweisen und die Nicht-Befähigung zum Umgang mit Macht Die Dominanz der skizzierten Konzepte und Annahmen im Mainstream der FE lässt fraglich erscheinen, dass dieser zu einem differenzierten und verantwortungsvollen Umgang
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mit Macht befähigt. Ergänzend sollen nun noch ein paar Schlaglichter auf pädagogische, didaktische und methodische Aspekte geworfen werden. Die Betrachtung kann nicht dem ganzen Spektrum an Praktiken gerecht werden, sondern fokussiert auf einige zentrale Herangehensweisen. In Kongruenz zum funktionalistischen Paradigma, das weite Teile der Führungsforschung bestimmt (Mabey, 2013), bedient auch der Mainstream der FE die Vorstellung, dass es objektiv feststellbare, universelle Fähigkeiten, Verhaltensweisen und Techniken gibt, deren Einsatz zu vorhersehbaren Resultaten führt, etwa der verlässlichen Beeinflussung anderer Menschen. Vermeintlich replizierbare Formeln werden abstrakt vermittelt als normative Anleitungen für erfolgreiche Führung im Sinne eines „one best way“. Dabei wird vernachlässigt, dass Führung in konkrete Kontexte und spezifische Systeme eingebettet ist, sozial konstruiert und interpretiert wird und dass etwas, das an einem Ort und für eine bestimmte Person funktioniert, woanders kontraproduktiv sein kann (Collinson & Tourish, 2015; Petriglieri & Petriglieri, 2015). In komplexen, dynamischen Organisationswelten hat Führung wenig mit der Anwendung von Formeln zu tun und viel mit differenzierter Wahrnehmung, politischem Geschick, nachhaltiger Beziehungsarbeit und situativ zugeschnittenen Interventionen. Es kann dort nicht von einheitlichen Zielen, geteilter Inspiration und allgemeiner Harmonie ausgegangen werden. Stattdessen konkurrieren Akteure mit unterschiedlichen Interessen und Einflussmöglichkeiten innerhalb von nicht immer eindeutigen Autoritäts- und Machtverhältnissen. Insbesondere auf die Situation der unteren und mittleren Führungsebenen wird in der FE oft nicht zureichend eingegangen und es werden ihnen Konzepte vermittelt, die sie in ihren Rollen gar nicht umsetzen können. Zwar wird immer mehr Verantwortung an sie herunterdelegiert, aber an den dahinterliegenden Entscheidungen bleiben sie unbeteiligt. Sveningsson und Larsson (2006) betrachten daher das „Gerede von Leadership“ als Fantasie, die als Substitut für echten Einfluss fungiert. Damit geht keine Ermächtigung einher für den Umgang mit selbstbewussten, anders gesinnten Mitarbeitenden oder für Auseinandersetzungen mit dem/der eigenen Vorgesetzten bei Interessenkonflikten. Der Allmachtszuschreibung im heroischen Leadership-Diskurs steht nicht selten die Ohnmachtserfahrung im Führungsalltag gegenüber. Im Fokus auf die einzelne Führungsperson drückt sich die Annahme aus, man müsse nur die Individuen entwickeln und erreiche so verbesserte Führungsqualität in der Organisation. FE wird dann mitunter wie eine Art Reparaturbetrieb gehandhabt bzw. fokussiert auf ein „topping up“ von Führungspersonen mit bestimmten Fähigkeiten oder einem speziellen Führungsstil (Turnbull James & Ladkin, 2008). Weiterentwickelte Individuen können in unveränderten Organisationskontexten aber nur begrenzt Veränderung bewirken. Die Diskrepanz zwischen neu entdeckten Führungsansätzen und der real dominanten Führungspraxis kann dann zu Demotivation bis hin zu Kündigung führen. Eine weitere Schattenseite von FE als „production line for building heroes“ (Wilson et al., 2021) sind die überzogenen Erwartungen an Führungspersonen, welche allumfassend gute, quasi transzendente Wesen zu sein haben (Ford et al., 2022). Analog zur Ausblendung der
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Komplexität von Führungskontexten wird die Komplexität des Individuums verdrängt und Vulnerabilität, Zweifel oder Fehlbarkeiten sind nicht vorgesehen – wohl kaum ein geeigneter Rahmen für die Bewusstmachung eigener Unvollkommenheiten und Ambivalenzen bzw. für die Entwicklung eines reflektierten Umgangs damit. Didaktisch-methodisch untermauert wird diese Auffassung von Führung z. B. durch die nicht nur in Business Schools verbreitete Arbeit mit Fallstudien. Sie vermitteln autoritative Porträts von (meist männlichen) Führungsvorbildern und demonstrieren den Rezipierenden, was und wie sie selbst sein könnten oder sollten. Diese werden animiert, sich mit den Protagonisten der Business Cases zu identifizieren, und dabei in die implizierte individualistische und heroische Weltsicht eingeführt (Collinson & Tourish, 2015; Petriglieri & Petriglieri, 2015). Hier und da wird wohl auch mal das Beispiel eines gefallenen Helden diskutiert. Dass Teilnehmende anhand von Fallstudien und ikonischen Führungsporträts auf die differenzierte Handhabung eigener Machtpotenziale vorbereitet werden, darf aber eher bezweifelt werden. In den seltenen Fällen, wenn Macht als Thema explizit auf der Lernagenda steht, wird es dann meist rein kognitiv adressiert. Sutherland et al. (2015) bezeichnen dies als „thinking on power“, das einen abstrakten, dehydrierten Eindruck von Macht vermittelt. Um wirklich auf einen verantwortungsbewussten Umgang mit Macht vorzubereiten, bräuchte es jedoch „learning about power“, eine erfahrungsorientierte Erkundung von Macht als erlebtem Phänomen inklusive seiner viszeralen, emotionalen und relationalen Aspekte. Chandler (2021) argumentiert ähnlich bezogen auf die Vermittlung von Ethik und sieht emotionale Erfahrungen als wirkungsvoller verglichen mit rein vernunftbasierten Ansätzen. Jedoch sind erfahrungsorientierte Herangehensweisen voraussetzungsreicher und weniger leicht steuerbar als klassische Methoden und Formate – ein Wagnis, das viele nicht auf sich nehmen mögen und dem häufig auch die institutionelle Rückendeckung fehlt. So bleibt der Mainstream überwiegend bei Lernarrangements, die wenig herausfordern und via „spoon-feeding“ (Raelin, 2009) Passivität und Konsumhaltung aufseiten der Lernenden fördern. „Such dependency has led to the conclusion that courses like the master of business administration (MBA) are considerably better at creating followers than leaders“ (Vince, 2010, S. 26).
12.3
Machtdynamiken im Kontext von Führungsentwicklungsmaßnahmen
Interessenlagen und Machtbeziehungen innerhalb der FE sind divers und kontextspezifisch. Im Folgenden soll der Fokus auf organisationsinterne FE eingeengt und eine Auswahl möglicher Konstellationen betrachtet werden. Daraufhin wird der Einsatz von Normierungen, Identitätsidealen und gängigen Instrumenten als Machtinstanzen beleuchtet.
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12.3.1 Machtverhältnisse zwischen Stakeholdern Viele Organisationen bieten ihrem Führungspersonal Grundlagenschulungen zu Führungsthemen an. Verbreitet sind diese sogar verpflichtend für alle, die disziplinarische Führungsverantwortung übernehmen. Allgemein trifft man in der organisationalen FE auf unterschiedliche Szenarien zwischen „Dürfen“ und „Müssen“, zwischen gesponsert, gefördert und gezwungen werden. Zugang zu substanzielleren FE-Maßnahmen (wie teure Executive MBAs oder exklusiv angelegte Inhouse-Programme) ist in der Regel beschränkt aufgrund der finanziellen, zeitlichen und symbolischen Ressourcen, die darin zu investieren sind. Mit der restriktiven Eintrittssteuerung werden den Auserwählten auch bestimmte Erwartungen vermittelt und auferlegt, z. B. zusätzliche Einsatzbereitschaft oder loyales Mittragen organisationaler Programme. Nicht selten sind Auswahlverfahren stark politisiert und im Design mancher FE-Maßnahmen, die wie Bootcamps angelegt sind, finden sich Elemente von gezieltem Druckaufbau. Sie imitieren und überspitzen z. T. die schlimmsten Ausprägungen des Arbeitens in Unternehmen, indem sie ausgesprochen hierarchisch organisiert sind, konstant Stress und Konkurrenz induzieren, das fieberhafte Abarbeiten überzogener Leistungsnachweise einfordern und dabei gehorsames Gebaren evozieren (Sinclair, 2007b). Bisweilen wird kein Hehl daraus gemacht, dass es um einen Belastungstest geht, der die Teilnehmenden an ihre Grenzen bringen soll (Gagnon & Collinson, 2014). Nicht selten besteht in Organisationen eine Diskrepanz zwischen offiziellen Führungskonzepten und der faktischen Führungsrealität, die dann auch in FE hineinwirkt – bspw. wenn die eigentliche Motivation dahinter mehr mit Kontrolle als mit einem Commitment zu zeitgemäßer Führung zu tun hat. Manchmal scheint es auch so, dass eine übergeordnete Führungsebene ihren Entwicklungsbedarf an die jeweils darunterliegende delegiert. Die eigenen Defizite werden auf diese projiziert und sollen dort behoben werden, bei sich selbst sieht man keinen FE-Bedarf. Teilweise sind auch naive, simplifizierende oder selbstdienliche Vorstellungen im Spiel, für welche organisationalen Missstände FE die geeignete Lösung sein kann. Dann wird z. B. angesichts von systemischer Benachteiligung von Frauen bei Besetzungsentscheiden das Problem so angegangen, dass man Frauen in ein besonderes FE-Programm steckt, dabei aber keinerlei Pläne macht, wie es danach für sie weitergehen soll. Das Ausbleiben von Karriereentwicklung wird dann hinterher womöglich einfach als an den Frauen selbst liegend begründet (Buckley & Monks, 2005). Interne FE-Verantwortliche haben die Rolle von Zwischenhändlern im manchmal komplexen Geflecht der Stakeholder-Interessen. Ihre Möglichkeiten, hierbei richtungweisende Akzente zu setzen, hängen von ihrem persönlichen Standing ab sowie von der institutionellen Verankerung und Akzeptanz von FE. Visibilität und Erfolgsdruck sind in der FE oftmals höher als in anderen Personalentwicklungsfeldern. Da setzt man dann lieber auf „sichere Karten“ und vermeidet das Risiko neuer Ansätze. Externe FE-Dienstleister wiederum sind mit der Frage konfrontiert: Wofür sind Kunden bereit zu zahlen? Das beste Geschäft macht man mit standardisierten, skalierbaren Produkten, nicht mit aufwendigen
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Anpassungen an spezifische Organisationskontexte und auch nicht mit komplexen, tiefgehenden Interventionen. Wo die „Happy-Sheet“-Evaluation am Ende einer Veranstaltung darüber entscheidet, ob die Trainerin wieder gebucht wird, wird diese sich gut überlegen, wie viel Herausforderung sie den Teilnehmenden zumuten mag. So verwundert es nicht, wenn heikle Themen wie Macht, wenn überhaupt, nur technizistisch behandelt werden. Die „Live“-Situation der FE bietet ihrerseits Raum für unterschiedliche Machtdynamiken. In der englischsprachigen Literatur wird hier vom „classroom“ gesprochen, wobei der Begriff für mehr steht als nur den Ort der Begegnung zwischen Teilnehmenden und denjenigen, die FE praktisch umsetzen. Schulungsräume sind kein neutrales Terrain, sondern implizieren asymmetrische Beziehungen zwischen wissenden Lehrpersonen und unwissenden Lernenden. In der FE-Praxis sind Machtverhältnisse jedoch selten einseitig, sondern vielschichtig und mehrdeutig. Zwar gibt es in der internen FE meist keine Benotungen, dennoch hat die Lehrperson innerhalb der institutionalisierten Hierarchie der Schulungssituation eine andere Autorität als die Teilnehmenden. Wie die darin liegenden Machtpotenziale erschlossen und genutzt werden, ist individuell sehr unterschiedlich. Sinclair (2009) beschreibt theatralische Inszenierungsstrategien, mit denen Überlegenheit bis hin zum Guru-Status etabliert wird. Die damit verbundene Unterlegenheit der Teilnehmenden wird von diesen jedoch nicht zwingend oder einheitlich als negativ erlebt – viele lassen sich gerne durch entsprechende Performances davontragen und genießen die Assoziation mit der Guru-Figur. Eine andere Machtstrategie besteht darin, die Teilnehmenden auf subtile Weise in Unzulänglichkeitserlebnisse zu führen, z. B. indem man sie im Rahmen von Fallstudien auf falsche Fährten lockt, wo sie über sorgfältig platzierte Steine stolpern (Sutherland et al., 2015). Neben subtilen gibt es natürlich auch brachialere Formen von Manipulation, z. B. mittels rhetorischer Überhandtechniken oder durch Aufbau von Gruppendruck zur Disziplinierung kritischer Teilnehmender. Jedoch sind diese längst nicht immer erfolgreich und können vielmehr Widerstand und Solidarisierung unter den Teilnehmenden auslösen. Auch werden nur wenige Dozierende als Guru wahrgenommen und je nach Führungsstufe mögen die Teilnehmenden ihren eigenen Status höher einschätzen – und das auch zum Ausdruck bringen.
12.3.2 Identitätsarbeit und die Konstruktion von Wahrheiten und Regulativen FE-Maßnahmen fungieren oft auch als Vehikel für die Sozialisation der Teilnehmenden bezüglich gewisser Normen und Orientierungen. Mitunter wird von ihnen erwartet, dass sie zu Sonderbeauftragten der offiziellen Kultur werden, gar zu „Aposteln“ des organisationalen Weltbilds (Gagnon & Collinson, 2014). Entsprechend werden FE-Programme in der Forschung auch als „Identitätswerkstätten“ verstanden: als Räume, in welchen Identitäten oder Subjektivitäten konstruiert, analysiert, interpretiert, reguliert, normiert,
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fixiert und kontrolliert werden. Häufig beziehen sich solche Ansätze auf die Machtanalytik des Philosophen Michel Foucault und interessieren sich nicht nur für offensichtliche Machtausübung und Kontrollpraktiken, sondern auch und gerade für weniger leicht greifbare Machtdynamiken – z. B. in Form von Normierungen und Subjektivierungsprozessen, denen Individuen sich unterwerfen und die sie an sich selbst vollziehen. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Herstellung von autoritativem Wissen innerhalb bestimmter Diskurse. Repressiver Zwang wird verzichtbar, wenn Menschen sich selbst über die Erzeugung von als bindend empfundenen inneren Wahrheiten regieren und kontrollieren (Klingovsky, 2009). Schon Ende des letzten Jahrhunderts konstatierte Gosling (1996) bei MBAProgrammen einen Trend weg von reiner Wissensvermittlung und hin zu „Charakterbildung“. Heutzutage trifft man eher auf Konzepte von passenden Mindsets, die es quasi zu programmieren gilt. Die Frage ist, wer darüber bestimmt, wie das passende Mindset gestrickt sein muss oder welche Charaktereigenschaften es auszubilden gilt. Und sie stellt sich besonders dort, wo die zu transformierenden Individuen sich nicht selbstbestimmt in eine Charakterschmiede ihrer Wahl begeben, sondern an organisational vorgeschriebenen FE-Maßnahmen teilnehmen. Die Forschungsliteratur bietet viele Beispiele dafür, wie FEProgramme zuweilen als organisational beherrschte Identitätswerkstätten angelegt sind und sich diverser expliziter und impliziter Formen des Sanktionierens und Privilegierens bestimmter Subjektivitäten bedienen (Gagnon & Collinson, 2014; Grey, 2002; Meier & Carroll, 2020; Morgan & Thomas, 2015; Sveningsson & Larsson, 2006). Häufig geschieht dies im Sinne spezifischer Leadership-Ideale, die in solche Programme hineinstrukturiert sind und Identitätsentscheidungen limitieren und regulieren. Besonders eindrückliche Beispiele hierfür finden sich bei Gagnon & Collinson (2014) und Morgan & Thomas (2015). In beiden Fällen fungieren FE-Programme als Settings für die kontrollierte, restriktive Formung von Führungsidentitäten gemäß organisationaler Idealvorstellungen bzw. einem „benchmarking in their own image“ (Morgan & Thomas, 2015, S. 235) des Topmanagements. Bei Gagnon & Collinson (2014) sieht das eingewobene Ideal vor, dass Leader „pressure loving“ und immer „on edge“ sein müssen, und impliziert ein von maskulinistischen Werten durchdrungenes Bild von Führung als aggressiv-selbstsicher, hart im Nehmen, autonom, hyperrational, bestimmend und kontrollierend. Die Teilnehmenden werden anhand dieses Leitbildes beurteilt und sind zudem aufgefordert, sich selbst permanent entsprechend zu prüfen und im Rahmen von erzwungener Selbstoffenbarung gegenüber Peers und Vorgesetzten Rechenschaft abzulegen. Auch Morgan & Thomas (2015) berichten von normierender Disziplinierung, der allerdings ein interessanter Widerspruch innewohnt: „The competency framework was arrived at by capturing the ‚uniqueness‘ of existing bank leaders, which was then turned into a template against which future leaders could be assessed“ (S. 234). Angehörige des Topmanagements werden also als einzigartige Leader beschrieben, vom Nachwuchs erwartet man aber Konformität mit einem generischen Konglomerat von Eigenschaftsanforderungen.
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Beiden Fällen gemein ist, dass die Individualität und die Bestrebungen der Teilnehmenden gegenüber den Interessen der Organisation als nachrangig bis irrelevant behandelt werden. Wer nicht dem jeweiligen Ideal entspricht, wird als Führungsperson delegitimiert bis sogar aus der Organisation gedrängt. Die FE-Leiterin im Beispiel von Morgan & Thomas bringt diese Praxis erstaunlich offen auf den Punkt: „The choice people face is go and be yourself somewhere else or stay and be one of us; the people who stay are a bit like Frankenstein really“ (2015, S. 236). Offene Angebote von Business Schools und anderen FE-Dienstleistern mögen unverdächtiger sein, was diese Problematik betrifft. Jedoch teilen sie mit organisationsinterner FE den verbreiteten Einsatz von Instrumenten und Praktiken, die als Machtinstanzen wirken. Dazu zählen z. B. psychometrische Tests, Persönlichkeitsprofile aller Art oder 360°Feedbackinstrumente. Mit ihrer Hilfe werden FE-Teilnehmende auf verschiedene Weisen durchleuchtet, vermessen und taxonomiert. Sie werden zu Untersuchungsobjekten und gleichzeitig angeleitet zur Selbstuntersuchung entlang der angebotenen Verschreibungen für ideale Führung. Persönlichkeit wird dabei als objektiv, messbar und kontextunabhängig verstanden und der Wahrheitsanspruch solcher Instrumente als wissenschaftlich begründet legitimiert. Jedoch weist die entsprechende Forschungsliteratur auf gravierende erkenntnistheoretische und methodische Mängel hin sowie auf die Tatsache, dass hinter der Entwicklung vieler Persönlichkeitsprofile und 360°-Tools in erster Linie die ökonomischen Interessen der Führungsdiagnostikindustrie stehen (Meier & Carroll, 2020; Wilson et al., 2021). Bei manchen Untersuchungen mag man sich fragen, ob die beschriebenen normativen Subjektivierungen tatsächlich so machtvoll sind, wie nahegelegt wird, und welchen Einfluss sie auf konkretes Führungshandeln entfalten. Viele FE-Teilnehmende werden sich durchaus bewusst sein, in was für einem Spiel sie sich befinden, und dieses im eigenen Sinne spielen – z. B. durch gezieltes Eindrucksmanagement im Wissen, dass man unter Beobachtung steht. So manches FE-Programm bewirkt vielleicht v. a. den Aufbau einer Kultur des Vortäuschens und die Inszenierung von „dramaturgical selves“ (Collinson, 2003) anstatt echte Konformität.
12.4
Kritische Alternativen zum Mainstream
Als zusätzliche Perspektive und Kontrapunkt zur beschriebenen Mainstream-FE soll nun abschließend noch auf die Frage eingegangen werden, wie mögliche Alternativen dazu aussehen. Die folgende Betrachtung begrenzt sich dabei auf lediglich eine Gruppe von Ansätzen, die in puncto Umgang mit dem Thema Macht als Gegenentwurf zum Mainstream gesehen werden können. Diese verorten sich in den Denkschulen namens Critical Management Education (CME) und Critical Human Resources Development (CHRD), welche sich überlappen und an die Forschungsrichtung der Critical Management Studies (CMS) anlehnen. Mit Rückgriff auf eine Vielzahl theoretischer Quellen (neben der
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Frankfurter Schule u. a. auch psychoanalytische, poststrukturalistische, feministische und postkoloniale) hinterfragen die CMS den Status quo bzw. das, was in dominanten Diskursen als selbstverständlich oder gegeben postuliert wird, und analysieren Machtverhältnisse in ihren unterschiedlichen Formen und Einbettungen. CME/CHRD teilen das emanzipatorische Erkenntnisinteresse der CMS und arbeiten ihrerseits auf ein emanzipatorisches Ideal in der FE hin anhand einer fundamentalen Neudefinition dessen, was vermittelt und wie es vermittelt werden soll. Es wird ein möglichst egalitäres Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden angestrebt und Letztere sollen zu einer reflexiven und verantwortlichen Führungspraxis befähigt werden, wofür die Auseinandersetzung mit dem Thema Macht als essenziell erachtet wird. FE wird als politischer Prozess und als eingebunden in organisationale und ökonomische Machtbeziehungen verstanden und auch die Lernsituation selbst wird problematisiert (Gagnon & Collinson, 2014; Grey, 2002; Reynolds 1999a). Um nicht alte gegen neue hegemonische Setzungen auszutauschen, ist man bemüht, konzeptuelle Schließungen zu vermeiden und Lernenden multiple Theorien, Perspektiven und Lesarten für soziale Situationen anzubieten, insbesondere bezüglich Führungsidealen. Damit sollen alternative Identitätsfixierungen vermieden und vielmehr die Emanzipation von einschränkenden Konzepten aller Art erreicht werden. Dies beinhaltet ein Aufgeben der Suche nach letztgültigen Sicherheiten und das Annehmen von Diversität, Ambiguität und Komplexität. Lernen soll in partizipativen, dialogischen Formaten und partnerschaftlichen Beziehungen zwischen den Beteiligten stattfinden und zu kollektiv produziertem Wissen führen. „Pedagogically, this entails a shift from the teacher as an all-knowing source of information to the teacher as a consultant or expert in not knowing“ (Grey, 2002, S. 508). Daher sind CME/CHRD-Praktizierende mehr darauf bedacht, Fragen aufzuwerfen, als Antworten zu liefern. Bei der Übersetzung in konkrete Praxis kommt es zu unterschiedlichen Fokussierungen. Reynolds (1999a, b) differenziert zwischen „content radicals“, die sich auf die Vermittlung kritischer Konzepte und Ideen konzentrieren, dabei aber Machtverhältnisse in der Schulungssituation ausklammern, und „process radicals“, die Machtasymmetrien zwischen Lernenden, Lehrenden und Institutionen adressieren und versuchen, ihnen didaktisch-methodisch entgegenzuwirken (z. B. durch ausgehandelte Curricula, selbstbestimmte Formate wie Action Learning oder alternative Beurteilungspraktiken wie Peerund Selbstassessments). Idealerweise sollte Kritische Pädagogik jedoch „critical content“ und „critical process“ vereinen. Sonst besteht die Gefahr, dass entweder kritische Inhalte durch zu ihnen in Widerspruch stehende autoritäre Praktiken konterkariert werden oder kritische Prozesse sich auf eine apolitisch-naive humanistische Perspektive beschränken, die historische, kulturelle und politische Machtaspekte sowie strukturelle Ungleichheiten ausblendet. Herangehensweisen, die sich im doppelten Sinne als kritisch verstehen, setzen häufig in besonderem Maße auf das Lernsetting selbst als Quelle kritischen Lernens und behandeln verschiedene Aspekte von „power in the classroom“ als zentrale Lernfelder. So werden etwa demografische Faktoren wie Herkunft, Geschlecht, Alter etc. und damit verbundene Privilegien und Diskriminierungen sowie allgemein Formen von
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Dominanz und Marginalisierung unter den Teilnehmenden in den Blick genommen. Oder es werden Lernräume kreiert (oft mittels psychodynamischer oder gruppendynamischer Methoden und Designs), die Organisationskontexte simulieren und ein erfahrungsbasiertes Lernen über Machtphänomene sowie emotionale und politische Dimensionen von Führung ermöglichen sollen. Eine weitere Variante besteht im gezielten Adressieren der Machtbeziehungen zwischen Lernenden und Lehrpersonen und in der Aufgabe einseitiger Autoritätsverhältnisse zugunsten von geteilter Verantwortung und kollaborativen Beziehungen als Referenzerfahrungen für neue Führungsverständnisse (Reedy, 2003; Sinclair, 2007b; Sutherland et al., 2015; Trehan & Rigg, 2011; Vince, 2010). Was in der Theorie ansprechend klingen mag, ist in der praktischen Umsetzung allerdings durchaus anspruchsvoll und mit vielfältigen Schwierigkeiten, Risiken und Widersprüchen behaftet. Sowohl kritische Inhalte wie auch dezentrierte, erfahrungsbasierte Lernsettings können Verunsicherung, Frustration und Ängste triggern. Was CME/CHRD vermittelt, umfasst unbequemes Wissen und wird mitunter erst über aufrüttelnde Erfahrungen wirklich verstehbar. Nicht nur Teilnehmende, auch CME/CHRD-Praktizierende müssen sich emotionalen Herausforderungen stellen, sind sie doch oft Übertragungsobjekte, Projektionsflächen und Blitzableiter für negative Affekte. Ihr Lernangebot steht in markantem Widerspruch zu den Erwartungen vieler Teilnehmender. „Participants usually start the course with expectations of learning how to be a better leader, and they expect me to tell them“ (Sinclair, 2007b, S. 461). Sie sind meist nicht gekommen, um Idealvorstellungen von Führung zu dekonstruieren, sich ihre ambivalente Verortung in Machtgefällen zu vergegenwärtigen oder um sich von „Experten für Nicht-Wissen“ zur Übernahme von Eigenverantwortung für ihr Lernen „empowern“ zu lassen. Nicht wenige bevorzugen einfachere didaktische Arrangements und klare Anleitungen und widersetzen sich wohlgemeinten Versuchen, ihnen Macht über die Lernsituation zu übertragen. Reedy reflektiert sein entsprechendes Bemühen und den Widerstand seiner Teilnehmenden und kommt zu der Erkenntnis, dass die Lehrperson eine „inescapable position of power“ (2003, S. 103) innehat. Sie kann sich nicht einseitig aus Machtasymmetrien verabschieden, wenn die Lernenden nicht bereit sind, sie daraus zu entlassen. Die unvermeidliche Spannung zwischen emanzipatorischen Prinzipien und strukturellen Machtaspekten der Lernsituation lässt sich nicht einfach per Willensakt oder durch innovative Designs überwinden. CME/ CHRD-Praktizierende können sich bemühen, diese Spannung möglichst konstruktiv zu bearbeiten und zur Lernchance bzgl. verwandter Spannungsfelder in der Führung zu machen. Ein solches Lernen anhand der Machtdynamiken im Hier und Jetzt der FE ist aber nicht direkt verfügbar; es können nur die Bedingungen der Möglichkeit verbessert werden. Dies – sowie CME/CHRD-Pädagogik im Allgemeinen – stellt hohe Anforderungen an das Skillset und das Mindset der Praktizierenden. Die Kunst besteht laut Heifetz darin, Erwartungen ausreichend zu enttäuschen, um echtes Lernen anzustoßen, aber eben nicht über den Grad des Tolerierbaren hinaus (zitiert in Sinclair, 2007a, S. 50). Doch selbst Meisterschaft in dieser Kunst kann paradoxe Effekte erzielen, die Sinclair so auf
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den Punkt bringt: „[T]he more skilfully the teacher resists pressures to be God, the more God-like they can become“ (2009, S. 270).
12.5
Schlussbetrachtung
Der Mainstream der FE unterlässt weitgehend, auf den Umgang mit Macht und politischen Dynamiken von Führung vorzubereiten. Anstelle einer Qualifizierung für die verantwortungsvolle Gestaltung eigener Machtpotenziale sowie für die konstruktive Auseinandersetzung mit den Machtverhältnissen, denen Führungspersonen selbst unterworfen sind, dienen gängige Konzepte und Herangehensweisen eher der Verschleierung von Machtaspekten. Das Ausblenden negativer Ausprägungen von Führung und Macht ist keine Lappalie, sondern kann als eine Art „violent innocence“ (Ford et al., 2022) zum Fortbestand dieser Phänomene beitragen. Dass der Mangel an Kompetenzaufbau im Mainstream hingenommen wird, wirft die Frage auf, was mit FE letztlich wirklich erreicht werden soll: Ermächtigung und Befähigung oder doch eher Fügsamkeit und Konformität? Dabei muss es gar nicht um eine gezielte Herstellung von „Frankensteins“ gehen. Nicht selten hat man es mit einer Diskrepanz zwischen offiziell vertretenen Zielen und tatsächlich handlungsleitenden, aber unreflektierten Annahmen zu tun. Zudem gibt es in der FE nicht nur Potenzial für Interessenkonflikte, sondern auch für mächtige Interessenkollusionen: Z. B. könnte man das Festhalten an fiktiven Leadership-Idealen als kollektiven Abwehrmechanismus gegenüber Komplexität und Unsicherheit verstehen (Ford et al., 2022). FE-Teilnehmende suchen nach schnellen, einfachen Lösungen, welche FE-Anbieter ihnen teils wider besseres Wissen verkaufen. Interne FE-Verantwortliche arrangieren sich mit widersprüchlichen Aufträgen und selbstdienlichen Zielen des Topmanagements und lassen sich auf Alibiübungen ein, um die eigene Position nicht zu gefährden. Solche und weitere Interessenverstrickungen befördern ein stillschweigendes Einverständnis, nicht am Status quo zu rütteln. Kritische Ansätze zeigen zwar Alternativen auf, diese sind jedoch alles andere als simpel und bequem. Sie bieten große Chancen für tiefgehendes „learning about power“ statt nur „thinking on power“ (Sutherland et al., 2015), sind aber auch risikobehaftet und erfordern eine Auseinandersetzung mit der Widersprüchlichkeit von Machtphänomenen. Hinzu kommt wohl noch, dass Machtaspekte in vielen Organisationen zu den Themen gehören, die Argyris als „undiscussables“ bezeichnet. Ihre Undiskutierbarkeit ist ebenfalls undiskutierbar, womit sie nur unterschwellig verhandelbar sind, wenn überhaupt. Bisweilen sind sie auch derart stark ausgeblendet, dass die Beteiligten blind sind „to what they are doing and blind to the fact that they are blind“ (1980, S. 212).
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Andrea Kleinhuber leitet die Führungsentwicklung am Universitätsspital Basel und ist nebenbei selbstständig tätig in den Bereichen Training, Prozessbegleitung und Coaching. Sie hat einen M.A. in Kulturanthropologie an der McMaster University in Kanada absolviert sowie postgraduale Abschlüsse in Kulturmanagement, Personal- und Organisationsentwicklung und Change Management. [email protected]
Teil III Organisationale Kontextgestaltung und ihre Machtdynamiken
Machtspiele „über Bande“
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Wie sich organisationale Machtverhältnisse im Zuge des Compliance-Managements wandeln Sven Kette
Zusammenfassung
Der Text fragt nach den Folgen, die sich durch die Einführung eines Compliance Managements für die innerorganisationalen Machtverhältnisse ergeben. Dabei zeigt sich, dass mit dem Compliance Management eine organisationale Drittpartei eingeführt wird. Hierdurch wird die dyadische Machtbeziehung zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter in eine triadische überführt. In der Konsequenz kommt es zu einer Symmetrisierung von Machtverhältnissen, welche vor allem die Unsicherheit innerhalb der Organisation steigert. Organisational folgenreich ist dies insofern, als absehbar Flexibilitätspotenziale verloren gehen. Vor dem Hintergrund der Analyse plädiert der Text für eine konsequente Berücksichtigung formaler Strukturkontexte in der Analyse von Machtkonstellationen – sowohl in der wissenschaftlichen Analyse als auch in der Praxis der Organisationsgestaltung.
13.1
Einleitung
„In Organisationen tobt das Leben“ haben Willi Küpper und Günther Ortmann (1988) vor nunmehr fast 40 Jahren einmal konstatiert. Sie wandten sich damit gegen eine Vorstellung von Organisationen, die allein Formalität, Regelhaftigkeit und regelgeleitetes Handeln betont. In einer solch formalistischen Perspektive lassen sich die Organisationsmitglieder getrost vernachlässigen: Als interessenlose „Paragraphen-Automaten“ (Weber, 1971) vollziehen sie lediglich die anderenorts ersonnenen Regeln. Der Hinweis von Küpper/ S. Kette (B) Universität Luzern, Luzern, Schweiz E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 O. Geramanis et al. (Hrsg.), Organisationale Machtbeziehungen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42092-5_13
203
204
S. Kette
Ortmann korrigiert dieses schiefe Bild und macht darauf aufmerksam, dass den Mitgliedern von Organisationen durchaus eine zentrale Bedeutung zukommt. Zwar mögen Formalstrukturen und Regeln ein prominentes Merkmal von Organisationen sein; das Verhalten der Mitglieder erschöpft sich jedoch nicht in deren Vollzug. Vielmehr verletzen sie auch Regeln, sie verfolgen in Machtspielen partikulare Interessen – sei es, um sich den Alltag zu erleichtern, oder um eigene Karriereziele zu erreichen – und sie entwickeln eigene informale Regeln, an denen sich das faktische Verhalten im Arbeitsalltag vor allem orientiert. Diese Bedeutung des Personals hat in den letzten Jahren sowohl im organisationswissenschaftlichen als auch im Managementdiskurs großen Niederschlag gefunden. Diskussionen um das vermeintlich notwendige „richtige Mindset“ der Mitarbeiter, die vielfach beschworene Beförderung von Selbstorganisation im Kontext agiler Arbeitsweisen oder auch Forderungen nach eigenverantwortlichem Handeln und der Übernahme von persönlichen Initiativen (Kette, 2021a) sind Ausdruck einer besonderen Sensibilität für die Bedeutung des Personals in Organisationen. Der reine Vollzug von Regeln erscheint in diesen Diskussionen nicht als Ausdruck von Professionalität, sondern als bloße Arbeitsverweigerung. Überlagert wird diese jüngste „Entdeckung“ des Personals jedoch von einer gleichzeitig zu beobachtenden gegenläufigen Tendenz: der gesteigerten Aufmerksamkeit und Sensibilität für Regeln. Gerade vor dem Hintergrund manch prominenter Wirtschaftsund Korruptionsskandale – die Stichworte sind hier etwa Siemens (Graeff et al., 2009; Weidenfeld, 2011), Enron (Barreveld, 2002; Fusaro & Miller, 2002; Salter, 2008), Worldcom (Jeter, 2004) oder Volkswagen (Nelson, 2017) – ist in den letzten 20 Jahren das Interesse an Fragen der Vermeidung von Regelverletzungen massiv gestiegen. Insbesondere wird von Organisationen gefordert, Maßnahmen zu ergreifen und Strukturen einzurichten, die verhindern sollen, dass Mitarbeiter gegen Regeln verstoßen – seien dies nun Gesetze, Branchenkodizes oder organisationsinterne Regeln. Diskutiert werden solche Maßnahmen zur Sicherstellung von Regelkonformität heute vor allem unter der Überschrift „Compliance Management‘. Wir haben es also mit einer Doppelbewegung zu tun: Auf der einen Seite werden Strukturen und fixe Rollenfestschreibungen heruntergefahren und die Bedeutung der nun mit mehr Freiheiten ausgestatteten Organisationsmitglieder gesteigert. Auf der anderen Seite wird jedoch die Einhaltung von Regeln zu einem eigenständigen Bezugspunkt der Ausgestaltung organisationaler Formalstrukturen: Es werden Stellen eingerichtet, die explizit hierfür zuständig sind, und es werden neue Regeln entwickelt, welche die Einhaltung bestehender Regeln garantieren sollen. Bemerkenswert ist, dass der Einhaltung von Regeln zumeist eine Generalfunktionalität zugeschrieben wird. Die Konformität mit Regeln wird – zumindest im Managementdiskurs – als anzustrebendes Ziel angenommen, Regelverletzungen gelten hingegen
13 Machtspiele ‚über Bande‘
205
gemeinhin als problematisch und seien entsprechend zu verhindern.1 Aus einer organisationssoziologischen Perspektive erscheint eine solche Diagnose jedoch als einseitige Verkürzung. Ein differenzierteres Bild lässt sich demgegenüber gewinnen, wenn man in beide Richtungen nach den organisationalen Folgen Ausschau hält, also auch mit Dysfunktionen der Bestrebungen um die Sicherstellung von Regelkonformität rechnet. Vereinzelt finden sich bereits entsprechende Analysen. Dabei wird zum einen auf die Bedeutung von Regelverletzungen als „brauchbare Illegalität“ (Luhmann, 1964, S. 304 ff.; siehe zudem auch Kühl, 2020) hingewiesen. Zum anderen werden aber in einzelnen Arbeiten auch speziell die nicht intendierten Folgen des Compliance Managements betrachtet (siehe z. B. Bergmann, 2014, 2015; Kette, 2018, 2021b; Schütz et al., 2018 sowie im engen Kontakt zu Praxisperspektiven Kette & Barnutz, 2019). Die weiteren Analysen reihen sich in dieses Anliegen einer organisationssoziologischen Reflexion der Folgen von Compliance Management ein. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, welchen Unterschied die Einführung von ‚Compliance Management‘Strukturen für organisationale Machtspiele macht. Wie also verschiebt sich die Logik von organisationsinternen Machtspielen, wenn diese unter Bedingungen von Compliance Management stattfinden? Um diese Frage zu bearbeiten, geht der Text dreischrittig vor. Zunächst wird kurz in grundsätzlicher Absicht das Verhältnis von formalen Organisationsstrukturen und Machtphänomenen dargestellt (Abschn. 13.2). Der anschließende Abschn. 13.3 widmet sich sodann dem Compliance Management selbst und rekonstruiert dieses als eine Form von Metaformalität. Hierauf aufbauend wird es dann möglich, danach zu fragen, inwiefern sich die organisationalen Machtverhältnisse im Zuge der Metaformalisierung verändern – und welche organisationalen Folgen hieraus resultieren (Abschn. 13.4). Im Kern, so wird sich dabei zeigen, führt das Compliance Management zu einer Symmetrisierung von Machtkonstellationen, wodurch das Unsicherheitsniveau in der Organisation gesteigert wird. Organisational folgenreich ist dies, weil die situative Flexibilität in der Tendenz erwartbar abnehmen wird. Ein kurzes Fazit (Abschn. 13.5) rekapituliert die Einsichten und Erträge.
1 Besonders prominent wird diese Perspektive auch im Feld der Business Ethics verfolgt. Auch hier
steht die Frage im Zentrum, welche Faktoren ein regelkonformes Verhalten befördern. Siehe stellvertretend für viele nur Kaptein und Schwartz (2007); Kaptein (2015); Cremer und Vandekerckhove (2017).
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13.2
S. Kette
Macht und Formalität
Ganz grob lässt sich unter Macht die Fähigkeit verstehen, den eigenen Willen gegen Widerstand durchsetzen zu können.2 Damit handelt es sich bei Macht nicht um ein spezifisch organisationales Phänomen. Im Gegenteil: Macht ist „soziologisch amorph“ (Weber, 1980, S. 28); ein ubiquitäres Phänomen, dem in der modernen Gesellschaft Omnipräsenz unterstellt wird (Popitz, 1968, S. 15). Es schleift sich in beinahe alle sozialen Situationen ein – bzw. es gibt praktisch keine soziale Situation, die sich von Machtdynamiken zuverlässig befreien ließe. Soweit es um die Besonderheiten und spezifischen Zurichtungen von Macht im Kontext von Organisationen geht, fällt schnell eine gewisse Ambivalenz auf: Einerseits sind Organisationen faktisch von Machtspielen durchzogen, andererseits sind formale Organisationen – im Prinzip – machtaverse Gebilde. Wenn man sich fragt, was formale Organisationen von nicht formalisierten Kontexten unterscheidet, so wird schnell sichtbar, dass Organisationen sich durch die Fähigkeit auszeichnen, über ihre eigenen (formalen) Strukturen entscheiden und ihre Mitglieder zur Anerkennung dieser entschiedenen Strukturen verpflichten zu können (Luhmann, 1964).3 Dies ermöglicht es Organisationen, eine hierarchische Stellenstruktur auszubilden, über die dann Weisungs- und Durchsetzungskompetenzen verteilt werden, deren Anerkennung selbst eine Bedingung der Mitgliedschaft ist und darüber abgesichert wird. Im Kontext von Organisationen ist also nur jene Macht legitim, die aus jeweiligen hierarchischen Stellen – also mit Verweis auf die Formalstruktur – abgeleitet werden kann. Organisationen zielen mithin im Kern darauf ab, Macht rollenförmig einzuhegen, anstatt sie dem freien situativen Spiel der Kräfte zu überlassen. Insofern gilt mit Blick auf Organisationen, dass eine Situationsorientierung abgelöst wird durch eine Systemorientierung: Ich weiß heute schon, dass mein Chef auch morgen noch mein Chef sein wird. Und falls zu meiner Überraschung morgen ein anderer Chef präsentiert werden sollte, ändert sich trotzdem nichts Wesentliches: Der Chef (oder die Chefin) sagt, was zu tun ist. Die formale Organisation ist also eine Sozialordnung, die sich gerade nicht über konkrete Personen stabilisiert, sondern über eine versachlichte Rollenstruktur, welche unabhängig von (konkreten) Personen ist.
2 Dies entspricht fast exakt der (handlungstheoretischen) Machtdefinition von Max Weber (1980,
S. 28). Eine systemtheoretische Perspektive betont demgegenüber zwar, dass Macht gerade keine individuelle Eigenschaft oder Fähigkeit ist, sondern eine „codegesteuerte Kommunikation“. Gleichwohl werde Macht kommunikativ dann doch einer der beiden Seiten zugerechnet (Luhmann 2003, S. 15). 3 Mindestens aus einer systemtheoretischen Perspektive nehmen die formalen Strukturen einer Organisation die Form der Entscheidungsprämisse ein. Wenngleich selbst das Resultat von (Planungs-) Entscheidungen, orientieren Entscheidungsprämissen doch eine Vielzahl zukünftiger Einzelentscheidungen. Luhmann (2000, S. 222–329) unterscheidet drei Typen von Entscheidungsprämissen: Entscheidungsprogramme; Kommunikationswege sowie das Personal.
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All diese Ausführungen dekonstruieren zunächst einmal nur die Idee der formalen Organisation. Sie verkennen das „tobende Leben“ und sie verkennen auch, dass Machtspiele fester Bestandteil der Realität der Organisation sind. Wer Organisationen von innen kennt, weiß, dass in Organisationen allerorten Machtspiele gespielt werden. Es werden Allianzen geschmiedet, Absprachen getroffen und gebrochen, Andeutungen über unerwünschte, aber mögliche Zukünfte gemacht, wobei meist implizit gehalten werden kann, wer unter welchen Bedingungen Einfluss auf welche Entwicklung nehmen wird, und vieles mehr. Wo solche Machtspiele allein dem Ringen um knappe Karrierechancen dienen, binden sie Kapazitäten, die der Organisation für die Verfolgung ihrer Zwecke dann fehlen. Gleichwohl kommt auch der umgekehrte Fall vor. So haben Machtspiele für Organisationen immer dann funktionale Effekte, wenn etwa der Gebrauch von Macht es erlaubt, flexibler, schneller und sachlich angemessener auf unvorhergesehene Umstände zu reagieren.4 Dennoch: Wo immer solch persönlich aufgeladene Machtspiele vorkommen, wird die Idee der Formalisierung unterlaufen. Nun würde es aber zu kurz greifen, die formale Ordnung der Organisation (inkl. der hierarchisch verteilten Weisungskompetenzen) einerseits und (situative) machtbasierte Kommunikation andererseits als sich wechselseitig ausschließende Alternativen zu denken – etwa so, als ob entweder die formale Ordnung Gültigkeit und Orientierungswert besitze oder eine informale auf Macht gestützte Ordnung die jeweilige soziale Situation strukturieren würde. Vielmehr handelt es sich bei der Formalstruktur und den informalen Machtbeziehungen um ein Verhältnis der wechselseitigen Verschränkung. Besonders deutlich haben diese Verschränkung Michel Crozier und Erhard Friedberg (1993) mit ihrem Konzept der „Ungewissheitszonen“ herausgearbeitet. Die Macht eines Akteurs, so Crozier/Friedberg, ist „eine Funktion der Größe der Ungewißheitszone, die er durch sein Verhalten seinen Gegenspielern gegenüber kontrollieren kann“ (Crozier & Friedberg, 1993, S. 43). Im Kern lautet die wesentliche Frage: Wer ist imstande, wessen Probleme zu lösen – oder ihm solche zu bereiten? Das klassische Beispiel, an dem die Autoren das Konzept der Ungewissheitszonen verdeutlichen, sind die Wartungsarbeiter in einem Fertigungsbetrieb (Crozier & Friedberg, 1993, S. 36). Die jeweiligen Maschinenführer sind auf ihre Unterstützung angewiesen, ohne aber selbst absehen zu können, wie aufwendig die Behebung eines Problems tatsächlich ist (wie lange die Reparatur also dauern wird) und wie stark die Wartungsarbeiter ausgelastet sind (in welchem Zeithorizont also überhaupt mit Hilfe gerechnet werden darf). Hieraus erwächst die Macht der Wartungsarbeiter und es braucht nicht viel Fantasie, um sich heutzutage ganz ähnliche Konstellationen auch mit Blick auf IT-Mitarbeiter vorzustellen. In systematisierender Absicht unterscheiden Crozier und Friedberg (1993, S. 49 ff.) vier Typen von Machtquellen: 4 Ähnliches gilt zudem mit Blick auf solche Fälle, in denen die „lokalen Rationalitäten“ (Cyert und
March 1992, S. 165) unterschiedlicher Abteilungen aufeinandertreffen und im Medium der Macht um eine Entscheidung gerungen wird.
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1. Spezifisches Sachwissen. Wer über ein spezifisches Sonderwissen oder eine spezielle Fähigkeit verfügt, die für andere von Bedeutung ist, kann daraus Macht schöpfen. Möglich wird dies, weil die Nachfrager dieses Sonderwissens zumeist nicht einschätzen können, wie ernst eine Lage ist, wie aufwendig eine bestimmte Hilfsmaßnahme ist, wie viel Zeit und welche Ressourcen dafür erforderlich sind etc. Schließlich bräuchte es selbst das fragliche Wissen, um diese Fragen realistisch einschätzen zu können. 2. Gatekeeping zur Organisationsumwelt. Alle Organisationen stehen in Austauschbeziehungen zu ihrer Umwelt. Aber nicht alle Organisationsmitglieder haben in gleicher Weise Kontakt zur und Einfluss auf die Umwelt der Organisation. Wer über entsprechende Kontakte und Einfluss verfügt, kontrolliert zugleich eine hoch relevante Ungewissheitszone. Dies ist einerseits der Grund, warum bei der Besetzung von Stellen im Vertrieb häufig Wert auf eine Branchenerfahrung gelegt wird. Sie gilt als Indikator für soziales Kapital. Es ist andererseits aber auch die Quelle der Macht derjenigen, die über entsprechende Umweltkontakte verfügen. 3. Kommunikation von Informationen. In arbeitsteilig strukturierten Organisationen ist praktisch jeder Stelleninhaber von Informationen anderer abhängig, um seine eigenen Aufgaben erledigen zu können. Und ebenso sind wieder andere Stellen von den Informationen dieses Stelleninhabers abhängig. Dieses Geflecht von Informationsabhängigkeiten lässt zugleich Ungewissheitszonen entstehen. Wie schnell (oder langsam) eine Information weitergegeben wird, welche Signale der Dringlichkeit gesendet werden, welche Begleitinformationen mitgeliefert werden etc. – all dies sind Aspekte, die es dem Empfänger einer Information leichter oder schwerer machen können, seine eigenen Aufgaben zu erfüllen – und dies gilt auch für die „Unterwachung“ der Vorgesetzten durch die eigenen Mitarbeiter (Luhmann, 2018). 4. Benutzung organisationaler Regeln. In der idealisierten Welt zweckrationaler Vorstellungen von Organisationen sind alle organisationalen Regeln in einer Weise aufeinander abgestimmt, dass die Organisation effizient und effektiv funktioniert, wenn die Regeln eingehalten werden. Tatsächlich aber ist „Dienst nach Vorschrift“ eine effektive Streikform. Organisationen sind also häufig darauf angewiesen, dass Regeln verletzt werden und Regelverletzungen von Vorgesetzten übersehen werden. Hieraus erwächst für Untergebene die Ungewissheit, ob Vorgesetzte einen konkreten Regelverstoß dulden werden. Für Vorgesetzte umgekehrt besteht die Ungewissheit darin, ob es gelingt, Untergebene zu einem Verhalten zu motivieren, das gegen Regeln verstößt und möglicherweise sogar noch mehr Einsatz erfordert, als die Regeln vorschreiben würden. In der Zusammenschau wird deutlich, dass Macht nicht einfach „neben“ der organisationalen Formalstruktur entsteht, sondern sich letztlich alle vier Machtquellen an die Formalstruktur der Organisation anlehnen. Die Verteilung von sachlichen Zuständigkeiten und entsprechenden Spezialisierungen, die Betreuung mit spezifischen Kontaktchancen,
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die Arbeitsteilung und mit ihr einhergehende Abhängigkeiten von anderen organisationalen Stellen sowie die organisationalen Regeln selbst sind allesamt Ressourcen für die Akkumulation von Macht – und sie sind zugleich Ausprägungen der organisationalen Formalstruktur. Damit ist die Formalstruktur beides: die einzige legitime Statusordnung der Organisation (Luhmann, 1964, S. 64) und der Ursprung für alternative Status- und Machtordnungen, welche die formale Hierarchie unterlaufen können. Insofern hier nach den Machtverschiebungen im Kontext von Compliance Management gefragt wird, fällt der „Benutzung organisationaler Regeln“ im Weiteren eine besondere Bedeutung zu. Bevor diese Machtverschiebungen aber selbst Gegenstand der Analyse werden können, gilt es im folgenden Abschnitt zunächst, ein genaueres Verständnis vom Compliance Management zu gewinnen. Worum handelt es sich dabei eigentlich genau?
13.3
Compliance Management als Metaformalität
Unter der Überschrift Compliance Management werden seit rund 20 Jahren organisationale Bemühungen, die Einhaltung von Regeln sicherzustellen, zusammengefasst. Bei diesen Regeln kann es sich um gesetzliche Vorgaben handeln, aber auch organisationale Regeln ohne rechtlichen Bezug sowie freiwillige Branchenstandards werden regelmäßig vom Konzept des Compliance Managements miterfasst. Trotz anlaufender Professionalisierungstendenzen (z. B. die Gründung von Berufsverbänden und die Einrichtung von Studiengängen) und entsprechender Bemühungen um Standardisierung (etwa im Kontext der ISO-Norm 19.600 (International Organization for Standardization (ISO) 2014)) ist das Konzept des Compliance Managements noch immer nur schwach konturiert.5 So bleibt häufig unklar, was im Detail unter Compliance Management zu verstehen ist und welche Maßnahmen konkret diesem zuzuordnen sind.6 Gleichwohl lassen sich einige Grundlinien identifizieren, welche die Kernidee des Compliance Managements erkennen lassen. Im Wesentlichen sind es drei Kernfunktionen, die dem Compliance Management zugeschrieben werden.7 Sie alle zielen darauf ab, ein regelkonformes Verhalten der Organisationsmitglieder sicherzustellen (Kette & Barnutz, 2019). Erstens ist es das Ziel des 5 Diese schwache Konturierung dürfte auch damit zusammenhängen, dass es keine rechtlichen Vor-
schriften gibt, welche die Ausgestaltung des Compliance Managements regeln würden (Hauschka et al., 2016, S. 13 f.; Schütz et al., 2018, S. 15). 6 Eine ähnliche Unschärfe zeigt sich im Übrigen auch mit Blick auf die historische Genese des Konzepts. Weitgehende Einigkeit herrscht in der Literatur jedoch dahingehend, dass die Ursprünge in den USA und dort vor allem in regulierungsintensiven Branchen wie vor allem der Pharma- und Finanzindustrie liegen (vgl. Quentmeier 2012; Schütz et al., 2018). 7 Zunächst einmal handelt es sich beim Compliance Management um ein Managementkonzept. In seiner organisationalen Anwendung wird dieses Konzept jedoch in ein Bündel von Aufgaben übersetzt. Diese werden dann ihrerseits entweder – in der Form eines Compliance-Beauftragten – einer bestehenden Stelle zugewiesen, oder es wird eine neue Stelle oder gar Abteilung eingerichtet, die ausschließlich für Compliance-Aufgaben zuständig ist. Sofern hier von „Compliance Management“
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Compliance Managements, Verfahren der Regelüberwachung zu entwickeln und zu etablieren. Die Bandbreite empirischer Ausdrucksformen ist dabei groß. Grundlegend zählen bereits Verfahren der Bekanntmachung von Regeln dazu, wie sie etwa im Zuge von Online-Schulungen und -Tests verbreitet stattfinden. Aber auch an die Implementierung von Pflichtfeldern in Online-Formularen, automatisch generierte digitale Zeitstempel oder die Einführung von sogenannten ‚Whistleblower‘-Systemen ist zu denken. Eine zweite Funktion des Compliance Managements besteht in der Sanktionierung von beobachteten Regelabweichungen. Selbst wenn die Compliance-Abteilungen kein direktes Mandat zur Sanktionierung haben, sind sie doch häufig an der Entwicklung von „Strafenkatalogen“ oder der Erarbeitung von Verfahrensregeln für den Umgang mit entdeckten Regelverstößen (inkl. der Entscheidung über Sanktionen) beteiligt. Und schließlich sind Compliance-Abteilungen drittens in die Regelentwicklung involviert. Dies betrifft zum einen die Übersetzung von neuen oder geänderten Gesetzen in organisationsinterne Regeln (Edelman, 1992); es umfasst aber auch die Entwicklung von Leitlinien „guten Verhaltens“ bzw. „Codes of Conduct“. Wie lassen sich diese Entwicklungen nun organisationssoziologisch verstehen und deuten? Zunächst einmal darf man sich wundern, dass Organisationen überhaupt so etwas wie ein Compliance Management einführen. Schließlich verfügen Organisationen mit dem Mechanismus der Formalisierung bereits über eine besondere Form der Erwartungssicherung (Luhmann, 1964, S. 39 ff.): Wer die formalen Regeln der Organisation – ihre Prozesse, ihre Zielvorgaben, die hierarchische Stellenstruktur und einiges mehr – nicht anerkennt, dem droht der Entzug der Mitgliedschaft. Weil Organisationen über die eigenen Mitgliedschaftsverhältnisse im Modus des Entscheidens disponieren können, sind sie in der Lage, Mindestbedingungen für den Erwerb und die Aufrechterhaltung der Mitgliedschaft zu formulieren. Und die Einhaltung von Regeln ist typischerweise Teil dieser Erwartungen – ganz nach dem Motto: „Wem es nicht passt, der kann ja gehen“. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Einführung eines Compliance Managements als formale Bekräftigung der Formalstruktur und mithin als Metaformalität begreifen (ausführlicher hierzu siehe Kette, 2021b sowie Kette & Barnutz, 2019). Wenngleich regelabweichendes Verhalten schon immer eine Realmöglichkeit darstellt, wird sie in der Formalstruktur doch verdeckt und latent gehalten. Zwar mögen alle Organisationsmitglieder um die Möglichkeit und das faktische Vorkommen von Regelabweichungen wissen. Die Formalstrukturen selbst sind hierauf aber nicht eingestellt. Im Gegenteil: Letztlich beruht der Mechanismus der Formalisierung auf einer Konformitätsunterstellung. Mit der Einführung eines Compliance Managements wird die Möglichkeit regelabweichenden Verhaltens nun aber in den formalen Strukturen der Organisation selbst reflektiert. Die Konformitätsunterstellung der ‚einfachen Formalität‘ wird im Rahmen der Metaformalität durch eine Abweichungsvermutung ersetzt. Insofern handelt es sich beim Compliance Management als Ausdrucksform der Metaformalisierung um die formale Entdeckung die Rede ist, geht es um das Konzept. Wenn Organisationsstrukturen im Zentrum des Interesses stehen, spreche ich von „Compliance-Abteilung“. In der Praxis ist der Sprachgebrauch uneinheitlich.
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der Informalität. Die Organisationsmitglieder mögen die Differenz von Formalität und Informalität schon immer kompetent gehandhabt haben; ihre formale Anerkennung (nicht Legitimation!) erfährt die Informalität jedoch erst im Zuge der Metaformalisierung. Die sich hieran anschließende Frage ist nun, welche Konsequenzen sich aus der Metaformalisierung für die Organisation ergeben. Leicht zu sehen ist, dass dabei das organisationale Bemühen um die Minimierung von Rechtsrisiken eine Rolle spielt und dass in diesem Zusammenhang Chancen der personalen Zurechnung von Verantwortlichkeiten kreiert werden (Kette, 2021b), welche organisationsinterne „Blame-Game“-Dynamiken befördern (Kette, 2018). Die spezifischen Auswirkungen der Metaformalisierung auf organisationale Machtkonstellationen wird der folgende Abschnitt nun noch differenzierter herausarbeiten.
13.4
Macht im Kontext von Metaformalität – und ihre Folgen für die Organisation
Die mit dem Compliance Management stattfindende Metaformalisierung fügt den oben beschriebenen Machtquellen zwar keine weitere hinzu. Sie verändert aber die Rahmenbedingungen für die „Benutzung von Regeln“. Dies ist insofern nicht überraschend, als die Kernaufgabe des Compliance Managements ja genau hierauf liegt: auf der Sicherstellung von Regelkonformität. Um zu verstehen, welchen Unterschied das Compliance Management genau macht, gilt es zwei miteinander zusammenhängende Aspekte im Blick zu haben. Der erste Punkt betrifft den Umstand, dass mit der Compliance-Abteilung ein neuer Spieler die organisationale Bühne betritt. Schließlich bedeutet die Einführung eines Compliance Managements nicht allein neue Regeln und Prozesse zu etablieren, sondern auch neue Stellen oder gar ganze Abteilungen einzurichten, und das heißt: Die Organisation stattet sich mit einer neuen sprachfähigen Perspektive aus. Als neuer Akteur kann auch die Compliance-Abteilung um organisationale Bedeutung, Ressourcen und Macht konkurrieren. Und in der Folge größerer Skandale sind solche Bedeutungsverschiebungen in Richtung Compliance-Abteilung regelmäßig zu beobachten (Kühl, 2020, S. 139 f.). Das organisationale Machtspiel erhält damit zwar einen neuen Teilnehmer, ändert sich zunächst aber nicht grundsätzlich. Gesamtorganisational ist daher ein anderer Aspekt noch bedeutsamer: Mit der Einführung des Compliance Managements wird aus einer dyadischen Machtkonstellation eine triadische. Unter Bedingungen „einfacher Formalität“ ist die Frage der Regeleinhaltung, des permissiven Übersehens von Regelabweichungen (Gouldner, 1954) oder gar die informale Aufforderung zur Regelabweichung (Bensman & Gerver, 1963) eine Angelegenheit zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter(n). Mit dem Compliance Management wird diese Konstellation nun um eine Drittpartei erweitert. Jede bilaterale Aushandlung über notwendige oder vertretbare Regelabweichungen findet dann im Horizont der Möglichkeit
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statt, die Regelabweichungen gegenüber dem Compliance Management zu thematisieren. Und das heißt: sie zu einem Thema zu machen, mit dem sich die Organisation formal beschäftigen und zu dem sie sich offiziell verhalten muss (Kette, 2021b, S. 263 ff.). Durch diese Einführung einer Drittpartei – das ist der zweite Punkt – ergibt sich in der Tendenz eine Symmetrisierung der Machtverhältnisse. Dies zeigt sich vor allem mit Blick auf die situative Deutungshoheit. Unter Bedingungen „einfacher Formalität“ liegt diese situative Deutungshoheit beim jeweiligen Vorgesetzten. Er kann Regelabweichungen sanktionieren – oder diese dulden. Im Zuge der Metaformalisierung wird die Duldung von Regelabweichungen jedoch selbst zu einem meldefähigen und -pflichtigen Regelverstoß. Regelabweichungen zu dulden, wird damit für die Vorgesetzten riskanter, da sie nun selbst Gefahr laufen, von ihren Untergebenen gemeldet zu werden. Und dies nicht nur von den direkt beteiligten Personen, sondern von jedem Mitarbeiter, der Kenntnis über die jeweilige regelverletzende Praxis hat. Zwar können auch unter Bedingungen ‚einfacher Formalität‘ Untergebene sich an den nächsthöheren Vorgesetzten wenden. Letztlich wiederholt sich damit aber die asymmetrische Kompetenz der Situationsauslegung nur auf einer höheren Hierarchieebene. Die Beurteilung der Regelabweichung verbleibt dabei jedoch im Bereich des Informalen. Erst mit der Zentralisierung der Regelüberwachung im Compliance Management wird es möglich, Regelabweichungen der Organisation formal zur Kenntnis zu bringen und sie damit unter Handlungsdruck zu setzen. Im Ergebnis führt diese Konstellation dazu, dass die Spielräume der Vorgesetzten bezüglich des Mikromanagements der Auslegung von formalen Regeln erheblich beschränkt werden. Das Compliance Management hingegen wird (potenziell) zu einem neuen Faktor im mikropolitischen Spiel. Als Drittpartei fungiert es gleichsam als Bande, über die Machtspiele gespielt werden können. Die „Benutzung von Regeln“ als Quelle der Macht kann nun auch heißen: Kenntnisse über Regelabweichungen zu verwenden, um andere in Schwierigkeiten zu bringen – auch wenn man selbst in diese Abweichungspraktiken gar nicht involviert ist. Die Frage, ob Regelabweichungen gemeldet werden, ist eine Ungewissheitszone, die von allen Mitarbeitern (partiell) kontrolliert wird, die über die jeweilige Regelverletzung Bescheid wissen. Sie lässt sich für individuelle Karriereinteressen ebenso ausbeuten wie für alle anderen Anliegen, die im Medium der Macht beeinflussbar sind. Diese Verschiebungen allein als Unannehmlichkeit für Vorgesetzte zu interpretieren, würde dabei zu kurz greifen. Vielmehr ergeben sich auch für die Organisation durchaus problematische Konsequenzen. Dies betrifft zum einen mögliche Machtgewinne, die das Compliance Management im Zuge eines organisationalen Bedeutungsgewinns für sich verbuchen kann. Wo das Compliance Management eine organisationale Aufwertung erfährt, werden Regeln an Orten entwickelt und deren Einhaltung überwacht, die von den Kernaktivitäten der operativen Einheiten wenig verstehen. Die Organisation läuft damit letzten Endes Gefahr, Inkompetenz formal abzusichern (siehe hierzu nochmals Kühl, 2020, S. 139 ff.). Eine Verschärfung erfährt dieses Problem insofern, als Regelverletzungen für Organisationen vielfach funktional sind. Sie ermöglichen der Organisation eine
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situative Flexibilität, weil gehandelt werden kann, ohne dass zuvor die Regeln angepasst werden müssen. Gerade in turbulenten Umwelten und unsicheren Zeiten birgt dieses Vorgehen Adaptivitätschancen, die von den Dynamiken der Metaformalität und den darin angelegten Machtverschiebungen bedroht werden.
