Oper als Drama: Das >realistische Musiktheater< Walter Felsensteins [Reprint 2011 ed.] 9783110922493, 9783484660373

Alongside Wieland Wagner, Walter Felsenstein (1901-1975) was the most important opera director of the early post-war per

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German Pages 198 [200] Year 2002

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Table of contents :
Zum Forschungsstand
Oper als Drama: Felsensteins Inszenierung der Zauberflöte
Staats-Oper: Opernregie im sozialistischen Realismus
Die Akzentuierung der Vorgeschichte
Carmen: Die »ungeheuere Verwechslung des Liebesobjekts«
Hoffmanns Erzählungen oder die ewige Mission der Liebe
Felsensteins Schüler
Zitierte Literatur
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Oper als Drama: Das >realistische Musiktheater< Walter Felsensteins [Reprint 2011 ed.]
 9783110922493, 9783484660373

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Herausgegeben von Hans-Peter Bayerdörfer, Dieter Borchmeyer und Andreas Höfele Band 37

Robert Braunmüller

Oper als Drama Das realistische Musiktheater< Walter Felsensteins

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2002

D19 Fakultät für Geschiehts- und Kunstwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Braunmüller, Robert: Oper als Drama : das realistische Musiktheateix Walter Felsensteins / Robert Braunmüller. Tübingen: Niemeyer, 2002 (Theatron; Bd. 37) ISBN 3-484-66037-6

ISSN 0934-6252

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Buchbinderei Siegfried Geiger, Ammerbuch

Inhaltsverzeichnis

Zum Forschungsstand

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Oper als Drama: Felsensteins Inszenierung der Zauberflöte 1. Text und Inszenierung: Vorüberlegungen 2. Die Bildfolge der Inszenierung 3. Die Einheit der Handlung 4. Sarastro als handelnder Mensch 5. Der handelnde Mensch in der Zauberflöte 6. Felsensteins Theaterkonzept und die Inszenierung der Arien 7. Exkurs: Susannas Arie in Die Hochzeit des Figaro 8. Die Akzentuierung der Fabel 9. Zur Rezeption der Inszenierung in Felsensteins Umfeld 10. Die Zauberflöte als zweiter Faust

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Staats-Oper: Opernregie im sozialistischen Realismus

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Die Akzentuierung der Vorgeschichte 1. Der Revolutionär Florestan 2. Verdis Otello als optimistische Tragödie

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Carmen: Die »ungeheuere Verwechslung des Liebesobjekts« 1. Bizets Carmen als offenes Kunstwerk 2. Felsenstein und Carmen 3. Felsensteins Deutung des dramatischen Konflikts 4. Die Karten-Szene 5. Die Arie der Micae'la 6. Carmen und Escamillo 7. Felsensteins Inszenierung und Oesers Edition

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Hoffmanns Erzählungen oder die ewige Mission der Liebe 1. Offenbachs Partitur und Felsensteins Bearbeitung 2. Der Werkbegriff im realistischen Musiktheater < 3. Der poetologische Diskurs der Zwischenszenen 4. Bearbeitung und Inszenierung des Giulietta-Akts 4.1. Exposition 4.2. Die Dapertutto-Arie

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4.3. 4.4. 4.5. 5. 6.

Steigerung Höhepunkt Peripetie und Katastrophe Don Giovanni: Eine zweite Giulietta Die Lösung des dramatischen Konflikts im fünften Akt

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Felsensteins Schüler

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Zitierte Literatur 1. Unveröffentlichte Quellen 2. Texte Felsensteins und aus dem Umfeld der Komischen Oper 3. Übrige zitierte Literatur

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Zum Forschungsstand

Neben Wieland Wagner war Walter Felsenstein die zentrale Figur der Opernregie der Nachkriegszeit. Stilbildend wirkte er nicht allein durch Inszenierungen, sondern auch durch seine Schriften. Felsenstein begann als Schauspieler und Dramaturg. In den zwanziger und dreißiger Jahren war er Opern- und Schauspielregisseur in Freiburg, Basel, Köln, Frankfurt und Zürich, 1940 kehrte Felsenstein nach Deutschland zurück und inszenierte am Berliner Schiller-Theater.1 Kurz nach Kriegsende - im Dezember 1945 - inszenierte er am Hebbel-Theater mit großem Erfolg Offenbachs Pariser Leben. Daraufhin übertrugen ihm russische Kulturoffiziere die Leitung eines im sowjetischen Sektor neu gegründeten Operettenhauses mit reformatorischem Anspruch im Gebäude des ehemaligen Metropol-Theaters, das bald auch Opern in seinen Spielplan aufnahm.2 »Es wird nur das gespielt werden, was so gespielt werden kann, wie es gespielt werden muß«,3 verkündete Felsenstein zur Eröffnung. Sein Regiestil, für den die Presse in offenkundiger Anlehnung an die sowjetische Kulturdoktrin des sozialistischen Realismus bald die griffige Formel vom realistischen Musiktheater< einbürgerte, stellte die erzählte Handlung und damit die dramatische Aussage eines musikalischen Bühnenwerkes in den Mittelpunkt der Aufführung. Felsenstein beabsichtigte nach seinem Selbstverständnis eine »Theatralisierung der Oper«. Der Regisseur bekämpfte die Reduktion der Kunstform Oper auf Gesang und zielte auf die Einheit der theatralischen und musikalischen Elemente unter dem Primat des Dramas. In der Absage an die von ihm als »Vokalidiotie«4 verurteilte Opernnormalität knüpfte die Neugründung an das künstlerische Ethos der legendären Kroll-Oper an. Die von Otto Klemperer 1949 dirigierte Ca/-me«-Premiere wurde zum Symbol dieser oft beschworenen Kontinuität. Das Trennende wiegt jedoch schwerer als das Gemeinsame: An der Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern war Felsenstein ebensowenig interessiert wie an zeitgenössischer Musik. Im Zentrum seines Spielplans standen Werke des Standardrepertoires. Neuere Opern inszenierte er nur, wenn sie wie die Werke Leos" Janäceks oder Benjamin Brittens dramaturgisch an das 19. Jahrhundert anknüpften. Felsenstein mied Schönberg und Strawinsky nicht nur, weil sie in

Biographische Angaben nach Friedrich 1961 und Felsenstein 1991. Für diese Arbeit wurden die Bestände des Walter-Felsenstein-Archivs, Stiftung Archiv der Akademie der Künste zu Berlin, Abteilung Darstellende Kunst herangezogen. Ich danke Frau Ilse Kobän für den unkomplizierten Zugang. Zur Gründung der Komischen Oper vgl. die mit Dokumenten belegte Darstellung des ehemaligen Intendanten Werner Rackwitz in Kost 1997, S. 50ff. Rede aus Anlaß der Lizenzüberreichung (1947), in Felsenstein 1976, S. 19. Vgl. Herz 1989, S. 303 und 677.

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der frühen DDR kulturpolitisch nicht opportun waren, sondern weil die Avantgardetradition des 20. Jahrhunderts seinen künstlerischen Grundsätzen widerstrebte. Die Komische Oper setzte Standards der dramaturgischen Vorbereitung, die heute selbstverständlich geworden sind. Ehe die Proben begannen, beschäftigten sich Felsensteins dramaturgische Mitarbeiter in zuvor kaum gekannter Gründlichkeit mit den Fassungen des aufzuführenden Werks, seinem historischen Umfeld und den literarischen Vorlagen. Fremdsprachige Opern wurden meist neu übersetzt. Felsenstein war gefürchtet für monatelange Proben, deren Ergebnis ihn nie zufriedenstellte, weshalb er die Premieren häufig verschob. Immer wieder richtete er an die Sänger ausführliche Briefe, in denen er seine Sicht der Rollen noch einmal verdeutlichte.5 Die Inszenierungen wurden ab Mitte der fünfziger Jahre von Assistenten minutiös in Regiebüchern festgehalten, wobei nicht nur das Arrangement, sondern auch die Absichten und Motivationen der Figuren genau aufgezeichnet wurden. Und ehe man einen Gastsänger engagierte, der die Inszenierung nicht kannte, ließ man an der Komischen Oper eine Vorstellung lieber ausfallen. Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen steht das Verständnis von Dramatik, welches den Arbeiten Felsensteins zugrunde liegt, daneben werden einige seiner Stückdeutungen genauer analysiert. Ihre theaterhistorische Einordnung muß vorläufig offen bleiben, da eine Geschichte der Opernregie nicht einmal in Umrissen vorliegt und kaum Monographien über zentrale Regisseure existieren. Die Rekonstruktion dieses Theaterkonzepts wird anhand einiger typischer Inszenierungen an der Komischen Oper unternommen, die durch Regiebücher, Notate, Briefe, Interviews und teilweise auch durch Verfilmungen ausgezeichnet dokumentiert sind. Zu Felsensteins älteren Inszenierungen, zu denen lediglich die üblichen Quellen wie Fotos und Kritiken erhalten geblieben sind, liegt nicht genügend Material vor, das einen wirklich sinnvollen Vergleich mit den Einstudierungen an der Komischen Oper zulassen würde, die den eigentlichen Ruf des Regisseurs begründeten. Felsenstein war der erste Opemregisseur, der sich in größerem Umfang theoretisch äußerte und eine fragmentarische Methodik der Opernregie hinterließ, die er freilich selbst nicht als System verstanden wissen wollte. Es überrascht daher, daß dieser Regisseur trotz seiner theatergeschichtlichen Bedeutung bislang kaum zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen wurde. Nahezu die gesamte Sekundärliteratur über Felsenstein und das realistische Musiktheater< stammt von seinen dramaturgischen Mitarbeitern6 oder von Joachim Herz7 und Götz Friedrich,8 die neben Felsenstein an der Komischen Oper inszenierten und diesen Stil weiterentwickelten. Das theaterwissenschaftliche Desinteresse erscheint umso verwunderlicher, als der umfangreiche Nachlaß an Regiebüchern, Textbearbeitungen, Szenarien, Bühnengrundrissen, Fotos, Bühnenbildentwürfen sowie den Notaten seiner Regieassistenten

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Vgl. die Briefe in Felsenstein 1976, 1986, 1991 und 1997. Z.B. Horst Seegers und Stephan Stompors Beiträge in Theater der Zeit, den Jahrbüchern der Komischen Oper 1961 ff. und den Almanachen Musikbühne und Oper heute, Berlin 1975 bzw. 1977ff. Vgl. Bibliographie in Herz 1989. Vgl. Bibliographie in Barz 1978.

und dramaturgischen Mitarbeiter seit 1975 im von der Akademie der Künste der DDR eingerichteten Walter-Felsenstein-Archiv zugänglich sind.9 Aussagekräftiges Material existiert jedoch, von der Zauberflöte des Jahres 1954 abgesehen, erst ftir die Inszenierungen ab dem Ende der fünfziger Jahre. Auch an optischem Anschauungsmaterial mangelt es nicht: Während keine Inszenierung Wieland Wagners im Film festgehalten oder vom Fernsehen aufgezeichnet wurde, kann man sich dank der Verfilmungen und Fernsehaufzeichnungen von Fidelia, Das schlaue Füchslein, Otello, Hoffmanns Erzählungen und Die Hochzeit des Figaro von Felsensteins Regiestil auch heute noch einen Eindruck verschaffen. Zu den Inszenierungen von Die Zauberflöte, Carmen, Die Hochzeit des Figaro und Das schlaue Füchslein liegen außerdem unterschiedlich aussagekräftige Dokumentationen mit Materialien zur dramaturgischen Vorarbeit, Felsensteins Briefen und Auszügen aus den Regiebüchern vor.10 Obwohl kaum eine Arbeit, die sich mit der Inszenierungspraxis im musikalischen Theater beschäftigt, Felsenstein unerwähnt läßt, kann man die wissenschaftliche Literatur im engeren Sinn an einer Hand abzählen. Die neueren Darstellungen zur Theatergeschichte der DDR konzentrieren sich auf das Sprechtheater;11 Arbeiten zur Kulturpolitik und -geschichte des zweiten deutschen Staats klammem das Musiktheater weitgehend aus, sieht man einmal von den Skandalen um Hanns Eislers Johann Faustus und Paul Dessaus Verurteilung des Lukullus ab.12 Die 1960 an der HumboldtUniversität vorgelegte Dissertation von Rudolf Münz, Untersuchungen zum realistischen Musiktheater Walter Felsensteins unternahm eine Begriffsbestimmung von Felsensteins Theaterkonzept. Sie geht über die Paraphrase von Texten Felsensteins und seiner Mitarbeiter kaum hinaus und setzt sich polemisch mit verschiedenen Artikeln in Theater der Zeit sowie dem Opernverständnis einer Festschrift der Deutschen Staatsoper auseinander. Bedauerlicherweise hat sich der bekannte Theaterwissenschaftler später nicht mehr mit dem Musiktheater beschäftigt. Konrad Körtes Dissertation Die Oper im Film (1989) benutzt Felsensteins Otello-Verfilmung lediglich als Beispiel zur Demonstration filmtechnischer Begriffe und kann hier ebenfalls außer Betracht bleiben. Jürgen Maehders Aufsatz Intellektualisierung des Musiktheaters - Selbstreflexion der Oper (1979) streift Felsenstein und seine Nachfolger kursorisch. Egon Voss analysierte 1980 beim Symposion »Werk und Wiedergabe« Felsensteins HoffmannBearbeitung kritisch unter musikwissenschaftlichen Gesichtspunkten. Carl Dahlhaus'

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Vgl. das Bestandsverzeichnis, Kobän 1981. Das noch zu Felsensteins Lebzeiten von der Akademie der Künste der DDR eingerichtete Archiv, das sich lange Zeit in der Komischen Oper befand, ist heute Teil der Stiftung Archiv der Akademie der Künste zu Berlin, Abteilung Darstellende Kunst. Friedrich 1958, eine Dokumentation im Stil der Modelle des Berliner Ensembles, enthält eine eingehende Beschreibung der ZaMi)er/7ö/e«-Inszenierung mit allen Details, die CarmenDokumentation von Koerth 1973 eine ausführliche Inszenierungsbeschreibung, das Heft Die Hochzeit des Figaro von Kobän 1980 Auszüge aus dem Regiebuch für zentrale Arien, Kobäns 1997 erschienener Band zum Schlauen Füchslein Felsensteins Briefwechsel sowie die Erinnerungen einiger Sänger. Felsensteins La traviata beschreibt Schlegel 1962. Z.B. die vorzügliche Darstellung durch Stuber 1998. Z.B. Schivelbusch 1995 und Mittenzwei 2001.

Auseinandersetzung mit Felsenstein beschränkt sich auf verstreute Bemerkungen.13 Einige seiner Aufsätze enthalten Passagen, die sich als Auseinandersetzung mit Felsensteins Theaterverständnis lesen lassen, wenngleich der Name nicht fallt.14 Es erscheint widersinnig, daß Dahlhaus in seiner Kritik an der Akzentuierung der Vorgeschichte durch das Regietheater nicht auf Felsenstein verweist, dessen einschlägige Texte zu diesem Zeitpunkt längst in der Schriftenausgabe von 1976 zusammengefaßt vorlagen. Dahlhaus führt die Akzentuierung der Fabel im Regietheater mehrfach auf Brecht zurück, dessen Einfluß auf das Theater nach 1945 gewiß kaum zu unterschätzen ist. Der Bezug auf Felsenstein wäre jedoch sinnvoller gewesen, um so mehr als die Fabel - anders als Dahlhaus es darstellt - bei Brecht nicht um ihrer selbst willen in den Mittelpunkt gerückt wird, sondern zur Dechiffrierung gesellschaftlicher Beziehungen.15 Unter den journalistischen Arbeiten, die sich eingehender mit dem Regiestil der Komischen Oper beschäftigt haben, ist neben Koegler 1958 und dem nur in der ersten Auflage enthaltenen Felsenstein-Kapitel in Rühle 1957 der kritische Einordnungsversuch in Nora Eckerts Band Von der Oper zum Musiktheater (1995) hervorzuheben. Die erste Darstellung des realistischen Musiktheaters< unternahm der erste Jubiläumsband der Komischen Oper, der 1954 verspätet zum fünfjährigen Bestehen des Hauses erschien und einen umfangreichen Beitrag Götz Friedrichs zur Probenpraxis an der Komischen Oper enthält.16 Friedrich veröffentlichte 1958 eine große ZauberflötenDokumentation, die neben den Verfilmungen das bedeutendste Zeugnis von Felsensteins Regiearbeit darstellt. Seine 1961 verfaßte, aus heutiger Sicht wenig aufschlußreiche Biographie des Regisseurs,17 erzählt sein Leben teleologisch auf die Komische Oper hin. Tatsächlich hätte Felsenstein nach dem Krieg mit etwas Glück auch Direktor des Wiener Burgtheaters oder Generalintendant in Leipzig werden und seine Karriere als Schauspielregisseur fortsetzen können.18 Anfang der sechziger Jahre erschien in der Bundesrepublik der Band Musiktheater, der neben Texten Siegfried Melchingers zwei aufschlußreiche Interviews mit Felsenstein sowie dessen wichtigen Essay Der Wieg zum Werk enthält.19 Die erste Sammlung der Texte Felsensteins und seiner Mitarbeiter war der Reclam-Band Felsenstein/Friedrich/Herz 1972, der einige Jahre nach Friedrichs Weggang aus der DDR ohne seine Texte als Felsenstein/Herz 1976 neu aufgelegt wurde. Aus diesem Grund gelangte auch die vorzügliche, im Zusammenhang mit Felsenstein wichtige Darstellung von Inszenierungen Götz Friedrichs durch Dieter Kranz (1972) nicht zur Auslieferung.20 Kranz veröffentlichte 1981 Gespräche mit Felsenstein sowie 1988 eine aufschlußreiche Kritiken-Sammlung zu Inszenierungen Harry Kupfers.

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Z.B. in Dahlhaus 1982, S. 114ff. Vgl. Dahlhaus 1983, S. 239. Dahlhaus 1988, S. 91f. Friedrich 1954. Friedrich 1961a. Vgl. Felsenstein 1991, S. 176, Kost 1997, S. 50ff. Zur vom Devisenmangel verhinderten Ost-Rezeption dieses Buchs Herz 1989, S. 661f. Dieses Buch wird im folgenden nach der Fotokopie im Felsenstein-Archiv (Rep. 010, VII, a, Nr. 18) zitiert.

Eine repräsentative Sammlung von Felsensteins Schriften und Briefen erschien 1976 im Jahr seines Todes in einer Reihe »Schriften der Sektion Darstellende Kunst« der Akademie der Künste der DDR. Der Folgeband Theater muß immer etwas Totales sein (Felsenstein 1988) enthält weitere Briefe, Theater. Gespräche, Briefe, Dokumente (Felsenstein 1991) neben weiteren Dokumenten die ungekürzte und redaktionell unbearbeitete Transkription eines umfangreichen Interviews, das Felsenstein in den frühen siebziger Jahren Mitgliedern der Akademie der Künste der DDR gab. Dieses Interview wurde bereits auszugsweise in Felsenstein 1976 veröffentlicht sowie in einer purgierten Fassung als Publikation des Verbands der Theaterschaffenden der DDR, in der polemische Exkurse, die Erwähnung Walter Ulbrichts sowie Ausführungen des Regisseurs über Mao Tse-tung fehlen. Der in der Edition Suhrkamp publizierte Band Die Pflicht, die Wahrheit zu finden (Felsenstein 1997) enthält neben Auszügen aus Felsensteins Schriften bisher unveröffentlichte Briefe, aus denen die schwierige Situation der Komischen Oper nach dem Mauerbau deutlich wird. Hier sind erstmals auch Briefe zu lesen, die im Unterschied zur eher apologetischen Auswahl in Felsenstein 1976 und 1986 despotische Züge nicht verleugnen. Alle diese Ausgaben sind nur unzureichend kommentiert, vor allem was den kulturpolitischen Standort des realistischen Musiktheaters< in der DDR betrifft. Auch die Texte von Felsensteins Schülern und Mitarbeitern liegen in Buchform vor. Die Essays von Götz Friedrich erschienen gesammelt 1986. Herz 1989 enthält - wenngleich teilweise gekürzt - zentrale Texte dieses Regisseurs; der Anmerkungsteil liefert aufschlußreiche Detailinformationen zur Arbeit an der Komischen Oper. Harry Kupfer hat kaum Texte veröffentlicht; über seine Stückdeutungen informieren trotz eines inkompetenten Interviewpartners die Gespräche mit Michael Lewin (1988). Zwischen 1960 und 1972 publizierte die Komische Oper eigene Jahrbücher, die später vom gleichen Herausgeber unter dem Titel Musikbühne und zwischen 1977 und 1990 als Oper heute mit allgemeinerer Themenstellung fortgeführt wurden, jedoch weiterhin vor allem Beiträge aus dem Umkreis der Komischen Oper enthielten. Da die Jubiläums-Schriften und Jahrbücher der Komischen Oper ebenso wie Felsenstein/Friedrich/Herz 1972, Felsenstein/Herz 1976, Felsenstein 1976 und der anläßlich des fünfzigjährigen Bestehens der Komischen Oper erschienene Band (Kost 1997) reich illustriert sind und ausführliche Inszenierungsverzeichnisse enthalten, wurde hier auf Abbildungen ebenso verzichtet wie auf nähere Angaben zu Darstellern oder Bühnenbildnern. Die genannten Titel enthalten im Anhang jeweils umfassende Bibliographien zum realistischen Musiktheaten und seinem Umfeld, die überwiegend Artikel aus Theater der Zeit auflisten.

