Ordnung der Gefühle: Studien zum Begriff des Habitus 3787317678, 9783787317677

Der Begriff des habitus zielt auf die Integration der Affektivität in der Ethik: Um richtig zu handeln, bedarf es nicht

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German Pages 258 [259] Year 2005

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Ordnung der Gefühle: Studien zum Begriff des Habitus
 3787317678, 9783787317677

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PARADEIGMATA 24

PARADEIGMATA Die Reihe Paradeigmata präsentiert historisch-systematisch fundierte Abhandlungen, Studien und Werke, die belegen, daß sich aus der strengen, geschichtsbewußten Anknüpfung an die philosophische Tradition innovative Modelle philosophischer Erkenntnis gewinnen lassen. Jede der in dieser Reihe veröffentlichten Arbeiten zeichnet sich dadurch aus, in inhaltlicher oder methodischer Hinsicht Modi philosophischen Denkens neu zu fassen, an neuen Thematiken zu erproben oder neu zu begründen.

Peter Nickl, geboren 1958 in München, Studium der Philosophie in München und in Pavia, 1991–1999 wissenschaftlicher Assistent am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover, Habilitation mit vorliegender Arbeit an der Universität Regensburg; Privatdozent ebd., z. Zt. Vertretungsprofessor an der Universität Hannover. Monographie: Jacques Maritain. Eine Einführung in Leben und Werk, Paderborn u. a. 1992.

PETER NICKL

Ordnung der Gefühle Studien zum Begriff des habitus

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Meinen Eltern

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet abrufbar über . ISBN 3-7873-1767-8

2. Auflage 2005 © Felix Meiner Verlag, Hamburg 2001. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Film, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Kusel, Hamburg. Druck: DIP, Witten. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

VORWORT ZUR 2. AUFL AGE

Die zweite Auflage gibt mir Gelegenheit, drei Punkte zu ergänzen, die mir für eine Präsentation des habitus-Begriffs wichtig erscheinen: 1. die Sichtbarkeit des habitus, 2. die Verwandtschaft des habitus-Gedankens mit anderen philosophischen Ansätzen im Sinne einer »scientia affectiva«, 3. eine Vermutung zum Wiederauftauchen dieses Begriffs im 20. Jahrhundert. 1. Die Philosophie tut sich schwer, ihre Gegenstände anschaulich zu machen: wie soll man das Sein, die Seele oder das Gute zeigen? Das gleiche scheint für den habitus zu gelten. Aber mit Hilfe der Kunst geht es. Ich vermute sogar, daß bestimmte griechische Plastiken der klassischen Zeit genau dies zur Darstellung bringen möchten: dem Menschen kommt Sein und Gut-Sein erst dann wirklich zu, wenn er die verschiedenen in ihm angelegten Kräfte zur Einheit formt. Greifen wir ein berühmtes Beispiel – den Diskuswerfer des Myron (5. Jh. v. Chr.) – heraus (wer dazu nicht Gelegenheit hat, wird an vergleichbaren Standbildern ähnliche Beobachtungen machen können). Wir sehen hier mehr als einen Athleten, der eine Wurfscheibe hält. Ein Foto von einem genauso gut gebauten modernen Sportler (einem, der vielleicht den Diskus doppelt so weit werfen könnte), würde uns vermutlich nicht dasselbe zeigen wie die antike Statue. Das Gesicht des Diskuswerfers strahlt Konzentration, Ruhe, Versenktheit aus. Spannung herrscht in dem Bild: auf der einen Seite der Diskus, der nicht einmal im Blickfeld des Wettkämpfers liegt; auf der anderen die feierliche Gesammeltheit des jungen Mannes. Was sich in seinem Gesicht ausdrückt, ist sicher nicht nur der Wunsch, den Diskus möglichst weit zu schleudern. Der Diskuswerfer möchte zeigen, was in ihm steckt – was er »kann«; und er tut es gewissermaßen schon vor dem Wurf. Was »steckt« also in ihm? Das edel geschnittene Gesicht verrät nicht nur eine glückliche Gabe der Natur, sondern auch konsequente Arbeit an sich selbst: Training, Ausdauer, allmähliches Heranbilden, Steigern und Beherrschen der eigenen Kraft. Ich denke, ein Grieche der damaligen Zeit hätte nicht gezögert zu sagen: die Statue drückt die ρε, die Vortrefflichkeit des Dargestellten aus. Sie zeigt ihn nicht in irgendeinem Alltagsaugenblick, sondern in Höchstform. Diese Höchstform, diese Vortrefflichkeit ist der habitus. 2. Das Mittelalter hat uns für den habitus-Gedanken zwei Modelle überliefert: einmal das »vertikale« des Thomas von Aquin, in dem die Einheit von Rationalität und

VI

Vorwort

Emotionalität eindrucksvoll herausgearbeitet, aber wieder in gewisser Weise eingeschränkt wird – weil es für Thomas nur sinnliche Gefühle gibt; zum anderen das franziskanische Modell, in dem die zu erreichende Ganzheit eher »horizontal«, nämlich in der Integration der beiden komplementären Seelenkräfte »intellectus« und »affectus« gesucht wird. Mir scheint es vielversprechend, die Idee des habitus in dieser Richtung – in Richtung einer »scientia affectiva«1 – weiterzuentwickeln. Es zeigt sich dann eine Verwandtschaft des habitus-Gedankens mit der Dialog-Philosophie (Jacobi, Buber, Levinas) einerseits, mit der Wertphilosophie (Scheler) andererseits: beiden ist gemeinsam, daß sie das Gefühl ernstnehmen, weil ein Verhältnis zum Du, bzw. zum Wert, nicht intellektuell konstruiert, sondern nur affektiv (in der Passivität der Hingabe) erreicht werden kann. 3. Bekanntlich hat Bourdieu den Begriff »habitus« bei Panofsky gefunden, weist aber selbst darauf hin, daß dieser »bei ihm selber nur zufällig und nur dies eine Mal vorkommt.«2 Woher könnte Panofsky diesen Begriff haben, der durch den 2002 verstorbenen französischen Philosophen und Soziologen eine unerwartete Renaissance erfahren hat? Ich möchte hier eine Vermutung äußern, die sich vielleicht erhärten wird, wenn der 3. Band von Panofskys Korrespondenz erscheint: Jacques Maritain war der erste, der im 20. Jahrhundert den habitus-Begriff wieder in die Diskussion gebracht hat, und zwar in seinem 1920 erschienenen Büchlein Art et scolastique. Maritain bekleidete seit 1948 einen Lehrstuhl in Princeton, Panofsky lehrte schon seit 1935 dort. Liegt es nicht nahe, daß Maritain sich bei dem Kollegen aus der Kunstgeschichte durch die Überreichung seines Buches empfahl, und daß dieser hier zum erstenmal auf den habitus-Begriff (und seine Verankerung im System des Thomas von Aquin) stieß? So würde sich der Kreis schließen. Hannover, im Juni 2005

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Peter Nickl

Der Ausdruck »scientia affectiva« bezeichnet eine der im 13. Jahrhundert erprobten Alternativen, um den Wissenschaftstyp der Theologie zu bestimmen. Albertus Magnus und sein Schüler Ulrich von Straßburg, aber auch Bonaventura optierten dafür, während für Thomas die Theologie eine »scientia speculativa« und für Duns Scotus eine »scientia practica« darstellt. Vgl. dazu vom Verf.: »Philosophie als ›scientia affectiva‹? Ein mittelalterlicher Begriff und seine Spuren in der Neuzeit«, Perspektiven der Philosophie, 31 (2005), im Erscheinen. 2 Pierre Bourdieu: Rede und Antwort, Frankfurt a. M. 1992, S. 30. Gemeint ist der 1951 erschienene Essay »Gothic Architecture and Scholasticism«, der auf einen Ende 1948 gehaltenen Vortrag zurückgeht: vgl. Erwin Panofsky: Korrespondenz 1937 bis 1949, hrsg. von Dieter Wuttke, Wiesbaden 2003, S. XIII.

INHALT

I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

A. Vorbegriff des habitus – Abgrenzung von Gewohnheit . . . . . . . .

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B. Schwierigkeiten eines heutigen Zugangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Philosophisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Am Beispiel des Konsequentialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Am Beispiel der Diskursethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lebensweltlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Fehlen entsprechender Lebensformen . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Mensch ohne Eigenschaften und Leidenschaften . . . .

5 5 5 7 11 11 12

C. »Virtue is back« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Is virtue back? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Passion is back . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Chancen für den habitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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D. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Grundzüge der habitus-Lehre bei Aristoteles und Thomas von Aquin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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A. Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eine anti-intellektualistische Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Gute liegt im Wie, nicht im Was . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Rolle des Gefühls in der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Habitus und Tugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Verbesserung des Menschen, nicht der Handlung . . . . . . . . . . 6. Zur Ontologie des habitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Hexis und méthexis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B. Thomas von Aquin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ethik auf anthropologischer Basis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Passiones und habitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Habitus und Qualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Habitus und Gnade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der habitus als Mittleres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36 36 37 44 45 51

VIII

Inhalt

III. Die Aushöhlung des habitus-Begriffs bei Scotus und Ockham . . . . .

55

A. Akzentverschiebungen bei Duns Scotus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anthropologisch: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verlagerung von passiones und habitus in den Willen . . . . . . 2. Philosophisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Substantialisierung von Akten und der Akt als Qualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die »quinque viae« in Ordinatio, I, dist. 17, pars 1 . . . . . . 3. Theologisch: caritas und acceptatio divina . . . . . . . . . . . . . . .

55 55 55 60

B. Exkurs: höchster habitus und höchster Akt . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gott schauen oder Gott lieben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Scotus’ Kritik am Primat der Schau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gottesschau ohne Liebe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Jenseits von Erkennen und Wollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Transformation des habitus-Begriffs in der franziskanischen Tradition: frui . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77 77 84 86 91

C. Wilhelm von Ockham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zeit und Bewegung bei Ockham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Reduktion des habitus im Physik-Kommentar . . . . . . . . . 3. Habitus durch Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Habitus und göttliche Allmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Restbestände traditioneller habitus-Theorie . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Polemik und vergeblicher Abschied: Luther – Descartes . . . . . . . . . .

117

A. Luther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Polemik gegen den habitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtfertigung zwischen Psychologie und Ontologie . . . . . . . 3. Bedeutung der habitus-Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B. Descartes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ersetzung der intellektuellen habitus durch die mathesis universalis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. »Provisorische« und »wissenschaftliche« Moral . . . . . . . . . . . . 3. Die Krise von Utrecht: Voetius gegen Descartes . . . . . . . . . . . 4. Die Krise von Leiden: Revius gegen Descartes . . . . . . . . . . . . 5. Les Passions de l’Âme und die »Moral für Elisabeth« . . . . . . . . . 6. Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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60 63 71

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134 136 137 138 139 143

Inhalt

V. Die Renaissance des habitus-Gedankens bei Schiller und Kierkegaard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IX

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A. Habitus als Freiheit: Schillers Kant-Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Öúσις als Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die punktuelle Perspektive der Kantischen Ethik . . . . . . . . . . 3. Schönheit als Vollendung moralischer Güte . . . . . . . . . . . . . . a) In den Kallias-Briefen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) In der medizinischen Dissertation (1780) . . . . . . . . . . . . . c) In Über Anmut und Würde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Schönheit als Weg zur Freiheit: Über die ästhetische Erziehung des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zum Begriff der »schönen Seele« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Kantischer Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B. Habitus als Spannung: Kierkegaard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kierkegaard und die aristotelische Tradition . . . . . . . . . . . . . 2. Habitus als Lebensform: Entweder–Oder . . . . . . . . . . . . . . . . . a) »Die ästhetische Gültigkeit der Ehe« . . . . . . . . . . . . . . . . . b) »Das Gleichgewicht zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Metamorphosen der Leidenschaft: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift . . . . . . . . . . . . . . a) Auf der Suche nach Leidenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Leidenschaft und Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Religiöse Leidenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Leidenschaft als habitus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Habitus als Spannung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Kierkegaards Sokrates und Aristoteles’ Sokrates . . . . . . . . . . .

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VI. Ausblick ins 20. Jahrhundert: Gehlen und Bourdieu . . . . . . . . . . . .

207

A. Die Institutionenlehre Arnold Gehlens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

207

B. Die Wiederentdeckung des habitus-Begriffs bei Pierre Bourdieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

213

VII. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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164 170 174

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[…] so daß die Tugenden nichts anderes sind als geordnete Gefühle. […] ut nil aliud sint virtutes nisi ordinatae affectiones. Bernhard von Clairvaux

I. EINFÜHRUNG

Das Gute wird schön, indem es leicht wird. Max Scheler

A. Vorbegriff des habitus – Abgrenzung von Gewohnheit »Habitus« ist ein mittelalterliches Wort, aber kein mittelalterliches Thema. Der Begriff des habitus spielt eine zentrale Rolle in einer Anthropologie, die den Menschen als ein aus Körper und Geist, aus Leib und Seele zusammengesetztes Wesen ansieht. (Tiere haben keinen habitus und Engel auch nicht.) Wollte man ein mechanisches und darum hier unpassendes Bild verwenden, so könnte man den habitus das Scharnier zwischen Sinnlichkeit und Geist nennen bzw., um einen Ausdruck von Bergson heranzuziehen, als »supplément d’âme«:1 ein Stück oder besser eine Verfassung der Seele, die nicht schon angeboren ist, sondern erworben werden muß, um die Herrschaft der Vernunft über den irrationalen Seelenteil so zu etablieren, daß die auf diese Weise hergestellte Ordnung natürlichen Charakter hat. D. h. – in den Worten des Aristoteles –, es darf keine despotische, es muß eine politische Herrschaft2 sein, die dem also Beherrschten (hier: dem irrationalen Seelenteil) seine Eigenart beläßt und seine Freiheit respektiert.3 Anders ausgedrückt, bedarf es in einer dualen (nicht dualistischen) Anthropologie eines verbindenden, einheitsstiftenden Elements, um die Zweiheit der ersten in eine Einheit der zweiten Natur – in die Einheit des habitus zu überführen.4 Damit ist bereits der Übergang von der Anthropologie zur Ethik thematisiert. 1

Henri Bergson: Les deux sources de la morale et de la religion, Paris 1932, in: Œuvres, hrsg. von A. Robinet/H. Gouhier, Paris 1959, S. 1239. Dt.: Die beiden Quellen der Moral und der Religion, Olten, Freiburg i. Br. 1980, S. 310. Eine ganz ähnliche Ausdrucksweise findet sich übrigens bei Thomas von Aquin, der einmal den habitus als »aliquid potentiae superadditum«, etwas der (Seelen-) Potenz Hinzugefügtes, einmal die Tugend als »potentiae complementum« bezeichnet. De veritate, qu. 20, a. 2; De virtutibus in communi, qu. un., a. 1, c. 2 Vgl. Anm. 103. 3 Mit Blick auf das Seelenmodell des Aristoteles (Nikomachische Ethik, I, 13; 1102 a 26ff.) ist an die Einteilung in einen vernünftigen und einen irrationalen Seelenteil zu erinnern, wobei der letztere teilweise (soweit er sich strebend, nicht insoweit er sich vegetativ verhält) an der Vernunft teilhat. 4 Es läge an dieser Stelle nahe, zu fragen, ob die Folge der Erbsünde nicht genau in diesem Ver-

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Einführung

Die Rede von der »zweiten Natur« evoziert das Wort von der »Gewohnheit als zweiter Natur«.5 Vom lateinischen Ausdruck »habitus« und seinen Derivaten (engl. habit, frz. habitude) her erscheint diese Übersetzung durchaus gerechtfertigt. Doch weil mit »habitus« etwas anderes als Gewohnheit gemeint ist, können wir diesen Begriff hier nicht übernehmen.6 Der Mensch ist zwar ein Gewohnheitstier, aber eben ein habitus-Mensch. Es dürfte indes unmöglich sein, eine scharfe Abgrenzung von habitus und Gewohnheit vorzunehmen. Aristoteles selbst betont den etymologischen Zusammenhang der ethischen Tugend (die durch Gewöhnung entsteht) mit der Gewohnheit (griech. Ethos)7; dabei läuft man Gefahr zu übersehen, daß die Gewöhnung nicht notwendig nur Gewohnheiten hervorbringt. Auch der Kithara-Spieler – das Standard-Beispiel für den Erwerb seelischer Fertigkeiten – erwirbt seine Virtuosität durch Übung, Wiederholung, Gewöhnung. Aber wir würden ihm kein Kompliment machen, wenn wir ihn als Gewohnheits-Kithara-Spieler bzw. sein Spiel als gewohnheitsmäßig bezeichneten. Auf einer anderen Ebene hingegen sind Gewohnheiten sehr wohl grundlegend für menschliches Verhalten: der aufrechte Gang, die sprachliche Artikulation, bestimmte Verhaltensweisen im Straßenverkehr. Allerdings sind damit keine qualitativ bedeutsamen Seinsweisen berührt. Wie steht es mit den Übergängen zwischen Gewohnheit und habitus? Nehmen wir an, ein Professor pflegt den schönen Brauch, seine Studenten zur letzten Seminarsitzung im Semester in den Biergarten einzuladen – automatische Gewohnheit oder kreativer habitus? Wie ist es mit dem Fußballtraining, der wöchentlichen Chorprobe, dem sonntäglichen Kirchgang? Eine Möglichkeit der Unterscheidung bestünde darin zu sehen, wie die betreffende Handlung vorgenommen wird – ob routinemäßig, ohne großes Engagement (das spräche für die Gewohnheit) oder mit ganzer Seele (das spräche für den habitus). Max Scheler hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Zunahme des Gewohnheitsmäßigen ein Indiz für das Altern ist.8 Stellen wir uns vor, ein Mensch brächte seinen ganzen Tag, vom Aufstehen übers Frühstück zur Zeitungslektüre zum Mor-

lust der inneren Einheit liegt: von daher ergäbe sich schon ein Hinweis darauf, daß die Überwindung der Erbsünde zur (Wieder-)Herstellung eines habitus führen müßte. So wird verständlich, warum der habitus im Mittelalter besonders im Zusammenhang der Gnadenlehre wichtig war. 5 Vgl. Gerhard Funke: Art. »Natur, zweite«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Basel 1984, Sp. 484–489. 6 Der Begriff »Gehaben« in der Deutschen Thomas-Ausgabe hat sich (zum Glück) nicht durchgesetzt, die neueren Bände (z. B. Bd. 13, Bd. 23) sind wieder zum »habitus« zurückgekehrt. 7 Nik. Ethik, II, 1 (1103 a 17f.). 8 Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos, in: Gesammelte Werke, Bd. 9, Bern / München 1976, S. 24.

Vorbegriff des habitus – Abgrenzung von Gewohnheit

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genspaziergang, Besorgungen im Supermarkt, Mittagessen, Nickerchen, Kaffeetrinken, Tagesschau … in gewohnheitsmäßigen Abläufen zu, so hätten wir es nicht mit einem prägnanten Fall seelischer Einheit, sondern eher mit seelischer Verkümmerung zu tun. Wir würden sagen, ein solcher Mensch mache zu wenig aus sich, er funktioniere, statt frei zu entscheiden – er werde gelebt, anstatt zu leben. Wo die Gewohnheit herrschend wird, gilt das Verfallsgesetz der Zeit9 – mit dem habitus dagegen wird die Zeit intensiviert, ihr Lauf kreativ umgekehrt zur »création continuelle«10 (um noch einmal eine Anleihe bei Bergson zu machen), zu fortdauernder Schöpfung; und zwar der »Schöpfung seiner selbst durch sich selbst«.11 Habitus und Gewohnheit sind anthropologische Grundbegriffe; in der Ethik verlieren sie ihre Neutralität – es gibt keine guten Gewohnheiten12 (und wer an dieser Rede festhalten will, wird zumindest einräumen, daß mit guten Gewohnheiten das 9

Vgl. Aristoteles: Physik, IV, 12 (221 b 1f.): »Denn an und für sich genommen ist die Zeit Urheberin eher von Verfall.« Aristoteles’ Physik, 1. Halbbd., übers. und hrsg. von H. G. Zekl, Hamburg 1987, S. 223. – Vgl. Thomas von Aquin: »[…] tempus est causa oblivionis.« Summa theol., I–II, qu. 53, a. 3 ad 3. 10 Henri Bergson: La pensée et le mouvant, Introduction I, in: Œuvres, a. a. O., S. 1529. Dt.: Denken und schöpferisches Werden, Meisenheim am Glan 1948 (Wiederabdruck Frankfurt a. M. 1985), S. 28. 11 Bergson: Mélanges, hrsg. von A. Robinet, Paris 1972, S. 1204. »Diese Schöpfung […] ist diejenige, die die größte Freude verschafft, und um sie zu empfinden, bedarf es keiner außergewöhnlichen Talente; jedermann kann sie erreichen.« (Ebd.) Vgl. L’énergie spirituelle, in: Œuvres, a. a. O., S. 833 f. Hier nimmt Bergson die Kreativität ausdrücklich für die Ethik in Anspruch und präsentiert das Vorbild des Helden und Heiligen als »créateur par excellence«. Damit widerspricht er Nietzsches Skepsis gegenüber der Kreativität des/der Guten. Vgl. F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, in: Werke. Krit. Gesamtausgabe, hrsg. von Colli/Montinari, VI/1, S. 262: »Die Guten nämlich – die k ö n n e n nicht schaffen […]« (Hervorh. im Orig.) 12 Vgl. Kant: Die Metaphysik der Sitten: »Die Tugend ist immer im Fortschreiten und hebt doch auch immer von vorne an […]: weil sittliche Maximen nicht so wie technische auf Gewohnheit gegründet werden können […]« Ak.-Ausg., Bd. 6, S. 409. Vgl. Kierkegaard: Entweder–Oder, München 31980, S. 671: »Das Wort Gewohnheit verwendet man eigentlich nur in bezug auf das Böse […] Gewohnheit bezeichnet daher stets etwas Unfreies. Aber wie man das Gute nicht ohne Freiheit vermag, so […] kann man in bezug auf das Gute nie von Gewohnheit sprechen.« – Wenn moderne Autoren »Gewohnheit« sagen, wo sie »habitus« meinen, fühlen sie sich zu unterscheidenden Zusätzen genötigt: etwa Maine de Biran, der von »habitudes passives« und »habitudes actives« spricht (vgl. den in Anm. 68 zitierten Aufsatz des Verf., S. 185 f.), oder Wilhelm Schmid, der »autonome« von »heteronomen Gewohnheiten« abhebt, in: Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt a. M. 51999, S. 325 ff., hier S. 328. Zur scholastischen Kritik der Gewohnheit (consuetudo) vgl. Rolf Schönberger: Relation als Vergleich, Leiden u. a. 1994, S. 262, Anm. 88; sowie Thomas von Aquin: Summa theol., II–II, qu. 142, a. 2 ad 2 mit dem berühmten Zitat aus den Confessiones (VIII, 5) des Augustinus: »Wenn man der Wollust dient, wird sie zur Gewohnheit; und wenn man der Gewohnheit nicht widersteht, wird sie zur Notwendigkeit.« Deutsche Thomas-Ausgabe, Bd. 21, S. 272.

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Einführung

Reservoir menschlich möglicher Güte längst nicht ausgeschöpft ist), wohl aber gute habitus.13 Wir reden vom Gewohnheitsraucher und -trinker, vielleicht vom GewohnheitsSchwarzfahrer (Verhaltensweisen, die mit einem Mangel an Aufmerksamkeit einhergehen). Gute habitus (auch Tugenden genannt) sind, im Gegensatz zu den Gewohnheiten, mit Aufmerksamkeit verbunden (der Höfliche und Rücksichtsvolle, der im Bus jederzeit bereit ist, für einen alten Menschen aufzustehen oder einer Mutter mit Kinderwagen beim Aussteigen zu helfen, kann das nicht gewohnheitsmäßig, »automatisch«, tun). Im guten habitus geht es also um die Höchstform, scholastisch: das ultimum potentiae – mit Josef Pieper »das Äußerste dessen, was einer sein kann«.14 Georg Henrik von Wright schreibt:15 »Tugenden als Gewohnheiten [habits] ansehen hieße, die Natur der Tugenden völlig mißzuverstehen. Man kann sogar soweit gehen und sagen, daß, wenn tugendhaftes Verhalten den Aspekt gewohnheitsmäßiger Ausführung annnimmt, dies ein Zeichen für die Abwesenheit von Tugend ist. Aber wofern jemand sagen wollte, daß der Erwerb oder das Erlernen einer Tugend, zumindest teilweise, eine Frage von Gewöhnung ist, […] dann würde er wahrscheinlich auf eine wichtige Wahrheit hinweisen.«

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Strenggenommen gibt es gute und schlechte habitus – die ersteren kennen wir als Tugenden, die letzteren als Laster. – In der Tugend kommt aber die habitus-Idee besser zur Geltung; denn die Einheit von Vernunft und irrationalem Seelenteil ist im Fall des Lasters nur partikulär ausgebildet. (Der unehrliche Kellner, der sich glänzend auf das Unterschlagen von Geld versteht, handelt nicht eigentlich »klug« oder vernünftig – im Vernunftbegriff liegt, schon seit der Antike, immer das Moment von Universalisierbarkeit und Intersubjektivität.) – Vgl. Anm. 106. 14 Vgl. Dietmar Mieth: Die neuen Tugenden. Ein ethischer Entwurf, Düsseldorf 1984, S. 16; Josef Pieper: Das Viergespann, München 61991, S. 10: »[…] das Äußerste seines eigenen Seinkönnens«; s. auch Anm. 80f. 15 Georg Henrik von Wright: The Varieties of Goodness, London 31968 (1963), S. 143 (in dem Kap. »Virtue«, a. a. O., S. 136–154), Hervorh. im Orig. – Die Übereinstimmung des analytischen Philosophen mit der thomistischen Position ist bemerkenswert; vgl. Servaes Pinckaers: »La vertu est tout autre chose qu’une habitude«, Nouvelle Revue Théologique, 82 (1960), S. 387–403, sowie die überaus gründliche Studie von Rolf Darge: Habitus per actus cognoscuntur. Die Erkenntnis des Habitus und die Funktion des moralischen Habitus im Aufbau der Handlung nach Thomas von Aquin, Bonn 1996, hier S. 31 (mit einer Fülle von Belegen, ebd., Anm. 49 f.). – Vgl. Max Scheler: »Zur Rehabilitierung der Tugend«, in ders.: Vom Umsturz der Werte (1915), jetzt in: Gesammelte Werke, Bd. 3, Bern/München 51972, S. 16. (Auf S. 17 findet sich der oben als Motto zitierte Satz.)

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B. Schwierigkeiten eines heutigen Zugangs 1. Philosophisch Aus der Perspektive der gegenwärtigen Moralphilosophie scheint die Anknüpfung an den habitus-Begriff wenig aussichtsreich. Oder gewinnt man bei näherem Hinsehen einen anderen Eindruck?

a) Am Beispiel des Konsequentialismus Ohne Zweifel bietet der Grundsatz, Handlungen nach ihren Konsequenzen zu beurteilen – vom Utilitarismus radikalisiert zum Prinzip des größten Glücks der größten Zahl – für private wie politische Entscheidungen eine wichtige Orientierung. Als alleinige Maxime menschlichen Handelns ist er aber nicht hinreichend, ja u. U. sogar kontraproduktiv, wie verschiedene Kritiker gezeigt haben. Zum einen gibt es in dieser Sicht der Dinge keine Möglichkeit, die Unerlaubtheit bestimmter Handlungen – z. B. die Tötung eines Unschuldigen – zu begründen. Unter Aufrechnung der Konsequenzen wäre es sogar moralisch geboten, einen Unschuldigen zu töten, wenn dadurch die Tötung von anderen vermieden wird.16 Andererseits läßt sich der innere Wert einer Handlung nicht mehr begründen, wenn nur noch auf die Folgen gesehen wird. Ein Beispiel: Ein alter Freund, mit dem ich schon lange keinen Kontakt mehr hatte, ruft an, er sei gerade am Bahnhof, ob wir uns nicht treffen könnten? Dem Konsequentialisten werden Zweifel aufsteigen: Man wisse ja nicht, ob es »etwas bringt«, möglicherweise sei der Austausch vergangener Erlebnisse eher unerfreulich … Doch selbst ein konsequentialistischem Räsonnement abgerungenes Ja wäre hier nicht überzeugend (»ich gehe hin, sonst mache ich mir am Ende noch Vorwürfe …«). Menschliches Handeln hat, anders als das technische Herstellen, auch eine Innenseite – auf diesem Gedanken beruht die für Aristoteles so wichtige Unterscheidung von Praxis und Poiesis.17 Im Konsequentialismus ist sie nicht nachvollziehbar.18 16

Das ist das berühmte Dilemma des Botanikers Jim, der zufällig auf dem Marktplatz einer südamerikanischen Kleinstadt eintrifft, als dort der Hauptmann Pedro zwanzig der Regierung unliebsame Indianer exekutieren will. Pedro bietet Jim an, er solle die Tötung eines Indianers übernehmen, die restlichen neunzehn kämen dann frei … Vgl. Bernard Williams: Kritik des Utilitarismus, Frankfurt a. M. 1979, S. 61 f.; Robert Spaemann: »Über die Unmöglichkeit einer universalteleologischen Ethik«, Philosophisches Jahrbuch, 88 (1981), S. 70–89. 17 Vgl. Anm. 114–116. 18 »Intrinsisch wertvolle Handlungen können […] nicht konsequentialistisch rational sein.« Julian Nida-Rümelin: Kritik des Konsequentialismus, München 1993, S. 50.

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Drittens bringt das Gebot, Handlungsfolgen miteinander zu verrechnen (um dann die Handlung mit den besten Folgen, d. h., mit dem größten Gesamtnutzen wählen zu können), unvermeidlich das Problem einer »Einheitswährung« mit sich, in der der optimale Nutzen ausgedrückt werden soll. Die qualitativen Unterschiede von Handlungsfolgen müssen dann auf einen gemeinsamen Nenner reduziert, mithin quantifiziert werden. Unter diesem Druck leidet auch die Gestaltung der Handlungen selbst; der Nutzenkalkül wirkt handlungsdeformierend.19 Was bedeutet das für eine am habitus-Begriff orientierte Ethik? Sie wird ihres Hauptanliegens beraubt, denn es gibt im Konsequentialismus keine »Integrität der Person«20 mehr. Das gilt nicht nur für die besonderen Fälle, wo aus Gründen des Nutzenkalküls kontraintuitive Handlungen zu wählen sind, sondern es ergibt sich einmal daraus, daß der utilitaristisch Handelnde nie habituell auf bestimmte Handlungsarten (im Sinn etwa der Tugenden: Großzügigkeit, Tapferkeit, Hilfsbereitschaft …) ausgerichtet sein kann – er muß ja immer erst die Nutzendifferenz möglicher Handlungsalternativen berechnen.21 Die Kontinuität der Person22 geht unter dem Anspruch der punktuellen Optimierung der Handlungsfolgen23 verloren. Zum anderen leidet die Integrität der Person unter dem Ansatz, »daß eine bestimmte Größe (sei es Zufriedenheit, Glück, Lust o. a.) zum Kriterium des moralisch Richtigen wird, […] deren personale Verankerung jedoch unberücksichtigt bleibt.«24 19

Vgl. Vittorio Hösle: Moral und Politik. Grundlagen einer Politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, München 1997, S. 155. Hösle illustriert das an einem besonders grausigen Beispiel (ebd.): »Daß man ein Kind schlachtet, weil sein Fleisch einem gut schmeckt, wird jeden normalen Utilitaristen entsetzen, weil die Utilität des Lebens größer ist als die des Schmausens – aber das heißt nicht, daß, wenn nur die Zahl der an dem Mahl Beteiligten groß genug ist, jene Handlung nicht moralisch erlaubt, ja geboten sein könnte.« 20 Vgl. Nida-Rümelin, a. a. O., S. 89–94. 21 »Die ideale moralische Person im Sinne des strikten Konsequentialismus würde […] alle Handlungsoptionen unabhängig von Sitte und Gewohnheit berücksichtigen: z. B. würde sie auf dem Wege zu einer Geburtstagsfeier abwägen, ob das Geld für die Blumen wirklich optimal, also geamtnutzenmaximierend angelegt sei, oder ob eine Spende dieses Betrages für die Welthungerhilfe nicht besser wäre.« Ebd., S. 76. 22 Vgl. Richard Schenk (Hrsg.): Kontinuität der Person. Zum Versprechen und Vertrauen (= Collegium Philosophicum, Bd. 2), Stuttgart-Bad Cannstatt 1998. 23 Vgl. Nida-Rümelin, a. a. O., S. 132. 24 Ebd., S. 57. Auch dazu ein Beispiel: »Den verschiedenen Spielarten des Handlungs- wie des Regelutilitarismus […] ist die Orientierung der moralischen Beurteilung an Zufriedenheit, Glück oder Lust als solcher gemeinsam – und zwar unabhängig davon, wer Träger dieser Zufriedenheit (Glück, Lust) ist. Gäbe es eine ungewöhnliche Person, deren Zufriedenheit sich unbegrenzt steigern ließe, z. B. durch den Genuß einer bestimmten Droge, dann ist es unter bestimmten empirischen Bedingungen denkbar, daß die gesamte Produktivität einer Gesellschaft unter utilitaristischer Beurteilung ausschließlich dazu verwendet werden müßte, diesem Zufriedenheitsmonster zu dienen.« (Ebd.) Man könnte vielleicht einwenden: Aber wo bleibt das Glück der größten Zahl? Doch

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Handlungen können nicht allein deswegen gut sein, weil ihre Folgen wünschenswert sind, sondern sie müssen in einer noch näher auszulotenden Weise mit der Güte der handelnden Person verbunden sein.

b) Am Beispiel der Diskursethik Anders sieht es aus, wenn wir nach den möglichen habitus-Implikationen der Diskursethik fragen. Schon in der Theorie des kommunikativen Handelns heißt es:25 »Lebensformen kristallisieren sich ebensosehr wie Lebensgeschichten um partikulare Identitäten. Diese dürfen, wenn das Leben gelingen soll, moralischen Forderungen nicht widersprechen; aber ihre Substanz läßt sich nicht selbst unter universalistischen Gesichtspunkten rechtfertigen.« Kommunikatives Handeln ist im Gegensatz zum Konsequentialismus nicht erfolgs-, sondern verständigungsorientiert.26 Die Identität der Person wird dabei nicht als gegeben vorausgesetzt. Vielmehr gilt: »Nur im Maße ihrer kommunikativen Entäußerung wird die Person mit sich identisch.«27 Aber die Kommunikation ist auch nicht alles. Habermas räumt ein, daß »Ich-Identität nicht nur die kognitive Beherrschung allgemeiner Kommunikationsniveaus verlangt, sondern auch die Fähigkeit, die eigenen Bedürfnisse in diesen Kommunikationsstrukturen zu ihrem Recht zu bringen: solange sich das Ich von seiner inneren Natur abschnürt […], bleibt die noch so sehr durch Prinzipien geleitete Freiheit gegenüber bestehenden Normensystemen in Wahrheit unfrei. […] Eine Autonomie, die das Ich eines kommunikativen Zugangs zur eigenen inneren Natur beraubt, signalisiert auch Unfreiheit.«28 Woher kommt die »eigene innere Natur« als Widerlager von Diskurs und Autonomie? Begeht Habermas hier den »Rückgriff auf metaphysische Prämissen«,29 zu dem sich nicht einmal die von ihm kritisierten »Neoaristoteliker« (gemeint ist vor allem Alasdair MacIntyre) verstehen? es liegt in der inneren Logik des Utilitarismus, daß die Kategorie der Quantität gegenüber der Qualität oder der Substanz (der Person) die Oberhand behält. Vgl. vom Verf.: »Utilitarismus und Ethik«, in: F. Christoph / H. Illiger (Hrsg.): Notwehr. Gegen die neue Euthanasie, Neumünster 1993, S. 30–49. 25 Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1981, S. 168. 26 Vgl. Habermas: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M. 1983, 41991, S. 144 f. 27 Habermas: »Lawrence Kohlberg und der Neoaristotelismus«, in: Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a. M. 1991, 21992, S. 77–99, hier S. 97. (Kritik am Utilitarismus: ebd., S. 81.) 28 Habermas: »Moralentwicklung und Ich-Identität«, in: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt a. M. 1976, 51990, S. 63–91, hier S. 74, 88. 29 Habermas: »Lawrence Kohlberg und der Neoaristotelismus«, a. a. O., S. 87.

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Wichtiger als eine Antwort auf diese Fragen ist es, die Sensibilität anzuerkennen, mit der Habermas sich selbstkritisch immer wieder den Grenzen des eigenen Ansatzes zuwendet. In der Theorie des kommunikativen Handelns ist die Rede vom »Preis, den die kommunikative Vernunft für ihren Sieg in der Münze konkreter Sittlichkeit zahlen muß.«30 Habermas geht es ja – in der Nachfolge Kants – um eine universalistische Moralbegründung, in deren Verfolg »sich die praktische Vernunft aus einem kontextabhängigen Vermögen der klugen Abwägung innerhalb des Kontexts einer bestehenden Lebensform in ein Vermögen von Prinzipien der reinen […] Vernunft«31 verwandelt. Was bei Aristoteles die phronesis bzw. im Mittelalter die prudentia – also die Tugend, der habitus der Klugheit – »innerhalb des Horizonts eingelebter Praktiken und Gewohnheiten«32 leisten konnte, hat vor dem universalistischen Begründungsdruck der Moderne keinen Bestand mehr. Es ergibt sich, »daß keine Tradition oder Lebensweise, wie tief diese auch immer in der Alltagspraxis verwurzelt sein mögen, vor einer Problematisierung sicher sein kann. Jeder in der Lebenswelt auftretende […] Geltungsanspruch muß infrage gestellt werden können; alles zählt als Hypothese, bevor es nicht seine Gültigkeit durch die Autorität guter Gründe wiedererlangt.«33 Damit ist zunächst einmal, nicht anders als im Konsequentialismus, der Ansatz einer habitus-Ethik verworfen. In der von der reinen Vernunft geführten Begründungsdiskussion wird von der Anthropologie abstrahiert; daß die zu begründenden Normen letztendlich für Menschen (und nicht für reine Vernunftwesen) zu gelten haben, soll keine Rolle spielen. Aber sobald die Normen gewonnen sind, müssen sie auch angewandt werden. Die »kognitivistische Moral« steht somit vor »den Fragen der situationsspezifischen Anwendung und der motivationalen Verankerung moralischer Einsichten«.34 Mit dem Erkennen allein ist es nicht getan, man muß das Gute auch wollen, möglicherweise sogar fühlen. Habermas sagt es selbst:35 »Die ideale Rollenübernahme […] verlangt anspruchsvolle kognitive Operationen. Diese stehen wiederum in internen Beziehungen zu Motiven und Gefühlseinstellungen wie z. B. der Empathie. Anteilnahme am Schicksal des ›Nächsten‹ […] ist in Fällen soziokultureller Distanz eine notwendige emotionale Bedingung für die vom Diskursteilnehmer erwarteten kognitiven Leistungen. Ähnliche Verbindungen zwischen Kognition, Einfühlungs30 31 32 33 34 35

A. a. O., S. 164. Habermas: »Lawrence Kohlberg und der Neoaristotelismus«, a. a. O., S. 84. Ebd., S. 81. Ebd., S. 85 (Hervorh. im Orig.). Habermas: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, a. a. O., S. 191. Ebd., S. 193 f. (Hervorh. im Orig.)

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vermögen und Agape können für die hermeneutische Leistung der […] Anwendung allgemeiner Normen geltend gemacht werden. Diese Integration von Erkenntnisleistungen und Gefühlseinstellungen bei der Begründung und der Anwendung von Normen kennzeichnet jedes ausgereifte moralische Urteilsvermögen.« Es fällt auf, daß die »Gefühlseinstellungen« (womit der habitus treffend umschrieben ist) hier nicht nur bei der Anwendung, sondern auch bei der Begründung von Normen wichtig werden. Und erstaunlich ist auch, daß sie nicht nur als Krücke eines konventionellen moralischen Entwicklungsstandes eine provisorische Existenzberechtigung besitzen, sondern das postkonventionelle, »ausgereifte moralische Urteilsvermögen« auszeichnen. Wenn es hier auch nicht darum gehen kann, Habermas auf aristotelische Positionen festzunageln, so springt die Nähe zur Nikomachischen Ethik doch in die Augen. Aristoteles sagt es nicht viel anders: die Tugend ist »ein Habitus des Wählens« (hexis prohairetiké);36 die Wahl ist »entweder strebende Vernunft oder vernünftiges Streben« (orektikós nûs, órexis dianoetiké).37 Die Motivation ist ein entscheidendes Moment des moralischen Wissens, dieses ist nie ein Wissen reiner Kognitivität. Angemessenes moralisches Wissen hat daher für Aristoteles nur, wer den entsprechenden habitus besitzt.38 Diesen Zusammenhang erörtert bereits die Frankfurter Antrittsvorlesung »Erkenntnis und Interesse« (1965). Sie mündet in die »Einsicht, daß die Wahrheit von Aussagen in letzter Instanz an die Intention des wahren Lebens gebunden ist« – wenn auch mit dem einschränkenden Zusatz, diese Einsicht ließe sich »heute nur mehr auf den Trümmern der Ontologie bewahren.«39

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Aristoteles: Nik. Ethik, II, 6 (1106 b 36), dt.: auf der Grundlage der Übers. von E. Rolfes hrsg. von G. Bien, Hamburg 41985, S. 36. 37 »[…], und das entsprechende Prinzip ist der Mensch.« Aristoteles: Nik. Ethik, VI, 2 (1139 b 4f.), dt.: übers. und hrsg. von O. Gigon, München 41981, S. 183. 38 Thomas von Aquin unterscheidet zwei Typen des moralischen Urteils: einmal »per modum inclinationis«, einmal »per modum cognitionis«. Im ersten Fall haben wir es mit dem Urteil, das dem »habitus virtutis« entspringt, zu tun, im zweiten mit dem des Experten, der, »instructus in scientia morali«, gleichfalls über moralische Fragen urteilen könnte, »etiam si virtutem non haberet.« (Summa theol., I, qu. 1, a. 6 ad 3.) Vgl. II–II, qu. 45, a. 2: »Rectitudo autem iudicii potest contingere dupliciter: uno modo, secundum perfectum usum rationis; alio modo, propter connaturalitatem quandam ad ea de quibus […] est iudicandum.« Beispiel: Über die Keuschheit kann urteilen, »wer die Moralwissenschaft gelernt hat«, aber auch, »wer den habitus der Keuschheit hat« (ebd.). Wer von beiden das zuverlässigere Urteil fällt, dürfte klar sein. Vgl. Rolf Darge: »›Wie einer beschaffen ist, so erscheint ihm das Ziel.‹ Die Rolle des moralischen Habitus bei der Beurteilung des Handlungsziels nach Thomas von Aquin«, Theologie und Philosophie, 72 (1997), S. 53–76. 39 Habermas: »Erkenntnis und Interesse«, in: Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹, Frankfurt a. M. 1968, S. 146–168, hier S. 167 f.

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Obwohl Habermas sich den »Rückgriff auf die Begrifflichkeit substantiell vernünftiger Weltbilder«40 versagt, liegt ihm doch an der »Kritik an den Entstellungen, die den Lebensformen kapitalistisch modernisierter Gesellschaften auf doppelte Weise zugefügt werden: durch die Entwertung ihrer Traditionssubstanz und durch eine Unterwerfung unter Imperative einer vereinseitigten, aufs Kognitiv-Instrumentelle beschränkten Rationalität.«41 Sehnsucht nach einer nicht entwerteten Tradition klingt an in einer Szene, die Habermas in einem 1988 in Amerika gehaltenen Vortrag schildert:42 »Ich erinnere mich an einen Abend […], wo wir kurz nach Sonnenuntergang mit dem Blick auf den Ozean neben dem Kamin saßen. Larry [Kohlberg] nahm ein zerlesenes Buch vom Regal und begann, eine große Ode von Walt Whitman vorzutragen – eher stotternd, die Silben verschluckend, mit einer seltsamen Mischung aus understatement und tiefer Bewegung. Ich habe damals kaum etwas vom Inhalt verstanden. Aber der Klang der Stimme, der rhythmische Fluß der Verse, die ganze Szene sagten genug: hier stießen wir auf eine der Wurzeln, aus denen sich das Leben dieses Mannes gespeist hat.« Dann zitiert Habermas einen Satz von William James, der eine harmonische (nicht einfach eine »funktionierende«), von Sympathie getragene Gesellschaft beschreibt. Er kommentiert ihn mit einer »These […], die mit dem Zeitgeist nicht gut harmoniert: Wer immer in einer halbwegs ungestörten Familie aufgewachsen ist, wer seine Identität in Verhältnissen wechselseitiger Anerkennung ausgebildet hat, […] der muß eine Art von moralischen Intuitionen erworben haben, welche in Sätzen wie denen von William James zur Sprache kommen. […] Jener Satz spricht eine Intuition aus, die wir in ganz verschiedenen Kontexten erwerben, sofern wir nur in Verhältnissen aufwachsen, die nicht durch systematisch verzerrte Kommunikationen vollständig zerrissen sind.«43 Könnte es sein, daß sich hier auch ein Bedauern ausspricht über die verzerrten Kommunikationsverhältnisse, in denen die deutsche Kriegs- und Nachkriegsjugend aufwuchs? Die griechische Polis, die mittelalterliche Christenheit, repräsentiert durch die Tradition des Predigerordens (Kommunikation!), Friedrich Schillers freilich nur »in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln«44 verwirklichte Sittlichkeit sind 40

Habermas: »Replik auf Einwände« (1980), in: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1984, S. 475–570, hier S. 540. 41 Ebd. 42 Habermas: »Lawrence Kohlberg und der Neoaristotelismus«, a. a. O., S. 77. 43 Ebd., S. 78. – Der auf S. 77 zitierte Satz von William James lautet: »The community stagnates without the impulse of the individual, the impulse dies away without the sympathy of the community.« 44 Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 27. Brief, in: Sämtliche Werke, hrsg. von G. Fricke und H. G. Göpfert, 5. Bd., Darmstadt 91993, S. 669.

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wohl ebenfalls Beispiele von Kontexten, die nicht durch systematisch verzerrte Kommunikation vollständig zerrissen sind. Der Rekurs auf solche Kontexte ist, wie Habermas sagt, dem Zeitgeist verdächtig. Aber legitimiert die Einsicht in die Kontextabhängigkeit der eigenen moralischen Intuitionen nicht den Versuch, das moralische Repertoire vergangener Epochen mit möglicherweise intakteren Kommunikationsverhältnissen als der unseren wieder zugänglich zu machen?

2. Lebensweltlich a) Fehlen entsprechender Lebensformen »Lebensformen« war das erste Wort im ersten Habermas-Zitat. Gewiß sind die Lebensformen der technischen Zivilisation der habitus-Bildung nicht günstig; ja, man könnte sogar sagen, die Technik habe den habitus ersetzt. Die Ausschau nach einer Lebenswelt, in der die normale menschliche Tätigkeit auch eine Innenseite hat und nicht nur der materiellen Produktion oder der technisch effizienten Organisation administrativer Abläufe dient, gestaltet sich schwierig. Immerhin können wir an die Kritik Rousseaus anknüpfen, der ja die Zunahme technischen und wissenschaftlichen Fortschritts mit einem Niedergang der Tugend korreliert sah:45 »Es ist hundert gegen eins zu wetten, daß der erste, der Holzschuhe trug, ein strafwürdiger Mensch war, sofern er keine schlimmen Füße hatte. Wir aber sind ihm viel Dank schuldig, daß er uns Schuhe verschafft und uns der Pflicht, tugendhaft zu sein, überhoben hat.« Ob wir Rousseaus bitterem Unterton beipflichten oder nicht – kaum jemand wird bestreiten, daß es zum Wesen der Technik gehört, dem Menschen Verrichtungen abzunehmen. Was zunächst als Entlastung begrüßt wird, zeigt sich u. U. später als Verarmung. Wenn das Auto fährt, statt daß ich mich selbst bewege – die Mikrowelle kocht, statt daß ich am Herd stehe – die Musik aus Konserven statt aus Kehlen und Klavieren kommt, so verkümmern menschliche Tätigkeiten und die mit ihnen verbundene Akkumulation weiterer Tätigkeitsbereitschaft (habitus).

Habermas hat übrigens Schillers Briefen einen Exkurs gewidmet in: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1985, 31986, S. 59–64. Schiller habe die Kunst »als die genuine Verkörperung einer kommunikativen Vernunft begriffen« (ebd., S. 62). Habermas scheint mit Schiller zu sympathisieren, der, bescheidener als Schelling und Hegel, die ästhetische Urteilskraft nicht mißbrauchte »als Brücke zu einer intellektuellen Anschauung, die sich der absoluten Identität versichern wollte« (ebd.). 45 Jean-Jacques Rousseau: Letzte Antwort (an Bordes), in ders.: Schriften, hrsg. von H. Ritter, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1988/1995, S. 134; es handelt sich um die letzte Erwiderung in der Debatte um Rousseaus 1. Discours (Abhandlung über die Wissenschaften und Künste, a. a. O., S. 27–60).

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Auch der berufliche Alltag des normalen Angestellten, der pünktlich sein Büro verläßt, den Lift zur Tiefgarage nimmt und sich auf den Fernsehabend freut, ist kaum dazu angetan, das »ultimum potentiae« zu wecken.46 Das sucht man am ehesten bei strapaziösen Sahara-Wanderungen im Urlaub. Aber wenn man Tugend nur im Urlaub erwerben kann, stimmt etwas am Alltag nicht.

b) Der Mensch ohne Eigenschaften und Leidenschaften Auch an Robert Musils Mann ohne Eigenschaften ist zu denken. Nach Aristoteles ist der habitus eine Art der Qualität – die erste, die er in der Kategorienschrift behandelt.47 (Bemerkenswert, daß die Tugend – und das Wissen – als Prototyp von Qualität eingeführt wird, und nicht etwa die Farben; sie kommen erst an dritter Stelle.) Musil sieht die hervorstechendste Eigenschaft des modernen Menschen darin, nicht mehr durch Eigenschaften faßbar zu sein und sich selbst irgendwie unwirklich zu werden. Übrigens: mit den Eigenschaften, den Qualitäten, den habitus sind auch die Leidenschaften abhanden gekommen (oder mit diesen jene?). Die Leidenschaften aber liefern den Stoff, aus dem die Tugenden sind.48

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In diese Richtung zielt bereits die Beobachtung eines Scotus-Kommentators aus dem 17. Jahrhundert: In einem geordneten Staatswesen brauchen die Bürger weder in besonderem Maße tapfer, noch großzügig zu sein. Vgl. John Ponce (Poncius), Kommentar zu Duns Scotus: Ordinatio, III, dist. 36, qu. un., n. 43 (fälschlich 41); ed. Wadding (Lyon 1639, Nachdruck Hildesheim 1968/69), Bd. VII/2, S. 795 b: »[…] vix occurrit unquam occasio aliqua […] exercendarum aliquarum virtutum ex cardinalibus, ut virginitas ex parte coniugatorum; fortitudinis respicientis preferentiam mortis, respectu omnium Christianorum, praesertim in Regnis Catholicis, ubi non viget authoritas Magistratus haeretici; liberalitatis, respectu pauperum; paupertatis, respectu divitum; si sufficit ad perfectionem virtutum, quod habeantur in eo gradu, in quo regulariter, & moraliter possunt sufficere ad non transgrediendum praescriptum rationis in ullis occasionibus regulariter, & ordinarie occurrentibus […], sequitur manifeste virtutes morales […] non esse connexas […]« (Hervorh. von mir.) Das Argument dient der Zurückweisung der von Thomas vertretenen connexio virtutum (vgl. Anm. 331). 47 Aristoteles: Kategorien, Kap. 8 (8 b 26ff.). 48 Vgl. den 2. Abschnitt im Thomas-Kap.

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C. »Virtue is back« 1. Is virtue back?49 Seit dem 1981 in Amerika (1987 auf deutsch) erschienenen Buch Der Verlust der Tugend von Alasdair MacIntyre ist das Thema Tugend wieder in der philosophischen Diskussion.50 Zu nennen sind die Bücher von Martha C. Nussbaum,51 Nancy Sherman,52 Onora O’Neill,53 André Comte-Sponville.54 MacIntyres Verdienst besteht darin, daß er ein Tabu gebrochen und gezeigt hat, welcher Reichtum für die Moralphilosophie wiederzuentdecken ist, wenn man hinter bestimmte Denkverbote zurückgeht. Wir haben hier nicht zu prüfen, ob seine Widerlegung G. E. Moores, Humes und Kants schlüssig ist. Die These vom »Scheitern des Projekts der Aufklärung« (Kap. 5 und 6 von After Virtue) kann strittig bleiben; die Ressourcen der habitus-Tradition müssen nicht als radikale Alternative, sie können auch als Ergänzung der Aufklärung herangezogen werden. Da noch längst nicht ausgemacht ist, wie eine Rückkehr der Tugendethik aussehen könnte, sollte man die Gesprächspartner, deren sie bedarf, nicht mit unnötigen Absolutheitsansprüchen vor den Kopf stoßen. So schreibt Martha Nussbaum:55 »Bestimmte Lücken im Utilitarismus und im Denken Kants sind so verstanden worden, als seien sie notwendige Lücken in jedem kritischen und universalisierenden Denken. Ein Studium des Aristoteles und seiner Kollegen zeigt, daß das nicht der Fall ist: man fülle die Lücken, und siehe da, bestimmte zentrale Anliegen der Aufklärung können durchaus bestehenbleiben.« 49 »Virtue is back«, so statuiert Servais Pinckaers O. P.: »Rediscovering Virtue«, The Thomist, 60 (1996), S. 361–368, hier S. 361. 50 Alasdair MacIntyre: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Darmstadt 1988; Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana, 1988. – Dazu die Kritik von Barry Arnold: The Pursuit of Virtue. The Union of Moral Psychology and Ethics, New York u. a. 1989, von Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik, Frankfurt a. M. 1993, S. 197–225, sowie die Diskussionsbeiträge in: John Horton/Susan Mendus (Hrsg.): After MacIntyre: Critical Perspectives on the Work of Alasdair MacIntyre, Cambridge 1994. – Man darf gespannt sein, ob MacIntyres jüngstes Buch Dependent Rational Animals. Why Human Beings Need the Virtues (Chicago u. a. 1999) dazu beiträgt, die Tugend als habitus wiederzuentdecken. 51 Martha C. Nussbaum: Gerechtigkeit oder Das gute Leben, Frankfurt a. M. 1999. 52 Nancy Sherman: The Fabric of Character. Aristotle’s Theory of Virtue, Oxford 1991; Making a Necessity of Virtue. Aristotle and Kant on Virtue, Cambridge 1997. 53 Onora O’Neill: Tugend und Gerechtigkeit. Eine konstruktive Darstellung des praktischen Denkens, Berlin 1996. 54 André Comte-Sponville: Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben. Ein kleines Brevier der Tugenden und Werte, Reinbek 1996. 55 Martha C. Nussbaum: »Virtue Revived. Habit, passion, reflection in the Aristotelian tradition«, Times Literary Supplement, Nr. 4657 (July 3, 1992), S. 9–11, hier S. 11, Sp. 4.

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Einführung

In dieser Darstellung wird allerdings ein Perspektivenwechsel vorgenommen, der Konfliktpotential birgt. Ginge es nur darum, durch den Rückgriff auf die aristotelische Tradition Risse im neuzeitlichen Denken zu kitten, so wäre wohl den Verfechtern der Aufklärung Genüge getan – aber dann heißt es ja, nach dieser Operation könnten die »core commitments« der Aufklärung bestehenbleiben. (Wenn sie das können, war das Haus der Moderne offenbar vorher vom Einsturz bedroht.) Das wird aus aristotelischer Warte gesagt. Dann war aber die Anleihe bei der Tradition nicht nur Kitt, sondern eine Tieferlegung der Fundamente.56

2. Passion is back Nicht nur durch die von MacIntyre angestoßene Diskussion um die Tugend, sondern auch durch die Rehabilitation von Leidenschaft, Gefühl, Emotionalität als Ergänzung einer rationalistisch vereinseitigten Sicht des Menschen gewinnt das habitus-Thema neue Aktualität. Zu nennen sind die Arbeiten von Martha C. Nussbaum,57 sowie von Antonio R. Damasio,58 Daniel Goleman,59 Michael Stocker,60 Ronald de Sousa61 und Carola Meier-Seethaler.62

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Diesen Anspruch vertritt expressis verbis Alasdair MacIntyre in seinem Beitrag »A Partial Response to my Critics« in dem in Anm. 50 zit. von Horton/Mendus herausgegebenen Werk (ebd., S. 283–304, hier S. 298): »In After Virtue I did not as yet recognize how Aquinas had enriched and reconstituted the tradition and given it its definitive form. And I also had to learn how, if Aquinas’s key philosophical positions were to be rationally vindicated, they had to provide the resources not only for refuting the major alternatives in his own Aristotelian terms, but also for explaining how, if his central conclusions were true, the failures of those alternatives could be identified and explained more compellingly than they could be in the terms of those alternative positions themselves.« (Hervorh. von mir.) 57 Martha C. Nussbaum: The Therapy of Desire: Theory and Practice in Hellenistic Ethics, Princeton 1994. 58 Antonio R. Damasio: Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, München 31997 (der Autor ist Neurologe). 59 Daniel Goleman: Emotionale Intelligenz, München 1996. (Goleman wählt die Hirnforschung als Ausgangspunkt.) 60 Michael Stocker: Valuing Emotions, Cambridge 1996. Eine Literaturliste der von ihm dankbar vermerkten »explosion of philosophical works on emotions and moral psychology« gibt Stocker ebd., S. XX, Anm. 6. Stocker hatte sich schon früher mit einer vehementen Kritik der gegenwärtigen Moralphilosophie zu Wort gemeldet: »The Schizophrenia of Modern Ethical Theories«, The Journal of Philosophy, 73 (1976), Nr. 14, S. 453–466, wiederabgedruckt in: Roger Crisp/Michael Slote (Hrsg.): Virtue Ethics, Oxford 1997, S. 66–78. 61 Ronald de Sousa: Die Rationalität des Gefühls, Frankfurt a. M. 1997. 62 Carola Meier-Seethaler: Gefühl und Urteilskraft. Ein Plädoyer für die emotionale Vernunft, München 1997.

Überblick

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3. Chancen für den habitus Die Vertreter der Tugendethik sehen nicht immer deutlich, daß gerade ihr Ansatz – und das ist sein Vorteil gegenüber den Ethiken neueren Typs – von vornherein seine Anthropologie mitreflektiert;63 die Vertreter einer um affektive Aspekte erweiterten Rationalität haben oft kein Bewußtsein von der in einer bestimmten Tradition bereits unternommenen Verknüpfung von Gefühl und Vernunft. Die Chance, die hierin für den habitus-Begriff liegt, sollte bescheiden eingeschätzt, aber sie sollte wahrgenommen werden. Denn wie unser Durchgang durch einige Stadien der Konstitution, Transformation, Verabschiedung und Wiederentdeckung des habitus zeigen wird: Die Sache, um die es dabei geht, war weder im Mittelalter unstrittig, noch ließ sie sich nach dem Abbruch der aristotelisch-thomistischen Tradition ad acta legen. In ihr zeigt sich der Anspruch eines Menschenbildes, das quer durch die Epochen immer wieder zur »zeitgemäßen Unzeitgemäßheit« anstiftet.64 D. Überblick Im folgenden werden zunächst die Zusammenhänge, in denen die Reflexion auf den habitus-Begriff bei Aristoteles und Thomas von Aquin steht, vergegenwärtigt (Teil II, Kap. A und B). Wie die in ihren anthropologischen Weichenstellungen auf Kant vorausweisende Umdeutung der habitus-Lehre bei Duns Scotus zeigt, besteht schon im Mittelalter die Tendenz, die von Thomas vorgelegte Synthese zu sprengen (Teil III, Kap. A). (Daß Scotus hier nicht, wie gelegentlich in thomistischer Sicht der Fall, als der alles zerstörende Bösewicht, sondern als der Vertreter eines alternativen Modells in den Blick kommt, das seine Stärken vor allem in der Perspektive der beatitudo, der Vollendung des Menschen im Jenseits, entfaltet, wird in einem Exkurs hierzu vorgeführt.) (Teil III, Kap. B.) Natürlich hätte die Interpretation mittelalterlicher Positionen erweitert werden können; für die Frage etwa, in welchem Seelenteil der habitus anzusetzen sei, hat Thomas Graf 65 umfangreiches Material ausgebreitet. Wir haben uns, um den Übergang zur Neuzeit nachzuvollziehen, auf Wilhelm von Ockham beschränkt, der zwar

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Vgl. Dominic Kaegi: »Ein gutes Gefühl. Aristoteles über den Zusammenhang von Affekt und Tugend«, in: Stefan Hübsch/D. Kaegi (Hrsg.): Affekte. Philosophische Beiträge zur Theorie der Emotionen, Heidelberg 1999, S. 33–51, hier S. 42, Anm. 35. 64 Vgl. D. Mieth (wie Anm. 14), S. 18, 62, 68. 65 Thomas Graf O. S. B.: De subiecto psychico gratiae et virtutum secundum doctrinam scholasticorum usque ad medium saeculum XIV, 2 Bde., Rom 1934/35 (= Studia Anselmiana 2–4).

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Einführung

noch im aristotelischen Vokabular 66 spricht, aber die Grundbegriffe von dessen Metaphysik radikal umdeutet. In seiner nominalistischen Dialektik bleibt für die Funktion des habitus, der ja Akt und Potenz, Form und Materie, Ganzheit und Teile vermitteln soll, kein Platz mehr (Teil III, Kap. C). In der Auseinandersetzung mit Luther und Descartes ergibt sich überraschenderweise, daß bei beiden die Sache des habitus gegenwärtig bleibt – trotz der Polemik gegen Aristoteles im allgemeinen und gegen den habitus-Begriff im besonderen (Teil IV, Kap. A und B). (Um Mißverständnissen vorzubeugen: Luthers Klarstellung, der habitus als habitus infusus könne nie aus eigener Anstrengung erworben sein, ist nicht zu bestreiten. Da Luther den habitus aber grundsätzlich nur als philosophischen Begriff – und das heißt für ihn: zur Erfassung philosophischer Sachverhalte – gelten läßt, lehnt er ihn für die Theologie rundweg ab. Doch auch die Theologie gebraucht die Ausdrücke der natürlichen und der philosophischen Sprache, und das mit dem habitus Gemeinte ist immerhin auch Luthers Theologie so zentral, daß der Verzicht auf den Begriff sich auf die Dauer als undurchführbar erweist.67) Jacques Maritain bemerkt einmal, man könne »eine merkwürdige Geschichte der fortschreitenden Vertreibung der habitus durch die moderne Zivilisation«68 schreiben, und diese Geschichte ginge bis auf Scotus und Ockham zurück. Die vorliegende Arbeit nimmt diese Anregung auf, geht aber auch über sie hinaus: erst dann nämlich wird die Tragweite des habitus-Begriffs sichtbar, wenn das von ihm Intendierte auch noch zu denken gibt in einer Zeit, die nicht mehr in der aristotelisch-thomistischen Tradition steht. Exemplarisch ist die unverhoffte Renaissance des habitus-Gedankens in der Neuzeit an Schiller und Kierkegaard zu belegen (Teil V, Kap. A und B). Der Versuch, vom habitus-Begriff her in einen Dialog mit bestimmten Positionen des 20. Jahrhunderts einzutreten – herausgegriffen werden die Institutionenlehre Arnold Gehlens und der explizite Rekurs auf den Habitus bei Pierre Bourdieu (Teil VI) – kann die Fruchtbarkeit eines Gedankens ausweisen, der vielleicht nach Aristoteles und Thomas noch weitere Renaissancen bzw. Metamorphosen vor sich hat. – 66

Vgl. Rolf Schönberger: Was ist Scholastik?, Hildesheim 1991, S. 112: »Alle Scholastiker sprechen die Sprache des Aristoteles. Diese Ausnahmslosigkeit umgreift auch diejenigen, die inhaltlich Aristoteles scharf, mitunter ziemlich aggressiv und malitiös kritisieren.« 67 De facto undurchführbar (»nomina sunt secundum placitum«; vgl. Schönberger, ebd., S. 108 ff.), wie die stillschweigende Einschleusung des habitus-Begriffs in die altprotestantische Orthodoxie zeigt; vgl. Anm. 535 im Luther-Kap. 68 Jacques Maritain: Art et scolastique (1920), in: Jacques et Raïssa Maritain: Œuvres complètes, Fribourg/Paris 1982ff., Bd. 1, S. 658. – Vgl. vom Verf.: Jacques Maritain. Eine Einführung in Leben und Werk, Paderborn u. a. 1992 (bes. S. 52–57); »Habitus. Bemerkungen zu einem vergessenen Begriff«, in: Jahrbuch des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover 1992 / 93, Hildesheim 1993, S. 174–192.

Überblick

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Was in dieser Arbeit über den habitus ausgebreitet wird, bleibt unvollständig. Historisch hätte, wie bereits bemerkt, besonders im Mittelalter, noch eine weit größere Anzahl von Autoren auf ihr habitus-Modell hin befragt werden können. In der Neuzeit hätten sich andere Entwicklungslinien verfolgen lassen: z. B. die habitudePhilosophie in Frankreich (Maine de Biran, Ravaisson), die neben einer passiven eine aktive Gewohnheit mit habitusartigen Zügen entdeckt, oder die Philosophie des amerikanischen Pragmatismus (Peirce, James, Dewey), die ihren zentralen Begriff »habit« auch nicht einfach als Gewohnheit verstanden wissen will. Und systematisch? Gelingt es, unter dem Staub einer alten Vokabel wieder etwas von den lebendigen Möglichkeiten ans Licht zu bringen, um die es dabei geht, dann haben wir unser Ziel erreicht. Ein Thema sollte vernehmbar werden – wenn es zu Variationen anregt, um so besser. So wäre denn die Alternative von historischer Skylla und systematischer Charybdis erst einmal umschifft.

II. GRUNDZÜGE DER HABITUS-LEHRE BEI ARISTOTELES UND THOMAS VON AQUIN

A. Aristoteles 1. Eine anti-intellektualistische Ethik Alle philosophischen Gedanken sind Gegengedanken. So auch die Entwicklung des hexis-Begriffs,69 mit der Aristoteles die ethischen Phänomene gegen den Intellektualismus des Sokrates rettet – wie er die physischen Phänomene gegen den Intel69

»Hexis« kommt an vielen Stellen des Opus Aristotelicum vor; eine Gesamtwürdigung ist hier nicht beabsichtigt; vgl. C. Butzki: De Εξει Aristotelea, Halle 1881; E. Babin: »Nature de l’ΕΞΙΣ opposée à la privation proprement dite«, Laval théologique et philosophique, 2 (1946), S. 210–219; D. S. Hutchinson: The Virtues of Aristotle, London/New York 1986, Kap. 2, S. 8–38: »What a hexis is«. Drei Hauptbedeutungen sind zu unterscheiden: 1. ξις als Prädikat »haben, anhaben« – z. B. eines Mantels, eines Kleides, einer Rüstung (Metaphysik, V, 20; Kategorien, c. 9 und 15). Diese Art von hexis/habitus meint etwa das Sprichwort »Die Kutte macht nicht den Mönch«. 2. ξις als Teil des Gegensatzpaares ξις – στéρησις, Besitz – Beraubung (Privation); z. B. der Kranke ist der Gesundheit, der Blinde des Augenlichts beraubt, bzw. der Gesunde hat die Gesundheit, der Sehfähige das Augenlicht (Metaphysik, X, 4; 1055 b 13; Kategorien, c. 10, zu den weiteren drei Arten des Entgegengesetzten, nämlich Relation, Kontrarietät und Kontradiktion vgl. Kategorien, c. 10). Daß ξις in dieser Bedeutung eigentlich nichts mit einer durch Übung erworbenen Vortrefflichkeit zu tun hat, erhellt daraus, daß der Gegensatz Besitz – Beraubung nur dort auftritt, wo »der Besitz [ ξις] naturgemäß vorkommt« (Kategorien, c. 10; 12 a 27f.; übers. von K. Oehler, Berlin 21986, S. 31); dagegen »werden uns die Tugenden weder von Natur noch gegen die Natur zuteil« (Nikomachische Ethik, II, 1; 1103 a 23f.; s. u., Anm. 126). Den für die Ethik einschlägigen Gegensatz gut – schlecht, bzw. gerecht – ungerecht subsumiert Aristoteles nicht unter ξις – στéρησις, sondern unter die Kontrarietät (Kategorien, c. 10; 11 b 35f., 12 a 24f.; c. 11, 13 b 36ff.). Deutlich voneinander abgegrenzt erscheinen ξις als Bestandteil des Gegensatzes ξις – στéρησις und ξις im Sinn von moralischer Qualität, wenn es heißt: »Ferner kann bei dem Konträren […] ein Übergang von einem ins andere erfolgen, […] aus einem guten kann ein schlechter Mensch werden und aus einem schlechten ein guter. […] Dagegen kann bei Beraubung und Besitz kein Wechsel von einem ins andere stattfinden. […] weder hat einer, der erblindet ist, noch einmal gesehen, noch ist ein Kahlköpfiger wieder behaart geworden, noch hat ein Zahnloser wieder Zähne bekommen.« Kategorien, 10 (13 a 17–36); a. a. O., S. 33f. 3. ξις als erste Art der Qualität (Metaphysik, V, 20; Kategorien, c. 8). Wie schon gesagt (vgl. Einführung, Anm. 47), ist das in den ethischen Überlegungen des Aristoteles die entscheidende Bedeutung von hexis – die einzige auch, die im habitus-Traktat des Thomas von Aquin eine Rolle spielt (vgl. Summa theol., I–II, qu. 49, a. 1; sowie Rolf Darge: Habitus per actus cognoscuntur, Bonn 1996, S. 15–30, hier bes. S. 19f.). – Von der hexis in dieser Bedeutung ließe sich sehr wohl sagen »habitus facit monachum« (vgl. oben zu 1.). Zum Zusammenhang der zweiten und dritten Art von hexis s. u., Anm. 134.

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Grundzüge der habitus-Lehre

lektualismus Zenons gerettet hatte.70 Wie sich die Erfahrung der Bewegung dagegen sträubt, Achilles solle den Vorsprung der Schildkröte nie aufholen können, so sträubt sich die Erfahrung elementarer (un)sittlicher Tatbestände gegen die Gleichsetzung von Tugend und Wissen.71 Aristoteles bringt in den Magna Moralia72 ein Beispiel: Der Unbeherrschte hat zwar das richtige Wissen, folgt ihm aber nicht. Eine solche kognitive Dissonanz wird von Sokrates schlicht geleugnet – wer wider besseres Wissen sich für etwas Schlechtes entscheide, beweise eben einen Mangel an Wissen. Dieses Argument, so Aristoteles, widerspricht dem »klaren Augenschein«: σζειν τà φαινóµενα: vgl. J. Mittelstraß: Die Rettung der Phänomene. Ursprung und Geschichte eines antiken Forschungsprinzips, Berlin/New York 1962. Obwohl die Formulierung dem Platon-Schüler Eudoxos von Knidos zugeschrieben wird (ebd., S. 152), ist es wohl kein Zufall, daß sie gerade in einem Aristoteles-Kommentar (Simplicius, In Aristotelis de Caelo comment.) auftaucht. In der Tat wird man, ohne sich Mittelstraß’ polemischen Spitzen gegen Platon anschließen zu müssen, sagen dürfen: »Aristoteles konnte dann die mit dem σζειν τà φαινóµενα gestellte Aufgabe besser übernehmen als jeder andere […]« (ebd., S. 157) – Daß Aristoteles sich den Phänomenen verpflichtet weiß, gilt auch Thomas von Aquin als Kennzeichen von dessen Philosophie: »[…] proprium philosophiae eius fuit a manifestis non discedere.« De spiritualibus creaturis, a. 5. – Zur Auseinandersetzung mit Zenon: Physik, besonders Buch VI, 9. – Wir treten nicht in die Diskussion ein, ob Aristoteles die Position des Sokrates adäquat darstellt; daß er den Quellen näher war als wir, ist klar. (Eine differenzierte Würdigung der κρασíα bei Platon gibt A. Rorty: »Plato and Aristotle on Belief, Habit and Akrasia«, American Philosophical Quarterly, 7 [1970], S. 50–61, bes. 50–55.) 71 In den Magna Moralia heißt es über Sokrates: »[…] er machte die Tugenden zu Formen wissenschaftlicher Erkenntnis […] Also wurzeln – nach Sokrates – die Tugenden samt und sonders in dem rationalen Seelenteil.« I, 1 (1182 a 18–20), Übers. von Dirlmeier (s. die folgende Anm.), S. 5f. – Vgl. M. F. Burnyeat: »Aristotle on Learning to Be Good«, in: A. O. Rorty (Hrsg.): Essays on Aristotle’s ethics, Berkeley u. a. 1980, S. 69–92, hier S. 70: »Aristotle knew intellectualism in the form of Socrates’ doctrine that virtue is knowledge. He reacted by emphasizing the importance of beginnings and the gradual development of good habits of feeling.« (Hervorh. von mir.) 72 Wir nehmen mit Dirlmeier an, daß alle drei ethischen Schriften (Magna Moralia, Eudemische Ethik, Nikomachische Ethik) authentisch und in der genannten Reihenfolge entstanden sind. Vgl. die Anmerkungen in: Aristoteles: Magna Moralia, übers. und komm. von Franz Dirlmeier, Berlin 51983, S. 185, 187f., 213, 223f., 242f., 250–253, 263f., 274f., 289, 293, 296, 300ff., 313, 340, 342ff., 398f., 377, 417, 433ff., 468f., 472f. – Dem Urteil Dirlmeiers folgt I. Düring: Aristoteles, Heidelberg 1966, S. 438 und zuletzt T. H. Irwin: »Ethics in the Rhetoric and in the Ethics«, in: Amélie O. Rorty (Hrsg.): Essays on Aristotle’s Rhetoric, Berkeley u. a. 1996, S. 142–174, hier S. 170, Anm. 1 (die Magna Moralia geben eine frühe Ethik-Vorlesung des Aristoteles wieder, wenn auch nicht von ihm selbst niedergeschrieben). Eine ähnliche Position vertritt A. Kenny: The Aristotelian Ethics, Oxford 1978, S. 219: Magna Moralia »is a student’s presentation of his lecture notes of a course given by Aristotle in his final Athenian period«. Vgl neuestens Th. Buchheim: Aristoteles, Freiburg i. Br. 1999, S. 177: Die »›Große Ethik‹ […] wurde lange als unecht angesehen, könnte aber auch der früheste Entwurf einer […] Ethik des Aristoteles sein.« – Anders die Einschätzung durch H. Flashar, der »in Magna Moralia […] nicht die Stimme des Aristoteles erkennen kann.« H. Flashar: »Die Platonkritik (I 4)«, in: O. Höffe (Hrsg.): Aristoteles: Die Nikomachische Ethik (= Klassiker Auslegen, Bd. 2), Berlin 1995, S. 63–82, hier S. 78. Im übrigen geht es hier nicht um Gedankengut, das der Nikomachischen Ethik fremd wäre: Dort 70

Aristoteles

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»Denn es gibt unbeherrschte Menschen; sie sind es, die wissen, daß etwas minderwertig ist, und es trotzdem tun.«73 Sokrates hatte »den irrationalen Seelenteil beseitigt«74 – für Aristoteles geht es darum, dem Irrationalen im Menschen gerecht zu werden. Man sieht nicht gleich, daß in dem anscheinend harmlos hingeworfenen Sätzchen »die sittliche Tugend hat es mit der Lust und Unlust zu tun«75 ein ganzes anti-intellektualistisches Programm steckt. Der späte Platon hat es bereits vorgezeichnet, worauf in der Nikomachischen Ethik ausdrücklich hingewiesen wird:76 »Der Lust wegen tun wir ja das sittlich Schlechte, und der Unlust wegen unterlassen wir das Gute. Darum muß man, wie Plato sagt, von der ersten Kindheit an einigermaßen dazu angeleitet worden sein, über dasjenige Lust und Unlust zu empfinden, worüber man soll. Denn das ist die rechte Erziehung.« wird die Leugnung der Unbeherrschtheit durch Sokrates als Widerspruch zu den Phänomenen kritisiert: οτος µèν ον  λóγος µφισβητε τος φαινοµéνοις, Nik. Ethik, VII, 3 (1145 b 27 f.). – Vgl. das Kapitel »Saving Aristotle’s appearances« in Martha C. Nussbaum: The fragility of goodness. Luck and ethics in Greek tragedy and philosophy, Cambridge 1986, S. 240–263 und den Abschnitt »Phänomene sichern« in O. Höffe: Aristoteles, München 1996, S. 90–92. 73 Magna Moralia, II, 6 (1200 b 32f.); a. a. O., S. 55 (–57). Vgl. Nik. Ethik, VII, 3. 74 Magna Moralia, I, 1 (1182 a 21f.); a. a. O., S. 6. 75 περì δονàς γàρ καì λúπας "στìν  #θικ% ρετ&. Aristoteles: Nikomachische Ethik, II, 2 (1104 b 8f.), übers. von E. Rolfes, hrsg. von G. Bien, Hamburg 41985, S. 29. – Vgl. F. Dirlmeier, a. a. O., S. 300: Die aristotelische Ethik zeigt, »daß sie bei der Analyse der ethischen Phänomene nicht primär vom Logos, sondern von jenen der begrifflichen Fassung so schwer zugänglichen seelischen Inhalten ausging, die man πáθη nennt.« Vgl. Magna Moralia, I, 6 (1185 b 34–37) und II, 7 (1206 b 17ff.), dazu Dirlmeiers große Anmerkung, a. a. O., S. 416–418; Eudemische Ethik, II, 1 (1220 a 34f.). – Vgl. A. von Fragstein: Studien zur Ethik des Aristoteles, Amsterdam 1974, S. 105: »Die Tugenden basieren auf den πáθη.« In der Physik lautet die Bestimmung der Tugend: 'πασα γàρ  #θικ% ρετ% περì δονàς καì λúπας τàς συµατικáς (VII, 3; 247 a 7f.). Der Zusatz συµατικáς, also der strikte Zusammenhang von Tugend und körperlicher Lust/Unlust, muß wohl so gedeutet werden, daß der Aristoteles der Physik noch keine Überlegungen zur Analogizität des Lustbegriffs angestellt hatte. – Die Zweitfassung von Physik, VII, 3 (247 a 23f.) hat übrigens den Zusatz nicht. – Vgl. Aristoteles: Physikvorlesung, übers. von H. Wagner, Berlin 1967, S. 656. Im übrigen ist die Echtheit von Physik, VII, 3 umstritten. Negativ urteilt B. Manuwald: Das Buch H der aristotelischen »Physik«, Meisenheim 1971, S. 102, 123. – R. Wardy (The Chain of Change. A Study of Aristotle’s Physics VII, Cambridge 1990), der das Buch für echt hält, sieht Aristoteles an dieser Stelle »caught in a dilemma« (S. 227). 76 Nik. Ethik, II, 2 (1104 b 9–13), a. a. O., S. 29. Vgl. Platon: Gesetze (Nomoi), II, 653 a 5 – c 4 (Übers. nach Müller/Schöpsdau): »Bei Kindern ist die erste kindliche Empfindung Lust und Unlust (δον% καì λúπη), und dies sind die Gestalten, unter denen sich Tugend und Schlechtigkeit erstmals im Menschen einstellen. […] Erziehung nenne ich also die erstmals bei den Kindern sich einstellende Tugend; wenn nun Lust und Liebe, Unlust und Haß in der richtigen Weise in den Seelen der Kinder entstehen, […] und wenn dann, nachdem sie ein vernünftiges Urteil besitzen, diese Gefühle mit der Vernunft […] übereinstimmen, […] so stellt diese Übereinstimmung die ganze Tugend dar; den Teil von ihr aber, der in der richtigen Bildung hinsichtlich der Lust- und

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Gegen Platon geht es aber, wenn im folgenden nicht die abstrakte Idee des Guten, sondern die konkrete Figur des guten Menschen, des Menschen aus Fleisch und Blut als Modell fungiert.

2. Das Gute liegt im Wie, nicht im Was »Das Gute muß in Erscheinung treten«,77 und es tritt in Erscheinung in der Art und Weise, wie ein guter Mensch handelt. Daß z. B. ein Familienvater auf dem Weg zum Bahnhof einer ihm unbekannten Großstadt sich nicht länger als nötig in einem Viertel verweilt, in dem verheiratete Männer nichts verloren haben, ist eine Selbstverständlichkeit – um aber von einem »lobenswerten Habitus«78 sprechen zu können, kommt es ganz darauf an, auf welche Weise das richtige Verhalten verwirklicht wird. Muß der Betreffende erst hin- und herüberlegen, bis er sich die Verwerflichkeit eines Seitensprungs klarmacht, so handelt er, dieser Einsicht folgend, zwar richtig, aber nicht tugendhaft.79 (Um diesem abgenutzten Begriff etwas mehr Farbe zu geben, könnte man sagen: der Betreffende verwirklicht nicht die Best-, die Höchstform,80 er schöpft seine Möglichkeiten nicht voll aus – »ultimum potentiae«81 nannten die Scholastiker die Tugend.) Unlustgefühle besteht, so daß man gleich von Anfang an bis zum Ende haßt, was man hassen, und liebt, was man lieben muß – wenn man diesen Teil also […] als Erziehung bezeichnete, so würde man ihn meiner Meinung nach richtig bezeichnen.« – Dirlmeier wertet diese Abkehr vom sokratischen Intellektualismus als »kopernikanische Wendung in der Ethik« (a. a. O., S. 414). 77 G. Bien, Einleitung in: Aristoteles, Nik. Ethik, a. a. O., S. XLIV. 78 »Ein lobenswerter Habitus wird aber Tugend genannt.« Nik. Ethik, I, 13 (1103 a 9 f.); a. a. O., S. 25. – Vgl. II, 4 (1106 a 1f.). 79 Wenn dieser Mann seiner Frau erklärt, »er habe über die moralische Bedeutung der Handlung nachgedacht und sei zu dem Schluß gelangt, sie wäre eine Verletzung der Goldenen Regel (falls er Deontologe ist), oder vielleicht, er sei zur Besinnung gekommen und habe gesehen, eine solche Handlung würde nicht das größte Gut für die größte Zahl herbeiführen (falls er Utilitarist ist)«, so wird sie alles andere als beruhigt sein. Vgl. R. Hittinger: »After MacIntyre: Natural Law Theory, Virtue Ethics, and Eudaimonia«, International Philosophical Quarterly, 29 (Dez. 1989), S. 449–461, hier S. 451f. 80 In der Eudemischen Ethik wird die Tugend als das charakterisiert, was uns »in die beste Form versetzt« (II, 1; 1220 a 34; Übers. von F. Dirlmeier, Berlin 41984, S. 22, Z. 23). 81 Vgl. Thomas von Aquin: Summa theologiae, I–II, qu. 55, a. 1 obi. 1 und ad 1, mit Berufung auf Aristoteles: Vom Himmel (De caelo), I, 11 (281 a 14ff.). – A. W. Müller hat vorgeschlagen, ρετ& mit »Qualifiziertheit« wiederzugeben; was nicht nur für einen neuen Klang sorgt, sondern auch dem griechischen Begriff besser gerecht wird: Aristoteles kann von der ρετ& des Auges oder des Pferdes sprechen (Nik. Ethik, II, 5; 1106 a 17, 19), wofür »Tugend« einfach nicht paßt. (A.W. Müller: Praktisches Folgern und Selbstgestaltung nach Aristoteles, Freiburg/München 1982, S. 45f.)

Aristoteles

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»Die Werke werden mithin als Werke der Gerechtigkeit und Mäßigkeit bezeichnet, wenn sie solche sind, wie sie der Gerechte und Mäßige verrichtet. Dagegen ist gerecht und mäßig, nicht wer sie verrichtet, sondern wer sie so verrichtet, wie es der Gerechte und der Mäßige tun.«82 Wo zeigt sich dieses Wie? In der Sicherheit, mit der die richtige Entscheidung gefällt, in der Spontaneität und Leichtigkeit, mit der sie ausgeführt wird, und vor allem in der Freude, die solches Handeln unfehlbar begleitet. Denn »der [ist] nicht wahrhaft tugendhaft, der an sittlich guten Handlungen keine Freude hat«.83

3. Die Rolle des Gefühls in der Ethik Aristoteles kennt »dreierlei psychische Phänomene«: »Affekte, Vermögen […], Habitus«.84 Damit gehört hexis/habitus zum anthropologischen Elementarbefund. Affekte (aufgezählt werden: Begierde, Zorn, Furcht, Zuversicht, Neid, Freude, Liebe, Haß, Sehnsucht, Eifersucht, Mitleid) sind »alles, was mit Lust oder Unlust verbunden ist«; Vermögen ist »das, was uns für diese Gefühle empfänglich macht«; habitus »das, was macht, daß wir uns in bezug auf die Affekte richtig oder unrichtig verhalten«.85 Aristoteles geht davon aus, daß Tugend zu den seelischen Phänomenen gehört: da sie kein Affekt und kein Vermögen ist, bleibt nur, sie als habitus zu bestimmen. Sittliche Qualifiziertheit setzt also die Integration der Affekte voraus. Sie hat es »mit dem Ganzen aus Leib und Seele zu tun«.86 Die Übereinstimmung von Leib und Seele, bzw. von irrationalem und rationalem Seelenteil,87 ist die Aufgabe, um die es in der Ethik geht. Es ist klar, daß das Tier einer solchen »Stimmung« nicht be82

Nik. Ethik, II, 3 (1105 b 5–9); a. a. O., S. 32. Hervorh. von mir. Aristoteles fährt fort: »[…] und niemand wird einen Mann gerecht nennen, wenn er an gerechten, oder freigebig, wenn er an freigebigen Handlungen keine Freude hat […]« Nik. Ethik, I, 9 (1099 a 17–20); ebd., S. 15. 84 Nik. Ethik, II, 4 (1105 b 20); ebd., S. 33. Die griechische Aufzählung ist asyndetisch knapp: πáθη δωνáµεις ξεις. Vgl. Magna Moralia, I, 7 (1186 a 8–11): »Danach müssen wir, wenn wir angeben wollen, was die Tugend ist, Kenntnis davon bekommen, welches die in der Seele gegebenen Phänomene sind. Nun, gegeben ist folgendes: irrationale Regungen, Anlagen, feste Grundhaltungen.« (A. a. O., S. 15.) Hutchinson (wie Anm. 69, S. 14) deutet die Stelle als Rückverweis auf Kategorien, Kap. 8: Die ξεις entsprächen der ersten, die δωνáµεις der zweiten, die πáθη der dritten Art der Qualität (die vierte Art der Qualität – Figur und äußere Form – kann für die Ethik außer Betracht bleiben). Vgl. bereits A. Trendelenburg: Geschichte der Kategorienlehre, Berlin 1846, Nachdr. Hildesheim 1963, S. 174f. 85 Nik. Ethik, II, 4 (1105 b 21–26); a. a. O., S. 33. * 86 Αρετ& hat »auf die Affekte Bezug«; ebd., X, 8; 1178 a 20 (ebd., S. 251). 87 Diese Zweiteilung in τò ,λογον – τò λóγον .χον ebd., I, 13 (1102 a 27 f.) und VI, 2 83

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darf; der Mensch aber muß sich die Stimmigkeit mit sich selbst erst erwerben:88 »Dann erst, so behaupten wir ja, ist die Tugend gegeben, wenn einerseits das rationale Element […] mit den irrationalen Regungen […] in einem harmonischen Verhältnis stehe, und andererseits die irrationalen Regungen mit dem rationalen Element […] Denn wenn diese Grundverfassung […] gegeben ist, werden sie miteinander in Einklang sein: es wird das rationale Element immer das Beste anordnen, und es werden andererseits die irrationalen Regungen […] mit Leichtigkeit das tun, was das rationale Element anordnet.« Diese richtige Gestimmtheit ist die Voraussetzung für richtiges Handeln. (Der Vergleich mit einem Musikinstrument drängt sich auf.) 89 Die (integrierte) Lust ist hierbei nur ein Faktor; die (integrierte) Unlust gehört ebenfalls dazu. Zur Tapferkeit etwa gehört es, Furcht zu empfinden, allerdings ohne davonzulaufen.90 Als Folge richtigen Handelns spielt die Lust noch einmal eine besondere Rolle: sie ist der Indikator dafür, daß das gestimmte »Ganze aus Leib und Seele« an der Handlung beteiligt war.91 Wenn es in der Nikomachischen Ethik heißt: »Als ein Zeichen des Habitus muß man die mit den Handlungen verbundene Lust oder Unlust betrachten«,92 so wird damit der Tatsache Rechnung getragen, daß die Affekte u. U. chronisch nicht stimmen: »Wer sich sinnlicher Genüsse enthält und eben hieran Freude hat, ist mäßig, wer aber hierüber Unlust empfindet, ist zuchtlos.«93 D. h., eine Handlung erreicht ihre Vollendung gar nicht, solange sie dem Widerstand der Sinnlichkeit abgetrotzt werden muß; ist sie aber vollkommen – und das heißt »tugendhaft« –, so folgt ihr die Lust so notwendig wie der Duft der entfalteten Rose.94 (1139 a 4f.). Vgl. auch Eudemische Ethik, II, 1 (1219 b 28); Magna Moralia, I, 1 (1182 a 25), 5 (1185 b 4), 34 (1196 b 15f.); Politik, VII, 15 (1334 b 18f.); Über die Seele (De anima), III, 9 (432 a 26). 88 Magna Moralia, II, 7 (1206 b 8–16); a. a. O., S. 70. Aristoteles fährt – mit anti-sokratischer Spitze – fort: »es ist nicht das rationale Element, wie die anderen meinen, Anfang (ρχ&) und Führer der Tugend, sondern vielmehr das irrationale. […] Dies kann man einsehen, wenn man Kinder beobachtet und solche Wesen, die ohne rationales Element leben. Denn bei diesen ist es so: erst entstehen, noch ohne das rationale Element, Impulse der irrationalen Kräfte in Richtung auf das (Sittlich-)Schöne (καλóν). Dann kommt als zweite Instanz das rationale Element dazu […]« Ebd., S. 70f. – Vgl. R. Elm: Klugheit und Erfahrung bei Aristoteles, Paderborn u. a. 1996, S. 113f. 89 Zum Zusammenhang von musikalischer und seelischer Harmonie vgl. Aristoteles: Politik, VIII, 5. 90 Magna Moralia, I, 20 (1191 a 29ff.). 91 Ebd.; vgl. auch II, 11 (1209 b 32f.): »Es ist ja nicht so, daß der Lust die Tugend folgt, sondern der Tugend folgt die Lust.« Ebd., S. 80. 92 Nik. Ethik, II, 2 (1104 b 3–5); Hervorh. von mir. 93 Nik. Ethik, II, 2 (1104 b 5–7); a. a. O., S. 29. Vgl. zu der Stelle den Kommentar von Thomas von Aquin: Sententia Libri Ethicorum; ed. Leon., Bd. 47/1, S. 83f. 94 »Und ganz allgemein gesagt: die Tugend kann gar nicht ohne das Lustgefühl sein, das von ihr ausgeht.« Magna Moralia, II, 7 (1206 a 25f.); a. a. O., S. 69. Vgl. Eudemische Ethik, VII, 2 (1237 a 7) und VIII, 3 (1249 a 18f.); Nik. Ethik, IV, 2 (1120 a 26f.).

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Diese Zusammengehörigkeit ist so eng, »daß man fragen kann, ob nicht Tätigkeit und Lust dasselbe ist.«95 Was aber soll es heißen, daß man sich sowohl über sinnliche Genüsse als auch über den Verzicht auf dieselben freuen kann? Hier müssen zwei verschiedene Arten von Freude bzw. Lust im Spiel sein:96 Der Lustbegriff ist analog.97 Dem eidos einer Tätigkeit entspricht das eidos der damit verbundenen Lust. Die größte Lust hat der, der die beste Tätigkeit mit der größten Intensität ausüben kann: das ist der sich selbst denkende Gott.98 Er aber bedarf keines habitus und keiner Tugend:99 Er besteht nicht aus Teilen, die gestimmt werden müßten; er ist immer in Höchstform – reine Energie,100 actus purus. 4. Habitus und Tugend Habitus ist also die Stimmung101 eines Ganzen aus Leib und Seele, Gefühl und Geist. Sie kommt nicht von selber auf, sondern muß durch Übung erworben werden.102 Habitus (auch hexis) kommt von »haben«. Es ist klar, daß es hier um ein 95

Nik. Ethik, X, 5 (1175 b 33); a. a. O., S. 244f. – Vgl. auch den Anfang des Kapitels (1175 a 19–21). 96 Magna Moralia, II, 7 (1205 a 12ff.): »Zugleich […] wird daraus klar, daß die Formen der Lust auch der Art nach verschieden sind.« (A. a. O., S. 66.) Vgl. Nik. Ethik, X, 3 (1173 b 28); X, 5 (1175 a 22). 97 Friedo Ricken (Der Lustbegriff in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, Göttingen 1976) spricht zwar ebenfalls »von den zwei Ebenen der Lust« (ebd., S. 96), stellt die Sache aber dann so dar, als sei der, der sich für die höhere Lustform entschieden hat, für die niedrigere gar nicht mehr empfänglich: »Es läßt sich z. B. durch Gewöhnung erreichen, daß man sich aus gewissen Genüssen, die man als schädlich erkannt hat (z. B. bestimmten Speisen oder dem Rauchen), nichts mehr macht […]« (Ebd., S. 97) Wie steht es aber, wenn ich meinen Teil vom Geburtstagskuchen einem Kind abtrete, obwohl er mir auch selber schmecken würde? Kann ich mich nicht trotzdem freuen, nämlich an der Freude des anderen? (Allerdings sind dann mindestens zwei Tugenden im Spiel: scholastisch gesprochen die »temperantia« und die »liberalitas«, die Freigebigkeit, als Teiltugend der Gerechtigkeit: vgl. Thomas von Aquin: Summa theol., II–II, qu. 80, a. un.) Daß man das Geopferte schätzt ist die Voraussetzung für den Wert des Opfers bzw. die aus dem Opfer ggf. erwachsende höhere Lust. (Sonst hat man es nicht mit Tugend zu tun, sondern mit der »Scheinaskese des Ressentiments«. Vgl. Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, in: Gesammelte Werke, Bd. 2, Bern 61980, S. 238.) Der Tapfere, der für die gute Sache sein Leben aufs Spiel setzt, macht sich sehr wohl etwas daraus. (Allerdings ist hier die Verbindung von edler Tat und daraus resultierender Lust fraglich.) Vgl. Nik. Ethik, III, 12 (1117 b 9–16). 98 Nik. Ethik, X, 8 und VII, 15; Metaphysik, XII, 7 (1072 b 17); XII, 9 (1074 b 34f.). 99 Nik. Ethik, X, 8 (1178 b 7–22) und VII, 1 (1145 a 26); Magna Moralia, II, 5 (1200 b 14ff.). 100 Metaphysik, XII, 6 (1071 b 20). Vgl.Thomas von Aquin: Summa contra gentiles, I, 16 und 92. 101 Zur Interpretation der Disposition (s. u.) als »Stimmung« (im Orig. dt.) gelangt, auf anderen Wegen, Rémi Brague: »De la disposition. A propos de diathesis chez Aristote«, in: P. Aubenque (Hrsg.): Concepts et catégories dans la pensée antique, Paris 1980, S. 286–307, hier S. 306. 102 Vgl. das Beispiel vom Zither(Kithara)spieler und das ganze 1. Kapitel von Nik. Ethik, II.

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Haben geht, das sich nicht durch Bezug auf Äußeres, Materielles, definieren läßt, sondern um die Herstellung einer inneren Ordnung. Was im habitus gehabt wird, das ist man selber, insofern man die in der menschlichen Natur angelegte, aber nicht angeborene Hierarchie103 der Seelenteile verwirklicht, so daß diese nicht mehr – wie beim Unbeherrschten – untereinander im Zwist liegen, sondern zu einem synergetischen Ganzen geformt sind. Die Kategorienschrift nennt daher den habitus in einem Atemzug mit der Disposition; diese war bestimmt als die »Ordnung eines Dinges, welches Teile hat«;104 der habitus ergibt sich aus der Disposition, wenn diese Ordnung »zur Natur geworden«, d. h., »von längerer Dauer und bleibender« ist.105 Die »Anordnung« der Teile kann auch so erfolgen, daß sie den Zustand des Ganzen eher verschlechtert als verbessert; wer etwa die Garage im ersten Stock seines Hauses, das Schlafzimmer dagegen im Keller einrichtet (oder wer die Herrschaft über seine Seele seinem Jähzorn oder seiner Geldgier anvertraut), könnte u. U. von einer stabilen Ordnung (von einem habitus) reden, aber nicht von einer guten. Der habitus kann also ohne die Tugend definiert werden, jedoch nicht umgekehrt. Tugend ist »ein lobenswerter habitus«, »vermöge dessen« man »selbst gut ist und sein Werk gut verrichtet.«106 Oder sagen wir lieber (mit der Übersetzung von Dirlmeier), um die Fehlvorstellung, das richtige Handeln habe es mit technischer Produk-

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Vgl. Aristoteles: Über die Seele (De anima), III, 11 (434 a 14f.). Es ist eine bestimmte Form von Hierarchie gemeint: nicht die »despotische«, mit der die Seele den Körper beherrscht, sondern die »politische«, gegen die Widerstand möglich ist. »Politische« Herrschaft ist Herrschaft über Freie, »despotische« über Sklaven. Vgl. Aristoteles: Politik, I, 5 (1254 b 2–6) und VII, 3 (1325 a 27–30). – In der Nikomachischen Ethik wird das Verhältnis der beiden Teile so beschrieben, daß »der vernünftige Teil gewissermaßen von der Vernunft überredet wird […] wie ein Kind, das auf seinen Vater hört.« I, 13 (1102 b 33f., 1103 a 3); a. a. O., S. 25. 104 Metaphysik, V, 19 (1022 b 1) – διáθεσις; vgl. V, 20 – ξις (in der Ausg. von H. Seidl, 1. Halbbd., Hamburg 21982, S. 233). Das zu ordnende »Ding« ist selbstverständlich der Mensch mit den Teilen τò ,λογον – τò λóγον .χον (vgl. Anm. 87). Vgl. Thomas von Aquin: Summa theol., I–II, qu. 55, a. 2 ad 1. 105 Die Unterscheidung der ξις von der διáθεσις in: Kategorien, c. 8 (9 a 2) und (8 b 27f.), übers. von E. Rolfes, Hamburg 1974, S. 63. – Die Beständigkeit des moralischen habitus zeigt sich daran, daß er (im Unterschied zum intellektuellen) nicht dem Vergessen anheimfallen kann (Nik. Ethik, VI, 5, 1140 b 28ff.; vgl. I, 11, 1100 b 12–17). In der Eudemischen Ethik, VII, 2 (1238 a 14) heißt es sogar, »daß die Tugend beständiger ist als die Natur.« (A. a. O., S. 72.) 106 Nik. Ethik, I, 13 (1103 a 9f.) und II, 5 (1106 a 22ff.); a. a. O., S. 25 (Hervorh. von mir) und 34. Der habitus-Begriff umfaßt also Tugenden wie Laster; aber schon bei Aristoteles zeigt sich eine gewisse Asymmetrie zugunsten der Tugend (ebd., VII, 10). Das entspricht dem Prinzip, daß sich alle Eigenschaften, Formen, Wesenheiten primär von ihrer gelungenen Ausprägung her erfassen lassen. Den Alten schien der – ontologische wie gnoseologische – Primat des Guten selbstverständlich. Vgl. Nik. Ethik, IX, 8 (1168 b 35–1169 a 3); X, 7 (1178 a 2f.); beide Stellen zit. bei Thomas von Aquin: Summa theol., I–II, qu. 3, a. 5.

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tion zu tun, zu vermeiden: Der habitus sorgt dafür, daß der Mensch »die ihm eigentümliche Leistung in vollkommener Weise zustande bringt.«107 Zwei Momente der Tugend sind noch zu nennen: mesotes und prohairesis. Man muß »bei aller Empfindung von Lust und Unlust« das »Zuviel und Zuwenig« vermeiden, also das rechte Maß, die Mitte treffen.108 107

Aristoteles: Nik. Ethik, II, 5 (1106 a 23f.); übers. von F. Dirlmeier, Berlin 81983, S. 35. – Auch Thomas von Aquin ist an dieser Stelle sehr vorsichtig. Das »opus« der lateinischen Vorlage (»hominis virtus erit […] habitus ex quo bonus homo fit et a quo bene opus suum reddit«) nicht mehr aufnehmend, kommentiert er: Tugend sei ein habitus, »aus dem heraus der Mensch, formell gesprochen, gut wird, wie durch die weiße Farbe etwas weiß wird, und durch den jemand gut handelt«; »ex quo homo fit bonus formaliter loquendo sicut albedine fit aliquid album, et per quem aliquis bene operatur« (Hervorh. von mir). Sententia Libri Ethicorum, ed. Leon., Bd. 47/1, S. 94, Z. 36–38 (der kommentierte Text steht ebd., S. 93). 108 A. a. O., II, 5 (1106 b 19–28); a. a. O., S. 35. Es ist festzuhalten, daß schon das richtige Fühlen – ohne jede zusätzliche äußere Handlung – den Tatbestand der Tugend erfüllt. Vgl. J. O. Urmson: Aristotle’s Ethics, Oxford 1988, S. 27.: »[…] character depends rather on what one likes doing, what one enjoys doing, what one wants to do, than merely on what one does.« (Es gibt also eine ρετ& des Fühlens und – diese integrierend – eine des Handelns: a. a. O., 1106 b 16f. Die µεσóτης hat somit einen Innen- und einen Außenaspekt, indem sie zum einen das rechte Maß im Fühlen, zum andern das rechte Maß im Handeln trifft. Ebd.; II, 6; 1107 a 4f. – Urmson hat die oft mißverstandene Rolle der µεσóτης gut erläutert: Es geht nicht um Mittelmaß, sondern um das Angemessene; in bestimmten Situationen ist aber nur ein extremes Gefühl, bzw. eine extreme Handlung angemessen. »Thus the man whose temper is good will be mildly angry about trifles and enraged by outrages, whereas the irascible man will be excessively angry over trifles and the placid or impassive man may be little or only moderately angered by the worst excesses.« A. a. O., S. 34. Vgl. Martha C. Nussbaum: The Therapy of Desire. Theory and Practice in Hellenistic Ethics, Princeton/New Jersey 1994, Kap. 3: »Aristotle on Emotions and Ethical Health«, S. 78–101, hier S. 96: »People often value too many of these external things, or value them too highly, or not enough. Thus they have too much emotion in connection with money, possessions, and reputation, sometimes not enough in connection with the things that are truly worthwile.«) Diese in der Ethik lange vernachlässigte Einsicht hat Rudolf Ginters (Die Ausdruckshandlung. Eine Untersuchung ihrer sittlichen Bedeutsamkeit, Düsseldorf 1976) wieder ans Licht gebracht. Er unterscheidet Wirk- und Ausdruckshandlungen. Letztere haben nicht das Ziel, »etwas zu bewirken oder in der Welt zum Guten oder Schlechten zu verändern« (ebd., S. 31) und fielen daher durch das Raster der teleologischen Ethik. Aber wie wäre es um die Sittlichkeit eines Menschen bestellt, der über den Tod eines Freundes weder Trauer empfände noch dieses Gefühl irgendwie zum Ausdruck brächte? Es geht also um »Verleiblichungen innerer Einstellungen« (S. 43). Ginters zeigt, daß anscheinend »alle willentlichen Entschlüsse zu konkreten Handlungen […] in affektiven Stellungnahmen […] gründen« (S. 70) und erkennt in der Ausdruckshandlung die »Möglichkeitsbedingung der Wirkhandlung« (S. 73ff.). Ohne auf Aristoteles oder gar auf die Theorie des habitus einzugehen, kommt Ginters zu einem ganz analogen Ethikentwurf: Moralisches Handeln erwächst »aus frei eingenommenen Stellungnahmen«; diese aktualisieren sich zunächst in Akten affektiver Stellungnahme, dann aber auch in Handlungen, die nicht nur nach außen wirken, sondern zugleich das Sein des handelnden Subjekts zur Darstellung bringen (S. 86f.). Wenn Ginters davon spricht, daß »sich sittliche Haltungen […] in einem bestimmten Umfang einüben lassen« (S. 88) oder davon, daß sich an den Ausdruckshandlungen »Art und Grad der eigenen Entschiedenheit ablesen« läßt (ebd.), daß sich in ihnen »die zugrunde liegende Stellungnahme« »vollzieht, festigt,

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»Man hat ja die Pflicht, über bestimmte Dinge sich zu erzürnen und andere […] zu begehren. […] Der Mangel, mag er nun Zornlosigkeit oder sonst was immer sein, erfährt Tadel. Denn, die nicht zürnen, worüber sie sollen, noch wann, noch wem sie sollen, scheinen töricht zu sein.«109 Um das rechte Maß zu bestimmen – im Fühlen wie im Handeln – bedarf es einer vernünftigen Wahl (damit ist der Freiheitsaspekt benannt, der einer Gleichsetzung von Tugend und Gewohnheit entgegensteht).110

5. Verbesserung des Menschen, nicht der Handlung Im Gegensatz zu vielen modernen Ethikansätzen gilt das Hauptinteresse des Aristoteles nicht dem Handeln, sondern dem Sein. Primär kommt es nicht darauf an, daß man das und das tut, sondern darauf, daß man ein so und so beschaffener ist (bzw. wird). »Tugend […] besteht […] nicht in der Qualität dieses Handelns selbst, son-

bewährt oder läutert« (ebd.), schließlich in der Rede von der »überaktuellen Stellungnahme«, aus der heraus »der leibliche Ausdruck als das Gestaltete, Geprägte und Geformte […] von Zeit zu Zeit gesetzt wird« (S. 114, Hervorh. im Original), liegt der habitus-Begriff gleichsam in der Luft. Ginters wird von seinen eigenen Ausführungen über den Rahmen der teleologischen Ethik hinausgedrängt – so, wenn er »die Pflicht zur rechten Stellungnahme« als primäre ansieht, aus der »die Pflicht zum wirkenden Handeln« erst folgt (S. 90; vgl. S. 104f.). Die am Schluß des Buches versuchte Einordnung der Ausdruckshandlungen in eine teleologische Normierungstheorie gelingt m. E. nur um den Preis, daß Ausdruckshandlungen – entgegen den zuvor gewonnenen Erkenntnissen – doch wieder als Wirkhandlungen interpretiert werden. Beispiel: KZ-Häftlinge, die ihren zum Tod verurteilten Kameraden ohnehin nicht helfen können, tun gut daran, auch auf die »Ausdruckshandlung« des Protests zu verzichten, weil sie sonst das Leben weiterer Mithäftlinge aufs Spiel setzen würden (S. 102). Hier erscheint die Ausdruckshandlung als eine Unterart der Wirkhandlung, deren »Vollzug« aus Opportunitätsgründen unterbleiben kann. Das ursprüngliche Phänomen der affektiven Stellungnahme wird hier schon nicht mehr gesehen; diese aktualisiert sich unabhängig von der Wahrnehmbarkeit ihres Ausdrucks. – Auf den von Ginters (ebd., S. 65, Anm. 16) herausgestellten Zusammenhang von Ausdruckshandlung und »Wertantwort« im Sinne Dietrich von Hildebrands (Ethik, Stuttgart/Regensburg 21973, S. 201–253; 1. Aufl. unter dem Titel Christliche Ethik, Düsseldorf 1959) sei hier nur hingewiesen. 109 Nik. Ethik, III, 3 (1111 a 30f.), a. a. O., S. 48; IV, 11 (1126 a 3–6), ebd., S. 91 (Hervorh. im Orig.). 110 Ebd., II, 6 (1106 b 36–1107 a 2): »Es ist mithin die Tugend ein Habitus des Wählens ( ξις προαιρετικ&), er hat es mit der Mitte zu tun, die […] bestimmt wird durch die Vernunft und so, wie ein kluger Mann sie zu bestimmen pflegt« (Übers. hier aus dem Erläuterungsteil, ebd., S. 275). Zur προαíρεσις vgl. III, 4 und VI, 2. – Daß Aristoteles neben den ethischen auch dianoetische habitus und Tugenden kennt – z. B. ist die Wissenschaft ein »Habitus des Demonstrierens«, ξις ποδεικτικ& (VI, 3; 1139 b 31f.; ebd., S. 133) –, zeugt für einen analogen Gebrauch des habitus-Begriffs. Denn die Wissenschaft hat es nicht mit richtigem Verhalten gegenüber den Affekten zu tun.