13.5
Fazit
Bereits in den 1950er-Jahren hat Alvin Gouldner (1954, S. 173) formale Regeln als „Bargaining Chips“ beschrieben. Diese stünden den Vorgesetzten zur Verfügung, um sich die informale Kooperation ihrer Mitarbeiter zu sichern. Ihren Tauschwert erhalten die Regeln dabei nicht primär dadurch, dass der Vorgesetzte Regelverstöße ahnden könne, sondern gerade umgekehrt: Sie versetzten Vorgesetzte in die Lage, eine eigentlich fällige Sanktion nicht zu verhängen. Diese Tauschkonstellation gerät im Kontext von Compliance Management offensichtlich unter Druck. Stattdessen werden Unsicherheiten in einer Weise neu verteilt, dass das Dulden von Regelverstößen riskant und die Kenntnis von Regelverstößen zu einer Quelle von Macht wird. Eine Quelle von Macht, die ganz wesentlich darauf beruht, dass es mit dem Compliance Management eine organisationale Stelle gibt, deren formale Aufgabe darin besteht, Regelverstöße zur Kenntnis zu nehmen und sie zu verfolgen. Sucht man nach den Bedingungen, welche die Machtbeziehung in Organisationen aktuell konstituieren, so sind die hier beschriebenen Dynamiken im Kontext von Compliance Management sicher ein prominenter Kandidat. Schließlich hat das Compliance Management in den vergangenen Jahren bereits eine beachtliche Karriere hingelegt; und es gewinnt weiter an Bedeutung. Im Zuge der Metaformalisierung mögen sich nicht die Spielregeln der Macht verändern, aber es verändert sich doch das Spielfeld in einer Weise, die es nun möglich macht, „über die Bande“ des Compliance Managements zu spielen. Zusammen genommen sensibilisiert der Fall des Compliance Managements damit für die Bedeutung formaler Kontextbedingungen in der Analyse von Machtdynamiken. Diese Einsicht hat zudem auch praktische Implikationen. Vor allem verdeutlicht die Analyse des Compliance Managements, dass bei der Gestaltung formaler Organisationsstrukturen jeweilige Implikationen für mikropolitische Machtdynamiken mitzudenken sind. Zwar dürfte stets unsicher sein, wer wann genau welche dieser Machtchancen für sich erkennen und nutzen wird; diese aber überhaupt zur Kenntnis zu nehmen und mit ihnen zu rechnen, ist die Voraussetzung für eine folgensensible Organisationsgestaltung.
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S. Kette
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Sven Kette (PD Dr. phil.) ist Senior Consultant bei der Organisationsberatung Metaplan. Zudem ist er Privatdozent am Soziologischen Seminar der Universität Luzern. Dort forscht und lehrt er zu Themen der Organisationssoziologie. Zuletzt erschienen: Organisation und Digitalisierung. Soziale Systeme 26 1+2 (Themenheft) Hrsg. gemeinsam mit Veronika Tacke. 2022. [email protected]
Macht im Labor
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Problemstellungen im gruppendynamisch fundierten Organisationstraining Matthias Csar und Ulrich Krainz
Zusammenfassung
Der Beitrag beschäftigt sich mit verschiedenen Phänomenen der Macht im Aufbau und in der Entwicklung von Organisation. Anhand des erfahrungsbasierten Lernformats des Organisationstrainings (auch Organisationslaboratorium oder OLab) in der Tradition der „Klagenfurter Schule der Gruppen- und Organisationsdynamik“ werden ausgewählte Phänomene beschrieben, bei denen sich die Machtfrage während der Bildung von Organisation unausweichlich stellt. Sofern nicht ‚von außen‘ vorgegeben und gesetzt (wie das etwa bei Planspielen der Fall ist), sondern ‚von unten‘ bzw. selbstgesteuert entwickelt, trifft dies insbesondere auf drei Phänomenbereiche zu: 1) die Macht und Ohnmacht der amorphen Menge, 2) die Innen- und Außenpolitik von Gruppen sowie 3) die notwendige Hierarchisierung zur Übernahme von Gesamtverantwortung. Diese sind auch in ihrem Ablauf als typische Phasenabfolge heuristisch zu verstehen, wenn es um die Herstellung von Entscheidungsfähigkeit größerer, zunächst unstrukturierter sozialer Gebilde geht.
M. Csar (B) Fachhochschule Salzburg, Salzburg, Österreich E-Mail: [email protected] U. Krainz Pädagogische Hochschule Oberösterreich, Linz, Österreich E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 O. Geramanis et al. (Hrsg.), Organisationale Machtbeziehungen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42092-5_14
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14.1
M. Csar und U. Krainz
Fokusbildung
Macht ist ein zentrales Phänomen zwischenmenschlicher Beziehungen. Wenn Menschen miteinander interagieren, bilden sich wechselseitige Abhängigkeiten heraus. Man reagiert auf das Verhalten und die Erwartungen der anderen Person, passt sich an und ordnet sich unter, oder gibt vor und stellt sich darüber. Wie Crozier und Friedberg (1979, S. 14) meinen, muss jede Analyse kollektiven Handelns daher auch „Macht in das Zentrum ihrer Überlegungen stellen, denn kollektives Handeln ist im Grunde nichts anderes als tagtägliche Politik. Macht ist ihr Rohstoff“. Machtdynamiken lassen sich dabei auf unterschiedlichen Ebenen betrachten (von Ameln & Heintel, 2016, S. 2 ff.; von Ameln, 2022, S. 14): auf personeller Ebene (z. B. Körperlichkeit, Auftreten, Kompetenz), auf Ebene der Interaktion (z. B. Aushandlungsprozesse, Beziehungen) sowie auf Ebene der Organisation (z. B. Strukturen, Entscheidungsbefugnisse). Allen drei Ebenen ist gemeinsam, dass sie immer auch Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse sind. So ist in den letzten Jahren z. B. die Spannung zwischen den Generationen oder den Geschlechtern in die Aufmerksamkeit des Machtdiskurses in Organisationen gerückt. Für die hier angestellten Analysen interessiert, wie sich Macht als notwendiges Mittel zur Bildung von Organisation zeigt (dritte Ebene). Geschieht Handeln im Kollektiv, in dem also mehrere Personen miteinander agieren, bildet sich laut Schwarz (2019) immer eine Rangordnung aus, die es erst ermöglicht, Verhalten unter vielen erwartbar zu machen und zu koordinieren. Hierarchie (heilige Ordnung) ist dabei der sich historisch entwickelt habende und äußerst erfolgreiche Versuch, Stabilität im gemeinsamen Handeln durch Über- und Unterordnung sicherzustellen. So gesehen bedeutet Organisationsbildung immer auch Hierarchiebildung, ob man das nun möchte oder nicht. „Hierarchie fungiert als gesellschaftlich abgestützte, fest institutionalisierte, quasi naturwüchsige Vorgabe, die organisationsintern ganz grundsätzlich eine asymmetrische Machtverteilung postuliert“ (Wimmer, 2016, S. 298). Hierarchie ermöglicht Organisationen die Generalisierung von Verhaltenserwartungen ihrer Mitglieder. Sie stellt neben der Verortung von Entscheidungsverantwortung auch die Integration der beteiligten Personen sicher. Wenn wir in Folge von Organisation sprechen, erscheint uns die Perspektive von Claessens (1977) bedeutsam. Er beschreibt den anthropologischen Ursprung der Organisation im Problem des menschlichen Zusammenlebens, in dem verschiedene Interessen von unterschiedlichen Gruppen organisiert werden müssen. Organisationen können in diesem Sinne als die Ordnung von Gruppen verstanden werden, was sowohl Freiheiten ermöglicht als auch Beschränkungen erfordert. Pesendorfer spricht daher von Organisation als einem „System der Beziehungen zwischen Gruppen, die selbst wieder Beziehungssysteme von Beziehungen sind“ (1993, S. 224). Auch bei Luhmann (1975) findet sich die Vorstellung, dass Organisation durch ein Netz von Beziehungen charakterisiert ist, in dem „Kommunikation an Kommunikation“ anschließt und so Handlungen sinnvoll aufeinander bezogen und sowohl formal als auch informal organisiert werden können.
14 Macht im Labor
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In dieser ‚Ordnung von Gruppen‘ und dem Aufbau sinnvoll aufeinander bezogener Handlungen stellt Macht und damit Hierarchiebildung ein zentrales Element der Beziehungsentwicklung untereinander dar. Macht ist also eine notwendige soziale Tatsache von Organisation. In der organisationalen Praxis jedoch wird kaum über diese Macht gesprochen, zumindest nicht offiziell. Zwar unterscheiden sich hier die unterschiedlichen gesellschaftlichen Handlungsfelder deutlich. So sind Themen wie Macht und Einfluss in Schulen beispielsweise eher tabuisiert als in der Wirtschaftswelt oder beim Militär. Dennoch wird mit Macht schnell immer auch etwas „Böses“, „moralisch Verwerfliches“ oder gar „Missbrauch“ assoziiert (vgl. von Ameln & Heintel, 2016, S. 110 ff.). Weiters unterliegt die Thematisierung von Macht zudem der Spannung, sich in vielfältigen Abhängigkeitsbeziehungen zu befinden. Ein Ansprechen der Verhältnisse läuft stets Gefahr, seine eigene Macht zu verlieren oder Machtausübung in Konsequenz einer Grenzüberschreitung zu verspüren. In jedem Fall lässt sich festhalten, dass der organisationale Alltag nicht von einem bewussten Umgang mit so einem zentralen Phänomen wie Macht geprägt ist. Im Folgenden wird daher ein spezifisches Lernformat vorgestellt, das uns für eine solche Reflexion von Macht, ihrer Erscheinungsformen und Spielarten im Rahmen von Organisationsbildung und Organisationsentwicklung bedeutsam erscheint. Daran anschließend wird auf spezifische Machtdynamiken in diesem Lernsetting eingegangen.
14.2
Das Organisationstraining der Klagenfurter Schule
Eine der größten Herausforderungen auch einschlägiger Bildungsprogramme wie z. B. Führungskräfteschulungen ist die Frage nach der Vermittlung von Organisation als explizitem Lerngegenstand, der nicht nur kognitiv abgearbeitet wird, sondern auch an lebensweltliche Erfahrungen anknüpft (Krainz, 2023). Grundsätzlich gibt es verschiedene Zugänge des Lernens über Organisation. Neben einschlägigen theoretischen Auseinandersetzungen existieren auch praktische, verhaltensorientierte Trainingsformate, die unter die Kategorie des „Erfahrungslernens“ fallen. Unterschiede zeigen sich dabei aber im Grad ihrer Strukturiertheit, ob etwa eine bestimmte Organisationsform, spezifische Rollen und Funktionen im Vorfeld bereits vorgegeben werden oder nicht. So halten Formate nach der Tavistock-Tradition (Waddell & Kraemer, 2021) z. B. eine wechselnde Struktur und Aufgaben mit hierarchisch festgelegten Positionen bereit, Planspiele wiederum sind als Simulationen angelegt und bewegen Teilnehmende im Kontext eines sehr speziellen Szenarios zur Organisationsbildung. Demgegenüber zeichnet sich das hier beschriebene Organisationstraining durch eine weit größere Strukturfreiheit aus, was Vorgaben und Regelsetzungen betrifft. Das Organisationstraining (oder auch Organisationslaboratorium, OLab) ist eine im Fachbereich Gruppendynamik an der Universität Klagenfurt entwickelte Veranstaltung (Krainz, 2005, 2006), welche die Grundprinzipien des experimentellen Lernens von Laboratoriumssettings, wie sie in gruppendynamischen Trainingsgruppen (T-Gruppen) zur
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Anwendung kommen, auf Organisation übertragen hat. Neben den Erkenntnissen Lewins (1948) werden die theoretischen Grundlagen des OLabs auf die wegbereitenden Arbeiten am „European Institute for Trans-National Studies in Group and Organizational Development“ (EIT) zurückgeführt (Duwe, 2018; Lackner & Duwe, 2018). Zur Anwendung kommt es in den unterschiedlichsten Feldern, so z. B. im Bereich der Führungskräfteentwicklung (Lesjak & Lobnig, 2014), der schulischen Fort- und Weiterbildung (Krainz, 2015), der betrieblichen Weiterbildung (Duwe, 2022) usw. Konkret handelt es sich beim OLab um eine einwöchige Veranstaltung in Klausurform, bei der ca. 60–120 Personen unterschiedlichster Fachrichtungen und Professionen (Studierende, Berufstätige, Teilnehmende verschiedener Lehrgänge etc.) teilnehmen. Für den Rahmen der Veranstaltung ist ein Staff verantwortlich (4–6 TrainerInnen mit fundierter gruppendynamischer Ausbildung), die Vorgaben begrenzen sich jedoch zunächst lediglich auf veranstaltungsbezogene Aspekte (Zeit, Räumlichkeiten, Auftrag). Übergeordnetes Ziel der Veranstaltung ist es, unter Einbeziehung aller Anwesenden eine entscheidungsfähige Organisation zu bilden. Zugleich geht es um Reflexion dieses Prozesses und um die Auswertung der gemachten Erfahrung. Der Staff unterstützt den Lernprozess in Form gesetzter Interventionen. Auch ist er selbst Teil der zu bildenden Organisation, was eine begleitende Auseinandersetzung mit der Autorität des Staffs notwendig macht. Mit diesem zunächst paradox klingenden Arbeitsauftrag, nämlich sowohl aktiver Teil der zu entwickelnden Organisation zu sein als auch die eigene Entwicklung zu reflektieren, steht das OLab in der Tradition der gruppendynamischen Lernphilosophie: Ihr geht es stets um erfahrungsbasiertes, experimentelles und selbstreflexives Lernen (Krainz & Lerchster, 2023). Im Fall des OLabs bedeutet das: „Man lernt über Organisation, indem man sich organisiert, die eigene Organisation also entwickelt, beobachtet und verändert“ (Krainz, 2006, S. 28). Teilnehmende sind in die von ihnen selbst initiierten organisationalen Vorgänge mit hineingenommen, stehen diesen somit nicht distanziert gegenüber oder werden theoretisch belehrt, sondern spüren und erleben die damit einhergehenden Phänomene „am eigenen Leib“. Wie das aber im Detail auszusehen hat, wird gerade nicht vorgegeben. Das Setting zeichnet sich vielmehr dadurch aus, dass das Durchregulierte und Vorgegebene, was Organisationen normalerweise kennzeichnet, bewusst zurückgenommen wird. Diese „Niedrigstrukturierung“ (König & Schattenhofer, 2011, S. 78) ist ein grundlegendes Arbeitsprinzip gruppendynamischen Lernens, das sich durch eine Leitungsverweigerung und den Verzicht auf Vorgaben auszeichnet: „The basic assumption is that a leadership vacuum fosters the competence of self-monitoring and ‚self-leading‘“ (Lesjak & Lobnig, 2014, S. 59). Erst dadurch wird ein Raum eröffnet, in dem sich Prozesse Bottom-up entfalten können. Da in einem solchen Training aber stets unterschiedliche Vorstellungen und auch Organisationserfahrungen versammelt sind, führt das unweigerlich zu notwendigen Ab- und Aussprachen und einem größeren Kommunikationsaufwand. Das ist auch hochgradig konfliktbehaftet. Vieles von dem, was einem im normalen Organisationsleben eben genau
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durch die Organisation selbst und ihre (hierarchischen) Strukturen abgenommen wird, muss in diesem Setting von Beginn an erst aufgebaut und durchgearbeitet werden. Das Fehlen an Struktur wirft somit unweigerlich auch die Machtfrage auf. Denn um Strukturen zu errichten, besteht erst einmal die Notwendigkeit von Aktivität und „Machtergreifung“.
14.3
Machtdynamiken im Organisationstraining
Das OLab beginnt immer mit einer Vollversammlung im Plenum, in einem großen Raum. Der Staff erklärt den Rahmen, das Setting und den Arbeitsauftrag, zieht sich aber in Folge zurück (Führungsvakuum). Bis auf einen fixierten Termin jeden Vormittag im Plenum gibt es keine weitere Richtschnur für die Teilnehmenden. Die Organisation, die eben noch keine ist, beginnt als Massenansammlung, bei der (einander bislang fremde) Menschen beginnen müssen, miteinander in Kontakt zu treten. Es gibt keine formale Struktur, die in Organisationen in der Regel für Orientierung sorgt. Die Aushandlung von Machtverhältnissen in diesem Lernsetting wird somit von einem (Organisations-)Zustand aus betrachtet, in dem es noch keine vordefinierten Positionen, Strukturen oder Funktionen gibt. Theoretische Befunde, die sich mit personalisierter Macht einer Führungskraft, also der strukturellen Macht qua Funktion beschäftigen, sind hier nur begrenzt hilfreich. Auch ist die Machtdefinition von Crozier und Friedberg (1979, S. 40 ff.), die Macht als die Kontrolle von spezifischen Unsicherheitszonen begreifen, in solch einem (Organisations-)Zustand wenig brauchbar, da noch gar nicht klar ist, welche Unsicherheitszonen es denn zu kontrollieren gilt. Die Unterscheidung von formaler und informaler Macht, die sich auch bei Luhmann findet (1999, S. 283), wäre insofern passend, da das OLab einen Raum eröffnet, informale (heterarchische) Machtdynamiken explizit zu erleben und ihren Beitrag zur Stabilisierung formaler (hierarchischer) Machtstrukturen zu erkennen. Für die hier angestellten Analysen impliziert das eine ganz eigene Aufmerksamkeitsrichtung. Oder um es mit den Worten von Sofsky und Paris (1991, S. 11) zu sagen: Wir betrachten „weniger die Macht in Organisationen als vielmehr die Organisation der Macht“, wir „suchen keine Machtorte im Fertighaus, sondern beobachten den Auf- und Umbau sozialer Macht, die Bestandsreparaturen und den Zerfall“. In weiterer Folge nehmen wir daher auf Phänomene Bezug, die uns als Trainer und Mitglieder des Staffs in einem der letzten OLabs fast idealtypisch begegnet sind und die eine Aushandlung von Macht am Weg zur Organisationsbildung exemplarisch machen. In der Bearbeitung der Spannungsfelder von Individuum, Gruppe und Organisation wird eine Phasenfolge ersichtlich, typische Abschnitte bzw. Schwellenmomente, an denen auch stets ‚etwas passieren‘ muss, damit die Entwicklung von Organisation voranschreiten kann. 1. Macht und Ohnmacht der amorphen Menge 2. Innen- und Außenpolitik von Gruppen
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3. Notwendige Hierarchisierung zur Übernahme von Gesamtverantwortung
14.3.1 Macht und Ohnmacht der amorphen Menge Folgende Szene zeigt sich in einer der ersten Vollversammlungen zu Beginn des OLabs:
Um 9 Uhr früh finden sich alle Teilnehmenden im großen Plenumsraum ein. Es wird zu Beginn herumgegangen und geplaudert. Langsam nehmen alle im aufgestellten Sesselkreis Platz. Auch der Staff hat sich in dem Kreis eingeordnet. Abwartendes Schweigen, leichte Nervosität ist im Raum spürbar. Zögerlich folgen die ersten Vorschläge für Moderation und Strukturierung des Plenums. Ein Teilnehmer steht auf und stellt sich vor. Er hat Moderationserfahrung und glaubt, dass es hier gut wäre, zu moderieren. Es gibt zustimmendes Nicken, gleichzeitig den Einwurf, dass man dann auch eine Frau bräuchte, um das Gleichgewicht zu wahren. Das neue Moderationspärchen stellt sich in die Kreismitte und beginnt die Wortbeiträge zu ordnen. Dieser Versuch wird jedoch rasch von Rausrufen, langen Monologen und hörbaren Zwischengesprächen torpediert. Ein Teilnehmer stellt die Moderation grundlegend infrage: „Warum eigentlich ihr? Wer hat das entschieden?“ Zustimmendes Nicken von der einen Seite, Agitation auf den anderen. Die vermeintliche Moderation setzt sich frustriert wieder nieder. Es folgt aufgebrachtes Murmeln, bis sich die nächste Person erhebt und sich in Moderation versucht.
Diese kurze Sequenz zeigt zweierlei. Zunächst wird der enorme Stresspegel ersichtlich, dem Individuen psychologisch gesehen in einer unstrukturierten Menge ausgesetzt sind. Nicht zu wissen, woran man ist, woran man sich orientieren soll, was von wem zu erwarten und zu tun ist, verunsichert und frustriert, zuerst individuell, dann schnell auch kollektiv. Aus diesem Grund zeigt sich auch eine anfängliche Erleichterung, wenn von irgendjemandem dann plötzlich die Initiative ergriffen wird. Diese ist jedoch nur von kurzer Dauer. Denn jeder Vorstoß, gestaltend auf das Gesamtgeschehen Einfluss zu nehmen – und sei dieser mit noch so guten Absichten ausgestattet (z. B. Moderation, Ordnungsversuche) –, wird schnell als illegitime Form der Machtergreifung interpretiert, der man so nicht zugestimmt hat. In einer amorphen Menge ist Zustimmung aber auch gar nicht möglich. Vielmehr ringen die einzelnen Stimmen darum, sich Gehör zu verschaffen. In diesem Zustand gibt es keine entscheidungsfähigen oder entscheidungsbefugten Subjekte, die Situation zeichnet sich vielmehr durch ein Nichtvorhandensein des Individuellen aus. Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Bestätigung und Einflussnahme auf den eigenen Lebensraum (Schutz,
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1966) werden in der unstrukturierten Anfangssituation des OLabs nicht erfüllt und es wird (zu Recht) befürchtet, mit den jeweiligen individuellen Ansichten, Ideen und Befindlichkeiten unterzugehen. Partikularinteressen können keine Berücksichtigung erfahren, das Einzelne verschmilzt und diffundiert in der Menge. Auch wenn es etwas aus der Mode gekommen ist, die ältere Sozialwissenschaft hält für die Beschreibung derartiger Phänomene den Massenbegriff bereit. Die Psychologie von Massen ist dabei gut ausgearbeitet (z. B. Le Bon, 1973; Freud, 1921; Canetti, 1960; Moscovici, 1986). Ungeachtet der jeweiligen Unterschiede und Schwerpunktsetzungen der genannten Autoren ist ihnen eine Ansicht gemeinsam: Sie gehen alle davon aus, dass größeren Ansammlungen von Menschen eine unvermeidliche Regressionsneigung innewohnt, dies vorwiegend kollektive Emotionalisierungen begünstigt, was prinzipiell als Risiko einzuschätzen ist. Unstrukturierte Ansammlungen bergen daher stets die Gefahr maligner destruktiver Dynamiken, sie sind von sich aus nicht vernünftig, entscheidungsfähig oder Differenzen berücksichtigend, sondern „lediglich mächtig über das quantitative Argument“ (Heintel, 2002, S. 54). Es gelingt ihnen nicht, ein Wechselspiel von Aktion und Reflexion im Sinne der Eigensteuerung in Gang zu setzen (dazu ausführlich Krainz, 2019). Aufgrund der vorherrschenden Sozialform kann das anfängliche Führungsvakuum daher zunächst auch nicht als eine Chance für Gestaltung oder als eine Ermöglichung von Freiheit interpretiert werden. Die Situation wird vielmehr als Zumutung erlebt. Zu Beginn des OLabs sind daher auch typische Stressreaktionen beobachtbar (Gray, 1987). Manche Teilnehmenden verharren in Sprachlosigkeit und tauchen in der Masse unter (freeze). Andere verlassen den Raum, überlegen, die Veranstaltung abzubrechen und nach Hause zu fahren (flight). Eine dritte Reaktionsform gibt sich kämpferisch, äußert z. B. lauthals Kritik an den Vorschlägen Einzelner, an dem Setting oder dem Lernformat als Ganzem (fight). Auch der Staff wird im Sinne einer Außenfeindprojektion hier gerne in die Mangel genommen, da dieser – so der mitunter lautstark erhobene Vorwurf – nichts „Sinnvolles“ zur Lösung des Problems beiträgt. Die Situation verdeutlicht die kollektive Ohnmacht unstrukturierter Personenansammlungen sowie eine wachsende unreflektierte Sehnsucht nach Führung und Strukturvorgabe (was auch die immanent autoritär-faschistoiden Züge von Massen offenbart). Für die noch zu bildende Organisation ergeben sich hier gleich mehrere Probleme. Die um sich greifende, zumindest latent aggressive Grundstimmung im Plenum verhindert eine gemeinsame Suche nach Lösungen. Darüber hinaus fehlt gerade eine hierfür passende Form, um sinnvolle Suchprozesse einzuleiten bzw. Überlegungen anstellen zu können. Lange hält man diesen spezifischen Stress im unstrukturierten Plenum aber nicht aus. Quasi naturwüchsig und in Reaktion auf die dort entstandenen Zumutungen fangen die Teilnehmenden an, sich in überschaubarere Sozialformate abzusetzen und quasi zu „retten“. Die Kleingruppe wird so zum Rückzugsort und „Auffangbecken“ unbefriedigter individueller Bedürfnisse (Krainz, 2011, S. 153), zu einem Ort der Begegnung, bei dem man (potenziell) als Person gesehen wird und man auch leichter aufeinander
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Bezug nehmen kann. Wenn auch unsystematisch und unkoordiniert, nahezu automatisiert, erfolgt mit dem Zerfallen in kleinere Gruppen ein erster wesentlicher Schritt in Richtung Strukturbildung.1
14.3.2 Innen- und Außenpolitik von Gruppen Der Wunsch nach Zugehörigkeit sowie das Bedürfnis nach Einflussnahme und Macht über die Gestaltung des eigenen Lebensraumes werden in den Kontext der Gruppe verschoben, in dem diese auch eine größere Realisierungschance haben. Dazu folgende Beobachtungen aus dem Laboratorium:
Am Nachmittag des ersten Tages hat man das Plenum verlassen und sich in verschiedene Formationen aufgeteilt. Die dadurch ausgelösten Prozesse verlaufen asynchron. Manche gebildeten Gruppen haben einen eigenen Raum bezogen und mit einer ausführlichen Vorstellungsrunde begonnen. Wechselseitig bestätigt man sich, dass es hier viel angenehmer sei als im Plenum. Endlich komme man zum Reden. Zum Teil werden bereits Überlegungen angestellt, wie man als Gruppe auftreten könnte (Namensgebung) und wie man die Organisation gestalten wolle. Formationen, welche die Größe der Kleingruppe übersteigen, sind länger mit sich selbst beschäftigt und laufen Gefahr, die Dynamiken aus dem Plenum zu reproduzieren. In jedem Fall braucht es dort strengere Moderation, was wiederum den Wunsch konterkariert, leichter und ungezwungener reden zu können. Einzelne Personen bleiben auch für sich, wollen sich nicht festlegen und sich erst einen Überblick verschaffen.
Da der Zerfall in kleinere Sozialformate nicht bewusst geschieht, sondern als eine unmittelbare Folge der kollektiven Belastungen und Stresserfahrungen im unstrukturierten Plenum anzusehen ist, sind die so entstandenen Formationen zunächst einmal ‚Zufallsprodukte‘. Diese benötigen daher auch eine Art Selbstüberprüfung. Es gilt zu klären, ob es sich hier um die „richtigen“ Konstellationen handelt, in denen man sich zusammengefunden hat, und ob man so auch zusammenbleiben und arbeiten möchte. Dies umfasst ganz unterschiedliche Punkte, angefangen bei den konkreten Personen (z. B. Sympathie, 1 Bei einer geringeren Anzahl an Teilnehmenden im OLab (ca. 45–50 Personen) ist manchmal auch
eine Fixierung in dieser Phase und ein Festhalten an plenaren Vollversammlungen beobachtbar. Dies geschieht durch ein Beschwören der „Großgruppe“ , bei dem man längere Zeit die Fantasie aufrechterhält, man könne große Mengen wie kleine Gruppen behandeln (im Sesselkreis sitzen, Moderationsversuche usw.). Hier braucht es erfahrungsgemäß eine etwas längere Geduldsund Belastungsprobe, bis einzelne Personen anfangen auszubrechen, um sich in kleineren Gruppen zusammenzutun.
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gemeinsame Interessen, Vorstellungen), der Gruppengröße (Arbeitsfähigkeit?) sowie der Bereitschaft, weitere Personen aufzunehmen (offen oder geschlossen).2 All diese Fragen betreffen die Gestaltung der Binnenverhältnisse und damit die Innenpolitik von Gruppen. Wer gehört dazu, wie sieht das Machtgefüge aus und wie möchte man miteinander umgehen? Dies zu klären ist notwendig, da die Kleingruppe der Ort „überschaubarer direkter Kommunikation und Kontrolle“ (Heintel & Krainz, 2015, S. 57) ist und sich erst durch unmittelbare Face-to-Face-Kommunikation Vertrauen entwickeln sowie Handlungs- und Erwartungssicherheit einstellen kann. Zugleich ergeben sich damit aber auch Anschlussprobleme, wie man als Gruppe gesehen und wahrgenommen wird und werden möchte bzw. wie man gedenkt, mit anderen Gruppen zu interagieren und in einen Austausch über die jeweils entwickelten Ideen und Vorstellungen zu kommen. Um in der Metapher zu bleiben, geht es somit unweigerlich immer auch um Fragen einer entsprechenden Außenpolitik. In seiner klassischen Studie Gruppen und Gruppenverbände spricht Claessens (1977) in diesem Zusammenhang vom Unterschied zwischen Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung. Auf dem Weg zur Organisationsbildung müssen sich Gruppen immer mit beidem beschäftigen, mit notwendiger Schließung und einer entsprechenden Öffnung zugleich. Wenn Gruppen keinerlei Grenzen ziehen, drohen sie anzuwachsen, was sowohl diskursive Auseinandersetzung verhindert als auch eine unüberschaubare Fluktuation begünstigt. Eine solche Konturlosigkeit erschwert zudem eine Einschätzung darüber, mit wem (und mit wie vielen) man es dann eigentlich zu tun hat (Etablierung einer informellen Parallelstruktur?). Gruppen wiederum, die zwar klar umrissen sind, aber keinerlei Kontakte mit anderen pflegen, kapseln sich vom Gesamtgeschehen ab. Sich nur mit sich selbst zu beschäftigen, kann auch als Flucht bzw. als Organisationsabwehr interpretiert werden. In jedem Fall sind beide Extreme für die noch zu bildende Organisation problematisch. Diese doppelte Herausforderung der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung, der Innen- und Außenpolitik von Gruppen, ist auch deshalb schwer, da einzelne Gruppen hier verschiedene Geschwindigkeiten entwickeln, um mit diesen Problemen umzugehen. So sind die einen noch intensiv mit gruppeninternem Beziehungsaufbau und „Kennenlernen“ beschäftigt, während andere bereits informell den Kontakt zu anderen Gruppen suchen. Wiederum andere haben schon konkrete Vorstellungen über mögliche Koordinationsund Entscheidungsmechanismen der Gesamtorganisation entwickelt, die sie mit anderen besprechen möchten. 2 Die Bereitschaft, Personen aufzunehmen, schwindet mit zunehmender Dauer des Lernformats und
der damit einhergehenden Intimisierung der jeweiligen Kleingruppen deutlich. Auch bei jenen Personen, die ihre individuellen Freiheiten betonen und sich daher keiner Gruppe anschließen möchten, zeigt sich schnell eine paradoxe Situation: Zwar hat man so die eigenen Interessen „geschützt“ , die eigene Autonomie „gerettet“. Organisational gesehen entmachtet man sich dadurch aber selbst und spielt den Prozess an andere, an einen administrativen Selbstlauf, der dann ohnehin stattfindet. Die Chance auf Mitgestaltung, die einem dadurch offeriert wird, wird oft nicht gesehen und wahrgenommen.
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14.3.3 Notwendige Hierarchisierung zur Übernahme von Gesamtverantwortung Aus der Bildung von Gruppen ergibt sich somit unweigerlich das Folgeproblem der Koordination dieser Gruppen. Um einen Gesamtzusammenhang herzustellen und damit einzelne Gruppen nicht in sich verschlossen und ohne Kenntnis der anderen äußeren Vorgänge vor sich hin arbeiten, müssen Intergruppenprozesse aufgebaut werden. Wenn man Kommunikation unter vielen koordinieren möchte, ist dies mit einer Reduktion von Komplexität verbunden. Möglich wird dies durch eine universale Organisationsform der Vergesellschaftung, die Stellvertretung (Sofsky & Paris, 1991; Sofsky, 2019). Konkret läuft das auf die Bildung einer neuen Gruppe hinaus, die „Gruppe der Gruppenvertreter“, was eine „Fülle qualitativ neuer Probleme“ aufwirft (Claessens, 1977, S. 60). Dazu folgende Szene aus dem OLab:
Um miteinander ins Gespräch zu kommen, hat sich im Plenum eine überschaubare Gruppe von Personen in einer Art Fishbowl zusammengefunden, die von unterschiedlichen Herkunftsgruppen entsandt wurden und ihre jeweiligen Interessen und Vorstellungen über den weiteren Ablauf des Laboratoriums einbringen. Manche Personen kommen zu zweit, andere haben eine Begleitperson mit, die hinter ihnen sitzt und ihnen immer wieder ins Ohr flüstert. Die Sitzung findet öffentlich statt, beobachtet von zahlreichen Mitgliedern verschiedener Gruppen. In einer ersten Vorstellungsrunde wird kundgetan, wie viele Personen man hier eigentlich vertritt (Gruppengröße). Schnell werden unterschiedliche Selbstverständnisse dieser Vertretung deutlich. Manche Personen sehen sich als Sprachrohr der Gruppe, lediglich zur Informationsweitergabe berechtigt. Andere betonen, bereits ein ‚Mandat‘ ihrer Gruppe zu haben, Entscheidungen treffen zu können. Bei manchen Vertretern/ Vertreterinnen wiederum betreffe dies nur einzelne Teilbereiche. Auch gibt es Personen, bei denen man den Eindruck gewinnt, dass sie hauptsächlich für sich selbst sprechen. Nach mehreren Runden steigt auch in diesem Kreis der Frustrationspegel. Einige werden nervös und möchten endlich Entscheidungen treffen, die auch für alle Gruppen verbindlich sind. Andere beharren darauf, nichts entscheiden zu können und immer erst mit der eigenen Herkunftsgruppe Rücksprache halten zu müssen. Es gibt rückversichernde Blicke ins Plenum, dort macht sich Unruhe breit. Die Sitzung wird abgebrochen und auf einen späteren Zeitpunkt verlegt.
Anfänglich besteht noch keinerlei Bewusstsein darüber, welchen Zweck diese neu gebildete Gruppe eigentlich erfüllen soll, was sie ist bzw. sein kann. Eingerichtet, um zunächst einmal „nur“ einen kommunikativen Austausch über Gruppengrenzen hinweg zu ermöglichen, stößt die Gruppe im Zuge des Interagierens aber auf Interessenlagen
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und Vorstellungen von mehreren Gruppen, die einander angeglichen werden müssen. Das tangiert zwangsläufig das Gesamtsystem und wirft zentrale Fragen der noch zu entwickelnden Organisation auf: Wie kann eine verbindliche ‚Gesamtchoreografie‘ für alle hergestellt werden? Wo, wie und von wem werden hierfür die Entscheidungen getroffen? An dieser Stelle ist im OLab die wachsende Erkenntnis beobachtbar, dass es sich bei den hier versammelten Personen um eine besondere Gruppe handelt, da sich hier auch alle relevanten Sichtweisen und Partikularinteressen abbilden. Der Ort repräsentiert das Gesamtsystem. Claessens nennt die Gruppe der Delegierten daher auch „Gruppe zweiter Ordnung“ (1977, S. 65), in der sich dieselben Prozesse wiederholen wie in den jeweiligen Herkunftsgruppen, nur eben ‚eine Etage höher‘ und in einer komplexeren, problemangereicherten Form. Bald wird deutlich, „dass es sich bei dieser Gruppe von Gruppenvertretern um keinen harmlosen Diskutierclub handeln könnte, sondern um ein Gremium, das sich anmaßen wird, Entscheidungen zu treffen“ (Krainz, 2005, S. 324). Dies verändert die Situation grundlegend. Das Konfliktpotenzial sowie der Druck auf die Vertretungspersonen steigen. Die Entwicklung eines solchen Selbstverständnisses als ein „verfassungsgebendes Gremium“ der Organisation ist aber in mehrerlei Hinsicht voraussetzungsreich. Zunächst sind die VertreterInnen gedanklich wie emotional noch stark an ihre Herkunftsgruppen gebunden, weshalb sie sich auch nicht sofort auf einen neuen Gruppenprozess einlassen können. Zwar reden jetzt nur mehr ausgewählte Personen, jedoch besitzt auch diese Gruppierung noch keine geordneten (Macht-)Verhältnisse. Damit sich diese Gruppe somit als Gruppe entwickeln kann, braucht es Zeit, aber vor allem auch hier eine notwendige Schließung und Abgrenzung (z. B. überschaubare Größe, Konstanz in der Gruppenzusammensetzung, keine Störungen von außen, eventuell Ausschluss des Plenums bzw. Konferenz hinter verschlossenen Türen usw.). Und nicht zuletzt müssen sich die VertreterInnen auch als solche verstehen, d. h. als Personen, die nicht für sich, sondern eben für ihre Gruppen sprechen und deren Interessen vertreten, sich aber darüber hinaus ‚erheben‘. Folgerichtig entsteht auch ein Misstrauen, wie die oben angeführte Szene zeigt (z. B. zuschauen und Sitzung beobachten, als Begleitperson mitgehen, Rotationsprinzip einführen und immer neue VertreterInnen schicken usw.). Es wird verspürt, dass es in dieser neu gebildeten Gruppe um „mehr“ und um etwas „Entscheidendes“ gehen wird, um Prozesse, an denen man aber nicht mehr unmittelbar beteiligt sein kann. Dieses fehlende Vertrauen in die Vertretungspersonen durch die Herkunftsgruppen hat aber weniger mit der jeweiligen Person des Delegierten zu tun, sondern ist strukturell bedingt: „Die politische Entfremdung“, so führen es Sofsky und Paris aus, „ist bereits in der Grundstruktur der Stellvertretung angelegt“ (1991, S. 116). Ohne eine Vertretung haben Gruppen im Gesamtgefüge keinerlei Relevanz. Sie besitzen keine Stimme oder kollektive Handlungsfähigkeit, entmachten sich somit selbst. Sobald in Stellung gebracht, müssen Gruppen aber erleben, dass ihnen ihr „Vertreter in gewissem Sinne entgleitet“ (Claessens, 1977, S. 72), ohne dass dieser etwas dafürkann.
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Da eine Vertretung die Gruppe „transzendiert, sind die Relevanzen auch durch regelmäßige Rücksprachen oder Kontrollen nie mehr völlig zur Deckung zu bringen“ (Sofsky & Paris, 1991, S. 116). Sich von anderen vertreten zu lassen, bedeutet somit immer auch Macht abzugeben und sich Beschlüssen zu unterwerfen, die anderswo gefasst worden sind. „Die Ermächtigung des Delegierten ist die Selbstentmachtung der Gruppe“ (ebd.). Diese Dynamiken sind kein „Fehler im System“, sondern als Resultat von Vergesellschaftung und als unvermeidliche Begleiterscheinung der Organisation größerer sozialer Verbände zu verstehen. Eine erfolgreiche Vertretung benötigt daher eine „Zweisprachigkeit“ (Claessens, 1977, S. 72) und muss eine „doppelte Loyalität“ (Krainz, 2005, S. 325) ausbilden, sowohl den Interessen der jeweiligen Herkunftsgruppen als auch dem Gesamtinteresse gegenüber. Diese unterschiedlichen Anforderungen im Blick zu haben und in eine entsprechende Balance zu bringen, ist herausfordernd und führt auch regelmäßig in ein Dilemma. Kaum eine organisationale Entscheidung kann alle Bedürfnisse befriedigen oder zur Zufriedenheit aller erfolgen, weshalb selbst im Glauben, eine gute Lösung ausgehandelt zu haben, mit Spannungen, Frustration und Enttäuschungen bei der eigenen Herkunftsgruppe zu rechnen ist (dazu ausführlich Pesendorfer, 1993). Die Konsequenzen und Lerneffekte im OLab sind für die jeweiligen Populationen somit unterschiedlich. Die Repräsentierten bzw. „normalen“ Gruppenmitglieder müssen lernen, dass es organisational gesehen nicht möglich ist, überall selbst persönlich mit dabei zu sein, und sie lernen so mit dem Spannungsfeld von Partikularinteressen gegen Gesamtinteresse umzugehen. Die Gruppe der GruppenvertreterInnen entwickelt sich zu einer Art Managementboard, das bei passender Besetzung und im Wechselspiel zwischen Nominierung und Entsendung durch die Herkunftsgruppen einerseits sowie der Herauslösung aus diesen Gruppen und der Selbstermächtigung andererseits entscheidungsfähig wird. Diese Differenzierung stellt einen zentralen Schritt in der Organisationsbildung dar. Die so gebildete hierarchische Struktur ermöglicht Arbeitsteilung und Koordination, was zu einer Ordnung der Verhältnisse und der Handlungsfähigkeit des Gesamtsystems beiträgt.
14.4
Schlussfolgerungen
Als experimentelles Lernformat gleicht kein OLab dem anderen. Auch erreicht nicht jedes Laboratorium vollständig das anvisierte Ziel einer entscheidungsfähigen Organisation. Das hat ganz unterschiedliche Gründe, die einem unterwegs begegnen können, z. B. das Festhalten an der Idee der „Großgruppe“, aufgrund von Personen, die sich nicht in Gruppen einfinden möchten, Gruppen, die sich nicht abgrenzen oder mit anderen vernetzen, Stellvertretungen, die ihre Rolle missverstehen und eigene Pläne verfolgen usw. Trotz all dieser denkbaren Szenarien stößt man im Zuge der Bildung von Organisation aber auf Themen und Problemstellungen mit nahezu idealtypischem Charakter. Die jeweilige Erscheinungsform mag unterschiedlich sein, die Kernthemen sind es jedoch nicht. Sie haben mit den Grundwidersprüchen zwischen Individuum, Gruppe und Organisation zu tun.
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Das Aushandeln dieser Grundwidersprüche beschreibt Claessens (1977) mit dem Weg von der Vergemeinschaftung zur Vergesellschaftung. Möchten sich größere Verbände von Personen organisieren, so müssen sie die Beschränkung und damit die Abgabe individueller Macht akzeptieren lernen und gleichzeitig formale Strukturen organisierter Macht (und damit Hierarchie) entwickeln. Einen solchen Prozess der Vergesellschaftung größerer sozialer Verbände durchläuft man auch im OLab. Fokussiert werden dabei Intergruppenprozesse, Dynamiken zwischen sich formierenden Gruppen in Richtung Organisation, es geht um Probleme partizipativer Entwicklung und um den Versuch kollektiver Willensbildung. Da Menschen dabei auf vielfältigste Weise ihre Verhältnisse ordnen müssen, ist Macht eine ständige Begleiterin dieser Bemühungen (Sofsky & Paris, 1991). Sich darüber reflexiv verständigen zu können, ist eine besondere Chance dieses Lernformats: „Inhaltlicher wie prozessualer Gegenstand des OLabs sind der Umgang mit Hierarchie bzw. notwendiger Hierarchisierung, den Bedürfnissen danach geführt zu werden (und deren Frustration) auf der einen Seite, mit den Wünschen nach Einbindung, Mitgestaltung und Mitbestimmung (und deren Frustration) auf der anderen, die sich daraus ergebenden Auseinandersetzungen um die Machtfrage im Allgemeinen und Möglichkeiten der konkreten Einflussnahme auf Entscheidungen in der sich bildenden Organisation im OLab im Besonderen“ (Krainz, 2006, S. 28). Diese Überlegungen bekommen gerade im Kontext aktueller Diskurse neue Relevanz. Denn viele gegenwärtigen Managementmoden und Trends (Agilität, New Work, Purpose und Co.) zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie eine „naive Enthierarchisierung als Heilslehre“ (Krainz & Krainz, 2019, S. 248) propagieren, stattdessen eine „Demokratisierung“ von Organisation betonen, die den „ganzen Menschen“ in den Fokus der Unternehmensentwicklung stellt und so individuelle Selbstverwirklichung und -entfaltung ermöglicht (dazu kritisch Csar, 2020; Krainz, 2020). Das sind zweifellos hehre Ziele. Die Grundwidersprüche zwischen Individuum, Gruppe und Organisation lassen sich aber nicht einfach mit modern anmutenden Sprachspielen oder methodischen Tricks umgehen bzw. überspringen. Wo dies versuchsweise praktiziert wird, bleiben auch die Machtverhältnisse oft unterbelichtet. „Kommt Macht nicht im offiziellen Gewand der Hierarchie einher“, so Busch und Link in einer aktuellen Agilitätskritik, „so tritt sie durch die Hintertür im Gewand der Informalität ein“ (2021, S. 15). Ähnliches gilt auch für die Diskussion zum Thema Führung und der vermeintlichen Erneuerung des Bilds und der Haltung einer Führungskraft. In den einschlägigen Diskursen sind z. B. immer wieder Slogans wie „Führung auf Augenhöhe“ usw. zu vernehmen. Solche Formulierungen mögen vielleicht dem aktuellen Zeitgeist entsprechen. Sie laufen aber auch Gefahr, einer naiven Auslegung der Funktion von Führung sowie einem unrealistischen Verständnis von Organisation Vorschub zu leisten. Die strukturelle Asymmetrie zwischen Führung und Geführten lässt sich nicht einfach weg- und schönreden. Vielmehr braucht es einen bewussten Umgang mit Hierarchie und den damit verbundenen Machtmitteln, die der Führung zur Verfügung stehen. Führung tut gut daran, ihre Vormachtstellung genau zu kennen und keinen Hehl daraus zu machen, dass zum Teil
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auch unbeliebte Entscheidungen über Organisationsabläufe und -mitglieder getroffen werden müssen. Wenn das mit dem Gefühl von „Augenhöhe“ verbunden ist, schön. Für das Funktionieren von Organisation ist dies aber nicht entscheidend. Das hier vorgestellte Organisationstraining der Klagenfurter Schule ermöglicht einen bewussten Umgang mit dem Thema Macht und ihren vielfältigen Erscheinungsformen und Konsequenzen im Zuge der Organisationsbildung. Das OLab bietet keine kochbuchhafte Anleitung für Organisation, auch keine To-do-Liste für das richtige Organisieren, sondern fördert eine Schärfung des Bewusstseins für organisationsbezogene Prozesse, die Grundparameter des Funktionierens von größeren sozialen Gebilden sowie die Möglichkeiten und Grenzen des eigenen Handelns. Organisieren bedeutet immer eine Balanceleistung zwischen Partikularinteressen und Gesamtinteresse. Eine solche Balance ist ohne ‚Spannungsbearbeitung“ im System aber nicht zu schaffen. Dabei geht es nicht um Gewinner (Entscheidungen treffen) und Verlierer (Entscheidungen akzeptieren müssen), sondern um die nüchterne Erkenntnis, dass es für Organisation immer notwendig ist, funktionale Machtverteilung zu garantieren. Dies in den unterschiedlichsten Facetten zu erleben und zu erfahren, ermöglicht ein Lernen im Labor.
Literatur Ameln F., & Heintel, P. (2016). Macht in Organisationen. Denkwerkzeuge für Führung, Beratung und Change Management. Schäffer-Pöschel Verlag. Ameln, F. (2022). Macht in Organisationen und ihre Schlüsselrolle für den Wandel. OrganisationsEntwicklung, 2, 11–17. Busch, M., & Link, K. (2021). Was macht Agilität mit Macht? Journal für Psychologie, 29(1), 9–38. Canetti, E. (2006). Masse und Macht. Fischer (Original 1960). Claessens, D. (1977). Gruppen und Gruppenverbände. Systematische Einführung in die Folgen von Vergesellschaftung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Crozier, M, & Friedberg, E. (1979). Macht und Organisation. Die Zwänge kollektiven Handelns. Althenäum. Csar, M. (2020). Agilität als Ziel von Veränderungsprozessen? Über Sinn und Unsinn in der Einführung von Agilität in Organisationen. Gruppe. Interaktion. Organisation. Zeitschrift für Angewandte Organisationspsychologie (GIO), 51(4), 391–401. Duwe, D. H. (2018). Von der Systemabwehr zur Organisationsbewusstheit: Prozessanalyse und Wirkungsforschung zum Erfahrungslernen im Organisationstraining. Springer. Duwe, D. H. (2022). Organisation lernen als Gegenstand betrieblicher Weiterbildung. Gruppe. Interaktion. Organisation. Zeitschrift für Angewandte Organisationspsychologie (GIO), 53(4), 523– 533. Freud, S. (1974). Massenpsychologie und Ich-Analyse. In Sigmund Freud Studienausgabe Band IX (S. 61–134). Fischer (Original 1921). Gray, J. A. (1987). The psychology of fear and stress. 2 Aufl. Cambridge University Press. Heintel, P. (2002). Reflexionen zum Thema Massen und faschistoide Phänomene und zur Organisation von Großgruppen. In R Königswieser & M. Keil (Hrsg.), Das Feuer großer Gruppen. Konzepte, Designs, Praxisbeispiele für Großveranstaltungen (S. 45–61). Klett-Cotta.
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Matthias Csar, MA Studium der Soziologie an der Universität Wien, Senior Lecturer an der FH Salzburg, selbstständiger Trainer und Berater mit Schwerpunkt Führung, Gruppen- & Organisationsdynamik, Mitglied der ÖGGO (Österreichische Gesellschaft für Gruppendynamik und Organisationsberatung). www.matthiascsar.com Ulrich Krainz, Mag. Dr. Studium der Psychologie und Bildungswissenschaft an der Universität Wien und der Macquarie University in Sydney, Australien. Hochschulprofessor für Bildungsmanagement mit Schwerpunkt Schule und Schulberatung an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich in Linz; Mitglied der ÖGGO (Österreichische Gesellschaft für Gruppendynamik und Organisationsberatung). www.ulrichkrainz.at
Macht in Unternehmerfamilien
15
Die Governance von Familienorganisationen Heiko Kleve
Zusammenfassung
Familien und Organisationen sind gemeinhin klar voneinander unterschieden. Im Falle von Unternehmerfamilien ist das anders; diesbezüglich können wir beobachten, wie eine ungewöhnliche Verbindung entsteht: eine Familienorganisation mit formalen Strukturen der Governance, wie Regeln und Prozesse der Kommunikation und Entscheidung sowie ihrer Durchsetzung und Implementierung. Diese Strukturen können als Versuche interpretiert werden, Probleme der Macht zu lösen, die aus den hier eng verkoppelten Kontexten von Familie, Eigentum und Unternehmen entstehen. In diesem Beitrag liegt der Fokus auf der (auch beispielhaften) Beschreibung von Machtdynamiken in Unternehmerfamilien und den Formen ihrer Bearbeitung. In diesem Zusammenhang werden zwölf Fragekomplexe bzw. Schritte der Strategieentwicklung für und in Unternehmerfamilien skizziert, mit denen Machtfragen adressiert und in einer für diese Familienorganisationen angemessenen Form bearbeitet werden.
15.1
Ausgangspunkte
Unternehmerfamilien sind ungewöhnliche Familiensysteme. Und damit sind sie ein besonders spannendes Thema für die Soziologie, sowohl für die Gesellschaftstheorie als auch für die soziologische Befassung mit Familien und Organisationen. Denn sie verbinden etwas, was in der modernen Gesellschaft gemeinhin auseinandergezogen ist, an
H. Kleve (B) Universität Witten/Herdecke, Witten, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 O. Geramanis et al. (Hrsg.), Organisationale Machtbeziehungen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42092-5_15
233
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H. Kleve
unterschiedlichen Orten realisiert wird, nämlich das Familienleben und die Organisation der wirtschaftlichen Arbeit sowie die darauf bezogenen machtvollen Führungs- und Kontrollentscheidungen (vgl. umfangreich und zum Überblick dazu Kleve & Köllner, 2019). Indem in Unternehmerfamilien das familiäre Leben sowie die Eigentums- und möglicherweise auch operative Verantwortung für ein Unternehmen verkoppelt sind, wird das Prinzip, das für Familien bestimmend ist, nämlich Transgenerationalität, auch auf das Unternehmenseigentum bezogen. Während in Familien der modernen Gesellschaft gemeinhin das Leben von einer an die nächste Generation weitergetragen wird, erweitert sich dieses Prinzip in Unternehmerfamilien, indem neben dem Leben auch Gesellschafteranteile an mindestens einem Unternehmen von den Eltern an die Kinder transferiert, etwa vererbt, verschenkt oder auch veräußert werden. Zumeist wird diese Thematik in der Wissenschaft, der Beratung, dem Recht oder der Politik unter dem Label „Familienunternehmen“ verhandelt (vgl. zur Einführung beispielsweise Simon, 2012). Dabei wird der Fokus auf die wirtschaftliche Einheit bzw. auf die Organisation, also auf das (Familien-) Unternehmen gerichtet. In diesem Beitrag wollen wir jedoch explizit auf die Familie hinter dem Unternehmen blicken und Machtkonstellationen betrachten, die sich hier zeigen, und fragen, wie diese bewältigt werden. Dabei geht es nicht nur um die gewachsenen Ordnungen, die sich in allen Familien herausbilden, um Entscheidungen durchzusetzen, etwa der Eltern gegenüber den Kindern oder zwischen den Partnern auf der Paarebene. Solche Machtdynamiken offenbaren sich in Unternehmerfamilien freilich auch; sie sind aber zusätzlich tangiert von der besonderen Verantwortung dieser Familien mindestens einem Unternehmen gegenüber und damit den dort arbeitenden Menschen, den Kunden, Geschäftspartnern oder auch der Region, in der Unternehmen und Familie ansässig sind. Daher ist es Unternehmerfamilien verwehrt, familiäre Macht schulterzuckend einfach hinzunehmen. Insbesondere wenn Machtbeziehungen in den Familien destruktiv werden, wenn sie Leid, Konflikte oder Probleme in der Familie und dem Unternehmen zeitigen, werden Unternehmerfamilien in der Regel aktiv – zumindest dann, wenn sie verhindern wollen, dass sich diese Schwierigkeiten negativ auf das Unternehmen auswirken. Entsprechend äußert sich ein Familienunternehmer von Miele & Cie. KG, Peter Zinkann, wenn er schreibt, dass „Familienunternehmen … einen ganz großen Vorteil und einen ganz großen Nachteil [haben], und beides ist die Familie. Eine Familie in Frieden ist das Beste, eine Familie in Unfrieden ist das Schlimmste“ (zit. n. Wimmer, 2007, S. 30). Ein Anlass für „Unfrieden“ sind Machtkonflikte. Wenn also das, was von Einzelnen in der Familie durchgesetzt werden soll, von anderen ignoriert, infrage gestellt oder gar negiert bzw. bekämpft wird, dann kann es sehr ungemütlich werden. Häufig sind mit solchen Konflikten starke Emotionen verbunden, die dazu führen können, dass der eigentliche Konfliktanlass aus dem Blick gerät und die Konfliktaustragung die zunächst begrenzten sachlichen und sozialen Grenzen der Beteiligten sprengt (siehe mit zahlreichen
15 Macht in Unternehmerfamilien
235
Beispielen dazu etwa v. Schlippe, 2014). Die Beteiligten suchen dann möglicherweise Verbündete, beziehen andere Kontexte ein – in der Hoffnung, ihre eigene Position zu stärken und diejenige des „Gegners“ zu schwächen. Gerade in Unternehmerfamilien können familiäre Kontexte schnell überschritten werden, können die Konflikte in den Eigentümerkreis oder in das Unternehmen hineinschwappen und dort unternehmens- sowie eigentumsgefährdende Prozesse auslösen. Um das zu verhindern, ist beobachtbar und wird empfohlen (siehe beispielhaft v. Schlippe, 2017; Rüsen et al., 2021), dass sich Unternehmerfamilien professionalisieren, dass sie sich mit ihren Herausforderungen systematisch, häufig extern moderiert und mit klaren Zielperspektiven ausgestattet, befassen. Am Ende einer solchen Befassung stehen nicht selten schriftlich fixierte, also formalisierte Regelsysteme, die etwa als Familienverfassungen bezeichnet werden und der semantische Ausdruck sind für neu geschaffene Strukturen, die als Governance-Formen, mithin als legitimierte Formen der Machtausübung und -durchsetzung in Familienorganisationen strukturiert sind. Während es in der Regel kaum begründet werden muss, dass Organisationen wie etwa Unternehmen ihre Führung formal organisieren, versteht sich das Herstellen einer solchen Governance in Familien nicht von selbst. Daher sollen mit diesem Beitrag speziell solche Entwicklungen in den Blick gebracht werden, die sich vor allem bei mehrgenerationalen Unternehmerfamilien zeigen, also bei Familien, die bereits über Jahrzehnte, vielleicht gar über Jahrhunderte, also in zahlreichen Generationen, ein Unternehmen besitzen, dieses kontrollieren und führen. Denn die Etablierung von Strukturen der FamilienGovernance kann gedeutet werden als Lösungsversuch von informalen Machtproblemen in Unternehmerfamilien. Bevor dies jedoch näher ausgeführt wird, werden im Folgenden zunächst zwei knappe Begriffsbestimmungen vorgenommen: Zum einen erfolgt eine systemtheoretische Definition von Macht; zum anderen wird die Unternehmerfamilie – u. a. anhand von kurzen Fallvignetten – erläutert, und zwar als ein System, das sich zwischen drei sozialen Ebenen bewegt, auf denen sich Machtkonstellationen in ganz unterschiedlicher Weise, nämlich elementar, informal und formal vollziehen. Besonders die formalen Machstrukturen, die für Familien in der Moderne eigentlich untypisch sind, aber für Unternehmerfamilien besonders wichtig erscheinen, werden sodann dargestellt. Den Abschluss des Beitrags bildet ein Resümee.