Oper als Drama: Felsensteins Inszenierung der Zauberflöte

1. Text und Inszenierung: Vorüberlegungen Im zweiten Bild des zweiten Akts von Mozarts Zauberflöte, vor Beginn des Prüfüngsrituals, werden Tamino und Papageno von den beiden Priestern mit verbundenen Augen in eine finstere Ruinenlandschaft geführt.1 Von fern tönt der Donner, und der Raum, der alle szenographischen Klischees eines Schreckensorts erfüllt, verfehlt seine Wirkung auf Papageno nicht. Er fürchtet sich, und je mehr er sich fürchtet, desto lauter donnert es. In einer späteren Szene erklärt einer der Priester ihm den Zusammenhang: Wer sein Stillschweigen bricht, so seine Worte, den strafen die Götter mit Donner und Blitz.2 Kein heutiger Zuschauer wird daran zweifeln, daß die Priester im verborgenen heimlich Papageno beobachten und selber donnern, um ihn zu erschrecken. Freilich spielt Mozarts Zauberflöte in einer dargestellten Realität, in der im Unterschied zur modernen Lebenswirklichkeit wilde Tiere durch den Klang einer Flöte besänftigt werden, Figuren plötzlich aus der Erde auftauchen und ein Mächtiger auf einem Triumphwagen hereinfährt, der von sechs Löwen gezogen wird. In der Verwandlung zum letzten Bild der Oper fegen Donner, Blitz und Sturm die Königin der Nacht und ihr Gefolge hinweg, die soeben in Sarastros Tempel eindringen, ihn überfallen und ermorden wollen. Der Chor preist die Götter Osiris und Isis.3 Rückblickend liegt daher der Schluß nahe, daß auch zuvor schon nicht ihre Priester, sondern die Götter selbst durch ihr Donnern Papagenos Fehlverhalten bestraften. Diese Einsicht ist dem heutigen Zuschauer nur schwer zu vermitteln. Eine Intrige unter Menschen wirkt auf der Bühne glaubhafter als das Wirken übernatürlicher Mächte, selbst wenn die Zauberflöte in einer Zeit entstand, zu der man noch ernsthaft darüber diskutieren konnte, ob der Blitzableiter nicht unzulässig in den göttlichen Willen eingreife.4 Angesichts der Vielzahl von Strukturen im Libretto der Zauberflöte, die vom heutigen Denken abweichen, wird man von einer Inszenierung dieser Oper eher Informationen über Haltungen und künstlerische Grundsätze eines Regisseurs erwarten müssen als über den geistigen Horizont des späten 18. Jahrhunderts, in dem Mozart komponierte und Schikaneder spielte und schrieb. Bei der Unterscheidung zwischen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit einem Text und seiner

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II, 2, Klavierauszug, S. 109. Alle Libretto-Nachweise hier und im folgenden nach dem Klavierauszug der Zauberflöte, hg. von Gernot Gruber und Alfred Orel, Kassel u.a., 1970. II, 13, Klavierauszug, S. 135. II, 30, Klavierauszug, S. 214f. Bottingl976, S. 176.

künstlerischen Umsetzung auf dem Theater ist zu beachten, daß sich beide Typen von Lektüre zwar mit identischen Fragestellungen beschäftigen, die Gültigkeit der Antworten sich aber an verschiedenen Kriterien bemißt. Untersucht man den Text im Rahmen einer Analyse, muß man davon ausgehen, daß er - auf welcher Ebene auch immer eine logisch-semantische Kohärenz aufweist.5 Bei der künstlerischen Lektüre im Rahmen einer Inszenierung ist dagegen vor allem entscheidend, daß die Lösung szenisch wirksam ist, wobei freilich mit jeder Lösung zugleich auch eine inhaltliche Entscheidung getroffen wird, die dem Geist und dem Buchstaben des Texts widersprechen kann. Der Werkbegriff des Theaters erlaubt es, zu ändern und zu streichen, um so eine eigene logisch-semantische Kohärenz im künstlerischen Konzept der Inszenierung herzustellen, das an die Stelle der Logik der Vorlage tritt. Einen Text zu verstehen bedeutet demnach die Rekonstruktion des Problems, das er darstellt: Die Zauberflöte ist nicht nur eine mit spektakulären Theatereffekten ausgeschmückte Mischung heiterer und ernster Szenen, sondern in Anlehnung an literarische Moden der Entstehungszeit ein dramatisierter Bildungsroman, der sich von Wielands Geschichte des Agathon oder Goethes Wilhelm Meister lediglich im literarischen Niveau, kaum jedoch durch die inhaltliche Botschaft unterscheidet. Über die Priesterschaft der Eingeweihten, die ordnend ins Leben des Einzelnen eingreift und im Namen der Menschheit die Welt regiert, thematisiert das Libretto Emanuel Schikaneders die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Welt und ihrer rationalen Organisation. Die Rekonstruktion der Fragestellung, die Schikaneder und Mozart als zentral ansahen, ist ein mögliches Objekt der Literatur- und Theaterwissenschaft. Deren Ergebnisse können auch bei der dramaturgischen Vorbereitung einer Inszenierung von Interesse sein und die Deutung auf dem Theater beeinflussen. Sie orientiert sich jedoch nicht am historischen Sinn, sondern an durch die aktuelle Situation der Rezipienten geprägten Voreinstellungen. Die Inszenierung einer Oper zielt auf eine Horizontverschmelzung zwischen dem schriftlich fixierten Werk Mozarts und Schikaneders und dem Bewußtsein eines heutigen Rezipienten.6 Aus dem gegebenen Werk des späten 18. Jahrhunderts und den verschiedensten heutigen Kontextfaktoren ideologischer, psychologischer und soziologischer Art, die das Denken des Regisseurs bestimmen, entsteht ein neues, zweites Werk, das eigenen Gesetzmäßigkeiten gehorcht und als Theatertext nach den gleichen Regeln wie seine dramatische Vorlage interpretierbar ist. Maßgeblich bei der Inszenierung sind dabei nicht nur die Wirkabsichten des Komponisten. Denn jeder Rezipient kann in einem Werk nach dem suchen, was der Autor sagen wollte, er kann in einem Werk nach dem suchen, was dieses unabhängig von der Intention des Autors sagt oder auch nach freien Assoziationen, die das Werk unabhängig von seiner Bedeutung in bezug auf seine eigenen Wünsche, Impulse und Vorlieben in ihm entstehen läßt. Diesen bei jeder Auffuhrung eines dramatischen Texts notwendigen Prozeß der Vergegenwärtigung durch den Interpreten trifft am ehesten der Begriff der Aktualisie-

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Vgl. die Interpretationsregel bei Titzmann 1977, S. 184. Vgl. die zur Beschreibung der Funktion einer Inszenierung geeignete Terminologie der Rezeptionsästhetik bei Jauß 1982, S. 735ff.

rung in der rezeptionsästhetischen Definition durch Hans Robert Jauß: Aktualisierung meint die reflektierte Vermittlung zwischen vergangener und gegenwärtiger Bedeutung eines Texts, »mit der die Distanz zwischen dem rezipierten Werk und dem rezipierenden Bewußtsein aufgearbeitet wird. Diese Aufarbeitung ist zwangsläufig wählend und verkürzend, durch sie aber erst entsteht die Belebung und Verjüngung des Vergangenen«.7 Das Verstehen eines Texts beinhalte die Anwendung auf die gegenwärtige Situation des Interpreten. Der Rezipient nehme Texte nicht passiv auf, sondern bringe durch seine eigene geschichtliche Situation bedingte Voreinstellungen mit, die seine Textdeutung bewußt oder unbewußt mitbestimmen. Jede Interpretation sei eine Synthese aus dem fremden Text und der eigenen Verstehensdisposition, die durch Kontextfaktoren ideologischer, psychologischer und soziologischer Art bestimmt sei. Die Rezeptionsästhetik geht dabei von der These aus, daß das Kunstwerk durch die Interpretationen immer mehr bereichert werde, denn erst »die Rezeption des Werks bringt in fortschreitenden Interpretationen seine Struktur in der offenen Reihe seiner Konkretisationen oder Rezeptionsgestalten zum geschichtlichen Leben.«8 Wirkungsgeschichte sei die fortgesetzte Folge interpretatorischer Horizontverschmelzungen, unter der die Anwendung des im Werk bereitliegenden Antwortpotentials auf den geschichtlichen Fragehorizont des Interpreten zu verstehen wäre.9 Dies ist die zutreffende Beschreibung dessen, was die Neuinszenierung einer Oper leistet: Erst durch die Anwendung von Mozarts Zauberflöte auf die historische Situation des Rezipienten kann lebendiges Theater entstehen. Die Position der Rezeptionsästhetik, daß dieses neue, auf der Basis des Artefakts von Mozart und Schikaneder entstandene ästhetische Objekt immer noch eine Erscheinungsform des historischen Werks sei,10 verstellt freilich den Blick auf den schöpferischen Eigenwert der Inszenierung. Sinnvoller scheint eine doppelte Betrachtungsweise, die zwischen der Rekonstruktion des historischen Potentials bei einer Textanalyse einerseits und der aktualisierten Rezeption auf dem Theater andererseits unterscheidet." Historischer und heutiger Sinn können sich voneinander unterscheiden, und die Inszenierungsanalyse muß sich mit der Relation beider Sinnebenen beschäftigen, die einander gleichwertig gegenüberstehen. Im Unterschied zu älteren Positionen der Musikwissenschaft, die von einer Werkeinheit ausgingen und eine zeitlos gültige Inszenierungsform aus der Partitur unzweideutig für ablesbar hielten,12 geht die Theaterwissenschaft seit längerem von einer offeneren Position aus.13 Die Aufführung gilt als autonomes Kunstwerk, dessen interne Stimmigkeit sich ebenso objektiv werten und beschreiben läßt wie die eines schriftlich niedergelegten Dramas.14 Wenn im folgenden immer wieder der im Libretto und in der Partitur fixierte Text oder die vom Autor eines musikdramatischen

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Jauß 1982, S. 389. Vgl. auch Schläder 1992, S. 17. Jauß 1982, S. 389. 9 Warning 1975, S. 20. 10 Vgl. Warning 1975, S. 24f. 1 ' Vgl. Fischer-Lichte 1990, Bd. l, S. 7. 12 Vgl. etwa die Beiträge von Osthoffund Kunze in Wiesmann 1980. 13 Vgl. den Überblick bei Höfele 1991, S. 3ff. 14 Schläder 1992, S. 17. 8

Texts intendierte Inszenierung mit Felsensteins Lösungen verglichen wird, geschieht dies nicht, um den Regisseur der Mißachtung der Autoren- oder Werkintention zu überfuhren, sondern um mittels eines Vergleichs die spezifische Position des Regisseurs deutlich werden zu lassen. Wenn insbesondere im Zusammenhang mit Felsensteins Bearbeitungen bisweilen von Manipulation gesprochen werden muß, dann deshalb, weil Felsenstein dazu tendierte, an der Textoberfläche den Anschein einer Umsetzung der Autorintention zu erwecken, dahinter tatsächlich jedoch höchst subjektive Wirkungsabsichten verbarg. Doch im Theater ist auch die Verfälschung eine kreative Leistung. Die musikdramatischen Vorlagen von Felsensteins Inszenierungen dienen im folgenden primär als Tertium comparationis, um die eigenschöpferische Leistung des Regisseurs zu betonen. Grundsätzlich wäre der Vergleich mit anderen Theaterarbeiten genauso sinnvoll und sogar methodisch dringend geboten. Es gibt jedoch (vorerst) keinen anderen Regisseur, dessen Inszenierungen vergleichbar ausführlich dokumentiert und dessen Intentionen durch das Archivmaterial so detailliert nachvollziehbar sind. Daher steht die Rekonstruktion der Dramaturgie von Felsensteins Theaterarbeiten im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen; und die gewählte Vorgangsweise orientiert sich an einem Verfahren, für das Guido Hiß den Begriff »Transformationsanalyse« geprägt hat.15 Felsenstein erhob für seine Inszenierungen keinen eigenständigen Kunstanspruch und bezeichnete die Partitur als eigentliches »Regiebuch«.16 Kein Wunder also, daß Felsenstein heute gern als Kronzeuge gegen das sogenannte Regie-Theater herangezogen wird. Auch die Musikwissenschaft hat sich in diesem Sinn wiederholt auf ihn berufen.17 Dies ist jedoch ein Irrtum. Tatsächlich holte die an der Komischen Oper polemisch in Gegnerschaft zur »Opernbranche« zum Programm erhobene Theatralisierung der Oper eine Entwicklung nach, die sich im Sprechtheater schon eine Generation früher durchgesetzt hatte. Obwohl an Felsensteins Theater auch angesehene Dirigenten wie Kurt Masur oder Vaclav Neumann wirkten, war in diesem Opernhaus von Anfang an der Regisseur tonangebend. Seiner künstlerischen Vision hatte sich alles unterzuordnen. An der Komischen Oper der fünfziger Jahre wurde das Regietheater auch im musikalischen Theater unwiderruflich etabliert. Nichts anderes meint der Begriff des »Musiktheaters«, der mit den Inszenierungen Felsensteins und seiner Schüler untrennbar verbunden ist.

2. Die Bildfolge der Inszenierung Felsensteins Inszenierung der Zauberflöte wurde zwischen 1954 und 1963 über 200 mal in der Komischen Oper gezeigt und von seinem damaligen Dramaturgen und Regieassistenten Götz Friedrich in einer Veröffentlichung der Deutschen Akademie

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Hiß 1993, S. 155. Felsenstein 1976, S. 325. Vgl. den Beitrag Osthoffs in Wiesmann 1980, S. 37.

der Künste der DDR als repräsentatives Beispiel seines Regiestils dokumentiert.18 Der Regisseur selbst hat sich nur selten zur Zauberflöte geäußert; lediglich im Abschnitt Der Weg zum Werk für das gemeinsam mit dem Theaterkritiker Siegfried Melchinger herausgegebene Buch Musiktheater19 und der mehrfach nachgedruckten Diskussion Warum flieht Pamina? mit Studenten des Bayreuther Jugendfestspieltreffens von 1960 erläuterte er einige Aspekte seiner Deutung.20 Friedrichs Buch reflektiert nicht nur die dramaturgische Vorarbeit, sondern beschreibt die Inszenierung auf über 100 Seiten bis ins letzte Detail. Es orientiert sich offenkundig am Vorbild der 1952 von Brechts Schülern herausgegebenen Dokumentation Theater arbeit, die anhand von sechs Aufführungen die künstlerischen Prinzipien des Berliner Ensembles darstellt.21 Obwohl Felsenstein seit der Gründung der Komischen Oper häufig Vorträge hielt und Aufsätze verfaßte, in denen er seine künstlerischen Grundsätze erläuterte, geht die schriftliche Fixierung seines Regiestils durch die detaillierte Demonstration an einem konkreten Beispiel auf Götz Friedrichs Initiative, dieses Buch und seine Vorarbeiten zurück.22 Wie zu Brechts Zeiten am Schiffbauerdamm und an anderen DDR-Theatern23 wurde es nach der Zauberflöten-Ookamentation auch an der Komischen Oper üblich, die Intentionen Felsensteins in Notaten und Inszenierungsbeschreibungen festzuhalten. Sie wurden teilweise in den ab 1960 erschienenen Jahrbüchern publiziert, obwohl Felsenstein der Systematisierung des >realistischen Musiktheaters< insgesamt skeptisch gegenüberstand.24 Im Unterschied zu den Versuchen der zwanziger und dreißiger Jahre, die Zauberflöte in Anlehnung an die zeitgenössische bildende Kunst vor allem mit visuellen Mitteln zu aktualisieren, wandte sich Felsenstein einer Neuinterpretation der Fabel zu, die er widerspruchsfrei und konsistent neu zu erzählen versuchte.25 Dabei ging die Inszenierung auch beim Bühnenbild neue Wege.26 In der Zauberflöte verirrt sich ein japonischer Prinz in eine gebirgige Gegend, die in der Logik des Texts nur wenige Stunden von den Pyramiden Ägyptens entfernt ist. Drei Sklaven tragen einen »türkischen Tisch« in ein »ägyptisches Zimmer«: Die dargestellte Welt des Librettos ist ein synthetischer Phantasieorient. Felsenstein entschloß sich daher, im Unterschied zu der seit Friedrich Schinkels berühmten Bühnenbildern bis in die vierziger Jahre beständi-

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Friedrich 1958. Felsenstein/Melchinger 1961, S. 49ff., auch in Felsenstein 1976, S. 95ff. Felsenstein 1976, S. 305ff., erstmals im Jahrbuch der Komischen Oper, Bd. l, 1960, S. 52ff. Weigel 1952. Friedrich 1954 beschreibt Felsensteins Probenarbeit vorwiegend an Beispielen aus der Zauberflöte, Friedrich 1957 ist eine kurze Zusammenfassung des Buchs für die Zeitschrift Sinn und Form. Bei der Wiederaufnahme der Inszenierung von 1960 nahm Felsenstein einige Modifikationen seiner Deutung vor, vgl. Felsenstein/Friedrich 1963. Vgl. die von der Abteilung Dokumentation des Verbands der Theaterschaffenden der DDR seit 1966 herausgegebene Reihe »Theaterarbeit in der DDR«. Vgl. das Interview mit Götz Friedrich in Barz 1978, S. 37. Zur Aufführungsgeschichte vgl. Friedrich 1958, S. 12ff. sowie die sehr sparsamen Bemerkungen in Angermüller 1988, S. 211 ff. Felsensteins Inszenierung ist dort nur mit einem Foto vertreten. Zum Bühnenbild Friedrich 1958, S. 83ff.

gen Aufführungstradition gegen ägyptische Schauplätze und versetzte die Handlung in eine unbestimmt vorderasiatische Gegend zwischen Persien und Indien, die durch die Dschinnistan-Vonage im Assoziationsbereich des Stoffs liegt. Diese Idee war freilich nicht neu, denn schon die von Traugott Müller ausgestattete Inszenierung durch Gustaf Gründgens 1938 an der Berliner Staatsoper hatte sich für einen ähnlichen Schauplatz entschieden und auch in der Akzentuierung der Handlung vergleichbare Intentionen wie Felsenstein verfolgt.27 Dieser Orient, der auch die Kostüme bestimmte, war zusätzlich von Architekturelementen eingerahmt, die auf die Entstehungszeit der Oper verwiesen. Das Proszenium war mit einer schweren Tempelarchitektur verkleidet. Ein dezenter Rokoko-Rahmen mit gedrehten Säulen, der ähnlich auch die Bühne nach hinten abschloß, umgab zwei Reihen indisch-orientalischer Reliefs, über denen Skulpturen buddhistischer Mönche standen. Rudolf Heinrichs Ausstattung rekonstruierte keine historische oder gar gegenwärtige Lebenswirklichkeit, sondern erzählte die Handlung als Märchen mit Parabelcharakter. Das Bühnenbild folgte der Vorlage im Wechsel zwischen tieferen und kurzen Bildern, die meist mit einem gemalten Prospekt abgeschlossen waren. Im zweiten Akt war die Szenenfolge gegenüber dem Libretto leicht verändert. Auf die Priesterversammlung folgte ähnlich wie bei Schikaneder ein kurzes Bild vor einer Felswand, in dem Tamino und Papageno vor Beginn der Prüfungen befragt und dann von den drei Damen in Versuchung geführt wurden, das Sprechverbot zu verletzen.28 Das nächste Bild zeigte einen nächtlichen Garten mit der originalen Szenenfolge von Monostatos' Arie, Paminas Auseinandersetzung mit ihrer Mutter und der für Felsensteins Theaterkonzept wichtigen Rekapitulation der Vorgeschichte, Monostatos' Erpressungsversuch und seiner Abwehr durch Sarastros unvermuteten Auftritt und seiner Arie »In diesen heil'gen Hallen«.29 Das folgende Bild, bei Schikaneder in einer nicht näher beschriebenen Halle, spielte bei Felsenstein im selben Garten wie das vorige Bild, jedoch bei Tag. Der 13. bis 19. Auftritt, wenn Tamino seine Geliebte scheinbar zurückweist und Papageno ißt, war mit dem nächsten Bild im »Pyramidengewölbe«30 zusammengelegt, in dem Tamino und Pamina voneinander Abschied nehmen und Papagenos Aufnahme unter die Eingeweihten endgültig scheitert. Da Felsenstein das Terzett Nr. 19 gestrichen hatte, entfiel die Szene zwischen Sarastro, Tamino und Pamina; Papagenos Zögern in der Halle wurde mit dem ähnlichen 21. Auftritt zusammengelegt und folgte unmittelbar auf den Priesterchor (Nr. 18). Bei Schikaneder protestiert Papageno zwar, doch folgt er am Ende des 19. Auftritts Tamino und dem Ruf der Posaune widerwillig zur nächsten Prüfung. Sein Zurückbleiben ist im Libretto eine verdeckte Handlung zwischen den Bildern »Halle« und »Pyramidengewölbe« und wird nur durch seinen verspäteten Auftritt deutlich, nachdem Sarastro, Tamino, Pamina und der Chor die Bühne bereits wieder verlassen haben. Felsenstein verdeutlichte Papagenos Scheitern, indem er sein Zögern auf der

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Vgl. Nehring 1969, S. 147ff., Friedrich 1958, S. 14 und Abbildung gegenüber S. 24. II, 2 bis 6, Klavierauszug, S. 109ff. II, 7 bis 12, Klavierauszug, S. 125ff. II, 20 bis 25, Klavierauszug, S. 144ff. 11

Bühne zeigte und zugleich mit der Freude der Eingeweihten über Taminos Standhaftigkeit kontrastierte. Papageno riß sich von Tamino los, der dem Posaunenton folgte, versteckte sich vor den vier Eingeweihten, die über Treppen aus dem Zuschauerraum auftraten. Befriedigt darüber, daß Tamino den in ihn gesetzten Hoffnungen gerecht wurde, wandten sie sich zu den Priestern, die im Proszenium verborgen die Prüfung beobachtet hatten. Ihre Freude motivierte den Chor »O Isis und Osiris, welche Wonne«, der nun nicht mehr wie in der Vorlage als Teil eines rituellen Vorgangs gesungen wurde, sondern als spontaner Ausdruck der Freude darüber, »daß der Prinz der >Messias< des Ordens und der Menschheit werden wird. So erhält der Chor seine eigentliche dramatische Aussage, gleichzeitig wird - rein technisch gesehen - eine Bildverwandlung eingespart.«31 Der Preis für diese Verdichtung von Schikaneders lockerer Szenenfolge war die Streichung des Terzetts zwischen Tamino, Pamina und Sarastro. Felsenstein war der Meinung, die neuerliche Begegnung Taminos und Paminas, die sein Schweigen in der Halle als Abkehr von ihr auffaßt, und die in ihrer g-moll-Arie zur Todesbereitschaft und zuletzt zum Selbstmordentschluß gelangt, würde die Wahnsinnsszene des Finales entwerten. Ihre Frage, warum Tamino nicht mit ihr gesprochen habe, sei unverständlich, da er im Terzett mit ihr spräche und Sarastro überdies ein Wiedersehen angekündigt habe.32 Es mag zutreffen, daß der Selbstmordversuch aus der g-moll-Arie heraus stärker wirkt, doch verkennt der Vorwurf mangelnder Konsistenz und psychologischer Unglaubwürdigkeit die Schlüssigkeit dieses Bilds in Schikaneders Text. Nicht Tamino, sondern Pamina hat einen Sack über dem Kopf: Diese Szene ist die weibliche Prüfung und beendet den ersten Teil der männlichen Prüfung. Tamino ist gegen die Gefahren des Weiblichen immunisiert: Auf die mimische Zurückweisung in der Halle, welche die g-moll-Arie motiviert, folgt nun freiwillig und für Pamina umso grausamer die offen verbale. Die Prüfungssituation durchschaut sie nicht. Pamina liebt absolut. Eine erotische Beziehung, die nur auf Zuneigung gründet, ist für sie wertlos. Da sie nicht aufgefordert wird, die Gefahr mit ihm zu teilen, glaubt sie, seine Liebe sei schwächer als ihre. Der absolute Wert, für den sie mit ihrer Mutter gebrochen hat und für den sie selbst schon zu sterben bereit war, scheint ihr nun unerreichbar. Nach diesem schwerwiegenden Eingriff blieb die Bildfolge in Felsensteins Inszenierung unverändert. Es folgte ein kurzes Gartenbild mit dem Beginn des Finales, Paminas Selbstmordversuch sowie ihre Rettung, und ein tiefes Bild mit der Feuer-undWasserprobe. Danach wurde, wie in der Vorlage, das kurze Gartenbild wiederholt, wenngleich mit kleinen Änderungen. Zum Trocknen aufgestellte Maiskolben ließen nun eine Küche ahnen.33 Felsenstein interpretierte die kryptische Formulierung des Librettos, Sarastro habe Papageno »ein Weibchen aufbewahrt«,34 ohne jedes Geheimnis. In seiner Deutung war Papagena als Köchin bei den Eingeweihten beschäftigt.35

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Friedrich 1958, S. 77. Felsensteins Argumente, die auf Aberts Mozart-Biographie sowie Lert 1921, S. 405 zurückgehen, bei Friedrich 1958, S. 76f, zum Für und Wider Herz 1989, S. 682f. Friedrich 1958, S. 187. II, 3, Klavierauszug, S. 110. Friedrich 1958, S. 88.