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dern in der ihm nachfolgenden Qualität der Person.«111 Oder anders gesagt: Aristoteles’ Augenmerk gilt nicht der Außen-, sondern der Innenwirkung des Handelns. Gutes-Tun ist wichtig, insofern es zum Gut-Sein beiträgt und insofern dieses sich in jenem zeigt. Eine Gesellschaft, in der das Gute sozusagen subjektlos geschähe (indem staatliche Wohlfahrt allen Bedürfnissen entgegenkäme) und in der der Wert des individuellen Handelns nur durch seinen Beitrag zum allgemeinen Wohlergehen definiert wäre – und in der dieses Wohlergehen den einzelnen wiederum von außen, also passiv, nicht als Entfaltung eigenen Tätigseins zukäme –, würde die Pointe des guten Handelns verfehlen.112 Wer etwas leistet im Hinblick auf die Gemeinschaft, tut dabei das Beste für sich selbst – nämlich, den Wert seiner Seele zu steigern:113 »Würden aber alle um die Wette nach Sittlichkeit streben und bemüht sein, das Beste zu tun, so hätte nicht nur die Gesamtheit alles, was ihr not tut, sondern es wäre auch jeder einzelne für sich im Besitz der größten Güter, wenn anders die Tugend ein solches hervorragendes Gut ist.« Der Primat der Person spiegelt sich in der Unterscheidung von πρ0ξις und ποíησις, von Handeln und Machen. Ethik hat es mit der Praxis zu tun, mit Handlungen, die durch ihre Wirkung aufs handelnde Subjekt gekennzeichnet sind (Beispiele sind Sehen, Denken) im Unterschied zur Poiesis, die ihre Wirkungen an einem äußeren Substrat entfaltet (Beispiele: Bauen, Sägen).114 Die unterschiedliche Dignität von Handeln und Machen ergibt sich daraus, daß das erstere Zweck-, das letztere Mittel-Charakter hat. Das Bauen ist eine Bewegung, die an ihr Ende kommt (und sinnlos wird), sobald das Haus fertig ist. Sehen, Denken, Leben dagegen sind Wirklichkeiten in sich selbst, bei denen kein äußerer Abschluß intendiert ist.115 Von solcher Art sieht Aristoteles die ethisch relevanten Handlungen: als Momente der Selbstverwirklichung, Selbstgestaltung.116 111

Th. Buchheim (wie Anm. 72), S. 150. Das soll keine Kritik am Sozialstaat sein, nur eine Erinnerung, daß die Verwirklichung des Guten subjektgebunden ist – von einer »guten Gesellschaft« kann man nur in abgeleitetem Sinn reden, genauso wie von »guten Handlungen« – eigentlich sind nur Menschen gut. – Vgl. Kierkegaard: Der Liebe Tun (1847), übers. von H. Gerdes, Bd. 2, Gütersloh 1983, S. 359f. 113 Nik. Ethik, IX, 8 (1169 a 6–11); a. a. O., S. 224. 114 Metaphysik, IX, 8 (1050 a 23–b 2); Nik. Ethik, I, 1 (1094 a 3–6), VI, 4 und 5 (1140 b 3–7); Magna Moralia, I, 34 (1197 a 4–12). – Vgl. H. Seidl: »Das sittlich Gute (als Glückseligkeit) nach Aristoteles«, Philosophisches Jahrbuch, 82 (1975), S. 31–53, hier S. 39. 115 Metaphysik, IX, 6 (1048 b 18–35). Bewegung, κíνησις, ist Vorstufe von Wirklichkeit, "νéργεια: »Bewegung ist die Wirklichkeit des Möglichen als des Möglichen.« (Physik, III, 1; 201 a 10 f.; Übersetzung von R. Spaemann, in: R. Spaemann / R. Löw: Die Frage Wozu?, München 31991, S. 57.) Zur genannten Metaphysik-Stelle vgl. die Interpretation von Rémi Brague: Aristote et la question du monde, Paris 1988, S. 454–476. Brague spricht vom »inneren Ziel« der Akte, das zugleich »bleibender Besitz« ist (ebd., S. 470). – Vgl. auch E. Tugendhat: Vorlesungen über Ethik, Frankfurt a. M. 1993, S. 255. 116 Vgl. A. W. Müller: Praktisches Folgern und Selbstgestaltung nach Aristoteles (wie Anm. 81), 112

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Technische Produktion kann man, im Gegensatz zum moralischen Handeln, auch an Apparate delegieren (einen Dachziegel kann eine Maschine herstellen, einen sittlichen Akt nicht) – und so liegt die dem Menschen »eigentümliche Leistung« (s. o.) nicht im Machen, sondern im Tun. Man darf daher die offensichtliche, zu Beginn des 2. Buchs der Nikomachischen Ethik herausgestellte Analogie zwischen Tugend und Technik – beides sind habitus, die durch Übung zustande kommen – nicht dahingehend mißverstehen, als wäre das, was auf vergleichbare Art erworben wird, auch sonst vergleichbar. Denn was auf gleiche Weise entsteht, ist nicht das gleiche. Die Beispiele (wie man durch Bauen Baumeister und durch Kitharaspielen Kitharaspieler wird, so wird man durch gerechtes Handeln gerecht, durch tapferes tapfer117) sehen davon ab, daß das Ziel »ein Baumeister werden« für das Gelingen des menschlichen Lebens belanglos (oder besser, weil schließlich jeder auch »etwas« werden muß, austauschbar), das Ziel »ein Gerechter werden« jedoch höchst wesentlich ist. Dem künstlerisch-technischen habitus fehlt ja das Merkmal, zu machen, »daß wir uns in bezug auf die Affekte richtig oder unrichtig verhalten«.118 Weil die Einheit des Menschen mit sich selbst, das Gleichgewicht zwischen πáθη und λóγος, an der Ausbildung der moralischen habitus hängt, sind sie vor allen anderen Fertigkeiten, die sich ebenfalls nach der Formel »learning by doing« einstellen, ausgezeichnet. (Daß sich beides bei genauem Hinsehen doch nicht sauber scheiden läßt – vergleichbar der oben versuchten Abgrenzung von habitus und Gewohnheit –, daß also ins technische Herstellen Momente moralischen Handelns einfließen, etwa der Schuster sich bei seiner mühsamen Arbeit die Tugend der Geduld erwirbt, und daß das moralische Handeln nicht ganz ohne äußere Werke auskommt, etwa das Brot für die Armen auch materiell hergestellt werden muß, ist freilich zuzugeben.) Bekanntlich ist »Substanz« ein Grundbegriff der aristotelischen Metaphysik. »Substanzen« sind dasjenige, was allen Aussagen über Wirkliches zugrunde liegt.119 Faßbar werden sie uns aber nur auf dem Umweg über die Akzidenzien. Ähnliches gilt für die sittliche Güte eines Menschen. Wir sehen sie nicht; aber das Wie seines Handelns (nicht, daß er z. B. einem anderen hilft, sondern wie er es tut – spontan, mit Freude) gibt uns einen Hinweis darauf. Der, bei dem »sich rationales Element und irrationale Regungen im Einklang befinden«, dessen »Seele eine« ist, gelangt am S. 209–230 (»Machen und Tun«). Daß »Mittel« und »Zweck«, »Machen« und »Handeln« u. U. verschiedene Aspekte ein und desselben Aktes sind, zeigt Müller am Beispiel des Tyrannenmords (ebd., S. 221ff.): die Betätigung der Schußwaffe geht aufs Konto einer τéχνη, dann aber »ist der Schuß auch die Verwirklichung bestimmter Habitus: der Gerechtigkeit, des Gemeinsinns, des Mutes« (ebd., S. 221). 117 Nik. Ethik, II, 1 (1103 a 31–b 2). 118 Nik. Ethik, II, 4 (1105 b 25f.); Übers. von Rolfes, a. a. O., S. 33. 119 Kategorien, c. 5 (2 b 15ff.).

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ehesten zur »Freundschaft mit sich selbst«.120 Er ist einer geworden, er ist im emphatischen Sinn des Worts.121

6. Zur Ontologie des habitus Vom Stichwort der Einheit aus stellt sich noch einmal die Frage nach der Verankerung des hexis-Begriffs im Rahmen der aristotelischen Metaphysik. »Wo Zweiheit war, soll Einheit, wo Möglichkeit war, soll Wirklichkeit, wo Passivität war, soll Aktivität werden« – so könnte man, ein Diktum Freuds abwandelnd, den Imperativ umschreiben, der sich durch die aristotelische Ethik zieht. Möglichkeit und Wirklichkeit (δúναµις und "νéργεια) sind die Grundbegriffe der Metaphysik, in deren Spannungsfeld die ξις ihren Ort hat.122 Die Möglichkeit ist unbestimmt, sie geht auf Entgegengesetztes – »auf Gesundsein und Kranksein, auf Ruhen und Bewegtwerden, auf Bauen und Niederreißen«;123 »die Wirklichkeit aber trennt«.124 Alles Sein erfüllt sich im Tätigsein, in der jeweiligen "νéργεια. Für den Menschen kommen hier grundsätzlich zwei Weisen der Verwirklichung in Frage – die theoretische Tätigkeit der Vernunft, die praktische der sittlichen Tugend.125

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Magna Moralia, II, 11 (1211 b 15ff.); a. a. O., S. 84. Vgl. Nik. Ethik, IX, 4 (1166 a 13ff.). Zur Konvertibilität des Einen mit dem Seienden vgl. Metaphysik, VII, 16 (1040 b 16). 122 Diesen Zusammenhang, der bei Thomas von Aquin auf die häufig wiederkehrende Formel »der habitus ist ein Mittleres zwischen Potenz und Akt« (vgl. Anm. 229) gebracht wird, unterstreicht auch Heidegger, wenn er, ausgehend von den »›Kategorien‹ δúναµις u. "νéργεια« sagt: »In diesen ontologischen Horizont wird dann die ›Ethik‹ gestellt, als die Explikation des Seienden als Menschsein […]« Martin Heidegger: »Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation)« (1922), Dilthey-Jahrbuch, 6 (1989), S. 235–269, hier S. 267. 123 Metaphysik, IX, 9 (1051 a 8f.), hrsg. von H. Seidl, 2. Halbbd., Hamburg 21984, S. 131. 124  γàρ "ντελéχεια χυρíζει. Metaphysik, VII, 13 (1039 a 7); ebd., S. 63. 125 Nik. Ethik, X, 7, 8; vgl. I, 3 (1095 b 18f.), 13 (1103 a 5ff.). – Neben theoretischen und praktischen gibt es auch technische habitus. Wegen des ausdrücklichen Vorrangs der πρ0ξις vor der ποíησις – jene hat ihr Ziel in, diese außer sich (vgl. Nik. Ethik, I, 1; 1094 a 4f.) – ist die hexis der künstlerisch-technischen Produktion (vgl. Nik. Ethik, VI, 4) nicht als eigene Weise menschlicher Selbstverwirklichung ausgezeichnet. (Zu den drei Arten von habitus vgl. das Schema in der Ausgabe der Nik. Ethik von G. Bien – wie Anm. 75 –, S. 302.) Entsprechend sagt Thomas von Aquin: »[…] das Glück besteht in einer solchen Handlung, die im Handelnden liegt, nicht in einer, die in eine äußere Sache übergeht, denn das Glück ist das Gut des Glücklichen und seine Vollendung […] Und so ist klar, daß das Glück nicht im Bauen, noch in einer sonstigen derartigen Tätigkeit besteht, die ins Äußere übergeht, sondern im Denken und Wollen.« »[…] felicitas in tali operatione consistit, quae est in operante, non quae transit in rem exteriorem, cum felicitas sit bonum felicis, et perfectio eius. […] Et sic patet quod felicitas non consistit nec in aedificando, nec in aliqua huiusmodi actione, quae in exterius transeat, sed in intel121

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Im Unterschied zum naturhaft Seienden erfolgt beim Menschen der Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit nicht von selbst. Während der Keim einer Pflanze, der diese in nuce, der Möglichkeit nach, enthält, auf natürlichem Wege zur fertigen Pflanze heranwächst, muß der Mensch sich seine »Fertigkeit«, seine Vollendung, kurz: seine ρετ& erarbeiten.126 Erst durch die als »zweite Natur« erworbene ξις kommt er aus der Unbestimmtheit des So-oder-anders-Könnens heraus in die Bereitschaft zu den seiner Vernunft-Natur entsprechenden Akten; ja erst die ξις gibt diesen Akten ihr Ziel.127 – Ist aber die ξις, wenn sie menschliche Möglichkeiten einschränkt, nicht der Freiheit abträglich? Aristoteles’ Antwort ergibt sich aus seiner Unterscheidung von praktischem und technisch-künstlerischem habitus. Es gehört zur Vollkommenheit der Kunst, daß der, der sie handhabt, sie zu entgegengesetzten Zwecken einsetzen kann. Der tüchtige Pharmazeut weiß lebensrettende und tödliche Mittel herzustellen; der Kenner der Grammatik kann auch einmal absichtlich einen Schnitzer machen. Bei der sittlichen Vollkommenheit verhält es sich anders. Es gehört nicht zum habitus der Gerechtigkeit, daß man auch in der Lage ist, geschickt zu betrügen; ja der Gerechte kann gar nicht, was der Ungerechte »kann«. (Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sind daher verschiedene habitus.128) Aber die Unfähigkeit des Gerechten zum Betrug ist keine Einschränkung, die »Fähigkeit« des Ungerechten keine Entfaltung von Freiheit. Das Axiom »natura ad unum – ratio ad opposita«129 gilt also mit seiner zweiten Hälfte für die hexeis des technischen Machens, mit seiner ersten für die des sittlichen Handelns, und zwar deswegen, weil sich im (guten) Handeln die Natur des Menschen vervollkommnet.130 Die Tugenden sind schon »ad unum«, auf eine beligendo et volendo.« In XII libros Metaphysicorum Aristotelis expositio, lib. IX, lectio 8, nr. 1865 (Marietti) (zu Metaphysik, IX, 8; 1050 a 23–b 2). – Vgl. auch Nik. Ethik, II, 3 und dazu den Kommentar von Thomas von Aquin: Sententia Libri Ethicorum, ed. Leon., Bd. 47/1, S. 87. 126 »Darum werden uns die Tugenden weder von Natur noch gegen die Natur zuteil, sondern wir haben die natürliche Anlage, sie in uns aufzunehmen, zur Wirklichkeit aber wird diese Anlage durch Gewöhnung.« Nik. Ethik, II, 1 (1103 a 23–26); a. a. O., S. 26. 127 Vgl. Nik. Ethik, III, 10 (1115 b 20f.): τéλος δè πáσης "νεργεíας "στì τò κατà τ%ν ξιν. Dirlmeier (wie Anm. 107, S. 59) übersetzt: »Das Endziel jeder Aktivität deckt sich mit dem Endziel der festen Grundhaltung.« Vgl. den Kommentar zu S. 224, Anm. 4 (ebd., S. 582). – In der Übersetzung von E. Rolfes (wie Anm. 75, S. 61) heißt es: »Das Ziel jedes Aktes aber ist ein dem Habitus Gemäßes.« 128 Nik. Ethik, V, 1 (1129 a 6–10). Zum folgenden vgl. Hutchinson (wie Anm. 69), S. 35–37. 129 Vgl. Metaphysik, IX, 2 (1046 b 4–7); Nik. Ethik, V, 1 (1129 a 11–16). 130 Aber zur Natur des Menschen gehört doch die ratio, wird man einwenden, also auch die unaufhebbare Undeterminiertheit? Für Aristoteles liegt hier kein Widerspruch. Die Vernunft-Natur des Menschen manifestiert sich in seiner Bestimmtheit zum Guten und nicht etwa in der Indifferenz gegenüber Gutem und Bösem. Erst Scotus wird einen Freiheitsbegriff entwickeln, dem

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stimmte Art von Akten ausgerichtet; daß die technischen Fertigkeiten einer solchen Ausrichtung noch fähig und bedürftig sind zeigt, daß sie nicht Selbstzweck-, sondern instrumentellen Charakter tragen.131 (Ebenso gilt für »alle anderen dianoetischen Vortrefflichkeiten« – die τéχνη ist nur eine von ihnen –, daß man sie, mit Ausnahme der Klugheit, »erst noch zum Guten gebrauchen muß, aber auch – aufgrund der Ambivalenz des Rationalen – zum Schlechten verwenden kann.«132) – Die Nähe der ξις zur aktualen Wirklichkeit faßt Aristoteles einmal so, daß er die ξεις als ε1δη, als Formen bezeichnet133 – wie überhaupt gelegentlich ξις als Synonym von φúσις erscheint.134 Erst wenn die Natur ihren vollendeten Zustand erreicht hat, kann sie in der ihr eigenen Weise wirken; als ein Zeichen der naturgemäßen "νéργεια ist die mit ihr notwendig einhergehende Lust135 anzusehen. Auch hier zeigt sich die wirklichkeitskonstitutive Rolle der ξις: »die Lust ist […] Tätigkeit des naturgemäßen Habitus«.136 Als eine Vermittlung von Möglichkeit und Wirklichkeit kennen wir bereits den Begriff der Bewegung.137 Was besagt dieser Zusammenhang für das Verständnis von ξις? Heidegger hat die stete Akt-Bereitschaft des habitusgeprägten Menschen als das »Auch-anders-Können« wesentlich ist. Vgl. F. Inciarte: »Natura ad unum – ratio ad opposita. Zur Transformation des Aristotelismus bei Duns Scotus«, in: J. P. Beckmann/L. Honnefelder u. a. (Hrsg.): Philosophie im Mittelalter, Hamburg 1987, S. 259–273 sowie den Abschnitt »Gottesschau ohne Liebe?« im Exkurs-Kap. (s. u., III.B.3.). 131 Das ist der Sinn des Axioms »virtutis non est virtus«. Vgl. Nik. Ethik, VI, 5 (1140 b 21f.): λλà µ%ν τéχνης µèν .στιν ρετ&, φρον&σευς δ3ο4κ .στιν. Vgl. den Kommentar zu der Stelle bei Dirlmeier (wie Anm. 107), S. 451, o., sowie V. Hildebrandt: Virtutis non est virtus. Ein scholastischer Lehrsatz zur naturgemäßen Bestimmung vernünftigen Handelns in seiner Vorgeschichte, Frankfurt a. M. 1989, bes. S. 140–146. – A. Rorty (wie Anm. 70) rückt die Tugend in die Nähe der Technik, wenn sie meint, die Unbeherrschtheit mache eine spezielle Art von habitus nötig, die dafür sorgt, daß die richtigen habitus auch aktiviert würden (ebd., S. 58). 132 Th. Buchheim (wie Anm. 72), S. 152 (Hervorh. im Orig.). – Vgl. Nik. Ethik, VI, 3. 133 Über Entstehen und Vergehen (De generatione et corruptione), I, 7; 324 b 18: τà δ3ε1δη καì τà τéλη ξεις τινéς. Die lateinische Übersetzung sagt sogar »omnis forma et actus potest dici habitus«; vgl. Thomas von Aquin: Summa contra gentiles, II, 78. Actus steht also hier für τéλη. – Vgl. Metaphysik, VIII, 5 (1044 b 32f.). 134 Vgl. De anima (Über die Seele), II, 5 (417 b 15f.); Metaphysik, XII, 3 (1070 a 12); Nik. Ethik, VII, 13 (1152 b 27f., 36); VII, 14 (1153 b 29); vgl. Butzki (wie Anm. 69), S. 5. – Die Stelle aus De anima spricht von zwei Möglichkeiten des »Umschlags« (µεταβολ&) – einmal in »Zustände der Beraubung«, einmal in »habitus und Natur«: "πì τàς στερητικàς διαθéσεις […] καì […] "πì τàς ξεις καì τ%ν φúσιν. So ergibt sich ein Zusammenhang zwischen der zweiten und der dritten in Anm. 69 genannten Art von hexis. 135 Vgl. oben, Anm. 95 sowie Nik. Ethik, X, 5 (1175 a 21). 136 λεκτéον [δον%ν] "νéργειαν τ5ς κατà φúσιν ξευς, Nik. Ethik, VII, 13; 1153 a 14 (Übers. von Rolfes, a. a. O., S. 175). Vgl. ebd., 1152 b 33: .τι "πεì το6 γαθο6 τò µèν "νéργεια τò δ3 ξις »[…] das Gute ist teils Tätigkeit teils Habitus« (Übers. von Rolfes, a. a. O., S. 174). 137 Vgl. oben, Anm. 115.

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»Bewegtheit« interpretiert:138 »Der Seinscharakter der ξις und damit der ρετ&, das heißt die ontologische Struktur des Menschseins, wird […] im Wie einer bestimmten Bewegtheit […] verständlich.« Noch in Sein und Zeit wird das Auf-dem-Sprung-Sein zur Wirklichkeit, das Heidegger als Entschlossenheit schildert (»Als entschlossenes handelt das Dasein schon«139), mit einem (allerdings abwehrenden) Hinweis auf die Habitus-Tradition versehen:140 »Dies unter dem Titel Entschlossenheit herausgestellte Phänomen wird kaum mit einem leeren ›Habitus‹ […] zusammengeworfen werden können.« Aber ein leerer Habitus wäre keiner. Er meint die ständige Bereitschaft, »durch die einer ein tüchtiger Mensch wird und seine Leistung gut vollbringt«141 – und »in Bereitschaft sein ist alles.«142 138

Heidegger: »Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles« (wie Anm. 122), S. 261. Vgl. ebd., S. 260: »Das Sein des Lebens ist gesehen als an ihm selbst ablaufende Bewegtheit […] Diese Bewegtheit ist in der ξις […]« Eine Stelle der Nik. Ethik, auf die M. H. Wörner (Das Ethische in der Rhetorik des Aristoteles, Freiburg/München 1990, S. 214, Anm. 12) aufmerksam gemacht hat, scheint dem zu widersprechen. Zur Unterscheidung von Leidenschaft und Tugend heißt es: »Überdies sagen wir, daß wir durch die Affekte bewegt, durch die Tugenden und Laster aber nicht bewegt, sondern in eine bestimmte bleibende Disposition gebracht werden.« (Nik. Ethik, II, 4; 1106 a 4–6; a. a. O. – wie Anm. 75 –, S. 33.) Die von den Affekten induzierte Bewegung in Selbstbewegung umzusetzen, aus passiver aktive Bewegtheit zu machen – genau das ist die Aufgabe des habitus. So kann auch der ebenfalls negativ konnotierte Bewegungsbegriff von Metaphysik, IX, 6 (Bewegung als instrumentelle »actus imperfecti«, vgl. oben, Anm. 114f.) neben einem positiven Verständnis von Bewegung als habitueller Ausrichtung aufs Gute, die sich in entsprechenden konkreten Akten verwirklicht (aber eben qua habitus erst unterwegs zur vollen Wirklichkeit ist), bestehenbleiben. Vgl. R. Walzer: Magna Moralia und aristotelische Ethik, Berlin 1929, S. 54–61: »Die Bestimmung der sittlichen Handlung als κíνησις oder "νéργεια«. 139 Heidegger: Sein und Zeit, §60, Tübingen 161986, S. 300. 140 Ebd. 141 Nik. Ethik, II, 5 (1106 a 22–24), gleicher Text wie zu Anm. 107, übers. von O. Gigon, München 41981, S. 89. – Es sei hier noch einmal (s. o., Anm. 125) auf den grundlegenden Unterschied von ethischem und künstlerisch-technischem habitus hingewiesen: »Überdies ist es mit den Künsten nicht in gleicher Weise wie mit den Tugenden bestellt. Die Erzeugnisse der Künste haben ihre Güte in sich selbst, so daß es genügt, wenn man sie so hervorbringt, daß sie eine bestimmte Beschaffenheit haben.« Den guten Künstler sieht man am Was, nicht am Wie (er kann, wie Chopin, eine Mazurka zigmal umgeschrieben haben, um am Ende nach unsäglichen Qualen wieder zur ersten Fassung zurückzukehren) seiner Produktion. Zur sittlichen Güte einer Handlung hingegen ist nicht nur erforderlich, daß »sie selbst eine bestimmte Beschaffenheit hat, sondern« daß »auch der Handelnde bei der Handlung gewisse Bedingungen erfüllt«. Nik. Ethik, II, 3, übers. von Rolfes, a. a. O. (auch das obige Zitat), S. 32 (1105 a 26–31). Das Kunstwerk könnte z. B. davon profitieren, daß der Künstler seine Vorstellungskraft durch Alkohol, Drogen etc. (man denke an Poe, Baudelaire) steigert – eine moralische Handlung würde durch solche Manipulation nur an Wert einbüßen. »Denn die Tugenden sind das, woraus Handlungen hervorgehen (principia actionum), die nicht in die äußere Materie übergehen, sondern in den Handelnden selbst bleiben, und daher besteht das

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7. Hexis und méthexis Alle méthexis ist hexis, sagt Hans-Georg Gadamer einmal.143 Man kann den Satz auch umdrehen: alle hexis ist méthexis. Als »Scholion zu Platon«144 gelesen, zeigt sich der habitus-Gedanke als aristotelischer Beitrag zu einem platonischen Problem. Im 13. Kapitel der Nikomachischen Ethik, wo die anthropologischen Grundlagen des folgenden rekapituliert werden, verwendet Aristoteles gleich dreimal kurz hintereinander den sonst von ihm so vehement kritisierten145 Ausdruck des »Teilhabens« (1102 b 13f., 26, 30). Es kommt darauf an, daß dasjenige im Menschen, was der Teilhabe an der Vernunft fähig ist, diese Teilhabe verwirklicht – darauf also, daß das "πιθωµητικóν und das 7ρεκτικóν überhaupt Anteil am λóγος gewinnen: Die Strebens- und Leidenschaftsanteile der Seele mögen der Vernunft zunächst fremd gegenüberstehen wie die ungeformte Materie der Form; dann aber ist eine Bewegung vorgesehen, in der die Leidenschaftsmaterie von der Vernunftform durchdrungen wird und an ihr teilnimmt. Damit gewinnen beide an Wirklichkeit: das sinnlich-passionale ,λογον, das durch die µéθεξις am λóγος ein höheres Seinsniveau erreicht, der λóγος, der, als menschlicher, eine ihm wesentliche Verwirklichung im formenden Eingang in das »Andere der Vernunft« bzw. in »das andere seiner selbst«146 findet. Das Tier lebt im Einklang mit sich selbst – es bedarf keiner habitus. Seine Teilhabe am Göttlichen verwirklicht es, indem es ein anderes, ihm gleiches Wesen erzeugt.147 Anders beim Menschen:148 »Der Mensch lebt […] nur, wenn er ein Leben führt. So bricht ihm immer wieder unter den Händen das Leben seiner eigenen Existenz in Natur und Geist, in Gebundenheit und Freiheit, in Sein und Sollen auseinander.« Die Teilhabe am Göttlichen ist in diesem Fall anspruchsvoller: sie verlangt Einswerdung mit sich selbst. Menschliches von göttlichem Sein unterscheidend, sagt Gut dieser Handlungen in den Handelnden selbst.« Thomas von Aquin: Sententia Libri Ethicorum, ed. Leon., Bd. 47/1, S. 87, Z. 50–54. 142 Shakespeare: Hamlet, V, 2. 143 Hans-Georg Gadamer: Interview mit Luigi Lorusso, Informazione filosofica, 3 (Dicembre 1992), S. 10–12, hier S. 11. 144 Robert Spaemann: Philosophische Essays, Stuttgart 1983/1994, S. 13. 145 Vgl. den Art. »Teilhabe« von Rolf Schönberger, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel 1998, Sp. 961–969, hier Sp. 961. 146 Vgl. R. Elm (wie Anm. 88), S. 135. 147 Aristoteles: Über die Seele (De anima), II, 4 (415 a 28–30); nach der Übers. von W. Theiler hrsg. von H. Seidl, Hamburg 1995, S. 79. 148 Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin/New York 31975, S. 316f.

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Boethius: »Für uns aber ist Sein und Tun nicht dasselbe; denn wir sind nicht einfach.«149 Habitus-Bildung als Weg zur Teilhabe am Einen – das ist ein Gedanke, der zugleich Aristoteles und Platon vermittelt;150 diese Inklusivität mußte ihn Thomas von Aquin besonders empfehlen. »Der habitus macht den Menschen einfacher, mehr eins und folglich vollkommener.«151

B. Thomas von Aquin 1. Ethik auf anthropologischer Basis Neuere Arbeiten zu Thomas von Aquin haben die anthropologische Einbindung seiner Ethik herausgestellt152 – zu Recht: der habitus-Traktat der Prima Secundae (qu. 49–54), der die Abhandlung über die Tugenden vorbereitet, beginnt mit einem Rückverweis153 auf das, was über die Grundlagen der menschlichen Handlung bereits in der Prima Pars gesagt wurde. Dort (qu. 77) hatte Thomas die Seelenvermögen untersucht. Die Frage nach der (guten, tugendhaften) Handlung wird verankert in der Frage nach dem Subjekt der Handlung. Man begreift die Chancen einer

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»Nobis vero non est idem esse quod agere; non enim simplices sumus.« Boethius: Die Theologischen Traktate, Traktat III, übers. von M. Elsässer, Hamburg 1988, S. 44 f. (Wortlaut der Übers. leicht verändert.) 150 Vgl. Peter M. Steiner: Psyche bei Platon, Göttingen 1992, Kap. V: »Methexis«, S. 177–213, bes. S. 212f. 151 Cyrinus Scharff: L’habitus principe de simplicité et d’unité dans la vie spirituelle, Utrecht/ Nimwegen 1950, S. 38. 152 E. Schockenhoff: Bonum hominis. Die anthropologischen und theologischen Grundlagen der Tugendethik des Thomas von Aquin, Mainz 1987, hier bes. Kap. 5: »Die Stellung des HabitusBegriffs in der Entwicklung des Tugendgedankens«, ebd., S. 202–234; A. Stagnitta: L’antropologia in Tommaso d’Aquino. Saggio di ricerca comparata sulle passioni e abitudini dell’uomo, Neapel 1979; B. R. Inagaki: »Habitus and Natura in Aquinas«, in: John F. Wippel (Hrsg.): Studies in Medieval Philosophy, Washington 1987, S. 159–175. Das für unseren Zusammenhang zentrale Werk von B. R. Inagaki The Philosophy of Habit (Tokyo 1981) liegt leider nur auf japanisch vor. – J. Mausbach: Grundlage und Ausbildung des Charakters nach dem hl. Thomas von Aquin, Freiburg i. Br. 1911, bes. das Kap. »Die sittliche Veredlung des Gefühlslebens. Pflicht und Neigung«, S. 62–78. Vgl. auch W. Schmidl: Homo discens. Studien zur Pädagogischen Anthropologie bei Thomas von Aquin, Wien 1987, S. 91–134; W.-U. Klünker: Selbsterkenntnis der Seele. Zur Anthropologie des Thomas von Aquin, Stuttgart 1990, S. 37–40; R. Cessario O. P.: The Moral Virtues and Theological Ethics, Notre Dame, Indiana, 1991, S. 34–44 sowie die brillante Darstellung bei O. H. Pesch: Thomas von Aquin, Mainz 31995, S. 228–253. Daß auch hierfür Aristoteles das Modell liefert, ist nicht überraschend: vgl. Rémi Brague: Aristote et la question du monde, Paris 1988, S. 183ff. 153 Summa theol., I–II, qu. 49, prooemium.

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Ethik, die sich als Teil einer Lehre vom Menschen versteht und das Subjekt sittlichen Handelns nicht schon als fix und fertig voraussetzt, sondern es sich behutsam erst einmal vergegenwärtigt. Man muß die entsprechenden Stellen in Summa theol., I–II, qu. 49, wo es um die Ausrichtung, das Ziel des habitus geht, genau lesen. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als sei der habitus lediglich ein Prinzip zur leichteren Hervorbringung bestimmter Handlungen. (In dieser Form ist die habitus-Lehre auch von der späteren Scholastik, etwa bei Ockham und Suarez, rezipiert worden.154) Aber das ist nur das Zweitwichtigste am habitus. Das Wichtigste besteht darin, daß er die Natur seines Trägers vervollkommnet.155

2. Passiones und habitus Für den Vergleich mit modernen Ethikansätzen ist der Traktat über die Leidenschaften (I–II, qu. 22–48) als Basis der Habitus- und Tugendlehre nicht hoch genug zu veranschlagen. (Man braucht nur daran zu erinnern, daß Kant seiner Kritik der praktischen Vernunft die Kritik der reinen Vernunft vorausschickt: Thomas rekurriert für seine Ethik auf eine Analyse der »Akte, die der Mensch mit den anderen Lebewesen [gemeint sind die Tiere156] teilt«, d. h. die »Leidenschaften der Seele«.157) 154

Vgl. Inagaki, »Habitus and Natura in Aquinas«, a. a. O., S. 166. Johannes a Sancto Thoma hat Thomas in diesem Punkt gegen Suarez verteidigt: Johannes a Sancto Thoma: Cursus Theologicus. In Iam–IIae. De habitibus, Quebec 1949, S. 41f. (Hinweis bei Inagaki, a. a. O., S. 166, Anm. 42). 155 »[…] habitus […] importat ordinem ad ipsam naturam rei« (Summa theol., I–II, qu. 49, a. 3); andernfalls könnte Thomas nicht daran festhalten, daß der habitus eine bestimmte – nämlich die erste – Art der Qualität ist, wie im Anschluß an Aristoteles, Kategorien, c. 8, in a. 2 gezeigt worden war. Die Richtung auf die Tätigkeit, die dem habitus sozusagen ein Janusgesicht verleiht, ergibt sich indirekt, insofern die Natur ihrerseits ihr Telos im Tätigsein hat: »Unde habitus non solum importat ordinem ad ipsam naturam rei, sed etiam consequenter ad operationem, inquantum est finis naturae« (a. a. O., a. 3; Hervorh. von mir). – Vgl. Schockenhoff, a. a. O., S. 213–215, 233; B. T. Sandín O. P.: »›Lo primario‹ en el hábito según Santo Tomás«, Studium, 14 (1974), S. 265–277; P. de Roton O. S. B.: Les habitus. Leur caractère spirituel, Paris 1934, 24–28, S. 31, 118. Zur Bestätigung vgl. qu. 54, a. 2: »Est autem habitus dispositio quaedam ad duo ordinata: scilicet ad naturam, et ad operationem consequentem naturam.« Vgl. auch schon (1920) J. Maritain: Art et scolastique, in: J. et R. Maritain: Œuvres complètes, Fribourg/Paris, 1982ff., Bd. 1, S. 627f. 156 Vgl. Summa theol., I–II, qu. 24, a. 1, obi. 1 und ad 1. – Diese Stellen (s. auch die folgende Anm.) dürfte Alasdair MacIntyre im Auge haben, wenn er in seinem jüngsten Buch vermerkt: »note also that Aquinas, unlike most moderns, often refers to nonhuman animals as ›other animals‹«, in: Dependent Rational Animals. Why Human Beings Need the Virtues, Chicago u. a. 1999, S. 6. 157 »[…] de actibus qui sunt homini aliisque animalibus communes, qui dicuntur animae pas-

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Dem Mittelalter wird oft ein verbogenes Verhältnis zur Sinnlichkeit vorgeworfen. Nichts davon bei Thomas. Er sieht – im Anschluß an Aristoteles158 – in den Leidenschaften den Stoff, aus dem die Tugenden sind.159 Wie das gemeint ist, erhellt aus dem Schema der vier Kardinaltugenden und ihrem Ort in der Seele. Sinnlichkeit, Wille und Vernunft gehören zu den Grundvermögen der Seele.160 Der (praktischen) Vernunft ordnet Thomas die Klugheit,161 dem Willen die Gerechtigkeit,162 der Sinnlichkeit aber – insoweit sie sich »strebend« verhält (appetitus sensitivus) – zwei Tugenden zu, die Tapferkeit und die Selbstbeherrschung,163 entsprechend den beiden Grundkräften des Überwindens und Begehrens.164 siones.« Summa theol., I–II, qu. 6, prooemium. – Es fällt auf, daß die Leidenschaften hier als Akte bezeichnet werden; vielleicht deswegen, weil sich auf der tierischen Ebene Handeln und Leiden nicht streng trennen lassen: »bruta non agunt, sed aguntur« (De veritate, qu. 24, a. 2, sed contra 2). 158 »Denn die sittliche Tugend hat es mit der Lust und der Unlust zu tun. […] Darum muß man, wie Plato sagt, von der ersten Kindheit an einigermaßen dazu angeleitet worden sein, über dasjenige Lust und Unlust zu empfinden, worüber man soll. Denn das ist die rechte Erziehung.« Aristoteles: Nikomachische Ethik, II, 2 (1104 b 8–13), übers. von E. Rolfes, hrsg. von G. Bien, Hamburg 41985, S. 29 – Das Platon-Zitat ist aus Nomoi, II, 653 a 5 – c 4. 159 »[…] virtutes morales quae sunt circa passiones sicut circa propriam materiam, sine passionibus esse non possunt.« Summa theol., I–II, qu. 59, a. 5. – Vgl. »[…] sensibiles passiones sunt materia moralium actuum.« Summa theol., II–II, qu. 152, a. 1. 160 Vgl. Summa theol., I, qu. 78, a. 1. Wir sehen hier ab von der vegetativen Seele und vom Vermögen der Ortsbewegung, die für die Tugend keine Rolle spielen. Vgl. Aristoteles: Über die Seele (De anima), II, 3 (414 a 31f.); Nik. Ethik, VI, 2 (1139 a 17f.).– Für ein genaueres Schema vgl. R. E. Brennan O. P.: Thomistische Psychologie, Heidelberg und Graz / Wien / Köln 1957, S. 201. 161 Summa theol., I–II, qu. 56, a. 3. 162 Ebd., a. 6. 163 Ebd., a. 4, sed contra; vgl. Nik. Ethik, III, 13 (1117 b 23f.). – Wie immer man »temperantia« sonst übersetzt (Besonnenheit, Maßhaltung, Mäßigkeit) – es »hält uns die deutsche Sprache heute kein geltendes Wort bereit, das auch nur einigermaßen den Kern und den Umfang des Begriffes temperantia widerzuspiegeln vermöchte«: Josef Pieper: Das Viergespann, München 61991, S. 201. »Temperantia« setzt etwas voraus, das zu zügeln ist – sonst gleicht sie einem Reiter, dem zum Zaumzeug das Pferd fehlt. Diesen Zusammenhang hat Paul Ludwig Landsberg (Die Welt des Mittelalters und wir, Bonn 1922, hier S. 54) vor Augen, wenn er schreibt: »Eine grosse Leidenschaft fordert eine grosse Zucht und kann ohne sie nicht bleiben. […] Ihre Erhaltung kann aber nur das Werk der Zucht sein, und ebenso ihre Steigerung. […] So gewinnt die Leidenschaft jene ruhige Schönheit und Gewalt, die unwiderstehlich ist. Starke Zeiten, Arten und Einzelmenschen, wahre Erfüllungen der Zeiten, haben sich stets dadurch ausgezeichnet, dass sie Zucht und Leidenschaft zu inniger Einung als Form und Inhalt gebracht haben.« 164 Summa theol., I, qu. 81, a. 2. Vgl. St. Pfürtner O. P.: Triebleben und sittliche Vollendung. Eine moralpsychologische Untersuchung nach Thomas von Aquin, Freiburg / Schweiz 1958, S. 153–192. – Erschöpfende Auskunft über den Sitz der Tugenden in den verschiedenen Seelenteilen bietet Thomas Graf O. S. B.: De subiecto psychico gratiae et virtutum secundum doctrinam scholasticorum usque ad medium saeculum XIV, 2 Bde., Rom 1934 / 35 (= Studia Anselmiana 2–4), hier – für Thomas – zusammenfassend Bd. 2, S. 115. (Vgl. Summa theol., I–II, qu. 66, a. 1.)

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Hier haben die Leidenschaften ihren Sitz. Die Ansprechbarkeit durch ein gegenwärtiges sinnliches Gut bzw. Übel – von den Scholastikern »(vis) concupiscibilis« genannt – zeigt sich in den Gefühlen von Lust und Unlust. Komplexer, weil in die Zukunft vorgreifend und dem Willen wie dem Intellekt näher, stellt sich das andere sinnliche Strebevermögen, die »(vis) irascibilis«, dar. Es antwortet auf ein Gut bzw. Übel, das nicht unmittelbar zugegen ist, mit antizipierenden Gefühlen wie Hoffnung und Furcht.165 Es hält an dem begehrten Gut fest, wenn dieses durch ein Hindernis von uns getrennt ist, und mobilisiert größere Aktivität, etwa die Bereitschaft zum Ausharren in einer schwierigen Lage oder zum Kampf.166 Dazu tritt ein Moment der positiven oder negativen Selbsteinschätzung: Kühnheit angesichts eines Übels, dessen Überwindung man sich zutraut, Verzweiflung angesichts eines Guts, das man für unerreichbar hält.167 – Selbstbeherrschung und Tapferkeit sind nun diejenigen Tugenden, die die Leidenschaften als Substrat voraussetzen wie der Stoffwechsel das Essen. Gerechtigkeit und Klugheit dagegen haben zwar die Leidenschaften nicht zum Gegenstand,168 doch ist damit noch nicht gesagt, daß es diese Tugenden ohne Leidenschaft geben kann. Um das zu klären, fragen wir zunächst: welche Rolle spielen die Leidenschaften für die ethische Bewertung einer Handlung? Als sich Thomas dem Problem zum erstenmal stellt, ist er vergleichsweise vorsichtig. Gefragt wird, »wer sich ein größeres Verdienst erwirbt – ob jener, der einem Armen Gutes tut mit mitleidigem Erbarmen, oder der, der es ohne jede Leidenschaft nur aus dem Urteil der Vernunft heraus tut?«169 Zwei ausführliche Augustinus-Zitate bereiten die Antwort vor:170 »Solange wir die Schwäche dieses Lebens zu tragen haben, leben wir nicht richtig, wenn wir überhaupt keine Leidenschaften haben; der Apostel tadelte nämlich, ja er verwünschte gewisse Menschen, von denen er sagte, sie seien leidenschaftslos; und auch der Psalmist hat sie getadelt mit den Worten: ›Ich wartete auf einen, der mit mir getrauert hätte, aber da war keiner.‹« 165

Damit sind die vier Hauptleidenschaften (gaudium et tristitia, spes et timor) genannt. Vgl. Summa theol., I–II, qu. 25, a. 4. 166 Wobei zunächst an die Kämpfe der Tiere in Freß- und Brunftangelegenheiten gedacht ist: Summa theol., I, qu. 81, a. 2 (mit Berufung auf Aristoteles: Historia animalium, VIII). 167 So löst derselbe Gegenstand ambivalente Gefühle aus, wobei je nach der Bewertung der Lage Zu- oder Abwendung überwiegen (Summa theol., I–II, qu. 23, a. 2). Vgl. De veritate, qu. 26, a. 4. – Zum »System der Leidenschaften« vgl. J. Jacob: Passiones. Ihr Wesen und ihre Anteilnahme an der Vernunft nach dem hl. Thomas von Aquin, Mödling bei Wien 1958, S. 60–76, hier S. 66f., 72f. 168 Summa theol., I–II, qu. 59, a. 4 und 5. 169 De veritate, qu. 26, a. 7 (entstanden 1256–1259). 170 Augustinus: Vom Gottesstaat, XIV, 9 (Übersetzung nach Perl, Thimme). Vgl. Röm 1,31 und Ps 69,21.

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Das zweite Augustinus-Zitat, ebenfalls aus dem Gottesstaat, heißt:171 »Dem Sünder zürnen, damit er sich bessert, um den Bedrängten sich ängstigen, damit er befreit wird, mit dem Gefährdeten fürchten, daß er nicht untergeht: ich weiß nicht, ob jemand bei gesunder Überlegung das tadeln würde. Die Stoiker freilich pflegen auch das Mitleid zu mißbilligen; […] aber weit besser, menschlicher, frommem Empfinden angemessener hat Cicero zum Lob Cäsars gesprochen, wo er sagt: ›Keine deiner Tugenden ist bewunderns-, keine liebenswerter als dein Mitleid.‹« Für die ethische Bewertung kommt es nun darauf an, ob jemand ex passione oder cum passione handelt, d. h. ob die Leidenschaft dem Willensentscheid vorausgeht und ihn in seiner Freiheit beeinträchtigt, oder ob sie ihm nachfolgt und so eine besondere Intensität des Willens anzeigt. Immerhin, die Formulierung »mit Leidenschaft handeln kann [den moralischen Wert oder Unwert einer Tat] steigern«,172 scheint das im Hauptteil des Artikels gewonnene Ergebnis wieder einzuschränken. Eine deutlichere Sprache spricht Summa theol., I–II, qu. 24, a. 3:173 »Wie es also besser ist, daß der Mensch das Gute nicht nur will, sondern es auch durch äußere Handlung vollbringt, so gehört es auch zur Vollkommenheit des sittlich Guten, daß der Mensch nicht nur dem Willen, sondern auch dem sinnlichen Strebevermögen nach zum Guten bewegt wird; gemäß dem Psalmwort 84,3: ›Mein Herz und mein Fleisch jubelten dem lebendigen Gott‹, wobei wir ›Herz‹ vom geistigen, ›Fleisch‹ aber vom sinnlichen Streben verstehen.« Damit ist auch die Frage geklärt, ob es Tugend ohne Leidenschaft überhaupt geben kann. Es kann nicht, denn je vollkommener die Tugend, desto mehr Leidenschaft ruft sie hervor.174 171

A. a. O., IX, 5. – Cicero: »Rede für Quintus Ligarius«, n. 37; in: Drei Reden vor Caesar, Stuttgart 1970/1993, S. 31. 172 De veritate, qu. 26, a. 7 ad 1, Hervorh. von mir. 173 Deutsche Thomas-Ausgabe (DThA), Bd. 10, S. 39f. 174 Summa theol., I–II, qu. 59, a. 5: »Et sic per redundantiam […], quanto virtus fuerit perfectior, tanto magis passionem causat.« Dies gilt nun ausdrücklich von der Gerechtigkeit, die ja die Leidenschaften nicht zum Substrat hat. Vgl. Summa theol., II–II, qu. 58, a. 9 (und ad 1). – Vgl. De veritate, qu. 26, a. 7 ad 2: »[…] motus virtutis, qui consistit in perfecta voluntate, non potest esse sine passione; non quia voluntas ex passione dependeat, sed quia in voluntate perfecta in natura passibili ex necessitate passio sequitur.« Vgl. Sent. III, dist. 23, qu. 1, a. 1 ad 4 (Hinweis bei J. Mausbach – wie Anm. 152 –, S. 71, Anm. 2). Man könnte fragen, wie es bei Thomas mit der Analogizität der Leidenschaften steht – geht er doch von einem engen passio-Begriff aus, der das Ingrediens einer »körperlichen Veränderung« verlangt (Summa theol., I–II, qu. 22, a. 1). Nun, das Bemerkenswerte ist, daß es bei Annahme verschiedener Gefühlsebenen zur Vollkommenheit eines (noch so geistigen) Gefühls gehört, sich auch auf körperlicher Ebene zu äußern. Das stimmt mit der Erfahrung überein: wenn uns jemand auf die Frage »wie geht’s?« zur Antwort gäbe »ich bin glücklich über einen genialen Einfall, der mir soeben gekommen ist«, dabei aber keine Miene verzöge, so erschiene das unglaubwürdig.

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Was Thomas hier – in Auseinandersetzung mit den Stoikern – entwickelt, ist, so könnte man sagen, eine Ethik mit Rücksicht auf die conditio humana. Das klingt nicht aufregend, bedeutet aber in der Geschichte der Philosophie alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Die Stoa hatte versucht, den ethisch vollkommenen Menschen zum Engel oder zum Gott hochzustilisieren – zu einem von allen Regungen der Sinnlichkeit freien Wesen. Thomas weist diese Fehleinschätzung, und sei sie auch mit christlichem Gedankengut untermauert, gelassen zurück:175 »Das Gute wird in jedem Wesen nach den Bedingungen seiner Natur beurteilt. In Gott aber und in den Engeln gibt es kein sinnliches Strebevermögen wie im Menschen. Deshalb ist das gute Tun Gottes und der Engel ganz und gar ohne Leidenschaft, wie es sich auch ohne Leib vollzieht: Das gute Tun des Menschen aber geschieht mit Leidenschaft, wie es sich auch durch den Dienst des Leibes vollzieht.« Besonderes Augenmerk verdient der Umstand, daß die Dienstbarkeit des Leibes gegenüber dem Geist keine Instrumentalisierung bedeutet. Nicht eine »gleichgeschaltete« Sinnlichkeit ist das Optimum, sondern eine, die auf ihre Weise176 sich von der Bewegung des Willens anstecken läßt – sonst könnte Thomas auch nicht immer wieder das schöne Bild der redundantia,177 des Überfließens (man denkt an C. F. Meyers Römischen Brunnen), verwenden. 175

Summa theol., I–II, qu. 59, a. 5 ad 3 (DThA, Bd. 11, S. 199). Vgl. De malo, qu. 12, a. 1. – Entsprechend ungereimt wäre es, wenn ein Esel die conditio suae naturae verlassen und zum Pferd werden wollte: Summa theol., I, qu. 63, a. 3. 176 Summa theol., I–II, qu. 30, a. 1 ad 1. 177 Ebd.; Summa theol., I–II, qu. 59, a. 5; qu. 61, a. 4 ad 1 (zum wechselseitigen Überfließen der Kardinaltugenden ineinander); III, qu. 14, a. 1 obi. 2 und ad 2, qu. 21, a. 2 ad 1, qu. 45, a. 2, qu. 46, a. 6; De veritate, qu. 26, a. 10; De malo, qu. 7, a. 2 ad 17; Compendium theologiae, I, 232. – G. S. Harak S. J. variiert das Wellenbild, indem er »redundantia« mit »Resonanz« übersetzt (Virtuous Passions. The Formation of Christian Character, New York/Mahwah 1993, S. 79f.): eine vollkommene Bewegung des Willens (oder der praktischen Vernunft) versetzt den ganzen Menschen in Schwingung. Ein Beispiel: Ein lange erwarteter Besuch trifft am Bahnhof ein. Wir freuen uns. Theoretisch könnte alles bei einer »rein geistigen« Freude sein Bewenden haben. Aber das stimmt nicht. Wenn die Freude wirklich groß ist, steht sie uns auch ins Gesicht geschrieben und äußert sich in Gesten, etwa in dem Bedürfnis, den anderen zu umarmen. Hören wir Thomas: »[…] intensio gaudii interioris prorumpit in quaedam exteriora signa, et sic est exultatio: dicitur enim exultatio ex hoc quod gaudium interius quodammodo exterius exilit: quae quidem exilitio attenditur vel secundum immutationem vultus, in quo primo apparent affectus indicia, propter propinquitatem eius ad vim imaginativam, et sic est hilaritas; vel secundum quod ex intensione interioris gaudii disponuntur et verba et facta, et sic est iucunditas.« (De veritate, qu. 26, a. 4 ad 5.) Tut das der Höhe des Gefühls Abbruch? Im Gegenteil. »Denn die Glut der Liebe (caritas) […] besteht darin, daß die Zuneigung (dilectio), die im höheren Teil ist, in ihrer Heftigkeit bis zur Veränderung des unteren Teils überströmt.« De veritate, qu. 26, a. 7 ad 7. – Vgl. oben, Anm. 174. Die Metapher scheint von Augustinus (Epistola ad Dioscorum, ep. 118, c. 3; PL 33, col. 439) übernommen, den Thomas in De veritate, qu. 26, a. 8 ad 8 (in der Marietti-Ausgabe, in der Editio Leonina dagegen ad 10), zitiert: »Tam potenti natura Deus fecit animam, ut ex eius plenissima

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Um nun gar keinen Zweifel mehr am sittlichen Wert der Leidenschaften zu lassen, verweist Thomas auf den höchsten Fall dessen, was Menschsein heißen kann: auf Jesus Christus. Im Johannes-Evangelium, wo Jesus der um ihren Bruder trauernden Schwester des Lazarus begegnet, heißt es, er war »im Innersten erregt und erschüttert. […] Da weinte Jesus.« (Joh 11,33 u. 35) Thomas kommentiert:178 »Die Stoiker sagten nämlich, daß kein Weiser betrübt wird. Aber es scheint sehr unmenschlich zu sein, daß jemand sich über den Tod eines anderen nicht betrübt […] Aber der Herr wollte betrübt werden, um dir zu zeigen, daß auch du dich einmal betrüben mußt, was gegen die Stoiker ist.« Das eindrucksvollste Beispiel für den Wert der Sinnlichkeit liefert das Leiden Jesu. In seiner Christologie zeigt Thomas,179 daß der Schmerz Christi – der körperliche wie der seelische – der größtmögliche war; zugleich ist klar, daß Passion nicht Passivität bedeutet. Das Leiden Christi hat erlösende Kraft nicht allein schon deswegen, weil Jesus davon betroffen war, sondern weil er es in seinen freien Willen aufnahm.180 (Das sieht man auch in den Darstellungen der Kreuzigung: Immer ist der leidende Christus der Protagonist, und nicht die Kreuziger.) – Zusammenfassend läßt sich die Verbindung von habitus und Leidenschaft so bestimmen:181 In einer Perspektive von unten nach oben sind die Leidenschaften des appetitus concupiscibilis und irascibilis als materielle Grundlage (»materia circa quam«) konstitutiv für habitus bzw. Tugend (nämlich temperantia und fortitudo); in einer Perspektive von oben nach unten finden die Akte aller Tugenden (also auch der iustitia und prudentia) ihren Widerhall (»effectus«) in der Sinnlichkeit. Das beatitudine […], redundet in inferiorem naturam, quod est corpus, […] plenitudo sanitatis et incorruptionis vigor.« – Anknüpfen ließe sich hier an die Resonanz-Forschungen von F. Cramer: »Kontinuität, Eigenzeit und Resonanz: Zur physischen und personalen Wechselwirkung«, in: R. Schenk (Hrsg,): Kontinuität der Person. Zum Versprechen und Vertrauen, Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, S. 123–140, hier S. 132f.: »Resonanz ermöglicht Ganzheit. Das ist kein Spezialfall der Musik oder Akustik, es gilt für alle schwingenden Systeme: Atome, Moleküle, Organe, Organismen, Personen (per-sonare!), Gesellschaften. […] Resonanz ist […] der Mechanismus, um Ganzheit herzustellen […]« (Hervorh. im Orig.) Vgl. F. Cramer: Symphonie des Lebendigen. Versuch einer allgemeinen Resonanztheorie, Frankfurt a. M. 1996. 178 Lectura super evangelium S. Ioannis, Marietti-Ausgabe, Nr. 1535 (es handelt sich um die ca. 1270–1272 entstandene Reportatio, nicht um die Catena aurea); zit. nach R. Schenk: Die Gnade vollendeter Endlichkeit, Freiburg i. Br. 1989, S. 500. 179 Summa theol., III, qu. 46, a. 6. 180 Daß »das Leiden eines Menschen […] das Werk seines moralischen Charakters«, eine »Willenshandlung« sein kann, hat Schiller als Kennzeichen des »Erhabenen der Handlung« festgehalten. Friedrich Schiller: Über das Pathetische, in: Sämtliche Werke, hrsg. von G. Fricke und H. G. Göpfert, 5. Bd., 9. Aufl. Darmstadt 1993, S. 527f. 181 Summa theol., I–II, qu. 60, a. 2. Die »materia circa quam« der Gerechtigkeit und der Klugheit sind nicht die Leidenschaften, sondern die Handlungen. – Vgl. Nik. Ethik, II, 5 (1106 b 16f., 24f.), 6 (1107 a 4f.).

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berühmte Axiom über die Rolle der Sinnlichkeit für die Erkenntnis abwandelnd, könnte man sagen: Nihil est in virtute, quod non fuerit in passionibus, vel quod non redundet in passiones. Beherrschte (nicht beherrschende) Sinnlichkeit ist die ideale Erscheinungsform menschlichen Verhaltens, so daß von »tugendhafter Leidenschaft« gesprochen werden kann.182 Thomas hat selbst ein – sicher unfreiwilliges – Beispiel geliefert dafür, wie »die Bewegung der Tugend von der Vernunft ausgeht und im Strebevermögen (in appetitu) endigt, insofern es von der Vernunft bewegt wird«:183 Es wird erzählt, Ludwig IX., der König von Frankreich, habe den berühmten Dominikaner einmal eingeladen. Der war aber so mit seinen Gedanken beschäftigt, daß er, als ihm ein schlagendes Argument einfiel, ganz vergaß, wo er war, mit der Faust auf den Tisch donnerte, daß die Gläser wackelten, und rief »Das muß die Manichäer erledigen!«184 Der sich im Faustschlag entladende Geistesblitz manifestiert die »redundantia«, das Überströmen, von dem oben die Rede war, und zeigt die anthropologische Einheit, deren Bedeutung späterer Theologie und Philosophie abhanden kommen sollte.185

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Vgl. Virtuous Passions von G. S. Harak (s. Anm. 177); M.-D. Chenu: »Les passions vertueuses«, Revue philosophique de Louvain, 72 (1974), S. 11–18. 183 Summa theol., I–II, qu. 59, a. 1 (vgl. DThA, Bd. 11, S. 185). Beim tugendhaften Menschen löst die Vernunft eine Bewegung des sinnlichen Strebevermögens (= passio) aus. 184 In Chestertons Thomas-Buch ist der Anekdote ein eigenes Kapitel gewidmet: »Ein Faustschlag auf den Tisch«, in: G. K. Chesterton: Thomas von Aquin, Heidelberg 21957, S. 105–133, hier S. 109. Als Quelle gibt S. Vanni Rovighi (Introduzione a Tommaso D’Aquino, Roma / Bari 51992, S. 38f., Anm. 82) die Hystoria beati Thomae, Kap. 44, des Wilhelm von Tocco an. 185 Vgl. etwa die Position von Suarez (s. Pfürtner, wie Anm. 164, S. 263–271, hier S. 264): »[…] so liegt die Aufgabe des ›Habitus‹ innerhalb der sinnlichen Strebekräfte für Suarez genau in entgegengesetzter Richtung. Die Hilfeleistung des sinnlichen ›Habitus‹ für das Tugendleben besteht nach seiner Auffassung wesentlich darin, daß er die sinnlichen Emotionskräfte [= appetitus sensitivus, P.N.] ›dazu geneigt macht, nicht zu begehren‹. […] die positive Wirkung dieses Gehabens bestehe eben darin, daß der sinnliche Appetitus ›nicht nur von seinem Akt abläßt, sondern auch positiv auf seine Weise nicht will, oder den sinnlichen Objekten widerspricht‹. Es ist geradezu frappant, Suarez hier fast mit den gleichen Worten in diametralem Gegensatz zur Ansicht des hl. Thomas zu hören. Denn dieser sagt zu derselben Frage: ›Es ist offenkundig, daß die moralischen Tugenden, die sich um die sinnlichen Emotionen [= passiones, P.N.] als um die ihnen eigentümliche Materie bemühen, ohne diese Emotionen nicht sein können. Im anderen Falle würde die moralische Tugend […] bewirken, daß die sinnliche Strebeanlage überhaupt überflüssig werde. Es kommt der Tugend aber nicht zu, daß jene Bereiche, die der Vernunft untergeordnet sind, von eigenen Akten ablassen, sondern daß sie, die eigenen Akte vollziehend, den Befehl der Vernunft ausführen.‹« (Hervorh. im Orig.) Zit. wurden F. Suarez: De actibus humanis in genere, tract. IV, disp. 3, sect. 7, nr. 9 (Opera Omnia, Bd. IV, Paris 1856, S. 493); Thomas von Aquin: Summa theol., I–II, qu. 59, a. 5.

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3. Habitus und Qualität Im Ausgang von den Leidenschaften wird verständlich, inwiefern die habitus als »qualitates inclinantes«, als »Qualitäten mit Neigungscharakter« aufzufassen sind.186 Der habitus (hexis) ist die erste unter vier von Aristoteles unterschiedenen Arten der Qualität; er steht neben der dispositio (diathesis), der Ausrichtung.187 Aristoteles, seine griechischen und arabischen Kommentatoren sowie der frühe Thomas selbst sehen dispositio und habitus nur dadurch voneinander abgegrenzt, daß der letztere »von längerer Dauer und bleibender«188 sein soll. Eine fest im Subjekt verwurzelte Disposition würde demnach zum habitus, ein sich lockernder habitus wieder zur Disposition. In der Summa theologiae189 tut Thomas vorsichtig einen Schritt über die Tradition hinaus: der Unterschied zwischen beiden Begriffen läßt sich genauer bestimmen, wenn man das »von längerer Dauer und bleibender« nicht auf die subjektive Aneignung einer Qualität bezieht, die ja über die Eigenschaft als solche gar nichts aussagt – jemand kann an einer Meinung beharrlicher festhalten als an einem wissenschaftlichen Beweis, der ihm noch nicht ganz klar ist. An sich aber ist das Wissen stabiler als Meinung und Vorurteil. Es gibt also einen inneren Grund für die Unterscheidung von habitus und dispositio, der sich für Thomas’ Verständnis der Tugenden noch als bedeutsam erweisen wird. Von Qualität kann nun in zweifachem Sinn die Rede sein: einmal von Qualität als substantieller, einmal als akzidenteller Differenz.190 Wir kennen bisher nur den zweiten Fall: Die habitus der verschiedenen Tugenden sitzen in verschiedenen Seelenteilen, sie vervollkommnen die Fähigkeiten des Menschen auf verschiedenen Ebenen und disponieren zu entsprechendem Handeln; sie sind nur indirekt Bestimmungen der Seele selbst. Substantielle Qualitäten kommen in Aristoteles’ Kategorien nicht, wohl aber in der Metaphysik vor – da die habitus-Lehre bei Thomas aber gerade unter diesem

186

Summa theol., I–II, qu. 50, a. 5 ad 1. Summa theol., I–II, qu. 49, a. 2.; vgl. Aristoteles: Kategorien, c. 8 (8 b 26f.). 188 Aristoteles: Kategorien, c. 8 ( 8 b 27f.), übers. von E. Rolfes, Hamburg 1974, S. 63. – Ausführliche Belege bei J.-M. Ramírez O. P.: »Doctrina sancti Thomae Aquinatis de distinctione inter habitum et dispositionem«, in: Festschrift Gredt, Rom 1938 (= Studia Anselmiana 7–8), S. 121–142; vgl. auch den Kommentar von A. F. Utz, in: DThA, Bd. 11, S. 465–474; P. de Roton (wie Anm. 155), S. 35–43. 189 Summa theol., I–II, qu. 49, a. 2 ad 3. 190 Vgl. B. Turiel: El hábito-cualidad, Madrid 1961, S. 35 f., 38; H. Meyer: Thomas von Aquin. Sein System und seine geschichtliche Stellung, Paderborn 21961, S. 153. 187

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Aspekt konzipiert ist, hat es einen doppelt guten Sinn, ihr ein »ganz und gar metaphysisches Gepräge«191 zu bescheinigen. »Eine Art der Qualität ist die, wonach die Qualität ›Unterschied der Substanz‹ genannt wird, d. h. die Differenz, wodurch etwas sich von etwas anderem substantiell unterscheidet und die in die Definition der Substanz eingeht. […] Diese Art der Qualität nun hat Aristoteles in den Kategorien ausgelassen […]«192 Beispiel für die Prädikation einer solchen substantiellen Qualität wäre wohl die Aussage »der Mensch ist vernunftbegabt«;193 wobei darauf zu achten ist, daß hier nicht der Mensch auf seine ratio verkürzt, sondern eher umgekehrt die ratio auf den ganzen Menschen ausgedehnt wird – nimmt doch auch der Wille (den Thomas, differenzierend, einerseits als »rationalis per essentiam«, andererseits als »rationalis per participationem« betrachtet), ja nehmen sogar die Kräfte des appetitus sensitivus an der Vernunft teil (im Unterschied zu den Seelenvermögen von Stoffwechsel und Ortsbewegung).194 Kann es nun einen habitus im Sinn einer substantiellen Qualität geben? Wenn ja, müßte er seinen Sitz nicht, wie die Tugenden, in einem der verschiedenen Seelenvermögen (potentiae), sondern im Wesen (essentia) der Seele selbst haben.

4. Habitus und Gnade Hier tut Thomas einen zweiten Schritt über Aristoteles hinaus. Die bereits eingeführte Unterscheidung von habitus als Hinordnung auf die Natur einer Sache (d. h., der Seele oder eines Seelenvermögens) und habitus als Hinordnung auf eine Tätigkeit liest sich zunächst so, als sei die Tugend, die ja ausdrücklich als »habitus operativus«195 bezeichnet wird, beiläufig auch als Voll-

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A. F. Utz im Kommentar zu DThA, Bd. 11, S. 520. – Zur Metaphysik des habitus ohne Rekurs auf die qualitas substantialis s. u., Anm. 229, 232. 192 Thomas von Aquin: In XII libros Metaphysicorum Aristotelis expositio, lib. V, lectio 16, nr. 987f. (Marietti). »[…] unus modus qualitatis est secundum quod qualitas dicitur ›differentia substantiae‹, idest differentia, per quam aliquid ab altero substantialiter differt, quae intrat in definitionem substantiae. […] Hunc autem modum Aristoteles in Praedicamentis praetermisit […]« Vgl. Metaphysik, V, 14 (1020 a 33, b 2). 193 Vgl. Thomas von Aquin: In VIII libros Physicorum Aristoteles expositio, lib. III, lectio 5, nr. 322 (Marietti), ed. Maggiòlo, Turin 1965, S. 159 a: »[…] praedicatio […] pertinet ad praedicamentum substantiae, utpote si dicamus quod homo est rationalis […]« – Als »qualitas substantialis« des Feuers z. B. bezeichnet Boethius die Wärme; ohne diese könnte jenes nicht sein (Boethius: In categorias Aristotelis, l. I, PL 64, col. 192 C). Im Fall warmen Wassers dagegen ist die Wärme nur akzidentelle Qualität (ebd., col. 192 B). 194 Vgl. Graf (wie Anm. 164), Bd. 2, S. 10f., sowie oben, Anm. 160. 195 Summa theol., I–II, qu. 55, a. 2.

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endung der menschlichen Natur, nämlich des sie tragenden Seelenteils, zu begreifen.196 Gibt es aber auch habitus, die nur dem Sein, nicht dem Tätigsein gelten? In Summa theol., I–II, qu. 50, a. 1 werden Gesundheit und Schönheit erwähnt – das sind aber keine Eigenschaften, die das Wesen der Seele qualifizieren. Auf sie ist es im nächsten Artikel der Summa abgesehen, mit der Frage, »ob die habitus in der Seele mehr dem Wesen (essentia) oder mehr dem Vermögen (potentia) nach sind«.197 Nun gibt es keinen habitus im Wesen der Seele selbst, soweit wir von der menschlichen Natur als solcher reden. Es gehört aber zum Menschen, daß er an einer höheren Natur teilhaben kann. Gemeint ist die göttliche Natur, wie der zweite Petrusbrief belegt.198 Und so, heißt es weiter, »steht nichts im Wege, daß es in der Natur der Seele, ihrem Wesen nach, einen habitus gibt, nämlich die Gnade«.199 Ausgewertet wird das erst drei Bände (in der Deutschen Thomas-Ausgabe) später, in der Betrachtung des »äußeren Prinzips der menschlichen Akte, nämlich Gottes, insoweit wir von ihm Hilfe erfahren zum rechten Handeln«200 – in der Gnadenlehre (Summa theol., I–II, qu. 110). Diese Perspektive droht den aristotelischen Begriffsrahmen zu sprengen. Einerseits bleibt die Gnade zwar »im Rahmen«, wenn gesagt wird, sie sei »eine akzidentelle Form der Seele«.201 Doch andererseits wird ein völlig unvorhergesehener Inhalt in ihn gelegt, denn alle sonstigen Akzidenzien (mithin auch habitus) der Seele zielen auf ein Tun, nicht auf ein Sein.202 Auch Formulierungen wie »durch die Natur der Seele hat der Mensch […] teil an der göttlichen Natur, auf Grund einer gewis196

Summa theol., I–II, qu. 49, a. 3; vgl. oben, Anm. 155. Summa theol., I–II, qu. 50, a. 2. 198 » […] ut simus consortes divinae naturae«, 2 Petr 1,4; Summa theol., I–II, qu. 50, a. 2. 199 »[…] sic nihil prohibet in natura animae secundum suam essentiam esse aliquem habitum, scilicet gratiam […]« Ebd. 200 »Consequenter considerandum est de exteriori principio humanorum actuum, scilicet de Deo, prout ab ipso per gratiam adiuvamur ad recte agendum.« Der Prolog von Summa theol., I–II, qu. 109 (DThA, Bd. 14, S. 69) bildet das Gegenstück zum Prolog von I–II, qu. 49 (DThA, Bd. 11, S. 3): »Post actus et passiones, considerandum est de principiis humanorum actuum. Et primo, de principiis intrinsecis; secundo, de principiis extrinsecis. Principium intrinsecum est potentia et habitus; sed quia de potentiis in Prima Parte dictum est, nunc restat de habitibus considerandum.« Habitus- und Gnadenlehre sind also aufeinander bezogen, wobei die Einteilung in äußere und innere Prinzipien des Handelns nicht mißverstanden werden darf: Die Pointe der Gnadenlehre ist ja gerade, daß die Form, die Gott zu unsrer Vervollkommnung in uns hineinlegt, zwar von außen kommt, aber nicht äußerlich bleibt: Wir sind es, die durch Gottes Hilfe gut handeln. 201 »forma accidentalis ipsius animae«, Summa theol., I–II, qu. 110, a. 2 ad 2. 202 »[…] gratia est in prima specie qualitatis, quamvis non poprie possit dici habitus, quia non immediate ordinatur ad actum, sed ad quoddam esse spirituale quod in anima facit […] Nihil tamen simile gratiae in accidentibus animae quae Philosophi sciverunt, invenitur […]« De veritate, qu. 27, a. 2 ad 7. Daß ein habitus unmittelbar auf die Handlung ausgerichtet sein müsse, hat Thomas in Summa theol., I–II, qu. 49, ausdrücklich revidiert: s. o., Anm. 155. 197

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sen Wiedergeburt oder Neuschöpfung«203 gehören eher ins substantielle als ins akzidentelle Register. Daß die habitus-Lehre hier, an ihrer obersten Spitze, ihre philosophischen Voraussetzungen verläßt, ist kein Zufall: am göttlichen Sein scheitert die Möglichkeit der Unterscheidung von Substanz und Akzidens.204 Nun können wir die kunstvoll gestuften habitus-Arten im Zusammenhang betrachten. Da gibt es die habitus des Körpers: Gesundheit und Schönheit – dann die Tugenden – dann die Gnade. Die Tugenden sind dreifach geschichtet: erworbene moralische Tugenden (die vier Kardinaltugenden), eingegossene moralische Tugenden, (ebenfalls eingegossene, d. h. nicht durch eigenes Zutun erwerbbare) göttliche Tugenden (Glaube, Hoffnung, Liebe).205 Warum eingegossene moralische Tugenden? Sie scheinen das schwächste Glied der ganzen Kette; ihre Notwendigkeit wurde nicht nur von Duns Scotus scharf kritisiert,206 auch die Schüler des hl. Thomas hatten ihre Schwierigkeiten damit.207 203

»[…] per naturam animae [homo] participat […] naturam divinam, per quamdam regenerationem sive recreationem.« Summa theol., I–II, qu. 110, a. 4. (Hervorh. von mir.) Im Sentenzenkommentar sagt Thomas von der Gnade, »daß sie das Wesen der Seele zu einem göttlichen Sein erhebe« (»ut ipsam essentiam animae in quoddam divinum esse elevet«; Sent. II, dist. 26, qu. 1, a. 3; Hinweis bei J. Auer: Die Entwicklung der Gnadenlehre in der Hochscholastik, Bd. 1, Freiburg 1942, S. 152, Anm. 63). Diese »Aufhebung« bedeutet (falls man sich hier an den Esel erinnert fühlt, für den es sinnlos wäre, ein Pferd sein zu wollen; vgl. Anm. 175) aber keine Vernichtung der ursprünglichen Natur, denn: »gratia non tollit naturam, sed perficit eam« (zu diesem Axiom vgl. den Artikel von A. Raffelt in: Lexikon für Theologie und Kirche, Freiburg u. a. 31993ff., Bd. 4, Sp. 986–988). – Treffend spricht Sylvester von Ferrara (im Kommentar zu Summa contra gentiles, III, 150) von »habitus ad essendum« (Hinweis bei P. de Roton – wie Anm. 155 –, S. 157, Anm. 2). Sylvester von Ferrara schließt sich hier an Thomas’ Argumentation im Sentenzenkommentar an, wo es geheißen hatte (Sent. II, dist. 26, qu. 1, a. 2): »[…] oportet quod gratia sit forma animae; et cum adveniat post esse completum, de necessitate erit accidens: non enim invenitur aliqua forma in genere substantiae quae alteri accidentaliter adveniat.« Die Gnade muß also als Form (für »forma« kann bei Thomas auch »natura« oder »essentia« stehen) der Seele gedacht werden, da sie aber der Seele zukommt, wenn diese schon fertig ist, muß sie akzidentelle Form sein. Hier wird die Spannung zwischen Ontologie und Psychologie deutlich. Soll man auf die Frage, ob die Gnade für den Menschen wesentlich sei, mit »nein« antworten? 204 Summa theol., I, qu. 3, a. 6; qu. 14, a. 4; qu. 19, a. 1. 205 Wir übergehen die Gaben (dona) des Heiligen Geistes, die Thomas ebenfalls zu den habitus zählt (Summa theol., I–II, qu. 68, a. 3). 206 Duns Scotus: »Licet de istis virtutibus multa dicantur, scilicet quod videntur necessariae propter modum vel medium vel finem, […] non videtur necessitas ponendi alias virtutes morales infusas quam acquisitas […]« Zit. bei O. Lottin: »Les vertus morales infuses au début du XIVe siècle«, in ders.: Psychologie et morale aux XII e et XIII e siècles, 6 Bde., Gembloux 1942–1960, Bd. 4, S. 737–807, hier S. 740. Lottin zitiert aus dem Codex Assisi Comm. 137, f. 179rb; vgl. Duns Scotus: Ordinatio (Opus Oxoniense): In libros IV Sententiarum, III Sent., dist. 36, qu. unica (ed. Wadding, Bd. VII/2, S. 838, n. 28). 207 Kopfzerbrechen bereitet vor allem die These, den klassischen göttlichen Tugenden (Glaube, Hoffnung, Liebe) müßten »alii habitus divinitus causati in nobis« (nämlich eingegossene moralische Tugenden) entsprechen, die sich zu den theologischen Tugenden verhielten wie die mora-

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Seltsamerweise sind sie für ihn geradezu der Prototyp der Tugend.208 Hier ist nun der Ort, auf die von Thomas entwickelte Unterscheidung von habitus und dispositio noch einmal zurückzukommen. Habitus soll eine Qualität dann heißen, wenn sie auf Grund unveränderlicher, objektiver Ursachen beständig ist.209 Solche »causae immobiles« (sei es als Wirk-, sei es als Zielursache) kommen im Bereich der moralischen Tugend nicht vor – weder die Selbstbeherrschung und die Tapferkeit, die Ordnung im individuellen Gefühlsleben schaffen, noch die Gerechtigkeit, die die sozialen Beziehungen, noch die Klugheit, die das menschliche Leben im ganzen regelt –, keiner dieser habitus kann überzeitliche Beständigkeit beanspruchen. Erst wenn sie »auf das letzte übernatürliche Ziel« gerichtet sind, erreichen sie die qualitative Höchstform des habitus; doch diese Ausrichtung kann nicht durch menschliches Tun, sondern nur durch göttliche Eingießung bewirkt werden.210 Diese Auskunft befremdet. Moralische Tugend soll erst dann ganz sie selbst sein, wenn sie zugleich über-moralisch ist. – Man kann Thomas’ Gedanken besser nachvollziehen, wenn man sich auf die Lehre von der »connexio virtutum« besinnt;211 in lischen Tugenden zu ihren natürlichen Prinzipien (Summa theol., I–II, qu. 63, a. 3). Hierzu Johannes Quidort (zit. bei O. Lottin, a. a. O., S. 803): »non intelligo quod virtutes theologicae dicantur vel possint dici seminaria virtutum moralium.« Den ganzen Text (»Utrum praeter virtutes morales acquisitas et theologicas insint nobis aliquae virtutes infusae«) bringt Lottin in Bd. 3, S. 474–476 (hier S. 474, Z. 23f.). – Es gibt nämlich eine natürliche Anlage zur Tugend (vgl. Thomas von Aquin, a. a. O., qu. 63, a. 1 und a. 2 ad 3; qu. 51, a. 1), die rangmäßig höher steht als das aus ihr Entwickelte – wie die Intuition philosophischer Prinzipien höher steht als das, was sich diskursiv daraus folgern läßt (qu. 63, a. 2 ad 3). Warum aber zwei Ursachen für die moralische Tugend, eine natürliche, eine übernatürliche? Hiergegen steht der Einwand: »Natura non facit per duo, quod potest facere per unum: et multo minus Deus.« Qu. 63, a. 3, obi. 3. – Doch aus der übernatürlichen Ursache folgt eben etwas anderes als eine rein natürliche Tugend, wie in einem eigenen Artikel (qu. 63, a. 4) gezeigt wird. 208 Summa theol., I–II, qu. 65, a. 2: »Patet igitur ex dictis quod solae virtutes infusae (aus dem Zusammenhang geht hervor, daß an die virtutes morales gedacht ist) sunt perfectae, et solae (andere Lesart: simpliciter) dicendae virtutes […] Aliae vero virtutes, scilicet acquisitae, sunt secundum quid virtutes, non autem simpliciter […]« Vgl. Summa theol., II–II, qu. 161, a. 5 ad 2: »Virtutes autem verae infunduntur a Deo.« 209 »[…] habitus […] dicuntur illae qualitates quae secundum suam rationem […] habent causas immobiles«, Summa theol., I–II, qu. 49, a. 2 ad 3. – »Objektive« Ursachen, weil die Akte, die den habitus hervorbringen, ein beständiges Objekt haben: vgl. oben, Anm. 189. 210 Ebd., qu. 65, a. 2 (DThA, Bd. 11, S. 293). Vgl. E. Schockenhoff, a. a. O., S. 227: »Die Herkunft aus dem zum Wesen eines ›habitus‹ gehörenden ontologischen Ursprung macht den ›habitus infusus‹ dabei zum heuristischen Grundmodell, an dem sich ursprünglich ablesen läßt, was ein ›habitus‹ in der vollen Bedeutung des Begriffes ist.« – Nebenbei ergibt sich, daß, in Ermangelung einer dauerhaften Basis, die Laster strenggenommen keine habitus sind (Schockenhoff, ebd., S. 232f.; P. de Roton – wie Anm. 155 –, S. 44–46). 211 Summa theol., I–II, qu. 65. Zum folgenden vgl. Y. R. Simon: The Definition of Moral Virtue, hrsg. von V. Kuic, New York 1986, Kap. 6, bes. S. 128.

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ihrem Zusammenhang wird er auch hier entwickelt. Keine Tugend ist nämlich ganz sie selbst, wenn sie nur sie selbst ist. Wer hält sich an die sozialen Spielregeln, wenn er ein Drogenproblem hat? (Scholastisch gesprochen: wer verfügt über die Tugend der iustitia, wenn ihm die temperantia fehlt?) Und wie sollte Selbstbeherrschung den Namen einer Tugend verdienen, wenn sie als Selbstzweck kultiviert würde, ohne sich in den Dienst der nächsthöheren zu stellen? Im organisch-hierarchischen Kosmos des Mittelalters kann es nicht ausbleiben, daß alles, was seine Seinsstufe vollständig ausfüllt, zugleich die nächsthöhere berührt.212 So haben die irrationalen Bereiche der Seele teil an der Vernunft – und werden durch dieses Über-sich-hinausSein erst wahrhaft sie selbst (so wie es übrigens für den Fuchs kein Identitätsverlust ist, wenn er den Kleinen Prinzen bittet »zähme mich!«); und so schlingt sich, alle Seelenteile verbindend, eine »goldene Kette« von den untersten zu den obersten Tugenden. Hier bietet sich die Gelegenheit, auf die Sonderstellung eines habitus aufmerksam zu machen, dem sozusagen die erste connexio virtutum (von der zweiten wird gleich die Rede sein) anvertraut ist: der prudentia. Sie steht selbstverständlich im Schema der vier Kardinaltugenden, sie führt diese sogar an, denn ohne Klugheit gäbe es die anderen nicht und umgekehrt.213 Andererseits scheint sie in die Reihe der moralischen Tugenden gar nicht zu passen, denn diese haben ja ihren Sitz im Strebevermögen,214 die Klugheit gehört aber zu den kognitiven Fähigkeiten. Zunächst sieht es vielleicht so aus, als werde hier eine Unstimmigkeit vertuscht: Wäre es nicht folgerichtig, Klugheit und moralische Tugenden sauber auseinanderzuhalten und die liebgewordene Zusammenstellung der vier Kardinaltugenden215 fallenzulassen? Ist es nicht eine Scheinlösung, wenn Thomas an einer Stelle sagt, die prudentia sei »in gewisser Weise ein Mittelding zwischen den intellektuellen und den moralischen Tugenden«?216 Aber hier ist eben fast alles »in gewisser Weise ein Mittelding«, nur so kann nämlich das Niedrigere am Höheren teilhaben. Denn die intellektuellen Tugenden (die

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Das ist die von Thomas oft herangezogene Lehre des Dionysius Areopagita (De divinis nominibus, c. 7, §3), z. B. De veritate, qu. 16, a. 1: »naturae enim ordinatae ad invicem sic se habent ut corpora contiguata, quorum inferius in sui supremo tangit superius in sui infimo: unde et inferior natura attingit in sui supremo ad aliquid quod est proprium superioris naturae, imperfecte illud participans.« Vgl. Summa contra gentiles, II, 91; Summa theol., I, qu.78, a. 2. 213 Summa theol., I–II, qu. 58, a. 4 und 5. Vgl. Aristoteles: Nik. Ethik, VI, 13. 214 Summa theol., I–II, qu. 58, a. 1. 215 Ebd., qu. 61, a. 1 werden die Kardinaltugenden ausdrücklich mit den sittlichen Tugenden gleichgesetzt. 216 »prudentia secundum essentiam suam intellectualis est, sed habet materiam moralem; et ideo quandoque cum moralibus numeratur, quodammodo media existens inter intellectuales et morales.« De virtutibus in communi, a. 12 ad 14.

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wir bisher ausgespart haben) stehen über den moralischen, und durch die Vermittlung der Klugheit finden diese zu einer höheren Synthese.217 Nun zur zweiten connexio virtutum. Sie ist nur nachvollziehbar aus einer Bewegung von oben nach unten. Wer die Liebe hat, hat auch Glauben und Hoffnung und die ganzen moralischen Tugenden; wer hingegen die letzteren hat, kann dabei stehenbleiben, nichts führt notwendig von der Klugheit (oder der Gerechtigkeit, etc.) zur Liebe. Nun zeigt sich die alte Formel »caritas forma virtutum«218 in aristotelischer Interpretation: ihre vollendete Gestalt, ihre Spezifikation erwächst den sittlichen Tugenden erst durch die Ausrichtung auf das letzte Ziel – das ungeschaffene Gut.219 Auch die beiden connexiones virtutum sind vermittelt; denn was taugte die Klugheit, die das letzte Ziel nicht kennte? Diese Klugheit aber kann nur eingegossen, d. h. mit der Liebe verbunden sein.220 Es gibt also keine notwendige Verbindung von unten (den virtutes morales acquisitae) nach oben, wohl aber umgekehrt:221 »Infunditur igitur divinitus homini ad peragandas actiones ordinatas in finem vitae aeternae primo quidem gratia, per quam habet anima quoddam spirituale esse, et deinde fides, spes et caritas […] Et sicut […] requiruntur habitus virtutum ad perfectionem hominis secundum modum sibi connaturalem […], ita ex divina influentia consequitur homo, praeter praemissa supernaturalia principia, aliquas virtutes infusas, quibus perficitur ad operationes ordinandas in finem vitae aeternae.« Und der Einfluß von oben reicht bis in die Potenzen des unteren Seelenteils: die fortitudo infusa und die temperantia infusa sitzen im appetitus sensibilis.222 Nun erst ist ein menschliches Kontinuum geschaffen. Das versteht sich keineswegs von selbst. Was die Gnade im Menschen bewirkt, könnte ja nur den oberen Seelenteil etwas angehen und den unteren unberührt lassen – der spanische Quietistenführer Miguel de Molinos hat im 17. Jahrhundert diese These vertreten.223 Liest man die Lehre von den »virtutes morales infusae« 217

»virtutes morales connectuntur sibi invicem in prudentia«, Summa theol., I–II, qu. 68, a. 5. Fast möchte man sagen: Sie werden in der – oder besser: in die – Klugheit aufgehoben. – Zum Vorrang der virtutes intellectuales vgl. ebd., qu. 66, a. 3. 218 Im Mittelalter dem hl. Ambrosius (Summa theol., II–II, qu. 23, a. 8, sed contra), heute dem »Ambrosiaster« zugeschrieben, jedenfalls aus dem 4. Jahrhundert. 219 De caritate (= De virtutibus, qu. 2), a. 3. 220 Summa theol., I–II, qu. 65, a. 2. Bildlich könnte man sagen: Die prudentia acquisita sieht nur mit einem Auge, die prudentia infusa – durch Intervention der Liebe – mit zwei. 221 De virtutibus in communi, a. 10. 222 Ebd., ad 11. Überraschenderweise steht hier »temperantia infusa est in irascibili« (man erwartet »in concupiscibili« – vielleicht sollte es »in irrationali« heißen). – Vgl. P. de Roton (wie Anm. 155), S. 153; Th. Graf (wie Anm. 164), S. 118. 223 Vgl. Denzinger-Schönmetzer, Nr. 2241–2252. – Es liegt nahe, daß es sich hier um un-

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aber im Licht des Axioms »gratia perficit naturam«, so erscheint es nahezu zwingend, daß der Aufbau der menschlichen Natur von unten und ihre Vollendung von oben sich aufeinander zu- und nicht aneinander vorbeibewegen. Es soll aber nicht verschwiegen werden, daß diese theologisch gestiftete Harmonie den aristotelischen habitus-Begriff entscheidend erweitert hat: einmal, weil die »objektive« Stabilität des habitus (im Unterschied zur lediglich subjektiven Stabilität der dispositio) nur durch göttliche Eingießung zustandekommt; zum anderen, weil die durch den habitus »primo et per se«224 intendierte Vervollkommnung unserer Natur (im Unterschied zur Vervollkommnung unserer Handlungen) nur im »habitus entitativus«225 der Gnade voll verwirklicht wird. Doch das ist kein Zufall (zu Recht sieht Schockenhoff hier den »verborgenen Schlüssel zum Verständnis der Thomas in seinem ganzen Traktat leitenden Motive«226); und am Ende ist es vielleicht gar nicht so unaristotelisch. Hatte doch Thomas ausdrücklich Schönheit und Gesundheit als habitus anerkannt227 – im aristotelischen Rahmen die einzigen, die das Sein, nicht das Tun qualifizieren. Nun taucht an der Spitze der habitus-Pyramide wieder die Schönheit auf: »gratia est nitor animae.«228

5. Der habitus als Mittleres In mehrfacher Hinsicht nimmt der habitus eine vermittelnde Stellung ein: zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit,229 zwischen Sinnlichkeit (passiones) und Vernunft, zwischen Passivität und Aktivität, zwischen Äußerem und Innerem, zwischen Tun und Sein, zwischen Akzidens und Substanz, zwischen Natur und Gnade, zwischen zulässige Übertragungen christologischer Befunde in die allgemeine Anthropologie handelt: Für Christus (und nur für ihn) gilt nämlich, daß er »simul viator et comprehensor« war (Summa theol., III, qu. 15, a. 10). Entsprechend ist in seinem Fall die sonst übliche »redundantia« (vgl. Anm. 174, 177) aufgehoben (ebd., qu. 14, a. 1 ad 2; qu. 45, a. 2; qu. 46, a. 6, c. und ad 2; a.8, c. und ad 2; De veritate, qu. 26, a. 10, c. und ad 2, ad 11). 224 Summa theol., I–II, qu. 49, a. 3. Hier ist mit »Natur« vor allem die »natura […] potentiae« (die ihrerseits tätigkeitsbezogen ist) gemeint; in qu. 50, a. 2, geht es um die Ausrichtung auf die »natura animae secundum suam essentiam«. 225 Der Ausdruck findet sich bei Thomas nicht, er taucht (spätestens) bei Suarez auf; vgl. W. Ernst: Die Tugendlehre des Franz Suarez, Leipzig 1964, S. 22, 29. 226 E. Schockenhoff, a. a. O., S. 216. 227 Summa theol., I–II, qu. 50, a. 1. Alexander von Aphrodisias wollte dagegen von körperlichen habitus nichts wissen. – Thomas beruft sich gegen Alexander auf Physik, VII, 3 (246 b 4 [Gesundheit], 7f. [Schönheit]). 228 Summa theol., I–II, qu. 110, a. 2, sed contra. Thomas zitiert die Glosse (hier: Augustinus, PL 37, col. 1369 D) zu Psalm 104,15. 229 Summa contra gentiles, I, 92: »Habitus imperfectus actus est, quasi medius inter potentiam et actum«; Summa theol., I, qu. 87, a. 2: »habitus quodammodo est medium inter potentiam

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Zeit und Ewigkeit. Das Mittelalter sucht stets nach solchen Vermittlungen, die den Abstand zweier Extreme durch Stufen (also nicht dialektisch) überbrücken. So steht der Engel zwischen Mensch und Gott, das aevum zwischen Zeit und Ewigkeit,230 das Erkenntnisbild (species)231 zwischen dem Subjekt und dem Objekt einer Erkenntnis, usw. Der habitus ist sowohl Potenz als auch Akt, wie Thomas bei der Auslegung von Über die Seele (De anima; II, 5) hervorhebt: Während man jeden Menschen (also auch den Ungebildeten oder den Säugling) potentiell einen Grammatiker und jeden, der sich in einem bestimmten Zeitpunkt mit der Grammatik befaßt, aktuell einen Grammatiker nennen kann, so nimmt der, der sich den habitus dieser Wissenschaft (das Beispiel hätte natürlich auch aus der Ethik genommen werden können) angeeignet hat, ihn aber momentan nicht zum Einsatz bringt, eine Zwischenstellung ein: Der erste nämlich ist »in potentia tantum«, der zweite »in actu tantum«, der dritte aber »in actu« mit Blick auf den ersten, zugleich aber »in potentia« mit Blick auf den zweiten.232

puram et purum actum.« Vgl. Summa theol., I, qu. 14, a. 1, obi. 1; I–II, qu. 50, a. 4 ad 2; qu. 71, a. 3; III, qu. 11, a. 5; Suppl., qu. 16, a. 1, Sent. IV, dist. 14, qu. 1, a. 3, sol. 2; De memoria et reminiscentia, lectio 2, Nr. 6 (= Sentencia libri de sensu et sensato, tractatus II, c. 2; ed. Leon., Bd. 45/2, S. 108 b); vgl. Vernon J. Bourke: »The Role of Habitus in the Thomistic Metaphysics of Potency and Act«, in: R. E. Brennan (Hrsg.): Essays in Thomism, New York 1942, S. 101–109, 370–373 (Anm.), hier S. 372, Anm. 21. Es fällt auf, daß die frühesten Thomas-Texte (im Sentenzenkommentar, der im Supplementum der Summa theol. wieder zitiert wird) den Sachverhalt geradezu formelhaft wiedergeben (»habitus medius est inter potentiam et actum«); was auf eine entsprechende – bis jetzt nicht eindeutig lokalisierte – Vorlage schließen läßt. Bourke verweist auf die Weiterentwicklung der Akt-Potenz-Lehre im arabischen Aristotelismus (ebd., S. 106 mit Anm. 19). 230 Summa theol., I, qu. 10, a. 5. 231 Auch »eine geordnete Ansammlung der Erkenntnisbilder selbst« (Summa contra gentiles, I, 56, edd. K. Albert/P. Engelhardt, Bd. 1, Darmstadt 1974, S. 211) wird als habitus (des intellectus possibilis) bezeichnet. Über die Probleme der Gleichsetzung von species intelligibilis und habitus vgl. A.F. Utz, in: DThA, Bd. 11, S. 487–491. 232 Thomas von Aquin: Sentencia libri De Anima, ed. Leon., Bd. 45/1, S. 111 a. – Die metaphysische Betrachtung des habitus führt schließlich zu einer Differenzierung der Potenzlehre. In De virtutibus in communi, a. 1, unterscheidet Thomas drei Arten von Potenzen: »Est enim aliqua potentia tantum agens (der intellectus agens oder etwa die natürlichen Fähigkeiten, die in sich vollständig und immer aktiv sind – z. B. Atmung und Pulsschlag); aliqua tantum acta vel mota (das Gehör oder die Sehkraft, die Sinne überhaupt, die auf bestimmte Stimuli hin in Aktion treten, ob sie wollen oder nicht); alia vero agens et acta«. Die dritte Art von Potenzen ist einer Ergänzung durch einen habitus fähig: »Sie werden vervollständigt durch etwas zusätzlich Eingeführtes, das nicht nur in der Weise eines Erleidens in ihnen ist, sondern in der Weise einer ruhenden Form, die auch in ihrem Träger verbleibt; und zwar so, daß dadurch die Potenz nicht notwendig in eine Richtung gezwungen wird […]« Die Freiheit der durch habitus bereicherten Potenz unterstreicht Thomas zusätzlich mit einem Zitat aus dem Kommentar des Averroes zu De anima (a. E. des folgenden Zitats): »[…] hae potentiae complentur ad agendum per aliquid superinductum,

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»Et disponit omnia suaviter« (Weish 8,1) – es ist letztlich eine theologische Ästhetik, die an der Notwendigkeit all dieser Stufen233 festhält; und es ist der schon mehrfach erwähnte Teilhabegedanke, der das begriffliche Gerüst dafür liefert. In einer habitus-Definition aus dem großen Kommentarwerk der Salmantiner Thomistenschule (17. Jh.) kommt er besonders schön zum Ausdruck. Wenn die entsprechenden Seelenvermögen oft von der Vernunft bewegt werden, »wird eine solche Bewegung in ihnen in der Art eines habitus bestärkt, so daß dieser nichts anderes ist als eine gewisse Teilhabe und ein Siegelabdruck des höheren Vermögens im niedrigeren, wodurch dieses erhöht wird und leicht erreicht, was jenem eigen ist.«234 Einer nominalistischen Sicht der Dinge dagegen erscheinen die vermittelnden Instanzen mehr und mehr entbehrlich.235 Aber schon bei Duns Scotus zeigt sich die habitus-Frage in einem neuen Licht, nicht nur wegen der berühmten Lehre von der »acceptatio divina«, sondern auch auf Grund einer veränderten Anthropologie.

quod non est in eis per modum passionis tantum, sed per modum formae quiescentis, et manentis in subiecto; ita tamen quod per eas non de necessitate potentia ad unum cogatur […] Harum potentiarum virtutes sunt habitus, secundum quos potest quis agere cum voluerit ut dicit Commentator […]« Mit dem habitus ist also zum einen Kreativität vereinbar (die entsprechende Potenz ist nicht auf eine bestimmte Handlungsweise festgelegt; wer z. B. einen habituell geformten Willen zur Gerechtigkeit oder zur Nächstenliebe hat, braucht nicht immer dasselbe zu tun); zum anderen die Freiheit, die durch den habitus erworbenen Handlungsmöglichkeiten ungenutzt zu lassen (freilich: »corrumpitur virtus, vel diminuitur, per cessationem ab actu«; Summa theol., I–II, qu. 53, a. 3); drittens die Möglichkeit, dem habitus entgegen zu handeln: »Denn der habitus bringt in der Seele seine Wirkung nicht mit Notwendigkeit hervor, sondern der Mensch bedient sich seiner, wenn er will. Daher kann er zur gleichen Zeit, da er den habitus hat, keinen Gebrauch davon machen, oder einen entgegengesetzten Akt ausführen […]« Summa theol., I–II, qu. 71, a. 4 (Hervorh. von mir). Mit dem »actus [habitui] contrarius« ist die Sünde gemeint. 233 Hier: der mit der caritas zugleich eingegossenen anderen Tugendhabitus (De virtutibus cardinalibus, a. 2). Vgl. Summa theol., I–II, qu. 110, a. 2. Über die zentrale Bedeutung dieses Zitats für Thomas vgl. O. H. Pesch (wie Anm. 152), S. 184 (mit Anm. 72), S. 242 (mit Anm. 38). 234 Salmanticenses: Collegii Salmanticensis Carmelitarum Discalceatorum Cursus Theologicus, Bd. VI, Tract. XII, disp. 1, dub. 3, nr. 42, Paris/Brüssel 1878; der Autor dieses Kommentarteils ist Dominicus a St. Theresia, gest. 1654 (zit. bei P. de Roton – wie Anm. 155 –, S. 90, Anm. 1). »[…] firmatur in eis talis motio per modum habitus, ita ut iste nihil aliud sit, nisi quaedam participatio et sigillatio potentiae superioris inferiori impressa, per quam haec elevata facile attingit quod illius proprium est.« (Hervorh. von mir.) 235 Sie kündigt sich bereits bei Duns Scotus an, wenn er die oben (vgl. Anm. 229) geschilderte Vermittlungsfunktion des habitus zwischen Potenz und Akt in Frage stellt: Quaestiones super libros Metaphysiscorum Aristotelis, lib. I, qu. 7, n. 28; in: Opera Philosophica, ed. Etzkorn, III, St. Bonaventure 1997, S. 158 (ed. Wadding, a. a. O., n. 4; IV, S. 544 a). Die englische Übersetzung bringt den etwas verschlungenen lateinischen Text schön auf den Punkt: »[…] between a potency and its act there is no need of a habit.« Questions on the Metaphysics of Aristotle by John Duns Scotus, übers. von G. J. Etzkorn/A. B. Wolter, Bd. I, St. Bonaventure 1997, S. 138.

III. DIE AUSHÖHLUNG DES HABITUS-BEGRIFFS BEI SCOTUS UND OCKHAM

A. Akzentverschiebungen bei Duns Scotus Wo immer es um Fragen der »Epochenschwellengeschichtsschreibung« geht, stößt man auf Duns Scotus.236 Was den habitus-Begriff anlangt, so hatte schon Jacques Maritain vermutet, die Geschichte seiner »fortschreitenden Vertreibung […] durch die moderne Zivilisation« ginge auf den Doctor subtilis zurück.237 Versuchen wir, die für unseren Zusammenhang bedeutsamen anthropologischen, philosophischen und theologischen Weichenstellungen des schottischen Franziskaners nachzuzeichnen. 1. Anthropologisch: Verlagerung von passiones und habitus in den Willen Anders als Aristoteles und Thomas von Aquin sieht Duns Scotus die Leidenschaften nicht im sinnlich, sondern im vernünftig strebenden Seelenteil – also nicht im appetitus sensitivus, sondern im Willen.238 Im Hintergrund dieser neuen Sicht des Menschen dürfte eine gegenüber Thomas von Aquin veränderte Sicht des Engels stehen: Indem Scotus – im Anschluß an Augustinus und Anselm von Canterbury –

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Th. Rentsch: »Der Augenblick des Schönen. Visio beatifica und Geschichte der ästhetischen Idee«, in: H. Bachmaier / Th. Rentsch (Hrsg.): Poetische Autonomie?, Stuttgart 1987, S. 329–353, hier S. 338. 237 J. Maritain: Art et scolastique, in: Jacques et Raïssa Maritain: Œuvres complètes, Fribourg/ Paris 1982ff., Bd. 1, S. 658. Den m. E. bereits für Scotus zutreffenden Befund einer aus angelologischen Vorgaben hergeleiteten Anthropologie, die für die Neuzeit (vgl. Leibniz, Kant) bestimmend werden sollte, hat Maritain erstmals an Descartes vorgeführt (vgl. Anm. 559 im DescartesKap.). 238 »[…] in voluntate sunt passiones, secundum Augustinum […]« Duns Scotus: Ordinatio, III, dist. 33, qu. un., n. 9. Zum theologiegeschichtlichen Hintergrund der Gleichstellung von Engel und Mensch vgl. Anm. 374 im folgenden Exkurs-Kap. – Der auch als Opus Oxoniense bezeichnete Sentenzenkommentar letzter Hand wird, soweit nicht in der Editio Vaticana zugänglich, nach der Wadding-Ausgabe (Lyon 1639, Nachdruck Hildesheim 1968/69; hier: Bd. VII/2, S. 701) mit Angabe der Randnummer zitiert. – Scotus bezieht sich auf De civitate Dei, XIV, c. 5 und 6. – Vgl. den Pariser Sentenzenkommentar, Reportata Parisiensia, III, dist. 33, qu. un., n. 12 (ed. Wadding, XI/1, S. 547 a). – Pariser (Reportatio) und Oxforder (Lectura) Sentenzenkommentar sind Vorarbeiten für die unvollendet gebliebene Ordinatio: vgl. die »disquisitio historica-critica« im Bd. I der Opera omnia (ed. Vat., I), S. 157*–161*.