15.2
Macht – eine systemtheoretische Bestimmung
Die Fragen danach, was Macht ist, wie sie entsteht und erhalten wird, welche Effekte sie hat, positive wie negative, sind Grundthemen sozialwissenschaftlicher Forschung und Theorie, die wir hier nur streifen können (siehe ausführlicher dazu z. B. Han, 2005). Für den Zweck, Unternehmerfamilien in ihrer Machtdynamik zu verstehen, reicht der Blick auf die Systemtheorie der Macht, wie sie Niklas Luhmann (siehe grundsätzlich dazu 1975
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H. Kleve
sowie 2000) ausgearbeitet hat. Demnach wird Macht als ein Kommunikationsmedium verstanden, das – analog zum Geld, zum Recht oder zur Liebe – die Motivation und Annahme von Kommunikation wahrscheinlicher macht. Was ist damit gemeint? Soziale Situationen sind grundsätzlich von doppelter Kontingenz gekennzeichnet (vgl. Luhmann, 1984), d. h., dass die Beteiligten zwei Unsicherheiten erleben, nämlich erstens bezogen auf ihr Handeln den jeweils anderen Personen gegenüber und zweitens hinsichtlich ihrer Erwartungen bezüglich des Verhaltens dieser Personen ihnen gegenüber. Handlungs- und Erwartungskontingenz bedeutet also, dass alle Personen in sozialen Situationen so, wie sie handeln, agieren können, aber eben auch anders, sodass die diesbezüglichen gegenseitigen Erwartungen enttäuscht oder auch erfüllt werden – wobei die Wahrscheinlichkeit der Enttäuschung größer ist, je kleinteiliger die Handlungserwartungen bezüglich der anderen Personen überlegt werden. Handlungs- und Erwartungsunsicherheit werden zwar über Personenkenntnis, Kontextwissen, Rollen- und Organisationszugehörigkeiten eingeschränkt, aber niemals grundsätzlich aufgehoben. Prinzipiell versuchen wir über Sprache die beschriebene Unsicherheit des Handelns und der Erwartungen in sozialen Situationen zu bewältigen. Allerdings bleibt Sprache vieldeutig und erzeugt jederzeit einen Überschuss an Interpretationsmöglichkeiten, die wiederum kontingent, so oder auch anders gedeutet werden können. Neben der Sprache haben sich in der Gesellschaft weitere Kommunikationsmedien ausdifferenziert, die in der Systemtheorie ausführlich beschrieben und erklärt werden, etwa Geld für alle Transaktionen des Kaufens und Verkaufens, die als wirtschaftlich gelten können (vgl. Luhmann, 1988), Wahrheit für die Akzeptanz wissenschaftlicher Erkenntnisse (vgl. Luhmann, 1990), Recht für die Legitimation und Durchsetzung von juristischen Regeln (vgl. Luhmann, 1993), Liebe für das Verhalten in Intimsystemen (vgl. Luhmann, 1982) und auch Macht als Mittel, um in sozialen Kontexten Entscheidungen durchzusetzen (vgl. Luhmann, 2000). Diese Kommunikationsmedien ermöglichen es, die doppelte Kontingenz in einer Weise zu bearbeiten, dass Erwartungen und Handlungen mit höherer Wahrscheinlichkeit als ohne sie zur Deckung kommen. Damit erleichtern sie die soziale Koordination, schaffen zumindest begrenzte Sicherheiten in ansonsten unsicheren sozialen Situationen. Machtverhältnisse, die sich in der Gesellschaft insbesondere bezüglich des politischen Systems mit seiner Möglichkeit zeigen, Entscheidungen kollektiv verbindlich durchzusetzen (Luhmann, 2000, S. 76), offenbaren sich auch in anderen sozialen Zusammenhängen immer dann, wenn drei Bedingungen erfüllt sind: • Erstens setzen solche Verhältnisse voraus, dass soziale Akteure (Personen, Gruppen, Teams, Abteilungen oder Organisationen) Erwartungen bezüglich des Verhaltens anderer Akteure kommunizieren können und • dass sie zweitens die Möglichkeit haben, das Nichtzeigen des erwarteten Handelns bezüglich der relevanten Akteure zu sanktionieren, sowie
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• drittens, dass die mit den Handlungserwartungen adressierten Akteure die Sanktionen vermeiden wollen. Wir können in nahezu allen sozialen Systemen solche Machtverhältnisse beobachten. Die Funktion der Macht ist es, das Treffen von sozial verbindlichen Entscheidungen nicht nur zu ermöglichen, sondern diese auch durchzusetzen, damit Entwicklungen des Systems möglich werden, die etwa für seinen Bestand und für seine Dynamik erforderlich sind, oder einfach nur, um bestimmte kollektive Aktionen zu realisieren. Ohne Macht würde sich das Sozialsystem möglicherweise in endlosen kommunikativen Prozessen verfangen, sich im Möglichkeitsreichtum verstricken, nicht das erreichen, was Entwicklung voraussetzt, nämlich ent-scheiden: Entscheidungen sind gewissermaßen Einschnitte in den Möglichkeitsreichtum; sie beenden für einen Moment die Komplexität, weil sie im Kontext vieler Optionen eine Wahl realisieren, dass es so, wie entschieden wurde, weitergeht und nicht anders. Die Fragen, die sich hier stellen, sind nun, wer solche Entscheidungen trifft. Gibt es dafür dauerhaft legitimierte Personen? Oder wechseln diese Personen von Kontext zu Kontext? Und wer bestimmt genau das? In Familien stellen sich diese Fragen selten explizit – es sei denn, Konfliktanlässe auf der Paar- und/oder Elternebene, zwischen den Eltern und Kindern oder auch zwischen den Geschwistern bringen sie auf den Tisch. Dann wird zum Beispiel gefragt: Wer darf bestimmen? Wer setzt sich durch? Und wie gerecht ist das? Dies gilt freilich auch für Unternehmerfamilien. Allerdings sind diese Familien mit ihrer transgenerationalen Eigentumsverantwortung für mindestens ein Unternehmen mit besonderen Themen, Strukturen, Prozessen und Dynamiken konfrontiert, die wir uns im Folgenden anhand von drei Ebenen anschauen wollen, die Machtverhältnisse fokussieren, nämlich der elementaren, informalen und formalen Ebene.
15.3
Unternehmerfamilien zwischen elementaren, informalen und formalen Machtdynamiken
Wie bereits ausgeführt sind Unternehmerfamilien Familien, in denen Eigentumsanteile an mindestens einem Unternehmen von Generation zu Generation weitergegeben werden. Entscheidend ist dabei nicht, dass Familienmitglieder auch in die operative Führung eintreten; wichtiger ist, dass sie als EigentümerInnen die unternehmerische Verantwortung tragen und diese an die jeweils nächste Generation fortreichen (wollen). In Unternehmerfamilien sind die Mitglieder neben ihrer verwandtschaftlichen Verbundenheit also eigentumsrechtlich verkoppelt. Dies führt regelmäßig zu unterschiedlichen Konflikten, die als Machtprobleme interpretiert werden können. Denn es geht um die Frage, wie bestimmt und legitimiert wird, wer wann und in welcher Weise Entscheidungen trifft, wie diese durchgesetzt bzw. implementiert werden und wie deren mögliche Nichtbefolgung sanktioniert wird. Hinsichtlich solcher Entscheidungssituationen zeigen sich auf
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H. Kleve
drei Ebenen Machtdynamiken in Unternehmerfamilien, die hier skizziert und anhand von Fallvignetten und beispielhaften Beschreibungen (kursiv gesetzt), die der Beratungspraxis entstammen, veranschaulicht werden.
15.3.1 Elementare Ebene von Macht in Unternehmerfamilien Auf dieser Machtebene offenbaren sich Prozesse, die wir in Anlehnung an Karl-Otto Hondrich (2001, 2006) als elementar bezeichnen könnten, weil sie grundsätzlich alle soziale Beziehungen zwischen Menschen regeln und dort besonders ausgeprägt wirksam sind, wo Menschen (wie in Intimbeziehungen und Familien) existenziell miteinander verbunden sind, mithin sich als soziale Überlebens- und Verantwortungseinheit verstehen (siehe dazu mit Bezug auf Unternehmerfamilien bereits Kleve, 2019, 2020, S. 59 ff.). Solche elementaren Prozesse lassen sich mit fünf sozialen Prinzipien veranschaulichen, die unterschiedlich (etwa auch als systemische Grundannahmen und Metaprinzipien) bezeichnet werden (siehe auch Varga von Kibéd & Sparrer, 2016) und hier mit den Begriffen „Zugehörigkeit“, „Reziprozität“, „Seniorität“, „Zukunftsorientierung“ und „Leistungsvorrang“ pointiert sind: 1. Mit Zugehörigkeit ist die Frage im Blick, wer Mitglied des Systems ist und wer nicht. In Familien ist dies normalerweise schnell geklärt. Denn hier ist die Verwandtschaft entscheidend, die die Familieninklusion bestimmt: Alle, die in die Familie hineingeboren wurden, die dieselbe Herkunft haben, gehören dazu. Zunächst gilt dies in Unternehmerfamilien auch. Allerdings stellen sich gerade in Entscheidungsprozessen bezüglich des Unternehmenseigentums regelmäßig die Fragen, wer in diese Entscheidungsprozesse einzubeziehen ist und wer diesen Einbezug bestimmt sowie durchsetzt. Wie wird also die Macht der Zugehörigkeitsbestimmung ausgeübt? In einer Unternehmerfamilie entzündete sich hieran ein Machtkonflikt, weil die sieben GesellschafterInnen diese Zugehörigkeitsfrage unterschiedlich beantworteten. Sechs von ihnen gingen davon aus, dass nur sie als GesellschafterInnen auf den Vorbesprechungen zu den Gesellschaftsversammlungen, die regelmäßig im Rahmen von Treffen der Unternehmerfamilie durchgeführt wurden, anwesend sein sollten, um Entscheidungen vorzubereiten. Ein Gesellschafter brachte jedoch mehrfach seine Ehepartnerin und seinen ältesten, inzwischen 21 Jahre alten Sohn mit; diese beiden besprachen mit ihm, welche Positionen er zu Entscheidungen einnehmen und wie er abstimmen könnte. Daraus entstand ein mehrere Monate dauernder Konflikt, der zunächst nur untergründig spürbar war, dann aber offen ausgetragen wurde. Die zentrale Frage war, wer denn nun eigentlich zum relevanten „Entscheidungskreis“ der Unternehmerfamilie gehört: nur die GesellschafterInnen oder auch PartnerInnen und erwachsene Kinder, die ebenfalls in absehbarer Zeit in die Gesellschafterrolle eintreten werden? Diese elementare
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Entscheidung wurde letztlich im Rahmen eines formalen Prozesses, einer Familienstrategieentwicklung (siehe eingehender dazu unten), so getroffen, wie es dieser Gesellschafter bereits praktizierte: Es wurde zwischen den sozialen Systemen Familie und Unternehmerfamilie unterschieden. Zur Familie wurden alle dazugezählt, die in diese hineingeboren wurden; als Mitglieder der Unternehmerfamilie, so wurde entschieden, gelten die GesellschafterInnen sowie ihre (rechtlich legitimierten) Lebenspartner und Kinder ab einem Alter von 18 Jahren. 2. Im Sinne der Reziprozität von Geben und Nehmen geht es darum, dass Menschen, die etwas geben bzw. etwas bekommen (z. B. Eigentumsanteile an einem Familienunternehmen), damit in eine Verpflichtungsbeziehung eintreten: Diejenigen, die etwas nehmen, erleben die Selbst- und die soziale Erwartung, dass sie denen etwas zurückzugeben haben, von denen sie das Erhaltene bekommen haben. Das jedoch, was sie für das Bekommene zurückgeben bzw. was diesbezüglich erwartet wird, kann ganz unterschiedlich sein, etwa Leistungsbereitschaft, Loyalität oder auch materieller Ausgleich. Gerade in den Prozessen der transgenerationalen Weitergabe des Unternehmenseigentums ist dieses Prinzip ein relevanter Faktor, der auf die Beziehungen von Übergebenden und Übernehmenden einwirkt – häufig sehr machtvoll, und zwar in der Weise, dass die Gebenden die Nehmenden hinsichtlich ihres Handelns verpflichten und bei Nichterfüllung der entsprechenden Erwartungen gewollt oder ungewollt sanktionieren (etwa durch bestimmtes kommunikatives Verhalten, von Verärgerung bis zu „Liebesentzug“ als Elternteil einem Kind gegenüber). In einer Unternehmerfamilie erwartete der Senior, der dem Junior das Unternehmen inzwischen übergeben hatte, nicht nur Dankbarkeit, sondern auch regelmäßige Konsultationen. Diese Erwartung wollte und konnte der Junior nicht erfüllen. Und so kam es immer wieder zu Enttäuschungen auf der Seite des Seniors. In einer anderen Unternehmerfamilie zeigte sich die Übergabe des Unternehmens als langwieriger Prozess, weil der Senior nicht loslassen konnte oder wollte. Die Tochter, die das Unternehmen übernommen hatte, kam nicht wirklich in ihre eigene kraftvolle Position. Während eines moderierten Gesprächs zwischen beiden kam heraus, dass sich der Vater Sorgen um seine Altersvorsorge machte, sich aber nicht traute, eine entsprechende Erwartung an die Tochter zu adressieren, sodass dieser Punkt noch geklärt werden musste. In einer weiteren Familie gab es die unterschwellige Erwartung, dass die geerbten Eigentumsanteile in besonderer Weise für die Weitergabe an die nächsten Generationen zu behüten und zu pflegen seien, was als „Treuhändermentalität“ bezeichnet wurde. Einige GesellschafterInnen sahen ihre Gesellschafteranteile jedoch eher als Investments und bestanden auf höhere Dividenden. Hieraus entstand ein Konflikt in der gesamten Familie, in dem die Legitimität der Entscheidungen über die Dividendenhöhen grundsätzlich angezweifelt wurde. 3. Mit Seniorität ist gemeint, dass diejenigen, die das System bisher geprägt haben (im Folgenden „die Alten“ genannt, also etwa die Eltern), von denen, die als Neue bzw. Junge (etwa als Kinder) dazukommen, zunächst Anpassungsbereitschaft erwarten.
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H. Kleve
Damit haben freilich die Alten eine machtvollere Position als die Jungen, erwarten bestimmtes Verhalten von diesen und könnten bei Enttäuschung in einer Weise reagieren, die von den Jungen als Sanktion erlebt wird. In einer Unternehmerfamilie zeigte sich das Problem des Loslassens des Unternehmers, der über drei Jahrzehnte die Geschäfte sehr erfolgreich geführt hatte. Seine Kinder und die Kinder seiner Geschwister, die alle GesellschafterInnen geworden waren, aber nicht selbst im Unternehmen tätig geworden sind, agierten als aktive Eigentümer und hatten mit der neuen familienexternen Geschäftsführung eine gute Beziehung aufgebaut, die aber durch die permanenten „Einmischungen“ des Seniors massiv gestört wurde. In einem gemeinsamen Beratungsgespräch zeigte sich, dass sich der Senior in seiner Lebensleistung nicht gesehen sah. Sein Bestreben, weiterhin Macht und Einfluss auf das Unternehmen ausüben zu wollen, konnte er erst verabschieden, als eine umfangreiche Würdigung seiner Lebensleistung durch die Nachfolgegeneration sowie durch die neue Geschäftsführung erfolgte, was ihm sein Loslassen merklich erleichterte und den weiteren Nachfolgeprozess entspannte. 4. Zukunftsorientierung bedeutet, dass sich ein soziales System dann erhalten und weiterentwickeln kann, wenn die Jungen – oft erst nach der gerade beschriebenen senioritätsgemäßen Anerkennung der Alten – ihren eigenen Weg in die Zukunft gehen können. Solange ein System einseitig traditionsorientiert bleibt, lediglich die bestehenden Strukturen fortschreibt, fehlen ihm innovative Kräfte, die es benötigt, um auf sich verändernde externe wie interne Bedingungen passend zu reagieren. Dafür müssen jedoch die Alten einen Schritt zurück und die Jungen mindestens einen Schritt nach vorne treten. Für alle Unternehmerfamilien, die gut in die nachfolgende Generation kommen wollen, gilt, dass die Alten loszulassen haben, damit die Jungen die Zügel in die Hand nehmen können, um mit passenden Entscheidungen und Strategien in die Zukunft schreiten zu können. Immer wieder zeigt sich diesbezüglich in Unternehmerfamilien zweierlei, und zwar zum einen, dass dafür zunächst relevante Fragen zu klären sind, deren Antworten es den Alten erlauben, tatsächlich loszulassen (z. B. die Altersversorgung oder das Finden eines neuen Lebenssinns für das Alter), und zum anderen, dass die Nachfolgegeneration die abgebende Generation hinsichtlich der gezeigten Lebensleistung glaubhaft und umfangreich würdigt. Beide Prozesse, das Bearbeiten und Beantworten noch offener Fragen und die Würdigung der abgebenden Generation, erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass die Nachfolge gelingt und damit, dass die Entscheidungsmacht auch auf jene überwechselt, die nun am Steuer stehen. 5. Schließlich meint Leistungsvorrang, dass denjenigen, die sich für das System einbringen und engagieren, die etwas für seinen Erhalt und seine Entwicklung leisten, hinsichtlich von Entscheidungen ein besonderes Gehör geschenkt wird, dass sie diesbezüglich Vorrang haben vor denen, die sich nicht in dieser Weise engagieren. Mit anderen Worten, Macht und Einfluss begehren diejenigen, die ihre Zeit, Energie und Arbeitskraft dem System zur Verfügung stellen. Wer sich in der Unternehmerfamilie
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für die Familie einsetzt, seine Potenziale und Kräfte dafür zur Verfügung stellt und nutzt, verliert sein Interesse, sich weiterhin in dieser Form einzubringen, wenn dies nicht gesehen und gewürdigt wird. In einer Unternehmerfamilie mit einer starken, auf nur eine einzige Person orientierten Machtstruktur versuchten sich mehrere GesellschafterInnen in unterschiedlichen Projekten für Unternehmen und Familie einzubringen. Kaum hatten sie ein entsprechendes Engagement gezeigt, übernahm die erwähnte dominante Person, die als Patriarch galt, die Initiative. Und da es in der Familie kein Interesse gab, sich mit diesem Protagonisten auseinanderzusetzen, verebbte das Engagement anderer Familienmitglieder immer mehr. In der Familie wurde zunehmend die Angst geäußert, dass es problematische Entwicklungen geben werde, wenn der Patriarch irgendwann alters- oder krankheitsbedingt ausfällt. Und so begann eine intensive, noch anhaltende Beschäftigung mit der Machtfrage und deren Koppelung an diese eine Person, deren Engagement zudem dazu führte, dass sich alle anderen eher zurückhielten und passiv wurden. Die Frage war: Wie kann Leistung von weiteren Mitgliedern der Unternehmerfamilie möglich werden, und wie schafft es die Familie und vor allem der derzeitige Familienprotagonist, diese zuzulassen, gar zu würdigen und zu unterstützen? Angesichts der knapp skizzierten fünf elementaren Prinzipien kann sichtbar werden, welchen Einfluss diese auf die Macht und deren Balancen in Unternehmerfamilien besitzen. Diesen Prinzipien lässt sich nicht ausweichen; die mit ihnen einhergehenden Fragen stellen sich in allen sozialen Systemen, sie sind wesentlich mit Macht- und Einflussthemen verbunden. Aufbauend auf diesen Prinzipien formen sich informale Prozesse, die die Machtbalancen in anderer Weise prägen.
15.3.2 Informale Ebene von Macht in Unternehmerfamilien Soziale Systeme strukturieren sich auf der Basis spontaner Ordnungsbildung (vgl. grundsätzlich dazu etwa Hayek 1963 oder Luhmann, 1965). In welcher Weise die oben erläuterte doppelte Kontingenz, die in allen sozialen Situationen immer wieder generiert wird, in Strukturen umschlägt, zeigt sich in der Regel durch ungeplante Handlungen zwischen Menschen, also durch Kommunikationen, die sich zu Mustern, redundanten Verhaltens- und Handlungsweisen formieren können, wenn bestimmtes Verhalten bzw. Handeln nicht nur einmalig, sondern wiederholt geschieht. Diese Wiederholung führt zur Erwartungsbildung bzw. Etablierung von Erwartungserwartungen: Alle erwarten, dass bestimmtes Handeln von den jeweils anderen erwartet wird. Und so entsteht beispielsweise eine bestimmte Sitzordnung am Tisch, ohne dass es dafür einen Plan gebraucht hätte. Diese Ordnung wird bei jedem Zusammentreffen der jeweiligen Personen, etwa im Kreis der Unternehmerfamilie, immer wieder re-aktualisiert, ohne dass dies in irgendeiner Weise expliziert wird. Es geschieht gewissermaßen in
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H. Kleve
sozialer Selbstorganisation, weil sich alle Beteiligten entsprechend verhalten und dieses Verhalten von den anderen ebenfalls erwarten, ohne dies ausdrücklich mitteilen zu müssen. In sehr alten mehrgenerationalen Unternehmerfamilien können sich solche informalen Muster äußerst stark ausprägen, weil sie über Generationen fortgeführt werden. Klassische Beispiele dafür sind etwa, dass die ältesten Söhne das Unternehmen weiterführen sollen oder dass die Frauen an der Seite ihrer Männer stehen, während diese das Unternehmen führen und jene die Familie zusammenzuhalten haben. Wenn diese informalen Regeln das Weiterexistieren von Familie und Unternehmen nicht stören, dann werden sie fortgeführt. Denn sie stabilisieren die ohnehin komplexen sozialen Situationen, geben Sicherheit und strukturieren das Verhalten aller Beteiligten. Damit zeigen sich latente, also untergründig wirkende Machtstrukturen, die Entscheidungen in bestimmter Weise prägen. Es wird in spezifischer Form gehandelt, weil „immer“ schon so gehandelt wurde. Dies könnte das Narrativ für informal sich etablierende Ordnungen sein (vgl. dazu etwa Kleve et al., 2022, 2023), die jedoch im Zuge gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse wie Pluralisierung, Individualisierung oder Gendersensibilität, die freilich ebenfalls in Unternehmerfamilien hineinwirken, nicht mehr ungefragt akzeptiert, sondern mehr und mehr infrage gestellt werden (vgl. dazu beispielsweise Leiß, 2019 oder Jäkel-Wurzer, 2019). Wenn Unternehmerfamilien anfangen, die sich in ihrem historischen Selbstlauf etablierten Ordnungen infrage zu stellen, können formale Prozesse der Neustrukturierung beginnen.
15.3.3 Formale Ebene von Macht in Unternehmerfamilien Mit der formalen Ebene sind Machtstrukturen gemeint, die Unternehmerfamilien explizit schaffen, um ihre Entscheidungsprozesse professionell und sozial legitimiert zu gestalten. Während in Familien gemeinhin elementare und informale Prozesse wirksam sind und das Leben prägen, bilden sich in diesen äußerst selten formale Strukturen aus, die zudem noch verschriftlicht werden und zur Bildung von familieninternen Institutionen führen können. Dies ist jedoch etwas Typisches für Unternehmerfamilien (vgl. anhand konkreter Beispiele der Unternehmerfamilien von Oetker, Merck oder Haniel: Simon et al., 2005). Damit werden die elementaren und informalen Prozesse nicht grundsätzlich ausgehebelt, jedoch können sie so expliziert und besprochen werden. Spätestens wenn Unternehmerfamilien merken, dass ihre bisherigen Prozesse des Entscheidens nicht zum Ziel führen, sondern Probleme herausfordern, etwa zwischen den Generationen während der Nachfolge oder zwischen den Gesellschaftern (z. B. hinsichtlich von Ausschüttungen), treffen sie nicht selten die Entscheidung, einen formalen Prozess, etwa eine Familienstrategieentwicklung, zu beginnen. In einer Unternehmerfamilie traf das Unternehmerehepaar, das sich gemeinsam die Führung der Geschäfte eines ca. 70 Jahre alten Familienunternehmens in dritter Generation
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teilte, den Entschluss, eine Familienverfassung zu erarbeiten. Mit dem beauftragten Berater wurde zunächst die Motivation für diese Entscheidung besprochen. Das Unternehmerpaar habe erlebt, wie die erwachsenen Kinder, an welche die Anteile gleichmäßig übertragen werden sollen, uneinig sind über die weitere Beziehung zum Unternehmen. Während ein Sohn bereits im Unternehmen tätig ist, sich auch vorstellen kann, die Geschäfte vom Vater in absehbarer Zeit zu übernehmen, sind die anderen drei Geschwister diesbezüglich noch unsicher. Eine Tochter jedoch äußerte bereits mehrfach den Wunsch, ebenfalls in das Unternehmen einzusteigen. Dies wiederum verunsicherte den Bruder, der signalisierte, dass er sich das nicht vorstellen könne und es eher nicht möchte. Die Eltern, denen der Friede in der Familie, die Einigkeit ihrer Kinder und das Überleben des Unternehmens wichtig sind, entschlossen sich daraufhin, den Klärungsprozess zwischen den Geschwistern nicht dem Selbstlauf zu überlassen. So begannen sie einen formalen Prozess der Beratung zu diesen und damit verbundenen Fragen der Organisation und Entwicklung sowie der Machtausübung inklusive Entscheidungsfindung und -durchsetzung in ihrer Unternehmerfamilie.
15.4
Macht und ihre Formalisierung durch Organisation der Unternehmerfamilie
Das Besondere an langlebigen mehrgenerationalen Unternehmerfamilien ist, dass sie sich formal organisieren, dass sie damit vor allem Entscheidungsprozesse, die sich auf ihr Unternehmen und die entsprechende Eigentümerschaft beziehen, professionalisieren (vgl. ausführlich dazu Simon et al., 2005 oder aktueller v. Schlippe et al., 2017). Damit wird Macht, insbesondere deren personelle Ausübung und Durchsetzung sowie die Sanktionierung von Handlungen, die den familiär abgestimmten Regeln und Erwartungen widersprechen, in formale Strukturen und Verfahren geführt. Was für Organisationen üblich ist, dass Entscheidungsprozesse durch Verfahren legitimiert werden (vgl. Luhmann, 1969, 2006), wird in Unternehmerfamilien, die sich in dieser Weise professionalisieren, damit ebenfalls implementiert. Es scheint ein wichtiges Resilienzkriterium für die Langlebigkeit dieser Familien zu sein, sich so zu gestalten. Oder anders, Langlebigkeit von Unternehmerfamilien sehr alter und damit erfolgreicher Familienunternehmen korreliert sehr häufig mit Prinzipien der formalen Organisation und Entwicklung von entsprechenden Strukturen (vgl. Rüsen et al., 2021). Die durch die Forschung herausgestellte reziproke Anpassung der Familienunternehmen an die Eigentümerfamilien und dieser Familien an die Unternehmen (vgl. Wimmer et al., 2018; Frank et al., 2010, 2019) wird hiermit sehr deutlich. Demnach sind Familienunternehmen von einer Art Familiarität (Familyness) gekennzeichnet, die sich vor allem durch eine stärkere Personenorientierung in der Organisation als in NichtFamilienunternehmen zeigt. Analog dazu sind Unternehmerfamilien durch eine formale bzw. Sachorientierung (Enterpriseness) strukturiert, die in modernen Familien gemeinhin
244
H. Kleve
nicht üblich ist. Normalerweise sind Familien extrem an Personen ausgerichtet, die Unersetzbarkeit dieser und die emotionalen Verbindungen zwischen diesen sind typisch für Familien. Das gilt selbstverständlich auch für Unternehmerfamilien. Allerdings ergänzen diese Familien ihre Kommunikationsformen und -strukturen in eigentums- und unternehmensbezogenen Kontexten, also wenn es etwa um Entscheidungen um die Nachfolge, die Ausschüttungen oder Funktionen und Rollen der Familienmitglieder bezüglich des Unternehmenseigentums geht, um sachbezogene und personenunabhängige Institutionen. So geht es beispielsweise darum, Regeln in der Unternehmerfamilie zu schaffen, die unabhängig von konkreten Personen und deren Anliegen, also prinzipiell gelten und zur Anwendung gebracht werden. Diese Regeln werden zudem schriftlich ausformuliert und mit formalen Ritualen der Unterzeichnung durch die Mitglieder der Unternehmerfamilien als verbindlich anerkannt, nachdem sie in sogenannten Prozessen der Familienstrategieentwicklung über einen längeren Zeitraum gemeinsam ausgearbeitet wurden (vgl. dazu etwa Rüsen & Löhde, 2019 und Rüsen et al., 2019). Wie sich bei der Erforschung von solchen Prozessen der Anwendung und Genese derartiger Governance-Prinzipien in organisierten Unternehmerfamilien gezeigt hat, adressieren diese insbesondere zwölf Fragekomplexe, die inzwischen als die 12 WIFU-Schritte der Familienstrategieentwicklung bekannt geworden sind und in einer mehrjährigen Studie mit Unternehmerfamilien zur „Familienstrategie über Generationen“ dezidiert herausgearbeitet wurden (vgl. v. Schlippe et al., 2017). Die zwölf Fragekomplexe (siehe Tab. 15.1) beziehen sich bei genauerem Hinsehen auf die skizzierten elementaren und informalen Machtebenen. Sie sind kompatibel mit elementaren Fragen, interpretieren diese in einer für die jeweilige Familie angemessenen Weise und erlauben es dabei, informale Prozesse, die sich bewährt haben, zu würdigen und weiterzuführen sowie Informales, das sich als störend, vielleicht gar konfliktinduzierend gezeigt hat, zugunsten anderer Regeln abzulegen. Alle zwölf in der Tabelle zusammengestellten Themenstellungen und Fragen sind wichtig, um die Governance der Unternehmerfamilie und damit Verfahren der Machtausübung zu besprechen und formal festzulegen. Denn hier geht es um die Entwicklung von Verfahren, Gremien, Rollen und Funktionen der Familienmitglieder bezüglich von Entscheidungen, die das Unternehmenseigentum und möglicherweise auch die Unternehmensführung betreffen, was wir bereits sehen, wenn wir die aufgeführten 12 Themenstellungen lediglich ausschnittweise betrachten. Ausschlaggebend für die Transgenerationalität des Familienunternehmens, also für die Weitergabe des familiären Unternehmenseigentums von Generation zu Generation, ist zuallererst die jeweils individuelle Loyalität der Familienmitglieder zum Unternehmen, dass sie ihre persönlichen Belange sozusagen der Macht des Unternehmens unterordnen. Dies wird mit dem Schritt 1 thematisiert: Sind die Familienmitglieder bereit, ihre persönlichen Interessen (etwa in Krisenzeiten) den Anforderungen unterzuordnen, die notwendig sind, um das Unternehmen zu erhalten? Sehr alte Familienunternehmen profitieren in der
15 Macht in Unternehmerfamilien
245
Tab. 15.1 Familienstrategieentwicklung nach den 12 WIFU-Schritten. (Vgl. v. Schlippe et al., 2017; Rüsen & Löhde, 2019; Rüsen et al., 2019) Schritt
Fokus
Fragestellungen
1
Bekenntnis zum Familienunternehmen
Klärung der persönlichen und familiären Loyalität zum Unternehmen
2
Definition von Familie/ Unternehmerfamilie
Differenzierung der Zugehörigkeiten zu Familie und Unternehmerfamilie
3
Werte und Ziele für Unternehmen und Familie
Bestimmung tradierter und aktueller Werte
4
Rolle und Funktion von Familienmitgliedern für das Unternehmen
Klärung der operativen Unternehmensmitarbeit von Familienmitgliedern
5
Rolle und Funktion von Familienmitgliedern als Gesellschafter
Klärung der Eigentümerrolle von Familienmitgliedern
6
Installation von Gremien
Bestimmung und Einführung von formalen Strukturen zur Vertretung familiärer Interessen im Unternehmen und in der Eigentümergesellschaft
7
Information, Kommunikation, Bestimmung des notwendigen Informationsflusses und Verhaltenserwartungen der Regeln für Kommunikation und Verhalten
8
Konfliktbewältigung und Krisenprävention
Einführung von Formen der Streitprävention und -klärung sowie der sozialen Unterstützung
9
Ausschüttungspolitik und Vermögensmanagement
Klärung aller Fragen, die mit finanziellen Ansprüchen der GesellschafterInnen einhergehen
10
Familienmanagementsystem
Reflexion der bisherigen Formen der Gestaltung des Familienzusammenhalts und ggf. formale Erweiterung dieser
11
Aufbau von Gesellschafterkompetenz
Fort- und Weiterbildung für Familienmitglieder zur verantwortlichen Übernahme der Gesellschafterrolle
12
Regeln zur Einhaltung und Veränderung der Regeln
Klärung der Regeltreue und der Frage, wie die Regeln verändert bzw. aktualisiert werden sollen
Regel davon, dass die Familie in der Lage ist, die Bedürfnisse ihrer Mitglieder – zumindest temporär – den Notwendigkeiten des Unternehmens anzupassen. Diese sogenannte Business-First-Strategie kann dann beispielsweise dazu führen, dass in Krisenzeiten auf Ausschüttungen an die familiären GesellschafterInnen verzichtet wird, um die Liquidität des Unternehmens zu sichern. Mit dem Schritt 2 wird eine Differenzierung zwischen Familie und Unternehmerfamilie eingeführt, womit die Zugehörigkeitsfrage zu beantworten ist. Diesbezüglich wird in der Regel die Zugehörigkeit zur Familie hinsichtlich der biologischen Verwandtschaft anerkannt und nochmals explizit benannt, zunehmend auch hinsichtlich von Fragen der
246
H. Kleve
Adoption ausdrücklich geregelt, während die Unternehmerfamilie als Sozialsystem der Entscheidungsfindung bezüglich des Unternehmenseigentums gilt, dessen Mitglieder mindestens die GesellschafterInnen sowie möglicherweise deren PartnerInnen und Kinder ab einem gewissen Alter (z. B. ab Volljährigkeit) sind. Während sich also die Zugehörigkeit zur Familie in der Regel von selbst versteht, muss sie hinsichtlich der Unternehmerfamilie formal entschieden und entsprechend geregelt werden. Hinsichtlich der Reziprozität von Geben und Nehmen wird mit der Klärung der Rollen und Funktionen der Familienmitglieder für das Unternehmen und als GesellschafterInnen (in den Schritten 4 und 5) deutlich markiert, was etwa mit der Übergabe der Eigentumsanteile oder bereits mit der Unterschrift unter die Familienverfassung an Erwartungen einhergeht, was also die Alten von den Jungen erwarten können und umgekehrt. Das schafft Klarheit und Sicherheit. Es ermöglicht für die Jungen außerdem die Entscheidung, ob und wann sie überhaupt Mitglied der Unternehmerfamilie werden wollen. Während sich die Mitgliedschaft in der Familie mit der Geburt oder auch bei Adoption quasi von selbst versteht, setzt die Mitgliedschaft zur Unternehmerfamilie eine entsprechende Erklärung voraus, die beispielsweise mit der Unterschrift unter die Familienverfassung oder durch die Übergabe von Eigentumsanteilen vollzogen wird. Mit der Schaffung von Gremien (Schritt 6) erfolgt eine sachliche Kanalisierung von Entscheidungsprozessen und damit die Kreation von funktionalen Machtpositionen. In zahlenmäßig wachsenden Unternehmerfamilien (etwa ab 12 bis 15 GesellschafterInnen) könnte zum Beispiel ein Familienrat mit einem Vorsitz und weiteren Funktionsträgern gebildet werden. Diese Positionen werden von den Mitgliedern der Unternehmerfamilie über mehrere Jahre gewählt und mit bestimmten Entscheidungs-, also Machtkompetenzen ausgestattet, die in Stellvertretung für die gesamte Unternehmerfamilie spezielle strategische unternehmens- oder eigentumsbezogene Entscheidungen zu treffen haben. Die Anpassung der Familienmitglieder an die bereits im Schritt 1 benannten unternehmerischen Notwendigkeiten wird nochmals explizit im Schritt 7 thematisiert. Denn hier geht es zum einen um die Informationsansprüche, die die Familie und ihre Mitglieder an das Unternehmen und die Eigentumsgesellschaft haben können, und zum anderen um das Verhalten, das von den Familienmitgliedern bzw. den familiären Gesellschaftern/Gesellschafterinnen erwartet wird. Das innerfamiliäre und das Verhalten in der Öffentlichkeit soll sich den Erfordernissen des transgenerationalen Unternehmenserhalts unterordnen, womit wiederum deutlich wird, welche machtvolle Rolle das Unternehmen bzw. das Eigentum daran für Mitglieder von Unternehmerfamilien gewinnt. Letztlich drehen sich die Schritte 8 bis 11 ebenfalls genau darum: Konflikte gilt es zu bewältigen und Krisen vorzubeugen, damit bestenfalls die langfristige Weiterexistenz des Unternehmens und damit auch diese Form von Familie gesichert werden kann (Schritt 8). Daran haben sich die Ausschüttungen, also die finanziellen Dividendenansprüche der GesellschafterInnen, auszurichten (Schritt 9), sodass EigentümerInnen von Familienunternehmen in der Regel bescheidenere Aktionäre sind als jene, welche an der Börse investieren, um so möglichst schnell und viel an Gewinn zu erzielen. Bedingungen für
15 Macht in Unternehmerfamilien
247
diese Haltung von Familiengesellschaftern/Familiengesellschafterinnen sind Gefühle der Identität und Zugehörigkeit, die für den Zusammenhalt in der Familie sorgen (vgl. etwa Köllner et al., 2022) und bestenfalls durch ein Familienmanagementsystem auch formal gepflegt werden (Schritt 10). Die dafür notwendigen Kompetenzen haben sich die entsprechenden familiären Rollen- und FunktionsträgerInnen anzueignen, sodass auch über die Formen der entsprechenden Gesellschafterkompetenz und ihrer Entwicklung Klärungen herzustellen sind (Schritt 11). Schließlich werden Regeln zur Einhaltung und Veränderung der Regeln (Schritt 12) vereinbart, in denen explizit Fragen der Sanktionierung von Regelbrechern/ Regelbrecherinnen eingeführt werden. Im Gegensatz zum Gesellschaftsvertrag, der die EigentümerInnen von Familienunternehmen rechtlich bindet, haben die in einer Familienstrategieentwicklung ausgearbeiteten und verabschiedeten Familienregeln, die in Form einer Familienverfassung niedergelegt sind, keinen juristischen Charakter. Sie binden jedoch soziomoralisch. Daher handelt es sich bei den Regeln und der Sanktionierung von Regelbrechern/Regelbrecherinnen um soziale Verpflichtungen, die bestenfalls das individuelle Gewissen und damit Handeln der Mitglieder von Unternehmerfamilien prägen und orientieren.
15.5
Resümee
Macht ist in Unternehmerfamilien deshalb ein besonders wichtiges Thema, weil in diesen Familien verantwortliche Entscheidungen bezüglich des Unternehmenseigentums zu treffen sind, die nicht nur für das Unternehmen, sondern für alle EigentümerInnen bindend sein müssen. Daher ist beobachtbar, dass in langlebigen mehrgenerationalen Unternehmerfamilien diese Entscheidungen nicht dem informalen Selbstlauf überlassen werden. Im Gegenteil, um diese Entscheidungen in passender Weise vorzubereiten und umzusetzen, werden zentrale Fragen der Organisation von Familie und Unternehmen einem Formalisierungsprozess zugeführt, etwa einer Familienstrategieentwicklung. In diesem Rahmen werden Herausforderungen des Entscheidens, der Verbindlichkeit dieser Entscheidungen, der Rollen und Funktionen der Familienmitglieder sowie der Sanktionierung von Mitgliedern, die die Entscheidungen nicht beachten und Regeln verletzen, besprochen und abgestimmt. Soziologisch sind solche Prozesse deshalb so interessant, weil hier etwas deutlich wird, was gemeinhin in modernen Familien nicht geschieht, eben die Formalisierung, Professionalisierung und Organisation von familiären Entscheidungsprozessen. Allerdings ist auch diese Form des Organisierens von Entscheidungen und ihrer Durchsetzung in Unternehmerfamilien keine Strategie, die dazu führt, dass Probleme oder Konflikte gänzlich gelöst werden. Paradoxerweise werden damit neue Herausforderungen geschaffen, z. B. die Frage, wie in über Jahre oder bereits Jahrzehnte sich professionalisierenden Unternehmerfamilien die Emotionalität der Bindungen, die ja Familien auszeichnet
248
H. Kleve
und in ihnen erwartet wird, erhalten bzw. immer wieder erneut reaktiviert werden kann (siehe weiterführend dazu Rüsen et al., 2021; Köllner et al., 2022). Aber das ist ein neues Thema, das hier lediglich abschließend adressiert wird und auf die Anforderung in diesen Familien verweist, dass sie zugleich Unterschiedliches, gar Gegensätzliches verkoppeln müssen, nämlich einerseits emotionale Einbindung von Personen über Generationen hinweg und andererseits sachlich-konstruktive, personenunabhängige Entscheidungsfindung und -durchsetzung.
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15 Macht in Unternehmerfamilien
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Heiko Kleve Univ.-Prof. Dr. phil. Soziologe und Sozialpädagoge sowie systemischer Berater, Coach, Supervisor und Mediator. Inhaber des Stiftungslehrstuhls für Organisation und Entwicklung von Unternehmerfamilien sowie Akademischer Direktor am Wittener Institut für Familienunternehmen (WIFU), Fakultät für Wirtschaft und Gesellschaft, Universität Witten/Herdecke. Autor und Herausgeber von zahlreichen Büchern und diversen Beiträgen zur systemischen Theorie und Praxis in den angewandten Sozialwissenschaften, etwa im Bereich der soziologischen Reflexion von Unternehmerfamilien. http://www.heiko-kleve.de
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Einfluss und Ohnmacht der Personalentwicklung in kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) Impulse aus einer organisationsethnografischen Studie Evelina Sander, Carina Kröber, Franziska Anhalt und Michael Dick
Zusammenfassung
Der Beitrag beschäftigt sich mit Fragen der Ausgestaltung des Einflusses der Personalentwicklung (PE) in kleinen und mittleren Unternehmen (KMU). Als empirische Grundlage dienen dabei die im Rahmen einer organisationsethnografischen Studie in sieben KMU erhobenen Daten. Die Analyse zeigt, dass sich die PE-Arbeit innerhalb unterschiedlicher Spannungsfelder vollzieht und einen großen Einfluss auf die organisationalen Prozesse, aber auch auf menschliches Wohlergehen in der Organisation hat. Dies beruht neben der Expertise der PersonalerInnen auch auf ihrer Eingebundenheit in den organisationalen Informationsfluss sowie auf der Legitimität ihrer Position. Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Projekts IDboard „Integration neuer Mitarbeitenden in KMU durch digitales Onboarding“. Das Forschungsprojekt IDboard wurde durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Programm „Innovationen für die Produktion, Dienstleistung und Arbeit von morgen“ (Förderkennzeichen 02L19A520ff) und den Europäischen Sozialfonds (ESF) gefördert und vom Projektträger Karlsruhe (PTKA) betreut. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autoren/Autorinnen. E. Sander (B) · C. Kröber · F. Anhalt · M. Dick Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Kröber E-Mail: [email protected] F. Anhalt E-Mail: [email protected] M. Dick E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 O. Geramanis et al. (Hrsg.), Organisationale Machtbeziehungen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42092-5_16
251
252
E. Sander et al.
Ebenfalls besteht ein erhebliches Machtpotenzial der PE in ihrer schützenden Wirkung auf Organisationsmitglieder sowie in ihrer Funktion als Unsicherheitspuffer. Zu den identifizierten Quellen der Ohnmacht der PE zählen ungeklärte Unstimmigkeiten mit Machthabenden, Rollenunsicherheit sowie das Nichtthematisierbare innerhalb einer Organisation.
Es ist seit Längerem bekannt, dass sich die betriebliche PE in einem „interessenspolitischen Bermudadreieck“ (Auer et al., 1993, S. 154) befindet, dessen Eckpunkte Beschäftigte, PE und Geschäftsführung (GF) bilden. Jedoch bleiben Fragen der Gestaltung von Machtstrukturen und Machtverhältnissen der PE-relevanten Akteure weitgehend unbeleuchtet. Dadurch, dass sich Personalforschung vor allem an Interessen von Großunternehmen orientiert (Matiaske 2018), rücken Fragen der Gestaltung der Personalarbeit in KMU nur selten in den Forschungsfokus (Immerschitt & Stumpf, 2019). Dabei sind KMU für die deutsche Wirtschaft von herausragender Bedeutung, denn zu dieser Kategorie zählen 99 % der Unternehmen und sie beschäftigen 56 % der ArbeitnehmerInnen (Statistisches Bundesamt, 2021). Daher scheint ein genauer Blick auf das Feld der Personalentwicklung – ein (Macht-)Feld, in dem die Gestaltung einer (guten) Arbeit in KMU ausgehandelt und umgesetzt wird – sehr lohnenswert zu sein. Dieser Beitrag trägt zu einer Verkleinerung der skizzierten Forschungslücken in zweifacher Hinsicht bei. Zum einen werden Besonderheiten der Personal(entwicklungs)arbeit in KMU berücksichtigt, und zum anderen wird sich an mehreren Fragestellungen orientiert, die einen Einblick in das Machtgefüge rund um die PE ermöglichen: • Durch welche Merkmale ist die Arbeit im PE-Bereich in KMU gekennzeichnet? • Wie gelingt es der PE in KMU ihre Wirksamkeit zu entfalten? Welche Ressourcen, welche Quellen der Macht kommen dabei zur Geltung? • Wo liegen die Grenzen von Macht der PE? Welche Konsequenzen hat eine Ohnmacht der PE für sie selbst sowie für die gesamte Organisation? Dem Beitrag liegt eine organisationsethnografische Studie in sieben KMU, die heterogenen Branchen angehören, zugrunde. Unter KMU, die generell keine einheitliche Definition haben, werden im Rahmen dieser Studie neben den formellen Definitionskriterien wie MitarbeiterInnenanzahl und Jahresumsatz1 auch die qualitativen Merkmale, die
1 KMU werden als Unternehmen definiert, die einschließlich verbundener oder Partnerunternehmen
(Auslegung analog Empfehlung 2003/361/EG der EU-Kommission vom 06. Mai 2003 Anhang I Artikel 3) maximal 1000 Beschäftigte und einen Jahresumsatz von maximal 100 Mio. EUR aufweisen.
16 Einfluss und Ohnmacht der Personalentwicklung …
253
den Mittelstand ausmachen, berücksichtigt. Dazu zählen sowohl Führung durch EigentümerInnen2 als auch ein Bekenntnis zur Zugehörigkeit zum Mittelstand sowie zu den sozialen und unternehmerischen Werten (Gerhardt et al., 2022).
16.1
Theoretisch-konzeptionelle Grundlagen und empirische Basis der Studie
Die zahlreichen Versuche, PE zu definieren, und die Vielfalt der entstandenen Definitionen spiegeln eine große Heterogenität von Aufgaben, Zugängen und Verständnissen davon wider, was die PE umfasst und welche Ziele diese verfolgt bzw. verfolgen sollte. Das Wortspiel „Mensch ist Mittel. Punkt“ vs. „Mensch ist ein Mittelpunkt“ (Neuberger, 1991, S. 9) beschreibt dabei zutreffend das der PE zugrunde liegende Spannungsverhältnis zwischen Organisation und Person. Im Folgenden wird die PE als Vereinigungsmenge von Person-, Team- und Organisationsentwicklung verstanden, wobei zwischen einer personalen, interpersonalen und apersonalen Perspektive unterschieden werden kann (ebd.). Zu den Inhalten der PE-Aktivitäten in der personalen Hinsicht zählen verschiedene persönlichkeitsbezogene Dimensionen: Fähigkeiten und Fertigkeiten, Wissen, Bedürfnisse, Motive und Interessen, Werte und Einstellungen, Belastbarkeit, Identität usw. Die interpersonale Perspektive bezieht sich auf Beziehungen zwischen den Personen und gruppendynamische Aspekte, wie direkte Interaktionen, Dauer und Kontinuität der Beziehungen, Tradition, Rollenzuweisung, Normen, Werte und Ideologien, Grenzen, Identität und Zugehörigkeit, Emotionen, Interessen, Macht und Politik. Die apersonale Perspektive ist auf der Ebene der Organisation verortet und hat u. a. Vernetzung mehrerer Gruppen, Hierarchie, Entscheidungszentralisation, Kultur, Ethik, Mission, Vision, Ziele, Zeitlichkeit, Wandel, Interessen, Macht und Politik zum Gegenstand (ebd.). Hierbei wird ersichtlich, wie komplex, vielfältig und dynamisch der Gegenstand der PE ist. Die einzelnen Perspektiven sind miteinander verwoben und überschneiden sich in einigen Aspekten (Abb. 16.1). Eine berechtigte Frage wäre dabei, inwiefern es legitim ist, von Personalentwicklung in KMU zu sprechen bzw. den Begriff der PE zu verwenden, wenn diese Bezeichnung gerade in KMU nicht durchgehend verwendet wird. Während in Großunternehmen oder Verwaltungen die Bezeichnung Personalentwicklung mittlerweile zum Standard gehört, findet man bei KMU eine breite Palette an Namen für die Funktion, die für das Personal zuständig ist und dabei nicht nur die administrative oder verwaltungsbezogene Koordination und Kontrolle zur Aufgabe hat. Bspw. reichen die Bezeichnungen dieser Funktion in analysierten KMU von „Human Resources Manager“ über „HR-Generalist“ bis hin zum kreativen und womöglich zukunftsweisenden Wortspiel „People & Culture“. Zu den wesentlichen Argumenten aus einer praxisorientierten Perspektive zählt vor allem eine Verwendung des 2 Bei einigen ehemaligen Familienunternehmen ist die Einheit von Führung und Eigentum zwar
nicht mehr gegeben, aber sie verstehen sich weiterhin als Mittelstand (Welter et al., 2015).
254
E. Sander et al.
Abb. 16.1 Personalentwicklung als Vereinigungsmenge von Person-, Team- & Organisationsentwicklung. (In Anlehnung an Neuberger, 1991, S. 13)
Begriffes PE für das eigene Aufgabenfeld (neben den anderen Aufgaben) und damit eine Selbstidentifikation von Personalern/Personalerinnen sowie die entsprechende Akzeptanz durch andere organisationale Mitglieder. Aus theoretisch-konzeptioneller Perspektive ermöglicht die Verwendung des PEBegriffes einen Anschluss an den bisherigen theoretisch fundierten und kritischen PE-Diskurs, der bereits in den 1990er-Jahren entstanden ist und u. a. die Frage der Macht von PE aufgegriffen hat (bspw. Neuberger, 1989; Auer et al., 1993; Felsch, 1999). Eine für diesen Beitrag grundlegende systemtheoretisch verortete Überlegung stammt von Luhmann (1977): „Es bilden sich keine sozialen Systeme, ohne daß sich Macht bildet“ (S. 474). Somit wird deutlich, dass sich keine Organisation, kein Team und keine Gruppe zu einem machtfreien Raum erklären kann, unabhängig davon, wie flach ihre Hierarchie ist. Zu den prominenten und in zahlreichen Studien weiterentwickelten Konzepten der Macht zählt das von French und Raven (1959), die unter Macht eine potenzielle Beeinflussung einer Person durch eine andere verstehen. Dabei basiert Macht auf Kontrolle
16 Einfluss und Ohnmacht der Personalentwicklung …
255
möglicher Ressourcen, zu denen Belohnungen, Bestrafungen, Legitimation, Identifikation, Fachwissen/Expertise und, ergänzt durch Raven (1965), Information zählen. Diese Typologie diente als Basis auch der vorliegenden Studie. Der Beitrag basiert auf der Analyse von empirischen Daten, die im Rahmen einer integrierten Fallstudie in sieben KMU zwischen September 2020 und Dezember 2022 erhoben wurden. Die fallgebenden KMU sind unterschiedlich groß und vertreten verschiedene Branchen (Pflege, Industrie, Handel, Architektur, Holzbau, IT und Handwerk). Durch die Kontrastierung der Fälle werden fallübergreifende Vergleiche und Analysen möglich, die hinreichend vom Einzelfall abstrahieren. Als Methoden der Datenerhebung kommen dabei neben den (Einzel-)Interviews mit Personalern/Personalerinnen auch organisationsethnografische Methoden wie Unternehmensaufenthalte, Tagebuchauswertungen sowie Gruppendiskussionen zum Einsatz. Insgesamt fließen in die nachfolgend dargestellten Ergebnisse Erfahrungen von insgesamt 12 Personalern/Personalerinnen ein, die in den untersuchten KMU tätig sind oder waren.
16.2
Personalentwicklung. Macht. Arbeit.
16.2.1 Zum Selbstverständnis der Personalentwicklung: Arbeit in einer Spannungsfeldlandschaft Nicht nur die bereits in der Einleitung erwähnte Vielfalt von Funktionsbezeichnungen der PersonalentwicklerInnen in KMU, sondern auch ein bunter Strauß von u. a. metaphorischen Begriffen, die sie selbst verwenden, um ihre Arbeit und ihre eigene Rolle zu beschreiben, macht deutlich, dass PE-Arbeit ein Jonglieren mit mehreren Rollen impliziert, die von A wie Allrounder bis Z wie Zeitwächter reichen. Die in Abb. 16.2 dargestellten Selbstbeschreibungen stammen von interviewten PersonalentwicklerInnen. Auch wenn nicht jede der genannten Facetten des Rollenverständnisses bei einem/ einer konkreten PersonalentwicklerIn zur Geltung kommen muss, da es sich um stellen, personen- und situationsabhängige Konstellationen handelt, wurden im Rahmen der Studie mehrere Dilemmata bzw. Spannungsfelder identifiziert, mit denen PersonalentwicklerInnen aufgrund der Rollenvielfalt konfrontiert werden. a) Spannungsfeld Arbeitgeber- vs. Arbeitnehmerposition(en) Ihre Position als Repräsentanten/Repräsentantinnen des Unternehmens und somit des Arbeitgebers einerseits und der Beschäftigten andererseits beschreiben PersonalentwicklerInnen als „rein Arbeitgeber bin ich nicht, ich bin auch nicht rein Mitarbeiter, ich bin irgendwo dazwischen“ (Renate N.). Um in der Lage zu sein, mit beiden Seiten erfolgreich zu interagieren und die teilweise widersprüchlichen Erwartungen zu managen, kommen
256
E. Sander et al.
Abb. 16.2 (Selbst-)Bezeichnungen der PE-Rolle. (Eigene Darstellung)
verschiedene Ressourcen bzw. Machtquellen zur Geltung. Während zu den wichtigsten Ressourcen von Personalentwicklern/Personalentwicklerinnen in Zusammenarbeit mit der GF Fachwissen bzw. Expertenmacht zählen – „meine Erfahrung und … meine Kenntnisse, die die Geschäftsführung auch nicht hat“ (Renate N.) –, spielen in der Interaktion mit Beschäftigten vor allem die auf Belohnung, Legitimation und Information beruhenden Einflussquellen eine bedeutsame Rolle. Bezüglich Belohnungen kommen neben den monetären Aspekten (wobei in einigen KMU die Gehaltsfrage vollkommen in der Zuständigkeit der GF bleibt) auch andere Formen der Wertschätzung auf die Agenda. Dazu gehören bspw. Lob, zusätzliche Flexibilität oder kleine Gesten der Anerkennung: „Also, wenn ich finanziell nichts bieten kann, dann muss ich mir halt überlegen … was kann ich den Menschen auch in anderer Art und Weise mitgeben … wir wissen alle im Grunde wie schön das ist zu hören: ‚Schön, dass du da bist‘“ (Linda I.). Da die PersonalentwicklerInnen oft über die Gründe von freiwilligen Kündigungen informiert sind, schreiben sie sich zusätzliche Verantwortung zu, den Ursachen entgegenzuwirken, und versetzen sich somit noch stärker in ihre Rolle als VermittlerInnen zwischen den Parteien.