Den letzten Auftritt der Königin der Nacht, der drei Damen und Monostatos', für den das Libretto keinen Bildwechsel verlangt, verlegte Felsenstein, wie in der Aufführungspraxis allgemein üblich, in einen engen dunklen Raum. Das Bild zeigte, in Anlehnung an eine Formulierung des Texts, einen unterirdischen Raum des Tempels.36 Eine Eisentüre verschloß einen Raum, in dem die Widersacher Sarastros den siebenfachen Sonnenkreis vermuteten.37 Mit einer Brechstange öffneten sie eine Klappe, aus der plötzlich helles Licht drang, das Felsenstein als Symbol der Gewalt des Neuen interpretierte. Das letzte Bild griff Elemente des Bühnenbilds zur Priesterversammlung vom Anfang des ersten Akts auf. Im Unterschied zu den relativ konkreten, wenngleich durch einzelne Dekorationsteile mehr angedeuteten Räumen, war das letzte Bild trotz seiner Anlehnung an einen Rokoko-Hochaltar zeichenhaft überhöht und ohne realistische Bezüge.

3. Die Einheit der Handlung Der überaus erfolgreichen, 1960 auch auf einem Gastspiel in Moskau gezeigten Inszenierung Felsensteins, ging ein mißglückter Versuch voraus. Der Regisseur hatte 1951 schon einmal mit den Proben zur Zauberflöte begonnen und die Premiere schließlich abgesagt. Er war dabei nicht nur an der »als gräßlich philisterhaft« denunzierten Figur des Papageno gescheitert.38 Vor allem hatte ihn die fehlende Einheit der Handlung irritiert.39 Er konnte keine plausible Erklärung dafür finden, weshalb Sarastro im ersten Bild in den Schilderungen der Königin der Nacht und der drei Damen als böser Zauberer erscheint, sich nach seinem Auftritt und im zweiten Akt jedoch als Vertreter humaner Werte erweist. Umgekehrt verwandelt sich die leidende Mutter des ersten Akts im zweiten in eine rasende Furie, die ihre Tochter zum Mord an Sarastro erpressen will. Dem zweiten Inszenierungsversuch von 1954 gingen umfangreiche dramaturgische Vorarbeiten voraus; der Dirigent Meinhard von Zallinger beschäftigte sich mit dem Autograph und edierte in der Folge einen neuen Klavierauszug, der 1956 bei Peters in Leipzig erschien. Er brachte eine Reihe von Korrekturen gegenüber der weit verbreiteten Ausgabe von Kurt Soldan und der Eulenburg-Partitur Hermann Aberts.40 Felsensteins Problem war nicht neu. Bereits kurz nach der Uraufführung der Zauberflöte setzte eine bis in die Gegenwart geführte Diskussion über den literarischen Wert oder Unwert des Librettos ein, die bald auch durch Gerüchte genährt wurde, Emanuel Schikaneder sei nicht sein einziger Autor gewesen.41 Otto Jahn, der Autor einer bahnbrechenden Biographie über den Komponisten, die zwischen 1856 und

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»Weiß, daß sie in unterirdischen Gemachem des Tempels herumirrt und Rache über mich und die Menschheit kocht«, II, 12, Klavierauszug, S. 133. Friedrich 1958, S. 194. Herz 1996, S. 57. Felsenstein/Melchinger 1961, S. 49f. Gruber 1972, S. XLI. Vgl. den Literaturbericht in Aust/Haida/Hein 1989, S. 96f. 13

1859 entstand, begründete die wissenschaftliche Mozart-Forschung durch die Übertragung der philologischen Quellenkritik auf den Komponisten und seine Werke. Bei der Zauberflöte erwies sich dieser an sich erfolgversprechende Ansatz insofern als Irrweg, als Jahn, dem die Traditionen des Wiener Vorstadttheaters fremd waren, all das, was ihm am Libretto unklar schien, nicht aus dem Text selbst, sondern aus seiner spekulativ entworfenen Entstehungsgeschichte heraus zu erklären versuchte. Auf der Suche nach der Vorlage von Mozarts Oper stieß er auf Wenzel Müllers Singspiel Der Fagottist oder die Zauberzither, das kurz vor der Zauberflöte am mit Schikaneders Freihaustheater konkurrierenden Leopoldstädter Theater herauskam. Müllers Singspiel war eine Dramatisierung des Kunstmärchens Lulu oder die Zauberflöte aus der von Christoph Martin Wieland herausgegebenen Sammlung Dschinnistan, der auch Schikaneder zahlreiche Motive der Handlung entnahm. Otto Jahn vermutete, Mozarts Librettist habe nach der Premiere von Der Fagottist oder die Zauberzither den ursprünglichen Gang der Handlung der Zauberflöte verändert und den bösen Zauberer der Vorlage in den weihevollen Oberpriester Sarastro verwandelt. Die vor allem von Zauberflöten-Verächtern als >Bruch-Theorie< kolportierte und etwa auch in Wolfgang Hildesheimers vielgelesener Mozart-Biographie vertretene Position führt bis heute ein zähes Eigenleben, weil sie mit der gleichfalls unbeweisbaren Behauptung gut vereinbar ist, Karl Ludwig Giesecke hätte Teile des Librettos verfaßt.42 Obwohl Egon Komorzynski die Giesecke-Legende und die >Bruch-Theorie< um 1901 so überzeugend widerlegte, daß Hermann Abert in der fünften Auflage von Jahns Biographie beides fallen ließ,43 erwiesen sich beide Thesen als überaus langlebig. Anfang der fünfziger Jahre kamen zwei Bücher heraus, die sich kritisch mit der Entstehungsgeschichte der Zauberflöte auseinandersetzten und die Felsensteins zweiten Inszenierungsversuch nachhaltig beeinflußten. 1951 erschien Egon Komorzynskis Schikaneder-Biographie,44 die dessen theatergeschichtliche Bedeutung apologetisch verklärt und in der der Autor seine langjährige Beschäftigung mit dem Librettisten Mozarts zusammenfaßt, ein Jahr später Otto Rommels Die Alt-Wiener Volkskomödie von den Anfängen bis Nestroy,45 die bis heute als Standardwerk zur Geschichte des Wiener Vorstadttheaters gilt. Rommel und Komorzynski lieferten gute Argumente für eine Stringenz der Handlung durch den Nachweis, daß jedes Motiv der Handlung entweder in anderen Stücken Schikaneders vorkomme oder im Zusammenhang des Wiener Vorstadttheaters gang und gäbe sei. Die beiden Forscher beeinflußten Felsenstein darüber hinaus durch den von ihnen betonten geistesgeschichtlichen Zusammenhang des Librettos zum Gedankengut der Aufklärung. Dies eröffnete zugleich eine Möglichkeit, Mozarts Zauberflöte im Zusammenhang mit den »humanistischen Werten« der deutschen Klassik zu verstehen, an die die Kulturpolitik der frühen DDR anknüpfen wollte. In diese Richtung argumentiert auch Götz Friedrichs Diplomarbeit Die humanistische Idee der >ZauberflöteGreuel-KinoErklärer< der Stummfilmzeit erinnern. Die Schilderungen der Damen müssen umso hypnotischer sein, je mehr sie sich von der Wahrheit entfernen.« Einem aufmerksamen Zuschauer »kann nicht entgehen, daß sie etwas genau Einstudiertes rivalisierend >abziehenerscheinen< kann«, so änderte er dies bei der Wiederaufnahme Anfang der sechziger Jahre ab, weil es die »Realität der Fabel und die Gültigkeit der Weisheitslehre« Sarastros abmildere. Er ging nun von einem plumpen Zaubertrick aus: »Im alten Asien hat man ebensoviel gekonnt wie die modernen Magier und Zauberkünstler und wenn Kalanag auf jeder beliebigen Varietebühne ein Auto verschwinden lassen kann, so ist die Erscheinung der Königin (2. Bild) ein

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II, 12, S. 133. Stehen blieb allerdings Monostatos' Erwähnung des Gewölbes in II, 10. Zum Auftritt der Königin vgl. Friedrich 1958, S. 155. Dort ist der Auftritt nur sehr diffus beschrieben, er erfolgte nach Auskunft der Sängerin Ingrid Czerny (Nachfrage durch Ilse Kobän, Walter-Felsenstein-Archiv) über die Treppe, die auf der Skizze S. 155 in der Bühnenmitte zu sehen ist.

Kinderspiel.«71 Felsensteins Nachfolger haben diese Strategie weitergeführt. War schon in seiner Interpretation des Freischütz der wilde Jäger Samiel die innere Stimme Kaspars und nicht, wie im Libretto Friedrich Kinds eine Erscheinungsform des Teufels,72 so inszenierte Joachim Herz 25 Jahre später in dieser Tradition das Böse als traumatische Erfahrung des Dreißigjährigen Krieges, welche auf den Figuren der Oper lastet.73 Auch Harry Kupfer psychologisierte das Phantastische. Die Titelfigur im Fliegenden Holländer deutete er 1977 in Bayreuth als Wahnvorstellung Sentas und die Engelsstimmen am Ende des ersten Akts von Tschaikowskys Jungfrau von Orleans in München 1989 als Friedenssehnsucht der Frauen einer vom Krieg heimgesuchten Stadt. Durch den Verzicht auf die metaphysische Überhöhung der Handlung verwandelten sich auch die Prüfungen in einen von Menschen organisierten Vorgang. Bei Schikaneder, so schwer es auch zu glauben fallen mag, donnern die Götter.74 Bei Felsenstein dagegen wenden die Eingeweihten Tricks an, um Papageno einzuschüchtern. Das Erscheinen des Weinglases, das bei Schikaneder vom Sprecher aus der Erde gezaubert wird, inszenierte Felsenstein als realistischen Vorgang ohne jedes Wunder. Der Sprecher lenkte Papageno ab und erhielt durch eine Pforte von außen das Glas; der übertölpelte Papageno hielt dies für Zauberei, die für den Zuschauer jedoch als Manipulation durchschaubar war.75 Felsenstein wollte jedoch auf den Märchencharakter der Oper nicht gänzlich verzichten. Er unterdrückte das Wunderbare daher nicht vollständig, sondern akzentuierte es neu. Die drei Knaben, die Felsenstein in Anlehnung an das Personenverzeichnis des Libretto-Erstdrucks als Genien interpretierte, erhielten so besonderes Gewicht. Ihre Auftritte waren nicht mehr nur ein phantastisches Ereignis unter vielen, sondern das zentrale Wunder. Sie erschienen in ihrem Wolkenflugwerk erstmals am Beginn des ersten Finales. Gegenüber der Vorlage wurde ein stummer Auftritt hinzugefügt; sie brachten Pamina zur Feuer-und-Wasserprobe.76 Felsenstein betonte damit die Lückenlosigkeit der Handlung und stellte mit visuellen Mitteln der Regie eine Verbindung her, die im Text nahegelegt wird, wenn die drei Knaben nach Paminas Rettung versprechen, ihr zu zeigen, wie Tamino aus Liebe zu ihr sein Leben aufs Spiel zu setzen bereit ist.77

6. Felsensteins Theaterkonzept und die Inszenierung der Arien Felsenstein verstand den Gesang auf der Bühne nicht als durch eine Theaterkonvention begründete Normalsprache der Oper, sondern als besondere Ausdrucksform, die durch die Regie und den Darsteller legitimiert werden müsse. Diese These bildet den Kern

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Felsenstein/Friedrich 1963, S. 60 (auch in Felsenstein/Friedrich/Herz 1970, S. 52). Felsenstein 1976, S. 287. Herz 1989, S. 259ff., vgl. Braunmüller 1994, S. 166ff. II, 2, Klavierauszug, S. 109ff. Friedrich 1958, S. 90. Friedrich 1958, S. 182. II, 27, Klavierauszug, S. 172.

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seines Theaterkonzepts, das er schon in seinen Anfangsjahren formulierte. 1933 schrieb er aus Anlaß einer Inszenierung des Troubadour für die Publikumszeitschrift der Kölner Bühnen einen Beitrag, in dem er sein Verständnis von Verdis vielgescholtener Oper erläuterte. Das dramatische Geschehen des Troubadour sei zwar »als Handlungsablauf allein völlig sinnlos, weil bar jeder wirklichen Tragik«,78 dennoch verberge sich hinter der Verworrenheit ein rational nachvollziehbares analytisches Drama. Das von Felsenstein genau beschriebene, in der Vorzeit der dargestellten Handlung angehäufte Verhängnis erfülle sich auf der Bühne »in mehr oder weniger konsequenten Explosionen«.79 Zusätzlich würden durch die verdeckte Handlung zwischen den Bildern die Gefühle der Figuren aufgepeitscht. Daraus entstehe eine emotionale Höhe des Geschehens, das nur noch mit musikalischen Mitteln darstellbar sei: »Aber wo die Handlung in ihrer höchsten Erregtheit (und hier beginnt ja eigentlich erst die Oper) stockt und den Darsteller nur mehr sein Gefühl äußern läßt, da wachsen aus diesem sinnlosen Buch plötzlich tragische Menschen, die ihr gefülltes [sie!] Maß an Liebe, Wut, Freude und Klage nur mehr singen können.«80 Was Felsenstein 1933 nur im Hinblick auf Verdis Troubadour und eine bestimmte Inszenierung formulierte, wurde mit der Eröffnung der Komischen Oper im Dezember 1947 zum künstlerischen Programm seines »Musik-Theaters«.81 Im Programmheft der Eröffhungsinszenierung formulierte der Gründer des Theaters die Prinzipien, die er später in Aufsätzen und Vorträgen wie Die Operninszenierung (1957) oder Bekenntnis zum musizierenden Theater (1971 )82 sowie zahlreichen Interviews argumentativ weiter untermauerte. Der »dramatische Einfall«, schrieb Felsenstein 1947, »schafft die Situation, in der die Musik unentbehrlich und der Gesang zur einzig möglichen Aussage des Darstellers wird.«83 Dieser Satz nimmt bereits fast wörtlich die gleichsam kanonische Formulierung vorweg, die Felsenstein 1951 in seiner Rede Ist das Musiktheater eine Angelegenheit des Volkes? fand und die seither häufig zitiert wurde:84 »Musiktheater ist, wenn eine musikalische Handlung mit singenden Menschen zur theatralischen Realität und vorbehaltlosen Glaubhaftigkeit wird. Das heißt, das dramatische Geschehen muß sich auf einer emotionalen Ebene vollziehen, wo Musik das einzige Ausdrucksmittel ist.«85 Dies sei, so Felsenstein, die zentrale Frage der Operndarstellung auf der Bühne. Sie beantworte zugleich auch die im Titel des Vertrags formulierte Frage nach der sozialen Relevanz des musikalischen Theaters, die Felsenstein in deutlicher Abgrenzung vom sozialistischen Realismus nicht in einer parteilichen Botschaft erkennen wollte, sondern in der Art und Weise der Darstellung. Erst die Beglaubigung der Musik auf dem Theater ermögliche das »echte Theater-

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Brief an ***. Zur Neuinszenierung des »Troubadour« (1933), in Felsenstein 1976, S. 225ff., dort S. 227. Felsenstein 1976, S. 227. Felsenstein 1976, S. 227. Zum Beginn (1947), in Felsenstein 1976, S. 3 If., dort S. 32 (im Original kursiv). Felsenstein 1976, S. 66ff. bzw. S. 182ff. Felsenstein 1976, S. 22. Vgl. Friedrich 1961, S. 27f. und 1971, S. 967. Felsenstein 1976, S. 45.

erlebnis«,86 das für alle Menschen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft verständlich sei. Die Oper diene »bürgerlichen Repräsentationszwecken« und ziele vor allem auf den »Beifall des vorgebildeten Publikums und der Sachverständigen«.87 Das Musiktheater erhebe sich über die »Opembranche«88 und »Vokalidiotie«89 und erfülle so die »unbewußten Forderungen eines Publikums«, welches bereit sei, »das Musiktheater nicht nur anzuerkennen, sondern als eine höhere Form des Sprechtheaters zu bejahen.«90 Obwohl Felsenstein seine Position nicht veränderte, behauptete er in späteren Jahren, nachdem die Bearbeitung von Hoffmanns Erzählungen als Schauspiel mit Musikeinlagen kritisiert worden war, auf den Proben mit seinen Sängern zu »musizieren« und sprach vom »musizierenden Theater«.91 Diese Formulierungen, mit denen Felsenstein heute bisweilen zum Kronzeugen gegen angeblich musikfeindliche >RegieWillkür< gemacht wird, muß man nicht überbewerten. Die in eine »höhere Form des Sprechtheaters« verwandelte Oper vermittle, so Felsenstein, dem Zuschauer eine allgemein-menschliche Botschaft, die ihn innerlich bewege und durch die Darstellung des handelnden Menschen eine Zukunftsperspektive eröffne. Dies geschehe durch die momentweise Aufhebung der Entfremdung des Menschen von seinem eigentlichen Wesen in der Darstellung auf der Bühne und im Theatererlebnis des Zuschauers: »Wenn er im Theater die Wiederherstellung des Elementaren erlebt, findet er das Elementare in sich selber wieder. Das ist die einzige konkrete Auslegung der humanistischen Aufgabe des Theaters. Das Humane ist nicht identisch mit dem Elementaren; aber es ist nicht mehr human, wenn das Elementare nicht mehr darin enthalten ist.«92 Felsenstein fährt in kaum zutreffender Berufung auf Brecht fort, der das Allgemein-Menschliche gerade nicht im Theater darstellen wollte: »Brecht meinte sicherlich etwas Ähnliches, wenn er in seinen späten Jahren die Naivität als oberste aller ästhetischen Kategorien bezeichnete.« Felsenstein erläuterte das Prinzip der emotionalen Beglaubigung der Musik bevorzugt an der Arie des Tamino im ersten Bild der Zauberflöte^ Hier markiert bereits bei Mozart der Musikeinsatz eine gesteigerte Höhe des Gefühls. Der Prinz erhält von der dritten Dame das Bild Paminas, das in ihm sogleich eine emotionale Reaktion auslöst, die ihn nicht mehr wahrnehmen läßt, was um ihn herum geschieht, denn »seine Liebe nimmt zu, ob er gleich für alle diese Reden taub schien«.94 Die Arie führt einen emo-