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Aushöhlung des habitus-Begriffs

über die Sünde Luzifers nachdenkt, kommt er zu der Einsicht, daß der gefallene Engel ein Wesen voller Leidenschaften ist. Affekte beschränken sich keineswegs auf sinnliche Naturen. Affekte gehören zu jedem erkennenden Wesen: Die Maus, der Mensch, der Engel sind, indem sie sich kognitiv betätigen, zugleich auf etwas aus.239 Die Hingabe an die reine Kontemplation bildet hiervon keine Ausnahme, im Gegenteil – auch sie ist mit einem Akt des Strebens verbunden.240 Nun kann für Scotus überall dort von Leidenschaft die Rede sein, wo ein Streben, gleich welcher Art – sei es sinnlich oder rational –, sein Ziel erreicht (darauf folgt Lust) oder verfehlt (darauf folgt Unlust/Schmerz).241 Damit wird Raum geschaffen für ein Phänomen, das für die Angelologie wie für die Anthropologie bedeutsam ist und im System der Summa theologiae nicht unterzubringen war: passiones spirituales, geistige Leidenschaften.242 (Die von Thomas geforderte Verknüpfung von passio und körperlicher Veränderung243 bringt etwa die Schwierigkeit mit sich, daß die bösen Geister zwar leidenschaftslos sein, aber trotzdem in der Hölle leiden sollen.244)

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Duns Scotus: Ordinatio, II, dist. 6, qu. 2, n. 6: »quaelibet cognitiva habet proprium appetitum« (VI/1, S. 537). Vgl. Ord., III, dist. 15, qu. un., n. 11 (VII/1, S. 333). Hier geht Scotus einen Schritt weiter und erklärt, daß Erkennen und Streben noch enger verbunden sind als Tätigsein und Lust: »quia quaelibet virtus cognitiva habet suam propriam appetitivam, […] et propter propinquitatem accipiuntur tanquam una potentia: sunt enim inseparabilius coniuncta, quam operatio et delectatio, quas Philosophus 10. Ethicorum dicit non posse ab invicem separari, et ideo videntur eadem.« (Aristoteles: Nik. Ethik, X, 5; 1175 b 33.) 240 Es sei erlaubt, dies an einem trivialen Beispiel zu verdeutlichen. Wer gebannt vor dem Fernseher sitzt und anscheinend nur »schaut« und nichts »will«, will doch jedenfalls dies: weiter schauen. 241 Ord., III, dist. 15, qu. un., n. 12 (VII/1, S. 334): »[…] videtur sequi in voluntate passio ab ipso obiecto sic praesente; scilicet gaudium, vel tristitia.« Hervorh. von mir. – Die Konstitution von Leidenschaft wird damit abgelöst vom Vorliegen sinnlicher Objekte, der Wille kann sich ja (wie beim Fall des Engels) auf Geistiges richten. 242 Vgl. F.-J. von Rintelen: Das philosophische Wertproblem. I. Der Wertgedanke in der europäischen Geistesentwicklung, Halle 1932, S. 209, 233. – Fidel de Chauvet: Las pasiones. (Las ideas filosóficas de J. Duns Scoto sobre las pasiones), Barcelona 1936, S. 56, 64, 66, 72 (Anm. 76), 85, 154. – Vgl. Quodl., qu. 13, n. 25 (ed. Wadding, XII, S. 338). Von »passionibus supernaturalibus« spricht Scotus in Ord., IV, dist. 49, qu. 7, n. 4 (X, S. 495). (Hinweis bei J. Klein: Die Charitaslehre des Johannes Duns Scotus, Münster 1926, S. 22, Anm. 8.) 243 Summa theol., I–II, qu. 22, a. 3: »passio proprie invenitur ubi est transmutatio corporalis.« – Ebd., a. 1 ad 1: »pati […] proprium est materiae: unde non invenitur nisi in compositis ex materia et forma.« 244 »[…] timor, dolor, gaudium, et huiusmodi, secundum quod sunt passiones, in daemonibus [das sind die gefallenen Engel] esse non possunt.« Und doch gilt: »Necesse est dicere quod in eis sit dolor.« Summa theol., I, qu. 64, a. 3. Die Lösung liegt darin, daß Thomas für den Engel in Anspruch nimmt, was für Augustin und Duns Scotus auch vom Menschen gilt: Lust und Schmerz können ohne »sinnlichen Apparat« empfunden werden, sie haben ihren Sitz im Willen. Vgl. Summa theol., I, qu. 59, a. 4 ad 2. Auch Thomas beruft sich auf Augustins Gottesstaat (IX, c. 5). Allerdings wandelt er dabei die augustinischen Konjunktive in Indikative um: Man könne sich fragen, ob die Engel ohne Zorn strafen (puniant) und ohne Mitleid helfen (subveniant), heißt es in

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Duns Scotus übernimmt von Anselm von Canterbury die Lehre vom zweifachen Streben der Engel: affectio iustitiae und affectio commodi.245 Beide gehören zur »Naturausstattung«; das zweite ist der (an sich nicht schlechte246) natürliche Egoismus, der nichts anderes will als das eigene Wohlergehen; das erste ist die Ausrichtung auf das Gute schlechthin. Sie müßte zu einer Zurücknahme der affectio commodi führen, sobald nämlich der Engel der größeren Wirklichkeit Gottes und damit der eigenen Relativität ansichtig wird. Luzifer verweigert diesen Akt der Anerkennung; er lehnt es ab, das tendentiell maßlose Verlangen nach der eigenen Glückseligkeit zu bremsen und ihm in Freiheit – eben in der affectio iustitiae – eine Grenze zu setzen: womit sich zeigt, daß das Geistwesen noch viel radikaler dem Sog der Leidenschaft ausgesetzt ist als der mit seinen sinnlichen Trieben ringende Mensch.247 Diese Erweiterung des passio-Begriffs hat Folgen für den habitus. Die Sinnlichkeit rückt an den Rand des ethischen Interesses; die redundantia bzw. die Resonanz des geistigen Strebens im sinnlichen, die die sinnliche Leidenschaft zum Intensitätsindikator endlicher Wesen aufgewertet hatte, verliert ihre Bedeutung.248 Doch PL 41, Sp. 261. Bei Thomas liest man »sine ira puniunt, et sine […] compassione subveniunt.« Summa theol., I–II, qu. 22, a. 3 ad 3; vgl. a. a. O., qu. 24, a. 3 obi. 2. – Daß auch für Thomas die Engel nicht »reine Vernunft« sind, sieht man in Summa theol., I, qu. 63, a. 2, wo vom »affectus« der Geistwesen die Rede ist. Erst durch das ungeordnete Verlangen nach der eigenen »excellentia« – bzw. durch dessen Frustration – erklären sich die Engelssünden Hochmut und Neid. 245 Ord., II, d. 6, qu. 2, n. 8 (VI/1, S. 539). Vgl. Anselm von Canterbury: De casu diaboli, c. 4, in: ders., Freiheitsschriften, übers. und eingel. von H. Verweyen, Freiburg 1994, S. 150: »Nihil autem [diabolus] velle poterat nisi iustitiam aut commodum.« Vgl. De concordia praescientiae et praedestinationis et gratiae dei cum libero arbitrio, qu. 3, c. 11–13, bes. ebd., S. 342. – Vgl. W. Hoeres: Der Wille als reine Vollkommenheit nach Duns Scotus, München 1962, S. 149–162. 246 Ord., a. a. O., n. 12 (VI/1, S. 541): »inclinatio ista est secundum perfectionem naturalium.« 247 Lychetus im Kommentar zu Ord., III, dist. 33, qu. un., n. 5 (VII/2, S. 705 b). – Scotus hat keine Schwierigkeiten damit, die irasziblen und konkupisziblen Kräfte dem Willen einzuverleiben (ebd., n. 20; VII/2, S. 706). Vgl. Rep. Par., III, dist. 33, qu. un., n. 26 (XI/1, S. 550 a). Das wäre bei Thomas ausgeschlossen: vgl. Summa theol., I, qu. 82, a. 5. 248 Im Detail zeigt sich das in einer anderen (gegenüber Thomas negativeren) Bewertung des appetitus sensitivus. Mit Aristoteles hält Thomas daran fest, daß die Vernunft den Körper »despotisch«, den Trieb dagegen »politisch« beherrscht (Summa theol., I–II, qu. 56, a. 4 ad 3; qu. 58, a. 2; De virtutibus in communi, a. 4; Aristoteles: Politik, I, 5; 1254 b 2–6; vgl. Anm. 103 im Aristoteles-Kapitel). D. h., dieser hat einen eigenen Spielraum (und bedarf daher der Ausrichtung durch einen habitus), jener nicht. Der niedere Seelenteil läßt sich von der Vernunft nicht kommandieren, sondern überreden (vgl. Nik. Ethik, I, 13). Bei Scotus gelten diese Verhältnisse »eine Etage höher«: »[voluntas] est persuasibilis a ratione […], appetitus autem sensitivus, non est persuasibilis a ratione […]: et haec verba possunt bene ponderari, quia liberum bene est persuasibile […]: appetitus autem sensitivus, quia non liber, non est persuasibilis […]« (Ord., III, dist. 33, qu. un., n. 4; VII/2, S. 698.). Hier könnte der Kontrast

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auch die Leidenschaft selbst erscheint jetzt vornehmlich unter dem Aspekt der »Moderation«.249 Im Verhältnis affectio iustitiae/affectio commodi geht es um Zügelung geistiger Konkupiszenz; daß diese einmal der Stärkung bedürfen könnte – was etwa bei Gefühlen wie Zorn oder Mitleid denkbar ist –, steht kaum zur Debatte. So ist der moralische habitus nicht mehr als Klammer zwischen Sinnlichkeit und Sittlichkeit, als Vermittlung von Trieb und Freiheit faßbar; vielmehr nimmt er, im Gefolge der passio, seinen Sitz im geistigen Streben, im Willen.250 Die Tendenz, eine Moral ohne Sinnlichkeit zu konzipieren, ergibt sich, abgesehen von den angelologischen Prämissen der scotischen Anthropologie, auch aus dem Anspruch des Doctor subtilis auf eine einwandfreie Logik.251 Der Logiker aber ist genötigt, nicht nur dem Normalfall, sondern auch den Ausnahmesituationen gerecht zu werden. So war es logische Stringenz, was Peter Abaelard zu der gefährlichen, intellektualistisch einseitigen Definition der Sünde als »consensus« führte: In der Zustimmung ließ sich das einzige Moment ausmachen, das in jeder Sünde zu finden war, während das Echo dieser inneren Tat in der Sinnlichkeit oder im äußeren Werk auch unterbleiben konnte.252 Auch für Scotus scheidet die Sinnlichkeit als konstitutives Moment der Sünde aus.253 Da nun umgekehrt gelten muß: was zur ethischen Qualifikation im Bösen zu Thomas nicht deutlicher sein: »Potentiae autem appetitivae interiores comparantur ad rationem quasi liberae«; Summa theol., I–II, qu. 74, a. 2 ad 3. Der Wille steht bei Scotus auf der gleichen Stufe wie bei Thomas der appetitus sensitivus; der appetitus sensitivus auf der gleichen Stufe wie bei Thomas der Körper; er ist ebenso unfrei und daher echter habitus-Bildung nicht fähig. (Vgl. F. de Chauvet, a. a. O., S. 176 und Anm. 244.) Hinter der unterschiedlichen Deutung der aristotelischen Politik (die Scotus natürlich auch kennt) steht eine divergente Interpretation der Erbsünde. Die vermeintliche Freiheit, die für Aristoteles wie Thomas das sinnliche Strebevermögen auszeichne, sei eine Folge des Sündenfalls, meint Scotus: »[…] Philosophus [= Aristoteles] ibi erravit. […] et ideo cum appetitus sensitivus sit potens rebellare, credidit sic esse a natura instituta, sed hoc est falsum.« Rep. Par., III, dist. 33, qu. un., n. 25 (XI/1, S. 549 b). 249 Ord., III, dist. 33, qu. un., n. 9 (VII/2, S. 701). 250 Ebd., n. 10. Daß es im appetitus sensitivus einen Tugendhabitus geben könne, hält Scotus höchstens vor dem Sündenfall für denkbar (ebd., n. 22; VII/2, S. 707; mit Verweis auf Ord., II, dist 29, qu. un.; vgl. VI/2, S. 923, n. 5). – Über den Willen als alleinigen Sitz der Tugend bei Scotus vgl. Thomas Graf O. S. B.: De subiecto psychico gratiae et virtutum secundum doctrinam scholasticorum usque ad medium saeculum XIV, Bd. 2, Rom 1935 (= Studia Anselmiana 3 / 4), S. 193–195. – Schon Seeberg sah in der »abstrakte[n] Scheidung des Trieb- und Willenslebens eine Schranke der scotistischen Psychologie«. R. Seeberg: Die Theologie des Johannes Duns Scotus, Leipzig 1900 (Neudruck Aalen 1971), S. 95. 251 Wilhelm von Ockham hat in Scotus bekanntlich vor allem den Logiker geschätzt. Vgl. Ockham: Scriptum in primum librum Sententiarum (Ordinatio), dist. 2, qu. 10, in: Opera Theologica (= OTh), ed. St. Bonaventure, Bd. II, S. 344. 252 Peter Abaelard: Ethica, c. 3; ed. Luscombe, Oxford 1971, S. 4 ff.; PL 178, Sp. 636 ff. – Abaelards These wurde 1140 auf der Synode von Sens verurteilt. 253 Ord., III, dist. 15, qu. un., n. 16 (VII/1, S. 339): »[…] corrupta violenter, licet delectaretur

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nichts beiträgt, das ist auch fürs Gute unerheblich – da also, bildlich gesprochen, das logische Seziermesser vom Phänomen des Sittlichen all das abtrennt, was nicht immer und unter allen Umständen dazugehört –, wird der Normalfall, der Mensch als Ganzes aus Leib und Seele, zusehends ausgeblendet. (Es ergibt sich ein anderes Menschenbild, wenn man, wie Thomas, vom Normalfall des Handelns ausgeht, für den gilt: je größer die redundantia, der Widerhall im Sinnlichen, desto besser, als wenn man, wie Abaelard und Scotus, die Voraussetzungen moralisch zurechenbaren Handelns vom Ausnahmefall der Sünde abliest. – Da für Thomas die Sinnlichkeit am verdienstlichen Handeln teilhat, muß sie konsequenterweise auch als Sitz der Sünde fungieren.254) Daß der Doctor subtilis selber ein Typ von ätherischer Geistigkeit gewesen sein muß, suggeriert folgende, etwas schaurige Anekdote, die den denkbar größten Gegensatz zum Faustschlag des philosophierenden Thomas bildet: Als hätte sein Geist den Leib verlassen, verharrte der meditierende Scotus oft stundenlang in Erstarrung. In einem solchen Zustand soll der vor kurzem von Paris nach Köln übergesiedelte Schotte von den Mitbrüdern, die mit seinen Lebensgewohnheiten noch nicht vertraut waren, lebendig begraben worden sein. Auch wenn die grausigen Ausmalungen dieser Begebenheit auf das Konto einer späteren Zeit (und der dominikanischen Konkurrenz) gehen, so hält ein Historiker des 20. Jahrhunderts den Kern der Legende durchaus für authentisch.255 in voluntate ex delectatione appetitus sensitivi, non tamen peccaret: quia delectatio, et delectabile posset esse non volitum quantum ad omnem actum elicitum voluntatis.« Jedenfalls muß die oder der (bei Abaelard: vgl. Ethica, c. 3; ed. Luscombe, a. a. O., S. 20; PL 178, Sp. 641 B) von einer Situation unwillkürlichen Lustempfindens Betroffene vom Vorwurf der Sünde freigesprochen werden. So fährt Scotus fort: »Secundum autem aliam viam oportet dicere quod licet delectaretur secundum tactum, non tamen secundum voluntatem, nisi obiectum esset libere volitum.« Allgemeiner formuliert Scotus in Ord., I, dist. 1, pars 2, qu. 1, n. 70 (ed. Vat., II, S. 52f.): »Perversitas formaliter est in actu voluntatis elicito, non in delectatione, […] nec delectatio est in potestate nisi quia actus est in potestate eius; peccatum autem in quantum peccatum formaliter est in potestate peccantis.« Vgl. Fidel de Chauvet, a. a. O., S. 184f. 254 Allerdings nur der läßlichen Sünde: De veritate, qu. 25, a. 5; De malo, qu. 7, a. 6; Summa theol., I–II, qu. 73, a. 3 und 4. Duns Scotus dagegen bringt die läßliche Sünde im nächsthöheren Seelenvermögen, im Willen, unter: Rep. Par., III, dist. 33, qu. un., n. 12 (XI/1, S. 547 a). 255 K. J. Heilig: »Zum Tode des Johannes Duns Scotus«, Historisches Jahrbuch, 49 (1929), S. 641–645. Auch Heilig schenkt den Kolportagen »aus Dominikanerkreisen des 16. und 17. Jahrhunderts« (ebd., S. 642) keinen Glauben, kann aber »eine bedeutend ältere Tradition, die bis hinauf zu 70 Jahren nach dem Tode des Scotus sich verfolgen läßt« (ebd.), nachweisen. Heinrich von Langenstein (gest. 1397), der in dem Bericht als Gewährsmann fungiert, kommentiert den Vorgang als Glücksfall: »Ecce quam dulciter et amabiliter homo iste transivit de vita ista, de requie ad requiem, de dulcedine ad dulcedinem, de consolacione spiritali ad iocunditatem eternam.« (Ebd., S 643.) – Heilig zitiert den um 1400 geschriebenen Cod. A V 23,f. 69a, der Basler Universitätsbibliothek. Die jüngste mir bekannte Scotus-Biographie, die sich mit der merkwürdigen Überlieferung aus-

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2. Philosophisch a) Die Substantialisierung von Akten und der Akt als Qualität Nicht nur die Verbindung von Sittlichkeit und Sinnlichkeit256 fällt, so scheint es, bei Scotus dem logischen Interesse zum Opfer, sondern auch die Verbindung von habitus und Akt. Der Akt, und nichts anderes, ist der springende Punkt für jede moralische Qualifikation. (Auch hier darf man den Engel als Modell vermuten: seine Gut- oder Bosheit konstituiert sich »in instanti«, im alles entscheidenden Augenblick der Wahl.) Eine auf Kant vorausweisende Wende in der Moralphilosophie kündigt sich an: Nicht Menschen sind in erster Linie gut oder schlecht, sondern Handlungen. Das Interesse verlagert sich von der Substanz des Menschen und deren Qualifikation durch habitus (bei Aristoteles und Thomas) auf die »Substanz von Akten«,257 wobei fraglich ist, inwiefern diese vom habitus tangiert wird. Aber gibt es das überhaupt, eine »substantia actus«? Läuft man bei dieser analogen Redeweise nicht Gefahr zu vergessen, daß die Akte der Kategorie des Akzidens angehören?258 Oder anders gefragt: Wodurch werden Akte so wichtig, daß sie die philosophische Dignität von Substanzen annehmen? Wir werden diesem Problem noch nachgehen; die Vermutung liegt nahe, daß die einzigartige Qualität, die menschliche Handlungen »substantiell« macht, nur von Gott herrühren kann. Zunächst verrät, wie gesagt, die von Scotus immer wieder aufgeworfene Frage, was denn der habitus zur »Substanz des Aktes« beiträgt, eine neue Interessenrichtung

einandersetzt, verlegt deren Aufkommen – wohl in Unkenntnis der von Heilig namhaft gemachten Quelle – ins Ende des 15. Jahrhunderts: R. Zavalloni: Giovanni Duns Scoto. Maestro di vita e pensiero, Bologna 1992, S. 26 (»[…] la fantasiosa invenzione propolata sulla fine del ’400 […]«). – Die im Literaturverzeichnis genannten Studien von A. B. Wolter (1993) und A. Vos (1994) lassen die Frage unerörtert. – D. Esser nennt den Bericht der Basler Handschrift »märchenhaft, nicht historisch«, schreibt »die berüchtigte Geschichte des Lebendig-begraben-werdens« dann doch wieder dem Historiker Paulus Jovius (Paolo Giovio, 1483–1552) zu und bemerkt vorsichtshalber, sie spreche »weder für noch gegen die Heiligkeit eines Dieners Gottes.« In: D. Esser OFM/G. D’Andrea OFM: Johannes Duns Scotus. Untersuchungen zu seiner Verehrung, Mönchengladbach 1986, S. 60f., Anm. 14. 256 Nicht ganz: »Potest autem ulterius dici, quod non tantum in voluntate sit virtus moralis, sive habitus, […] sed ex hoc relinquitur quaedam impressio in appetitu inferiori, qui [quae?] potest dici virtus moralis […]« Rep. Par., III, dist. 33, qu. un., n. 24 (XI/1, S. 549 b). Étienne Gilson bemerkt treffend: »Duns Scotus nimmt sein Urteil keineswegs zurück; denn was es im sinnlichen Begehren an Tugend gibt, stammt aus der Tugend, die selbst im Willen ihren Sitz hat.« É. Gilson: Johannes Duns Scotus. Einführung in die Grundgedanken seiner Lehre, Düsseldorf 1959, S. 630, Anm. 1. – Vgl. Ord., III, dist. 33, n. 13 (VI/2, S. 702). 257 Der Ausdruck »substantia actus« findet sich gelegentlich auch bei Thomas von Aquin: De veritate, qu. 24, a. 14; Summa theol., I–II, qu. 71, a. 6 (c. in fine). 258 Aristoteles: Kategorien, c. 4 und 9.

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– hatte doch Thomas von Aquin die Bedeutung des habitus vor allem darin gesehen, daß dieser die Natur des habitus-Trägers vervollkommnet.259 Im Akt selbst unterscheidet Scotus zweierlei: die Wahl einer Handlung und die Handlung selbst. Das erste nennt er »actio de genere actionis«, das zweite »actio de genere qualitatis«.260 Man macht sich Sorgen um die Kategorien des Aristoteles: der Akt als Qualität? Daß man einen Handelnden, Schauenden, Wollenden als so und so qualifiziert bezeichnen kann, ist nachvollziehbar; daß damit der Akt in die schärfste Konkurrenz zum habitus tritt, auch.261 Wollen ist also (wie auch Denken) eine Qualität.262 Was verdankt es dem habitus? Um das Ergebnis vorwegzunehmen: nicht viel. Man hat beinahe den Eindruck, der Doctor subtilis möchte gewisse Entitäten loswerden, da die Fülle der Differenzierungen, die sich seiner ingeniösen Schau darbietet, sich sonst nicht mehr bewältigen ließe. (Das Ökonomie-Prinzip meldet sich.) Jedenfalls findet er wohl nicht erst (gleichsam absichtslos) Gründe, die hinterher zu einer Depotenzierung des habitus zwingen; vielmehr wird auch hier zuvor der Zweck, und anschließend die Mittel der Verwirklichung gewollt sein.263 Der Hauptzweck ist allerdings ein anderer: die Verteidigung der Freiheit, als deren Konkurrenten Scotus den habitus marginalisieren will. 259

Vgl. Anm. 155 im Thomas-Kapitel und B. R. Inagaki: »Habitus and Natura in Aquinas«, in: John F. Wippel (Hrsg.): Studies in Medieval Philosophy, Washington 1987, S. 159–175, hier S. 166 (und Anm. 39). 260 Rep. Par., III, dist. 14, qu. 2, n. 8 (XI/1, S. 470 b). Vgl. ebd., n. 17 (S. 472 a); Ord., I, dist. 3, qu. 4, n. 601 (ed. Vat., III, S. 354); Ord., I, dist. 6, qu. un., n. 14 (ed. Vat., IV, S. 93). Diese Unterscheidung ist nicht identisch mit derjenigen zwischen actus immanens (moralisch qualifizierbares Handeln) und actus transiens (technisch-künstlerisches Machen); vgl. Summa theol., I–II, qu. 57, a. 4. Allerdings läßt sich – bei subtiler Betrachtung – die Wahl eines Aktes (obwohl immanent) als »actio productiva« auffassen: Quodl., qu. 13, n. 2 (ed. Wadding, XII, S. 301). Scotus merkt an, daß diese Umdeutung von actus immanens und actus transiens von Aristoteles abweicht (»non tamen est de intentione Philosophi«, ebd., n. 28; S. 341). Vgl. Rep. Par., I, dist. 3, qu. 6, n. 13 (XI/1, S. 54 b). 261 In Aristoteles’ Kategorien ist nicht der Akt, sondern der habitus eine Qualität (c. 8). Wirken und Leiden bilden eine eigene Kategorie (c. 9). Im zitierten Quodlibet beweist Scotus, daß die »operatio« (also das, was wir normalerweise als Handlung bezeichnen) nur in die Kategorie der Qualität gehören könne, da sie ja keine »actio de genere actionis« sei (a. a. O., n. 25; XII, S. 338). In welche Art der Qualität fällt die Handlung? In die erste – genau die, die bei Aristoteles vom habitus besetzt wird. (Ebd.) Vgl. die ausführliche Diskussion in Rep. Par., I, dist. 3, qu. 6 (XI/1, S. 51 a– 54 b) und den Abschnitt »Die Tätigkeiten der Geistseele als Qualitäten« bei Hoeres, a. a. O., S. 256–268. 262 »[…] velle et intelligere sunt quaedam qualitates productae per actionem de genere actionis […]« Collationes, 6, n. 9 (ed. Wadding, III, S. 359 b). Vgl. Gilson (wie Anm. 256), S. 542. 263 So wie Gott zuerst die Seligkeit des Menschen und dann die dazu erforderlichen Mittel will. Vgl. P. Vignaux: Justification et prédestination au XIVe siècle. Duns Scot, Pierre d’Auriole, Guillaume d’Occam, Grégoire de Rimini, Paris 1934, S. 25. – Ord., I, dist. 41, qu. un., n. 11 (V/2, S. 1340).

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Im folgenden findet die Unterscheidung von »actio de genere actionis« und »actio de genere qualitatis« nur noch beiläufig Erwähnung.264 (Wäre Scotus der geschworene Gegner des habitus, als den man ihn zuweilen verdächtigt, böte sich ihm hier ja die Gelegenheit zu einem genialen »divide et impera«: er könnte seinen Angriff so aufbauen, daß zuerst der Beitrag des habitus zur »actio de genere qualitatis«, dann zur »actio de genere actionis« geprüft würde; im ersten Fall wiese die – habitus und actio betreffende – Zugehörigkeit zur Kategorie der Qualität den habitus als eher verzichtbare Größe aus; im zweiten Fall ließe sich wohl zeigen, daß der Akt der Wahl in seiner Ursprünglichkeit keiner Habitualisierung fähig ist. Auch eine andere naheliegende Frage-Strategie, um die Existenzberechtigung des habitus anzuzweifeln, nämlich: was bringt er für die »Substanz«, was für das »Akzidens« bzw. den »Modus« eines Akts?,265 wird nicht gezielt zum Einsatz gebracht. Man muß wohl annehmen, daß bei Duns Scotus die Kombination von Logik, Phänomenologie und Sorge um die Freiheit die Weichen für die weitgehende Verabschiedung des habitus266 gestellt hat.) Besagte Unterscheidung hat aber ihre Bedeutung, um klarzumachen, daß der Wille als wollender qualitativ bestimmt, also nicht frei, als wählender hingegen aktiv bestimmend und frei ist.267

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Ord., I, dist. 17, pars 1, qu. 1–2, adnotationes a (sub n.o 22, 23) (ed. Vat., V, S. 147f.); n. 49 (S. 158f.); n. 51 (S. 159). 265 »Angedacht« in: Quaestiones super libros Metaphysicorum Aristotelis, l. IX, qu. 8, n. 6; in: Opera Philosophica, ed. Etzkorn, IV, St. Bonaventure 1997, S. 592f. (ed. Wadding, ebd., n. 2; IV, S. 777 b/778 a), dort ebenso fallengelassen wie in: Ord., I, dist. 17, pars 1, qu. 1–2, n. 28 (ed. Vat., V, S. 150); vgl. die »secunda via« (s. u.). 266 Trotz der beeindruckenden habitus-Schemata in Ord., III, dist. 34, n. 8 (VII/2, S. 728f.). 267 Ord., I, dist. 12, qu. 1, n. 17 (ed. Vat., V, S. 34): »voluntas ut in nobis est actus primus, libera est ad habendum actum volendi, non autem ipse actus volendi liber est sive principium producendi aliquid libere, quia actus volendi est quaedam qualitas naturalis […]« Das Moment des Handelns (operatio) ist für Scotus – im Unterschied zum Moment des Wählens (actio) – rezeptiv: Ord., I, dist. 17, pars 1, qu. 1–2, n. 51 (ed. Vat., V, S. 159). Daß das konkrete Wollen nicht frei ist (bzw. als konkretisiertes eben nur noch die Freiheit der Entschiedenheit, nicht mehr die Freiheit der Entscheidung hat), drückt Scotus auch lapidar so aus: »si volo, necessario volo.« Ord., III, dist. 15, qu. un., n. 13 (ed. Wadding, VII/1, S. 335). Das ist, nebenbei, auch der Grund dafür, daß Scotus direkt im Willen Leidenschaften annehmen kann (was zu dem für Thomas nicht möglichen Begriff der passio spiritualis führt – s. o., Anm. 242). Wenn ich z. B. Chopin hören möchte und dann doch keine Karten für den Klavierabend mehr bekomme, ist die Enttäuschung unvermeidlich – obwohl ich den Entschluß, dort hinzugehen, frei gefaßt habe. Das wäre u. U. auch ein Beispiel für das aktiv-passive Doppelgesicht der (Willens-)Potenz: »in una potentia est duplex tendentia, activa et passiva […]« Ord., III, d. 17, qu. un., n. 5 (VII/1, S. 380).

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b) Die »quinque viae« in Ordinatio, I, dist. 17, pars 1 Die entscheidende Frage, die Scotus im Kommentar zur 17. Distinktion des ersten Sentenzenbuches (dem locus classicus für den habitus) stellt, lautet: »Ist es notwendig, im habitus ein aktives Prinzip hinsichtlich des Akts anzunehmen?«268 Falls die Antwort negativ ausfallen sollte, so steht zwar nicht der habitus tout court auf dem Spiel, wohl aber der habitus als Prinzip der Freiheit. Sollte sein Beitrag zum menschlichen Handeln sozusagen rein technischer Art sein, so ließe er sich auch durch äußere, technische Prinzipien ersetzen – eine Konsequenz, die Scotus nicht vorhersehen konnte. Fünf Lösungswege werden angeboten. Versuchen wir, die wichtigsten Argumente daraus festzuhalten. (1) Habitus und Wille sind nicht identisch. Freiheit ist nur im Willen; wäre der habitus alleiniges Prinzip einer Handlung, so wäre diese nicht mehr frei.269 (2) Intensität und Substanz eines Akts sind nicht voneinander trennbar. Die Aufteilung »der Wille macht die Substanz, der habitus die Intensität eines Aktes aus« funktioniert also nicht.270 268

Ord., I, dist. 17, pars 1, qu. 1–2 (qu. 2), n. 6 (ed. Vat., V, S. 141): »utrum necesse sit ponere in habitu rationem principii activi respectu actus.« (Die folgenden Nummern- und Seitenzahlen beziehen sich auf Ord., I, dist. 17, pars 1; ed. Vat., V.) 269 »[…] operatio non elicitur libere, cuius principium activum est mere naturale; sed habitus, cum non sit formaliter voluntas, nec per consequens formaliter liber, si est principium activum erit mere naturale; ergo operatio eius non erit mere libera, et ita nullum ›velle‹ erit liberum si eliciatur ab habitu ut a totali principio activo.« Ebd., n. 24, S. 148. Entsprechend folgert ein weiteres Argument (n. 26, S. 149): »actus ille non est meus qui non est in potestate mea; sed actio ipsius habitus non est in potestate mea, quia habitus ipse – si est activus – non est liber, sed principium naturale […]« Der erste Gedankengang richtet sich gegen Heinrich von Gent. Der einschlägige Passus aus dessen Quodl. IV, qu. 10, wird ausführlich zitiert in Duns Scotus: Lectura, I, dist. 17, pars 1, qu. un., n. 45 (ed. Vat., XVII, S. 196f.), Anm. (F). 270 N. 28–30, S. 150f. Die zweite Argumentation wird bei Gottfried von Fontaines ventiliert, aber im selben Atemzug kritisiert: »Sed secundum hoc videremur incidere in errorem Pelagii qui ponebat quod sine gratia possumus bene operari et mereri sed perfectius et facilius hoc idem possumus cum gratia.« Gottfried von Fontaines: Quodl. XI, qu. 4 (Les Philosophes Belges, Bd. 5, ed. J. Hoffmans, Louvain 1932, S. 23). Vielleicht hat Scotus auch eine andere Stelle im Auge. In Quodl. XIV, qu. 3 erläutert Gottfried seine habitus-Lehre im Zusammenhang seiner Anthropologie: der Wille bedarf zu seiner Vollkommenheit grundsätzlich keines habitus, die Information durch die Vernunft genügt, um seine Akte schnell und leicht zur Ausführung gelangen zu lassen. Da beim Menschen aber Wille und sinnliche Strebekraft verbunden sind und diese häufig gegen die Vernunft aufbegehrt (»est ibi repugnantia non voluntatis ad intellectum, sed carnis«), muß der appetitus sensitivus mit habitus ausgestattet werden. Sonst könnte der Wille seine Akte zwar noch der Substanz nach vollbringen, aber ohne die Leichtigkeit, um die ihn die ungezügelte Sinnlichkeit bringt. Gottfried verlegt daher alle sittlichen habitus in den appetitus sensitivus. (Les Philosophes Belges, ebd., S. 342): »[…] dico quod respectu eorum quae nobis sunt possibilia et convenientia ex naturalibus per se primo et

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(3) Eher möglich scheint die Annahme, der habitus sei »causa partialis activa« eines vollkommenen Akts, der aus dem Willen und dem habitus zusammen hervorgeht und der, unvollkommen zwar, auch vom Willen allein hervorgebracht werden könnte.271 Da der habitus immer als »causa naturalis« verstanden wird, kann er im Zusammenwirken mit dem Willen nur eine untergeordnete Rolle spielen, sonst ergäbe sich der Widersinn »omnis actio potentiae habituatae esset naturalis et nulla libera«.272 Der phänomenologische Befund, daß der habitus dem Akt größere Intensität verleiht, kann aufrechterhalten werden, allerdings nicht nach dem bei Gottfried von Fontaines referierten »Splitting«-Modell – s. (2) –, sondern so, daß beide Ursachen, obzwar hierarchisch geordnet, eine einzige Wirkung hervorbringen. (4) In einem vierten Ansatz, den Scotus (im Gegensatz zu den ersten beiden) ebenfalls für vertretbar hält, kommt der habitus überhaupt nicht als aktives Prinzip in Betracht, was gleichbedeutend damit ist, daß ihm alle Kausalität abgesprochen wird: »Ergo non est aliqua causalitas habitui attribuenda.«273 Was bleibt übrig? Der habitus als Neigung zum Handeln – vergleichbar der Schwerkraft. Scotus bemüht sich um den Aufweis, daß dabei alle dem habitus üblicherweise zugeschriebenen Momente – »quod operatur delectabiliter, faciliter, expedite et prompte«274 – gewahrt bleiben.

principaliter non requiritur aliquis habitus disponens et habilitans voluntatem ad hoc quod prompte et recte inclinetur in illud quod apprehenditur a recta ratione; quia hoc convenit ei ex condicione naturae suae […]« Ein Tier, das nur einen appetitus sensitivus hat, der auf die sinnliche Wahrnehmung abgestimmt ist, braucht keinen habitus; genausowenig bräuchte ihn ein Wesen, das nur einen – auf seinen Intellekt abgestimmten – »appetitus in ratione« (d. h. Willen) hätte; weshalb Gottfried den Engeln vermutlich keinen habitus zuschreiben würde. Nur der Mensch braucht einen habitus: »Sed quia in homine isti duo appetitus sunt coniuncti et inferior natus est oboedire superiori, non tamen prompte […]; ideo ad hoc quod voluntas non impediatur quin prompte et faciliter sequatur rationem […] et etiam [ad hoc] quod ipse appetitus inferior moveatur prompte et faciliter concorditer rationi, primo per se et principaliter requiritur habitus […] Et ideo necesse est ponere per se et primo et principaliter habitum in appetitu et non in voluntate […]« Vgl. Th. Graf (wie Anm. 250), S. 161f. 271 Dieser dritte Weg scheint der von Scotus bevorzugte, vgl. n. 32, S. 152 (und Anm. 2); n. 70, S. 171; n. 133, S. 204; n. 151, S. 211. 272 N. 37, S. 153f.: »[…] habitus est causa naturalis. Ergo, si ipse sit causa principalis, movens potentiam, moveret eam per modum naturae […], et ita omnis actio […]« (wie oben). Wie schon gesagt, ist damit einer absoluten Notwendigkeit des habitus der Boden entzogen: »Concedo […], quod tenendo habitum esse causam partialem respectu actus, esset causa secunda et non prima, sed ipsa potentia (d. h. der Wille) esset causa prima et absolute non indiget habitu ad operandum; tamen minus perfecte operatur sine habitu quam cum habitu […]« N. 40, S. 154; Hervorh. von mir. 273 N. 47, S. 158. 274 N. 7, S. 142; vgl. n. 48–51, S. 158f. »Operatio«, »operari« werden hier terminologisch verwendet, im Sinn von »actio de genere qualitatis«. Eine »actio de genere actionis« könnte der habitus nur als aktives Prinzip (als das er ja in der »quarta via« ausdrücklich verneint wird) beeinflussen.

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(5) Dem moralischen habitus widmet Scotus einen eigenen Erkundungsgang. Es ist der ausführlichste von allen. Gefragt wird, ob hinsichtlich der akzidentellen Güte eines Akts der moralische habitus als Tugend »irgendwie aktives Prinzip« sei.275 Wie zu erwarten, fällt die Antwort negativ aus, wobei wieder eine zentrale Position des Aristoteles aufgegeben wird. »Wer die Gerechtigkeit nicht hat, kann zwar gerechte Handlungen vollbringen, aber nicht gerecht« – also »iusta, non tamen iuste«276 –, zitiert Scotus in einer Formulierung, die mit größter Prägnanz das Proprium der aristotelischen habitus-Lehre festhält: Tugend ist nicht eine Sache des »Was«, sondern des »Wie«, und Zeichen dieses »Wie« sind die Spontaneität, die Natürlichkeit und Freudigkeit, mit der der Gerechte gerecht, der Tapfere tapfer, der Großzügige großzügig handelt usw.277 In einem Paralleltext zu unserer Quästion kommt die Aristoteles-Umdeutung besonders scharf heraus. Nach dem Referat der angeführten Stellen der Nikomachischen Ethik heißt es:278 »Ich glaube nicht, daß der Philosoph leugnen will, daß derjenige, der zwar den habitus der Gerechtigkeit nicht hat, trotzdem gerecht und tugendhaft handeln kann durch die vernunftkonforme Ausrichtung, wenn auch mit Schwierigkeit.« Das »Wie« der Tugend sieht Scotus also nicht mehr in der Integration von Geist und Sinnlichkeit, im Erwerb der berühmten »zweiten Natur«, sondern im »operari per conformitatem ad rationem rectam, quamvis cum difficultate« (der Anklang an Kant ist unüberhörbar). Für die Logik ist es schwierig, Vorgängen zeitlichen Wachstums gerecht zu werden. Entweder ist etwas so, oder es ist nicht so; daß es sich »allmählich« entwickelt und man nicht mit Präzision angeben kann, wann das qualitativ Neue erreicht wird, wirkt irritierend – insbesondere hier, wo der tugendhafte Akt, durch dessen Wiederholung der Tugendhabitus erst entsteht, doch seinerseits (logisch) diesen voraussetzt. Aristoteles hat diese Aporie klar gesehen, sich aber nicht davon beirren las-

275

N. 55, S. 160f.: »Restat modo inquirere ulterius de bonitate accidentali actus (qualis est bonitas moralis) et de habitu morali, utrum habitus moralis in quantum virtus, sit aliquo modo principium activum bonitatis moralis in actu.« 276 N. 59, S. 162. Vgl. Nik. Ethik, II, 3 (1105 b 7–9). 277 Nik. Ethik, II, 2 (1104 b 3–5): »Als Zeichen des Habitus muß man die mit den Handlungen verbundene Lust oder Unlust betrachten.« (Übers. von E. Rolfes, ed. G. Bien, Hamburg 41985, S. 29.) Vgl. die oben (S. 64) aufgezählten Momente »delectabiliter, faciliter, expedite et prompte«. 278 Collationes, 6, n. 10 (III, S. 360 ab). Hervorh. von mir. – Wenn sich Scotus auch vom Geist der aristotelischen Moralphilosophie entfernt, so erscheint die Hypothese, seine Kenntnis der Nikomachischen Ethik sei nur durch Averroes, Eustratius und Heinrich von Gent vermittelt, doch sehr gewagt: vgl. Mary E. Ingham: Ethics and Freedom. An Historical-Critical Investigation of Scotist Ethical Thought, Lanham u.a. 1989, S. 203. Dem Hinweis auf Scotus’ Nähe zur Stoa hingegen sollte man einmal nachgehen (ebd., S. 200–202).

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sen.279 Scotus hingegen zieht die Konsequenz, daß mit dem ersten vernunftgemäßen Akt auch schon das Wesentliche der Tugend da sein müsse.280 Um zu zeigen, daß die Güte eines Akts gegenüber diesem selbst nichts eigentlich Neues darstellt, wird auf eine Stelle der aristotelischen Physik rekurriert, die den habitus in die Kategorie der Relation verweist.281 Zur Illustration dient der Vergleich von moralischer Güte und Schönheit, die ja keine neue Qualität, sondern nur ein 279

Nik. Ethik, II, 3 (1105 a 17–21); a. a. O. (wie Anm. 277), S. 31: »Man könnte jedoch fragen, wie es gemeint ist, daß man durch Handlungen der Gerechtigkeit gerecht und durch Handlungen der Mäßigkeit mäßig werden müsse, da man doch, um sich gerecht und mäßig zu verhalten, schon gerecht und mäßig sein müsse, gerade wie man, um Grammatik und Musik zu üben, schon ein Grammatiker und Musiker sein muß.« 280 N. 100, S. 190: »[…] dico, quod in primo actu, quando est dictamen rectum generativum prudentiae et conformatur illi electio alicuius iusti, ibi non tantum iustum, sed iuste operatur eligens.« (Aufs gleiche kommt es hinaus, wenn gesagt wird, hinsichtlich ihrer Vollkommenheit seien tugendhafte Akte von solchen, die das betreffende Seelenvermögen ohne Tugend ausübt, nicht zu unterscheiden: »sed sine virtute genita potest haberi actus aeque perfectus secundum omnes circumstantias morales, sicut cum virtute iam genita: quia secundum perfectum dictamen intellectus de aliquo agibili, potest esse perfecta electio circumstantionata omnibus circumstantiis, quae sit prima generativa virtutis […]« Ord., IV, dist. 14, qu. 2, n. 13; IX, S. 42. Vgl. Collationes, 6, n. 11; III, S. 360 b.) Thomas hingegen unterscheidet das »operari iusta« auf dem Weg zur Tugend vom »operari iuste« nach Erwerb des habitus: »Unde etiam aliquis antequam habeat virtutem operatur quidem iusta sed non iuste, et casta sed non caste; sed postquam habet virtutem, operatur iusta iuste, et casta caste, ut patet per Philosophum in II Ethicorum.« De malo, qu. 2, a. 4 ad 11. An der gleichen Stelle gibt Thomas ein Schema der drei Gütestufen moralischer Akte: »Primo quidem secundum suum genus vel speciem, per comparationem ad obiectum sive materiam; secundo ex circumstantia; tertio vero ex habitu informante.« Scotus bringt eine ähnliche Aufstellung – allerdings unter Wegfall des habitus als eigenen »Gütesiegels«: »[…] prima dicitur bonitas ex genere: secunda potest dici bonitas virtuosa, sive ex circumstantia: tertia bonitas meritoria, sive bonitas gratuita, sive bonitas ex acceptatione divina in ordine ad praemium.« Ord., II, dist. 7, qu. un., n. 11 (VI/2, S. 566). 281 Physik, VII, 3 (246 a 30–246 b 21). (Vgl. Kategorien, c. 7.) Die Stelle stammt aus der Zweitfassung von Buch VII. – B. Manuwald, der im übrigen die Echtheit dieses Kapitels bezweifelt, bemerkt in seiner Untersuchung Das Buch H der aristotelischen »Physik« (Meisenheim 1971), dies sei das einzige Mal, daß die Tugenden der Kategorie πρóς τι zugerechnet würden (ebd., S. 84; vgl. S. 102, 123). Vgl. aber Topik, IV, 4, 124 b 21. – Scotus beruft sich hierauf (n. 15, S. 144): »Relatio non est principium activum, nec aliquid essentialiter includens relationem; habitus autem est ›ad aliquid‹ secundum Philosophum VII Physicorum; ergo etc.« Vgl. n. 71, S. 172; in der »quinta via« n. 60–63, S. 163f. Auch Thomas kennt den fraglichen Passus, schließt aber einen Kategorienwechsel des habitus (von der Qualität zur Relation) ausdrücklich aus: »Nec oportet exponere optimum, aliquid extrinsecum, sicut quod est pulcherrimum aut sanissimum, ut Commentator exponit: accidit enim pulchritudini et sanitati relatio quae est ad extrinsecum optime dispositum; sed per se competit eis relatio quae est ad bonum opus. […] Non autem est hic intelligendum quod huiusmodi habitus et dispositiones hoc ipsum quod sunt, ad aliquid sint; quia sic non essent in genere qualitatis, sed relationis: sed quia eorum ratio ex aliqua relatione dependet.« In VIII libros Physicorum Aristotelis expositio, lib. VII, lectio 5, n. 918 (Marietti). (Hervorh. von mir.)

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Aggregat aller einem Körper zukommenden Bestandteile und deren Beziehungen untereinander (und zu dem Körper selbst) darstelle.282 Hauptbezugspunkt ist wieder die Vernunft: ein Akt ist gut, wenn er mit ihr übereinstimmt.283 Die Eigenschaft »gut« wird, wenn man so will, aus dem Inneren des Akts herausverlagert in die Beziehung, die er zur Vernunft unterhält. Diese Beziehung ergibt sich notwendig (hat also keinesfalls den Charakter eines aktiven Prinzips), wenn auf der einen Seite der moralisch qualifizierbare Akt und auf der anderen Seite die Vernunft einander gegenüberstehen.284 Wie man sich das vorstellen kann, erklärt Scotus an einem Beispiel: Angenommen, jemand übt sich in Akten der Abstinenz (die einen habitus erzeugen), tut es aber zunächst aus einem irrigen Grund – er enthält sich etwa des Alkohols, weil er glaubt, in einem Land der Prohibition zu leben –, so kann, wenn der irrige Grund durch einen vernünftigen ersetzt wird (z. B. Fortsetzung der spirituösen Abstinenz zur Pflege spiritueller Freiheit), ebenderselbe habitus, der zuvor durch irrende Vernunft zustandegekommen war, zur Tugend werden.285 »[…] et ita nihil aliud in entitate absoluta dicit habitus qui est virtus moralis, ab illo qui est talis in natura, et non virtus […]«286 Durch die Verbindung mit der Vernunft erfährt der habitus keineswegs eine innerliche Veränderung; gleichwohl kann er als Instrument (so muß man wohl sagen287) der Vernunft anderes bewirken, als ohne sie. (Dabei bleibt freilich die habitus-Kausalität sekundär gegenüber der Vernunft-Kausalität.) – Aus dem Befund »die Moralität (d. h., die Verbindung mit der Vernunft) tut nichts zum habitus« folgt also »der habitus (als aktives Prinzip) tut nichts zur Moralität«.

282 »[…] sicut pulchritudo non est aliqua qualitas absoluta in corpore pulchro, sed est aggregatio omnium convenientium tali corpori […], et aggregatio etiam omnium respectuum (qui sunt istorum ad corpus et ad se invicem), ita bonitas moralis actus est quasi quidam decor illius actus […]« N. 62, S. 163. Mit »aggregatio« ist die schwächste Form der Einheit bezeichnet: »possumus invenire in unitate multos gradus – primo, minima est aggregationis; in secundo gradu est unitas ordinis, quae aliquid addit supra aggregationem; in tertio est unitas per accidens […]; in quarto est per se unitas compositi […]; in quinto est unitas simplicitatis, quae est vere identitas […]« Ord., I, dist. 2, pars 2, qu. 1–4, n. 403 (ed. Vat., II, S. 356). 283 »[…] possumus dicere quod convenientia actus ad rationem rectam est qua posita actus est bonus, et qua non posita […] non est bonus […] Principaliter ergo conformitas actus ad rationem rectam – plene dictantem de circumstantiis omnibus debitis istius actus – est bonitas moralis actus.« N. 62, S. 164. 284 »[…] impossibile est aliquem actum poni in esse et rationem rectam poni in esse, quin ex natura extremorum sequatur in actu talis conformitas ad rationem rectam; relatio autem consequens extrema necessario, non habet causam propriam aliam ab extremis.« N. 63, S. 164. 285 N. 65, S. 167f. 286 N. 66, S. 168. 287 Tatsächlich sagt Scotus an einer Stelle so: »[…] habitus non utitur potentia, sed potentia habitu, sicut causa secunda, et instrumento […]« Ord., IV, dist. 49, qu. 6, n. 9 (X, S. 433).

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Die Rolle des habitus als Instrument der Vernunft wird noch einmal unterstrichen durch den Vergleich der Sehkraft eines Gesunden und eines Geisteskranken – beim einen kann sie an Akten der Freiheit mitwirken, beim anderen nicht; als Sehkraft bleibt sie immer dieselbe.288 Das vorläufige Fazit der »quinta via« lautet:289 »Weder also von seiten des Akts, insofern er moralisch gut ist, noch von seiten des habitus, insofern er eine moralische Tugend ist, läßt sich ein besonderer Grund finden, aus dem die Tugend als solche das Prinzip des Akts als eines moralisch guten wäre […]« Die Sorgfalt der Formulierung belegt, daß es sich der Doctor subtilis alles andere als leicht gemacht hat – doch bleiben Zweifel, ob die Auffindung von Gründen für die prinzipielle Notwendigkeit des habitus nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt war (wohlgemerkt, nicht des habitus schlechthin, sondern als Prinzip der Freiheit). In der Tat läßt Scotus nie einen Zweifel daran, daß der habitus natürlich wirkt und nicht frei. Selbst im Fall der »tertia via«, die der Aktivität des habitus die größten Zugeständnisse macht, gilt: »habitus movet potentiam quasi quoddam pondus«, er bewegt den Willen wie ein Gewicht.290 (Das Gleichnis setzt voraus, daß Wille und Gewicht in die gleiche Richtung ziehen.) Dies gilt auch vom »habitus supernaturalis«, der Gnade. In dem berühmten – Augustinus zugeschriebenen – Beispiel, die Gnade sei wie der Reiter, der Wille wie das Pferd, dreht Scotus die Rollen um. Das Pferd ist frei, die Gnade sitzt darauf »per modum naturae«.291 Und auch die

288

N. 66, S. 168f. N. 67, S. 169. 290 N. 69, S. 171. Scotus fährt fort: »[…] quod tamen ex se non sufficit ad eliciendum active ipsam operationem, sufficit autem sola virtus potentiae activae, sine tali pondere […]« Abschließend heißt es zur »tertia via«: »Und für diesen Weg scheint die allgemeine Erfahrung zu sprechen, denn jedermann kann erfahren, daß er, wenn er sich einen habitus erworben hat (se habituatum), mit gleicher Anstrengung eine vollkommenere Handlung (operationem) haben kann, als er sie als non-habituatus haben könnte (diese Vollkommenheit der Handlung könnte dem habitus nicht zugeschrieben werden, wenn er nur ein inklinierendes passives Prinzip wäre) […]« N. 70, S. 171. – Nun müssen noch letzte Bedenken wegen der zuvor ventilierten Gegenargumente ausgeräumt werden, insbesondere zum Problem der Dequalifizierung des habitus zur Relation (s. o., Anm. 281). Scotus zeigt, daß beides zugleich denkbar ist: etwas kann Relation und »essentia absoluta« sein, und zwar real identisch, formal nicht-identisch. Beispiele: in der Trinität ist der Vater etwas Absolutes, und als Vater doch zugleich Beziehung auf den Sohn; in der Schöpfung sind die Dinge einerseits etwas für sich, andererseits auf den Schöpfer bezogen. (Zum ersten Beispiel Ord., I, dist. 2, pars 2, qu. 1–4, n. 388–410; ed. Vat., II, S. 349–361; zum zweiten: Ord., II, dist. 1, qu. 4, n. 21–25; ed. Wadding, VI/1, S. 73–75.) 291 N. 155, S. 213. Für den habitus (den natürlichen wie den übernatürlichen) gilt generell: »habitus ex parte sui agit per modum naturae.« N. 189, S. 228. – Vgl. Lectura, I, dist. 17, pars 1, qu. un., n. 78 (ed. Vat., XVII, S. 206). Das Beispiel vom Reiter Natur auf dem Pferd Freiheit ebd., n. 99, S. 211f. – Das »Abweichen dieser Interpretation des Beispieles von den tatsächlichen Gege289

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Gottesliebe wird einem Gewicht verglichen: »caritas est pondus quo tenditur in Deum.«292 Parthenius Minges faßt zusammen:293 »Habitus etiam supernaturalis formaliter est et manet habitus et agit sicut alius habitus, id est sicut quaedam consuetudo, non libere, sed naturaliter similiter atque agens aliquod physicum.« Alles, was geschieht, geschieht entweder aus Natur oder aus Freiheit.294 Einen Übergang zwischen diesen beiden elementaren Prinzipien gibt es nicht. Dennoch können sie zusammenwirken, wie das in verschiedenen Zusammenhängen erprobte Modell einer Ko-Kausalität, bei der der eine Faktor frei, der andere natürlich wirkt (der erste übergeordnet und als Hauptursache, der zweite untergeordnet und als Nebenursache), zeigt.295 benheiten« unterstreicht W. Dettloff: Die Lehre von der Acceptatio Divina bei Johannes Duns Scotus, Werl 1954, S. 151 (und 48). 292 Ord., I, dist. 17, pars 1, qu. 1–2, Appendix A (ed. Vat., V, S. 382). Vgl. Rep. Par., I, dist. 17, qu. 2, n. 8 (ed. Wadding, XI/1, S. 97 ab), wo Augustins »amor meus, pondus meum« (Confessiones, XIII, c. 9, n. 10) zitiert wird. Bemerkenswert ist, daß Scotus das Gewicht als »quoddam allevians« bezeichnet – d. h., es zieht hinauf, nicht hinab. Ein Blick in Augustins Bekenntnisse (ebd.; übers. von C. J. Perl, Paderborn 21964, S. 367) hilft weiter: »Der Körper strebt durch sein Gewicht nach seinem Ort. Das Gewicht zieht ihn nicht immer nur nach unten, sondern hin zu seinem Ort. Das Feuer strebt nach oben, der Stein nach unten. Nach ihren Gewichten müssen sie handeln und suchen ihre Orte. […] Mein Gewicht ist meine Liebe; von ihr werde ich in Bewegung gesetzt, wohin auch immer mich mein Weg führt.« Zur caritas als »pondus voluntatis« vgl. Rep. Par., a. a. O., qu. 7, n. 8 (S. 104 ab); Lectura, I, dist. 17, pars 1, qu. un., n. 84–87 (ed. Vat., XVII, S. 208f.). 293 P. Minges: Ioannis Duns Scoti doctrina philosophica et theologica quoad res praecipuas proposita et exposita, 2 Bde., Ad Claras Aquas (Quaracchi) 1930, Bd. 2, S. 421. Der Begriff »consuetudo«, Gewohnheit, ist bezeichnend für das von Duns Scotus geprägte habitus-Verständnis. – In Bd. 1 (a. a. O., S. 466) schreibt Minges: »[…] fortasse habitus nonnisi est quoddam principium passivum seu forma, quae velut pondus potentiam inclinat.« 294 Vgl. Mary E. Ingham: »The Condemnation of 1277: Another Light on Scotist Ethics«, Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie, 37 (1990), S. 91–103, hier S. 96f. Duns Scotus: Quaestiones super libros Metaphysicorum Aristotelis, l. IX, qu. 15, n. 23; in: Opera Philosophica, ed. Etzkorn, IV, St. Bonaventure 1997, S. 681 (ed. Wadding, ebd., n. 4; IV, S. 797 b): »[…] prima divisio principiorum activorum est in naturam et voluntatem […]« Quodl., qu. 16, n. 13 (XII, S. 456): »[…] natura et libertas sunt primae differentiae agentis, vel principii agendi«. »[…] esse naturaliter activum et esse libere activum, sunt primae differentiae principii activi […]« Ebd., n. 15, S. 457. – Vgl. Ord., I, dist. 1, pars 2, qu. 2, n. 80 (ed. Vat., II, S. 60): »[…] natura et voluntas sunt principia activa habentia oppositum modum principiandi […]« Von Mary E. Ingham übernehmen wir auch im folgenden den Ausdruck »Ko-Kausalität« (a. a. O.; in dem in Anm. 278 zitierten Werk auf S. 167, 188, 198 sowie: »Ea quae sunt ad finem: Reflections on Virtue as Means to Moral Excellence in Scotist Thought«, Franciscan Studies, 50, 1990, S. 178–195, hier S. 190f.). 295 Außer auf Willen und habitus findet es Anwendung auf Willen und Intellekt, auf Intellekt und Erkenntnisobjekt bzw. auf Willen und Willensobjekt. Der erste Fall ist der der »tertia via«, n. 32, S. 152. Es geht, wir sahen es schon, um die Rolle beider Kräfte bei der Hervorbringung eines moralischen Akts. Vgl. Hoeres (wie Anm. 245), S. 162–181. – Zum zweiten Fall: »[…] intellectus dependet a volitione, ut a causa partiali, sed

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Der Aufweis, daß die Gesamtwirkung der beiden Teilursachen (nämlich das moralische Handeln) frei sein kann, obwohl dabei der habitus in der Rolle eines natürlichen Faktors mitspielt,296 bedeutet für die Rettung der Relevanz des habitus einen ähnlichen Drahtseilakt wie die Doppelbestimmung des habitus als Relation und als Absolutes297 (Ockham wird in Richtung Relation abstürzen). Der habitus wird hochgehalten298 – und doch in seiner Bedeutung ausgehöhlt. Das soll abschließend ein kleines Gedankenexperiment bestätigen, das die veränderte Sicht der Dinge bei Scotus verrät. Um darzutun, daß der habitus nicht als frei verursachendes Prinzip zu denken ist, wird folgendes konstruiert: wenn der Wille bei der Wahl gerechter Akte zugleich wollte, daß aus diesen Akten kein habitus der Gerechtigkeit entsteht, so würde dies gleichwohl die Entstehung des habitus nicht verhindern. Was aber nicht dem freien Willen unterliegt, kann selbst nicht frei sein.299 superiori: e converso autem voluntas ab intellectione, ut a causa partiali, sed subserviente.« Ord., IV, qu. 49, qu. ex latere, n. 18 (X, 413). Es geht um die Rolle der beiden Vermögen in der »visio beatifica«. – Zum dritten: Scotus verweist darauf in der »tertia via« (s. o.): Ord., I, dist. 3, pars 3, qu. 2, n. 495–498 (ed. Vat., III, S. 293–295). Es geht um die Rolle beider Faktoren für die Erkenntnis. Hier ist die Einteilung in eine freie und eine natürliche Teilursache nicht so eindeutig (das Freiheitsmoment liegt zweifelsohne auf seiten des Intellekts). – Zum vierten: Ord., II, dist. 25, qu. un. (VI/2, S. 873–890); dazu K. Bali´c (Hrsg.): »Une question inédite de J. Duns Scot sur la volonté«, Recherches de théologie ancienne et médiévale, 3 (1931), S. 191–208 und Lectura, II, dist. 25, qu. un., (ed. Vat., XIX, S. 229–263); Collationes, 3 (ed. Wadding, III, S. 353 b–355 b); R. Zavalloni: »L’intelligenza affettiva in G. Duns Scoto alla luce della psicologia moderna«, Antonianum, 54 (1979), S. 40–75, hier S. 60f.; H. Möhle: Ethik als scientia practica nach Johannes Duns Scotus. Eine philosophische Grundlegung, Münster 1995, S. 174–205 (= Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, Neue Folge, Bd. 44). Daß es in diesem Punkt bei Scotus eine Lehrentwicklung gegeben habe, scheint mit der Edition von Lectura, II, dist. 25, qu. un., widerlegt: vgl. ed. Vat., XIX, Rom 1993, S. 38*– 41*. – Lit. zum ganzen: Mary E. Ingham (vgl. Anm. 278), S. 47–62; B. M. Bonansea: Man and his Approach to God in John Duns Scotus, Lanham u. a. 1983, S. 65–89; Gilson (wie Anm. 256), S. 542–562, 611–615; Minges, a. a. O., Bd. 1, § 6, S. 287–351. – Vgl. auch den Hinweis bei Ockham: Scriptum in primum librum Sententiarum, dist. 1, qu. 6 (OTh I, S. 492). 296 Ord., III, dist. 34, qu. un., n. 23 (VII/2, S. 707). Vgl. die Anwendung auf den habitus der caritas in: Lectura, I, pars 1, qu. un., n. 78 (ed. Vat., XVII, S. 206): »Non obstante quod caritas sit agens naturale respectu actus diligendi (quia, quantum est ex parte sui, semper inclinat in finem), quia tamen principalius agens istam actionem est voluntas, ideo caritas non habet actionem suam nisi praesupposita actione voluntatis, quae libera est; ideo similiter actio caritatis erit libera, licet non in comparatione ad caritatem.« Vgl. Rep. Par., II, dist. 29, qu. 1, n. 6f. (XI/1, S. 378 b–379 a). 297 Vgl. Anm. 290; dazu Rep. Par., II, dist. 29, qu. 1, n. 10 (XI/1, S. 379 b): »dico quod esto quod habitus esset relatio, non tamen est sola relatio: nam etsi includit relationem, includit tamen cum hoc qualitatem.« Mary E. Ingham (wie Anm. 278, S. 229) charakterisiert Scotus treffend als Balance-Künstler, der die Abstürze seiner Nachfolger vorprogrammiert. 298 »In doctrina tota Scoti cum philosophica tum theologica habitus tenet locum praecipuum, de eo mentio fit sexcenties«, schreibt Minges, a. a. O., Bd. 1, S. 327. 299 Collationes, 6, n. 5 (III, S. 358 a): »quantumque enim voluntas eliciens actus iustitiae

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Wäre denn, so fragt man sich unwillkürlich, eine Handlung wirklich gerecht, die man nur als ganz vereinzelte so wollte, hier und jetzt, wobei man sich ausdrücklich gegen die Folge, ein Gerechter zu werden, verwahrte? Kann man gerecht handeln wollen, ohne gerecht sein zu wollen? Und wäre das Moment der Reflexion – einer solchen Reflexion – nicht für den moralischen Akt im gleichen Maß kontraproduktiv wie für den moralischen habitus? Es geht bei Scotus um die größtmögliche Freiheit. Wessen Freiheit? Das wird sich genauer herausstellen, wenn wir uns den theologischen Bezug seiner habitusLehre vergegenwärtigen.

3. Theologisch: caritas und acceptatio divina Mit der Lösung der philosophischen Frage, inwieweit der habitus für das Zustandekommen eines moralischen Akts notwendig ist, wird die Lösung der parallelgeschalteten theologischen Frage vorbereitet: inwieweit ist die caritas notwendig für das Zustandekommen eines meritorischen Aktes?300 (Als meritorisch gilt ein Akt, mit dem wir die ewige Seligkeit verdienen. Die Worterklärung macht mißtrauisch: kann man das überhaupt, die ewige Seligkeit verdienen?) Nach dem vorigen dürfte es nicht überraschen, daß Scotus den Akzent wieder auf den Akt und nicht auf den habitus (hier: die caritas) setzt. Zunächst aus psychologischen Gründen:301 »Aus keinem Akt, den wir erfahren, weder aus der Substanz des Aktes, noch aus seiner Intensität, weder daraus, daß unser Handeln freudig, noch daraus, daß es leicht vonstatten geht, weder aus der Güte noch aus der moralischen Rechtheit des Aktes können wir auf das Innesein irgendeines solchen übernatürlichen habitus schließen […]« nollet, quod ex istis generaretur iustitia in ipsa, adhuc necessario iustitia generaretur in ea, cum huiusmodi actus naturaliter suam similitudinem imprimunt in voluntate: ergo voluntas nullam activitatem immediate habet super habitum […]« Vgl. Ord., I, dist. 12, qu. 1, n. 17 (ed. Vat., V, S. 34). – Vgl. dagegen Nik. Ethik, III, 7 (1114 a 9–13): »Wenn man nicht weiß, daß Akte, die in bestimmter Richtung erfolgen, einen entsprechenden Habitus erzeugen, so nimmt sich das beinahe wie Stumpfsinn aus. Es ist aber auch unvernünftig, wenn man Unrecht tut und dabei nicht den Willen haben soll, ungerecht zu sein, und zuchtlos lebt und nicht den Willen haben soll, zuchtlos zu sein. Wer mit klarer Erkenntnis tut, was ihn ungerecht macht, ist doch wohl freiwillig ungerecht.« (A. a. O. – wie Anm. 277 –, S. 56.) 300 Die Frage nach der Notwendigkeit der caritas war der Ausgangspunkt (n. 1, S. 139), auf den rekurriert wird (n. 101, S. 190), nachdem die Frage nach der Aktivität des habitus im allgemeinen (n. 6, S. 141) geklärt ist. 301 N. 126, S. 200f. – Vgl. J. Auer: Die Entwicklung der Gnadenlehre in der Hochscholastik, Bd. 1, Freiburg 1942, S. 194f.; Bd. 2, Freiburg 1951, S. 248f. – Auch für Thomas steht fest, daß wir nicht wissen können, ob wir die Liebe haben: De veritate, qu. 10, a. 10; De caritate, a. 7, obi. 16 und ad 16.

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Über das Innesein der Liebe bzw. der Gnade302 läßt sich empirisch nichts ausmachen. Was den meritorischen Akt charakterisiert, sind nicht so sehr die eben aufgezählten Modalitäten, sondern der Umstand, daß er für Gott annehmbar ist.303 Dieser Umstand, das besondere Angenommensein von Gott, bezieht sich nicht nur auf aktuelles Handeln – er bezeichnet einen habitus, »quo habens formaliter acceptetur a Deo et quo actus eius elicitus acceptetur tamquam meritorius.«304 Unter theologischem Gesichtspunkt erscheint damit die Rolle des habitus aufgewertet. Im Ko-Kausalitätsgespann avanciert er von der causa secunda zur causa prima. Für den Akt als Akt bleibt zwar gültig, was oben (in der »tertia via«) entwickelt worden war: »[…] in hac causalitate habitus est causa secunda et potentia causa prima«;305 für den Akt als meritorischen gilt das Umgekehrte: Gott akzeptiert ihn in erster Linie, weil er einem caritas-habitus, und in zweiter Linie, weil er dem freien Willen entspringt:306 »Sed accipiendo actum secundum rationem meritorii, potest dici quod ista condicio principaliter competit actui ab habitu et minus principaliter a voluntate: magis enim acceptatur actus ut dignus praemio quia est elicitus a cari-

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Caritas und gratia sind für Scotus derselbe habitus (vgl. ed. Vat., V, S. 203, Anm. 4).; n. 170, S. 219. »[…] caritas […] respicit Deum non in ratione diligentis, sed diligibilis; gratia […] respicit Deum acceptantem sive diligentem, non autem dilectum.« Ord., II, dist. 27, qu. un., n. 4 (ed. Wadding, VI/2, S. 907). Vgl. Lectura, II, dist. 27, qu. un., n. 5 (ed. Vat., XIX, S. 272): »Dicendum quod caritas est secundum quam quis habet Deum carum, sed gratia secundum quam habetur a Deo carus […]« Caritas ist die Liebe, mit der der Mensch Gott, gratia die Liebe, mit der Gott den Menschen liebt. Vgl. ebd., dist. 30-32, qu. 1-4, n. 51 (ebd., S. 306f.); Rep. Par., II, dist. 27, qu. un., n. 3 (XI/1, S. 375 a): »Ideo dico quod gratia est virtus, et est idem re quod ipsa charitas […]« Dazu D. Scaramuzzi: Il pensiero di Giovanni Duns Scoto nel Mezzogiorno d’Italia, Rom 1927, S. 58f.; Mary E. Ingham (wie Anm. 278), S. 219 und Anm. 17. – Wilhelm de la Mare und Heinrich von Gent haben diese Ansicht schon vorher vertreten: vgl. Auer (wie Anm. 301), Bd. 1, S. 136-141. – Thomas unterscheidet: De veritate, qu. 27, a. 2; Summa theol., I-II, qu. 110, a. 3. 303 »Dico igitur quod ultra omnes condiciones praedictas […] creditur esse una condicio in actu, videlicet quod est acceptabilis Deo […] acceptatione speciali, quae est in voluntate divina ordinatio huiusmodi actus ad vitam aeternam […]« N. 129, S. 202. 304 »Et hoc modo credimus naturam nostram beatificabilem, iustam, esse habitualiter acceptam, – hoc est quod quando non actualiter operatur, adhuc tamen voluntas divina eam ordinat ad vitam aeternam, tamquam dignam tanto bono […] Et propter hanc acceptationem naturae beatificabilis habitualem etiam quando non operatur, et propter acceptationem actualem actus eliciti a tali natura, oportet ponere habitum unum supernaturalem, quo habens formaliter acceptetur a Deo et quo actus eius elicitus acceptetur tamquam meritorius.« N. 129, S. 202f. 305 N. 151, S. 211. 306 N. 152, S. 211. – Besonders ausführlich in: Lectura, I, dist. 17, pars 1, qu. un., n. 71-88 (»De actu ut actus est«), n. 89-103 (»De actu ut meritorius est«); ed. Vat., XVII, S. 203-213. – »Das Verhältnis causa prima – causa secunda wechselt, je nachdem der Akt als Akt oder als verdienstlicher Akt betrachtet wird.« W. Dettloff: Die Entwicklung der Akzeptations- und Verdienstlehre von Duns Scotus bis Luther mit besonderer Berücksichtigung der Franziskanertheologen, Münster 1963, S. 289, Anm. 137.

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tate, quam quia est a voluntate libere elicitus, quamvis utrumque necessario requiratur.« Drei Beispiele veranschaulichen das. Beim Zerteilen eines Gegenstandes ist zwar die Hand wichtiger als das Messer; daß aber das Ergebnis Gefallen findet, daß es »sich sehen lassen kann«, geht eher aufs Konto der scharfen Schneide. Oder: das Sein eines Klanges rührt mehr aus dem Anschlagen des tönenden Körpers; daß der Klang dem Ohr angenehm ist, verdankt er vor allem der Reihenfolge des Anschlags (seiner Stellung in einer Melodie). Schließlich: wenn auch – im Rahmen der aristotelischen Naturphilosophie – der Vater die Hauptursache des Sohnes ist, so kann dieser doch mehr um seiner Mutter als um seines Vaters willen geschätzt werden.307 Ob Messer, Melodie, Mutter – all diese Illustrationen des habitus als der entscheidenden Teilursache eines verdienstlichen Akts gelten nur unter einer Bedingung, mit der Scotus dem eben Gesagten den Boden zu entziehen scheint. Es ist die berühmte Unterscheidung zwischen der geordneten und der absoluten Macht Gottes.308 Wir haben bis jetzt die Verhältnisse kennengelernt, wie sie de potentia ordinata gelten: Gott akzeptiert den Menschen und bestimmt ihn für die ewige Seligkeit, weil dieser den habitus der Liebe hat und aus ihm heraus gottgefällige Akte wirkt. Das muß aber nicht so sein. Absolut gesprochen (man denkt an Luther und Kierkegaard) gibt es kein Recht, keinen Anspruch, kein Verdienst des Menschen gegenüber Gott. Gott ist immer frei (»Deus semper maior«) – nichts zwingt ihn, unsere Liebe anzunehmen.309 Und so wird – im Blick auf die potentia Dei absoluta – die Frage nach der Notwendigkeit eines habitus supernaturalis verneint.310

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N. 153, S. 211f. (Das Musikbeispiel plastischer in: Lectura, a. a. O., n. 95, S. 211.) Vgl. Rep. Par., II, dist. 29, qu. 1, n. 7f. (XI/1, S. 379 a). 308 Sie stammt nicht von Scotus, sondern etablierte sich bereits 100 Jahre vorher: vgl. den Artikel »Potentia absoluta/ordinata« von W. J. Courtenay: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Basel 1989, Sp. 1157-1162. Belege für die Verwendung vor Scotus auch bei J. Auer (wie Anm. 301), Bd. 1, S. 109, Anm. 82; Bd. 2, S. 159, Anm. 27; B. Hamm: Promissio, pactum, ordinatio. Freiheit und Selbstbindung Gottes in der scholastischen Gnadenlehre, Tübingen 1977, S. 473-478. – Vgl. auch das Kap. »Omnipotentia divina« bei R. Schönberger: Relation als Vergleich. Die Relationstheorie des Johannes Buridan im Kontext seines Denkens und der Scholastik, Leiden u. a. 1994, S. 315-328. 309 Ord., I, dist. 17, pars 1, qu. 1-2, Appendix A (ed. Vat., V, S. 379, Z. 9f.): »nihil ex parte creaturae potest esse ratio formalis actus divini«; vgl. Rep. Par., I, dist. 17, qu. 2, n. 5 (ed. Wadding, XI/1, S. 96 b): die caritas ist der Grund für die Annehmbarkeit (acceptabilitas) des Menschen durch Gott, nicht für die tatsächliche Annahme. 310 N. 164, S. 217: »non est necessarium ponere habitum supernaturalem gratificantem, loquendo de necessitate respiciente potentiam Dei absolutam (praecipue cum posset dare beatitudinem sine omni merito praecedente), licet tamen hoc sit necessarium loquendo de necessitate quae respicit potentiam Dei ordinatam, quem ordinem colligimus in Scriptura et ex dictis sanctorum, ubi habemus quod peccator non est dignus vita aeterna et iustus est dignus.«

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Das ist, salopp gesagt, schön für die Freiheit Gottes, aber wehe dem Menschen, der an dieser Freiheit irre wird! Es ist nicht gerade beruhigend, wenn es in einer Stelle der Lectura heißt, Gott hätte auch das Aufheben eines Grashalms (das Standardbeispiel für einen moralisch indifferenten Akt311) zur Bedingung der Seligkeit machen können.312 Warum auf seiten des Menschen eine Pyramide natürlicher und übernatürlicher habitus errichten, wenn der Akt Gottes, in dem das Ganze gipfeln soll, ganz und gar unberechenbar bleibt? Scotus zählt vier Aspekte auf, unter denen sich menschliches Handeln betrachten läßt. Erstens als dem freien Willen entsprungen (»actus nudus«); zweitens als tugendhaft, bzw. vernunftgemäß (»actus virtuosus«); drittens aus Liebe (»actus charitativus«); viertens mit Bezug auf die Annahme durch den Willen Gottes (»actus meritorius«). Schon der Schritt von der zweiten Stufe zur dritten steht nicht mehr in unserer Macht;313 die dritte Stufe ist dann zwar Voraussetzung der vierten, aber »non ex natura rei, sed ex dispositione voluntatis acceptantis«,314 d. h., nicht weil es da einen inneren Zusammenhang gäbe, sondern weil Gott es de potentia ordinata so eingerichtet hat. Es steht Gott frei, was er als Eintrittskarte für den Himmel verlangt. De potentia ordinata den habitus caritatis; aber warum nicht z. B. eine Kugel Gold oder eine Gesteinsprobe des Alpha Centauri? – In jedem Fall können wir uns das, was Gott von uns anzunehmen gedenkt, nicht selbst verschaffen. Er muß es uns vorher in die Hand drücken; doch nichts verbietet ihm, jemanden trotz Eintrittskarte wegzuschicken315 oder jemanden ohne Eintrittskarte (also ohne Gnade) einzulassen. Anders als bei Thomas, verändert das Geschenk der Gnade den Menschen nicht spürbar, wofür Scotus wiederum eine psychologische Beobachtung ins Feld führt: unmittelbar nach dem Empfang der Absolution fällt es dem ehemaligen Sünder immer noch schwer, einen Akt der Gottesliebe zu wählen. »Der Widerstand gegen die Laster und die Fortführung der guten Werke scheinen ihm nämlich so schwierig wie damals, als er noch in Sünden lebte, oder nicht viel leichter, bis er durch Kampf und Sieg über die Leidenschaften einen entgegengesetzten habitus erworben hat, und 311

Vgl. Thomas von Aquin: Summa theol., I-II, qu. 18, a. 8. Lectura, I, dist. 17, pars 1, qu. un., n. 89 (ed. Vat., XVII, S. 209). 313 »Deus enim acceptat te non propter actionem tuam (man könnte ergänzen: nudam vel virtuosam), sed quia dat tibi charitatem, propter quam acceptat te, et non propter opus tuum.« Collationes, 6, n. 15 (ed. Wadding, III, S. 362 a). 314 Quodl., qu. 17, n. 13 (ed. Wadding, XII, S. 472). 315 Diese »negative potentia-dei-absoluta-Spekulation« (W. Dettloff, wie Anm. 306, S. 136) ist bei Scotus nicht ausgeführt, liegt aber in der Logik des Gedankens, der sich dann u. a. bei den Dominikanern Durandus de Sancto Porciano und Petrus de Palude wie auch bei den Scotus-Schülern Johannes de Bassolis und Franciscus de Mayronis sowie bei Ockham ausgesprochen findet. Vgl. W. Dettloff, ebd., S. 120, 128 (Durandus); 136f. (Petrus de Palude); 155, 158 (mit Anm. 64), 161ff. (Johannes de Bassolis); 173, 179 (Franciscus de Mayronis); 279, 282f. (Ockham); 363. 312

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dann freudig handelt. Also wohnt jenem Gerechtfertigten kein eingegossener habitus inne […]«316 Völlig zerschnitten aber ist das für Thomas so selbstverständliche Band zwischen Gnade und Angenommensein durch Gott. De potentia absoluta kann Gott jemanden annehmen, der die Gnade nicht hat,317 und umgekehrt. Aber heißt »die Gnade haben« nicht das gleiche wie »von Gott angenommen sein«? Ist die acceptatio etwas rein Äußerliches? Der menschlichen Erfahrung nach möglicherweise schon; Thomas von Aquin erörtert dies in einem Gedankengang, der die scotischen Überlegungen zur »acceptatio divina de potentia Dei absoluta« vorwegzunehmen scheint:318 »[…] acceptatus autem dicitur aliquis per Dei acceptationem, quae quidem est in ipso Deo; sicut et aliquis dicitur homini acceptus non per aliquid quod sit in acceptato, sed per acceptationem quae est in acceptante; ergo gratia nihil ponit in homine, sed in Deo tantum.« Wäre es so, dann stünden menschliche und göttliche Liebe auf der gleichen Stufe. Wir können etwas lieben, ohne es zu verändern; Gottes Liebe aber ist schöpferisch, und die dilectio specialis, mit der er sich selbst dem Menschen zum Geschenk machen will, kann nicht umhin, »quiddam supernaturale in homine a Deo prove-

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N. 104, S. 191f. – Vgl. Ord., II, dist. 29, qu. un., n. 7 (ed. Wadding, VI/2, S. 928); Ord., III, dist. 36, qu. un., n. 27 (VII/2, S. 828); Lectura, I, dist. 17, qu. un., n. 12 (ed. Vat., XVII, S. 188); Lectura, II, dist. 29, qu. un., n. 13 (ed. Vat., XIX, S. 286); Rep. Par., I, dist. 17, qu. 1, n. 12 (ed. Wadding, XI/1, S. 95 b). – Thomas sieht das psychologische Problem ebenfalls, behält aber die »connexio virtutum« bei: für ihn geht die caritas mit den von Scotus abgelehnten »virtutes morales infusae« einher. (Vgl. De virtutibus in communi, a. 10, bes. ad 14 und ad 15; dazu oben, S. 50 und R. Cessario: The Moral Virtues and Theological Ethics, Notre Dame, Indiana, 1991, S. 119123.) Abgesehen von ihrer Unvollkommenheit im Anfangsstadium, schreibt Thomas von der caritas: »[…] nulla virtus habet tantam inclinationem ad suum actum sicut caritas, nec aliqua ita delectabiliter operatur.« Summa theol., II-II, qu. 23, a. 2. Vgl. De caritate, a. 1: »[…] actus caritatis est maxime delectabilis et maxime promptus existenti in caritate; et per eundem omnia quae agimus vel patimur, delectabilia redduntur. […] Et inde est, quod [Deus] omnia disponit suaviter, quia omnibus dat formas et virtutes inclinantes in id ad quod ipse movet, ut in illud tendant non coacte, sed quasi sponte.« Zu dem Zitat aus Weish 8,1: vgl. Anm. 233. 317 Lectura, I, dist. 17, pars 1, qu. un., n. 102 (ed. Vat., XVII, S. 212): »[…] Deus potest acceptare animam secundum naturam suam ad beatitudinem licet non det sibi habitum caritatis.« 318 Thomas von Aquin: De veritate, qu. 27, a. 1 obi. 2. – Vgl. Summa theol., I-II, qu. 110, a. 1 obi. 1. – Anlaß für diese Vorwegnahme ist die Position des Petrus Lombardus, der in seinem Sentenzenkommentar die Identität der caritas mit dem Heiligen Geist postuliert hatte (woraus folgt, daß Liebe bzw. Gnade nichts Geschaffenes in der Seele setzen, denn der Heilige Geist ist ungeschaffen) – eine Position, die im 13. Jahrhundert nicht mehr vertreten wurde. Vgl. Petrus Lombardus: Sententiae in IV libros distinctae, Liber I, dist. 17; Grottaferrata 31971, Bd. 1, S. 141-152. – Scotus, mit seinem »gewohnten ehrfürchtigen Wohlwollen« (Dettloff, wie Anm. 291, S. 154) für den Sentenzenmeister, findet diesen mißverstanden. Vgl. Lectura, I, dist. 17, pars 1, qu. un., n. 9 (ed. Vat., XVII, S. 187); Ord., a. a. O., n. 101, S. 190f. und n. 125, S. 200.

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niens«,319 etwas Übernatürliches im Menschen zu setzen:320 »[…] ipsa acceptatio quae est in voluntate divina respectu aeterni boni, producit in homine acceptato aliquid unde dignus sit consequi bonum illud, quod non contingit in acceptatione humana […]« Die scotische Hypothese dagegen, wonach die acceptatio divina den Menschen »in puris naturalibus«321 belassen könnte, macht das Gottesverhältnis undenkbar. Und das soll sie wohl auch. Nachdem bei Scotus die Theorie der Gnade eine nahezu naturwissenschaftliche Präzision erfahren hat, soll nicht der Eindruck entstehen, Gott sei an die in philosophisch-theologischer Analyse aufzeigbaren Wege auch tatsächlich gebunden. »Ausschlaggebend für die Akzeptation ist der absolut freie Wille Gottes.«322 Die Nicht-Verbindung von gratia und acceptatio – d. h., die de potentia Dei absoluta mögliche Verbindung von nicht-gratia und acceptatio bzw. von gratia und nicht-acceptatio – zeigt, daß von der Schöpfung (einschließlich der geschaffenen caritas/gratia) kein Weg zur Erlösung führt; beides ist gleich kontingent, in gleichem Maße der göttlichen Freiheit anheimgestellt. In der Schöpfung liegt nichts, was Gott irgendwie verpflichten könnte. Was für Thomas selbstverständlich als Brücke zwischen Mensch und Gott dient – der habitus der caritas bzw. der gratia323 –, könnte auch im Nichts enden. De potentia Dei absoluta ist der Mensch ein ins Meer Geworfener, der nicht in habitueller Kontinuität, sondern nur aktuell-punktuell zum Heil kommen kann. Wie die menschliche Freiheit von keinem natürlichen, so soll die göttliche Freiheit von keinem übernatürlichen habitus Konkurrenz erfahren. Der Akt der acceptatio divina vollendet nicht eine habituell vervollkommnete Natur, sondern er schafft sie gleichsam ex nihilo324 – ja ex annihilato325 – neu. Das ist, wenn man so will, die »substantia actus«, in der die scotische Analyse des habitus aufgehoben wird.326 Dieser Akt kann weder von Natur noch Über-Natur 319

Thomas von Aquin: Summa theol., I-II, qu. 110, a. 1. Thomas von Aquin: De veritate, qu. 27, a. 1 ad 2. 321 Ord., a. a. O., n. 160, S. 215: »[…] dico quod Deus de potentia absoluta bene potuisset acceptare naturam beatificabilem […] exsistentem in puris naturalibus […]« 322 Dettloff, a. a. O., S. 100, 160; vgl. S. 56. 323 Auch für Bonaventura gehören gratia und acceptatio zusammen. Vgl. B. Hamm (wie Anm. 308), S. 224. 324 Luther wird so formulieren: »quamquam revera nihil differat creatio et recreatio, cum utraque ex nihilo operetur […]« 2. Psalmenvorlesung (1519-1521); Weimarer Ausgabe, Bd. 5, S. 544. Hinweis bei K. Holl: Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, I. Luther, 2. u. 3. Aufl., Tübingen 1923, S. 45, Anm. 1. – Vgl. W. Joest: Ontologie der Person bei Luther, Göttingen 1967, S. 265. 325 Noch einmal Luther, a. a. O., S. 167f.: »Homo enim homo est, donec fiat deus, qui solus est verax, cuius participatione et ipse verax efficitur, dum illi vera fide et spe adhaeret, redactus hoc excessu in nihilum.« Hinweis bei Joest, a. a. O., S. 264. 326 Wo – wie bei Gott – Handeln und Sein identisch sind, da ist jeder habitus überflüssig 320

Exkurs: höchster habitus und höchster Akt

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abgeleitet werden; er ist »acte gratuit«. Nichts zeigt sich in ihm – nichts Geschaffenes, »nur« die Freiheit Gottes. Diese Freiheit manifestiert sich für Thomas positiv in der Schöpfung327 – für Scotus manifestiert sie sich negativ in der Erlösung, insofern diese de potentia Dei absoluta an nichts anknüpft. Während bei Thomas das Geschaffene seine Natur in seinen Akten offenbart,328 tritt bei Scotus die Natur hinter ihre Akte – zumal hinter den actus meritorius, der de potentia Dei absoluta eigentlich ganz von Gott kommt – zurück. So verlagert sich das ethische Interesse der Folgezeit von der Güte des handelnden Subjekts zur Güte der Handlung. Habitus und Tugend als ausgezeichnete Seinsweisen der menschlichen Natur verlieren an Bedeutung.329

B. Exkurs: höchster habitus und höchster Akt 1. Gott schauen oder Gott lieben? Es wäre einseitig, die habitus-Lehre des Duns Scotus nur im düsteren Licht der potentia Dei absoluta zu sehen. Wie Scotus einmal bemerkt, liegt die höchste Macht sowohl im Trennen des Verbundenen als auch im Verbinden des Getrennten.330 Während nun in vielen Fällen (z. B. connexio virtutum,331 gratia und acceptatio) (Summa theol., I-II, qu. 49, a. 4). De potentia Dei absoluta könnte man in scotischer Sicht sagen: operatio acceptans Dei est nostra substantia – und daher ist, diesmal auf seiten des Menschen, jeder habitus überflüssig. – Hier liegt wohl die Wurzel von Luthers »Ablehnung des substanzialen Personverständnisses« (Joest, a. a. O., S. 237), die zwangsläufig eine Ablehnung des habitus-Gedankens einschließt. 327 Vgl. den von Chesterton und Josef Pieper für Thomas vorgeschlagenen Ehrennamen »Thomas a Creatore« – »Thomas von Gott, dem Schöpfer«. (O. H. Pesch: Thomas von Aquin. Größe und Grenze mittelalterlicher Theologie, Mainz 31995, S. 399f.) 328 Thomas von Aquin: »Nam si consideremus actum in quantum est actus, bonitas eius est ut sit quaedam emanatio secundum virtutem agentis […]« De malo, qu. 2, a. 4. 329 Entsprechend sieht H. Möhle »bei Scotus eine Loslösung der Kriterien für die Bestimmung der moralischen Handlungen von der Ebene des Habituellen« und kommt zu dem Schluß: »Innerhalb der scotischen Ethik« ist die »Möglichkeit zum Entwurf einer Tugendethik nicht gegeben.« (A. a. O. – wie Anm. 295 –, S. 245, 259.) Vgl. Mary E. Ingham (wie Anm. 278), S. 198: »The virtues […] cease to play any significant role in moral discussion.« (Vgl. ebd., S. 200, 240.) 330 Duns Scotus: Rep. Par., I, dist. 42, qu. 1–2, n. 8 (ed. Wadding, XI/1, S. 226 b). 331 Ord., III, dist. 36, qu. un. (VII/2, S. 782): »Utrum virtutes morales sint connexae?« Scotus lehnt sowohl die Verbindung der moralischen Tugenden untereinander (n. 9, S. 793), der moralischen Tugenden mit der Klugheit (n. 14, S. 806), der moralischen Tugenden mit den theologischen (n. 28, S. 836; n. 29, S. 848) als auch der theologischen Tugenden untereinander (n. 30, S. 849) ab (vgl. Anm. 211). Wir hätten genauer sagen müssen: Für Scotus gibt es Klugheit ohne moralische Tugend, aber keine moralische Tugend ohne (jeweilige) Klugheit. Vgl. St. D. Dumont: »The Necessary Connec-

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Aushöhlung des habitus-Begriffs

der Doctor subtilis trennt, wo der Doctor communis verbindet, stellen sich die Dinge anders dar, wenn es um die Frage nach dem höchsten habitus und nach dem höchsten Akt geht. Aus den aristotelischen Prämissen des hl. Thomas ergibt sich, daß der Intellekt die höchste Fähigkeit des Menschen ist; aus seinen christlichen Prämissen folgt der Primat der Liebe.332 Wie kann zwischen diesen Divergenzen vermittelt werden? Thomas besteht auf dem ontologischen Vorrang des Intellekts; ob aber ein Akt der Erkenntnis höherwertig ist als ein Akt der Liebe, hängt von dem jeweiligen Objekt der Erkenntnis bzw. der Liebe ab. »Gott zu lieben ist besser, als ihn zu erkennen: hingegen ist es besser, die körperlichen Dinge zu erkennen, als sie zu lieben.«333 Damit scheint die Unstimmigkeit beseitigt. Sie bricht aber erneut auf, wenn die Frage gestellt wird, worin die ewige Seligkeit des Menschen besteht? (Sie muß ja, aristotelisch gedacht, in einer Tätigkeit bestehen, und zwar in der Tätigkeit des Besten in uns.334) Liegt die beatitudo in einem Akt des Intellekts, dann hat man ein Modell, das aristotelische und neutestamentliche Positionen vereinigt, aber den höchsten Akt vom höchsten habitus trennt; liegt sie in einem Akt der Liebe, so wird zwar nicht das Evangelium, wohl aber der aristotelische Rahmen preisgegeben, allerdings mit dem Gewinn, daß höchster Akt und höchster habitus im gleichen Seelenteil angesiedelt sind. (Schon hier drängt sich die Frage auf, ob man in patria noch so selbstverständlich von Seelenteilen sprechen darf wie in via.) Bekanntlich hat sich die dominikanische Tradition für die erste, die franziskanische für die zweite Lösung entschieden. Für Thomas liegt die ewige Seligkeit nicht in der Betätigung des höchsten habitus (der caritas) – sie besteht nicht darin, Gott zu lieben, sondern ihn zu schauen.335 Für Scotus liegen höchster habitus und höchtion of Moral Virtue to Prudence According to John Duns Scotus – Revisited«, Recherches de Théologie ancienne et médiévale, 45 (1988), S. 184–206. – Für einen Vergleich mit Ockham s. M. McCord Adams: »Scotus and Ockham on the Connection of the Virtues«, in: L. Honnefelder/R. Wood/M. Dreyer (Hrsg.): John Duns Scotus. Metaphysics and Ethics, Leiden u. a. 1996, S. 499–522. 332 Thomas von Aquin: Summa theol., I, qu. 82, a. 3: »Utrum voluntas sit altior potentia quam intellectus?« Für die Liebe wird 1 Kor 13,2 ins Feld geführt (obi. 3), für den Intellekt dagegen (im entscheidenden sed contra) Nik. Ethik, X, 7 (1177 a 19ff.). 333 Summa theol., I, qu. 82, a. 3; vgl. II–II, qu. 23, a. 6 ad 1; De veritate, qu. 22, a. 11; De caritate, a. 3 ad 13. 334 Nik. Ethik, I, 13 (1102 a 5f.); X, 7. Vgl. Summa theol., I, qu. 12, a. 1; I–II, qu. 3, a. 2 und a. 5. 335 Summa contra gentiles, III, 25; mit Verweis auf Mt 5,8 (»Selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen«) und Joh 17,3 (»Das aber ist das ewige Leben, daß sie Dich, den wahren Gott erkennen«). Anschließend (III, 26) fragt Thomas, »ob die Glückseligkeit im Akt des Willens bestehe«, die Antwort ist negativ. Vgl. Summa theol., I–II, qu. 3, a. 4 und a. 8.

Exkurs: höchster habitus und höchster Akt

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ster Akt auf einer Linie – die beatitudo besteht für ihn nicht darin, Gott zu schauen, sondern ihn zu lieben.336 Beide halten an der aristotelischen Prämisse fest, die Seligkeit sei höchste Tätigkeit. Offenbar lokalisiert Thomas das höchste Aktivitätspotential im Intellekt, Scotus im Willen, oder anders gesagt: bei Thomas wurzelt die Freiheit wesentlich im Intellekt, für Scotus im Willen. Während uns die »voluntaristische« Position ohnehin vertraut ist, bedarf die »intellektualistische« erst einer Erklärung. So seltsam es klingt: für Thomas ist der Wille »irgendwie passiv«.337 Sein Wesen ist es, sich vom Guten ansprechen, bewegen zu lassen. Ausgelöst wird die Bewegung zum einen vom Objekt (dem Guten), zum anderen vom Intellekt, der das Objekt erfaßt und es dem Willen vorstellt.338 Man könnte sagen, der Wille ist wie ein Magnet, der unwiderstehlich vom Guten angezogen339 wird und dessen Initiative eigentlich nur darin besteht, sich mit der Leuchte des Intellekts auf den Weg zu machen – ein hinkender Vergleich, denn der Magnet braucht eine solche Leuchte nicht. Aber das ist eben die Auszeichnung des Willens (der übrigens von seiner Leuchte auch keinen oder nur einen schlechten Gebrauch machen kann). Der Magnet ermangelt der Freiheit, die Tiere auch; der Mensch ist frei, weil sein Wille mit seinem Verstand zusammenarbeitet: »totius libertatis radix est in ratione consti-

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Rep. Par., IV, dist. 49, qu. 2 (»Utrum beatitudo simpliciter et per se consistat in actu intellectus?«), n. 20 (ed. Wadding, XI/2, S. 897 b): »Dico igitur ad quaestionem, quod beatitudo simpliciter est essentialiter et formaliter in actu voluntatis, quo simpliciter et solum attingitur bonum optimum, quo perfruatur.« Vgl. Ord., IV, dist. 49 , qu. 4 (»Utrum beatitudo per se consistat in actu intellectus, vel voluntatis?«; ed. Wadding, X, S. 379ff.) und quaestio ex latere »Utra potentia sit nobilior, intellectus, an voluntas?« (X, S. 396ff.). – Vgl. Johannes Auer: Die menschliche Willensfreiheit im Lehrsystem des Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus, München 1938, S. 83–108. 337 Auer, ebd., S. 46 mit Anm. 49 (dort zahlreiche Belege, z. B. Summa theol., I, qu. 105, a. 4: »Virtus […] passiva voluntatis«). Vgl. Klaus Riesenhuber: Die Transzendenz der Freiheit zum Guten. Der Wille in der Anthropologie und Metaphysik des Thomas von Aquin, München 1971, S. 150: Anders als das Erkennen, »läßt sich das Wollen von dem höheren Gut passiv anziehen […]« 338 »[…] intellectus movet voluntatem: quia bonum intellectum est obiectum voluntatis, et movet ipsam ut finis.« Summa theol., I, qu. 82, a. 4. Gegenüber der finalen Ursächlichkeit, die vom Intellekt ausgeht, ist diejenige des Willens eher technischer oder instrumenteller Art. Insofern kann man das von Sertillanges (Hinweis bei Auer, a. a. O., Anm. 48) gebrauchte Bild umdrehen: Der Intellekt ist der Lahme, der sich des Blinden (des Willens) bedient – zweifellos ist der Beitrag, den die Augen zum Gehen leisten, wertvoller als der der Füße. Allerdings gilt auch, »daß es sich nicht um zwei Wesen, sondern um zwei Vermögen eines einzigen Trägers handelt.« A. D. Sertillanges: Der heilige Thomas von Aquin, Hellerau 1928, S. 709. 339 Sent. III, dist. 27, qu. 1, a. 4: »[…] cum per voluntatem et amorem homo in ipsas res volitas et amatas quodammodo trahatur […]« Summa theol., I–II, qu. 3, a. 4: »Voluntas enim fertur in finem […]« Hervorh. von mir. – Nach Duns Scotus paßt das Magnet-Beispiel für den appetitus sensitivus, nicht aber für den Willen (vgl. Ord., I, dist. 1, pars 3, qu. 1–5, n. 180; ed. Vat., II, S. 119 und Collationes, 17, n. 6; ed. Wadding, III, S. 383 b).

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tuta.«340 Man ahnt, daß die Trennung »Wille – Intellekt«341 nur bedingt aufrechtzuerhalten ist. Eigentlich gibt es keinen Willen ohne Intellekt und umgekehrt. Die Passivität des Willens ermöglicht einen direkten Zugang zu seinem Objekt: seine Hingabe gilt dem Guten an sich. Die Aktivität des Intellekts dagegen bedingt einen indirekten Zugang zu seinem Objekt: er nimmt das Wahre auf nach der Weise seiner Fassungskraft.342 Durch die Liebe kommt der Mensch zu Gott, durch den Intellekt kommt Gott zum Menschen – allerdings erst dann, wenn unsere Aufnahmefähigkeit durch das lumen gloriae dafür ausgerüstet ist.343 In einer Art »Retraktation« (die allerdings heute nicht mehr als authentisch gilt344) erläutert Thomas sein Modell, wie Intellekt und Wille in der ewigen Seligkeit zusammenwirken. Noch einmal wird bekräftigt »essentia beatitudinis posita est in actu intellectus«,345 dann kommt das Argument: Intellekt und Wille verhalten sich – aus unserer Sicht – wie Lohn (praemium) und Verdienst (meritum), wie Nehmen und Geben. (Aus der Sicht Gottes gilt das Umgekehrte: er nimmt unsere Verdienste in Empfang und gibt uns dafür den Lohn.) »Praemium igitur aeternum necessario erit ut acceptum ab eo qui meruit, meritum vero ut datum ab eodem. Unde cum actus intellectus sit ab intellectu, actus vero voluntatis sit a voluntate, ratio videtur docere meritum principaliter consistere in voluntate, praemium vero in intellectu.«

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De veritate, qu. 24, a. 2. – Man vergleiche die Auslegung von Joh 8,32 (»Die Wahrheit wird euch frei machen«) in Lectura super evangelium S. Ioannis, cap. 8, lectio 4: »quando ergo (homo) movetur secundum rationem, proprio motu movetur, et secundum se operatur, quod est libertatis« (Gegensatz: die Sünde, die Knechtschaft bedeutet, weil sie »praeter rationem« ist). Beiläufig heißt es, es sei »eine größere Unbill, wenn es einem an Erkenntnis, als wenn es einem an Freiheit gebricht« (»magis iniuriosum […] deficere a cognitione quam a libertate«, ebd.). 341 Den Zusammenhang von ratio, intellectus, liberum arbitrium und voluntas klärt Thomas in Summa theol., I, qu. 83, a. 4: »Sicut autem se habet in cognitivis principium ad conclusionem, cui propter principia assentimus; ita in appetitivis se habet finis ad ea quae sunt ad finem, quae propter finem appetuntur. Unde manifestum est quod sicut se habet intellectus ad rationem, ita se habet voluntas ad vim electivam, idest ad liberum arbitrium.« (Hervorh. von mir.) 342 Summa theol., I, qu. 16, a. 1: »Hoc autem distat inter appetitum et intellectum, sive quamcumque cognitionem, quia cognitio est secundum quod cognitum est in cognoscente: appetitus autem est secundum quod appetens inclinatur in ipsam rem appetitam.« – Ebd., qu. 82, a. 3: »actio intellectus consistit in hoc quod ratio rei intellectae est in intelligente; actus vero voluntatis perficitur in hoc quod voluntas inclinatur ad ipsam rem prout in se est.« (Hervorh. von mir.) – Vgl. De veritate, qu. 22, a. 11. 343 Summa contra gentiles, III, 53; Summa theol., I, qu. 12, a. 5 und a. 6. 344 De concordantiis suiipsius, nach den Anfangsworten auch als Pertransibunt plurimi zitiert. Für die Echtheit: Franz Pelster: »Zur Echtheit der Concordantia dictorum Thomae und zur Datierung von De aeternitate mundi«, Gregorianum, 37 (1956), S. 610–622; unter der Sparte »Nicht authentische Werke« dagegen bei J.-P. Torrell: Magister Thomas. Leben und Werk des Thomas von Aquin, Freiburg i. Br. u. a. 1995, S. 372. 345 De concordantiis suiipsius, zit. nach S. Thomae Aquinatis Opera Omnia, ed. R. Busa,

Exkurs: höchster habitus und höchster Akt

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Es bleibt aber nicht bei dieser Aufgabenteilung. Der Text fährt fort:346 »Quanto vero plus bonae voluntatis habuimus et amoris, tanto capacior erit intellectus, et plus praemii recipiet: amor enim dilatat intellectum et voluntatem. Cum autem aliquis amat intelligere aliquid, quanto plus amat, tanto plus et facilius intelligit.« Liebe macht sehend, diese augustinische Einsicht ist Thomas nicht fremd. Je mehr Liebe, desto mehr Erkenntnis – und umgekehrt.347 An einer Stelle scheint sein aristotelischer Intellektualismus348 sogar aufgegeben: »intellectus in agendo non distinguitur a voluntate […]«349 Es wäre ja auch schwer nachvollziehbar, sollte die Gottesliebe nur aufs irdische Leben beschränkt sein, um in der ewigen Seligkeit einer Erkenntnis ohne Liebe Platz zu machen. Wenn die Seligkeit in einer möglichst vollkommenen Teilhabe am Sein Gottes besteht, Gott aber »ganz und gar einfach«350 ist, dann wird auch die Zweiheit Wille/Intellekt mehr und mehr ununterscheidbar. (Ein Bild drängt sich Stuttgart-Bad Cannstatt 1980, Bd. 6, S. 587 c. – Vgl. Sent. III, dist. 27, qu. 1, a. 4 ad 7: »praemium magis attribuitur cognitioni, meritum vero amori […]« 346 (Vgl. die vorige Anm.) – Dieser Gedanke findet sich schon in Summa theol., I, qu. 12, a. 6: »Plus autem participabit de lumine gloriae, qui plus habet de caritate, quia ubi est maior caritas, ibi est maius desiderium; et desiderium quodammodo facit desiderantem aptum et paratum ad susceptionem desiderati. Unde qui plus habebit de caritate, perfectius Deum videbit, et beatior erit.« 347 »Nam dilectio est cognitionis terminus.« Summa theol., II–II, qu. 27, a. 4 ad 1. – »[…] affectus fertur in id quod ei per intellectum offertur […]« De veritate, qu. 10, a. 11 ad 6. – So entgeht Thomas dem scotischen Einwand, »lieben zu wollen, um zu erkennen, sei eine verkehrte Ordnung«. Ord., IV, dist. 49, qu. 4, n. 4 (X, S. 381). Vgl. Rep. Par., IV, dist. 49, qu. 2, n. 4 (XI/2, S. 894 a). 348 Vgl. P. Rousselot: L’intellectualisme de Saint Thomas, Paris 1908; zum Verhältnis von Willen und Intellekt bes. S. 43–54; G. Mensching: Thomas von Aquin, Frankfurt/New York 1995, S. 111f. – Daß bei Thomas die Liebe nicht zu kurz kommt, zeigen z. B. die Arbeiten von H. M. Christmann: Thomas von Aquin als Theologe der Liebe, Heidelberg 1958 (bes. S. 36–39) und A. Ilien: Wesen und Funktion der Liebe im Denken des Thomas von Aquin, Freiburg i. Br. 1975. Vgl. auch E. Michel: Nullus potest amare aliquid incognitum. Ein Beitrag zur Frage des Intellektualismus bei Thomas von Aquin, Freiburg (Schweiz) 1979. – Dennoch überwiegt, gerade im Fall der Gottesschau, der Eindruck, »daß die formelle Bindung an die aristotelischen Aussagen die thomistische Lehre anthropologisch und theologisch innerlich begrenzte.« G. Siewerth (Hrsg.): Thomas von Aquin. Die menschliche Willensfreiheit, Düsseldorf 1954, S. 130. 349 Responsio ad magistrum Ioannem de Vercellis de 108 articulis, n. 22 (ed. Leon., Bd. 42, S. 283 b). Hinweis bei T. Horváth: Caritas est in ratione. Die Lehre des hl. Thomas von Aquin über die Einheit der intellektiven und affektiven Begnadung des Menschen, Münster 1966, S. 85. – Von einer »interpenetración de los actos de la inteligencia y la voluntad« spricht (mit Verweis auf Summa theol., I–II, qu. 17, a. 4) Ricardo F. Crespo: »El acto humano: Aristóteles y Tomás de Aquino«, Sapientia, 51 (1996), S. 7–28, hier S. 19. – Schon Auer (wie Anm. 336, S. 153) hatte hier auf eine Lehrentwicklung aufmerksam gemacht: »Thomas gibt schließlich die starke Unterscheidung zwischen Erkenntnis und Willensvermögen bei Erörterung ihres Zusammenwirkens auf und rekurriert auf den einen ganzen Menschen […]« 350 »[…] omnino simplex«: Summa theol., I, qu. 3, a. 7.