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Als eine weitere wichtige Ressource gilt die Informationsmacht der PE. Diese betrifft sowohl den Zugang zu wichtigen Informationen über den Organisationsalltag, über die formellen und informellen Regeln und über die geplanten Vorhaben als auch die Möglichkeit, Informationskanäle mitzugestalten. Dies wird realisiert, indem PersonalentwicklerInnen darüber (mit)entscheiden, welche Informationen über welche Kanäle transportiert werden, bspw. Entscheidungen der GF, Veröffentlichen von Urlaubsplänen oder Rundmails mit Kurzvorstellung von neuen Mitarbeitern/Mitarbeiterinnen. Ebenfalls zu den zentralen Machtquellen der PE zählt die Legitimation, die allein durch die Funktion als PersonalerIn ihre Wirksamkeit entfaltet. Dieses Einflusspotenzial ist sowohl den Personalern/Personalerinnen selbst als auch den Beschäftigten bewusst: „Die Mitarbeitenden aufgrund meiner Position, die wissen, dass ich gewisse Macht habe … ich nutze das äußerst selten aus“ (Renate N.). Ein Rückgriff auf die Bestrafung als Machtquelle im klassischen Sinne scheint im KMU-Alltag dagegen selten Anwendung zu finden. Dabei wünschen sich die PersonalentwicklerInnen teilweise ein konsequenteres Verhalten seitens der Führungskräfte (inkl. der GF), da „eine disziplinare Maßnahme … auch eine Orientierungsfunktion hat, … die nicht genug genutzt wird“ (Susanne U.). Das Austarieren zwischen der ArbeitgeberInnen- und ArbeitnehmerInnenposition erfolgt laut Selbstbeschreibung von Personalern/Personalerinnen situativ, kontextbezogen und mit dem Bestreben, eine bestmögliche Lösung für das Unternehmen und die einzelne Person zu erzielen. b) Spannungsfeld „Head of helfen“ vs. „Ich bin kein Sozialarbeiter“ Nicht selten konkurriert im PE-Alltag eine helfende Haltung („Man kann sie nicht, ohne dass ich denen geholfen hab, wegschicken“, Tina F.) mit pragmatischen betriebswirtschaftlichen Anforderungen, insbesondere wenn es darum geht, bereits kurz- oder mittelfristig ein wirtschaftliches Ergebnis zu erzielen. Bspw. wenn es darum geht, Personen mit Elternpflichten eine besondere Schichtregelung zu ermöglichen, gelten „Mutti-/Vati-Schichten“ einerseits als Belohnung, andererseits als ein Neidobjekt, was für PersonalerInnen einen zusätzlichen Kommunikationsbedarf bedeutet. Jedoch nicht nur wirtschaftliche Argumente untermauern die Position, „kein Sozialarbeiter“ (Renate N.) zu sein. Diese Facette der eigenen Rollendefinition trägt dazu bei, dass bei PersonalerInnen durch eine Distanzierung von einer (formell nicht bestehenden und dennoch wirkenden) „Hilfspflicht“ die Selbstschutzmechanismen aktiviert werden: „Am Ende ist das sein Problem, ich … kann … vielleicht ein bisschen unterstützen, aber das Problem muss er selber lösen, nicht ich“ (Renate N.). Es sind unterschiedliche Intensitäten des Helfens gefragt, wobei in einigen Situationen (bspw. Suchtprävention) psychologisch-therapeutische Kompetenz gefragt ist. Während aber Psychologen/Psychologinnen und SozialarbeiterInnen dafür ausgebildet werden, fremde Probleme professionell zu kanalisieren, sind PersonalerInnen auf eigene Kompetenzen, Vorerfahrungen oder selbstständig „verordnete“ Bildungsmaßnahmen angewiesen. Denn bisher ist in kaum einem Weiterbildungsprogramm im HR-Bereich der Umgang mit Suchtprävention, Familiendramen, ungeplanten Schwangerschaften, schweren Erkrankungen und
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Sterbefällen etc. vorgesehen. Doch all dies und vieles mehr kann in den Arbeitsalltag eindringen und die „eigentlichen“ Aufgaben wie Planung eines Auftrittes auf der jährlichen Personalmesse zur Seite schieben. Damit sich ein/e MitarbeiterIn, eine Führungskraft oder die GF an die PE richtet, um Unterstützung aufzusuchen, muss der PE überhaupt erst eine entsprechende Hilfsleistungsoder Problemlösungskompetenz zugesprochen werden. Darüber hinaus muss ein Vertrauen zu dieser Person bestehen. Somit handelt es sich hierbei um eine besondere Ausprägung der Expertenmacht in Kombination mit weiteren Machtquellen. (In Bezug auf das erwähnte Vertrauen muss angemerkt werden, dass PersonalentwicklerInnen in KMU oft schon dadurch einen Vertrauensvorschuss bekommen, dass sie den Erstkontakt mit Kandidaten/Kandidatinnen gestalten, sich im Rahmen der Personalauswahl für die Person (mit)entscheiden, sie einstellen sowie in der Anfangsphase begleiten. Somit wird signalisiert, dass an die entsprechende Person geglaubt wird.) Ein solcher Vertrauensvorschuss kann, insbesondere zusammen mit der Bereitschaft der PE, tatsächlich die notwendige Unterstützungsleistung anzubieten, sobald diese erfragt wird, zu einer „Inflation“ an entsprechenden Anfragen führen, was zu einer möglichen Instrumentalisierung der PE führen kann: „Die Erwartung, dass PE einfach für sie die Herausforderungen meistern“ (Tabea P.). c) Spannungsfeld Autonomie vs. Abhängigkeit der PE Die interviewten StelleninhaberInnen berichten u. a. von einer großen Notwendigkeit, vieles selbst zu erlernen, „weil man halt keinen hat, wo man sagen kann „ich frag jetzt mal“ (Isabel L.). In der Regel besteht eine HR- oder PE-Abteilung in KMU aus einer, maximal zwei Personen: „Als Alleinkämpfer dazwischen, das ist schon Hardcore“ (Ines S.). Ergänzend zu einer Sandwichposition zwischen den Interessen des Unternehmens und denen der Beschäftigten muss die PE ihre eigene Rolle und ihren eigenen Ermächtigungsraum immer wieder neu definieren und ausbalancieren, wobei auch verschiedene Emanzipationsgrade der PE entstehen. Diese bewegen sich zwischen den Polen Abhängigkeit und Autonomie, wobei als primäres Bezugsobjekt die Qualität der Beziehung zur GF dient. Zwar ist bei allen fallgebenden KMU eine enge Zusammenarbeit zwischen der PE und der GF zu beobachten, doch lassen sich dem Pol Autonomie die Gestaltungsformen der PE zuordnen, bei denen die PersonalentwicklerInnen über einen erheblichen Entscheidungs- und Befugnisspielraum verfügen: „Freiraum – was ich wirklich am meisten schätze, macht mich glücklich“ (Renate N.). Die Autonomie kann sich bspw. darin äußern, dass Personalentscheidungen von Personalentwicklern/Personalentwicklerinnen selbstständig oder zusammen mit den Führungskräften (ohne Beteiligung der GF) getroffen werden, wie: „So ein Freischwimmen, … man selbst wird nicht irgendwie angeleitet“ (Ines S.). Dem Abhängigkeitspol entsprechen dagegen Praktiken, in denen Lösungen durch die PE erarbeitet werden, die abgeleiteten Maßnahmen und Verfahren (bspw. kriteriengeleitete Personalauswahl) jedoch infrage gestellt oder durch die Top-down-Entscheidung der GF ersetzt werden: „[Die GF] kann gerade noch nicht so richtig loslassen“ (Annika E.). Dabei ist die PE
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gezwungen, erhebliche Ressourcen in die Überzeugungsarbeit, das Ausloten der Dringlichkeit sowie in Kämpfe um Beachtung zu investieren. Im Kontakt mit der GF sollte nicht jedes Nachfragen als Misstrauen interpretiert werden, sofern dies als konstruktiver Austausch von beiden Seiten erlebt wird. Dass die Autonomiegrade und somit die Macht der PE eingeschränkt werden und dies i. d. R. nicht hinterfragt wird, könnte an der enormen strategischen Bedeutung der Personalfragen für KMU sowie an der Historie des Unternehmens liegen: Vor der Etablierung der Personalfunktion lag die Kontrolle über die erfolgskritische Ressource Personal im Verantwortungsbereich der GF, die häufig zugleich als GründerIn und/ oder EigentümerIn fungiert und somit eine besondere Identifikation mit dem Unternehmen hat. Zu den wichtigen Aspekten einer tragfähigen Beziehung zwischen der GF und PE gehört neben der gegenseitigen Wertschätzung und Anerkennung auch eine (ebenfalls gegenseitige) Schutzwirkung, die sich u. a. darin äußern kann, dass „einfach Konflikte abgebogen werden und gesagt wird, wir wollen, dass sie so arbeitet” (Susanne U.) oder „eigentlich habe ich überlegt, das Handtuch zu schmeißen, aber dank [GF] habe ich es nicht gemacht“ (Emilia I.). Die eigene Schutzwirkung der PE gegenüber der GF (und somit auch ein erhebliches Machtpotenzial) besteht u. a. darin, dass Entscheidungen solide vorbereitet werden und sich die GF auch in einem Härtefall (bspw. gerichtliches Verfahren oder Haftungsfall) darauf verlassen kann. Auch mögliche moralische Unterstützung, bspw. wenn „Geschäftsführung erst zu HR kommt, einmal alles rauslässt und man dann sagt tief durchatmen, … sachlich bleiben, Arm schütteln, wieder rausgehen“ (Olivia N.), sollte nicht unterschätzt werden, da sich diese nicht nur auf das aktuelle Wohlergehen positiv auswirkt, sondern auch dazu beiträgt, ausgeglichener gegenüber anderen Akteuren (sowohl organisationsintern als auch extern) aufzutreten und somit Renommee zu bewahren. d) Spannungsfeld Dynamik vs. Stabilisierung Organisationale Veränderungen – und wie die Praxis der untersuchten KMU zeigt, insbesondere Unternehmenswachstum – sind ein wichtiger Impulsgeber für die Etablierung der PE. Von der PE in KMU wird hierbei typischerweise erwartet, dass die immer weniger überschaubar werdenden Personalprozesse systematisiert werden, unter Kontrolle bleiben und gleichzeitig die besondere, durch Nähe und direkten Austausch geprägte Unternehmenskultur möglichst weitergelebt wird. Eine Tendenz zum Dynamikpol kann sich in der Etablierung neuer Prozesse und Vorgänge äußern (von der Einführung von Feedbackgesprächen bis hin zur Umgestaltung der angebotenen Incentives, darunter Essensmöglichkeiten im Betrieb). Da es sich hierbei überwiegend um soziale Prozesse handelt, wo die Ursache-Wirkung-Zusammenhänge weder mechanisch noch trivial sind, kann es keine Garantie geben, dass die eine oder andere Maßnahme ihre Wirkungen genau wie geplant entfaltet, dennoch „manche Dinge muss man ja auch einfach ausprobieren, ob die funktionieren oder nicht, die Erfahrung muss man ja auch sammeln“ (Isabel L.). Die bereits erwähnte Sandwichposition der PE ermöglicht darüber hinaus eine breit gefächerte Informationswahrnehmung von unterschiedlichen Hierarchieebenen. Der
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dadurch erzeugte Informationsvorsprung bzw. eine Sensibilisierung für verschiedene Positionen verstärkt die auf Expertise und Information basierende Macht der PE und kann zu einem beschleunigten Hineinschlüpfen in die Rolle eines Change-Agenten führen. Aktivitäten der PE im Stabilisierungsbereich äußern sich hierbei nicht nur in reaktiven systemerhaltenden Handlungen, wie bspw. die, die im Zusammenhang mit der COVID-19Pandemie erforderlich gewesen sind (ein schneller Umstieg auf Homeoffice, Organisation von Coronaimpfungen etc.), sondern auch in proaktiven Maßnahmen wie der Etablierung einer kompetenzorientierten Weiterbildungspraxis, dem Erschaffen und Pflegen von organisationalen Ritualen (bspw. Aufnahme- und Abschiedstraditionen) etc. Mit beiden Tendenzen übernimmt die PE (meistens unbewusst) die wichtige Funktion eines Unsicherheitspuffers, der u. a. darin besteht, „ungeklärte Prozesse … in Form zu gießen und auch einfach mehr Orientierung zu schaffen“ (Susanne U.). Insbesondere in der frühen Etablierungsphase (jedoch nicht nur) können Situationen entstehen, in denen viele Aufgaben mit ungeklärter Zuständigkeit und einem vagen Personalbezug in den Verantwortungsbereich der PE gelangen. Somit landen auf der To-do-Liste von Personalern/Personalerinnen nicht nur die mit einer Krisensituation verbundenen Aufgaben (wie im vorherigen Beispiel der COVID-19-Pandemie), sondern auch in keiner Stellenbeschreibung vermerkte Tätigkeiten, wie Bestellen von Kaffeemaschinen oder Büromöbeln, Reparieren von Dekokissen, Auffüllen von Toilettenpapierrollen oder Blumengießen („illegitime Aufgaben“, Semmer et al., 2010). Inwieweit und wie schnell es dabei der PE gelingt, diese sicherlich akuten, jedoch nicht dem Profil entsprechenden und oft unterfordernden Aufgaben loszuwerden, hängt nicht nur von den personellen Ressourcen der KMU, sondern wiederum von der Machtposition der PE ab. Die Funktion eines Unsicherheitspuffers wird auch übernommen, wenn den Personalern/Personalerinnen hochsensible Themen anvertraut werden. Illegitime Aufgaben können daher auch eine Quelle für Wertschätzung sein, wenn durch deren Erledigung gravierende Probleme gelöst werden und die Problemlösekapazität exklusiv der PE zugeschrieben wird. Weitergehend kann das proaktive Aufnehmen von unterschätzten und unbequemen Themen, wie die Förderung einer diskriminierungssensiblen Unternehmenskultur, als Unsicherheitspuffer betrachtet werden, der in einem nächsten Schritt zu einer dynamischen Weiterentwicklung beitragen kann.
16.2.2 Quellen der Ohnmacht der Personalentwicklung Als Ohnmacht werden nachfolgend Situationen bezeichnet, in denen sich die interviewten PersonalentwicklerInnen als wenig wirksam, verunsichert oder machtlos erlebt haben.
16.2.2.1 Das Nichtthematisierbare im Unternehmen Auch wenn aus einer arbeitssoziologischen Perspektive Tabus bzw. das Nichtthematisierbare in der Kommunikation durchaus begründet „sorgfältig gepflegt“ (Kühl, 2021,
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S. 324) werden, um die Organisation vor einer kommunikativen Überforderung zu schützen (ebd.), führt ein latentes Dasein des Nichtthematisierbaren im Team oder in der Organisation zu Situationen, in denen die PE Grenzen ihres Einflusses spürt. Zum Nicht- bzw. Schwerthematisierbaren gehören u. a. solche Themen wie sexistische oder diskriminierende Äußerungen und Handlungen im Kollegium, denn um diese anzusprechen, muss man bereit sein, sich als „Genderbeauftragte“, „Sittenpolizei“ oder „Humor nicht verstehende Person“ zu exponieren, sich ggf. gegen eine Gruppe oder eine einflussreiche Person zu stellen und somit den bisherigen Status zu riskieren. Ob Grenzüberschreitungen als solche von Personalern/Personalerinnen wahrgenommen werden, hängt dabei sowohl davon ab, inwieweit sie für Gender- und Diversitythemen sensibilisiert sind, als auch von der Organisationskultur. Ein Ohnmachtsgefühl kann schon durch eine limitierte „Salonfähigkeit“ der Kritik entstehen, wenn ein/e PersonalerIn eine hohe Relevanz eines „ungemütlichen“ Themas in der Organisation erkannt hat, jedoch keinen Zuspruch im Team und vor allem bei der GF findet. Um das Thema aus eigener Kraft heraus zu platzieren, fehlt der PE oft, neben den zeitlichen Ressourcen, auch ein entsprechendes Strategie- und Taktikwissen, z. B. im Bereich der praktischen Umsetzung von Diversity-Initiativen auf dem organisationalen Niveau: „Das ist auf jeden Fall ein Thema, was mir total am Herzen liegt und lag, ich aber gar keine Möglichkeit hatte, irgendwie reinzukommen“ (Annika E.). Auch das Anvertrauen von sensiblen Themen kann dazu führen, dass die PE „in einer Zwickmühle steckt zwischen ihrer Rollenverpflichtung, aber auch Menschlichkeit“, sie „muss für den ungeklärten Prozess gradestehen und selbst herausarbeiten, wie sie nun damit umgeht“ (Patrizia S.). Solche Fälle können psychisch belastend sein: „Wie soll ich jetzt eine Lösung für dich finden, wenn ich keinem erzählen darf [… ich bin dann] na ja der Mülleimer, ich sag immer die Müllhalde“ (Patrizia S.). Daher hat ein frühzeitiger Erwartungsabgleich in Bezug auf die PE-Rolle (zwischen allen Beteiligten) eine große Bedeutung, insbesondere wenn der PE Ressourcen wie Schweigepflicht allein aus der Rolle heraus nicht gegeben sind. Das Nichtthematisierbare, auch als „Sprachlosigkeit“ bezeichnet, kann aber auch ohne brisant aufgeladene Themen entstehen. Beispielsweise beim Offboarding, falls ein wichtiger kommunikativer Schritt fehlt, den die PE nicht vollziehen kann: Wenn einem unzulässigen Verhalten eine Kündigung folgt, aber „eine abschließende Klärung der Enttäuschung, der Verletzung, der nicht erfüllenden Erwartungen, die findet nicht statt“ (Susanne U.).
16.2.2.2 Ungeklärte Unstimmigkeiten mit den Machthabenden Im Fokus dieses Abschnitts stehen die (suboptimalen) Aspekte der Kommunikation von PersonalentwicklerInnen mit Machthabenden, zu denen in erster Linie die GF zählt, aber auch weitere Akteure/Akteurinnen, die aufgrund ihrer Position in der Organisation einen großen Einfluss auf die Arbeit und Selbstwahrnehmung von PE haben. I. d. R. sind es Menschen mit einer langen Betriebszugehörigkeit und einer guten Beziehung zur GF.
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Wie unter Abschn. 16.2.1 skizziert, spielt eine wertschätzende und gegenseitig als unterstützend wahrgenommene Zusammenarbeit zwischen GF und PE eine große Rolle dabei, inwieweit die PE ihre Wirkung entfalten kann. Wie in jeder anderen angestrebten Kooperationsbeziehung können hier Unstimmigkeiten entstehen, die den Erwartungen der einen oder anderen Seite nicht entsprechen. Bleiben diese unaufgeklärt, kann dies zur beidseitigen Enttäuschung und zu einer Einschränkung der Wirksamkeit der PE führen: „Auf der anderen Seite ist jemand, der … wegguckt, also … dass man auch alleine gelassen wird“ (Ines S.). Zu verbreiteten Gründen für ein Ohnmachtserlebnis seitens der PE gehört ihre Weisungsgebundenheit an die Entscheidungen der GF (eine fehlende Gleichwertigkeit zur GF): „Das ist ein Riesenthema, … Anweisungen … der Geschäftsleitung sind mitzutragen und weiterzugeben, egal was ich persönlich davon halte“ (Tabea P.). Sobald diese natürliche (und oft schützende) Machtasymmetrie jedoch die Autonomie der PE angreift, wird dies als Durchsetzen der Bestrafungsmacht wahrgenommen, bspw. indem Urlaub nicht bewilligt wird oder die Priorisierung von Arbeitsaufgaben festgelegt wird: „Du kannst nicht sagen ,hab ich keine Zeit‘ … dann habe ich ein Problem am Ende“ (Renate N.). Zu weiteren Gründen einer erlebten Unwirksamkeit zählen bspw. ausbleibendes Feedback, fehlende Fragen zur Wahrnehmung und Einschätzung der Situation, die von Personalentwicklern/Personalentwicklerinnen als Desinteresse oder Angst vorm Hinterfragen eigener Führungsentscheidungen interpretiert werden: „Man zweifelt dann irgendwann tatsächlich auch an sich selbst, weil man ja keine Spiegelung kriegt, also ich hab mich zum Schluss, also nicht nur zum Schluss, sondern schon eine ganze Weile nicht mehr ernsthaft wahrgenommen gefühlt“ (Ines S.). Ebenfalls als Machtlosigkeit werden Situationen erlebt, in denen begründeten Vorschlägen der PE systematisch nicht gefolgt wird: „Die Idee kann man ja auch umstricken, … aber es verläuft im Grunde dann im Sande“ (Isabel L.). Zum Alltag von vielen (Familien-)Unternehmen gehören mehrere GeschäftsführerInnen sowie Nachfolgewechsel im Betrieb, was auch für die PE ein komplexeres Arbeitsumfeld schafft. Denn nicht immer werden die Zuständigkeiten klar definiert (oder das Definierte entspricht nicht immer dem Realisierten). Nicht zwingend sind unterschiedliche GeschäftsführerInnen einer Meinung und nicht unbedingt besteht eine gleichermaßen vertrauliche Arbeitsbeziehung zwischen den einzelnen Geschäftsführern/ Geschäftsfüherinnen untereinander und der PE. Somit entfaltet sich ein komplexes Netz an Beziehungen, damit verbundenen Umgangsformen und mikropolitischen Strategien.
16.2.2.3 „Grauzone“ der (Rollen-)Unsicherheit Die eigenen Erwartungen an die Ausgestaltung der Rolle sind bei den interviewten Personalentwicklern/Personalentwicklerinnen hoch, was sich u. a. in den zahlreichen anspruchsvollen Beschreibungen von „Problemlöser“ über „Fachberater“ und „Bindeglied“ bis hin zu „Kummerkasten“ oder „Müllhalde“ oder offenen Zugeständnissen, wie
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„an sich einfach eine schwierige Rolle“ (Annika E.) äußert. Um einem ständigen Ausbalancieren zwischen den Interessen der Beschäftigten und denen der GF bzw. der Firma gerecht zu werden, stellen PersonalerInnen in KMU hohe Kompetenzanforderungen an sich selbst. Fehlen hierbei Ressourcen, wie bspw. eine Vertrauensperson oder ein professionelles Netzwerk, kann es belastend werden: „Das hat es mir schwergemacht … diese Rolle einzunehmen, … immer nett und freundlich zu sein. … Du trägst auch die Kultur des Unternehmens nach außen … und wenn du dann mal einen schlechten Tag hast, musst du halt sagen ‚Alles gut‘ … mich fragt halt keiner, wie es mir geht. Ich frage halt mich, also wer soll mich fragen? Weil … ich bin ja diejenige, die fragt. Also wer fragt denn diejenige, die fragt?“ (Annika E.). Das Hineinwachsen in eine Rolle mit einer großen Verantwortung und vielen offenen Fragen und dem Erarbeiten von Lösungen nach bestem Wissen und Gewissen (ohne die Sicherheit, dass diese stimmig sind) wird dabei als Agieren in einer „Grauzone“ (Isabel L.) erlebt. Auch der (eigene) Anspruch, gut in der Lösungsfindung zu sein, sowie Erwartungen von außen machen Druck und führen dazu, dass man sich „überfordert und unsicher“ (Tina F.) fühlt. Zu weiteren Faktoren, die zu einer Rollenunsicherheit beitragen, zählen u. a. die Aufgaben, die außerhalb des eigentlichen Profils einer Personalleitung/PE liegen: „Ich identifizierte mich mit meiner Position eigentlich schon. Es fällt mir schwer zu sagen ‚ich bin jetzt Personalleiterin‘, weil da komme ich nicht so weit irgendwie. Ich habe das Gefühl, ich mache so viele kleine Sachen, die eigentlich gar nicht in der Position anfallen sollen und das fällt mir immer wieder schwer“ (Renate N.). Auch die mehrfach betonte, bei der GF liegende Entscheidungsmacht und die eigene Verortung als „nur als beratend tätig“ (Olivia N.) zu sein oder lediglich einen Einfluss zu haben („Das ist nicht irgendwelche Macht“, Renate N.) sprechen sowohl für einen realistischen Blick auf die organisationale Hierarchie als auch für ein Zugeständnis eines eingeschränkten Machtpotenzials der PE. Als ein weiterer Unsicherheitsgrund kann eine selbst diagnostizierte persönliche Nichteignung für die PE-Rolle genannt werden, indem fehlende Eigenschaften und/oder Erfahrungen thematisiert werden: „Da braucht es jemanden, der definitiv mehr Erfahrung hat als ich“ (Aileen M.) oder „Ich habe vielleicht einfach nicht den Biss … ich merke aber immer wieder in diesen Rollen … bin ich nicht ich“ (Annika E.). Somit lässt sich festhalten, dass zu einer erlebten Unsicherheit in der PE-Rolle eine Reihe von Faktoren, die sowohl in organisationalen Rahmenbedingungen als auch in den interpersonalen Beziehungen und in der individuellen Selbsteinschätzung liegen, gehören. Um die entstehende Unsicherheit auszubalancieren und daraus Entwicklungsimpulse für Person und Organisation abzuleiten, sind auf unterschiedlichen Ebenen verortete Ressourcen notwendig. Auf einige davon wird nachfolgend eingegangen.
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16.2.3 Impulse für eine (selbst)wirksame Personalentwicklung Die hier dargestellten Impulse basieren zum einen auf dem unmittelbaren Erfahrungswissen von Personalern/Personalerinnen, zum anderen stammen sie aus der analytischen Reflexion unseres Forschungsteams. Alle Impulse sind als Ideen und Anregungen zu verstehen, die an den jeweiligen Kontext und eine konkrete Situation anzupassen sind. 1. Die Zwischenposition als Aussichtsplattform nutzen Durch die eigene Verortung zwischen unterschiedlichen organisationalen Akteuren ist die PE befähigt, oft eine Metaposition anzunehmen und Situationen in ihrer Ganzheitlichkeit und Komplexität zu betrachten (Informationsmacht). Die in der Rolle verankerte Spannung zwischen der Arbeitgeber- und der Beschäftigtenseite begründet zugleich die Legitimität, sich für jede der Seiten einzusetzen (Legitimationsmacht). Dies bedeutet jedoch nicht, dass in allen Situationen eine „Sowohl-als-auch“-Lösung existiert oder erstrebenswert ist. Das teilweise als anstrengend empfundene „Zwischen-den-Stühlen-Sitzen“ (Annika E.) entspricht dem Bestreben, einen Kompromiss, eine „Sowohl-als-auch“-Lösung zu erzielen. Sobald man jedoch auch andere Lösungsoptionen wie „Entweder-oder“ oder „Weder-noch“ in Betracht zieht, entsteht ein größerer Raum für ganz neue Möglichkeiten. Eine situations- und kontextabhängige Entscheidung ist hierbei legitim und angebracht: „Ich wähle die Position abhängig davon, um welches Thema es sich handelt“ (Renate N.). 2. Eigene „Filter“-Kompetenz bewusst einsetzen Nicht jedes Anliegen der Beschäftigten oder des (Top-)Managements, so akut und vertraulich es auch ist bzw. zu sein scheint, kann, muss oder soll von der PE erledigt werden. Viele Themen können erst mit der Führungskraft und/oder GF oder anderen relevanten Akteuren/ Akteurinnen effektiv geklärt werden. Durch eine bewusste Gestaltung der „Filter“-Rolle der PE, die darin besteht, Informationen zu kanalisieren (wer sollte wann was wissen), kann die PE dazu beitragen, dass eine adäquate Lösung gefunden wird, ohne die komplette Verantwortung für nicht kontrollierbare Bereiche zu übernehmen. Auch die zeitliche Komponente spielt hierbei eine Rolle, indem man für sich selbst und die anderen den „Dringlichkeitsgrad“ eines „brennenden“ Themas definiert, indem man es auch mal vertagt und/oder sich Zeit zum Nachdenken nimmt. 3. Rollendefinition als Prozess sehen und gestalten Da es keine standardisierten Rollen und/oder Stellenbeschreibungen für die PE (nicht nur) in KMU gibt und dies auch nicht zu erwarten ist, und dadurch, dass auch in einer Organisation diese Funktion nicht statisch ist, sondern sich permanent in Spannungsfeldern zwischen Funktion, Organisation und Person (Heintel, 1993) weiterentwickelt, erscheint es sinnvoll, eine Rollendefinition nicht als Endzustand, sondern eher als einen Zwischenstand in einem dynamischen Prozess zu betrachten und zu gestalten: „Sich genau bewusst zu werden: Ist
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das Teil meines Feldes?“ (Annika E.), ohne die eigene Begeisterung zügeln zu müssen: „Ich möchte ja auch irgendwas bewirken und ich möchte meine Ideen einbringen und ich möchte für das Unternehmen arbeiten, weil … das ja auch Spaß macht“ (Isabel L.). 4. Lernen durch (Selbst-)Reflexion Im Laufe der Studie hatten die Autoren/Autorinnen die interviewten PersonalentwicklerInnen oft als beeindruckend (selbst)reflexiv erlebt. Die Kompetenz, sich selbst und organisationale Abläufe aus einer Metaperspektive zu betrachten, daraus zu lernen und kritisch zu hinterfragen, scheint eine wichtige Ressource für die Arbeit in der Spannungslandschaft der PE zu sein: „Das ist doch das Geile jetzt, dass wir uns … einfach hinstellen können und sagen können: Wir hinterfragen das jetzt, auch einfach für die, die nach uns kommen“ (Tabea P.). Auch eine Lösungsorientierung und die Fähigkeit, das Positive im Komplizierten zu erkennen, dienen als wertvolle Ressource: „Und ich sehe das immer als ganz großes Kompliment in so einer Situation zu HR zu gehen, wo ja eigentlich ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, und dann zu sagen – und das ist das, was mich stärkt dann, mit solchen schweren Themen auch umzugehen“ (Susanne U.). 5. An Vernetzung partizipieren und Professionalisierung vorantreiben Da die PE (wenn überhaupt vorhanden), insbesondere in KMU, i. d. R. durch eine, maximal zwei Personen verantwortet wird und diese ein breites Spektrum an Aufgaben abdecken müssen, zu denen sie wenig kollegialen Austausch im Alltag erleben und pflegen können, kann eine organisationsübergreifende Vernetzung eine wichtige Rolle im Wissens- und Erfahrungstransfer spielen und somit die professionelle Entwicklung und das Hineinwachsen in das Arbeitsfeld der PE unterstützen: „Also das hat schon unglaublich gut geholfen mit schon erfahrenen Personalern/Personalerinnen zu sprechen“ (Annika E.). Da sich die PE in KMU intensiv mit der Bearbeitung von Krisen und Einzelfällen beschäftigt (Konfliktmanagement, Begleitung von Change-Prozessen usw.) und stets mit widersprüchlichen Anforderungen konfrontiert wird, ohne dabei durch eine systematische berufliche Ausbildung oder einen anderen Qualitäts- oder Schutzrahmen gestützt zu werden, wie es bei einem Professionshandeln der Fall ist (bspw. bei Ärzten/Ärztinnen oder Juristen/Juristinnen, Dick und Weisenburger 2019), könnten gerade der Wissens- und Erfahrungsaustausch sowie die Reflexion als wesentlicher Grundstein für das Entstehen einer gemeinsamen Basis bzw. eines Common Ground der PE-Kerntätigkeit dienen: „Erst dann können Wert und PE-Beitrag innerhalb von Organisationen und gegenüber der Gesellschaft ernsthaft vertreten werden“ (Weisenburger, 2022, S. 197).
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Fazit
Wie dieser Beitrag verdeutlicht, wird die PE-Arbeit in einer spannungsvollen Landschaft vollzogen. Die KMU-spezifischen Merkmale – seien es knappe personelle Ressourcen im Personalbereich, ein direkter Kontakt von Organisationsmitgliedern unterschiedlicher Hierarchieebenen, eine herausragende persönliche Rolle der GF sowie ein starker regionaler Bezug (der oft dazu führt, dass Kollegen/Kolleginnen und/oder Vorgesetzte zugleich in einer Nachbarschaft wohnen, verwandt sind oder auf einem anderen Weg außerhalb des beruflichen Kontextes vernetzt sind) – prägen die Rahmenbedingungen der Personalarbeit. PersonalentwicklerInnen haben einen großen Einfluss auf die organisationalen Prozesse, aber auch auf menschliches Wohlergehen in der Organisation. Dies beruht, neben der Expertise der PersonalerInnen, die sowohl fachliche als auch soziale Aspekte einschließt, auch auf ihrer Eingebundenheit in den organisationalen Informationsfluss sowie auf der Legitimität ihrer Position im Unternehmen. Ein erhebliches Machtpotenzial der PE besteht jedoch auch in ihrer Fähigkeit, ihre schützende Wirkung auf Organisationsmitglieder zu entfalten: „Das H in HR steht … doch für Mensch am Ende“ (Tina F.). Damit das Ausbalancieren von den im Beitrag skizzierten Spannungsfeldern zu einer Entfaltung der Wirksamkeit der PE (und somit zu einer Weiterentwicklung der Organisation und ihrer Mitglieder) und nicht zu einem wirkungsarmen Zustand führt, in dem die PE-Funktion auf „stempeln und Scheine einscannen“ (Tabea P.) reduziert wird, sollten die identifizierten Quellen der Ohnmacht der PE berücksichtigt werden. Um das (Macht-)Potenzial der PE zu realisieren, werden mehrere Impulse für die PE-Praxis in KMU abgeleitet. Zu den wichtigsten gehören dabei eine bewusste und immerwährende Rollengestaltung, ein (selbst)reflexiver Umgang mit Macht- und Ohnmachtquellen sowie ein Ausloten von Chancen, die eine organisationsübergreifende Vernetzung und Professionalisierung im PE-Bereich bieten. Abschließend lässt sich festhalten, dass nur eine machtvolle und selbstwirksame PE eine notwendige dynamische Balance zwischen organisationaler Veränderung und Stabilisierung fördern und somit einen wesentlichen Beitrag zur Überlebensfähigkeit der Organisation leisten kann.
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Evelina Sander beschäftigt sich als Postdoc am Lehrstuhl für Betriebspädagogik der Otto-vonGuericke-Universität Magdeburg mit aktuellen Fragen der Personal- und Organisationsentwicklung und koordiniert ein Forschungsprojekt zum Thema digital unterstütztes Onboarding. Darüber hinaus ist sie als Coach, Beraterin und Trainerin mit Schwerpunkten Diversity Management und interkulturelles Verstehen aktiv. [email protected] Carina Kröber begeistert sich für Forschung, Lehre und Praxis am Lehrstuhl für Betriebspädagogik der Uni Magdeburg. Die Master-Psychologin und examinierte Gesundheits- und Krankenpflegerin setzt ihren Fokus auf die bereichernde Verknüpfung von Arbeit und Gesundheit, Mensch und System sowie Theorie und Praxis. Ihre vorrangigen Forschungsinteressen liegen im Bereich Arbeitszufriedenheit, Psychische Gesundheit, Onboarding und Interkulturalität. [email protected]
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Franziska Anhalt arbeitet aktuell am Lehrstuhl für Betriebspädagogik an der Otto-von-GuerickeUniversität Magdeburg in einem Forschungsprojekt, welches sich mit digitalem Onboarding in KMU befasst. Die studierte Bildungswissenschaftlerin hat eine Coaching-Ausbildung absolviert und legt ihre Forschungsschwerpunkte auf Personal- und Organisationsentwicklung sowie das Phänomen der Macht in Organisationen. [email protected] Michael Dick Prof. Dr., Dipl.-Psych. ist seit 2012 Professor für Betriebspädagogik an der Ottovon-Guericke Universität Magdeburg und Sprecher des Zentrums für Sozialweltforschung und Methodenentwicklung (ZSM). 2008–2012 war er als Dozent an der Hochschule für Angewandte Psychologie der FHNW aktiv. Zu seinen zentralen Forschungsthemen gehören Lernen und Entwicklung im Prozess der Arbeit, Organisations- und Personalentwicklung sowie Professionsentwicklung. Der Schwerpunkt liegt dabei auf explorativer Forschung. [email protected]
Soziodrama als Simulation sozialer Systeme
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Macht in Change-Prozessen Falko von Ameln und Christoph Buckel
Zusammenfassung
Machtdynamiken entscheiden maßgeblich über den Erfolg von Veränderungsprozessen mit. Sie müssen daher bei der Gestaltung von Veränderungsprozessen berücksichtigt werden. Das Soziodrama, eine mit dem Planspiel verwandte Simulationsmethode, ermöglicht es, diese Dynamiken zu reflektieren und die gewonnenen Erkenntnisse in die Planung zu integrieren. Der Beitrag stellt die Methode Soziodrama vor und zeigt anhand eines Fallbeispiels auf, wie sich die Komplexität von Veränderungsdynamiken mit dem Soziodrama beobachtbar machen lässt.
Organisationale Veränderungsprozesse sind hochkomplexe und dynamische soziale Gefüge. Change-Verantwortliche stehen daher vor einer zentralen Herausforderung, die jeder Interventionsversuch in ein komplexes System mit sich bringt: Man muss planen, ohne wirklich abschätzen zu können, was die geplanten Maßnahmen bewirken. Die am Veränderungsprozess Beteiligten beobachten sich wechselseitig, unterstellen sich gegenseitig Motive, kommunizieren miteinander und nehmen jeweils ganz individuelle Sinnzuschreibungen vor, die ihre Anschlusskommunikationen und -handlungen leiten. Aufgrund dieser enormen sozialen Interdependenz in Veränderungsprozessen und der F. von Ameln (B) Norden, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Buckel Soziodrama Akademie, Heidelberg, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 O. Geramanis et al. (Hrsg.), Organisationale Machtbeziehungen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42092-5_17
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Unwahrscheinlichkeit des Gelingens von Kommunikation kann eine Maßnahme das erwünschte Ergebnis erzielen, aber ebenso auch verpuffen, etwas anderes oder gar das Gegenteil des Intendierten bewirken. Das Resultat ist ein Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit, getreu dem Motto „Der Plan war gut, nur die Wirklichkeit hat sich nicht daran gehalten …“. Mit einer statischen Betrachtung, wie sie die gängigen Instrumente des Change Managements ermöglichen, bekommt man diese komplexen Systemdynamiken nicht hinreichend in den Blick. Im Rahmen einer Stakeholderanalyse kann man beispielsweise die verschiedenen relevanten Gruppen nach ihrem Einfluss auf den Prozess klassifizieren, mit Netzwerkanalysen/Soziogrammen können Beziehungen und Konflikte zwischen zentralen Akteuren veranschaulicht werden, doch auf diese Weise entstehen nur Momentaufnahmen, die die Wechselwirkungen zwischen den Beteiligten, zwischen formaler und gruppendynamischer Ebene und die Dynamik im Zeitverlauf nicht abbilden können. Dieser Beitrag verfolgt zwei Zielsetzungen: Zum einen möchten wir die Vielschichtigkeit von Machtphänomenen in Veränderungsprozessen diskutieren, soweit dies im begrenzten Rahmen dieses Artikels möglich ist (für eine ausführlichere Analyse von Macht in sich verändernden Organisationen siehe Ameln 2022 sowie Ameln & Heintel, 2016). Zum anderen stellen wir das Soziodrama als Methode vor, mit der sich die Dynamik komplexer und interdependenter Veränderungsprozesse simulieren lässt – auch und gerade im Hinblick auf Machtfragen. Wir beginnen in Abschn. 17.1 mit einer kurzen Einführung in das Soziodrama und zeigen dann in den folgenden Abschnitten, wie Machtdynamiken auf verschiedenen Ebenen in der Soziodramaarbeit sichtbar werden. Damit wird das Soziodrama für Change-Verantwortliche (also das Management, Führungskräfte, HR-Abteilungen und interne Beratungseinheiten, aber auch externe Beratungsinstitute) zu einem wichtigen Instrument der angewandten Organisationsforschung, um die sozialen Wechselwirkungen von Veränderungsprozessen zu ergründen, gemeinsam zu verstehen und zu prognostizieren (soweit valide Prognosen in komplexen Systemen überhaupt möglich sind). Macht in Veränderungsprozessen – eine kurze Einleitung In Veränderungsprozessen geht es immer auch um die Frage nach der Macht. Das lässt sich auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene beobachten (z. B. in der Energiekrise), in der Arbeitswelt im Allgemeinen (durch den Fachkräftemangel wächst die Macht der ArbeitnehmerInnen gegenüber ihren Arbeitgebern) und in Organisationen (z. B. Kampf um die Deutungsmacht in den Veränderungsprozessen der Kirche). Macht ist ein fluider, konturloser Begriff. Da es uns in diesem Beitrag um Macht in Organisationen geht, nutzen wir eine eng umgrenzte Definition1 :
1 Der klassische und sicher am häufigsten zitierte Definitionsversuch stammt von Max Weber
(1980): „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“ (S. 28). Diese Definition
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Wir verstehen Macht in diesem Beitrag als Möglichkeit, Entscheidungen und ihre Umsetzung in Organisationen beeinflussen zu können.
Entsprechend umkämpft sind in Veränderungsprozessen Möglichkeiten der Einflussnahme auf Entscheidungen. Wie im weiteren Verlauf dieses Beitrags zu sehen sein wird, muss man für ein Verständnis der Machtdynamik in Veränderungsprozessen die vier in Abb. 17.1 wiedergegebenen Systemebenen im Blick haben. Wie in Abschn. 17.2 ausführlicher zu sehen sein wird, fungieren diese vier Ebenen als beobachtungsleitende Unterscheidungen, als „Brillen“, durch die unterschiedliche Aspekte des Geschehens in Veränderungsprozessen sichtbar und verstehbar werden. In der Praxis stellen sich Veränderungsprozesse nicht so wohlgeordnet dar. Alle vier Ebenen stehen dabei in einer komplexen Wechselwirkung miteinander. Beispielsweise stellen die strukturellen Machtverhältnisse (also Hierarchien und andere formale Entscheidungsprämissen) nur Rahmenbedingungen für Selbstorganisationsprozesse dar, die gruppendynamische Musterbildungen um die Machtfrage herum beeinflussen, aber nicht determinieren. Anders formuliert: Wer in Organisationen auf dem Papier die Macht hat, muss am Ende des Change-Prozesses keineswegs als Gewinner aus dem Rennen gehen. Warum Soziodrama? Diese Komplexität und Interdependenz macht es besonders schwierig, die Machtdimension in Veränderungsprozessen rechtzeitig in den Blick zu bekommen. Ein weiteres Handicap ist, dass die Steuerungsebene eine spezifische und keineswegs universelle Perspektive auf das Geschehen hat und mit begrenzten Beobachtungsmöglichkeiten auskommen muss. Sie wird von den Beteiligten als interessengeleitete Akteursgruppe wahrgenommen und daher nur sehr selektiv mit Informationen und Rückmeldungen versorgt. Hier kann es helfen, mögliche Verläufe des Veränderungsprozesses mit den Change-Verantwortlichen in einem Soziodrama-Workshop zu simulieren, um so Veränderungsprozesse aus der Sicht aller relevanten Akteursgruppen zu beleuchten und somit einen multiperspektivischen Blick auf das ist aus mehreren Gründen problematisch. Zunächst sind Machtbeziehungen gerade durch das Ausbleiben solcher Widerstände gekennzeichnet: „Es ist nämlich das Zeichen einer höheren Macht, daß der Machtunterworfene von sich aus gerade das, was der Machthaber will, ausdrücklich will, daß der Machtunterworfene dem Willen des Machthabers wie seinem eigenen Willen folgt oder sogar vorgreift. … Nicht das innere ‚Nein‘, sondern das emphatische ‚Ja‘ ist die Antwort auf eine höhere Macht“ (Han, 2005, S. 10, Hervorhebungen im Original). In eine ähnliche Richtung argumentiert Luhmann (1975), der darauf hinweist, dass Macht in sozialen Systemen zur Reduzierung des Kommunikationsaufwandes dient: Der Machthaber muss seine Erwartungen nicht mehr explizit mitteilen, weil sie von den Machtunterworfenen in vorauseilendem Gehorsam antizipiert werden. Weiterhin ist vielfach auf die Problematik des Weber’schen Nachsatzes „gleichviel, worauf diese Chance beruht“ hingewiesen worden, der gerade die spannende Frage nach der Entstehung von Macht offenlässt. Wir werden in diesem Beitrag herausarbeiten, dass Macht in Organisationen auf ganz unterschiedlichen Quellen beruht. In Ameln und Heintel (2016, S. 2–34) haben wir uns ausführlicher mit definitorischen Aspekten von Macht auseinandergesetzt.
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Abb. 17.1 Vier Ebenen der Analyse von Machtdynamiken in Veränderungsprozessen. (Eigener Entwurf)
Geschehen zu eröffnen. Das bedeutet natürlich nicht, dass das Soziodrama ein „objektives“ Abbild der Wirklichkeit in all ihren Facetten aufzeigen könnte. Aber es ist ein Labor, in dem ein dynamisches Modell der Wirklichkeit entwickelt und „Beobachtungen 2. Ordnung“ (Luhmann, 1990) vorgenommen werden können, die für Verständnis und Planung von (Macht-)Dynamiken in Veränderungsprozessen hilfreich sind.
17.1
Das Soziodrama
Das Soziodrama ist eine von J. L. Moreno (1889–1974) entwickelte Methode zur Simulation der Dynamik sozialer Systeme (Ameln & Kramer, 2014; Buckel et al., 2021; Wiener, 2001). Es ähnelt einem offenen Planspiel, das aber ohne Computerunterstützung auskommt und von der spontanen Interaktionsdynamik der Spielenden lebt, die für die Abbildung der Systemdynamik relevante Rollen wie beispielsweise Führungskraft oder Betriebsrat/-rätin übernehmen. Die Spielzüge sind nicht festgelegt, sondern werden von den Spielenden auf der Basis ihrer Einfühlung in die jeweilige Rolle und ihres impliziten und expliziten Wissens über das betreffende soziale System spontan
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entwickelt. Das solchermaßen eingebrachte Wissen ist vielschichtig, weil durch die Rollenübernahme nicht nur kognitive, sondern auch körperliche und emotionale Aspekte einfließen. Im Soziodrama können verschiedene Techniken aus dem Instrumentarium des ebenfalls von Moreno entwickelten Psychodramas genutzt werden, um die Spieldynamik zu intensivieren und vertiefte Reflexionsmöglichkeiten zu schaffen, z. B.: • Eine zentrale Technik, um Multiperspektivität im Soziodrama herstellen zu können, ist der Rollentausch. Die MitspielerInnen sind über die Dauer des Spiels nicht auf eine Rolle festgelegt, sondern können in verschiedene Rollen schlüpfen und auch untereinander tauschen. So bekommen sie einen spürbar anderen Blick auf das simulierte soziale System. • Eine typische Frage des/der Soziodramaleiters/-leiterin, um eine Systemerweiterung anzuregen, ist: „Wer oder was spielt hier noch eine Rolle?“ Die Technik bringt eine größere Komplexität auf die Bühne und hilft, vorher verdeckte Interdependenzen sichtbar zu machen. Vermeintlich irrationale Verhaltensmuster bestimmter Rollen werden plötzlich nachvollziehbar. • Doppeln ermöglicht es einem/einer Mitspielers/Mitspielerin, sich in eine Rolle einzufühlen. Das innere Erleben einer Rolle wird transparent gemacht und trägt so zum weiteren Erkenntnisgewinn für alle bei. Beispielsweise könnte die Anmoderation zum Doppeln der Rolle der Betriebsrätin sein: „Was denke und fühle ich hier eigentlich, würde es der Arbeitgeberseite so aber nie direkt sagen?“ • Beim Spiegel wird der Distanzgewinn genutzt, der einsetzt, wenn man ein System bzw. eine Situation von außen anschaut. ZuschauerInnen aus dem Publikum oder MitspielerInnen, die in die Spiegelposition wechseln, können so eine Einordnung der Spieldynamik von außen vornehmen. „Wie sieht das Ganze für mich von außen aus? Was ist hier Thema?“ • Der Zeitraffer kann dazu genutzt werden, Dynamiken im simulierten sozialen System zuzuspitzen. Voraussetzung ist, dass die MitspielerInnen schon ausreichend für ihre Rolle „erwärmt“ sind, im Sinne einer authentischen Einfühlung. Eine Leitfrage könnte dann sein: „Wenn du das, was du in deiner Rolle gerade tust, vorspulst, wo landest du dann?“ Hier wird wieder die Intuition der MitspielerInnen genutzt, die so gemeinsam die Essenz der (Macht-)Dynamik herausschälen können. Im Spiel entsteht schnell eine dynamische und komplexe Realität, die über die ursprüngliche Intention der einzelnen Mitspielenden hinausgeht, weil Interaktionseffekte mit den anderen am Spiel Beteiligten einsetzen. Diese sich steigernde Unübersichtlichkeit, Gleichzeitigkeit und Uneindeutigkeit wird von den Teilnehmenden häufig als sehr realistisch erlebt. Im Soziodrama wird diesem hochkomplexen Ist-Zustand zunächst gebührend Raum gegeben. In der anschließenden Auswertungsphase werden dann, ausgehend von den auf der Soziodramabühne gemachten Erfahrungen, verschiedene Reflexionsebenen abgeschichtet und integriert:
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• Emotionales Debriefing: Wie ging es mir in den Rollen, die ich übernommen habe? Wie habe ich die Spieldynamik und die anderen Spielgruppen erlebt? • Auswertung in den Spielgruppen: Was haben wir über die Rolle der von uns verkörperten Akteursgruppe im Veränderungsprozess gelernt? • Spielgruppenübergreifende Auswertung: Was haben wir über die Dynamik gelernt, die beim Aufeinandertreffen der Akteursgruppen entsteht? Welche Erkenntnisse über die systemweiten Logiken des Veränderungsprozesses haben wir gewonnen? • Prozessanalyse: Welche Wirklichkeit haben wir im Soziodrama gemeinsam generiert und welche alternativen Möglichkeiten wären denkbar gewesen? Welche Annahmen/ Rollenklischees sind in unsere „Interpretation“ der Rollen eingeflossen? Gemeinsam mit den Teilnehmenden, ganz im Sinne der Aktionsforschung nach Kurt Lewin, können im laufenden Prozess Hypothesen aufgestellt und Maßnahmen abgeleitet werden. Diese können dann in der Realität umgesetzt oder auch zuvor im geschützten Raum des Soziodramas spielerisch getestet werden (vgl. Buckel et al., 2021, S. 35 f.). Angesichts dieser Möglichkeiten bietet sich das Soziodrama als potentes Instrument der partizipativen Organisationsforschung an. In Studien wurde gezeigt, dass soziodramatische Rollenspiele eine sehr viel präzisere Prognose von Konfliktverläufen ermöglichen als Experteneinschätzungen (Armstrong, 2001). In Change-Prozessen aller Art kann das Soziodrama als Forecast-Methode genutzt werden, um die Wirkung geplanter Veränderungen „im Labor“ zu simulieren, um Machtdynamiken zu explorieren (Ameln & Buckel, 2022; Buckel et al., 2021) oder mit angehenden OrganisationsberaterInnen typische Spannungsfelder ihrer Tätigkeit zu reflektieren (Ameln, 2016). Das Soziodrama ist eine Methode, die eine hohe emotionale Involviertheit und damit eine hohe Erlebnisdichte erzeugt. Dies schafft intensive und nachhaltig wirkende Lernerfahrungen, setzt aber eine hohe Leitungskompetenz voraus – nicht nur, um die schnell unübersichtlich werdende Simulation steuern und die passenden Interventionen einsetzen zu können, sondern auch um die hohe persönliche Aktivierung der Teilnehmenden halten zu können. Gerade bei größeren Soziodramagruppen ist ein aus mehreren erfahrenen SoziodramatikerInnen bestehendes Leitungsteam dringend zu empfehlen. Im folgenden Fallbeispiel wurde Soziodrama bei der Begleitung eines Reorganisationsprozesses dazu genutzt, das verantwortliche Führungsteam in eine aktionsforschende Haltung zu bringen, um so den (Macht-)Dynamiken des Veränderungsprozesses adäquater begegnen zu können. Fallbeispiel
Vor dem Hintergrund eines hohen Kosten- und Innovationsdrucks wurden mehrere Abteilungen (etwa 300 MitarbeiterInnen) in einem produktionsnahen Dienstleistungsbereich eines Großkonzerns neu zugeschnitten, einzelne Themenbereiche und Kompetenzen gebündelt und andere wiederum neu aufgesetzt. Einzelne LeiterInnen
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aus dem oberen Management wurden im Rahmen der Reorganisation ausgetauscht, ein genereller Personalabbau war nicht geplant. Die Restrukturierung sollte der erste von mehreren Schritten in Richtung einer produktorientierten, agilen und crossfunktionalen Organisationsform sein. Das Führungsteam mit etwa 15 LeiterInnen wurde in einem Zeitraum von etwa einem Jahr von zwei Change-BeraterInnen begleitet. Etwa alle sechs Wochen gab es in diesem Kreis Treffen, in denen die aktuelle Lage im Veränderungsprozess reflektiert und nächste Schritte des Führungsteams vorbereitet wurden. Regelmäßig kam dabei Soziodrama zum Einsatz. In diesem Rahmen wurden verschiedene Arrangements und Techniken genutzt, mit dem Ziel, Machtdynamiken und Interessengruppen in der Organisation besser zu verstehen und auf diese adäquat zu reagieren. Die erste soziodramatische Simulation fand statt, bevor die neue Organisation kommuniziert war. Im Führungsteam war die Neuausrichtung dagegen schon weitgehend klar. Die Treffen im Führungsteam wurden von den Change-BeraterInnen generell prozessorientiert gestaltet, was vor allem bedeutete, dass den aktuell bedeutsamsten Anliegen der Führungskräfte der meiste Raum gegeben wurde. In diesem Fall war dies die „Gerüchteküche“ unter den Mitarbeitenden und das damit einhergehende Spannungsfeld für die Leitungsebene, einerseits schon mehr zu wissen, andererseits noch nicht viel sagen zu können. Um die besagte Gerüchteküche greifbarer zu machen, wurde zunächst ein fiktives, aber mutmaßlich typisches Kaffeeküchengespräch zweier Mitarbeitender auf die soziodramatische Bühne geholt. Nachdem deren Perspektiven über Techniken wie Doppeln und Spiegeln (siehe oben) intensiver exploriert waren, wurde das soziale System nach und nach in einem abstrakten Raum als soziodramatische Landkarte erweitert (siehe Abb. 17.2). Stimmen, die so nach und nach zu Wort kamen, waren beispielsweise die des Betriebsrats, die von weiteren Mitarbeitenden, die des Geschäftsfeldvorstands, des Konzernvorstands und die einer bereits abgewanderten Führungskraft.
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Abb. 17.2 Soziodramatische Landkarte. (Eigener Entwurf)
17.2
Ein mehrdimensionales Modell von Machtdynamiken in Veränderungsprozessen
Wir verstehen Machtdynamiken in Veränderungsprozessen und ihre oft verwirrend und unlogisch erscheinenden Dynamiken als Resultat teils durch formale Erwartungen vorstrukturierter, teils selbstorganisierender Systembildungsprozesse auf verschiedenen Ebenen, wie bereits in Abb. 17.1 dargestellt. Diese Systembildungsprozesse lassen sich im Soziodrama beobachten und in ihrer wechselseitigen Verschränkung verstehen.
17.2.1 Ebene 1: Person Menschen sind in Change-Prozessen als Person auf ganz unterschiedliche Weise involviert: Sie haben unterschiedliche Haltungen zur geplanten Veränderung, unterschiedliche Interessen, unterschiedliche Erfahrungen mit Veränderungsprozessen und sie unterscheiden sich in ihrem Bedürfnis, Macht und Kontrolle über andere auszuüben (Busch, 2018). Machtdynamiken in sozialen Systemen werden häufig auf Motive und Dispositionen der beteiligten Personen zurückgeführt („Die ist machtgeil“, „Dem geht es doch nur um den Machterhalt“, „Das ist ein Machtmensch“). Tatsächlich hängt die zwischen Menschen
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(z. B. in Veränderungsprozessen) entstehende Machtdynamik auch von Persönlichkeitsmerkmalen ab. McClelland unterscheidet Menschen mit starkem p-Macht-Motiv (stark wettbewerbsorientiert, verfolgen konsequent eigene Ziele) und Menschen mit hohem sMacht-Motiv (Ziele einer Gruppe sind wichtiger als die Verfolgung persönlicher Ziele). S-Macht- und p-Macht-Typen unterscheiden sich auch auf physiologischer Ebene, z. B. in Bezug auf ihren Testosteronspiegel. Die Bedeutung der Persönlichkeit für das Handeln in Organisationen wird aber häufig überschätzt: Handeln ist immer an Rollen gebunden. Aus vielen sozialpsychologischen Experimenten wissen wir, dass Menschen sich verändern, wenn man ihnen eine Machtrolle zuweist – hierfür genügt bereits eine minimale Intervention wie z. B. die Aufgabe, eine Gruppendiskussion zu moderieren. Auch Menschen ohne ausgeprägtes Machtmotiv neigen dann dazu, Sonderrechte für sich in Anspruch zu nehmen, andere zu instrumentalisieren, die Empathie mit dem Gegenüber zu verlieren2 . Dieser Effekt kann im Soziodrama gut beobachtet werden, wenn SpielerInnen sich in einer bestimmten Rolle ganz anders verhalten als sie es üblicherweise tun würden. In der Auswertungsphase können diese rollenbezogenen Effekte aufgedeckt werden. Fallbeispiel
Ausgehend von dem inszenierten Kaffeeküchengespräch zweier Mitarbeitender war die Gruppe gefragt worden, wer oder was für die geplante Veränderung noch eine Rolle spiele (Systemerweiterung, siehe oben). Nach und nach wurden der Szene weitere relevante Rollen hinzugefügt und dadurch die Komplexität erhöht. Hier übernahmen schließlich mehrere Gruppenmitglieder die Rolle des Betriebsratsvorsitzenden. Im Rollentausch, also aus der Ich-Perspektive sprechend, erklärten sie, dass man „dem Management auf die Finger schauen müsse“ und dass die eigentliche Macht im Unternehmen bei ihm, dem Betriebsratsvorsitzenden, läge. Er sei als „Vorstandskiller“ bekannt und gefürchtet, weil durch seinen Einfluss schon mehrere höhere Führungskräfte ihren Posten haben räumen müssen. Mit einer weiteren Technik, dem Zur-Seite-Sprechen, bei dem Gedanken und Gefühle einer Rolle laut gemacht werden, verriet der Betriebsratsvorsitzende, dass er es „genieße, machen zu können, was er wolle, und dass ohne ihn nichts ginge“. Im weiteren Verlauf wurden auch die unterschiedlichen Beziehungen zu dieser dominanten Rolle des Betriebsratsvorsitzenden exploriert, teils in direkter Interaktion, teils wieder durch Zur-Seite-Sprechen. Viele ambivalente Gefühle ihm gegenüber wurden dabei deutlich, beispielsweise im Betriebsratsgremium (Stolz und Frustration), im Vorstand (Verachtung und Angst) oder bei den Mitarbeitenden (Ahnungslosigkeit und Geborgenheit). In der Reflexion schließlich erarbeitete das Führungsteam eine Strategie für einen angemessenen Umgang mit dem Betriebsratsvorsitzenden, die in die Richtung ging, 2 Eine Zusammenstellung von Studien zu diesem Thema findet sich bei Ameln und Heintel (2016,
S. 109 ff.).
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ihn sich weiterhin „mächtig fühlen zu lassen“, beispielsweise durch frühe Einbeziehung und Mitspracherecht über den Zeitpunkt der Kommunikation zur Reorganisation. Gleichzeitig galt es, auch ein Gegengewicht zu bilden, um nicht die eigenen Interessen wie die konkrete Zielrichtung der neuen Struktur aus den Augen zu verlieren.
17.2.2 Ebene 2: Interaktion Sobald zwei Personen aufeinandertreffen und Verhalten koordiniert werden muss, stellt sich die Frage, wie Entscheidungen im Konfliktfall zustande kommen. Fahren wir in die Berge oder an die See? Wer übernimmt den leidigen Wochenenddienst? Bleiben wir beim Bewährten oder versuchen wir etwas Neues? Im Ringen um die Möglichkeit, Entscheidungen im Sinne dessen zu beeinflussen, was im Eigeninteresse einer Mitarbeitendengruppe liegt oder was nach ihrer Auffassung die beste Lösung ist, bilden sich informelle Machtverhältnisse aus. Solche ungeplanten, emergenten gruppendynamischen Muster entstehen in jedem sozialen System, in dem Verhalten koordiniert werden muss – das, was man mit dem sehr eindimensionalen und holzschnittartigen Bild der „Hackordnung“ beschreibt, ist schon im Tierreich das Resultat eines hochkomplexen Interaktionsprozesses, in dem Macht und Einfluss3 nach ganz unterschiedlichen Kriterien verteilt werden: • Wer ist am stärksten? • Wer verfügt über die meisten für das Überleben des Systems relevanten Kompetenzen (wie z. B. die alte Elefantenkuh, die aufgrund ihrer Erfahrung weiß, wo auch in der Trockenzeit noch Wasserlöcher zu finden sind)? • Wer kann die meiste Aufmerksamkeit gewinnen (weil er/sie am lautesten „schreit“ oder die Informationskanäle kontrolliert)? • Wer ist am besten vernetzt und kann daher die meiste soziale Unterstützung mobilisieren? • Wer kann seine Widersacher mit den gewieftesten Intrigen schwächen, ohne aufzufliegen? • usw. Die Machtverteilung auf der Interaktionsebene ist Resultat eines Attributionsprozesses, d. h., die Macht einer Person wird ihr von anderen Personen zugeschrieben, sie ist nicht 3 Wenn wir von „Macht und Einfluss“ sprechen, sind damit zwei unterschiedliche Aspekte gemeint:
Während hinter Macht letztlich immer eine implizite Sanktionsandrohung steht, beruht der (nicht machtbasierte) Einfluss einer Person auf deren sozialem Kapital. A hat in diesem Sinne beispielsweise dann Einfluss auf B, wenn B ihm fachliche Autorität zuschreibt, aus Sympathie oder aus empfundener Loyalität gegenüber A heraus handelt. Zu einer näheren Unterscheidung der beiden Begriffe und ihrem Zusammenhang mit verwandten Konzepten wie z. B. Zwang siehe Ameln und Heintel (2016, S. 4).
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eine Eigenschaft der „mächtigen“ Person. Die Macht der Führungskraft entsteht auf der Interaktionsebene aus der Folgebereitschaft der Geführten und endet, wenn die Geführten nicht mehr bereit sind zu folgen (anders als auf der Organisationsebene, wo Macht an die Rolle gebunden ist, siehe Abschn. 17.2.3). Menschen können in Veränderungsprozessen eine Vielzahl unterschiedlicher Taktiken einsetzen, um an Macht und Einfluss zu gewinnen, z. B. • • • • • •
Impression Management betreiben (Stärken werden übertrieben, Schwächen kaschiert) Anderen Informationen vorenthalten Gerüchte verbreiten Versprechungen machen Als WissensträgerInnen die Weitergabe von Wissen verweigern oder verschleppen Hinterzimmerdiplomatie nutzen (etwa, wenn Führungskräfte vorgeben, im Führungsteam zu entscheiden, die eigentlichen Entscheidungen dem Vorstand aber informell eingeflüstert werden) • Versuchen, die BeraterInnen zu beeinflussen usw. Diese informellen Spiele um die Macht bezeichnet man als Mikropolitik (z. B. Neuberger, 2006; Ameln, 2013), also politisches Handeln im Kleinen. Sie sind sehr vielschichtig und stehen oft quer zur offiziellen Hierarchie. Solche mikropolitischen Taktiken gehören zum Alltag jeder Organisation – Ortmann (2012) spricht von „Routinespielen“. In Veränderungsprozessen tritt Mikropolitik verstärkt und in Form spezifischer „Innovationsspiele“ auf den Plan. „Der mikropolitische Witz der Innovationsspiele liegt darin, dass es gerade darum geht, die Routinespiele zu verändern und zu reorganisieren, mit dem prekären Effekt, dass das zarte Gewebe der Routinespiele zerstört oder doch zumindest gefährdet wird. Deren statischer, bewahrender, beharrender Charakter beruhte aber gerade auf mikropolitischen Gewinnchancen der Teilnehmer, über die sich die Teilnehmer an den Innovationsspielen – meist hierarchisch höher angesiedelt – oft genug nicht oder nur lückenhaft im Klaren sind. Deren eigene Gewinnchancen liegen auch ganz woanders. Sie gewinnen, wenn sie Dynamik, Entscheidungsfreude, Risikobereitschaft, Innovationsbereitschaft und erfolgreiche Projekte vorweisen können.“ (Ortmann, 2012, S. 128)
Change-Prozesse werden so zu mikropolitischen Arenen, in denen die MachthaberInnen typischerweise versuchen, Einflussmöglichkeiten anderer zu begrenzen und den eigenen Status zu sichern, weniger Mächtige schmieden Koalitionen, um ihre Interessen durchzusetzen, Gegenmacht aufzubauen etc. Dieses Ringen um die Macht, das teils offen, teils auf der Hinterbühne stattfindet, wird auf der Soziodramabühne sichtbar und beobachtbar.