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Felsenstein 1976, S. 42. Vorwort Felsensteins in Hammerschmidt 1957, S. 6. Felsenstein 1976, S. 44. Der oft zitierte Begriff »Vokalidiotie« (z.B. Herz 1989, S. 677: »Ein Lieblingsbegriff der Komischen Oper«) ist bei Felsenstein anscheinend schriftlich nur in der Form »Vokalidiot« nachweisbar, vgl. Felsenstein 1976, S. 425 und Friedrich 1971, S. 969. Felsenstein 1976, S. 33ff. und 45f. Felsenstein 1976, S. 182ff., S. 188. Felsenstein/Melchinger 1961, S. 59. Felsenstein/Melchinger 1961, S. 60f. Der zentrale Abschnitt »Der Weg zum Werk« wurde nachgedruckt im Jahrbuch der Komischen Oper, Bd. 2,1962, bei Felsenstein/Friedrich/Herz 1971, Felsenstein/Herz 1976 und Felsenstein 1976. 1,3, S. 30. 25

tionalen Prozeß vor, bei dem sich Taminos Herz »mit neuer Regung füllt«.95 Tamino beschreibt zuerst die unbekannte »Empfindung«, die er dann als »Liebe« identifiziert und benennt.96 Daraus entwickelt sich ein Verlangen, dem das Bild Paminas allein nicht mehr genügt. In der Verinnerlichung findet die Figur zu sich selbst, ehe sie sich anschließend wieder nach außen wendet. Nach der Generalpause steigert sich das Liebesgefühl vom Betrachten des Bilds zum Wunsch, die abgebildete Frau zu umarmen und zu besitzen; im Orchesternachspiel mündet die Reflexion dann in Handlung: Tamino will sofort aufbrechen, die Geliebte zu finden.97 Felsenstein fügte in den der Arie vorangehenden Dialog ein retardierendes Moment ein, das den emotionalen Umschlag noch zusätzlich verstärkte: »Die erste Dame, die ihm etwas aufdringlich erschienen war, hatte ihm einen Gegenstand aufgedrängt, den er nur angenommen hatte, weil er von der Königin stammte, die er so sehr bewundert.«98 Aus dem ersten Blick entstand eine emotionale Überwältigung, die den Einsatz der Musik gleichsam aus dem Sänger hervorbrechen läßt: »Das Bild enthebt Tamino jeder Beherrschung und stürzt ihn in einen seligen, überwachen Taumel.«99 Felsensteins Interpretation der Arie kommt einer inhaltlichen Paraphrase des Librettos gleich: »Und jetzt, in dem Moment, in dem er es sich trotzdem ansieht, geschieht ein Wunder; er empfindet etwas, das er in dieser Macht und Überwältigung noch nie empfunden hat: er liebt zum ersten Mal!«100 In der Taktpause vor dem schnelleren Schlußteil der Arie sah Tamino seine Geliebte scheinbar vor sich: »Die Musik macht hörbar, wie Taminos Verlangen immer heftiger wird; die Phrasen werden abgerissener, endlich synkopisch, bis der Höhepunkt erreicht ist: Und da >komponiert< Mozart eine Taktpause! Die Pause wurde von uns als einer der genialsten Einfalle innerhalb seiner Partitur empfunden. Hier vollzieht sich das Wunder: Pamina erscheint Tamino!«101 Daß Felsenstein bei Carmen und Hoffmanns Erzählungen auf die gängigen Rezitativbearbeitungen verzichtete und zu gesprochenen Dialogen zurückkehrte, ist nicht nur auf das Prinzip der Originaltreue zurückzuführen, zu dem sich der Regisseur bekannte, sondern auf sein spezifisches Verständnis von Oper. Felsenstein betrachtete das musikalische Theater nicht als eigenständige Gattung, sondern als gesteigerte Form des Sprechtheaters, und es ist daher wenig verwunderlich, daß er die von ihm inszenierten Werke mit theatralen Mitteln einer Dramaturgie der geschlossenen Form anzunähern versuchte, die traditionell als Idealtypus von Drama angesehen wird.102 Es ist auch kein Zufall, daß Felsenstein vorwiegend Opern inszenierte, in denen Musik und gesprochener Dialog wechseln und Melodramen als Zwischenform eine große Rolle spielen. Seine Zauberflöte enthielt ebenfalls ein Melodram: Felsenstein ließ am Beginn der Feuer-und-Wasserprobe Sarastro auftreten und zur Orchestereinleitung

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1,3, S. 31. 1,3, S. 31 und 32. I, 3, S. 33 und 34: »will ab«. Felsenstein/Melchinger 1961, S. 60. Friedrich 1958, S. 110. Felsenstein/Melchinger 1961, S. 60. Friedrich 1958, S. 110. Vgl. dazu Matt 1976.

einige Sätze aus der gestrichenen Szene vor dem Terzett sprechen.103 Bei durchkomponierten Opern geriet Felsenstein bei der Rechtfertigung seines Prinzips der Beglaubigung von Musik in argumentative Schwierigkeiten; er pflegte die Frage mit dem Hinweis auf Otello zu beantworten, wo Verdi und Boito durch die Streichung von Shakespeares Venedig-Akt und die Hinzufügung der Sturm-Szene »Raum für Musik« geschaffen hätten. »Das kosmische Pathos dieses neuen Anfangs muß das Furioso des Gesangs entfesseln.«104 Es gibt kaum eine Arie, in der Felsenstein nicht wie vom Darsteller des Tamino verlangte, eine Vision vor sich zu sehen. So begründete er den wiederholten Affektwechsel in der Arie am Ende des ersten Akts von Verdis La traviata durch kontrastierende Visionen der Violetta umgebenden Gesellschaft und des von ihr erträumten idealen Liebhabers Alfred, dessen von der Straße heraufklingende Serenade Felsenstein als innere Stimme Violettas verstand.105 Die in die Generalpause verlegte Vision motivierte den erneuten Musikeinsatz. Felsenstein ging damit vom Primat des dramatischen Vorgangs aus. »Der Darsteller darf nicht als Instrument, Figurine oder Bestandteil einer bereits vorhandenen Musik wirken, sondern als ihr schöpferischer Gestalter. [...] Der Zuschauer darf nicht merken, daß der orchestrale und der Sängerapparat dem Dirigenten gehorcht, sondern muß Zeuge werden, wie der Darsteller die gesamte instrumentale und vokale Musik - völlig partiturgetreu - dramatisch neu gebiert.«106 Der »singende Darsteller« verwandle sich so in den »schöpferischen Träger der Handlung«.107 Felsenstein war davon überzeugt, daß auch der Orchesterpart einer Oper »keine begleitende Funktionalität« besitze, »sondern Handlung ist, also ebenfalls Teil der darstellerischen Aussage, mitunter sogar wichtiger als die darüberliegende Gesangsstimme.«108 Handlung verstand Felsenstein streng im Sinn einer klassizistischen Dramaturgie als verstehbare, von rationalen Absichten geleitete dialogische Konfrontation.109 Indem die Figuren »ihre Interessen vertreten und ihre Absichten verfolgen, verändern sich ihre Beziehungen zueinander und es entstehen neue dramatische Situationen.«110 Felsensteins Theater zielte auf eine Rollengestaltung durch den Sänger, mit der die Illusion erweckt werden sollte, das Geschehen auf der Bühne entstehe im jeweiligen Augenblick neu und könne sich in jede beliebige Richtung entwickeln. Dieses Theaterkonzept war demnach nicht nur eine Probenmethode, die auf dramatische Spannung und eine aktive Haltung des Darstellers abzielte. Es formulierte auch anthropologische Prämissen über die auf der Bühne dargestellte Welt. Felsensteins Theater zeigte Figuren, die stets über eine absolute Handlungsfreiheit verfugen. Der Mensch sollte selbst im Augenblick einer Verinnerlichung - wie in Taminos Arie - als autonom

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Friedrich 1958, S. 182. Felsenstein/Melchinger 1961, S. 60. Hervorhebung im Original. Schlegel 1962, S. 11 Off. Felsenstein 1976, S. 45. Felsenstein 1976, S. 186. Felsenstein 1976, S. 189. Kursivierung im Original. Vgl. Szondi 1965, S. 14f. Felsenstein 1976, S. 190.

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handelndes Individuum erscheinen. Felsensteins Mitarbeiter Götz Friedrich und Joachim Herz fugten diesem Verständnis des handelnden Menschen einen etwas angestrengten gesellschaftskritischen Akzent hinzu. In der herkömmlichen Oper »entsteht der Eindruck einer Marionette, die am Faden einer vorherbestimmten, vom Komponisten oder Kapellmeister gelenkten Musik sich bewegt. Der Eindruck ist also ein fatalistischer. Nur das Musiktheater zeigt den Menschen als frei handelnd und somit die Welt als veränderbar.«"1 Wenngleich die Formulierung von der Veränderbarkeit der Welt offenkundig auf Brecht anspielt, besteht hier keine Gemeinsamkeit im Figurenverständnis. Denn Brechts Dramen führen zwar die Veränderbarkeit der Welt vor, indem sie entfremdende soziale Strukturen aufzeigen, doch mißtraute Brecht bekanntlich idealistischen Individuen zutiefst, wie sie bei Felsenstein und seinen Nachfolgern handelnd die Welt veränderten. Das Primat des dramatischen Vorgangs ist auch mit dem sogenannten >Voraussein< gemeint,'l2 einer von Felsenstein angewendeten Strategie zur Aktivierung des Darstellers. Noch ehe das Orchester nach einer Generalpause wieder einsetzte, bereitete der Sänger durch den mimischen Ausdruck das Affektpotential der folgenden Musik vor. Dies sollte dem Zuschauer ihr unmittelbares Entstehen aus dem gewandelten Gefühl der Figur heraus suggerieren und damit die Illusion einer unmittelbaren Wahrheit des musikalisch-dramatischen Augenblicks. Musik wurde nicht aufgeführt, sie entstand scheinbar aus der vom Darsteller erzeugten Gefühlsintensität. Götz Friedrichs und Felsensteins Begeisterung über die Arie Taminos und Mozarts geniale Einfalle ist vor allem darauf zurückzuführen, daß diese Arie nahezu idealtypisch den Grundsätzen des realistischen Musiktheaters< entspricht. Daß Tamino zum ersten Mal liebt, steht zwar auch im Text der Arie, Felsenstein entdeckte jedoch in jeder Szene das erste und lebensverändernde Erlebnis einer Figur. Friedrich erwähnt ein trotz seines anekdotischen Charakters typisches Beispiel, das zugleich illustriert, wie ernst der Regisseur episodische Figuren nahm: »Ich erinnere mich, wie er auf der Probe zu Was ihr wo///113 einem Kleindarsteller, der nichts zu sagen hatte außer den Worten >Ich verhaft' euch in des Herzogs Namem, klarmachte, daß das im Stück nur eine Nebenrolle sei, aber die Hauptrolle im Leben des dargestellten Beamten. Er entwickelte eine ganze Lebensgeschichte des subalternen Mannes, der seit einem Menschenalter auf den großen Augenblick der Bewährung wartet, der endlich seinem Herzog einen Dienst erweisen könne, der ihn aus der Anonymität seiner Existenz einmal in seinem Leben herausheben würde. Dieser Satz - ein Höhepunkt, ein Lebensziel, eine dramatische Kulmination, eine ganz große Aktion - vom Blickpunkt des Beamten, nicht für die Welt der Großen und deshalb tragikomisch.«114

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Felsenstein/Friedrich/Herz 1970, S. 70. Dieser Text von Herz (auch in Herz 1989, S. 88) faßt die Grundsätze des realistischen Musiktheaters< prägnant zusammen. Für Friedrich vgl. die gemeinsam mit Herz verfaßte Positionsbestimmung Mitsiktheaier - Versuch einer Definition, ebd. S. 57ff. und seinen Text Lebenswahrheit und Welterkenntnis auf dem musikalischen Theater, ebd. S. 123ff. (letzterer nicht aufgenommen in Friedrich 1986). 112 Vgl. Friedrich 1954, S. 80 und 1971, S. 969. 1 3 ' Oper von Arthur Kusterer nach Shakespeare. 114 Friedrich 1961, S. 34, der hier Erinnerungen eines Mitwirkenden referiert. 28

Obwohl sich auch bei der Pamina-Arie aus dem zweiten Akt der Übergang vom Dialog zur Musik ohne weiteres aus der emotionalen Höhe rechtfertigen läßt, entfernte sich Felsenstein hier stärker von der theatralen Konzeption der Vorlage, indem er Vorund Rückbezüge zu anderen Szenen hinzufügte. Auch am Beginn dieser Szene verstärkte Felsenstein wie mit dem anfänglichen Desinteresse Taminos die emotionale Spannung, indem er Tamino für einen Augenblick das Schweigegelübde der Prüfungen vergessen ließ. Tamino hörte die Rufe Paminas, wandte sich um und lief mit dem abbrechenden Ruf »Pami...« auf seine Geliebte zu.115 In der Arie selbst führte die aktive Haltung, die Felsenstein seinen Darstellern in jedem Augenblick abzuringen versuchte, zu einer inhaltlichen Umakzentuierung. Leiden erscheint auf der Bühne als Passivität, die es um jeden Preis zu vermeiden galt. »Die Arie ist keine statuarische Klage, auch kein verzweifelndes Jammern, [...] denn das hieße, daß Pamina ihrem Schmerz unterliegt.«"6 Felsenstein deutete die g-moll-Arie zum moralischen Sieg des Liebesprinzips um. Pamina »erweist sich auch hier als unglaubliche Heldin: sie besiegt den Schmerz! Als sie den Geliebten verloren hat, wählt sie den einzigen, der ihr Tamino ersetzen, dem sie sich vermählen kann: den Tod! Das ist keine Schwäche, sondern - wie Pamina es tut - die Stärke der Unbedingtheit.«"7 Felsenstein bezog Paminas Liebesklage nicht auf die konkrete Situation und wich der Darstellung eines emotionalen Zusammenbruchs aus. Mit einiger argumentativer Verrenkung verstand er die Arie als Vorausdeutung auf die alles überwindende Allmacht der Liebe in der Feuer-und-Wasserprobe. In einer geänderten Fassung der Inszenierung bezog er den im Libretto an dieser Stelle nicht erwähnten Dolch, den Pamina von ihrer Mutter erhielt, um Sarastro zu ermorden, ins Bühnengeschehen ein. Sie trug ihn sichtbar im Gürtel; nach einem letzten Blick auf Tamino nahm sie ihn am Ende der Arie in die Hand, starrte ihn an und verließ zum Nachspiel langsam die Bühne.118 Mit dieser szenischen Aktion verschärfte Felsenstein die im Text der Arie ausgedrückte Entwicklung von der Trauer über den Liebesverlust zur Todesbereitschaft und übersetzte sie in ein unmißverständliches szenisches Bild. Die Inszenierung nobilitierte die Arie damit nicht nur in Anlehnung an den Monolog des Dramas der geschlossenen Form zur Entscheidungssituation des autonomen Individuums,119 sondern stellte ebenfalls in der klassizistischen Tradition einen Vor- und Rückbezug auf die Auseinandersetzung zwischen Pamina und der Königin und der Szene des Selbstmordversuchs her, in der sie im Wahnsinn den Dolch mit den Worten »Du also bist mein Bräutigam«120 anredet. Einen vergleichbaren Zusammenhang akzentuierte Felsensteins Textfassung durch den im Unterschied zur Vorlage nicht durch einen Bildwechsel getrennten Priester-

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Friedrich 1958, S. 165. Friedrich 1958, S. 166. Friedrich 1958, S. 166. Friedrich 1958, S. 167. Matt 1976a, S. 89. Vgl. Friedrich 1963,8. 16f. und Kranz 1972, S. 32 zur Arie der Tosca im zweiten Akt von Puccinis Oper. II, 27, S. 167.

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chor.121 Nach der stark gekürzten komischen Szene mit Papageno traten die Eingeweihten auf. Auch dieser Chor wurde durch die emotionale Höhe der Situation eigens gerechtfertigt: Nach der Bewährung Taminos bei der ersten Prüfung waren sie nun »ganz überzeugt davon, daß sie selbst recht gehandelt haben, als sie die Zulassung Taminos nicht ablehnten, daß Tamino wirklich der >Messias< sein kann.«122 Felsenstein bezog diesen Chor, der in der originalen Szenenfolge eine weitere Szene des Prüfungsrituals eröffnet, auf die im Regiekonzept zentrale Durchführung von Sarastros Plan, durch den diese Musiknummer auf den Anfang des Akts zurück- und das Ende der Oper vorausweisen sollte. Die episodischen Papageno-Szenen innerhalb des Bildes wurden stark gekürzt.123 Durch dieses Netz von Beziehungen bildete die Szene von Paminas Arie in mehrfacher Hinsicht die Konsequenz früherer und die Voraussetzung späterer Szenen und wurde so zum unabdingbaren Bestandteil einer geschlossenen Handlung, wie der Regisseur sie sah. Die Inszenierung der Pamina-Arie bewegte sich immer noch im möglichen Deutungsrahmen von Mozarts Oper, wenngleich die Verklammerung der Szenen dort zugunsten einer episodischen Reihung dominiert. Noch stärker griff der Regisseur in der Dialogszene vor der Arie des Sarastro »In diesen heil'gen Hallen« ein, bei der sich die von Felsenstein für den Musikeinsatz nötige emotionale Höhe kaum aus dem Libretto ableiten läßt.124 Diese Arie stellt kaum den Affekt der Figur dar, sondern formuliert ein rationales Prinzip des Verzeihens, das in schroffem Gegensatz zur vorangehenden Rachearie der Königin der Nacht steht. Da stoisch-gelassene Emotionslosigkeit in der gesamten Oper ein hervorstechender Charakterzug Sarastros ist, bedurfte es in dieser Szene einiger Anstrengungen, um die gewünschte emotionale Höhe zu erreichen. Im strengen Sinn ist die Dialogszene nach der Arie der Königin der Nacht von Schikaneder nach theatralischen, nicht nach dramatischen Prinzipien entworfen. Sie setzt nicht auf eine kausal begründete Entwicklung, sondern im Gegenteil auf schroffe Kontraste und extreme Gefühlsgegensätze im Stil des goethezeitlichen Schauerromans, deren sprachliche Form für den heutigen Zuschauer die Grenze zur unfreiwilligen Komik überschreitet. Eine Bearbeitung dieser Szene ist auf dem Theater daher unvermeidlich. Pamina wird wie die verfolgte Unschuld der >gothic novel < von ihrer Mutter und dem bösen Mohren Monostatos emotional erpreßt. Zuerst versucht die Königin der Nacht ihre Tochter unter Berufung auf die »Bande der Natur«125 dazu zu zwingen, Sarastro mit einem Dolch zu ermorden, um so den siebenfachen Sonnenkreis zu erhalten. Nach dem Verschwinden ihrer Mutter steht Pamina unschlüssig »in Gedanken«.126 Monostatos tritt plötzlich auf und versucht durch Drohungen ihre Liebe zu erpressen. Das Kontrastprinzip wird besonders an der Stelle deutlich, wenn der Mohr für Augenblicke zu erkennen glaubt, Pamina würde seine Liebe erhören. Nach

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II, 20, Nr. 18, S. 144. Friedrich 1958, S. 167. Vgl. II, 19 und Friedrich 1958, S. 212. II, 9 bis 12, S. 133. II, 8, Nr. 14, S. 131f. 11,9, S. 133.

der wiederholten Zurückweisung schlägt sein Begehren in Haß um, und er zückt den Dolch, um Pamina zu ermorden. Entsprechend der kontrastiven Summierung theatralischer Wirkungen gilt die von Pamina in dieser Szene formulierte Entscheidung nicht der Ermordung Sarastros und dem unter dramatischen Gesichtspunkten zentralen Verhältnis zur Mutter, sondern der in diesem Zusammenhang sekundären Liebe zu Tamino, um deretwillen sie zu sterben bereit ist.127 Sarastros Auftritt, der Pamina vor dem Dolch des Mohren rettet, bringt wiederum ein neues Element, das nicht von einer dramatischen Logik, sondern von einer kontrastiven Steigerung bestimmt wird. Der Erste der Eingeweihten beweist Omnipräsenz durch den Auftritt im rechten Moment und zeigt seine Allwissenheit, indem er über den Mordplan der Königin der Nacht spricht, der ihm gar nicht bekannt sein kann.128 Felsenstein verwandelte diese in jeder modernen Auffuhrung radikal gekürzte Szene in einen dramatischen Vorgang, in dem zugleich die Vorgeschichte kulminierte und der sich als analytisches Drama im Kleinen verstehen läßt. Sarastros prunkende Rhetorik und seine jeder Wahrscheinlichkeit spottende Allwissenheit entfiel ebenso wie das melodramatische Wechselbad der Gefühle in der Szene mit Monostatos.129 Der Regisseur kürzte die Szene so, daß sich eine Entscheidungssituation Paminas herausschälte, die konsequent aus der Auseinandersetzung mit der Königin der Nacht entwickelt war. Den Dolch, der bei Schikaneder sofort aus dem Text verschwindet, wenn er dramatisch unwichtig wird, verwandelte Felsenstein auch hier in ein bedeutungstragendes Requisit, das auf die Königin und ihren Mordauftrag zurückwies. Sarastro hob den Dolch vom Boden auf und reichte ihn Pamina, um sie zu einer Entscheidung zwischen ihrer Mutter und seinen Plänen zu zwingen. Götz Friedrich beschreibt den psychischen Vorgang, der sich in diesem Moment in Sarastro abspielen sollte: »Mit diesem Dolch soll mich Pamina töten. Kann sie es, gelten Liebe und Glaube nichts mehr in der Welt, dann ist alles, was ich tun wollte, umsonst. Dann ist die Kraft der Lehre unseres Ordens eine Fiktion, dann siegen Nacht und Finsternis. Denn teilt sich die Lehre Pamina nicht mit - wem dann?«130 Während die Entscheidung von Schikaneders Pamina lediglich implizit aus der Handlung erschließbar ist, ringt Felsensteins Pamina mit sich selbst auf offener Bühne. In der Inszenierung dominierte das autonome, sich richtig entscheidende Individuum, das im Libretto der Zauberflöte nicht existiert. Bezeichnenderweise lag der dramatische Akzent der Szene nicht auf der musikalischen Nummer, sondern auf der ihr vorangehenden, vom Regisseur frei erfundenen pantomimischen Szene. Felsensteins Pamina bewies menschliche Reife: Sie fiel Sarastro tränenüberströmt um den Hals und bat um Gnade für ihre Mutter. Aus der positiven Wendung konnte nun das »BefreiendMenschliche dieser Musik« emporsteigen. Felsenstein und der Dirigent Meinhard von