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auf: Wille und Intellekt seien die unzertrennlichen beiden Seiten einer Medaille, die einander in einer Kreisbewegung halten.351 Mit der Aufhebung der Zeit in der Ewigkeit kommt diese Bewegung mitnichten zum Stillstand, vielmehr erreicht sie bei unendlicher Geschwindigkeit eine neue Dimension – die ständig sich drehende Medaille erscheint als Kugel, bei der keine getrennten Seiten mehr angegeben werden können.) Die Vollkommenheit der Heiligkeit, sagt Thomas im Sentenzenkommentar, besteht in der Erhebung von der Vielheit zur Einheit.352 Dann, wenn alle Möglichkeiten des Menschen in die Wirklichkeit überführt werden, wird es auch nicht mehr angehen, Willen und Intellekt hinsichtlich ihrer Aktivität bzw. Passivität zu unterscheiden.353 Undenkbar, daß Gott in der visio beatifica passiv auf der Objektseite verbleibt; und andererseits: diese Schau, so sehr sie den menschlichen Intellekt ins Äußerste der ihm möglichen Aktivität versetzt, hat doch auch den Charakter der Begegnung, der Widerfahrnis, kurz: sie trägt passive Züge. Der Mensch ist hier nicht – wie der Wissenschaftler – Herr seines Objekts, er ist vielmehr von ihm gebannt, vereinnahmt; es steht ihm nicht frei, nur der Nehmende zu sein, Geben und Nehmen sind hier eins. (Es darf daran erinnert werden, daß das Neue Testament die Seligkeit des Gebens höher ansetzt als die des Nehmens – vgl. Apg 20,35). Niemand

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»[…] intellectus et voluntas se invicem circumeunt.« De virtutibus in communi, a. 7. Sent. I, dist. 17, qu. 2, a. 2. Es handelt sich um ein Zitat von Pseudo-Dionysius Areopagita. Vgl. auch Horváth (wie Anm. 349), S. 132f. – Zur Anwendung auf »Liebe und Erkenntnis« vgl. M. Schmaus: Katholische Dogmatik, IV / 2, Von den Letzten Dingen, München 51959, S. 604: »Man wird also sagen dürfen: Die Gottesschau ist ein vom Erkennen durchleuchteter Akt der Liebe und ein von der Liebe durchglühter Akt des Erkennens.« – J. B. Lotz: »Der im ontologischen Gottesargument enthaltene Tiefsinn. Zu Kants Kritik der Gottesbeweise«, in: O. Muck (Hrsg.): Sinngestalten. Festschrift für E. Coreth, Innsbruck/Wien 1989, S. 117–130, hier S. 130: »Daher geht es ebenso um das liebende Wissen wie um das wissende Lieben.« (Diese Formulierungen stammen aus der mystischen Tradition: »amor cognitivus et cognitio amativa« heißt es im Hohelied-Kommentar des Thomas Gallus, zit. in: E. de Bruyne: Études d’esthétique médiévale, Bd. 3, Brügge 1946, S. 67.) – Entsprechend fragt G. Siewerth (a. a. O.): »Aktualisiert der informierende unendliche Geistakt nicht die ganze Seele, die, zum Leben Gottes überformt, freilich nicht mehr auseinanderfällt in zwei konkurrierende Tätigkeiten, sondern zu einem einzigen Akt liebender Schau wird, die im Schauen liebend überwallt und in der überwallenden Liebe sich schauend bereichert […]?« – Vgl. Ilien, a. a. O., S. 192f. »Liebe und Erkenntnis« ist bekanntlich ein Essay von Max Scheler betitelt (in: Moralia, Gesammelte Werke, Bd. 6, Bonn 31986, S. 77–98). – Eine Fülle von Belegen aus der mystischen Literatur quer durch die Zeiten (mit Schwerpunkt Mittelalter) bringt G. Kranz: Liebe und Erkenntnis. Ein Versuch, München/Salzburg 1972. Vgl. auch R. Schönberger: Nomina divina: zur theologischen Semantik bei Thomas von Aquin, Frankfurt a. M. / Bern 1981, S. 153 f., Anm. 15; Hans Urs von Balthasar: »Erkenntnis oder Liebe«, Kommentar zu Summa theol., II–II, qu. 180, a. 1, DThA, Bd. 23, S. 437f. 353 Dementsprechend interpretiert Horváth (wie Anm. 349, S. 163) die Liebe bei Thomas als »tätiges Erleiden«. 352

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hat das besser ausgedrückt als Bonaventura:354 »anima […] non omnimode capit, sed potius capitur, ac per hoc in illa [infinita] non fertur per modum comprehensionis, sed potius per modum excessus. Excessivum autem modum cognoscendi dico, non quo cognoscens excedat cognitum, sed quo cognoscens fertur in obiectum excedens excessivo quodam modo, erigendo se supra se ipsum. […] in comprehensivo cognoscens capit cognitum, in excessivo vero cognitum capit cognoscentem.« Was hier von der Gotteserkenntnis im Ausgang von der Seele Christi entwickelt wird, gilt vom Menschen – zumal in patria – allgemein.355 »[…] die Seele […] erfaßt jenes [Unendliche] nicht ganz und gar, sondern wird vielmehr erfaßt und dadurch zu jenem Unendlichen nicht nach Art des Begreifens, sondern vielmehr nach Art des Überstiegs geführt. Von einer überschreitenden Weise des Erkennens aber spreche ich, nicht sofern das Erkenntnissubjekt das Erkenntnisobjekt überschreitet, sondern insofern der Erkennende zum Erkenntnisgegenstand geführt wird, indem er auf eine alles übersteigende Weise aus sich herausgeht, wobei er sich über sich selbst hinaus erhebt. […] beim Begreifen ergreift das Erkenntnissubjekt das Erkenntnisobjekt, beim Überschreiten aber ergreift das Erkenntnisobjekt das Erkenntnissubjekt.« Das Ineinander von aktiver Schau und passiver Hingabe, von Sehen und Lieben kennzeichnet bereits die menschliche Liebe – so schreibt Hyperion über Diotima:356 »Glaube mir, es ist ein kindischer Versuch, dies Wesen sehn zu wollen ohne Liebe.« Auch Thomas weiß, daß Gott sehen und lieben eins ist:357 »Ex visione autem ipsum visum, cum non videatur per similitudinem, sed per essentiam, efficitur quodammodo intra videntem […] Ex hoc autem quod ipsum visum receptum est intra 354

Bonaventura: Quaestiones disputatae de scientia Christi. Vom Wissen Christi, lat.-dt., hrsg. von A. Speer, Hamburg 1993, qu. 7, S. 212, 214. (Hervorh. von mir.) 355 »Hic autem modus cognoscendi per excessum est in via et in patria; sed in via ex parte, in patria vero est perfecte in Christo et in aliis comprehensoribus […]« Ebd., S. 212. – Die folgende Übersetzung (von Speer) ebd., S. 213, 215. 356 Hölderlin: Hyperion, 2. Teil, 2. Buch. – Dante hatte so von Gott gesprochen: »l’eterna luce, che, vista sola, sempre amore accende« (Paradiso, V, 8f.). 357 Sent. I, dist. 1, qu. 1, a. 1, sol. Hervorh. von mir. – Hinweis bei W. J. Hoye: Actualitas omnium actuum. Man’s Beatific Vision of God as Apprehended by Thomas Aquinas, Meisenheim 1975, S. 286f., Anm. 86. – Thomas kommt hier der franziskanischen Position erstaunlich weit entgegen: Die Seligkeit, die ihren Ausgang im Intellekt hat, findet ihre Erfüllung in der Liebe. »Et ideo dicimus, quod [fruitio] est actus voluntatis, et secundum habitum caritatis […]« (A. a. O.) Thomas hatte sich vorher mit Berufung auf 1 Kor 13 den Einwand gemacht (obi. 8): »Ergo fruitio, in qua est tota nostra felicitas, est actus caritatis.« In die gleiche Richtung zielt, mit Augustinus, der 9. Einwand. In der Entgegnung sagt Thomas (was eher selten vorkommt) »Alia duo concedimus.« – Die Stelle war schon Ockham aufgefallen; er zitiert ad 1 (»fruitio autem nominat altissimam operationem quantum ad sui perfectionem«) und fügt hinzu: »Et ita iste, tamquam a veritate coactus, dicit hic fruitionem, quae est actus voluntatis, esse nobiliorem actu intellectus, licet alibi, in multis

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videntem, unit sibi ipsum videntem, ut fiat quasi quaedam mutua penetratio per amorem. Sic dicitur in 1 Joan. 4,16: ›Qui manet in caritate, in Deo manet et Deus in eo.‹« Warum also der Streit der Schulen? Am Ende waren es Thomisten358 wie Scotisten leid, großes Aufhebens um die Lehrdifferenz zu machen:359 »Quod fidei est ab omnibus tenetur, nempe utramque facultatem beari in patria, in cuius autem operatione potissimum consistit beatitudo, dissertatio est scholastica, et utraque pars a gravibus viris propugnatur.«

2. Scotus’ Kritik am Primat der Schau Die Frage »Gott schauen oder Gott lieben?« muß sich am Ende als rhetorisch herausstellen;360 gleichwohl zeigt sich der Unterschied zwischen Thomas und Scotus nirgends deutlicher als im Zugang zu ihr.361 Zudem ist hier die Gelegenheit, Scotus im »persönlichen« Dialog mit der Konkurrenz – allem Anschein, sowie den Randglossen des Cavellus nach, mit Thomas von Aquin – zu beobachten. locis, – sequens errores proprii capitis [gemeint ist Aristoteles] –, dicat oppositum.« Wilhelm von Ockham: Scriptum in librum primum Sententiarum (Ordinatio), dist. 1, qu. 2, in: Opera Theologica (= OTh), ed. St. Bonaventure, Bd. I, S. 402f. – Für Thomas vgl. noch Sent. III, dist. 27, qu. 1, a. 4 ad 7: »visio illa, non erit sine amore in praemio, sicut nec amor fuit sine cognitione in merito […]« – Summa contra gentiles, III, 26: »[…] intellectualis substantia sua operatione pertingit ad Deum non solum intelligendo, sed etiam per actum voluntatis, desiderando et amando ipsum et in ipso delectationem habendo […]« – Summa theol., I–II, qu. 1, a. 8: »Nam homo et aliae rationales creaturae consequuntur ultimum finem cognoscendo et amando Deum.« (Hervorh. von mir.) 358 Ioannes Poncius (John Ponce) zitiert Medina, einen Dominikaner des 16. Jahrhunderts: »beatitudo consistit in actu intellectus, sive voluntatis, sive utriusque«, in: Kommentar zu Ord., III, dist. 34, qu. un., n. 108 (VII/2, S. 745 a). 359 Antonius Hiquaeus: Komm. zu Ord., IV, dist. 49, qu. ex latere, n. 101 (X, S. 422 b). 360 Zu diesem Schluß kommt auch der als extremer Intellektualist geltende (Zeugnisse bei Neumann, s. u., S. 3) Gottfried von Fontaines: »Sic ergo videtur dicendum quod Deum videre beatifice et Deum etiam sic diligere inseparabiliter sunt connexa.« Quodl. VI, qu. 9 (Les Philosophes Belges, Bd. 3, ed. M. De Wulf/J. Hoffmans, Louvain 1914, S. 181), Hinweis bei B. Neumann: Der Mensch und die himmlische Seligkeit nach der Lehre Gottfrieds von Fontaines, Limburg 1958, S. 125, Anm. 20. – Vgl. Codex Douai 434, qu. 565: »Nam tale visum impossibile est non amari et visum et amatum non laudari.« Zit. in N. Wicki: Die Lehre von der himmlischen Seligkeit in der mittelalterlichen Scholastik von Petrus Lombardus bis Thomas von Aquin, Freiburg (Schweiz) 1954, S. 196, Anm. 6. 361 Vgl. P. Rousselot: Pour l’histoire du problème de l’amour au moyen âge, Münster 1908, S. 82: »Il ne faut pas chercher la différence essentielle du scotisme et du thomisme ailleurs que dans la notion de possession spirituelle.« In einem unübersetzbaren Wortspiel bringt Rousselot die Sache so auf den Punkt: »Le nerf de la théorie thomiste est la conception de l’intelligence comme faculté qui tient, opposée à la volonté, faculté qui tend.« (Wie Anm. 348, S. 43f.; Hervorh. im Orig.)

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Auf die Frage »Utrum beatitudo simpliciter et per se consistat in actu intellectus?« heißt es in den Reportationes Parisienses:362 »Da gibt es also die Meinung eines gewissen Doktors, die Seligkeit bestehe in einem Akt des Intellekts. Und dafür stellt er zwei Gründe auf, wobei ich mich wundere, daß er viele Worte daruntermischt, weil er es anderswo nicht so macht. Und sein erster Grund ist so, und ich glaube ihn so getreulich zu formulieren, wie ich kann […]« Dann kommen die beiden Argumente aus Summa theol., I–II, qu. 3, a. 4, bzw. aus dem Sentenzenkommentar, IV, dist. 49, qu. 1, a. 1, qla. 2. Zum ersten meint Thomas, der Wille sei immer auf etwas außerhalb seiner aus; sollte die beatitudo in einem Akt des Willens bestehen, so würde man aus einem gegenstandsbezogenen einen reflexiven Akt machen.363 Zweitens spricht Thomas dem Willen die Eigenschaft ab, den unmittelbarsten Kontakt zu seinem Gegenstand herzustellen. Der Wille strebt nach seinem Objekt, solange er es nicht hat (desiderium), er genießt es, sobald es erreicht ist (delectatio), aber für das Erreichen selber ist er nicht zuständig: dafür bedarf es des Intellekts.364 Scotus verwahrt sich gegen diese passive Einschätzung des Willens:365 »[…] hoc argumentum procedit ac si voluntas non haberet alium actum, quam passionem tantum, ex habitione, puta, gaudium, vel delectationem, quod falsum est; imo vo362

Rep. Par., IV, dist. 49, qu. 2, n. 3 (XI/2, S. 893 b). – Der Hinweis auf die Redseligkeit des Gegners (»ponit ad hoc duas rationes, de quibus miror quod inter eas multa verba miscet«) sollte mißtrauisch machen. Er würde besser auf Gottfried von Fontaines passen, der der Frage »Utrum actus intelligendi sit perfectior actu diligendi« einen umfangreichen Traktat widmet mit thomistischer Argumentation; vgl. Gottfried von Fontaines: Quodl. VI, qu. 10 (Les Philosophes Belges, Bd. 3, ed. M. De Wulf/J. Hoffmans, Louvain 1914, S. 182–218). Die von Scotus referierten Beispiele stehen aber, wenn ich recht sehe, nur bei Thomas. 363 Summa theol., I–II, qu. 3, a. 4 ad 2: »[…] primum obiectum voluntatis non est actus eius sicut nec primum obiectum visus est visio, sed visibile. Unde ex hoc quod beatitudo pertinet ad voluntatem tanquam primum obiectum eius, sequitur quod non pertineat ad ipsam tanquam actus ipsius.« – In Scotus’ Referat (a. a. O.): »[…] nulla potentia potest habere actum suum pro primo obiecto, alias actus reflexus esset actus primus, unde intellectus prius habet obiectum antequam intelligat se intelligere.« 364 »[…] per hanc [scil. visionem Dei secundum intellectum] fit quasi quidam contactus Dei ad intellectum; cum omne cognitum sit in cognoscente secundum quod cognoscitur […]« Sent. IV, dist. 49, qu. 1, a. 1, qla. 2, sol. – Bei Scotus: »[…] beatitudo intrinseca erit aliquid, quod immediate coniungit cum fine ultimo […]: sed actus voluntatis non potest immediate coniungere: quia desiderans, vel qui delectatur non coniungitur.« A. a. O. 365 Ebd., n. 6, S. 894 a. Worin dieser »andere Akt« des Willens besteht, dazu s. u. zum Thema »frui«. – Scotus schließt seine Erwiderung: »[…] quando [Thomas] dicit quod beatus non habet sibi finem coniunctum, nisi per actum intellectus, falsum est: quia per voluntatem habet immediatius, id est, perfectius, ut dictum est. Haec de rationibus istius Doctoris.« Ebd., n. 6, S. 894 b. – Die zitierte Kritik an Thomas hatte bei den Franziskanern Tradition; im Correctorium fratris Thomae des Wilhelm de la Mare (verfaßt zwischen 1277 und 1279) steht: »[…] quasi non esset in voluntate alius actus quam desiderium vel delectatio, quod falsum est.« (Zit. in P. Glorieux [Hrsg.]: Correctorium Corruptorii »Quare«, Nr. 49, Le Saulchoir/Kain 1927, S. 211.) – Vgl. Ord., IV, dist.

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luntas habet alium actum, qui est operatio distincta contra passionem, et per istam operationem perfectam coniungetur immediate ultimo fini.« Für Scotus ist der Wille aktiv und der Intellekt passiv, dieser objekt- (außen-), jener subjekt- (innen-)bestimmt. Diese Position leuchtet uns vielleicht noch mehr ein als die des hl. Thomas. Wenn wir den Intellekt mit dem Sehvermögen vergleichen, so ist klar, daß ich auf die Frage »wieviel Bäume stehen vorm Fenster?« nichts Beliebiges antworten kann; was ich sehe, ist determiniert durch das, was da ist. Ganz anders verhält es sich mit der Frage, ob ich überhaupt zum Fenster hinausschauen will?366 So gehört für Scotus der Intellekt ins Reich der Natur, der Wille ins Reich der Freiheit, »quia hoc est hoc, et illud est illud«.367

3. Gottesschau ohne Liebe? Am Beispiel der ewigen Seligkeit meint Scotus den Unterschied besonders klar herausarbeiten zu können. Dieser Anwendungsfall ist freilich nicht unproblematisch. Die Freiheit des Willens soll ausgerechnet an der Möglichkeit demonstriert werden, 49, qu. 4, n. 6 (X, S. 382): »Falsum autem est quod voluntas circa obiectum amabile praesens non eliciat actum aliquem, sed tantum habeat delectationem passionem: dicit enim Augustinus IX De Trinitate, cap. ult.: ›appetitus inhiantis fit amor fruentis.‹ Ille autem appetitus, sive desiderium non est tantum passio […]« Das scheint vernünftig, denn wenn der Wille bei Abwesenheit des Gegenstandes seinen Akt wählen kann, warum soll er es bei Anwesenheit des Gegenstandes nicht erst recht können? (Vgl. ebd., n. 7f., S. 382f.) 366 »[…] non est in potestate intellectus eligere intellectionem, et hoc est imperfectionis […]« Rep. Par., IV, dist. 49, qu. 2, n. 18 (XI/2, S. 897 a). 367 Quodlibet, qu. 16, n. 16 (XII, S. 458). – »[…] et tota ratio differentiae […] est libertas voluntatis et necessitas naturalis ex parte intellectus.« Ord., I, dist. 1, pars 2, qu. 1, n. 67 (ed. Vat., II, S. 51). – Zur Passivität des Intellekts vgl. ebd., n. 51 (S. 35): »[…] cum intellectus de se sit potentia naturalis et non libera […]« – »[…] intellectus nudus est passivus; sed voluntas nuda est activa.« Rep. Par., I, dist 2, qu. 6, n. 2 (XI/1, S. 36 b). – »[…] intellectus movetur ab obiecto naturali necessitate: voluntas autem libere se movet.« Quodlibet, a. a. O., n. 6, S. 451. – »[…] intellectus cadit sub natura. Est enim ex se determinatus ad intelligendum, et non habet in potestate sua intelligere et non intelligere […] Voluntas ad proprium actum eliciendum opposito modo se habet […]« Quaestiones super libros Metaphysicorum Aristotelis, l. IX, qu. 15, n. 36; in: Opera Philosophica, ed. Etzkorn, IV, St. Bonaventure 1997, S. 684f. (ed. Wadding, ebd., n. 6; IV, S. 798 ab). – »[…] potentia volitiva secundum rationem suam formalem libera est, et ad utrumlibet se habens in eliciendo actum; per hoc enim distinguitur a potentia intellectiva, quae de se non est libera, nec ad utrumlibet se habens […]« Collationes, 17, n. 8 (ed. Wadding, III, S. 384 a). – Vgl. Mary E. Ingham: Ethics and Freedom. An Historical-Critical Investigation of Scotist Ethical Thought, Lanham u. a. 1989, S. 44–62; Auer (wie Anm. 336), S. 86f., Anm. 14. Schön faßt Auer zusammen (ebd.): »für Thomas ist die Grundlage des Willens natürliches Streben […], und durch sein besonderes Erkenntnisvermögen ist der Mensch erst frei. Bei Scotus ist umgekehrt das Erkennen naturnotwendig, und erst durch die Tätigkeit des freien Willens wird auch das Erkennen frei.« Vgl. ebd., S. 107.

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angesichts der göttlichen Herrlichkeit die Achseln zu zucken und wegzuschauen (wieder ein Hinweis darauf, daß wohl die Angelologie, das Drama des Engelfalls, im Hintergrund der scotischen Anthropologie steht368): »voluntas […] potest se suspendere ab omni actu, ostensa beatitudine […] Et hoc potest quilibet experiri in seipso, cum quis offert sibi aliquod bonum, et etiam ostendit bonum ut bonum considerandum, et volendum, potest se ab hoc avertere, et nullum actum voluntatis circa hoc elicere.«369 Indem Scotus ausdrücklich bestreitet, daß die Schau Gottes die Liebe Gottes nach sich ziehe,370 hält er in der Theorie die menschliche Freiheit gerade an dem Punkt fest, wo sie im Begriff steht, in etwas Besseres überzugehen als sie selbst. (Allerdings weiß er, daß dieses Festhalten in der Praxis Sünde ist: »actu intelligens Deum, et nullo modo diligens, peccat.«371) Scotus war, mit einem klaren Bekenntnis zum »Hohelied der Liebe« und mit einer Absage an Aristoteles und seine Anhänger, dafür eingetreten, daß der höchste Akt und der höchste habitus auf einer Linie liegen müssen372 – seine Logik zwingt

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Vgl. den Anfang des Scotus-Kapitels, S. 55ff. Ord., IV, dist. 49, qu. 10, n. 10 (X, S. 514). – Vgl. Ord., I, dist. 1, pars 2, qu. 2 (»Utrum fine apprehenso per intellectum necesse sit voluntatem frui eo«), n. 149 (ed. Vat., II, S. 100): »[…] voluntas […] potest tamen illud bonum perfectum non velle, quia in potestate voluntatis est non tantum sic et sic velle, sed etiam velle et non velle, quia libertas eius est ad agendum vel non agendum.« 370 Vgl. W. Hoeres: Der Wille als reine Vollkommenheit nach Duns Scotus, München 1962, S. 119. Zu den ebd., Anm. 19–22 angeführten Stellen vgl. auch: Lectura, I, dist. 1, pars 2, qu. 2, n. 102 (ed. Vat., XVI, S. 95): »[…] non necessario voluntas informata per caritatem […] feretur in ultimum finem quando clare sibi ostenditur.« (Auch: ebd., n. 113, S. 97f.) Vgl. Collationes, 14–18 (III, S. 379ff.); Ord., I, dist. 1, pars 2, qu. 2 (»Utrum fine apprehenso per intellectum necesse sit voluntatem frui eo«); ed. Vat., II, S. 59ff. 371 Ord., IV, dist. 49, qu. ex latere, n. 17 (X, S. 413). 372 »Sed contra hoc arguit alius Philosophus noster, scilicet Paulus, qui dicit quod caritas excellentior est, I. Corinth. 13. […]« Rep. Par., IV, dist. 49, qu. 2, n. 11 (XI/2, S. 895 b). – Gilson (Johannes Duns Scotus, Düsseldorf 1959, S. 623, Anm. 3) bemerkt zu der Polemik gegen den Vorrang der intellektuellen habitus: »Was die Überlegenheit der Weisheit über die Liebe betrifft, so beweist nichts, daß Duns Scotus bei Leugnung dieser Überlegenheit an Thomas von Aquin denkt.« In der Tat dürfte Scotus hier einen anderen Dominikaner im Auge haben (die Randglosse zu Scotus, a. a. O., »Secunda ratio D. Thomae« ist hier irreführend): Meister Eckhart, dessen Position uns aus einer quaestio disputata des Franziskanergenerals Gonsalvus Hispanus überliefert ist. Gonsalvus hat Duns Scotus in seiner wissenschaftlichen Laufbahn gefördert; Scotus war wohl sein Assistent und wurde von ihm zur Magister-Promotion vorgeschlagen. Vgl. E. Longpré: »Gonzalve de Balboa et le B. Duns Scot«, Études Franciscaines, 36 (1924), S. 640–645, hier S. 640 mit Anm. 2; C. Bérubé: »Le dialogue de Duns Scot et d’Eckhart à Paris en 1302«, Collectanea franciscana, 55 (1985), S. 323–350, hier S. 329. – R. Klibansky nimmt an, Scotus sei ca. 1293–96 sein Schüler gewesen: R. Klibansky: »Commentariolum de Eckardi magisterio«, in: A. Dondaine (Hrsg.): Magistri Eckardi Quaestiones Parisienses, Leipzig 1936 (= Magistri Eckardi Opera Latina, fasc. 13; nicht identisch mit der etwa zeitgleich begonnenen Edition der Lateinischen Werke im 369

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ihn an anderer Stelle wieder zu einer messerscharfen Trennung. Aus Sorge um die Freiheit Gottes war das Band zwischen caritas und acceptatio divina zerschnitten worden; jetzt ist es die Sorge um die Freiheit des Menschen, die das Band zwischen Gottesschau und Gottesliebe kappt. Es ergibt sich folgendes Dilemma:373 Auch im Himmel soll das Sündigen-Können konstitutiv für die menschliche Freiheit sein, gleichwohl soll dieses Können faktisch nie verwirklicht werden. (Auch in diesem Fall werden Mensch und Engel gleich behandelt – der Erzengel Michael dient als Beispiel einer sündlichen Kreatur im Zustand der beatitudo.374) Daß die Freiheit zur Sünde mit faktischer Unsündlichkeit zusammenbesteht, wird durch eine gewagte Konstruktion gewährleistet: Gott garantiert von außen (als »causa extrinseca«375), daß die fragliche Potenz sich nie ak-

Kohlhammer Verlag), S. XXX. Klibansky hält es auch für höchstwahrscheinlich, daß Duns Scotus bei der Disputation zwischen Gonsalvus und Eckhart, die zu den Höhepunkten des akademischen Jahres 1302/3 gehört haben dürfte, anwesend war: ebd. Daß im Verhältnis Eckhart/Scotus die Kritik von Scotus ausging, ergibt sich aus dem akademischen Rangunterschied: Eckhart war Magister regens, Scotus nur Baccalareus Sententiarum; ebd., S. XXXIf. Vgl. M. Grabmann: Neuaufgefundene Pariser Quaestionen Meister Eckharts und ihre Stellung in seinem geistigen Entwicklungsgange. Untersuchungen und Texte, München 1927, S. 37, 108 (jetzt in: M. Grabmann: Gesammelte Akademieabhandlungen, Paderborn u. a. 1979, S. 297, 368). Gonsalvus’ Auseinandersetzung mit Meister Eckhart trägt den Titel »Utrum laus Dei in patria sit nobilior eius dilectione in via?« und ist ediert in: Gonsalvus Hispanus: Quaestiones disputatae et de Quodlibet, hrsg. von L. Amorós, Ad Claras Aquas (Quaracchi) 1935, S. 100–112, in der von A. Dondaine veranstalteten Ausgabe der Quaestiones Parisienses (a. a. O., S. 14–24), in: Meister Eckhart: Lateinische Werke, V, S. 55–71 sowie in: E. Zum Brunn u. a.: Maître Eckhart à Paris. Une critique médiévale de l’ontothéologie, Paris 1984, S. 200–223 (mit frz. Übers. und Anm. von A. de Libera). Zu dem Disput vgl. im gleichen Band: A. de Libera: »Les ›raisons‹ d’Eckhart«, ebd., S. 109–140. 373 Vgl. R. Prentice: »The Degree and Mode of Liberty in the Beatitude of the Blessed«, in: Deus et Homo ad mentem I. Duns Scoti. Acta Tertii Congressus Scotistici Internationalis (= Studia scholastico-scotistica, 5), Rom 1972, S. 327–342, bes. S. 337–341. Textgrundlage: Ord., IV, dist. 49, qu. 6 (»Utrum ad essentiam beatitudinis pertineat securitas?«), bes. n. 10–15; vgl. Rep. Par., IV, dist. 49, qu. 5. 374 »Concedo ergo […], quod Michaël beatus, et sit peccabilis […]« Ord., a. a. O., n. 11 (X, S. 455). – Den theologischen Hintergrund dieser bei Scotus so oft begegnenden Gleichstellung nennt das bereits zitierte Correctorium fratris Thomae: »[…] firmiter tenemus […] quod homines possunt esse aequales angelis; alioquin non posset ruina angelorum per homines reparari.« A. a. O. (wie Anm. 365), S. 188. Ohne Zweifel hat dieser Text seine Wirkung auf Duns Scotus nicht verfehlt. Bekanntlich hatte das Straßburger Generalkapitel der Franziskaner 1282 beschlossen, »die Summe des Bruders Thomas […] nur mit den Erklärungen des Bruders Wilhelm de la Mare [d. h., dessen Correctorium] versehen zu verbreiten«. Vgl. F.-X. Putallaz: Figures franciscaines. De Bonaventure à Duns Scot, Paris 1997, hier S. 43. – Dagegen Thomas: »[…] semper remanebit naturarum distinctio.« Summa theol., I, qu. 108, a. 8. 375 »[…] nulla est causa intrinseca in voluntate Michaëlis nunc beati, per quam excludatur potentia ad peccandum […]: sed per causam extrinsecam est impossibilis potentia illa propinqua ad peccandum, videlicet per voluntatem Dei praevenientem illam voluntatem, ut […] nunquam

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tualisiert. Wozu aber dann ihre Erhaltung? Wohl deshalb, weil Scotus ihren Verlust bzw. ihre Wandlung als einen Eingriff in die menschliche Natur ansähe. Hier liegt, so scheint mir, ein Hauptproblem der scotischen Ethik: sie widersetzt sich dem Gedanken der Wandlung, der Verbesserung, der Steigerung des Menschen, der für das habitus-Modell so entscheidend ist. Bei Scotus bleiben die sinnlichen Leidenschaften auch im Stadium der Tugend rebellisch,376 selbst der Stand der Gnade schließt »hier auf Erden« das »Aufbegehren der unteren Kräfte« nicht aus;377 ja sogar im Himmel sind Menschen wie Engel in der Lage zu sündigen. Daß Gott dies als innere Möglichkeit zuläßt und nur äußerlich deren Realisierung verhindert, ist ein Indiz dafür, daß sich in der scotischen Anthropologie nichts Substantielles am Menschen ändern darf. Der Logiker besteht darauf, daß der Mensch in patria wesensmäßig der gleiche sein muß wie in via.378 Immer wieder betont Scotus, daß im Himmel keine anderen anthropologischen Konstanten gelten als auf Erden.379 Worin besteht also der Prozeß der moralischen Besserung, der Heiligung, der Beseligung? Nicht in einer Dynamik der Wandlung, die ja die menschliche Identität gefährden könnte, sondern darin, daß jede Phase des Prozesses auf den Punkt gebracht wird, an dem der Mensch frei ist und an dem ihm die jeweils größere, unauslotbare Freiheit Gottes gegenübertritt. An die Stelle einer Dynamik innerer Wandlung bzw. inneren Wachstums tritt eine Dynamik wachsender äußerer Abhän-

possit […] potentiam suam […] peccandi […] reducere ad actum […]« Ord., a. a. O., n. 11 (X, S. 455). Hervorh. von mir. 376 Rep. Par., II, dist. 29, qu. 2, n. 5 (XI/1, S. 381 a). – Hierher gehört auch die Bemerkung, es sei seltsam, dasjenige, wofür der Mensch gelobt werde (die Tugend), in dem Seelenteil anzusetzen, den er mit den Tieren gemeinsam habe: »videtur etiam mirabile, quod illud, propter quod homo laudatur in operando, sit praecise in eo, quod est sibi commune cum brutis.« Ord., III, dist. 33, qu. un., n. 7 (VII/2, S. 700). Aber der appetitus sensitivus des Menschen ist eben durch die Vernunft formbar – das unterscheidet ihn von dem der Tiere. – Vgl. Summa theol., I–II, qu. 56, a. 4. 377 Lectura, II, dist. 29, qu. un., n. 13 (ed. Vat., XIX, S. 286): »[…] in perfectis hic in via non est gratia coniungens fini sine difficultate et rebellione virium inferiorum.« Vgl. oben, S. 74 f. (Anm. 316). 378 Vgl. Anm. 203. – Es wäre reizvoll, den scotischen Bedenken hinsichtlich der Wandlung auch in der Sakramentenlehre nachzugehen. 379 Als Beispiel dient der »raptus Pauli«: Ord., I, dist. 1, pars 2, qu. 2, n. 136 (ed. Vat., II, S. 91) sowie Lectura, I, dist. 1, pars 2, qu. 2, n. 102 (ed. Vat., XVI, S. 95): »[…] quodlibet principium habet eundem modum agendi ex parte sui nisi mutetur. Sed caritas est eadem quando clare videt finem ultimum et quando non clare videt […], sicut Paulus eandem caritatem, non mutatam, habuit quando vidit essentiam divinam in raptu et alias quando non ita clare.« Vgl. Ord., IV, dist. 49, qu. 6, n. 8 (X, S. 432): »[…] si natura ista maneat eadem natura, semper est capax beatitudinis, et miseriae […]«; n. 14, Additio (S. 457): »[…] voluntas beata est eadem potentia, quae fuit non beata […]«; Rep. Par., IV, dist. 49, qu. 5, n. 6 (XI/2, S. 903 b/904 a): »[…] dico quod non est contradictio de potentia absoluta, quod sicut prius in via [homo] erat capax miseriae, ita et modo dum est beatus […]«

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gigkeit von Gott. Denn wie es in Gottes absoluter Macht steht, die zuvor verliehene Gnade als Verdienst anzunehmen oder nicht, so steht es ihm auch frei, die Seligkeit (und Unsündlichkeit) des Menschen ewig währen zu lassen oder nicht.380 Auch im Himmel, könnte man sagen, geht es existentiell zu: es gibt keine absolute Sicherheit, der Mensch bleibt ein Geworfener, geworfen in die Allmacht Gottes. Allerdings fragt sich, ob das Bestreben, die Identität der menschlichen Natur in den entscheidenden Phasen ihres Weges nicht preiszugeben, und ob die ständige Konfrontation mit der potentia Dei absoluta nicht das eigentliche Ziel des Menschen vereiteln: »requiescere in Deo«. – Sündigen-Können bedeutet zwar eine Form von Freiheit, aber nicht die höchste. Nicht-sündigen-Können ist eine höhere. Allerdings, so sagt Augustinus, steht ihre Verwirklichung noch aus:381 »Denn der erste freie Wille, den Gott dem Menschen verlieh, als er ihn recht erschuf, war wohl imstande, nicht zu sündigen, konnte aber auch sündigen, der letzte dagegen wird um so mächtiger sein, als er nicht mehr sündigen kann, freilich nur durch Gottes Gnadengabe, nicht durch das Vermögen der eigenen Natur.« Auch »Gott kann von Natur nicht sündigen«,382 gleichwohl wird niemand dieses Nicht-Können als Unvollkommenheit interpretieren. (Ein Beispiel: Wenn der gestandene Familienvater sagt »ich könnte ohne meine Frau und meine Kinder nicht mehr leben«, so zeugt das weniger vom Verlust der Junggesellenfreiheit als vielmehr von einer qualifizierten Freiheit, bei der das So-und-auch-anders-Können übergegangen ist in eine höhere Form des Seins. Hingegen erinnert der Vorrang der Tat vor dem Sein, den wir schon in Scotus’ Gottesbild bemerkt haben, an Sartre: Der Gott der potentia absoluta ist sozusagen nur noch Freiheit, auf keine Natur festgelegt – er ist nur noch Wille und scheint nicht einmal an die Liebe gebunden. Analog gilt für 380 »[…] non sequitur […] necessario, quod […] sit reddenda perfectio perennis tanquam praemium: imo abundans fieret retributio in beatitudine unius momenti.« Ord., a. a. O., n. 21 (X, S. 475). Vgl. Rep. Par., a. a. O., n. 13 (XI/2, S. 905). 381 Augustinus: Vom Gottesstaat, XXII, 30 (Übers. von Thimme). – Anders als für Thomas ist hier der Wille (liberum arbitrium) sowohl für das Verdienst wie für den Lohn zuständig: »Doch sollte es Abstufungen der Gnadengabe geben und zuerst ein freier Wille verliehen werden, kraft dessen der Mensch imstande war, nicht zu sündigen, zuletzt ein solcher, der nicht mehr sündigen kann, jener dazu bestimmt, Verdienst zu erwerben, dieser Lohn zu empfangen.« Ebd. 382 Ebd. – Das gleiche gilt bei Thomas für den Menschen im Zustand der Seligkeit: »Manifestum est autem quod nullus homo potest per voluntatem a beatitudine averti: naturaliter enim, et ex necessitate, homo vult beatitudinem, et fugit miseriam.« Summa theol., I, qu. 94, a. 1. Aus diesem Sachverhalt schließt Thomas, daß Adam nicht im Zustand der Gottesschau gewesen sein kann. Erst Ockham wird den (von der 1324–1326 in Avignon tagenden päpstlichen Kommission beanstandeten) Satz formulieren »Deus potest peccare«. Wilhelm von Ockham: Quaestiones in III Sent., qu. 10 (OTh VI, S. 350). – Vgl. R. Schönberger: Relation als Vergleich, Leiden u. a. 1994, S. 317.

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das Konstrukt einer Gottesschau ohne Liebe: hier läßt Gott dem Menschen eine Art potentia absoluta, in der sich gerade die Liebe nicht verwirklicht.383) Augustinus spricht von einem freien Willen, »der nicht mehr sündigen kann, freilich nur durch Gottes Gnadengabe, nicht durch das Vermögen der eigenen Natur.« Scotus interessiert an diesem Text384 lediglich der Umstand, daß das Nicht-sündigen-Können nicht der Natur, sondern der Gnade entspringt. Daß das Subjekt dieser Fähigkeit der freie Wille ist, übersieht er geflissentlich. Er konstruiert vielmehr einen Willen, der nicht innerlich von der Gnade umgeschaffen, sondern nur von außen im Zustand faktischer Unsündlichkeit erhalten wird. Damit weist Scotus auf Luther voraus. 4. Jenseits von Erkennen und Wollen In der Seligkeit geht es weder um das Erkennen, noch um das Wollen.385 Es geht überhaupt nicht mehr um das Ich, sondern um Ich-Transzendenz, um Exzentrizität im besten Sinn des Worts – in einer Bewegung, bei der jede Aktivität in Passivität 383

Wie für Thomas die acceptatio divina notwendig eine Veränderung auf seiten des Menschen impliziert (vgl. Anm. 319f.), so tritt sein Schüler Gottfried von Fontaines dafür ein, daß die Gottesschau notwendig die Liebe zu Gott nach sich zieht: nicht einmal de potentia absoluta könne beides getrennt werden. Scotus bekämpft diese Ansicht (Ord., I, dist. 1, pars 2, qu. 2, n. 87; ed. Vat., II, S. 64). Es ist demgegenüber bemerkenswert, wie gerade der »Intellektualist« Gottfried dafürhält, daß Gott mit der Schau auch die Liebe und mit dieser die menschliche Gegenliebe schenkt: »[…] impossibile est quod Deus creaturae maxima bona communicet et ipsam dilectione specialissima non diligat. Sed eum quem Deus sic diligit facit etiam sui dilectorem; et ideo dat ei habitum quo ipsum summe diligit. Cum ergo videre Deum sit summum quod Deus communicare potest creaturae […], videtur quod Deum sic videns habet necessario habitum quo eum proportionaliter diligat.« Gottfried von Fontaines: Quodl. VI, qu. 9 (Les Philosophes Belges, Bd. 3, ed. M. De Wulf/J. Hoffmans, Louvain 1914, S. 180f.). 384 Allerdings wird in Ord., IV, dist. 49, qu. 6, n. 10 (X, S. 454) nicht aus De Trinitate, sondern eine verwandte Stelle aus Contra Maximinum, II, 12, n. 2 (PL 42, 768) zitiert: »Cuicumque naturae praestatur, ut peccare non possit, non est hoc naturae propriae, sed Dei gratiae.« (An Stelle des ersten »naturae« liest die Patrologia Latina »creaturae rationali«.) Vgl. Rep. Par., IV, dist. 49, qu. 5, n. 12 (XI/2, S. 905 a). 385 So spricht die Sprache der Mystik. »So […] nimmt und schöpft der edle Mensch sein ganzes Sein, Leben und seine Seligkeit bloß nur von Gott bei Gott und in Gott, nicht vom Gott-Erkennen, -Schauen oder -Lieben oder dergleichen.« Meister Eckhart: Vom edlen Menschen, in: Deutsche Predigten und Traktate, hg. von Josef Quint, München 1963/79, S. 147. Vgl. Predigt 25, ebd., S. 270: »Einige Lehrer meinen, der Geist schöpfe seine Seligkeit aus der Liebe; manche meinen, er schöpfe sie aus dem Anschauen Gottes. Ich aber sage: Er schöpft sie weder aus der Liebe noch aus dem Erkennen noch aus dem Anschauen.« Bezeichnenderweise gibt Meister Eckhart, der sich ansonsten zum »Intellektualismus« bekennt (vgl. ebd., Predigt 3, S. 165; Predigt 10, S. 197ff.; Predigt 40, S. 347; Predigt 49, S. 385; Predigt 51, S. 393 sowie die Pariser quaestio »Utrum in Deo sit idem esse et intelligere?«, in: Lateinische Werke, V, S. 37–54), der Passivität des Hörens den Vorzug vor der Aktivität des Sehens: »Und deshalb werden wir im ewigen Leben viel seliger sein kraft des

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Aushöhlung des habitus-Begriffs

umschlägt, weil sie in einer sie überholenden Aktivität aufgehoben wird. Augustinus hat das auf der letzten Seite der Civitas Dei so ausgedrückt:386 »Dann werden wir stille sein und schauen, schauen und lieben, lieben und loben.« Jedes der drei Begriffspaare beginnt mit einem passiven Moment, das in ein aktives überführt wird; dies wiederum wird hineingenommen in den Anfang der nächsthöheren Stufe: das Stillesein387 ist zweifellos passiver als die Schau, diese passiver als die Liebe, die Liebe passiver als das Lob – und es ist nicht gesagt, daß es nicht noch weitere Stufen geben kann; etwa wenn das Lob in ein Gespräch übergeht …

5. Die Transformation des habitus-Begriffs in der franziskanischen Tradition: frui Steht der habitus-Begriff in unseren Untersuchungen für das Interesse an einem ganzheitlichen Menschenbild, so gelangen wir nun an einen Punkt, an dem dieses Interesse zwar fortbesteht, sich aber von der aristotelischen Begrifflichkeit löst. Schematisch ließe sich etwa folgendes Bild zeichnen: in der aristotelischen Tradition der Dominikaner (allen voran Thomas von Aquin) wird die Ganzheit des Menschen vor

Hörens als kraft des Sehens. Denn […] das Hören erleide ich, das Sehen aber wirke ich.« (Predigt 58, ebd., S. 430f.) In Eckharts Predigten hallt der Pariser Schulstreit zwischen Dominikanern und Franziskanern noch nach: »Die besten Meister sagen, der Kern der Seligkeit liege im Erkennen. Ein großer Pfaffe kam neulich nach Paris, der war dagegen und schrie und tat gar aufgeregt […]« (Predigt 53, ebd., S. 400. Vgl. Predigt 10, S. 198 und oben, Anm. 372.) Gemeint ist wohl Gonsalvus Hispanus, dessen Position sich Scotus zu eigen machen sollte. Trotz ihrer philosophischen Gegnerschaft kommen Eckhart und Scotus darin überein, daß in den höchsten Dingen das Lassen den Vorrang vor dem Tun, die Passivität vor der Aktivität hat. Es zeugt von der Ranghöhe eines Wesens, wenn es seine Vervollkommnung nicht seiner eigenen Natur verdankt, d. h., wenn seine »capacitas passiva« sich weiter erstreckt als seine »causalitas activa«. Ord., prol., pars 1, qu. un., n. 75, 93 (ed. Vat., I, S. 46, 57). Vgl. Lectura, I, dist. 17, pars 1, qu. un., n. 114 (ed. Vat., XVII, S. 216): »Unde hoc non est vilificare animam, sed magis est vilificare animam ponere ipsam esse causam omnis suae perfectionis, sicut philosophi posuerunt.« Vgl. Rep. Par., prol., qu. 3, a. 3, n. 7 (XI/1, S. 22 a). Vgl. P. Vignaux: Justification et prédestination au XIVe siècle, Paris 1934, S. 34f., Anm. 1: Auch für Christus ist es schöner, der von Gott Beschenkte zu sein, als eigene Verdienste zu haben (Ord., III, dist. 18, qu. un., n. 13; VII/1, S. 397). Scotus’ Kritik der »Philosophen« richtet sich möglicherweise auch gegen Gottfried von Fontaines (Quodl. XIV, qu. 3; Les Philosophes Belges, Bd. 5, ed. J. Hoffmans, Louvain 1932, S. 342): »[…] nobilius est quod habet suam nobilitatem, perfectionem et dignitatem ex condicione suae naturae quam quod illud ex aliquo adventitio et coniuncto naturae suae consequatur.« (Allerdings argumentiert Gottfried von einem anderen Standpunkt aus: vgl. Anm. 270 im Scotus-Kapitel.) 386 Augustinus: Vom Gottesstaat, XXII, 30 (Übers. von Thimme). 387 Die Steigerung der Sequenz »vacabimus et videbimus, videbimus et amabimus, amabimus et laudabimus« geht verloren, wenn »vacare« (wie bei Perl) mit »feiern« übersetzt wird.

Exkurs: höchster habitus und höchster Akt

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allem in der Verbindung von Sinnlichkeit und Vernunft gesucht; ihr Hauptanwendungsfall ist die Tugendlehre, ihr Flaggbegriff der habitus. In der augustinischen Tradition der Franziskaner (allen voran Duns Scotus) sucht man die Ganzheit des Menschen in der Verbindung von Intellekt und Willen; ihr Hauptanwendungsfall ist die visio beatifica; was wäre das Äquivalent des habitus? Wenn es zutrifft, daß man das Anliegen einer integrativen Anthropologie nicht allein an die Verwendung einer bestimmten Kategorie binden kann, so sollten wir uns von bisherigen Fehlanzeigen bei Scotus nicht in die Irre führen lassen. Die absolute Freiheit Gottes, so hatten wir gesehen, war der Hintergrund, vor dem Scotus die Notwendigkeit des habitus (aus dem die sinnlichen Bezüge bereits eliminiert waren) fallenließ; die absolute Freiheit des Menschen, durchgespielt am Fall der visio beatifica, stand der Vereinigung der beiden höchsten Seelenvermögen – Intellekt und Wille – entgegen. Und doch muß hier das Gegenstück zum habitus gesucht werden. Scotus streitet ja weder die Tatsache jener Vereinigung ab, noch veranschlagt er ihren Wert gering; wogegen er sich wehrt, ist einzig und allein ihre Notwendigkeit. Er will nicht trennen, was zusammengehört; er achtet nur genauestens darauf, daß es ein Zusammenschluß in Freiheit bleibt. Ein Blick auf den Begriff frui/fruitio soll das Gesagte verdeutlichen. (Wir vergessen dabei nicht, daß es sich hier nicht um einen habitus, sondern um einen Akt388 handelt – und zwar um einen Akt, dessen Höchstform dem Menschen in patria vorbehalten ist.) Wir sahen bereits, daß für Scotus die Seligkeit im Willen und nicht im Intellekt liegt. Aber damit ist noch nicht alles gesagt. Der fragliche Willensakt führt eine spezifische, schwer übersetzbare Bezeichnung, deren Implikate noch näher zu erläutern sind. Was ist mit »frui« bzw. »fruitio« gemeint? »Frui est amore inhaerere alicui rei propter se.« – »Genießen heißt, einer Sache um ihrer selbst willen in Liebe anhangen.« Das ist die mehrmals zitierte Definition des hl. Augustinus.389 Allerdings nähert sich Scotus dem Begriff der fruitio, bzw. (in einem parallelen Gedankengang) dem damit fast deckungsgleichen der beatitudo, auf indirektem Wege an. (Wir folgen den Ausführungen in Ord., bzw. Rep. Par., IV, dist. 49, die die Charakterisierung der Seligkeit als fruitio zum Ziel haben. In Ord., bzw. Lectura, I, dist. 1 war auf ganz ähnliche Weise der Akt der fruitio näher eingegrenzt worden.)

388

Ein Unterschied, der im Himmel an Bedeutung verliert: »[…] in statu beatitudinis actus erit ita perpetuus, sicut habitus.« Rep. Par., IV, dist. 49, qu. 1, n. 9 (XI/1, S. 892 b). 389 Augustinus: Über die christliche Lehre (De doctrina christiana), I, 4, n. 4 (übers. von S. Mitterer); vgl. Ord., I, dist. 1, pars 2, qu. 1, n. 70 (ed. Vat., II, S. 53); pars 3, qu. 1-5, n. 162, 167 (ed. Vat., II, S. 110, 112); IV, dist. 49, qu. 5, n. 2 (ed. Wadding, X, S. 423); Lectura, I, dist. 1, pars 2, qu. 1, n. 78 (ed. Vat., XVI, S. 88); pars 3, qu. 1-5, n. 129, 134 (ed. Vat., XVI, S. 103, 105); Rep. Par., I, dist. 1, qu. 3, n. 7 (XI/1, S. 27 b); IV, dist. 49, qu. 4, n. 2 (XI/2, S. 900 b).

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Aushöhlung des habitus-Begriffs

Der Wille, so argumentiert Scotus, verfügt grundsätzlich über zweierlei Akte: velle und nolle, Wollen und Nichtwollen.390 Das Wollen wiederum ist von doppelter Art: entweder motiviert vom Objekt – »propter volitum, sive propter bonum voliti« – oder motiviert vom Subjekt – »propter volentem, vel propter bonum volentis« – des Wollens. Im ersten Fall heißt das Wollen Liebe aus Freundschaft, im zweiten Liebe aus Begehrlichkeit; die Liebe aus Freundschaft, die um des Geliebten willen (und nicht um des Liebenden willen) liebt, ist fruitio. (Man könnte auch sagen, der amor amicitiae ist intentional, der amor concupiscentiae reflexiv.) Nachdem bereits geklärt ist, daß die Seligkeit nicht in einem Akt des Intellekts, sondern des Willens zu suchen sei, werden nun die Bestandteile des Willensschemas einzeln durchgegangen, und es stellt sich im Ausschlußverfahren heraus: im nolle kann die Seligkeit nicht liegen, in der concupiscentia nicht, also in der amicitia.391 Dieser Akt der Gottesliebe um Gottes willen schließt freilich den Akt der Gottesschau nicht aus, vielmehr bildet er dessen Ergänzung und Krönung.392 Der freie

390

Ord., IV, dist. 49, qu. 5 (»Utrum beatitudo simpliciter consistat in actu, qui est fruitio?«), n. 2 (X, S. 423). Vgl. Rep. Par., IV, dist. 49, qu. 4 (XI/2, S. 900 b-901 b); Ord., I, dist. 1, pars 2, qu. 1 (»Utrum frui sit aliquis actus elicitus a voluntate, vel passio recepta in voluntate«); ed. Vat., II, S. 47-59, bes. S. 51, n. 68; Lectura, I, dist. 1, pars 2, qu. 1 (ed. Vat., XVI, S. 85-89). 391 »Sic igitur patet prima conclusio, quod beatitudo non est nisi in solo actu fruitionis, qui est actus voluntatis; non autem in actu voluntatis, qui est nolle, nec in actu voluntatis, qui est velle amore concupiscentiae; igitur restat quod sit in actu voluntatis, qui est in velle amicitiae.« Rep. Par., IV, dist. 49, qu. 4, n. 5 (XI/2, S. 901 ab). 392 »[…] gradus, qui est beatitudinis, ut beatitudo [,] est ex perfecta visione, et ex perfecta charitate, in qua consistit perfecta fruitio, quae est beatitudo.« Ebd., n. 10 (XI / 2, S. 902 a). Vgl. Quodlibet, qu. 13, n.16 (XII, S. 323): »[…] operatio, quae est ultima perfectio naturae operantis, […] puta si loquamur de operatione beatifica hominis, vel Angeli, […] si sit volitio, est necessario concomitans intuitionem […]« Um Mißverständnisse auszuschließen: es bleibt dabei, daß die Gottesschau nicht die Gottesliebe impliziert; die umgekehrte Implikation jedoch gilt. – Vgl. Hoeres (wie Anm. 370), S. 297-311. Daß die fruitio die äußerste Erfüllung für den Intellekt wie für den Willen beinhaltet, geht auch aus der folgenden Stelle hervor: »[…] fruitio dicit actum voluntatis terminatum in aliquo obiecto, ultra quem non convenit procedere. Sed in terminare aliquid est duo considerare, illud quod terminat et rationem terminandi […] Eodem modo ratio terminandi est essentia divina respectu actus fruitionis ut est forma quaedam absoluta, quam consequitur ratio veri et boni, quia ex ratione qua terminat intellectum sequitur ratio veri, et ex ratione qua terminat voluntatem, ratio boni […]« Ord., I, dist. 1, pars 1, qu. 2, Appendix A (ed. Vat., II, S. 382). Die fruitio bringt auch dem Willen als passivem Vemögen die äußerste Erfüllung, sie integriert also – wie der habitus, nur eben nicht auf der Ebene der Sinnlichkeit – auch die Leidenschaften: »Voluntas […] potest dupliciter considerari, vel prout est activa actus sui, vel prout est passiva […] inquantum est receptiva passionum spiritualium […] Voluntas igitur utroque modo accepta, sive ut activa, […] sive ut passiva, perficitur ultimato. Nam voluntas primo modo dicta perficitur ultimata operatione. Similiter secundo modo dicta perficitur passione ultimata, et sic quilibet perficitur ultimato in suo ordine, et sic delectatio concomitatur beatitudinem […]« Rep. Par., IV, dist. 49, qu. 6, n. 4 (XI/2, S. 907 ab).

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Wille kann nichts anderes anerkennen, als was der Intellekt zuvor erkannt hat;393 der Intellekt aber kann die freie Zustimmung nicht leisten, die darin besteht, daß der andere um seiner selbst willen bejaht wird. So involviert die fruitio die ganze geistige Person394 – es »scheinen«, sagt Walter Hoeres, »Erkennen und Wollen gerade in der beatitudo zu einem einzigen, beseligenden Akt zu verschmelzen«395 –, wobei die Synthese der höchsten Seelenvermögen dem Willen vorbehalten bleibt.396 Zurück zum habitus. Da Thomas von Aquin in seiner Anthropologie, seiner Erkenntnistheorie und Ethik stets die menschliche Sinnlichkeit im Auge hat, braucht er – im Anschluß an Aristoteles – den habitus-Begriff, um dem Menschen als Wesen einer gemischt-sinnlichen (nicht reinen!) praktischen Vernunft gerecht zu werden. Der Mensch ist wesentlich auch Sinnlichkeit, die an der Freiheit partizipiert397 –

Eine ganz ähnliche Struktur zeigt das Ideal menschlicher Vollkommenheit, das Schiller im 13. Brief Über die ästhetische Erziehung des Menschen entwickelt: Es besteht nämlich darin, »auf seiten des Gefühls die Passivität aufs Höchste zu treiben […] und auf seiten der Vernunft die Aktivität aufs Höchste zu treiben.« (Friedrich Schiller, ebd., in: Sämtliche Werke, hrsg. von G. Fricke und H. G. Göpfert, 5. Bd., Darmstadt 91993, S. 608). Auch Schiller scheint bei der – durch den Spieltrieb bewirkten – menschlichen Vollkommenheit das Ideal der beatitudo vorzuschweben, geht es doch darum »die Zeit in der Zeit aufzuheben« (14. Brief, ebd., S. 612f.; Hervorh. im Orig.). 393 »[…] nihil amatur nisi quod prius intelligitur.« Lectura, I, dist. 1, pars 1, qu. 2, n. 40 (ed. Vat., XVI, S. 73). (Vgl. Augustinus: De Trinitate, X, 1.) – »[…] nihil intelligens nihil vult, communiter.« Quaestiones super libros Metaphysicorum Aristotelis, l. IX, qu. 14, n. 126; in: Opera Philosophica, ed. Etzkorn, IV, St. Bonaventure 1997, S. 673 (ed. Wadding, ebd., n. 25, IV, S. 794 b). Zahlreiche andere Belege bei P. Minges: Ioannis Duns Scoti doctrina philosophica et theologica quoad res praecipuas proposita et exposita, 2 Bde., Ad Claras Aquas (Quaracchi) 1930, Bd. 1, S. 290. 394 Während die visio nur den Intellekt, nicht aber den Menschen ganz erfüllt: »[…] concedo quod visio est tota merces hominis intelligentiae, sed non summa merces totius hominis […]« Ord., IV, dist. 49, qu. ex latere, n. 21 (X, S. 418). Vgl. Rep. Par., IV, dist. 49, qu. 2, n. 20 (XI/2, S. 897 b/898 a). Anlaß für diese Klarstellung ist der zitierte Einwand aus De Trinitate, I, 13, n. 28 bzw. Enarrationes in Psalmos, 90, 16, sermo 2, n. 13 (PL 37, 1170). 395 W. Hoeres (wie Anm. 370), S. 274. (Hervorh. im Orig.) Vgl. auch S. 304. – Auf die strukturelle Verwandtschaft von fruitio Dei und ästhetischem Genuß bei Duns Scotus verweist E. de Bruyne (wie Anm. 352; Kap. 11, bes. S. 366-370); vgl. auch H.-J. Werner: »Die Erfassung des Schönen in seiner personalen und ethischen Bedeutung bei Duns Scotus«, in: L. Honnefelder u. a. (Hrsg.), wie Anm. 331, S. 535-550, bes. S. 542f., 546f. 396 Vgl. R. Zavalloni: »L’intelligenza affettiva in G. Duns Scoto alla luce della psicologia moderna«, Antonianum, 54 (1979), S. 40-75, bes. S. 65f. – Hintergrund dieser Synthese ist die auf Augustinus fußende Lehre von der realen (nicht formalen) Identität der Seele und ihrer Vermögen. Vgl. Ord., Rep. Par., II, dist. 16, qu. un.; Ord., I, dist. 3, pars 3, qu. 4, n. 580 (ed. Vat., III, S. 343 und Appendix A, S. 368). – So sagt Scotus: »voluntas est perfecte idem cum essentia« (Quodlibet, qu. 14, n. 18; XII, S. 383). Vgl. Ord., IV, dist. 49, qu. 2, n. 18 (X, S. 339): »[…] idem re sub una ratione est essentia […], sub alia ratione est potentia […]« 397 Vgl. K. Rahner: Geist in Welt, in: Sämtliche Werke, Bd. 2, Solothurn u. a. 1996 (1939), S. 224; Hörer des Wortes, Kap. 10, in: Sämtliche Werke, Bd. 4, Solothurn u. a. 1997 (1941/1963), bes. S. 186-192.

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daher wandelt sich seine Freiheit im Lauf der sittlichen Entwicklung, und im Stand der Seligkeit erfährt sie noch einmal eine wesentliche Veränderung. Für Scotus ist der Mensch wesentlich nur Freiheit, die allenfalls die Sinnlichkeit an sich partizipieren läßt. Die Freiheit läßt keine Veränderung zu – sie ist am Anfang und am Ende der sittlichen Entwicklung dieselbe, sie ändert sich auch nicht im Stand der Seligkeit, sie kennzeichnet den Menschen gleichermaßen wie den Engel. Die Frage nach der Ganzheit geht dementsprechend weniger auf die Integration von Sinnlichkeit und Vernunft, sondern von Intellekt und Willen, mit Akzent auf dem letzteren. Die scotische Analyse der fruitio in Freiheit gibt sozusagen Aufschluß über die Höchstform des Menschen im Himmel (d. h., in der Ewigkeit); die Integration der Sinnlichkeit in der habitus-Theorie des hl. Thomas leistet dasselbe für die Höchstform des Menschen als Erdenbürger (d. h., in der Zeit). So wird auch nachvollziehbar, warum für Scotus der habitus eher als Konkurrent, für Thomas hingegen als konstitutives Element menschlicher Freiheit anzusehen ist. Zum Schluß sei auf folgendes Paradox hingewiesen: Thomas, der Verteidiger der Sinnlichkeit, verlegt die Seligkeit in einen Akt intellektueller Anschauung – wozu dann noch die Auferstehung des Fleisches?398 Scotus, dessen Anthropologie von angelologischen Prämissen lebt, verlegt die Seligkeit in einen Akt der Liebe, die »uns schon hienieden […] möglich sei«399 – wozu dann noch das Jenseits?

C. Wilhelm von Ockham Es darf behauptet werden, daß der habitus-Gedanke von der Voraussetzung eines bestimmten (u. U. unausgesprochenen) Verständnisses von Zeit lebt. Für ein Wesen, das ganz in der Zeit aufgeht (wie die Tiere), oder das der Zeit inkommensurabel ist (wie die Engel), kann nur in einem analogen Sinn vom habitus die Rede sein. Duns Scotus hatte seine Untersuchungen über Tugend und Freiheit in einen theologischlogischen Rahmen gestellt, in dem die Zeit keine Rolle zu spielen schien. Logische Verhältnisse gelten »extra tempus«, und in der Frage nach der Akzeptierbarkeit von Akten im Angesicht Gottes blieb ebenfalls die Zeit außer Betracht. Die Akte selbst aber, denen ja die Aufmerksamkeit des Doctor subtilis galt – waren nicht gerade sie aus dem Zeitstrom menschlicher Befindlichkeit herauspräpariert wie dimensionslose Punkte aus einer Linie? 398

M. Schulze: Leibhaft und unsterblich. Zur Schau der Seele in der Anthropologie und Theologie des Hl. Thomas von Aquin, Freiburg (Schweiz) 1992, S. 169: »Auch ohne Leib kann der Mensch zur ›visio Dei‹ und der aus ihr hervorfliessenden ›beatitudo‹ finden, weil der Leib zur Konstitution des der Gottesschau korrelierenden ›habitus‹ nichts Wesentliches beizutragen hat.« Vgl. Summa theol., I-II, qu. 4, a. 5. 399 Hoeres (wie Anm. 370), S. 306.

Wilhelm von Ockham

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1. Zeit und Bewegung bei Ockham Daß Bewegung real und denkbar sei, war ein Hauptergebnis der aristotelischen Naturphilosophie. Ockhams Ringen mit Aristoteles scheint auf eine Rückkehr der Eleaten hinauszulaufen.400 Ist nicht die moderne Naturwissenschaft, die allererst Bewegung meßbar macht, eine (freilich sehr subtile) Form des Eleatismus? »Für die antike und mittelalterliche Tradition galt, daß das Bewegte prinzipiell nicht Gegenstand von exaktem Wissen sein kann. Für den Zweck der Berechenbarkeit ist es aber ausreichend, Bewegung als zeitliche Folge von diskreten Zuständen in Raumkoordinaten zu interpretieren, auch wenn dabei der Bewegungscharakter der Bewegung beseitigt wird.«401 Bewegt ist etwas, insofern es (potentiell) mehr ist als es selbst.402 Will man dieses »mehr« festhalten, feststellen – nun, so ist es eben um die Bewegung geschehen. Friedrich Kaulbach schreibt:403 »Das Band der Physis muß aufgelöst werden, damit das Band des Verstandes geknüpft werden kann. […] Zunächst kommt es darauf an,

400

»Das moderne Denken ist in vielfacher Hinsicht zum vorsokratischen Denken zurückgekehrt, auch die moderne Logik« (R. Spaemann/R. Löw: Die Frage Wozu?, München 31991, S. 28). – Diese Kritik wurde bereits im 14. Jahrhundert erhoben: »Et quia de realitate motus est unus error quorundam modernorum qui circa totam Physicam […] conati sunt innovare errores antiquorum philosophorum quos Aristoteles frequentissime reprobat – licet per quasdam fugas grammaticales huiusmodi errores sustineant, quae modicum valent […] Moveamus ergo aliquas quaestiones circa realitatem motus more Aristotelis […], praetermittendo insanias modernorum innovantium grossitive antiquorum.« Michael de Massa, zit. in R. Schönberger: Relation als Vergleich. Die Relationstheorie des Johannes Buridan im Kontext seines Denkens und der Scholastik, Leiden u. a. 1994, S. 273. 401 Spaemann/Löw, a. a. O., S. 115. 402 »Les choses ne sont pas seulement ce qu’elles sont«, sagt J. Maritain in L’Intuition créatrice dans l’art et dans la poésie, in: Jacques et Raïssa Maritain: Œuvres complètes, Fribourg/Paris 1982 ff., Bd. 10, S. 259. – Für Thomas von Aquin trifft diese Sicht der Dinge immer dann zu, wenn sich deren Sein nicht im rein Materiellen erschöpft: »secundum esse materiale, quod est per materiam contractum, unaquaeque res est hoc solum quod est, sicut hic lapis non est aliud quam hic lapis; secundum uero esse inmateriale, quod est amplum et quodam modo infinitum, in quantum non est per materiam terminatum, res non solum est id quod est, set etiam est quodam modo alia […]« Sentencia libri De anima, II, 5 (ed. Leon., Bd. 45/1, S. 8 a). 403 F. Kaulbach: Der philosophische Begriff der Bewegung. Studien zu Aristoteles, Leibniz und Kant, Köln 1965, S. 24f. »Hier ist keine Rede von einem ›Ganzen‹ der Bewegung, von einer Erstreckung zwischen Anfang und Ziel und von einer Strebung des bewegten Körpers auf das Ziel hin. Das Band des Verstandes schließt die Teleologie aus. […] Ein völlig neuer Begriff von der Natur und eine neue Denkverfassung bilden sich aus. Worin besteht diese Revolution der Denkart? Sie besteht in der schon erwähnten Wendung zum Begriff der gefesselten Natur, deren repräsentative Definition Kant gegeben hat […]« Ebd., S. 26. – Kaulbach führt als Kontrahenten des aristotelischen und Begründer des neuzeitlich-naturwissenschaftlichen Bewegungsbegriffs Galilei vor; daß unter den Wegbereitern dieser Wende Ockham eine bedeutende Rolle spielt, haben Pierre Duhem und Anneliese Maier in vielen Studien belegt.

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Aushöhlung des habitus-Begriffs

an dem Beispiel der Ortsbewegung das Verfahren der Auflösung des Wesensbandes und der darauffolgenden Herstellung des vom Verstande geknüpften Bandes zu verfolgen.« Kaulbach erinnert daran, »daß in der Aristotelischen Konzeption der Bewegung in jedem Punkte des Raumes und der Zeit das Ganze des ihm vorhergehenden und nachfolgenden Geschehens der Bewegung eingeschlossen ist.«404 In jedem Punkt seiner Bahn trägt der bewegte Gegenstand den vorherigen Punkt virtuell in sich und antizipiert er auch schon den nächsten: er verwirklicht eine Seinsart, die aktuell-punktuell nicht adäquat beschrieben werden kann, weil eben das »nicht-mehr« und das »noch-nicht« konstitutiv zu ihr gehört. Bewegung ist (wenn wir die Richtung ins Zukünftige gegenüber dem »nicht-mehr« auszeichnen) die Wirklichkeit des Noch-nicht-Wirklichen, die Gegenwart der Zukunft, kurz die »Wirklichkeit des Möglichen als des Möglichen«.405 Was bleibt in der Auffassung des Venerabilis Inceptor von Zeit und Bewegung übrig? Das berühmte Rasiermesser zerschneidet das »Band der Physis«, von dem Kaulbach gesprochen hatte; zugleich zeigt sich, daß Ockham mit dieser Maßnahme der multiplicatio entium Herr zu werden versucht, die er zuvor durch Einnahme des Gottesstandpunkts »de potentia Dei absoluta« verursacht hatte. Denn »supernaturaliter loquendo« kann Gott denselben Gegenstand an vielen Orten machen.406 Während die Bewegung normalerweise dadurch gekennzeichnet ist, daß ein Ding potentiell (in zeitlichem Nacheinander) an vielen Orten ist, multipliziert die göttliche Allmacht das Ding und läßt es so aktuell (in zeitlichem Nebeneinander) an vielen Orten sein. Aber was soll das heißen: zeitliches Nebeneinander? Wir haben diese contradictio in adiecto gebildet, um zu zeigen, in welche Schwierigkeit die Sicht der Bewegung unter dem Aspekt der göttlichen Allmacht gerät. Denn das Nebeneinander entbehrt eben der Dynamik, und Bewegung ohne ein noch ausstehendes Moment künftiger Verwirklichung ist Stillstand. In der Tat sind Bewegung und Stillstand für Ockham nicht ganz geschieden, der Stillstand ist sozusagen der Stoff, aus dem die Bewegung besteht, das Positive an ihr.407 Es scheint, daß sich in der 404

Ebd., S. 31. Aristoteles: Physik, III, 1 (201 a 10f.); vgl. Anm. 115. – Die Wendung »Bewegung ist die Gegenwart der Zukunft« stammt von C. F. von Weizsäcker, zit. in: R. Spaemann/R. Löw, a. a. O., S. 58. 406 Wilhelm von Ockham: Quaestiones in librum secundum Sententiarum (Reportatio), qu. 7; in: Opera Theologica (= OTh), ed. St. Bonaventure, Bd. V, S. 121. Vgl. ebd., S. 111f.: »Deus potest facere quod corpus moveatur localiter et quod semper quando adquirit novum locum retineat primum locum et secundum et sic deinceps, quia Deus potest facere idem corpus in diversis locis.« Vgl. ebd., qu. 10 (OTh V, S. 231). Vgl. Quaestiones in librum quartum Sententiarum, qu. 6 (OTh VII, S. 97): »Ideo teneo quod idem corpus potest simul esse in diversis locis […]« 407 Quaestiones in librum secundum Sententiarum (Reportatio), qu. 7; a. a. O., S. 113f.: »substantia motus est de genere quietis, et ideo quies non contrariatur motui. Hoc dico de quiete in 405

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meisterlich gehandhabten dialektischen Zeitlupe408 die Bewegung in diskrete Bestandteile auflöst, die mit den Mitteln der Logik nicht wieder zu einem Kontinuum vereinigt werden können:409 »Man kann Ockhams Bewegungslehre im ganzen mit einer Theorie des Lichtspiels vergleichen, die dieses durch die Summierung der Einzelbilder des Lichtspielstreifens zu erklären versucht. Denn wie hier davon abgesehen wird, daß die einzelnen Bilder nur Grenzstationen der lebendigen Bewegung der dargestellten Handlung sind, so verselbständigt auch Ockham zu Unrecht die einzelnen Bewegungsstadien.« »Es ist eine Logisierung des Begriffs«, diagnostiziert Anneliese Maier, »wie sie bei Ockham auch sonst üblich ist, die den gegenständlichen Gehalt preisgibt. In diesem Bewegungsbegriff ist von dem ontologisch wesentlichen Moment im Phänomen der Bewegung abstrahiert.«410 Was folgt daraus für die Zeit? Wenn Bewegung heißen kann, daß ein und derselbe Gegenstand gleichzeitig an verschiedenen Orten ist, dann bedeutet das nichts anderes als eine Bewegung ohne Zeit, oder besser: dann wird mit der Bewegung auch die Zeit aufgehoben. Daß die Zeit nicht(s) ist,411 Zeit und Bewegung aber dasselbe sind, weist Ocktermino ad quem, quia quies illa est ipsum positivum in motu […]« Ockham bezieht sich auf den Physik-Kommentar des Averroes. 408 Sehr schön wird beschrieben, wie die Bewegung, »indem sie das zweite ›wo‹ erwirbt, etwas Positives erwirbt und etwas Negatives [nämlich das ›noch-nicht‹] verliert, und indem sie das erste ›wo‹ verliert, etwas Positives verliert und etwas Negatives [nämlich das ›nicht-mehr‹] erwirbt.« Ebd., S. 121. 409 S. Moser: Grundbegriffe der Naturphilosophie bei Wilhelm von Ockham. Kritischer Vergleich der Summulae in libros physicorum mit der Philosophie des Aristoteles, Innsbruck 1932, S. 109. Moser, der seine Dissertation auf Anregung Heideggers anfertigte, bemerkt bei Ockham einen »eigentümliche(n) Zusammenhang eines ontischen Positivismus mit einer logischen Schematisierung«, ebd., S. 40. 410 A. Maier: Die Impetustheorie, in: Zwei Grundprobleme der scholastischen Naturphilosophie, Rom 21951, S. 159. Trotz seiner problematischen Rekonstruktion der Bewegung nimmt A. Maier Ockham gegen den Vorwurf in Schutz, er stelle »die außerseelische Realität des Vorgangs ›aliquid movetur‹ […] in Frage«. A. Maier: »Die Subjektivierung der Zeit in der scholastischen Philosophie«, Philosophia naturalis, 1 (1950), S. 361–398, hier S. 390. Vgl. auch die Kritik von M. Wolff: Geschichte der Impetustheorie. Untersuchungen zum Ursprung der klassischen Mechanik, Frankfurt a. M. 1978, S. 217: »Der Sache nach besteht der Hauptmangel in Ockhams Bewegungsauffassung darin, daß sie vollkommen davon absieht, das Kontinuum des Übergangs eines sich bewegenden Körpers von einer Lage zur anderen begreiflich zu machen. Die bloße Feststellung, daß verschiedenen Zeitpunkten verschiedene Lagen entsprechen, scheint den Ortswechsel eines Körpers zu einem absoluten Diskretum herabzusetzen.« 411 »Ideo dico quantum ad istum articulum quod nec tempus nec aliquod successivum dicit aliquam rem absolutam vel respectivam distinctam a rebus permanentibus. Et haec est intentio Philosophi, IV Physicorum, cap. De tempore, ubi probatur quod tam tempus quam instans non sunt.« Quaestiones in librum secundum Sententiarum, qu. 10 (OTh V, S. 187). Hervorh. von mir. Ockham bezieht sich hier auf das von Aristoteles herausgestellte Paradox, daß die Zeit doch

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ham an anderer Stelle nach.412 Dann kommt er auf des Zeitverständnis des hl. Thomas zu sprechen, von dem er sich in scharfen Worten distanziert.413 (Im Unterschied zu Ockham nämlich gibt es für Thomas so etwas wie eine innere Zeit.) Den »eigentlichsten und strengsten« Zeitbegriff für Ockham liefert die schnellste Bewegung der höchsten Himmelssphären, sie geben das Maß für alle anderen Bewegungen.414 Warum soll jedes Gestirn und jedes Geschöpf seine eigene Zeit haben? »[…] frustra fit per plura quod potest fieri per pauciora. Nunc autem per primum motum nobis maxime manifestum, sine omni alio addito, possumus alios motus mensurare.«415 Zeit wird hier als äußeres Maß verstanden, ganz im Sinne des »vulgären eigentlich aus den »Jetzten« bestehen müßte, diese aber nie (nämlich immer schon vergangen oder zukünftig) »sind«. »Was nun aus Nichtseiendem zusammengesetzt ist, von dem scheint es doch wohl unmöglich zu sein, daß es am Sein teilhabe.« Aristoteles: Physik, IV, 10 (218 a 2f.). (Übers. von H. G. Zekl.) Vgl. Summula Philosophiae Naturalis, IV, 4, in: Opera Philosophica (= OPh), ed. St. Bonaventure, Bd. VI, S. 356: »nullum enim ens componitur ex non-entibus. Sed partes temporis praeteritae non sunt et similiter partes futurae non sunt, igitur tempus non est tale compositum […], et ideo sic intelligendo tempus non est.« Vgl. Brevis summa libri Physicorum, IV, 5 (OPh VI, S. 71); Expositio in libros Physicorum Aristotelis, IV, 18 (OPh V, S. 195); Expositio in librum Praedicamentorum Aristotelis, c. 10, § 4 (OPh II, S. 211). – Es ist anzumerken, daß neuerdings die Echtheit der Summula Philosophiae Naturalis, der Brevis summa libri Physicorum sowie der Quaestiones in libros Physicorum (s. u., Anm. 412) bestritten wird; vgl. G. Leibold: »Zur Authentizität der naturphilosophischen Schriften Wilhelms von Ockham«, in: Jan P. Beckmann/L. Honnefelder u. a. (Hrsg.): Philosophie im Mittelalter, Hamburg 1987, S. 295–300. Für eine kritische Auseinandersetzung mit Leibold vgl. St. F. Brown: »Ockham and Final Causality«, in: John F. Wippel (Hrsg.): Studies in Medieval Philosophy, Washington 1987, S. 249–272, bes. S. 272: »Our conclusion is that the works set aside by Leibold as not being Ockham’s cannot be so easily discounted.« – M. McCord Adams, die Ockhams Diskussion mit Heinrich von Gent und Ägidius Romanus nachzeichnet, resümiert: »Ockham’s arguments against the claims that time and instants are something really distinct from permanent things are mostly disappointing.« M. McCord Adams: William Ockham, Bd. 2, Notre Dame (Indiana) 1987, S. 873. 412 »[…] percipiendo motum percipimus tempus.« OTh V, S. 192. Näherhin werden fünf Bedeutungen von »Zeit« erörtert, wobei für die ersten drei gilt: »Et istis tribus modis accipiendo […], est motus tempus […]« Für die beiden anderen gilt: »isti duo modi non distinguuntur realiter a tribus primis […]« Ebd., S. 192f. – In der Zeit steckt darüber hinaus das Moment des Maßes, daher heißt es von der Zeit, »quod [tempus] non differt a motu secundum quid rei sed solum secundum quid nominis, quia tempus est numerus et mensura […]« Ebd., S. 194 (vgl. S. 225). »Tamen accipiendo tempus secundum quid rei, sic est omnino idem cum motu.« Ebd., S. 224. – Summula Philosophiae Naturalis, IV, 4 (OPh VI, S. 354f.): »tempus non est alia res a motu […]« – Expositio in libros Physicorum Aristotelis, IV, 18, § 3 (OPh V, S. 196): »hoc nomen tempus importat illa eadem quae importat hoc nomen motus.« Vgl. ebd., S. 197; IV, 21, § 6, S. 225, 228f.; Quaestiones in libros Physicorum Aristotelis, qu. 41 (OPh VI, S. 506); Expositio in librum Praedicamentorum Aristotelis, c. 10, § 4 (OPh II, S. 220). 413 »Unde mirum est de illis qui ponunt quod tempus sit quoddam accidens inhaerens motui […]« OTh V, S. 198. 414 Ebd., S. 191. Vgl. Aristoteles: Metaphysik, X, 1 (1053 a 8–12). 415 A. a. O., S. 199.

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Zeitbegriffes«.416 Und da dieses Maß für alles Geschaffene gleichermaßen gelten soll, fällt das aevum, das den Engeln vorbehaltene Mittelding zwischen Zeit und Ewigkeit, weg: »[…] auch wenn es hundert Seins[arten] gäbe, ein Maß reicht für alle, und daher gibt es nicht mehrere Maße für die Dauer von etwas als die Ewigkeit und die Zeit.«417 In den Quaestiones in libros Physicorum Aristotelis heißt es schroff:418 »nullum est aevum nec aeternitas participata quae sit mensura angelorum. […] angeli sunt in tempore […], quia per tempus potest sciri quantum durant angeli, puta quod duraverunt per centum vel per mille annos vel per minus vel per maius.« Also auch die Dauer der Engel ist in Jahren angebbar, seien es nun hundert oder tausend! Die Welt wird ärmer, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt der Meßbarkeit betrachtet. Anders sehen die Dinge bei Thomas aus. Was er schreibt, liest sich wie eine vorweggenommene Antwort auf Ockham:419 »Einige aber sagen, es gibt nur eine einzige Zeit für alles Zeitliche, weil es nur eine einzige Zahl für alles Gezählte gibt: da, dem Philosophen zufolge, die Zeit Zahl ist. – Aber das genügt nicht: denn die Zeit ist nicht die Zahl außerhalb des Gezählten (tempus non est numerus ut abstractus extra numeratum), sondern innerhalb des Gezählten (sed ut in numerato existens): andernfalls wäre sie nicht zusammenhängend (continuus); denn zehn Ellen Tuch haben ihren Zusammenhang nicht aus der Zahl, sondern aus dem Gezählten. Die Zahl im Gezählten (numerus […] in numerato existens) aber ist nicht dieselbe für alle, sondern für Verschiedene verschieden.« Insofern die Zeit wesentlich Kontinuität bedeutet, kann sie nicht als äußeres Maß an die Dinge herangetragen werden. Was den Dingen ihren inneren Zusammenhang gibt, ist aber je nach ihrem Sein verschieden: ein Tuch, ein Frosch, ein Mensch – das sind ganz inkommensurable Einheiten. Aus der Zeit in den Dingen kann also die Einheit der Zeit – in der Tuch, Frosch, Mensch ja sind – nicht begründet werden. Die Einheit der Zeit führt Thomas, nicht anders als Ockham, auf die Himmelsbewegung als den kleinsten gemeinsamen Nenner alles Bewegten zurück. Doch die Zeit, in der die Dinge sind, ist der Zeit in den Dingen nicht vollkommen äußer-

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M. Heidegger: Sein und Zeit, § 81, Tübingen 161986, S. 420ff. Quaestiones in librum secundum Sententiarum, qu. 11 (OTh V, S. 246): »[…] si sint centum esse, una mensura sufficit pro omnibus, et ideo non sunt plures mensurae durationis alicuius quam aeternitas et tempus.« 418 Quaestiones in libros Physicorum Aristotelis, qu. 54 (OPh VI, S. 542). – Auf der gleichen Seite liest man die erstaunlichen Worte: »non solum Deus, sed omne quod est, est in tempore […], quia omne quod est, coexsistit tempori.« 419 Summa theol., I, qu. 10, a. 6. Vgl. Aristoteles: Physik, IV, 11 (219 b 5). – Daß, wie S. Moser (vgl. Anm. 409, S. 139) findet, »das eigenständige Leben des aristotelischen Zeitproblems unter der Hand des Thomas erlischt«, dürfte nicht zutreffen. 417

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lich. Die Dinge haben ihre Zeit: »Tempus autem non est quid mathematicum, sed naturale.«420 Das aber heißt: der Zeitbegriff ist analog. Für Ockham jedoch hat die Zeit nichts mit der Natur der Dinge zu tun – denn »Gott könnte einen Esel genauso in Ewigkeit erhalten – wenn’s ihm gefiele – wie einen Engel.«421 Mit dieser Homogenisierung der Welt stellt Ockham die Weichen für die moderne Naturwissenschaft.422 Man kann den Unterschied zur klassischen Ontologie auch so fassen: Die natürlichen Dinge tragen das Prinzip ihrer Bewegung in sich,423 es gehört zu ihrem Sein. 420

Thomas von Aquin: Sent. II, dist. 2, qu. 1, a. 2. – Die Zeit in den Dingen, die »nicht dieselbe für alle, sondern für Verschiedene verschieden« ist (s. o.), ist die Dauer, d. h. die je verschiedene Teilnahme an der Ewigkeit. Die Ewigkeit ist »der Ursprung aller Dauer.« (Summa theol., I, qu. 10, a. 6.) »Schauen wir auf die Verschiedenheit der Dinge, die von diesem Ursprung ihre Dauer empfangen, so ist sie [die Dauer] in den verschiedenen Dingen verschieden.« (A. a. O., DThA, Bd. 1, S. 186.) Genau diesen Begriff von innerer Zeit, von Dauer will Ockham ausmerzen. Er führt es vor am Beispiel des Engels (Quaestiones in librum secundum Sententiarum, qu. 8: »Utrum duratio angeli differat ab essentia vel exsistentia angeli«). Dauern bedeutet dasselbe wie Dasein. Darüber hinaus konnotiert es eine Abfolge, die aber rein äußerlich bestimmt ist: »successio aliqua quae non est in angelo sed alibi cui angelus coexsistens dicitur durare plus vel minus […] Et dicitur unus angelus plus durare quam alius, quia coexsistit maiori successioni quam alius. Puta, quia unus durat per mille annos, alius per decem, quia unus coexsistit motui mille annorum, alius motui decem annorum.« (Ebd.; OTh V, S. 156.) Ockham hält es für unmöglich, daß die Dauer »aliquid formaliter inhaerens angelo« (ebd., S. 158) besagen soll. Thomas hält dagegegen am Unterschied von Zeit und Dauer fest, wie im Kommentar der Deutschen Thomas-Ausgabe gut zur Geltung gebracht wird: »Jedes Sein hat seine bestimmte Art von Dauer, jede Dauer das ihr entsprechende Maß. Nur weil alle körperlichen Substanzen im Charakter der Körperlichkeit übereinkommen, weil sie alle demselben Gesetze des ausgedehnten Seins gehorchen, in dessen Wesen es liegt, Teile nach Teilen zu haben, nur deshalb können sie neben ihrer besonderen Dauer noch gemessen werden von dem alle Körperwesen einheitlich umfassenden Maße jener Zeit, die wir als Uhrenzeit zu bezeichnen gewohnt sind.« DThA, Bd. 1, S. 508 (Hervorh. von mir). 421 Quaestiones in librum secundum Sententiarum, qu. 11 (OTh V, S. 243). Auf S. 246 dasselbe für Engel und Pferd. – Man sieht, wie das Potentia-Dei-absoluta-Argument den Begriff der Natur entleert. 422 Vgl. S. Moser (wie Anm. 409), S. 168. – Man könnte sagen, die von R. Spaemann als Kennzeichen des modernen Bewußtseins bezeichnete »Homogenisierung der Erfahrung« beginnt mit der Homogenisierung der Dauer für Engel und Menschen, mit der Abschaffung des aevum. Vgl. Robert Spaemann: »Was ist das Neue? Vom Ende des modernen Bewußtseins«, Die politische Meinung, 27 (1982), S. 11–27. 423 Aristoteles: Physik, II, 1 (192 b 8–33). – An einer Stelle seiner Eucharistielehre stellt Ockham die Frage: »Sed quid est movere organice et non organice?« Die Antwort fällt mechanistisch aus: »Respondeo: movere organice est movere primo unam partem et post mediante illa aliam, sicut est in motu animalium quod primo forte movetur cor motu locali realiter, et post mediante motus cordis alia pars magis propinqua, et post tertia, et sic deinceps. Et hoc est universaliter in omni motu composito ex pulsu et tractu, ubi primo pellitur una pars et post trahitur alia.« Quaestiones in librum quartum Sententiarum, qu. 7 (OTh VII, S. 121f.) Danach bewegt die Lokomotive den Kohlewagen genauso organisch wie das Herz den Körper. Es ist mit Händen zu greifen,

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Ockham sagt dagegen: »Es gehört nicht zum Begriff der Natur, daß sie aktives Bewegungsprinzip sei, sondern vielmehr gehört es zum Begriff der Natur, daß sie passives Bewegungsprinzip sei […]«424 Ist einmal der Unterschied zwischen natürlichen und technisch hergestellten Dingen425 eliminiert, erübrigt sich ebenso derjenige zwischen natürlicher und gewaltsamer Bewegung.426 Es genügt, daß etwas bewegbar ist – egal, ob es sich nun selbst bewegt oder von außen bewegt wird. Bewegung wird daher nicht mehr als inneres Sein,427 sondern als äußeres Haben (bzw.

wie hier »der Gedanke von der konstitutionellen Bewegtheit der substantiellen Formen« (Spaemann/Löw, a. a. O., S. 93) aufgegeben wird. 424 »Et ita non est de ratione naturae quod sit principium activum motus, sed magis est de ratione naturae quod sit principium passivum motus […]« Expositio in libros Physicorum Aristotelis, II, 1, § 4 (OPh IV, S. 229). 425 Ebd., S. 218: »Et per consequens quando domus fit, non est aliquid reale secundum se totum de novo productum; sed ideo dicitur domus fieri, quia partes tantum secundum locum transmutantur et modo determinato localiter ordinantur.« Es ist also wohl Ockham, der als erster ausspricht, »daß der Mensch nur Ortsbewegungen hervorrufen kann, niemals qualitative Veränderungen.« Spaemann/Löw, a. a. O., S. 102 (vgl. S. 295). – Ockham fährt fort: »Ideo dicendum est quod non fiunt artificialia per talem productionem novae rei, sed ad producendum artificialia sufficit movere localiter idem vel sufficit diversa naturalia modo certo approximare localiter vel separare aliqua localiter.« So gilt »de artificialibus quod non sunt aliae res a naturalibus […]« A. a. O., S. 219. Ockham stellt das Prinzip auf »omnis res quae qualitercumque exsistens in se, potest produci ab artifice, potest etiam produci a natura, quamvis hoc sit valde rarum vel numquam de facto accidat.« Und umgekehrt: »Et de multis est hoc verum quod de facto totaliter res consimiles […], quae producuntur per artem, producuntur per naturam.« Ockham zieht den Schluß: »Ergo tunc inter rem naturalem et artificialem nulla est differentia nisi forte numeralis […]« Ein Beispiel: Wenn sich in der Natur ein Stein fände, der die gleiche Form und Beschaffenheit hätte wie ein in der Ziegelei hergestellter, der sich folglich genauso zum Hausbau eignete wie jener, »dann gibt es, was ein jedes Akzidens bzw. die Substanz dieser Steine betrifft, keinerlei Unterschied, es sei denn der Zahl nach; also ist, wie der eine natürlich ist, es auch der andere.« Ebd., S. 224. Der einzige Grund, die Rede von »natürlichen« und »künstlichen« Dingen aufrechtzuerhalten, liegt nicht in ihrem Sein (also nicht in ihnen selbst): »Et ideo quia unus lapis ita habet materiam et formam substantialem sicut alius, ideo unus ita vere est naturalis sicut alius. Sed res non dicitur artificialis quia est talis figurae, sed quia per artem est talis figurae.« Ebd., S. 224f. (Hervorh. von mir.) Ockham nimmt hier eine Leitidee der modernen Technik vorweg: es gibt nichts Unnatürliches, im Grunde macht der Mensch nie etwas, was nicht auch die Natur machen könnte, »quamvis hoc sit valde rarum vel numquam de facto accidat.« Man denke an den von Verteidigern der Kernkraft oft zu hörenden Hinweis auf die »natürliche Radioaktivität« … 426 Aristoteles ist noch genauer: neben der Selbstbewegung der Lebewesen unterscheidet er die Bewegung lebloser Dinge in natürliche (z. B. freier Fall des Steins) und gewaltsame (z. B. Wurf des Steins): Physik, VIII, 4 (254 b 14–33). 427 »Und wenn gesagt wird, daß in jeder Ortsbewegung etwas erworben oder verloren werden muß, das subjektiv [d. h. innerlich] im Bewegten […] ist oder war, so sage ich: das ist schlichtweg falsch. Vielmehr genügt es, daß etwas, was nicht subjektiv darin ist, erworben oder verloren wird, und das ist speziell bei der Ortsbewegung [der Fall].« »Et si dicatur quod in omni motu oportet aliquid adquiri vel deperdi quod sit vel fuerit subiective in moto vel mutato, dico quod hoc est simpliciter falsum. Immo sufficit quod aliquid quod non est subiective in ipso adquiratur vel

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Nicht-Haben) bestimmt:428 »Tunc quando aliquid movetur, oportet quod aliquid naturaliter habeat […], et quod sit in potentia ad aliquid quo caret, quod tamen habiturum est et statim post ita quod immediate habebit aliquid quo nunc caret.« Daher kann Ockham die berühmte, vom Sein hergenommene und aufs Sein abzielende Definition des Aristoteles, Bewegung sei die »Wirklichkeit des Möglichen als des Möglichen« umdeuten in eine Formel, die nur vom Haben spricht:429 »praedicta definitio, […] motus est actus entis in potentia in quantum in potentia […]

deperdatur, et hoc est speciale in motu locali.« Hervorh. von mir. – Der aus der Ordinatio genommene Text stimmt völlig mit dem andernorts entwickelten äußeren Bewegungsbegriff überein (vgl. Anm. 408 und 428). Scriptum in librum primum Sententiarum (Ordinatio), I, dist. 30, qu. 2 (OTh IV, S. 330). (Die Beobachtung, daß bei Ockham »subjektiv« steht, wo wir »objektiv« sagen würden – und umgekehrt –, bedeutet hier keinen Einwand: jedenfalls wird das In-Sein der Bewegung ausgeschlossen.) 428 Expositio in libros Physicorum Aristotelis, III, 3, § 1 (OPh IV, S. 453). Vgl. ebd., S. 453f.: »Et ex isto patet quod ad hoc salvandum non oportet ponere aliquam rem aliam a rebus permanentibus praeteritis, praesentibus et futuris, sed sufficit ponere rem permanentem quae movetur, et rem permanentem quae iam habetur, et rem permanentem futuram quae non habetur, vel rem permanentem praesentem quae tamen non habetur sed potest haberi et habebitur […]« (Hervorh. von mir.) Was hier jeweils »gehabt« bzw. noch nicht oder nicht mehr »gehabt« wird, sind die »ubi« (vgl. Anm. 408), die Wo-Punkte – etwas, das dem Bewegten äußerlich bleibt. 429 Ebd., S. 454. – Vgl. a. a. O., VI, 13, § 2 (OPh V, S. 557): »motus […] dicitur actus entis in potentia, quia est actus entis quod est habiturum aliquid quo caret vel e converso. Et sic accipitur hic ›esse in potentia‹.« (Hervorh. von mir.) Das Zitat steht im Zusammenhang der Widerlegung der Zenonschen Paradoxe. Ockham fügt folgende Erklärung an: »Sciendum est quod aliqui ponunt hic quod Philosophus solvit praedictas rationes per hoc quod contingit pertransire infinita non in actu sed in potentia. Sed quia multi ponentes istam distinctionem errant circa intentionem Philosophi et Commentatoris, dicentes quod partes infinitae non sunt nisi in potentia, non in actu, quasi non sint actualiter exsistentes sed in potentia tantum, cum tamen hoc sit contra intentionem Philosophi, ideo […] est […] declarandum quod Philosophus intendit ponere infinitas partes continui actualiter exsistentes in rerum natura.« Bewiesen wird es so: »omne continuum est actualiter exsistens. Igitur quaelibet pars sua est vere exsistens in rerum natura.« Ebd., S. 562. – Aristoteles führt die Auseinandersetzung mit Zenon in Buch VIII fort (leider ist Ockhams Kommentar nicht bis zu der Stelle gekommen) und sagt dort ausdrücklich: »[…] in so einem Zusammenhängenden sind zwar unendlich viele Halbstücke enthalten, nur nicht in Wirklichkeit, sondern bloß der Möglichkeit nach.« Aristoteles: Physik, VIII, 8 (263 a 28f.). (Übers. von H. G. Zekl.) Das Argument lebt davon, daß in der Bewegung die ganze zu durchlaufende Strecke in actu, ihre unendlich vielen Teile aber in potentia existieren; wer die Teilung tatsächlich durchführt, zerschneidet damit das Kontinuum und hält so die Bewegung an (ebd., 263 a 29f.). Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile, denn: »Es trifft der Linie doch nur nebenbei zu, unendlich viele Halbstücke zu sein, ihr wesentliches Sein ist etwas ganz anderes.« Ebd. (263 b 7–9). Vgl. Summa theol., I, qu. 53, a. 2: »sicut loca intermedia sunt infinita in potentia, ita et in motu continuo est accipere infinita quaedam in potentia. Si ergo motus non sit continuus, omnes partes motus erunt numeratae in actu.« Offenbar ist die Kontinuität der Bewegung nur mit der potentiellen Unendlichkeit der Teilstrecken kompatibel. – Ockhams Deutung läßt ahnen, daß er mit den aristotelischen Zentralbegriffen »actus« und

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aequivalet isti propositioni ›quod mutatur, est actualiter habens aliquid quod non habuit prius sed potuit habere‹.« Mit Blick auf den habitus bleibt festzuhalten, daß es im Rahmen von Ockhams Naturphilosophie nicht möglich ist, dieses Haben als innerliches aufzufassen – genau der Unterschied von Innen und Außen wird ja aus der Naturbetrachtung eliminiert. Insofern ist es folgerichtig, daß Ockham nicht die Impetustheorie vertritt; sollte dagegen sein Ansatz nicht doch – entgegen der Annahme von A. Maier – etwas mit dem Trägheitsgesetz zu tun haben, auch wenn zuzugeben ist, daß keine »Vorstellung eines konkreten Naturgesetzes dahinter steht«?430 Die Vermutung eines Zusammenhangs zwischen der Entdeckung der Trägheit und dem Verschwinden des habitus-Begriffs drängt sich auf. Die Dinge sind, was sie sind; Bewegung, Veränderung findet nicht statt. Statisches tritt an die Stelle von Dynamischem. Freilich eröffnet das Trägheitsgesetz neue, phantastische Bewegungsperspektiven: ohne Trägheit keine Raumfahrt. Durch Anbringung eines Motors kann die Trägheit eines Körpers in Mobilität umgemünzt werden – ein Stück Blech bewegt sich scheinbar »von selbst« und überbrückt Entfernungen, die für unüberwindlich galten. Aber bewegt es sich wirklich, d. h. aktiv? Aristotelisch gesprochen: nein. Für Ockham ist die Frage unerheblich, denn »magis est de ratione naturae quod sit principium passivum motus«.431

»potentia« Schwierigkeiten hat (vgl. Ockham, a. a. O., S. 564). Gerade sie aber sind unentbehrlich für das Verständnis des habitus, wie ihn Thomas beschreibt: als »medium inter potentiam puram et purum actum« (vgl. Anm. 229). 430 A. Maier (wie Anm. 410), S. 159 (gegen Duhem). – Von »einem ersten Schritt zur Formulierung des Trägheitsprinzips« spricht A. Ghisalberti: Introduzione a Ockham, Roma/Bari 21991, S. 44. – Die Trägheit entspricht dem habitus in der unbelebten Materie. Autoren, die den habitusBegriff auf die Welt des Anorganischen ausdehnen, setzen habitus und Trägheit gleich. Vgl. J. Chevalier: L’Habitude. Essai de métaphysique scientifique, Paris 1929, S. 40. 431 Vgl. Anm. 424 (Hervorh. von mir). Zweifel, ob es so etwas wie Selbstbewegung überhaupt gibt, klingen beiläufig an in Expositio in libros Physicorum Aristotelis, VII, 1, § 1 (OPh V, S. 599): »Utrum autem aliquid possit moveri a se, stricte accipiendo moveri, non est praesentis intentionis.« Damit dürfte es innerhalb der Ockhamschen Position schwierig sein, den Unterschied zwischen Lebendigem und Totem zu erfassen. Vgl. dazu Summa theol., I, qu. 18, a. 1: »Zuerst nämlich sagen wir von einem Tier, es lebt, wenn es beginnt, sich selbst zu bewegen, und so lange erachtet man ein Tier als lebendig, solange bei ihm eine solche Bewegung sichtbar ist; wenn es aber keine Selbstbewegung mehr hat, sondern nur noch von einem anderen bewegt wird, nennt man das Tier tot […] Daraus ist ersichtlich, daß das eigentlich lebendig ist, was sich selbst in irgendeiner Art Bewegung bewegt […] Die Dinge aber, in deren Natur es nicht liegt, sich selbst zu irgendeiner Bewegung oder Tätigkeit anzutreiben, kann man nicht lebend nennen […]« DThA, Bd. 2, S. 119f. – Vgl. Summa contra gentiles, IV, 11. Vgl. Meister Eckhart: Predigt 5, in: Deutsche Predigten und Traktate, hrsg. von Josef Quint, München 1963/79, S. 176: »Was ist mein Leben? Was von innen her aus sich selbst bewegt wird. Das (aber) lebt nicht, was von außen bewegt wird.« – Max Schelers Biologievorlesung von 1908/09 faßt den Paradigmenwechsel von innerer, aktiver

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2. Die Reduktion des habitus im Physik-Kommentar Frustra fit per plura quod potest fieri per pauciora. Es liegt in der Konsequenz des Ockhamschen Denkens, entbehrliche Unterschiede aufzuspüren und in Fortfall zu bringen (wir haben es vorgreifend bereits am Unterschied zwischen natürlichen Dingen und Artefakten gesehen). Auch das aristotelische Begriffspaar Materie / Form birgt ein metaphysisches Einsparpotential. (Allerdings bedarf es einiger vorbereitender Unterscheidungen in mente, um diesen Unterschied loszuwerden. Das spricht nicht gegen die reductio entium in re.) In gewisser Hinsicht (»secundum quid«) und im weiteren Sinn (»large«) läßt sich nämlich über das Entstehen (generatio) so reden, daß man nicht mehr Materie und Form als Ko-Prinzipien braucht; dann nämlich, wenn sich dem rasiermesserscharfen Blick zeigt, daß der Werdeprozeß keine vollkommen neue Sache hervorbringt. Das Entstehen einer gekrümmten aus einer geraden Linie wäre ein Beispiel dafür.432 Nun sind wohl die meisten von uns beobachtbaren Werdevorgänge dieser Art: die berühmte Statue ist gegenüber dem unbearbeiteten Erz nichts völlig Neues; statt zu sagen »die Statue entsteht, indem das ungeformte Erz eine Form erhält«, kann man auch sagen »die Statue ergibt sich aus der Veränderung der Form des unbearbeiteten Erzes«, und diese Veränderung ist etwas rein Äußerliches, nichts weiter als Ortsbewegung, motus localis.433 (Nebenbei ist so die substantielle Kategorie der γéνεσις in die akzidentelle der λλοíυσις überführt.) So kann Ockham festhalten:434 »So […] betrachtet unterscheiden sich Materie (»Leben«) zu äußerer, passiver (»Trägheit«) Bewegung so zusammen: »Das heißt, bei der Entdeckung des Trägheitsprinzips gilt nicht mehr, daß die Kraft die Ursache der Bewegung sei […] Dagegen ist bei der vitalen Bewegung die Bewegung uns so gegeben, daß wir die Ortsveränderung […] als unmittelbare Folge einer inneren Aktivität des sich bewegenden Wesens erleben. […] Gleichwohl aber ist Tendenz, Aktivität ein wesentliches Moment aller Bewegung (auch der anorganischen), nur daß dieses Moment zunächst an der Lebensbewegung erfaßt wird. […] In der Tat ist das Trägheitsprinzip nichts anderes als der höchste Ausdruck für die Gesetzmäßigkeit einer Welt, in der kein Leben wäre.« Max Scheler: Biologievorlesung, in: Gesammelte Werke, Bd. 14, Bonn 1993, S. 327f. 432 Expositio in libros Physicorum Aristotelis, I, 15, § 8 (OPh IV, S. 160). 433 Ebd., S. 161: »Similiter est de productione domus; nam per hoc solum quod talia corpora sic coniunguntur ad invicem secundum locum et situm, quae prius non coniungebantur, fit domus de novo. Et ita est de multis aliis.« 434 Ebd., S. 162: »Sed accipiendo materiam et formam secundo modo, sic non distinguuntur semper realiter, sed illud idem numero quod est primo materia, est postea forma […] Et tunc esse materiam et formam non est aliud nisi esse primo talis res in se, et tunc est materia, et postea esse talis per suam transmutationem vel alicuius partis amotionem vel alicuius additionem, non per informationem, sed per localem coniunctionem. Sicut si primo sit nasus, tunc dicitur materia […]; sed quia postea non potest esse simitas nisi saltem per motum localem partium nasi […], ideo dicitur quod simitas est forma nasi, et tamen simitas non est alia res a naso. Et sic idem dicitur materia et forma […]« (Hervorh. von mir.)