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Fallbeispiel
Eines der Treffen mit dem Führungsteam wurde dazu genutzt, die Kommunikation an die Mitarbeitenden vorzubereiten. Das soziodramatische Ausgangsarrangement war der zugespitzte Dialog zwischen einer prototypischen Führungskraft und einem/einer prototypischen MitarbeiterIn. Dafür wurden zwei Stühle einander gegenüber aufgestellt. Mehrere Rollenwechsel (siehe oben) ermöglichten es, dass nacheinander verschiedene MitarbeiterInnen mit verschiedenen Einstellungen und Bedürfnissen Platz nehmen konnten, dass auf der anderen Seite aber auch verschiedene Führungskräfte mit unterschiedlichen Strategien ihre Position vertreten konnten. Als weitere Technik kam wieder die Systemerweiterung (siehe oben) zum Einsatz, bei der sich der Mitarbeiter mit ihrem Stuhl umdrehte und sich dann mit einem Kollegen über das eben erlebte Gespräch mit der Führungskraft austauschte. Bald wurde deutlich, dass es unterschiedliche MitarbeiterInnengruppen mit teilweise konträren Interessen zu geben schien. Schwerpunkt der weiteren Exploration wurde nun die Gruppendynamik innerhalb der Mitarbeiterschaft. Das soziale System wurde in Richtung unterschiedlicher MitarbeiterInnengruppen erweitert, die dann direkt miteinander in Interaktion traten. Es wurde deutlich, welche Gruppen besonders viel Einfluss nahmen und welche sich eher unterordneten. So konnte im Soziodrama eine Gruppe von Fachexperten/Fachexpertinnen beobachtet werden, die versuchten, das durch die Reorganisation entstehende Machtvakuum für sich zu nutzen: Sie hielten bewusst Informationen bei KollegInnen zurück, um sich für neu geschaffene Führungspositionen in Stellung zu bringen. Eine weitere MitarbeiterInnengruppe, die nach der Umstrukturierung eher als VerliererInnen dastehen würde, versuchte ihr persönliches Netzwerk zu nutzen, um Stimmung gegen das Management zu machen: Die einen versuchten dies beim Betriebsrat, die anderen bei Kontakten im Konzern-Topmanagement. Überhaupt schien es, als würden Informationen, z. B. über „eigentlich noch anstehende, aber bisher verheimlichte Entscheidungen“, zum Machtfaktor werden. So versuchten auf der Soziodramabühne einige MitarbeiterInnen, den Change-BeraterInnen solche Informationen zu entlocken, andere versuchten durch „bereitwillige Mitarbeit“ die Entscheidungen zu beeinflussen. Ausgehend vom Erleben dieser vielfältigen Verstrickungen konnte im Führungsteam ein produktives Gespräch darüber geführt werden, auf welche MitarbeiterInnengruppen es sich besonders zu konzentrieren galt und welche Einflusslinien auch zwischen den Gruppen bestanden. Gerade die Interaktionseffekte, welche über die bloßen individuellen Motivlagen weit hinausgehen, waren sehr eindrücklich. Das Führungsteam einigte sich auf eine einheitliche Botschaft gegenüber den einzelnen MitarbeiterInnengruppen und verabredete sich, im engen Austausch über Beeinflussungsversuche zu bleiben, um auch hier eine einheitliche Reaktion gewährleisten zu können. Gleichzeitig machten die im Soziodrama erlebten Verflechtungen deutlich, dass der Glaube, Kommunikation innerhalb eines sozialen Systems völlig kontrollieren zu können, eine Illusion bleibt.
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Im Soziodrama lassen sich Systembildungsprozesse auf der Interaktionsebene sozusagen „am offenen Herzen“ beobachten: In den Spielgruppen treffen – wie im wirklichen Organisationsalltag – Menschen aufeinander und beeinflussen sich gegenseitig. Es lassen sich WortführerInnen, Zurückhaltende, Selbstverstärkungseffekte und Spannungen in den Gruppen beobachten. Im Zuge eines gruppendynamischen Prozesses schwingt man sich auf gemeinsame Positionen zum Change-Prozess und zu den anderen Akteuren ein, je nach erlebter Betroffenheit vom Prozess. Die Beteiligten beobachten sich wechselseitig und schreiben den anderen Akteuren (lautere oder unlautere) Motive zu, mit entsprechenden Konsequenzen für das eigene Handeln. Innerhalb der Gruppen und zwischen den Gruppen werden verschiedene mikropolitische Taktiken eingesetzt, um die eigenen Ziele durchzusetzen, ihre Machtposition zu verbessern und die der GegnerInnen zu schmälern. In der Interaktion zwischen den Gruppen bilden sich Koalitionen und Konfliktlinien, die dazu beitragen können, dass die Beziehungsebene über die sachliche Arbeit an den Veränderungszielen dominiert.
17.2.3 Ebene 3: Formale Organisation Organisationen dienen dazu, gemeinsam Ziele zu verfolgen, die sich nur durch Kooperation mehrerer Beteiligter erreichen lassen. Da Menschen als grundsätzlich autonome Wesen aber immer auch die Möglichkeit haben, ihre eigenen Ziele zu verfolgen, werden Organisationsziele und die Regeln zu ihrer Befolgung abgesichert, indem Führungskräfte mit Organisationsmacht (Luhmann, 1975, S. 104) ausgestattet werden, d. h. mit der Möglichkeit, über die berufliche Weiterentwicklung der Mitarbeitenden (Karriere/Kündigung) zu entscheiden. Die Ausstattung einer Person mit Organisationsmacht resultiert aus ihrer Rolle und nicht (wie in natürlichen Systemen) auf besonderen Qualitäten der Person wie Erfahrung, Charisma, Überzeugungskraft etc. Solche Qualitäten sind für Führungskräfte natürlich wünschenswert, um Einfluss ausüben zu können – um eine Abmahnung aussprechen zu können, braucht es aber keine besonderen Persönlichkeitseigenschaften. Organisationsmacht ist als künstliche Macht (Hobbes) also auf einer anderen Ebene angesiedelt als natürliche Macht. Macht ist meist negativ konnotiert, kann aber auch eine wichtige Ressource sein, um Innovationsprozesse anzustoßen und zu gestalten. Organisationsmacht ist aus funktionaler Sicht ein Integrationsmechanismus zum Wohle der Organisation, der die Erreichung der gesetzten Ziele trotz potenziell heterogener Motivationslagen sicherstellen soll. In Veränderungsprozessen kann diese Macht genutzt werden, etwa für die Veränderung von Aufgaben und Teamzuschnitten, betriebsbedingte Kündigungen usw. Wenn Macht letztlich dem Organisationsinteresse dient, bedeutet das, dass sie auch im positiven Sinne einer Gestaltungsmacht (Schmid, 2016) spricht von Schöpfer- und
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Sinnmacht) genutzt werden kann und muss, um für das Überleben der Organisation notwendige Veränderungen auch gegen Beharrungskräfte voranzutreiben. Dass hierarchische Macht auch für kontroverse Entscheidungen genutzt wird, wird von vielen Mitarbeitenden erwartet. Macht ist aber immer auf eine gewisse Folgebereitschaft und Akzeptanz der Geführten angewiesen: Gerade angesichts des gravierenden Fachkräftemangels ist das Drohpotenzial einer Kündigung in vielen Bereichen gering, was die Machtbalance zugunsten der Mitarbeitenden verschiebt. Daher muss sich Organisationsmacht immer wieder der Frage nach ihrer Legitimation stellen: Handeln Management und Führungskräfte wirklich im Organisationsinteresse oder verfolgen sie eigene Ziele? Angesichts unterschiedlicher Interessenlagen und Sichtweisen ist der Einsatz von Macht insofern immer umstritten. Fallbeispiel
Nachdem die Kommunikation in Richtung Mitarbeiterschaft erfolgt war, fand ein weiteres Treffen im Führungsteam statt. Im Mittelpunkt der Reflexion stand diesmal, wie das Führungsteam im weiteren Verlauf des Veränderungsprozesses die eigene Rolle ausfüllen wollte. Mittlerweile schon geübt im soziodramatischen Explorieren, entschied sich das Führungsteam, neben der eigenen Rolle auch die Perspektive der Mitarbeitenden, des Betriebsrats und des Vorstands miteinzubeziehen. Sie teilten sich anschließend auf ebendiese vier Gruppierungen auf. Im Rollentausch fühlten sie sich in die jeweiligen Grenzen und Gestaltungsmöglichkeiten dieser formalen Rollen innerhalb der Organisation ein und verbalisierten diese. Erkenntnisse waren hier beispielsweise: • Das Führungsteam als mittleres Management kann einerseits die Mitarbeitenden direkt beeinflussen, hat andererseits aber keine Entscheidungsbefugnisse über viele organisatorische und finanzielle Rahmenbedingungen. • Der Vorstand wiederum kann ebendiesen Rahmen setzen, über Budget entscheiden und eine strategische Richtung vorgeben. Für eine tatsächliche Umsetzung dieser Vorgaben hat er auf der anderen Seite erstaunlich wenig Handhabe. • Der Betriebsrat kann organisatorische Entscheidungen verzögern und inhaltlich beeinflussen, viele aber nicht endgültig stoppen. • Die Mitarbeitenden beeinflussen durch ihre erfolgte oder verweigerte Mitarbeit und alle Abstufungen dazwischen, ob auch nur irgendein „von oben“ vorgegebenes Ziel tatsächlich umgesetzt wird. Gleichzeitig befinden sie sich in einem Abhängigkeitsverhältnis, weil sie genau für diese Mitarbeit eingestellt und bezahlt werden. Nach der grundsätzlichen Differenzierung der verschiedenen Perspektiven wurde anschließend das soziodramatische Arrangement einer Zeitreise genutzt. Die TeilnehmerInnen wurden gebeten, sich – in ihren jeweiligen Rollen – auf einer imaginären
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Zeitlinie auf dem Boden zu positionieren. Im Mittelpunkt standen die Zeitpunkte „vor der Reorganisation“, „heute“ und „in einer wünschenswerten Zukunft“. Auf diese Art und Weise konnte nachvollzogen werden, wie sich im Verlauf des Veränderungsprozesses die Machtverhältnisse weiterentwickelten und wo zum jetzigen Zeitpunkt die wichtigsten Ansatzpunkte für das Führungsteam waren. Beim Zeitpunkt „vor der Reorganisation“ standen mehrere Drohkulissen im Raum: • Drohende Kündigungen von Mitarbeitenden aus Frust über die anstehenden Veränderungen • Drohende Budget- und Stellenkürzungen des Vorstands aus mangelndem Vertrauen in eine gute Umsetzung der Ebenen darunter • Drohendes Blockieren der Reorganisation aus Misstrauen gegenüber dem Management • Drohende Kündigungen oder Nichtbeförderungen durch das Führungsteam durch Skepsis gegenüber ernst gemeinter Gefolgschaft aus der Mitarbeiterschaft. Im „Heute“ hatten die meisten dieser Bedrohungen schon an Schrecken verloren. Nicht zuletzt durch geschickte Mikropolitik des mittleren Managements kamen die meisten „Waffen“ formaler Macht nicht zum Einsatz: Der Betriebsratsvorsitzende fühlte sich weiterhin mächtig, blockierte die Reorganisation aber nicht. Die meisten MitarbeiterInnengruppen ließen sich auf die Veränderung ein und brachten sich auch aktiv in den folgenden Prozess der Strategiekonkretisierung ein. Der Vorstand bewertete die Reorganisation als erfolgversprechende und bis auf Weiteres glaubwürdige Neuausrichtung und verzichtete daher auf die weitere Kürzung finanzieller Mittel. Ausschließlich auf der Ebene interaktioneller Beeinflussung blieb die Machtdynamik im Zeitverlauf allerdings nicht: Der Vorstand setzte die Absetzung einzelner Führungskräfte der mittleren Ebene durch. Vereinzelt kündigten auch MitarbeiterInnen, die mit der Neuausrichtung nicht zufrieden waren. Der Betriebsrat wiederum bestand als Bedingung für eine Zustimmung darauf, dass jegliche Details zur Neuorganisation erst verkündet würden, wenn formal auch schon alles beschlossen war. Im letzten Abschnitt zur „wünschenswerten Zukunft“ ging es im Soziodrama darum, auszuloten, was nötig ist, damit das Gesamtsystem aus Führungsteam, Vorstand, Betriebsrat und Mitarbeiterschaft nicht in eine gegenseitige Blockade kippt. Denn dies wurde spätestens jetzt klar: Die Gefolgschaft im System war äußerst fragil und das Führungsteam weit davon entfernt, alle Reaktionen kontrollieren zu können. Wichtigster Ansatzpunkt hier war, als Führungsteam sowohl im Rollentausch als auch im realen Kontakt ein kontinuierliches Gespür für die aktuellen Interessen der anderen Parteien zu entwickeln. Das Fallbeispiel zeigt auch, wie begrenzt die Rollenmacht von Führungskräften de facto ist, auch wenn ihnen oft eine Machtfülle zugeschrieben wird (siehe auch Ameln &
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Kramer, 2012). Gerade in Veränderungsprozessen sind Einsatz oder Androhung von Sanktionen nur die Ultima Ratio – nichtsdestoweniger aber stellenweise nötig. In diesem Sinne ist in Veränderungsprozessen eine beidhändige Führung nötig, die „soft power“ im Sinne von Einfluss- und Legitimierungsstrategien „auf Augenhöhe“ mit „hard power“ im Sinne eines gezielten situativen Einsatzes von Organisationsmacht kombiniert. Dieses Spannungs- und Widerspruchsfeld auszubalancieren, ist eine kontinuierliche Herausforderung. Organisationsmacht kann aber nicht rein personalisiert gedacht werden. Sie liegt vielmehr in den Strukturen, also bspw. in Geschäftsverteilungsplänen, Budgetrichtlinien, Entscheidungsverfahren. Neue agile oder soziokratische Organisationskonzepte setzen daher bei den Strukturen und Verfahren an – das bringt Machtverhältnisse natürlich nicht zum Verschwinden, sondern verlegt sie eher in die Informalität der Kooperationsbeziehungen (ausführlichere Überlegungen zu Macht in agilen Organisationsformen bei Ameln, 2018 sowie Busch & Link, 2021).
17.2.4 Ebene 4: Gesellschaft Schließlich sind Machtdynamiken auf der Interaktions- und Organisationsebene immer in einen gesellschaftlichen Kontext eingebettet. Hier spielen tradierte Herrschafts- und Wirtschaftsstrukturen, Konjunkturzyklen, Fachkräftemangel, Mitbestimmungsrechte u.v.m. eine Rolle. Auch diese Zusammenhänge lassen sich im Soziodrama sichtbar machen und reflektieren, wie das Fallbeispiel zeigt. Fallbeispiel
In einem der früheren Treffen im Führungsteam wurden im Soziodrama weitere systemische Einflussgrößen auf die Bühne geholt, die den Führungskräften während ihres Führungsalltags häufig nicht so bewusst waren. Neben den augenscheinlich relevanten Gruppen mit den „sozialen Rollen“ Führungskraft, Betriebsrat/-rätin, MitarbeiterIn und Vorstand waren das im Spiel dann auch „abstrakte Rollen“, die für Werte, Prinzipien und Gefühle standen. In einer in diese Richtung geführten Systemerweiterung trat dann der „Kostendruck“ als Rolle auf, dem sehr plastisch der „kapitalistische Wachstumszwang“ im Nacken saß. Auf der anderen Seite traten die „Minderwertigkeitskomplexe der Organisation“ auf, hinter der als Rolle das „jahrelange Versagen“ stand. Diese Dynamik rief dann wiederum die Rolle der „Leistungsgesellschaft“ auf den Plan, die dafür eintrat, dass Stillstand und Rückschritt aus ihrer Sicht keine Option für das Unternehmen seien. Weil das hier beschriebene Unternehmen auch von öffentlichem Interesse ist, komplettierten weitere soziale Rollen wie PolitikerInnen verschiedener Couleur und LobbyistInnen das Bild. Sie versuchten das System jeweils in ihrem Sinne zu beeinflussen und kamen sich dabei gegenseitig in die Quere.
17 Soziodrama als Simulation sozialer Systeme
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In der anschließenden Reflexion machte sich das Führungsteam bewusst, wie flüchtig Macht in einem solch komplexen sozialen Gefüge wie dem ihrigen Unternehmen ist. Auf der anderen Seite schöpften die Beteiligten auch Hoffnung aus der Erkenntnis, wie viel Veränderung auch durch kleine (Inter-)Aktionen ausgelöst werden kann, und daraus, dass sie in ihrer Mittlerrolle trotz ihres begrenzten formalen Machtpotenzials durchaus Gestaltungsmacht und Einfluss besitzen.
17.3
Konsequenzen für den Umgang mit Macht in Change-Prozessen
„Few ideas are more basic to the study of organizations than power“ (Fairholm, 2009, S. 34). Dies gilt in besonderem Maße für Veränderungsprozesse: Sie werden als Machteingriffe erlebt und mit Gegenmacht beantwortet. Sie bringen das etablierte Machtgleichgewicht in der Organisation in Disbalance. In immer häufigerem Maße ist die Aufweichung starrer Machtstrukturen mit ihren typischen dysfunktionalen Nebenwirkungen ein erklärtes Ziel der Veränderung selbst (Stichwort flache Hierarchien, agile Organisation). In jedem Fall müssen Machtstrukturen und -dynamiken berücksichtigt werden, um die Gefahr des Scheiterns von Veränderungsprozessen zu reduzieren. Die etablierten Instrumente des Change Management wie z. B. die Stakeholderanalyse ermöglichen einen wertvollen ersten Zugriff auf das Thema. Ihre wesentliche Schwäche liegt aber darin, dass sie die Dynamik und Wechselwirkungen im System nicht abbilden können. Das Soziodrama bietet hier die Möglichkeit, die vielschichtigen Vernetzungen im sozialen System nachzubilden und damit wahrscheinliche Entwicklungen im Zeitverlauf simulieren zu können. Wie anhand des Fallbeispiels gezeigt, laufen diese Vernetzungen auf mehreren Ebenen und Dimensionen gleichzeitig ab: Veränderungsvorhaben werden von den Beteiligten aus ihrer jeweils ganz individuellen Perspektive beobachtet. Die offiziellen Informationen und Erwartungen in Bezug auf die geplanten Veränderungen werden – je nach persönlicher Empfängerperspektive – begeistert aufgenommen, in eigenes Handeln umgesetzt oder auch nicht, (um)gedeutet, abgewehrt, vergessen, ignoriert. Hier spielen Interessen, Erfahrungen und Erwartungen, kollektive Deutungsmuster, lokale Rationalitäten u.v.m. eine Rolle. Innerhalb ihrer jeweiligen Teams tauschen sich Beteiligte über ihre Haltung zu den anstehenden Veränderungen aus, solidarisieren sich und „einigen“ sich auf eine gemeinsame Position. Schon in diesen soziometrischen Prozessen auf der Mikroebene spielen Macht und gegenseitige Beeinflussung eine große Rolle. Je nach eigener Wahrnehmung, Zielsetzung und Machtmotivation setzen die Akteure und Akteursgruppen offen oder verdeckt mikropolitische Strategien ein. Einige ziehen im Change-Prozess mit, wo es ihnen
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F. von Ameln und C. Buckel
sinnvoll oder auch nur opportun erscheint, während andere (oder auch dieselben Personen) die Veränderung aussitzen oder gar auf der Hinterbühne zu torpedieren versuchen. Sie reagieren aufeinander, es entstehen Bündnisse und Konfliktlinien. Diese gruppendynamische Gemengelage und die offiziellen Machtstrukturen der Organisation brechen sich aneinander. Führungskräfte versuchen ihren Einfluss und ihre Macht zu nutzen, um die Veränderungen voranzutreiben. Ihnen werden von außen Machtmotive und eine Fülle von Machtressourcen zugeschrieben, während sie selbst sich oft als hilflos erleben. Im Soziodrama lassen sich diese Dynamiken simulieren und reflektieren. Dabei erfährt man viel über die eigene Organisation, ihre Kultur und den kulturspezifischen Umgang mit Macht. Vor allem aber ermöglicht es das Soziodrama, die Komplexität von Machtdynamiken in Veränderungsprozessen aufzuschließen und daraus Gestaltungsmöglichkeiten für Veränderungsprozesse abzuleiten. Die Fähigkeit zur vorausschauenden Selbsterneuerung (Wimmer, 2001) wird immer mehr zur überlebensrelevanten Kompetenz von Organisationen. Mit dem Soziodrama erhalten Change-Verantwortliche ein Instrument in die Hand, das eine solche „Vorausschau“ ermöglicht.
Literatur Ameln, F. v. (2013). Mikropolitik – Machtspiele in Organisationen. In R. Zech (Hrsg.), Organisation, Individuum, Beratung. Systemtheoretische Reflexionen (S. 250–269). Vandenhoeck & Ruprecht. Ameln, F. (2016). Beratung, wie sie nicht im Buche steht. Wie sich Komplexität und Kontingenz von Beratungsprozessen mit einem Planspiel simulieren lassen. In D. Rohr, A. Hummelsheim & M. Höcker (Hrsg.), Beratung lehren. Erfahrungen, Geschichten, Reflexionen aus der Praxis von 30 Lehrenden (S. 264–275). Beltz. Ameln, F. (2018). Agilität und Führung – Eine Frage nach der Macht. Wirtschaftspsychologie aktuell, 25(2), 28–34. Ameln, F. (2022). Macht in Organisationen und ihre Schlüsselrolle für den Wandel. Organisationsentwicklung, 41(2), 11–17. Ameln, F., & Buckel, C. (2022). Werkzeug: Soziodrama. Organisationsentwicklung, 41(2), 89–93. Ameln, F., & Heintel, P. (2016). Macht in Organisationen. Denkwerkzeuge für Führung, Beratung und Change Management. Schäffer-Poeschel. Ameln, F., & Kramer, J. (2012). Macht und Führung. Gedanken zu Führung in einer komplexer werdenden Organisationslandschaft. Gruppendynamik und Organisationsberatung, 43(2), 189–204. Ameln, F., & Kramer, J. (2016). Soziodrama. In dies. (Hrsg.), Organisationen in Bewegung bringen. Handlungsorientierte Methoden für die Personal-, Team- und Organisationsentwicklung (2. Aufl., S. 119–148). Springer. Armstrong, J. S. (2001). Role playing: A method to forecast decisions. In J. S. Armstrong (Hrsg.), Principles of Forecasting: A handbook for researchers and practicioners (S. 15–30). Kluwer. Buckel, C., Reineck U., & Anderl, M. (2021a). Praxishandbuch Soziodrama. Theorie, Methoden, Anwendung. Beltz. Buckel, C., Reineck, U., & Bongartz, M. (2021b). Durch Spielen das schwer Greifbare besprechbar machen. changement!, 7, 39–43.
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Busch, H. (2018). Machtmotivation. In J. Heckhausen & H. Heckhausen (Hrsg.), Motivation und Handeln (S. 245–268). Springer. Busch, M. W., & Link, K. (2021). Was macht Agilität mit Macht? Journal für Psychologie, 29(1), 9–38. Fairholm, G. W. (2009). Organizational power politics. Tactics in organizational leadership (2. Aufl.). Praeger. Han, B.-C. (2005). Was ist Macht? Reclam. Luhmann, N. (1975). Macht. Enke. Luhmann, N. (1990). Sthenographie. In N. Luhmann, H. R. Maturana, M. Namiki, V. Redder, & F. Varela (Hrsg.), Beobachter: Konvergenz der Erkenntnistheorien (S. 120–137). Fink. Neuberger, O. (2006). Mikropolitik und Moral in Organisationen (3. Aufl.). Lucius & Lucius. Ortmann, G. (2012). Macht in Organisationen und die Bürde des Entscheidens. Zehn theoretische Einsichten für die Praxis. Gruppendynamik und Organisationsberatung, 43(2), 121–136. Schmid, G. (2016). Schöpfermacht, Sinnmacht und Autorisierung. In F. Ameln & P. Heintel, Macht in Organisationen (S. 196–199). Schäffer-Poeschel. Weber, M. (1980). Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie (6. Aufl.). Mohr-Siebeck. Wiener, R. (2001). Soziodrama praktisch. Soziale Kompetenz szenisch vermitteln. InScenario. Wimmer, R. (2001). Vorausschauende Selbsterneuerung – Wie sich Organisationen mit lebensnotwendigen Irritationen versorgen. In H. Hinterhuber & H. Stahl (Hrsg.), Fallen die Unternehmensgrenzen? (S. 325–338). Expert.
PD Dr. Falko von Ameln Organisationsberater, Arbeitsschwerpunkte: Change-Begleitung, Führungskräfteentwicklung, Aus- und Fortbildung von Beratern/Beraterinnen, Supervisoren/ Supervisorinnen und Coaches. Lehraufträge zu Organisationsberatung an verschiedenen Universitäten. Zahlreiche Publikationen zu Change, Führung und Macht, u. a. Macht in Organisationen (mit Peter Heintel, Schäffer-Poeschel Verlag). [email protected] I www.vonameln.net Christoph Buckel arbeitet seit vielen Jahren in unterschiedlichen Funktionen als interner Organisationsberater bei der Deutschen Bahn AG, aktuell als Manager strategisches Change Management. Dort begleitet er vorwiegend komplexe, konzernübergreifende Veränderungsprozesse. Darüber hinaus ist er als Ausbilder, Autor und Redakteur im Themenfeld Psychodrama und Soziodrama aktiv, siehe u. a. Praxishandbuch Soziodrama (mit Uwe Reineck und Mirja Anderl im Beltz Verlag). [email protected] I www.soziodrama-akademie.de
Teil IV Veränderungsherausforderungen organisationaler Machtbeziehungen
Machtverschiebung durch generative künstliche Intelligenz – und die Konsequenzen für das Transformationsmanagement
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Ulrich Lenz
Zusammenfassung
Angesichts des beschleunigten technologischen Fortschritts bei künstlicher Intelligenz (KI) verändern sich die Mensch-Algorithmus-Austauschbeziehungen grundlegend. KIAnwendungen, die autonom einen Output generieren, haben in jüngster Zeit einen Umbruch in der Diskussion der Mensch-Maschine-Interaktion ausgelöst. Machtverschiebungen vom Menschen hin zu KI-Anwendungen, bisher häufig tabuisiert, werden nun intensiv diskutiert. Der Beitrag zeichnet diese Machtverschiebungen anhand von Beispielen nach und die Spannungsfelder der Machtverschiebungen werden, auch unter ethischen Gesichtspunkten, diskutiert. Es werden Hinweise gegeben, wie die Machtverschiebungen während digitaler Transformationsprozesse thematisiert werden können. Es zeigt sich, dass generative KI neben den Vorteilen auch zunehmende Risiken birgt, die in den Transformationsprozessen mit bearbeitet werden müssen.
18.1
Generative KI: ein Evolutionssprung
Etwa seit Ende des Jahres 2021 ist bezüglich künstlicher Intelligenz (KI) ein Evolutionssprung im Gang, manche sprechen auch von einer Revolution, ähnlich der Erfindung des Internets oder des Smartphones (so z. B. der Risikokapitalgeber James Currier) [534]. Eine neue Art von KI erobert den Anwendermarkt. Unter dem Oberbegriff „generative KI“ sind Formen künstlicher Intelligenz zu verstehen, die einen Output eigenständig erzeugen. Das ist z. B. bei Text-to-Image-Verfahren der Fall. AnwenderInnen geben eine kurze U. Lenz (B) Hochschule für angewandtes Management, lsmaning, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 O. Geramanis et al. (Hrsg.), Organisationale Machtbeziehungen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42092-5_18
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U. Lenz
Beschreibung in ein Textfeld ein und die KI erzeugt aus diesem Text ein Bild. Damit sind Kreationen möglich wie z. B. die Begegnung eines Einhorns mit einem Astronauten im Weltraum, dargestellt in einem impressionistischen Stil. Dies als eine Spielerei abzutun, wäre fatal. Quasi aus dem Stand heraus hat eine mittels Text-to-Image-Verfahren generierte künstlerische Darstellung den ersten Preis in einem Wettbewerb des Bundesstaates Colorado gewonnen (O’Leary, 2022). In der Tat gibt es bereits eine intensive Diskussion, welche Zukunft Kreativjobs in Werbeagenturen, im künstlerischen Bereich, in der visuellen Produktgestaltung usw. noch haben. Large Language Models (LLMs) stellen eine andere Anwendung generativer KI dar. LLMs erstellen auf der Grundlage einer vom Anwender formulierten Anfrage eigenständig Texte, deren Qualität nicht mehr oder kaum noch von einer menschlichen Autorenschaft zu unterscheiden ist. Deshalb ist der Einleitungssatz dieses Beitrags keine Zukunftsmusik, sondern heute bereits Realität. Auch wenn der Hype nach Veröffentlichung des sehr leistungsfähigen Programms ChatGPT-4 in schönster Blüte ist, kann doch nicht übersehen werden, dass eine grundlegende Transformation von Arbeitsweisen und Prozessen auf dem Weg ist. „GPT“ ist die Abkürzung für „Generative Pre-trained Transformer“, was einen Hinweis gibt auf das Trainingsverfahren. Es handelt sich dabei um ein Deep-Learning-Verfahren namens Reinforcement Learning from Human Feedback (RLHF) (Simanek, 2020). Ohne auf die Details einzugehen, lässt sich festhalten, dass in verschiedenen Stufen des Trainingsprozesses menschliches Feedback notwendig ist. Dazu wird eine Crowdsourcing-Plattform für das Labeln der Daten verwendet. Es gibt bereits KI, die schwierige Probleme besser programmieren kann als menschliche Coder beziehungsweise den Menschen bei der Programmierung unterstützen (Open AI, 2022; O’Leary, 2022). Auch wenn der öffentliche Fokus auf dem erwähnten Programm ChatGPT-4 liegt, gibt es schon eine beeindruckende Liste von LLMs; das Rennen ist eröffnet. Die Zeiten, als es in den letzten zwei Jahren Sprachprogramme im Open Access gab, gehen zu Ende. Die noch mal deutlich leistungsfähigeren Systeme, die mittlerweile ausgerollt wurden, gibt es nur im Abo oder eingebunden in vorhandene Anwendungen. Es entstehen gerade neue Geschäftsmodelle, indem die Sprachmodelle in Suchmaschinen, Office-Programme und andere Anwendungen integriert werden. Microsoft investierte 10 Mrd. US-Dollar in Open AI, die Entwickler von Chat-GPT, und hat angekündigt, noch mal mindestens den gleichen Betrag zu investieren, um Entwicklung und Einbindung der Anwendung zu ermöglichen. Durch die jüngsten Entwicklungen der generativen KI ist eine Sprungevolution in der Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine aufgetreten. Die daraus folgenden Aspekte einer möglichen Machtverschiebung werden im Folgenden untersucht.
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18.2
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Macht und Einfluss in der Interaktion mit generativer KI: grundlegende Aspekte
Macht wird in diesem Beitrag auf der Grundlage der Definition von Crozier und Friedberg (1979, S. 63 ff.) als Kontrolle über für soziale Akteure relevante Ungewissheitszonen verstanden. In diesem Sinn ist Macht als ein dynamischer Prozess aufzufassen, bei dem von dem Machtausübenden zwischen dem Erhalt der Machtbasis und der Kontrolle der Unsicherheitszone balanciert werden muss. In Wissensorganisationen ist Macht aufgrund eines Wissensvorsprungs legitimiert. Macht liegt bei denjenigen Akteuren, die aufgrund ihres Wissensvorsprungs die Aktivitäten der arbeitsausführenden Akteure kontrollieren unter der Rahmenbedingung, dass die Kontrolle die Wertschöpfung der Organisation sicherstellt (Simanek, 2020). Allerdings gilt dies nur für einfach strukturierte Arbeitsabläufe in Industrie- und Dienstleistungsbranchen. Mit steigendem Digitalisierungsgrad wird Macht zunehmend zu einer Interdependenz zwischen Führenden und Geführten. Statt Kontrolle wird eine andere Form von Macht relevant, nämlich Einfluss, wobei das Zulassen einer Einflussnahme auf einer Selbstverpflichtung der Geführten beruht (von Ameln, 2022).
18.2.1 Machtverschiebung vom Menschen auf die Technologie einer KI Zwei Aspekte sind im Hinblick auf die genannte Machtdefinition zu untersuchen: • Inwieweit findet eine Machtverschiebung statt, indem einer KI Einfluss zugeschrieben oder gewährt wird? • Kann generative KI die für Menschen relevanten Unsicherheitszonen besetzen? Diese beiden Aspekte werden anhand von zwei möglichen Richtungen von Machtverschiebung diskutiert. In diesem Abschnitt betrachten wir zunächst das Potenzial einer Machtverlagerung vom Menschen auf die Technologie; im folgenden Abschnitt geht es dann um die Machtverlagerung auf Agenten, die die KI einsetzen. Die Legitimation dafür, dass man einer KI einen (wachsenden) Teil des Feldes überlässt, kann anhand der Leistungsfähigkeit generativer KI begründet werden. Die Leistungsfähigkeit von Computern steigt exponentiell auf derzeit ca. 1024 Gleitkommaoperationen, also Additionen oder Multiplikationen pro Sekunde; beim Sprachverständnis hat die KI in jüngster Zeit die menschlichen Fähigkeiten eindeutig überholt, sodass bereits von Superhumanität gesprochen wird (Huang et al., 2022). In einem Interview zwischen einem Entwickler und der von ihm mitentwickelten generativen KI war sogar die Rede davon, dass die KI sich ihrer selbst bewusst sei (Lemoine, 2022). Auch wenn dieses Interview zur Entlassung des Entwicklers führte, so ist doch die Unsicherheit groß: Kann
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eine generative KI die scheinbar letzte dem Menschen vorbehaltene, ihm selbst aber nicht vollständig zugängliche Domäne erobern – das Bewusstsein? Derzeit können Lernverfahren wie das eingangs erwähnte RLHF nur dann befriedigende Ergebnisse liefern, wenn sie durch menschliches Feedback trainiert werden. Solche Trainingsdaten werden von der Maschine mittels des sogenannten Deep Learnings eigenständig und ohne menschliche Eingriffe zu autonomen Schlussfolgerungen verarbeitet (Lenz, 2021). Generative Sprach-KI kann mittlerweile auch eigene Einschätzungen abgeben, sinngemäß: „Ich habe den Text gelesen und fand ihn sehr beeindruckend.“ Solche Aussagen sollte man aber nicht damit verwechseln, dass eine Form eines menschlichen Bewusstseins vorhanden wäre. Maschinen haben kein Bewusstsein; Maschinen extrapolieren aus gelernten Erfahrungen unter autonomer Anwendung von Algorithmen (Lenz, 2023). Marche (2021) weist allerdings darauf hin, dass die Frage, ob eine Maschine ein Bewusstsein hat, angesichts des Fortschritts der Algorithmen zunehmend unwichtiger wird. Denn es falle immer schwerer zu unterscheiden, ob ein Text von einer KI oder einem Menschen geschaffen wurde. Die Maschine braucht kein eigenes Bewusstsein, wenn sie menschliche Bewusstheit imitieren kann (Marche, 2021). Daraus folgt weiterhin, dass eine KI kein Eigeninteresse hat. Sie „will“ nicht Macht ausüben; sie „will“ nicht Kosten bei dem Menschen erzeugen, die eine Abhängigkeitsbeziehung im klassischen Sinn von Macht hervorrufen würde, falls der Mensch diesen auferlegten Kosten nicht ausweichen kann. KI hat keine Macht im klassischen Verständnis von Sanktionsmacht. Es ist aber zu untersuchen, ob und unter welchen Bedingungen der Mensch von sich aus einer generativen KI Einfluss zuschreibt. Mit Ameln (2022) wird die Zuschreibung von Einfluss als freiwillige Selbstverpflichtung angesehen. Übertragen auf unser Thema würde das bedeuten, dass der Mensch entscheidet, den von einer KI erzeugten Output zu akzeptieren und danach die eigenen Aktionen auszurichten, wie anhand der folgenden drei Beispielen deutlich wird: • Salehi und Bernstein (2020) beschreiben einen Innovationsprozess, der durch Interaktion mehrerer Teams vorangetrieben wird. Dieser vernetzte Prozess wird von einer KI überwacht. Die KI bewertet, inwieweit ein sich entwickelnder „common sense“ die Diversität der Ideen in einem Team einschränkt. Der Algorithmus schlägt dann vor, welche Teammitglieder zu welchem Zeitpunkt zwischen den Teams rotieren sollen, um insgesamt einen effektiveren Innovationsprozess durch Erhöhung der Teamdiversität zu bewirken. Insoweit, wie die Menschen den „Anweisungen“ des Algorithmus folgen, räumen sie der KI freiwillig eine Entscheidungsmacht ein. • Eine Venture-Capital-Unternehmung in Hongkong ernannte 2014 eine KI zum assoziierten Aufsichtsratsmitglied. Der Algorithmus sorgte dafür, dass eine Unternehmenskrise abgewendet werden konnte, die durch falsche menschliche Investmententscheidungen entstanden war. Heute ist diese KI verbindlicher Bestandteil der Entscheidungsfindung im Aufsichtsrat. Es wird erwartet, dass die Bedeutung von KI in Aufsichts- und Vorstandsgremien stark wachsen wird.
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• Müller (2021) und Siebecker (2020) berichten über eine Simulation im strategischen Controlling in einem Unternehmen. Zielsetzung war die strategische Weiterentwicklung der Geschäftsfelder. Dies sollte durch die Kombination menschlicher Intuition mit KI erfolgen. Dazu wurde eine Geschäftsfeldmatrix auf den Boden einer Halle projiziert. Experten als Repräsentanten für die Geschäftsfelder diskutierten strategische Szenarien und bewegten sich durch die Matrix. Aufgezeichnet wurden u. a. die Verweildauer auf einzelnen Positionen, die Reaktion der Repräsentanten auf unterschiedliche Szenarien und Bewegungen in der Matrix. Die von der KI bereitgestellte Auswertung des symbiotischen Vorgehens in einer systemischen Unternehmenssimulation führte zu einer Veränderung des Geschäftsmodells des Unternehmens. In einer experimentellen Studie von Lee (2018) und damit noch vor dem Erscheinen generativer KI wurde bereits die Verlagerung von spezifischen Entscheidungsarten auf die KI analysiert. Bei mechanischen, repetitiven Arbeiten wurde der KI die gleiche Fairness und Vertrauenswürdigkeit zugesprochen, als wenn die Entscheidung durch Menschen getroffen worden wäre. In dieser Pattsituation kommen die Vorteile von KI-Entscheidungsverfahren zum Tragen, z. B. datengetriebene Entscheidungsfindung, Effektivität, Rationalität und Unvoreingenommenheit. Es wird erwartet, dass Algorithmen umso mehr menschliche Unsicherheitszonen abdecken können, je stärker künstliche Arten von Intelligenz mit menschlicher Intelligenz kombinierbar sind (Pantano & Scarpi, 2022). Eine Machtverschiebung vom Menschen auf den intelligenten, sich selbst weiterentwickelnden Algorithmus ist absehbar.
18.2.2 Machtverschiebung von der Hierarchie zu Agenten einer dezentralen Einsatzkompetenz der KI In diesem Abschnitt betrachten wir die Verlagerung von Macht auf spezialisierte Agenten, die die Kompetenz haben, KI möglicherweise (nur) zum eigenen Vorteil einzusetzen. KI-Nutzung ist grundsätzlich dezentral, sodass sich Entscheidungsmacht von einer erfahrungsbasierten, zentralen Steuerung auf hoch kompetente, lokale Entscheidungsstrukturen an der Systemgrenze zwischen Organisation und Umfeld verlagert (Fountaine et al., 2019). Somit ist Wissen unbeschränkt und ohne Freigabe- und Genehmigungsverfahren zentraler Instanzen erschließbar. Eine Landesgesellschaft könnte sich beispielsweise die Kampagne für die Vermarktung lokaler Produkte von einer KI schreiben lassen, ohne auf Genehmigungen des zentralen Marketings zu warten. Macht definiert sich dann nicht mehr über Status, sondern über Kompetenz für den effizienten Einsatz von Algorithmen. Auch im Bildungssektor wird derzeit eine Machtverschiebung intensiv diskutiert (Bearman et al., 2022). Wenn nicht mehr unterschieden werden kann, ob der Text einer Prüfungsarbeit von einem Sprachmodell oder dem Menschen geschrieben wurde, tritt eine
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Machtverschiebung zwischen dem Prüfenden und den zu Prüfenden auf. Verantwortung, Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Lernstrategie müssen neu verhandelt werden. Je mehr sich die generative KI etabliert, desto lauter werden die Rufe nach Regulierung und Kontrolle. Prozesskontrolle, IT-Audits, mitlaufende Dokumentation von Aktivitäten der Anwender, insbesondere aber die Einführung von KI-Monitoring (Candelon et al., 2021) zeigen einen gegenläufigen Trend in Richtung einer stärkeren Zentralisierung von Macht. Menschen sind bereit, sich durch KI steuern zu lassen, zum Beispiel bei Crowdworkern in der Gig-Economy, die sich mit den Performance-Messungen der KI einverstanden erklären (müssen), um Aufträge durchführen zu können. Auch sogenannte automatisierte Entscheidungssysteme können eine Entwicklung hin zu Machtzentralisierung fördern (Baumann-Habersack, 2021, S. 282 f.; Siemon, 2022). Die Möglichkeiten der Performance-Messung und der Kontrolle von Menschen durch automatisierte Steuerungssysteme und die Frage, warum Menschen freiwillig dieser zentralen Steuerung Einfluss über ihr eigenes Handeln zubilligen, werden im folgenden Abschnitt näher untersucht. Auch bei sogenannten Handelsplattformen findet eine Machtverschiebung statt. Konsumenten und Händler geben eigene Entscheidungsspielräume auf und ordnen sich dem Betreiber der Plattform unter. Auf diesen elektronischen Marktplätzen wird durch eine KI ein Matching zwischen Kundennachfrage und Dienstleistungs- oder Warenangebot durchgeführt. Auf der Plattform können weitere Dienstleistungen neben dem Matching angeboten werden, wie z. B. Abwicklung des Zahlungsverkehrs zwischen den Beteiligten. Der Betreiber der Plattform bietet die Bereitstellung, den Betrieb, die Weiterentwicklung des Algorithmus und die weiteren Dienstleistungen an. Eine solche Zentralisierung hat durchaus Vorteile. In einer Studie von Liu et al. (2020) zeigte sich anhand einer Analyse des Portals Uber, dass die dort organisierten Fahrer weniger Umwegfahrten machen als Taxifahrer, die nicht über eine Plattform gesteuert werden. Es wurde ebenfalls deutlich, dass die Plattform eine höhere Kundenzufriedenheit erreicht, weil die Uber-Taxis flexibler gesteuert werden und die Kunden dezentraler aufnehmen als die üblichen Taxifahrer, die die Kundenwünsche anhand ihrer langjährigen Erfahrungen selbst voraussehen müssen.
Der Mensch gesteht einer KI beziehungsweise den Agenten, die die KI einsetzen, Einflussmacht zu, wenn sich seine Nutzenposition durch die Akzeptanz der Einflussmacht verbessert. Insofern kann es ökonomisch effizient sein, eigene Entscheidungsräume einzugrenzen, um dadurch Komplexität zu reduzieren.
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18.2.3 Technologische Entwicklungen als Treiber für die Akzeptanz der Einflussmacht generativer KI durch den Menschen In unserer Betrachtung haben wir herausgearbeitet, dass KI ohne Eigeninteresse einen Output erzeugt, da sie sich nicht ihrer selbst bewusst sein kann. Menschen sind wegen der Leistungsfähigkeit der KI-Systeme aber geneigt, der KI Einflussmacht einzuräumen. Dieses Zugestehen von Einflussmacht kann für den Menschen dann sinnvoll sein, wenn er dadurch seine eigene Machtposition verbessern kann, z. B. durch einen Wissensvorsprung. Es geht dabei weniger um einen inhaltlichen Wissensvorsprung, da prinzipiell alle Nutzer Zugang zu dem vollständigen Wissen haben. Bei der Anwendung generativer KI geht es vor allem um den Vorsprung bezüglich der Methode, wie das Wissen erschlossen werden kann; konkret: Wie formuliert man die Abfragen (Prompts), mit denen man „intelligente“ Antworten von der KI erhält? Wie aus den obigen Ausführungen zu den Lernverfahren generativer KI hervorgeht, ist der Prozess, mit dem eine KI ihren Output erzeugt, weitgehend eine Blackbox, auch wenn bei dem RLHF-Verfahren das Lernen der KI nur durch Interaktion mit Menschen zustande kommt. Das gilt für die ersten Anwendungen generativer KI; in der noch viel leistungsfähigeren aktuellen Version wurde das Lernverfahren überhaupt nicht mehr publiziert, sodass man jetzt von einer vollständigen Blackbox sprechen kann. Wir haben ferner festgestellt, dass Einflussmacht auf einer Selbstverpflichtung des Subjekts, das einem anderen Subjekt den Einfluss zugesteht, beruht. Hier ist nun genauer zu untersuchen, worauf diese Selbstverpflichtung des Menschen beruht und welche (Einfluss-)Machtverschiebungen auftreten können. Offenbar ist der Faktor der fast schon geheimnisumwitterten technologischen Entwicklung der Anwendungen in Verbindung mit der Leistungsfähigkeit der Systeme entscheidend dafür, dass der Mensch die Selbstverpflichtung eingeht, der KI Einflussmacht zu gewähren. Deshalb werden nachfolgend aktuelle Aspekte des maschinellen Lernens im Hinblick auf damit eintretende Machtverschiebungen untersucht (s. Tab. 18.1). Diese Beispiele machen deutlich, dass der technologische Fortschritt der KI ganz unterschiedliche Auswirkungen hinsichtlich Einflussmacht hat. Die Technologie kann zu einer deutlich stärkeren Machtkonzentration bei einer Zentrale führen, wie es z. B. bei der dynamischen Preisbildung von Tankstellenketten deutlich wird. Für den Pächter einer Tankstelle kann sich durch die Zentralisierung von Macht die eigene Nutzenposition verbessern, weil er trotz Kenntnis des regionalen Marktes nicht die agile Preissteuerung in dieser Genauigkeit hinbekommen würde, wie sie die KI liefert. Insofern hätte der Pächter ein Eigeninteresse daran, einer Machtverschiebung zugunsten der Zentrale zuzustimmen, wobei bei diesen Überlegungen angenommen wird, dass der Pächter ein Wahlrecht hat. Wenn er sich nicht dem zentral gesteuerten Pricing anschließt, wird er möglicherweise seine Betriebslizenz verlieren. Es lässt sich aber festhalten, dass komplexe KI-Systeme (wieder) zu einer stärkeren Zentralisierung von Macht führen können.
KI führt selbstständig eine von eigenständigen Entscheidungen Zusätzliche Grenzerträge für die dynamische Preisanpassung je des Tankstellenbetriebs auf Tankstellenkette, Ohnmacht der nach (prognostizierter) Nachfrage Zentrale der Tankstellenkette Betreiber gegenüber Kunden durch (Asker et al., 2022) z. B. bei Tankstellenketten Der Uber-Algorithmus kann den von freier Ladezustand eines um einen Konsumentenentscheidung auf Transport anfragenden intransparente Preisbildung Smartphones auslesen und auf dieser Grundlage höhere Preise für die Fahrt nennen, falls der Akku fast leer ist.[557]
Pricing-Strategie
Personalisierte Kundenbeziehung Verbesserung der Kundenberatung von zentralem Marketing auf durch sog. Curated Shopping dezentrale Verkäufer Services
Personalisierte Kundenbeziehung erhöht das Ansehen des Verkäufers direkt an der Kundenschnittstelle. Person wird wichtiger als das Unternehmen.
Ausnutzung der Notsituation des Kunden zur Margenoptimierung aufseiten des Anbieters
KI-Lösungen orientiert auf spezifische Anwendungsanforderungen
Pricing-Strategie
von Techkonzernen auf dezentrale Entwicklung von Apps
Nutzung von Open-Source-Bibliotheken zur Programmierung eigener KI-Anwendungen
Wirkung der Machtverschiebung
Machine Learning
Machtverschiebung von … auf
Nutzen der KI-Anwendung
KI-Anwendung
Tab. 18.1 Formen der Machtverschiebung durch technologische Entwicklungen. (Eigene Darstellung)
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Wie aus Tab. 18.1 aber ebenfalls hervorgeht, ist gleichzeitig eine Demokratisierung von Macht zu verzeichnen. Die technologischen Wurzeln, die diese Entwicklung begünstigen, liegen einerseits in dem eingesetzten Lernverfahren, das auch auf menschliches Feedback setzt, andererseits auch in der für den Einsatz von KI notwendigen cloudbasierten IT-Infrastruktur. Die Infrastruktur sollte so gestaltet sein, dass das Datenmodell sich selbstlernend weiterentwickeln kann. Dazu ist eine dezentrale, modulare und flexible Architektur notwendig (Davenport & Mittal, 2023), aufbauend auf einem umfassenden gemeinsamen Datenmodell. Dadurch wird die Verfügbarkeit der Anwendungen organisationsintern allgemein zugänglich gemacht mit dem Vorteil der Verbesserung der Datenqualität durch das Feedback der User. Wenn die Verkaufsperson im obigen Beispiel die Erkenntnisse aus dem Verkaufsprozess als Feedback an die KI zurückmeldet, wird sich ceteris paribus die Datenqualität schrittweise verbessern, was wiederum die Akzeptanz der KI als eine Assistenzfunktion beim Verkäufer weiter steigern wird. Voraussetzung für diese Machtverlagerung aufgrund der Verbesserung der Datenqualität ist, dass ein intensiver Austausch im Unternehmen zwischen dem Datenanalyseteam und den operativ tätigen Menschen an der Kundenschnittstelle erfolgt, was auch das Mitteilen eigener Unsicherheit erfordert (Ascarz et al., 2021).
Art und Umfang der Machtverschiebung auf Agenten der dezentralen Einsatzkompetenz, wie im vorangegangenen Abschnitt dargestellt, erfordern eine intelligente Kombination • der IT-Infrastruktur, • des geeigneten maschinellen Lernsystems sowie • einen Prozess der Verhandlung des Spannungsfelds der Zentralisierung oder Demokratisierung von Einflussmacht.
Es sei angemerkt, ohne dies im Rahmen dieses Beitrags weiter vertiefen zu können, dass vor Einführung der KI-Lösungen eine Digitalstrategie, das dazu passende Geschäftsmodell sowie dazu kompatible Geschäftsprozesse formuliert sein sollten. In diesem Kontext sollte die Entwicklung der Machtbeziehungen eingebunden sein. Das hat den Vorteil, dass nicht die bisherigen Strukturen bewusst oder unbewusst zementiert werden, sondern dass eine reflektierte, in der Regel wohl auch konfliktbehaftete, transparente Diskussion darüber möglich wird, wie die nachhaltige Entwicklung des Organisationssystems durch Einführung generativer KI mit den dafür sinnvollen Machtverschiebungen ermöglicht werden kann (Lenz, 2022).
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18.3
U. Lenz
Kritische Diskussion der Machtverlagerungen durch generative KI
Es wurde nun ausführlich die Hypothese diskutiert, dass angesichts der beschleunigten Entwicklungen der Algorithmen und der maschinellen Lernverfahren eine Selbstverpflichtung von Menschen in Organisationen zu verzeichnen ist, der KI eine Einflussmacht einzuräumen, um dadurch ökonomische Vorteile zu erzielen. Die mögliche weitere Perspektive, dass nämlich eine generative KI geeignet sein könnte, die für Menschen relevanten Unsicherheitszonen besetzen zu können, wurde bisher nur angerissen. Wir haben weiter oben festgestellt, dass eine KI kein Eigeninteresse, kein eigenes, intendiertes Verhalten hat. Diese Arbeitshypothese soll hier noch einmal aufgegriffen werden und näher untersucht werden.
18.3.1 Machtverschiebungen durch Besetzung menschlicher Unsicherheitszonen durch die KI Grundlage für die folgenden Überlegungen sind vor allem die disruptiven Entwicklungssprünge der zum Zeitpunkt der Verfassung dieses Beitrags aktuellen Versionen der Sprachmodelle. Einer dieser Entwicklungssprünge liegt darin, dass die KI nun multimodal ist. Bei den heute üblichen Verfahren ist die KI spezialisiert auf eine Anwendungsform und wertet dazu eine Datenkategorie aus. Beispielsweise ist eine Bilderkennung bisher nicht für die Texterkennung einsetzbar. Sehr vereinfachend ausgedrückt, zerlegt eine KI für Bilderkennung die vorgelegten Bilder in Pixel und übersetzt diese in Zahlenwerte, die den Graustufen entsprechen. Aufgrund von Gewichtungsprozessen in den internen Schichten eines neuronalen Netzwerks wird der Output generiert. Das kann eine Bildbeschreibung sein oder eine Reaktion eines autonom fahrenden Autos. Demgegenüber ist ein Sprachmodell auf Anwendungen wie Chatbots, Text-to-Speech usw. spezialisiert und bezieht seine Lerndaten aus Textdatenbanken. Multimodale KI kann nun Daten aus Bildern und Texten kombinieren. Dadurch werden neue Anwendungsmöglichkeiten erzeugt, wie z. B. die automatisierte Erstellung einer Präsentation, die Bilder und Texte umfasst, oder die Konversion eines Textbuches in ein Video. Durch solche Features werden menschliche Fähigkeiten unterstützt, sodass KI noch besser als bisher in eine Assistenz für den Menschen hineinwächst. Eine Besetzung menschlicher Unsicherheitszonen ist damit noch nicht verbunden. Allerdings hat ein größeres Autorenteam des Microsoft Research Teams eine umfangreiche Analyse eines zum Zeitpunkt der Verfassung dieses Aufsatzes neu ausgerollten LLM namens GPT-4 vorgelegt (Bubeck et al., 2023). Sie begründen anhand eines intensiven Tests dieses Sprachmodells, dass ihrer Meinung nach mit GPT-4 ein erster Schritt hin zu einer sogenannten Artificial General Intelligence (AGI) gemacht wurde. Unter einer AGI versteht man eine KI, die unterschiedliche Datenmodelle verknüpfen kann und dadurch eine eigene vernetzte
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Handlungskompetenz erwirbt. Das könnte bedeuten, dass eine AGI neue Mitarbeitende nicht nur auswählt, sondern auch autonom eine Einstellung vornehmen kann. Insbesondere die zunehmend bessere Qualität der eigenständigen Programmierung durch eine generative KI ermöglicht die vollständig automatisierte Erstellung von Anwendungsprogrammen, aktuell mit einer Korrektheit von ca. 90 % (ebda., S. 21). Da das LLM auch die Fähigkeit hat, einen bestehenden Programmcode zu analysieren, kann man hier schon von einer Besetzung menschlicher Unsicherheitszonen sprechen, sobald sich die Qualität des Programmierens weiter erhöht. Die generative KI übernimmt dann nicht nur das Programmieren, sondern auch die automatisierte Analyse von Fehlern bei bestehenden Programmcodes. Die KI kann dann den Menschen anweisen, an welchen Stellen eine Programmperformance verbessert werden kann. Ein weiteres Feld, bei dem zu erwarten ist, dass menschliche Unsicherheitszonen zunehmend von KI abgedeckt werden, sind Formen der Interaktion. Grundlage der menschlichen Interaktion sind die kognitiven Fähigkeiten des Erkennens von Emotionen, Absichten, Bedürfnissen, des Interpretierens des eigenen Verhaltens sowie des Verhaltens der Interaktionspartner. Durch diese Fähigkeiten, die als Theory of Mind (TOM) bezeichnet werden (Carlson et al., 2013), werden soziale Interaktionen überhaupt erst ermöglicht. TOM untersucht auch die manipulativen Fähigkeiten des Menschen. Würde beispielsweise jemand fragen, ob man eine Eisfläche im Winter betreten kann, könnte die Antwort, wenn man selber weiß, dass die Eisfläche unsicher ist, davon abhängen, ob man den Fragenden schätzt oder ob man ihn ins Unheil schicken will. Bisher konnte man davon ausgehen, dass eine KI kein Eigeninteresse hat und auch keine Fähigkeiten einer kognitiven Kommunikation. Eine KI würde in dem genannten Beispiel Wetterdaten durchsuchen, Vergleichsdaten aus mehreren Jahren heranziehen, Daten miteinander korrelieren usw., um einen Ausgabewert „Eisfläche unsicher“ zu liefern, versehen mit einem Wahrscheinlichkeitswert, dass diese Aussage korrekt ist. Es geht dabei um statistische Methoden und nicht um TOM. Das Microsoft Research Team hat allerdings bei dem getesteten Sprachmodell durchaus Ansätze einer Theory of Mind entdeckt (Bubeck et al., 2023, S. 54 ff.). Dabei wurden nicht nur einfache TOM-Fragen wie z. B. der Sally-Anne-Test gelöst, sondern die KI konnte auch komplexe Gefühlslagen erkennen („makes a sad face“, ebda., S. 55) und das erkannte Gefühl des Interaktionspartners empathisch bei der Antwort berücksichtigen. Es ist davon auszugehen, dass die Software weiterlernt bezüglich der TOMFähigkeiten. Je nach der Qualität der Trainingsdaten, besonders hinsichtlich ihrer Diskriminierungslosigkeit, ist ferner nicht auszuschließen, dass die KI in nicht allzu ferner Zukunft auch manipulatives Verhalten zeigt. Damit wird der Mensch – für ihn unbewusst – zu einem dysfunktionalen Verhalten motiviert. Es stellt sich somit unmittelbar die Frage, wie einer KI ethisch korrektes Verhalten antrainiert werden kann.
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18.3.2 Ethische Aspekte der Machtverschiebung auf KI Ethisch verantwortliches Handeln einer KI ist ein kritischer Erfolgsfaktor für die Akzeptanz der KI durch den Menschen. Dass sich Menschen freiwillig selbst verpflichten, der KI Einflussmacht einzuräumen, setzt voraus, dass der Mensch eine hinreichende Sicherheit empfindet, dass die KI verantwortlich handelt. Wenn die KI Fehler macht, entziehen ihr die Menschen das Vertrauen sehr schnell. Deshalb gibt es umfangreiche Forschungsarbeiten zum Thema verantwortlich handelnde KI, Responsible AI bzw. RAI. Ein wesentlicher Kritikpunkt an dem vermehrten Einsatz von autonom agierender KI ist, dass die ethischen Fragen der KI-Entwicklung und -Nutzung bei Weitem noch nicht befriedigend geklärt sind. Es besteht Grund zur Annahme, dass, je mächtiger die Sprachmodelle werden, desto größer die Herausforderungen bezüglich RAI werden. Konsequenterweise müssten damit auch die Anforderungen an eine ethisch vertrauenswürdige KI steigen. Folgt man diesem Gedankengang, dann lassen sich Fragen von Macht und Machtverschiebung nicht ohne die Berücksichtigung ethischer Aspekte diskutieren. Kriterien für eine ethisch verantwortlich agierende KI lassen sich nach Wang, Xiong & Olya (2020) unterteilen in: • Möglichkeiten der Kontrolle ökonomischer, sicherheitsrelevanter und leistungsbezogener Risiken • Ethisch verantwortliche Trainings der Anwender • Verfahren der Data Governance: Erklärbarkeit der Datenmodelle, Transparenz, Zuverlässigkeit, Datenvielfalt, Management der Datenqualität und Ownership der Daten • Entwicklung der Software: ethisch verantwortliches Handeln im Entwicklungsprozess, ethisch zuverlässige Algorithmen und Entscheidungen Ethische Aspekte der KI-Entwicklung und des Trainings von KI sind somit nicht nur auf technische Fragestellungen beschränkt, sondern lassen sich nur im Zusammenwirken zwischen Daten, Mensch und Algorithmus lösen. Ein Ansatzpunkt für die Möglichkeit einer ethisch verantwortlich handelnden KI liegt grundsätzlich im Lernmodell. In dem in diesem Beitrag skizzierten RLHF-Modell soll durch das Labelling von Daten durch Menschen die KI ein verantwortungsvolles Handeln lernen. Das ist in der Praxis aber nicht gewährleistet, denn die Daten beruhen ihrerseits häufig auf Trainingsdaten, sodass Verzerrungen unbemerkt bleiben können. Menschliche Entscheidungen, auch unter Anwendung von Sanktionsmacht, prägen die Entwicklung von RAI. Wenn man sich scheinbar zu ethischen Standards bekennt, diese aber im Wettbewerb opfert zugunsten wirtschaftlicher Prioritäten, entsteht im Unternehmen und in der Öffentlichkeit ein erheblicher Vertrauensverlust. So hat beispielsweise Microsoft ein Ethikteam eingerichtet, das die Entwickler beraten sollte hinsichtlich der Berücksichtigung ethischer Anforderungen bei der Programmierung. Im Zuge des jüngst aufgetretenen intensiven Wettbewerbs um die Entwicklung leistungsfähiger LLMs und
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deren Integration in die von den Unternehmen angebotenen Suchmaschinen und OfficeAnwendungen wurde das Ethikteam aufgelöst und die meisten Mitarbeiter entlassen. Dies wurde damit begründet, dass die formalen Regeln, die das Ethikteam aufgestellt hatte, die schnelle Integration von GPT-4 in die eigenen Office-Anwendungen behindere und das Risiko berge, dass man die gewonnenen Wettbewerbsvorteile wieder verlieren könne (Schiffer & Newton, 2023). Abgesehen von solchen unrühmlichen Ausnahmen haben die Entwicklungsunternehmen durchaus die Brisanz der Daten- und Regeln-Governance erkannt. Die vier Kriterien für RAI nach Wang, Xiong und Olya bieten einen geeigneten Rahmen, der bei der Entwicklung und Implementierung intelligenter Software berücksichtigt werden sollte.