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11,10,8.133. »Ich weiß nur allzuviel.« bzw. »Ich weiß alles.« (II, 11 und 12, S. 133). Friedrich 1958, S. 211. Friedrich 1961, S. 37f. (ausfuhrlicher als Friedrich 1958, S. 159f). Nahezu wörtlich übereinstimmend mit Friedrich beschrieb Felsenstein selbst die Szene im Wiener Vortrag Methode und Gesinnung (\963), Felsenstein 1976, S. 118ff., dort S. 126. 31

Zallinger beschleunigten das Larghetto-Tempo der Arie zu einem »Andantino sostenuto«, das sie in der autographen Partitur entdeckt hatten - obwohl diese Tempoangabe von Mozart getilgt worden war -, um der Arie trotz der Strophenform jede Statik zu nehmen.131 Sarastro sang die Arie nicht als Monolog, sondern im Partnerbezug zu Pamina, die mit dem Rücken zum Publikum zuhörend vor ihm stand.132 »Was er singt, singt er für Pamina und entdeckt es doch gleichzeitig neu für sich selber. Die Erlösung des einen ist die Erlösung des anderen. Das Liebeslied an Pamina weitet sich zum Liebeslied an die Menschheit. So offenbart sich Mozarts Musik als unmittelbarster und schönster Ausdruck der Humanität.«133 Am Ende der Arie gab Sarastro den Dolch als Zeichen seines Vertrauens an Pamina zurück.134 Den interpretationsbedürftigen Widerspruch zwischen dem Text der Arie und dem Untergang der Königin der Nacht am Ende der Oper ignorierte Felsenstein; die Dokumentation Friedrichs weicht dieser Frage ebenfalls aus. Es ist auch kein Zufall, daß mit keinem Wort überliefert ist, wie der Einsatz der zweiten Strophe motiviert wurde. Felsenstein war der Ansicht, daß es »dramaturgisch gesehen« überhaupt keine Wiederholungen gäbe. »Wenn einer der größten Dramatiker, die es überhaupt gibt, eine Wiederholung komponiert, kann das zum Beispiel heißen: der andere hat es nicht verstanden.«135 Das kann man von Pamina wohl kaum behaupten, eher schon von einer anderen Figur der Zauberflöte: »Oder es sind verschiedene Stufen, wie beim Lied Papagenos, der sich vorstellen und wichtig machen will und nun in vier Instanzen seinen Heißhunger nach Liebe bekanntgibt.«136 Das erste der beiden Strophenlieder Papagenos inszenierte Felsenstein durchaus als Auftrittslied aus der Tradition des Wiener Vorstadttheaters. Bestimmende Emotion war hier der Gegensatz zwischen Papagenos Mitteilungsbedürfnis ans Publikum und der Pflicht, eine Treppe zu der Stelle hinaufgehen zu müssen, an der ihn gewöhnlich die drei Damen erwarteten.137 Dadurch, daß sich der Partner Papagenos jenseits der Rampe befand, konnte der Charakter eines Monologs vermieden werden, der sowohl der Form des Strophenlieds als auch seiner ganzen komödiantischen Anlage widersprechen würde. Durch diese Partnerbeziehung, so Friedrich in seiner Dokumentation, wurde eine dramatische Entwicklung innerhalb der drei Strophen hergestellt.138 Die formale Funktion des Auftrittslieds benutzte Felsenstein zur Charakterisierung Papagenos. Als er beim Ritomell des Orchesters die Treppe hinauf wollte, verrutschte ihm der Vogelkorb. Da fiel sein Blick auf die Zuschauer und seine Freude über die Entdeckung war so groß, daß er sie sofort ansprach. Felsensteins Papageno war ein liebenswürdiger Maulheld mit maßlosem Geltungsbedürfnis, der plötzlich ein viel größeres Publikum vor sich sah, als die drei Damen, bei denen er täglich seine Lieferung abgab. Zugleich

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Abbildung der Seite des Autographs im Bildteil bei Friedrich 1958, vor S. 53. Friedrich 1958, S. 160. Friedrich 1961, S. 38. Friedrich 1958, S. 160. Felsenstein/Melchinger 1961, S. 63. Felsenstein/Melchinger 1961, S. 63. Friedrich 1958, S. 105. Friedrich 1958, S. 105.

war er in seinen Gefühlen höchst sprunghaft. Während der ersten Strophe schwankte er noch zwischen der Wendung zum Publikum und dem Weg zu den drei Damen, bei der zweiten sprach er mit dem Publikum und bei der letzten hatte er über seiner lustvollen Vision eines Netzes gefangener Mädchen die Zuschauer schon wieder vergessen.139 Im zweiten Akt scheitert Papageno an den Prüfungen, durch die er Eingeweihter werden könnte. Eine Flamme schlägt aus der Tür, scheinbar kann er weder vor noch zurück. Der Sprecher begnadigt ihn und fragt ihn nach seinen Wünschen. Anstatt nach Papagena zu fragen, verlangt er ein Glas Wein.140 Während die Dialogszene den Vorgaben des Librettotexts entsprach, versinnlichte Felsenstein in der Arie Papagenos Wunschträume durch ein Theaterbild: Im Wechsel zwischen Andante und Allegro hatte Papageno eine Vision, die hinter ihm mit einem Lichtwechsel erschien und wieder verschwand. Hinter ihm wurde ein Baum sichtbar, in dem ein nacktes Mädchen saß.141 In der ersten Strophe war Papageno noch überzeugt, Papagena trotz seines Scheiterns zu erhalten. In der zweiten begann er zu zweifeln und in der dritten Strophe war er tief enttäuscht. Sich und dem Publikum redete er ein, er wolle sich töten.142 Die eben dargestellte Reihenfolge der Strophen in Papagenos Arie mag überraschen, widerspricht sie doch nicht nur der gängigen Theaterpraxis, sondern auch dem gedruckten Notentext der alten wie der neuen Mozart-Ausgabe und der von Hermann Abert herausgegebenen Eulenburg-Partitur.143 Felsenstein machte für diese Umstellung textkritische Bedenken geltend, die sich jedoch bei näherem Hinsehen als nicht triftig erweisen.144 Die erste Strophe ist seit jeher unstrittig, jedoch unterscheiden sich der Erstdruck des Librettos und Mozarts Autograph hinsichtlich der Reihenfolge der beiden letzten Strophen. Ein Mädchen oder Weibchen Wünscht Papageno sich! O so ein sanftes Täubchen War' Seligkeit für mich! Ach kann ich denn keiner von allen Den reizenden Mädchen gefallen? Helf eine mir nur aus der Noth, Sonst gräm' ich mich wahrlich zu Tod'.

Ein Mädchen oder Weibchen Wünscht Papageno sich! O so ein sanftes Täubchen War' Seligkeit für mich! Wird keine mir Liebe gewähren, So muß mich die Flamme verzehren! Doch küßt mich ein weiblicher Mund, So bin ich schon wieder gesund.

Entscheidend dabei ist, ob das Strophenlied mit den Worten »So bin ich schon wieder gesund« oder »Sonst gräm' ich mich wahrlich zu Tod« endet. Felsensteins Position läßt sich auch unabhängig vom philologischen Befund erraten: Vom Primat des Dramas ausgehend, wonach jede Szene zu einer Konsequenz und zu einem Entschluß fuhren muß, der auf ein früheres Ereignis bezogen ist und auf ein künftiges voraus-

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Friedrich 1958, S. 106. II, 22, Klavierauszug, S. 152, Friedrich 1958, S. 170 und S. 212. Friedrich 1958, S. 170. Der gemalte Schleier beruht angeblich auf einer indischen Vorlage des 17. Jahrhunderts. Friedrich 1958, S. 79 und 170ff. II, 23, Nr. 20, KJavierauszug, S. 153ff. Friedrich 1958, S. 78f.

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weist, wählte Felsenstein die Strophe als dritte, die mit dem Todeswunsch endet und auf die folgende Szene mit Papagenos Selbstmordversuch vorausweist. Ursprünglich wollte Felsenstein die Reihenfolge der Strophen umstellen. Er war überrascht, daß die von ihm gefundene Lösung bereits im Autograph stand. Dies ist allerdings nur auf den ersten Blick zutreffend. Im Autograph steht der Text der ersten und dritten Strophe unter der Notenzeile und der Text der zweiten Strophe darüber. Scheinbar schrieb Mozart die ersten beiden Strophen untereinander und dann, als der Platz nicht ausreichte, die dritte darüber.145 Nach Meinung der Herausgeber der Neuen-Mozart-Ausgabe läßt sich die Reihenfolge der Strophen allerdings nicht exakt bestimmen, weil Mozart die Zeilen nicht numerierte und kein vergleichbarer Fall vorliegt, da es in der Zauberflöte keine weitere dreistrophige Nummer gibt.146 Denn die dritte Strophe von Papagenos Auftrittslied wurde erst später hinzugefügt und existiert weder im Partiturautograph noch im Erstdruck des Textbuchs. Bei allen anderen zweiten Strophen schrieb Mozart den Text der ersten Strophe unter die Notenzeile und den der zweiten darüber. Demnach endet die Nummer nicht, wie Felsenstein dachte, mit dem Todeswunsch Papagenos, sondern mit seiner wiedererlangten Gesundheit. Dafür spricht auch ein musikalisches Argument. Mozart schreibt für die dritte Strophe zusätzliche Bläserstimmen vor. Es sei wenig wahrscheinlich - so die Herausgeber der Neuen-Mozart-Ausgabe - daß Mozart ausgerechnet die Strophe, in der Papageno sich zu Tode grämt, durch eine klangvollere Instrumentierung hervorheben wollte.147 Dennoch blieb Felsenstein trotz seines Interesses an philologischen Fragen auch hier Regisseur. Entscheidend war für ihn nicht der Befund am Text, sondern sein Theaterkonzept, das er durch Mozarts Autograph bestätigt fand. Am ehesten mit einem Schauspielmonolog vergleichbar ist der Auftritt des Monostatos im zweiten Akt, die typische Selbstdarstellung eines Bösewichts. Der Mohr betritt einen nächtlichen Garten, in dem Pamina schläft, und spricht offen über seine Absichten. Aus seiner Begnadigung durch Sarastro wird Monostatos nicht klüger, denn obwohl ihm die Bastonade als Strafe für die versuchte Vergewaltigung Paminas erlassen wurde, nähert er sich ihr erneut und versucht, sie zu küssen. Zugleich bildet diese Szene eine wichtige zeitliche Verknüpfung der Handlung und dient damit zum Verständnis der nachfolgenden Szene zwischen Pamina und ihrer Mutter. Denn der Grund, weshalb Monostatos die Bastonade erlassen wurde, ist die Ankunft Taminos bei den Eingeweihten, die Sarastros Plan zur Errettung der Menschheit erst möglich macht. Die klassizistische Tradition verurteilt Monologe als Widerspruch gegen das Wahrscheinlichkeitsaxiom, denn, so Gottsched, »kluge Leute aber pflegen nicht laut zu reden, wenn sie allein sind«.148 Felsenstein hielt diese Offenlegung der Absichten des Bösewichts für psychologisch unglaubwürdig und ersetzte den Monolog durch eine pantomimische Aktion. Monostatos beugte sich über Pamina, versuchte sie zu

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Friedrich 1958, S. 79. Grübet 1972, S. XLVI. Gruber 1972, S. XLII. Zitiert nach Matt 1976a, S. 72.

küssen und wurde plötzlich von der Vorstellung übermannt, Pamina speie ihm vor Ekel ins Gesicht. Damit war die emotionale Höhe erreicht, die in Felsensteins Theaterkonzept die Musik auslöst; aus der pantomimischen Aktion entstand der Einsatz des Orchesters und damit der Beginn des Strophenlieds.149 Während der ersten Strophe trieb Monostatos der Gedanke, ohne Frau leben zu müssen, in tiefe Verzweiflung; es schien ihm, in Anlehnung an den Text der Arie und an eine Passage des gestrichenen Monologs, als ob er verbrennen müsse. Für Felsenstein typisch, mündete die erste Strophe in einen Entschluß, der die zweite beglaubigt. Felsenstein griff das Angebot einer kausalen Verknüpfung im Text auf, die »Drum so will ich, weil ich lebe, schnäbeln, küssen, zärtlich sein« anbietet, und steigerte die zweite Strophe durch eine Veränderung des Arrangements: Monostatos näherte sich der schlafenden Pamina immer mehr und sank hinter ihr auf die Knie. Im Nachspiel beugte er sich über sie, ehe ihn der Aufschrei der plötzlich auftretenden Königin der Nacht wie ein Peitschenschlag zurückriß.150 Felsenstein forderte vom Darsteller eine totale Identifikation mit der Rolle und zielte auf ein überbordendes Gefuhlstheater, dem er als Gegengewicht die Einsicht in den rational beglaubigten Anlaß des Singens entgegensetzte. Die Parallele zu Stanislawskis Theater drängt sich schon deshalb auf, weil Götz Friedrich bei der Beschreibung von Felsensteins Regiestil des öfteren den Begriff der »physischen Handlung« verwendet.151 Friedrich war durch sein Studium am Deutschen Theaterinstitut in Weimar geprägt, wo nach sowjetischem Vorbild die dogmatisierte Version des Stanislawski-Systems gelehrt wurde.IS2 In der Tat ähnelt Felsensteins Aktivierung des Sängers der »physischen Handlung« Stanislawskis, durch die der Darsteller angehalten werden soll, auf der Bühne nicht so fühlen zu wollen, als ob er die zu verkörpernde Gestalt wäre, sondern so zu handeln.153 Auch zwischen dem, was Felsenstein als »Idee des Werks« bezeichnete, auf die sich alle Teilmomente der Inszenierung beziehen sollten, und der »Überaufgabe« lassen sich Gemeinsamkeiten herstellen. Trotz dieser Berührungspunkte scheint Felsenstein sein Theaterkonzept unabhängig von Stanislawskis Überlegungen aus seiner langjährigen Praxis als Schauspieler und Regisseur entwickelt zu haben. Sowohl bei den inszenierten Werken des Sprechtheaters wie auch den Opern unterscheidet sich ihr Repertoire erheblich. Stanislawskis Operninszenierungen dürften überdies erst durch die Bücher von Antarowa und Kristi im deutschen Sprachraum bekannt geworden sein.154 Felsenstein hat sich auf diese Texte

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Friedrich 1958, S. 155f. Friedrich 1958, S. 156. Z.B. Friedrich 1961, S. 39. Barz 1978, S. 36f., wo Friedrich die dortige Ausbildung als unpolitische Theaterwissenschaft hinstellt. Zur Rolle des Deutschen Theaterinstituts vgl. Hasche/Schölling/Fiebach 1994, S. 11 und Mittenzwei 1986, S. 445ff. Rühle 1963, S. 59. Vgl. Kristi 1954 und Antarowa 1950, einer Beschreibung von Stanislawskis Probenarbeit an Massenets Werther. Da Stanislawski im Ausland niemals mit Opern gastierte, kannte Felsenstein nur die musealen Auffiihrungen seiner Inszenierungen (Felsenstein 1976, S. 443f.). In den zwanziger Jahren sah er mit Begeisterung das Gastspiel einer Operetteninszenierung Tairovs, vgl. Felsenstein/Melchinger 1961, S. 23.

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nirgends bezogen und sich wohl auch mit Stanislawski kaum eingehender beschäftigt.155 Beider Konzept unterscheidet sich überdies in einem wesentlichen Punkt: Das realistische Musiktheater< ist ein Theater der Fabel. Während bei Stanislawski die Figur in allen ihren charakterlichen Facetten ausgelotet wird, dominiert bei Felsenstein nicht der Darsteller, sondern die kausale Verknüpfung einer auf der Bühne erzählten Geschichte. Felsensteins Theaterkonzept läßt sich daher kaum auf Stanislawski zurückführen. Er selbst berief sich auf den in der Nachfolge des expressionistischen Theaters von schroffen Kontrasten und Gefühlsüberschwang bestimmten Regiestil Jürgen Fehlings, der während des Zweiten Weltkriegs am Schiller-Theater inszenierte, wo zur gleichen Zeit auch Felsenstein als Regisseur engagiert war.156 Die Herkunft seines Theaterverständnisses wird deutlich, wenn man die unausgesprochenen Grundsätze zusammenfaßt, nach denen Felsenstein die Zauberflöte inszenierte. Die gesamte Deutung der Oper zielt auf eine durch Sarastros Plan zusammengezwungene Einheit der Handlung, die auf eine moralische Verbesserung der Welt abzielt. Durch sie verwirklicht sich das initiative Individuum, das im autonomen Handeln seine Persönlichkeit entfaltet. Medium der theatralen Kommunikation ist der Dialog. Monologe werden mit Rücksicht auf die Wahrscheinlichkeit zurückgedrängt oder in Dialoge mit Visionen uminterpretiert, denn »jeder Monolog [...] ist ein Gespräch mit einer Vision, einem visionären, imaginären Partner«.157 Sein Verständnis von Theater hielt Felsenstein für eine überzeitliche Invariante, der angeblich sogar die Peking-Oper unterworfen sei:158 »Ich kann mir schwer vorstellen, daß auf dem Theater eine Vorführung möglich ist und Beifall findet, die keine Handlung hat.«159 Eine Oper wie Webers Oberon, in der das Theatralische gegenüber dem Dramatischen dominiert, hielt er ausschließlich aus diesem Grund für »kein gutes Stück« und eine Aufführung dieses Werks als Ausstattungsrevue erschien ihm sogar als »Betrug«.160 Mit vergleichbarer Vehemenz wandte sich Felsenstein gegen Inszenierungen, deren »Originalitätssucht« und »äußere Regieeinfalle« die dramatische Handlung verschleierten, und es erregte seinen Zorn, wenn im üblichen Opernbetrieb »unter dem Vorwand, daß eine Handlung auf dem Theater gespielt wird, eine Koloraturarie stattfindet, in der keine Spur von Handlung zu finden ist«.161 Allen Formen von Theater, denen Felsenstein die künstlerische Berechtigung absprach, ist gemeinsam, daß sie das Primat der Fabel in den Hintergrund rücken oder als Mittel zum Zweck gebrauchen. Noch für Harry Kupfer besteht

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Felsensteins Äußerungen zu Stanislawski, wie etwa in Felsenstein 1976, S. 520ff. oder im Zusammenhang mit seiner Carwew-Inszenierung am Moskauer Nemirowitsch-DantschenkoMusiktheater, sind stets höchst allgemein gehalten. Die Dogmatisierung seines Theaterstils in der Sowjetunion lehnte er ab, vgl. Felsenstein 1991, S. 87. Friedrich 1971, S. 966. Felsenstein/Melchinger 1961, S. 42. Felsenstein/Melchinger 1961, S. 39. Felsenstein/Melchinger 1961, S. 71. Felsenstein/Melchinger 1961, S. 45. Felsenstein/Melchinger 1961, S. 77. Vgl. den kuriosen Briefwechsel zwischen Felsenstein und Ernesto Grassi von 1967 zum Nor/wa-Gastspiel des Teatro La Fenice in der Komischen Oper, auszugsweise in Herz 1989, S. 677.

die Substanz von Theater in dem, »was sich zwischen den Menschen ereigne« und er wendet sich in diesem Zusammenhang, ohne den Namen Robert Wilson zu nennen, gegen elitäre »Bühnenbild-Inszenierungen«, die sich dem landläufigen Handlungsverständnis verweigern.162 Felsensteins Theaterverständnis deckt sich offenkundig mit dem von der normativen Poetik als Normalform betrachteten Drama der geschlossenen Form. Er griff als Regisseur immer dann bearbeitend oder verändernd ein, wenn die Werke nicht nach diesen Prinzipien aufgebaut waren. Neben den Dialog trat gleichberechtigt die szenische Aktion, die bei Felsenstein stets auf eine unmittelbare Verständlichkeit abzielte und in der Tendenz Sprachcharakter besitzen sollte. Die Gemeinsamkeiten zwischen seinem Regiestil und der normativen Fixierung des Dramas der geschlossenen Form durch Gustav Freytag sind frappierend. Auch im Zentrum seiner Poetik steht der autonome Held, der sich als »der hämmernde Schmied seines Glücks und Unglücks«163 erweist. Ebenso wie Felsenstein hielt Freytag nur »diejenigen starken Seelenbewegungen« für dramatisch, »welche sich bis zum Willen und zum Tun verhärten«.164 Die offenkundigen Übereinstimmungen müssen nicht unbedingt auf einem direkten Einfluß beruhen; Freytags in hoher Auflage erschienene Technik des Dramas dominierte als angebliches Naturgesetz und aus den Werken Schillers abgeleitete Normalform von Drama lange Zeit den Schulunterricht der Gymnasien, weil sie einem Common sense vernünftiger Glaubwürdigkeit entspricht.165 Freytag stilisierte das Drama zum perfekten Gegenstand, der wie Felsensteins Theater eine vollkommen transparente und verstehbare Welt zeigte, auf verstörende Elemente verzichtete und ein bürgerliches Sekuritätsbedürfhis befriedigte, das dem sozialistischen Realismus in der frühen DDR nicht fremd war. Felsenstein, der sich auch als Schauspielregisseur kaum mit der Moderne auseinandergesetzt hat, übertrug die verinnerlichte Ästhetik der von ihm in seiner Zeit am Sprechtheater inszenierten deutschen Klassiker und Konversationsdramen auf das musikalische Theater.166 Angesichts der Beständigkeit, mit der Felsenstein an seinem schon früh festgelegten Theaterverständnis festhielt, läßt sich der kurze Einführungstext, den er 1929 zu seiner Basler Inszenierung von Igor Strawinskys Geschichte vom Soldaten verfaßte, nicht als Kuriosität abtun. Die artifizielle Beschädigung der Musik und ihre parodistischen Züge beschrieb er, als sei sie tönender Affektausdruck: »Strawinskys originell instrumentierte und zum Teil erschütternd verzerrte Musik konzentriert die Vorgänge zum grausamen Erlebnis.«167 Die synthetische Künstlichkeit und die Trennung der theatralen Elemente in Musik, Tanz und Instrumentalmusik unterlief er durch die »einheitlich schwarze und stilisierte Kleidung des Vorlesers und der Musiker«, die »ihre hohe und tiefernste Gemeinschaftsaufgabe betonen« sollte, um »uns das Myste-

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Kost 1997, S. 108. Freytag 1863, S. 36. Vgl. zum Drama der geschlossenen Form zusammenfassend Matt 1976. Freytag 1863, S. 18. Vgl. Matt 1976 bzw. die Gymnasialpoetik von Krauß 1897. Vgl. das Inszenierungsverzeichnis in Felsenstein 1976, S. 536ff. Zur Neuinszenierung der >Geschichte vom Soldatem (1929), Felsenstein 1976, S. 223.