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und Form nicht immer realiter, sondern genau dasselbe, das zuerst Materie ist, ist nachher Form […] Und so ist ›Materie sein und Form [sein]‹ nichts anderes als zuerst eine in sich so und so beschaffene Sache sein – und dann ist es Materie –, und nachher eine so und so beschaffene [Sache sein] infolge ihrer Veränderung (sei es durch Wegnehmen oder Hinzufügen irgendeines Teils), nicht durch Formgebung, sondern durch örtliche Verbindung.« Ein Beispiel: »Wenn zuerst die Nase da ist, dann spricht man von Materie […]; aber weil nachher die Stupsnasigkeit nur dasein kann, wenn es wenigstens zu einer örtlichen Bewegung von Teilen der Nase kommt […], so sagt man, die Stupsnasigkeit ist die Form der Nase, und doch ist die Stupsnasigkeit keine andere Sache als die Nase. Und so wird dasselbe als Materie und als Form bezeichnet […]« (Ebd.) Ockham ist sich zwar im klaren darüber, daß dies, ganz genau genommen, ein uneigentlicher Gebrauch der aristotelischen Prinzipien ist.435 Aber das ändert nichts daran, daß Entstehen und Vergehen nun nicht mehr im Rückgriff auf die Prinzipien von Materie und Form erklärt werden, sondern als Ansammlung bzw. Absonderung von (bereits vorliegenden) Teilen.436 Und auch das Begriffspaar Ganzes / Teile ist nicht so zu verstehen, als sei jenes etwas qualitativ anderes als diese – nein, die Teile sind das Ganze.437 Eine »Preisgabe des gegenständlichen Gehalts« hatte A. Maier in der Logisierung des Bewegungsbegriffs moniert; unsere Interpretation des Werdeprozesses läuft auf ein ähnliches Fazit hinaus. Aber in der Logisierung der Wirklichkeit, in der von dem bereits erwähnten Michael de Massa schon im 14. Jahrhundert angeprangerten

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»[…] notandum est quod ›forma‹ accipitur large et improprie sicut prius.« Ebd., § 10 (OPh IV, S. 166). »Notandum est, sicut frequenter est tactum, quod strictissime accipiendo hoc vocabulum ›materia‹, nihil est materia nisi quod recipit in se formam absolutam distinctam realiter et secundum se totam a materia.« Ebd., II, 5, § 10 (OPh IV, S. 291). Alles in den Beispielen Angeführte ist uneigentlicher Begriffsgebrauch. Zusammenfassend ein drittes »notandum«: »[…] et ita sicut dictum est frequenter, ›materia‹ et ›forma‹ et ›compositum‹ accipiuntur tunc large et similiter ›principium‹.« Ebd., I, 16, § 1 (OPh IV, S. 168). 436 Ebd., S. 163: »multa propter solam congregationem vel segregationem localem dicuntur generari vel corrumpi, sicut fluvius, similiter populus, exercitus, civitas et huiusmodi […]« Auch hier wird Averroes als Gewährsmann genannt. (Vgl. Anm. 407 sowie unten, Text zu Anm. 441; Anm. 448.) 437 Für Ockham ist es uneigentliche Redeweise, wenn man die Teile als Materie, die Form als das Ganze bezeichnet (ebd., II, 5, § 10 ; OPh IV, S. 290–293). Es geht um die Auslegung von Physik, II, 3 (195 a 15–21), der Stelle also, mit der Aristoteles Materie und Form als Elemente seiner Vierursachenlehre festschreibt. Auf der Seite der Materie (τò ποκεíµενον) stehen τà µéρη, die Teile – auf der Seite der Form (τò εδος) τò λον, das Ganze (ebd., 195 a 19–21). (Thomas verweist auf dieses Kapitel noch in der letzten quaestio der Summa: »[…] habent enim se partes ad totum sicut materia ad formam; unde in II Physicorum partes ponuntur in genere causae materialis, totum autem in genere causae formalis.« Summa theol., III, qu. 90, a. 1.)

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»Verwandlung der Natur- in Sprachphilosophie«438 besteht ja das Programm des neuen Ansatzes.439 Man könnte sagen: wie der moderne Naturwissenschaftler an seinen Meßinstrumenten abliest, wie sich die Dinge verhalten, so benützt Ockham die Sprache als Meßinstrument naturphilosophischer Tatbestände.440 Entsprechend der bereits festgestellten Transposition des »Seins« (von Dingen) in ein »Haben« (von Bezeichnungen) resümiert er:441 »Das aber ist allgemein wahr, daß, wenn etwas verändert wird, es dort etwas gibt, das zuerst einer bestimmten Benennung entbehrte

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Schönberger (wie Anm. 400), S. 273, Anm. 133. Expositio in libros Physicorum Aristotelis, prol., (OPh IV, S. 11): »proprie loquendo scientia naturalis non est de rebus corruptibilibus et generabilibus nec de substantiis naturalibus nec de rebus mobilibus […] Sed proprie loquendo scientia naturalis est de intentionibus animae communibus talibus rebus et supponentibus praecise pro talibus rebus in multis propositionibus […]« 440 Vgl. G. Mensching: Das Allgemeine und das Besondere. Der Ursprung des modernen Denkens im Mittelalter, Stuttgart 1992, S. 334, Anm. 23: »Es ist für Ockhams Realwissenschaft charakteristisch, daß er die Begriffe nicht als Niederschlag der Sachprobleme aufnimmt, sondern etwa den Sprachgebrauch der Physik nur auf seine innere logische Stimmigkeit untersucht. Die Sache existiert nur als Satz […]« 441 »Hoc tamen universaliter est verum quod quando aliquid transmutatur, est ibi aliquid carens primo aliqua denominatione et postea habens talem denominationem vel e converso. Et isto modo concurrunt in omni transmutatione materia et forma […]; nec aliter intendit Philosophus et Commentator.« A. a. O., I, 15, § 10 (OPh IV, S. 167). Hervorh. von mir. – Bemerkenswerterweise ist schon gar nicht mehr von Entstehung (γéνεσις), sondern nur noch von Veränderung ( λλοíυωσις) die Rede. Wenig später referiert Ockham eine Position, in deren Konsequenz eine solche Reduktion liegt: »Anders kann man sagen (und es widerspricht dem zuvor Gesagten nicht), daß, wenn die Materie notwendig eine ihr verbundene spezifische Form hätte – wie die Alten annahmen, denen zufolge die materia prima ein Elementarkörper oder irgendein anderer Körper ist, so daß jene Form nicht von der Materie trennbar ist –, dann die Entstehung (generatio) der Substanz nach Veränderung (alteratio) wäre und die Formen Akzidenzien wären.« (Ebd., I, 16, § 6; OPh IV, S. 179.) Anscheinend hat Ockham Sympathie für die Vorsokratiker. Sein Materiebegriff ist nicht der aristotelische oder jedenfalls nicht der des hl. Thomas (»his theory of matter dramatically contrasts with that of Aquinas«, sagt M. McCord Adams – wie Anm. 411 –, S. 695). Immer wieder wird darauf hingewiesen, daß die Materie aktuelles Sein besitzt – offenbar so ähnlich wie ein Baustein oder eine beliebig formbare Masse; jedenfalls aber nicht als der aktuellen Existenz vorausliegendes Prinzip. Vgl. a. a. O., I, 18, § 7 (OPh IV, S. 206): »notandum est quod materia prima non est pura potentia ita quod non sit actualiter exsistens in rerum natura, immo est de se actualiter exsistens inter entia, ita de se sicut forma substantialis […]« Der Unterschied zur Form wird also stark relativiert. (Dafür noch ein Beleg: »Notandum est hic primo quod causa quare materia non est intelligibilis a nobis nisi per comparationem ad formam, non est quia materia non habet entitatem distinctam a forma, sed est propter defectum intellectus nostri. Unde si intellectus noster posset immediate totaliter moveri ab aliquo ente extra animam sine phantasmate medio et sine omni sensibili medio, ita posset materia intelligi sicut forma, quamvis forma esset intelligibile perfectius et materia intelligibile imperfectius.« Ebd., S. 176.) Vgl. dagegen Summa theol., I, qu. 7, a. 2 ad 3: »materia prima non existit in rerum natura per se ipsam, cum non sit ens in actu, sed potentia tantum […]« – Auch der Formbegriff hat sich gewandelt. Während bei Aristoteles / Thomas die Materie für Vielheit, die Form für Einheit aufkommt (vgl. Anm. 437), kennt Ockham Teile der Form (»ipsa forma non est indivisibilis sed 439

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und nachher eine solche Benennung hatte bzw. umgekehrt. Und auf diese Weise kommen in jeder Veränderung Materie und Form […] vor; und nicht anders meinen es der Philosoph und der Kommentator.« Daß diese reduktionistische Sichtweise für Ockham die ausschlaggebende ist, zeigt sich spätestens dann, wenn es heißt, die Tugend sei eigentlich keine Qualität, sondern Qualitäten442 (es gibt kein Ganzes, die Teile genügen, das Haus ist nichts anderes als die Bausteine), und so ergibt sich folgende Rückführung: »die Tugend ist keine andere Sache als die Leidenschaften.«443 Ockham geht noch einen Schritt weiter. Da sich Materie und Form nicht unterscheiden, die Leidenschaften aber Materie der Tugend wie des Lasters sind, läßt sich die kühne Behauptung aufstellen: »Und daher, weil die Tugend keine von den Leidenschaften verschiedene Sache ist,

divisibilis in partes […]«). Quaestiones in librum tertium Sententiarum, qu. 4 (OTh VI, S. 137). Vgl. Scriptum in librum primum Sententiarum, dist. 17, qu. 4 (OTh III, S. 483: »forma habet in se plures partes distinctas realiter«); M. McCord Adams (wie Anm. 411), S. 713–734. – Es fragt sich, wo eigentlich noch Entstehung im strengen Sinn vorkommt? Möglicherweise nur im Schöpfungsakt. Bei der Antwort auf die Frage »Utrum Deus sit prima causa et immediata omnium?« spricht sich Ockham deutlich aus: »Dico igitur quantum ad istum articulum quod Deus est causa prima et immediata omnium quae producuntur a causis secundis.« Quaestiones in librum secundum Sententiarum, qu. 3–4 (OTh V, S. 60). Vgl. ebd., qu. 5 (OTh V, S. 87): »Secundum tamen veritatem [Deus] est causa immediata cuiuslibet rei factibilis, totalis vel partialis, ita immediate concurrens sicut aliqua causa secunda […]« Das bedeutet eine gewaltige Multiplikation göttlicher Eingriffe in die Welt; bei jeder Formentstehung müßte Gott unmittelbar die Hand im Spiel haben. Die Parallelität von göttlicher und geschöpflicher Ursächlichkeit (»[…] non est inconveniens eundem effectum simpliciter generari et creari«, ebd., qu. 3–4; OTh V, S. 76f.) wurde denn auch von den Zeitgenossen kritisiert. Vgl. Walter Chatton (zit. a. a. O., Anm. 3): »Et hic est opinio quod omnis forma quae producitur de facto creatur a Deo, licet ab alio agente producatur simul non per creationem. Sed hoc non video […]« Thomas führt diese Position auf Platon und Avicenna zurück und lehnt sie ausdrücklich ab: »Alii vero posuerunt formas dari vel causari ab agente separato, per modum creationis. Et secundum hoc cuilibet operationi naturae adiungitur creatio. – Sed hoc accidit eis ex ignorantia formae. Non enim considerabant quod forma naturalis corporis non est subsistens, sed quo aliquid est […] Unde in operibus naturae non admiscetur creatio […]« Summa theol., I, qu. 45, a. 8. Vgl. De potentia, qu. 3, a. 8. Streng genommen – bei der Verwendung aristotelischer Grundbegriffe wie »actus« und »potentia«, »forma« und »materia«, scheint Thomas strenger zu sein als Ockham – sind Formen kein Gegenstand der Schöpfung. Das Geschaffenwerden kommt dem konkreten Seienden zu, nicht aber den Formen: »et ideo, cum […] creari non conveniat proprie nisi rei subsistenti, […] formarum non est […] creari, sed concreatas esse.« Summa theol., a. a. O.; vgl. qu. 45, a. 4: »Sicut igitur accidentia et formae, et huiusmodi, quae non subsistunt, magis sunt coexistentia quam entia; ita magis debent dici concreata quam creata.« Vgl. In XII libros Metaphysicorum Aristotelis expositio, lib. VII, c. 8, lectio 7, nr. 1420, 1423 (Marietti). 442 Expositio in libros Physicorum Aristotelis, VII, 4, § 8 (OPh V, S. 654): »magis proprie debet dici quod virtus est qualitates quam quod virtus est qualitas.« 443 »[…] virtus non est alia res a passionibus. Sed sicut sanitas corporalis non est illae qualitates nisi quando debite commensurantur, […] sic virtus est passiones debite moderatae […]« Ebd., § 7 (OPh V, S. 651).

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so ist auch das Laster keine von diesen verschiedene Sache […]«444 Läuft das nicht auf die Behauptung hinaus, Tugend und Laster seien dasselbe – obwohl Ockham das selbstverständlich nicht sagen wollte?445 Das Rasiermesser bringt Bewegung zum Stillstand bzw. reduziert sie aufs unvermeidliche Minimum. Der Erwerb von habitus brächte Bewegung in den Menschen – Ockham begegnet ihr mit einer mehrfachen Strategie. Zum einen mit einer, schon bei Scotus angelegten Kategorienverlagerung: Qualitäten werden zu Relationen erklärt.446 Gesundheit und Schönheit, Krankheit und Häßlichkeit sind nichts anderes als die Ordnung oder Unordnung zugrundeliegender Elemente (für die Gesundheit sind es die »humores«, für die Schönheit die »membra«);447 für Tugend und Laster gilt Entsprechendes (die Elemente sind, wie gesagt, die »passiones«448). Zum anderen wird der habitus, wie noch zu zeigen sein wird – ebenfalls im Gefolge scotischer Überlegungen – aus theologischen Gründen überflüssig. Drittens plädiert Ockham, wenn denn schon Veränderung sein soll (und daß aus einem lasterhaften Menschen ein tugendhafter werden kann, leugnet er ja nicht), für eine verblüffend moderne, materialistisch anmutende Reduktion geistiger auf physische Vorgänge. 3. Habitus durch Medizin In Quodlibet II, qu. 16 wird gezeigt, daß man zur Erklärung charakterlicher Fortschritte keineswegs auf habitus im sinnlich strebenden Seelenteil (im appetitus sensitivus, dort hatte Thomas etwa die Tapferkeit und die Selbstbeherrschung angesetzt) rekurrieren muß. »Es kann nicht hinreichend bewiesen werden, daß es im appetitus sensitivus etwas gibt […]; denn es reicht anzunehmen, daß es eine körperliche Eigenschaft oder körperliche Eigenschaften gibt, die zu solchen [tugendhaften] Akten geneigt machen. Das beweise ich: […] jede solche Geneigtheit kann durch die medizinische

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»Et ideo sicut virtus non est alia res a passionibus, sic nec vitium est alia res ab eis […]« Ebd. Weiter oben hatte es geheißen: »virtus est passiones debite moderatae et non est passiones indebite moderatae.« Ebd. 446 Vgl. Physik, VII, 3 und Ockhams Interpretation in OPh V, S. 646ff. Scotus hatte versucht, den habitus sowohl qualitativ als auch relational zu deuten; Thomas lehnt die Kategorienverschiebung ab (vgl. Anm. 281, 290, 297). 447 Expositio in librum Praedicamentorum Aristotelis, c. 14, § 4 (OPh II, S. 271). 448 »Quod autem virtus sit ipsae passiones videtur esse de mente Commentatoris […]« OPh V, S. 656. Am Schluß seiner Auslegung von Physik, VII, 3 (nach der lateinischen Vorlage ist es VII, 4) äußert sich Ockham kryptisch: »Quilibet teneat [opinionem] quam voluerit. Ego autem quam reputem veram, nolo nunc exprimere.« Ebd., S. 664f. 445

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Kunst oder auf anderen Wegen veranlaßt werden. Denn die Ärzte verringern durch die medizinische Kunst die Begierde, und so wecken sie die Bereitschaft zu keuschem Verhalten. Offensichtlich werden solche Neigungen auch durch körperliche Veränderung beseitigt und erzeugt, etwa durch Entstehen oder Vergehen von Wärme oder Kälte, ohne jeden Akt des appetitus sensitivus […]«449 Die Tugend-Pille ersetzt den habitus – wie weit ist Ockham da seiner Zeit voraus! 450 4. Habitus und göttliche Allmacht In theologischer Hinsicht erscheint die Vermittlungsfunktion des habitus erst recht entbehrlich. Gott muß, wie wir schon bei Scotus gehört haben, dem Menschen nicht »zuerst« einen übernatürlichen habitus einflößen, um ihm »hinterher« den Zutritt zur ewigen Seligkeit zu gewähren. Die göttliche Allmacht ist von solchen Bindungen frei. So besteht Ockham – in der Auseinandersetzung mit Petrus Aureoli451 – darauf, daß Gott »de potentia sua absoluta« jemandem »das ewige Leben, d. h. die selige Schau und Liebe (fruitio) Gottes verleihen kann, auch wenn er niemals einen solchen habitus gehabt hat«.452

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Quodlibet II, qu. 16 (OTh IX, S. 183f.): »non potest sufficienter probari quod sit aliquid existens in appetitu sensitivo […]; quia potest poni sufficienter quod sit aliqua qualitas vel qualitates corporales inclinantes ad tales actus. Quod probo: […] omnis talis inclinatio potest induci per artem medicinae et per alias vias. Nam medici per artem medicinae diminuunt concupiscentiam, et sic disponunt ad actus castos. Patet etiam quod tales inclinationes auferuntur et generantur per transmutationem corporalem, puta per generationem vel corruptionem caloris vel frigoris, sine omni actu appetitus sensitivi […]« 450 Damit zeigt sich Ockham als Wegbereiter des Funktionalismus, einer weiteren Haupttendenz des modernen Bewußtseins: »Eine funktionale Betrachtung ist eine Betrachtung unter dem Aspekt möglicher Äquivalente. Etwas funktional betrachten heißt, die Möglichkeit erwägen, daß die Funktion vielleicht auch anders und durch etwas anderes erfüllt werden könnte.« R. Spaemann (wie Anm. 422), S. 23. – In dieser Denkweise macht es keinen Unterschied, ob jemand »keusch oder kastriert«, sanftmütig oder durch Psychopharmaka ruhiggestellt ist (Th. Graf O. S. B.: De subiecto psychico gratiae et virtutum secundum doctrinam scholasticorum usque ad medium saeculum XIV, Bd. 2, Rom 1935, S. 257). 451 Der Franziskaner Petrus Aureoli hatte gegen Scotus den – uns von Thomas her bekannten, vgl. oben, S. 75f. – Gedanken geltend gemacht, daß die acceptatio divina nur in Verbindung mit einer (von Gott verliehenen) dem Menschen inhärierenden Form, eben dem habitus gratiae, zu begreifen sei. Vgl. P. Vignaux: Justification et prédestination au XIV e siècle. Duns Scot, Pierre d’Auriole, Guillaume d’Occam, Grégoire de Rimini, Paris 1934, Kap. 2: »Pierre d’Auriole, critique de Duns Scot«, Kap. 3: »Guillaume d’Occam, critique de Pierre d’Auriole«; W. Dettloff: Die Entwicklung der Akzeptations- und Verdienstlehre von Duns Scotus bis Luther mit besonderer Berücksichtigung der Franziskanertheologen, Münster 1963, S. 22–92, bes. S. 57ff. 452 Ockham: Scriptum in librum primum Sententiarum, dist. 17, qu. 1 (OTh III, S. 445). – Entsprechend der negativen potentia-dei-absoluta-Spekulation gilt umgekehrt: »quacumque forma

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Wegen der direkten Konfrontation mit Thomas von Aquin (die auch bei dem Prozeß gegen Ockham in Avignon aufgerollt wurde 453) ist die zweite quaestio der einschlägigen Stelle im Sentenzenkommentar (Buch I, dist. 17) besonders aufschlußreich. Woher kommt der Akt der caritas, der Gottesliebe? Nicht, so Thomas gegen den Sentenzenmeister, vom Hl. Geist, der direkt in der Seele wirkt – das liefe nämlich darauf hinaus, daß Gott im Menschen sich selbst liebte (vergleichbar dem »amor intellectualis erga deum« bei Spinoza454); der Mensch spielte dabei nur eine instrumentelle Rolle; von Freiheit könnte keine Rede sein. Das bewegende Prinzip, d. h. der habitus, des Liebesaktes, muß also in uns selber liegen; gleichwohl ist für Thomas klar, daß der »actus caritatis« die Naturanlage des Willens übersteigt.455 Ein Paradox, das die Situation des gefallenen und wiederaufgerichteten Menschen genau erfaßt: um in Freiheit zu tun, wozu er aus eigener Kraft zwar nicht mehr in der Lage, aber nach wie vor berufen ist, bedarf er einer übernatürlichen Erweiterung seiner Natur.456 Thomas sieht in dieser Erweiterung keine Probleme: für ihn ist das Verhältnis zwischen Mensch und Gott nach dem Modell der Freundschaft aufzufassen, wie es in der Nikomachischen Ethik entwickelt wird; sich von einem Freund helfen zu lassen, bedeutet keine Beeinträchtigung der Autonomie. »Was wir durch die Freunde können, können wir in gewisser Weise durch uns selbst.«457 Bildlich gesprochen: Den Eintritt in den Himmel soll der Mensch mit eigenen Füßen bewerkstelligen; die hierzu erforderliche göttliche Intervention erfolgt diskreterweise als Hilfe zur Selbsthilfe – sie berücksichtigt die menschliche Natur, die durch die Gnade vollendet (nicht zerstört) wird. Dieser Bezug ist in der potentia-dei-absoluta-Spekulation bei Scotus und Ockham verlorengegangen. Zwischen der acceptatio divina und der menschlichen posita supernaturali in anima, potest ipsa esse non accepta Deo.« Ebd., S. 452, vgl. S. 454. – Vgl. Quaestiones variae, qu. 1 (OTh VIII, S. 19, 22). 453 Vgl. OTh III, S. 469, Anm. 1. 454 »Mentis Amor intellectualis erga Deum est ipse Dei Amor, quo Deus se ipsum amat […]« Spinoza: Ethica, V, prop. 36. 455 »Manifestum est autem quod actus caritatis excedit naturam potentiae voluntatis.« Summa theol., II–II, qu. 23, a. 2. 456 »Unde maxime necesse est quod ad actum caritatis existat in nobis aliqua habitualis forma superaddita potentiae naturali […]« Ebd. – Vgl. De caritate, a. 1: »Actus igitur qui excedit totam facultatem naturae humanae, non potest esse homini voluntarius, nisi superaddatur naturae humanae aliquid intrinsecum voluntatem perficiens, ut talis actus a principio intrinseco proveniat.« – Vgl. Summa theol., I–II, qu. 109, a. 3. 457 Aristoteles: Nikomachische Ethik, III, 5 (1112 b 27f.); Summa theol., I–II, qu. 5, a. 5 ad 1; qu. 109, a. 4 ad 2. – Zur Gleichsetzung caritas/amicitia vgl. Summa theol., II–II, qu. 23, a. 1; qu. 24, a. 2; A. Ilien: Wesen und Funktion der Liebe bei Thomas von Aquin, Freiburg i. Br. 1975, S. 202ff.

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Natur, ja sogar der durch Gnade erhöhten Natur, besteht überhaupt kein Zusammenhang. Die Brückenfunktion des habitus ist, theologisch wie anthropologisch, obsolet. »Gnade und Tugend ahmen die Ordnung der Natur nach«,458 das heißt für Thomas: beide Bewegungen gehen, nach entsprechender Vervollkommnung des Willens, aus einem inneren Prinzip hervor; sie erhöhen die Lebendigkeit und Spontaneität des Menschen. Eine Passage aus De caritate, die diesen Zusammenhang von Natur und Gnade eindringlich schildert, wird von Ockham ausführlich zitiert.459 Thomas beruft sich hier auf den aristotelischen Gedanken, daß die Lust, die mit einer Tätigkeit einhergeht, Indiz für deren Natürlichkeit sei – und wie man aus der Freude am tugendhaften Handeln darauf schließen könne, daß dieses einem habitus, einer gewissermaßen natürlichen Neigung entspringe, so erst recht aus der Freude am Tun der Liebe auf einen kongenialen habitus als inneres Prinzip solcher Akte. Die caritas übertrifft hierin die virtus, denn »keine Tugend hat eine so große Neigung zu ihrem Akt wie die Liebe, und keine handelt mit soviel Freude.«460 Durch die Liebe wird »alles, was wir tun oder leiden, zum Vergnügen«.461 Ockham kann sich hierauf nicht einlassen. Daß der von der Tugend bzw. von der Gnade bewegte Mensch von innen und also gewissermaßen natürlich (per modum inclinationis naturalis462) bewegt wird, ist für ihn ohne Belang. Bewegung, Natur – und damit auch der habitus – erscheinen angesichts der potentia dei absoluta als entité négligeable. 5. Restbestände traditioneller habitus-Theorie Trotzdem kann nicht gesagt werden, Ockham schaffe den habitus schlichtweg ab. Die in einem Quodlibet eigens behandelte Frage, »ob es notwendig sei, irgendeinen habitus anzunehmen«, beantwortet er positiv.463 Und entgegen der im Physik-

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Summa theol., II–II, qu. 31, a. 3. Ockham: Scriptum in librum primum Sententiarum, dist. 17, qu. 2 (OTh III, S. 468f.); Thomas von Aquin: De caritate, a. 1. 460 Summa theol., II–II, qu. 23, a. 2. 461 »[…] omnia quae agimus vel patimur, delectabilia redduntur.« De caritate, a. 1. – An anderer Stelle gibt Thomas ein Beispiel für das Leiden, das durch Liebe zur Freude wird: »So sagte der selige Tiburtius, als er mit bloßen Füßen über glühende Kohlen schritt, ›es scheine ihm, er wandle über Rosen‹.« Summa theol., II–II, qu. 123, a. 8 (DThA, Bd. 21, S. 27); vgl. I–II, qu. 38, a. 4 (DThA, Bd. 10, S. 283). Den Hinweis auf Tiburtius verdanke ich Frau Brigitte Kible, Hannover. 462 OTh III, S. 468. 463 Quodlibet III, qu. 20: »Utrum necesse sit ponere aliquem habitum« (OTh IX, S. 281–284). – Eine geradezu privilegierte Stellung erhält der habitus in der Erkenntnistheorie, in der Ockham die species ausschaltet, den habitus aber beibehält: vgl. M. Kaufmann: Begriffe, Sätze, Dinge. Referenz und Wahrheit bei Wilhelm von Ockham, Leiden 1994, S. 219–223. 459

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Aushöhlung des habitus-Begriffs

Kommentar einmal geäußerten Ansicht (s. o.), der habitus sei relational zu verstehen, wird dieser andernorts als »qualitas absoluta« aufgefaßt.464 Allerdings dient die auf weite Strecken (nach der zitierten Darstellung von O. Fuchs sollte man meinen: ausschließlich) sich in traditionellen Bahnen bewegende habitus-Lehre Ockhams auch nicht der anthropologischen Integration; die habitus des sinnlich strebenden Seelenteils werden gegen den habitus des Willens ausgespielt und umgekehrt, was den Vorwurf einer »dichotomischen Sicht des Menschen«465 nahelegt. Gleichwohl läßt Ockham die philosophische Kategorie des habitus (als erste Unterart der Qualität), wo er es »ex officio« mit ihr zu tun hat, ungeschoren; was er in seinem Kommentar zur Kategorienschrift des Aristoteles ausführt,466 wirkt in keiner Weise polemisch. Allerdings wird man sagen dürfen, daß Ockham in seiner von potentia-dei-absoluta-Spekulationen infizierten467 Auffassung von Zeit, Bewegung, Kontinuum und der damit einhergehenden Emanzipation vom aristotelischen Begriff der Natur468 einem tieferen Verständnis des habitus den Boden entzogen hatte. Dazu kommt, daß sich das Schicksal von Begriffen in den Leitwissenschaften entscheidet: der theologische Haupt-Anwendungsfall für den habitus war die caritas, und diese war de potentia Dei absoluta für das Gelingen des Menschen unnötig. 464

Quaestiones in librum tertium Sententiarum, qu. 7 (OTh VI, S. 197); Expositio in librum Perihermenias Aristotelis, liber I, prooemium, § 7 (»habitus est aliquid reale in anima«; OPh II, S. 360); Quodlibet I, qu. 18 (OTh IX, S. 93–96; hier auch eine kurze Diskussion von Physik, VII, 3). Vgl. Oswald Fuchs: The Psychology of Habit According to William Ockham, New York / Louvain 1952, S. 2–4. Eine vermittelnde Position bezieht Ockham in Expositio in librum Praedicamentorum Aristotelis, c. 15, § 4–6 (OPh II, S. 293–296). 465 C. Steel: »Ockham versus Thomas d’Aquin. Le sujet des vertus morales«, in: E. P. Bos, H. A. Krop (Hrsg.): Ockham and Ockhamists, Nijmegen 1987, S. 109–117, hier S. 117. – Th. Graf (wie Anm. 450, S. 256f.) spricht von »scissio inter habitum appetitus sensitivi et voluntatis«. Vgl. Quaestiones variae, qu. 7, a. 3 (OTh VIII, S. 360f.). Man kann hierin eine Vorform von »simul iustus et peccator« sehen. 466 Expositio in librum Praedicamentorum Aristotelis, c. 14, § 3f. (OPh II, S. 269–274). 467 Treffend hat man bei Ockham ein »Denken von der Ausnahme her« konstatiert. Erwin Iserloh: Gnade und Eucharistie in der philosophischen Theologie des Wilhelm von Ockham. Ihre Bedeutung für die Ursachen der Reformation, Wiesbaden 1956, S. 279; vgl. S. 143. 468 Der Versuch, eine Rehabilitierung des potentia-dei-absoluta-Gedankens ökologisch fruchtbar zu machen, scheint daher wenig aussichtsreich. Vgl. Klaus Bannach: Die Lehre von der doppelten Macht Gottes bei Wilhelm von Ockham. Problemgeschichtliche Voraussetzungen und Bedeutung, Wiesbaden 1975. Bannach schließt sein Buch mit der Bemerkung, »daß eine Welt, in der die Natur nur noch als Rohstofflieferant erfahrbar und dementsprechend nur noch Gegenstand wirtschaftlicher Kalkulation ist, […] eine Theologie der Schöpfung, so wie Ockham sie vorgetragen hat, nötig hat.« (Ebd., S. 417) Für Ockhams Naturphilosophie ließe sich das jedenfalls nicht behaupten; mit ihrer Negation des Unterschieds von Naturdingen und Artefakten (vgl. Anm. 425) bereitet sie vielmehr der Naturkrise den Weg.

Wilhelm von Ockham

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Die Depotenzierung von Natur, Liebe, Gnade aus theologischen Gründen wird weitreichende Folgen haben: Gott in seiner Allmacht wird damit nicht verständlicher, und alles andere wird unverständlich.469 Nur in der Logik gibt es noch etwas zu begreifen – hier liegt Ockhams Stärke und zugleich seine Einseitigkeit.

469

Vgl. G. Mensching (wie Anm. 440), S. 350f.

IV. POLEMIK UND VERGEBLICHER ABSCHIED: LUTHER – DESCARTES

Es ist kein Zufall, daß sich unter habitusgeschichtlichem Aspekt zwischen dem Reformator von Theologie und Kirche und dem Begründer der modernen Philosophie eine Parallele auftut: beide sind bemüht, den übermächtig gewordenen und dabei vom eigenen Erfolg ausgezehrten Aristotelismus der Scholastik zu verabschieden und haben kein Interesse mehr daran, ihr Vorhaben in den Kategorien des »Philosophen« zu formulieren. Beide sehen in der Anhäufung von Kommentaren (und Kommentaren zu Kommentaren) keinen gangbaren Weg theologischer bzw. philosophischer Erkenntnis mehr. Eine neue, auf die persönliche Erfahrung gegründete Unmittelbarkeit von Glauben und Wissen wird angestrebt; Luther möchte die Nähe Gottes fühlen,470 Descartes (nach der Grundlegung aller Gewißheit im »cogito«) sein wissenschaftliches Vorgehen experimentell absichern. 470

»Neque est Christianismus aliud quam perpetuum huius loci exercitium, nempe sentire te non habere peccatum, quamvis peccaris, sed peccata tua in Christo haerere […]« Martin Luther: Vorlesung über Jesaia (1527–1529), Weimarer Ausgabe (= WA), Bd. 25, S. 331). »Es ist gar ein groß, stark, mächtig und tätig Ding um Gottes Gnade, sie liegt nicht, wie die Traumprediger fabulieren, in der Seele und schläft […] Nein, sie […] läßt sich wohl fühlen und erfahren« (Weihnachtspostille [1522], Postille über Tit 3,4–7; WA 10 I 1, S. 114f.; Hervorh. von mir). »[…] verba facilia, sed sentire, quod gratia exclusis omnibus aliis […] remittat peccatum« (ist schwer). Großer Galaterkommentar (Handschrift 1531); WA 40 I, S. 74; vgl. K. Holl: Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, I. Luther, 2. u. 3. Aufl., Tübingen 1923, S. 67, Anm. 1. K. Holl (ebd., S. 22) bestätigt das, wenn er über den jungen Luther schreibt: » […] in dieser Lage half ihm keines von den Heilmitteln, die die Kirche darbot. Nichts half ihm die Erinnerung an den Habitus, an jene übernatürlichen Kräfte, die dem Menschen im Sakrament der Taufe eingegossen sein sollten. Wo spürte er denn etwas davon, daß diese geheimnisvollen Kräfte sein Innerstes bewegten und ihm ein übernatürliches Können vermittelten? Er spürte immer nur sein eigenes hoffnungsloses Wollen.« (Hervorh. von mir.) Holl kommentiert in einer Fußnote dazu (ebd.): »Die Wertlosigkeit der Habitusvorstellung hat Luther mit am frühesten durchschaut.« – Das Bedürfnis nach Gewißheit wird um so dringender, als sowohl Luther wie Descartes sich mit der Möglichkeit eines lügenden Gottes konfrontiert sehen: »Aber nun […] bin ich sicher und gewiß, daß er [Gott] treu ist und mir nicht lügen wird […]« Luther: De servo arbitrio (1525), WA 18, S. 783. Vgl. Descartes: Meditationes de prima philosophia, I, Abs. 12; III, Abs. 38; IV, Abs. 2 (Œuvres, hrsg. von Adam/Tannery, Bd. VII, S. 22, 52, 53). Weitere Belege bei Theo Kobusch: »Luther und die scholastische Prinzipienlehre«, Medioevo, 13 (1987), S. 303–340, hier S. 336f., Anm. 113f. Zum Verhältnis Luther – Descartes schreibt Kobusch (ebd., S. 303): »Was […] Descartes für die Metaphysik […] geleistet [hat], […] das hat […] Luther schon ein Jahrhundert früher im Bereich der Theologie vollbracht: Er hat durch die Ablehnung der scholastischen Prinzipienlehre und die Hinwendung zur ›Erfahrung‹ einen neuen Anfang in der Theologie ermöglicht.« Die Hinweise auf die zitierten Luther-Stellen verdanke ich vor allem den Werken von Karl Holl

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Polemik und vergeblicher Abschied

Mit einer neuen Kultur der Innerlichkeit geht der objektivierende Zugriff auf die äußere Welt Hand in Hand – inzwischen ist vielfach vom Ende der Moderne die Rede, und Anleihen bei der Vormoderne gelten wieder als aussichtsreich. Nicht fraglich ist, daß der habitus-Begriff weder in Luthers Theologie noch in Descartes’ Philosophie am Platz ist; im zweiten Fall erfolgt die Abschiebung diplomatisch und unauffällig, im ersten mit einem unüberhörbaren Paukenschlag.

A. Luther »Verflucht sei die caritas«471 – das konnte nicht zuletzt deshalb gesagt werden, weil der Begriff »caritas« eine an der Kategorie des »habitus« aufgehängte Verwissenschaftlichung erfahren hatte, wie sie mit der Liebe, die im Mittelpunkt des Evangeliums steht, kaum vereinbar ist. (Niemals hätte Luther gesagt: »Verflucht sei die Liebe!«) Die Scholastiker nahmen die Frage nach dem Wachstum der caritas zum Vorwand, um die Leistungsfähigkeit der aristotelischen Denkmittel zu testen; man sieht es z. B. im locus classicus der habitus- und caritas-Lehre, den Kommentaren zur 17. Distinktion des 1. Sentenzenbuches von Petrus Lombardus. »Ob die ganze vorher existierende caritas vergeht, so daß keine numerisch identische Wirklichkeit in der größeren und kleineren caritas bleibt?«, fragt Duns Scotus472 an dieser Stelle und beweist in sechs verschiedenen Anläufen gegen Gottfried von Fontaines, daß beim Wachstum der caritas nicht die bereits erreichte Intensität der Liebe zerstört werde, um einem »novum individuum caritatis«473 zu weichen. »Jene positive Wirklichkeit, die in der kleineren caritas war, bleibt wirklich als dieselbe in der größeren caritas«474 – wie das aber im einzelnen zu denken sei, hat Scotus, obwohl er dem Problem noch mindestens zwei Quästionen widmen wollte, nicht mehr ganz ausgeführt.475 (a. a. O.); J. Maritain: Trois Réformateurs. Luther – Descartes – Rousseau, Paris 1925 (jetzt in Jacques et Raïssa Maritain: Œuvres complètes, Fribourg/Paris 1982ff., Bd. 3); Paul Althaus: Die Ethik Martin Luthers, Gütersloh 1965; G. Ebeling: Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen 41981; O. H. Pesch: Hinführung zu Luther, Mainz 1982; B. Lohse: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995. 471 Luther: Großer Galaterkommentar (Druck 1535), WA 40 II, S. 47; vgl. Pesch, a. a. O., S. 158. – Zum Hintergrund vgl. a. a. O. (WA 40 I, S. 239f.): »Quando autem homo audit, quod debeat quidem credere in Christum, fidem tamen non iustificare, nisi accesserit illa forma, scilicet charitas […] vitanda [haec falsa interpretatio] est ut venenum infernale […]« 472 Duns Scotus: Ordinatio, I, dist. 17, pars 2, qu. 1, n. 195 (ed. Vat., V, S. 233). »Utrum tota caritas praeexsistens corrumpatur, ita quod nulla realitas eadem numero maneat in caritate maiore et minore.« 473 Ebd., S. 240, Anm. a, Z. 18. 474 Ebd., n. 225, S. 248. 475 Ebd. – Die Editoren vermerken am Ende, daß Scotus hier in seinem Heft »einen großen

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Luther hat als erster ausgesprochen, was einem religiös sensiblen Menschen an dieser Behandlung theologischer Fragen auffallen mußte: hier wurde unter dem Deckmantel der Theologie eine andere Wissenschaft getrieben, nämlich Physik, bzw. Naturphilosophie.476 So hat er wohl recht, wenn er die Form solcher Theologie für unangemessen hält; und alle Vorwürfe, Luther habe die scholastische Lehre von habitus und caritas/gratia mißverstanden, müssen sich die Frage gefallen lassen, ob die inhaltliche Beurteilung eines Gedankens in völliger Abstraktion von der Form, in der er auftritt, überhaupt möglich sei.477 Für Luther war es nur konsequent, auf die scholastisch vernutzte Sprache der Theologie zu verzichten und seine Vorlesungen auf deutsch zu halten.478

Leerraum« gelassen habe (ebd., S. 264, Anm. b). Vielleicht war ihm selbst nicht ganz wohl bei dem Versuch, mit den Mitteln der aristotelischen Physik dem Wesen der caritas auf die Spur zu kommen … 476 Vgl. A. Maier: Das Problem der intensiven Größe (De intensione et remissione formarum), in: A. Maier: Zwei Grundprobleme der scholastischen Naturphilosophie, Rom 21951, S. 5. Vgl. M. Bauer: Artikel »Habitus«, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. IV, München / Zürich 1989, Sp. 1813ff., hier Sp. 1815. 477 Vgl. Leif Grane: Modus loquendi theologicus. Luthers Kampf um die Erneuerung der Theologie (1515–1518), Leiden 1975, hier S. 16; O. H. Pesch: Martin Luther, Thomas von Aquin und die reformatorische Kritik an der Scholastik, Hamburg 1994, S. 35: »Die Inhalte werden wie von selbst andere, sie werden christlich und wahr, wenn man sich (wieder) des modus loquendi theologicus oder des modus loquendi Apostoli befleißigt.« (Hervorh. im Orig.) Pesch verweist auf die Vorlesung über den Römerbrief (1515/16); WA 56, S. 334. Zwischen Thomas von Aquin und Duns Scotus ist ein theologischer Stilwandel zu verzeichnen. Gewiß hätte der Doctor angelicus für sein Werk genauso Wissenschaftlichkeit beansprucht wie der Doctor subtilis; aber trotz aller (für den heutigen Leser oft schwer genug nachvollziehbaren) Anleihen aus dem aristotelischen Argumentationsarsenal atmen die Darlegungen des Aquinaten eine Frömmigkeit, die man bei Scotus auf weite Strecken vergeblich sucht. – Die Auseinandersetzungen des theologischen Lehramts (Heinrich von Gent und Gottfried von Fontaines) mit dem radikalen Aristotelismus der Pariser Artistenfakultät spielen (insbesondere vor dem Hintergrund der Verurteilung von 1277) in dem nach Thomas einsetzenden Prozeß der Verwissenschaftlichung eine bedeutende Rolle. 478 Am 11. Dezember 1520, einen Tag, nachdem er die päpstliche Bannbulle ins Feuer geworfen hatte: vgl. Hans Schwarz: Martin Luther. Einführung in Leben und Werk, Stuttgart 1995, S. 38. Allerdings handelt es sich hier um eine Ausnahme (vgl. Brecht, wie unten, Anm. 482, S. 404; WA 7, S. 186). – Der Fluch auf die caritas gilt also dem Wort, nicht der Sache – vergleichbar dem, was Luther später (im »großen Selbstzeugnis« von 1545) zur »Gerechtigkeit Gottes« geäußert hat: »Denn ich haßte diese Vokabel ›Gerechtigkeit Gottes‹, die ich durch die übliche Verwendung bei allen Lehrern gelehrt war philosophisch zu verstehen […]« WA 54, S. 185, dt. bei Ebeling, a. a. O., S. 33. Allerdings hat Luther im Fall der Gerechtigkeit nicht den Begriff abgeschafft, sondern umgedeutet. (Vgl. unten, Anm. 546.) – Ein Hinweis auf die Sprachvernutzung findet sich auch schon bei Thomas von Aquin: »Quotidie autem dicendo verba viluerunt nobis, quia sonando et transeundo viluerunt.« Catena aurea in Joannem, c. 1.

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Polemik und vergeblicher Abschied

1. Polemik gegen den habitus Der habitus-Begriff riecht, das bemerkt Luther schon sehr früh, nach »Aristoteles, dem ranzigen Philosophen«.479 Später spricht er »von jenem schlafenden habitus, den die neueren Theologen aus Aristoteles eingeführt haben, um das Verständnis der Schrift zu sabotieren.«480 In der Disputatio contra scholasticam theologiam (1517) werden die Angriffe auf den Autor der Nikomachischen Ethik konkreter: »Non efficimur iusti iusta operando, sed iusti facti operamur iusta. Contra philosophos.«481 Es entsteht also nicht durch gerechtes Handeln ein habitus der Gerechtigkeit (den der Mensch sich selbst verschaffen könnte), noch flößt Gott dem Menschen einen solchen habitus ein (die Notwendigkeit von eingegossenen habitus hatten ja, de potentia Dei absoluta, schon Scotus und Ockham in Abrede gestellt), sondern der Mensch handelt gerecht auf Grund der Rechtfertigung. Was heißt das? Wenn es vor der Rechtfertigung kein gerechtes Handeln gibt, nachher aber schon, hat sich dann nicht doch etwas am Menschen geändert, und eben diese Änderung bezeichnete man traditionellerweise als habitus?

2. Rechtfertigung zwischen Psychologie und Ontologie Die Polemik gegen Aristoteles ist theologisch motiviert;482 philosophisch findet Luther den habitus »geschenkt«: »Ein Töpfer kann aus Ton einen Topf machen, das kann ein Schmied nicht, er lerne es denn. Wenn etwas Höheres in Aristoteles

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»[…] quia commentum illud de habitibus opinionem habet ex verbis Aristotelis rancidi philosophi […]« Randbemerkungen zu den Sentenzen des Petrus Lombardus (1509/10); WA 9, S. 43. – 1508/09 hatte Luther die Nikomachische Ethik kommentiert. 480 »[…] stertente illo habitu, quem recentiores Theologi ex Aristotele invexerunt ad subvertendum intelligentiam scripturae.« 2. Psalmenvorlesung (1521); WA 5, S. 33. 481 Disputatio contra scholasticam theologiam (1517), Nr. 40; WA 1, S. 226. – Vgl. Nik. Ethik, II, 1 (1103 a 33 – 1103 b 2), 3 (1105 a 17ff., 1105 b 9f.). – Vgl. Zirkulardisputation de veste nuptiali (1537); WA 39 I, S. 281f.: »Nunc addemus pauca quaedam pro informatione scholae. […] Iam est quaestio non de opere, quod fit a persona, sed de persona, unde illa fiat, certe non, ut Aristoteles respondet: Cytharizando fit bonus cytharedus, item bene operando fit bonus, iuste faciendo fit iustus. Haec valent in foro philosophico et mundo, sed non sic fit apud Deum. Nam hic iustus non fit iuste agendo, sed iustus factus iuste et bene operatur et est et manet persona iusta, sancta et pia per solam fidem in Christum, antequam iuste, pie et bene operatur per misericordiam Dei.« 482 Vgl. Disputatio contra scholasticam theologiam, Nr. 41, 43, 44, 50, a. a. O. – Noch ehe Luther zum Reformator wurde, strebte er eine Reform der Universität in diesem Sinne an; vgl. Ebeling, a. a. O., S. 8f.; Pesch, a. a. O., S. 75–79; L. Grane (wie Anm. 477), bes. S. 127ff.; M. Brecht: Martin Luther. Sein Weg zur Reformation 1483–1521, Stuttgart 21983, S. 160ff. – Bereits vor der Disputatio contra scholasticam theologiam schreibt Luther an Johann Lang: »Unsere Theologie

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ist, so sollst du mir kein Wort glauben, und erbiete mich, das zu beweisen, wo ich soll.«483 Aber diese Trennung – theologischer habitus nein, philosophischer habitus ja – bleibt (wie schon die entsprechende Trennung bei Ockham) philosophisch nicht folgenlos. Faktisch wird es auch bei Luther darauf hinauslaufen, daß der Mensch, der Gottes Rechtfertigung an sich erfahren hat, in seinem Tun die Wirkung eingegossener moralischer Tugenden484 bezeugt; nur gibt es dafür dann keinen eigenen Begriff mehr.485 Seit der großen Dissertation von O. H. Pesch486 und in Anbetracht der Beilegung des Rechtfertigungsstreits durch die Unterzeichnung der »Gemeinsamen Erklärung«487 scheint der Kampf um den habitus (um den es auch katholischerseits schon recht still geworden war) obsolet. Dennoch bleibt die Frage: wie versteht Luther die Rechtfertigung, und um gleich auf den springenden Punkt zu kommen: was ändert sich am Menschen durch die Rechtfertigung? Wir können die Frage auch so stellen: was meint Luther mit seinem »simul iustus et peccator«?488

und St. Augustinus machen günstige Fortschritte und herrschen an unserer Universität dank Gottes Wirken. Aristoteles befindet sich allmählich im Sinken und geht seinem nahe bevorstehenden endgültigen Untergang entgegen. In erstaunlichem Maß werden die Sentenzenvorlesungen verschmäht […]« WA (Briefe) 1, S. 99, Nr. 41 (18.5.1517). Infolge von Luthers Einsatz brachte das Jahr 1517 auch für seine Wittenberger Kollegen Amsdorff (den Scotisten) und Karlstadt (den Thomisten) die »Bekehrung« von der Scholastik zu Augustinus (vgl. Brecht, a. a. O., S. 166– 170). 483 Adventspostille (1522); WA 10 I 2, S. 74. Vgl. Ebeling, a. a. O., S. 171. – Angespielt ist auf Nik. Ethik, II, 1 (1103 a 33 – 1193 b 2): »So wird man durch Bauen ein Baumeister und durch Zitherspielen ein Zitherspieler. Ebenso werden wir aber auch durch gerechtes Handeln gerecht, durch Beobachtung der Mäßigkeit mäßig und durch Werke des Starkmuts starkmütig.« (Übers. von E. Rolfes, hrsg. von G. Bien, Hamburg 41985, S. 27.) – Vgl. oben, Anm. 481. 484 Vgl. Anm. 206–208. 485 O. H. Pesch: Theologie der Rechtfertigung bei Martin Luther und Thomas von Aquin, Mainz 1967, S. 707: »Die qualitas [hier sachlich identisch mit habitus, P. N.] figuriert als anthropologisch-ontologischer Erhellungsversuch der Spontaneität der neuen Lebendigkeit und des ihr entspringenden neuen Handelns, und der Unterschied zwischen Thomas und Luther besteht darin, daß dieser Erhellungsversuch bei Luther nicht etwa durch einen anderen ersetzt ist, sondern ausfällt.« (Hervorh. im Orig.) 486 Vgl. die vorige Anm., 2. Aufl. 1985. 487 Vgl. O. H. Pesch: »Es lebe die Einheit – es lebe der Unterschied. Warum es richtig ist, dass Lutherischer Weltbund und Vatikan die ›Gemeinsame Erklärung‹ zur Rechtfertigung unterzeichnen«, Süddeutsche Zeitung vom 30./31. Oktober 1999, S. 9. 488 In der These vom »simul iustus et peccator« liege, so Pesch, der »tiefste Einwand der Reformation gegen die Tugend- und Habituslehre«. O. H. Pesch: »Die bleibende Bedeutung der thomanischen Tugendlehre«, Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie, 21 (1974), S. 359–391, hier S. 365. – Vgl. Pesch (wie Anm. 485), S. 109–122; Pesch (wie Anm. 470), S. 189–202; R. Hermann: Luthers These »Gerecht und Sünder zugleich«, 2. Aufl., Gütersloh 1960 (zuerst 1930); R. Kösters: »Luthers These ›Gerecht und Sünder zugleich‹. Zu dem gleichnamigen

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Er meint offenbar nicht den bei Ockham erwähnten Konflikt zwischen dem rationalen und dem sinnlichen Streben;489 in dieser Sicht der Dinge wird die totale Verderbtheit des Menschen unterschlagen.490 Nicht ein Teil des Menschen sei (bzw. bleibe) trotz der Rechtfertigung durch Christus sündig, sondern der ganze Mensch. Eine Vorform von Luthers Gedanken findet sich eher in der eigenartigen Konstruktion, mit der Duns Scotus den Seligen die Möglichkeit zu sündigen beläßt: das »beatus, et […] peccabilis«491 klingt nicht nur ähnlich wie die berühmte lutherische Formel, sondern der Ausschluß wirklicher Sünde geschieht im Himmel »per causam extrinsecam«,492 durch Gottes zuvorkommenden Willen. Allerdings ist Scotus vorsichtig, es geht bei ihm um die Möglichkeit der Sünde, ein »simul esse beatus, et peccare«493 schließt er ausdrücklich aus, man kann also nicht zugleich Seliger und Sünder sein. Aber das Sündigen-Können ist der Anthropologie des Seligen (ja sogar den Engeln) wesentlich; es gehört – auch im Stand der Seligkeit – zur Identität der sündlich geschaffenen Kreatur, das Nicht-sündigen-Können nie als innere, sondern nur als äußere Realität zu besitzen. Hier scheinen Zweifel angebracht, ob denn die Gnade tatsächlich etwas im Menschen bewirke; wenn ein Bild erlaubt ist: Bei Scotus sind die Menschen nicht dahingehend innerlich gewandelt, daß sie aus eigener (freilich von Gott verliehener) Tüchtigkeit nicht von den Zinnen des himmlischen Jerusalem stürzen; vielmehr ist immer Gottes Hand wie ein schützender Zaun zur Stelle, um das zu verhindern. (In der potentia-dei-absoluta-Spekulation gibt es keinen Zweifel mehr: die Gnade bewirkt im Menschen nichts;494 Gott kann den peccator als iustificatus gelten lassen.) Unter dem Aspekt von Gottes absoluter Macht ist Rechtfertigung gar nicht denkbar – genau das kommt im Großen Galaterkommentar zum Ausdruck, wenn Luther den Worten »Ideo iustificat fides, dicimus, quia habet illum thesaurum, quia Christus adest« hinzufügt: »quomodo, non est cogitabile«.495 Nicht reformatorischer

Buch von Rudolf Hermann«, Catholica, 18 (1964), S. 48–77, 193–217; 19 (1965), S. 138–162, 171–185; W. Link: Das Ringen Luthers um die Freiheit der Theologie von der Philosophie, München 1955, S. 77ff. 489 Vgl. Anm. 465. 490 Vorlesung über den Römerbrief (1515 / 16); WA 56, S. 351 f.: »Ex istis patet metaphysicorum theologorum frivolum et delyriosum commentum, quando disputant de appetitibus contrariis, an possint in eodem esse subiecto […] et stultis suis phantasmatibus coguntur oblivisci, quod caro sit […] vulnus totius hominis […]« 491 Duns Scotus: Ord., IV, dist. 49, qu. 6, n. 11 (ed. Wadding, X, S. 455). 492 Ebd. (Vgl. Anm. 374f.) 493 Ebd. 494 Vgl. Anm. 317–321. 495 Großer Galaterkommentar (Handschrift 1531); WA 40 I, S. 229. Vgl. M. Seils: »Der Grund der Rechtfertigung«, in: M. Beintker u. a. (Hrsg.): Rechtfertigung und Erfahrung (Festschrift G. Sauter), Gütersloh 1995, S. 25–42, hier S. 29, Anm. 35.

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Eigensinn, sondern die Schwierigkeit einer Theologie unter dem Eindruck des potentia-dei-absoluta-Gedankens zwingt dazu – wenn denn an der Rechtfertigung festgehalten werden soll –, einen neuen Zugang zu diesem Thema zu suchen. Bereits bei Scotus und Ockham hatte die Besinnung auf die absolute Macht Gottes der Verwissenschaftlichung der Gnadenlehre Grenzen gesetzt. (Salopp gesagt: Der Rekurs auf die göttliche Allmacht ist die Notbremse, mit der eine Theologie, der vor der hypertrophierenden eigenen Wissenschaftlichkeit nicht mehr ganz geheuer ist, sich selbst relativiert.) Befragte man die eigene seelische Erfahrung, so war die Hypothese der potentia absoluta – der zufolge das Gottesverhältnis ohne habitus auskommt – wahrscheinlicher als die der potentia ordinata; d. h., neben der theologischen war auch die psychologische Begründung des Gnadenhabitus zweifelhaft geworden:496 »Aus keinem Akt, den wir erfahren, weder aus der Substanz des Aktes, noch aus seiner Intensität, weder daraus, daß unser Handeln freudig, noch daraus, daß es leicht vonstatten geht, weder aus der Güte noch aus der moralischen Rechtheit des Aktes können wir auf das Innesein irgendeines solchen übernatürlichen habitus schließen.« Die kirchlichen Institutionen von Ablaß und Beichte nährten die Illusion, man könne durch eigene Anstrengung mit Gott ins reine kommen, ja die Gnade verwalten. Luther hatte in seiner Zeit als Mönch ein leistungsbetontes Christentum praktiziert und festgestellt, daß er so keinen gnädigen Gott »kriegen«497 konnte. Das zeigt sich besonders im Umgang mit der Beichte. Die ständige Reflexion auf die Heilsgewißheit führte sogar zu einer Umkehr der Verhältnisse: auf einmal schien Gott in die Enge getrieben, und Luther wurde vom Beichtvater zurechtgewiesen: »Gott zürnt nicht dir, sondern du zürnst Gott.«498 Die Betrachtung der Beichte, bzw. der Sündenvergebung, ebnet nun der großen Intuition den Weg: »fides facit personam«,499 der Glaube macht die Person, d. h. macht einen Menschen erst zum Menschen.500 Gott ist in der Rechtfertigung nicht weniger kreativ als bei der Schöpfung; der Gerechtfertigte geht aus Gottes Händen als neuer Mensch hervor und nicht nur als Besitzer eines neuen habitus.501 496

Duns Scotus: Ord., I, dist. 17, pars 1, qu. 1–2, n. 126 (ed. Vat., V, S. 200f.). – Vgl. Anm.

301. 497

Von der Taufe (Predigten Jan.-Febr. 1534); WA 37, S. 661; vgl. Holl, a. a. O., S. 112. WA (Tischreden) 1, Nr. 122; vgl. Brecht (wie Anm. 482), S. 75. 499 Zirkulardisputation de veste nuptiali (1537); WA 39 I, S. 283. – Zu Luthers Personbegriff vgl. W. Joest: Ontologie der Person bei Luther, Göttingen 1967; B. Th. Kible: Art. »Person. II.«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Basel 1989, hier Sp. 297f. 500 So nennt man z. B. im Italienischen einen armen Kerl »povero cristiano«. – Es ist allerdings ein Mißbrauch des »fides facit personam«, wenn man, wie die katholischen Konquistadoren, nichtgetaufte Völker wie Vieh behandelt. 501 Und sei es ein so zentraler wie die caritas: »Das ist es, was die scholastischen Doktoren vollkommen dunkel und ganz und gar unverständlich sagen – daß kein Akt des Gesetzes gelte, wenn 498

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Rechtfertigung ist also nicht »etwas« am Menschen, sondern eine neue Beziehung zu Gott. Sie fällt, schulmäßig gesprochen, nicht unter die Kategorie der Qualität (habitus), sondern der Relation. »Ergo Christianus non est formaliter iustus, non est iustus secundum substantiam aut qualitatem (docendi causa hisce vocabulis utor), sed est iustus secundum praedicamentum ad aliquid, nempe respectu divinae gratiae tantum et remissionis peccatorum gratuitae […]«502 Die Kategorie der Relation erfährt hier eine sensationelle Aufwertung.503 Luther erklärt die Gnade als Beziehung – nicht, wie Scotus und Ockham den habitus als geordnete Beziehung der Seelenteile untereinander verstanden hatten (ein solcher habitus ist weniger als Qualität), sondern als interpersonale Beziehung zwischen Gott und Mensch (als solche ist die Gnade mehr als Qualität, sie »tritt […] nicht als formgebender habitus zu der vorhandenen […] Substanz hinzu«504). Die Entdeckung der Person505 auf Grund der nur im Glauben zu ergreifenden Rechtfertigungsgnade506 führt Luther zur Verabschiedung des Gnadenhabitus, nicht weil die Gnade nichts sei, sondern weil sie alles ist. In den alten Formeln läßt sich diese Erkenntnis nur unvollkommen, wenn nicht gar mißverständlich zum Ausdruck bringen. Luther will sagen, daß die Gnade nicht etwas am Menschen, sondern den

er nicht durch die Liebe geformt sei. Verflucht sei jenes Wort ›geformt‹, das dazu zwingt, zu meinen, die Seele sei dieselbe nach und vor der [Eingießung der] Liebe und handle tatsächlich mittels einer dazutretenden Form, während es doch nötig ist, daß sie ganz abgetötet und eine andere wird, bevor sie die Liebe anzieht und wirkt.« – »Hoc est, Quod Scolastici doctores obscurissime planeque non intelligibiliter dicunt Nullum actum precepti nisi formatum charitate valere. Maledictum vocabulum illud ›formatum‹, quod cogit intelligere animam esse velut eandem post et ante charitatem ac velut accedente forma in actu operari, cum sit necesse ipsam totam mortificari et aliam fieri, antequam charitatem induat et operetur.« Vorlesung über den Römerbrief (1515/16); WA 56, S. 337. – Dabei hatte z. B. Scotus nicht nur die Identität der Seele, sondern sogar die der Akte vor und nach Erwerb des habitus supernaturalis (von den moralischen Tugenden ganz zu schweigen, vgl. Anm. 278, 280) behauptet. Es gibt nämlich kein Kriterium, caritas-formierte Akte von anderen Akten zu unterscheiden. Duns Scotus: Ord., I, dist. 17, pars 1, qu. 1–2, n. 127; ed. Vat., V, S. 201 (s. o., Anm. 496). – Zu der Schwierigkeit, bei Thomas von Aquin die Gnade »nur« als habitus / Akzidens aufzufassen, vgl. Anm. 201–203.; DThA, Bd. 17 A, S. 441 f.; Pesch (wie Anm. 485), S. 644ff. 502 Enarratio Psalmi LI, V. 4 (Druck 1538); WA 40 II, S. 353f. 503 Traditionellerweise sah man in der Relation das »schwächste Sein« (R. Schönberger: Relation als Vergleich. Die Relationstheorie des Johannes Buridan im Kontext seines Denkens und der Scholastik, Leiden u. a. 1994, hier S. 66); deshalb war Thomas von Aquin daran gelegen, den habitus nicht – wie eine Stelle aus der aristotelischen Physik nahelegt – aus der Qualitäts- in die Relationskategorie entgleiten zu lassen. Vgl. Anm. 281, 446. 504 Reinhard Schwarz: Fides, spes und caritas beim jungen Luther. Unter besonderer Berücksichtigung der mittelalterlichen Tradition, Berlin 1962, S. 394. 505 Vgl. Theo Kobusch: Die Entdeckung der Person, Freiburg i. Br. 1993. 506 Vgl. Pesch (wie Anm. 485), S. 195.

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ganzen Menschen neu mache507 – die negative Seite dieser Einsicht wird unterstrichen durch die Rede von der »iustitia aliena«:508 »Ideo ubi accepisti remissionem peccatorum, noli esse securus. Es iustus, sanatus extrinsece. Misericordia et miseratione es iustus. Das ist nicht meus habitus vel qualitas cordis mei, sed extrinsecum quoddam, scilicet misericordia divina, quod scimus peccatum nostrum remissum et quod vivimus in suis misericordiis et miserationibus multis et magnis.« (In der Druckfassung von 1538 heißt es an derselben Stelle:509 »Haec autem iusticia an non aliena iusticia est, quae tota consistit in alterius indulgentia et merum donum est Dei miserentis et propter Christum faventis?«) Um die ausgefallene Mitte des habitus-Begriffs oszillieren nun eine überschwengliche Ontologie, die vom alten Adam nichts übrigläßt (so daß gesagt werden kann, der Mensch verhielte sich hier »wie die reine Materie gegenüber der Allmacht Gottes, vergleichbar dem Tohuwabohu am Anfang der Schöpfung, das erst durch Gottes Wort Gestalt annahm«510) und eine deprimierende Psychologie, die den Gerechtfertigten immer noch als Sünder anspricht. Auch dafür gibt es scholastische Belege. Scotus beschreibt die Situation des »peccator iam iustificatus« so:511 »Der Widerstand gegen die Laster und die Fortführung der guten Werke scheinen ihm […] so schwierig wie damals, als er noch in Sünden lebte, oder nicht viel leichter […]« Und Ockham so:512 »[…] wenn jemand aus vielen Akten einen habitus, der zur Todsünde neigt, erzeugt und es nachher bereut, und ihm augenblicklich die Gnade 507

Vgl. Hermann (wie Anm. 488), S. 34: »Gerecht sein ist also etwas, wozu man von Gott […] als ganzer Mensch ernannt wird, gerecht sein ist nicht etwas am Menschen.« Vgl. Ebeling (wie Anm. 470), S. 189. – Den gleichen Sachverhalt beschreibt Karl-Heinz Zur Mühlen: Nos extra nos. Luthers Theologie zwischen Mystik und Scholastik, Tübingen 1972, S. 147: »Die gratia habitualis vermag als forma accidentalis nur etwas am Menschen zu verändern, aber nicht diesen in seinem sündigen Selbstsein.« 508 Enarratio Psalmi LI, V. 4 (Handschrift 1532); WA 40 II, S. 353. 509 Ebd. 510 B. Th. Kible (wie Anm. 499), Sp. 298. – Vgl. Decem praecepta Wittenbergensi praedicata populo (1518); WA 1, S. 471: »[…] nam hic in caliginem intratur, ubi homo non operatur, sed ducitur via passionis mirabiliter. Quoties ergo pateris, toties operaris non tu, sed quiescis et deus operatur in te, sed tu nescis quid, quia pateris et es nuda materia.« (Hervorh. von mir.) – Disputatio de homine (1536), 35. These; WA 39 I, S. 177: »[…] homo huius vitae est pura materia Dei ad futurae formae suae vitam«. (Vgl. Pesch, wie Anm. 485, S. 311f.) 511 Duns Scotus: Ord., I, dist. 17, pars 1, qu. 1–2, n. 104 (ed. Vat., V, S. 191). Vgl. ebd., n. 107, S. 192f.: »[…] man macht nicht die Erfahrung, sich jenes [übernatürlichen] habitus bedienen zu können, wann man will: denn es kann einer nicht, wann er will, mit Lust und Leichtigkeit Akte glühender Gottesliebe wählen – wie es bei den Kontemplativen offenbar ist, die manchmal mit einem gewissen Kraftaufwand eine große Ergebenheit spüren, und manchmal mit dem gleichen Kraftaufwand eine geringere oder gar keine.« – Vgl. Anm. 316.. 512 Wilhelm von Ockham: Quaestiones in librum tertium Sententiarum, qu. 7 (OTh VI, S. 202). Hervorh. von mir.

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eingeflößt wird, macht dieser habitus dennoch vor der Eingießung der Gnade zum Akt der Todsünde geneigt und nachher nicht. Und doch bleibt der zum Akt des Sündigens geneigt machende habitus gleichermaßen vollkommen, wie jeder an sich selbst erfährt.« Der Gerechtfertigte, so würde Ockham sagen, bleibt zwar nicht aktuell Sünder, habituell aber schon. Doch Luther hätte sich die Polemik gegen den habitus sparen können, wenn sein Anliegen gerade in diesem Begriff den adäquatesten Ausdruck gefunden hätte. Erinnern wir uns an Ockhams Verständnis von Materie und Form, bzw. von Teil und Ganzem, so haben wir ein Modell, das der Radikalität des »simul« näherkommt. (Materie und Form sind ja für Ockham dasselbe, genauso wie die Teile und das Ganze.)513 Der Sünder ist das sich durchhaltende Substrat der Rechtfertigung, das sich nicht real, sondern relational verändert. An und für sich bleibt der Gerechtfertigte der Sünder, wie der verlorene Sohn – von sich aus betrachtet – der verlorene Sohn bleibt; es ist die Initiative des liebenden Vaters, die ihn gerade als Sünder annimmt (sie könnte ihn auch nicht annehmen; der Sohn bliebe beide Male derselbe). Sobald man hier den Gottesstandpunkt bezieht, bewegt man sich zwangsläufig in den Koordinaten einer Psychologie, für die der Mensch nur Sünder sein und bleiben kann, so unendlich groß ist der Abstand. Das »simul« verliert die zeitliche Konnotation (für Gott gibt es keine Zeit); immer, wenn wir versuchen, uns mit den Augen Gottes zu sehen, sehen wir uns als Sünder; gerade dann aber, wenn wir uns so sehen, blitzt etwas auf vom Geheimnis der Gnade. Der »arme, stinkende Madensack«514 (als den Martin Luther sich selbst bezeichnete), angetan mit Christus515 – das sündige Fleisch516 als Materie, die durch den Glauben die Form der Person annimmt – der Haufen Knochen (als den man sich frühmorgens oft fühlt …), dennoch ein Ganzes, insofern er sich im Angesicht Gottes als ein Häuflein Elend bekennt: das sind psychologisch-theologische Momentaufnahmen des »zugleich«.517 »Ergo omnis sanctus conscienter est peccator, ignoranter vero iustus, peccator secundum rem, iustus secundum spem, peccator revera, iustus vero per imputationem Dei miserentis.«

513

Vgl. Anm. 434, 437. Treue Vermahnung zu allen Christen sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung (1522); WA 8, S. 685. 515 Kleiner Galaterkommentar (1519); WA 2, S. 529f.: »Christum autem induere est iusticiam, veritatem omnemque gratiam totiusque legis plenitudinem induere.« »[…] iustus es, […] quia in Christum credens Christum induisti.« 516 Vgl. Pesch (wie Anm. 485), S. 81. 517 Disputationsthesen für Bartholomäus Bernhardi: Quaestio de viribus et voluntate hominis sine gratia disputata (1516); WA 1, S. 149. 514

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Psychologisch ist es vollkommen richtig, daß nur, wer sich als Sünder fühlt, gerecht, und wer sich gerecht fühlt, nur Sünder sein kann. Um in Kantischer bzw. Hegelscher Terminologie zu reden: »für sich« ist gerade der Gerechte (Luther sagt: der Heilige) Sünder, nur so kann er »an sich« gerecht sein. Wer ängstlich zu Gott aufschaut und versucht, sich mit den Augen Gottes zu sehen, kann sich nur als Sünder empfinden. Dabei ist aber der Gottesstandpunkt nur »für mich«, auf dem Standpunkt der Reflexion, eingenommen. (Ich schaue hinauf und stelle mir vor, wie Gott auf mich Sünder herabblickt.) »An sich« aber – auch wenn dies dem Empfinden nicht nachvollziehbar ist – steht es dem Blick Gottes anheim, auf mich als Gerechten zu schauen. Sein Blick macht mich gerecht; »an sich« hält der Gottesstandpunkt noch einmal eine andere Realität bereit als »für mich«. Wer sich diese Dialektik klarmacht, kann nicht dabei stehenbleiben. »An sich« gibt es keinen Grund, dem »für mich« den Vorzug zu geben gegenüber dem »an sich« – aber »für mich« gibt es ihn. Genau das hat Luther festgehalten mit seiner Formel »conscienter (für mich) […] peccator, ignoranter (an sich) […] iustus«. Bewußtsein und Sein, Psychologie und Ontologie des Gottesverhältnisses fallen auseinander und müssen es, solange der Standpunkt der Reflexion nicht überwunden wird.518 Damit gewinnt auch die »aliena iustitia« eine neue Plausibilität. Die Gerechtigkeit Gottes kann psychologisch nicht angeeignet werden – über die ontologischen Verhältnisse ist damit noch nicht entschieden.519 Denn woher kommen die guten Werke, die Luther selbstverständlich als Zeichen der Rechtfertigung bzw. des Glaubens ansieht?520 In der Perspektive mystischer Einswerdung sind es eben nicht »meine« Werke, denn »nicht ich lebe, sondern 518

Vgl. R. Spaemann: Reflexion und Spontaneität. Studien über Fénelon, Stuttgart 21990,

S. 57. 519

Daß der Gerechte innerlich Sünder und nur äußerlich gerechtfertigt ist, ist ein psychologischer Sachverhalt. Daß der Heuchler innerlich gerecht ist, entspricht ebenfalls dem psychologischen Empfinden; daß er Sünder ist, stimmt dagegen ontologisch, daß er es äußerlich ist (d. h., sein Sündersein nicht empfindet), stimmt wieder psychologisch. Vgl. Vorlesung über den Römerbrief (1515/16); WA 56, S. 268: »Sancti Intrinsece sunt peccatores semper, ideo extrinsece Iustificantur semper. Hipocrite autem intrinsece sunt Iusti semper, ideo extrinsece sunt peccatores semper.« Vgl. R. Schwarz (wie Anm. 504), S. 142. – Bei Luther fällt für den Gerechten die ontologische Ebene aus, bzw. sie wird kurzgeschlossen mit der Gottesperspektive: sein »äußerliches« Gerechtsein entspricht der Perspektive Gottes – in menschlicher Sicht (der Mensch sagt: »für Gott ist der Gerechte gerecht, wirklich – ontologisch – ist er es nicht«). Vgl. Robert Grosche: »Simul peccator et iustus«, in ders.: Pilgernde Kirche, Freiburg u. a. 21969 (1938), S. 147–158, bes. S. 155. 520 »Dafür soll mans gewißlich halten, wo der Glaub nicht ist, daß da auch kein gut Werk könnte sein; und wiederum, daß da kein Glaub sei, wo nicht gute Werke sind.« Predigt über 1. Petr 1 (1523); WA 12, S. 289. Weitere Belege bei Paul Althaus: Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh 1962, S. 213–218.

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Christus lebt in mir« (Gal 2,20).521 Aber ist diese Perspektive immer durchzuhalten? 3. Bedeutung der habitus-Lehre Die spannungsvolle Situation von Beichte und Absolution, bzw. das Sich-hineinReflektieren in ein ekstatisches Gottesverhältnis, in dem sowohl die menschliche wie die göttliche Perspektive,522 Sünde und Rechtfertigung präsent sind, bleibt punktuell.523 Erst der Abstieg aus dieser Selbstvergewisserung in die Dimension der Dauer wirft wieder die Frage nach dem habitus auf. Menschliche Existenz kann nicht in der Dauerreflexion524 verharren, ja sie soll es auch nicht. Eine »gewisse sorglose Heiterkeit der Kinder Gottes« ist vollkommener als »humorlose Bemühtheit und ein gewisses Pathos der ›Anfechtung‹«.525 Das sieht Luther auch, wenn »bei ihm das Höchste eine Sicherheit des sittlichen Empfindens [ist], die ›ohne viel Lesen und Wählen‹ sofort das Richtige trifft und es wie selbstverständlich vollbringt«.526 Zahlreichen Stellen läßt sich entnehmen, daß die Kennzeichen des habitus – das prompte, faciliter und delectabiliter – auch bei ihm das Handeln des Gerechtfertigten prägen.527 Wie für Aristoteles, so liegt auch für Lu521

Vgl. Pesch (wie Anm. 485), S. 301: »Derselbe Gott, der den Glauben wirkt, wirkt auch dessen Frucht.« Vgl. ebd., S. 311 (mit Anm. 136); Joest (wie Anm. 499), S. 258ff. – Kleiner Galaterkommentar (1519); WA 2, S. 502: »Tum vivit iustus non ipse, sed Christus in eo, quia per fidem Christus inhabitat et influit gratiam […]« Propositiones disputatae Wittembergae pro doctoratu D. Hieron. Weller et M. Nik. Medler (1535), These 29; WA 39 I, S. 46: »Iustificati autem sic gratis, tum facimus opera, imo Christus ipse in nobis facit omnia.« 522 »›Gerecht und Sünder‹, das gilt also jeweils in verschiedener Hinsicht«, Althaus (wie Anm. 520), S. 211. Vgl. R. Schwarz (wie Anm. 504), S. 143. 523 Auch wenn Luther einmal, nach eigenem Bekenntnis, sechs Stunden lang gebeichtet hat (WA 15, S. 489; Brecht, wie Anm. 482, S. 74). – Pesch (wie Anm. 470, S. 198) und andere sprechen hier von einer »Gebetsrealität«. In der Tat, im »mea maxima culpa« der katholischen Liturgie findet sich das luthersche »simul« sinngemäß wieder (ebd., S. 200). 524 Vgl. den Essay von H. Schelsky: »Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar? Zum Thema einer modernen Religionssoziologie« (1957), in: Auf der Suche nach Wirklichkeit, Düsseldorf / Köln 1965, S. 250–275. – Vgl. den Hinweis auf die Diskussionsbeiträge zum Thema, ebd., S. 293, Anm. 1. 525 Pesch (wie Anm. 488), S. 387. 526 Holl (wie Anm. 470), S. 231. Vgl. Weihnachtspostille (1522); WA 10 I 1, S. 295. – Das »ohne viel Lesen und Wählen« entspricht genau der Charakteristik des habitusgeleiteten Handelns bei Thomas von Aquin: »Ab habitu enim magis est operatio, quanto minus est ex praemeditatione. […] repentina sunt secundum habitum.« De veritate, qu. 24, a. 12. 527 »Hoc sola gratia praestat, quae quia diligere facit, ideo voluntarium facit ad mandata. Igitur sensus est: in mandatis eius voluntarius, promptus et delectabiliter operarius, non coactus aut invitus […], sed amore allectus.« 1. Psalmenvorlesung (1513–1515); WA 4, S. 250. – »Amor enim facit omnia facilia et iucunda, etiam quae sunt difficilia et tristia. […] Neque enim Christi legem ullus implet, nisi qui volens et hilaris ad eam est […]« Ebd., S. 387. – (Hervorh. von mir.)

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ther das Wesen des richtigen Handelns nicht im Was, sondern im Wie.528 Sogar der andernorts so heftig geschmähten caritas widerfährt ihr Recht (und zwar mit ausdrücklichem Hinweis auf das Leichte und Spontane ihres Tuns529). Geradezu mit den Worten des hl. Thomas sagt Luther einmal »fide pleni sine praemeditatione faciunt bonum«.530 Daß ein übernatürlicher habitus nicht auf natürlichem Wege zustandekommt heißt nicht, daß seine Auswirkung nicht mit philosophischen Begriffen zu fassen sei. Luther hat den »schlafenden habitus«, mit dem schon die Spätscholastik nichts Rechtes mehr anzufangen wußte,531 durch die Dramatisierung des persönlichen Verhältnisses zu Gott überboten. Aber mit der »aliena iustitia« im Augenblick der Rechtfertigung ist noch nicht das letzte Wort über das erneuerte Gottesverhältnis gesprochen. Im emphatischen Ergreifen der Rechtfertigungsgewißheit wird der Mensch ganz neu, was terminologisch die Rede von Veränderung ausschließt (γéνεσις ist eine andere Kategorie als λλοíυσις532); aber Luther spricht, sobald seine neue Akzentsetzung verdeutlicht ist, ja im selben Atemzug damit, auch ganz unbefangen von einer Veränderung des Menschen durch den Glauben.533 528

Vorlesung über den Römerbrief (1515/16); WA 56, S. 502: »Unde deberemus in operibus omnibus attendere, non quid fecerimus aut faciendum sit neque quid omiserimus vel omittendum neque quid boni vel fecimus vel omisimus neque quid mali fecimus aut omisimus, sed quali et quanta voluntate, quanto et quam hilari corde omnia fecerimus aut facere velimus.« (Hervorh. von mir.) – Vgl. Holl, a. a. O., S. 179, 204, 206, 220, 246. 529 Decem praecepta Wittenbergensi praedicata populo (1518); WA 1, S. 437: »omnia mandata […] requirunt charitatem, cum sine charitate, id est facili, prompta, hilari, libente voluntate, si implentur, non implentur.« – Vgl. oben, Anm. 471. 530 Über das 1. Buch Mose (1527); WA 14, S. 111. (Hervorh. von mir.) Vgl. oben, Anm. 526, das Zitat aus De veritate. 531 Vgl. folgende Stelle bei Buridan: »Et tamen vidi populares rusticos hoc concedere, quod scilicet operatio sit eligibilior virtute. Petivi enim quid plus vellent: vel absque habitu cognoscere omnia quae vellent vel habitum habere et nihil unquam actu cognoscere. Responderunt se de habitu non curare.« – »Und doch sah ich, daß unsere Bauern das zugaben, nämlich daß die Handlung erstrebenswerter sei als die Tugend. Denn ich fragte sie, was ihnen lieber wäre: entweder ohne habitus alles, was sie wollten, zu erkennen, oder den habitus zu haben und nie wirklich (actu) etwas zu erkennen. Sie antworteten, am habitus läge ihnen nichts.« Johannes Buridanus: Quaestiones super decem libros ethicorum Aristotelis, I, 10, Paris 1513 (Nachdruck Frankfurt a. M. 1968), fol. 10vb. – Das Zitat verdanke ich Herrn Prof. Dr. Rolf Schönberger, Regensburg. 532 Vgl. Aristoteles: Physik, III, 1 (201 a 11f., 14f.). 533 2. Psalmenvorlesung (1519–1521); WA 5, S. 474: »At in mandatis dei oportet ut [vetus homo] mortificetur, mutetur et innovetur. […] Hic enim exuitur vetus homo et induitur novus.« Vgl. WA (Deutsche Bibel) 7, S. 10 (1522): »Glaube ist ein göttliches Werk in uns, das uns wandelt und neu gebiert aus Gott […] und tötet den alten Adam, macht uns ganz andere Menschen von Herz, Mut, Sinn und allen Kräften […]« – Vorlesung über den Römerbrief (1515/16); WA 56, S. 334f.: »Quia gratia et spiritualis Iustitia ipsum hominem tollit et mutat […] Ergo donec homo ipse vivit et non tollitur ac mutatur per renovationem gratiae, Nullis operibus potest facere, Ut sub peccato et lege non sit.« (Hervorh. von mir.) Vgl. Joest (wie Anm. 499), S. 52f. und, zusam-

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Folgerichtig fügt Karl Holl in seinem großen Lutherbuch der Darstellung der Rechtfertigungslehre ein umfangreiches Kapitel »Der Neubau der Sittlichkeit« an, in dem der Sache nach immer wieder auf den habitus rekurriert wird;534 und evangelische Theologen geben unumwunden zu, »daß Luther durchaus lehre, was mit dem habitus-Begriff gemeint sei«.535 Auf dem Gebiet der Ethik, der guten Werke, kommt im Protestantismus der katholische habitus par excellence zum Zug: die Liebe. »Wie wir oft gesagt haben: Glaube und Liebe muß man also scheiden, daß der Glaube auf die Person und die Liebe auf die Werke gerichtet sei.«536 Im Glauben verhalten wir uns zu Gott, in der Liebe zum Nächsten. In dieser Scheidung lebt noch die Berührungsangst vor der potentia Dei absoluta; sie scheint zu suggerieren, daß man Gott nicht in Liebe zu

menfassend, S. 255: »Der Mensch wird eines anderen – aber eben dies bedeutet, daß er auch ein anderer wird.« 534 Holl (wie Anm. 470), S. 155–287; vgl. oben, Anm. 528. – Vgl. Konrad Stock: Grundlegung der protestantischen Tugendlehre, Gütersloh 1995. Es geht in diesem Werk darum, »den Sinn und den Gehalt einer Tugendlehre zu rekonstruieren, die aus der Theoriebildung der deutschsprachigen evangelischen Theologie im 20. Jahrhundert weitgehend verschwunden war.« (Ebd., S. 7.) 535 Pesch (wie Anm. 485), S. 717, Anm. 208, paraphrasiert G. Törnvall: »Luthers opposition mot det katolska habitus-begreppet«, Svensk Teologisk Kvartalskrift, 19 (1943), S. 292–300. (Hervorh. im Orig.) Dort heißt es auf S. 294, u.: »Der Fehler liegt nicht im habitus-Gedanken selber an und für sich, sondern in dem Gebrauch, wodurch man ihn zu einer Rechtfertigung im Menschen macht. Luther muß nämlich jeder Form von Rechtfertigung widersprechen, die in irgendeiner Weise […] auf menschlichem Vermögen beruht.« (Für die Übersetzung aus dem Schwedischen danke ich Herrn Johan Tralau, Universität Uppsala.) So darf es nicht verwundern, daß der Begriff des habitus schon bald nach Luther wieder Eingang in die evangelische Theologie (die sog. »altprotestantische Orthodoxie«) gefunden hat; vgl. Heinrich Schmid: Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche, 9. Aufl., Gütersloh 1979 (1. Aufl. 1843), S. 28. (Für diesen Hinweis danke ich meinem Kollegen Dr. Friedrich Hermanni, Hannover.) – Hierher gehören auch die reformierten Theologen Clemens Timpler und Heinrich Alsted mit ihrer »Hexiologia« (dritte sectio von Timplers Exercitationes philosophicae, Hanau 1618: »Hexiologia, hoc est doctrina generalis de habitibus«) bzw. »Hexilogia« (Teil II von Alsteds Philosophia digne restituta, Herborn 1612). Vgl. Gerhard Funke: Gewohnheit, Bonn 1958, S. 237–242. – Ein schönes Beispiel dafür, wie sich der Luther-Interpretation das mit dem habitus Gemeinte auch ohne Rekurs auf den Begriff aufdrängt, gibt Hermann (wie Anm. 488, S. 128), wenn er von der »Klammer im zeitlichen Dasein des Menschen, durch welche Person und Werk zusammenhängen« spricht (mit Verweis auf WA 56, S. 399). – Vgl. P. Althaus (wie Anm. 520, S. 203): »Aber Luther würdigt den Glauben auch als vom Heiligen Geist gewirkte menschliche Haltung.« (Hervorh. von mir.) Der Glaube sei »der Anfang einer neuen seinshaften Gerechtigkeit« (ebd.). Durch ihn werde unser Herz »selber gerecht, und zwar nicht nur geltungshaft, durch Anrechnung der Gerechtigkeit Christi, sondern seinshaft […]« (Ebd., S. 204.) »Die beiden Wirkungen des Glaubens an Christus, daß er die Vergebung und damit die Zurechnung der Gerechtigkeit empfängt, und: daß er ein neues Sein begründet, seinshafte Gerechtigkeit, gehören bei Luther untrennbar zusammen.« (Ebd., S. 205.) 536 Fastenpostille (1525); WA 17 II, S. 97; vgl. Ebeling (wie Anm. 470), S. 178ff.

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nahe treten soll537 (dafür dann dem Nächsten um so näher …). Wie ist das mit der neuen personalen Gottesbeziehung zu vereinbaren? Gott macht mich gerecht – legt man die Betonung auf Gott macht, so bleibt es bei der »fremden Gerechtigkeit«; wie aber, wenn man sie auf mich gerecht legt? Ist dem Verhältnis nicht implizit, daß es mit der Zeit zu einer Aneignung der fremden Gerechtigkeit kommt? Womöglich ist der scholastische Gedanke der caritas geeignet, das Gottesverhältnis der aus fremder Gerechtigkeit gerechtfertigten Person um eine wichtige Komponente anzureichern. Unter dem Verdikt der »iustitia aliena« kommt es eigentlich noch gar nicht zu einer personalen (oder jedenfalls zu einer eher einseitigen) Beziehung zu Gott. Doch Gott will geliebt werden, mit einer Liebe, die unsere Liebe ist (welchen Sinn hätte sie sonst?) und die gleichwohl nicht von uns bewerkstelligt werden kann. Die scotische Akzeptationslehre drückt das so aus, daß Gott uns annimmt auf Grund der caritas, die er uns zuvor verliehen hat.538 Wir sind hier ganz nahe an Luthers Vorstellung der »iustitia aliena«, der zufolge Gott nichts in uns akzeptabel findet als das, was er in uns hineingelegt hat: »Et sic acceptat misericordiam suam in operibus nostris, […] scilicet iustitiam Christi pro nobis.«539 (Und was Gott in uns hineinlegt, um es nachher zu akzeptieren, ist de potentia absoluta gleichgültig; nur de potentia ordinata ist es eben die Liebe.540) Aber diese Perspektive reduziert den Menschen zum Ort, an dem Gott sich selbst begegnet; eine echte Gottesbeziehung wird somit undenkbar – genau das hatte Thomas von Aquin an der Vorstellung kritisiert, die caritas sei das unmittelbare Wirken des Hl. Geistes in uns.541

537

So nennt Ulrich Kühn die »Liebe zu Gott […] ein in der evangelischen Theologie sträflich vernachlässigtes, wo nicht vergessenes Kapitel«. U. Kühn: Natur und Gnade. Untersuchungen zur deutschen katholischen Theologie der Gegenwart, Berlin 1961, S. 171, Anm. 89; Hinweis bei Pesch (wie Anm. 485), S. 549, Anm. 28. 538 »Deus enim acceptat te non propter actionem tuam, sed quia dat tibi charitatem, propter quam acceptat te, et non propter opus tuum.« Duns Scotus: Collationes, 6, n. 15 (ed. Wadding, III, S. 362 a). 539 Zit. nach C. Stange (Hrsg.): Die ältesten ethischen Disputationen Luthers, Leipzig 1904, S. 27; vgl. Hermann (wie Anm. 488), S. 113. – Vgl. WA 1, S. 370. 540 Vgl. Anm. 314. 541 »Der Magister [Petrus Lombardus] […] kommt zu dem Schluß, […] daß diese Liebesbewegung, mit der wir Gott zugeneigt sind, […] [direkt] vom Hl. Geist stammt, ohne Vermittlung irgendeines habitus. Und das sagte er wegen der Erhabenheit der Gottesliebe. Aber wenn man es recht betrachtet, gereicht das der Gottesliebe vielmehr zum Schaden. Denn die Bewegung der Liebe geht nicht so vom Hl. Geist, der den Geist des Menschen bewegt, aus, als würde der Geist des Menschen nur bewegt und wäre in keiner Weise Ursprung (principium) dieser Bewegung. […] Die Folge wäre sonst, daß Lieben nichts Freiwilliges wäre. […] Deshalb ist es höchst notwendig, daß es für den Akt der Gottesliebe in uns eine dem natürlichen Vermögen hinzugegebene habituelle Form gibt […]« Summa theol., II–II, qu. 23, a. 2 (DThA 17 A, S. 9ff.). Vgl. Anm. 454–456.

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Wie ist es denn, wenn ein Kind den Eltern ein Geschenk macht? Gilt hier nicht »Quid habes, quod non accepisti?« (1 Kor 4,7) Denken wir den Fall leicht abgewandelt: Der Papa drückt dem dreijährigen Sohn eine Rose in die Hand, der sie der Mama »schenkt«. Das ist nicht dasselbe, wie wenn die Rose direkt vom Vater der Mutter überreicht würde. Für einen Augenblick war sie im Besitz des Kindes, und die Geste des Schenkens (wenn auch nicht das Geschenk selbst) kommt – das macht ja den Reiz der Szene aus – vom Kind. Das Kind schlüpft in die Rolle des Schenkenden, und das ist etwas ganz anderes, als wenn der Vater etwas auf den Schreibtisch legt, was die Mutter dort wieder wegnimmt. (Unser Beispiel542 hinkt nicht nur insofern, als wir Gott in die Personen von Vater und Mutter aufgespalten haben, sondern die Unselbständigkeit des Menschen vor Gott ist noch viel größer als die des Kindes vor den Eltern: Gott gibt uns nicht nur das Geschenk, sondern das Schenken.) Auf die Akzeptationslehre (im Rahmen der potentia ordinata) angewandt, heißt das: wenn Gott uns annimmt auf Grund der Liebe, die er uns zuvor verliehen hat, so ist in diesem Vorgang doch eine Wandlung mitzudenken. Zwar nimmt er, könnte man sagen, seine Liebe von uns an, aber er nimmt sie eben von uns, und damit als unsere Liebe, an. Gott läßt uns in die Rolle eines Kindes schlüpfen, das ihn beschenkt. Jetzt wird vielleicht auch deutlich, daß der habitus der caritas durchaus auch als Kategorie interpersonaler Beziehung in Betracht kommt: lebt doch die caritas-Lehre bei Thomas von Aquin ganz von der Voraussetzung, daß die Gottesliebe Freundschaft sei.543 In dem oben zitierten Luther-Text schien es, als sei die Rechtfertigung ein innergöttlicher Vorgang, bei dem der Mensch »außen vor« bleibt (Gott akzeptiert die Gerechtigkeit Christi). Aber anders als Scotus und Ockham in ihren potentia-dei-absoluta-Spekulationen hält Luther (mit Thomas) daran fest, daß die Liebe Gottes in

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Ein ganz ähnliches findet sich bei Kierkegaard (Pap. VIII A 342). Ich zitiere nach der Paraphrase von Cornelio Fabro (La preghiera nel pensiero moderno, Rom 1979, S. 369): »Im Christentum hingegen verhält sich der Mensch zu Gott wie das Kind, dem die Eltern helfen, den Geburtstagsbrief zu schreiben oder dem sie vorher das Geschenk geben, das es ihnen dann an ihrem Festtag überreicht.« – Vgl. Kierkegaard: Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller, in: Die Schriften über sich selbst, Gütersloh 1985, S. 85, Anm. 543 Summa theol., II–II, qu. 23, a. 1. – Freundschaft als Tugend (und damit als habitus) aufzufassen, liegt ganz in der Linie der Nik. Ethik, deren Tugendlehre in den beiden Büchern über die Freundschaft (VIII, IX) gipfelt. – Vgl. G. Söhngen: »Gesetz und Evangelium«, Catholica, 14 (1960), S. 81–105, hier S. 94: »Wir sollten nämlich unsere Kategorie der Qualität relational aufzuschließen und so beweglich, lebendig, aktual zu machen verstehen. Wir sollten qualitas weniger als anhaftende, stehende, statische Eigenschaft, sondern mehr als dynamisches, bewegliches, lebendigtätiges Verhalten auffassen. […] Solch qualitatives Insein west geradezu, verwirklicht sich in der Fülle aktualen Hinseins.«

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dem Geliebten etwas Neues hervorbringt.544 (Wenn man auch hierfür das Bild vom Mantel545 verwenden will, müßte man sagen: die Menschen bleiben unter dem Mantel Christi Sünder, aber sie bleiben doch nicht unverändert dieselben.) Denn Gottes Liebe ist schöpferisch.546

B. Descartes Die Stellen, an denen sich Descartes zum habitus-Begriff äußert, sind äußerst spärlich, und es ist wohl nicht nur eine Frage der Diplomatie, wenn er im Anhang zum Discours de la méthode schreibt, er habe eben für Qualitäten (zu denen auch der ha-

544

Heidelberger Disputation / Disputatio Heidelbergae habita (1518), These 28 (letzte theologische These); WA 1, S. 354, 365: »Amor Dei non invenit sed creat suum diligibile, Amor hominis fit a suo diligibili.« »Die Liebe Gottes findet ihr Liebenswertes nicht vor, sondern schafft es. Die Liebe des Menschen entsteht aus seinem Liebenswerten.« Luther vertritt hier die gleiche Position wie Summa theol., I–II, qu. 110, a. 1. (Vgl. Anm. 318–320.) – Daß dieses Neue dem Menschen nicht äußerlich bleibt, sondern ihm zu eigen wird, illustriert sehr schön eine Stelle aus der 2. Psalmenvorlesung (1519–1521), die Joest (wie Anm. 499) im Abschnitt »Die Frage der Spontaneität« (S. 274ff.) zitiert (WA 5, S. 595): »haec virtus [Dei] quietam illam et genuinam rerum vim, qua velut sponte sua omnia possunt et faciunt, quae suae naturae conveniunt, significat, ut sic virtus Dei significet totum, quod nos sumus et possumus, illius dono nos posse.« »Diese Kraft Gottes bedeutet jene ruhige und ursprüngliche Kraft der Dinge, durch die alles wie aus eigenem Antrieb kann und tut, was seiner Natur zukommt, so daß also die Kraft Gottes bedeutet, daß alles, was wir sind und können, wir durch sein Geschenk können.« (Hervorh. von mir.) 545 Die dritte Disputation gegen die Antinomer (1538); WA 39 I, S. 514: »Nos autem contra docemus, […] etiam ipsos sanctos […] habere adhuc peccatum, […] sed hoc non imputari eis, sed haberi pro iustis. Quare? quia Deus hoc peccatum non agnoscit. Cur? quia sunt tecta pallio Christi, […] non quia nos tales sumus revera iusti et sine peccato, sed quia reputamur propter Christum […]« 546 Sachlich gleichbedeutend, aber lutherischem Denken näher wäre es wohl, zu sagen: Gottes Gerechtigkeit ist schöpferisch. Daß es nämlich bei einer strikt äußerlichen Rechtfertigung nicht bleiben kann, hat Luther entwickelt im Sermo de duplici iustitia (1519), WA 2, S. 145–152; wo es heißt, daß aus der ersten, fremden eine zweite, eigene Gerechtigkeit hervorgeht. Zur Mühlen (wie Anm. 507, S. 189f.) kommentiert: »Wenn wir uns […] an Luthers leidenschaftlichen Kampf gegen jede iustitia propria, cooperatio und gratia habitualis […] erinnern, so überrascht der Sprachgebrauch ›iustitia propria‹ und ›cooperatio‹. Es zeigt sich daran, daß sich inzwischen bei Luther eine Klärung der […] Probleme ergeben hat.« – (Vgl. Th. Beer: Der fröhliche Wechsel und Streit. Grundzüge der Theologie Martin Luthers, Einsiedeln 1980, S. 21f. und die Stellen bei Pesch – wie Anm. 485 –, S. 186 f.) Einem Gedanken aus dem Antilatomus (1521) folgend, könnte man auch sagen: Die Gerechtigkeit Gottes macht uns (extern) gerecht; doch die Gerechtigkeit Gottes bleibt nicht allein, ihr folgt die Gunst Gottes (vgl. WA 8, S. 105f.), die uns zu Gott Liebenden macht. Auch das extern? Doch die Liebe läßt sich nicht als extra nos denken. (Vgl. Zur Mühlen, a. a. O., S. 206f.)

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bitus zählt) keine Verwendung.547 Der habitus soll ja Geist und Leib verbinden; Descartes will – zumindest vorläufig – beides trennen. Der Geist ist ausdehnungslose, denkende Substanz; die Körperwelt hingegen (ob belebt oder unbelebt) geht auf in den Koordinaten des dreidimensionalen Raums. Der Geist ist reines Innen, der Leib reines Außen, und nur beim Menschen findet sich beides zusammen. (Dem oft erhobenen Vorwurf, die Einteilung der Welt in res cogitan[te]s und res extensa[e] werde dem Status der Tiere nicht gerecht, entgegnet der leidenschaftliche Vivisekteur548 mit dem Hinweis, wenn die Tiere etwas anderes als Maschinen wären, müßten sie auch denken können und eine unsterbliche Seele haben.549)

1. Ersetzung der intellektuellen habitus durch die mathesis universalis Es zeugt von der Genialität Descartes’, die Inkompatibilität des habitus-Gedankens mit seiner neuen Philosophie schon auf der ersten Seite der Regulae ad directionem ingenii vermerkt zu haben.550 In diesem Werk, dem (erst posthum veröffentlichten) »Ur-Descartes«,551 wird sofort klar, daß die Seele als Sitz der habitus nicht mehr in Frage kommt. Menschliches Wissen, seit Aristoteles als habitus auf-

547

Descartes: Discours de la méthode (les météores, discours second), in: Œuvres, hrsg. von Adam/Tannery (= AT), Bd. VI, S. 239. Schon vorher (Discours de la méthode, V; AT VI, S. 43) macht er darauf aufmerksam, in seinen Darlegungen sei eine Welt vorausgesetzt, in der es »keine solchen Formen oder Qualitäten gibt, über die man in den Schulen streitet […]« (Von der Methode, übers. von L. Gäbe, Hamburg 1960/1978, S. 35.) Diplomatie ist es aber, wenn er seinen Schüler Regius an diese Stelle (AT VI, S. 239) erinnert und ihn tadelt, weil er ohne Not die substantialen Formen und realen Qualitäten verworfen habe: Brief an Regius vom Januar 1642; AT III, S. 492. – Die Stelle mag Pierre Daniel Huet im Auge gehabt haben, als er in seiner Censura philosophiae Cartesianae (Kampen 1690, Nachdruck Hildesheim/New York 1971) mit Hinweis auf die Verstellungskunst Descartes’ schrieb, dieser habe Henricus Regius brieflich angehalten, seine Meinung nicht offen herauszusagen, sondern »confictis verbis« zu verschleiern (ebd., S. 193f.). 548 Vgl. Charles Adam: Vie et Œuvres de Descartes, Paris 1910; AT XII, S. 499. 549 Brief an Henry More vom 5. Februar 1649; AT V, S. 277. – Der Disput zwischen More und Descartes findet sich vorweggenommen in der Auseinandersetzung Suárez’ mit dem Mediziner Gómez Pereira; vgl. Rainer Specht: Commercium mentis et corporis. Über Kausalvorstellungen im Cartesianismus, Suttgart-Bad Cannstatt 1966, S. 21, Anm. 63; dort das Zitat aus F. Suárez: 1 De Anima, c. 5, n. 3 (Opera Omnia, Bd. III, Paris 1856, S. 500): »Ne igitur brutis concederent rationalem animam, [nostra etiam aetate aliqui] etiam sensitivam illis negabant. Verumtamen sententia est intolerabilis, et grande paradoxum.« 550 Descartes: Regulae ad directionem ingenii, Regula 1 (AT X, S. 359): »Ita scientias, quae totae in animi cognitione consistunt, cum artibus, quae aliquem corporis usum habitumque desiderant, male conferentes […]« (Hervorh. von mir). 551 Vgl. Jean-Luc Marion: Sur l’ontologie grise de Descartes. Science cartésienne et savoir aristotélicien dans les Regulae, Paris 1975, S. 16.

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gefaßt,552 richtet sich nicht mehr nach seinen jeweiligen Gegenständen, sondern bemächtigt sich als mathesis universalis553 aller möglichen Gegenstände in derselben Weise. Der Vergleich der Weisheit mit der Sonne spricht wie nebenbei die revolutionäre Wendung zum Subjekt aus, die seit Vico als »verum-factum-Prinzip«554 bekannt ist: wie das Sonnenlicht durch die von ihm beschienenen Gegenstände keine Veränderung erfährt, so auch nicht die Weisheit von ihren Objekten.555 Der cartesische Intellekt ist nicht mehr empfangend (wie der aristotelisch-thomistische intellectus possibilis556), er wird nicht mehr durch seine Gegenstände bestimmt (wie die habitus und Akte bei Thomas557) – er ist bestimmend, nicht bestimmbar; man ist versucht zu sagen: er hört nicht, er diktiert. Die radikale Entgegensetzung »esprit«-»corps« läßt im Geist keine Veränderlichkeit, keine Passivität, keine Potentialität und damit eben keine habitus zu;558 als deren Sitz kommt nur der Körper, als Anwendungsbereich die Kunst bzw. Technik (ars) in Betracht. Die Abschaffung des »habitus scientiarum« legt die Vermutung nahe, daß Descartes sich den menschlichen Geist wie einen »intellectus angelicus« vorstellt, der ebenfalls im Rahmen seiner natürlichen Tätigkeit keiner habitus bedarf.559 552

Vgl. Nik. Ethik, I, 13 (1103 a 3–10), VI, 3 (bes. 1139 b 31f.); Summa theol., I–II, qu. 53, a. 1, qu. 58, a. 2. 553 Regulae, Regula 4 (AT X, S. 378f.). 554 Rodolfo Mondolfo: Il »verum-factum« prima di Vico, Neapel 1969. Vgl. die folgende Anm. – In den Prinzipien der Philosophie (Buch III, Kap. 44) werden die praktischen Folgerungen gezogen: Der Wahrheitswert von Descartes’ Hypothesen über die Welt liegt darin, daß »man sich ihrer […] wird bedienen können, um die Naturursachen zu bestimmen, alle Wirkungen, die man nur will, hervorzubringen« (AT IX/2, S. 123; Übers. von A. Buchenau). 555 Regulae, Regula 1 (AT X, S. 360). Übrigens hebt Descartes hier den traditionellen Unterschied von Wissenschaft und Weisheit auf: »Nam cum scientiae omnes nihil aliud sint quam humana sapientia, quae semper & eadem manet, quantumvis differentibus subjectis applicata, nec majorem ab illis distinctionem mutuatur, quam Solis lumen a rerum, quas illustrat, varietate, non opus est ingenia limitibus ullis cohibere […]« 556 De anima, III, 4 (429 b 5–9); Summa theol., I–II, qu. 50, a. 4, qu. 51, a. 3. 557 Summa theol., I–II, qu. 54, a. 2. 558 Summa theol., I–II, qu. 51, a. 2: »[…] in agente quandoque est solum activum principium sui actus: sicut in igne est solum principium activum calefaciendi (man denke an Descartes’ Sonnengleichnis). Et in tali agente non potest aliquis habitus causari […] Invenitur autem aliquod agens in quo est principium activum et passivum […] sicut patet in actibus humanis. […] unde ex multiplicatis actibus generatur quaedam qualitas in potentia passiva et mota, quae habitus nominatur.« Ebd., a. 3: »[…] habitus […] generatur inquantum potentia passiva movetur ab aliquo activo principio.« Vgl. J.-L. Marion, a. a. O., S. 28. 559 J.-L. Marion, ebd. (mit Anm. 11). Vgl. Summa theol., I–II, qu. 50, a. 6. – Es ist bemerkenswert, daß Marion den schon von Maritain vorgebrachten Vorwurf des »angélisme de Descartes« wieder aufnimmt. Vgl. Jacques Maritain: »Descartes ou l’incarnation de l’ange«, in: Trois Réformateurs. Luther – Descartes – Rousseau (1925), in: Œuvres complètes, Fribourg/Paris 1982ff., Bd. 3, S. 487, 512, 514 und Le songe de Descartes (1932), ebd., Bd. 5, S. 173 (»angélisme«); zur Ablehnung des habitus ebd., S. 49ff., S. 186, Anm. 58. – Vgl. auch Rainer Specht (wie Anm. 549),

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2. »Provisorische« und »wissenschaftliche« Moral Die Konsequenzen des neuen Wissenschaftsbegriffs für die Ethik werden durch den Ansatz der »morale par provision«560 erst einmal ausgeblendet; immer wieder gibt Descartes zu verstehen, daß er ihnen lieber aus dem Weg geht.561 In der Tat – das, was nach cartesischem Programm die »provisorische Moral« ersetzen sollte, wäre eigentlich keine neue oder bessere Ethik, sondern eine Überwindung der traditionellen Ethik durch Wissenschaft (was sie nach aristotelischem Verständnis nie sein kann562), genauer: durch Technik. In dem berühmten Brief an Abbé Picot, den Übersetzer der Principes de la philosophie, wird die Metaphysik den Wurzeln, die Physik dem Stamm eines Baumes verglichen, dessen Äste die Medizin, die Mechanik und die Moral darstellen. Um diesen gigantischen Neubau des Wissens bis zum Ende aufzuführen, wären Ausgaben nötig, die die Möglichkeiten eines Privatmanns übersteigen – und so entschuldigt sich Descartes bei der Nachwelt dafür, daß das Unternehmen unvollendet bleibt.563 Was ist das für eine Moral, die, da sie die Physik, die Medizin und die Mechanik zu Voraussetzungen hat,564 erst am Ende kostspieliger Experimente zuwege gebracht werden kann? (Nicht von ungefähr denkt man an Ockham, der bereits eine Ersetzung der Moral durch Medizin erwogen hatte.565) Descartes sieht, wie Rainer Specht trefflich formuliert, »die Chance einer streng rationalen Moral im Sinne einer völligen Beherrschung des Leibautomaten durch genaue Kenntnis seiner Bedienungsvorschriften.«566

S. 12. Specht hat die Parallelen der cartesischen Anthropologie mit der Engellehre Suárez’ deutlich gemacht: die Situationen, in denen nach biblischem Bericht die Engel Leiber annehmen, begründen einen »physiologischen Ausnahmezustand« (ebd., S. 19), der der Situation der res cogitans in der res extensa sehr nahekommt: »Ein Engel kann nur nichtvitale und keine vitalen Tätigkeiten setzen: er ist nicht Seele, sondern reiner Geist.« (Ebd., S. 16.) 560 Discours de la méthode, III (AT VI, S. 22). – Vgl. Robert Spaemann: »Praktische Gewißheit. Descartes’ provisorische Moral«, in: H. Barion u. a. (Hrsg.): Epirrhosis. Festgabe für Carl Schmitt, Berlin 1968, S. 683–696. 561 Brief an Chanut, 20. November 1647; AT V, S. 86: »Il est vrai que j’ai coutume de refuser d’écrire mes pensées touchant la morale […]«; Gespräch mit Burman, 16. April 1648; AT V, S. 178: »Auctor non libenter scribit ethica […]« – Vgl. schon den Brief an Chanut vom 1. November 1647 (AT IV, S. 536); Wolfang Röd: Descartes. Die innere Genesis des cartesianischen Systems, München 1964, S. 188, 196. 562 Nik. Ethik, VI, 4 und 5. 563 AT IX/2, S. 17. 564 Brief an Abbé Picot; AT IX/2, S. 14. 565 Vgl. Anm. 449, 450. 566 R. Specht (wie Anm. 549), S. 8.