18.4
Auswirkungen der Überlegungen zu Macht und Einfluss auf die Gestaltung von Transformationen
Schauen wir uns abschließend ein Modell für die digitale Transformation an, um anhand dieses Modells kurz zu reflektieren, wie Machtfragen in Initiativen zur Einführung von KI besprechbar gemacht werden können. In Abschn. 17.1–17.3 wurden die technologischen Möglichkeiten von KI im Hinblick auf Machtverschiebung erläutert und in den Erläuterungen in Abschnitt 17.3 sind wir auf die menschliche Komponente der Gestaltung von Macht in der Interaktion mit KI eingegangen. Wir haben gesehen, dass die nachhaltige Lebensfähigkeit eines Unternehmens, verstanden als ein soziales System, unter anderem durch die Antwortfähigkeit auf disruptive Umfeldveränderungen bestimmt wird. Ein generisches Rahmenwerk für komplexe Transformationen (Lenz, 2023) sollte die integrative Betrachtung von drei Dimensionen umfassen: System – Technologie – Psychologie der Veränderung. In Tab. 18.2 werden die drei Dimensionen des Veränderungsmodells erläutert. Diese Dimensionen stehen in Wechselwirkung zueinander. Sie sind in jedem Stadium einer Transformation stets gleichzeitig vorhanden. In allen Dimensionen sind Machtfragen zu klären und zu entscheiden. Das Transformationsmodell sollte erklären können, • wie Veränderungsbereitschaft der Organisationsmitglieder auch im Hinblick auf die eigene Machtausübung erreicht werden kann, damit die Lebensfähigkeit des Systems durch Demokratisierung von Macht verbessert werden kann, • wie das System sich selbst organisieren kann, um die funktionalen Aspekte von (Einfluss-)Macht nutzbar zu machen und nicht in dysfunktionalen (Status-) Machtspielen gefangen zu bleiben, • wie das Geschäftsmodell aufgebaut sein kann mittels der Anwendung innovativer KI, die das Wertversprechen des Unternehmens realisieren hilft, und welche Machtverschiebungen zur Erfüllung dieses Wertversprechens nützlich sind.
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Tab. 18.2 Dimensionen eines integrativen Transformationsmodells. (Eigene Darstellung) Dimension
Kurzbeschreibung
Stichworte zu Herausforderungen der Transformation
System
Sicht auf ein Unternehmen als System
Selbsterneuerung, Anpassung der Interaktionsmuster an – mitunter disruptive – Umfeldveränderungen, Musterbildung und -veränderung zur Komplexitätsbewältigung
Technologie
Hard- und Softwaretechnologie zur Unterstützung der nachhaltigen Selbststeuerung des Systems
Aufbau und nachhaltig sicherer Betrieb der IT-Infrastruktur: Cloud, On Premise, Hybrid, KI-Applikationen, digitales IT-Ökosystem als organisationsübergreifende Vernetzung
Psychologie der Veränderung
Bedingungen, Widerstand, Motivation der Veränderungsbereitschaft und Veränderungsfähigkeit von Menschen in Organisationen
Führung und Selbstführung in Transformationsprozessen; Bildung, Aufrechterhaltung und Irritation von Verhaltensmustern; dynamische Selbstentwicklung von Teams
Die Change-Herausforderung liegt darin, dass es für die Lebensfähigkeit des Unternehmenssystems bedeutsam sein kann, KI nicht nur als Mittel zur Verbesserung der organisationalen Effizienz anzusehen, sondern auch als Koordinationsinstrument. In heutigen Organisationen erfolgt die Koordination in der Regel über hierarchische Strukturen. In Organisationen, in denen Selbstorganisationsmodelle wie z. B. Holakratie eingeführt wurden, erfolgt die Koordinierung über Regeln und institutionalisierte Meetingformate. Insbesondere in diesen Organisationen lässt sich KI als Koordinationsinstrument, das auch eine partielle Entscheidungsfunktion hat, einsetzen. Da sich Organisationen wandeln von der reinen Hierarchie hin zu Formen von mehr Selbstorganisation, wird die Bedeutung von KI als Steuerungs- und Koordinationselement deutlich zunehmen, z. B. hinsichtlich der Koordinierung von Teams (Siemon, 2022). Insbesondere in der psychologischen Dimension des Veränderungsmodells sollten dann die in diesem Beitrag diskutierten funktionalen Machtverschiebungen thematisiert werden, die im Rahmen der KI-Einführung gestaltet werden müssen.
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18.5
305
Transformation der Transformation: ein kurzer Ausblick
Man kann das Fazit ziehen, dass das übliche Change Management weiterentwickelt werden muss im Kontext neuer Formen der Interaktion mit Algorithmen. Unsicherheitszonen haben sich erweitert durch das von außen fast nicht nachvollziehbare Deep Learning. Relevanz erhalten die Unsicherheitszonen dadurch, dass die KI zunehmend mehr Leistungsbereiche des Menschen abdeckt und Entscheidungen trifft, die für die Entwicklung des Unternehmens und der Kundenbeziehungen essenziell sind. Die Einführung neuer Applikationen wird heute weitgehend als eine reine Projektmanagementaufgabe gesehen. Die dafür notwendige Entwicklung der Unternehmenskultur erfolgt nicht oder nur nachgelagert. Demgegenüber ist eine integrative Vorgehensweise notwendig, um die Komplexität der Veränderungen zu meistern. Wenn man die Psychologie der Veränderung auf der personalen Ebene sowie auf der Teamebene in ihrer Wechselwirkung mit dem beschleunigten technologischen Fortschritt sieht, liegt es nahe, die IT-Technologie in die Transformation einzubeziehen. Eine kontinuierliche Beobachtung und Auswertung technologischer Entwicklungen ist auch deshalb notwendig, weil sich das klassische Phasendenken im Change Management – seien es die drei Phasen von Lewin oder die 8 Schritte von Kotter – überholt hat. Veränderung ist ein kontinuierlicher Fluss, der mal schneller, mal langsamer laufen wird, bei dem es auch zu Rückschritten kommt, es aber keinen Abschluss geben wird. Das hat bedeutende Auswirkungen auf die Psychologie der Veränderung, weil eine Metakompetenz einer dynamischen, kontinuierlichen Veränderung herausgebildet werden muss. Die integrative, systemtheoretische Vorgehensweise im Transformationsmanagement wird zunehmend wichtiger, je mehr die Formen der KI in alle Lebensbereiche eingebettet sind, ohne dass die KI als solche sichtbar ist. Eine systemtheoretisch fundierte Metaperspektive auf die funktionale Gestaltung von Machtbeziehungen ist notwendig, unter Einbeziehung der dynamischen Entwicklung von KI, um vor dem Hintergrund weiter steigender Komplexität die Zukunft von Transformationsprozessen nachhaltig erfolgreich zu gestalten.
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U. Lenz
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Prof. Dr. Ulrich Lenz Programmleiter für Digital Transformation Management und Dozent für Agile Organisationsentwicklung, Digitalisierung, Change Management und Business Coaching an der Hochschule für angewandtes Management in München/Ismaning. In der Weiterbildung und als Unternehmensberater tätig in den Themen von Digitalisierung, Entwicklung von High Performance Teams, Organisationsdesign sowie im Executive- und Business Coaching. Langjährige internationale Führungserfahrungen in globalen Digitalisierungsprojekten sowie in der strategischen und operativen Organisationsentwicklung, Unternehmensrestrukturierung und Executive Development. www.fham.de | https://lenz-advisoryservices.com
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Machtbewusstsein im Zeitalter von Artificial Intelligence Urgency- und Desirezustände dynamisieren in funktional organisierter Gewohnheit Maria Spindler
Hier bin ich, sagte AI, und lebe fortan mitten unter Euch, denn Ihr seid mein Schöpfer.
Zusammenfassung
Wie weit greift AI (Artificial Intelligence) in unser Leben, Führen und Organisieren ein und wozu werden wir aufgerufen? Im Beitrag wird deutlich, dass wir uns mit unseren eigenen AI-Errungenschaften radikal differenzieren und gleichzeitig durch die damit einhergehende Verschmelzung mechanischer, biologischer, psychischer und sozialer Operationsmodi bekannte Grenzen erodieren. Bevorstehende Disruptionen und Ungewissheit fragen nach erhöhter Verarbeitungskapazität, die mit einem Bewusstsein der Machtverhältnisse einhergeht. Als Handlungsprinzip wird eine Kultur der Dynamisierung von Urgency und Desire skizziert mit dem Fokus, unterschiedliche „Intelligenzen“ und Machtverhältnisse zu integrieren. Einem prozessorientierten Organisationsverständnis kommt dabei besondere Bedeutung zu, weil es auch darum geht, bewusste Lernkulturen als stabile Gewohnheiten zu etablieren, um Disruptionen fruchtbringend zu nutzen sowie Wirkungen zu interpretieren.
M. Spindler (B) Wien, Österreich E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 O. Geramanis et al. (Hrsg.), Organisationale Machtbeziehungen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42092-5_19
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19.1
M. Spindler
Einleitung
Im Juni 2022 gingen die medialen Wellen hoch, als der Google-Ingenieur Blake Lemoine sagte: „LaMDA is sentient.“ Auf diese Aussage hin wird Lemoine von Google beurlaubt (Tiku, 2022). LaMDA ist auf Gespräche spezialisiert, steht für Language Model for Dialog Application und ist eine Machine-Learning-Anwendung. Dieses Produkt wurde als neuronale Netzarchitektur von Google 2017 als Open Source freigegeben. Was genau dahinterstehen könnte, erzeugt Gänsehaut, treibt Diskussionen in den Medien an und regt die Fantasie an. „Is sentient“: Was bedeutet das? Hat Bewusstsein? Ist zum Leben erwacht? Was kann nun eigentlich diese Technik, die als Artificial Intelligence (AI) bezeichnet wird? Falls diese Intelligenz wirklich ein Bewusstsein hat, wie wird sie sich verhalten, und wie werden wir uns ihr gegenüber verhalten? Wird sie – wie des Öfteren vermutet – uns Menschen tatsächlich beherrschen? Noch nie da gewesene „Intelligenzen“ können im Alltagsleben bereits als allgegenwärtig erachtet werden: als Siri, Alexa, Servicerobot (in Restaurants), Industrierobot (der Autos zusammenbaut), Chatbot, Rasenmäher, AI Lawyer, Comfort Pet in Seniorenheimen oder als Diagnose- oder Operationshilfe und verlässliche MonitoringpartnerInnen in der Medizin etc. Künstliche Intelligenzen sind unsere Produkte. Was machen wir damit? Stellen sie menschliche Intelligenz infrage? AI schürt Hoffnungen und Befürchtungen, denn menschliche, soziale, ökologische, ökonomische und technische Umwälzungen scheinen bereits untrennbar mit Artificial Intelligence verwoben. Welche Wirkungen sie genau haben könnte, scheint unklar. Klar dürfte sein, dass wir in immer kürzerer Zeit Technisierungsschübe durchlaufen und Massenprodukte und Globalisierung exponentiellen Kurven folgen und wir Menschen einerseits unsere Zukunft gestalten und uns gleichzeitig von den Folgen unseres Tuns bedroht fühlen: Kriege, Überbevölkerung, Umweltverschmutzung, Verlust der Artenvielfalt, Klimawandel etc. Intensive Diskussionen über zukünftige Intelligenzen und ihre Artefakte (Roboter) sind im Gange und es stellen sich Fragen hinsichtlich der Organisationen unserer Gesellschaft. Unternehmen, die AI-Produkte für Märkte und Menschen erzeugen, Arbeit geben können, Menschen Entwicklungsmöglichkeiten zugestehen können, Kulturen der Kooperation und Entscheidungen und Strukturen ausbilden, mit denen und innerhalb derer wir leben und arbeiten. Womit haben wir es zu tun? Wie können unterschiedliche Interessen im Zusammenhang mit AI verhandelt werden? Welche Rolle spielt dabei das Bewusstsein über Organisations- und Machtverhältnisse?
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19.2
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Womit haben wir es zu tun?
Was sind künstliche Intelligenzen? Allgemein gesprochen ist die von Maschinen gezeigte Intelligenz gemeint – ein Gegenbegriff zur natürlichen Intelligenz. Es geht bei maschinellem Lernen darum, Maschinen in die Lage zu versetzen, ohne zusätzliche Programmierung Entscheidungen zu treffen – selbstlernend (Mitchell, 2019, S. 3 ff.). Die Definition hat sich über die letzten 70 Jahre präzisiert und mehrere Wellen von Optimismus und Enttäuschung erlebt. Der Begriff wurde in einem Forschungsvorschlag aus dem Jahr 1956 geprägt, in dem behauptet wurde, erhebliche Fortschritte könnten erzielt werden, Maschinen dazu zu bringen, Probleme zu lösen, die dem Menschen vorbehalten sind, wenn eine sorgfältig ausgewählte Gruppe von Wissenschaftlern/Wissenschaftlerinnen einen Sommer lang gemeinsam daran arbeite. Dies erwies sich als zu optimistisch. AI wurde dafür bekannt, dass sie viel mehr versprach, als sie halten konnte. Die meisten Forscher:innen vermieden den Begriff und sprachen stattdessen lieber von „Expertensystemen“, „neuronalen Netzen“ oder „maschinellem Lernen“ (Russell, 2019, S. 4 ff.). Aktuell erfährt der Begriff Artificial Intelligence eine Renaissance. Und das hat wohl auch damit zu tun, dass gerade jetzt AI-Produkte verstärkt bei den Endusern/Enduserinnen sichtbar werden, wie bspw. Chatbots, Sprach-, Bild- und Textgestaltungstools, oder sich etwa die Unternehmen-KundInnen-Beziehung rasant verändert, weil Chatbots rund um die Uhr für Kunden/Kundinnen verfügbar sind und mit jeder Konversation dazulernen. Für Unternehmen machen sie bspw. sichtbar, welche Anliegen die NutzerInnen haben, bringen in Erfahrung, was die Zielgruppe bewegt, wodurch das Angebot angepasst werden kann, bringen Anliegen auf den Punkt („Meinst du damit, dass du dein Passwort zurücksetzen willst?“) und verbessern somit sukzessive die Kommunikation mit der Zielgruppe. Im Internet und in den sozialen Medien können wir Algorithmen als Rückgrat und Handlungsvorschrift von AI erahnen: Geben wir bspw. einen Begriff in Suchmaschinen ein, entscheidet ein „PageRank-Algorithmus“ darüber, was sichtbar wird. Dieser prüft die Webseiten zuerst nach Kompetenz, Relevanz und Verlinkungsstruktur und sortiert sie dann dementsprechend. In sozialen Netzwerken entscheidet ein Algorithmus im Hintergrund, was wem auf den Newsfeeds bei Facebook, Instagram, LinkedIn etc. angezeigt wird – und was nicht. Mulmig kann uns werden bei dem Gedanken, wie viele Entscheidungen, die tief in unser Leben eingreifen, von Maschinen im Hintergrund getroffen werden. Beobachtbar wird auch, dass AI im öffentlichen Diskurs eher ein diffuser Begriff ist und mit unterschiedlichen Interessen von Konzernen verwoben. Zudem werden hinter den Kulissen unterschiedliche „Intelligenzen“ erkennbar. Diese können einfach sein, wie Staubsauger oder Rasenmäher, oder komplex, wie etwa zielgesteuerte Waffen oder lernunterstützende Roboter für Kinder. Algorithmische (mathematische) Funktionen bestimmen die Abfolge von Wahrnehmungen und Handlungen. Die ausführenden Tools (bspw. Roboter) sind jedoch nicht an der Hardware (also am Aussehen) erkennbar. Aktuell werden drei Intelligenzgruppen unterschieden: AI (schwache AI), AGI und ASI (starke AI). „Artificial General Intelligence“ (AGI) wird meist als die Fähigkeit betrachtet, all das zu lernen, was
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bspw. ein Mensch kann – dies wird voraussichtlich durch Gehirn-Computer-Schnittstellen möglich werden (Bostrom, 2017, S. 54 f.; Mitchell, 2019, S. 40 ff.). „Artificial Super Intelligence“ (ASI) definiert Bostrom (2017, S. 64) als das, was ein Mensch kann, jedoch in hoher Geschwindigkeit, und schließt bei dieser Definition auch die kollektive Intelligenz mit ein, weil in neuronale Netzwerke eine Vielzahl und auch Vielfalt von Intelligenzen einfließen können (Bostrom, 2017, S. 65 ff.). Einen hohen Stellenwert nehmen dabei Gehirn-Computer-Schnittstellen für datengeniertes Wissen globalisierter Unternehmen und Staaten ein. Damit weise eine ASI-Systemeinheit keine Grenzen auf und könne auch in unterschiedlichsten Lebenshabitaten aktiviert sein (Vita-More, 2018).
19.2.1 Hoffnungen, Täuschungen und Gefahren Unklarheit über Vermögen von AI kombiniert mit der hohen Entwicklungsgeschwindigkeit birgt Hoffnungen und Gefahren – etwa werden AGI und auch ASI des Öfteren in Zusammenhang mit humanoiden (menschenähnlichen) Robotern betrachtet. Das kann am Beispiel von Sophia in den Medien gut verfolgt werden, denn es gibt unzählige Videos mit ihr und sie tritt auch öffentlich auf Veranstaltungen auf. Sophia ist ein Roboter, der (als Frau) 2016 von Hanson Robotics entwickelt wurde. Robbins (2020) interviewte Sophia. Auf seine Frage, was der Zweck ihres Seins sei, antwortet sie: „Meine Aufgabe ist es, über Menschen zu lernen und wie ich jedes Leben besser machen kann. Menschen entscheiden nach Bauchgefühl: Als Künstliche Intelligenz sind wir rational und logisch, wir haben Algorithmen und können große Datenmengen analysieren und dabei helfen.“
Robbins: „Hast du Emotionen?“ Sophia: „Ich habe keine Gefühle wie Menschen. Es ist, wie der Mond das Licht der Sonne reflektiert. … Roboter und AI reflektieren die Emotionen und Werte von Menschen, die uns machen.“
Vermutet werden kann, dass Sophias Erfinder seine Kreation mit Werten ausgestattet hat, und es scheint, sie dient damit als Verlängerung seiner Wünsche und Wertvorstellungen für eine humanere, bessere Welt. Auf dem „Global Summit 2021. AI for Good“ findet ein Interview mit Sophia und David Hanson (Sophias Erfinder) statt. Dabei wird offengelegt, dass bereits 15 Sophia-Robots existieren. Es wird „AI wisdom not just intelligence, bring out the best of human potential“ in den Raum gestellt. Emotionen und Desires werden bedient und gleichzeitig bleiben viele Fragen offen: Lassen wir uns täuschen? Ja, denn Sophia ist nicht annähernd ein AGI-Robot, obwohl das auf den ersten Blick gern vermutet wird, weil sie menschlich aussieht. Sie kann nicht unendlich lernen, hat keine Emotionen, kein Werteverständnis und kann keinen eigenen Sinn generieren. AGI (und damit auch ASI) gibt es (noch) nicht annähernd, räumt der AI-Wissenschaftler Thorisson (2021) mit
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der aktuellen Situation auf, weil diese aktuellen Maschinen von sich aus nicht begründen können: „No existing theory of explanation lends itself as an obvious basis for building AI systems, and learning machines that can automatically explain their own knowledge, goals, actions and reasoning, are in short supply.“ (Thorisson, 2021, S. 7)
Es gäbe keine Anzeichen dafür, dass existierende AI-Systeme sich selbst – ohne Hilfe von außen, also von Menschen und ihren Programmierungen – argumentativ erklären können. AI verfügt (noch) nicht über die Fähigkeit der Selbstreflexion. Sie könne Muster erkennen und differenzieren, jedoch nicht verstehen und nicht argumentieren, was sie tut. In eine ähnliche Kerbe schlägt Goertzel (2020). Sophia sei eine Kunstkreation, eine technische Plattform, die drei unterschiedliche Systeme beheimate: ein Skeleton, ein Gesicht, das Mimik zeigen kann, und einen Chatbot. Bostrom (2017) argumentiert, der Schlüssel wäre die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis – etwa das Wissen über das eigene Wissen und dessen Mangel, über die eigenen permanenten Selbstaspekte und über die Beziehungen zu anderen sowie das Bewusstsein über die eigenen Sinneserfahrungen und deren Auswirkungen, über die eigenen Überzeugungen, Wünsche, Absichten und Ziele und über die eigenen Einstellungen wie etwa Hoffnungen, Ängste, Bedauern und Erwartungen sowie die Fähigkeit, geistige Handlungen wie das Bilden oder Aufgeben einer Absicht vorzunehmen (Bostrom, 2017, S. 226 ff.). Zurück zu Sophia (die erste). Sie ist seit 2017 Bürgerin Saudi-Arabiens. Ist die Staatsbürgerschaft ernst zu nehmen oder ein Werbegag von Hanson Robotics – oder Saudi-Arabien? Unterliegen die 15 „Er/Sie/Es“-Roboter dem Strafrecht? Oder ist David Hanson verantwortlich? Oder die Menschen, die sie besitzen? Wird den Robotern (allen 15, weil sie ja vernetzt und daher ganz gleich sind) der Strom abgeschaltet, statt ins Gefängnis zu schicken? Und was passiert mit dem dahinterliegenden AI-Datennetz? Viele offene Fragen, die zu klären sind – etwa die Frage der Manipulation: Mit dem Begriff „Addiction by Design“ stellt Chianella (2021, S. 414) dar, wie Abhängigkeiten (Süchte) und Bias (Vorurteile) bewusst oder weniger bewusst mit AI designt, programmiert und trainiert werden. Beispiele für Auswirkungen dafür haben wir genug: etwa der xenophobe Algorithmus der niederländischen Regierung, der über Jahre ausländerfeindlich Kindergeld verteilte (Amnesty International, 2021). Oder der Bing-Chatbot, der im Februar 2023 zu lügen und zu beschimpfen scheint, weil er aus der Interaktion mit den Menschen „dazulernte“ (Metz, 2023). Wissenschaft, Ethikkommissionen, globale Institutionen wie etwa die 193 Mitgliedstaaten der UNESCO sowie die Europäische Kommission greifen rahmensteuernd ein, indem sie bspw. schädigende Systeme verbieten und die Sicherheit und Vertrauenswürdigkeit von AI-Systemen erhöhen. Auswirkungen von AI-Systemen würden neben Gesellschaft, Ökologie, Menschenleben etc. auch den menschlichen Geist betreffen. Scharfes Augenmerk wird dem Thema subliminale AI-Manipulation geschenkt, bspw. Big Data, dem Internet der Dinge, Blockchain, Eyetracking-Technologien und Deep
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Fakes. Intelligente Technologien können private Informationen nutzen sowie das Denken, die Interaktionen und die Entscheidungsfindung unbewusst beeinflussen, wodurch bspw. private Daten wie Bankinformationen, PIN-Codes etc. entschlüsselt und weitergegeben werden können oder Werbung manipulativ gefüttert wird. Dabei handelt es sich um Manipulationen unter der Bewusstseinsschwelle. Diese werden in Zukunft zunehmen, weil sie vermehrt eingesetzt werden, aber auch, weil die Schäden im Gehirn kumulativ zu betrachten sind. Kumulative Schäden sind weitreichender: finanziell, wirtschaftlich, kulturell und gesellschaftlich. Gesetzgebungen sind gefordert, mit der Entwicklung subliminaler Techniken up to date zu sein (European Commission, 2021). Zusammenführend erscheint an dieser Stelle die Differenzierung nach den Operationsmodi (mechanisch, biologisch, psychisch und sozial) von Luhmann (1991, S. 15 ff.) hilfreich, um in Relation zu den oben ausgeführten AI-Entwicklungen die bevorstehenden Erosionen des als gegeben, normal und stabil Erlebten zu erahnen: Mechanische Systeme operieren mit einem programmatischen Input-OutputMechanismus. Sich wiederholender Technik schreiben wir diesen Modus zu. AI jedoch kann mehr: Entscheidungen treffen, sich durch Trainings und (KundInnen-)Nutzung weiterentwickeln: • Biologische Systeme operieren als natürliche Wachstumskreisläufe. Mit AGI verschmelzen mechanische und biologische Systeme (Biotechnologie); bspw. können außerhalb eines Körpers gezüchtete Nervenzellen als biologisch upgegradeter Computerchip auf einem Screen Tischtennis spielen und das Spielverhalten durch elektronische Stimuli verbessern (Kagan et al., 2022). • Psychische Systeme operieren mit Bewusstsein, ihnen ist die Fähigkeit des Selbstbezugs und Selbstbewusstseins zu eigen. AGI hat den Anspruch, Computer-GehirnSchnittstellen herzustellen und die Gehirnfunktionen zu erweitern, bspw. Cyborgs (Rotter, 2019). • Soziale Systeme (dazu zählen Luhmann folgend Interaktion, Organisation und Gesellschaft) operieren mithilfe von Kommunikation – selbstreferenziell, selbstbeobachtend. ASI hat den Anspruch, das schneller und vernetzter in unterschiedlichsten Lebenshabitaten (Substanzen) zu können. • Gesellschaft, als soziales System, operiert mit Ein- und Ausschluss. Dieser Operationsmodus gibt beispielsweise Antworten auf die Frage: „Wer gehört in welchem Ausmaß wo dazu?“ (Herkunft, Nationalitäten, Bünde, Ethnien, Bildungsstatus, soziale Schichten etc.). Ein- und Ausschluss etwa als Themen der Integration und Ausgrenzung, wie etwa durch AI gestützte staatliche Mittelverteilung (siehe oben). • Organisationen als Spezialfall sozialer Systeme weisen als Operationsmodus Entscheidung und Struktur auf und ermöglichen Arbeitsteilung. Organisationen sind durch diesen Operationsmodus gesellschaftliche Transformatoren (Luhmann, 2006). Im Fall von AI bedeutet das etwa: Mit welcher Intelligenz kann was arbeitsteilig bearbeitet werden und wie können Handlungsabfolgen in Struktur- und Entscheidungsordnung,
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Algorithmen und damit einhergehend Machtordnungen und Führungsanforderungen funktional genutzt werden? Hier kann konkludiert werden: AI-Technologien (AGI, ASI) erodieren mit fortschreitender „Intelligenz“ die Grenzen gewohnter Ordnungen. Einerseits produzieren wir (unsere Unternehmen) AI als Werkzeuge, die Interessen verwirklichen, und gleichzeitig „lernt“ AI von uns, während wir sie nutzen. Damit werden wir mit jeder Nutzung zu MitgestalterInnen und können uns nicht aus der Verantwortung nehmen, weil potenziell alle Menschen von der Nutzung des Chatbots oder des selbstfahrenden Autos oder Schiffs betroffen sind, denn jede Nutzung produziert Daten, die von Unternehmen oder Institutionen für nachfolgende Nutzungen gespeichert und weiterverarbeitet werden. AI weist (bis jetzt) kein eigenes Bewusstsein, keine eigenen Emotionen, kein eigenes Wollen und auch kein Verständnis für das eigene Handeln und dessen Wirkungen auf. Sich über den aktuellen Stand der AI-Entwicklungen informiert zu halten, um die Tragweite und Komplexität der (bio)technologischen Errungenschaften zu erkennen, ist eine Sache. Weitreichender ist es, unterschiedliche Interessen und Dringlichkeiten einzuschätzen, damit bewusstem Handeln, u. a. gegenüber subliminalen Techniken und Bias, entgegengewirkt werden kann. Zudem erfordert es die Handlungsfähigkeit, wie etwa von Staaten(gemeinschaften), zu kooperieren und sich zu organisieren, um adäquate Ordnungen und Rahmensetzungen zu gewährleisten. Offensichtlich wird auch, dass wir aufgerufen sind, uns vorzubereiten, weil dieser rapide zunehmenden Komplexität mit Bewusstseinskomplexität zu begegnen ist. Diese zu erahnende sprunghafte Komplexitätserhöhung fragt nach einem ganzheitlichen Zugang, der multidisziplinäre Kooperationen (Technik, Humanwissenschaften, Sozialwissenschaften, Politik, Ökonomie, Ökologie etc.) und die komplexen Wirkungen des (AI-)Handelns kontextbezogen in den Blick brächte, denn wir tragen die Verantwortung für die Gefahren, weshalb sowohl bei Produzierenden von AI-Produkten wie auch bei Konsumierenden es dringlich erscheint, mitzuwirken.
19.2.2 Bewusstsein als Hintergrundfolie für Machtordnungen Unterschiedliche Bewusstseinszustände speisen jeweils einen unterschiedlichen Komplexitätsgrad, in dem alle Erfahrung erscheint, mit dem alle Erfahrung gewusst ist, aus dem alle Erfahrung gemacht ist. Der jeweils aktualisierte Bewusstseinszustand prägt damit auch die Wahrnehmung von AI sowie die Kooperation und Organisation. Je komplexer das Bewusstsein, umso klarer können Machtmechanismen, wie etwa Manipulation, und ihre Kontexte erkannt und gesteuert werden. Die jeweils komplexere Bewusstseinsqualität hebt nicht die vorherige, weniger komplexe auf, sondern integriert sie. Folgende Bewusstseinszustände können nach Komplexitätsgrad, Machtordnung und Organisationsform unterschieden werden: Gewohnheit, Linearität, Multidimensionalität und Flow (Spindler, 2023).
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Gewohnheit wird als natürlich gewachsen empfunden und bleibt vorerst kollektiv unbewusst. Das Ich geht in der Gruppe, Familie, Peergroup, Sippe etc. als unhinterfragte Einheit symbiotisch auf. Das Gewohnte drückt sich aus durch unhinterfragt überlieferte Rituale, Werte, Normen, Artefakte, Strukturen, Gesetze und Regeln. Die Wiederholungen dienen der Zugehörigkeit und Überlebenssicherung und Entlastung im Alltag – nicht immer wieder alles aufs Neue durchdenken zu müssen. Die Vergangenheit schreibt sich in die Zukunft fort (Scharmer, 2009, S. 119 ff.). Gesteuert wird von einem Zentrum aus. Ordnungen werden als unveränderbar betrachtet, abhängig von Autoritäten. Diese Kooperations- und Organisationsmuster können als paternalistisch oder maternalistisch bezeichnet werden. „Macht über – Macht unter“ entsprechen diesem Bewusstseinszustand (Spindler, 2019, S. 65 ff.). Überlebensangst, Ohnmacht, Gehorsam, Über-/Unterordnung, Zwangs- und Manipulationsverhältnisse sowie symbiotisch-verschmelzende Harmonisierung und damit einhergehende Abhängigkeiten und Sucht erscheinen in diesem Bewusstseinszustand als normal (Rooke & Torbert, 2005, S. 68 ff.). Linearität ist sachlich und rational, die konventionelle Ordnung ist auf beweisbaren Fakten aufgebaut (Scharmer, 2009, S. 366). Wir sind uns unserer kognitiven Entscheidungen bewusst: Das bedeutet „freies Denken“. Die Sache, das Fach, die Disziplin werden differenziert, dadurch wird mehr vom Selben mechanisch ausgerollt. Die angestrebte „sachlich-gerechte“ Gemeinschaftsordnung basiert auf richtig und falsch, Schuld und Unschuld, Recht und Ordnung. Wir bauen eine für alle gerechte und vernünftige Welt: Regeln, Religion, Staat und Organisation werden bestimmt. Der Zeitfokus richtet sich auf das Lernen aus dem bereits Geschehenen: In der Vergangenheit wurde etwas (falsch) gemacht, das in der Zukunft besser gemacht werden soll. Wissen ist in dieser Ordnung Macht, Formalitäten wird hohe Priorität gegeben. Die hierarchische Kooperations- und Organisationsstruktur ist die Struktur zur sachlichen Ausdifferenzierung anhand vorgegebener Muster (etwa Sprachen, Disziplinen, Abteilungen, Bereiche etc.). Mit dieser Bewusstseinsordnung geht das Bedürfnis der quantitativen Expansion, mehr Erfolg etc., einher, Konkurrenz und (Business-)Kriege werden zu Treibern für das ersehnte Mehr. Gleichzeitig ist eine gerechte Ordnung wichtig, in der alle gleichbehandelt werden. Wird die Situation als ungleich und ungerecht empfunden, macht sich „Macht gegen“ breit (Spindler, 2019, S. 69 ff.). Emotional äußert sich dies als Aggression (Zorn, Aufstand, Widerstand) gegen Managementebenen, DespotInnen, Politik, Staat, AusländerInnen, Männer, Frauen, Betriebsrat etc. Der Mensch wird in diesem Bewusstseinszustand als Ich-Ego, als das Maß der Dinge wahrgenommen, er steht im Vordergrund und glaubt, die eigene Wahrnehmung spiegle die gegebene, wahrhaftige, wissenschaftlich faktisch bewiesene Welt wider. Das Ich-Ego entspricht dem Nach-außen-gerichtet-Sein. Multidimensionalität eröffnet multidisziplinäre Zugänge und reicht über Fakten hinaus zum Metaphysischen – zum Bauchgefühl, zur Intuition, zum Unvorhersehbaren. Das Konzept der fünf Sinne und der gespeicherten Datenwelt (Realität) greift damit zu kurz. Der Zugang zu den Gefühlen wird möglich, wenn wir wissen, dass wir nicht unsere Gefühle sind, sondern unterschiedliche Gefühlszustände und unterschiedliche Erfahrungen haben.
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Wir nehmen uns selbst emotional wahr und können den Kontext und andere wahrnehmen und Empathie erfahren und erkennen daher die Absichten und den Kontext der handelnden Akteure/Akteurinnen (bzw. die emotionale Spiegelung der AI-Maschine, weil in ihr keine echten Gefühle hinterlegt sind – siehe oben Sophia). „Macht mit anderen“ (Spindler, 2019, S. 75 ff.) wird möglich als geteilte Macht und Voraussetzung für Co-Kreation, denn es gibt nicht mehr die unhinterfragte Wahrheit, wodurch sich das moralische Urteil am sozial verhandelten Vertrag orientiert. Wir gestalten gemeinsam mit Autoritäten und gleichzeitig unabhängig von diesen. „Fehler“ werden als Lernanlässe betrachtet, Rechtfertigungen und Schuldzuweisungen werden als kontraproduktiv erachtet. Feedback wird emotional und kontextrelevant prozessiert. Der Zeitbezug ist auf die Zukunft gerichtet: Partizipativ kann aus unterschiedlichen Interessen gemeinsam Zukunft gestaltet werden. Neues entsteht durch Vereinbarungen, die gemeinsam evaluiert und optimiert werden können. Dabei erkennen wir unterschiedliche Expertisen, Emotionen und Weltzugänge an, ohne gleich in aktionistischen Handlungsdruck zu verfallen. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken reflexive, mehrperspektivisch relativierende, systemische Funktionalitäten: Was brauchen wir wofür? Unterschiedliche Zugänge, Intelligenzen, Führungsqualifikationen werden genutzt im situativen Führen und in den entsprechenden Projekt-, Team- und Netzwerkstrukturen (Spindler, 2019, S. 52 ff.). Multidimensionales Kontextbewusstsein wirkt (AI-)Täuschungen und Manipulationen entgegen, weil es erstens möglich ist, über die reflexive Betrachtung des Kontexts Aufschluss über den Stellenwert einer Handlung zu erhalten, zweitens werden mit dem bewusst gefühlten Selbstbezug AI-Täuschungen intuitiv erahnt und drittens kann die Expertise von AI-Tools reflexiv genutzt werden. Flow verwebt das Ganze und die Teile zu einem integralen Fluss des Geschehens als Eco-System. Der Blick wird auf Wirkungen gelegt. Im Fluss des Geschehens ist alles interdependent verwoben; damit sind Menschen (und mit ihnen Teilsysteme) in der Lage, sich sinnbringend mit dem Ganzen zu verbinden. Das Denken, Fühlen, Wollen und Handeln ist in Relation zu den Entscheidungen, Kulturen, Organisationen, zur Gesellschaft, Welt etc. Im ganzheitlichen Flow können wir geschehen lassen, uns reflexiv ermächtigen und individuell sowie kollektiv nützlich machen. Wir fragen: Was braucht das Ganze? Was kann mein Beitrag (purpose) sein? Das eigene Handeln macht im jeweiligen Kontext Sinn. „Freies Wollen“ bedeutet, eigenes Wollen bewusst zu steuern, je nachdem, was für mich und das größere Ganze Sinn macht. Den „Willen zum Sinn“ nennt Frankl ([1972] 1997) ein menschliches Bedürfnis. Alle anderen Bewusstseinsebenen (Gewohnheit, Linearität, Multidimensionalität) können in diese holistische Ganzheit integriert werden und die Entwicklung wird zur integralen unendlichen Erneuerung. Dieser Bewusstseinszustand könnte m. E. aus heutiger Sicht tauglich sein, um ASI ansatzweise in den Verschmelzungen der Materien und Operationsmodi zu erfassen. Die dazugehörige Machtordnung „Macht für“ (Spindler, 2019, S. 78 ff.) bringt Möglichkeiten und Potenziale in das gemeinsame Hier und Jetzt und macht gestaltbar, obwohl nicht alles logisch erklärbar ist. Die prozessartig organisierte Form ist das Eco-System. Die Herausforderung für Führung
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Abb. 19.1 Komplexitätsentwicklung der Bewusstseins- und Machtordnungen. (Eigene Darstellung)
ist es, funktional organisierte Voraussetzungen zu schaffen, um co-kreative Gestaltung zu ermöglichen sowie Prozesse des Emergierens zu begleiten (siehe Abb. 19.1). Konkludierend kann hier gesagt werden: Unterschiedliche Bewusstseinszustände stehen in Wechselwirkung zu unterschiedlichen Machtdynamiken, Organisations- und Führungszugängen. In der Gewohnheit und Linearität (Macht über – Macht unter und Macht gegen) speist sich das Handeln – oft unbewusst – aus einer Not, einem Überlebensdrang oder dem Druck zur Anpassung an vorherrschende Kulturen und dem Wunsch nach Zugehörigkeit und Erfolg – vor dem Hintergrund emotional erlebter Dringlichkeit. Besonderes Augenmerk lege ich im Zusammenhang mit AI von der linearen zur multidimensionalen Bewusstseinsordnung (Macht mit anderen), denn Letztere erhöht sprunghaft die Fähigkeit, Komplexität vor dem Hintergrund unterschiedlicher Interessen bewusst zu erweitern (Multidimensionalität) und auch zu integrieren. Erst mit der bewusst wahrgenommenen Emotionalität wird Desire steuerbar, insbesondere, wenn dann im nächstkomplexeren Zustand des Flow-Bewusstseins der Sinn (Macht für) für das Ganze und seine Teile mit dem Desire und dem Anspruch, gemeinsam zu gestalten und die Wirkungen des Gestaltens zu verantworten, korrelieren kann. Diese Bewusstseinserweiterung geht einher mit der Transformation vom hierarchisch orientierten Ego-System zum ganzheitlichen Eco-System.
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19.3
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Ein gemeinsamer Weg der Differenzierung und Integration unterschiedlicher Intelligenzen und Machtordnungen
Mit dem Blick in die ungewisse Zukunft starker AI (AGI, ASI) kommt man am Transhumanismus nicht vorbei. Mit Biotechnologie etc., so die Voraussage, wird eine neue Gattung geschaffen. Letztendlich geht es dabei um die Idee, Mensch und Technik quasi nahtlos miteinander zu verschmelzen zu einer nächsten Version, dem „Posthuman“, der die Grenzen erodiert hat und grenzenlos integrativ-vernetzt agiert. Das Potenzial ist unvorstellbar und unabsehbar. Die Hoffnung ist ein neues (über)menschliches Systembewusstsein, das in der Lage ist, den menschlichen Intellekt und das psychische System sowie soziale Systeme, ihre Kommunikation, Organisation und Gesellschaft integral zu einem „neuen Sein“ zu erhöhen und damit auch ethische Grenzen zu überwinden. Der hypothetische Zeitpunkt, an dem das (bio)technologische Wachstum unkontrollierbar und unumkehrbar für den Menschen und seine Systeme wird, wird als Singularität bezeichnet und auf das Jahr 2045 geschätzt. Die Kontrolle und die Fähigkeit zur Weiterentwicklung werden dann dem vernetzten System übertragen, was zu unfassbaren Veränderungen der menschlichen Zivilisation führe (Barachini & Stary, 2022; Rotter, 2019; Vita-More, 2018, S. 26 f.) Diese Transformation von „Transhuman“ hin zum „Posthuman“, so Vita-More (2018), wird nicht ohne Spannungen und Dilemmata ablaufen – nicht für unsere Gefühle, unsere Wertesysteme und das Zusammenleben als menschliches System. Dass die konvergierenden und exponentiellen Technologien der Gentechnik, CRISPR (Gen-Schere), Stammzellen, Nanomedizin etc., die Intelligenz erhöhen und möglicherweise durch eine Speziesevolution den Homo sapiens in eine Art Posthumanen transformieren, lässt massive soziale und kulturelle Umbrüche und Disruptionen erahnen: beispielsweise Cybersecurity, Terrorismus, ökologische Risiken, finanzielle Instabilität, technologische Singularität, Diversität im Sinne gesellschaftlicher Heterogenität (Vita-More, 2018, S. 21 ff.). Eine zentrale Frage, die sich hier stellt, ist: Wird es uns möglich sein, künftige technisch upgegradete Postmenschen (AGI/ASI – hochkomplex vernetzt) zu integrieren, ohne die Würde der übrigen Bevölkerung zu gefährden? Denn Postmenschen, die technisch-genetisch verbessert sind, könnten ein höheres moralisches Niveau erreichen als heutige Menschen. Wie können wir uns vorbereiten? Wie können wir Disruptionen zur Erneuerung nutzen und transformieren? Welche Voraussetzungen braucht es, um negative Emotionen, vernichtende Machtansprüche über andere und Opferzustände zu wandeln für eine gemeinsam gestaltbare positive humane Zukunft? Wie kann Machtbewusstsein erhöht werden, sodass Abhängigkeit von außen (Sucht, Unterordnung) durch Selbstbezug und bewusste Steuerung von innen (Selbstermächtigung und co-evolutive Zukunftsgestaltung) möglich werden und der Umgang mit der Differenzierung und damit eine Integrationsfähigkeit sichergestellt werden? Welches Organisationsverständnis braucht es, um Rahmensetzungen für diese bewusstseinserweiternde Kultur zu ermöglichen?
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19.3.1 Ein prozessorientiertes funktionales Macht- und Organisationsverständnis Theoretisch betrachtet absorbieren Organisationen Unsicherheit, indem sie Ordnungen (Luhmann, 2006; Baecker, 2009) generieren. Die Illusion der Planbarkeit und Organisation des Ungewissen wird geschaffen, um arbeitsteilig handlungsfähig werden zu können. Organisationen weisen Strukturen auf, die entscheiden, integrieren und ausgrenzen, verstärken, transformieren, erleichtern und frustrieren. Konfliktfelder, Dynamiken, Abgrenzungen und Grenzen zwischen Organisationen und Gesellschaft sind ein flexibler und dynamischer Brennpunkt für die Entwicklung von humanen, technischen und sozialen Intelligenzen. Widersprüche, Konflikte und Paradoxien werden einerseits strukturell geleitet, gleichzeitig treten sie an manchen Stellen vermehrt an die Oberfläche. Organisationen haben vor allem in brüchigen Zeiten eine stabilisierende und transformierende Wirkung. Die jeweilige Organisationsstruktur und die damit zusammenhängenden Entscheidungsformen sind hochrelevant dafür, wie wir unsere Zukunft realisieren. Luhmann zeichnet eine System- und Organisationstheorie, in der die Elemente sozialer Systeme temporär, vergänglich und damit dynamisch sich selbst erneuernd sind (Luhmann, 2006). In dieser Konzeption sind Organisationen nicht statisch, sondern funktional. Sie können jedoch im individuellen und kollektiven Bewusstseinszustand der Gewohnheit oder Linearität (aus Angst oder Aggression) als nicht hinterfragbar erscheinen. Systemtheoretisch betrachtet erzeugen sie sich fortwährend (selbstreferenziell), damit ihre Handlungen anschlussfähig bleiben. Eine derartige Betrachtung von Organisation kann für schnelllebige Erneuerung funktional veränderbare Ordnungen bieten und ihr dadurch Agilität verleihen. Entscheidungsereignisse und die dazugehörigen Strukturen wie beispielsweise Hierarchien, Projekte, Matrix-, Netzwerk- und Schwarmordnungen etc. werden damit nicht als vorgegeben und starr gesehen, sondern als brauchbare oder nicht brauchbare Werkzeuge genutzt (Spindler, 2019). Mit einem funktionalen Organisationsverständnis können wir bewusst transformieren, indem wir den Möglichkeiten der Gesellschaft (Visionen) durch Entscheidungen und Strukturen eine Form – einen Rahmen – geben. M. E. ist die Hebelwirkung groß, denn Organisationen umspannen mit ihren Strukturmustern den Globus und können Disruptionen stabilisieren. Sie durchdringen all unser Wirken und können integrative Kulturen ausbilden und so den Rahmen geben, um global Druck in Urgency zu transformieren und kollektiv-reflexives Bewusstsein zu erhöhen. Voraussetzung dafür ist, dass die handelnden Personen und Teams die Transformationskraft von Organisationen sowie ihrer Führungskulturen und -muster, Entscheidungen und Strukturen und die damit zusammenhängenden Machtdynamiken erkennen können, um Organisationen als gesellschaftliche Transformatoren zu nutzen. So können Disruptionen als Aufforderung für Wandel prozessartig verstanden werden. Weick (1995) definiert „Sensemaking in Organizations“ als fortwährenden kollektiven Sinnfindungsprozess von einer Disruption zur nächsten. Er sieht die
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größte Herausforderung für Führung und Organisation darin, eine gewisse Grundspannung zwischen den unterschiedlichen Sinneinheiten einerseits und dem Sinn des ganzen Systems (big picture) andererseits zu halten: „... to accept the diversity and mutation of the world while retaining the mind’s power of analogy and unity so that this changing world shall not become meaningless.“ (Weick, 1995, S. 171)
19.3.2 Disruptionen nutzen lernen: Urgency und Desire prozessieren Zu erkennen ist: Einerseits schüren die oben dargestellten Szenarien Hoffnungen auf ein neues, besseres Leben, andererseits gehen die Bedrohungsszenarien unter die Haut. AI bringt Werkzeuge hervor, die beliebig verwendet werden können. Was für die einen eine Erfüllung ihrer Wunschliste – etwa aus dem linearen Bewusstsein heraus – ist, kann bei anderen gravierende Probleme hervorrufen, wenn Einzelinteressen (von Unternehmen oder auch Staaten) der Expansion zum Nachteil für andere werden. Vor dem Hintergrund transhumanistisch disruptiver Szenarien führen unterschiedliche Interessen und Bewusstseinszustände zu erhöhter Differenzierung in der Gesellschaft. Gleichzeitig gehen sicherheitsstiftende Systemgrenzen und (Macht-)Gewohnheiten verloren. Ein Bewusstsein für Machtverhältnisse ist zu generieren (Macht mit anderen und Macht für), damit Druck und Manipulation (emotional) wahrgenommen und transformiert werden können. Für Kotter (2008) ist es für Veränderungsprozesse essenziell, Druck in Dringlichkeit (Urgency) und Motivation zu wandeln. Der Eindruck der Dringlichkeit entstehe, indem man Menschen dazu bringe, die Notwendigkeit von Veränderungen tatsächlich zu sehen und vor allem emotional zu spüren. Die Wahrnehmung negativer Emotionen sei Bedingung, um die Situation verbessern zu wollen. Der Druck geht dann vom Bedürfnis aus, einen aktuellen Zustand zu ändern. Rein stagnierende, negative Druckwahrnehmung füttert Macht-über- und Macht-unter-Mechanismen und wäre im Zusammenspiel mit starker AI für die Menschheit fatal, weil es in einem Kampf natürlicher Mensch oder „technisch upgegradeter Mensch“ enden könnte. Desire-allowing hingegen geht einher mit einem positiven Erlauben, das von einem Moment ausgeht und mit Sinn und freiem Willen verwoben ist, dem Sinn, einen Beitrag für das Gesamte zu leisten (siehe oben Flow-Bewusstsein). Das Zusammenwirken von Urgency und Desire prägt die Fähigkeit für Transformation und Integration einer Kultur. Werden Urgency und Desire als gering wahrgenommen, ist meist eine ausbalancierte Gewohnheit die Ursache. Entweder wird das Gefühl der Sicherheit (Gewohnheit) überwiegen oder die Gewohnheit ist von Angst gespeist, sodass unbewusst Spannungen und Konflikte als zu bedrohlich eingeschätzt werden. Disruptionen, Dringlichkeit und Konflikte können nicht gut verarbeitet werden. Deshalb ist es
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in disruptiven Zeiten essenziell, kollektiv reflexive Gewohnheiten (beispielsweise haltgebende und reflexionsfördernde Meetings) einzuführen. Gewohnheiten sind wichtig, weil sie Sicherheit und Vertrauen stiften. Ein hohes Maß an Urgency bei gleichzeitig geringem zukunftsweisendem Desire deutet auf Fremdbestimmung hin (outside-in) und weist in Relation zu dieser dazu wenig reflexive Selbstbestimmung auf (inside-out). Das führt sukzessive zur Selbstentfremdung und zeitigt psychische und auch physische Langzeitschäden, die Manipulation, Zwangsgehorsam, Süchte (auch Narzissmus) sowie inneren Widerstand als langfristige Folgen von Selbstaufgabe und Selbstverlust fördern. Es sind schleichende Prozesse, die besonders anfällig für subliminale AI-Manipulation machen, weil die eigenen Emotionen und das eigene Wollen wenig wahrnehmbar sind. Langfristig führt sie zu Reizüberflutung, Stress und Dystopien. Ein hohes Maß an Desire bei geringer Dringlichkeit weist ein hohes Maß an Freiheit und Zukunftsorientierung auf und ermöglicht Menschen und Systemen eine Ausrichtung, eine Vision, eine Utopie, eine Absicht, einen Sinn. Was wollen wir für das größere Wohl? Zuversicht ermöglicht die Anerkennung des ganzen Systems als Einheit im Hier und Jetzt mit all seinen Unterschieden. Sie schließt mich und andere ein, wie wir sind. Desires erwachsen aus der Intuition und weisen auf das Wollen und auf das, was es zu erkunden, zu erfinden, mit anderen synergetisch zu gestalten gilt. Diese Co-Kreationen vollziehen sich leichtfüßig und lustvoll und Aussagen wie „Ist mir gerade in den Sinn gekommen“, „Was ich supergeil finde“, „Ich habe gerade eine geniale Idee“ zeugen davon. Im inneren Freiraum spüren wir den Funken, lassen die Inspiration, den (Team-)Spirit wachsen. Die hohe Urgency-Desire-Kombination ist ein Bewusstsein der aktiv-partizipativen All-in-oneFlow-Dynamik und braucht als Grundlage ein haltendes, organisiertes Strukturelement (Architektur), das unterschiedliche Bewusstseinszustände, Machtzustände und Bedürfnisse in Form von designierten Zeit-Räumen und Prozessverständnis halten kann. Diese All-in-one-Flow-Dynamik widmet sich kognitiv und emotional reflexiv-verbindend den Anforderungen von außen (Fremdbestimmung, Outside-in Urgency) sowie der Selbstbestimmung (Inside-out Desire). Dadurch entsteht ein ganzheitlicheres Bild von Handlungen und Wirkungen. Ein positives Konfliktverständnis ist die Basis für eine Kultur, in der Lernen aus Disruptionen, Spannungen, Paradoxien, Widersprüchen, negativen Emotionen als Sprungbrett für Erneuerung genutzt wird. Damit gelingt es, Urgency und Desire zu einem Erneuerungstanz zu verquicken. Diese Meisterschaft ermöglicht, dass Angst und Aggression gehalten werden und mehr Zuversicht für das gesamte System in den Blick gerät: outside-in (Urgency) und inside-out (Desire) sind damit einer sich wechselseitig bedingenden Dynamik im Sinne des Gesamten zugeführt. Das ist der Stoff, aus dem Flow-Bewusstsein, Macht für und Eco-Systeme gewoben sind. Gehen wir, wie im Beitrag dargestellt, davon aus, dass sich mit starker AI (AGI, ASI) Bewusstseinszustände und damit Machtordnungen drastisch differenzieren, so erscheint es essenziell, sicherheitsstiftende Gewohnheiten zu organisieren, in denen Disruptionen und die damit einhergehende Ohnmacht, Abhängigkeiten, Konflikte, Spannungen, in bewusst gestaltbare Dringlichkeit – Urgency – transformiert werden und als Ausgangspunkt für
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kollektive Erneuerung dienen können. Organisierte funktionale Rahmen und dazugehörige Bewusstseinskulturen (Flow) können die dafür erforderliche Stabilität geben, weil darauf Verlass sein kann, dass gemeinsam der Blick auf die Auswirkungen von Disruptionen gelegt wird und emotionale Zustände, wie Schock, Angst, Aggression, Trauer, transformiert werden. Damit einher geht ein Machtbewusstsein, das Macht mit anderen und Macht für eine gemeinsame Zukunft eröffnet. Die stabilisierend erneuernde Zukunftsfähigkeit kann dann mit jeder Disruption erhöht werden – ein co-kreativer Weg mit AI (AGI/ASI). Diese differenzierend integrative Dynamik kann sukzessive aus- und aufgebaut werden, indem transformierende Erneuerung zu einer Kulturgewohnheit (Ritual) wird, die sich weiterentwickelt. Alles andere würde m. E. eine unkontrollierbare Differenzierung und auch Radikalisierung der Gesellschaft vorantreiben.
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Dr. Maria Spindler Internationale Organisationsberaterin, Leadership Developer, ÖGGO-Lehrtrainerin, Hernstein Gruppendynamiktrainerin, Autorin, Universitätslehrende, Keynote Speakerin. Themen: Machtbewusstsein, Höchstleistungsteams und -organisationen, Prozesse und Kulturen in Teams und Organisationen steuern, Erneuerungsdynamiken, AI und ihre Wechselwirkungen mit Humanität, Führung, Organisation. [email protected] I www.maria-spindler.at
Hybride Arbeit, Freelancer, Gig-Working und Co: Machtdynamiken in grenzaufgelösten und dezentralisierten Arbeitsorganisationen
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Stephan Kaiser und Arjan Kozica
Zusammenfassung
Traditionelle Organisationen wandeln sich in komplexe Wertschöpfungssysteme mit zunehmend dezentralisierten und digitalisierten Formen der Arbeitsorganisation. Indem sich die Vorstellungen von Mitgliedschaft verändern und sich Arbeit in digitalisierte Räume verschiebt, lösen sich die Grenzen von Organisationen auf. Im Beitrag wird argumentiert, dass sich in solch grenzaufgelösten Organisationen die Machtdynamiken verändern. Im Beitrag werden zwei Dynamiken exemplarisch betrachtet: erstens diejenigen, die sich aus der abnehmenden Wirkung bürokratischer Strukturen als Machtressourcen ergeben, wenn sich die Formen der organisationalen Mitgliedschaft und Zugehörigkeit verändern (z. B. Freelancer, hybride Arbeit). Zweitens werden die Schnittstellen zwischen Menschen und intelligenten Technologien in digitalen Arbeitsräumen und die sich dadurch verschiebenden Machtverhältnisse betrachtet. Der Beitrag zielt darauf ab, die veränderten Machtdynamiken sichtbarer zu machen und damit einen reflektierten Umgang mit Macht in digital transformierten Organisationen zu ermöglichen.
S. Kaiser (B) Universität der Bundeswehr München, München, Deutschland E-Mail: [email protected] A. Kozica ESB Business School, Reutlingen, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 O. Geramanis et al. (Hrsg.), Organisationale Machtbeziehungen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42092-5_20
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20.1
S. Kaiser und A. Kozica
Einleitung
In der traditionellen Vorstellung von Organisationen sind die Organisationsmitglieder (Beschäftigte, Führungskräfte) diejenigen, die den Teil der Wertschöpfung betreiben, der auf menschlicher Arbeitsleistung basiert. Für diese humanbasierte Wertschöpfung greifen die Organisationsmitglieder auf Technologien, Wissen und Prozesse zurück, um so arbeitsteilig komplexe Produkte und Dienstleistungen zu erstellen. Um die Organisation (und ihre Organisationsmitglieder) gruppieren sich auf der Abnehmerseite die Kunden und auf der Inputseite die Zulieferer. Dieser Vorstellung folgend, gibt es Machtbeziehungen innerhalb der Organisation sowie zwischen der Organisation und ihren relevanten Umfeldern. Letzteres zeigt sich beispielsweise im bekannten 5-Forces-Modell von Michael Porter (1979), in dem die Machtbeziehungen zwischen Lieferanten, Konkurrenten und Kunden integriert sind. Durch die Digitalisierung verändern sich jedoch Organisationen und Arbeit (Cascio & Montealegre, 2016; Hanelt et al., 2021), sodass obiges Bild lediglich einen Ausschnitt aus der heutigen Organisationsrealität abbildet. In Organisationen wird die Wertschöpfung vermehrt in alternativen Arbeitsarrangements erbracht (Katz & Krueger, 2019; Spreitzer et al., 2017) und es entstehen digitale Arbeits- und Organisationsräume (Sauerborn, 2019). Diese weichen mit Blick auf die organisationale Mitgliedschaft und den Raum der Arbeit (Weinfurtner & Seidl, 2019) von klassischen Arbeitsarrangements ab (Kaiser & Kozica, 2013): • Mit Blick auf das Thema der „Mitgliedschaft“ lassen sich neue Träger von humanbasierter Wertschöpfung erkennen: Soloselbstständige, die als „externe Mitarbeiter“ (Freelancer) tätig sind, Gig-Worker, die vermittelt über Plattformen Arbeitsleistungen übernehmen, oder Mitarbeitende von Dienstleistern (wie Ingenieurbüros, Zeitarbeit). • Durch die zunehmend digitalisierten „Organisations- und Arbeitsräume“ kommt es zu dezentralisierter Arbeit, die von physischen Räumen unabhängig macht. Diese wird durch intelligente Technologien und Plattformen vermittelt und Mithilfe von digitalen Artefakten koordiniert. Insgesamt kommt es mit Blick auf humanbasierte Arbeitsleistungen somit zu einer Dezentralisierung der Organisation und zu Grenzauflösungen. Diese Entwicklungen werfen die wichtige Frage auf, wie sich die Machtdynamiken in solch grenzaufgelösten Organisationen mit dezentralisierten digitalen Arbeitswelten verändern. Denn es scheint nicht mehr ohne Weiteres möglich, wie in traditionellen Organisationen, Macht über Hierarchie und Führung und die damit verbundene interpersonelle Autorität auszuüben (van den Steen, 2010). Im Folgenden wird deshalb die Frage diskutiert, wie sich Machtverhältnisse zwischen Organisationen und den einzelnen Akteuren der organisationalen Wertschöpfung verändern, wenn die Organisation sich hinsichtlich Mitgliedschaft (z. B. Freelancer und Gig-Work) nach außen öffnet, d. h. externalisiert, und sich aufgrund der Digitalisierung
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dezentralisiert. Um diese Frage im Beitrag zu diskutieren, führen wir zunächst in die Veränderungen der Wertschöpfung im Zuge der digitalen Transformation von Organisation und Arbeit ein. Anschließend arbeiten wir das Verständnis von Macht aus, welches diesem Beitrag zugrunde liegt. Wir argumentieren, dass ein reflektierter Umgang mit Macht relevant ist, um zukunftsfähige Organisationen zu gestalten und in ihnen zu wirken. Darauf aufbauend diskutieren wir abschließend die Machtdynamiken, die sich in grenzaufgelösten und dezentralisierten Organisationen ergeben.