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rium des armen Soldaten gleichsam als Botschaft mitzuteilen«.168 Daß Strawinsky das Sujet dazu verwendet haben könnte, um vor allem seine Kunstmittel zu demonstrieren, zog Felsenstein nicht in Erwägung. Er hielt sich an die erzählbare Geschichte und ging wie selbstverständlich davon aus, daß auch in der Geschichte vom Soldaten die Form eine Funktion des Inhalts sei. Diese »Botschaft« bestand in der »Tragödie des einfachen, armen Menschen, der in irriger Sehnsucht nach Wohlleben und Reichtum der bösen Versuchung unterliegt und gegen Erlangung der ersehnten irdischen Güter seine mißachtete Seele preisgibt.«169 Krasser kann man Strawinskys künstlerische Absichten kaum ins Gegenteil verkehren. Aber dieses Mißverständnis beweist andererseits die ungebrochene Kraft der Dramaturgie der geschlossenen Form, die - weil sie mit einem Alltagsverständnis von Vernunft und Maß in Übereinstimmung steht - als Grundlage einer Inszenierung auch noch einem Werk einen stringenten Sinn abzuringen vermag, das in Opposition zum traditionellen Dramenverständnis entworfen wurde.

7. Exkurs: Susannas Arie in Die Hochzeit des Figaro Felsenstein bezeichnete die Arie der Susanna im vierten Akt von Mozarts Le nozze di Figaro im Gespräch mit Siegfried Melchinger als »Erfindung eines Dramatikers, die sich mit Shakespeare messen könne« und als »eine der größten Erfindungen«, die je »für das Theater geschrieben wurden«. In der »landläufigen Opernpraxis« werde sie jedoch »meistens katastrophal falsch verstanden.«170 Allein diese Superlative sind Grund genug, diese Arie näher zu betrachten, zumal deren Interpretation durch Felsenstein frappierend mit der Deutung des Mozart-Forschers Stefan Kunze übereinstimmt.171 Felsenstein inszenierte Le nozze di Figaro erstmals 1934 in Köln, dann 1942 in Salzburg sowie 1950 und 1975 an der Komischen Oper.172 Die letzte Inszenierung, für die Felsenstein das Werk neu übersetzte, wurde längere Zeit nach seinem Tod in den achtziger Jahren vom Fernsehen der DDR aufgezeichnet. Zusätzlich brachte der Verband der Theaterschaffenden der DDR in seiner Reihe »Theaterarbeit in der DDR« eine Dokumentation dieser Inszenierung durch Ilse Koban heraus, der zu entnehmen ist, daß Felsenstein die zentralen Elemente seiner szenischen Deutung in den vier Inszenierungen kaum veränderte.173 Der Regisseur gab offen zu, für die Inszenierung von 1975 wiederum das Arrangement von 1950 verwendet zu haben.174 Schon die Kölner Inszenierung verlegte das Zimmer Susannas und Figaros unter die geschwungene Treppe des Schlosses. Bei den klassenkämpferischen Tönen,

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Felsenstein 1976, S. 223. Felsenstein 1976, S. 223. Felsenstein/Melchinger 1961, S. 34f., vgl. auch Kranz 1977, S. 155f., dort nach Felsensteins Tod möglicherweise auf der Basis des Melchinger-Buches ergänzt. Kunze 1984, S. 299. Mozarts Oper wird zitiert nach dem Klavierauszug der Neuen-MozartAusgabe, Wolfgang Amadeus Mozart, Le nozze di Figaro, Kassel 1976. Vgl. Kobän 1980, S. 141ff. Kobän 1980. Kobän 1980, S. 109.

die einige Kritiker 1950 aus der Figaro-Kavatine herauszuhören glaubten, scheint es sich um ein zeitbedingtes Mißverständnis zu handeln.175 Die Inszenierung von 1975 zielte schon in den Kostümen auf eine Nivellierung sozialer Unterschiede und die Überhöhung der Handlung zu einem allgemein-menschlichen »Welttheater der Liebe«.176 Felsenstein verstand Figaro nicht als Revolutionär. Erst als Figaro erfährt, »daß Almaviva Susanna begehrt, entwickelt er eine Aktivität und eine Handlungsfähigkeit, die durchaus revolutionäre Züge aufweisen. Aber er wird revolutionär aus egoistischen Gründen: um seine Liebe zu verteidigen.«177 Felsenstein deutete die Ehekrise zwischen Graf und der von ihm durchweg Rosina genannten Gräfin aus der Vorgeschichte der Handlung. Er bezog sich dabei weniger auf die Komödie von Beaumarchais oder auf Rossinis // Barbiere di Siviglia, sondern auf die Figurenkonzeption Rosinas in der Oper von Giovanni Paisiello, die er 1960 an der Komischen Oper inszeniert hatte.178 Der Regisseur entschuldigte das erotische Interesse des Grafen Almaviva an Susanna durch eine vorübergehende Entfremdung zwischen ihm und Rosina, die er auf die überstürzte Hochzeit zweier unbekannter Menschen zurückführte, die lediglich eine »vorbehaltlose Leidenschaft« verbinde.179 Diese »in ein ihm bisher unbekanntes Maß hochgetriebene und nicht gleicherweise erfüllte Liebesleidenschaft« habe sich unbewußt auf Susanna übertragen. Diese von Felsenstein ähnlich auch in Carmen entdeckte psychologische Konstellation sei zwar »sehr ungewöhnlich«, und »ganz gewiß fehle es dem Grafen auch nicht an Schuldbewußtsein und Selbstanklagen«, aber er sei diesem Zustand widerstandslos ausgeliefert.180 Er nahm an, daß seit der Heirat Almavivas erst ein Jahr vergangen sei, besetzte die Gräfin gegen die Auffuhrungstradition daher sehr jung und hielt es sogar für plausibel, daß Susanna älter als sie sei.181 In Anlehnung an die empfindsam-aktive Rosina der Paisiello-Oper deutete er die Gräfin als handelnde Frau, die um die Liebe ihres Mannes kämpft. Schon der melancholischen Kavatine am Anfang des zweiten Akts gewann Felsenstein eine optimistische Perspektive und einen von Mozart nicht vorgesehenen Affektwechsel ab. Während der Orchestereinleitung sucht die Gräfin nach einem Gedicht, das sie besonders schätzt. Den Gesangseinsatz »Porgi amor qualche ristoro«, in Felsensteins Fassung »Amor du, o schenke Frieden«, las sie aus dem Buch und übertrug es auf ihre persönliche Situation: »O gib mir den Geliebten wieder«. Dieser Wechsel zwischen Lektüre und subjektivem Fühlen erlaubte es, »oder sende mir den Tod« ebenfalls als Zitat zu deuten, dessen Inhalt Rosina »heftig verneint«.182 Am Ende der Kavatine hatte sie in dieser Deutung ihre Melancholie über-

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Rühle 1957, S. 268. Koegler 1958, S. 263 will in Susanna sogar die »Partisanen-Kameradin« Figaros erkannt haben. Die Fotos der Auffiihrung in Kobän 1980, S. 141 ff. und in Komische Oper 1954, unpaginierter Bildteil, wirken bieder. Vorbemerkungen zur Konzeption »Die Hochzeit des Figaro« (1975), in Felsenstein 1976, S. 282, Kranz 1981, S. 143. Kranz 1981, S. 143. Felsenstein 1976, S. 279. Felsenstein 1976, S. 280. Felsenstein 1976, S. 281. Kranz 1981, S. 147. Zitate nach den Fotos von Felsensteins Regiebuch in Kobän 1980, S. 23ff. 39

wunden und eine Zuversicht wiedergefunden, die ihr nun erlaubt, um Almavivas Liebe zu kämpfen. In ähnlicher Weise deutete Felsenstein auch Susannas Arie im vierten Akt von der statischen Darstellung eines Affekts in einen Prozeß um. Figaro belauscht das Gespräch zwischen Susanna und der Gräfin. Die Bemerkung seiner Braut, sie wolle die Kühle des Abends genießen, mißversteht er als List Susannas, von der er glaubt, sie erwarte den Grafen zu einem nächtlichen Rendezvous.183 Im Unterschied zum Zuschauer weiß Figaro, der über die geplante Intrige nicht informiert wurde, jedoch nicht, daß Susanna ihre Liebe zum Grafen in der Rolle der Gräfin nur vortäuschen soll. Am Ende des Rezitativs bemerkt Susanna den im Gebüsch versteckten Figaro. Um ihn für seine grundlose Eifersucht zu strafen, spielt sie ihm eine imaginäre Liebesszene mit dem Grafen vor. Die theatrale Wirkung und die Komik dieser Szene beruhen auf dem unterschiedlichen Informationsstand der Figuren, der für den Zuschauer offenkundig ist. In seiner Eifersucht versteht Figaro die Arie der Susanna als Liebeserklärung an den Grafen und sieht, wie zuvor in den Szenen mit Marcellina und Barbarina, den Verdacht ihrer Untreue bestätigt. Stefan Kunze hält die Deutung dieser Arie als fingierte Liebeserklärung an den Grafen für eine »schwerwiegende Verkennung der Szene und des Mozartschen Theaters im allgemeinen« und meint, Susanna richte in dieser Arie ihre Gefühle direkt an Figaro. In Anlehnung an eine klassizistische Dramaturgie betrachtet er sie als Monolog, in der die Figur auf ihr »fühlendes Ich zurückgeworfen« sei und unterstellt eine dialektische Spannung, als sei das erotische Verhältnis zu Figaro eine verborgene Liebe, die erst hier offenbart würde. Susanna vermöge hier die Wahrheit ihrer Gefühle »gänzlich ungeschützt, ohne jegliche Pose, ohne emotionale Fassade nur deshalb preiszugeben, weil sie weiß, daß Figaro im Augenblick gar nicht die Möglichkeit hat, ihr Geständnis als das zu begreifen, was es wirklich ist.«184 Das Problem dieser Arie ist die Frage nach dem Affektausdruck der Musik. Selbst wenn man Kunzes Deutung nicht folgen möchte, liefert seine Analyse plausible Argumente dafür, die Musik der Arie primär aus der Theatersituation heraus zu verstehen. Der durch das Streicherpizzikato bis zum Ende betont serenadenhafte Charakter der Arie und die pastorale Tonart F-Dur beschwören eine gleichsam abstrakte galante Situation herauf, die keiner konkreten Person gilt und in der nicht umsonst keine Namen fallen. Die Musik stellt dabei nicht einen inneren Prozeß in Susanna dar, sondern deutet, ähnlich wie in der Opera seria, weitgehend unabhängig von der Figur, in erster Linie den Affektgehalt der im Text zitierten Liebessituation aus. Da der serenadenhafte Charakter durch die abrundende Wiederkehr des Streicherpizzikatos am Ende erhalten bleibt, unterstreicht auch die Musik die Ambivalenz der theatralen Situation, ohne sie auf eine Eindeutigkeit hin aufzulösen. Diese Ambivalenz schafft Schwierigkeiten für Interpreten, die Dramatik notwendig als Prozeß verstehen. Stefan Kunze deutet die Ablösung des Pizzikatos durch eine

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Klavierauszug, S. 414. Kunze 1984, S. 300.

aufsteigende Streicherfigur185 als Susannas »Durchbruch zum Ich«,186 und Dietmar Holland konstatiert hier gar im Widerspruch zum offenkundigen Höreindruck einen dramatischen Umschlag und eine direkte Hinwendung an Figaro.187 Dieses Verständnis scheint deshalb wenig plausibel, weil in den letzten Takten der Arie der serenadenhafte Charakter wiederkehrt. Es deckt sich jedoch mit Felsensteins Deutung, auf den sich Holland nicht umsonst berief. Auch seine Inszenierung übersetzte die Doppelbödigkeit der Situation am Ende der Arie in eine eindeutige Relation. Er verstand die Arie als prozeßhaften Vorgang, in dem Susanna ihr Innerstes offenlegt: »Und dann auf einmal, während sie singt, beginnt sie die geplante Teufelei zu vergessen. Und sie vergißt sie immer mehr, denn sie liebt ja nur Figaro und ist ihm treu. An die Stelle des Grafen, den sie ursprünglich als imaginäre Figur benützte, um sich an Figaro zu rächen, tritt in ihrem Inneren Figaro selbst. So wird aus ihrer Rache-Arie eine LiebesArie. Das ist eine der größten Erfindungen, die je für das Theater geschrieben wurden, die Erfindung eines Dramatikers, der sich mit Shakespeare messen kann.«188 Im Accompagnato-Rezitativ spielte Susanna dem versteckten Figaro leidenschaftliche Posen vor, und beobachtete ihn dabei stets. »Susanna setzt das Spiel fort, dessen Leidenschaft bei aller Übertreibung unheimlich echt wirkt, da die Quelle ihrer erotischen Demonstration nichts anderes sein kann als ihr Empfinden für Figaro.«189 Am Ende des Rezitativs legte sie sich auf den Boden, breitete verführerisch die Arme aus und umschlang einen imaginären Geliebten.190 An der Stelle, bei der Kunze und Holland den dramatischen Umschlag konstatieren, wandte sich Felsensteins Susanna an Figaro: »Susanna sitzt und kniet auf. Figaro hört gebannt und bewegungslos zu, ihm ist beinahe, als wäre er gemeint. Susanna steht auf, ihre Gebärde zu einem vor ihr Sitzenden läßt die ihr unbewußte Beziehung zu Figaro vermuten.«191 Der emotionale Prozeß war damit abgeschlossen. Dem Zuschauer in der Komischen Oper wurde in aller Eindeutigkeit vorgeführt, was der von Mozart intendierte Zuschauer selbst aus der Situation schließen darf. Susannas Arie stand bei Felsenstein darüber hinaus nicht für sich allein, sondern sie beglaubigte zusätzlich noch Figaros Arie »Aprite un po' quegl'occhi«, die in seiner Inszenierung im Unterschied zur Reihenfolge in der Partitur erst hier folgte und damit ihren in der Opera buffa nicht ungewöhnlichen sentenziösen Charakter verlor, dem der Regisseur - aus seiner Sicht verständlich - entgehen wollte.

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Klavierauszug, S. 418, Takt 32ff., vgl. die Partiturseite in Kunze 1984, S. 302, »coll'arco«. Kunze 1984, S. 301. Holland 1982, S. 27. Felsenstein/Melchinger 1961, S. 34. Zitat aus Felsensteins Regie-Entwurf nach Kobän 1980, S. 82. Kobän 1980, S. 83. Kobän 1980, S. 84. 41

8. Die Akzentuierung der Fabel Felsensteins Akzentuierung der Fabel ist für das musikalische Theater keineswegs selbstverständlich.192 In der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts, die gleichsam als Paradigma der Gattung bezeichnet werden kann, bildet sie tendenziell ein untergeordnetes Element, wenn man vom Begriff der Fabel als erzählbarer Handlung und Substanz eines Dramas die Kategorie der Intrige als Vehikel zur Herbeiführung von Situationen unterscheidet, in denen sich die Affekte musikalisch entladen. Die Unterscheidung zwischen der Fabel als Substanz und der Intrige als bloßem Vehikel theatralischer Darstellung hat einschneidende dramaturgische Folgen. Die Fabel lebt von der Spannung auf den Gang der Handlung und ihr Ende; um nicht den Vorwurf dramaturgischer Brüchigkeit auf sich zu ziehen, muß die Handlung daher durch ihre Logik zwingend wirken. Die Intrige dagegen funktioniert als bloßes Werkzeug, das szenischmusikalische Bilder ermöglicht, deren Spannung in der Konfiguration des Augenblicks liegt, nicht in den Zusammenhängen, die den sichtbaren Moment mit der Erwartung von Späterem und der Erinnerung an Früheres verknüpfen. Der Gegensatz beider Typen von Handlung tritt entscheidend zutage, wenn man sich die wechselnde Bedeutung bewußt macht, welche der Vorgeschichte der Handlung in der Fabeloper im Unterschied zur Intrigenoper zufallt. Ein Regisseur, der wie Felsenstein die Fabel zur Substanz des musikalisch gefaßten Dramas erklärt, muß sich um die Verdeutlichung der Vorgeschichte bemühen, die er als notwendige Voraussetzung zum Verständnis der szenischen Vorgänge empfindet.193 Naheliegend ist die vor allem von Friedrich und Kupfer eingeführte und bis heute von zahllosen Nachahmern praktizierte pantomimische Darstellung der Vorgeschichte oder Ausgangskonstellation während der Ouvertüre, auf die Felsenstein noch verzichtete. Dennoch war bei der Zauberflöte die Vorgeschichte von Beginn an im Theater gegenwärtig. Während der Ouvertüre blickte der Zuschauer nicht auf einen neutralen Vorhang, sondern auf eine Kurtine, auf der Paminas Vater dargestellt war, wie er - analog zu einer Textstelle aus der Feuer-und-Wasserprobe - die Flöte schnitzte.194 Die Vorgeschichte wurde damit in Felsensteins Fabel-Erzählung wirklich zu ihrem Ausgangspunkt, weil sie das erste Bild war, das der Zuschauer im Theater zu sehen bekam. Beim Opemtypus, dessen Kriterium nicht die Logik der Handlung bildet, sondern die Drastik der szenisch-musikalischen Situation, ist die Vorgeschichte nahezu ohne Belang. Die Vertauschung der Kinder im Troubadour braucht man nicht restlos zu durchschauen, um von der Konstellation zwischen Manrico, Leonora, Luna und Azucena beeindruckt zu sein. Auch ohne Entwirrung der Vorgeschichte wird die dramatische Spannung als Spannung isolierter Situationen ungeschmälert wirksam.195 Überträgt man diese opernästhetische Einsicht auf die Zauberflöte und die Rolle des

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Die folgende Darstellung lehnt sich eng an Dahinaus 1982a, S. 240ff. und 1992, S. 87ff. an. Dahinaus 1982a, S. 240, der sich an dieser Stelle offenkundig auf Felsenstein oder Götz Friedrich bezieht, ohne ihre Namen zu nennen. Friedrich 1958, S. 98. Vgl. Dahinaus 1982a, S. 241 und 1992, S. 104.

titelgebenden Requisits, so ist für die Fabel entscheidend, daß sich Pamina in der Feuer-und-Wasserprobe ihres Vaters und der Flöte entsinnt: Nicht allein der vermeintliche Verlust des Geliebten löst Paminas Selbstmordversuch aus, sondern auch der Fluch der Mutter, die sich in ihrer zweiten Arie von der Tochter loszusagen droht, falls sie Sarastro nicht ermorde. Erst durch den Bezug auf den Vater erhält die Liebe zwischen Tamino und Pamina wieder eine Legitimation der Elterngeneration, die sie durch Taminos Frontwechsel und Paminas implizite Entscheidung gegen ihre Mutter und für Sarastros Leben verloren hatte. Legitimiert durch den Rückgriff auf den Vater und durch die Billigung von Paminas Ersatz-Vater Sarastro, in dessen Ordnung sich Tamino integriert, stellt die erotische Beziehung zwischen Tamino und Pamina die gestörte Ordnung der Geschlechter wieder her; in der Konfrontation mit den Elementen in der Feuer-und-Wasserprobe erweist sie sich siegreich und wird so auch vor der Natur legitimiert. Am Ende der Prüfung, die im Libretto als zeitlich simultan mit dem Schlußbild dargestellt wird, bringt sie damit die Auflehnung der Königin der Nacht zu Fall und führt ihren Untergang in dem Augenblick herbei, als sie Sarastros Tempel zerstören will.196 Die Wirkung der Feuer-und- Wasserprobe auf der Bühne kommt ganz und gar ohne die komplizierten Zusammenhänge der Fabel aus, deren Akzentuierung im einzelnen weiterhin kontrovers diskutiert wird. Für das Verständnis der Zauberflöte als Oper in einer konkreten Aufführung ist die Herkunft der Flöte ebenso wie die restlose Kohärenz der Fabel ohne Belang. Der Zuschauer sieht und hört ein musikalisch-szenisches Bild, das als isolierbarer Moment für sich steht: Der Klang der Flöte besänftigt die Gewalt der Elemente, wobei Musik und Bild komplementär eingesetzt werden. Das Bild zeigt Feuer und Wasser; als Musik erklingt ein langsamer, von gedämpften Pauken und Blechbläsern begleiteter Marsch der Flöte, dessen Semantik über musikalische Konventionen offenkundig ist: Dieser Marsch ist ein Trauermarsch; die Musik verweist auf den Gesang der Geharnischten am Beginn des Bildes und auf die von ihnen vorgelesene und für den Zuschauer sichtbare Inschrift über den Pforten, die zu Feuer und Wasser führen. Das Durchschreiten von Feuer und Wasser ist ein metaphorischer Tod, das Ende der Szene eine Wiedergeburt zu neuem Leben als Eingeweihter. Felsenstein setzte keinen der hier skizzierten Inhalte ins Bild, sondern gab der Feuer-und-Wasser-Probe eine andere Bedeutung, die freilich für seine Konzeption und die von ihm erzählte Geschichte zentral war.197 Auch dieses Bild bezog er auf die Fabel, doch wählte er nicht den Rückgriff auf den Vater, sondern eine Antizipation des Finales. Zentraler Gedanke seiner Interpretation der Zauberflöte war nicht der Gegensatz der Geschlechter, sondern der Wandel der Herrschaftsverhältnisse.198 Als Erbe zweier Königreiche und als Eingeweihter vereinigte sein Tamino Staatsmacht und Weisheitslehre auf sich, zugleich wurde das Königtum »in der Demokratie des Ordens«199 aufgehoben. Die Eingeweihten überwanden ihre elitäre Isolierung und durch-