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3. Die Krise von Utrecht: Voetius gegen Descartes Zweifellos: Descartes will in der Lehre vom Menschen einen Perspektivenwechsel herbeiführen. Die angestrebte Verwissenschaftlichung der Moral geht nicht »von oben«, von der Seele als einer »substantialen Form«, sondern »von unten«, von der materiell-mechanischen Konstitution des Menschen aus. Der Theologe Gisbert Voetius, 1641/1642 amtierender Rektor der Akademie zu Utrecht, macht als erster auf die Konsequenzen aufmerksam, die sich aus der Ablehnung der aristotelischen »Formen« (dem Äquivalent der platonischen »Ideen«) für die philosophisch-theologische Tradition ergeben. In einem Thesenpapier vom Dezember 1641, in dem er zu den Neuerungen des in Utrecht lehrenden Descartes-Schülers Regius Stellung nimmt, heißt es:567 »Es gibt überhaupt keine Qualitäten, weder der zweiten noch der dritten, noch der ersten Art; das heißt, entgegen dem, was die Schule der Philosophen und der Theologen lehrt, gibt es keine ›habitus‹. Ich möchte sehen, wie diejenigen, die die natürlichen Fähigkeiten und Potenzen leugnen, die habitus (von deren Notwendigkeit wir durch die Hl. Schrift und die Vernunft überzeugt sind) gegenüber den Atheisten, den Skeptikern und den Ungläubigen retten können, es sei denn, auch sie [die habitus] wären in der fünfeckigen Werkstatt von Bewegung, Ruhe, Quantität, Lage und Figur fabriziert.« Mit »Bewegung, Ruhe, Quantität, Lage und Figur« ist auf einen Merkvers aus Regius’ Physiologia sive cognitio sanitatis angespielt: »Mens, mensura, quies, motus, positura, figura/Sunt cum materiâ cunctarum exordia rerum.«568 Auch wenn Voetius in seiner Aufzählung den Geist (mens) wegläßt, so bleibt es doch dabei, daß von einer Naturphilosophie, die auf Formen (diese »armen, unschuldigen Entitäten«569) und Qualitäten verzichtet, kein Weg zur Tugendethik oder zu den theologischen Tugenden mehr führt.570 567

Gisbert Voetius: »Des natures et des formes substantielles des choses« (orig. lat.), These II, Nr. V.2., zitiert nach der französischen Übersetzung in: Theo Verbeek (Hrsg.): René Descartes et Martin Schoock: La Querelle d’Utrecht, Paris 1988, S. 105–115, hier S. 106f. – Es sei daran erinnert, daß nach der aristotelischen Kategorienschrift (Kap. 8) der habitus die erste Unterart der Qualität darstellt. 568 Utrecht 1641, S. 5; zit. nach: Theo Verbeek: Descartes and the Dutch. Early Reactions to Cartesian Philosophy, 1637–1650, Carbondale u. a. 1992, S. 14. – Vgl. den ironischen Kommentar von Martin Schoock: Admiranda methodus novae philosophiae Cartesianae, Utrecht 1643, in: Theo Verbeek (Hrsg.): René Descartes et Martin Schoock, a. a. O., S. 282. 569 Gisbert Voetius: »Des natures et des formes substantielles des choses«, These I, a. a. O., S. 105. 570 Unter den weiteren Konsequenzen, die sich aus der Emanzipation von der aristotelischen Naturphilosophie ergeben, nennt Voetius u. a. folgende (die uns schon bei Ockham begegnet waren): Wegfall des Unterschieds zwischen Belebtem und Unbelebtem, Natürlichem und Künstlichem (These II, Nr. III, Nr. VIII; a. a. O., S. 106f., vgl. dazu Anm. 64 auf S. 470); Ersetzung von Entstehen (generatio) und Vergehen (corruptio) durch akzidentelle Veränderung (These II, Nr. IX; These III; S. 107f.); Leugnung eines inneren Bewegungsprinzips (These II, Nr. IV.2.; S. 106).

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In Descartes’ Empfehlung an Regius, er solle den Gegnern keine überflüssigen Angriffsflächen bieten und sich zum habitus bekennen, spricht sich die Sorge um die Akzeptanz der neuen Philosophie aus. Gleichzeitig wird der habitus-Begriff durch ein geniales »divide et impera« aufs Abstellgleis geschoben. »Nec etiam negamus habitus, sed duplicis generis illos intelligimus […]«571 Die Aufspaltung in eine materielle und eine immaterielle Unterart macht den habitus teils zu einem physiologischen, teils zu einem theologischen Phänomen und hält ihn so gezielt aus der Philosophie heraus.

4. Die Krise von Leiden: Revius gegen Descartes Auch in Leiden (der Universität, an der sich Descartes 1630 als Student der Medizin eingeschrieben hatte) kam es zu lebhaften Auseinandersetzungen. Der Philosoph Adriaan Heereboord trat ab 1644 »noch offener und lobender« für Descartes ein,572 als Regius es je getan hatte. Anfang 1647 schloß er eine Ansprache mit den ungewöhnlichen Worten: »Heil dir, du größter aller Philosophen, der du die Wahrheit, die Philosophie, die Freiheit wiederhergestellt hast.«573 Auch in Leiden war es ein Theologe – Jacob Revius –, der sich nun für die aristotelische Position stark machte. Seine Statera philosophiae Cartesianae, zum Großteil wohl schon 1648 als Antwort auf Heereboord geschrieben, erschien erst 1650, nach Descartes’ Tod. Auch hier geht es um die Abschaffung der Formen, Qualitäten und habitus.574 Auf Heereboord muß das Buch einen so vernichtenden Eindruck gemacht haben, daß er sich drei Wochen nicht aus dem Haus wagte.575 Vgl. Anm. 425, 441, 424, 431. – Auch die bei Ockham festgestellte Nähe zu den Vorsokratikern (Anm. 400, 441) begegnet bei Descartes wieder. In einem Brief an den französischen Provinzial der Jesuiten schreibt er, auf die Utrechter Kontroverse Bezug nehmend: »ma philosophie est la plus ancienne de toutes« (Lettre à Dinet, veröffentlicht im Mai 1642 als Beilage zur 2. Aufl. der Meditationes de prima philosophia; franz. Übers. in Theo Verbeek [Hrsg.]: René Descartes et Martin Schoock, a. a. O., S. 147; vgl. AT VII, S. 596). Maliziös wird folgende Anekdote über Aristoteles kolportiert: »[…] da er unfähig war, die Meinungen der älteren Philosophen gründlich zu widerlegen, hatte er ihnen andere, vollkommen absurde, zugeschrieben, nämlich genau die, die man in seinen Schriften lesen kann; und […] damit der Betrug von der Nachwelt nicht entdeckt würde, hatte er alle ihre Bücher erst ausfindig machen und dann verbrennen lassen.« Lettre à Dinet, a. a. O., S. 145 (AT VII, S. 588). 571 Descartes: Brief an Regius vom Januar 1642; AT III, S. 503f. 572 Descartes: Brief an Pollot vom 8. Januar 1644; AT IV, S. 77. – Hierzu und zum folgenden vgl. Theo Verbeek (Hrsg.): Descartes et Regius. Autour de l’Explication de l’esprit humain, Amsterdam-Atlanta 1993, S. 18ff.; ders.: Descartes and the Dutch, a. a. O., S. 34ff., 78ff. 573 Adriaan Heereboord: Meletemata philosophica, Nimwegen 1664, S. 14 (zit. in Theo Verbeek: Descartes and the Dutch, a. a. O., S. 40). 574 Jacob Revius: Statera philosophiae Cartesianae, Leiden 1650, S. 86–106; vgl. Verbeek, a. a. O., S. 80. 575 Verbeek, ebd. und S. 133, Anm. 21 (Brief von Adam Stuart an Claude Saumaise vom

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Revius rekurriert auf die Notwendigkeit, Glaube, Hoffnung und Liebe als habitus aufzufassen. Wäre dem nicht so, so könnte jemand nur in dem Moment als gläubig angesprochen werden, in dem er aktuell an Gott denkt – eine Einschränkung, die dem normalen Selbstverständnis zuwiderläuft. Wir schreiben uns beständige Eigenschaften auch dann zu, wenn wir sie gerade nicht aktualisieren. Die Rede von Eigenschaften trägt ja dem Umstand Rechnung, daß wir unsere Identität für etwas halten, das in den aktuellen Konfigurationen sei es des Leibes sei es des Geistes nicht völlig aufgeht. Wir können spanisch oder französisch, sind gerecht oder unbeherrscht, Agnostiker oder Christen auch dann, wenn gerade keines dieser habituellen Merkmale bewußt verwirklicht wird. (Das gilt auch von der substantiellen Prädikation: Wir sind auch Menschen, wenn wir nichts außer unsrer Müdigkeit realisieren, d. h., schlafen.576)

5. Les Passions de l’Âme und die »Moral für Elisabeth« Die wissenschaftliche Moral ist Projekt geblieben; an ihr wird, soweit wir noch im cartesischen Zeitalter577 leben, immer noch gearbeitet. Es ist die Größe Descartes’, daß er ihr – auch, wie Jean-Luc Marion meint, als Folge der Konfrontation mit Voetius – selber den Rücken gekehrt und einen neuen Ansatz in Angriff genommen hat, der »weniger das vorherige theoretische Gebäude krönt, als es vielmehr korrigiert, ja

18. Oktober 1650). – Die Verteidigung von Descartes gegen Revius übernahm Johannes Clauberg (allerdings ohne auf die habitus-Problematik einzugehen) in: Defensio Cartesiana adversus Jacobum Revium Theologum Leidensem, et Cyriacum Lentulum, Professorem Herbornensem, Amsterdam 1652, jetzt in: Opera Omnia philosophica, hrsg. von J. Th. Schalbruch, Bd. 2, Amsterdam 1691, Nachdruck Hildesheim 1968, S. 937–1119. 576 Zu dem Problem, die persönliche Identität im aktuellen Bewußtsein dieser Identität zu verankern, vgl. die Kritik an den Positionen von Locke und Parfit bei Robert Spaemann: Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹, Kap. 12: »Das Sein von Subjekten«, Stuttgart 1996, S. 144–157, bes. S. 48–153. (Vgl. Derek Parfit: Reasons and Persons, Oxford 1984.) – Descartes ist konsequent genug, der Seele immer aktuelles Denken (wie dem Körper die Ausdehnung) zuzuschreiben: Brief an P. Gibieuf vom 19. Januar 1642 (AT III, S. 478); an Arnauld, 4. Juni 1648 (AT V, S. 193). 577 Vgl. Henri Gouhier: »La fin de l’ère cartésienne«, in: Henri Bergson: Œuvres, hrsg. von A. Robinet/H. Gouhier, Paris 31970, Introduction, S. VIIff. – In Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928) meint Max Scheler, daß wir die »Lehre des Descartes […] eigentlich erst in jüngster Zeit abzuschütteln im Begriff sind.« In schärfster Kritik fährt er fort: »Dadurch, daß er alle Substanzen in ›denkende‹ oder ›ausgedehnte‹ einteilte und lehrte, daß der Mensch allein aus diesen beiden in Wechselwirkung stehenden Substanzen bestehe, hat Descartes in das abendländische Bewußtsein ein ganzes Heer von Irrtümern schwerster Art über die menschliche Natur eingeführt.« Max Scheler: Gesammelte Werke, Bd. 9, Bern/München 1976, S. 56.

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kritisiert.«578 Die Rede ist von Descartes’ letztem Werk, dem 1649 erschienenen Traktat Die Leidenschaften der Seele. Nach der strengen Scheidung von Geist und Körper in den Meditationen wäre eher die Elimination des Seelenbegriffs zu erwarten gewesen.579 Jetzt wird die Seele eigens thematisiert, und zwar als Sitz der Leidenschaften. Wäre Descartes bei der stoisch gefärbten »provisorischen Moral« des Discours de la méthode geblieben, so hätte er sich die Austreibung oder wenigstens die weitestgehende Beherrschung der Leidenschaften vornehmen müssen; im Sinne seines Dualismus würden wir sie (und die Lösung aller moralischen Probleme) auf seiten des Körpers, nicht der Seele erwarten. Aber Les Passions de l’Âme ist nicht die 1637 ins Auge gefaßte endgültige Moral. Hinter dem Anspruch einer erstmaligen wissenschaftlichen Behandlung des Themas580 (greifbar etwa in den Ausführungen zur Zirbeldrüse581) tritt ein Anliegen 578

Jean-Luc Marion: »Préface«, in: Theo Verbeek (Hrsg.): René Descartes et Martin Schoock: La Querelle d’Utrecht, Paris 1988, S. 17. 579 Meditationes de prima philosophia, Anhang zu den zweiten Erwiderungen, Definition 6; AT VII, S. 161. – Vgl. Rolf Schönberger: Philosophische Anthropologie 1: Das Sein des Menschen, Würzburg 1995, S. 27. 580 Descartes: Les Passions de l’Âme, I, 1; AT XI, S. 327f. – Daß Descartes auch hier eine ganze Menge von »den Alten« übernommen hat, ergibt sich aus einem Vergleich mit dem entsprechenden Traktat in der Summa theol., I–II, qu. 22–48. (Matthias Meier: Die Lehre des Thomas von Aquino De passionibus animae in quellenanalytischer Darstellung, Münster 1912, S. X–XIV.) 581 Ihr wird die Verbindung von Körper und Seele zugeschrieben – eine Hypothese, die von Anfang an mit Spott und Kopfschütteln bedacht wurde (vgl. Les Passions de l’Âme, I, 31). Spinoza: Ethik, Vorrede zum 5. Teil (nach der Übers. von B. Auerbach hrsg. von A. Buchenau, Berlin o. J. [1914], S. 241, 243): »Descartes nimmt an, die Seele oder der Geist liege hauptsächlich in einem Teile des Gehirns, den man die Zirbeldrüse nennt […] Ich kann mich wahrlich nicht genug wundern, daß ein Philosoph, […] der die Scholastiker so oft getadelt hatte, weil sie dunkle Dinge durch unbekannte Eigenschaften erklären wollten, eine Voraussetzung annimmt, die unbekannter ist als jede unbekannte Eigenschaft.« – Noch Jacques Maritain zitierte die Passagen über die Zirbeldrüse als Beispiel unfreiwilligen Humors, in: »L’esprit cartésien« (1937), in: Œuvres complètes, Fribourg/Paris 1982ff., Bd. 6, S. 1119–1122, hier S. 1122. – Heinrich Rombach kritisiert »jene peinliche These […], nach der für Descartes die Seele nur an einer einzigen Stelle den Körper berühren kann«, in: Substanz, System, Struktur. Die Ontologie des Funktionalismus und der philosophische Hintergrund der modernen Wissenschaft, Freiburg/München 21981, Bd. 1, S. 521. Man kann die Zirbeldrüse mit der Rolltaste eines Powerbooks vergleichen, die als Schaltstelle von Geist und Maschine fungiert. (Der Vergleich hinkt insofern, als beim Powerbook eine Bewegungsübertragung nur in einer Richtung möglich ist.) Klaus Hammacher erinnert an »die Funktionsübermittlung eines Kugelkopfes einer modernen Schreibmaschine«, in: Descartes: Die Leidenschaften der Seele, frz./dt., Hamburg 21996, S. 338, Anm. 43. Descartes hat den Einwand Spinozas antizipiert, etwa im Brief an Arnauld vom 29. Juli 1648 (AT V, S. 222): »Daß aber der Geist [mens], der unkörperlich ist, den Körper bewegen kann, das erhellt aus keiner Überlegung, noch aus irgendeinem anderswo hergenommenen Vergleich, sondern aus der gewissesten und evidentesten Alltagserfahrung; es ist eine jener durch sich selbst bekannten Sachen, die wir verdunkeln, wenn wir sie durch andere erklären wollen.« Man muß

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zutage, das Descartes’ Spätschrift in eine unerwartete Nähe zur habitus-Tradition bringt. Der Traktat endet mit der gänzlich unstoischen Feststellung, »daß die Menschen, die am meisten von ihnen [den Leidenschaften] bewegt werden, auch fähig sind, am meisten die Süße dieses Lebens zu genießen.«582 Lebe leidenschaftlich – diese unvorhergesehene Wendung der cartesischen Philosophie entwickelt sich im Austausch mit der Prinzessin Elisabeth von der Pfalz. Hier distanziert sich Descartes ausdrücklich von Zenon, dem Begründer der Stoa583 und von der Lehre, man müsse sich von den Leidenschaften frei machen.584 Zur Bekräftigung schließt er seine Briefe mit Formulierungen wie »leidenschaftlich der Ihre […]«585 Descartes hatte der Prinzessin die Lektüre von Senecas De vita beata vorgeschlagen,586 ging aber dann, durch die Kritik seiner Schülerin angeregt, zur Darstellung seiner eigenen Gedanken über. Am 15. September 1645 schreibt er:587 »Deshalb versuche ich, ohne mich jetzt weiter mit Seneca aufzuhalten, lediglich meine eigene Meinung zu dieser Materie zu erklären. Es kann, scheint mir, nur zwei Dinge geben, die erforderlich sind, um immer zu richtigem Urteil disponiert zu sein: das eine ist die Erkenntnis der Wahrheit, und das andere die Gewohnheit [habitude], die macht, daß man sich erinnert und dieser Erkenntnis zustimmt, sooft der Anlaß es erfordert.«

diesen Text wohl so deuten, daß zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Passions de l’Âme – 1649 – die Zirbeldrüsentheorie nicht mehr im Vordergrund von Descartes’ Interesse steht. Er hatte den Traktat (den ersten und zweiten Teil) auf Veranlassung Elisabeths im Winter 1645/46 ausgearbeitet; der dritte Teil entstand erst unmittelbar vor der Drucklegung. In diesem dritten Teil kommt die Zirbeldrüse nicht mehr vor. In die Zeit zwischen der ersten Skizze und der Veröffentlichung fällt der Brief an Mersenne vom 12. Oktober 1646, in dem Descartes erklärt, sich aus wissenschaftlichen Auseinandersetzungen zurückziehen und nur noch Briefe an seine Freunde schreiben zu wollen: »Enfin je déclare, dès à présent, que je ne sais plus lire aucuns écrits, excepté les lettres de mes amis […]; comme aussi je n’écrirai jamais plus rien que des lettres à mes amis, dont le sujet sera, si vales, bene est, etc. Je ne me mêle plus d’aucune science, que pour mon instruction particulière« (AT IV, S. 527). Zur Unlösbarkeit des Leib-Seele-Problems vgl. auch den Brief an Elisabeth vom 28. Juni 1643; AT III, S. 691f. – Kant bezieht in den Träumen eines Geistersehers (1768) keine andere Position als die aus dem Brief an Arnauld zitierte: »Daß mein Wille meinen Arm bewegt, ist mir nicht verständlicher, als wenn jemand sagte, daß derselbe auch den Mond in seinem Kreise zurückhalten könnte […]« (Akad.-Ausg., Bd. II, S. 370.) 582 Descartes: Les Passions de l’Âme, III, 212; Die Leidenschaften der Seele, a. a. O., S. 325. 583 Brief an Elisabeth, 18. August 1645; AT IV, S. 276. 584 Brief an Elisabeth, 1. September 1645; AT IV, S. 287. 585 Vgl. ebd.; an P. Charlet, 9. Februar 1645 (AT IV, S. 158); an Chanut, 1. Februar 1647 (AT IV, S. 617). – Vgl. die einfühlsame Darstellung von Ludger Oeing-Hanhoff: »Descartes und Elisabeth von der Pfalz«, Philosophisches Jahrbuch, 91 (1984), S. 82–106. 586 Brief an Elisabeth, 21. Juli 1645; AT IV, S. 252f. 587 Brief an Elisabeth, 15. September 1645; AT IV, S. 291, 295f. (Hervorh. von mir).

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Nach längeren Ausführungen über die Erkenntnis der Wahrheit kommt Descartes am Ende des Briefes auf den zweiten Punkt, die Gewohnheit, zurück: »Im übrigen habe ich gesagt, daß außer der Erkenntnis der Wahrheit auch die Gewohnheit erforderlich ist, um immer zu richtigem Urteil disponiert zu sein. Denn, ebenso wie wir nicht ununterbrochen auf dieselbe Sache aufmerksam sein können, so klar und evident auch die Gründe gewesen sein mögen, die uns zuvor von irgendeiner Wahrheit überzeugt haben, so können wir nachher durch falschen Anschein davon abgebracht werden, sie zu glauben, es sei denn, wir haben sie, durch lange und häufige Meditation, so sehr unserem Geist eingeprägt, daß sie zur Gewohnheit geworden ist. Und in diesem Sinn hat man in der Schule recht, wenn man sagt, daß die Tugenden Gewohnheiten [habitudes] sind […]« Auch hier bringt der Briefschluß die praktische Anwendung der Theorie: »Und weil ich, indem ich hier diese Wahrheiten prüfe, davon auch in mir die Gewohnheit mehre, […] bin ich […]« Wir rekapitulieren: Descartes war von der Seneca-Interpretation zur Darlegung seiner eigenen Gedanken übergegangen; diese faßt er dann zusammen, indem er den habitus-Begriff der scholastischen Tradition (denn nichts anderes ist mit »Gewohnheit« gemeint) zustimmend aufgreift. Man könnte vermuten, Elisabeth habe dieses Schlagwort in die moralphilosophische Diskussion geworfen; die Korrespondenz gibt aber keinen Hinweis darauf. Allerdings beschäftigt sich die Prinzessin in dieser Zeit mit der Rehabilitation der Leidenschaft. »Ich möchte noch sehen, wie Sie die Leidenschaften definieren, um sie gut zu kennen; denn diejenigen, die sie Verwirrungen der Seele nennen, würden mich glauben machen, daß ihre Kraft nur darin besteht, die Vernunft zu blenden und zu unterwerfen, wenn nicht die Erfahrung mir zeigte, daß es welche gibt, die uns zu vernünftigen Handlungen bringen. Aber gewiß würden Sie mir darüber noch mehr Licht verschaffen durch die Erklärung, wie die Kraft der Leidenschaften sie um so nützlicher macht, wenn sie der Vernunft unterworfen sind.«588 Descartes’ Antwort finden wir im 3. Teil der Passions de l’Âme, wo in Art. 161 die générosité (Hochschätzung seiner selbst), »der Schlüssel zu allen anderen Tugenden«,589 behandelt wird. Zunächst bleibt festzuhalten, »daß das, was man gewöhnlich Tugenden nennt, Gewohnheiten der Seele sind, die sie zu bestimmten Gedanken veranlassen«; da diese Gedanken teils »durch die Seele hervorgebracht«, teils durch »eine Bewegung der Lebensgeister […] verstärkt« werden können, sind sie »Handlungen der Tugenden […] und zugleich Leidenschaften der Seele«.590 588 589 590

Brief an Descartes, 13. September 1645; AT IV, S. 289f. Les Passions de l’Âme, III, 161; Die Leidenschaften der Seele (wie Anm. 581), S. 257. Ebd., S. 255.

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Die Aktionen (des Denkens), die die Tugend bewirkt, werden durch Passionen (des Fühlens) gesteigert. So findet jede Tugend ihren »Verstärker« in den entsprechenden Bewegungen der Lebensgeister. Jede Tugend hat also eine aktive (die Tugend im engeren Sinn) und eine passive Seite (die korrespondierende Leidenschaft). Das heißt für die générosité, daß sie sowohl Tugend als auch Leidenschaft ist.591 Und so kann Descartes empfehlen, »in sich die Leidenschaft [der générosité] zu erregen, um anschließend die Tugend der générosité zu erwerben«.592 Hätte der Kraft der (vernünftig geleiteten) Leidenschaft ein größerer Nutzen zugeschrieben werden können als der, selbst ein Teil der Tugend und Weg zu ihr zu sein? 6. Epilog Nicht der aus dem Spätwerk herauszufilternde, sondern der mit den Qualitäten und substantialen Formen zu Fall gebrachte habitus ist das geschichtlich wirksam gewordene Erbe der cartesischen Philosophie. Ob nun ausdrücklich geleugnet – wie es nach Auskunft des Lexicon philosophicum (2. Aufl. 1713) von Stephanus Chauvin bei einigen Neueren der Fall ist593 – oder am Rande erwähnt – wie etwa in Regius’ Philosophia naturalis (2. Aufl. 1654)594 –, die Zeiten, in denen der habitus-Begriff in der philosophischen Reflexion eine Rolle spielt, sind vorbei. Aber die von ihm bezeichnete Sache? Sie taucht spätestens wieder auf in Schillers Frage nach dem Recht der Sinnlichkeit in der Kantischen Ethik.

591

Les Passions de l’Âme, III, 160; a. a. O., S. 251. Les Passions de l’Âme, III, 161; vgl. a. a. O., S. 257. Klaus Hammacher sagt zu Recht, daß Descartes »den Ursprung der Tugenden in eingeübten Haltungen, nicht in rein gedankengeleiteten Entschlüssen sieht«; gerade damit steht er aber in der habitus-Tradition – anstatt sich, wie Hammacher meint, »hier imgrunde von der Scholastik abzugrenzen« (ebd., Anm. 122, S. 357). 593 Stephanus Chauvin: Lexicon philosophicum, Leeuwarden 21713 (Nachdruck Düsseldorf 1967), S. 290 b/291 a: »Nonnulli accuratius putant philosophaturos, si dixerint. 1. Nullos esse proprios dictos habitus in potentia motrice […] 2. Nullos etiam esse habitus in voluntate […] 3. Denique nullos in ipso intellectu admittendos esse habitus […] Non igitur, juxta istos, alibi quam in cerebro habitus imprimuntur […]« 594 Henricus Regius: Philosophia naturalis, lib. V, c. 2, c. 9; Amsterdam 21654, S. 360f., 408. 592

V. DIE RENAISSANCE DES HABITUS-GEDANKENS BEI SCHILLER UND KIERKEGAARD

A. Habitus als Freiheit: Schillers Kant-Kritik Gerold Prauss schreibt über Schillers Kant-Kritik:595 »In dieser Konzeption von Schiller liegt eine derartige Herausforderung für Kant, daß sie sowohl historisch als auch systematisch geradezu Epoche hätte machen können […] Wie weit sie freilich in Wahrheit reicht, nämlich daß diese Herausforderung in der Tat ans Fundament der neuzeitlichen wie auch insbesondere der Kantischen Philosophie rührt, wurde dabei weder Schiller selbst noch Kant bewußt. Auf diese Weise ging eine wohl einmalige Gelegenheit ungenutzt an der neuzeitlichen und Kantischen Philosophie vorbei, die wohl eine Sternstunde für Philosophie überhaupt hätte werden können.« Wir werden im folgenden versuchen, die ungenutzte Gelegenheit als Sternstunde für den habitus-Gedanken (nicht den Begriff, um den es Schiller nicht zu tun ist) zu reklamieren; dabei muß sich zeigen, ob es gelingt, diesen Gedanken als Interpretament von Freiheit zu deuten. Für Kant wie für Schiller ist Freiheit das zentrale Anliegen; das kühne und oft mißverstandene Projekt Schillers besteht darin, dem Kantischen Freiheitsbegriff (der auf dem kategorischen Imperativ basiert) gegenüber einen Begriff von Freiheit zur Geltung zu bringen, der sich am griechischen Ideal der Kalokagathie596 inspiriert. Freiheit, so lautet die These, die im folgenden plausibel gemacht werden soll, ist nicht nur ein modernes (Kantisches), sondern bereits ein antikes (Aristotelisches) Hauptthema der Philosophie, und die Entwicklung des hexis-Begriffs in den Ethiken des Aristoteles entspringt genau dieser Absicht.

595

Gerold Prauss: Kant über Freiheit als Autonomie, Frankfurt a. M. 1983, S. 246f. Vgl. den Artikel »Kalokagathia« von R. Bubner/W. Grosse, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Basel 1976, Sp. 681–684; Hermann Wankel: Kalos kai agathos, Frankfurt a. M. 1961 (Diss. Würzburg 1961); Robert E. Norton: The Beautiful Soul. Aesthetic Morality in the Eighteenth Century, Ithaca, New York/London 1995, bes. Kap. 3: »The Eighteenth Century and the Hellenic Ideal of Kalokagathia«, S. 100–136. – Bei Aristoteles: Magna Moralia, II, 9; Eudemische Ethik, VIII, 3; dazu die Kommentare von F. Dirlmeier (Berlin 51983, S. 425–427; Berlin 41984, S. 492ff.). 596

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Renaissance des habitus-Gedankens

1. Ö úσις als Freiheit In der Philosophie der Alten dreht sich alles um den Begriff der φúσις, der Natur; in der Moderne dreht sich alles um den Begriff der Freiheit. Da wir uns daran gewöhnt haben, Natur und Freiheit als Gegensätze597 zu betrachten, bedarf es einiger Anstrengung, im aristotelischen Verständnis von Natur die Freiheit zu entdecken. Wir wollen es in drei Schritten versuchen. (1) Ö úσις bei Aristoteles ist etwas anderes als Natur in moderner Sichtweise. Naturdinge sind für Aristoteles solche, die das Prinzip von Ruhe und Bewegung in sich tragen, d. h., vorzugsweise das Lebendige (erinnern wir uns daran, daß auch die Elemente nach dem Modell des Lebendigen gedacht werden: das Feuer »strebt« nach oben, der Stein nach unten).598 Bei Ockham wird die Auffassung der Natur als des von sich selbst her Bewegten aufgegeben; Natur sinkt herab zum Gegenstand passiver Bewegung, zum Artefakt ohne Innenseite.599 Es ist leicht nachvollziehbar, daß der Schritt von der relativen Freiheit der selbstbewegten Naturdinge zur menschlichen Freiheit viel kleiner ausfällt als der Sprung von der absoluten Unfreiheit der Gegenstände zur absoluten Freiheit des modernen Subjekts. (2) Für das Verhältnis von φúσις und Freiheit bei Aristoteles ist entscheidend, daß sie als Momente einer Entwicklung von einem Zustand der Unvollkommenheit zum Zustand der Vollendung begriffen werden, wobei die Entwicklung als Entfaltung der φúσις gesehen wird. Frei ist ein Wesen, wenn es die in ihm angelegte Fähigkeit zur Selbstbewegung zur höchsten Entfaltung bringt – für den Hund heißt das etwa, daß er nach anfänglicher Blindheit sehen und laufen (und schließlich Hunde zeugen600) kann. Oder besser – denn die Rede von der Freiheit des Hundes wirkt mißverständlich – frei ist der Mensch, insofern er das in seiner φúσις angelegte Wesen, seine Weise der Selbstbewegung zur höchsten Entfaltung bringt. Worin zeigt sich die höchste Seinsweise des Menschen? Weder in der Ortsbewegung noch in der physischen Zeugung:

597

Vgl. die Belege für Scotus, Anm. 294, 296, 367. Aristoteles: Physik, II, 1 (192 b 8–33, bes. 21–23); VIII, 4 (254 b 14–33). – Vgl. Thomas von Aquin: Natur ist »principium intrinsecum cuiuscumque motus«, Summa theol., I, qu. 29, a. 1 ad 4; vgl. I–II, qu. 10, a. 1; III, qu. 2, a. 1. 599 Vgl. Anm. 424f. 600 Auf den Zusammenhang dieser beiden Prinzipien (Natur als Vermögen der Zeugung und der Selbstbewegung) ist hingewiesen in Summa theol., I, qu 29, a. 1 ad 4. – Vgl. Aristoteles: Metaphysik, V, 4. 598

Habitus als Freiheit: Schillers Kant-Kritik

147

das ζον λóγον χον ist angelegt auf die Entfaltung seines höchsten Seelenteils, eben des λóγον χον. »So bleibt also nur ein nach dem vernunft-begabten Seelenteile tätiges Leben übrig«601 (für die »eigentümlich menschliche Tätigkeit«602); denn »für uns sind Vernunft und Geist das Ziel der Natur«.603 Vernunft als Ziel der Natur ist nur denkbar, wenn Natur erstens nicht bloß materiell und zweitens analog verstanden wird. In diesem Sinn aber läßt sich aristotelisch auch sagen: Freiheit, nämlich vernunftbestimmtes Tätigsein, ist das Ziel der (menschlichen) Natur. Was der Mensch von Natur ist, das ist er nicht faktisch schon von Anfang an (Aristoteles wußte z. B. sehr wohl, daß Säuglinge noch nicht sprechen). Wir müssen erst werden, was wir sind. Die menschliche Natur im Zustand ihrer Vollendung heißt ρετ, Tugend, ihre anthropologisch-psychologische Voraussetzung ξις, habitus. Wenn das Vernünftige im Menschen so zur Entfaltung gebracht wird, daß es über das Nicht-von-sich-aus-Vernünftige eine »politische« (nicht »despotische«) Herrschaft604 ausübt – wenn die menschliche Natur ihre Aufnahmebereitschaft für die Vernunft so weit wie möglich verwirklicht, so daß die verschiedenen Seelenteile sich in einer Verfassung harmonischer Spannung befinden, dann ist (mit einem Ausdruck, den Schiller noch vor Hegel verwendet), die erste Natur in der zweiten aufgehoben.605 Also: erst in der Ausprägung von ρετ, von habitus, vollendet sich die menschliche Natur; in dieser Vollendung entspricht ihre Bewegung am meisten dem Prinzip des λóγος bzw. des νος; die Vernunft aber ist am meisten das Selbst.606

601

Aristoteles: Nik. Ethik, I, 6 (1098 a 3f.); Übers. von E. Rolfes, hrsg. von G. Bien, Hamburg S. 11. 602 Ebd. (1097 b 24f.). 603 Aristoteles: Politik, VII, 13 (1334 b 15):  δè λóγος µν καì  νος τς φúσευς τéλος; Übers. von O. Gigon, München 61986, S. 244. 604 Im Sinne »eines Verständnisses von Herrschaft, die das Beherrschte nicht in seinem Selbstsein zum Verschwinden bringt.« Robert Spaemann: Philosophische Essays, Stuttgart 1983/1994, S. 17. – Vgl. Anm. 103 im Aristoteles-Kap. 605 Vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 18. Brief, in: Sämtliche Werke, hrsg. von G. Fricke und H. G. Göpfert, 5. Bd., Darmstadt 91993, S. 625; 20. Brief, S. 633. – Schiller dürfte den Begriff aus Fichtes Wissenschaftslehre von 1794 übernommen haben (wie unten, Anm. 682, z. B. S. 125). 606 Nik. Ethik, IX, 4 (1166 a 16f., 22f.): »Nun scheint aber jeder Mensch das zu sein, was in ihm denkt, oder doch dieses vor allem.« (A. a. O., S. 216.) – X, 7 (bes. 1178 a 2–8): »Mithin wäre es ungereimt, wenn einer nicht sein eigenes Leben leben wollte, sondern das eines anderen. […] Was einem Wesen von Natur eigentümlich ist im Unterschied von anderen, ist auch für dasselbe das Beste und Genußreichste. Also ist dies für den Menschen das Leben nach der Vernunft, wenn anders die Vernunft am meisten der Mensch ist.« (A. a. O., S. 251.) 41985,

148

Renaissance des habitus-Gedankens

(3) In dieser Allgemeinheit ist freilich das aristotelische Anliegen nicht deutlich erfaßt; Platon und die Stoiker würden ungefähr das gleiche sagen. Vielmehr ist ein dialektisches Moment hervorzuheben: die menschliche Vernunft vollbringt ihre normale Höchstleistung (»normal«, insofern es um »Tätigkeiten […] menschlicher Art«,607 nicht um die göttliche Lebensform der Kontemplation geht) nicht, indem sie sich selbst, sondern indem sie die ihr anvertraute Sinnlichkeit bewegt – indem sie in dieser das höchstmögliche Maß an Selbstbewegung induziert.608 Indem die Sinnlichkeit Anteil am λóγος gewinnt, kommt die menschliche φúσις zur Vollendung – was hindert uns zu sagen: zur Freiheit? (Analog einem scholastischen Axiom: libertas non tollit naturam, sed perficit eam.) In der Form ρετ-gerechten Handelns zeigt sich die λóγος-Natur des Menschen; dieses Sichzeigen des λóγος in der Sinnlichkeit ist Freiheit. So läßt sich den Alten ein Begriff von Freiheit restituieren, der sich als Alternative zu Kant, als dessen Überwindung oder besser, mit Schiller: als konsequentes Zu-Ende-Denken Kants erweist. 2. Die punktuelle Perspektive der Kantischen Ethik Kants Ansatz in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und in der Kritik der praktischen Vernunft läuft auf eine Desinkarnation der Vernunft hinaus: Der Wert einer Handlung wird alsdann erst offenbar, wenn ein nicht zum Guten geneigter Mensch sich mittels Reflexion auf den kategorischen Imperativ klarmacht, daß sein Handeln als das eines Vernunftwesens den Standards des Sittengesetzes zu genügen hat.609 Aber erschöpft sich die Kraft des Guten darin, daß sich der schlechte Mensch auf seine Pflicht besinnt und sich, entgegen seiner Neigung, von der Pflicht motivieren läßt? Dann könnten, paradoxerweise, nur schlechte Menschen gut handeln.

607

Nik. Ethik, X, 8 (1178 a 9f.); Hervorh. a. a. O., S. 251. – Das vorige Zitat hingegen beschrieb die eher göttliche als menschliche theoretische Tätigkeit (Nik. Ethik, X, 7; bes. 1177 a 18, b 30f.). 608 Thomas von Aquin drückt es so aus: »die Bewegung der Tugend […] geht aus von der Vernunft und endigt im Strebevermögen, insofern dieses von der Vernunft bewegt wird.« »Motus virtutis est […] principium habens in ratione et terminum in appetitu, secundum quod a ratione movetur.« Summa theol., I–II, qu. 59, a. 1 (Deutsche Thomas-Ausgabe, Bd. 11, S. 185). 609 Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785; Akademie-Ausgabe, Bd. IV, S. 398): »[…] die Handlung ohne alle Neigung, lediglich aus Pflicht, […] hat allererst ihren echten moralischen Wert.« Vgl. ebd., S. 425. Vgl. Kritik der praktischen Vernunft (1788): »Es ist von der größten Wichtigkeit, in allen moralischen Beurteilungen auf das subjektive Prinzip aller Maximen mit der äußersten Genauigkeit Acht zu haben, damit alle Moralität der Handlungen in der Notwendigkeit derselben aus Pflicht und aus Achtung fürs Gesetz, nicht aus Liebe und Zuneigung zu dem, was die Handlungen hervorbringen sollen, gesetzt werde.« (Ak.-Ausg., Bd. V, S. 81.)

Habitus als Freiheit: Schillers Kant-Kritik

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Es kann aber nicht das Ziel der Ethik sein, schlechte Menschen zu guten Handlungen zu bringen, sondern: aus schlechten gute Menschen zu machen. Das ist die andere Seite der erwähnten Paradoxie: bei guten Menschen – also solchen, die ihre dem Sittengesetz entgegenstehenden Neigungen überwunden und diese mit jenem zur Übereinstimmung gebracht haben (das wäre der Fall des tugendhaften, habitusgeprägten Menschen) – zeigt sich der Wert der Handlung nicht, eben weil es nicht zum Kampf des Pflichtbewußtseins mit den Neigungen kommt. Zugespitzt gesagt: gute Menschen handeln nie erkennbar gut (nur schlechte). Hinter diesem Paradox verbirgt sich ein tieferliegendes Problem. Kant will nicht wahrhaben, daß jemand, der in Anerkennung des Sittengesetzes das Gute nicht nur widerwillig, sondern gern tut, moralisch höher steht »als die Person, die jeden Tag gegen die eigenen üblen Gefühle zu kämpfen hat«610 – vorausgesetzt er handle mit, nicht aus Neigung.611 Das Verstummen aller Neigungen vor der Pflicht, das die Kritik der praktischen Vernunft hymnenhaft preist,612 kann allenfalls ein Anfangsstadium, nicht das Optimum der Sittlichkeit bezeichnen. (Hier steckt, wenn man so will, noch das luthersche »simul iustus et peccator«: nur als Sünder kann der Mensch gerecht heißen, d. h., nur trotz seiner schlechten Neigungen gut handeln. Ein wirklich Gerechter, einer, der den Widerstreit von Pflicht und Neigung überwunden hat, scheint für Luther wie für Kant eine Fiktion zu sein. Das wäre u. U. ein Heiliger – aber was hat die Moral mit Heiligkeit zu tun?) Um der Kantischen Position zu Hilfe zu kommen, muß man eine Unterscheidung treffen, die Kant selbst nicht deutlich genug herausgearbeitet hat. Auf die Frage »wer handelt besser – der, dem es Freude macht, einem Bettler etwas zu schenken, weil ihm die Großzügigkeit zur zweiten Natur geworden ist – oder der, der erst mit Mühe seinen Geiz niederringt und schweren Herzens seine Börse öffnet?« würde Kant antworten: möglicherweise handeln beide gleich gut, aber im zweiten Fall kommt die moralische Güte der Handlung besser heraus. Aristoteles, Thomas von Aquin, Schiller und Scheler613 würden dagegen sagen: der erste handelt besser. 610

Vittorio Hösle: »Größe und Grenzen von Kants praktischer Philosophie«, in ders.: Praktische Philosophie in der modernen Welt, München 1992, S. 15–45, hier S. 36. 611 Vgl. Hans Reiner: Pflicht und Neigung. Die Grundlagen der Sittlichkeit, erörtert und neu bestimmt mit besonderem Bezug auf Kant und Schiller, Meisenheim/Glan 1951, S. 25f. 612 Kritik der praktischen Vernunft, Ak.-Ausg., Bd. V, S. 86. 613 Max Scheler: »[…] wer am wenigsten Widerstände gegen das Gute hat, der ist der Beste.« Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Bern 61980, S. 237. – Es ist allerdings nicht ganz zutreffend, wenn Scheler auf S. 236 schreibt: »Kant verwechselt offenbar dieses Offenbar werden der sittlichen Werte mit ihnen selbst.« Es werden nämlich bei Kant gar nicht verschiedene sittliche Werte – im Sinn der verschiedenen Tugenden – offenbar, sondern nur das eine, im kategorischen Imperativ formulierte, moralische Gesetz. – Kant geht es im übrigen nur darum, daß sich das moralische Gesetz Geltung verschafft, nicht darum, wie (in Übereinstimmung mit der Sinnlichkeit, oder gegen sie) es das tut.

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Renaissance des habitus-Gedankens

Aber eigentlich ist die Frage nicht ganz richtig gestellt. Wer sich mit Kant unter das moralische Gesetz beugt und dann in der Richtung einer bestimmten Tugend – also gerecht, hilfsbereit, tapfer usw. – handelt, tut ja zweierlei: er trifft eine Entscheidung gegen die egoistische Neigung, und er gibt – um im Beispiel zu bleiben – Almosen. Es sind also zwei Handlungen, die zur Betrachtung anstehen; das wird bei der Frage »Kant oder Aristoteles?« oft übersehen. Daß ein Geiziger sein hartes Herz überwindet und sich, wie zögerlich und unvollkommen auch immer, einem Bedürftigen zuwendet, ist freilich eine großartigere Tat, als wenn ein im Guten Geübter lächelnd von dem Seinigen mitteilt. Aber im ersten Fall sind es eben, genau genommen, zwei Taten. Es kommt also darauf an, was man vergleichen will: die Handlung »Almosengeben«, subsumierbar unter eine bestimmte ethische Qualifiziertheit (Gerechtigkeit, Großzügigkeit, Barmherzigkeit), ist als solche bei dem, dem sie leichtfällt, besser und wertvoller als bei dem, der sie nur mit Widerstand und nur mit einem Teil seiner selbst fertigbringt. Es ist die zusätzliche Handlung »Selbstüberwindung, Revision einer egozentrischen Einstellung«, die das Verhalten des vormals Geizigen so wertvoll macht. Dieser zusätzlichen Handlung hat derjenige, dem das Gute bereits in Fleisch und Blut übergegangen ist, nichts an die Seite zu stellen – seine Grundsatzentscheidung ist schon viel früher gefallen und steht beim einzelnen Akt des Schenkens nicht mehr zur Debatte. Es leuchtet ein, daß der dramatische Moment der Umkehr zum Guten einen besonderen sittlichen Wert beinhaltet; andererseits ist diese Momentaufnahme nur ein, wenn auch hervorragender Aspekt des Weges zur vollendeten Gestalt des Guten. – Weil Kant die sichtbare Handlung, die einer bestimmten Situation angemessen ist, von der – jener zugrunde liegenden – unsichtbaren Handlung der Orientierung im Guten nicht ausdrücklich abhebt, und weil er zudem nach der moralischen Qualität von Handlungen fragt und nicht nach der des handelnden Menschen, 614 kommt es zu der Dissonanz zwischen Ethik und Anthropologie;615 mit Schiller zu sprechen: zwischen dem Guten und dem Schönen.

614

Immer wieder betont Kant die Gültigkeit des Sittengesetzes für alle Vernunftwesen und nicht nur für den Menschen: »Denn Pflicht soll praktisch-unbedingte Notwendigkeit der Handlung sein; sie muß also für alle vernünftige Wesen […] gelten […]« Grundlegung zur Metaphsik der Sitten, a. a. O., S. 425; vgl. ebd., S. 389, 408, 426, 431, 442. 615 An diesem Gegensatz hält auch der späte Kant der Metaphysik der Sitten (1797) fest: »eine Metaphysik der Sitten kann nicht auf Anthropologie gegründet […] werden.« (Ak.-Ausg., Bd. VI, S. 217.) Vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, a. a. O., S. 410: »Es ist aber eine solche völlig isolierte Metaphysik der Sitten, die mit keiner Anthropologie, mit keiner Theologie, mit keiner Physik […] vermischt ist, […] ein Desiderat von der höchsten Wichtigkeit […]«

Habitus als Freiheit: Schillers Kant-Kritik

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Auch Kant ist – vielleicht auf Grund der Schillerschen Kritik – bei seinem blinden Fleck nicht stehengeblieben. Aber die Ansätze zu einer Revision des eigenen Ansatzes in der Kantischen Spätphilosophie werden uns noch beschäftigen.

3. Schönheit als Vollendung moralischer Güte a) In den Kallias-Briefen Schiller möchte die Ethik Kants nicht desavouieren (die bekannten Distichen aus den Xenien616 erwecken diesen Eindruck), sondern die Ethik wieder mit der Anthropologie zusammenführen, das Gute um das Schöne ergänzen. In einem Brief an seinen Freund Christian Gottfried Körner vom 18. Februar 1793 erläutert Schiller in einem Gleichnis, was er unter moralischer Schönheit versteht.617 »„Ein Mensch ist unter Räuber gefallen, die ihn nackend ausgezogen und bei einer strengen Kälte auf die Straße geworfen haben. Ein Reisender kommt an ihm vorbei, dem klagt er seinen Zustand und fleht ihn um Hülfe. ‚Ich leide mit dir‘, ruft dieser gerührt aus, ‚und gerne will ich dir geben, was ich habe. Nur fodre keine andern Dienste, denn dein Anblick greift mich an. Dort kommen Menschen, gib ihnen diese Geldbörse, und sie werden dir Hülfe schaffen.‘ – ‚Gut gemeint‘, sagte der Verwundete, ‚aber man muß auch das Leiden sehen können, wenn die Menschenpflicht es fodert. Der Griff in deinen Beutel ist nicht halb soviel wert als eine kleine Gewalt über deine weichlichen Sinne.‘“ Was war diese Handlung? Weder nützlich, noch moralisch, noch großmütig, noch schön. Sie war bloß passioniert, gutherzig aus Affekt. „Ein zweiter Reisende erscheint, der Verwundete erneuert seine Bitte. Diesem zweiten ist sein Geld lieb, und doch möchte er gern seine Menschenpflicht erfüllen. ‚Ich versäume den Gewinn eines Guldens‘, sagte er, wenn ich die Zeit mir dir verliere. Willst du mir soviel, als ich versäume, von deinem Gelde geben, so lade ich 616

Gewissensskrupel Gerne dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung, Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin. Decisum Da ist kein anderer Rat, du mußt suchen, sie zu verachten, Und mit Abscheu alsdann tun, wie die Pflicht dir gebeut. Schiller: Sämtliche Werke, hrsg. von G. Fricke und H. G. Göpfert, 1. Bd., München/Darmstadt 81987, S. 299f. 617 Erst 1847 veröffentlicht, jetzt unter dem Titel: Kallias oder über die Schönheit, in: Sämtliche Werke, hrsg. von G. Fricke und H. G. Göpfert, 5. Bd., Darmstadt 91993, S. 405ff. (Hervorh. im Orig.)

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dich auf meine Schultern und bringe dich in einem Kloster unter, das nur eine Stunde von hier entfernt liegt.‘ – ‚Eine kluge Auskunft‘, versetzt der andre. ‚Aber man muß bekennen, daß deine Dienstfertigkeit dir nicht hoch zu stehen kommt. Ich sehe dort einen Reuter kommen, der mir die Hülfe umsonst leisten wird, die dir nur um einen Gulden feil ist.‘“ Was war nun diese Handlung? Weder gutherzig, noch pflichtmäßig, noch großmütig, noch schön. Sie war bloß nützlich. „Der dritte Reisende steht bei dem Verwundeten still und läßt sich die Erzählung seines Unglücks wiederholen. Nachdenkend und mit sich selber kämpfend steht er da, nachdem der andre ausgeredet hat. ‚Es wird mir schwer werden‘, sagt er endlich, ‚mich von dem Mantel zu trennen, der meinem Körper der einzige Schutz ist, und dir mein Pferd zu überlassen, da meine Kräfte erschöpft sind. Aber die Pflicht gebietet mir, dir zu dienen. Besteige also mein Pferd und hülle dich in meinen Mantel, so will ich dich hinführen, wo dir geholfen werden kann.‘ – ‚Dank dir, braver Mann, für deine redliche Meinung‘, erwidert jener, ‚aber du sollst, da du selbst bedürftig bist, um meinetwillen kein Ungemach leiden. Dort sehe ich zwei starke Männer kommen, die mir den Dienst werden leisten können, der dir sauer wird.‘“ Diese Handlung war rein (aber auch nicht mehr als) moralisch, weil sie gegen das Interesse der Sinne, aus Achtung fürs Gesetz unternommen wurde. „Jetzt nähern sich die zwei Männer dem Verwundeten und fangen an, ihn um sein Unglück zu befragen. Kaum eröffnet er den Mund, so rufen beide mit Erstaunen: ‚Er ists! Es ist der nämliche, den wir suchen.‘ Jener erkennt sie und erschrickt. Es entdeckt sich, daß beide ihren abgesagten Feind und Urheber ihres Unglücks in ihm erkennen und dem sie nachgereist sind, um eine blutige Rache an ihm zu nehmen. ‚Befriedigt jetzt euren Haß und eure Rache‘, fängt jener an, ‚der Tod und nicht Hülfe ist es, was ich von euch erwarten kann.‘ – ‚Nein‘, erwidert einer von ihnen, ‚damit du siehst, wer wir sind und wer du bist, so nimm diese Kleider und bedecke dich. Wir wollen dich zwischen uns in die Mitte nehmen und dich hinbringen, wo dir geholfen werden kann.‘ – ‚Großmütiger Feind‘, ruft der Verwundete voll Rührung, ‚du beschämst mich, du entwaffnest meinen Haß. Komm jetzt, umarme mich und mache deine Wohltat vollkommen durch eine herzliche Vergebung.‘ – ‚Mäßige dich, Freund‘, erwidert der andere frostig. ‚Nicht weil ich dir verzeihe, will ich dir helfen, sondern weil du elend bist.‘ – ‚So nimm auch deine Kleidung zurück‘, ruft der Unglückliche, indem er sie von sich wirft. ‚Werde aus mir, was da will. Eher will ich elendiglich umkommen, als einem stolzen Feind meine Rettung verdanken.‘ Indem er aufsteht und den Versuch macht, sich wegzubegeben, nähert sich ein fünfter Wanderer, der eine schwere Last auf dem Rücken trägt. ‚Ich bin so oft getäuscht worden‘, denkt der Verwundete, ‚und der sieht mir nicht aus wie einer, der mir helfen wollte. Ich will ihn vorübergehen lassen.‘ – Sobald der Wanderer ihn ansichtig wird, legt er seine Bürde nieder. ‚Ich sehe‘, fängt er aus eignem Antrieb

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an, ‚daß du verwundet bist und deine Kräfte dich verlassen. Das nächste Dorf ist noch ferne, und du wirst dich verbluten, ehe du davor anlangst. Steige auf meinen Rücken, so will ich mich frisch aufmachen und dich hinbringen.‘ – ‚Aber was wird aus deinem Bündel werden, das du hier auf freier Landstraße zurücklassen mußt?‘ – ‚Das weiß ich nicht, und das bekümmert mich nicht‘, sagt der Lastträger. ‚Ich weiß aber, daß du Hülfe brauchst und daß ich schuldig bin, sie dir zu geben.‘“« Schon am nächsten Tag liefert Schiller selbst die Interpretation der Geschichte.618 »Die Schönheit der fünften Handlung muß in demjenigen Zuge liegen, den sie mit keiner der vorhergehenden gemein hat. Nun haben: 1. Alle fünf helfen wollen. 2. Die meisten haben ein zweckmäßiges Mittel dazu erwählt. 3. Mehrere wollten es sich etwas kosten lassen. 4. Einige haben eine große Selbstüberwindung dabei bewiesen. Einer darunter hat aus dem reinsten moralischen Antrieb gehandelt. Aber nur der fünfte hat unaufgefodert und ohne mit sich zu Rate zu gehen geholfen, obgleich es auf seine Kosten ging. Nur der fünfte hat sich selbst ganz dabei vergessen und seine ›Pflicht mit einer Leichtigkeit erfüllt, als wenn bloß der Instinkt aus ihm gehandelt hätte‹. – Also wäre eine moralische Handlung alsdann erst eine schöne Handlung, wenn sie aussieht wie eine sich von selbst ergebende Wirkung der Natur. […] Aus diesem Grunde ist das Maximum der Charaktervollkommenheit eines Menschen moralische Schönheit, denn sie tritt nur alsdann ein, wenn ihm die Pflicht zur Natur geworden ist.« Eigentlich erübrigt sich jeder weitere Kommentar. Natürlich ist es ein Kunstgriff Schillers, daß sein Verwundeter nur durch eine moralisch schöne Tat gerettet werden will; ansonsten hätte er insbesondere mit den Angeboten des aus Affekt guten ersten oder des aus Achtung fürs Gesetz handelnden dritten Reisenden zufrieden sein können. Aber der kunstvolle Aufbau der Episode überbietet den Kantischen Standpunkt gleich zweimal. Die hilfsbereiten Feinde handeln noch edler, doch die Wohltat ohne Vergebung bleibt unvollkommen. Obwohl Schiller hier nur von der Schönheit der Handlung spricht, wird klar, daß eine schöne Handlung nicht ein isoliertes Ereignis sein kann, sondern daß sie – wie in Über Anmut und Würde noch ausgeführt werden wird – Ausdruck einer »schönen Seele« ist. Punktuelle Hintanstellung eigener Interessen aus Edelmut, das ist, neben der sauren Pflichterfüllung des Kantianers, das Höchste, was auf Erden erwartet werden kann. So bricht der anspruchsvolle Verwundete mit eigenen Kräften auf. Da ergreift der fünfte Wanderer von sich aus die Initiative – er muß weder über den Stand der Dinge unterrichtet noch eigens um Hilfe gebeten werden (das war in den ersten drei Fällen so, im vierten bereits nicht mehr); er handelt spontan (»ohne mit sich zu Rat zu gehen«) und ohne Reflexion (er »hat sich selbst ganz dabei vergessen«); seine 618

Brief an Körner vom 19. Februar 1793, ebd., S. 407. (Hervorh. im Orig.)

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Güte ist ihm zur zweiten Natur geworden (das Innere der stolzen Feinde ist hingegen nicht wirklich offen für den anderen). Wir kennen die Abwesenheit der Reflexion als Charakteristik des habitusgeleiteten Handelns.619 Schiller zeigt, daß in der Reflexion eine Unvollkommenheit, ein ästhetischer Mangel liegt. In der Tat: wer erst den kategorischen Imperativ bemühen muß, um sich zum Unterlassen einer Schändlichkeit oder zu einer guten Handlung zu motivieren, ist nicht wirklich, nicht ganz (»mit Haut und Haar«) vom Guten überzeugt.620 Wer andererseits Reflexion im Sinn von Selbstbezogenheit in sein Handeln bringt (beide Arten der Reflexion sind beim dritten Reisenden präsent, er reflektiert sowohl auf die Pflicht als auch auf die Unannehmlichkeit, die ihm aus dem Verzicht auf Mantel und Pferd erwächst), handelt unschön. (Das tut auch z. B. der Freund, der erst großzügig ein Taxi bestellt, um seinen Gast trocknen Fußes zum Bahnhof zu bringen, und dann auf der Ausstellung einer Quittung besteht, damit er die Einbuße von der Steuer absetzen kann. – Es gibt aber noch viel subtilere Formen unschöner Reflexion, etwa: einen Brief unnötig mit selbstbezüglichen Wendungen anzufangen wie »gerade aus dem Urlaub zurückgekehrt, finde ich Ihr Schreiben vor«, usw. – das ganze Feld von Pascals »le moi est haïssable«.621) Selbstvergessenheit ist ein Zustand, der die Reflexion hinter sich gelassen, nicht einer, der sie noch vor sich hat – insofern ist mit dieser durch die Reflexion hindurchgegangenen Spontaneität eine höhere Form moralischen Bewußtseins erreicht als die unvermittelte kindliche Naivität bzw. als die intellektuelle Reflektiertheit.622 – 619

Thomas von Aquin: »Eine Handlung ist um so mehr vom habitus, je weniger sie aus Vorbedacht geschieht. […] das Plötzliche [im Handeln] geschieht dem habitus gemäß.« »Ab habitu enim magis est operatio, quanto minus est ex praemeditatione. […] repentina sunt secundum habitum.« De veritate, qu. 24, a. 12. Vgl. Nik. Ethik, III, 11 (1117 a 19–22). 620 Ganz ähnlich die Konzeption des Guten bei Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809), hrsg. von Th. Buchheim, Hamburg 1997, S. 64: »Derjenige ist nicht gewissenhaft, der sich im vorkommenden Fall noch erst das Pflichtgebot vorhalten muß, um sich durch Achtung für dasselbe zum Rechttun zu entscheiden. Schon der Wortbedeutung nach läßt Religiosität keine Wahl zwischen Entgegengesetztem zu, kein aequilibrium liberi arbitrii (die Pest aller Moral); sondern nur die höchste Entschiedenheit für das Rechte, ohne alle Wahl.« Schelling bringt das Beispiel Catos, »dem ein Alter jene innere und fast göttliche Notwendigkeit des Handelns zuschreibt, indem er sagt, er sei der Tugend am ähnlichsten gewesen, indem er nie recht gehandelt, damit er so handelte (aus Achtung für das Gebot); sondern weil er gar nicht anders habe handeln können.« Ebd., S. 64f. 621 Pascal: Pensées, Frgm. 455 (ed. Brunschvicg). – Handeln »ohne Reflexion« meint freilich nicht »ohne Bewußtsein«. Schiller hat den fünften Helfer gegenüber dem ersten ausdrücklich ausgezeichnet durch das Bewußtsein, »daß du Hülfe brauchst und daß ich schuldig bin, sie dir zu geben.« – Vgl. Nik. Ethik, II, 3 (1105 a 31f.). 622 Der Gedanke findet sich (allerdings eher durch Schillers spätere Schriften vermittelt) wieder bei Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797), in: Historisch-kritische Ausgabe, Werke, Bd. 5, Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 71: »[…] der Mensch ist zum Handeln gebohren.

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Schönheit bezeichnet die Stimmigkeit verschiedener Elemente. Schöne Handlungen »stimmen«; bei unschönen (die deshalb nicht gleich unmoralisch sein müssen) stimmt etwas nicht. (Daraus läßt sich ein Indiz für die moralische Beurteilung von Handlungen gewinnen: Es scheint, daß nur gute, nie aber schlechte Handlungen schön sein können.623 Schön die Ehe brechen, schön lügen, schön die Steuern hinterziehen – das ist ein Widerspruch, weil in all diesen Handlungen etwas nicht stimmt. Sie können stimmig scheinen, solange eines der sie konstituierenden Elemente ausgeblendet wird. Im Genuß des perfekt inszenierten Seitensprungs braucht der betreffende Ehemann sich nur einen Augenblick zu vergegenwärtigen, wie seine Frau auf ihn wartet, und schon wird klar, daß seine Situation nicht »stimmt«.) Schiller fährt fort:624 »Offenbar hat die Gewalt, welche die praktische Vernunft bei moralischen Willensbestimmungen gegen unsere Triebe ausübt, etwas Beleidigendes, etwas Peinliches in der Erscheinung. Wir wollen nun einmal nirgends Zwang sehen, auch nicht, wenn die Vernunft selbst ihn ausübt; auch die Freiheit der Natur wollen wir respektiert wissen, weil […] es uns, denen Freiheit das Höchste ist, ekelt (empört), daß etwas dem anderen aufgeopfert werden und zum Mittel dienen soll. Daher kann eine moralische Handlung niemals schön sein, wenn wir der Operation zusehen, wodurch sie der Sinnlichkeit abgeängstigt wird.« »Freiheit in der Erscheinung ist eins mit der Schönheit«,625 so lautet der nächste Hauptsatz von Schillers Herleitung, die zielstrebig auf die aristotelische Einsicht hinausläuft, daß die Idee sich inkarnieren, das Gute in Erscheinung treten müsse.626 Solange das Werk der Vernunft im »Niederschlagen« bzw. »Überwältigen«627 der

Je weniger er aber über sich selbst reflektirt, desto thätiger ist er. Seine edelste Thätigkeit ist die, die sich selbst nicht kennt. So bald er sich selbst zum Objekt macht, handelt nicht mehr der ganze Mensch, er hat einen Theil seiner Thätigkeit aufgehoben, um über den andern reflektiren zu können.« – Hinweis bei Hans-Georg Pott (s. u., Anm. 672), S. 149, Anm. 18. Vgl. Robert Spaemann: Reflexion und Spontaneität. Studien über Fénelon, Stuttgart 21990. Die Nähe Schillers zu Fénelon (vgl. ebd., S. 282) zeigt sich kurioserweise auch in der Inanspruchnahme eines Fénelonschen Titels für eine Serie von Federzeichnungen, die Schiller, versehen mit Begleittexten des gemeinsamen Freundes F. Huber, Körner 1786 zum Geburtstag überreichte: Avanturen des neuen Telemach oder Leben und Exsertionen Koerners […] Vgl. Schiller: Sämtliche Werke, hrsg. von G. Fricke und H. G. Göpfert, 2. Bd., München/Darmstadt 1981, S. 1297f. 623 Vgl. Colin McGinn: Ethics, Evil, and Fiction, Oxford 1997, Kap. 5: »Beauty of Soul«, S. 92–122, bes. S. 100–102, hier S. 102: »[…] we cannot conceptually disconnect the moral and aesthetic dimensions.« 624 Schiller: Brief an Körner vom 19. Februar 1793, a. a. O., S. 407. (Hervorh. von mir.) 625 A. a. O., S. 409. 626 Vgl. Anm. 77. 627 Vgl. Kant: Die Metaphysik der Sitten (Ak.-Ausg., Bd. VI, S. 481): »Daß du durch deine Vernunft deine Neigung einschränken und überwältigen kannst, das ist die Freiheit deines Willens.« – Vgl. Kritik der praktischen Vernunft; Ak.-Ausg., Bd. V, S. 73, 77.

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Sinnlichkeit besteht, kann es bestenfalls im Anfang begriffen sein – wie wir ja auch das Werk eines Pädagogen, dessen Wink der Zögling mit Freuden folgt, für weiter fortgeschritten halten, als wenn es für jede Bewegungsinduktion eine Tracht Prügel braucht. Wie weit reicht die verwandelnde Kraft der Vernunft in der Sinnlichkeit? Der Schluß des Briefes an Körner klingt fast wie ein Rückzieher:628 »Unsre sinnliche Natur muß also im Moralischen frei erscheinen, obgleich sie es nicht wirklich ist, und es muß das Ansehen haben, als wenn die Natur bloß den Auftrag unsrer Triebe vollführte, indem sie sich, den Trieben gerade entgegen, unter die Herrschaft des reinen Willens beugt.« Soll das erscheinen, was in Wirklichkeit nicht ist, und soll die Natur sich selbst verleugnen (»den Trieben gerade entgegen«), so wäre der Wert einer solchen ScheinHarmonie von Natur und Freiheit fraglich. Schiller steht vor der schwierigen Aufgabe, die Harmonie von Vernunft und Sinnlichkeit so zu erklären, daß einerseits die Vernunft im Medium der Sinnlichkeit angemessen (wirklich, nicht scheinbar) zur Erscheinung kommt und andererseits die Sinnlichkeit ihre Natürlichkeit behält. Es ist die alte Frage, ob die Vernunft vor Gefühl und Leidenschaft haltmacht (allenfalls diese »niederschlagend«), oder ob sie darin adäquaten Ausdruck findet – der Ausdruck von Freiheit muß aber wieder wirkliche Freiheit sein, denn mit einer Instrumentalisierung der Sinnlichkeit ist es nicht getan.629 Wie weit also reicht die verwandelnde Kraft der Vernunft, wie weit die Disponibilität der Sinnlichkeit? Die Frage muß anders gestellt werden. Wenn die Vernunft aus der Sinnlichkeit etwas ganz anderes machen soll, dann kann ja von einer Autonomie der letzteren nicht die Rede sein; ist die Sinnlichkeit aber dazu begabt, die Vernunft zur Erscheinung zu bringen, so muß ihr diese Fähigkeit von Anfang an eignen, sie kann nicht erst vernunftinduziert sein. Solange man im Dualismus verbleibt, ist das Problem nicht zu lösen; sobald man sich von ihm befreit, kann es gar nicht auftreten. D. h., die Sinnlichkeit hat entweder immer schon Anteil an der Vernunft, oder sie gewinnt ihn nie (gewönne sie ihn, so verlöre sie sich selbst). Denn

628

Schiller: Brief an Körner vom 19. Februar 1793, a. a. O., S. 407f. – Vgl. die fast gleichlautende Formulierung in: Aus den ästhetischen Vorlesungen, in: Sämtliche Werke, 5. Bd., a. a. O., S. 1027. 629 Aristoteles hatte die Frage beantwortet durch das Seelen-Modell, bei dem sich die Affekte zur Vernunft verhalten »wie ein Kind, das auf seinen Vater hört« (Nik. Ethik, I, 13 – wie Anm. 601, S. 25 –, 1103 a 3); Thomas von Aquin folgt ihm an zahllosen Stellen, die die Vollkommenheit und Intensität des guten Willens im Echo der Sinnlichkeit beglaubigt finden (vgl. Anm. 174, 177); Kierkegaard läßt mit dem Motto von Entweder–Oder »Ist denn Vernunft allein getauft/ Sind die Leidenschaften Heiden?« (aus Youngs Nachtgedanken) keinen Zweifel an seiner Position.

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das von sich aus Unvernünftige kann nicht es selber bleiben und zugleich Repräsentant der Vernunft sein. Unter den Kantischen Prämissen der Kallias-Briefe läßt sich die Erscheinung der Freiheit nicht widerspruchsfrei denken. In Über Anmut und Würde geht Schiller einen Schritt weiter:630 »Das Gebiet des Geistes erstreckt sich so weit, als die Natur lebendig ist, und endigt nicht eher, als wo das organische Leben sich in die formlose Masse verliert und die animalischen Kräfte aufhören. Es ist bekannt, daß alle bewegenden Kräfte im Menschen untereinander zusammenhängen, und so läßt sich einsehen, wie der Geist […] seine Wirkungen durch das ganze System derselben fortpflanzen kann.«

b) In der medizinischen Dissertation (1780) Schiller greift hier auf die Einsichten zurück, die er in seiner ersten bzw. dritten631 medizinischen Dissertation verteidigt hatte. 1780 hatte er im Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen (man beachte, wie lange ihn also dieses Thema schon beschäftigt!) über »die höheren moralischen Zwecke, die mit Beihülfe der tierischen Natur erreicht werden«,632 geforscht. »Tierische Triebe wecken und entwickeln die geistigen«,633 heißt es dort und »Sinnlichkeit [ist] die erste Leiter zur Vollkommenheit.«634 Schließlich wird ein »Fundamentalgesetz der gemischten Naturen« aufgestellt:635 »Die Tätigkeiten des Körpers entsprechen den Tätigkeiten des Geistes […] Da nun Vollkommenheit jederzeit mit Lust, Unvollkommenheit mit Unlust verbunden ist, so kann man dieses Gesetz auch also ausdrücken: Geistige Lust hat

630

Schiller: Über Anmut und Würde (1793), in: Sämtliche Werke, hrsg. von G. Fricke und H. G. Göpfert, 5. Bd., Darmstadt 91993, S. 444 (Hervorh. im Orig.). 631 Die im November 1779 bei der medizinischen Fakultät der Herzoglichen Militärakademie in Stuttgart eingereichte Arbeit Philosophie der Physiologie wurde abgelehnt, die ein Jahr später vorgelegte Dissertation De discrimine febrium inflammatoriarum et putridarum ebenfalls; erst im dritten Anlauf (der wohl die erste, nur im Fragment erhaltene Schrift wieder aufnimmt), dem Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen, gelingt es Schiller, die Kommission zu überzeugen. Vgl. Schiller: Medizinische Schriften, o. O. o. J. (ca. 1959), S. 12f. 632 Schiller: Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen, in: Sämtliche Werke, hrsg. von G. Fricke und H. G. Göpfert, 5. Bd., Darmstadt 91993, S. 291; vgl. Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der »Philosophischen Briefe«, Würzburg 1985, bes. S. 100–151. 633 A. a. O., S. 298. 634 Ebd., S. 306, Hervorh. im Orig. 635 Ebd., Hervorh. im Orig.

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jederzeit eine tierische Lust, geistige Unlust jederzeit eine tierische Unlust zur Begleiterin.« Daß beim Menschen »beide Naturen, geistige und tierische, also eng ineinander verschlungen [sind], daß ihre Modifikationen sich wechselsweise mitteilen und verstärken«,636 bedeutet kein Defizit, sondern Einheit, ja Perfektion:637 »Dies ist die wunderbare und merkwürdige Sympathie, die die heterogenen Prinzipien des Menschen gleichsam zu einem Wesen macht, der Mensch ist nicht Seele und Körper, der Mensch ist die innigste Vermischung dieser beiden Substanzen. […] Genug, deucht es mich, ist es nunmehr bewiesen, daß die tierische Natur mit der geistigen sich durchaus vermischet, und daß diese Vermischung Vollkommenheit ist.« Schon hier erkennt Schiller in diesem Sachverhalt eine ästhetische Dimension:638 »Und zwar ist dies ein bewundernswürdiges Gesetz der Weisheit, daß jeder edle und wohlwollende [Affekt] den Körper verschönert, den der niederträchtige und gehässige in viehische Formen zerreißt.« Und schließlich wird die Verknüpfung von Anthropologie und Ethik, von Ästhetik und Ethik mit Worten geschildert, aus denen sich unschwer eine Umschreibung des habitus-Begriffs herauslesen läßt:639 »Wird der Affekt, der diese Bewegungen der Maschine sympathetisch erweckte, öfters erneuert, wird diese Empfindungsart der Seele habituell, so werden es auch diese Bewegungen dem Körper. Wird der zur Fertigkeit gewordene Affekt daurender Charakter, so werden auch diese konsensuellen Züge der Maschine tiefer eingegraben, sie […] werden endlich organisch.« Was ist der habitus anderes als ein »zur Fertigkeit gewordene[r] Affekt«?640 636

Ebd. Ebd., S. 312, 316 (zweite Hervorh. von mir). – Vorausgeht (ebd., S. 312) ein Vergleich, der an die »redundantia« bzw. »Resonanz« des Inneren im Äußeren (und umgekehrt) bei Thomas von Aquin erinnert (vgl. Anm. 177): »Man kann in diesen verschiedenen Rücksichten Seele und Körper nicht gar unrecht zweien gleichgestimmten Saiteninstrumenten vergleichen, die nebeneinandergestellt sind. Wenn man eine Saite auf dem einen rühret und einen gewissen Ton angibt, so wird auf dem andern eben diese Saite freiwillig anschlagen und eben diesen Ton, nur etwas schwächer, angeben. So weckt, vergleichungsweise zu reden, die fröhliche Saite des Körpers die fröhliche in der Seele, so der traurige Ton des ersten den traurigen in der zweiten.« 638 Ebd., S. 317 (Hervorh. im Orig.). – Die Formulierung verweist auf einen oft nicht wahrgenommenen Zusammenhang: Haß macht häßlich – Liebe schön. 639 Ebd., S. 318 (erste Hervorh. von mir). Schiller übernimmt die im Anschluß an Descartes übliche Bezeichnung des Leibes als Maschine, die im Duktus seiner anti-dualistischen Gedankenführung wie ein Fremdkörper wirkt. 640 Mit Aristoteles wäre zu ergänzen: eine Fertigkeit in Affekten (Leidenschaften) und Handlungen (Nik. Ethik, II, 5; 1106 b 16f., 24f.; II, 6, 1107 a 4f., 8f.; III, 1; 1109 b 30). Auch dieses Begriffspaar findet sich bei Schiller (a. a. O., S. 295). Woher diese Anklänge an Aristoteles kommen, bliebe genauer zu klären. Offenbar ist in der für Schillers Hintergrund so wichtigen Popularphilosophie eine Verbindung zu aristotelischer Ethik und Anthropologie präsent. Vgl. Fritz Theodor Widmaier: Die Weltanschauung und Ästhetik der Popularphilosophie und ihr Einfluss auf Friedrich Schiller, Ph. D. University of Southern Califor637

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c) In Über Anmut und Würde Kehren wir zu Über Anmut und Würde zurück. Erst indem Schiller seine »vor-kantische« Anthropologie641 wieder aufnimmt, kann er den Gedanken der schönen Handlung stringent entfalten. Die schöne Handlung ist nur zu begreifen als Ausdruck einer schönen Seele. Damit gewinnt Schiller eine Perspektive zurück, die sachlich an Aristoteles anschließt: Die Frage nach der Qualität der Handlung wird fundiert in der Frage nach dem Sein des Handelnden. »Der Mensch nämlich ist nicht dazu bestimmt, einzelne sittliche Handlungen zu verrichten, sondern ein sittliches Wesen zu sein. […] Daher sind bei einer schönen Seele die einzelnen Handlungen eigentlich nicht sittlich, sondern der ganze Charakter ist es. […] Die schöne Seele hat kein andres Verdienst, als daß sie ist.«642 Die Anknüpfung an die Figur des Lastträgers aus den Kallias-Briefen ist deutlich:643 »Mit einer Leichtigkeit, als wenn bloß der Instinkt aus ihr handelte, übt sie [die schöne Seele] der Menschheit peinlichste Pflichten aus, und das heldenmütigste Opfer, das sie dem Naturtriebe abgewinnt, fällt wie eine freiwillige Wirkung eben dieses Triebes in die Augen. Daher weiß sie selbst auch niemals um die Schönnia, 1968. Zu nennen sind hier insbesondere Christian Garve und Johann Georg Sulzer, bei denen man den habitus-Begriff in ähnlicher Weise umschrieben findet (ebd., S. 125, 127, 137, 181). Auch Adam Ferguson (dessen Grundsätze der Moralphilosophie Schiller durch Garves Übersetzung kannte) und sein Lehrer Thomas Reid (von dem Jakob Friedrich Abel, Schillers philosophischer Lehrer an der Karlsschule, beeinflußt war) gehören hierher (vgl. Riedel – wie Anm. 632 –, S. 218f.). Garve (1742–1798), einer der ersten Rezensenten der Kritik der reinen Vernunft, hat 1798 die beiden ersten Bücher der Nikomachischen Ethik neu übersetzt und mit einer separat gedruckten Uebersicht der vornehmsten Principien der Sittenlehre, von dem Zeitalter des Aristoteles an bis auf unsre Zeiten (Breslau 1798) eingeleitet. Die Uebersicht ist Kant gewidmet; vgl. den Text der Zueignung und den Begleitbrief an Kant in: Kant’s Briefwechsel, Ak.-Ausg., Bd. XII, S. 252–256. 641 »Schiller begreift […] den Menschen nicht primär als endliches Vernunftwesen, sondern als ein Wesen, das eine sinnlich-geistige Doppelnatur in sich vereinigt«, sagt richtig Manfred Brelage: »Schillers Kritik an der Kantischen Ethik«, in ders.: Studien zur Transzendentalphilosophie, Berlin 1965, S. 230–244, hier S. 237 (Hervorh. im Orig.). Daß Brelage dann das »proton pseudos der Schillerschen Kantkritik« darin erkennen will, daß Schiller »seinen eigenen Begriff der reinen Moralität Kant unterschiebt« (ebd., S. 238), scheint mir hingegen nicht überzeugend. Es ist Brelage zuzugeben, daß der Gegensatz von Pflicht und Neigung bei Kant nicht die ratio essendi, sondern die ratio cognoscendi des sittlichen Handelns ausmacht (S. 236). Skandalös bleibt aber in den Augen Schillers immer noch, daß es »im Rahmen seiner [Kants] ethischen Systematik für ihren moralischen Wert gleichgültig ist, ob eine vernünftige Willensbestimmung gegen oder in Übereinstimmung mit der Neigung erfolgt« (S. 236, Hervorh. im Orig.). Schillers anthropologischer Standpunkt fordert die Übereinstimmung der sinnlichen und der geistigen Natur des Menschen; Kants kritische Moralphilosophie hingegen ist für dieses Anliegen blind. 642 Über Anmut und Würde, a. a. O., S. 464, 468. – Auch Luigi Pareyson sieht hier die Nähe zu Aristoteles, »un sapore […] aristotelico«, in: Etica ed estetica in Schiller, Milano 1983, S. 92. 643 A. a. O., S. 468f. (vgl. Kallias-Briefe, a. a. O., S. 407).

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heit ihres Handelns, und es fällt ihr nicht mehr ein, daß man anders handeln und empfinden [man beachte den Anklang an die ›Affekte und Handlungen‹ in der Nik. Ethik, P. N.] könnte; dagegen ein schulgerechter Zögling der Sittenregel […] jeden Augenblick bereit sein wird, vom Verhältnis seiner Handlungen zum Gesetz die strengste Rechnung abzulegen. […] In einer schönen Seele also ist es, wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmonieren, und Grazie ist ihr Ausdruck in der Erscheinung.« Ist Schiller hier dem Verdacht, die Sinnlichkeit bzw. die Neigung sei zum Zweck der Harmonie durch die Vernunft instrumentalisiert, wirksam begegnet? Der Gedanke, den der Begriff der »schönen Seele« zur »schönen Handlung« hinzufügt, ist der einer substantiellen Natur, die als höheres Drittes Vernunft und Neigung eint:644 »Dadurch schon, daß sie ihn zum vernünftig sinnlichen Wesen, d. i. zum Menschen machte, kündigte ihm die Natur die Verpflichtung an, nicht zu trennen, was sie verbunden hat, auch in den reinsten Äußerungen seines göttlichen Teiles den sinnlichen nicht hinter sich zu lassen und den Triumph des einen nicht auf Unterdrückung des andern zu gründen. Erst alsdann, wenn sie aus seiner gesamten Menschheit als die vereinigte Wirkung beider Prinzipien hervorquillt, wenn sie ihm zur Natur geworden ist, ist seine sittliche Denkart geborgen […]« In diesem analogen Gebrauch des Begriffes »Natur« ist es nicht mehr angängig, Sinnlichkeit und Freiheit als krasse Gegensätze zu behandeln. Die höchstmögliche Aktualisierung der potentiellen Einstimmigkeit beider – das ist der Schritt von der reinen (desinkarnierten) zur menschlich vollkommenen moralischen Güte, d. h., zur Schönheit. Die Sinnlichkeit soll nicht (wie bei Kant) von der Vernunft überstimmt werden, sondern mit ihr »zusammenstimmen«.645 So bleibt zwar die Vernunft die eigentliche Triebfeder des sittlichen Handelns; der Konsens der Sinnlichkeit ist aber konstitutiv für dessen Vollendung – sozusagen den 644

Über Anmut und Würde, a. a. O., S. 465 (Hervorh. im Orig.). Vgl. ebd., S. 467: »Die menschliche Natur ist ein verbundeneres Ganze in der Wirklichkeit, als es dem Philosophen, der nur durch Trennen was vermag, erlaubt ist, sie erscheinen zu lassen.« – Einen ganz ähnlichen Gedanken äußert Hamann in seiner »Rezension zur Kritik der reinen Vernunft« (1781), in: S. Majetschak (Hrsg.): Vom Magus im Norden und der Verwegenheit des Geistes. Ein Hamann-Brevier, München 1988, S. 202: »Entspringen Sinnlichkeit und Verstand; als die zween Stämme der menschlichen Erkenntnis, aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel […]: wozu eine so gewalttätige, unbefugte Scheidung desjenigen, was die Natur zusammengefügt hat?« 645 Über Anmut und Würde, a. a. O., S. 463. Diese Stimmung muß erst erworben, d. h., »der Gehorsam gegen die Vernunft« muß »ein Objekt der Neigung werden« und so »einen Grund des Vergnügens abgeben« (ebd.). – Gedanke und Formulierung sind gut aristotelisch: »Daher muß beim Mäßigen der begehrende Seelenteil mit der Vernunft übereinstimmen (σωµφυνεν); denn beide haben das sittlich Schöne (τò καλóν) zum Ziel […]« Nik. Ethik, III, 15 (1119 b 15 f.); a. a. O. (wie Anm. 601), S. 72. – Vgl. Martha C. Nussbaum: The Therapy of Desire. Theory and Practice in Hellenistic Ethics, Princeton (New Jersey) 1994, Kap. 3: »Aristotle on Emotions and Ethical Health«, S. 78–101, hier S. 82.

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Inkarnationsgrad:646 »So gewiß ich nämlich überzeugt bin, daß der Anteil der Neigung an einer freien Handlung für die reine Pflichtmäßigkeit dieser Handlung nichts beweist, so glaube ich eben daraus folgern zu können, daß die sittliche Vollkommenheit des Menschen gerade nur aus diesem Anteil der Neigung an seinem moralischen Handeln erhellen kann. […] Wäre die sinnliche Natur im Sittlichen immer nur die unterdrückte und nie die mitwirkende Partei, wie könnte sie das ganze Feuer ihrer Gefühle zu einem Triumph hergeben, der über sie selbst gefeiert wird?« Allerdings ist die Berufung auf die Natur Mißverständnissen ausgesetzt. Die zitierte Stelle, wonach die sittliche Vollkommenheit »nur aus diesem Anteil der Neigung an seinem moralischen Handeln erhellen kann«, wird von Gerold Prauss so aufgefaßt, als wolle Schiller die Pflichterfüllung »ganz aus dem Bereich der praktischen Vernunft hinaus in den Bereich des nur noch Naturalen verlegen«.647 Prauss zufolge hätte Kant gegenüber Schiller geltend machen können:648 »So etwas wie Anmut ist grundsätzlich nur als Verdienst und somit auch auf jeden Fall als Handeln aufzufassen und nicht zu einer bloßen Sache der Natur herabzusetzen.« Gewiß, Schiller unterscheidet terminologisch nicht zwischen erster (angeborener) und zweiter (erworbener) Natur; aber es wäre eine willkürliche Unterstellung, die schöne Seele sei entweder angeboren oder gar nicht. Es geht nicht darum, die Anmut zur »bloßen Sache der Natur herabzusetzen«, sondern den Menschen zur schönen Seele hinaufzubilden:649 »Es ist dem Menschen zwar aufgegeben, eine innige Übereinstimmung zwischen seinen beiden Naturen zu stiften, immer ein harmonierendes Ganze zu sein und mit seiner vollstimmigen ganzen Menschheit zu handeln. Aber

646

Über Anmut und Würde, a. a. O., S. 464, 467 (Hervorh. im Orig.). – Zu der der Schillerschen Kant-Kritik ganz analogen Rehabilitation der Sinnlichkeit, wie sie Thomas von Aquin in seiner Auseinandersetzung mit der Stoa entwickelt hatte, vgl. Anm. 169–175. 647 G. Prauss (wie Anm. 595), S. 269f., Hervorh. von mir. 648 Ebd., S. 272, Hervorh. von mir. – Prauss hat recht, wenn er das »Unding eines ›Mithandelns‘ von sinnlicher Natur« ablehnt, da »Handeln doch unteilbar ist und auch ausschließlich Sache praktischer Vernunft sein kann« (ebd., S. 273). Aber es geht ja gerade um den Aufweis, daß die sinnliche Natur im Menschen der Vergeistigung fähig ist – und als solche, vernunftdurchwirkte Natur (habitus) legt sie Zeugnis von der Macht der praktischen Vernunft ab. 649 Über Anmut und Würde, a. a. O., S. 470. – Vgl. Aus den ästhetischen Vorlesungen ( Jena 1792/93), in: Sämtliche Werke, 5. Bd., a. a. O., S. 1041: »Das Schöne beschäftigt und kultiviert Vernunft und Sinnlichkeit, befördert durch Vereinigung ihres Bundes die Humanität, stiftet Vereinigung zwischen der physischen und moralischen Natur des Menschen. […] aber aller Weg zur Vortrefflichkeit geht durch die Mühe. […] Das Schöne veredelt die Sinnlichkeit und versinnlicht die Vernunft.« (Beide Hervorh. von mir.) Vgl. Pareyson (wie Anm. 642), S. 119, 153: »Die schöne Seele ist eine solche nicht, weil sie den Kampf von Rationalität und Sinnlichkeit nicht kennte, sondern weil sie ihn schon überwunden hat. […] die schöne Seele ist nicht spontane Harmonie von Sinnlichkeit und Rationalität, wie das gute Herz, sondern erworbene Spontaneität […]«

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diese Charakterschönheit, die reifste Frucht seiner Humanität, ist bloß eine Idee, welcher gemäß zu werden er mit anhaltender Wachsamkeit streben, aber die er bei aller Anstrengung nie ganz erreichen kann.« In Prauss’ Rekonstruktion steht dem Fehler Kants »daß er der menschlichen Freiheit zu wenig zugetraut habe«,650 die Kritik Schillers gegenüber, »daß Kant der menschlichen Natur zu wenig zugetraut habe«;651 statt der von Kant nicht erreichten »Konzeption der für sich selber praktischen Vernunft als äußerster Freiheit«652 setzt sich Schillers »romantische Idee einer schon von sich aus mit der Vernunft im Einklang handelnden Natur«653 durch. Unter Zugrundelegung der Schillerschen Anthropologie wäre es richtig zu sagen, daß Kant weder der Freiheit noch der Natur genügend zugetraut hat und daß sehr wohl Schiller das Verdienst zugesprochen werden kann, hier über Kant hinaus654 (bzw., mit Rücksicht auf den habitus-Gedanken: hinter Kant zurück) gegangen zu sein. Denn in Kants kritischer Moralphilosophie bleibt die praktische Vernunft dabei stehen, ihre Triebfedern von allem, was nicht Vernunft (d. h., Natur, Neigung) ist, zu reinigen (sie befreit sich von der Passivität der Sinnlichkeit); bei Schiller geht ihre Macht soweit, das Irrationale im Menschen in Einklang mit der Vernunft zu bringen (sie teilt der Sinnlichkeit von ihrer eigenen Aktivität mit).655 650

Prauss, a. a. O., S. 275. Ebd., S. 275f. 652 Ebd., S. 275. 653 Ebd., S. 276. – Prauss ist zugute zu halten, daß Schillers Formulierungen gelegentlich an Klarheit zu wünschen übrig lassen. Etwa die Stelle »Die Anmut läßt der Natur da, wo sie die Befehle des Geistes ausrichtet, einen Schein von Freiwilligkeit […]« (Über Anmut und Würde, a. a. O., S. 477) erweckt wieder den Eindruck, die Natur sei hier nicht wirklich frei, sondern Instrument einer ihr heterogenen Vernunft (vgl. die Kritik von Prauss, a. a. O., S. 274f.). Doch ohne die Voraussetzung einer zwar nicht von sich aus (in actu) freien, aber auf Freiheit angelegten – also im Sinne von Tugend bzw. habitus wandelbaren – Sinnlichkeit bliebe Schillers ganze Bemühung unverständlich. – Der von Prauss zu Recht beanstandeten Stelle wäre entgegenzuhalten Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 23. Brief, in: Sämtliche Werke, 5. Bd., a. a. O., S. 644, Anm. 1: »Ein edler Geist begnügt sich nicht damit, selbst frei zu sein, er muß alles andere um sich her, auch das Leblose in Freiheit setzen. [Hier, und nicht in der menschlichen Sinnlichkeit, wäre der rechte Ort der scheinbaren Freiheit, P. N.] Der Moralphilosoph lehrt uns zwar, daß man nie mehr tun könne als seine Pflicht, und er hat vollkommen recht, wenn er bloß die Beziehung meint, welche Handlungen auf das Moralgesetz haben.« Doch die Pflicht kann »nur vorschreiben […], daß der Wille heilig sei, nicht daß auch schon die Natur sich geheiligt habe. Es gibt also zwar kein moralisches, aber es gibt ein ästhetisches Übertreffen der Pflicht, und ein solches Betragen heißt edel.« (Ebd., S. 644f.; Hervorh. im Orig.) Zur Heiligung des Willens muß also die Heiligung der Natur treten! Damit dürfte deutlich sein, daß sich die moralische Schönheit nicht im Bereich einer »Natur, die […] eigentlich sich selber überlassen« bleiben kann (Prauss, a. a. O., S. 275), denken läßt. 654 Vgl. Pareyson (wie Anm. 642), S. 90. 655 Wir stoßen hier auf eine unvermutete Parallele zu dem Gedanken von passio praecedens und passio sequens, der im Thomas-Kap. (s. o., S. 40) kurz berührt wurde. Thomas meint, daß 651

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Daß die Idee einer »von sich aus mit der Vernunft im Einklang handelnden Natur« nicht in der Intention Schillers liegt, geht schon aus dem Titel seiner nächsten (und wichtigsten) philosophischen Abhandlung, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, hervor. Denn zu dem, was der Mensch von Natur aus bereits ist, braucht er nicht erzogen zu werden. Doch bevor wir uns dieser Schrift zuwenden, ist noch auf einen Gedankengang in Über Anmut und Würde hinzuweisen, der als eigenständige Rekonstruktion des habitus-Begriffs gelesen werden kann. Anmut ist »Schönheit der Bewegung«;656 in der Analyse der Bewegung geht es um zwei Momente: willkürliche und unwillkürliche Bewegung. Beide sind für die Anmut konstitutiv. Zukommen kann die Anmut nur willkürlichen Bewegungen.657 (»Unwillkürliche Bewegungen im Schlafe […] können nie anmutig sein«, sagt Schiller.658) Dabei kann aber das Anmutige der Bewegung nicht selbst Gegenstand des Willens sein; es stellt sich vielmehr ein in der »Art und Weise […], wie eine willkürliche Bewegung vollzogen wird«.659 Wir wollen und tun etwas, und gleichzeitig bringen wir dabei zum Ausdruck, wie wir es tun und wollen: das erste bewußt, das zweite unbewußt. Dieses Wie, soweit es sich auf den Zustand moralischer Empfindung bezieht (der einer willkürlichen Handlung vorausgeht und aus dem eine die willkürliche Handlung begleitende unwillkürliche660 folgt), ist nichts anderes als der habitus.

sich der Wert einer Handlung durch vorausgehende (handlungsinduzierende) Leidenschaft vermindert, durch nachfolgende (handlungsinduzierte) Leidenschaft dagegen erhöht. »Passio autem praecedens electionem, diminuit rationem voluntarii, et ideo laudem boni actus […] diminuit. Sed passio sequens est signum magnitudinis voluntatis, […] unde […] addit ad laudem [..].« De veritate, qu. 26, a. 7 ad 1. – »[…] passiones frequenter in nobis praeveniunt iudicium rationis: sed in Christo omnes motus sensitivi appetitus oriebantur secundum dispositionem rationis.« Summa theol., III, qu. 15, a. 4; vgl. De veritate, qu. 26, a. 8. In Über Anmut und Würde (a. a. O., S. 477) finden wir die gleiche Konzeption, allerdings ohne den Hinweis auf ihre modellhafte Verwirklichung in Christus: »Überall, wo der Trieb anfängt zu handeln und sich herausnimmt, in das Amt des Willens zu greifen, da darf der Wille keine Indulgenz, sondern muß durch den nachdrücklichsten Widerstand seine Selbständigkeit (Autonomie) beweisen. Wo hingegen der Wille anfängt und die Sinnlichkeit ihm folgt, da darf er keine Strenge, sondern muß Indulgenz beweisen.« (Hervorh. im Orig.) Schiller hätte hinzufügen können: wo die Sinnlichkeit dem Willen folgt, haben wir es mit einer schönen Handlung zu tun. 656 Über Anmut und Würde, ebd., S. 435. 657 Ebd., S. 436. 658 Ebd., S. 446, Anm. 659 Ebd., S. 448. 660 Diese nennt Schiller auch »sympathetisch«: »Was man beim Philosophieren notwendig voneinander trennen muß, ist darum nicht immer auch in der Wirklichkeit getrennt. So findet man abgezweckte Bewegungen selten ohne sympathetische […] Indem eine Person spricht, sehen wir zugleich ihre Blicke, ihre Gesichtszüge, ihre Hände, ja oft den ganzen Körper mitsprechen, und der mimische Teil der Unterhaltung wird nicht selten für den beredsten geachtet.« Ebd., S. 448 (Hervorh. im Orig.).

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»Wenn also die Anmut eine Eigenschaft ist, die wir von willkürlichen Bewegungen fordern, und wenn auf der andern Seite von der Anmut selbst doch alles Willkürliche verbannt sein muß, so werden wir sie in demjenigen, was bei absichtlichen Bewegungen unabsichtlich, zugleich aber einer moralischen Ursache im Gemüt entsprechend ist, aufzusuchen haben. […] Der Anteil nun, den der Empfindungszustand der Person an einer willkürlichen Bewegung hat, ist das Unwillkürliche an derselben, und er ist auch das, worin man die Grazie zu suchen hat.«661 Gute Handlungen sind dann schön, wenn in ihnen nicht nur der aktuelle Entschluß, sondern auch die habituelle, schon zur zweiten Natur gewordene emotionale Einwurzelung im Guten – das Unwillkürliche, »das in dem moralischen Empfindungszustand der Person seinen Grund hat«662 –, kurz: der habitus zum Ausdruck kommt.

4. Schönheit als Weg zur Freiheit: Über die ästhetische Erziehung des Menschen War mit dem Ideal der schönen Seele in Über Anmut und Würde die ethisch-ästhetische Höchstform des Menschen in einer Weise bestimmt, die sich als Wiederbelebung des habitus-Gedankens interpretieren ließ, so tut Schiller in den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen »einen Schritt zurück«:663 Er beschreibt die Schönheit nicht mehr (nur) als Folge, sondern (vor allem auch) als Voraussetzung von Freiheit.664 Dieser Perspektivenwechsel (bzw. diese Perspektivenerweiterung) hat bei den Interpreten immer wieder für Verwirrung gesorgt. Insofern die ästhetische Schönheit nur eine Vorstufe der moralischen ist, entfernt sie sich auch von der aristotelischen habitus-Konzeption. Denn der Tugendhabitus ist immer verstanden als gerichtete Freiheit, als Bereitschaft zum Guten; Schillers »mittlerer«, »ästhetischer Zustand«665 ist Bereitschaft zur Freiheit und somit moralisch indifferent. Die Hierarchie der drei »Stufen der Entwicklung […] die sowohl der einzelne Mensch als die ganze Gattung notwendig und in einer bestimmten Ordnung durch-

661

Ebd., S. 453, 449. – Vgl. Pareyson (wie Anm. 642), S. 99–104. Über Anmut und Würde, a. a. O., S. 449. 663 Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 20. Brief, a. a. O., S. 632 (im Orig. hervorgeh.). 664 Er läßt »die Schönheit der Freiheit vorangehen«, »weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert.« 2. Brief, ebd., S. 573. 665 Vgl. 18. Brief, ebd., S. 624; 20 Brief, S. 633; 23. Brief, S. 641. 662

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laufen müssen«:666 physischer, ästhetischer, moralischer Zustand667 erhält zwar die Unterscheidung von mittlerer und letzter Stufe aufrecht, aber mit einer Akzentverschiebung in der Gewichtung der Entwicklungsschritte:668 »Der Schritt von dem ästhetischen Zustand zu dem logischen und moralischen (von der Schönheit zur Wahrheit und zur Pflicht) ist […] unendlich leichter, als der Schritt von dem physischen Zustande zu dem ästhetischen […] war. […] Um den ästhetischen Menschen zur Einsicht und zu großen Gesinnungen zu führen, darf man ihm weiter nichts als wichtige Anlässe geben; um von dem sinnlichen Menschen eben das zu erhalten, muß man erst seine Natur verändern.« Insofern nun das Ästhetische nicht nur als Gipfel, sondern als Wurzel der Freiheit in Betracht kommt, erfährt die Kunst eine ungeheure Aufwertung, wie sie in der Romantik und im Bildungsideal des 19. Jahrhunderts bestimmend wurde. Aus der Hand der Kunst geht der Mensch wie neugeboren hervor. »Es ist also nicht bloß poetisch erlaubt, sondern auch philosophisch richtig, wenn man die Schönheit unsre zweite Schöpferin nennt.«669 Die Schönheit versetzt uns in einen »mittleren Zustand […] zwischen Materie und Form, zwischen Leiden und Tätigkeit, zwischen Empfinden und Denken«670 und erinnert damit an die vermittelnde Funktion des habitus.671 Allerdings ist Schillers Konzeption eine andere: Die Schönheit eröffnet eine »negative Freiheit«,672 sie korrigiert die einseitige Vereinnahmung durch Sinnlichkeit bzw. Vernunft;673 eine Orientierung am Guten bleibt aus. Indem er den Schritt von der ästhetischen zur moralischen Schönheit für unendlich klein erklärte, hat Schiller, ohne es zu wollen, dem Ästhetizismus des 19. Jahrhunderts vorgearbeitet, der diesen Schritt schließlich für überflüssig hielt. Wir haben gesehen, daß zur menschlichen Höchstform, die sich in der schönen Seele verwirklicht, die schöne Handlung gehört. Die schöne Seele lebt daher in der Spannung (ein »edler Geist begnügt sich nicht damit, selbst frei zu sein, er muß

666

24. Brief, ebd., S. 645. Ebd., S. 646. 668 23. Brief, S. 642f. 669 21. Brief, S. 636. 670 18. Brief, S. 624 (Hervorh. im Orig.). 671 Vgl. den Abschnitt II.B.5. im Thomas-Kap. 672 Hans-Georg Pott: Die Schöne Freiheit. Eine Interpretation zu Schillers Schrift »Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen«, München 1980, S. 79. 673 21. Brief, a. a. O., S. 636: Die Schönheit gibt dem Menschen lediglich die Freiheit zurück, die »ihm durch die einseitige Nötigung der Natur beim Empfinden und durch die ausschließliche Gesetzgebung der Vernunft beim Denken […] entzogen wurde«. »Eben dadurch aber ist etwas Unendliches erreicht. […] so müssen wir das Vermögen, welches ihm in der ästhetischen Stimmung zurückgegeben wird, als die höchste aller Schenkungen, als die Schenkung der Menschheit betrachten.« Ebd. 667

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alles andere um sich her […] in Freiheit setzen«674); das Ideal der ästhetischen Erziehung dagegen ist die gespannte Entspanntheit, die an die Möglichkeit des Handelns heranführt, ohne doch irgendeine Form von Praxis zu intendieren. Das bestätigen auch die suggestiven Worte, die gleichwohl eine der schönen Seele ebenbürtige675 Höchstform des Menschseins zu beschreiben scheinen:676 »Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.« Nun ist »Spiel« ein schillernder Begriff. Er kann mit der Sehnsucht nach der paradiesischen Unschuld von Adam und Eva assoziiert werden, die nicht arbeiten mußten, sondern spielten. Er läßt sich verbinden mit der Vorstellung menschlicher Vollendung, die in einem Ausspruch des von Schiller verehrten Fénelon anklingt: »Du verstehst es noch nicht, mein Sohn, im Angesicht Gottes zu spielen.«677 Darüber hinaus ist aber der »Spieltrieb« in unserem Zusammenhang eine philosophisch anspruchsvolle Konstruktion, die im Mittelpunkt der Briefe Über die ästhetische Erziehung steht. Aus der »Möglichkeit der sinnlich-vernünftigen Natur« müßte sich »die Schönheit […] als eine notwendige Bedingung der Menschheit aufzeigen lassen.«678 Sinnlichkeit und Vernunft, Materie und Form, Rezeptivität und Spontaneität, Passivität und Aktivität, Extensität und Intensität, Zustand und Person, Zeit und Ewigkeit sind die im Menschen nach Ausgleich ringenden Tendenzen, die Schiller – in Anlehnung an die Termini Reinholds679 – als Stofftrieb und Formtrieb bezeichnet. Schiller spricht von »Tendenzen« und nicht von »Gegensätzen«, denn:680 »Sie sind […] einander von Natur nicht entgegengesetzt, und wenn sie dessen ungeachtet so erscheinen, so sind sie es erst geworden durch eine freie Übertretung der Natur, indem sie sich selbst mißverstehen und ihre Sphären verwirren.« Die Entgegensetzung von Vernunft und Sinnlichkeit usw. ist also bereits Ausdruck einer Entfremdung, die es rückgängig zu machen gilt. Nur weil Stoff- und Formtrieb nicht im Verhältnis ursprünglicher Konkurrenz, sondern der Komplementarität stehen (»ohne Form keine Materie, ohne Materie keine Form«681) – weil also erst beide zusammen den ganzen Menschen ausma674

23. Brief, ebd., S. 644, Anm. 1. Für diese Interpretation entscheidet sich Pareyson (wie Anm. 642), S. 160, der den Spieltrieb als Analogon der schönen Seele auffaßt. 676 15. Brief, a. a. O., S. 618, Hervorh. im Orig. 677 Zit. bei Spaemann (wie Anm. 622), S. 160 (vgl. S. 333, Anm. 47). 678 10. Brief, a. a. O., S. 600. 679 Carl Leonhard Reinhold: Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, Prag und Jena 1789, S. 561f. (zit. bei Pott – wie Anm. 672 –, S. 139, Anm. 10). Reinhold war der Vorgänger Fichtes in Jena und Schwiegersohn des Dichters Wieland. 680 13. Brief, a. a. O., S. 607. 681 Ebd., Anm. 1. 675

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chen –, kann ihre Relation nach dem Modell der Wechselwirkung beschrieben werden. Schiller verweist auf Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre,682 die die Dialektik von Ich und Nicht-Ich an Hand der Kategorie der Wechselbestimmung erläutert:683 »So notwendig es also ist, daß das Gefühl im Gebiet der Vernunft nichts entscheide, ebenso notwendig ist es, daß die Vernunft im Gebiet des Gefühls sich nichts zu bestimmen anmaße. Schon indem man jedem von beiden ein Gebiet zuspricht, schließt man das andere davon aus und setzt jedem eine Grenze, die nicht anders als zum Nachteile beider überschritten werden kann.« Da Stoff- und Formtrieb »den Begriff der Menschheit erschöpfen«684 – entsprechend den »disjunktiven Urteilen«685 in Kants Kategorie der Wechselwirkung – ist eine Konstellation gegeben, in der keiner der beiden Triebe den ganzen Menschen repräsentieren, in der aber auch kein dritter, vermittelnder Trieb gedacht werden kann. Nur das Zusammenwirken beider Triebe liefert dem Menschen »eine vollständige Anschauung«686 seiner selbst; Schiller führt hierfür die Bezeichnung »Spieltrieb«687 ein. »Die Schönheit, als Konsummation seiner Menschheit […] ist das gemeinsame Objekt beider Triebe, das heißt, des Spieltriebs.«688

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Ebd. Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, Leipzig 1794, in: Fichtes Werke, hrsg. von Immanuel Hermann Fichte, Bd. 1, Berlin 1971, S. 131 ff. – Schon die kleine terminologische Abweichung («Wechselwirkung« bei Schiller, »Wechselbestimmung« bei Fichte) signalisiert, daß noch ein anderer Bezug im Spiel ist: auf Kant. »Es ist das gleiche, was bei Kant Relation heißt«, sagt Fichte (ebd). – Unter dem Titel der Relation steht in der Kritik der reinen Vernunft (B 106) die Kategorie »der Gemeinschaft (Wechselwirkung zwischen dem Handelnden und Leidenden)«. Zur Erläuterung rekurriert Kant auf das Verhältnis der in einem Ganzen enthaltenen Teile, die »als einander koordiniert, nicht subordiniert, so daß sie einander nicht einseitig, […] sondern wechselseitig […] bestimmen […], gedacht werden« (B 112). Schiller schreibt, mit wörtlichem Anklang an Kant, über die beiden Grundtriebe: »Beide Prinzipien sind einander also zugleich subordiniert und koordiniert, d. h. sie stehen in Wechselwirkung […]« (13. Brief, a. a. O., S. 607, Anm. 1.) 683 Ebd. (Hervorh. im Orig.). – Auch hier scheint Kantische Begrifflichkeit die Vorlage zu liefern, nämlich »das Gebiet (ditio)« von Begriffen, »und der ihnen zustehenden Erkenntnisvermögen.« Kritik der Urteilskraft, Einleitung (»II. Vom Gebiete der Philosophie überhaupt«); Ak.Ausg., Bd. V, S. 174. – Auf diesen Zusammenhang ist hingewiesen bei Cathleen Muehleck-Müller: Schönheit und Freiheit. Die Vollendung der Moderne in der Kunst. Schiller – Kant, Würzburg 1989, S. 225, Anm. 755. 684 13. Brief, a. a. O., S. 606. 685 Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 112. – Auch die »Wissenschaftslehre soll den ganzen Menschen erschöpfen« (Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, a. a. O., S. 284, Anm.). 686 14. Brief, a. a. O., S. 612 – Schiller trägt damit »der vollständigen anthropologischen Schätzung« Rechnung (4. Brief, ebd., S. 577). 687 14. Brief, ebd., S. 612. 688 15. Brief, ebd., S. 615.