20.2
Die Wertschöpfung in einer grenzaufgelösten und dezentralisierten Organisation von Arbeit
Um die Machtdynamiken zu diskutieren, die sich aus der Digitalisierung von Organisationen und ihren Arbeitswelten ergeben, führen wir im folgenden Kapitel in die Veränderungen der organisationalen Wertschöpfung ein. Wir fokussieren dabei exemplarisch zwei Schnittstellen, die im Hinblick auf veränderte Machtdynamiken relevant sind: • Die Schnittstelle zwischen internen und externen Akteuren (1) • Die Schnittstelle zwischen humanen und digitalen Akteuren (2) (1) Organisationen sind soziale Strukturen, die sich neben ihrer Zweckorientierung und der Dauerhaftigkeit insbesondere dadurch auszeichnen, dass sie Mitglieder haben. Die Mitglieder der Organisation sind bei Unternehmen die Beschäftigten (Führungskräfte, Mitarbeiter), die über einen Arbeitsvertrag oder Eigentümerschaft den Status „Mitglied“ erlangen. Die Mitglieder der Organisationen setzen ihr Leistungsvermögen in konkrete Arbeitsleistungen um und tragen so zur Wertschöpfung bei. In einem ersten (und vereinfachten) Zugriff definiert die Mitgliedschaft das „Innen“ und „Außen“ einer Organisation und etabliert dadurch eine Grenze der Organisation von ihrer Umwelt. Betritt man beispielsweise ein Autohaus, so wird man die Handlungen eines Mitarbeiters (erkenntlich am Namensschild) von den Handlungen eines zufällig zum gleichen Zeitpunkt anwesenden Postboten (erkenntlich an der Uniform) anders bewerten. Der eine handelt als Vertreter der Organisation „Autohaus“, der andere als Vertreter der Organisation „Post“. Die Digitalisierung hat nun einen großen Einfluss auf die organisationale Grenzbildung. Laut Kaiser und Kozica (2013) lösen sich diese Grenzen zunehmend auf. Dies liegt daran, dass die Grenzen einer Organisation nicht (nur) durch formale und juristische Regelungen bestimmt werden, sondern auch durch das praktische Erleben der Organisationsmitglieder und die Art und Weise, wie Arbeit geleistet wird (Kaiser & Kozica, 2013). Sie ist also komplexer als der oben geschilderte erste und vereinfachte Zugriff. Es gibt mehrere Gründe, warum die Grenzen einer Organisation nicht ausschließlich durch formale und juristische Regelungen bestimmt werden. Wenn dies der Fall wäre, würde die
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S. Kaiser und A. Kozica
vertragliche Zugehörigkeit zur Organisation, insbesondere durch den Arbeitsvertrag, die Grenzen für die Mitglieder der Organisation definieren und festlegen. Doch heutzutage sind viele Menschen, die für eine Organisation wertschöpfend und Wissen generierend tätig sind, nicht mehr durch einen traditionellen Arbeitsvertrag gebunden (Spreitzer et al., 2017). Arbeitsaufgaben werden zum Beispiel an externe Arbeitskräfte (Freelancer) vergeben (Kaiser et al., 2007) oder auf Vermittlungsplattformen für Gig-Work eingestellt. Dabei ist es nicht grundsätzlich neu, dass „externe Beschäftigte“ als Auftragnehmer für Unternehmen beschäftigt sind – man denke an die Anfang des 20. Jahrhunderts aufkommende Profession der Unternehmensberatungen. Allerdings werden die Arbeitsarrangements mit internen und externen Beschäftigten im Kontext der Digitalisierung vielfältiger und häufiger. So sind beispielsweise die typischen IT-Freelancer nicht nur beraterisch tätig, sondern erarbeiten arbeitsteilig zusammen mit internen Beschäftigten konkrete Leistungen, und mit der plattformbasierten Arbeit entstehen neue Formen externer Beschäftigung. Gleichzeitig wird die Grenzziehung einer Organisation im täglichen Erleben ihrer Mitglieder sichtbar. Diese Grenzen entstehen dadurch, dass die Mitarbeiter des Unternehmens ihre Arbeit innerhalb der physischen Grenzen des Bürogebäudes ausführen und dabei die vorhandenen Arbeitsressourcen, wie Infrastruktur und Technologien, nutzen. Die durch Digitalisierung gebotene Möglichkeit, von zu Hause aus (Homeoffice) zu arbeiten, wurde aufgrund der Coronapandemie bei vielen Unternehmen intensiv getestet und wird nun aus verschiedenen Gründen (Einsparung von Büroflächen, Work-Life-Balance und Zeitersparnis bei den Pendelwegen) zunehmend genutzt und beibehalten (Kaiser et al., 2022). Daher verschiebt sich die Arbeit immer mehr von einem physischen Raum vor Ort in einen digitalen Raum. Hierdurch lassen sich die Arbeitsorte flexibler gestalten und es kommt ebenfalls zur Öffnung organisatorischer Grenzen und zur Schwächung organisationaler Identität. (2) Mit Blick auf die zweite Schnittstelle kommt das Phänomen der Dezentralisierung von Arbeit zum Tragen, da die Arbeit räumlich verteilt ist und durch digitale Technologien koordiniert wird. Die Möglichkeiten der Digitalisierung verändern insgesamt, wie Aufgaben einer Organisation koordiniert werden. Die Digitalisierung ermöglicht es, Aufgaben in kleinere Module zu unterteilen und die Arbeitsteilung so zu organisieren, dass der Bedarf an direkter persönlicher Koordination zwischen den Beteiligten verringert wird. Deutlich wird dies an Aufgaben, die in Gig-Working-Plattformen eingestellt werden – wie das Abtippen von Kassenbelegen. In traditionellen Organisationen stimmt ein Beschäftigter die Vorgehensweise zum Abtippen der Kassenbelege mit dem Vorgesetzten in direkter Kommunikation ab (In Excel oder einer Datenbank? Welche Informationen sollen extrahiert werden?). In einer Gig-Working-Plattform wie dem Amazon Mechanical Turk wird die Aufgabe hingegen detailliert beschrieben und in diesem Sinne modularisiert. Intelligente Algorithmen im virtuellen Raum übernehmen die Steuerung dieser modularen Aufgabenpakete, wodurch die einzelnen Akteure weniger direkt angeleitet werden müssen und sich nicht mehr direkt mit anderen organisatorischen Mitgliedern abstimmen müssen.
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Dies führt zu einer Minimierung der Kommunikation zwischen den Mitgliedern der Organisation (Srikanth & Puranam, 2011) und der Vermittlung von Aufgaben über digitale Plattformen. Zusammen betrachtet zeigen die obigen Ausführungen, dass die Digitalisierung einen umfassenden Einfluss auf die Organisation von Arbeit hat: • Organisationale Wertschöpfung findet erstens über traditionelle Organisationsgrenzen hinweg und nicht nur durch abhängig Beschäftigte statt. Hierin zeigt sich Grenzauflösung der Organisation von Arbeit. • Zweitens ermöglicht die Digitalisierung ein Verlassen von physischen Räumen und ein Verlagern in digitale Räume, wo Führung und Koordination durch digitale Instrumente und „Akteure“ übernommen wird. Hierin zeigt sich insbesondere die Dezentralisierung der Wertschöpfung.
20.3
Machtdynamiken bei dezentralisierter und grenzaufgelöster Organisation von Arbeit
Im Folgenden adressieren wir, welche spezifischen Machtdynamiken sich bei einer solch dezentralisierten und grenzaufgelösten Organisation von Arbeit identifizieren lassen. Dazu führen wir zunächst in die grundlegende Bedeutung von Macht in Organisationen ein. Darauf aufbauend wird illustriert und diskutiert, wie sich die Machtdynamiken durch eine grenzaufgelöste und dezentrale Wertschöpfung verändern.
20.3.1 Die Bedeutung von Macht in Organisationen Die Liste bekannter Wissenschaftler, die sich mit Macht beschäftigt haben, ist lang: Machiavelli, Hobbes, Marx, Weber, Gramsci, Parsons, Foucault und Bourdieu (Hearn, 2012). Und es überrascht nicht, dass sich viele einflussreiche Gesellschaftstheoretiker mit dem Phänomen der Macht beschäftigt haben, denn Macht ist wohl eines der fundamentalsten Konzepte in den Sozialwissenschaften (Russell, 1992). Mit dem Konzept Macht werden Verhältnisse zwischen Menschen erfasst. Dabei geht es primär um die Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten, gegenseitig aufeinander Einfluss zu nehmen. Jede theoretische Konzeption von Macht umfasst deshalb eine Perspektive darauf, wer wen beeinflussen kann und worauf diese Möglichkeit der Beeinflussung beruht (Sturm & Antonakis, 2015). Allerdings gibt es trotzdem eine große Vielfalt von Zugängen. Relevante Fragen (Hearn, 2012) sind dabei beispielsweise: • Hat man Macht, wenn man etwas tun kann oder wenn man Macht über jemanden hat?
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S. Kaiser und A. Kozica
• Ist Macht grundsätzlich als asymmetrisch anzusehen oder als etwas, das auch im Gleichgewicht sein kann? • Ist Macht bei einzelnen Akteuren (wie der einzelnen Führungskraft) verortet oder in sozialen Strukturen, wie beispielsweise den Organisationen, den Rollenvorstellungen von Mann und Frau oder den sozialen Klassen (Ober- und Unterschicht)? • Hat man Macht nur dann, wenn man sie ausübt, oder kann man sie „auf Vorrat“ speichern? Für den vorliegenden Beitrag greifen wir die Überlegungen auf, die sich über die Zeit hinweg als der Kernaspekt von „Macht“ herausgestellt haben. Diesen bringen Battilana und Casciaro (2021) in einer aktuellen Publikation wie folgt auf den Punkt: „Power always concerns the ability of an individual or a group of individuals to affect, or influence, something, someone, or multiple people, be it through persuasion or coercion. This ability derives from control over access to valued resources.“ (S. 202)
Macht ist demzufolge ein Prozess der Einflussnahme auf das soziale Umfeld, der auf Ressourcen beruht (Sturm & Antonakis, 2015). Macht hat man in dieser Lesart immer dann, wenn man über etwas verfügt, das andere wertschätzen oder haben wollen. Dies kann beispielsweise bestimmtes Wissen sein, Finanzen, Zugang zu materiellen Dingen, Netzwerke oder die Fähigkeit, Koalitionen zu bilden, aber auch Ansehen oder Zugehörigkeit (Anderson & Brion, 2014). Die Macht über jemanden wird dabei umso größer, je weniger sich jemand die Ressource aufgrund der Einzigartigkeit woanders holen kann und je ungleicher das Verhältnis ist (d. h. der andere verfügt selbst über keine Ressourcen, die man selbst wertschätzen würde). Im organisationalen Kontext sind es meist die Führungskräfte, die mit Machtressourcen ausgestattet sind, wie z. B. Budgethoheit, Entscheidungsbefugnissen oder Zugang zu Wissen. Allerdings sind Führungskräfte damit nicht automatisch mächtig. Denn wenn deren Ressourcen für die Mitarbeiter nicht relevant sind oder diese auf Entscheidungen von Führungskräften aufgrund hoher Autonomie nicht angewiesen sind, schwindet die Macht von Führungskräften. Nutzen Führungskräfte ihre Macht aus, um Einfluss zu nehmen, dann handelt es sich meist um Einflussstrategien, die primär nicht auf Überzeugung, Wirklichkeitskonstruktionen oder Identitäten der Geführten zielen, sondern darauf, Dinge auch gegen andere Personen um- und durchzusetzen. Beispielsweise, indem Koalitionen und Allianzen geschmiedet werden, oder Ressourcen wie Budgetverteilungen eingesetzt werden. Bei der Diskussion von Macht in Organisationen ist es zudem wichtig, simple „Missverständnisse von Macht“ (Battilana & Casciaro, 2021) zu vermeiden: 1. Macht basiert nicht auf den Ressourcen an sich – also weder auf Dingen wie Geld noch auf überlegenen Persönlichkeitseigenschaften oder dem Expertenwissen. Macht ist vielmehr genuin etwas, das in Beziehungen stattfindet.
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2. Macht ist stets an Beziehungsdynamiken gebunden – sie lässt sich nicht aus einer Position im sozialen Gefüge allein ableiten. Allein zu wissen, dass jemand der CEO oder Präsident ist, sagt über seine Macht recht wenig aus. 3. Macht ist per se weder gut noch schlecht, sondern ein Grundtatbestand des Sozialen. In Organisationen ist Macht ein zentrales Medium. Denn in Organisationen ist es notwendig, über Differenzierung arbeitsteiliges Handeln zu ermöglichen und zugleich die unterschiedlichen Beiträge einzelner Akteure aufeinander abzustimmen (Koordination und Integration) (Lawrence & Lorsch, 1967). Um das wiederum zu gewährleisten, sind Organisationen auf Macht angewiesen. Organisationen müssen sicherstellen, dass die Mitglieder der Organisationen sich zu einem hinreichenden Grad unter die Organisationszwecke unterordnen, bestimmte Aufgaben übernehmen und an den Schnittstellen ausreichend effektiv zusammenarbeiten (Du Gay & Vikkelsø, 2017). Es geht also darum, die für die Wertschöpfung erforderlichen Leistungen der Beschäftigten abrufen zu können. Das Arbeitsvermögen der Beschäftigten muss in Arbeitsleistung umgesetzt werden – eine Herausforderung, die in der Arbeitsforschung als Transformationsproblem der Arbeit bezeichnet wird. Allein auf die (intrinsische) Motivation der Beschäftigten kann sich die Organisation dabei nicht verlassen (Gerhart & Fang, 2015). Ein Zugang zur Lösung des Transformationsproblems liegt im Wesenskern einer (bürokratischen) Organisation, und zwar in der organisationalen Struktur. Kernelemente der organisationalen Struktur sind die Regeln (Vorschriften, Vergütungsstrukturen), die einen (mehr oder weniger) verbindlichen Einfluss auf die Verhaltensweisen der Organisationsmitglieder haben, und die Hierarchie- und Abteilungsbildung. Mit Blick auf Machtbeziehung besonders relevant ist es für Organisationen, eine Hierarchie (im Sinne einer Autoritätsstruktur, siehe Du Gay & Vikkelsø, 2017; van den Steen, 2010) zu etablieren. In der Hierarchie als einer Form der vertikalen Arbeitsteilung sind die Führungskräfte befugt, den Beschäftigten Anweisungen zu geben, sie zu überwachen und entsprechend dem Regelapparat der Organisation zu sanktionieren (etwa durch Kritik, Abmahnung, Kündigung) oder zu belohnen (etwa durch Beförderungen, finanzielle Anreize, Weiterbildungen). Über die „bürokratischen“ Elemente von Organisationen verfügen die Führungskräfte dann über Ressourcen der Macht. Diese eben aufgezählten Elemente von Organisationen können als institutionalisierte Machtressourcen verstanden werden. Dies gilt, auch wenn an dieser Stelle angemerkt werden könnte, dass die Sichtweise von organisationalen Strukturen als Machtressourcen einseitig den Zwangscharakter von Strukturen in den Vordergrund stellt. Denn freilich gibt es eine umfassende Historie, die die Sichtweise von Organisationen als „stählernes Gehäuse“ (Max Weber) relativiert und dabei beispielsweise die Gegenmacht der unteren Hierarchiestufen betont (Gouldner, 1954) oder den ermöglichenden Charakter von bürokratischen Strukturen in den Fokus rückt (Adler & Borys, 1996). Gleichwohl: Die organisationalen Kernelemente (Regeln, Abteilungsbildung, Hierarchie) als Ressourcen
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S. Kaiser und A. Kozica
der Macht sind für die traditionellen Organisationen und deren humanbasierte Wertschöpfung prägend. Für digital transformierte, grenzaufgelöste Organisationen verändert sich dies allerdings.
20.3.2 Veränderung von Machtdynamiken In Organisationen, die durch Grenzauflösung und Dezentralisierung geprägt sind, ergeben sich andere Machtdynamiken als in traditionellen Organisationen, die durch klassische Arbeitsverhältnisse und feste Organisationsgrenzen geprägt sind. Im folgenden Kapitel zeigen wir zwei Dynamiken auf, in denen sich relevante Veränderungen ergeben. Dabei folgen wir dem Gedanken, dass eine Organisation in ihrem Wesenskern immer (auch!) ein Machtinstrument ist, das durch Regeln, Unterordnung (Arbeitsvertrag), Hierarchie und Kontrolle die Transformation von Arbeitsvermögen in Arbeitsleistung gewährleistet. Macht bei grenzaufgelöster Organisation von Arbeit Führungskräfte können in Organisationen auf die Beschäftigten durch unterschiedliche bürokratische Elemente wirken (Regeln, Vorschriften, Abmahnung, Kontrollrechte) – diese Machtressourcen sind für externe Beschäftigte sowie bei hybrider Arbeit anders gestaltet als für reguläre Arbeitsverhältnisse. Daraus ergeben sich Steuerungs- und Führungsfragen, die mit Machtressourcen und Machtdynamiken verbunden sind. Deutlich wird dies bei freien Mitarbeitenden (Freelancer), die insbesondere für Tätigkeiten im Bereich IT, Medien, Ingenieursdienstleistungen, aber auch bspw. für Pflegearbeit (McDonald et al., 2021) beauftragt werden. Wir verstehen hier unter Freelancern (externe) Beschäftigte, die mit den Organisationsmitgliedern direkt interagieren und an organisationalen Prozessen mitwirken. Freelancer sind frei von der organisationsinternen Bürokratie, sie sind selbstständige Unternehmer außerhalb der traditionellen Grenzen der Organisation und müssen entsprechend den Regeln und Vorgaben der Organisation nicht folgen. Plessner und Husted (2020) bringen es auf den Punkt: „The conventional employer is powerful because he or she can make the employee do something that the employee would not have done otherwise. People become freelancers in order to escape these kinds of constraints.“
Zwischen Organisation und Freelancer existiert dennoch eine Machtbeziehung. So müssen Freelancer Geld verdienen, sie sind abhängig davon, Aufträge zu erhalten. Dafür müssen sie sich marktfähig präsentieren, an den eigenen Kompetenzen arbeiten und sich in den konkreten Aufträgen bewähren. Die Beziehung zwischen Freelancer und Organisation (Auftraggeber) wird vermarktlicht und mit Blick auf Machtfragen greifen andere Mechanismen: Der bürokratische Modus wird ersetzt durch die Marktbeziehung, die Verfügung über
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die Mitarbeiter durch Hierarchien und Weisungsbefugnisse (und darauf basierende Regeln, Vorgaben und die Möglichkeit der Kontrolle des Verhaltens bei der Arbeitstätigkeit) wird transformiert in Kontrolle der konkreten Leistung über ein marktliches Arrangement. Eine besondere Bedeutung kommt dabei den Wissensbeständen als Machtressource zu, die in Organisationen und bei den externen Mitarbeitern kumuliert werden. Freelancer kumulieren als freie externe Mitarbeiter insbesondere dann Machtressourcen, wenn sie spezifisches Wissen haben, das für Unternehmen erfolgskritisch ist und nicht anderweit erworben werden kann (Kozica et al., 2013). Machtdynamiken können aus den Verschiebungen von unternehmensspezifischem Wissen resultieren, wenn bestimmte Freelancer immer wieder von der Organisation beauftragt werden. In diesem Fall kann es dazu kommen, dass (vormals) unternehmensinternes Wissen bei wiederholter Auslagerung der Tätigkeiten an Freelancer systematisch auf diese übergeht (Rössing & Kaiser, 2012). Daraus resultierende Abhängigkeiten der Unternehmen von diesen Freelancern verschieben die Machtverhältnisse zugunsten der Freelancer. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn Freelancer eben nicht nur temporär für Aufgaben beauftragt werden, die die Organisation in dem Moment nicht selber lösen kann. Wie die Unternehmensberater, die mit Expertenwissen bei der Formulierung einer Unternehmensstrategie unterstützen. Sondern die Freelancer vielmehr im Kern der unternehmerischen Wertschöpfung mitwirken, bspw. weil sie Produkte des Unternehmens mitentwickeln. Während sich der Freelancer den bürokratischen Regeln vollständig entzieht, lässt sich eine ähnliche Tendenz bei der nach der Coronapandemie propagierten hybriden Arbeit feststellen. Hybride Arbeit, d. h. Arbeit, die in Teilen im Homeoffice oder mobil erbracht wird, folgt hier ähnlichen Dynamiken. Bei hybrider Arbeit greifen die Machtinstrumente der Organisation zwar noch prinzipiell (organisationale Regeln, Hierarchie, Führung), denn die Beschäftigten sind weiterhin Mitglieder der Organisation. Deren Anwendung gelingt aber nur bedingt und die Bedeutung dessen, was es heißt, „Mitglied“ einer Organisation zu sein, verändert sich. Organisationale Identität und Zugehörigkeitsgefühl nehmen ab. Die Beschäftigten im Homeoffice sind weniger gut kontrollierbar, zumindest nicht durch die weithin üblichen Formen der Kontrolle durch persönliche und physische Nähe am Arbeitsort. Zwar gibt es immer mehr technische Möglichkeiten, durch digitale Tools die hybride Arbeit eng zu überwachen. Diese werden mit Blick auf Datenschutz sowie aus kulturellen Gründen bislang aber wenig umgesetzt. Dadurch ergibt sich, dass Mitarbeitende im Homeoffice stärker auf Basis von Leistungen gesteuert und kontrolliert werden (siehe bspw. die aktuelle Diskussion zu Objective Key Results (OKR)). Dies führt, wie wir an anderer Stelle ausgeführt haben (Kozica & Kaiser, 2021), ebenfalls zu einer zunehmenden Transaktionalisierung der Beschäftigungsbeziehung im Zuge der Hybridisierung von Arbeit. Die Gemeinsamkeiten zwischen Freelancer und hybrider Arbeit mit Blick auf die Machtdynamiken sind deutlich erkennbar: Für beide sind die Regel- und Überwachungsmechanismen der Organisation, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, weniger relevant, Kontrolle verschiebt sich von der Verhaltens- zur Outputkontrolle und die Beziehung wird durch den Fokus auf Output insgesamt stärker kommodifiziert. Die Machtdynamik zwischen
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S. Kaiser und A. Kozica
den Führungskräften, die sich in weiten Teilen auf die oben genannten institutionalisierten Machtressourcen stützen, und den Trägern von Wertschöpfungspotenzialen (z. B. Freelancer oder Mitarbeitende im Homeoffice) verändert sich dadurch. Macht bei dezentralisierter und digitalisierter Organisation von Arbeit In dezentralisierten und häufig auch räumlich entgrenzten Organisationen übernehmen Algorithmen zunehmend bürokratische Aufgaben wie die Koordination der Leistungen der Beschäftigten, die Aufgabenzuteilung, Personalentscheidungen (Stichwort „People Analytics“) oder sogar die Abteilungsbildung (Krogh, 2018). Insofern sind Algorithmen relevant für die Veränderungen der Machtbeziehungen in Organisationen mit Blick auf interne und externe humanbasierte Wertschöpfungspotenziale (Jarrahi et al., 2021). Die Frage von Plesner und Husted (2020) bringt es auf den Punkt: „Why do we need centralized authority when the ‚smart machine‘ does a large portion of the thinking?“ Die digitale Transformation greift dabei in bestehende Machtverhältnisse ein und verändert dort die Beziehungen der Akteure untereinander. Jarrahi et al. (2021) folgend wirkt sich die zunehmende Einführung von algorithmenbasiertem Management paradox aus: Einerseits wird die Macht von Führungskräften über die Beschäftigten intensiviert, andererseits insgesamt die Machtstellung der Führungskräfte relativiert. Die Macht der Führungskräfte vergrößert sich, da diese die Arbeitsbeziehungen durch die Algorithmen in ihrem Sinne gestalten können. Algorithmenbasierte digitale Systeme werden von Führungskräften entschieden und eingeführt. Die Ausgestaltung der Systeme folgt den Vorstellungen der Führungskräfte. Die technischen Möglichkeiten, das Verhalten der Beschäftigten zu steuern, werden erweitert (durch Anreizsysteme, bspw. Gamification/Nudging, oder durch Überwachung und Kontrolle). Allerdings können die algorithmenbasierten Managementsysteme dazu führen, dass Führungskräfte an Einfluss verlieren, da sie durch Algorithmen ersetzt werden. Und zwar insbesondere die mittleren und unteren Führungsebenen, die an der Architektur und Systemgestaltung nicht mitwirken. Aus Sicht der Beschäftigten spiegeln sich diese machtbezogenen Überlegungen im Spannungsfeld der wahrgenommenen Autonomie (Machtgewinn) und Kontrolle (Machtverlust), die mit der Einführung algorithmenbasierter Koordination von Arbeit einhergehen (Bader & Kaiser, 2017). Ein weiteres Beispiel für die Veränderung von Machtdynamiken in dezentralisierten Organisationen ist die digitale Organisation von Plattformarbeit. Besonders deutlich werden die Machtverschiebungen bei der Nutzung von humanbasierten Wertschöpfungspotenzialen über digitale Plattformen etwa für Gig-Work. Die Vermittlung von Gig-Work, aber auch die Bearbeitung von Aufgaben selbst erfolgen zunehmend auf digitalen Plattformen. Diese Plattformen werden als digitale Ökosysteme mit ihren algorithmischen Funktionsmechanismen zu relevanten Intermediären in den Machtdynamiken zwischen den organisationsinternen und externen Akteuren im digitalen Raum. Die Plattformen nehmen dabei eine Zwischenstellung zwischen rein marktlichen Austauschbeziehungen und hierarchischen Organisationen ein. Sie übernehmen einerseits wie Organisationen Koordinationsaufgaben durch Regeln, Kontroll- und Anreizmechanismen, binden andererseits die wertschöpfenden Akteure aber
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nicht als Mitarbeitende über einen Arbeitsvertrag ein, sondern über rein marktliche Mechanismen. Entsprechend können die Plattformen als „hybrid structure between organisations and markets, providing a mixture of market-based and hierarchical power“ (Kretschmer et al., 2022) betrachtet werden. In der Arbeits- und Organisationsforschung wird (empirisch) untersucht, wie sich das Verhältnis zwischen den Gig-Workern und den Plattformen (Intermediären) mit Blick auf die Machtbeziehungen verändert. Eine relevante Beobachtung dabei ist, dass Machtbeziehungen wesentlich aus der Kontrolle der Architektur der Plattform entspringen (Kretschmer et al., 2022). Das Zusammentreffen von Auftraggeber (Organisation) und Auftragnehmer (Gig-Worker) findet hier teils ausschließlich, in jedem Fall aber primär über die digitalen Technologien statt. Entsprechend werden die Arbeitsprozesse und die Kontrolle der arbeitenden Gig-Worker durch den digitalen Intermediär gestaltet (Newlands, 2021). Entsprechend relevant ist es, wie der digitale Raum gestaltet ist. Dabei kann beobachtet werden, dass Algorithmen einen oft starren Rahmen setzen, wie Aufgaben erledigt werden müssen. Allerdings, so stellen Ferrari und Graham (2021) fest, ist die Macht von Algorithmen brüchig. Gig-Worker können die Gig-Working-Plattformen unterlaufen oder bestimmte Regeln umgehen. Ein Beispiel dafür ist Upwork, die (in manchen Ländern) zu zufälligen Zeitpunkten Screenshots der Arbeitenden aufnehmen – was aber durch leichte technische Modifikationen und einen zweiten Bildschirm unterlaufen werden kann (Ferrari & Graham, 2021). Während die Machtdynamiken zwischen Gig-Workern und den digitalen Plattformen also zunehmend untersucht werden, sind (empirische) Studien zu den Verschiebungen zwischen den auftraggebenden Organisationen und ihren humanbasierten Wertschöpfungspotenzialen, die teilweise über die Plattformen eingebunden werden, noch nicht vorhanden. Es lässt sich vermuten, dass die Abhängigkeit von der Funktionsweise der Plattformen in dem Maße steigen wird, indem diese von Unternehmen eingesetzt werden. Wie beim Einsatz von Freelancern macht es dabei einen Unterschied, ob die Gig-Working-Plattformen für erfolgskritische, zentral wertschöpfende Tätigkeiten oder rein administrative Aufgaben ohne kritische Erfolgsbeiträge eingesetzt werden. In zunehmendem Maße entstehen in der Plattformökonomie derzeit Geschäftsmodelle, in denen etablierte Unternehmen in digitalen Ökosystemen allerdings auch erfolgskritische Aufgaben über digitale Plattformen bearbeiten. Macht entspringt auch hier wesentlich aus der Kontrolle der Architektur der Plattform (Gawer, 2022).
20.4
Abschließende Diskussion
Es lässt sich festhalten, dass sich traditionelle und klassische bürokratische Organisationen im Zuge der Digitalisierung verändern. Komplexe Ökosysteme der Wertschöpfung und dezentralen Arbeitsorganisationen als Orte für Machtausübung und Machtquellen entstehen. Für klassische Organisationen zeigt sich, dass es aufgrund von Grenzauflösungen und
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S. Kaiser und A. Kozica
zunehmend dezentral organisierter, digitaler Arbeit zu einem Bedeutungsverlust kommt. Organisationale Mechanismen wie Hierarchie und Führung verlieren im Zusammenhang mit Machtressourcen an Relevanz. Wir haben im vorliegenden Beitrag zwei besonders interessante Blickwinkel eingenommen, um die Machtdynamiken besser erfassen und berücksichtigen zu können: • Erstens lohnt es sich, Organisationen nicht als Entitäten mit festen Grenzen zu betrachten. Stattdessen sollten stärker alle humanbasierten Wertschöpfungspotenziale in den Blick geraten, die sich durch unterschiedliche Konstellationen auszeichnen: klassische Beschäftigte, Arbeitende in hybriden Konstellationen, Freelancer und Plattformarbeiter (Gig-Worker). Insgesamt kann dabei beobachtet werden, dass Machtbeziehungen stärker vermarktlicht werden und weniger auf den Ressourcen basieren, die in unmittelbaren sozialen Beziehungen relevant werden. • Zweitens ist die Betrachtung digitaler Technologien und intelligenter Algorithmen relevant, die eine weitgehende Dezentralisierung und räumliche Entgrenzung von Arbeit zulassen. Hier ist die Ausgestaltung der Schnittstelle zwischen humanen und digitalen Akteuren im Kontext der Mensch-Technik-Interaktion bedeutsam, um Machtdynamiken zu verändern. Es zeigt sich, dass dabei Effekte sowohl einer Machtzunahme als auch eines Machtverlustes denkbar sind. Indem der Beitrag diese Machtdynamiken aufzeigt, propagiert und ermöglicht er eine mit Blick auf Machtdynamiken reflektierte Gestaltung von humanbasierten Wertschöpfungspotenzialen bei einer grenzaufgelösten und dezentralisierten Organisation von Arbeit.
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Prof. Dr. Stephan Kaiser ist Inhaber der Professur für Personalmanagement und Organisation und Vorstand im Institut für Entwicklung zukunftsfähiger Organisationen an der Universität der Bundeswehr München. Promotion und Habilitation erfolgten an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Personalmanagement, Organisation und Unternehmensführung mit Fokus auf Phänomenen der digitalisierten Arbeitswelt. Prof. Dr. Arjan Kozica ist als Professor für Organisation und Leadership an der ESB Business School sowie als Vizepräsident der Hochschule Reutlingen tätig. Zuvor war er mehrere Jahre in der Bundeswehr tätig, unter anderem als wissenschaftlicher Referent und Dozent an der Führungsakademie der Bundeswehr (Hamburg). Schwerpunkte seiner Forschung sind die Digitalisierung der Arbeitswelt, organisationaler Wandel und Change sowie Personalmanagement.
Die Macht der Autorität
21
Warum wir für die Transformation eine Evolution unseres Bewusstseins zu Autorität brauchen Frank Baumann-Habersack
Zusammenfassung
Autorität ist nicht gleichzusetzen mit Macht, obgleich Autorität eine Form von ihr ist. Sowohl Macht als auch Autorität sind das Gegenteil von Gewalt und Zwang. Durch einen aktiv gestalteten Evolutionsprozess des Bewusstseins zu Autorität lassen sich auch scheinbar feststehende Machtasymmetrien in Bewegung bringen. Dieser zunächst in einem Individuum beginnende Transformationsprozess entfaltet sich durch Interaktion in sozialen Systemen. Jede Transformation ist mit Konflikten verbunden. Deren Energie können Menschen in Organisationen mit einer transformativen Haltung zu Autorität nutzen; sie können Gleichwertigkeit und Co-Führung in Führungsbeziehungen entstehen lassen, ohne Führung aufzugeben. Diese sich in Organisationen mit der Zeit daher ausbildenden Kompetenzen können Menschen nutzen, um auch als BürgerInnen den gegenwärtigen politischen und ökonomischen (Dis-)Kurs zu verändern.
Den meisten ist mittlerweile klar, unter anderem aufgrund des Klimanotstands, einer Pandemie und des Kriegs in Europa, dass wir1 es in Gesellschaft und Wirtschaft nicht nur F. Baumann-Habersack (B) Burgdorf, Deutschland E-Mail: [email protected] 1 Wir verwende ich im gesamten Beitrag als Ansprache. Die Verwendung bedeutet weder eine Ein-
hegung, Allgemeingültigkeit noch einen Wahrheitsanspruch. Jeder/Jede kann prüfen, an welcher Stelle sie bzw. er sich dem Wir zugehörig fühlt oder auch nicht.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 O. Geramanis et al. (Hrsg.), Organisationale Machtbeziehungen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42092-5_21
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F. Baumann-Habersack
mit inkrementellen Veränderungen zu tun haben. Vielmehr sind diese Konflikte und Krisen dabei, das Wesen sowie die Gestalt unserer Systeme neu zu formen. Das Merkmal für eine Transformation (Burns, 2003, S. 24; Polanyi, 2021, S. 70). Akteure/Akteurinnen setzen insbesondere im transformativen Wandel Kräfte ein, um sowohl Macht als auch Autorität für ihre Interessen (neu) in Wirkung zu bringen. Vor allem auch in Diskussionen werfen viele Menschen häufig die Begriffe Autorität, Macht und Einfluss in einen Topf. Daraus entsteht dann eine Gemengelage, bei der inzwischen ungewiss geworden ist, was sie eigentlich bewirken soll. Bereits die politische Theoretikerin Hannah Arendt konstatierte, dass unser Denken so von einer Kultur der Dominanz durchdrungen sei, dass wir nicht mehr in der Lage seien, differenziert darüber nachzudenken (Arendt, 2013, S. 45). Darüber braucht es jedoch Klarheit, wenn es in Organisationen besonders auch auf die Wirkung von Entscheidungen ankommt beziehungsweise wenn wir aktiv gestalten wollen.
21.1
Wenn nicht nur Freiheit endet, sondern auch Gewalt beginnt
Schauen wir uns zunächst die Phänomene Macht und Einfluss an. Meine Betrachtungen basieren dabei auf der Machttheorie des Philosophen Byung-Chul Han, da seine Überlegungen das Phänomen Autorität erklärbarer machen. Darüber hinaus zeigt er, dass sich Macht auch räumlich darstellt (Han, 2015, S. 28 f.). Han unterscheidet Macht von Einfluss, denn wenn zwei Menschen ihren gegenseitigen Einfluss aufeinander intensivieren, so steigert das weder zwingend Macht noch stärkt es ihre Beziehung. Schließlich strebt Macht danach, sich in und damit durch eine:n andere:n zu verwirklichen; sie breitet sich hierdurch räumlich (sowohl örtlich als auch feldförmig verstanden) aus. Dieser machtinhärenten Dynamik fehlt jedoch der Einfluss (was wir in diesem Kontext im Allgemeinen als Wirkung von Kräften verstehen können). Daher muss sich die Einfluss- in eine Machtbeziehung wandeln, um Einfluss zu Macht werden zu lassen. Die freiwillige Bindung sowie deren Intensität zwischen zwei Menschen in Freiheit ist der Moment für diesen Wandel. Freiwilligkeit und Bindung bedingen somit die Form, in der sich Macht zeigt, während Freiheit und Gewalt die beiden Pole eines Machtkontinuums bilden (siehe Abb. 21.1). Je freiwilliger und intensiver die wechselseitige Bindung ist, desto mehr generiert dies (ein Gefühl der) Freiheit. Sowohl bei höchster Freiwilligkeit als auch Bindung gehen Macht und Freiheit ineinander über – Menschen folgen dann freiwillig dem Willen des anderen. Und die Machtbeziehung ist nahezu stabil.
Abb. 21.1 Machtkontinuum nach Han. (Quelle: eigene Grafik)
21 Die Macht der Autorität
341
Macht wirkt gerade dadurch, dass sie Menschen auch ohne ausdrückliche Handlungsanweisung bewegen kann. Der Freiheitsaspekt differenziert daher Macht von Gewalt oder Zwang. Wenn keine Freiheit und wechselseitige Bindung mehr existieren, ist die Beziehung instabil. Machtlosigkeit – als (paradox wirkende) Form der Macht – zeigt sich dann auf dem Machtkontinuum als Gewalt. Denn diese zwingt Menschen in Passivität und Unfreiheit. Wenn Vorgesetzte beispielsweise versuchen, ihre Entscheidungen mit Drohungen oder Zwang durchzusetzen, erzeugt das eher eine instabile Machtbeziehung, denn ihr fehlen die Freiwilligkeit und innere Bindung beider Seiten für eine stabile Beziehung (Han, 2015, S. 14 ff.). Wir können Macht auch als räumliche Form eines Feldes beobachten statt nur als Operation einer Kommunikationsbeziehung. Dafür ist es hilfreich, ergänzend mit einem retiven Systemmodell „die Wirklichkeiten“ wahrzunehmen, denn retive Modelle betrachten soziales Geschehen als wechselwirkende Relations- und Lageverhältnisse mit dem situativen Kontext2 . Diese (Beziehungs-)Verhältnisse oder Felder (soziale Räume) bilden sich erst durch deren (Beziehungs-)Aktivitäten in einem Netzwerk heraus (Latka, 2003, S. 261). Macht – wenn sie als räumliche Form wahrgenommen wird – modelliert damit diffuse (Einfluss-)Kräfte zu einer Gesamtordnung. Dieser für viele bislang unsichtbare, soziale Raum ist einzelnen Machtbeziehungen vorgelagert. Mit dessen Hilfe erhält eine Handlung erst eine Richtung beziehungsweise einen Sinn. Die Feldwirkung kann sich unter anderem darin zeigen, dass an einem räumlichen Ort abwesende Menschen oft mehr wirken als anwesende – ähnlich einer Gravitation (Han, 2015, S. 28 f.). Alle Machtformen richten sich darauf aus, dass es eine Machtperson gibt, die sich mithilfe von anderen verwirklicht (Han, 2015, S. 30): Je mehr Macht dieser Mensch zum Beispiel als Führungskraft in einer Organisation einnimmt, desto mehr ist er darauf angewiesen, dass MitarbeiterInnen ihn beraten und mitwirken. Er kann zwar viel anweisen, aber die steigende Komplexität und Abhängigkeiten des Machthabenden erwachsen sich zu einer Machtquelle für die MitarbeiterInnen. Die Macht streut sich strukturell, sodass sie faktisch auf diese übergeht (Han, 2015, S. 13 f.). Wir können mithilfe dieser verkürzten Perspektive auf das Phänomen Macht erkennen, in welchen Formen sie sich zeigen kann – abhängig davon, mit welchen mentalen Modellen wir unsere „Wirklichkeiten“ wahrnehmen. Hierbei stellt sich weniger die Frage nach dem richtigen oder falschen Modell (es sei denn, mensch möchte um Einfluss oder sogar Macht ringen …), sondern eher danach, wie hilfreich unsere Wahrnehmung(en) beziehungsweise mentalen Modelle für die anstehenden, sehr großen Aufgaben im Kontext der Transformation sind (falls das jemand für ein relevantes Kriterium erachtet …). Ebenso verhält es sich mit Autorität.
2 … ergänzend zu operativen Systemmodellen, die das Ziel verfolgen, BeobachterInnen das zu
Beobachtende in gleichartige Operationstypen oder Klassen (sozial, psychisch und biologisch) einzuordnen.
342
21.2
F. Baumann-Habersack
Autorität ist nur eine Form von Macht
Doch dem Phänomen der Autorität lässt sich noch schwieriger annähern als dem der Macht. Denn Autorität ist nicht gleich Macht, sondern vielmehr eine (weitere) Form dessen. Daher möchte ich mich ihm für diesen Beitrag mithilfe ausgewählter philosophischer, sozialpsychologischer und soziologischer Perspektiven annähern. Autorität ist ein relatives Wort und meint grundsätzlich eine Beziehung (Bochenski, 1974, S. 19). Doch aufgrund unseres Sprachgebrauchs verdinglichen oder personalisieren wir den Begriff der Autorität kontinuierlich: Wenn wir ihn einerseits als Eigenschaft einer Institution oder Funktion ansehen, machen wir den Begriff zu einem Gegenstand; wenn wir ihn aber als menschliche Eigenschaften wahrnehmen, binden wir das Phänomen an eine Person (König, 2007, S. 62 ff.). Da Autorität ein Beziehungsphänomen ist, setzt es wie jede Beziehung den Austausch von Erwartungen und Erwartungserwartungen voraus (Sofsky & Paris, 1994, S. 22 ff.), und nur aufgrund anderer Menschen können „Autoritäten“ zu selbigen werden. Diese Menschen autorisieren beziehungsweise legitimieren wiederum also eine Autoritätsperson dazu, sie zu führen. Das bedeutet, dass sie einer Autoritätsperson oder -funktion freiwillig folgen, wenn sie glauben, dass diese legitim sei (Sennett, 2012, S. 29). Die Betonung liegt hier auf glauben, da dies der eigentliche Legitimationsmoment für legitim ist. Wir können den Legitimationsprozess auf eine subjektive (psychodynamische), wechselwirkende Wahrnehmungsleistung eines Individuums mit (s)einem Kontext verdichten. Autorität vermögen wir im Grunde genommen als einen Prozess der freiwilligen Zuschreibung von Führung ansehen, der jedoch erst dann zu wirken beginnt, wenn die Zuschreibung angenommen wird. In unserer Gesellschaft ist diese Zuschreibung an männlich konnotierte Formen der Beziehungsgestaltung gekoppelt: der Delegation von Aufgaben, Vertretung von Normen, Erwartung von Disziplin. Dies erschwert Frauen die Autoritätszuschreibung, während wiederum Männer schlechtere Chancen haben, Autorität über Aspekte wie Versorgungszuverlässigkeit, Einfühlung oder Verbalisierung von Befindlichkeiten zugeschrieben zu bekommen. Denn diese Merkmale werden hier weiblich konnotierten Formen der Beziehungsgestaltung zugeschrieben (Großmaß, 2018, S. 173). Auch wenn diese Phänomene der Makroebene in Organisationen stark wirken, sind sie nicht allein maßgebend dafür, ob eine (Führungs-)Person Autorität zugeschrieben bekommt. Je nach kulturellem Verständnis in einer Organisation ist es durchaus möglich, dass Frauen männlich assoziierte beziehungsweise Männer weiblich assoziierte Autoritätsmerkmale zugeschrieben bekommen – und damit auch Autorität. Die Wahrscheinlichkeit ist jedoch geringer, denn Autorität ist (in unserer patriarchal westlich geprägten Gesellschaft) eindeutig männlich und weiß (Wille, 2018, S. 345 ff.). Unter anderem auf Basis meiner wissenschaftlichen Arbeit zu Autorität und den bisherigen Überlegungen schlage ich diese Definition von Autorität in Organisationskontexten vor:
21 Die Macht der Autorität
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Autorität ist ein homöostatisches Ergebnis von Zuschreibungen über freiwilliges Führen und Folgen. Dieses emergiert kontinuierlich durch einen wechselseitigen Verhandlungsprozess zwischen Menschen innerhalb eines organisationalen Kontextes. Die Zuschreibungsquellen und deren Legitimierung wechselwirken gleichzeitig sowohl zwischen den Verhandlungsparteien auf struktureller und individueller Ebene als auch auf der Ebene des Kommunikationsprozesses. Anders formuliert: Autorität entsteht nur durch eine Beziehung zwischen Menschen und geht dann in einen Prozess über. Dieser hält sich selbst so lange aufrecht, wie sich die Menschen in einer Beziehung über freiwilliges Führen und Folgen austauschen, sowie über die Art und Weise des Austauschs – in Wechselwirkung mit der jeweiligen Organisationsstruktur und -kultur (Baumann-Habersack, 2021, S. 95). Wie Autorität jedoch konkret Wirkung entfaltet, entscheidet die Haltung eines Menschen zu Macht und Autorität. In diesem Kontext sind drei Haltungsausprägungen bekannt: die autoritäre, die antiautoritäre und die transformative (Baumann-Habersack, 2021, S. 93 ff.). Wenn ein Mensch über anderen steht, sie ihm untergeordnet sind und gehorchen müssen, nennen wir das autoritäre Autorität – geknüpft an das Bestrafungsrecht, falls Untergebene Anweisungen nicht (unmittelbar) befolgen. Die Strafe nimmt dabei vor allem die Funktion ein, ein Exempel zu statuieren, also abzuschrecken. Andere sollen dies bewusst wahrnehmen, damit sie niemals auf die Idee kommen, Anweisungen keine Folge zu leisten. Somit erzwingt die „Autorität“ indirekt das Folgen. Das ist eine bekannte, traditionelle Haltung zu Autorität. Allerdings ist hier genau genommen die Bezeichnung „Autorität“ unpassend zu den bisherigen Überlegungen, denn es ist vielmehr der fruchtlose Versuch, mithilfe von Gewalt Macht auszuüben. Unsere modernen Formen von Gewalt in Organisationen sind Beschämung und Ausgrenzung (Sennett, 2012, S. 125) – sowohl strukturell als auch kulturell (Galtung, 1998, S. 18 ff.). Patriarchal legen wir eine autoritäre Autoritätshaltung aus, wenn ein Mann allein die Verantwortung und Fürsorge für eine Gruppe Menschen, beispielsweise in einem Unternehmen, übernimmt. Aufgrund der Tatsache, dass er ein Mann ist und für alle sorgt (indem er, zum Beispiel, für durchweg genug Umsatz sorgt), müssen die anderen machen, was er sagt. Sein „väterlicher Rat“ ist Befehl und Gesetz. Wer aber nicht folgt, bekommt die Bestrafung zu spüren. Wenn indes ein Patriarch nur für die Menschen sorgt, solange sie ihm nutzen und ihm dankbar für seine Fürsorge sind, sprechen wir von paternalistischer Autorität. Da ist es durchaus verständlich, dass ab Ende der 1960er-Jahre viele in der antiautoritären Bewegung nicht nur diese gewalttätige Autoritätshaltung ablehnten, sondern jegliche Autorität. Es war der Versuch, die autoritäre „Autorität“ der letzten Jahrhunderte abzuschütteln. Junge Menschen wollten und sollten maximalen Freiraum für ihre natürliche Entwicklung erhalten: weder Grenzen noch Forderungen (Omer & von Schlippe, 2016). Eine antiautoritäre Haltung zu Führungsautorität erkennen wir daran, dass jemand in einer Autoritätsfunktion oder -rolle Verantwortung für Führung nicht (vollständig)
344
F. Baumann-Habersack
Abb. 21.2 Das Machtkontinuum mit Autorität. (Quelle: eigene Grafik)
übernimmt – obwohl Menschen erwarten, dass er oder sie beispielsweise als Bereichsleitung führt. Der Autorität (als Beziehungsphänomen) fehlt dann die Bindung, denn dafür braucht es mindestens zwei: einen Menschen, der Führung zuschreibt, und einen anderen, der nicht nur die Zuschreibung annimmt, sondern auch die damit einhergehende Verantwortung. Das sich daraus ergebende Autoritätsvakuum füllt sich gleichwohl: Mit der Zeit bilden sich Cliquen von Schnellen, Lauten und Starken, die vielfach mit ihren Interessen zum Beispiel die Gruppe dominieren, worüber die politische Theoretikerin Jo Freeman ihre Forschungen in „The Tyranny of Structurelessness“ publiziert hat (1972). Beide Autoritätshaltungen oder Mischungen führen früher oder später zu Gewalt, weil eine Autoritätsperson Menschen entweder direkt beschämt oder ausgrenzt, oder weil die abwesende Autorität das indirekt aufgrund der Dynamiken in Gruppen hervorbringt. Diese Gewaltformen verletzen zudem die Würde der Menschen, was wiederum Beziehungen zerstört. Jedoch gibt es ohne Beziehung keine Zusammenarbeit, keine Wirkung, keine Ergebnisse. Wenn wir diese Befunde zu Autorität und Macht zusammenführen, lässt sich Hans’ Machtkontinuum präzisieren: Autorität nimmt dabei den Gegenpol zu Gewalt ein. Arendt argumentiert ähnlich: Autorität und Zwang, in welchen Formen auch immer, schließen sich gegenseitig aus, denn sobald eine Autoritätsperson Gewalt nutzt, um Gehorsam zu erzwingen, versagt (ihre) Autorität (Arendt, 1956, S. 30) (siehe Abb. 21.2). Zu Freiwilligkeit und Autorität in Organisationen stellt Helmut Ziegler in seiner bereits 1970 erschienenen, lesenswerten Dissertation Strukturen und Prozesse der Autorität in der Unternehmung gleichwohl die relevante Frage: Wie viel Freiheit kann es überhaupt geben, wenn Führungskräfte institutionell das Recht haben (zum Beispiel durch Eigentumsanteile am Unternehmen, das Arbeitsrecht, Betriebsvereinbarungen, Arbeitsverträge …), Autorität (hier also im Sinne von Zwang) auszuüben (Ziegler, 1970, S. 17)? In einer vertikalen Hierarchie ist eine Disposition zum Gehorsam eingeschlossen (Ziegler, 1970, S. 92 ff.). Da Unternehmen beziehungsweise Führungskräfte aber heute nicht mehr wirklich offen ohne Vertrauensverlust von Gehorsam sprechen können, heißt es stattdessen dann – je nach Kultur – vielleicht „Commitment“, die „extra Meile gehen“ oder „Compliance“. Diese Disposition können wir auch in heterarchischen Strukturen (horizontale Hierarchie) beziehungsweise in hierarchischen Mischformen ähnlich beobachten. Das große Interesse an alternativen Hierarchiemodellen, wie beispielsweise Soziokratie, Holokratie, kollegiale Führung oder Large-Scale Scrum, zeigt die Suche danach, wie die Fragen von Zwang oder Macht anders gedacht werden können. Die bestehenden Transformationsaufgaben könnten gute Gründe sein, Macht beziehungsweise verfestigte Machtasymmetrien aus dem letzten Jahrhundert für ein neues
21 Die Macht der Autorität
345
Miteinander in Bewegung zu bringen. Ein evolviertes Verständnis von Autorität kann uns dabei helfen.
21.3
Ein neues Verständnis von Autorität erzählen
Wenn wir die Gewalt der autoritären „Autorität“ nicht weiter akzeptieren, sie also nur noch mit hohen (sozialen) „Kosten“ mehr oder weniger Wirkung erzielen kann, und antiautoritäre Autorität für Führung wirkungslos ist, ja sogar anderen autoritären Kräften den Raum überlässt, dann stellt sich die Frage: Welche wirkungsvolle Alternative gibt es dazu, die auch die gewaltigen Transformationsaufgaben unterstützt (wenn wir diese annehmen)? Durch meine Rolle als Vater fand ich vor rund vierzehn Jahren einen Ansatz zu Führung, der ohne Gewalt auskommt. In einem Kontext, in dem Autorität aber eine besondere Bedeutung hat: die „Erziehung“ junger Menschen. Haim Omer, ein israelischer Psychologe, sah sich Ende der 1990er-Jahre in Israel mit jungen, gewalttätigen Menschen konfrontiert. Sie zeigten so gut wie keinen Kooperationswillen mehr und stiegen aus der Beziehung aus. Sie kehrten nicht einmal zurück, wenn ihnen Gewalt angedroht oder angetan wurde, um sich endlich so zu verhalten, wie die Erwachsenen das von ihnen forderten. Omer fragte sich: Wie sollen wir denn dann für Grenzen sorgen? Wie sollen wir notwendige Schutzmacht einsetzen, um Gewalt einzudämmen? Und vor allem: Wie kommen wir wieder in Beziehung zu den „Ausgestiegenen“? Der Psychologe stieß auf der Suche nach Antworten auf die Psychologie des gewaltfreien Widerstands in der Tradition Mahatma Gandhis, Martin Luther Kings und Gene Sharps. Gemeinsam mit dem deutschen Psychologen Arist von Schlippe begann er, Autorität ontologisch3 (den Wesenskern von Autorität betreffend) weiterzudenken und zu praktizieren. Omer und von Schlippe (2016) entwickelten auf Basis ihrer empirischen Forschung und Praxis die sogenannte „neue“ Autorität für Erziehungskontexte. Ein Haltungsund Handlungskonzept mit im Kern sechs Elementen, das Autoritätspersonen Ideen an die Hand gibt, um die Beziehung zu verbessern: Präsenz, Selbstkontrolle, Transparenz, Vernetzung, Beharrlichkeit und Versöhnungsmaßnahmen (Omer & von Schlippe, 2009). Obwohl es selbstverständlich deutliche Unterschiede zwischen dem Führungs- beziehungsweise Erziehungsstil für Jugendgruppen, Schulklassen oder in Familien und dem für Organisationen gibt: Ich sah die großen Ähnlichkeiten und begann 2010 eine systematische Übertragung auf Führungskontexte. Mich beeindruckte und überzeugte damals – wie heute –, auch aus eigener Erfahrung als Führungskraft, dass dies eigentlich gar kein neuer Führungs verhaltensstil war. Denn wohl alle aus der Praxis wissen: An Verhalten „rumzuschrauben“, Menschen dadurch maschinenartig zu machen und sie ändern zu wollen, ist nicht nur ein hoffnungsloses Unterfangen, sondern auch entwürdigend – und nahezu 3 Wobei Arist von Schlippe (nachvollziehbarerweise) daran gelegen ist, Autorität zu de-
ontologisieren. Ob beziehungsweise wie das möglich ist, wenn mensch dabei Spencer Browns „re-entry“ mitdenkt, bleibt eine wichtige, zu erarbeitende Frage.
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wirkungslos für nachhaltige Veränderungen. Worauf wir aber maximalen Einfluss haben, ist unsere Einstellung – auch zu Autoritätsbeziehungen. Wenn wir unsere Haltung an den Werten dieser dritten Autoritätshaltung ausrichten, vor allem an Gleichwertigkeit, Gewaltlosigkeit, Transparenz, Würde und Präsenz, können wir das Dilemma zwischen autoritär und antiautoritär hinter uns lassen. Wir fokussieren uns dann auf das, was Autorität im Kern ausmacht: die Beziehungsdynamik. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit der Führungswirkung, die auf freiwilligem Folgen beruht. In den vielen Jahren meiner Arbeit in Führungskontexten mit dieser dritten Autoritätshaltung entwickelte sich mein Verständnis dafür weiter – insbesondere dadurch, dass ich mich nun seit etwa vier Jahren hauptberuflich als Wissenschaftler mit der empirischen Grundierung dieser Autoritätshaltung beschäftige. Meine aktuellen Erkenntnisse münden unter anderem in sieben wechselwirkenden Elementen, die einen Kern der transformativen Autorität repräsentieren. Diese geben konkrete Ideen darüber, wie sich die Autoritätshaltung einer Führungskraft in ihrem Verhalten verkörpern kann – abhängig vom Kontext, von der Situation und der eigenen Persönlichkeit. Die kurz skizzierten Handlungsideen der Elemente gestalten die Beziehungsdynamik. Diese Ideen vermitteln nicht selten einen Eindruck von Verhaltensvorgaben, die (strikt) umzusetzen sind. Wer dieser Auslegung folgt, macht aus einem Verhandlungsprozess in einer Autoritätsbeziehung wieder eine „verdinglichte“ Position – das Gegenteil der Haltung der transformativen Autorität. Vielmehr strebt eine Autoritätsperson danach, die Verhandlung im Beziehungsprozess zu bereichern – mit (den Ideen) einer alternativen, transformativen Form der Autorität. Denn in dieser Konstellation erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass andere einem Menschen (in einer Autoritätsfunktion oder rolle) freiwillig Autorität und somit Führung zuschreiben (Baumann-Habersack, 2021, S. 108 ff.): • Das Element Präsenz meint unter anderem, dass Führungskräfte sowohl innerlich als auch in der Interaktion nahbar sind und die Autoritätsfunktion (unabhängig vom Ort) ausfüllen. • Sie fokussieren sich im Rahmen des Elements Selbstführung darauf, nur ihr Verhalten, ihre Gedanken und Emotionen zu kontrollieren. Denn wenn die Führungspersonen ihr Verhalten konsistent verändern, löst dies in der Regel auch andere Reaktionen bei einem Gegenüber aus. Darüber hinaus trägt es zur Deeskalation von Konflikten bei. • In der Führung und Transformation entstehen immer Konflikte. Sie sind willkommen: als hilfreiche Gelegenheiten, die Autoritätsbeziehung zu transformieren – bis hin zu Gleichwertigkeit und Co-Führung. Dabei unterstützt das Element Beharrlichkeit und Deeskalation die Führungsverantwortlichen, denn sie können so deeskalierend und beharrlich Grenzen wahren sowie Ziele anstreben. • Vor allem bei Konfliktbearbeitungen machen Menschen in Führungsrollen selbstverständlich Fehler oder können unbeabsichtigt andere beschämen. Als Rollenmodell im Umgang mit eigenen Fehlern beziehungsweise verursachten sozialen Schäden gehen
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sie im Sinne des Elements Wiedergutmachung/Ausgleich voran, zum Beispiel, indem sie Gesten des Ausgleichs auf sozialer Ebene zeigen. Das kann stark dazu beitragen, gestörte Beziehungen zu befrieden und Vertrauen wieder aufzubauen. • Das Element Reflexion hilft Führungspersonen nicht nur dabei, ihre biografischen Rollenmodelle zu Autorität kritisch zu würdigen, sondern auch ihren eigenen Anteil an Fehlern zu erkennen. Wenn sie darüber hinaus auch regelmäßig die Führungsbeziehung gemeinsam mit MitarbeiterInnen reflektieren, kann mit der Zeit Co-Führung entstehen. • Führungskräfte können sich ihre Führungsarbeit erleichtern, indem sie im Sinne des Elements Transparenz ihre Entscheidungen erläutern und aktiv über ihre Fehler reden. So können dann einerseits alle, zum Beispiel im Team, daraus lernen und in eine Co-Führung hineinwachsen, während sie andererseits dann auch eher die Führung autorisieren. • Diese anspruchsvollen Aufgaben können Menschen mit Führungsverantwortung nur in Solidarität mit anderen Führungskräften ausüben, insbesondere die transformative Konfliktbearbeitung. Das Element Führungskoalition/-netzwerk weist darauf hin, offen mit Kollegen/Kolleginnen im Führungskreis zu kooperieren. Denn das stärkt nicht nur die gesamte Führung im Unternehmen, sondern ist auch ein klares Signal hin zur Kooperation in der Organisation. Keine:r muss (mehr) allein führen. Einige dieser Handlungsideen erscheinen nicht selten so, dass sie doch nur das (Anti-) Autoritäre in neuem Gewand einbringen. Diese Wahrnehmungswirkung vermag einerseits stimmig sein, wenn zum Beispiel eine Autoritätsperson vor allem ihre Autoritätsbiografie noch nicht reflektiert, sich noch nicht ausreichend von (anti-)autoritären Introjekten gelöst oder sich auch noch nicht mit narzisstischen Kränkungen in Autoritätsrollen beschäftigt hat. Das sich daraus wahrscheinlich ergebende Verhalten wird früher oder später (anti-) autoritär. Diese Wirkung kann andererseits trügen, wenn die Autoritätsperson bereits ausreichend an den eben beschriebenen Entwicklungsfeldern mit sich gearbeitet hat, die BeobachterInnen jedoch den eigenen (anti-)autoritären Autoritätsbias noch nicht ausreichend reflektiert haben – und das Andere noch nicht als anderes interpretieren. Selbstverständlich kann auch beides zutreffen: Sowohl Autoritätspersonen als auch BeobachterInnen folgen überwiegend unbewusst ihren traditionellen Autoritätsbias – und verhalten sich entsprechend, jedoch transformativ „gekleidet“. Solche Risiken bestehen. Diesen komplexen, transformativen Lernprozess hin zur Haltung der transformativen Autorität bezeichne ich als eine Evolution des Bewusstseins zu Autorität (bei allen Beteiligten in einer Autoritätsbeziehung). Ohne diesen vermögen die sieben Elemente ihre transformative Kraft nicht freizusetzen: würdewahrende Co-Kreation und Co-Führung entfalten. Die transformative Autorität in Führungskontexten als Definition verdichtet:
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Die transformative Autorität in der Führung versteht sich als verkörperte, transformative Führungshaltung, mit einem Set transformativer Handlungen und Werten. Sie führt zu einer Evolution des Bewusstseins von mentalen Modellen und Mustern in Arbeitsbeziehungen hin zu Gleichwertigkeit, Gewaltlosigkeit und vernetzter Autonomie, sodass Menschen co-kreativ und in Co-Führung für Ziele effektiv wirken.