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Vgl. II, 30, KJavierauszug, S. 210, wenn Monostatos die Geräusche der Prüfung vernimmt und davon spricht, sie seien »in des Tempels Hallen«. Friedrich 1958, S. 182ff. Friedrich 1957, S. 1112 und 1958, S. 65f. Friedrich 1957, S. 1112. 43

brachen durch die erstmalige Aufnahme eines Prinzen soziale Schranken.200 Diese epochale Veränderung werde nur dann szenisch sinnfällig, so Felsenstein, wenn man die Beherrschten auf die Bühne bringt: In der Feuer-und-Wasserprobe inszenierte er daher die Hoflhung des Volkes auf einen glücklichen Ausgang der Prüfung und zeigte beim Chor »Triumph, Triumph, du edles Paar« die Volksverbundenheit des neuen Herrscherpaars.201 Zugleich brach Felsenstein mit dem rituellen Moment dieser Szene. Er inszenierte die Prüfung nicht als symbolischen Vorgang, sondern als wirkliche Lebensgefahr und ließ Tamino und Pamina nach dem Gang durch Feuer und Wasser durchnäßt und mit verbrannten Kleidern erscheinen.202 Die Lebensgefahr erschien so nicht als Metapher für die Erreichung eines emphatischen Zustande, sondern als anstrengende körperliche und seelische Belastung. Mit Beginn des Flötensolos betrat das Volk vom Zuschauerraum aus den Proszeniumsbereich.203 Von der Vorbühne aus verfolgte es das Paar beim Prüfungsweg und sollte so zugleich als Fortsetzung des Publikums im Zuschauerraum erscheinen. Von einem Bretterpodest in der Mitte führten von rechts und links Stege in Wasser und Feuer, von dem der Zuschauer nur einen Widerschein wahrnahm. Felsenstein war der Ansicht, daß sich die Gefahr der Elemente nicht glaubhaft darstellen ließe und inszenierte daher die Wirkung auf Menschen, die hoffend die Prüfung beobachten.204 Diese Inszenierung zeigte nicht das szenisch-musikalische Bild einer Oper, sondern gab ihm eine nach Prinzipien des traditionellen Dramas mit Mitteln der Regie veränderte neue Form. Der Akzent lag nicht mehr auf der Vereinigung des Paars, sondern auf der Erleichterung des Volks über die bewältigte Gefahr. Durch die Hinzufügung der Beobachter entstand aus dem szenischen Bild der Vorlage ein dialogischer Vorgang zwischen der Prüfung und ihrer Wirkung auf Betrachter; dabei stand die Wirkung des Vorgangs auf Menschen im Vordergrund, nicht der unsichtbare Vorgang selbst. Nach überwundener Gefahr traten Tamino und Pamina aus der Mitte auf und lagen sich auf dem Podest in den Armen, beim Einsatz des Chors wurden sie heruntergehoben und gingen mit dem Volk nach vorn auf den Zuschauer zu.205 Das Schlußbild fax Zauberflöte brachte eine weitere räumliche Öffnung auf die volle Bühnentiefe; der Chor war weiter verstärkt und strömte als Volk von allen Seiten auf die Bühne, auch aus dem Zuschauerraum. Felsenstein visualisierte sein Konzept von der sozialen Öffnung der Elite durch ein Podest in der Bühnenmitte, auf dem die Eingeweihten und Sarastro anfangs standen. Beim schnellen Teil des Chors206 traten sie herunter, mischten sich unter das Volk und traten mit ihm wiederum langsam nach vom auf den Zuschauer zu.207

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Friedrich 1958, S. 64. Friedrich 1958, S. 65undl80ff. Friedrich 1958, S. 184ff. Friedrich 1957, S. 1114. Friedrich 1958, S. 184f. Friedrich 1958, S. 185. Klavierauszug, S. 216, Takt 846ff. Friedrich 1958, S. 197ff.

Das Spannungsverhältnis zwischen Fabel- und Intrigenstruktur zeigt auch die von Felsenstein gegen die Auffiihrungstradition vorgenommene Öffnung des lange üblichen Strichs in der Auseinandersetzung zwischen Pamina und ihrer Mutter, bei dem die Königin der Nacht die Vorgeschichte ihres Konflikts mit Sarastro berichtet: »Dein Vater übergab - in seiner letzten Stunde den siebenfachen Sonnenkreis den Eingeweihten. Alle Schätze sollten mir gehören. >Aber< - so sprach er - >den siebenfachen Sonnenkreis wird Sarastro so verwalten wie ich bisher. Deine Pflicht, Weib, ist es, dich und deine Tochter der Führung weiser Männer zu überlassen.Volk< auftritt. Jean-Pierre Formelle und August Everding entschieden sich in ihren mehrfach wiederholten Einstudierungen für diese Lösung, die anscheinend auf Felsenstein zurückgeht, der erstmals alle gemischten Chöre der Zauberflöte als Volk begriff.229 Was Felsenstein vor allem durch den Auftritt des Volks in der Feuer-und-Wasserprobe als Gipfelpunkt einer »humanistischen Idee« der Oper und seiner Inszenierung verstand, ist heute zum Klischee abgesunken. Felsenstein begriff den Chor einer Oper nicht

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Dieckmann 1984, S. 232, Friedrich 1958, S. 160. I, 15, Klavierauszug, S. 65f. II, l, Klavierauszug, S. 107. I, 18, Klavierauszug, S. 90. Vgl. Friedrich 1958, S. 65. Zumindest war dies das Selbstverständnis der Inszenierung, vgl. Friedrich 1958, S. 64.

anders als die Hauptrollen. Er sah in ihm eine Gemeinschaft handelnder Menschen, die er stets so individuell wie möglich darzustellen versuchte und deren Akteure auf den Theaterzetteln der Komischen Oper nicht umsonst seit der Zauber/löten-Premiere »Chorsolisten« genannt wurden. Der politische Kontext einer solchen Akzentuierung von Volk in dieser und anderen Inszenierungen Felsensteins liegt auf der Hand. Der Chorauftritt am Ende des ersten Akts war der wohl am vordergründigsten politische Teil der Inszenierung. Hier schreckte der Regisseur vor keiner szenischen und der Autor der Dokumentation vor keiner sprachlichen Platitüde zurück. Sarastro trat in Anlehnung an eine sehr beiläufige Stelle des Texts als Jäger auf.230 Er trug einen Falken auf der Hand, den er einem Begleiter übergab. Felsenstein betonte schon beim ersten Auftritt Sarastros nicht den Eingeweihten, sondern den volksverbundenen Tatmenschen, der vom auftretenden Volk als gerechter Herrscher begrüßt wurde.231 Felsenstein unterlief allzu penetrantes Pathos, indem er die auf der Bühne erzählte Handlung des ersten Akts nicht mit einem Akzent auf dem Jubel enden ließ, sondern in der Anknüpfung an die Fortsetzung des Geschehens. Pamina blieb allein auf der sich beim Orchesternachspiel leerenden Bühne und blickte auf die Tür, durch die Tamino und Papageno von Dienern hinweggeführt worden waren.232 Den Schlußchor des ersten Akts deutete die Inszenierung in Anlehnung an den Text als Hoffnung des Volks auf eine bessere Zukunft. Wenn die Sätze über Tugend und Gerechtigkeit »aus dem hoffenden Mund des Volks kommen, sind sie wirklich eine Forderung und drücken zugleich die gläubige Überzeugung der Menschen aus, daß dieses Ziel von Sarastro und dem Bund erreicht werden kann.«233 Sarastro war von diesem Jubel zuerst überrascht, dann streckte er den Menschen die Hände entgegen, »der starke Druck besiegelt den Bund, der ihm wiederum Kraft gibt für die bevorstehende schwere Auseinandersetzung mit seinen Ordensbrüdern.«234 Daß es sich dabei nicht um eine Phrase handelt, beweisen die Fotos der sich glücklich umarmenden Landleute in Friedrichs Dokumentation. Bezeichnenderweise inszenierte Wolfgang Langhoff, der wohl profilierteste Schauspielregisseur Ost-Berlins, ungefähr zur gleichen Zeit den Osterspaziergang in Faust I als üppiges Volksfest mit opernhaften Zügen, in dessen Mittelpunkt beim Gespräch Fausts mit dem alten Bauern, so die Formulierung der offiziösen DDR-Theatergeschichte, »die gesunde Beziehung des Gelehrten Faust zum werktätigen Volk« zum Ausdruck gebracht werden sollte.235 Schon dieses Detail vermag zu illustrieren, daß Felsensteins Zauberflöten-lnszenierung und die Regiepraxis an der Komischen Oper in enger Verbindung mit der DDR-Kulturpolitik der fünfziger Jahre standen, wenn auch Friedrichs Dokumentation auf alle rituellen Zitate verzichtet und an der Oberfläche unpolitisch erscheint. Felsenstein selbst glaubte, in der Zauberflöte »ganz einfach revolutionäre Anklänge«236 zu

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I, 14, Klavierauszug, S. 60. Friedrich 1958, S. 138ff. Friedrich 1958, S. 142. Friedrich 1958, S. 65. Friedrich 1958, S. 141f. (mit Abbildung). Mittenzwei 1972, S. 321. Felsenstein/Melchinger 1961, S. 50. 49

finden. Was darunter zu verstehen sei, präzisierte der Regisseur nicht. Bei Friedrich heißt es dazu lapidar: »Die Idee der Zauberflöte wurzelt in den politischen und ideologischen Auseinandersetzungen Mitteleuropas zu Ende des 18. Jahrhunderts, sie entsprechen den besten Tendenzen des bürgerlichen Revolutionszeitalters.«237 Friedrich beschwor damit den schon in seiner Diplomarbeit Die humanistische Idee der >Zauberflöte< unterstrichenen Zusammenhang von Schikaneders Libretto mit dem Gedankengut der Aufklärung und der deutschen Klassik, wobei er mit der Mitgliedschaft Schikaneders und Mozarts bei den Freimaurern primär biographisch argumentierte. Die Inszenierung, an deren dramaturgischer Vorbereitung Friedrich beteiligt war, versuchte dies auf der Bühne umzusetzen. Sie verstand die Eingeweihten als gesellschaftliche Elite, die zwar der Erneuerung bedürfe, stets jedoch dem Interesse des Volks verpflichtet sei: »Jeder Mensch - niemals aber ein Angehöriger einer Dynastie - hat die Möglichkeit, Mitglied des Ordens zu werden [...]. Uralt ist dessen Lehre: wie die Menschen zu brüderlicher Achtung und Liebe gelangen und schließlich zu einem Leben frei von Ausbeutung und Unterdrückung.«238 Das bei Schikaneder nur abstrakt beschworene und vor allem im Zusammenhang mit der freimaurerischen Metaphorik zu verstehende Arbeitsethos der Eingeweihten wußte Felsenstein ganz konkret zu füllen: »Nicht Dogmen-Verkündung, nicht Weltflucht, sondern ein Leben hilfreicher Tat soll des Menschen Erneuerung herbeiführen, soll ihn reif machen für den Gedanken des Friedens, der Bruderschaft der Völker. [...] Der Begriff Weisheit umschloß philosophische Erkenntnisse und praktische Erfahrungen aus dem Kampf mit den Naturkräften und der Anwendung der Naturgesetze. Jeder Eingeweihte geht einem Beruf nach. Die vom Orden ausgesandten Geweihten heilen Seuchen, dämmen Flutkatastrophen, legen Kanäle an, erschließen Ackergebiete, bauen Straßen und Siedlungen.«239 Von diesen menschenfreundlichen Taten steht in Schikaneders Libretto kein Wort, bloß Kanäle im Machtbereich Sarastros werden an einer Stelle beiläufig erwähnt.240 Sie ermöglichten jedoch die assoziative Anknüpfung an ein Werk, das nicht nur dem Bildungsbürgertum, sondern auch der Kulturpolitik der DDR heilig war: Gemeint ist die Szene »Großer Vorhof des Palasts« am Ende des zweiten Teils von Goethes Faust.™ Die Lemuren schaufeln dort auf Mephistos Befehl das Grab Fausts, während dieser von großen Plänen träumt. Das Klirren der Spaten hält Faust für die von ihm befohlenen Arbeiten zur Gewinnung von Neuland aus dem Meer. In seinen letzten Worten spricht Faust von der Trockenlegung eines Sumpfs und seiner Besiedelung durch »freies Volk auf freiem Grund«. Spätestens seit einer Rede, die Johannes R. Becher 1949 anläßlich von Goethes 200. Geburtstag hielt, wurde diese Stelle seitens der Kulturfunktionäre der SED als Vorwegnahme der neu aufzubauenden sozialisti-

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Friedrich 1958, S. 51 bzw. wortgleich in Friedrich 1957, S. 1107. Friedrich 1957, S. 1110f., in indirekter Rede mit der Bemerkung, es gäbe keine Stenogramme oder Tonbandaufzeichnungen. Bei Friedrich 1958, S. 62 erscheint dieselbe Passage als direkte Rede Felsensteins. Friedrich 1957,8. lllOf. l, 9, Klavierauszug, S. 56. Vgl. Felsensteins Textfassung, Friedrich 1958, S. 208. Fpositiven Heldem, den die Ideologen des sozialistischen Realismus von den Künstlern forderten, aber selten genug bekamen, zum Verwechseln ähnlich. Felsenstein sorgte für ein künstlerisch perfektioniertes und zugleich unpolitisches Theater, das indirekt eine politische Funktion wahrnahm und so zum idealen Aushängeschild der DDR-Kulturpolitik werden konnte. Die Komische Oper erweist sich damit als Musterbeispiel für die kulturpolitische Strategie der SED, nichtmarxistische Künstler unter Berufung auf den übergreifenden Gedanken des Humanismus und des kulturellen Erbes an sich zu binden.

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Mittenzwei 1986, Bd. 2, S. 478f. Zitiert nach Komische Oper 1954, S. 185. 53

Staats-Oper: Opernregie im sozialistischen Realismus

Unmittelbar nach der Gründung des zweiten deutschen Staates machte sich die SED an eine umfassende Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft nach sowjetischem Vorbild. Davon blieb auch die Kultur nicht verschont. Im Stil einschlägiger KPdSUBeschlüsse und Tonfall Andrej Shdanows wurden eine dem Volk unverständliche moderne Malerei und die verzerrte Melodik moderner Opern angeprangert. Der sozialistische Realismus wurde zum Maß aller Kunst. Noch vor Gründung der DDR setzte ein Propagandafeldzug gegen »Formalismus und Dekadenz« ein, den erst der Tod Stalins und das innenpolitische Tauwetter nach der Rebellion der Arbeiter von 1953 beendete.1 Die Diffamierungskampagne, deren Beginn häufig auf die Gründung einer staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten im Juni 1951 oder die Entschließung »Der Kampf gegen den Formalismus in Literatur und Kunst, für eine fortschrittliche deutsche Kultur« auf der 5. Tagung des ZK der SED im Frühjahr desselben Jahres datiert wird,2 wurde bereits mehr als ein Jahr zuvor durch Angriffe auf die Berliner Opernszene eingeläutet. Damit orientierte sich die SED offensichtlich auch taktisch an sowjetischen Rezepten, hatte sich doch das Zentralkomitee der KPdSU von 1948 an der angeblich mißglückten Oper Die große Freundschaft des Komponisten Wano Muradeli gestört, während sich die Kampagne tatsächlich gegen das gesamte kulturelle Leben richtete. Die SED wählte den gleichen kulturellen Nebenkriegsschauplatz, und der erste Angriff im Frühjahr 1950 traf eine Oper von Carl Orff, der noch im Vorjahr einen Deutschen Nationalpreis 3. Klasse für Die Kluge erhalten hatte. Vom Publikum und der Presse wurde seine Antigonae nach der Dresdner Premiere begeistert gefeiert. Nur die Sächsische Zeitung entlarvte diese Oper als reaktionären Schwindel, mit dem ein Werktätiger nichts anfangen könne:3 »Ein Werk, das so ausgesprochen konstruiert ist, das absichtlich verleugnet, daß ohne Orientierung auf die großen Epochen der Musik, ohne Studium der Musik aus dem Volke keine Wirkung erzielt werden kann, außer Zersetzung und Direktionslosigkeit, kann kein Beitrag zu einer fortschrittlichen Theaterkultur sein.« Der gezielte Verriß konstatiert neben »Mystizismus«, »Amerikanismus« und »Kosmopolitismus« die Überbetonung der Form, mangelnde Volksverbundenheit und das Fehlen einer eindeutigen Botschaft. Beim Gastspiel der Dresdner Inszenierung an der Berliner Staatsoper im März 1950 wurde Orffs Werk (und

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Vgl. Mählert 1998, S. 56ff. und Jäger 1995, S. 29ff. zum kulturpolitischen Kontext, sowie Stuber 1998 zum Theater. Vgl. Jäger 1995, S. 34f. Stuber 1998, S. 115ff., das Zitat ebd. S. 116.

nebenbei auch Hölderlin) wegen der Verkehrung des »für uns entscheidenden humanistisch-demokratischen Gehalts des Sophokles-Dramas ins Kultische, ins Mystisch-Archaische« angegriffen. In dieser Deutung werde der »revolutionäre Dichter« vergewaltigt, »der ein Vorkämpfer gerade jenes gesellschaftlichen Fortschritts war, durch den die attische Kultur ihre dunklen Ursprünge überwand.«4 Weitere Aufführungen wurden unterbunden, doch Musik und Gesellschaft hoffte noch 1955 anläßlich von Orffs 60. Geburtstag auf neue volkstümliche Werke im Stil des Monds und der Klugen, die von DDR-Theatern nach wie vor gespielt wurden.5 Im Herbst verschärfte sich der Ton: Am 19. November 1950 erschien in der Täglichen Rundschau, dem amtlichen Organ der sowjetischen Besatzungsmacht, der grobe Verriß einer Neuinszenierung von Michail Glinkas Oper Ruslan und Ludmilla an der Deutschen Staatsoper, in deren Leitung sich »eine Handvoll talentloser Mystiker und Formalisten« eingeschlichen habe.6 Die bereits gegen Antigonae ins Feld geführten Parolen, die in der Folgezeit zur Diskreditierung moderner Kunst unablässig wiederholt wurden, kehrten wieder: Auch die Glinka-Inszenierung wurde nicht nur der Nähe zur »modernen amerikanisierten Barbarei in der Kunst« bezichtigt, sondern zusätzlich wegen eines »mystischen Symbolismus« angegriffen, da sich die meisten szenischen Vorgänge im »Halbdunkel« abspielten. Das Volk brauche jedoch eine »Kultur, die sein Leben hell erleuchtet, die die Werktätigen zum Kampf für die neue Gesellschaft begeistert [...], die es vorwärts ruft, fort von aller Mystik, von jedem Schatten, von jeder Dekadenz und Zersetzung«.7 Die Aufführung wurde abgesetzt und die Oper vom Intendanten Ernst Legal neu inszeniert. Bereits einige Wochen zuvor hatte das Neue Deutschland die Komische Oper wegen der Aufführung von Darius Milhauds Der arme Matrose kritisiert, worauf die zusammen mit Puccinis Gianni Schicchi gespielte Oper nach nur acht Vorstellungen wieder vom Spielplan genommen wurde.8 Dies überrascht durchaus, sollte doch die Kombination beider Werke laut Besetzungszettel in ihrer gemeinsamen »stofflichen Beziehung zum Geld und Geldeswert [...] mit brutaler Offenheit die Verkettung der Macht des Geldes mit dem Verbrechen« bloßlegen.9 Der Regisseur Oscar Fritz Schuh hatte die Handlung von Puccinis musikalischer Komödie vom 13. Jahrhundert in die Zeit Balzacs und Daumiers verlegt, da zwischen der »Gesinnungslosigkeit der Vorgänge und dem, was die beiden großen französischen Meister gegeißelt haben«, ein enger Zusammenhang bestünde. Nur die zweite Hälfte des Einakter-Abends, deren mora-

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Zitiert nach Kühle 1957, S. 274, vgl. Jäger 1985, S. 41. Musik und Gesellschaß, Heft 7, 1955, gegenüber Inhaltsverzeichnis. Vgl. Stuber 1998, S. 109ff. und 115, zur Identität Orlows S. 113. Die Zitate nach Lucchesi 1993, S. 47, der den Text vollständig wiedergibt. Regisseur der Aufführung war Paul Schmidtmann (Quander 1992, S. 441), nicht Ernst Legal (Stuber 1998, S. 109), der erst die korrigierende Neuinszenierung am 20.5.1950 verantwortete. Lucchesi 1993, S. 47ff. Vgl. Neues Deutschland, 24.10.1950, S. 7, auszugsweise in Kühle 1957, S. 275. Besetzungszettel Der arme Matrose/Gianni Schicchi, Premiere am 20.10.1950. Zu diesem Zeitpunkt erschienen noch keine Programmhefte.