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Der Spieltrieb bringt die Schönheit hervor (ist also nicht mir ihr identisch, sondern ihre Voraussetzung); diese wiederum kann als End- (»Konsummation«), aber auch als Ausgangspunkt einer Entwicklung gesehen werden:689 »Es ist also […] philosophisch richtig, wenn man die Schönheit unsre zweite Schöpferin nennt. Denn ob sie uns gleich die Menschheit bloß möglich macht und es im übrigen unserm freien Willen anheimstellt, inwieweit wir sie wirklich machen wollen, so hat sie dieses ja mit unsrer ursprünglichen Schöpferin, der Natur, gemein, die uns gleichfalls nichts weiter als das Vermögen zur Menschheit erteilte, den Gebrauch derselben aber auf unsere eigene Willensbestimmung ankommen läßt.« Schönheit ist einmal Bereitschaft zur Freiheit, insofern sie – bzw. »die ästhetische Stimmung des Gemüts« – »der Freiheit erst die Entstehung gibt«,690 also Freiheit ermöglicht; ein andermal ist sie Vollendung, Wirklichkeit, »Ausdruck der Freiheit in der Erscheinung.«691 Diese in den Kallias-Briefen geprägte Formel kommt hier nur einmal (in einer Fußnote) vor; im Vordergrund der ästhetischen Erziehung steht die Schönheit als Inchoativ der Freiheit.692 Anders gesagt: Schönheit ist die Bedingung, unter der sich eine schöne Seele entwickelt und zugleich Ausdruck der entwickelten schönen Seele. (»Der Mensch ist nur da ganz, wo er spielt«693 heißt dann: Ganzsein ist die Voraussetzung des Gutseins, nicht identisch mit diesem selbst.) Wir hatten bei Aristoteles die richtige Gestimmtheit von rationalem und irrationalem Seelenteil als Voraussetzung richtigen (d. h. freien) Handelns gesehen und den habitus als Stimmung eines Ganzen aus Gefühl und Geist bezeichnet.694 Um den Begriff genauer zu erfassen, wäre zu ergänzen: eine Stimmung, der eine Tendenz vom Handeln-Können zum Handeln, zur Verwirklichung von Freiheit innewohnt. Mit Blick auf die aristotelischen Kategorien von Disposition und habitus ließe

689

21. Brief, ebd., S. 636. 26. Brief, ebd., S. 655. 691 23. Brief, Anm. 1, ebd., S. 644. 692 Die »ästhetische Gemütsstimmung« veredelt den physischen Menschen so weit, »daß nunmehr sich der geistige nach Gesetzen der Freiheit aus demselben bloß zu entwickeln braucht.« (23. Brief, ebd., S. 642, Hervorh. von mir.) – »Haben wir uns […] dem Genuß echter Schönheit dahingegeben, so sind wir in einem solchen Augenblick unsrer leidenden und tätigen Kräfte in gleichem Grad Meister, und mit gleicher Leichtigkeit werden wir uns zum Ernst und zum Spiele, zur Ruhe und zur Bewegung, zur Nachgiebigkeit und zum Widerstand, zum abstrakten Denken und zur Anschauung wenden.« 22. Brief, ebd., S. 638. 693 In dieser Formulierung klingt Schillers Satz (s. o., S. 166) etwas nüchterner. Vgl. Wolfgang Janke: »Die Zeit in der Zeit aufheben. Der transzendentale Weg in Schillers Philosophie der Schönheit«, Kant-Studien, 58 (1967), S. 433–457, hier S. 437. 694 Vgl. S. 24 sowie II.A.4. 690

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sich nun der doppelte Schönheitsbegriff bei Schiller folgendermaßen klären: Schönheit als Anfang entspricht der dispositio (διáθεσις), Schönheit als Vollendung dem habitus (ξις),695 und zwar, spät-scholastisch gesprochen, dem habitus entitativus.696 695

Wir rekapitulieren: Disposition heißt bei Aristoteles (Metaphysik, V, 19; 1022 b 1) »die Ordnung eines Dinges, welches Teile hat«; das läßt sich unschwer auf die Koordination von Stoffund Formtrieb übertragen. Den Unterschied von Disposition und habitus und den Übergang von ersterer zu letzterem faßt Thomas von Aquin im Sentenzenkommentar so: »haec quidem qualitas (die Beschaffenheit nämlich, die macht, daß der Mensch leicht und mit Vergnügen das Rechte tut), sive forma, dum adhuc est imperfecta, dispositio dicitur; cum autem iam consummata est, et quasi in naturam versa, habitus nominatur« – solange also die fragliche Qualität oder Form unvollkommen ist (Schönheit als Inchoativ), heißt sie Disposition; sobald sie vollendet und quasi zur (zweiten) Natur (bei Schiller: schöne Seele) geworden ist (Schönheit als Konsummation, »consummata« sagt Thomas), heißt sie habitus. Thomas von Aquin: Sent. III, dist. 23, qu. 1, a. 1, c. Vgl. J.-M. Ramírez O. P.: »Doctrina sancti Thomae Aquinatis de distinctione inter habitum et dispositionem«, in: Festschrift Gredt, Rom 1938 (= Studia Anselmiana 7–8), S. 121–142, hier S. 126. – Es bleibt darauf hinzuweisen, daß Thomas später, in der Summa theol. (I–II, qu. 49, a. 2 ad 3) – ohne das Modell des Übergangs vom Unvollkommenen zum Vollkommenen zu diskreditieren – eine spezifische Differenz zwischen Disposition und habitus einführt. Auch sie ließe sich auf Schiller anwenden: Die ästhetische Stimmung ist aus internen Gründen leicht verlierbar und daher nur Disposition. (Man sieht es an den Theaterbesuchern, die, eben noch »dem Genuß echter Schönheit dahingegeben, in einem solchen Augenblick« ihrer »leidenden und tätigen Kräfte in gleichem Grad Meister« – vgl. 22. Brief, a. a. O., S. 638 – und zu allem Wahren, Guten und Schönen bereit waren, beim Entgegennehmen ihrer Mäntel oder beim Aufsuchen ihrer Autos aber schon wieder die Prägung durch die Schönheit verloren haben. Die schöne Seele hingegen verdankt ihre stabilere innere Ordnung entsprechend stabilen Ursachen.) 696 Vgl. Anfang und Ende des Abschnitts »Habitus und Gnade« im Thomas-Kap. (II.B.4.), bes. Anm. 225. In Über Anmut und Würde hatte es ja geheißen (s. o., S. 159): »Der Mensch nämlich ist nicht dazu bestimmt, einzelne sittliche Handlungen zu verrichten, sondern ein sittliches Wesen zu sein. […] Daher sind bei einer schönen Seele die einzelnen Handlungen eigentlich nicht sittlich, sondern der ganze Charakter ist es. […] Die schöne Seele hat kein andres Verdienst, als daß sie ist.« – Manfred Brelage (wie Anm. 641, S. 241ff.) hat die Verbindung von schöner Seele und Gnade als Hintergrund von Schillers Kant-Kritik plausibel gemacht. Vgl. den Brief an Goethe vom 17. August 1795 (Schiller kommentiert das 6. Buch aus Wilhelm Meisters Lehrjahren, die »Bekenntnisse einer schönen Seele«): »[…] mir deucht, […] daß dasjenige, was diese [die christliche] Religion einer schönen Seele sein kann, oder vielmehr was eine schöne Seele daraus machen kann, noch nicht angedeutet sei. Ich finde in der christlichen Religion virtualiter die Anlage zu dem Höchsten und Edelsten, und die verschiedenen Erscheinungen derselben im Leben scheinen mir bloß deshalb so widrig und abgeschmackt, weil sie verfehlte Darstellungen dieses Höchsten sind. Hält man sich an den eigentümlichen Charakterzug des Christentums, […] so liegt er in nichts anderm als in der Aufhebung des Gesetzes oder des Kantischen Imperativs, an dessen Stelle das Christentum eine freie Neigung gesetzt haben will. Es ist also in seiner reinen Form Darstellung schöner Sittlichkeit oder der Menschwerdung des Heiligen, und in diesem Sinn die einzige ästhetische Religion; daher ich es mir auch erkläre, warum diese Religion bei der weiblichen Natur so viel Glück macht […]« (Hervorh. im Orig. gesp., Rechtschreibung modernisiert.) Schillers Werke, Nationalausgabe, 28. Bd., Weimar 1969, S. 27f.

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5. Zum Begriff der »schönen Seele« Sei es, daß man die schöne Seele als Säkularisat des Gnadenhabitus betrachtet,697 sei es, daß man in ihr die »romantische Idee einer schon von sich aus mit der Vernunft im Einklang handelnden Natur«698 am Werk sieht – in beiden Fällen steht die schöne Seele im Verdacht, ohne menschliches Zutun vom Himmel zu fallen, bzw. als angeborene moralische Perfektion (die darum eigentlich als vormoralischer Zustand zu denken wäre) den hohen Anspruch der Kantischen Ethik zu unterbieten. Wenn man gar an die beißende Kritik der schönen Seele bei Hegel denkt, so scheint es aussichtlos, an diesem für Schiller zentralen Begriff festzuhalten. Es kommt daher auf die Bedeutungsunterschiede der »schönen Seele« in der Tradition, bei Schiller und schließlich bei Hegel an. Doch zuvor ein Blick auf das Gemeinsame: alle Varianten (Hegel einmal ausgenommen) begegnen sich darin, daß zur schönen Seele etwas Unverfügbares gehört. Das gilt für die theologische Sicht des Mittelalters, die den »Glanz der Seele« Gnade sein läßt,699 für die Selbstvergessenheit, auf der in den Kallias-Briefen und in Über Anmut und Würde insistiert wurde – die Selbstvergessenheit läßt sich nicht willkürlich herbeiführen –, schließlich für Rousseau, bei dem die schöne Seele ganz Natur zu sein scheint. In der 2. Vorrede zu Julie oder Die neue Héloïse entspinnt sich folgender Dialog:700 »Und die schönen Seelen – vergessen Sie die?« – »Die Natur hat sie geschaffen; eure Einrichtungen verderben sie.« Das ist also die »romantische Idee einer schon von sich aus mit der Vernunft im Einklang handelnden Natur« (Prauss, s. o.), die Schiller sicher nicht gemeint hat und die bei näherem Hinsehen auch Rousseau nicht gerecht wird. Denn gerade weil die aus den Händen der Natur hervorgegangene Unschuld ständig bedroht ist, entwirft Rousseau im Émile einen Erziehungsplan, der den von Natur guten Menschen vor dem Abgleiten in die Schlechtigkeit bewahren soll. Ob nun – wie bei Aristoteles – der von Natur schlechte Mensch durch Sozialisierung zur Vortrefflichkeit gebracht, oder ob – wie bei Rousseau – der Mensch angesichts der schlechten Gesellschaft in seiner ursprünglichen Güte gefestigt werden soll, beide Male bedarf es der Erziehung, und das Ergebnis der Erziehung ist kein Produkt der Natur.

697

»Schillers Ästhetik ist das Stadium einer säkularisierten, ganz in die Welt hineingenommenen Theologie.« Benno von Wiese: Friedrich Schiller, Stuttgart 1959, S. 483. 698 So G. Prauss (s. o., S. 162). 699 Vgl. Anm. 228 (II.B.4., a. E.); vgl. Walter Müller: Das Problem der Seelenschönheit im Mittelalter. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung, Bern 1923. 700 Jean-Jacques Rousseau: Julie oder Die neue Héloïse, München 1978/88, S. 24.

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Auch die (von Platon herstammende) schöne Seele bei Plotin,701 die alles Körperliche abstreift und ganz Geist zu sein strebt, finden wir bei Schiller nicht. Eher steht die von ihm intendierte Höchstform des Menschen in einer Linie mit Leibniz,702 Shaftesbury,703 dem vorkritischen Kant704 und Schillers Freund Humboldt, dessen Bildungsideal auf die »harmonische Ausbildung aller Fähigkeiten«705 zielt. – Schon die angedeuteten Unterschiede lassen Zweifel daran aufkommen, ob die schöne Seele als »Gedankenfigur des Antimodernismus«706 zutreffend interpretiert ist. Jedenfalls dürfte es der Kritik Hegels zuzuschreiben sein, wenn an »eine Rehabilitation der Seelenschönheit […] nun nicht mehr zu denken«707 sei. Die außergewöhnliche Schärfe, mit der Hegel gegen die Figur der schönen Seele zu Felde zieht, legt es nahe, hier eine Abrechnung mit einer früher von ihm selbst vertretenen Position zu vermuten, die aufzugeben mit Schmerzen verbunden war. 701

Plotin: Über das Schöne, Enn. I, 6. Ursula Franke: »Das richtige Leben und die Kunst: Die schöne Seele im Horizont von Leibniz’ Philosophie«, Modern Language Notes, 103, H. 3 (April 1988), S. 505–518. 703 Ernst Cassirer: »Schiller und Shaftesbury«, Publications oft the English Goethe Society, New Series, 11 (1935), S. 37–59; vgl. Wolfgang H. Schrader: Ethik und Anthropologie in der englischen Aufklärung. Der Wandel der moral-sense-Theorie von Shaftesbury bis Hume, Hamburg 1984, S. 29ff.: »Die Einheit von Schönheit und Tugend«; Carola Meier-Seethaler: Gefühl und Urteilskraft. Ein Plädoyer für die emotionale Vernunft, München 1997, S. 43–51: »Der ›moralische Sinn‹ bei Shaftesbury«, hier S. 49. 704 In der »Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen« für das Wintersemester 1765/ 66 schreibt Kant: »Die Versuche des Shaftesbury, Hutcheson und Hume, welche, obzwar unvollendet und mangelhaft, gleichwohl noch am weitesten in der Aufsuchung der ersten Gründe aller Sittlichkeit gelangt sind, werden diejenige Präcision und Ergänzung erhalten, die ihnen mangelt […]« (Ak.-Ausg. Bd. II, S. 311; Hinweis bei Cassirer, a. a. O., S. 47.) In den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764), 2. Abschnitt: »Von den Eigenschaften des Erhabenen und Schönen am Menschen überhaupt« spricht Kant von »schönen Handlungen« und von der »Schönheit der Tugend« (a. a. O., S. 217). Herder urteilt 1769 mit Bezug auf diese Schrift, Kant sei »ganz ein Philosoph des Erhabnen und Schönen der Humanität! und in dieser Menschlichen Philosophie ein Shaftesburi Deutschlands« (Sämtliche Werke, hrsg. von B. Suphan, Bd. 4, S. 176). – Erst in der Dissertation von 1770 De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, in der Kant die Moralphilosophie zur philosophia prima und diese zur Transzendentalphilosophie erhebt, distanziert er sich von Shaftesbury (vgl. Cassirer, a. a. O., S. 48). 705 Wilhelm von Humboldt: »Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin« (1810), in: Werke in fünf Bänden, hsrg. von A. Flitner und K. Giel, Bd. 4, Darmstadt 31982, S. 261 (Hervorh. im Orig.); vgl. den Artikel »Bildung« von Ernst Lichtenstein in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel 1971, Sp. 921–937, hier Sp. 927. – Bereits 1792 schreibt Humboldt in seinen Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen: »Der wahre Zweck des Menschen […] ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.« Werke in fünf Bänden, Bd. 1, Darmstadt 31980, S. 64 (vgl. S. 224). (Rechtschreibung modernisiert.) 706 Ralf Konersmann: »Die schöne Seele. Zu einer Gedankenfigur des Antimodernismus«, Archiv für Begriffsgeschichte, 36 (1993), S. 144–173. 707 Konersmann, ebd., S. 173. 702

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In Der Geist des Christentums und sein Schicksal wird die Predigt Jesu mit der Ethik Kants kontrastiert, und zwar ganz im Sinn Schillers:708 »Einigkeit der Neigung mit dem Gesetze, […] diese Uebereinstimmung der Neigung ist das πληρωµα des Gesetzes, […] jene Geneigtheit, eine Tugend, ist eine Synthese, in der […] beide ihre Entgegensetzung verlieren; da in der Kantischen Tugend diese Entgegensetzung bleibt, und das eine zum Herrschenden, das andere zum Beherrschten wird.«709 Unter dem mosaischen bzw. dem Kantischen Gesetz bleibt der Mensch zerrissen, unter dem Liebesgebot Jesu – das eigentlich kein Gebot ist, »weil in der Liebe aller Gedanke von Pflichten wegfällt«710 – gelangt er zur Einheit mit sich selbst und mit den anderen. Es zeigt sich nun in der Durchführung der Dialektik, daß das Stadium der Einheit, die als »Schönheit der Seele«711 bezeichnet wird, nicht bestehenbleiben kann. »Die höchste Freiheit ist das negative Attribut der Schönheit der Seele, d. h. die Möglichkeit auf alles Verzicht zu tun, um sich zu erhalten. Wer aber sein Leben retten will, der wird es verlieren. So ist mit der höchsten Schuldlosigkeit die höchste Schuld, mit der Erhabenheit über alles Schicksal das höchste, unglücklichste Schicksal vereinbar.«712 Die schöne Seele steht vor der Wahl, das Schicksal der »Welt« zu teilen und in solcher Solidarisierung ihre Reinheit zu verlieren, oder der »Welt« zu entsagen und sich um den Preis der Entwirklichung zu erhalten. Auch Jesus entgeht dieser Alternative nicht. »Das Schicksal Jesu war, vom Schicksal seiner Nation zu leiden, […] aber seine Schönheit, seinen Zusammenhang mit dem Göttlichen aufzuopfern, oder das Schicksal seines Volkes von sich zu stoßen, sein Leben aber unentwickelt und ungenossen in sich zu erhalten […] Jesus wählte das letztere Schicksal […] Die Existenz des Jesus war also Trennung von der Welt, und Flucht von ihr in den Himmel; Wiederherstellung des leerausgehenden Lebens in der Idealität […]«713 Die Zerrissenheit des Menschen unter dem Gesetz wird also in der Harmonie der schönen Seele nur für einen Moment aufgehoben; da diese Harmonie einer unharmonischen Welt gegenübersteht,714 reproduziert sich die Zerrissenheit auf einer 708

Vgl. Dieter Henrich: Selbstverhältnisse, Stuttgart 1982, S. 48: »In seinen ›Frankfurter Manuskripten‹ hat er [Hegel] die Position Schillers wiederholt […]« 709 Hegel: Der Geist des Christentums und sein Schicksal, in: Herman Nohl (Hrsg.): Hegels theologische Jugendschriften, Tübingen 1907, S. 268. 710 Ebd., S. 267. 711 Ebd., S. 285. 712 Ebd., S. 286. 713 Ebd., S. 328f. 714 »So verwickelt die widernatürliche Ausdehnung des Umfangs der Liebe in einen Wider-

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höheren Stufe. Der Tod Jesu ist genauso notwendig wie der Tod des Sokrates; das mit soviel Liebe gezeichnete Ideal715 scheitert mit innerer Notwendigkeit.716 Es scheint, daß sich Hegel schon im Geist des Christentums von der Gestalt Jesu verabschiedet – so wie er, nach einem Wort von Emanuel Hirsch – in der Phänomenologie die Romantiker »beisetzen«717 wird. Gleichwohl ist die Behandlung der schönen Seele in der Phänomenologie eine andere. Die Unterschiede zur schönen Seele bei Schiller liegen auf der Hand: Hier ist sie durch Selbstvergessenheit, bei Hegel durch Dauerreflexion aufs eigene Ich, hier durch die Erfüllung im Handeln, bei Hegel durch tatenloses Sehnen charakterisiert. »Es [das unglückliche Bewußtsein] lebt in der Angst, die Herrlichkeit seines Innern durch Handlung und Dasein zu beflecken, und um die Reinheit seines Herzens zu bewahren flieht es die Berührung der Wirklichkeit […] sein Tun ist das Sehnen […] – eine unglückliche sogenannte schöne Seele, verglimmt sie in sich, und schwindet als ein gestaltloser Dunst, der sich in Luft auflöst.«718 spruch […] Diese Beschränkung der Liebe auf sich selbst, ihre Flucht vor allen Formen, […] diese Entfernung von allem Schicksal ist gerade ihr größtes Schicksal« (ebd., S. 324) – nämlich das Schicksal der »Schicksallosigkeit« (ebd., S. 386). – Wolfgang Kersting konstatiert hier »eine überzeugende Darstellung der Dialektik der Verweigerung«, in: Die Ethik in Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹, Diss. Hannover 1974, S. 267f. 715 »Hegel hat nichts Schöneres geschrieben«, urteilt Wilhelm Dilthey: Die Jugendgeschichte Hegels, in: Gesammelte Schriften, 4. Bd., Stuttgart/Göttingen 51974, S. 68. 716 »Der tiefste, heiligste Kummer einer schönen Seele, ihr unbegreiflichstes Rätsel, daß die Natur zerstört, das Heilige verunreinigt werden muß […]« Hegel, a. a. O., S. 315. – Vielleicht ist es Hegel bei seiner Rekonstruktion der Figur Jesu als schöne Seele ähnlich gegangen wie Umberto Eco bei seiner Doktorarbeit über die Ästhetik Thomas’ von Aquin: »[…] das Buch war begonnen worden als Erkundung eines Terrains, das ich noch als zeitgenössisch betrachtete. Wie die Untersuchung allmählich voranschritt, erwies sich das Terrain als eine weit zurückliegende Vergangenheit, die ich mit Leidenschaft und Liebe rekonstruierte – aber so, wie man die Papiere eines sehr geliebten und geachteten Toten ordnet.« Umberto Eco: Il problema estetico in Tommaso d’Aquino, Vorwort zur 2. Aufl., Milano 1970, S. 6. 717 Emanuel Hirsch: »Die Beisetzung der Romantiker in Hegels Phänomenologie« (1924), in: H. F. Fulda/D. Henrich (Hrsg.): Materialien zu Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹, Frankfurt a. M. 81992, S. 245–275. Hirschs Meinung, »die innere Stellung Hegels zur schönen Seele« habe sich in der Phänomenologie »gegen die Frankfurter Fragmente völlig verschoben«, da in diesen »die schöne Seele die Bewährung des Gefühls des reinen Lebens – also das Höchste, was Hegels Philosophie damals kennt« sei (ebd., S. 266f.), bedarf m. E. der Präzisierung: gerade weil Hegel schon in den Frankfurter Manuskripten »das Höchste« opfert, kann er die ihm später begegnenden Instantiierungen der schönen Seele um so entschiedener über Bord werfen. – Vgl. Günter Rohrmoser: »Zum Problem der ästhetischen Versöhnung. Schiller und Hegel«, Euphorion, 53 (1959), S. 351–366; Dilthey, a. a. O., S. 92. 718 Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: Sämtliche Werke, hrsg. von H. Glockner, 2. Bd., Stuttgart-Bad Cannstatt 41964, S. 504, vgl. S. 512f., 607f. (Hervorh. im Orig. gesp.) Vgl. die entsprechende Passage in Glauben und Wissen (Sämtliche Werke, hrsg. von H. Glockner, 1. Bd., Stuttgart-Bad Cannstatt 41965, S. 384): »Der Grundton aber dieser Gestalten ist dieser bewußte Mangel an Objektivität, diese an sich selbst festhängende Subjektivität; die beständige […] Reflexion

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Die Hegel-Forschung hat als Zielscheibe dieser Kritik »die absolut gesetzte romantische Subjektivität«,719 vorgeführt an der Figur des Woldemar in Friedrich Heinrich Jacobis gleichnamigem Roman, erkannt. Aber damit ist die schöne Seele bei Hegel nicht ein für allemal diskreditiert. An einer Stelle der Vorlesungen über die Ästhetik – nämlich unmittelbar nach dem Referat der Briefe über die ästhetische Erziehung sowie einem Hinweis auf Über Anmut und Würde – kritisiert er die romantische Ironie, »die nicht handeln und nichts berühren mag, um nicht die innere Harmonie aufzugeben, und mit dem Verlangen nach Realität und Absolutem dennoch unwirklich und leer, wenn auch in sich rein bleibt«720 und attestiert ihr »krankhafte Schönseligkeit und Sehnsüchtigkeit«. Doch das ist nicht das letzte Wort. Es folgt eine Unterscheidung, die sich vielleicht der Schiller-Reminiszenz verdankt: »Denn eine wahrhaft schöne Seele handelt und ist wirklich.«721 In seiner Jacobi-Interpretation deckt Hegel den Widerspruch der narzißtischen schönen Seele auf: indem sie in der Selbstbespiegelung verharrt, wird sie häßlich. Schön bleibt sie nur, wenn sie im Handeln aus sich herausgeht und auf den reflektierenden Genuß der eigenen Schönheit verzichtet. Wer von Hegel diese Lektion gelernt hat, kann vielleicht – mit Colin McGinn – auch am Ende des 20. Jahrhunderts an einem positiven Begriff von Seelenschönheit festhalten.722

6. Kantischer Epilog Die ersten Schritte zur Überwindung des Rigorismus hat nicht Schiller, sondern Kant selbst getan – in der Kritik der Urteilskraft, die auf dem Feld der Ästhetik eine Brücke zwischen Sinnlichkeit und Vernunft schlägt. »Schönheit« gilt »nur für

auf seine Persönlichkeit, diese ewig auf das Subjekt zurückgehende Betrachtung […]« (Hervorh. von mir, Rechtschreibung – auch im vorigen Zitat – modernisiert.) – In Über Anmut und Würde dagegen »weiß sie [die schöne Seele] selbst auch niemals um die Schönheit ihres Handelns […]« (Schiller, a. a. O., S. 468; vgl. Kallias oder über die Schönheit, a. a. O., S. 407.) 719 Otto Pöggeler: Hegels Kritik der Romantik, Bonn 1956, S. 56; vgl. S. 49ff. – Vgl. Leo Lugarini: »Hegel e l’esperienza dell’anima bella«, Giornale di Metafisica (Nuova Serie), 2 (1980), S. 37–67; Gustav Falke: »Hegel und Jacobi. Ein methodisches Beispiel zur Interpretation der Phänomenologie des Geistes«, Hegel-Studien, 22 (1987), S. 129–142, bes. S. 139ff.; Daniel O. Dahlstrom: »Die ›schöne Seele‹ bei Schiller und Hegel«, Hegel-Jahrbuch 1991, S. 147–156; Dietmar Köhler: »Hegels Gewissensdialektik«, Hegel-Studien, 28 (1993), S. 127–141, S. 131, Anm. 7. 720 Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, in: Sämtliche Werke, hrsg. von H. Glockner, 12. Bd., Stuttgart-Bad Cannstatt 51971, S. 103. – Zu Schiller: ebd., S. 96–98. 721 Ebd., S. 103, Hervorh. von mir. 722 Vgl. McGinn (wie Anm. 623), S. 93, Anm. 2 und S. 116: »The beautiful soul must have its gaze directed firmly outward, to the world of action and other people.« – Noch in seinem letzten

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Menschen, d. i. tierische, aber doch vernünftige Wesen […]«723 Das Geschmacksurteil verfährt spontan, ohne Reflexion (wie die Neigung), und beansprucht dabei doch allgemeine Gültigkeit (wie die Pflicht). »Der Geschmack macht gleichsam den Übergang vom Sinnenreiz zum habituellen moralischen Interesse ohne einen zu gewaltsamen Sprung möglich«,724 heißt es im § 59 der Kritik der Urteilskraft (»Von der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit«). Von diesem Punkt der Kantischen Ästhetik aus hat Schiller versucht, den Dualismus der Kantischen Ethik zu überwinden. »Ohne das Schöne würde zwischen unsrer Naturbestimmung und unsrer Vernunftbestimmung ein immerwährender Streit sein.«725 Vom »freien Spiele der Einbildungskraft und des Verstandes«726 führt ein direkter Weg zu Schillers Spieltrieb, zur ästhetischen Stimmung des Gemüts. Andererseits scheint Kant in seinem Spätwerk das Verhältnis von Pflicht und Neigung neu zu bestimmen, möglicherweise unter dem Einfluß Schillers. Er findet, in einer berühmten Anmerkung zur 2. Auflage seiner Religionsschrift, »keine Uneinigkeit« mit der von »Prof. Schiller […] mit Meisterhand verfaßten Abhandlung über Anmut und Würde«: »Nur nach bezwungenen Ungeheuern wird Herkules Musaget […]«727 Nun ist schon aus dieser gefälligen Wendung herauszulesen, daß hinter dem Schein von Einigkeit der Gegensatz der Positionen weiterbesteht. Denn es ist für die Wertschätzung des Herkules ziemlich gleichgültig, ob er nach seinen Heldentaten auch noch musisch wird. In der »vollständigen anthropologischen Schätzung«728 des Menschen kommt es aber entscheidend darauf an, daß Vernunft und Empfindung ihr Recht zuteil wird. »Der bloß niedergeworfene Feind kann wieder aufstehen, aber der versöhnte ist wahrhaft überwunden«729 – für Schiller hätte der HerWerk, dem Ende 1804 entstandenen »lyrischen Spiel« Die Huldigung der Künste, bekennt Schiller: »Doch Schönres find ich nichts, wie lang ich wähle,/Als in der schönen Form – die schöne Seele.« Sämtliche Werke, 2. Bd., a. a. O. (wie Anm. 622), S. 1089. – Vgl. Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Bern 61980, S. 234f. 723 Kant: Kritik der Urteilskraft, § 5 (Ak.-Ausg., Bd. V, S. 210). – Vgl. Wilhelm Vossenkuhl: »Schönheit als Symbol der Sittlichkeit. Über die gemeinsame Wurzel von Ethik und Ästhetik bei Kant«, Philosophisches Jahrbuch, 99 (1992), S. 91–104. 724 A. a. O., § 59 (a. a. O., S. 354). 725 Schiller: Über das Erhabene, in: Sämtliche Werke, 5. Bd., a. a. O., S. 807. 726 Kant, a. a. O., § 9 (a. a. O., S. 218). – Vgl. Winfried Sdun: »Zum Begriff des Spiels bei Kant und Schiller«, Kant-Studien, 57 (1966), S. 500–518; Frank-Peter Hansen: »Die Rezeption von Kants Kritik der Urteilskraft in Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen«, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 33 (1992), S. 165–188. 727 Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793, 21794); Ak.-Ausg., Bd. VI, S. 23, Anm. (Hervorh. im Orig.) 728 Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 4. Brief, a. a. O., S. 577. 729 Schiller: Über Anmut und Würde, a. a. O., S. 465.

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kules der Vernunft nur halbe Arbeit getan, solange die Ungeheuer der Neigung nur bezwungen, nicht versöhnt sind. Kant und Schiller sind also, obwohl sie in freundlichen Briefen einander das Gegenteil versichern, nicht einig.730 (Immerhin ist Kants Lob für die ästhetischen Briefe, aus denen sich im Opus postumum ein langes Exzerpt findet, bemerkenswert.731) Nach der methodischen Trennung von Sinnlichkeit und Sittlichkeit in der kritischen Philosophie schreitet Die Metaphysik der Sitten (1797) in ihrem zweiten Teil, den »metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre«, zur Synthese. Aber läßt sich, was vorher so radikal geschieden war, noch vereinigen, läßt sich die desinkarnierte Sinnlichkeit wieder inkarnieren? Der kategorische Imperativ sollte für alle Vernunftwesen, die Tugendlehre soll nur für den Menschen gelten. Der kategorische Imperativ konnte sich nicht in ein positives Verhältnis zur Neigung setzen – von der Tugendlehre wäre zu erwarten, daß sie es tut. Aber Kant entwickelt die Tugend nicht als Ergänzung (noch weniger als Überwindung), sondern als Ausfluß der Pflichtethik, und Pflicht bleibt »eine Nötigung zu einem ungern genommenen Zweck.«732 Immerhin ziehen die Liebespflichten, die nicht Gefühle, sondern Wohltätigkeit fordern, den Menschen »nicht bloß als vernünftiges Wesen, sondern auch als mit Vernunft begabtes Tier«733 in Betracht. Es gibt eine (somit bedingte) Pflicht zur Menschlichkeit; zu ihr gehört es, »mitleidige natürliche (ästhetische) Gefühle in uns zu kultivieren«.734 Mehr noch: wer sich in der Pflicht des Wohltuns übt, »kommt endlich wohl gar dahin, den, welchem er wohl getan hat, wirklich zu lieben.«735 So entsteht Menschenliebe als »Fertigkeit der Neigung zum Wohltun überhaupt«,736 also ein habitus, wie Schiller ihn gefordert hatte – »Neigung zu der Pflicht«.737 (Kant bringt an anderer Stelle den Begriff ausdrücklich ins Spiel.738) 730

Vgl. Reiner (wie Anm. 611), S. 41. Kant: Brief an Schiller vom 30.3.1795 (Ak.-Ausg., Bd. XII, S. 11); Auszüge aus dem 19. Brief in: Ak.-Ausg., Bd. XXI, S. 76. 732 Kant: Die Metaphysik der Sitten; Ak.-Ausg., Bd. VI, S. 386. 733 Ebd., § 34, S. 456. 734 Ebd., § 35, S. 457. 735 Ebd., S. 402. 736 Ebd. 737 Schiller: Über Anmut und Würde, a. a. O., S. 464. – Vgl. die für Kant erstaunliche Formulierung in der Moralphilosophie Collins (1784 / 85): »[…] wenn ich andre aus Verbindlichkeit liebe, so erwerbe ich mir dadurch Geschmack an der Liebe, und aus Uebung wird die Liebe aus Verbindlichkeit zur Liebe aus Neigung.« Kant’s Vorlesungen, Ak.-Ausg., Bd. XXVII/1, S. 419. Vgl. N. Sherman (wie unten, Anm. 746), S. 156. 738 »Fertigkeit (habitus) ist eine Leichtigkeit zu handeln und eine subjektive Vollkommenheit der Willkür.« Die Metaphysik der Sitten, a. a. O., S. 407 (Hervorh. von mir). – Der habitus als Fertigkeit der Neigung ist eine Beschaffenheit der Sinnlichkeit (der Begierde, ebd., S. 212; vgl. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Ak.-Ausg., Bd. VII, S. 251); der habitus als Fertigkeit zu 731

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Doch diese Integration der Sinnlichkeit ist für Kants Begriff der Tugend keineswegs maßgebend. Sie kann – wie die Erfahrung zeigt – zur moralischen Güte hinzutreten, aber sie bleibt ihr äußerlich, wie dem Herkules das Gefolge der Grazien.739 Aufhorchen läßt § 53, der letzte der Metaphysik der Sitten – nicht so sehr wegen der darin bemühten »Pflicht […], sich in eine fröhliche Gemütsstimmung zu versetzen und sie sich habituell zu machen«740 (wobei Kant unter dem Habituellen immer das Gewohnheitsmäßige versteht741). Größer ist die Bedeutung, die den Gefühlen indirekt zukommt, wenn es heißt:742 »was man aber nicht mit Lust, sondern bloß als Frondienst tut, das hat für den, der hierin seiner Pflicht gehorcht, keinen inneren Wert und wird nicht geliebt […]« Was meint hier »innerer Wert«? Läßt sich denn davon noch einmal ein äußerer Wert unterscheiden, der das Wesentliche der Sittlichkeit auch bei lustloser Pflichterfüllung garantierte? Aber Handeln aus Pflicht ist ja in der kritischen Moralphilosophie identisch mit wertvollem Handeln schlechthin. Der Mangel an innerem Wert könnte also bedeuten: was man »bloß als Frondienst« tut, ist für den Handelnden (subjektiv) wertlos, behält aber (objektiv) seinen Wert an sich. In dieser Perspektive wäre dann zu sagen, daß es der guten Handlung äußerlich sein kann, keinen inneren Wert zu haben. Das erinnert an die Situation des »simul iustus et peccator«. Doch in dieser Situation, in der der Aspekt des an sich und der des für uns auseinanderfallen, kann man nicht verharren.743 Auch Kant findet, daß »der, welcher sich keiner vorsetzlichen Übertretung bewußt […] ist«, Ursache hat, »frohen Muts zu sein«.744 So muß sich also zur an sich guten Handlung über kurz oder lang auch die entsprechende innere Bewertung einstellen; wenn wir das Gute tun, müssen wir am Ende auch ein gutes Gefühl haben. Anfangs hatte Kant unterstrichen, daß »eine Metaphysik der Sitten […] nicht auf Anthropologie gegründet«745 werden könne. Jetzt wird der Anthropologie zumindest ein Veto-Recht in ethicis eingeräumt – oder sagen wir vorsichtiger: ihre Signale werden ernst genommen. Wenn auch die Übereinstimmung von Pflicht und Neigung nicht für die Realisierung des Sittlichen konstitutiv ist, so benähme doch ihre dauernde Dissonanz dem Handeln aus Pflicht seinen Wert – zwar nur den »inneren«, nicht den Wert »an sich«. Aber der Einspruch der Neigung schlägt eben auf die

handeln dagegen eine Beschaffenheit des Willens (Die Metaphysik der Sitten, S. 407). Vgl. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, a. a. O., S. 147. 739 Vgl. Die Metaphysik der Sitten, § 48; a. a. O., S. 473. 740 Ebd., § 53, S. 485. 741 Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, a. a. O., S. 286. 742 Die Metaphysik der Sitten, § 53, S. 484. 743 Wie Luther im Sermo de duplici iustitia gezeigt hat: vgl. Anm. 546. 744 Die Metaphysik der Sitten, § 53, S. 485. 745 Ebd., S. 217.

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Verfassung des ganzen Menschen durch (der ganze Mensch, und nicht nur die Sinnlichkeit, leidet darunter, etwas »nicht mit Lust, sondern bloß als Frondienst« zu tun), und der späte Kant sieht die Notwendigkeit, diesem Einspruch Rechnung zu tragen. Damit scheint746 die Desinkarnation der Vernunft überwunden. Wir dürfen annehmen, daß Kant diesen Schritt, der ihn an die Grenzen des eigenen Systems bringt, unter dem Einfluß Schillers getan hat.

B. Habitus als Spannung: Kierkegaard 1. Kierkegaard und die aristotelische Tradition Es mag auf den ersten Blick befremden, wenn Kierkegaard in eine Untersuchung hineingezogen wird, die einem aristotelischen Leitbegriff folgt: Schon der Titel seines ersten philosophischen Werks, Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates, scheint ihn doch eher in die platonische Tradition zu stellen. Angenommen aber, es ließen sich Berührungspunkte mit dem habitus-Gedanken747 finden, so kann es mit dem Aufspüren derselben nicht getan sein – auch der habitus-Gedanke wird sich durch solche Berührung gewandelt zeigen. Ungeachtet ihrer historischen Herangehensweise kann unsere Interpretation sich ja nicht darauf beschränken, einen Gedanken, dessen Unverzichtbarkeit für ein angemessenes Verständnis menschlichen Selbstseins und Handelns in der Auseinandersetzung mit habitus-kritischen Positionen dargetan wurde, in der bei Aristoteles grundgelegten

746

Man täte Kant unrecht, wollte man ihn auf Grund seiner späten Tugendlehre zum Aristoteliker machen. Das vermeidet auch die ausgewogene Studie Making a Necessity of Virtue. Aristotle and Kant on Virtue von Nancy Sherman (Cambridge 1997). Obwohl gezeigt werden soll, daß für Kant die Emotionen eine größere Rolle spielen als gemeinhin angenommen (»they are a central feature of the best in human moral perfection«, ebd., S. 361), bleibt es bei »Kant’s ambivalence about the role of emotion« (ebd., S. 183f.). 747 Der habitus-Begriff spielt für Kierkegaard genausowenig eine Rolle wie für Schiller. Nur einmal, soweit ich sehe, ist beiläufig vom »ethischen Habitus« die Rede; vgl. S. Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken (1846), übers. von Hans Martin Junghans, 2. Bd., Gütersloh 31994 , S. 168. – Einmal allerdings tauchen die ξεις in seiner Feder auf: in einem Exzerpt von Nik. Ethik, II, 4 (1105 b 20; vgl. Anm. 84). Kierkegaard merkt an, daß ξεις bei Garve mit »Fertigkeiten« übersetzt wird. Vgl. Søren Kierkegaards Papirer, hrsg. von P. A. Heiberg u. a., Kopenhagen 1909ff., Bd. IV (= Pap. IV C 18). Vgl. Niels Thulstrup: Katalog over Søren Kierkegaards Bibliotek, Kopenhagen 1957, Katalog-Nr. 1082–83, 1088–89 (Nik. Ethik und Politik in der Übersetzung Garves). – Für Kierkegaards Aristoteles-Rezeption gilt wohl noch das Wort von Niels Thulstrup: »Das ganze Verhältnis Kierkegaards zu Aristoteles ist bislang in der Forschung nicht in der Weise selbständig behandelt worden, wie es wünschenswert wäre.« Kierkegaards Verhältnis zu Hegel und zum spekulativen Idealismus 1835–1846. Historischanalytische Untersuchung, Stuttgart u. a. 1972, S. 234f.

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und bei Thomas von Aquin weiterentwickelten Form als verbindlichen Maßstab aller künftigen Ethik und Anthropologie anzulegen. Überzeugend wird also eine Kierkegaard-Deutung sub specie habitu vor allem dann sein, wenn sie nicht nur bemüht ist, bei Kierkegaard wiederzufinden, was »schon Aristoteles« gesagt hat, sondern für eine Weiterentwicklung des habitus-Gedankens unter den Bedingungen der Moderne offen ist. Aber was heißt das? Zweifellos ist Kierkegaard ein »moderner Denker«, jedoch einer, der zur eigenen Zeit in einem äußerst spannungsvollen Verhältnis steht. Als Kritiker der von Hegel bestimmten zeitgenössischen Spekulation versucht er, an die vormoderne Spiritualität anzuknüpfen, wenn ihm auch das Mittelalter oder die so oft bei ihm zum Vergleich herangezogene »Klosterbewegung des Mittelalters« eher als abstrakte (und daher wieder kritikbedürftige) Größen bekannt gewesen sein dürften. Jedenfalls sehen Vertreter beider ehedem konkurrierenden Schulen, Thomisten und Scotisten, in Kierkegaard einen Verbündeten, obgleich sich keine direkte Bekanntschaft des dänischen Philosophen mit Thomas748 oder Scotus749 nachweisen läßt. Aber Kierkegaards Protest gegen die eigene Zeit führt nicht ins Mittelalter – auch nicht in die Antike – zurück; die Polis als Stätte der weltlichen, das Kloster als Stätte der geistlichen Tugenden stehen nicht mehr zur Verfügung. Es ist die Herausforderung des Christwerdens unter erschwerten Bedingungen, in der Kierkegaard die Aufgabe der Gegenwart erkennt. Sie bringt es mit sich, daß »Leidenschaft und Reflexion« sich nicht, wie sonst, »ausschließend zueinander verhalten«,750 sondern dazu, daß »das Dialektische und die Reflexion […] dazu benutzt werden, um die Leidenschaft zu potenzieren«.751 Diese Potenzierung der Leidenschaft geht nicht nur über Aristoteles, sondern auch über Hegel752 hinaus. 748

Vgl. Cornelio Fabro: »Kierkegaard e San Tommaso«, Sapienza, 11 (1956), S. 292–308; ders.: »Influssi cattolici sulla spiritualità kierkegaardiana«, Humanitas, 17 (1962), S. 501–507. Für eine Annäherung Kierkegaard – Thomas von Aquin neueren Datums vgl. Elisabeth Zwick: Der Mensch als personale Existenz: Entwürfe existentialer Anthropologie und ihre pädagogischen Implikationen bei Sören Kierkegaard und Thomas von Aquin, St. Ottilien 1992; Michael Theunissen: Der Begriff Verzweiflung. Korrekturen an Kierkegaard, Frankfurt a. M. 1993, S. 125– 132. 749 Vgl. Béraud de Saint-Maurice: »The Contemporary Significance of Duns Scotus’ Philosophy«, in: John K. Ryan / B. M. Bonansea (Hrsg.): John Duns Scotus, 1265–1965, Washington 1965, S. 345–367, hier S. 363: »Kierkegaard’s theory of choice, which asserts that liberty is the deepest characteristic of human beings, savors of Duns Scotus’ own appreciation and doctrine on this matter.« 750 Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken, 2. Bd., a. a. O., S. 325 (im folgenden zit. als Nachschrift). 751 Ebd., S. 325f. 752 Vgl. Hegel: Wissenschaft der Logik, Vorrede zur zweiten Ausgabe (7.11.1831), in: Sämtliche Werke, hrsg. von H. Glockner, 4. Bd., Stuttgart-Bad Cannstatt 41965, S. 35, wo »für die Theilnahme an der leidenschaftslosen Stille der nur denkenden Erkenntniß« plädiert wird.

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Eine Tagebuchnotiz vom August 1847 läßt aufhorchen. Kierkegaard plant »Ein strenges wissenschaftliches Werk über die geistliche Redekunst mit ständiger Rücksicht auf Aristoteles’ Rhetorik«,753 der Anklang an den Titel der Dissertation (»mit ständiger Rücksicht auf Sokrates«) verkündet eine neue Blickrichtung. Im Februar desselben Jahres hatte Kierkegaard die Geschichte der Kategorienlehre von Adolf Trendelenburg studiert. Das Tagebuch vermerkt:754 »Es gibt doch keinen modernen Philosophen, von dem ich den Gewinn gehabt habe wie von Trendelenburg. […] jetzt, da ich ihn gelesen habe, wieviel klarer und deutlicher wird mir doch alles. Ich stehe auf eine wunderliche Art im Verhältnis zu ihm. Etwas, was mich schon vor längerer Zeit beschäftigt hat, ist die ganze Lehre von den Kategorien […] und jetzt hat Trendelenburg zwei Abhandlungen über die Kategorienlehre geschrieben, die ich mit äußerster Anteilnahme lese.« In der Nachschrift wird Trendelenburg als Kritiker von Hegels Bewegungsbegriff gelobt – als ein »Mann, der sich und sein Denken von jedem […] kriecherischen Verhältnis zu Hegel freizumachen gewußt hat«, ein »Mann, der sich lieber mit Aristoteles und mit sich selbst hat genügen lassen wollen«.755 Nimmt man hierzu noch, daß die Nikomachische Ethik zu Kierkegaards Lieblingsbüchern756 zählt, so steht der Suche nach habitus-Motiven in seinem Werk nichts mehr im Wege.

2. Habitus als Lebensform: Entweder–Oder a) »Die ästhetische Gültigkeit der Ehe«757 Daß es in Entweder–Oder um die Fortführung des Schillerschen Themas, um die Versöhnung von Ästhetik und Ethik, bzw. um den Nachvollzug der schon in der

753

Kierkegaard: Papirer (wie Anm. 747) VIII A 229. Kierkegaard: Die Tagebücher, 2. Bd., Düsseldorf/Köln 1963, S. 81 (= Pap. VIII A 18). – Vgl. Adolf Trendelenburg: Geschichte der Kategorienlehre. Zwei Abhandlungen, Berlin 1846, Nachdruck Hildesheim 1963. Die beiden Abhandlungen gehen über »Aristoteles [sic] Kategorienlehre« und »Die Kategorienlehre in der Geschichte der Philosophie«. 755 Kierkegaard: Nachschrift, 1. Bd., Gütersloh 31994, S. 102. – In einem Tagebucheintrag entwirft Kierkegaard eine Szene in der Unterwelt, in der Hegel und Sokrates ins Gespräch kommen, nachdem Hegel sich über eine Stelle aus Trendelenburgs Logischen Untersuchungen (Berlin 1840) – die er wohl zur Strafe in der Unterwelt lesen muß – beklagt hatte. Vgl. Die Tagebücher, 2. Bd., a. a. O., S. 236 (= Pap. VI A 145). 756 Vgl. Theodor Haecker: »Sören Kierkegaard«, in ders.: Essays, München 1958, S. 189 (vgl. Entweder–Oder, wie in der folgenden Anm., S. 901). 757 Kierkegaard: »Die ästhetische Gültigkeit der Ehe«, in: Entweder–Oder (1843), Übers. von Heinrich Fauteck, München (dtv) 31980, S. 525–703. 754

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Summa theologiae vorexerzierten »Taufe der Leidenschaften«758 und damit um den in der Nikomachischen Ethik beispielhaft entwickelten Ausgleich von Affektivität und Vernunft geht, ist auf den ersten Blick zu sehen: an dem gerade erwähnten Motto der Schrift, am ersten langen Brief, den der Gerichtsrat Wilhelm an seinen Freund, den Ästhetiker A richtet (»Die ästhetische Gültigkeit der Ehe«), schließlich am zweiten Brieftraktat mit dem Titel »Das Gleichgewicht zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen in der Herausarbeitung der Persönlichkeit«.759 Ohne eigens darauf hinzuweisen, trägt Kierkegaard dem Umstand Rechnung, daß habitus sich nur im Kontext bestimmter Lebensformen ausbilden lassen: der Antike stand das Forum der Polis zu Gebote, dem Mittelalter die Lebensform des in Zünften organisierten Handwerks sowie die des Mönchtums – was bietet die Neuzeit Vergleichbares, wenn man nicht gerade auf die aussterbende und allenfalls als wehmütig beschworene Idylle »wirkliche« Lebensform des Bauern760 rekurrieren will? Kierkegaard legt seiner Darstellung eine Lebensform zu Grunde, die in gewisser Weise zeitlos und von ihrer Struktur her so beschaffen ist, daß sie ein ästhetisch-unmittelbares Moment (die erste Liebe, bzw. die Verliebtheit) voraussetzt, das in ethischer Vermittlung aufgehoben (im Hegelschen Doppelsinn) wird: die Ehe. Aber warum soll die Ehe ästhetisch gerechtfertigt werden? Heißt das nicht, das Ästhetische über das Ethische stellen? Hatte Schiller von einem ethischen Standpunkt aus gegen Kant geltend gemacht, daß das Gute zu seiner eigenen Vollkommenheit um das Schöne ergänzt werden müsse, so scheint Kierkegaard die Ethik vor das Tribunal der Ästhetik zu zerren. Oder, um die Sache von einer anderen Seite zu betrachten: wenn sich, wie aus der Anlage von Entweder–Oder hervorzugehen scheint, das Ästhetische nur in der Sphäre des Ethischen retten läßt, liegt dann nicht der Verdacht nahe, die Ästhetik bediene sich aus Gründen der Selbsterhaltung der Ethik? 758

Vgl. das Motto (aus Youngs Nachtgedanken): »Ist denn Vernunft allein getauft?/Sind die Leidenschaften Heiden?«, in: Entweder-Oder, ebd, S. 10 (Wortlaut leicht geändert). – Vgl. dazu Johannes Sløk: Christentum mit Leidenschaft. Ein Weg-Weiser zur Gedankenwelt Søren Kierkegaards, München 1990, S. 59: »[…] wenn Kierkegaard ein Motto wählt, dann kann man sicher sein, daß er damit etwas Zentrales ausdrücken will. Vielleicht kann man daher die Behauptung aufstellen, daß Kierkegaards Absicht in seinem gesamten Werk letztendlich darin besteht, die Leidenschaft zu taufen. Was nicht nur heißt, daß er sie als etwas Wichtiges und Zentrales hervorheben will, sondern auch, daß sie anerkannt werden soll als der eigentliche Kern des Christentums.« 759 A. a. O., S. 704–914. 760 Wo gibt es noch den von Martin Buber evozierten Bauern, der angesichts dessen, daß »die Pflugschar so weich und tief in die Erde fuhr, als tue sich der Acker mit Willen ihr auf, […] die Gnade der Dinge erfahren hat«? Vgl. Das Problem des Menschen, Heidelberg 1948, S. 149 (Hervorh. im Orig.).

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Im Frühjahr 1843 heißt es im Tagebuch:761 »Man soll ästhetisch so entwickelt sein, daß man die ethischen Fragen ästhetisch fassen kann, sonst ist es Dreck mit dem Ethischen.« Wie Schleiermacher in den Reden Über die Religion, wie Chateaubriand im Génie du christianisme befolgt Kierkegaard die Regel, daß jede Kommunikation mit dem modernen Gebildeten, gerade wenn es ihr um den Transport einer höheren Botschaft geht, sich erst einmal durch die Rücksicht auf ästhetische Interessen Eingang verschaffen muß.762 Doch der Brief des Ethikers B über die ästhetische Gültigkeit der Ehe tut noch mehr: er nimmt selber die Perspektive des Ästhetikers A ein und zeigt deren innere Widersprüchlichkeit. Eine Existenz wie die des ästhetischen Prototypen Don Juan ist zum Scheitern verurteilt. Ein Mann, der 1003 Frauen liebt, liebt in Wirklichkeit gar keine, und er selbst kann eigentlich nicht als einer bezeichnet werden, denn »sein Leben ist die Summe repellierender Momente, die keinerlei Zusammenhang haben«763. Entsprechend muß sich A sagen lassen: »Dein Leben löst sich in lauter […] interessante(n) Einzelheiten auf. […] Kontinuität […] fehlt Deinem Leben.«764 (Hier darf an die Reduktion der Bewegung auf diskrete Momente in Ockhams Naturphilosophie erinnert werden – wo Zeit und Bewegung punktuell und nicht als Kontinuum aufgefaßt werden, ist auch dem Verständnis seelischen Wachstums in der Zeit der Boden entzogen.765) Wer in der Unmittelbarkeit ästhetischen Selbstgenusses bleibt, unterliegt dem Verfallsgesetz der Zeit766 – deswegen ist Don Juan immer in Eile, deswegen resümiert »Das Tagebuch des Verführers«: »Ich wünsche mich nicht an mein Verhältnis 761

Kierkegaard: Die Tagebücher, 1. Bd., Düsseldorf/Köln 1962, S. 301 (= Pap. IV A 92). Vgl. Kierkegaard: Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller (1859, posthum), in: Die Schriften über sich selbst, Gütersloh 1985, S. 37: »Der religiöse Schriftsteller muß denn also zuerst sehen, in Rapport mit den Menschen zu kommen. Das heißt, er muß mit einer ästhetischen Leistung anfangen. Das ist das Handgeld. Je glanzvoller die Leistung ist, umso besser für ihn.« 763 Entweder–Oder, a. a. O., S. 117. 764 Ebd., S. 532, 750. – Vgl. ebd., S. 707f.: »[…] kannst Du Dir etwas Entsetzlicheres denken, als daß es damit endete, daß Dein Wesen sich in eine Vielfalt auflöste, daß Du wirklich zu mehreren, daß Du gleich jenen unglücklichen Dämonischen eine Legion würdest und Du solchermaßen das Innerste, Heiligste in einem Menschen verloren hättest, die bindende Macht der Persönlichkeit?« 765 Vgl. das Ockham-Kap., bes. den 1. Abschnitt: »Zeit und Bewegung bei Ockham«, S. 97ff. 766 Vgl. Aristoteles: Physik, IV, 12 (221 b 1f.): »Denn an und für sich genommen ist die Zeit eher Urheberin von Verfall« (Übers. von H. G. Zekl). – Vgl. Thomas von Aquin: Summa theol., I–II, qu. 53, a. 3 ad 3. – Entsprechend resümiert Kierkegaard in der Rückschau auf das eigene Werk (im 1. Bd. der Nachschrift, a. a. O., S. 291): »Der Ethiker [gemeint ist der Gerichtsrat aus den Stadien, s. u., Anm. 784] […] zieht […] eine neue Seite ans Licht und macht besonders die Kategorie der Zeit und ihre Bedeutung […] für die mit der Zeit wachsende Schönheit geltend, während ästhetisch betrachtet die Zeit und die Existenz in der Zeit mehr oder weniger Rückgang bedeutet.« 762

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zu ihr zu erinnern […] Ich habe sie geliebt; doch von nun an kann sie meine Seele nicht mehr beschäftigen.«767 Die ethische Aufgabe läßt sich dagegen bestimmen als: in der Zeit der Zeit entgegenarbeiten – aus der Zeit etwas Zeitüberdauerndes machen, und das heißt mit Bezug auf die eigene Existenz zunächst: einer werden. In sein Handexemplar von Entweder–Oder hat Kierkegaard folgende Zusammenfassung notiert:768 »Das, woran der erste Teil ständig strandet, ist die Zeit. Deshalb macht der zweite Teil diese allererst geltend, indem dort in der ersten Abhandlung [dem ersten Brief von B] gezeigt wird, daß das Ästhetische sich selbst in der Zeit aufhebt, und in der zweiten Abhandlung, daß Geschichte werden, Geschichte bekommen können die Bedeutung der Endlichkeit und der Zeitlichkeit ist.«

b) »Das Gleichgewicht zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen« Um vom Ästhetischen ins Ethische zu kommen, »ist eine Willensbestimmung erforderlich«,769 von der zwar auch die Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen beiläufig gesprochen hatten,770 die aber nun in einer ganz anderen Weise ausgearbeitet wird. Es geht um den Begriff der Wahl und um den Begriff der Reue. In seiner zweiten Abhandlung illustriert B das Extrem einer dem Ästhetischen verhafteten Persönlichkeit an der Figur des Kaisers Nero. Nero »greift […] nach der Lust, die Klugheit aller Welt muß ihm neue Lüste ersinnen, denn nur im Augenblick der Lust findet er Ruhe, und ist der vorüber, so keucht er vor Mattigkeit.«771 Er weigert sich, aus der Unmittelbarkeit herauszutreten und sich als geistige Existenz zu bestimmen. Weil er dieser Konfrontation ausweicht, weil er den Blick nach innen scheut, gilt von ihm: »Nero besitzt sich selber nicht […] Er ist wie besessen, unfrei in sich selbst […]«772 Aber er kann auch den anderen nicht in die Augen

767

Entweder–Oder, a. a. O., S. 521. Die Tagebücher, 1. Bd., a. a. O., S. 343 (= Pap. IV A 213). 769 Entweder–Oder, a. a. O., S. 545. 770 Vgl. den 23. Brief, wo Schiller über den »Schritt von dem ästhetischen Zustand zu dem […] moralischen« sagt, er sei »unendlich leichter, als der Schritt von dem physischen Zustande zu dem ästhetischen«: Der Übergang vom ästhetischen zum ethischen Zustand scheint keine größeren Schwierigkeiten zu bereiten, denn »der ästhetisch gestimmte Mensch wird allgemeingültig urteilen, und allgemeingültig handeln, sobald er es wollen wird.« Schiller: Sämtliche Werke, hrsg. von G. Fricke und H. G. Göpfert, 5. Bd., Darmstadt 91993, S. 642. – Vgl. oben, S. 165 sowie Anm. 695. 771 Entweder–Oder, a. a. O., S. 738f. 772 Ebd., S. 739. 768

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sehen. Es ist, »als wollte jeder Blick ihn binden. Er, Roms Kaiser, fürchtet den Blick des elendesten Sklaven.«773 B bestimmt diese Existenzphase als Schwermut:774 »Es kommt im Leben des Menschen ein Augenblick, da die Unmittelbarkeit gleichsam reif geworden ist und da der Geist eine höhere Form fordert, da er sich selbst als Geist ergreifen will. Als unmittelbarer Geist hängt der Mensch mit dem ganzen irdischen Leben zusammen, und nun will der Geist gleichsam aus dieser Zerstreutheit heraus sich sammeln und sich in sich selbst erklären; die Persönlichkeit will sich ihrer selbst in ihrer ewigen Gültigkeit bewußt werden. Geschieht dies nicht, wird die Bewegung unterbrochen, wird sie zurückgedrückt, so tritt Schwermut ein.« Nicht in der äußerlichen Grausamkeit, wohl aber in der Schwermut des Ästhetikers Nero kann der reflektierte Romantiker A sich wiedererkennen. Tut er es, so findet er sich zugleich unter einer ethischen Bestimmung:775 »Schwermut aber ist Sünde, ist eigentlich eine Sünde instar omnium, denn es ist die Sünde, nicht tief und innerlich zu wollen, und dies ist eine Mutter aller Sünden. Diese Krankheit, oder vielmehr diese Sünde ist überaus verbreitet in unserer Zeit […]« Der Ästhetiker könnte einwenden: ich habe doch gewollt, alles Mögliche habe ich gewollt, keine Gelegenheit zu neuen Erfahrungen habe ich unversucht gelassen … Aber sein Wollen steht offenbar in einem Mißverhältnis zur Zeit. Die abgelaufenen Momente seines Lebens und Erlebens verschwinden, ohne ein Kontinuum zu bilden. Es gelingt ihm nicht, die Vergangenheit als seiner Identität wesentlich zugehörig festzuhalten. Er kann nur erobern, nicht besitzen.776 B schreibt:777 »[…] das Seelenvermögen, das Dir eigentlich fehlt, ist das Gedächtnis, das heißt nicht, ein Gedächtnis für dieses oder jenes, […] sondern Gedächtnis für Dein eigenes Leben, für das Erlebte darin. Hättest Du das, so würde die gleiche Erscheinung sich in Deinem Leben nicht so oft wiederholen […]« Für den Ästhetiker ist das Aufsichnehmen der eigenen Vergangenheit schmerzhaft. Sein Zustand des Vor-sich-selber-davonlaufens war unbewußte Verzweiflung;778 es geht jetzt darum, diese Verzweiflung bewußt zu machen und in Verzweiflung das eigene Selbst zu wählen:779 »So wähle denn die Verzweiflung […] 773

Ebd. Ebd., S. 741f. 775 Ebd., S. 742 (zweite Hervorh. von mir). Der Text fährt fort: »und zwar ist sie etwa diejenige, unter der das ganze junge Deutschland und Frankreich seufzt.« 776 Vgl. Entweder–Oder, ebd., S. 675–677. 777 Ebd., S. 752. 778 »Es zeigt sich also, daß jede ästhetische Lebensanschauung Verzweiflung ist und daß ein jeder, der ästhetisch lebt, verzweifelt ist, ob er es nun weiß oder nicht. Wenn man dies aber weiß, […] so ist eine höhere Form des Daseins eine unabweisliche Forderung.« Ebd., S. 746. 779 Ebd., S. 768. – In gewisser Weise steht die Selbstwahl zwischen dem aristotelischen »Habitus des Wählens« und der scotischen »acceptatio divina«: Bei Aristoteles ist die Tugend als ξις 774

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Und indem man verzweifelt, wählt man wieder, und was wählt man da, man wählt sich selbst, nicht in seiner Unmittelbarkeit, nicht als dieses zufällige Individuum, sondern man wählt sich selbst in seiner ewigen Gültigkeit.« Das eigene Selbst absolut wählen, sich zur eigenen Geschichte bekennen, heißt sich selbst als schuldig wählen, sich selbst bereuen.780 Man kann die Dialektik von Selbstauflösung und Selbstwerdung im Verhältnis zur Zeit so beschreiben: Solange Don Juan von einem Erlebnis zum nächsten stürmt, löst sich die gelebte Existenz in diskreten Episoden auf; Don Juan weiß also nichts von sich, von seiner Verführervergangenheit – in dieser Hinsicht ist er »selbstlos« –, und genau das macht ihn zum gewissenlosen Verführer. Würde er den Blick in die eigene Vergangenheit riskieren, sich die gelebte Existenz aneignen, so erwürbe er sein Selbst, verlöre aber damit das Nur-im-Augenblick-aufgehen, das die Voraussetzung der Don-Juan-Existenz darπροαιρετικ (Nik. Ethik, II, 6; 1106 b 36) bestimmt, die sich bei Thomas als Kultur der verschiedenen Seelenteile zu einem System von vier Haupttugenden (temperantia und fortitudo im appetitus sensitivus, iustitia im Willen, Klugheit in der praktischen Vernunft) mit insgesamt 44 Einzeltugenden auffächert (vgl. Anm. 160–164 sowie Otto Hermann Pesch: Thomas von Aquin. Grenze und Größe mittelalterlicher Theologie, Mainz 31995, S. 238). Bei Scotus tritt an die Spitze der Tugendpyramide – diese nicht nur krönend, sondern de potentia Dei absoluta überflüssig machend – die für das Gelingen der menschlichen Existenz alles Entscheidende acceptatio divina (vgl. den 3. Abschnitt im Scotus-Kap.). Auf den ersten Blick sieht die Selbstwahl der acceptatio divina sehr ähnlich. Aber ein wesentlicher Unterschied bleibt: Die der göttlichen Allmacht anheimgestellte Option betreffs der ewigen Seligkeit kommt einer Neuschöpfung aus dem Nichts gleich (vgl. Anm. 324 f.); die Selbstwahl hingegen bedeutet bewußt und frei (und in Reue) vollzogene Aneignung dessen, was der Mensch schon ist. »Wenn nämlich das, was ich wähle, nicht da wäre, sondern absolut durch die Wahl entstünde, so wählte ich nicht, so erschüfe ich; aber ich erschaffe mich nicht, ich wähle mich. Während daher die Natur aus nichts erschaffen ist, während ich selbst als unmittelbare Persönlichkeit aus nichts erschaffen bin, so bin ich als freier Geist … dadurch geboren, daß ich mich selbst wählte.« Entweder–Oder, a. a. O., S. 773f. Mit dem Anerkennen dieses Unterschieds gewinnt die Persönlichkeit in ihrer Selbstwahl zugleich ein wesentliches Verhältnis zur Pflicht (vgl. S. 839f.); denn indem der Mensch weiß, daß er »sich nicht aus dem Nichts erschafft«, weiß er auch, »daß er sich in seiner Konkretion als seine Aufgabe hat« (S. 913). – Mit der acceptatio divina teilt die Selbstwahl ihre Einmaligkeit; mit dem aristotelisch-thomasischen habitus hingegen die Bewährung in der Wiederholung. Vgl. Nachschrift, 2. Bd., a. a. O., S. 13: für den Existierenden kommt es auf »die Entscheidung und die Wiederholung« an. Vgl. George J. Stack: »Aristotle and Kierkegaard’s Existential Ethics«, Journal of the History of Philosophy, 12 (1974), S. 1–19, hier S. 8, sowie vom selben Autor: »Aristotle and Kierkegaard’s Concept of Choice«, The Modern Schoolman, 46 (1968/69), S. 11–23. 780 A. a. O., S. 774f. – »Auf diese Bestimmung, daß das Sich-selbst-wählen identisch sei mit dem Sich-selbst-bereuen, kann ich gar nicht oft genug zurückkommen […] Um sie dreht sich nämlich alles.« (S. 813.) – Über die dialektische Struktur der Reue, die nicht – was freilich ein Ding der Unmöglichkeit wäre – das Vergangene ungeschehen, sondern es – in der Anerkennung seiner moralischen Dimension – nachträglich geschehen macht und dadurch von ihm befreit, vgl. Max Scheler: »Reue und Wiedergeburt«, in: Vom Ewigen im Menschen, in: Gesammelte Werke, Bd. 5, Bern/München 51968, S. 33ff.

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stellt. Im Moment der Wahl sieht es daher so aus, als müsse mit dem Ästhetischen ein für allemal gebrochen werden:781 »Das Ethische ist etwas ganz anderes als das Ästhetische, und wenn es hervortritt, vernichtet es dieses ganz und gar. Und wenn dem so wäre, so würde ich doch nicht zweifeln, was ich wählen sollte. In der Verzweiflung gibt es einen Augenblick, da es so scheint, und wer das nicht gefühlt hat, dessen Verzweiflung ist […] trügerisch gewesen, und der hat sich nicht ethisch gewählt.« Aber die Trennung des Guten und des Schönen ist nur ein psychologisches Durchgangsstadium, denn es »erweist sich die Verzweiflung im nächsten Augenblick nicht als ein Bruch, sondern als eine Metamorphose. Alles kommt wieder, jedoch verklärt. Erst wenn man das Leben ethisch betrachtet, erst dann gewinnt es Schönheit, Wahrheit, Sinn, Bestand […]«782 Anders gesagt:783 »In der Verzweiflung geht nichts unter, alles Ästhetische bleibt im Menschen, nur daß es zu einem Dienenden gemacht worden ist, und eben dadurch ist es bewahrt. […] Der Ethiker führt nur die Verzweiflung zu Ende, die der höhere Ästhetiker bereits begonnen, aber willkürlich abgebrochen hat […]« Dem Ästhetischen ist nunmehr sein wahrer Platz angewiesen: anstatt in einer Direktheit angestrebt zu werden, die die Persönlichkeit mit sich selbst entzweit, stellt es sich sozusagen als der Glanz des Guten von selbst wieder ein – ja, als Glanz des Guten ist die Dimension des Schönen gegenüber dem unmittelbar Schönen wesentlich erweitert.784

781

A. a. O., S. 840. Ebd. – Vgl. S. 819: Das Ethische »will also das Individuum nicht zu einem anderen machen, sondern zu ihm selbst; es will das Ästhetische nicht vernichten, sondern es verklären.« 783 Ebd., S. 790. – Vgl. S. 728: »Durch die absolute Wahl ist somit das Ethische gesetzt; doch folgt daraus keineswegs, daß das Ästhetische ausgeschlossen ist. […] Indem die Persönlichkeit sich selbst wählt, wählt sie sich selbst ethisch und schließt das Ästhetische absolut aus; da aber der Mensch sich selbst wählt und dadurch, daß er sich selbst wählt, nicht ein anderes Wesen, sondern er selbst wird, so kehrt das ganze Ästhetische in seiner Relativität zurück.« 784 So läßt Kierkegaard den Gerichtsrat in den Stadien sagen, »daß das Weib mit den Jahren schöner wird.« Stadien auf des Lebens Weg (1845), Bd. 1, Gütersloh 1982, S. 140. »Als Braut ist das Weib schöner denn als junges Mädchen, als Mutter schöner denn als Braut, […] und mit den Jahren wird sie schöner.« Das liegt daran, daß in der Ehe die Liebe wächst, und »lieben das Schöne sehen heißt.« Ebd., S. 147. 782

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3. Die Metamorphosen der Leidenschaft: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift a) Auf der Suche nach Leidenschaft 785 Wie für Schiller, so ist auch für Kierkegaard die ethische Herausforderung nicht der »schlimme Einfluß einer überwiegenden Sensualität auf unser Denken und Handeln«, sondern »der nachteilige Einfluß einer überwiegenden Rationalität auf unsre Erkenntnis und unser Betragen.«786 Ende 1841 steht im Tagebuch:787 »Leidenschaft ist doch die Hauptsache, sie ist der eigentliche Kraftmesser für die Menschen. Unsere Zeit ist deswegen so erbärmlich, weil sie keine Leidenschaften hat.« Dieses Urteil kehrt in Kierkegaards Schriften immer wieder, und der Gegenbegriff zu Leidenschaft heißt: Reflexion. »Die Gegenwart ist wesentlich verständig, reflektierend, leidenschaftslos […]«788 – Geht es also darum, die Reflexion loszuwerden zugunsten der Leidenschaft? Nein:789 »All mein Reden von Pathos und Leidenschaft mißverstehe niemand, als ob ich gedächte, jede unbeschnittene Unmittelbarkeit, jede unbarbierte Leidenschaft zur Herrschaft zu bringen.« Eine Absage an die Reflexion wäre auch gerade aus dem Munde Kierkegaards besonders unglaubwürdig, sagt er doch von sich »ich bin eigentlich Reflexion von Anfang bis zu Ende.«790 785

Vgl. Karstein Hopland: »Passion (Lidenskab)«, in: M. M. Thulstrup (Hrsg.): Some of Kierkegaard’s Main Categories (= Bibliotheca Kierkegaardiana, Bd. 16), Kopenhagen 1988, S. 80–93. 786 Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 13. Brief, Anm. 1 (wie Anm. 770), S. 609. 787 Kierkegaard: Die Tagebücher, 1. Bd., a. a. O., S. 274 (= Pap. III A 185). – Vgl. Entweder–Oder, a. a. O., S. 37: »Laß andere darüber klagen, daß die Zeit böse sei; ich klage darüber, daß sie erbärmlich ist; denn sie ist ohne Leidenschaft.« – Vgl. aus einer im Zusammenhang der Abfassung von Furcht und Zittern entstandenen Notiz: es läßt sich kaum »eine ungläubigere, oder richtiger, eine minder gläubige Zeit auftreiben […] als unsere, deren flache Verständigkeit alle Leidenschaft aus dem Leben herausgepumpt hat …« Furcht und Zittern, Gütersloh 21986, S. 161 (= Pap. IV B 76). – Vgl. Nachschrift, 1. Bd., a. a. O., S. 32: »[…] daß die ganze Zeit leidenschaftslos geworden ist […]« 788 Kierkegaard: Eine literarische Anzeige (1846), Gütersloh 1983, S. 72 (Hervorh. im Orig. gesp.). Vgl. ebd., S. 111: »Dergestalt ist die Gegenwart wesentlich verständig, sie ist vielleicht im Durchschnitt so wissend wie keine Generation zuvor es gewesen ist, aber sie ist ohne Leidenschaft.« – Furcht und Zittern (1843), übers. und hrsg. von Liselotte Richter, Reinbek bei Hamburg 1961, S. 38, Anm.: »[…] was der Zeit fehlt, ist nicht Reflexion, sondern Leidenschaft.« (In der Übers. von Emanuel Hirsch: Gütersloh 21986, S. 43, Anm.) 789 Die Tagebücher, 1. Bd., a. a. O., S. 332 (= Pap. V A 44). 790 Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller (wie Anm. 762), S. 79, vgl. S. 86 (»da bei mir alles Reflexion ist«); vgl. (aus einer früheren Fassung der Schriften über sich selbst, a. a. O., S. 149) »ich der ich doch gleich einem Inbegriff von Reflexion bin«, »ich, der ich zudem

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b) Leidenschaft und Reflexion Schon der Gerichtsrat aus Entweder–Oder hatte auf das Mißverständnis hingewiesen, »die Reflexion zerstöre nur« und bescheinigt, »daß sie ebensosehr erhält.«791 (Andernfalls wäre das Anliegen, die erste Liebe in der Ehe zu retten, zum Scheitern verurteilt.) Auf zweierlei Weise kann die Reflexion im Dienst der Leidenschaft stehen. Einmal indirekt, indem sie von leidenschaftszerstörender Reflexion befreit; zum anderen, indem sie geradezu die Leidenschaft potenziert. Der erste Fall steht in engstem Zusammenhang mit Kierkegaards Theorie der »mittelbaren Mitteilung« bzw. »Mitteilung in Reflexion«.792 Wie soll der Leidenschaft in einer leidenschaftslosen Zeit zu ihrem Recht verholfen werden? In einer leidenschaftslosen Zeit tritt an die Stelle des begeisterten Helden der heimlich begeisterte Ironiker.793 In dieser Rolle versteht sich Kierkegaard selbst. Lassen wir noch einmal das Tagebuch zu Wort kommen:794 »Was unsere Zeit nötig hat, ist Leidenschaft. […] Das Unglück der Zeit sind Verstand und Reflexion. Kein unmittelbar Begeisterter wird uns mehr helfen können, denn die Reflexion der Zeit frißt ihn auf. Schau, deshalb müßte ein Mensch her, der alle Reflexionen bis ans Ende durchreflektieren könnte; ein Verstandesmensch, der gerade unter der Verständigkeit und Herzlosigkeit und unter der Maske des Spotts und Witzes eine Begeisterung von erster Güte verborgen trüge.« Bevor wir uns dem zweiten Fall von leidenschaftsfördernder Reflexion zuwenden, drängt sich die Frage auf, was Kierkegaard eigentlich unter Leidenschaft versteht? Daß sie etwas höchst Wichtiges ist, etwas, was der Gegenwart – im Unterschied zu

von Natur ein geborener Dialektiker bin und gleichwie lauter Reflexion« (ebd., S. 150). – Vgl. die Tagebuchaufzeichung (Pap. X/1 A 497) aus dem Sommer 1849: »Denn gerade an dem Tag, als ich am Nachmittag Ernst damit machte, die Verlobung aufzuheben, gerade am Vormittag dieses Tages hatte ich das Gegenteil gesagt – und hätte ich das nicht getan, so hätte ich nicht die Kraft gehabt, am Nachmittag das Gegenteil zu tun. Das liegt daran, daß ich wie lauter Reflexion bin.« Zit. in Hayo Gerdes: Sören Kierkegaards ›Einübung im Christentum‹, Darmstadt 1982, S. 115. 791 Entweder–Oder, a. a. O., S. 575. 792 Vgl. Kierkegaard: Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller (1851), in: Die Schriften über sich selbst, a. a. O., S. 6. 793 Eine literarische Anzeige, a. a. O., S. 86: »[…] als ob der wahre Ironiker nicht vielmehr der heimlich Begeisterte wäre in einer verneinenden Zeit (ebenso wie der Held der offenkundig Begeisterte ist in einer bejahenden Zeit) […]« 794 Die Tagebücher, 2. Bd., a. a. O., S. 97 (= Pap. VIII A 92). Hervorh. im Orig. – Hayo Gerdes macht in einer Anmerkung (Anm. 248, a. a. O., S. 266) darauf aufmerksam, daß für »bis ans Ende« im Dänischen »renonce« (aus der Kartenspielsprache) steht. Theodor Haecker hat den Ausdruck beibehalten: »Siehe, darum mußte es einen Menschen geben, der alle Reflexionen renonce reflektieren konnte […]« (Die Tagebücher, 1. Bd., übers. von Th. Haecker, Innsbruck 1923, S. 326.) Kierkegaards Anliegen kommt darin besser zum Ausdruck: es bedarf der allerhöchsten Reflexion, um der Reflexion Paroli zu bieten.

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Antike und Mittelalter795 – fehlt, wissen wir; eine Definition des Begriffs sucht man aber vergeblich. Das dürfte nicht an der Nachlässigkeit unseres Autors liegen, sondern vielmehr daran, daß für ihn Leidenschaft etwas so Grundlegendes ist, daß es sich der Definition entzieht.796 An der Leidenschaft liegt für den Menschen alles – mit ihr verlöre er zugleich sein Menschsein.797 Vielleicht läßt sich das Phänomen am ehesten indirekt fassen: die Leidenschaft zeigt, daß uns etwas angeht, daß wir einer Sache bedürfen798 – daher die tiefe Skepsis Kants gegenüber der Leidenschaft, denn sie ist nicht mit Autonomie vereinbar.799 Leidenschaft meldet sich in verschiedenen Existenzsphären – zunächst in der ästhetischen, an der zugleich ihr Übergang in die nächsthöhere Sphäre, die ethische, sichtbar wird. Ein Beispiel: Ein junger Mann ist leidenschaftlich in ein Mädchen verliebt, »angegangen« von ihrer Ausstrahlung; er kommt gar nicht darauf, ihr gegenüber andere Gefühle zu entwickeln, als daß er ihr möglichst nahe sein will. Bei einem Spaziergang taucht auf einmal ein Fremder auf, der sich aufdringlich dem Mädchen nähert. Jetzt entscheidet sich, ob der Verliebte »Ästhetiker« bleiben will – dann könnte er sagen: Ach, ich sehe, hier wird mir der Genuß zu schwer gemacht, und sich abwenden.800 Er kann aber auch die doppelte Verantwortung wahrneh795

Nachschrift, 2. Bd., a. a. O., S. 108: »Das Mittelalter hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Griechenland, und zwar hatte es, was die Griechen hatten, Leidenschaft.« 796 So vermeidet auch Ronald de Sousa in Die Rationalität des Gefühls (Frankfurt a. M. 1997) es ganz bewußt, »eine Definition von Gefühl zu geben.« (Ebd., S. 47.) – Ähnliches gilt bei Thomas von Aquin für den Begriff des Wirklichseins: »Actus autem est de primis simplicibus; unde definiri non potest.« In XII libros Metaphysicorum Aristotelis expositio, lib. IX, c. 6, lectio 5, nr.1826 in der Marietti-Ausg. 797 »Existieren […] kann man nicht ohne Leidenschaft.« Nachschrift, 2. Bd., a. a. O., S. 12. »Alle Existenzprobleme sind leidenschaftlicher Art, denn mit der Existenz ist, wenn man sich ihrer bewußt wird, die Leidenschaft gegeben.« Ebd., S. 55. – Mit Blick auf die leidenschaftslose Objektivität des »Systems« heißt es daher: »Man hat das Menschsein abgeschafft […]« Nachschrift, 1. Bd., S. 117. – »[…] in der Leidenschaft liegt das Verlorengehen eines Menschen, aber auch seine Erhebung«, allerdings: » […] selbst wer in Leidenschaft verloren geht, hat nicht so viel verloren wie derjenige, der die Leidenschaft verlor […]« Nachschrift, 2. Bd., S. 325f. 798 Daher ist im Gottesverhältnis die Wahrheit auf der Seite dessen, »der darum unendlich besorgt ist, daß er sich mit der unendlichen Leidenschaft des Bedürfens zu Gott verhält«. Nachschrift, 1. Bd., a. a. O., S. 192 (Hervorh. von mir). 799 Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 74 (Ak.-Ausg., Bd. VII, S. 253): »Leidenschaft […] wünscht sich kein Mensch. Denn wer will sich in Ketten legen lassen, wenn er frei sein kann?« – Kierkegaard hingegen läßt Johannes Climacus, den pseudonymen Verfasser der Philosophischen Brocken, sagen, daß er sich selbst »und jedem diese ε"καταφορíα ε#ς πáθος [Geneigtheit zur Leidenschaft] wünsche, vor der nur der Stoiker warnen kann […]« Philosophische Brocken (1844), übers. und hrsg. von Liselotte Richter, Hamburg 1992, S. 14 (in der Übers. von Emanuel Hirsch: Gütersloh 21985, S. 10). Vgl. das Lob der »Hingabe an die Leidenschaft (πληροφορíα ε#ς πáθος)« in: Eine literarische Anzeige (wie Anm. 788), S. 70. 800 Also stellt sich heraus, daß, wer nur verliebt ist, nicht einmal richtig verliebt ist; so heißt es über den Ästhetiker aus Entweder–Oder: »A war mit jeder Möglichkeit im Bereich des Erotischen

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men, die ihn da trifft – seine Geliebte zu beschützen, und gleichzeitig seiner Leidenschaft gerecht zu werden, zu dem, was ihn angeht, zu seinem Gefühl zu stehen. Die Unmittelbarkeit der ersten Liebe wird so der Probe der Reflexion ausgesetzt und womöglich auf das Niveau eines ethischen Entschlusses gehoben. Wer die Liebe nur im Stadium der Unmittelbarkeit gelten ließe, wäre um ihre wesentliche Dimension betrogen. In der ethischen Leidenschaft zeigt sich der Mensch von einer anderen Existenzsphäre angegangen.801 Damit ist schon ein Vorstoß ins Unendliche gemacht, denn ethische und religiöse Sphäre liegen für Kierkegaard so nahe beieinander, »daß beide ständig miteinander kommunizieren«.802 Leidenschaft ist für Kierkegaard ein analoger Begriff. Er folgt den Existenzsphären; was den Menschen noch mehr angeht als das Ästhetische und das Ethische ist das Religiöse. »[…] Subjektivität ist wesentlich Leidenschaft, und im Maximum unendliche, persönlich interessierte Leidenschaft für ihre ewige Seligkeit.«803 Um die ewige Seligkeit – um das von ihr ausgehende höchste Interesse, das den Menschen in die höchste ihm mögliche Spannung versetzt und ihn von ihr her »ganz« sein läßt, ist es der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift zu tun.

c) Religiöse Leidenschaft Es sei hier daran erinnert, daß das von Kierkegaard als Verfasser der Nachschrift benutzte Pseudonym, Johannes Climacus, sich selbst keineswegs als unter christlichen Kategorien stehend betrachtet.804 Der Rekurs auf die ewige Seligkeit dient der Explikation einer durchaus philosophischen Kategorie: der Subjektivität. »Subjekt zu werden […] [ist] die höchste Aufgabe […], die einem Menschen gesetzt ist.«805 Eben weil das Christentum nicht annimmt, »daß die Subjektivität ohne weiteres fix und fertig ist«,806 kann gesagt werden, »daß das Christentum gerade die Leidenschaft bis zum äußersten potenzieren will; Leidenschaft aber ist gerade die Subjektivität […]«807

vertraut und doch nicht wirklich verliebt; denn in demselben Augenblick wäre er doch gewissermaßen im Begriff gewesen, sich zu konsolidieren« (Nachschrift, 1. Bd., a. a. O., S. 247f.). 801 Er transponiert ästhetisches Begehren in ethisches Wollen, vgl. Nachschrift, 1. Bd., S. 124f.: »Die wahre ethische Begeisterung wurzelt darin, mit äußerster Kraft zu wollen […]« 802 Ebd., S. 152. 803 Ebd., S. 28f. 804 Nachschrift, 2. Bd., a. a. O., S. 159, 191. 805 Nachschrift, 1. Bd., a. a. O., S. 123 (im Orig. gesp.). 806 Ebd., S. 119. 807 Ebd., S. 120.

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Nebenbei nimmt Kierkegaard hier einen Gedanken auf, der fast wortwörtlich bei Thomas steht, der ihm aber von Plutarch überliefert ist. Wenn »die lieben Menschen« nicht »ohne weiteres fix und fertig sind«808, so haben sie an sich zu arbeiten. Climacus sagt von sich:809 »[…] ich habe Stoff genug an starken Leidenschaften […] und habe es daher schwer genug, mit Hilfe der Vernunft etwas Gutes daraus zu machen.« Dann merkt er in einer Fußnote an:810 »Ich möchte mit diesen Worten an Plutarchs vortreffliche Definition der Tugend erinnern: ›Die ethische Tugend hat die Leidenschaft zur Materie, die Vernunft zur Form.‹ Vergl. seine kleine Schrift über die ethischen Tugenden.« Ganz ähnlich heißt es in der Summa theologiae: »[…] sensibiles passiones sunt materia moralium actuum«,811 die sinnlichen Leidenschaften sind die Materie, der Stoff der moralischen Akte. Trotzdem liegt die Leidenschaftstheorie der Nachschrift eher auf einer Linie mit Scotus. Während bei Thomas von Aquin von »passio« eigentlich nur im sinnlich strebenden Seelenteil und in Verbindung mit einem körperlichen Geschehen die Rede sein kann,812 ist sie bei Scotus gerade auch in der Sphäre des Geistes, des Willens anzusiedeln – es gibt »passiones spirituales«, geistige Leidenschaften.813 Erst unter Annahme geistiger Leidenschaft läßt sich verdeutlichen, worum es dem Menschen im äußersten gehen kann – bzw. umgekehrt: die Bestimmung »des Äußersten dessen, was einer sein kann«, des ultimum potentiae,814 verlangt nach einem solch analogen Begriff der Leidenschaft. »Der Ausdruck […] für die äußerste Anstrengung der Subjektivität ist das unendlich leidenschaftliche Interesse für ihre ewige Seligkeit.«815 »In dem unendlichen leidenschaftlichen Interesse für ihre ewige Seligkeit steht die Subjektivität in der äußersten Anspannung ihrer Kräfte, am äußersten Punkt […]«816 Der Mensch ist »eine Synthese des Zeitlichen und des Ewigen«817 – wäre er nur auf die Dimension des Zeitlichen beschränkt, so könnte er gar kein unendliches Interesse an irgend etwas, nicht einmal am Zeitlichen, nehmen. Die – den Menschen gegenüber dem Tier auszeichnende – Möglichkeit, sich dem Zeitlichen gegenüber 808

Ebd., S. 151. Ebd., S. 152. 810 Ebd., Anm. – Vgl. Plutarch: De virtute morali, Kap. 1. Plutarch folgt hier der peripatetischen Lehre, vgl. Max Pohlenz: Die Stoa, Bd. 1, Göttingen 61984, S. 255; Plutarch: Moralia, Bd. 3, Leipzig 21972, S. 127. 811 Summa theol., II–II, qu. 152, a. 1, c. 812 Vgl. Summa theol., I–II, qu. 22, a. 3 und Anm. 243. 813 Vgl. Anm. 241f. 814 Vgl. Anm. 14 (mit den dortigen Verweisen). 815 Nachschrift, 1. Bd., a. a. O., S. 49. 816 Ebd., S. 49f. 817 Nachschrift, 1. Bd., a. a. O., S. 53. 809

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falsch zu verhalten, ist ein Indiz für die Anlage zum Ewigen:818 »Der qualvolle Selbstwiderspruch der weltlichen Leidenschaft kommt nämlich dadurch zustande, daß das Individuum sich zu einem relativen Telos absolut verhält. Eitelkeit, Geiz, Neid usw. sind dergestalt wesentlich Verrücktheit; denn dies ist eben der allgemeinste Ausdruck der Verrücktheit: sich zum Relativen absolut zu verhalten, was ästhetisch gesehen komisch aufzufassen ist, da das Komische immer im Widerspruch liegt.« Die Möglichkeit des richtigen Verhaltens dem Ewigen gegenüber liegt nun nicht darin, sich einer ewigen Seligkeit zu versichern, um dann »alles dafür zu wagen«; sie besteht vielmehr darin, sich selbst durch das Wagnis zu verunendlichen.819 D. h., die Beziehung zur Ewigkeit läßt sich nicht auf dem Weg objektivierender Erkenntnis herstellen, sondern nur auf dem Weg subjektiver, unendlicher Leidenschaft, die die »Kluft, über die der Verstand nicht kommen kann«,820 überbrückt. Die Leidenschaft weiß nicht, sie wählt821 und wagt.822 Wo der Verstand, der ebenfalls nichts wissen kann von der ewigen Seligkeit, auf Grund dieses Nichtwissens stehenbleibt und alles Weitergehen für Verrücktheit erklärt, läßt sich die unendliche Leidenschaft von der »Ungewißheit des Wissens«823 nicht lähmen. Zu jeder Wahl gehört es, daß das Subjekt nicht nur irgendwo eine objektiv feststellbare Differenz abliest und sich dann für die rationalere Option »entscheidet« (wenn der Krankenkassenbeitrag bei der Kasse A bei sonst gleichen Leistungen einen Prozentpunkt günstiger ausfällt als bei der Kasse B, gibt es eigentlich nichts mehr zu entscheiden); vielmehr liegt in der Wahl ein Selbst-Wurf in die Zukunft, der, weil im Ausgang ungewiß, sich nicht objektivieren und vor dem Verstand nicht voll verantworten läßt. Gerechtfertigt wird die Wahl nicht dadurch, daß man »etwas« wählt, das sich womöglich hinterher als das Richtige herausstellt, sondern dadurch, daß man richtig, mit dem höchstmöglichen Einsatz wählt. (Es gilt hier – wie beim habitusgeleiteten Handeln824 –, daß alles vom Wie, nicht vom Was abhängt.) 818

Nachschrift, 2. Bd., a. a. O., S. 129 (Hervorh. im Orig. gesp.). – Vgl. Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode (1849), übers. und hrsg. von Liselotte Richter, Hamburg 21995, S. 31f. (in der Übers. von Emanuel Hirsch: Gütersloh 31985, S. 29): » […] Weltlichkeit ist ja gerade, daß man dem Gleichgültigen unendlichen Wert zulegt.« 819 Nachschrift, 2. Bd., a. a. O., S. 130. 820 Ebd., S. 131. 821 Climacus bezeichnet es als »Mißverständnis […], sich objektiv zu sichern und dadurch dem Risiko entgehen zu wollen, in welchem die Leidenschaft wählt und darin verharrt ihre Wahl bewährend.« Nachschrift, 1. Bd., a. a. O., S. 38f. (Hervorh. von mir). 822 Nachschrift, 2. Bd., S. 134. 823 Ebd. 824 Vgl. den 2. Abschnitt im Aristoteles-Kap.: »Das Gute liegt im Wie, nicht im Was« – im »iuste, non iusta«, vgl. S. 65.

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So hatte es schon in Entweder–Oder geheißen, »daß es beim Wählen nicht so sehr darauf ankommt, das Richtige zu wählen, als auf die Energie, den Ernst und das Pathos, womit man wählt.«825 Durch die in die Wahl investierte Leidenschaft stellt sich der Mensch in die Dimension der Ewigkeit, er »wählt sich selbst in seiner ewigen Gültigkeit.«826 – Nun zu der oben angedeuteten Potenzierung der Leidenschaft durch Reflexion. Sie gehört der religiösen Sphäre nicht schon insofern an, als diese das Subjekt mit der Ewigkeit konfrontiert; sie setzt vielmehr das Christentum voraus:827 »Die Subjektivität kulminiert in der Leidenschaft und das Christentum ist das Paradox. Paradox aber und Leidenschaft passen voll und ganz zusammen […] Ja, in der ganzen Welt gibt es nicht zwei Liebende, die so zueinander passen, wie das Paradox und die Leidenschaft […]« Was über das leidenschaftliche Interesse an der ewigen Seligkeit gesagt worden war, gilt auch für eine Religiosität, die der näheren Bestimmung des Christlichen ermangelt; Climacus nennt sie »Religiosität A« im Unterschied zur »Religiosität B«, die nun als »paradoxe Religiosität«828 erläutert wird. In ihr »ist das Dialektische […] insofern das Entscheidende, als es mit dem Pathetischen zusammen gesetzt wird zu neuem Pathos.«829 Bevor das Paradox genauer bestimmt werden kann, sind Religiosität A und B zu charakterisieren durch zwei Kategorien, die dem gleichen Register zu entstammen scheinen, aber einer gegensätzlichen Beleuchtung unterzogen werden: Schuldbewußtsein und Sündenbewußtsein. Das Verhältnis des in der Zeit Existierenden zur Ewigkeit ist ein Mißverhältnis, es findet seinen konkretesten Ausdruck im Schuldbewußtsein:830 »Die Totalität der Schuld entsteht dadurch für das Individuum, daß es seine Schuld, und wäre es auch nur eine einzige, und wäre es auch die allerunbedeutendste, mit dem Verhältnis zu einer ewigen Seligkeit zusammensetzt.« (Bereits die Konstitution der Sphäre des Ethischen hatte mit der Wahl zugleich die Übernahme der eigenen Existenz in der Vergangenheit und mit dem Ernstnehmen der Verantwortung in der Zeit zugleich die Dimension des Ewigen eröffnet.) Dennoch weiß dieses Schuldbewußtsein nichts von einem Bruch, der sich erst im Christentum auftut:831 »Der Bruch aber, worin die paradoxe Akzentuierung der Existenz liegt, kann im Verhältnis zwischen einem Existierenden und dem Ewigen 825 826 827 828 829 830 831

Entweder–Oder, a. a. O., S. 716. Ebd., S. 768. Nachschrift, 1. Bd., a. a. O., S. 222. Nachschrift, 2. Bd., a. a. O., S. 266f. Ebd., S. 266. Ebd., S. 239. Ebd., S. 242 (Hervorh. von mir).

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[d. h., in der Religiosität A; P. N.] nicht eintreten, weil das Ewige den Existierenden überall umschließt und das Mißverhältnis daher innerhalb der Immanenz bleibt. Soll sich der Bruch konstituieren, muß das Ewige sich selbst als ein Zeitliches, als in der Zeit, als Historisches bestimmen […]« Man sieht sofort, daß das Paradox etwas mit der Inkarnation, mit der Menschwerdung Gottes zu tun hat; erst mit diesem Faktum aber (das der Verstand nicht begreifen kann) wird das Sündenbewußtsein möglich, und erst von hier aus kann sich die Leidenschaft zur höchsten Höhe emporschwingen. Gehen wir noch einmal einen Schritt zurück. Die Religiosität A im Unterschied zur paradoxen war bereits in den Philosophischen Brocken präsent; hier wurde Sokrates vorgestellt als der Lehrer, der mit seiner Fragekunst die Gesprächspartner dazu bringt, sich der vergessenen Wahrheit zu erinnern. Diese Wahrheit ist durchaus »existentiell«, es geht um die ewige Seligkeit, aber so, »daß der Befragte doch selbst die Wahrheit haben und sie durch sich selbst bekommen muß.«832 Unter christlicher Perspektive kann nicht davon ausgegangen werden, der Lernende bedürfe nur der Erinnerung. Denn er ist nicht nur nicht unbewußt im Besitz der Wahrheit – »der Lernende ist ja die Unwahrheit«,833 er ist »gegen die Wahrheit«,834 kurz, er befindet sich im Zustand der Sünde. Die Sünde potenziert die Entfernung von der Wahrheit; in der Sünde sein heißt: die Bedingung für das Verstehen der Wahrheit außer sich haben. Die Bedingung kann aber nur durch einen göttlichen Lehrer gegeben, der Zustand der Sünde nur durch einen Erlöser überwunden werden. Der christlich Lernende ist damit einer viel größeren Veränderung ausgesetzt als der sokratisch Lernende:835 »Insofern er in der Unwahrheit war und nun mit der Bedingung die Wahrheit bekommt, geht ja eine Veränderung mit ihm vor wie vom Nichtsein zum Sein. […] Wenn also der Augenblick [der Befreiung von der Unwahrheit, der Bekehrung, des Glaubens, der Gnade; P.N.] entscheidende Bedeutung haben soll, und ohne dies sprechen wir ja nur sokratisch […] – dann ist der Bruch eingetreten […]« Kehren wir jetzt zur Nachschrift zurück. Das Paradox kann von zwei Seiten betrachtet werden – einmal als »Bestimmung von Gott in der Zeit als einzelnem Menschen«836 (für das Denken ist die Menschwerdung Gottes ein Widerspruch), einmal 832

Philosophische Brocken, (wie Anm. 799), S. 15 (in der Übers. von Emanuel Hirsch, wie Anm. 799, S. 11). 833 A. a. O., S. 16 (in der Übers. von E. Hirsch, a.a.O., S. 12). 834 A. a. O., S. 17 (vgl. in der Übers. von E. Hirsch, S. 13). 835 A. a. O., S. 21 (in der Übers. von E. Hirsch, S. 17 f.), (zweite Hervorh. von mir). – Vgl. a. a. O., S. 49: »Durch den Augenblick wird der Lernende die Unwahrheit, der Mensch, der sich selbst kannte, wird irre an sich selbst und bekommt anstelle von Selbstbewußtsein Sündenbewußtsein usw.« (Vgl. in der Übers. von E. Hirsch, S. 48f.) 836 Nachschrift, 2. Bd., a. a. O., S. 272. »Daß sich dies nicht denken läßt, ist ja gerade das Paradoxe.« (Ebd.)