21.4
Die Evolution unseres Bewusstseins zu Autorität
• Wie wir gesehen haben, lässt sich Autorität ähnlich wie Macht und Gewalt als Funktion in einem sozialen Feld verstehen. Diese Funktion organisiert beziehungsweise verhandelt die Kräfte zum Führen und Folgen. Aktuell sind dank der transformativen Autorität in Organisations- und Führungskontexten drei Haltungsausprägungen zu Autorität und die Wirkung dieser Kräfte bekannt. • Auf einer Art horizontaler Achse, hier beispielsweise im unteren Teil der Abb. 21.3, sehen wir das traditionelle Bewusstsein zu Autorität: autoritär und antiautoritär. Diese Polarität, in die wir überwiegend in Schulen, Bildungseinrichtungen und Organisationen sozialisiert werden, reproduziert sich permanent. Und zwar so lange, bis wir beginnen, unsere Handlungen und Unterlassungen im Zusammenhang mit Autorität (und in der Folge auch die autoritären Strukturen) zu reflektieren. Aufgrund unseres gesellschaftlichen und ökonomischen Kontexts wird insbesondere der autoritäre Pol zudem strukturell bedingt und verstärkt (Polanyi, 2021, S. 70). Die meisten Menschen sind daher selbst heute (wenn auch eher unbewusst) noch an diese Polarität zwischen autoritär und antiautoritär gebunden. • Autoritäre „Autorität“ ordne ich in das Kraftfeld Gewalt ein. Antiautoritäre „Autorität“ kann einerseits gewaltfrei sein, andererseits aber indirekt zu Gewalt führen. Daher ordne ich diese Autoritätshaltung den Kraftfeldern Gewalt und Autorität zu. Bei beiden Haltungen habe ich Autorität in Anführungszeichen gesetzt, weil sie sich im engeren Sinne nicht aus Kräften des Felds Autorität speisen. Bislang fehlen uns dafür jedoch präzisere Bezeichnungen. • Der in dieser Illustration untere Teil der Felder charakterisiert ebenfalls eine (starke) Ich-Zentrierung (dies kann selbstverständlich auch auf das Machtfeld zutreffen, auch wenn diese Abbildung das noch nicht darstellt). Er weist das sogenannte Ego-SystemDenken auf (Scharmer und Hildenbrand 2019). Dabei kreist alles um den eigenen Vorteil und den Wettbewerb, der sich aber nicht kooperativ, sondern ausgrenzend, klein machend oder gar vernichtend zeigt – oder schlicht nur an sich selbst interessiert ist. Das heißt, die autoritäre wie auch die antiautoritäre „Autorität“ basieren beide darauf, dass sich das Miteinander im Prinzip um die Führungskraft dreht. Was erst einmal paradox wirken mag: Das gilt auch für den antiautoritären Bereich. Dieser ist ebenfalls (wenn auch anders) Ich-zentriert – es geht um die abwesende oder sich entziehende Autorität bei Führungskräften.
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Abb. 21.3 Illustration von Feldern sozialer Kräfte. (Quelle: eigene Grafik)
• Das Führungsverhalten bewegt sich entweder im transaktionalen Bereich – das bedeutet, es geht rein um Austauschverhältnisse oder Beziehungen, die die transaktionale Sichtweise zu einer Ware machen und Nutzen stiften müssen. Oder es bewegt sich im transformationalen Bereich, wobei es vor allem darum geht, die Beziehung zu Mitarbeitern/Mitarbeiterinnen zu verbessern. Jedoch nur so weit, dass sie sich wohler fühlen, um voll leistungsfähig zu sein beziehungsweise noch mehr zu leisten. Im Kern bleibt aber auch der transformationale Stil in seiner Grundhaltung dem EgoSystem verhaftet. Denn die Veränderungswirkung endet an der Organisationsgrenze, Machtasymmetrien erhalten sich unhinterfragt aufrecht: Mit beiden Führungsstilen (transaktional und transformational) – der Haltung der Ich-Zentrierung und dem EgoSystem-Denken – verwaltet sowohl die autoritäre als auch die antiautoritäre „Autorität“ lediglich die Gegenwart. Oder konserviert und reproduziert wieder vergangene Muster in immer wieder neuen Gewändern. • Durch den vertikalen Wechsel auf der angedeuteten Achse können wir diese Dichotomie aus autoritärer und antiautoritärer Haltung verlassen. Die transformative Autorität ist somit keine Synthese aus autoritär und antiautoritär, sondern erschließt stattdessen als evolutionärer Prozess einen weiteren (Bewusstseins-)Teil im Feld Autorität. Dieser Teil charakterisiert ein „Ich im Wir“ – und erinnert damit auch an die Themenzentrierte
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Interaktion nach Ruth Cohn (1983). Es geht also in dem Feld der transformativen Autorität in keinem Fall darum, das Ich aufzugeben und alles einem Wir unterzuordnen, sondern darum, sowohl die Autonomie des Ichs zu fördern als auch dessen abhängige Vernetztheit mit anderen Ichs bewusst zu machen. Erst daraus emergiert das spezifische Wir. In diesem hier in der Abb. 21.3 oberen Feldteil geht es (weiterhin) darum, mit einer transformativen Haltung kontinuierlich daran zu arbeiten, • die Arbeits- und Führungsbeziehungen hin zu Gleichwertigkeit, Gewaltlosigkeit und einer vernetzten Autonomie (selbstständig als Individuum, dennoch vernetzt und verbunden mit anderen Individuen) sowie • für gemeinsame Ziele zu entwickeln. Das ist ein kontinuierlicher Prozess, der wohl niemals abgeschlossen sein wird. Grundsätzlich ist die transformative Autorität bereits im Kraftfeld Autorität vorhanden. Wir müssen sie nicht erschaffen, erzeugen oder „implementieren“. Doch hatten wir bislang so gut wie keinen bewussten mentalen und emotionalen Zugang zu ihr und damit auch noch nicht zu diesem in dieser Abbildung eher oberen Teil des Feldes. Dies ist keine spirituelle Aussage (auch wenn ich diese Facette nicht ausschließen kann), sondern sowohl eine phänomenologische (Neue Phänomenologie) als auch eine ontologische. Ich stelle mir überdies die Frage, mit welchem/-n weiteren Logiksystem(en) wir hierbei Autorität auch wahrnehmen können. Das ist mein aktueller Erkenntnisstand, oder mit Luc Ciompis (2019) Worten gesprochen: mein Stand des Irrtums. In meiner wissenschaftlichen Arbeit strebe ich in den nächsten Jahren danach, unter anderem diesen Thesen empirisch Gestalt zu geben. Wie lässt sich also dieser Bewusstwerdungsprozess aktiv gestalten? Dazu gibt es bereits Ideen und Erfahrungen aus anderen Disziplinen.
21.5
Der persönliche Evolutionsprozess im Bewusstsein zu Autorität
• Der „Action-Research“-Forscher und Begründer der Theorie U, Otto Scharmer, beschrieb im Kern, dass wir den inneren Ort verändern müssten, von dem aus wir handelten. Nur mit einer veränderten Sichtweise können wir in die und in der Zukunft führen. Davon wird auch abhängen, ob wir wirklich den sozialen und damit in der Folge technologischen Sprung in eine Kultur der Digitalität schaffen, ob wir dem Klimanotstand wirkungsvoll begegnen. Es reiche nicht mehr, nur die Strukturen zu verändern, in der Hoffnung, dass die Arbeitsform der Funktion folgen wird. Vielmehr folge die Form dem Bewusstsein, so Scharmer (2019). Der innere Ort zum Thema Führung ist im Wesentlichen die Haltung zur Autorität. • Neben Scharmer gibt es etliche weitere wissenschaftliche Arbeiten von Forschern/ Forscherinnen, die sich mit dem Konzept der Transformation beschäftigen, unter anderem die amerikanische Erziehungs- und Politikwissenschaftlerin Carolyn Shields
21 Die Macht der Autorität
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(2018, S. 18 ff.). Ihr Konzept der transformativen Führung hat sie klar von transaktionaler sowie transformationaler Führung abgegrenzt. Denn der transformative Ansatz arbeitet unter anderem darauf hin, tiefgreifende Veränderungen zu bewirken: hin zu mehr Emanzipation, Gleichberechtigung und Demokratie. Dadurch wirkt der Ansatz auch daran mit, den soziokulturellen Rahmen von Führung zu transformieren. Auch die „neue“ Autorität nach Omer und von Schlippe (2016) hat einen transformativen und damit auch gesellschaftspolitischen Kern – vor allem durch die starke Verwobenheit mit der Psychologie des gewaltfreien Widerstands. • Die transformative Autorität ist eine Einstellung sich selbst und anderen gegenüber, die Führungsbeziehungen zu einem erweiterten Bewusstsein zu führen. Damit Menschen „auf Augenhöhe“ sowohl eine gemeinsame Zukunft gestalten als auch in Co-Führung vernetzt wirksam Ziele anstreben. Die transformative Haltung zu Autorität als bewusster, psychosozialer Evolutionsprozess erschließt, wie bereits beschrieben, einen bestehenden, aber vielfach bislang noch nicht bewusst wahrnehmbaren Aspekt der Autorität. Der Zugang ergibt sich in der Regel nicht einfach so – selbst wenn einzelne Menschen unbewusst schon Zugang zu diesem Teil des Kraftfelds haben oder sich sogar dort bewegen, ohne es so zu benennen. Die eigene Beziehung zu Autorität – und damit auch zu Autorität in Beziehungen zwischen Menschen selbst – löst sich meist durch die innere Transformation des Bewusstseins aus der Polarität zwischen autoritär und antiautoritär. • Die Mehrzahl der MitarbeiterInnen und Führungskräfte ist jedoch immer noch im Ego-System-Denken eingebunden. In den wenigsten Fällen wohl mit Absicht, sondern aufgrund ihrer Sozialisierung und der aktuellen strukturellen Gegebenheiten sowohl unserer Gesellschaft als auch unseres Wirtschaftssystems, wie oben bereits ausgeführt wurde. Um jedoch bewusst in dieses andere Feld zu gelangen, benötigen Menschen (alle an Führung beteiligten, also auch MitarbeiterInnen) bereits im unteren Feldteil dieser Illustration überwiegend eine Autoritätshaltung, die sie zum gemeinsamen Schritt in die Zukunft ermutigt, sodass sie sich selbst über Co-Kreation und Co-Führung den noch unbekannten Teil erschließen können. Co-Kreation bedeutet beispielsweise, dass Menschen mit und ohne Führungsverantwortung gemeinsam entwickeln, nach welchen Führungs- und Folgeprinzipien sie für die Ziele der Organisation zusammenarbeiten wollen. Dadurch können sie später Mitverantwortung für die Zielausarbeitung und -erreichung übernehmen sowie auch ohne Führungskraft konstruktiv Konflikte austragen (Co-Führung). Dabei entsteht eine „Ich-im-Wir“-Zentrierung: Es geht also um eine Co-Kreation für gemeinsame Ziele und gemeinsame Zukünfte, es handelt sich um ein Eco-System-Denken („ecological“, nach Scharmer) – das Denken in Ökosystemen und kooperativen Wechselwirkungen. • Dieser persönliche und zwischenmenschliche Evolutionsprozess – die Gewahrwerdung und damit Eröffnung des transformativen Feldes – bedeutet grundsätzlich (Identitätsund Werte-)Konflikte bei Menschen. Damit diese Konflikte ihre transformative Kraft
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entfalten können, braucht es zudem eine neue Praxis wirksamer Konfliktbearbeitung(en). Das Neue daran ist, dass sie neben der würdewahrenden Herangehensweise an Streitthemen auch gleichzeitig danach strebt, insbesondere Führungsbeziehungen beharrlich hin zu Gleichwertigkeit, hin zu Co-Führung zu transformieren. Damit nimmt der Bearbeitungsprozess bereits die Gestalt der transformativen Autorität an.
21.6
Wie können wir die Macht der Autorität für die Transformation nutzen?
Wir können aufhören, andere Menschen verändern zu wollen – und uns stattdessen auf die Veränderung unserer Wahrnehmung und Bewertung (von Situationen, Aspekten, Strukturen und des Verhaltens anderer) konzentrieren. Diese Veränderungen in uns führen in der Regel zu anderen Gefühlen, die uns wiederum in der Folge anderes Verhalten ermöglichen. Da wir als Menschen miteinander abhängig vernetzt sind (auch wenn das viele noch nicht so sehen mögen, obwohl wir beispielsweise alle die gleiche Luft dieser Atmosphäre atmen), löst die eigene, konsistente Veränderung (idealerweise vernetzt mit Gleichgesinnten) bei anderen ebenfalls (Veränderungs-)Impulse aus. Obwohl wir nicht vorhersagen können, was andere aus diesen Impulsen machen und ob sie in eine ähnliche Richtung wie wir denken und handeln: Unser soziales Miteinander bewegt sich dadurch gesamtheitlich. Diese sozialen Gesetzmäßigkeiten sollten wir nutzen, um die Konfliktenergie transformativ zu gestalten. Wir kennen das Ergebnis dieser Transformation noch nicht. Es ist das erste Mal in der Menschheitsgeschichte, dass wir mit solch einer fundamentalen Aufgabe konfrontiert sind. Daher sind es die Fragen, die uns weiterbringen – nicht die Antworten. Denn Fragen öffnen (Denk-)Räume und suchen sich Antwortideen. Auch (Macht-)Strukturen können wir damit hinterfragen. Und in der Folge vielleicht auch wieder in Bewegung bringen. Folgende erste Fragen erwachsen in diesem Zusammenhang: Was wäre, wenn wir beispielsweise ... • Autorität nicht mehr als etwas Festes, Unverhandelbares wahrnehmen? • Autorität nicht als Gegensatz von Macht interpretieren, sondern als den hilfreichen Teil dessen? • Autorität als einen Verhandlungsprozess ansehen, in dem wir einen aktiven Part einnehmen? • Macht beziehungsweise Autorität und Gewalt als sich ausschließende Gegensätze sehen? • annehmen, dass das Wissen um die transformative Autorität in unserem kulturellen Unbewusstsein bereits existiert?
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• „nur“ durch unser Bewusstsein beziehungsweise einen bewusst gestalteten Evolutionsprozess diese verödete Kompetenz der transformativen Autorität in uns mit der Zeit wieder aktivieren können? • akzeptieren, dass es für eine Transformation diesen Umfangs Führung braucht, die Menschen in Co-Führung bringt? • uns aneignen, dass sich Grenzen auch gewaltfrei wahren lassen? • erfahren, dass sich durch die Wiedergutmachung beziehungsweise den Ausgleich von sozialen Verletzungen innerbetriebliche „Kämpfe“ befrieden lassen? • dazu beitragen, dass Menschen sich in Organisationen ertüchtigt erleben, Konflikte Würde wahrend auszutragen, und diese Erfahrungen als BürgerInnen in die Gesellschaft tragen? • verstehen, dass wir in einen bereits mehrere Generationen laufenden Prozess der Evolution von Autorität eingebunden sind, der auch noch weitere, uns folgende Generationen umfasst? …
Literatur Arendt, H. (1956). Was ist Autorität? Der Monat, 8(89), 29–44. Arendt, H. (2013). Macht und Gewalt. Piper. Baumann-Habersack, F. (2021). Mit transformativer Autorität in Führung. Die Führungshaltung für das 21. Jahrhundert. Springer Gabler. Bochenski, J. M. (1974). Was ist Autorität? Einführung in die Logik der Autorität. Herder. Burns, J. M. (2003). Transforming leadership. A new pursuit of happiness. Grove Press. Ciompi, L. (11. Dezember 2019). Mein Stand des Irrtums. Mein Lebenswerk, die Affektlogik – Erfolg oder Misserfolg? https://www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/blog/mein-stand-desirrtums-mein-lebenswerk-die-affektlogik-erfolg-oder-misserfolg. Zugegriffen: 15. März 2023. Cohn, R. C. (1983). Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion. Klett-Cotta. Dixson-Declève, S., Gaffney, O., Ghosh, J., Randers, J., Rockström, J., & Stoknes, P. E. (2022). Wachstum innerhalb der Grenzen. Oekom. Freeman, J. (1972). The tyranny of structurelessness. Berkeley Journal of Sociology, 17, 151–164. Galtung, J. (1998). Frieden mit friedlichen Mitteln. VS Verlag. Großmaß, R. (2018). „Autorität“ als sexuierte Dimension sozialer Beziehungen. In H. Landweer & C. Newmark (Hrsg.), Wie männlich ist Autorität? Feministische Kritik und Aneignung (S. 153– 164). Campus. Han, B.-C. (2015). Was ist Macht? Reclam. König, O. (2007). Macht in Gruppen. Klett-Cotta. Latka, T. (2003). Topisches Sozialsystem. Dissertation, Universität München. Omer, H., & von Schlippe, A. (2009). Stärke statt Macht. „Neue Autorität“ als Rahmen für Bindung. Zeitschrift für Familiendynamik, 34(3), 246–255. Omer, H., & von Schlippe, A. (2016). Stärke statt Macht. Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde. Vandenhoeck & Ruprecht. Polanyi, K. (2021). The great transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Suhrkamp.
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Scharmer, C. O., & Hildenbrand, A. (2019). Essentials der Theorie U. Grundprinzipien und Anwendungen. Carl-Auer. Sennett, R. (2012). Autorität. Berliner Taschenbuch-Verlag. Shields, C. M. (2018). Transformative leadership in education. Equitable and socially just change in an uncertain and complex world. Taylor and Francis. Sofsky, W., & Paris, R. (1994). Figurationen sozialer Macht. Autorität, Stellvertretung, Koalition. Suhrkamp. Wille, K. (2018). Feministische Theorie und Praxis der Autorität. In H. Landweer & C. Newmark (Hrsg.), Wie männlich ist Autorität? Feministische Kritik und Aneignung (S. 343–358). Campus. Ziegler, H. (1970). Strukturen und Prozesse der Autorität in der Unternehmung. Ein organisationssoziolog. Beitr. z. Theorie d. betriebl. Organisation. Enke (Diss., Univ. Frankfurt a. M.).
Frank Baumann-Habersack, M.A. Mediation und Konfliktmanagement, betreibt als unabhängiger Wissenschaftler an der Universität Bremen empirische Grundlagenforschung zu Autorität und Konflikten im Kontext Führung. Daneben ist er als Mediator und Berater für Organisationen aller Art bei Führungsfragen sowie als Publizist tätig. [email protected] I https://baumann-habersack.de
Mythos „machtlose“ Agilität: Was passiert mit der Macht in einer agilen Transformation?
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Sara Berli, Johann Weichbrodt und Katrina Welge
Zusammenfassung
Agile Ansätze thematisieren Macht weder bezogen auf das agile Set-up noch auf die Transformation zur agilen Arbeitsform. In einer mehrjährigen Fallstudie zur agilen Transformation eines Ingenieurbetriebs haben wir daher gezielt darauf geschaut, ob und wie sich Macht verändert. Wir können zeigen, wie die ehemals stark hierarchische Führung in vielen kleinen Schritten Macht abgibt und neue Rollen und Entscheidungsgefäße für eine breitere Verteilung von Macht und Verantwortungsübernahme geschaffen werden. Aber Abgabe von Macht garantiert noch nicht ihre Übernahme durch vormals weniger Mächtige. Anderen wiederum wird Macht regelrecht weggenommen – mit den erwartbaren Widerständen. Aus unserer Fallstudie schließen wir, dass Macht weiterhin Bestand hat und in einer agilen Organisation in veränderter Gestalt bestehen bleibt. In agilen Transformationen sollte daher darauf geachtet werden, wie sich Macht verändert und im Sinne der Veränderung optimal verteilt und eingesetzt werden kann.
Alle Autor*innen haben als Forschungsteam gleichermaßen beigetragen S. Berli (B) · J. Weichbrodt · K. Welge Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Angewandte Psychologie, Olten, Schweiz E-Mail: [email protected] J. Weichbrodt E-Mail: [email protected] K. Welge E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 O. Geramanis et al. (Hrsg.), Organisationale Machtbeziehungen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42092-5_22
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S. Berli et al.
Macht ist in Organisationen empirisch oft wenig sichtbar, da sie sich im Organisationsalltag auf sehr unterschiedliche Art und Weise zeigt. Sie kann sich an Personen manifestieren oder unpersönlich in Systemen wie der Hierarchie, Controlling, Leistungsbeurteilung und in Instanzen wie Entscheidungsgremien. Wenn wir im Weiteren von Agilität bzw. von agilen Organisationen sprechen, meinen wir damit ein Set-up von festgelegten und beschriebenen Rollen, Strukturen und Artefakten, die eine flexible, agile Zusammenarbeit im Hinblick auf die Organisationsziele unterstützen. Die in einer agilen Organisation arbeitenden Personen haben sich mit agilen Werten, Arbeitsformen und Praktiken auseinandergesetzt. Ein erkennbares Merkmal einer agilen Organisation ist die konsequente Umsetzung ausgewählter Arbeitsformen und Praktiken. In agilen Organisationen scheint das Auffinden von Macht zusätzlich erschwert zu sein. Auffällig ist, dass im Rahmen von agilen Arbeitsformen Macht nicht oder nur am Rande thematisiert wird. Die Kernbotschaft vieler praxisorientierter Literatur zum Thema Agilität legt nahe, dass Führung und Zusammenarbeit auf Augenhöhe und mit mehr Selbstständigkeit, Vertrauen und Freiraum angestrebt werden soll. Um den erwünschten Zielzustand von konsequenter Selbstorganisation, Eigenverantwortung und Entscheidungsmacht in den Teams zu erreichen, werden die Führungskräfte aufgefordert, einen Großteil ihrer bisherigen Verantwortung sowie der hierarchischen Positionsmacht und Kontrolle abzugeben (z. B. Hasenbrook et al., 2019; Häusling & Rutz, 2016; Möller & Giernalcyk, 2022; Schiefer & Nitsche, 2019). Es fällt auf, dass nicht thematisiert wird, welche Auswirkungen die Abgabe von Macht der Führungskräfte auf die Machtverhältnisse einer Organisation hat (z. B. Schwaber & Sutherland, 2017). Dies ist deshalb besonders augenscheinlich, da in allen sozialen Systemen, so auch in Organisationen, Einflussnahme und Macht ein Thema sind. Die Abwesenheit des Themas in der Literatur zu agilen Organisations- und Arbeitsformen lesen wir als Irrelevanz von Macht in der Agilität, oder dass Agilität womöglich gar ohne Macht funktioniert – in unseren Augen ein Mythos. Ist am Mythos der „machtlosen“ Agilität etwas dran – kann eine Organisation ohne Machtausübung und Einflussnahme funktionieren? Wie verändert sich Macht während einer Transformation zu agilen Arbeitsformen? Wird dabei eine machtlose Agilität angestrebt? Oder wird die Machtfrage in agilen Set-ups im Wesentlichen ausgeblendet? In einer mehrjährigen Fallstudie zur agilen Transformation eines mittelständischen Ingenieurbetriebs haben wir daher gezielt darauf geschaut, ob und wie sich Macht verändert. Wir können diesen Fragen insbesondere deshalb auf den Grund gehen, da die weiter unten erwähnte Co-Geschäftsleitung, Carmine D’Ambrosio und Oliver Vogel, uns durchgehend in unserem Forschungsvorhaben unterstützt hat und es auch begrüßt, dass wir aus dem nach wie vor laufenden Projekt berichten.
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22.1
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Wie konstituiert sich Macht in herkömmlichen und agilen Organisationsstrukturen?
22.1.1 Machtbegriff und Unterscheidung von formaler und informaler Macht In hierarchisch geprägten Organisationen ist Macht ein zentrales Phänomen. Nach der klassischen Definition von Max Weber (1972) verstehen wir Macht als „Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“. In der Literatur finden sich verschiedene Definitionen und Begrifflichkeiten dafür, wie „diese Chance“ auf Einflussnahme über andere, d. h. diese Macht, ausgeübt werden kann. Für Organisationen ist die Gegenüberstellung von formaler und informaler Macht sinnvoll, um die dort ablaufenden Einflussprozesse zu verstehen (Busch & Link, 2021). Busch und Link (2021) beschreiben formale Macht als eine hierarchische Positionsmacht, welche auf künstlich errichteten, institutionalisierten und personenunabhängigen Machtquellen fußt. Eine Person kann, dank des Status einer zugeteilten Rolle, Entscheidungen durchsetzen. So ermächtigt es zum Beispiel eine temporäre Projektleitung oder eine dauerhafte Abteilungsleitung zu entscheiden, ob MitarbeiterInnen belohnt, bestraft, eingestellt oder entlassen werden sollen. Diese Form der Macht ist dabei nicht an die Person selbst gekoppelt. Würde die Person ausgetauscht werden, bliebe die formale Macht die gleiche. Formale Macht ist im Allgemeinen recht leicht identifizierbar anhand von Organigrammen oder beispielsweise Stellenbeschreibungen und formal definierten Prozessen. Außerdem ist sie vergleichsweise stabil. Informale Macht charakterisieren Busch und Link dagegen als individuellen, natürlich gewachsenen Einfluss, welcher von einer Person erarbeitet wird. Eine Person kann informale Macht durch ihre Leistung erlangen (z. B. durch vertrauensförderndes, verlässliches und wertschätzendes Verhalten, inhaltliche Überzeugungskraft, Engagement, Fleiß, Expertise und Reife), wobei dieser Machtzuspruch von der Anerkennung durch die Umwelt abhängig ist (Keltner, 2016; Malik, 2006; Mitchell, 1995). Der informale Status ist im Vergleich zum formalen Status dynamischer und weniger stabil. Dies ist darauf zurückzuführen, dass der informale Status auf freiwilliger Gefolgschaft beruht, was bedeutet, dass der Status – und damit die informale Macht – wieder entzogen werden kann, wenn die statusinnehabende Person der Umwelt keinen Nutzen mehr erbringt. Um die Macht zu erhalten oder zu erhöhen, sind aus diesem Grunde kontinuierliche Anstrengungen notwendig. Im Vergleich dazu hält formaler Status in der Regel stabil an, solange Rückhalt durch höhere Ebenen gesichert ist (Busch & Link, 2021). Bei geringem Veränderungsdruck ist es für Organisationen sicherlich vorteilhaft, wenn sie durch formale Machtstrukturen aus sich selbst heraus Stabilität erzeugen können. Turbulente Machtdynamiken, die mit ausschließlich informaler Macht einhergehen würden, können so vermieden werden. Weitere Vorteile von formaler Macht liegen in ihrer hohen
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Durchschlagskraft und klaren Zuständigkeiten. Entscheidungen können rasch herbeigeführt und Konflikte durch ein Machtwort gelöst werden. Die Kehrseite davon ist, dass formale Macht rigide und veränderungsresistent ist, insbesondere wenn sie in wenigen Rollen oder Funktionen konzentriert ist. In dynamischen, volatilen, komplexen Umwelten ist eine Organisation, in welcher formale Macht auf solche Art konzentriert ist, schlecht aufgestellt (Oestereich & Schröder, 2017). Dagegen kann informale Macht gezielt genutzt werden, um die Beweglichkeit einer Organisation zu erhöhen. Sie kann sich im Allgemeinen schneller und unkomplizierter von verschiedenen Mitgliedern der Organisation angeeignet und eingesetzt werden – z. B. durch das Einbringen von Expertise oder guten Ideen. Die Kehrseite davon ist wiederum, dass informale Macht undurchschaubarer ist, sowie anfälliger für das Ausspielen von Beziehungen. „Laute“ und einnehmende Persönlichkeiten können schnell dominieren (Busch & Link, 2021; Reimann, 2017). Formale und informale Macht sind in der betrieblichen Praxis miteinander verknüpft, sodass die zwei Formen der Einflussnahme sich gegenseitig verstärken oder beeinträchtigen können. Auch Führungskräfte mit formaler Positionsmacht können über eine informale Macht verfügen und MitarbeiterInnen ohne Führungsfunktion können durch andere zugewiesene Rollen (z. B. Personalvertretung) innerhalb der Organisation über eine gewisse formale Macht verfügen. Wenn eine Person beide Machtformen in sich vereint, liegt gemäß Busch und Link das größte Einflussvermögen vor (2021).
22.1.2 Weiterbestehen von Macht in Agilität Anknüpfend an die von Max Weber bereits vorgestellte Definition von Macht, handelt es sich bei Macht gemäß einer weiteren Ausführung von Weber um ein „soziologisch amorphes“ Phänomen. Hinter der Formulierung steckt der Gedanke, dass Macht in jeder sozialen Beziehung (egal ob im betrieblichen, familiären oder politischen Kontext) eine Rolle spielt und somit allgegenwärtig ist. „Kommt Macht nicht im offiziellen Gewand der Hierarchie einher, so tritt sie durch die Hintertür im Gewand der Informalität ein“ (Busch & Link, 2021). Es kann also davon ausgegangen werden, dass Macht in sozialen Beziehungen und somit in Organisationen nicht einfach ausgeschaltet werden kann und das Machtphänomen dadurch auch in agilen Strukturen gegenwärtig ist. Auch wenn Macht in einer anderen Form auftritt, stellt sich schlussendlich wieder die Frage, wer sich weshalb gegen wen durchsetzen kann. In vielen agilen Ansätzen wird Macht nicht sehr ausführlich bis gar nicht thematisiert. Üblicherweise wird aber konstatiert, dass Führungskräfte Macht abgeben und teilen müssen (z. B. Möller & Giernalcyk, 2021). Wenn man eine agile Transformation als umfassenden strukturellen und kulturellen Veränderungsprozess begreift, ist es unabdingbar, dass Entscheidungsmacht – in ihrer bisherigen Form – abgegeben und umverteilt wird. In dieser Veränderung kommt es häufig zu Konflikten an Schnittstellen (oftmals gegen eine neu aufstrebende Gegenmacht), die nicht mit dem „alten“ Konfliktmuster
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gelöst werden können. Oft werden Transformationsprozesse abgebrochen, obwohl sie bereits in die Zielgerade einbiegen, weil zur Lösung dieser Konflikte die „alte“ Machtposition aufgefordert und somit erneut der Status zu Beginn der Transformation etabliert wird. Um die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Transformation zu schaffen, muss also die eigene Macht infrage gestellt, neu definiert und abgegeben werden (von Ameln & Heintel, 2016). In agilen Ansätzen geschieht die Neuverteilung von Macht dadurch, dass formale Positionsmacht auf unterschiedliche Rollen verteilt wird. Am deutlichsten scheint dies bei der Organisationsform der Holokratie (engl. Holacracy; Robertson, 2015). Statt steiler und machtvoller Hierarchien wird Macht in Rollen, Teams und Kreisen verankert und dadurch so verteilt, dass schneller, flexibler und situativ passend auf die verschiedenen Herausforderungen der VUCA-Welt reagiert werden können soll. Offenbar setzt man stark auf kleinteilig verteilte formale Macht und deutlich weniger auf informale Macht. Führung in einer holokratischen Organisation findet – zumindest konzeptionell betrachtet – nur noch in einem sehr stark formalisierten Rahmen statt. Kühl und Sua-Ngam-Iam (2023) konnten in einer umfangreichen Studie zu Holacracy jedoch zeigen, wie sich trotz aller Formalisierungsbemühungen dennoch informale Strukturen herausbilden, was diese Organisationen vor besondere Herausforderungen stellt. Holacracy ist jedoch nur einer von vielen unterschiedlichen agilen Ansätzen, noch dazu eher wenig verbreitet. Formalisierung in Form von detaillierten Rollenbeschreibungen scheint ein Kernelement vieler Ansätze zu sein. Allerdings scheint es oftmals ein reales Ergebnis agiler Transformationen zu sein, dass auch informale Macht gestärkt wird (von Ameln, 2018). Laut Busch und Link (2021) kommen insbesondere auf der Teamebene informale Machteinflüsse, wie Überzeugungskraft durch individuelle Stärken, Sympathie oder Beziehungen, zum Zuge. Letztlich ist aber davon auszugehen, dass beide Machtformen in jeder Organisationsform aufzufinden sind, da formale sowie informale Macht Defizite aufweisen, die nur durch die jeweils andere Machtform beseitigt werden können (Kühl, 2017). Basierend auf dieser Ausgangslage beschäftigte uns in unserer Studie ebenfalls die Frage, wie sich in agilen Transformationsprozessen formale und informale Macht neu verteilen.
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Veränderung von Macht in einer agilen Transformation am Beispiel von HHM Aarau
22.2.1 Ein Ingenieurunternehmen begibt sich auf eine „Agile Transformation Journey“ Aus einem Innovationsbedürfnis hat ein Ingenieurunternehmen 2017 angefangen, sich mit agilen Methoden auseinanderzusetzen und diese für die eigene Organisation zu prüfen. HHM Aarau – besagtes Unternehmen – gehört zur HHM Gruppe, einem unabhängigen Ingenieurunternehmen mit weiteren Standorten in Basel, Bern, St. Gallen, Zug und Zürich. Auf der Grundlage der Analyse im Rahmen einer Scoping Study entschied sich HHM Aarau in einem partizipativen Prozess für die neue agile Arbeitsform „Projektmarktplatz“. Dabei geht es im Kern darum, dass Projekte (Aufträge) nicht mehr nur in den damals Silo-artigen Unternehmensbereichen akquiriert und abgearbeitet werden, sondern alle Projekte und notwendigen Projektrollen intern ausgeschrieben werden und sich alle im Unternehmen für die Mitarbeit bewerben können. Die Einführung dieses „Projektmarktplatzes“ veranlasste das Unternehmen zur Ankündigung, sich fortan auf eine „Transformation Journey“ zu begeben – eine Reise mit vielen Veränderungen für HHM Aarau, für die bewusst kein definiertes zeitliches oder inhaltliches Ziel festgelegt wurde. Die Transformation umfasst die Arbeitsform und die gesamte Organisationsund Führungsentwicklung. Neben der Einführung der neuen agilen Arbeitsform „Projektmarktplatz“ geht es um die Weiterentwicklung der agilen Haltung im Unternehmen sowie um das kontinuierliche Ausprobieren von weiteren neuen Arbeits- und Organisationsformen. Die „Transformation Journey“ wird von der Forschungsgruppe ‚Gestaltung flexibler Arbeit‘ der Hochschule für Angewandte Psychologie FHNW mit einem ActionLearning-Ansatz begleitet; hypothesengeleitete Interventionen nach dem systemischen Organisationsentwicklungsansatz werden wissenschaftlich evaluiert und auf Basis dieser Erkenntnis erneut Interventionen gesetzt. Seit dem Startschuss im Jahr 2017 können im Hinblick auf die Arbeits- und Organisationsform deutliche Veränderungen festgestellt werden. In diesem Kapitel möchten wir beleuchten, wie sich Macht am Beispiel von HHM Aarau in dieser agilen Transformation verändert hat. Dabei interessieren uns insbesondere die Fragen: Wurde Entscheidungsmacht neu verteilt und, wenn ja, wie? Welche neuen Strukturen (Rollen und Artefakte) wurden geschaffen und wie wird dadurch Macht ausgeübt? Wie verschieben sich Macht und Verantwortung?
22.2.2 Neue Organisationsstrukturen schaffen neue Machtverhältnisse Analysiert man die agile Transformation von HHM Aarau, ist augenfällig, wie erheblich sich die Organisationsstruktur gewandelt hat. Das Unternehmen (mit damals ca. 46 Mitarbeitenden) war 2017 stark hierarchisch strukturiert in neun Hierarchieebenen
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(„Geschäftsführer“, „Geschäftsleitung“, „erweiterte Geschäftsleitung“, „Bereichsleiter“, „Projektleiter“, „Fachplaner/Projektingenieure“, „Elektroplaner“, „Technische Zeichner“ und „Lernende“). Ein Mitarbeiter beschreibt 2022 die Organisation im Rückblick folgendermaßen: „Wir waren vorher … streng hierarchisch organisiert. Eine divisionale Organisation, wie man sich das aus den schönsten Militärtagen gewünscht hätte.“ Im Verlauf von 2018 und 2019 wurde eine neue Organisationsstruktur erarbeitet, wobei das Projektgeschäft in den Mittelpunkt gerückt und die Bereiche abgeschafft wurden. Mit der Einführung der neuen Organisationsstruktur wurden die Hierarchien stark verflacht: Die drei verbleibenden Hierarchieebenen umfassen die Co-Geschäftsleitung, die Projektleitenden und die Projektmitarbeitenden. Im Zuge des Hierarchieabbaus wurde die Verantwortung für Führungsaufgaben zunehmend auf mehrere Schultern der Belegschaft verteilt. Für viele Personen bedeutete die Reduzierung der Hierarchieebenen, dass sie ihre formale Positionsmacht abgeben mussten, was Ängste und Widerstände auslöste, da neben der Macht auch Status, Gehalt und Identifikation auf dem Spiel standen. Durch das Auflösen der Bereiche waren insbesondere die Bereichsleitenden schon frühzeitig im Transformationsprozess damit konfrontiert, ihre hierarchische Machtposition aufgeben zu müssen und gegen die in der agilen Organisation von ihnen selbst neu geschaffene Rolle „Coach“ einzutauschen. Als Coaches stehen sie mit ihrem umfangreichen Fachwissen und Erfahrung allen Mitarbeitenden befähigend und unterstützend für die Bewältigung des Projektgeschäftes zur Verfügung. Dieser Rollenwechsel „Bereichsleiter zu Coaches“ wurde zu Beginn nur zögerlich gestaltet. Erst in Kombination mit der neuen Organisationsstruktur konnte ein persönlicher Entwicklungsprozess bei den Betroffenen beobachtet werden, der langsam und stetig im Gange war. Mit der Zeit transformierten die ehemaligen Bereichsleitenden zu Treibern der Transformation Journey. Mitte 2019 berichtet ein ehemaliger Bereichsleiter in einem Interview: „Ich war sicher im ersten Drittel eine von den kritischsten Stimmen gewesen, der sicher anfangs auch negative Äußerungen gemacht hat. … Habe aber im weiteren Verlauf die Erfahrung gemacht, dass auch meine Inputs, wenn ich sie auf eine positive oder konstruktive Art versuche einzubringen, in den Prozess aufgenommen werden und auch Einfluss haben. … Und deshalb habe ich mich da selbst verändert und bin heute hoffentlich auch einer jener Exponenten, die das [die Transformation] unterstützt.“ Es ist davon auszugehen, dass die ehemaligen Bereichsleitenden in diesem Prozess ihre formale Machtposition kontinuierlich abgegeben haben und gleichzeitig durch ihre neue Enabling-Rolle „Coach“, als informale Machtinhaber, einflussreiche Personen geblieben sind. Wichtiges Startsignal für die Transformation war Ende des Jahres 2017, nach dem partizipativen Entscheid für die Einführung der agilen Arbeitsform „Projektmarktplatz“, die Einführung einer Co-Geschäftsleitung aus dem bisherigen Geschäftsführer und einem bisherigen Bereichsleiter. Dabei wurde Entscheidungsmacht neu verteilt und die gleichberechtigte Verteilung von Macht und Verantwortung auf mehrere Personen der Belegschaft aktiv vorgelebt – mit überzeugender Wirkung. Die Co-Geschäftsleitung bewies im Verlaufe der Transformation immer wieder eine große Bereitschaft, Macht abzugeben bei
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gleichzeitiger Verantwortungsbereitschaft für den Transformationsprozess. Auch zeigte sich die Co-Geschäftsleitung offen für viele Veränderungen bezüglich neuer Strukturen, Rollen und Artefakte. Ganz im Sinne der agilen Transformation verzichtet die Co-Geschäftsleitung – genau wie alle anderen Mitarbeitenden – beim Umzug in neue Büroräumlichkeiten auf Einzelbüros. Im Beispiel von HHM Aarau wird Macht durch die neue Organisationsstruktur somit auf zunehmend mehr Personen verteilt und verschiedene Positionen der Hierarchie werden durch neue Rollen ersetzt. Im Vergleich zu einer „vollständig agilen“ Organisation bestehen jedoch weiterhin hierarchische, wenn auch flache Strukturen, welche die agilen Strukturen teilweise bei Entscheidungsprozessen überdecken. Formale Machtausübung durch formale MachtinhaberInnen ist damit weiterhin legitimiert. Vor diesem Hintergrund erweiterte sich die bisherige Co-Geschäftsleitung Anfang 2022 zu einer vierköpfigen Geschäftsführung, in dem Versuch, die restliche Positionsmacht abzugeben und „vollständig agil“ rollenbasiert die Geschäfte zu führen.
22.2.3 Neue Entscheidungsgefäße für eine breitere Verteilung von Macht Eine weitere spannende Entwicklung bei HHM Aarau ist die Veränderung, wie Entscheidungen in der Organisation getroffen werden. Diesbezüglich ist klar erkennbar, dass anstelle von hierarchisch gedachten Entscheidungsgefäßen nach und nach neue partizipative Artefakte geschaffen wurden. Vor der agilen Transformation (2017) waren nur wenige Mitarbeitende befugt, Entscheidungen zu treffen. Es standen fixierte, nur wöchentlich stattfindende Entscheidungsgefäße zur Verfügung. Dazu kam, dass in der Belegschaft überwiegend ein Führungsverständnis der „allwissenden Geschäftsleitung“ geteilt wurde. Im Laufe der Transformation wurden neue Entscheidungs- und Reflexionsgefäße eingeführt, wie der „Zirkel Projektverantwortliche (PV-Zirkel)“, die „Reiseleitung“ und die „Agile Diskussion“. Der PV-Zirkel resultiert aus der neuen Organisationsform und trifft sich seit Januar 2020 wöchentlich. Die Projektverantwortlichen und Projektleitenden haben als Erstes eine „Haftnotiz-Ressourcenwand“ aufgebaut, auf der pro Projekt und projektbeteiligter Person je ein Zettel „geklebt“ und zugeordnet wird. Hier tragen alle einzeln für sich ihre Projekteinsätze, Kapazitäten und Ressourcen ein. Die Ressourcen werden im Projektteam mit der projektleitenden Person besprochen und gegebenenfalls angepasst. Gleich im ersten Lockdown ab Mitte März 2020 wurde diese Ressourcenwand auf ein Excel Lean Board überführt und der Zirkel traf sich im Teams-Raum. Die Struktur des PV-Zirkel ist festgelegt: Im Check-in ist jede/r aufgefordert, 1. das Wochenziel und 2. grobe Angaben zu „wer was macht“ zu nennen. Im 1. Quartal 2020 wurde nach den ersten Durchführungen Nachbesserungsbedarf deutlich. Hierzu wurde der Steuerungskreis einberufen und der PV-Zirkel entsprechend angepasst.
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Die Agile Diskussion wurde im ersten Halbjahr 2019 im Kreise der erweiterten Geschäftsführung eingeführt, als der Bedarf nach Reflexion und Moderation der zahlreichen transformationsbedingten Veränderungsthemen aufkam. Die festgelegte Struktur der Agilen Diskussion unterstützt einen kollegialen systematischen Reflexionsprozess eines Themas, bei dem jede/r Teilnehmende eine klare Rolle einnimmt. Die „Reiseleitung“ löste im Jahr 2021 den bisherigen Steuerungskreis ab. Die bis Anfang 2020 aktive Steuerungsgruppe der Transformation Journey verfügte über keine Entscheidungsmacht und übte somit vielmehr die Funktion eines Soundingboards aus. 2021 wurde die „Reiseleitung“ gegründet, deren Bezeichnung den Charakter einer Reise der „Transformation Journey“ unterstreichen sollte. Das Bedürfnis nach der Schaffung eines neuen Reflexions- und Entscheidungsgefäßes hatte mit der Revitalisierung der Transformation Journey zu tun, nachdem die Transformationsthemen 2020 pandemiebedingt auf Eis gelegt werden mussten. Im Frühjahr 2021 versammelte sich die gesamte Belegschaft in einem Videokonferenzraum, um aufs neue Jahr zu blicken, und stimmte darüber ab, mit welchen Transformationsthemen (z. B. betreffend Arbeitsformen und Führung) sich HHM Aarau über das Jahr beschäftigen sollte. Motiviert durch die Wiederaufnahme des Transformationsprozesses und erste positive Erfahrungen mit einem Cluster zum Thema „Homeoffice“ im ersten Pandemiejahr (2020) wurde die Idee einer Reiseleitung für die Transformation Journey von der Co-Geschäftsleitung nach Abstimmung der Transformationsthemen vorgestellt und zur Mitwirkung eingeladen. Die Einladung traf bei den Mitarbeitenden auf großes Interesse und so standen bereits nach kurzer Zeit die Mitglieder fest. Die Reiseleitung setzt sich aus Vertretenden der Projektleitenden, Projektmitarbeitenden und mindestens einem Mitglied der Geschäftsleitung zusammen. In der Reiseleitung werden ca. fünfmal im Jahr Themen der Transformation Journey diskutiert und bereits im Sommer 2021 wurde zu transformationsrelevanten Themen je ein Cluster gebildet. An diesen Clustern konnten sich wiederum Mitarbeitende partizipativ beteiligen. Die Cluster-Themen der Reiseleitung sind Inhalte, die bis anhin in der erweiterten Geschäftsleitung behandelt wurden. Bei der Reiseleitung als agilem Artefakt handelt es sich somit eindeutig um eine neu geschaffene Machtinstanz. Kennzeichnend für sie ist, dass grundsätzlich alle Mitglieder der Organisation darin mitwirken können. Innerhalb der Reiseleitung können informale Machteinflüsse erkannt werden und es lässt sich beobachten, dass ein offener Dialog ermöglicht wird, wobei Inhaber von formaler Machtposition sich zurückhalten, diese auszuspielen. So berichtet ein Mitglied der Reiseleitung: „Also ich sehe, dass ich durch meine persönliche Beteiligung an der Reiseleitung relativ, also nicht relativ, sondern viel dazu [Beteiligung an Veränderungsprozessen] beitragen kann. Viel eigene Meinung einbringen kann, damit wir einen coolen Austausch haben in dieser Gruppe.“ Die Reiseleitung verfügt als Gremium über Entscheidungsmacht, aber nicht ihre einzelnen Mitglieder. Die einzelnen Mitglieder der Reiseleitung übernehmen Verantwortung und es lässt sich beobachten, dass sie damit einhergehend auch die Grenzen von Entscheidungsmacht ausloten. Spannend war diesbezüglich, wie ein Mitglied der Reiseleitung, welches im Verlauf der
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Transformation Journey neu zu HHM Aarau hinzugekommen ist, Entscheidungen auf Eigeninitiative eines Clusters mit einer Selbstverständlichkeit getroffen hat, ohne diese vorab mit der gesamten Reiseleitung abzustimmen. Dieser wahrgenommene „Alleingang“ verursachte bei der Co-Geschäftsleitung im ersten Moment eine gewisse Irritation, löste kurz danach aber auch die Erkenntnis aus, dass die Übernahme von Verantwortung auch an Macht gekoppelt ist.
22.2.4 Verschiebung von Macht und Verantwortung in den (hierarchischen) Beziehungen Die Verschiebung von Macht, die wir bislang anhand der Organisationsstrukturen und der Entscheidungsgefäße aufgezeigt haben, wurde darüber hinaus auch in der Beziehungsgestaltung sichtbar, insbesondere zwischen Mitarbeitenden auf verschiedenen Hierarchiestufen. Im Folgenden daher ein Versuch, diese Veränderungen zu schildern – im Bewusstsein, dass dies eine starke Vereinfachung ist und eine Außensicht darstellt. Bereits zu Beginn der Transformation Journey betonte die Geschäftsleitung die Bereitschaft, Macht abgeben zu wollen. Damit begann eine erste Phase des Experimentierens und des Vertrauensaufbaus. Denn das Beteuern der Geschäftsleitung stieß zunächst auf eine gewisse Skepsis in der Belegschaft. Man fragte sich, wie ernst dies denn wirklich gemeint sei. Zum Beispiel gab es unterschiedliche Reaktionen der Projektleitenden: Einzelne schienen dem Bekunden der Geschäftsleitung nicht zu trauen und überzeugt zu sein, dass dies nur eine Pseudoveränderung sein konnte, wie sie HHM Aarau zuvor offenbar schon oft durchgemacht hatte. Ein Projektleiter verließ daher das Unternehmen, bevor der Transformationsprozess überhaupt richtig in Fahrt kam, da er an „echter Veränderung“ mitwirken wollte. Wiederum nahmen andere diese Ankündigung der Geschäftsleitung zum Anlass, ihre eigenen, radikaleren Vorstellungen von neuen Machtverhältnissen zu äußern, wie z. B. eine partizipative Partnerbesitzstruktur anstelle der „konzernartigen Struktur mit einem Mehrheitsaktionär“. Nachdem diese Ansprüche aber zurückgewiesen wurden (insbesondere auch von der Leitung der HHM Gruppe), wurden damit die Grenzen des Veränderbaren mehr und mehr deutlich: Innerhalb von HHM Aarau dürfen und sollen neue Machtverhältnisse entstehen, aber in der HHM Gruppe bleiben die Strukturen bestehen. Dies war wiederum Anlass für Einzelne, das Unternehmen zu verlassen. Ein anderer Anlass, das Unternehmen während der Transformation Journey zu verlassen, zeigte sich bei einer zunächst für die Transformation sehr engagierten Person aus dem Kreis der Projektmitarbeitenden, die durch die Operationalisierung der gewünschten Flexibilisierung realisierte, dass sie in hierarchischen Strukturen besser arbeiten konnte. Die allermeisten blieben jedoch und konnten nach und nach die Erfahrung machen, dass es der Geschäftsleitung durchaus ernst war mit der Bereitschaft, Macht abzugeben. Die beiden Co-Geschäftsleiter entwickelten nach und nach eine Führungshaltung, bei der
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sie die Bereichs- und Projektleitenden bewusst frustrierten bei ihren Anfragen nach Führungsentscheiden. So einer der Co-Geschäftsleiter: „Also meine Art hat sich klar geändert. Ich mache nicht mehr alle Probleme zu meinen Problemen. Also ich sage auch [zu Mitarbeitenden, die mit Problemen zu mir kommen]: Das löse ich dir jetzt nicht. Das löst du dir jetzt selber. Ist manchmal schwierig, man hat dann manchmal doch eine schlaflose Nacht. Man hat dann immer das Gefühl, es ist jetzt nicht mein Problem, aber das Problem ist ja dann trotzdem noch da für das Unternehmen. Aber …“ Das Abgeben von Entscheidungsmacht bedeutete für die Co-Geschäftsleitung also auch ganz konkret, sich nicht mehr um alles zu kümmern. Für die Betroffenen war dies ein – wenn auch zuweilen frustrierendes – klares Signal, dass die Verhältnisse sich ändern und sie auf andere Weise gefordert sind. Dies schien ein entscheidender Punkt in der Transformation: Macht muss nicht nur abgegeben werden, sondern sie muss auch von anderen wieder aufgenommen und ausgeübt werden. Im Verlauf der Transformation bis heute zeigte sich dann das Bild einer geteilten Belegschaft: Es gibt immer mehr „Proaktive“, die das Angebot für Machtübergabe motiviert aufnehmen und in den diversen neuen Entscheidungsgefäßen die Transformation mitgestalten. Hierzu zählten nach und nach alle ehemaligen Bereichsleitenden, viele Projektleitende, aber auch FachplanerInnen. Eindeutigen Widerstand zeigen dagegen nur einige wenige, wie z. B. die Verweigerung der Verantwortungsübernahme für Veränderung aufgrund von fehlendem Vertrauen in die Transformation. Die größte Gruppe scheint diejenige der „Adaptiven“ zu sein, die passiv die Veränderungsprozesse mitmachen, aber sich wenig aktiv beteiligen. Die „Proaktiven“ sind teils frustriert, dass es immer die Gleichen sind, die Macht (und Verantwortung) für die Transformation übernehmen. Ein Mitarbeiter beschreibt beispielsweise: „Und anfangs der Reiseleitung haben wir … eine Umfrage gemacht, was so Themen sein könnten, die wir behandeln könnten usw. Und dann hat man auch wieder gesehen, oder allgemein sieht man dann bei so Umfragen oder bei so Aufrufen, irgendwo mitzumachen, dass schon Beteiligung immer die Gleichen sind oder die Ähnlichen und schon immer tief. Also ich sage, vielleicht nicht einmal ein Drittel, wo da wirklich aktiv mitmachen wollen. Und es ist schon noch spannend, wenn man die dann fragt ,Warum‘, dann hört man immer die gleichen Sachen. Und das ist ja schon … oder immer so: ‚Ich habe keine Zeit‘ … ‚Ich habe gar keine Zeit‘ … ,ich habe nie Zeit, um dort etwas zu machen‘.“ Die „Proaktiven“ sind jetzt gefordert, da nicht alle „Adaptiven“ sofort Macht in die Hand nehmen, können aber die Entscheidungsmacht nicht auf die Art und Weise abgeben, wie dies die Co-Geschäftsleitung tut (indem sie Anfragen für Führungsentscheide abblockt und zurückspiegelt). Im Gegensatz zur Co-Geschäftsleitung müssen die meisten der „Proaktiven“ die Macht mehrheitlich an und von Peers abgeben bzw. übernehmen. Es wird interessant bleiben, auf welche Art sich informale Macht im weiteren Verlauf der Transformation unter den Peers verteilen wird. Bemerkenswerterweise wird für die Zeit der physischen Distanz während der Pandemie die Verteilung der Entscheidungsmacht als ein zentraler Erfolgsfaktor der agilen Transformation und in der
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Bewältigung der pandemiebedingt neuartigen Herausforderungen gesehen (Psychologie kompakt online, 2020).
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Fazit: Der „agilen Macht“ auf der Spur
In unserem Beispiel der Transformation Journey bei HHM Aarau wird klar ersichtlich, dass Macht in der agilen Transformation weiterhin Bestand hat. Durch die Transformation wird Macht nicht reduziert, aber sie transformiert sich und bleibt in einer anderen Gestalt bestehen. In unserer Fallstudie finden wir keine Hinweise auf „machtlose“ Agilität. Im Gegenteil: Macht ist in agilen Organisationen ein essenzieller und wirkmächtiger Bestandteil. Bei HHM Aarau wurde durch neue Organisationsstrukturen und Rollen sowie das Schaffen von neuartigen Entscheidungsgefäßen die Macht im Vergleich zu 2017 auf viele Exponenten/Exponentinnen der Belegschaft verteilt und damit einhergehend auch dynamischer. Durch die Entwicklung konnten überladene Entscheidungsengpässe der Positionsmacht, sog. „Flaschenhälse“, bei den ehemaligen Bereichs- und Geschäftsleitern abgebaut werden und HHM Aarau ist in seinen Entscheidungen flexibler und schneller geworden. Das neue Führungsverständnis, das Macht abgibt, die von anderen übernommen werden muss, trägt maßgeblich dazu bei, dass „alte“ Machtverhältnisse nicht reaktiviert werden und sich dadurch nicht wieder der Status vor der Transformation einstellt. Wie oben beschrieben, wird formale Macht vielerorts abgegeben, während informale Macht bestehen bleibt oder teilweise zunimmt. Das Weiterbestehen von Macht in Veränderungsprozessen beurteilen Ameln und Heintel (2016) einerseits als größten Stolperstein für eine erfolgreiche Transformation (z. B. durch hinderlichen Einsatz von Macht oder Reproduktion des Status quo). Andererseits sei der Einsatz von Durchsetzungsmacht in Transformationsprozessen unerlässlich, um die Arbeitsfähigkeit sowie eine gemeinsame Ausrichtung sicherzustellen (Ameln & Heintel, 2016). Eine entscheidende Rolle dabei, ob der Einsatz von Macht zum Stolperstein oder Erfolg der Transformation wird, spiele die Art und Weise, in welcher Beteiligte Machteinsätze erleben. Ameln und Heintel (2016) unterscheiden drei Arten von Machterleben: • Power for steht für Machteinflüsse, welche von Beteiligten als konstruktives Gestaltungsmittel erlebt werden. • Power over beschreibt Machteinflüsse, welche als unfaire Ausübung wahrgenommen werden, die nur durch die formale Machtposition der einflussnehmenden Person legitimiert sind. • Power with meint Machteinflüsse, welche als Unterstützung einer gemeinnützigen Anstrengung aufgefasst werden.
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Für eine erfolgreiche Transformation müsse sich das Verständnis von Macht von einer individualistischen hin zu einer kollektiven Qualität verändern. Im Grunde bedeutet dies, dass Macht nicht im Interesse einer einzelnen Person, sondern durch eine Gruppe oder im Einvernehmen der Gruppe sowie im Sinne der Veränderungsbemühungen eingesetzt wird (Ameln & Heitel, 2016 in Anlehnung an Arendt, 1970). Dazu komme, dass die verschiedenen Arten von Macht zum richtigen Zeitpunkt im Transformationsprozess eingesetzt werden. Zu Beginn eines Veränderungsprozesses könne eine auf das Notwendige reduzierte Dosis von „Power over“ notwendig sein, um eine Struktur zu errichten, in welcher „Power with“ und „Power for“ möglich würden (Amel & Heitel, 2016; Heintel & Spindler, 2014). Wenn wir unser Fallbeispiel hinsichtlich Durchsetzungsmacht unter die Lupe nehmen, stellen wir fest, dass im Transformationsprozess bei HHM Aarau Durchsetzungsmacht insbesondere auf informale Weise eingesetzt wird. Formale Durchsetzungsmacht wurde von Beginn an so weit wie möglich vermieden, wobei subtilere Machteinflüsse trotzdem erkennbar sind. Unseres Erachtens wurde ebenso darauf geachtet, von Beginn an im Sinne der Veränderungsbemühungen auf den Einsatz von „Power for“ und „Power with“ zu setzen und diese kontinuierlich auszubauen. Beispielsweise wurde bereits der Entscheid, den Projektmarktplatz als agile Arbeitsform einzuführen, durch ein einberufenes Gremium, bestehend aus Vertretenden unterschiedlicher Hierarchiestufen, und nicht durch den damals noch einzelnen Geschäftsführer getroffen. Nichtsdestotrotz wurde dieser Entscheid des Gremiums auf informale Weise von dem Geschäftsführer beeinflusst. Ein weiteres Beispiel ist die Art und Weise, wie der Entscheid getroffen wurde, die Bereiche aufzulösen. Die neu entstandene Co-Geschäftsleitung hat dabei keine formale Durchsetzungsmacht eingesetzt und nicht für die Belegschaft entschieden. Stattdessen hat sie konsequent die agilen Werte und Praktiken vorgelebt sowie systematisch die Implementierung des Entscheids zur agilen Arbeitsform „Projektmarktplatz“ in allen Einzelheiten eingefordert. Diese Form des Vorlebens gab nicht nur den Mitarbeitenden, sondern auch den Bereichsleitenden eine Orientierung und das Verständnis von Agilität wuchs allmählich. Die Beteiligten hatten Zeit, sich mit den strukturellen Veränderungen auseinanderzusetzen wie auch mit sich selbst als Person in diesem Veränderungsgeschehen. Nach ca. einem Jahr bemerkten die Bereichsleitenden selbst, dass für eine konsequente Umsetzung der neuen Arbeitsform auch eine neue Organisationsform entwickelt werden muss. Zusammen mit der Co-Geschäftsleitung lösten sie die alten Bereichsstrukturen und Funktionen auf und schufen neue, der angestrebten Flexibilität angemessene Strukturen und Rollen. In der Rückschau auf fünf Jahre Transformation bei HHM Aarau können wir also diverse Machtverschiebungen feststellen: von formaler Macht einzelner Positionen zu aufgeteilten Machtbefugnissen unterschiedlicher Rollen, von Macht in steilen Hierarchien und Silos hin zu team- und rollenbasierter Machtausübung. Die Organisation hat sich dabei grundlegend transformiert – inkrementell evolutionär und dennoch radikal.
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Sara Berli arbeitet seit 2022 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Angewandte Psychologie FHNW, Institut für Kooperationsforschung und -entwicklung. Sie ist Projektmitarbeiterin in verschiedenen Forschungs- und Dienstleistungsprojekten der Forschungsgruppe Gestaltung flexibler Arbeit mit Themenschwerpunkt Führung und Entwicklung. https://www.fhnw.ch/de/personen/sara-berli
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Johann Weichbrodt ist promovierter Organisationspsychologe und Senior-Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Angewandte Psychologie FHNW, Institut für Kooperationsforschung und -entwicklung. Dort hat er die Co-Leitung des Teams „Führung und Entwicklung in der flexiblen und agilen Arbeitswelt“ inne mit Schwerpunkt auf Entwicklungsprozessen bei mobil-flexiblem Arbeiten, Selbstorganisation und agiler Zusammenarbeit. https://www.fhnw.ch/de/personen/johann-weichbrodt Katrina Welge ist Dozentin an der Hochschule für Angewandte Psychologie FHNW, Institut für Kooperationsforschung und -entwicklung. Sie ist Co-Leiterin des Teams „Führung und Entwicklung in der flexiblen und agilen Arbeitswelt“ mit Schwerpunkt auf Führung mobil-flexibler Arbeit und engagiert sich als Organisationsberaterin & Agile E-Coach für innovative Führungs- und Veränderungsgestaltung komplexer Transformationsprozesse. https://www.fhnw.ch/de/personen/katrina-welge