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so, daß »das Individuum, das nicht ewig war, es nun wird, also sich nicht [sokratisch, P.N.] darauf besinnt, was es ist, sondern wird, was es nicht war«.837 (»Das für alles Denken Unzugängliche ist: daß man ewig werden kann, desungeachtet, daß man es nicht war.«838) In der Immanenz der heidnischen Religiosität hat der Existierende eine ewige Bestimmung schon potentiell in sich, er muß sie nur, durch einen Lehrer wie Sokrates veranlaßt, aktualisieren, er verändert sich also qualitativ und wird nicht aus nichts zu etwas. In der christlichen Existenz ist der Bruch unvermeidlich:839 »Der Existierende muß die Kontinuität mit sich selbst verloren haben, muß ein anderer geworden sein […], und nun dadurch, daß er von dem Gott die Bedingung empfängt, eine neue Kreatur werden. Der Widerspruch besteht darin, daß das Christwerden mit dem Wunder der Schöpfung anfängt, und daß dies einem widerfährt, der geschaffen ist, und daß doch das Christentum allen Menschen verkündigt wird, die von ihm als nicht daseiend betrachtet werden müssen, da das Mirakel, wodurch sie werden, dazwischen treten muß, […] als Ausdruck für den Bruch mit der Immanenz und den Widerstand, der die Leidenschaft des Glaubens absolut paradox macht, solange im Glauben existiert wird, d. h. fürs ganze Leben; denn er hat ja beständig seine ewige Seligkeit auf etwas Historisches begründet.« Nur durch die Vermittlung des Gottes in der Zeit kann man sich christlich zu der ewigen Seligkeit verhalten. Wer also die Frage der Philosophischen Brocken »kann man eine ewige Seligkeit auf ein historisches Wissen bauen?«840 mit »ja« beantwortet, muß ständig seinen Verstand kreuzigen. Der Glaube, der das Paradox akzeptiert, tut das nicht undialektisch, unreflektiert, ohne Verstand, sondern gegen den Verstand. Der Glaube dispensiert nicht »von der mühsamen Aufgabe, seinen Verstand

837

Ebd., S. 285. (Ebd.) Daß die Ewigkeit in der Religiosität A und in der Religiosität B verschieden zu bestimmen ist, wird hier nicht eigens ausgeführt. 839 Ebd., S. 288. – »Das Sündenbewußtsein kann das Individuum daher nicht durch sich selbst bekommen, was mit dem Schuldbewußtsein der Fall ist; denn im Schuldbewußtsein ist die Identität des Subjekts mit sich selbst bewahrt […]; das Sündenbewußtsein dagegen ist die Veränderung des Subjekts selber, was zeigt, daß die Macht außerhalb des Individuums sein muß, die es darüber aufklärt, daß der Mensch dadurch, daß er geworden ist, ein anderer geworden ist, als er war, daß er Sünder geworden ist. Diese Macht ist der Gott in der Zeit. […] Denn da das Verhältnis zu jenem Historischen (dem Gott in der Zeit) das Sündenbewußtsein bedingt, so kann das Sündenbewußtsein nicht in all der Zeit dagewesen sein, wo dieses Historische nicht dagewesen ist.« Ebd., S. 297. – Es ist klar, daß Kierkegaard sich hier außerhalb aristotelischer und thomasischer Kategorien bewegt, in denen das Eintreten ins Gottesverhältnis nur als akzidentelle, nicht (wie bei Scotus und Luther) als substantielle Veränderung des Menschen, nur als λλοíυσις, nicht als γéνεσις gedacht werden kann. Vgl. Anm. 203, 324–326, 499–507. 840 Philosophische Brocken, a. a. O., S. 5 (Titelseite); vgl. in der Übers. von E. Hirsch, a. a. O., S. 1; Nachschrift, 1. Bd. a. a. O., S. 13. 838

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zu entwickeln und zu schärfen«,841 um sich, wuppdi! (ein Kierkegaardscher Ausdruck842) »gegen jede Anklage mit der Bemerkung zu wehren: daß das ein höherer Verstand sei.«843 Für ihn ist »die Aufgabe nicht die […], über das Christentum zu reflektieren, sondern nur die, durch die Reflexion das Pathos zu potenzieren, mit welchem man fortfährt, ein Christ zu sein.«844 Fassen wir zusammen. Das höchste Interesse der Subjektivität, und damit das Motiv der höchsten Leidenschaft, ist die ewige Seligkeit.845 Zu ihr ist ein doppeltes, jeweils dialektisches Verhältnis möglich: in der Religiosität A erfaßt das Subjekt seine Ewigkeitsbestimmung zugleich mit dem Schuldbewußtsein (dem Bewußtsein nämlich, bis jetzt in Diskrepanz zu dieser Bestimmung gelebt zu haben und ständig in Spannung zu ihr zu leben – »denn die Absolutheit ist nicht direkt das Element eines endlichen Wesens«846); in der paradoxen Religiosität erfaßt das Subjekt seine Ewigkeitsbestimmung zugleich mit dem Sündenbewußtsein. Hier steigert sich die Spannung zwischen Ausgangs- und Zielpunkt noch einmal um eine ganze Dimension, denn die Sünde macht den Menschen zum Nichts und entlarvt alle Hoffnung, mit eigener Anstrengung das Ziel zu erreichen, als Illusion. »Religiös ist es die Aufgabe, zu verstehen, daß man vor Gott gar nichts ist, oder gar nichts zu sein und dadurch vor Gott zu sein.«847 In der paradoxen Religiosität des Christentums erreicht die Leidenschaft ihr absolutes Maximum:848 »Die Schwierigkeit ist größer als für den Griechen, weil noch größere Gegensätze zusammengesetzt sind, weil die Existenz paradox als Sünde akzentuiert ist und die Ewigkeit paradox als der Gott in der Zeit. […] Die Existenz des Glaubenden ist daher noch leidenschaftlicher als die des griechischen Philosophen […], denn Existenz gibt Leidenschaft, aber Existenz paradox gibt das Höchste der Leidenschaft.« Daß dabei die Reflexion nicht einfach übersprungen, sondern der Leidenschaft dienstbar gemacht wird, erhellt noch einmal aus einer Bemerkung aus Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller:849 »[…] man reflektiert sich nicht ins Christentum

841

Nachschrift, 2.Bd., a. a. O., S. 279. Die Krankheit zum Tode, übers. von Emanuel Hirsch, Gütersloh 31985, S. 90. 843 Nachschrift, 2. Bd., S. 279. 844 Ebd., S. 321. 845 »Die Unsterblichkeit ist das leidenschaftlichste Interesse der Subjektivität […]« Nachschrift, 1. Bd., S. 164. 846 Ebd., S. 192. 847 Nachschrift, 2. Bd., a. a. O., S. 169. Vgl. ebd.: »[…] die Selbstvernichtung [ist] die wesentliche Form des Gottesverhältnisses […]« 848 Ebd., S. 58 (Hervorh. von mir). 849 Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller (wie Anm. 792), S. 5. Die oben versuchte Unterscheidung: Reflexion im indirekten Dienst an der Leidenschaft im »Renonce-Reflektieren« der glaubensfeindlichen Überreflektiertheit der Gegenwart – Reflexion im direkten Dienst an der Leidenschaft im Aufsichnehmen des Paradoxes in der Religiosität B würde 842

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hinein, sondern man reflektiert sich aus dem Andern heraus und wird, einfältiger und einfältiger, Christ.« Das Vorherrschen der Reflexion, das zunächst als das große Defizit der Gegenwart erschien, kann so als Chance begriffen werden, weil es, wenn »der Verstand und die Kultur und die Bildung zunehmen, immer schwieriger wird, die Leidenschaft des Glaubens zu bewahren.«850 So ist das »alle Reflexionen renonce reflektieren«,851 das Sich-aus-dem-andern-heraus-reflektieren in Zeiten gesteigerter Reflexion anspruchsvoller denn je:852 »[…] es ist im neunzehnten Jahrhundert nicht leichter geworden, ein Christ zu werden, als in der ersten Zeit, es ist im Gegenteil schwerer geworden besonders für die Gebildeten, und wird Jahr für Jahr schwerer werden.« Wer trotzdem fortfahren will, ein Christ zu sein, muß »durch die Reflexion das Pathos […] potenzieren«.853 In den Zeiten der höchsten Bedrohung erwächst so die Möglichkeit, die Leidenschaft aufs höchste zu steigern – ansonsten gilt die Alternative: »dadurch, daß wir objektiv werden, haben wir alle die Aussicht erhalten, – Privatdozenten zu werden.«854 es nahelegen, im ersten Fall von einer leidenschaftserhaltenden, im zweiten Fall von einer leidenschaftssteigernden Reflexion zu sprechen. Kierkegaard scheint aber eine solche Konsequenz nicht anzunehmen; in Eine literarische Anzeige (wie Anm. 788, S. 118f.) – unmittelbar nach der Nachschrift veröffentlicht – wird jeder Dienst der Reflexion an der Leidenschaft zugleich als deren Steigerung erwiesen: »Es muß jedoch ständig in Erinnerung gebracht werden, daß nicht die Reflexion selbst […] etwas Verderbliches ist, daß im Gegenteil ihre Durcharbeitung die Bedingung dafür ist, intensiver zu handeln. Die Verhältnisse der begeisterten Handlung sind ja folgende: zuerst kommt die unmittelbare Begeisterung, dann folgt die Zeit der Klugheit, welche, vermöge des Sinnreichen der Berechnung, weil die unmittelbare Begeisterung keine Berechnungen anstellt, den Schein höheren Seins annimmt; und dann folgt endlich die höchste und die intensivste Begeisterung, die hinter der Klugheit kommt und daher einsieht, was das Klügste ist, aber es zu tun verschmäht und eben damit die Intensität gewinnt in der Begeisterung der Unendlichkeit.« Die im Durchgang durch die Reflexion intensivierte Leidenschaft ist nicht aufs Christentum beschränkt; auch Sokrates wußte, was das Klügste wäre, und verschmähte es (die Flucht), auch für ihn gilt: die »höchste Begeisterung […] ist kenntlich an ihrer Kategorie: daß sie handelt wider den Verstand« (ebd., S. 119). Vgl. die Tagebucheintragung Pap. IX A 248 vom August 1848 (Die Tagebücher, 3. Bd., Düsseldorf/Köln 1968, S. 62): »Man hat stets gemeint, die Reflexion müsse das Christentum zerstören und sei dessen natürlicher Feind. […] Aber schau, die Reflexion kommt, um den umgekehrten Dienst zu tun, um dem Christentum die Sprungfedern wieder einzusetzen, und zwar so, daß es gegenhalten kann – gegen die Reflexion. […] Darin ist, glaube ich, Sinn. Die Aufgabe ist nicht, das Christentum zu begreifen, sondern zu begreifen, daß man es nicht begreifen kann.« 850 Nachschrift, 2. Bd., a. a. O., S. 320. 851 Vgl. oben, Anm. 794. 852 Nachschrift, 2. Bd., S. 320. 853 Ebd., S. 321; vgl. S. 325f. 854 Ebd., S. 326. – Es ist richtig, die Leidenschaft hat in den Zeiten der Reflexion die Möglichkeit, nie gekannte Höhen zu erreichen; gleichwohl bedarf die Leidenschaft nicht der Reflexion. »Ich habe stets verfochten, daß alle Menschen gleichen Zugang zu Leidenschaft und Gefühl haben, das ist mein Trost gewesen.« Die Tagebücher, 2. Bd., a. a. O., S. 245 (= Pap. VIII A 665).

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4. Leidenschaft als habitus? Was hat das mit dem habitus zu tun? Wir haben auf Kierkegaards Begriff von Leidenschaft insistiert, weil er geeignet erscheint, die Funktion des habitus im aristotelisch-thomasischen Modell zu übernehmen, nämlich: Einheit der verschiedenen Seelenteile herzustellen, insbesondere die Momente des Rationalen und des Affektiven als Basis gelungenen Handelns auszuweisen. »[…] ethisch verstanden ist es die Aufgabe jedes Individuums, ein ganzer Mensch zu werden […]«855 Prototyp eines in Ganzheit existierenden Individuums ist in der Nachschrift der subjektive Denker, der ja in erster Linie nicht als Gelehrter, sondern als Existierender in Betracht kommt.856 Die Leidenschaft spielt bei ihm die Rolle des »ganzheitsstiftenden Faktors«:857 »[…] so ist auch zu einem subjektiven Denker Phantasie, Gefühl und Dialektik in Existenz-Innerlichkeit mit Leidenschaft erforderlich. Aber Leidenschaft zuerst und zuletzt, denn es ist unmöglich, über Existenz nachzudenken, ohne in Leidenschaft zu geraten, weil das Existieren ein ungeheuerer Widerspruch ist, von dem der subjektive Denker nicht zu abstrahieren, […] sondern in dem er zu bleiben hat.« An anderer Stelle sind Fühlen, Denken, Wollen als die entscheidenden Momente der Subjektivität genannt.858 Richtig ergriffen, ergeben sie »die Gespanntheit der Innerlichkeit«859 – also wieder Leidenschaft. 855

Nachschrift, 2. Bd., a. a. O., S. 50 (Hervorh. von mir). Ebd., S. 55: »Der subjektive Denker ist nicht Wissenschaftler, er ist Künstler. Existieren ist eine Kunst. Der subjektive Denker ist ästhetisch genug, damit sein Leben ästhetischen Inhalt bekommt, ethisch genug, um es zu regulieren, und dialektisch genug, um es denkend zu beherrschen.« 857 Der Ausdruck »ganzheitsstiftender Faktor« ist von Hans Driesch entlehnt; vgl. Robert Spaemann/Reinhard Löw: Die Frage Wozu?, München 31991, S. 225. – Das Kierkegaard-Zitat: Nachschrift, 2. Bd., a. a. O., S. 54 (Hervorh. von mir). 858 Nachschrift, 1. Bd., a. a. O., S. 216 (Hervorh. von mir): »Der einzelne existierende Mensch muß sich selbst als Sünder fühlen (nicht objektiv, das ist Nonsens, sondern subjektiv, und das ist der tiefste Schmerz); mit all seinem Verstande (hat der eine Mensch etwas mehr davon als der andere, so macht das keinen wesentlichen Unterschied aus, und sich auf seinen großen Verstand berufen heißt nur, seine mangelhafte Innerlichkeit verraten […]) und bis in die letzte Wendung der Gedanken muß er die Sündenvergebung verstehen wollen, und dann am Verstehen verzweifeln.« Ganz richtig hat die im Jahr 1846 in der Kopenhagener Post erschienene Rezension der Nachschrift die Verbindung dieser drei Elemente als Kierkegaards Anliegen gesehen: Kierkegaard zeige, »daß die Philosophie das logische Denken einseitig dargestellt hat als die höchste und einzig himmlische Fähigkeit in der menschlichen Seele, es einseitig als die höchste Aufgabe des Menschen hervorgehoben hat, das Objektive und die Weltgeschichte zu betrachten, aber Gefühl und Wille beiseitegeschoben hat […]« Hans J. Trojel: »Die Besprechung der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift in der Kopenhagener Post«, in: Michael Theunissen / Wilfried Greve (Hrsg.): Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards, Frankfurt a. M. 1979, S. 137–139, hier S. 138. Vgl. die Trias »Gefühl, Erkennen, Wollen« in Die Krankheit zum Tode (wie Anm. 818), S. 29f. (in der Übers. von Emanuel Hirsch: Gütersloh 31985, S. 27f.). 859 Nachschrift, 1. Bd., a. a. O., S. 216. 856

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Es liegt auf der Hand, daß Kierkegaard unter Leidenschaft eine erworbene Qualität und nicht unreflektierte Unmittelbarkeit versteht; zugleich hat diese Qualität eine bestimmte Richtung – sie ist nicht »blinde Entschlossenheit zu allem möglichen«. Man könnte sie bezeichnen als vermittelte, gerichtete Spontaneität. In ihr erfahren alle Seelenkräfte eine Anspannung auf das höchste Ziel hin. Das läßt sich bei der Integration des Ästhetischen ins Ethische am leichtesten zeigen. Man könnte ja meinen, im Bann des Ethischen sei das Sinnliche zu einem Schattendasein verurteilt. Aber gerade die gesteigerte Spannung zwischen Sinn und Geist wertet die Sinnlichkeit auf:860 »In der Ehe hat das Sinnliche und Geistige eine viel höhere Spannung. Je weiter man sich vom Sinnlichen entfernt, eine desto größere Bedeutung bekommt es; sonst wäre ja der Instinkt des Tieres der höchste Grad des Ästhetischen. Das Geistige in der Ehe ist von höherer Qualität als in der ersten Liebe; und je höher der Himmel über dem Brautbett schwebt, desto besser, desto schöner, desto ästhetischer.« Die Sinnlichkeit steht also in einem Spannungsverhältnis zum Geist, in dem sie zugleich in Richtung auf den Geist hin gespannt ist. So kann der Gerichtsrat der Stadien sagen, daß »die Sinnlichkeit […] bei freundwilligem Einvernehmen mit dem Geistigen Stab und Stütze ist«.861 Schwieriger ist es, die Sinnlichkeit als Ausdruck des Religiösen zu begreifen. Dem Psalmwort, das bei Thomas von Aquin den Wert der sinnlichen Leidenschaft bestätigt – »Mein Herz und mein Fleisch jubelten dem lebendigen Gott«862 (Ps 84,3) –, steht bei Kierkegaard ein Plädoyer für die Innerlichkeit gegenüber, das den Ausdruckswert der Sinnlichkeit stark zurücknimmt:863 »Je weniger Äußerlichkeit, desto mehr Innerlichkeit. Es liegt etwas Tiefes und Wunderbares darin, daß die leidenschaftlichste Entscheidung in einem Menschen so vor sich geht, daß es im Äußeren gar nicht gemerkt wird […] Die wahre Innerlichkeit fordert gar kein Zeichen im Äußeren.« Aber beim nächsten Schritt zeigt sich auch das Gottesverhältnis als Bewahrer des Menschlichen. Etwas so Harmloses und Unspektakuläres wie ein Ausflug in den »Wildpark« – sozusagen ein Ausflug in die sinnliche Welt – bekommt u. U. gerade in religiöser Perspektive neues positives Gewicht, weil »es der demütigste Ausdruck für das Gottesverhältnis ist, sich zu seiner Menschlichkeit zu bekennen, und es ist menschlich, sich zu vergnügen.«864 860

Entweder–Oder; das Zitat folgt der Übersetzung in: Johannes Sløk: Die Anthropologie Kierkegaards, Kopenhagen 1954, S. 79; vgl. in der Übers. von Heinrich Fauteck (wie Anm. 757), S. 592. 861 Stadien auf des Lebens Weg (wie Anm. 784), S. 189. 862 Vgl. Summa theol., I–II, qu. 24, a. 3; Anm. 173 im Thomas-Kap. (Hervorh. von mir). 863 Nachschrift, 2. Bd., a. a. O., S. 86, 120. Vgl. S. 112 (»Innerlichkeit ohne Äußerlichkeit«). Vgl. dagegen Anm. 174 und 177. – Die nach außen unkenntliche leidenschaftlichste Entscheidung betrifft das Christwerden. 864 Nachschrift, 2. Bd., a. a. O., S. 202.

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5. Habitus als Spannung Es ging uns darum, in Kierkegaard das von Aristoteles bis Schiller verfolgte Anliegen einer Integration des Ästhetischen ins Ethische, einer anthropologisch fundierten Ethik, einer auf die Harmonie der verschiedenen Seelenteile bedachten Lehre vom Menschen, kurz: den habitus-Gedanken wiederzufinden. Aber, wie schon einleitend angedeutet, wir finden diesen Gedanken bei Kierkegaard auch wesentlich gewandelt. Dem klassischen Harmonie-Ideal entspricht bei ihm noch am ehesten die Lebensform der Ehe, die einem ewig bindenden Entschluß entspringt und sich doch in der Zeit verwirklicht, in der das Ästhetische wiederkehrt. Doch strenggenommen bleibt die Ehe ja aufs Irdische beschränkt, und sie ist auch nicht die privilegierte Form eines Lebens im Angesicht des Paradoxes. Das Leben im Angesicht des Paradoxes – anders gesagt: das Leben im Glauben – läßt sich nämlich gar nicht adäquat ausdrücken:865 »Diejenigen […], die des Glaubens Kleinod tragen, enttäuschen leicht, weil ihr Äußeres eine auffallende Ähnlichkeit mit dem hat, was […] der Glaube tief verachtet, – mit der Spießbürgerlichkeit.« Betrachten wir den Glaubensritter (und der Glaube »ist die höchste Leidenschaft in einem Menschen«866) näher. Er sieht aus »wie ein Steuerkassierer«,867 nichts an seiner Erscheinung gibt einen Hinweis auf das Unendliche. »Er freut sich an allem, nimmt an allem teil […] Er geht seiner Arbeit nach. […] Er feiert am Sonntag. Er geht in die Kirche. […] Am Nachmittag geht er in den Wald. Er freut sich über alles, was er sieht, über das Menschengewimmel, über die neuen Omnibusse, über den Sund, – wenn man ihm auf dem Strandweg begegnet, sollte man glauben, er wäre eine Krämerseele, die sich einmal losgerissen hat, genau so freut er sich; denn er ist kein Dichter […] Gegen Abend geht er nach Hause […] Unterwegs denkt er daran, daß seine Frau sicher ein apartes, kleines Gericht warmen Essens für ihn hat, wenn er heimkommt, z. B. einen gebratenen Lammskopf mit Gemüse dazu. […] Hat sie es, dann soll das ein beneidenswerter Anblick für die vornehmen Leute, ein begeisternder für den kleinen Mann sein; denn sein Appetit ist stärker als der des Esau. Hält seine Frau das Gericht nicht bereit, dann ist er – sonderbar genug – völlig derselbe. […] Er raucht seine Pfeife in der Abendstunde

865

Furcht und Zittern (wie Anm. 788), S. 34 (in der Übers. von Emanuel Hirsch, Gütersloh S. 37, steht statt »enttäuschen« »täuschen«). 866 Furcht und Zittern, a. a. O., S. 114 (in der Übers. von E. Hirsch, a. a. O., S. 140). 867 A. a. O., S. 34. (Bei E. Hirsch, a. a. O., S. 38, steht »Rottmeister« – dasselbe Wort verwendet Kierkegaard zur Beschreibung Schellings: »Schelling ist dem Aussehen nach ein höchst unbedeutender Mann, er sieht aus wie ein Rottmeister […]« Brief an Pastor Spang vom 18.11.1841, in: Kierkegaard: Briefe, Gütersloh 1985, S. 71.) 21986,

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[…] Er läßt fünf gerade sein mit einer Sorglosigkeit, als wäre er ein leichtsinniger Taugenichts […]«868 Was Kierkegaard hier vorträgt, ist nichts Neues. In der mystischen Tradition der »reinen Liebe« zeigt sich der »Zustand des amour pur« – obwohl »ein Äußerstes und Höchstes […], das der Mensch erreichen kann« – in unscheinbarer empirischer Gestalt, im »Übergang zum täglichen Leben.«869 Aus dem »Tod der Natur« geht ein »Zustand vollkommener Natürlichkeit«870 hervor, so daß Fénelon sagen kann, daß wir nach der radikalen Verwandlung des Herzens im Feuer der reinen Liebe »ungefähr dieselben Dinge tun, die wir bereits vorher taten.«871 Auch der Glaubensritter in Furcht und Zittern lebt sein Alltagsleben als Ausdruck einer abgrundtiefen, stets erneuerten Wandlung, »denn er vollzieht auch nicht das Geringste ohne die Kraft des Absurden. Und doch […] hat dieser Mensch die Bewegung der Unendlichkeit gemacht und macht sie jeden Augenblick. […] er kennt die Seligkeit des Unendlichen, er hat den Schmerz empfunden, allem zu entsagen, dem Liebsten, was man auf der Welt hat, und doch schmeckt ihm die Endlichkeit ebensogut wie dem, der nie etwas Höheres kannte […] Und doch […] ist die ganze irdische Erscheinung, die er abgibt, eine Neuschöpfung kraft des Absurden. Er verzichtete in unendlicher Resignation auf alles, und doch ergriff er wieder alles kraft des Absurden.«872 Für den, der in der Leidenschaft des Glaubens verwandelt ist, bleibt alles im Äußeren gleich – und doch wird für ihn alles anders, denn, wie es bei Meister Eckhart heißt, »alle Dinge schmecken ihm nach Gott«.873 –

868 869

Furcht und Zittern, a. a. O., S. 35f. (in der Übers. von E. Hirsch, a. a. O., S. 38f.). Robert Spaemann: Reflexion und Spontaneität. Studien über Fénelon, Stuttgart 21990,

S. 145. 870

Spaemann, ebd., S. 144. Zitiert bei Spaemann, ebd. – Kierkegaard besaß Fenelons Werke religiösen Inhalts in der Übersetzung von Matthias Claudius (Hamburg 1822) – sogar doppelt, vgl. (wie Anm. 747) Katalog-Nr. 1912–1914; ferner Herrn von Fenelons kurze Lebens-Beschreibungen und Lehr-Sätze der alten Welt-Weisen (Leipzig 1741), Katalog-Nr. 486. 872 Furcht und Zittern, a. a. O., S. 36 (in der Übers. von E. Hirsch, a. a. O., S. 40). – Was hier vom Menschen im Zustand spiritueller Vollendung gesagt wird, nämlich daß ihm das Endliche schmeckt, gilt natürlich auch auf der Ebene der sittlichen Tugend. Der Mäßige hat keine geringere Lust am Essen als der Gefräßige, aber sein Begehrungsvermögen kennt eben noch andere Lüste. Vgl. Summa theol., I, qu. 98, a. 2 ad 3. – Nach Bernhard von Clairvaux schmecken dem Weisen alle Dinge, wie sie sind; vgl. den Kommentar von Hans Urs von Balthasar in: Deutsche ThomasAusgabe, Bd. 23, S. 445. 873 Meister Eckhart: Reden der Unterweisung, in: Deutsche Predigten und Traktate, hrsg. von Josef Quint, München 1963 / 79, S. 60. Vgl. Rolf Schönberger: »Secundum rationem esse. Zur Ontologisierung der Ethik bei Meister Eckhart«, in: ΟΙΚΕΙΩΣΙΣ. Festschrift für Robert Spaemann, hrsg. von Reinhard Löw, Weinheim 1987, S. 251–272, hier S. 259, Anm. 49f. – Meister Eckhart, dessen Wiederentdeckung gerade begonnen hatte, war Kierkegaard kein Unbekannter; 871

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Trotzdem ist der adäquate Ausdruck für die Existenz des Glaubensritters eben ihre Unausdrückbarkeit;874 aber nicht, wie in der Stoa, als Indifferenz des Äußeren gegenüber dem Inneren, sondern als unaufhebbare Spannung zwischen beiden. Johannes de Silentio, der pseudonyme Verfasser von Furcht und Zittern, weiß sich in dieser Hinsicht dem Ritter des Glaubens unterlegen:875 »So zu existieren, daß mein Gegensatz zur Existenz in jedem Augenblick sich wie die schönste und geborgenste Harmonie mit ihr ausdrückt, das kann ich nicht.« Der Glaubensritter »wird beständig in Spannung gehalten.«876 Inwiefern charakterisiert die »Spannung der Innerlichkeit«877 das bei Kierkegaard gewandelte habitus-Verständnis? Spannung ist ein dialektischer Begriff. Was sich in Spannung befindet, ist kein Einfaches; aber durch die Spannung wird es eines. Zuhöchst eines wird etwas dann, wenn es bis zum Zerreißen angespannt ist, so könnte man paradox sagen. Nur so erreicht der Mensch seine Ganzheit. Es wäre denkbar, daß Kierkegaard, der ein ausgezeichneter Kenner der Philosophiegeschichte war, den Begriff τóνος (Spannung, Spannkraft) von den Stoikern übernommen hat; tonos ist aber das Äquivalent der aristotelischen hexis.878 Die zum Zerreißen gespannte Ganzheit des Menschen ergibt sich aus einer dreifachen Synthese:879 »Der Mensch ist eine Synthese von Unendlichkeit und End-

vgl. (wie Anm. 747) Katalog-Nr. 649, Hans Martensen: Mester Eckart. Et Bidrag til at oplyse Middelalderens Mystik, Kopenhagen 1840. 874 Schon im ersten Satz von Entweder–Oder zweifelt Kierkegaard am Hegelschen Diktum, »daß das Äußere das Innere, das Innere das Äußere sei«; a. a. O., S. 11. – Vgl. Nachschrift, 2. Bd., a. a. O., S. 251. – Vgl. Hegel: Wissenschaft der Logik (wie Anm. 752), S. 655–661, bes. S. 656, 660f. (Hinweis im Kommentar zu Entweder–Oder von Niels Thulstrup, a. a. O., S. 939.) 875 Furcht und Zittern, a. a. O., S. 45 (in der Übers. von E. Hirsch, a. a. O., S. 52). 876 A. a. O., S. 73 (in der Übers. von E. Hirsch, S. 87). 877 Vgl. Nachschrift, 1. Bd., a. a. O., S. 196, 216. 878 Vgl. Pohlenz (wie Anm. 810), S. 126: »Er [Kleanthes] hat die Tugend als den Tonos bezeichnet, als die Spannkraft […]« Der tonos ist das einheitsstiftende Prinzip in allen Seinsschichten, vgl. ebd., S. 75: »Schon Zenon hat in dem Tonos die Kraft gesehen, die den Makrokosmos wie seine Teile zusammenhält. Für Kleanthes ist die ganze Welt von Spannung erfüllt.« Bei Chrysipp wird der tonos dem Pneuma zugeschrieben, ebd.: »Diese dem Pneuma eigentümliche Spannkraft ist es, durch die es dem Substrat Einheit und Zusammenhalt verleiht. Selbst dem Stein und dem Holzklotz. […] Auf höherer Stufe bringt dieser Tonos des Pneumas den Pflanzen und Lebewesen ihre organische Einheit, gibt ihnen Leben und Kraft. Auch der Zusammenhalt des ganzen Kosmos ist durch diesen Tonos bedingt.« (Über die »Hexis der Steine und Hölzer« vgl. Max Pohlenz: Die Stoa, Bd. 2, Göttingen 51980, S. 43.) – Daß diese Anschauung auf Heraklit und seine παλíντροπος *ρµονíη (»gegenstrebige Vereinigung«) verweist, liegt auf der Hand; vgl. Diels/Kranz: Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. 1, Zürich/Hildesheim 181989, Bd. 1, S. 162, Frgm. 51; vgl. S. 152f., Frgm. 8, 10. – Einen Hinweis in dieser Richtung konnte Kierkegaard finden in Trendelenburgs Geschichte der Kategorienlehre (vgl. oben, Anm. 754), S. 225. –

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lichkeit, von Zeitlichem und Ewigem, von Freiheit und Notwendigkeit […]« Die Synthese ist nicht zu verstehen als Amalgam verschiedener Elemente, sondern als Spannung. Um ein Bild zu verwenden: je näher die beiden Platten eines Kondensators aneinandergehalten werden, je näher der Pluspol dem Minuspol kommt, je mehr sich die Spannung steigert und zur Entladung drängt, um so größer ist die Einheit – um so mehr wird das Zeitliche ins Ewige gezogen und umgekehrt (das Beispiel hinkt insofern, als zwischen den Polen keine Hierarchie besteht, während in der Synthese des Menschen sowohl das Hinaufziehen ins Ewige als auch das Hinabsteigen ins Zeitliche kraft des Ewigen geschieht).880 Damit sind die weiteren Präzisierungen der Synthese bereits vorweggenommen. Auch sie lassen sich nämlich am besten als Spannung begreifen. Denn das eben beschriebene Verhältnis ist »noch kein Selbst.«881 »Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält […], aber dieses Verhältnis […] verhält sich zu dem, was da das ganze Verhältnis gesetzt hat. Ein derart abgeleitetes, gesetztes Verhältnis ist das Selbst des Menschen, das sich zu sich selbst verhält und, indem es sich zu sich selbst verhält, zu einem anderen verhält.«882 Die Krankheit zum Tode analysiert die möglichen Verfehlungen in der Selbstund in der Gottesbeziehung und macht somit die abstrakt gegebene Verhältnisbestimmung deutlicher. »Jeder Mensch ist die seelisch-leibliche Synthese, die darauf angelegt ist, Geist zu sein, dies ist das Gebäude; aber er zieht es vor, im Keller zu wohnen, das ist, in den Bestimmungen der Sinnlichkeit.«883 (Kierkegaard nennt diesen Zustand »die verzweifelte Unwissenheit, darüber, ein Selbst zu haben, und ein ewiges Selbst«.884) Je anspruchsvoller der Maßstab, unter den sich das Selbst stellt, desto gespannter die Einheit, desto empfindlicher die Einbuße im Fall einer Störung. »Jede Existenz, die unter der Bestimmung Geist ist, […] hat wesentlich Konsequenz in sich […] Aber eine solche fürchtet wiederum unendlich jede Inkonsequenz, weil sie eine unendliche Vorstellung davon hat, was die Folge sein kann, daß sie aus dem Totalen gerissen werden kann […] Die geringste Inkonsequenz ist ein ungeheurer Verlust, […] die geheimnisvolle Kraft, die alle Kräfte in Harmonie gebunden hat, ist ermattet, die Sprungfeder entspannt, das Ganze vielleicht ein 879

Die Krankheit zum Tode (wie Anm. 818), S. 13 (in der Übers. von E. Hirsch, a. a. O., S. 8). Vgl. Nachschrift, 2. Bd., a. a. O., S. 190: »Ein Existierender kann auch nicht an zwei Orten auf einmal sein […] Wenn er dem am nächsten ist, nämlich an zwei Orten auf einmal zu sein, ist er in Leidenschaft […]« 881 Die Krankheit zum Tode, a. a. O., S. 13 (in der Übers. von E. Hirsch, S. 8). 882 A. a. O. (in der Übers. von E. Hirsch, S. 8f.). 883 A. a. O., S. 41f. (in der Übers. von E. Hirsch, S. 40f.). 884 A. a. O., S. 41 (in der Übers. von E. Hirsch, S. 39). 880

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Renaissance des habitus-Gedankens

Chaos, wo die Kräfte in Aufruhr gegeneinander kämpfen, zum Leiden des Selbst, in welchem aber keine Übereinstimmung mit sich selbst ist, keine Fahrt, kein impetus.«885 Die richtige Spannung der Sprungfeder, die sich mit dem Bewußtsein dessen, was auf dem Spiel steht, steigert – das wäre Kierkegaards Begriff von habitus. In der kleinen Schrift Die Krise und eine Krise im Leben einer Schauspielerin wird die habitus-erzeugende Funktion der Spannung und zugleich ihr Gefährdungspotential noch einmal deutlich:886 »Jede Spannung kann, das ist des Dialektischen eigene Dialektik, auf doppelte Weise wirken; sie kann die Anstrengung offenbar machen, aber sie kann auch das Gegenteil tun, sie kann die Anstrengung verbergen, und nicht bloß verbergen, sondern sie beständig umsetzen, verwandeln und verklären zu Leichtigkeit.« Ganzsein in wachsender Spannung – das war auch die Aufgabe, der Kierkegaard sich selbst gestellt hatte. Je größer die Spannung, die ein Mensch aushält, desto größer sein Wert.887 Kierkegaard hat die Hochspannung,888 in der er seit seiner Entlobung von Regine Olsen existierte, am Schluß nicht mehr ausgehalten; sein Leben, dessen letzte Energien er dem leidenschaftlichen Kampf gegen die dänische Kirche widmete bis zu der Weigerung, auf dem Sterbebett aus der Hand eines Pastors die Kommunion zu empfangen, endete mit einem Mißklang – oder war gerade die Dissonanz auf eine höhere Harmonie hin angelegt? Die Nichte Henriette Lund berichtet über einen Besuch während der letzten Krankheit:889 »Niemals habe ich in solcher Weise den Geist die irdische Hülle durchbrechen sehen und ihr einen Glanz mitteilen, als wäre es der verklärte Leib selber in der Morgenröte der Auferstehung.« 885

A. a. O., S. 101f., zweite Hervorh im Orig. (in der Übers. von E. Hirsch, S. 107f.). Kierkegaard: Die Krise und eine Krise im Leben einer Schauspielerin (1848), übers. und hrsg. von Liselotte Richter, Reinbek bei Hamburg 1961, S. 95; vgl. im selben Band im Nachwort der Herausgeberin den Abschnitt »Die Dialektik der Spannung«, ebd., S. 129 (in der Übers. von E. Hirsch: Kleine Schriften 1848 / 49, Gütersloh 1984, S. 13). 887 Vgl. Nachschrift, 1. Bd., a. a. O., S. 254: »[…] die Gespanntheit in der Gegensatz-Form ist der Kraftmesser der Innerlichkeit […]« (Vgl. oben, S. 187.) 888 Von der »übergroßen Spannung« sprach auch Peter Christian Kierkegaard in der Totenrede auf seinen Bruder; vgl. Eduard Geismar: Sören Kierkegaard. Seine Lebensentwicklung und seine Wirksamkeit als Schriftsteller, Göttingen 1929, S. 638. – Möglicherweise läßt sich die von Kierkegaard geforderte Spannung auch gar nicht länger aushalten. Einer Bemerkung der Nachschrift zufolge gibt es Leidenschaft nur im Augenblick, was ihrer Gleichsetzung mit dem habitus zuwiderläuft: »Nur momentweise kann das einzelne Individuum existierend in einer Einheit von Unendlichkeit und Endlichkeit sein, die über dem Existieren hinausliegt. Dieser Moment ist der Augenblick der Leidenschaft.« Nachschrift, 1. Bd., a. a. O., S. 187. Vgl. ebd., S. 190: »[…] Leidenschaft aber findet sich nur momentweise, und Leidenschaft ist gerade das Höchste der Subjektivität.« 889 Kierkegaard: Die Tagebücher, 2. Bd., übers. von Th. Haecker, Innsbruck 1923, S. 425f. – 886

Habitus als Spannung: Kierkegaard

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6. Kierkegaards Sokrates und Aristoteles’ Sokrates Sowohl Aristoteles als auch Kierkegaard entwickeln ihre Ethik im Ausgang von der Figur des Sokrates. Aristoteles sieht in Sokrates den leidenschaftslosen Rationalisten, der mit seiner Gleichsetzung von Tugend und Wissen der Realität menschlicher Befindlichkeit nicht gerecht wird; die Entfaltung des hexis-Begriffs ist die aristotelische Antwort auf dieses Defizit. Für Kierkegaard existiert Sokrates »mit der ganzen Leidenschaft der Innerlichkeit«;890 er verbirgt sein Pathos unter der Maske der Ironie – aber »in einer verneinenden Zeit« ist eben »der wahre Ironiker […] der heimlich Begeisterte«.891 Sokrates »gebraucht die Ironie als sein Inkognito.«892 »Was ist dann Ironie, wenn man Sokrates einen Ironiker nennen will […]? Ironie ist die Einheit von ethischer Leidenschaft, die in Innerlichkeit das eigene Ich im Verhältnis zu der ethischen Forderung unendlich akzentuiert – und von Bildung, die im Äußeren vom eigenen Ich unendlich abstrahiert […]«893 Wenn Sokrates die Leidenschaft für das Gute repräsentiert, dann kann er auch als Vordenker einer Ethik gelten, deren Anliegen mit dem habitus-Gedanken koinzidiert. Und so endet unsere Untersuchung dort, wo sie angefangen hat.894

Johannes Sløk (wie Anm. 758, S. 169) deutet Kierkegaards letzte Polemik (in den 9 Nummern der von ihm im Sommer 1855 gegründeten Zeitschrift Der Augenblick) als eine »These, der er später mit einer Gegenthese begegnen wollte. In der Spannung zwischen diesen beiden Thesen sollte schließlich die Wahrheit hervorscheinen.« Wenn man das »Korrektiv«, das Kierkegaard am »Bestehenden« anbringen wollte, nicht verabsolutiert, so eröffnet Sløks Theorie (ebd., S. 171) die Möglichkeit, daß sich »die Kirchenkampfartikel wieder mit der übrigen Verfasserschaft in Übereinstimmung bringen lassen und Kierkegaard identisch mit sich selbst bleibt.« 890 Nachschrift, 1. Bd., a. a. O., S. 193. 891 Eine literarische Anzeige, a. a. O., S. 86 (s. oben, Anm. 793, 849). 892 Nachschrift, 2. Bd., S. 212. 893 Ebd., Hervorh. von mir. – In seiner Dissertation Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates (1841), Gütersloh 1984, bezeichnet Kierkegaard die Ironie des Sokrates als Leidenschaft (ebd., S. 217) und verleiht ihr habitusartige Züge: »beherrschte Ironie« (S. 329) ist das Existenzideal. »Die Ironie […] gibt […] Haltung und inneren Zusammenhalt« (S. 331). – Zu den Wandlungen von Kierkegaards Sokratesbild vgl. Jens Himmelstrup: Sören Kierkegaards Sokratesauffassung, Neumünster 1927. 894 Vgl. den 1. Abschnitt im Aristoteles-Kap.: »Eine anti-intellektualistische Ethik«.

VI. AUSBLICK INS 20. JAHRHUNDERT: GEHLEN UND BOURDIEU

Die Interpretation von Schiller und Kierkegaard sollte zweierlei erreichen: zum einen den habitus-Gedanken als erhellende Kategorie neuzeitlicher Philosophie plausibel machen; zum anderen ein kritisches Potential bereitstellen, um zu unterscheiden, was noch und was nicht mehr als Transformation der aristotelischen Tradition gelesen werden kann. Wenn nun zum Schluß die Positionen von Arnold Gehlen und Pierre Bourdieu einem kritischen Blick unterzogen werden, so geschieht dies jedoch nicht so sehr aus der höheren Warte eines normativen habitus-Begriffs, sondern vielmehr in der Dankbarkeit für die unvermuteten Dialog-Möglichkeiten, die sich aus unserer Fragestellung ergeben. Kierkegaard hatte die Kategorie des Einzelnen in den Mittelpunkt seines Philosophierens gestellt. Es ist vielleicht kein Zufall, daß die Thematisierung von so etwas wie habitus im 20. Jahrhundert aus soziologischem Blickwinkel erfolgte.

A. Die Institutionenlehre Arnold Gehlens Die Frage, auf die die habitus-Theorie, und die Frage, auf die die Institutionenlehre Gehlens antwortet, ist dieselbe. Weil Gehlen im Grunde dasselbe Problem wie Aristoteles sieht – wie kann das auch von irrationalen Antrieben bestimmte, zugleich instinktentbundene Wesen Mensch zu einem stabilisierten Handeln kommen, das weder durch Antriebsüberschuß entgleist, noch in Reflexion steckenbleibt – bietet es sich an, Gehlens Antwort mit der der habitus-Tradition zu vergleichen. Nun ist freilich die Ausgangssituation, die Gehlen vorfindet, eine andere als die der Polis im 4. Jahrhundert v. Chr. Mit dem Stichwort »Entlastung«895 beschreibt er ein anthropologisches Phänomen, das erst in der hochtechnisierten Zivilisation der Gegenwart seine ganze Brisanz entfaltet. Um zu überleben, muß der Mensch »Institutionen als Systeme verteilter Gewohnheiten«896 ausbilden. Entspräche aber die Gewohnheit dem habitus, so wäre zu erwarten, daß sie die Integration von Affektivität und Vernunft leistet. Doch Gehlen sagt von der Gewohnheit ausdrücklich:897 895

Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940), Frankfurt a. M. 1993, S. 65ff. 896 Gehlen: Urmensch und Spätkultur (1956), Frankfurt a. M. 31975, S. 23. 897 Gehlen: Der Mensch, a. a. O., S. 70. – Vgl. ders.: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Hamburg 1957 (zuerst unter dem Titel Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Tübingen 1949, hier S. 35), S. 105:

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Ausblick ins 20. Jahrhundert

»Sie entlastet, und zwar zunächst in dem Sinne, daß bei einem gewohnten Verhalten der Motivations- und Kontrollaufwand, die Korrekturbemühung und die Affektbesetzung wegfallen.« Die Beschreibung mag zutreffen – aber wenn andererseits der Mensch wesentlich in solchen Gewohnheiten lebt, geht ihm doch etwas Unaufgebbares verloren. In der Gewohnheit handeln wir mit dem minimalen Einsatz unserer selbst und insofern unfrei, im habitusgeleiteten Handeln sind wir mit Leib und Seele involviert und insofern frei. Dieses Problem sieht auch Habermas, wenn er in seiner Besprechung von Urmensch und Spätkultur an das Leben »von der Institution her« die Frage richtet, ob die darin geübte »Verselbständigung von Handlungsvollzügen« nicht zu einer »Entfremdung der menschlichen Wesenskräfte« führe.898 Eine Betrachtung der Institutionenlehre unter dem Aspekt des habitus dürfte ergeben, daß Gehlen die Frage, die ihn mit Aristoteles verbindet, einseitig beantwortet; mit anderen Worten: die Institutionenlehre kann die habitus-Lehre nicht ersetzen. Gehlen hat schon früh auf den »Erfahrungsverlust«899 (hätte er Seelen-, oder gleich habitus-Verlust sagen sollen?) im technischen Zeitalter hingewiesen:900 »Von Tag zu Tag verrichtet der moderne Mensch weniger selbst. Die Konservendosen ersetzen die Gerichte, die man zu Hause machte, Konfektionskleider ersetzen die Schneiderarbeit, die die Hausfrau betrieb, Grammophon und Radio die Hausmusik, das Auto und die Fußballwettspiele die eigentliche aktive sportliche Tätigkeit. Schließlich läßt man sich auch seine eigenen Gedanken und Meinungen durch die Denkmaschine der Presse, des Radios und des Kinos liefern. Wenn man gewissen Nachrichten Glauben schenken darf, […] gäbe es heute schon Leute, die sich sogar ihre Kinder durch andere machen lassen.« Folgt die beschriebene Einbuße an authentischer Aktivität – habitus-Einbuße durch technischen Ersatz – nicht am Ende aus der Entlastung? Kehren wir noch einmal zu diesem Begriff, der ja der Institutionenlehre zu Grunde liegt, zurück. Ohne

»Man muß nun die ungemeine Entlastungsleistung eines solchen sozial orientierten Automatismus beachten. Es sind nämlich auch die zur Arbeit notwendigen Bewußtseinsfunktionen habitualisiert, einschließlich der Aufmerksamkeit, die unter diesen Bedingungen selbst habituell wird […] Im Normalfall gibt es keinen Entschlußaufwand, keine Affektbremsung, keine Konfliktsquellen und keine Interferenz von Problemen.« (Hervorh. im Orig.) 898 Jürgen Habermas: »Der Zerfall der Institutionen« (1956), in ders.: Philosophisch-politische Profile, Frankfurt a. M. 31981, S. 101–106, hier S. 103. 899 Vgl. Die Seele im technischen Zeitalter, a. a. O., S. 44ff. 900 Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, a. a. O., S. 9, Anm. 1 (vgl. Die Seele im technischen Zeitalter, a. a. O., S. 45). Es handelt sich um ein Zitat aus Wilhelm Röpke: Explication économique du monde moderne, Paris 1940.

Die Institutionenlehre Arnold Gehlens

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das Entlastungsprinzip ist die Entwicklung des Menschen nicht zu begreifen. Was für neue Möglichkeiten entstehen, wenn der Anthropoide sich aufrichtet und nun die Hände nicht mehr zum Gehen braucht! Welche Erweiterung der Handlungsund Ausdrucksmöglichkeiten durch die Sprache! Schließlich die Institutionen, in denen Verwandtschaft, politische Hierarchie, soziale Rollen definiert und kulturelle Hochleistungen grundgelegt werden. Aber das durch Institutionen stabilisierte Verhalten unterscheidet sich – abgesehen von der bereits erwähnten Ausschaltung der Affekte – in dreifacher Hinsicht wesentlich vom Handeln aus habitus. (1) Die Entlastungsebenen setzen zwar einander voraus, sind aber – wie die Seinsschichten bei Nicolai Hartmann901 – nicht miteinander verbunden. Es besteht kein innerer Zusammenhang zwischen dem Wovon und dem Wozu der Entlastung:902 »Das […] habitualisierte Verhalten wird […] die Basis für ein höheres, auf ihm erwachsendes variables Verhalten.« So offensichtlich auch der Tugendhabitus entlastende Funktion hat, so stehen doch hier das Wovon und das Wozu der Entlastung in Korrespondenz. Den habitus der Gerechtigkeit erwirbt man nicht, um auf dieser Basis für »ein höheres […] variables Verhalten« frei zu sein; er ist vielmehr Selbstzweck und steter Vervollkommnung fähig. (Auch wenn, wie im Gedanken der connexio virtutum, eine Hierarchie der Tugenden angenommen wird, ist die Verbindung als organisches Ganzes gedacht, nicht als Übereinander von Schichten, zwischen denen es keinen Austausch gibt.903) – Habitus und Institution entlasten; aber der Institution ist das Ziel, auf das hin sie entlastet, äußerlich. Anders gesagt: habitus bedeutet Steigerung, Entlastung hingegen lediglich Steigerungsmöglichkeit.904 (2) Der zweite Unterschied ist dieser: In Gehlens System spielen die Gewohnheiten eine herausragende Rolle (und Institutionen kann man als die Gewohnheiten einer Gesellschaft verstehen), denn sie sind überlebensnotwendig. (»Die Aufgabe des 901

Vgl. Der Mensch, a. a. O., S. 71. Ebd., S. 70, Hervorh. im Orig. 903 Thomas spricht von der »redundantia«, dem wechselseitigen Ineinandergreifen der vier Kardinaltugenden: Summa theol., I–II, qu. 61, a. 4 ad 1. 904 Zwar meint Gehlen, »daß die Ausbildung fundierender, stabiler Basisgewohnheiten die ursprünglich dort verwendete Motivations-, Versuchs- und Kontrollenergie entlastet und ›nach oben abgibt‹. […] Überdies gehen in diese Kulturleistungen alle die Antriebs- und Affektmengen ein, die durch die Trivialisierung der gewohnheitsmäßigen Erfüllung des biologischen Bedarfs freiwerden.« (Der Mensch, a. a. O., S. 71, Hervorh. im Orig.). Aber die durch Entlastung eingesparten Energien bzw. Affekte können genausogut versickern und der von Kierkegaard beklagten Leidenschaftslosigkeit das Feld räumen. – »Entlastung bedeutet Steigerung« – es scheint, daß diese Behauptung des Gehlen-Schülers Friedrich Jonas (Die Institutionenlehre Arnold Gehlens, Tübingen 1966, hier S. 41, Anm. 87) eher auf den habitus zuträfe. 902

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Ausblick ins 20. Jahrhundert

Menschen besteht in erster Linie darin, überhaupt am Leben zu bleiben […]«905) Habitus aber dienen nicht so sehr dem Überleben als dem Gelingen des Lebens; sie markieren die von Aristoteles mehrfach herausgestellte Differenz von »Streben nach Erhaltung des Lebens, des zen« und »Streben nach dem eu zen, dem guten Leben«.906 Gerade an Stellen, in denen Gehlen einer Umschreibung des habitus recht nahe kommt (»hat der Mensch seine Bewegungen ausgelesen und eingeübt, ein dauerndes Können der Handlung in bestimmter Richtung erworben, […] hat er seine Überzeugungen formiert […], [verfügt er über] Gewohnheiten [,] die Niederschläge früherer geführter Handlungen sind, aber nun selbst als festgestellte sich auswirken auf das, was unter ihrer Voraussetzung sich entwickelt« – so daß sich »bestimmte Dauerinteressen« ausbilden, »die völlige Konzentrierung des Bewußtseins auf die bestehenden Aufgaben gelungen ist« und »eine stetige Disziplin der Tat in eindeutigen Tätigkeiten zustande gekommen ist«907), zeigt sich, daß das Ziel weniger der ethischen Selbst-, als der technischen Weltgestaltung entspricht:908 »[…] erst dann ist der Mensch eigentlich fähig, […] die Energie seines Handelns und Vorstellens in ausschließende künftige Ziele zu werfen. Das bloße Herumexperimentieren und Entlanggleiten am Gegenwärtigen ist nicht die Aufgabe des Menschen, sondern das Umschaffen der Welt von der Zukunft her.« In der Gehlen’schen Welt kann – trotz Entlastung und Institution – die Vollendung des Menschen im Sinn des kalós kai agathós auch unterbleiben (wie bei den Spartanern!909); im habitus der aristotelischen Tradition dagegen ist sie von vornherein »inbegriffen«. (3) Die Prägung menschlichen Verhaltens durch Institutionen kommt von außen, die durch den habitus von innen. »Der Bestand einer jeden Institution ist nur dann gesichert, wenn ein […] Unterbau gewohnheitsmäßigen, auf Außensteuerung abgestellten Verhaltens vorhanden ist […]«910

905

Der Mensch, a. a. O., S. 66. – Vgl. Dietrich Böhler: »Arnold Gehlen: Handlung und Institution«, in J. Speck (Hrsg.): Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Gegenwart II, Göttingen 21981, S. 231–282, hier S. 271, 273; Rolf Schönberger: Philosophische Anthropologie 1: Das Sein des Menschen, Würzburg 1995, S. 53. 906 Robert Spaemann: Reflexion und Spontaneität. Studien über Fénelon, Stuttgart 21990, S. 60 (Hervorh. von mir); vgl. S. 317, Anm. 25. – Vgl. Aristoteles: Politik, I, 2 (1252 b 29f.), III, 9 (1280 a 31f.); Von der Seele (De anima), III, 12 (434 b 24). 907 Alle Zitate in: Der Mensch, a. a. O., S. 433. 908 Ebd., S. 434f., zweite Hervorh. von mir. 909 Aristoteles: Eudemische Ethik, VIII, 3 (1249 a 1ff.); Übers. von F. Dirlmeier, Berlin 41984, S. 104. 910 Urmensch und Spätkultur, a. a. O., S. 24 (Hervorh. von mir).

Die Institutionenlehre Arnold Gehlens

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Freilich, Gehlen möchte die dem modernen Subjektivismus anstößige Außensteuerung herunterspielen und zeigen, daß gerade im Aufgehen in der Institution die Freiheit ihren höchsten Ausdruck findet. Der Mensch soll, dem Anspruch der Institution genügend, sich »zu einem Baustein im Ordnungsgefüge«911 machen und seine Würde in der Bereitschaft finden, »sich von einer Aufgabe konsumieren zu lassen«.912 Es liegt nahe, hier an Aufgaben zu denken, die von der Institution her gestellt sind913 – ob Gehlen im Verfolg nichtinstitutioneller Aufgaben, von denen sich etwa Sokrates oder Christus konsumieren ließen, ebenfalls einen Weg zur Würde sähe? (Man könnte hier differenzieren: Gehlen spricht vom »einzigen jedermann zugänglichen Weg zur Würde«914 – dann bestünde eben die Würde des kleinen Mannes darin, im großen Getriebe aufzugehen, und für die Würde der Ausnahmeexistenz gälten andere Gesetze. Aber genau diese Unterscheidung ist im Ansatz zynisch, insbesondere dann, wenn man Zeiten vor Augen hat, in denen sich jedermanns Würde nur in der Ablehnung der institutionell vorgegebenen Aufgaben bewahren läßt.915) Karl-Otto Apel hat »jedes vorzeitige Abfangen der selbstverantwortlichen Freiheit des Menschen in einem ihr Äußerlichen, als das empirisch vorfindliche Institutionen doch prinzipiell angesprochen werden müssen« als Gefahr des Gehlenschen Ansatzes erkannt.916 Gutes Leben, so könnte man kritisch zuspitzen, kommt zustande, wo etwas Über-Individuelles, von sich aus eigentlich Totes – die Institutionen – sich den Menschen einverleibt.917 Immerhin scheint Gehlen die Ambivalenz seiner These gesehen zu haben, wenn er einerseits die »Verselbständigung des Gewohnheitsgefüges« lobt und »die Chancen des Schöpferischen nur in seiner Fortsetzung«918 911

Ebd., S. 72. Ebd., S. 97; vgl. S. 8. 913 In Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, Frankfurt a. M./Bonn 1969, S. 75, heißt es denn auch: »Sich von den Institutionen konsumieren zu lassen gibt einen Weg zur Würde für jedermann frei […]« Vgl. Böhler (wie Anm. 905), S. 269. 914 Urmensch und Spätkultur, a. a. O., S. 97 (Hervorh. von mir). 915 Vgl. Johannes Weiß: Weltverlust und Subjektivität. Zur Kritik der Institutionenlehre Arnold Gehlens, Freiburg i. Br. 1971, S. 205. 916 Karl-Otto Apel: »Arnold Gehlens ›Philosophie der Institutionen‹ und die Metainstitution der Sprache« (1962), in: Transformation der Philosophie, Bd. 1, Frankfurt a. M. 41991, S. 197–221, hier S. 209. 917 Auch Adornos Kritik am Entlastungsbegriff setzt hier an: »Das Nachlassen der Anstrengung, das Entlasten, bedeutet immer ein Übergewicht von Totem, nicht durchs Subjekt Hindurchgegangenem, äußerlich Dinghaftem […] Das Subjekt […] wird nicht nur entlastet, sondern virtuell ausgemerzt.« Adorno: Impromptus (1968), in: Gesammelte Schriften, Bd. 17, Frankfurt a. M. 1982, S. 265 f., 269. Vgl. Christian Thies: Die Krise des Individuums. Zur Kritik der Moderne bei Adorno und Gehlen, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 46, 153. 918 Urmensch und Spätkultur, a. a. O., S. 24. 912

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erblickt, im gleichen Atemzug aber feststellt:919 »Auch sehnt sich […] der pensionierte Beamte […] nach Dienstzimmer, Schreibtisch und Akten.« »Ganzheitssehnsucht«920 soll das treibende Motiv in einer früheren Phase von Gehlens Denken gewesen sein. In seinem späteren Werk ist es sozusagen in einer gespaltenen Perspektive präsent. Der »konfliktsfreie Mensch«921 – das wäre ja eigentlich der Entlastete, für den es »keinen Entschlußaufwand, keine Affektbremsung, keine Konfliktsquellen und keine Interferenz von Problemen«922 gibt – wird kritisiert als »der Mensch der verkleinerten Maßstäbe, der wahrscheinliche Mensch im Sinne der Entropie, der Mensch im Stile Louis-Philippes, von dem Tocqueville sagte: habgierig und sanft.«923 Er steht am Ende der Institutionenlehre (Teil I von Urmensch und Spätkultur), gewissermaßen ihre Fehlgeburt. Ihm wird ein Ideal entgegengehalten, das Gehlen nur kurz berührt: die »Umkehr der Antriebsrichtung«,924 die Askese. Von ihr aus ergibt sich allerdings eine Anknüpfung an die habitus-Tradition. Karl-Otto Apel charakterisiert sie als »die Möglichkeit einer Institutionalisierung des Seelenlebens in Gestalt eines inneren Weges, die geeignet ist, die von den äußeren, zweckrational-funktionalisierten Institutionen der Neuzeit freigesetzte Subjektivität verbindlich in Anspruch zu nehmen.«925 In der Askese kommen schließlich auch die Affekte wieder zu ihrem Recht. Gehlen sagt es selbst:926 »Im konkreten Fall bewirkt die Askese eine Stärkung des inneraffektiven Zusammenhangs, ein Mehr an Integration und Fassung der Person, verbunden mit einer Verschärfung der sozialen Antriebe, einer Steigerung der geistigen Wachheit – […]« Hier, abseits der Institutionenlehre, findet sich m. E. die gelungenste habitusUmschreibung aus Gehlens Feder.927 919

Ebd. – Eine Reminiszenz an Bouvard und Pécuchet? Das Wort ist geprägt von Karl-Siegbert Rehberg, dem Herausgeber der Arnold-Gehlen-Gesamtausgabe, in: »Existentielle Motive im Werk Arnold Gehlens. ›Persönlichkeit‹ als Schlüsselkategorie der Gehlenschen Anthropologie und Sozialtheorie«, in: Klages, H./Quaritsch, H. (Hrsg.): Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung Arnold Gehlens, Berlin 1994, S. 491–530, hier S. 526; vgl. Angelika Pürzer: Der Ansatz einer Ganzheitsphilosophie bei Arnold Gehlen, Frankfurt a. M. u. a. 1997, S. 15. 921 Urmensch und Spätkultur, a. a. O., S. 121. 922 Vgl. oben, Anm. 897. 923 Urmensch und Spätkultur, a. a. O., S. 121. 924 Ebd. – Vgl. ebd., S. 237ff. 925 Apel (wie Anm. 916), S. 212 f. (Hervorh. im Orig.) – Vgl. Urmensch und Spätkultur, S. 262. 926 Die Seele im technischen Zeitalter, a. a. O., S. 78f. 927 Interesse verdienen in diesem Zusammenhang (vgl. das Kierkegaard-Kap.!) auch die Ausführungen zum Thema »Stabilisierte Spannung« (Urmensch und Spätkultur, a. a. O., S. 78ff.) – ein Ausdruck, der von Przyluski übernommen ist. – Wo Gehlen ausdrücklich auf den habitus-Begriff rekurriert, bringt er ihn bezeichnenderweise nicht in den Kontext der aristotelischen, sondern der 920

Wiederentdeckung des habitus-Begriffs bei Pierre Bourdieu

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In der Askese, und nicht in der Entlastung, liegt das Geheimnis der Steigerung, der Intensivierung des Daseins.928

B. Die Wiederentdeckung des habitus-Begriffs bei Pierre Bourdieu Wer heute vom habitus spricht, weckt weniger die Assoziation an Aristoteles und Thomas von Aquin als an den Soziologen Pierre Bourdieu.929 Was bedeutet dieser Begriff bei ihm, und inwieweit berührt er sich mit dem der von uns untersuchten Tradition? Bourdieu weiß, daß es sich um »ein altes aristotelisch-thomistisches Konzept« handelt, beansprucht aber, es »doch neu überdacht«930 zu haben. Er verdankt es dem Kunsthistoriker Erwin Panofsky, zu dessen Essay Gotische Architektur und Scholastik Bourdieu ein Nachwort verfaßt hat.931 Panofsky sucht nach einer Erklärung für die parallele Entstehung der gotischen Kathedralen und der scholastischen Summen und findet sie in »der Ausbreitung einer […] Denkgewohnheit [engl. mental habit, P.N.] – wobei wir dieses überstrapazierte Schlagwort in seinem exakten scholastischen Sinne als […] principium importans ordinem ad actum […] verstehen.«932 Ohne Zweifel geht es Panofsky nicht um den sittlichen, sondern um den intellektuellen bzw. künstlerischen habitus, der zudem in die Nähe der Gewohnheit gerückt wird. In Bourdieus Rezeption kommt ein weiteres Element hinzu:933 »In der Terminologie der generativen Grammatik Noam Chomskys ließe sich der Habi-

stoischen (affektausschaltenden) Tradition: »Der Idealismus und die Lehre vom menschlichen Handeln« (1935), in: Gehlen: Theorie der Willensfreiheit und frühe philosophische Schriften, Neuwied/Berlin 1965, S. 252–285, hier S. 273f. 928 Vgl. Ulrich Hommes: Über die Leichtigkeit, Regensburg 1997, S. 135ff. 929 »Begriffe wie ›Habitus‹ […] stehen in Mode.« Klaus Eder, in ders. (Hrsg.): Klassenlage, Lebensstil und kulturelle Praxis. Beiträge zur Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieus Klassentheorie, Frankfurt a. M. 1989, S. 7. – Ich danke an dieser Stelle Herrn Prof. Dr. Michael Vester, Universität Hannover, für hilfreiche Gespräche über Bourdieu. 930 Pierre Bourdieu: Rede und Antwort (orig. 1987), Frankfurt a. M. 1992, S. 29. 931 Pierre Bourdieu: »Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis« (1967), in ders.: Zur Soziologie der symbolischen Formen (1970), Frankfurt a. M. 51994, S. 125–158. – Bourdieu hat u. a. auch die Seminare und Vorlesungen von Etienne Gilson am Collège de France besucht (vgl. Rede und Antwort, a. a. O., S. 17). 932 Erwin Panofsky: Gotische Architektur und Scholastik. Zur Analogie von Kunst, Philosophie und Theologie im Mittelalter (orig. 1951), Köln 1989, S. 18 (Hervorh. im Orig.). Panofsky verweist ganz richtig auf den habitus-Traktat der Summa theologiae, I–II, qu. 49, a. 3, c. (vgl. a. a. O., S. 56, Anm. 7). 933 Bourdieu: »Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis«, a. a. O., S. 143 (Hervorh. im Orig.).

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tus als ein System verinnerlichter Muster definieren, die es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer Kultur zu erzeugen – und nur diese.« In einer späteren Äußerung wird noch einmal die Herkunft des Begriffs aus der aristotelisch-scholastischen Tradition und zugleich die Abgrenzung von der Gewohnheit sowie das schöpferische Potential des habitus unterstrichen:934 »Mit der Wiederaufnahme des alten aristotelischen Begriffs der Hexis, von der Scholastik in Habitus übersetzt, wollte ich dem Strukturalismus und seiner befremdlichen Philosophie des Handelns entgegnen, die implizit in Lévi-Strauss’ Begriff des Unbewußten und in aller Klarheit bei den Althussianern mit ihrem auf die Rolle eines Trägers der Struktur reduzierten Akteur zum Ausdruck kommt. […] In diesem Punkt Chomsky nah, der […] gegen nahezu den gleichen Gegner den Begriff der generative grammar entwickelte, wollte ich die ›schöpferischen‹, aktiven, inventiven Eigenschaften des Habitus (was das Wort habitude: Gewohnheit nicht zum Ausdruck bringt) und des Akteurs herausstellen. Dabei wollte ich freilich darauf hinweisen, daß dieses generative Vermögen nicht das eines universellen Geistes […] überhaupt ist, wie bei Chomsky – der Habitus ist, das Wort sagt es, etwas Erworbenes, auch ein Haben, ein Kapital – oder das eines transzendentalen Subjekts, wie in der idealistischen Tradition – der Habitus, die Hexis meint die inkorporierte, gleichsam haltungsmäßige Disposition –, sondern die eines aktiv handelnden Akteurs.« Der Habitus ist erworben, sein Träger der handelnde einzelne; er übt – wie bei Aristoteles und Thomas – eine vielfach vermittelnde Funktion aus: zwischen »Individuum und Gesellschaft«,935 zwischen »Struktur und Praxis«,936 zwischen dem Objektivismus (à la Lévi-Strauss) und dem Subjektivismus937 (à la Sartre), zwischen »Theorie und Empirie«,938 zwischen Vergangenheit und Zukunft939, zwischen Frei-

934

Bourdieu: »Zur Genese der Begriffe Habitus und Feld« (orig. 1985), in ders.: Der Tote packt den Lebenden, Hamburg 1997, S. 61f. (Hervorh. im Orig. – Der Übersetzer merkt an, daß das Wort »Träger« im Original auf deutsch steht.) 935 Rede und Antwort, a. a. O., S. 43. – Vgl. den 5. Abschnitt »Der habitus als Mittleres« im Thomas-Kap. 936 Vgl. den oben, Anm. 931, zitierten Titel. 937 Bourdieu: »Strukturen, Habitusformen, Praktiken«, in ders.: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft (orig. 1980), Frankfurt a. M. 1987, S. 97–121, hier S. 97f. 938 Bourdieu: Die verborgenen Mechanismen der Macht, Hamburg 1997 (Erstaufl. 1992), S. 43. 939 Bourdieu: »Struktur, Habitus, Praxis«, in ders.: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft (orig. 1972), Frankfurt a. M. 1976, S. 139–202, hier S. 182: »Kurz, der Habitus, dieses Produkt der Geschichte, erzeugt entsprechend den von der Geschichte hervorgebrachten Schemata individuelle und kollektive Praxisformen – folglich Geschichte. Als Vergangenes, das im Aktuellen weiterlebt und sich bis in die Zukunft hin-

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heit und Notwendigkeit,940 zwischen »Exteriorität und Interiorität, zwischen Vielheit und Einheit«,941 zwischen Bewußtem und Unbewußtem;942 es wäre wohl keine Verfälschung von Bourdieus Auffassung, hinzuzufügen: zwischen Akt und Potenz, zwischen Vernunft und Gefühl, womit dem Habitus geradezu die Rolle eines »Menstruum universale« (Novalis)943 zukäme. Erläuterungsbedürftig bleibt vielleicht die Gleichsetzung von Habitus und Kapital. Bourdieus Gesellschaftstheorie zeichnet sich durch einen Kapitalbegriff aus, der ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital unterscheidet.944 »Kapital ist akkumulierte Arbeit, entweder in Form von Material oder in verinnerlichter, ›inkorporierter‹ Form.«945 Kulturelles Kapital läßt sich weder vererben noch delegieren, es wird im persönlichen Bildungsprozeß erworben. »Inkorporiertes Kapital ist ein Besitztum, das zu einem festen Bestandteil der ›Person‹, zum Habitus geworden ist; aus ›Haben‹ ist ›Sein‹ geworden.«946 (Tugend könnte man dann, mit Marx zu sprechen, als akkumulierte, vorgetane moralische Arbeit bezeichnen.) Nebenbei fällt auf, daß bei Bourdieu das Verhältnis Habitus/Institution so bestimmt wird, daß dieser jene belebt, also »erst durch den Habitus […] die Institu-

ein zu verlängern trachtet, indem es sich in den entsprechend seinen Prinzipien strukturierten Praxisformen aktualisiert, als inneres Gesetz, durch das hindurch sich fortgesetzt der Zwang externer Notwendigkeiten auswirkt, die sich auf die unmittelbaren Zwänge der jeweiligen Lage nicht zurückführen lassen, liegt das System der Dispositionen ebenso der Kontinuität und Regelmäßigkeit zugrunde, die der Objektivismus der sozialen Welt zuschreibt, […] wie auch den gleichermaßen Regeln unterworfenen Transformationen und Revolutionen«, von denen weder im Rahmen »eines mechanischen Soziologismus« noch eines »voluntaristischen […] Subjektivismus« Rechenschaft zu erwarten ist (ebd.). – Vgl. Sozialer Sinn, a. a. O., S. 101f., 116. 940 Vgl. Markus Schwingel: Bourdieu zur Einführung, Hamburg 1995, S. 63. 941 Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis, a. a. O., S. 184. 942 Bourdieu erklärt sich dagegen, »ein vollkommen transparentes Bewußtsein einem gänzlich opaken Unbewußten« gegenüberzustellen. – Ebd., S. 207. 943 Vgl. das Resümee in Sozialer Sinn, a. a. O., S. 103: »Als unendliche, aber dennoch strikt begrenzte Fähigkeit zur Erzeugung ist der Habitus nur so lange schwer zu denken, wie man den üblichen Alternativen von Determiniertheit und Freiheit, Konditioniertheit und Kreativität, Bewußtem und Unbewußtem oder Individuum und Gesellschaft verhaftet bleibt, die er ja eben überwinden will.« Vgl. Entwurf einer Theorie der Praxis, a. a. O., S. 448, Anm. 62. – Vgl. Novalis: Vermischte Bemerkungen 1797–1798, Nr. 57, in: Werke, hrsg. von G. Schulz, München 21981, S. 335. 944 Bourdieu: »Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital«, in ders.: Die verborgenen Mechanismen der Macht, a. a. O., S. 49–79. 945 Ebd., S. 49. 946 Ebd., S. 56. – Die dritte Kapitalsorte definiert Bourdieu so (ebd., S. 63): »Das Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen.« (Hervorh. im Orig.)

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tion ihre volle Erfüllung« findet947 – während es bei Gehlen die Institution war, die dem Menschen seine Erfüllung bieten sollte. Nach soviel Gemeinsamkeit ist aber auch nach dem Unterschied zu fragen, den Bourdieu für seine habitus-Interpretation beansprucht. Gehen wir noch einmal zum ersten Zitat zurück: Der Habitus, hieß es, ließe sich »als ein System verinnerlichter Muster definieren, die es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer Kultur zu erzeugen – und nur diese.« Der Habitus eröffnet also einen Handlungsspielraum und schränkt ihn gleichzeitig ein. Das wird noch deutlicher in der folgenden Aussage:948 »Der Begriff Habitus bezeichnet im Grunde eine recht simple Sache: wer den Habitus einer Person kennt, der spürt oder weiß intuitiv, welches Verhalten dieser Person versperrt ist. Wer z. B. über einen kleinbürgerlichen Habitus verfügt, der hat eben auch, wie Marx einmal sagt: Grenzen seines Hirns, die er nicht überschreiten kann. Deshalb sind für ihn bestimmte Dinge einfach undenkbar, unmöglich […] Aber innerhalb dieser seiner Grenzen ist er durchaus erfinderisch, sind seine Reaktionen keineswegs immer voraussehbar. Die Analogie von Lebensstil und künstlerischem Stil gewinnt von hier aus ihren Sinn: Der Stil einer Epoche ist genau diese spezifische Kunst des Erfindens, so daß man zwar nie genau weiß, was ein Künstler schaffen wird, aber doch vorweg schon die Grenzen kennt, in denen er schöpferisch tätig sein wird.« Die Analyse der Lebensstile verschiedener Gesellschaftsgruppen ist Thema von Bourdieus wohl erfolgreichstem Buch, Die feinen Unterschiede (1999 in Deutschland bereits in 11. Auflage erschienen). Der Untertitel Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft verweist auf Kants dritte Kritik. Unter Verwendung des habitus-Begriffs bekommt der Soziologe Eigenheiten im Geschmack und Konsum der diversen sozialen Klassen zu fassen, die zunächst einmal einfach erhoben und nicht gewertet werden. Aber Bourdieus Mißtrauen gegenüber festgefahrenen (»rituellen«949) Alternativen läßt vermuten, daß die Distinktion deskriptiv/normativ (wobei die Soziologie einen deskriptiven, die Ethik einen normativen habitus-Begriff beanspruchen könnte) nicht das letzte Wort seiner habitus-Theorie ist. In der Tat kann man die Analysen der kabylischen Kultur nicht lesen, ohne die Anteilnahme des Autors an seinem Gegenstand zu spüren. Kaum läßt sich bestreiten, daß Bourdieu – wie andere Ethnologen vor ihm – hier nicht ein wertfreies Forschungsobjekt beschreibt, sondern sich von einer intakten Welt gefangennehmen 947

Sozialer Sinn, a. a. O., S. 107. Bourdieu: »Mit den Waffen der Kritik …« (orig. 1983), in ders.: Satz und Gegensatz. Über die Verantwortung des Intellektuellen, Berlin 1989, S. 24–36, hier S. 26f. (Hervorh. im Orig.) – Vgl. (fast gleichlautend) Bourdieu: »Die feinen Unterschiede« (1982), in: Die verborgenen Mechanismen der Macht, a. a. O., S. 31–47, hier S. 33. 949 Entwurf einer Theorie der Praxis, a. a. O., S. 148; vgl. Die verborgenen Mechanismen der Macht, a. a. O., S. 83. 948

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läßt, die zwar nach den geläufigen Maßstäben zivilisatorischen Fortschritts weit hinter den westlichen Standards zurückliegt, von der aber der moderne Europäer mehr lernen könnte als umgekehrt. Die Studie über »Ehre und Ehrgefühl«950 zeigt, daß für die Kabylen, ein kleines, zu den Berbern gehöriges Bergvolk im Norden Algeriens, das entscheidende Kapital die Ehre – ein habitus951 – und nicht der materielle Reichtum ist. Die mündlich überlieferte Schilderung des exemplarischen Ehrenmannes beginnt so:952 »Es war einmal ein Mann, der Belcacem oder Aissa hieß und der trotz seiner Armut wegen seiner Weisheit und Tugend geachtet wurde. Seine Ausstrahlungskraft reichte über mehrere Stämme. Jedesmal, wenn ein Streit oder ein Kampf ausbrach, diente er als Vermittler und schlichtete den Konflikt.« Nicht zufällig gehört die Begrenzung von Konflikten zu den vornehmsten Errungenschaften einer Kultur, in der Ehre mehr zählt als Geld.953 Wer bei einem Handel nur auf den maximalen Sofortgewinn schaut, ist nicht an der Kontinuität der Beziehungen interessiert; er macht seinen Reibach und geht davon, wie der Roßtäuscher.954 Dagegen sieht der ehrliche Handel vor, daß bei aller Feilscherei am Ende eine Geste des Schenkens steht:955 »Es ist üblich, daß der Verkäufer bei Abschluß eines größeren Geschäfts, z. B. beim Verkauf eines Ochsen, dem Käufer einen Teil der Summe, die er gerade bekommen hat, ostentativ zurückgibt, ›damit dieser Fleisch für seine Kinder kaufen kann‹.« Die Grenzen zwischen Geschäft und Freundschaft werden eigenartig fließend; da man unter Verwandten das größte Vertrauen hat, werden die meisten Geschäfte innerhalb der Verwandtschaft abgewickelt. Solche Geschäfte »verhalten sich zu den Geschäften des Markts wie der rituelle Krieg zum totalen«.956 D. h., da in die ökonomischen Beziehungen immer auch die Perspektive der Ehre eingeht, können diese

950

In: Entwurf einer Theorie der Praxis, a. a. O., S. 11–47 (datiert vom Januar 1960). »Was man das Ehrgefühl nennt, ist nichts anderes als die kultivierte Disposition, der Habitus, der jedes Individuum in die Lage versetzt, von einer kleinen Anzahl implizit vorhandener Prinzipien aus alle die Verhaltensformen […] zu erzeugen, die den Regeln der Logik von Herausforderung und Erwiderung der Herausforderung entsprechen, und zwar dank eines solchen Erfindungsreichtums, wie ihn der stereotype Ablauf eines Rituals keineswegs erfordern würde.« A. a. O., S. 31. (Hervorh. im Orig.) 952 Entwurf einer Theorie der Praxis, a. a. O., S. 395, Anm. 21. 953 »So macht man sich über den Neureichen lustig, der die Spielregeln der Ehre nicht kennt und als Antwort auf eine Verletzung […] seinen Gegner zu einem Wettrennen herausfordern oder mit ihm wetten will, wer die meisten Tausend-Francs-Scheine vor sich auf dem Boden ausbreiten kann.« Ebd., S. 32f. 954 »Die Verkörperung des ökonomischen Kriegs ist der Roßtäuscher, der Mann ohne Treu und Glauben.« Sozialer Sinn, a. a. O., S. 211. 955 Entwurf einer Theorie der Praxis, a. a. O., S. 46. 956 Sozialer Sinn, a. a. O., S. 210. 951

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nie total werden – genausowenig wie es einen totalen Krieg (eine rein materielle Auseinandersetzung, die alle anderen Werte ausblendet) geben kann. Zur Kultur der Ehre gehört das Bestreben, daß aus der Gemeinschaft derer, die sich Ehre angedeihen lassen, möglichst keiner herausfallen soll.957 Der kabylische Ehrenhabitus wird nicht wertfrei beschrieben; in ihm sind ethische Errungenschaften verkörpert, die man in den Habitussystemen der Feinen Unterschiede vergeblich sucht. In einer Gesellschaft, die sich weigert, ökonomische Werte als die letztverbindlichen anzuerkennen, stößt der mit dem Instrumentarium des habitus-Begriffs ausgerüstete Soziologe unvermeidlich auf die Sphäre des Ethischen. Es sind wohl die kabylischen Erfahrungen, die Bourdieu auf die Erweiterung des ökonomistischen Kapitalbegriffs gebracht haben. Kann man vom Gewinn an Distinktion,958 der sich aus den verschiedenen Kapitalsorten ziehen läßt, eine Brücke zur Ethik schlagen? Anders gefragt: treibt die Logik des Andersseinwollens nicht über sich selbst hinaus? Wer einer Gesellschaftsschicht angehört, in der die Subsistenzprobleme gelöst sind, möchte sich u. U. nicht mehr oder jedenfalls nicht ausschließlich durch ein größeres Auto oder durch anspruchsvolleres Wohnen auszeichnen, sondern durch »inkorporiertes Kulturkapital«.959 Wer seine libido sciendi960 befriedigt hat – wer über Wissen und Geschmack verfügt –, dem bleibt eigentlich nur noch eine Herausforderung: die Aneignung von Distinktionsgewinn aus dem Kapital ethischer habitus. »Die Existenz eines Interesses an der Tugend und eines aus der Konformität mit dem gesellschaftlichen Tugendideal resultierenden Gewinns ist freilich allseits bekannt […]«961 Was bleibt nach der »Ernüchterung, die die soziologische Erhellung des Interesses an der Uneigennützigkeit hervorrufen kann«?962 Mögen auch die »schönen Seelen«963 schockiert sein, Bourdieu sieht in der erwartbaren gesellschaftlichen Beloh957

Entsprechendes gilt für das Ethos der Arbeit, das ebenfalls anderen als rein ökonomischen Gesetzen gehorcht. Die Gruppe »muß […] jedem eine Beschäftigung bieten, und sei sie nur symbolisch: der Bauer, der Müßiggängern Gelegenheit schafft, auf seinen Feldern zu arbeiten, wird allgemein gelobt, gibt er doch diesen Randexistenzen die Chance, sich durch Erfüllung ihrer Mannespflicht in die Gruppe einzugliedern.« Sozialer Sinn, a. a. O., S. 213, Anm. 1. 958 Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (orig. 1979), Frankfurt a. M. 101998, S. 287. 959 Die verborgenen Mechanismen der Macht, a. a. O., S. 55. 960 Ebd. 961 »Für eine Politik der Moral in der Politik«, in: Der Tote packt den Lebenden, a. a. O., S. 201. 962 Ebd. 963 Ebd., S. 204.

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nung der Tugend nicht nur nichts Ehrenrühriges, sondern eine conditio sine qua non:964 »Und es liegt auch nichts Entmutigendes […] in der Tatsache, daß […] Journalisten auf der Jagd nach Skandalen, […] Juristen, die sich die Verteidigung und Ausweitung des Respekts vor dem Recht angelegen sein lassen, Forscher, darauf versessen, das Verborgene zu enthüllen (wie der Soziologe), nur insoweit dazu beitragen können, die Bedingungen für die Errichtung der Herrschaft der zivilen Tugend zu schaffen, als die Logik der jeweiligen Felder ihnen die Universalitätsgewinne sichert, die ihrer libido virtutis zugrunde liegen.« Politik sollte so gestaltet werden, daß Sokrates ins Prytaneion, und nicht ins Gefängnis kommt, und wer sich dafür einsetzt, verdient seinen Lohn. Aber einen Sokrates, der tut, was er tut, weil er auf Speisung im Prytaneion hofft, könnte sich wohl auch Bourdieu nicht vorstellen. Und so bleibt die in der traditionellen habitus-Lehre gesehene Möglichkeit, das Verlangen nach Auszeichnung in ein ausgezeichnetes Verlangen – die libido virtutis qua habitus in eine virtus libidinis – zu verwandeln, als Frage nach der Möglichkeit der Selbsttranszendenz in Bourdieus System.965 Es gehört zur Aufgabe der Soziologie, ihr Untersuchungsfeld so weit wie möglich auszudehnen und die jeweilige Einkleidung, den soziologisch erhebbaren »habitus« von Verhaltensweisen aufzudecken, die ihrem eigenen Selbstverständnis nach hierin nur ein Vorletztes sehen können. Aber das weiß vermutlich niemand besser als Bourdieu selbst: »La vraie sociologie se moque de la sociologie.«966

964

Ebd. (Hervorh. im Orig.) Sowohl die archaischen wie die modernen Gesellschaften funktionieren nach dem Modell des Austauschs. In einer Fußnote merkt Bourdieu in Klammern einmal eine Ausnahme hiervon an: »Nur der Heilige kann geben, ohne zu besitzen.« Sozialer Sinn, a. a. O., S. 229, Anm. 1. 966 Anspielung auf Bourdieu: Méditations pascaliennes, Paris 1997. – Vgl. ebd., S. 16: »Je ne me suis jamais vraiment senti justifié en tant qu’intellectuel.« 965

VII. RESÜMEE

Keine Praxis ohne habitus, sagt Bourdieu.967 Das gilt erst recht für Praxis und habitus im emphatischen, ethisch bedeutsamen Sinn. Sehen oder beweisen kann man den habitus genausowenig wie die Seele.968 Er ist die Vollendung der menschlichen Natur und ihrer Bereitschaft zum Guten. Das Gute bleibt durch die Universalisierbarkeit unterbestimmt. Zu seiner Vollendung bedarf es, wie schon die griechische Kalokagathia-Formel oder Schillers Variationen über den barmherzigen Samariter zeigen, des Schönen. Schönheit im Handeln aber setzt voraus, daß das Gute nicht nur dem Denken und Wollen, sondern dem ganzen Menschen, d. h. auch dem Gefühl präsent ist.969 Die Ganzheitsthese steht, so scheint es, im Widerspruch zur Freiheit. Weder Duns Scotus noch Kant erkennen die Sinnlichkeit als maßgebliche Instanz für die Manifestation von Freiheit an, beiden ist der habitus als in der Sinnlichkeit aufgehobene Reflexion suspekt, beide lehnen (wie auch Luther) die Vorstellung ab, Freiheit ließe sich akkumulieren: entweder man ist frei, oder man ist es nicht, es gibt kein allmähliches Hineinwachsen in die Freiheit. Gegenüber der Auffassung, Freiheit sei allenfalls der Sinnlichkeit abzuringen, vermöge aber nicht wirklich in sie einzugehen, unterstellt der habitus-Gedanke, die Sinnlichkeit sei einer Verwandlung, sei der Teilhabe an der Vernunft fähig – diese wiederum zeige sich erst in ihrer eigentlichen Stärke, wenn sie als inkarnierter Geist zu ihrer Bestimmung gekommen sei. Ein Problem bleibt: die Unmöglichkeit, eine solche Inkarnation direkt zu intendieren. Man kann einzelne Akte der Nächstenliebe nicht in der Absicht setzen, sich dadurch einen entsprechenden habitus zu erwerben. Dieser stellt sich vielmehr auf dem Rücken von Akten ein.970 Gerade durch die Indirektheit seiner Aneignung aber ist der habitus der Liebe – als einzige uns bekannte Größe – eines unendlichen Wachstums fähig. 967

Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis, a. a. O., S. 207. Aber: »Gerade das, was nicht im strengen Sinn zu beweisen ist, kann Wahrheit enthalten, von deren Erkenntnis für das Gelingen unseres Lebens Entscheidendes abhängt.« Ulrich Hommes: Über die Leichtigkeit, Regensburg 1997, S. 159. 969 »Die Sittlichkeit besteht nicht in äußern, noch in einzelnen, noch in zweckmäßig gedachten Handlungen, sondern in dem ganzen gedachten und gefühlten Leben.« Friedrich Schlegel: Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern. Neuntes Buch. Die Moral (Kölner Vorlesungen 1804–1805), in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 13, hrsg. von J.-J. Anstett, Paderborn 1964, S. 83. 970 Vgl. Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Ver968

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Resümee

Thomas von Aquin schreibt von der caritas:971 »Denn die Liebe hat eben auf Grund ihrer Eigenart keine Wachstumsgrenze, sie ist nämlich eine gewisse Teilnahme an der unendlichen Liebe […] diesem Wachstum kann keine Grenze gesetzt werden; denn immer, wenn die Liebe wächst, wächst die Fähigkeit zu weiterem Wachstum noch mehr.« Die Perspektive inneren Wachstums bzw. Fortschritts, auf die auch Hans Jonas wieder aufmerksam gemacht hat,972 könnte hilfreich sein in einer Zivilisation, die, wie es scheint, durch die Fixierung aufs Materielle an den Rand ihrer Wachstumsmöglichkeiten geraten ist. »Den Heiligen aber bleibt immer noch etwas übrig, worin sie wachsen können.«973 – Nicht nur ihnen.

such der Grundlegung eines ethischen Personalismus, Bern/München 61980, S. 48. – Auch KarlOtto Apel schreibt im Hinblick auf »Gesinnungen und Tugenden«, daß ihre »Etablierung gerade nicht direkt als Ziel angestrebt werden kann.« K.-O. Apel: »Kein Ende der Tugenden«, Frankfurter Hefte, 29 (1974), H. 11, S. 783–794, hier S. 794. Vgl. Otto Friedrich Bollnow: Wesen und Wandel der Tugenden, Frankfurt a. M./Berlin 1958, S. 23f. 971 Summa theol., II–II, qu. 24, a. 7, c. (Vgl. Deutsche Thomas-Ausgabe, Bd. 17 A, S. 57). Im Zusammenhang lautet die Stelle: »Nullo autem istorum modorum imponitur terminus augmento caritatis in statu viae. Ipsa enim caritas secundum rationem propriae speciei terminum augmenti non habet; est enim participatio quaedam infinitae caritatis, quae est Spiritus Sanctus. Similiter etiam causa augens caritatem est infinitae virtutis, scilicet Deus. Similiter etiam ex parte subiecti terminus huic augmento praefigi non potest; quia semper, caritate excrescente, superexcrescit habilitas ad ulterius augmentum. Unde relinquitur quod caritatis augmento nullus terminus praefigi possit in hac vita.« 972 Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1984 (1979), S. 290f., dazu S. 405f., Anm. 5. 973 Prosper von Aquitanien: Epigrammata ex sententiis S. Augustini, nr. 27: De proficiendo, PL 51, col. 507 A: »Semper enim sanctis superest quo crescere possint.«

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PERSONENREGISTER*

Abaelard, P. 58f. Abel, J. F. 159 Adam, Ch. 117, 134 Adorno, Th. W. 211 Ägidius Romanus 100 Albert, K. 52 Alexander von Aphrodisias 51 Alsted, H. 130 Althaus, P 118, 127f., 130 Althusser, L. 214 Ambrosiaster 50 Ambrosius 50 Amsdorff, N. von 121 Amorós, L. 88 Anselm von Canterbury 55, 57 Anstett, J.-J. 221 Apel, K.-O. 211f., 222 Aristoteles 1f., 3, 5, 8 f., 12ff., 19ff., 38, 44ff., 49, 51, 52, 56ff., 60 f., 65f., 71, 73, 78f., 81, 87, 92, 95, 97f., 99f., 101, 102f., 104f., 107, 108, 109, 112ff., 117f., 119, 120, 121, 124, 128, 129, 134ff., 138, 145f., 149ff., 154, 155, 156, 158, 159f., 164, 168, 169, 170, 178ff., 182, 184f., 192, 195, 198, 200, 202, 205, 207f., 210, 212, 213f. Arnauld, A. 139ff. Arnold, B. 13 Aubenque, P. 25 Auer, J. 47, 71ff., 79, 81, 86 Auerbach, B. 140 Augustinus 3, 39f., 41, 51, 55, 56, 68, 69, 81, 83, 86, 90ff., 95, 121, 132 Averroes 52f., 65f., 99, 104, 107f., 109, 110 Avicenna 109

Babin, E. 19 Bali´c, C. 70 Bachmaier, H. 55 Balthasar, H. U. von 82, 201 Bannach, K. 114 Barion, H. 136 Baudelaire, Ch. 34 Bauer, M. 119 Beckmann, J. P. 33, 100 Beer, Th. 133 Beintker, M. 122 Bergson, H. 1, 3, 139 Bernhard von Clairvaux 201 Bérubé, C. 87 Bien, G. 9, 21f., 31, 38, 65, 121, 147 Boethius, A. M. S. 36, 45 Böhler, D. 210 f. Bollnow, O. F. 222 Bonansea, B. M. 70, 179 Bonaventura 76, 83 Bordes, Ch. 11 Bos, E. P. 114 Bourdieu, P. 16, 207, 213 ff., 221 Bourke, V. J. 52 Brague, R. 25, 29, 36 Brecht, M. 119ff., 123, 128 Brelage, M. 159, 169 Brennan, R. E. 38, 52 Brown, St. F. 100 de Bruyne, E. 82, 95 Buber, M. 181 Bubner, R. 145 Buchenau, A. 135, 140 Buchheim, Th. 20, 29, 154 Buridan, J. 129 Burman, F. 136

* Kursive Zahlen beziehen sich auf die Anmerkungen.

242

Personenregister

Burnyeat, M. F. 20 Busa, R. 80 Butzki, C. 19, 33 Cäsar 40 Cassirer, E. 171 Cato 154 Cavellus, H. 84 Cessario, R. 36 Chanut, H.-P. 136, 141 Charlet, E. 141 Chateaubriand, F.-R. de 182 de Chauvet, F. 56, 58f. Chauvin, St. 143 Chenu, M.-D. 43 Chesterton, G. K. 43, 77 Chevalier, J. 105 Chomsky, N. 213f. Chopin, F. 34, 62 Christmann, H. M. 81 Christoph, F. 7 Chrysipp 202 Cicero 40 Clauberg, J. 139 Claudius, M. 201 Colli, G. 3 Comte-Sponville, A. 3 Courtenay, W. J. 73 Cramer, F. 42 Crespo, R. F. 81 Crisp, R. 14 Dahlstrom, D. O. 174 Damasio, A. R. 14 D’Andrea, G. 60 Dante 83 Darge, R. 4, 9, 19 Descartes, R. 16, 55, 117, 133ff., 158 Dettloff, W. 69, 72, 74ff., 111 Dewey, J. 17 De Wulf, M. 84f., 91 Diels, A. 202 Dilthey, W. 173 Dinet, J. 138 Dionysius Areopagita 49, 82

Dirlmeier, F. 20ff., 26, 27, 32f., 145, 210 Dominicus a St. Theresia 53 Dondaine, A. 87f. Dreyer, M. 78 Driesch, H. 198 Duhem, P. 97, 105 Dumont, St. D. 77 Duns Scotus: s. Johannes Duns Scotus Durandus de Sancto Porciano 74 Düring, I. 20 Ebeling, G. 118ff., 125, 130 Meister Eckhart 87f., 91f., 105, 201 Eco, U. 173 Eder, K. 213 Elisabeth, Prinzessin von der Pfalz 139, 141f. Elm, R. 24, 35 Elsässer, M. 36 Engelhardt, P. 52 Ernst, W. 51 Esser, D. 60 Etzkorn, G. J. 53 Eudoxos von Knidos 20 Eustratius 65 Fabro, C. 132, 179 Falke, G. 174 Fauteck, H. 180, 199 Fénelon 155, 166, 201 Ferguson, A. 159 Fichte, I. H. 167 Fichte, J. G. 147, 166, 167 Flashar, H. 20 Flitner, A. 71 von Fragstein, A. 21 Franciscus de Mayronis 74 Franke, U. 171 Freud, S. 31 Fricke, G. 10, 42, 95, 147, 151, 155, 157, 183 Fuchs, O. 114 Fulda, H. F. 173 Funke, G. 2, 130

Personenregister Gäbe, L. 134 Gadamer, H.-G. 35 Galilei, G. 97 Garve, Chr. 159, 178 Gehlen, A. 207ff., 216 Geismar, E. 204 Gerdes, H. 29, 188 Ghisalberti, A. 105 Gibieuf, G. 139 Giel, K. 171 Gigon, O. 9, 34, 147 Gilson, É. 60f., 70, 87, 213 Ginters, R. 27f. Glockner, H. 173, 179 Glorieux, P. 85 Goethe, J. W. von 169 Goleman, D. 14 Gómez Pereira 134 Gonsalvus Hispanus 87f., 92 Göpfert, H. G. 10, 42, 95, 147, 151, 155, 157, 183 Gottfried von Fontaines 63, 64, 84f., 91f., 118, 119 Gouhier, H. 1, 139 Grabmann, M. 88 Graf, Th. 15, 38, 45, 50, 58, 64, 111, 114 Grane, L. 119f. Greve, W. 198 Grosche, R. 127 Grosse, W. 145 Habermas, J. 7ff., 208 Haecker, Th. 180, 188, 204 Hamann, J. G. 160 Hamm, B. 73, 76 Hammacher, K. 140, 143 Hansen, F.-P. 175 Harak, G. S. 41, 43 Hartmann, N. 209 Heereboord, A. 138 Hegel, G. W. F. 11, 127, 147, 170ff., 179ff., 202 Heiberg, P. A. 178 Heidegger, M. 31, 33f., 99, 101 Heilig, K. J. 59f.

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Heinrich von Gent 63, 65, 72, 100, 119 Heinrich von Langenstein 59 Henrich, D. 172f. Heraklit 202 Herder, J. G. 171 Hermann, R. 121f., 125, 130f. Hermanni, F. 130 von Hildebrand, D. 28 Hildebrandt, V. 33 Himmelstrup, J. 205 Hiquaeus, A. 84 Hirsch, E. 173, 187, 189, 192, 194ff., 198, 200ff. Hittinger, R. 22 Hoeres, W. 57, 61, 69, 87, 94, 95, 96 Höffe, O. 20f. Hoffmans, J. 63, 83f., 91f. Hölderlin, F. 83 Holl, K. 76, 117, 123, 128f., 130 Hommes, U. 213, 221 Honnefelder, L. 33, 78, 95, 100 Hopland, K. 187 Horton, J. 13f. Horváth, T. 81f. Hösle, V. 6, 149 Hoye, W. J. 83 Huber, F. 155 Hübsch, St. 15 Huet, P. D. 134 Humboldt, W. von 171 Hume, D. 13, 171 Hutcheson, F. 171 Hutchinson, D. S. 19, 23, 32 Ilien, A. 81f., 112 Illiger, H. 7 Inagaki, B. R. 36f., 61 Inciarte, F. 33 Ingham, M. E. 65, 69f., 72, 77, 86 Irwin, T. H. 20 Iserloh, E. 114 Jacob, J. 39 Jacobi, F. H. 174 James, W. 10, 17

244

Personenregister

Janke, W. 168 Jesus Christus 42, 83, 92, 118, 122, 125f., 128, 130, 131, 133, 163, 172f., 194ff., 211 Joest, W. 76f., 123 Johannes de Bassolis 74 Johannes Duns Scotus 12, 15f., 32, 47, 53, 55ff., 77ff., 110ff., 118, 119, 120, 122ff., 131, 132, 146, 179, 184f., 191, 195, 221 Johannes Quidort 48 Johannes a Sancto Thoma 37 Johannes von Vercelli 81 Jonas, F. 209 Jonas, H. 222 Jovius, P. 60 Junghans, H. M. 178 Kaegi, D. 15 Kant, I. 3, 8, 13, 15, 37, 55, 60, 65, 97, 127, 141, 143, 145, 148ff., 167, 169, 170 ff., 174ff., 181, 189, 216, 221 Karlstadt, A. 121 Kaufmann, M. 113 Kaulbach, F. 97f. Kenny, A. 20 Kersting, W. 173 Kible, B. Th. 113, 123, 125 Kierkegaard, P. Chr. 204 Kierkegaard, S. 3, 16, 29, 73, 132, 145, 156, 178ff., 207, 209, 212 Klages, H. 212 Kleanthes 202 Klein, J. 56 Klibansky, R. 87f. Klünker, W.-U. 36 Kobusch, Th. 117, 124 Kohlberg, L. 10 Köhler, D. 174 Konersmann, R. 171 Körner, Chr. G. 151, 153ff., 155, 156 Kösters, R. 121 Kranz, G. 82 Kranz, W. 202 Krop, H. A. 114

Kühn, U. 131 Kuic, V. 48 Landsberg, P. L. 38 Lang, J. 120 Leibniz, G. W. 55, 171 Leibold, G. 100 Lentulus, C. 139 Lévi-Strauss, C. 214 de Libera, A. 88 Lichtenstein, E. 171 Link, W. 122 Locke, J. 139 Lohse, B. 118 Longpré, E. 87 Lorusso, L. 35 Lottin, O. 47f. Lotz, J. 82 Louis-Philippe 212 Löw, R. 29, 97ff., 198, 201 Ludwig IX. 43 Lugarini, L. 174 Lund, H. 204 Luscombe, D. E. 58f. Luther, M. 16, 73, 76, 91, 117 ff., 149, 177, 195, 221 Lychetus, F. 57 MacIntyre, A. 7, 13f., 37 Maier, A. 97, 99, 105, 107, 119 Maine de Biran 3, 17 Majetschak, S. 160 Manuwald, B. 21, 66 Marion, J.-L. 134f., 139, 140 Maritain, J. 16, 37, 55, 97, 118, 135, 140 Martensen, H. 202 Marx, K. 215f. Mausbach, J. 36, 40 McCord Adams, M. 78, 100, 108f. McGinn, C. 155, 174 Medina, B. de 84 Meier, M. 140 Meier-Seethaler, C. 14, 171 Mendus, S. 13f. Mensching, G. 81, 108, 115

Personenregister Mersenne, M. 141 Meyer, C. F. 41 Meyer, H. 4 Michael de Massa 97, 107 Michel, E. 81 Mieth, D. 4, 15 Minges, P. 69, 70, 95 Mittelstraß, J. 20 Mitterer, S. 93 Möhle, H. 70, 77 Molinos, Miguel de 50 Mondolfo, R. 135 Montinari, M. 3 Moore, G. E. 13 More, H. 134 Moser, S. 99, 101 f. Muck, O. 82 Muehleck-Müller, C. 167 Müller, A. W. 22, 29 Müller, H. 21 Müller, W. 170 Musil, R. 12 Nero 183f. Neumann, B. 84 Nickl, P. 3, 7, 16 Nida-Rümelin, J. 5 f. Nietzsche, F. 3 Nohl, H. 172 Norton, R. E. 145 Novalis 215 Nussbaum, M. C. 13f., 21, 27, 160 Oehler, K. 19 Oeing-Hanhoff, L. 141 Olsen, R. 204 O’Neill, O. 13 Panofsky, E. 213 Pareyson, L. 159, 161f., 164, 166 Parfit, D. 139 Pascal, B. 154 Paulus 87, 89, 119 Peirce, Ch. S. 17 Pelster, F. 80

245

Perl, C. J. 39, 69, 92 Pesch, O. H. 36, 53, 77, 118ff., 121, 124ff., 130f., 133, 185 Petrus Aureoli 111 Petrus Lombardus 75, 112, 118, 131 Petrus de Palude 74 Pfürtner, St. 38, 43 Picot, C. 136 Pieper, J. 4, 38, 77 Pinckaers, S. 4, 13 Platon 20, 21f., 35f., 38, 109, 137, 148, 171, 178 Plessner, H. 35 Plotin 171 Plutarch 191 Poe, E. A. 4 Pöggeler, O. 174 Pohlenz, M. 191, 202 Pollot, A. 138 Poncius, I. (John Ponce) 12, 84 Pott, H.-G. 155, 165f. Prauss, G. 145, 161 f., 170 Prentice, R. 88 Prosper von Aquitanien 222 Przyluski 212 Pürzer, A. 212 Putallaz, F.-X. 88 Quaritsch, H. 212 Quint, J. 91, 105, 201 Raffelt, A. 47 Rahner, K. 95 Ramírez, J.-M. 44, 169 Ravaisson 17 Regius, H. 134, 137f., 143 Rehberg, K.-S. 212 Reid, Th. 159 Reiner, H. 149, 176 Reinhold, C. L. 166 Rentsch, Th. 55 Revius, J. 138f. Richter, L. 187, 189, 192, 204 Ricken, F. 25 Riedel, W. 157, 159

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Personenregister

Riesenhuber, K. 79 von Rintelen, F.-J. 56 Ritter, H. 11 Robinet, A. 1, 3, 139 Röd, W. 136 Rohrmoser, G. 173 Rolfes, E. 9, 21, 26, 30, 32ff., 38, 44, 65, 121, 147 Rombach, H. 140 Röpke, W. 208 Rorty, A. O. 20, 33 de Roton, P. 44, 47f., 50, 53 Rousseau, J.-J. 11, 170 Rousselot, P. 81, 84 Ryan, J. 179 de Saint-Maurice, B. 179 Sandín, B. T. 37 Sartre, J.-P. 90, 214 Saumaise, C. 138 Scaramuzzi, D. 72 Schalbruch, J. Th. 139 Scharff, C. 36 Scheler, M. 1f., 4, 25, 82, 105f., 139, 149, 175, 185, 221 Schelling, F. W. J. 11, 154, 200 Schelsky, H. 128 Schenk, R. 6, 42 Schiller, F. 10, 11, 16, 42, 95, 143, 145, 147ff., 180f., 183, 187, 200, 207, 221 Schlegel, F. 221 Schleiermacher, F. D. E. 182 Schmaus, M. 82 Schmid, H. 130 Schmid, W. 3 Schmidl, W. 36 Schockenhoff, E. 36f., 48, 51 Schönberger, R. 3, 16, 35, 73, 82, 90, 97, 108, 124, 129, 140, 201, 210 Schoock, M. 137 Schöpsdau, K. 21 Schrader, W. H. 171 Schulz, G. 215 Schulze, M. 96 Schwarz, H. 119

Schwarz, R. 124, 127 f. Schwingel, M. 215 Sdun, W. 175 Seeberg, R. 58 Seidl, H. 26, 29, 31, 35 Seils, M. 122 Seneca 141f. Sertillanges, A. D. 79 Shaftesbury 171 Shakespeare, W. 35 Sherman, N. 13, 176, 178 Siewerth, G. 81f. Simon, Y. R. 48 Simplicius 20 Slote, M. 14 Sløk, J. 181, 199, 205 Söhngen, G. 132 Sokrates 19ff., 173, 180, 194f., 197, 205, 211, 219 de Sousa, R. 14, 189 Spaemann, R. 5, 29, 35, 97f., 102f., 111, 127, 136, 139, 147, 155, 166, 198, 201, 210 Spang, P. J. 200 Specht, R. 134f., 136 Speck, J. 210 Speer, A. 83 Spinoza, B. de 112, 140 Stack, G. J. 185 Stagnitta, A. 36 Stange, C. 131 Steel, C. 114 Steiner, P. M. 36 Stock, K. 130 Stocker, M. 14 Stuart, A. 138 Suárez, F. 37, 43, 51, 134, 136 Sulzer, J. G. 159 Suphan, B. 171 Sylvester von Ferrara 47 Tannery, P. 117, 134 Theiler, W. 35 Theunissen, M. 179, 198 Thies, Chr. 211

Personenregister Thimme, W. 39, 90, 92 Thomas von Aquin 1, 3f., 9, 12, 14, 15f., 19f., 22, 24ff., 31ff., 36ff., 55f., 57f., 59ff., 66, 72, 74ff., 77ff., 97, 100f., 102, 104f., 107ff., 110, 111, 112f., 119, 121, 124, 128, 129, 131f., 133, 135, 140, 146, 148, 149, 154, 156, 158, 161ff., 165, 169, 173, 179, 181, 182, 185, 189, 191, 195, 198f., 201, 209, 213f., 222 Thomas Gallus 82 Thulstrup, M. M. 187 Thulstrup, N. 178, 202 Tiburtius 113 Timpler, C. 130 Tocqueville, A. de 212 Törnvall, G. 130 Torrell, J.-P. 80 Tralau, J. 130 Trendelenburg, A. 23, 180, 202 Trojel, H. J. 198 Tugendhat, E. 13, 29 Turiel, B. 44 Urmson, J. O. 27 Utz, A. F. 44f., 52 Vanni Rovighi, S. 43 Verbeek, Th. 137f., 140 Verweyen, H. 57 Vester, M. 213 Vico, G. 135 Vignaux, P. 61, 92, 111 Voetius, G. 137, 139 Vos, A. 60 Vossenkuhl, W. 175

247

Wadding, L. 55 Wagner, H. 21 Walter Chatton 109 Walzer, R. 34 Wankel, H. 145 Wardy, R. 21 Weiß, J. 211 von Weizsäcker, C. F. 98 Werner, H.-J. 95 Whitman, W. 10 Wicki, N. 84 Widmaier, F. Th. 158 Wieland, Chr. M. 166 von Wiese, B. 170 Wilhelm de la Mare 72, 85, 88 Wilhelm von Ockham 15f., 37, 55, 58, 70, 74, 78, 83f., 90, 96ff., 120ff., 132, 136, 137f., 146, 182 Wilhelm von Tocco 43 Williams, B. 5 Wippel, J. F. 36, 61, 100 Wolff, M. 99 Wolter, A. B. 53, 60 Wood, R. 78 Wörner, M. H. 34 von Wright, G. H. 4 Young, E. 156, 181 Zavalloni, R. 60, 70, 95 Zekl, H. G. 3, 100, 104, 182 Zenon von Elea 20, 104 Zenon von Kition 141, 202 Zum Brunn, E. 88 Zur Mühlen, K.-H. 125, 133 Zwick, E. 179