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lisierend-antibürgerlicher Affekt für die meisten Inszenierungen der Komischen Oper typisch war, blieb im Spielplan. Orlows Verriß der Glinka-Inszenierung löste nach den Worten von Theater der Zeit eine »tiefschöpfende Diskussion über Probleme des Formalismus und Realismus in der Kunst aus, an der sich nicht nur die bedeutendsten Fachleute in Wort und Schrift beteiligten, sondern an der auch die Werktätigen der Deutschen Demokratischen Republik teilnahmen und dadurch ihr Interesse an der Entwicklung unseres kulturellen Lebens erneut bewiesen.«10 Zu den Fachleuten zählte neben Hans Rodenberg, Kurt Schwaen, Gustav von Wangenheim, Karl Kayser und Wolfgang Langhoff auch Walter Felsenstein,11 dessen Wortmeldung ohne jeden Hinweis auf den brisanten Zusammenhang mit dem unauffälligen Titel Beitrag zu einer Theater-Diskussion in der Tageszeitung >Tägliche Rundschau< in die Schriftenausgabe von 1976 aufgenommen wurde.12 Felsensteins Vision eines neuen Opernstils, bei dem »Menschendarsteller den Gesang zu ihrem überzeugendsten Ausdrucksmittel entwickeln« und der auch das Schauspielpublikum für die Oper gewinnen könnte, ist für sich genommen unverfänglich. Vor dem Hintergrund der anlaufenden Kampagne mußte sie allerdings als demonstratives Bekenntnis zur kulturpolitischen Linie der SED wirken, zumal Felsenstein einleitend auf das Verdienst der Täglichen Rundschau hinwies, innerhalb der »erfreulich lebhaften Diskussion um das Theater besonders dem Problem der Oper einen starken Antrieb« gegeben zu haben. Auch wenn eine von der sowjetischen Besatzungsmacht mißbilligte Operninszenierung den unmittelbaren Auslöser der antiformalistischen Kampagne lieferte und das Scheitern von Hanns Eislers Faustus-Projekt sowie die umstrittene Uraufführung von Paul Dessaus Lukullus-Oper ungleich bekanntere Opfer der Diffamierung wurden, konzentrierte sich die Kritik auf massenwirksamere Formen wie bildende Kunst, Literatur und Film. Normative Positionen zur Opernregie wurden nie ausdrücklich formuliert, sie sind jedoch indirekt aus Kritiken und Polemiken ersichtlich, die im SED-Organ Neues Deutschland sowie den Zeitschriften Theater der Zeit und Musik und Gesellschaft erschienen. Vor ihrem Hintergrund wird die Wertschätzung von Felsensteins Regiestil durch die Kulturpolitik der SED und die großzügige finanzielle Ausstattung der Komischen Oper besser verständlich. Der Begriff »Realismus« wurde zur Worthülse für politische Korrektheit entleert; gemeint war eine an den kulturellen Traditionen des 19. Jahrhunderts orientierte, dem sozialistischen Aufbau verbundene optimistische Kunst, die sich nicht in sich selbst und in ihrem Formenspiel erfüllen sollte, sondern eine Wirklichkeit glaubhaft vor Augen führte, in der positive Helden vor dem Hintergrund eines ständigen Konflikts zwischen Alt und Neu dem Fortschritt zum Durchbruch verhelfen. Als formalistisch und dekadent galten alle Kunstformen in der Nachfolge der Avantgardetradition der zwanziger Jahre und des Expressionismus, insbesondere die nicht-gegenständliche Malerei, sowie die von der zweiten Wiener Schule oder dem »Kosmopoliten« Igor Strawinsky beeinflußte Musik. Formalistisch

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Glinkas »Ruslan undLudmilla« in der Staatsoper, in: Theater der Zeit, 1952, Heft 12, S. 23. Vgl. Stuber 1998, S. 110, der Felsensteins Äußerung entgangen ist. Felsenstein 1976, S. 33.

war aber auch eine Kunst, die auf eine eindeutige inhaltliche Botschaft verzichtete, bestimmten taktischen Interessen der SED widersprach oder einfach nur einem hohen Funktionär mißfiel. Sogar bunte Kleckse auf einem Theaterplakat, die schwarzweiße Friedenstaube Pablo Picassos auf der Kurtine des Berliner Ensembles oder die BrechtGardine, die keine festliche Stimmung beim Zuschauer auslöste wie die prächtigen Vorhänge des Sowjet-Theaters, wurden des Formalismus verdächtigt.13 Die Schlagworte »Formalismus« und »Realismus« wurden aus taktischen Gründen niemals präzis definiert, und die unüberhörbare Nähe zu Nazi-Argumentationen scheint die SED ebensowenig gestört zu haben wie teilweise eine diesbezügliche personelle Kontinuität im Musikjournalismus.14 Die kanonische Formel von Friedrich Engels aus einem Brief an Margaret Harkness versteht unter Realismus, außer der Treue in den Details, die Darstellung »typischer Charaktere unter typischen Umständen.«15 Ob eine Figur »typisch« sei, wurde zur obligatorischen Meßlatte der Literaturund Filmkritik in der DDR, für die das materialistische Geschichtsbild oder die festgelegte Parteilinie scheinbar objektive Kriterien bereithielt.16 Dennoch war der sozialistische Realismus niemals nur eine reine Propagandakunst. Er versuchte in der Sowjetunion an vor-avantgardistische Traditionen wie den russischen Realismus des 19. Jahrhunderts und in der DDR an die Weimarer Klassik anzuknüpfen, die zu seinen Vorläufern umfunktioniert wurden.17 Schon auf dem Moskauer Schriftstellerkongreß von 1934, der das Ende der russischen Avantgardebewegungen der zwanziger Jahre besiegelte und bei dem der sozialistische Realismus für die gesamte Kunst im sowjetischen Machtbereich zur verbindlichen Methode proklamiert wurde, prägte Andrej Shdanow zwar die berühmt-berüchtigte Formel von der ideologischen Erziehung der Werktätigen durch die Schriftsteller als »Ingenieure der menschlichen Seele«. Doch koexistierte mit dieser forcierten Politisierung von Kunst auch in der Sowjetunion Maxim Gorkis ethisch-utopistische Definition, die mit dem Menschen- und Weltbild von Felsensteins Zauberflöte ohne weiteres in Deckung zu bringen wäre: »Der sozialistische Realismus bejaht das Dasein als Handeln, als schöpferische Tätigkeit, deren Ziel die ständige Entwicklung der wertvollsten individuellen Fähigkeiten des Menschen für den Sieg über die Naturkräfte ist, für ein gesundes und langes Leben, für das große Glück, auf der Erde zu leben, die der Mensch entsprechend seinen wachsenden Bedürfhissen in eine schöne Wohnstätte der zu einer Familie vereinigten Menschheit verwandeln will.«18 Die ersten Regiearbeiten Felsensteins aus der Zeit unmittelbar nach der Eröffnung der Komischen Oper waren wegen ihrer Dominanz des Theatralischen und der mäßigen musikalischen Qualität der Aufführungen vielfach umstritten, ihr künstlerischer Rang wurde jedoch bald allgemein anerkannt. Mit der 1949 von Otto Klemperer

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Vgl. die Beispiele in Jäger 1995, S. 35 und 65f. Zu Karl Schönewolf und Karl Laux vgl. Prieberg 1982, S. 140, 167 und 354. Marx/Engels/Lenin 1981, S. 398, vgl. Jäger 1995, S. 43. Vgl. als beliebiges Beispiel Walter Siegmund-Schulze, Zur Frage der typischen Charaktere in der deutschen Oper, in: Musik und Gesellschaft, 1953, Heft 4, S. 4. Vgl. Groys 1988, S. 52f. Zitiert nach Jäger 1995, S. 40. 57

musikalisch einstudierten Carmen setzte sich die Neugründung endgültig durch, und die anfangs den Spielplan beherrschenden Operetten verschwanden in den folgenden Jahren. Das Neue Deutschland und Theater der Zeit rezensierten die Aufführungen ebenso zustimmend wie die westdeutsche Presse. Als Ausdruck offizieller Wertschätzung erhielt Felsenstein während der Antiformalismus-Kampagne dreimal den Nationalpreis, 1950 im Kollektiv für die Verkaufte Braut, 1951 für die Freischütz-Inszenierung und 1956 für Das schlaue Füchslein und Die Zauber/löte.19 Anläßlich des dreijährigen Bestehens der Komischen Oper erschien 1950 unter dem Titel »Schöpferische Verwandlung - Zur Erneuerung des Opemtheaters« in Theater der Zeit ein Aufsatz von Karl Schönewolf, der in dieser Zeitschrift und im Neuen Deutschland dogmatische Positionen des sozialistischen Realismus in musikalischen Fragen verfocht. Die Formulierungen dieser ersten umfangreicheren Beschreibung von Felsensteins Theaterstil, die noch vor den ersten größeren Publikationen der Komischen Oper erschien, prägen das Bild Felsensteins und seiner Bühne bis heute.20 Schönewolf stilisiert den Regisseur zum »mit unermüdlicher Ausdauer von morgens bis mitternachts« arbeitenden Künstler, der sich mit der »neu werdenden Gesellschaft der Deutschen Demokratischen Republik verbunden« fühle und daher alle Angebote ausländischer Opernhäuser einschließlich der New Yorker MET ablehne, um sich auf die Leitung der Komischen Oper zu konzentrieren, wo sich eine grundsätzliche Reform des Darstellungsstils abzeichne. Im Geist eines Kampfes »aller großen Musikdramatiker, durch den die gesellschaftliche Entwicklung mit vorangetrieben wurde und bei dem sich stark erzieherische Kräfte entfalteten«, wende sich auch Felsenstein »gegen den Schlendrian, gegen die Unwahrheit der Mittel und gegen den oberflächlichen Genuß - gegen alle rückschrittlichen Kräfte also, die Verdi mit einem Wort treffend >Gewohnheitsunfug< zu nennen pflegte«. Felsensteins Arbeit richte sich gegen eine Form der Operndarstellung, die »in kapitalistischen Ländern« das musikalische Theater zum Vergnügungsbetrieb einer reichen Oberschicht habe verkommen lassen. In diesem Kampf gegen die Konvention sei sich Felsenstein trotz gegensätzlicher ästhetischer Mittel mit dem Dramatiker Brecht einig. Schönewolfs Felsenstein ist ein Reformator der Oper, der im unerschrockenen Kampf gegen die Konvention durch seine Inszenierungen »das Original in der Ursprünglichkeit und Wahrhaftigkeit der Aussage wiederherzustellen oder besser überhaupt erstmals zu enthüllen« vermag. Mehr noch: »Felsenstein entreißt sie dem Schlendrian, dem >GewohnheitsunfugAbsoluten.. .und immer wieder.. .< ersetzt den Kuß.«109 Derselbe Brief führt den Tod Otellos nicht auf seine durch den Dolch selbst zugefügten Verletzungen zurück, sondern auf einen wohl kaum rein medizinisch gemeinten Herzkrampf, der sich als Rückgriff auf die Erschütterung Otellos im Liebesduett verstehen läßt, das Felsenstein als Anfang vom Ende betrachtete. »Nach Ihrem Satz >Laß' mich dich küssem müssen Sie noch so viel Platz haben, um sich das letzte Stück zu ihr hinzuschleppen. Durch diese Anstrengung krampft sich das verwundete Herz so zusammen, daß der Kuß auf dem musikalischen Höhepunkt nicht mehr zustande kommt und Sie rücklings zusammenbrechen.« Wenn Otello als Märtyrer der Liebesidee untergeht, kann man im strengen Sinn trotz tragischer Dialektik nicht von Tragik sprechen. Die Einbeziehung von Otellos Außenseitertum im Geist Shakespeares und die vordergründig sozialkritische Ausdeutung der Vorgeschichte diente Felsenstein dazu, die Oper Verdis durch die Konstruktion einer tragischen Dialektik an ein normatives Tragödienverständnis aus dem Sprechtheater anzunähern. Auch wenn der Regisseur glaubte, damit das in Verdis Partitur enthaltene Regiebuch gleichsam objektiv zu verwirklichen, erzählte er auf der Bühne die Geschichte, die wie immer vor allem seinem idealistischen Liebesverständnis und seinem Theaterkonzept des handelnden Menschen entsprach.

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Regiechronik Otello, S. 17. Regiechronik Otello S. 19. Friedrich 1961, S. 43, Brief Felsensteins an Hanns Nocker vom 11.10.1959, Rep. 010, III, c, 4, Nr. 174 (14). Hervorhebung im Original.

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Carmen: Die »ungeheuere Verwechslung des Liebesobjekts«

l. Bizets Carmen als offenes Kunstwerk Der dauerhafte Erfolg von Carmen beruht nicht nur auf der populären und zugleich komplexen Musik Bizets, sondern auch auf der Thematik des Librettos und seiner formalen Disposition. Diese Oper formuliert in den beiden gegensätzlichen Frauenfiguren, zwischen denen Jose schwankt, den Widerspruch zwischen Intensität und Dauer in der Liebe und damit das Liebesparadox der Moderne.1 Dem kurzen Verweilen zweier Liebender, das der Leidenschaft zugeschrieben wird, widerspricht die lange Zeit, die eine Ehe dauern soll. Carmen verspricht Leidenschaft, aber ohne Dauer, Micaela Beständigkeit, dafür ohne Intensität. Im Libretto von Carmen ist die Behauptung einer Figur, sie sei verliebt, überaus vieldeutig. Wenn Carmen am Ende des ersten Akts bereit ist, Jose zu lieben, falls er sie laufen ließe,2 heißt das offenkundig, daß sie bereit ist, mit ihm zu schlafen, wenn sie mit seiner Hilfe dem Gefängnis entgeht. Doch sie liebt nicht aus Berechnung. Denn die Akazienblüte wirft sie Jose zu, ehe sich aus dieser Liebeserklärung ein Vorteil schlagen läßt. Carmen findet Jose auch schon vorher schön und begehrenswert. Während er ihretwegen im Gefängnis sitzt, weist sie Joses Leutnant ab und selbst Escamillo, von dem sie sich angezogen fühlt, schickt sie mit den kühlen Worten fort, er könne sie lieben, wenn er dazu Lust habe, aber daran, von ihr geliebt zu werden, sei derzeit nicht zu denken. Escamillo folgt dem Rat, mit dem sie ihn im zweiten Akt tröstet: Warten sei nicht verboten und Hoffen immer angenehm. Im Bewußtsein, daß Carmens Liebe unbeständig ist, kommt er später zur rechten Zeit ins Lager der Schmuggler. Der vierte Akt zeigt, daß sie ihn so leidenschaftlich liebt, wie sie zuvor Jose begehrte: In dem kleinen Duett mit Escamillo bekennt sie ihm, sterben zu wollen, wenn sie jemals einen Mann mehr geliebt habe als ihn. Wenn dagegen Jose ihr im zweiten Akt gesteht, daß er sie liebe und nie zuvor eine Frau sein Innerstes so berührt habe wie sie, wünscht er eine dauerhafte Bindung, die über die eine Nacht hinausgeht, die Carmen ihm zu gewähren bereit ist. Trotzdem ist Joses Liebe nicht der ranghöchste Wert dieser Figur: Als

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Vgl. Luhmann 1982, sowie Furman 1988, S. 168ff. zu den Liebeskonzepten in Bizets Oper. I, 10, S. 81: »Ich denke (...) an einen bestimmten Offizier, der mich liebt, und den ich meinerseits sehr wohl lieben könnte« (Nr. 9). Zitate aus dem Libretto nach dem Text des Libretto-Erstdrucks in der Übersetzung von Birgit Baitzel (in Csampai/Holland 1984), musikalische Angaben nach Georges Bizet, Carmen, kritische Neuausgabe nach den Quellen von Fritz Oeser, Klavierauszug, Kassel 1964, künftig zitiert als Oeser-Klavierauszug. 101

Carmen ihn auffordert, um dieser Liebe willen zu desertieren, lehnt er ab und verabschiedet sich für immer. Daß er dennoch Schmuggler und Carmens Liebhaber wird, verdankt er der Rückkehr seines Leutnants, der gleichfalls um sie wirbt. Nicht Liebe, sondern seine Ehre verlangt nun, gegen den Vorgesetzten den Säbel zu ziehen, als dieser ihn schlägt. Carmen pfeift nach den Schmugglern, welche die Eifersüchtigen trennen und Jose bleibt keine andere Wahl, als sich ihnen widerwillig anzuschließen.3 Das Libretto verzichtet in singulärer Weise auf jede Spannung zwischen Sexualität und Moral. Leidenschaftliche Liebe ist von Schuld befreit; ihr Scheitern wird als Problem der Einzelperson Don Jose dargestellt, der sich auf eine Liaison mit Carmen einläßt, ohne den Preis fehlender Dauer zahlen zu wollen. Schuldig wird am Ende Jose, der Mörder, nicht Carmen, die ihn verließ. Sie täuscht ihn nicht über die Flüchtigkeit ihrer Gefühle: Sie liebt unter den Prämissen der Habanera, die Jose zu hören bekommt, ehe sie ihm die Blüte hinwirft. Ist Carmen wirklich bereit, länger mit Jose zusammenzuleben? Oder erinnert sie sich an Dancairos Vorschlag, ihn als Schmuggler zu werben, was sie mit der Bemerkung quittiert, er sei zwar schön, aber ein Dummkopf. Doch warum sollte ein degradierter Soldat nicht auch desertieren? Carmen ist sich ihrer Wirkung auf ihn ebenso sicher, wie sie seine Naivität durchschaut, ihn mit »mein Sohn« anredet und von oben herab behandelt. Daß er sich mit dem zurückkehrenden Zuniga schlagen würde, kann sie nach seiner eifersüchtigen Reaktion erwarten, als sie ihm erzählt, sie habe für die Offiziere getanzt. Doch die These von Carl Dahlhaus, die dramaturgische Pointe von Joses Arie im zweiten Akt bestehe darin, »daß sie das Gegenteil dessen bewirkt, was sie bewirken soll: nicht Rührung, sondern den Umschlag einer flüchtigen Zuneigung [Carmens, R.B.] in den Entschluß, Joses Passion auszubeuten«,4 ist insofern fragwürdig, als von Ausbeutung nicht die Rede sein kann. Denn wie in der Logik des Texts Liebe als Leidenschaft und Liebe als eheliche Verbindung gleichberechtigt nebeneinanderstehen und die flüchtige Zuneigung keinesfalls als unmoralisch, sondern als genußvolle Intensität erlebt wird, existiert die Schmuggelei als wahre Freiheit in der Darstellung der Oper ebenbürtig neben der Normalität und hat den Kitzel der Gefahr als zusätzlichen Reiz für sich. Nur Jose kann bei den Schmugglern nicht heimisch werden, weil er sich als Mann von Ehre versteht, der sich nicht versteckt, wenn er Gewehrschüsse hört.5 Das Libretto verzichtet auf eine übergeordnete Moral, indem es die Handlung ganz und gar als Einzelfall erzählt und auf eine Bewertung der Figuren verzichtet. Eine Psychologie der Figuren wird ebenfalls nicht erkennbar. Der bewegende Grund hinter ihren Aussagen und Handlungen bleibt unzugänglich. Was Carmen denkt, erfährt man nicht.6 Nicht einmal Jose, der neben Micaela noch am ehesten zu durchschauenden Figur, ist ganz zu trauen. Das Moment der Überwältigung, welches nach der literarischen Konvention jeder Liebe auf den ersten Blick innewohnt, schildert er zwar rückblickend in seiner Arie, wenn er Carmen die Gefühle gesteht, die er empfunden

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II, 6: »Ich muß wohl« (Csampai/Holland 1984, S. 123). Dahlhaus 1989, S. 233. III, 2 (Csampai/Holland 1984, S. 129). Zu diesem Problem vgl. Schläder 1998, S. 301 ff.

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haben will, als sie ihm die Blüte hinwarf. Im ersten Akt, wenn der Zuschauer die Szene selber sieht, ist von den geschilderten Gefühlen wenig zu spüren. Man sieht einen Verlegenen, der sich aufgrund seiner Schüchternheit einer Situation nicht gewachsen sieht, keinen Mann, der in leidenschaftlicher Liebe entbrennt. Was im Inneren dieser Figuren vorgeht, bleibt Spekulation. Man sieht nur ihre trügerische Außenseite. Aber die Ungewißheit ist kein Mangel. Dem Zuschauer ergeht es wie dem Liebenden: Er hat keine Gewißheit über die Gefühle seines Gegenübers. Auch dies ist ein Merkmal des vielbeschworenen Realismus dieser Oper. Denn in der Realität sind die Erlebnisse eines anderen Menschen ebenfalls nicht direkt zugänglich. Bizets Carmen funktioniert zirkulär: Sie erklärt eine unerklärbare Größe durch sich selbst und thematisiert einen inhaltlichen Aspekt, die Irrationalität erotischer Anziehung, auf der Ebene der Darstellung. Ihre Offenheit bildet einen Grund der Faszination, die von dieser Oper ausgeht. Ein hoher Grad an Unbestimmtheit in der Motivierung, verbunden mit einer einfachen, unmittelbar verständlichen Handlung, provoziert stets neue Auslegungen, die Eindeutigkeit erzielen wollen. Besonders deutlich wird dies an der Interpretation der Liebe Carmens zu Escamillo: Die Bandbreite schwankt zwischen »totaler Unterordnung unter den Willen des Mannes« und einer »im Prinzip emanzipierten, gewaltfreien und freiwilligen Liebesbeziehung«.7 Carmen ist daher ein Muster für die strukturalistische Definition des Kunstwerks als Maschine, die stets neue Interpretationen hervorruft, die allein von der Persönlichkeit des Wahrnehmenden abhängen.

2. Felsenstein und Carmen Der Regisseur inszenierte Carmen fünfmal.8 Schon bei der ersten Inszenierung 1933 in Köln entschied er sich gegen die geläufige Rezitativ-Bearbeitung Ernest Guirauds und griff auf die gesprochenen Dialoge zurück, die er eigens neu übersetzte. Auch bei seiner zweiten Inszenierung 1939 in Zürich beließ Felsenstein die Gesangstexte noch in der traditionellen Übersetzung von Julius Hopp, die er erst bei seiner Berliner Inszenierung von 1949 durch eine eigene Fassung ersetzte, die 1962 als Textbuch erschien.9 Diese Inszenierung verzichtete im letzten Akt nicht auf die Balletteinlage, die in der Choudens-Ausgabe und im gängigen deutschen Klavierauszug des PetersVerlags als fester Bestandteil des Werks erscheint.10 Wie Felsenstein das später gestrichene Ballett aus der Handlung heraus motivierte, läßt sich aus den Kritiken nicht mehr nachvollziehen.'1 Ein Regiebuch dieser Inszenierung ist nicht überliefert, lediglich ein Klavierauszug mit eingetragener Textfassung und Strichen.121969 brachte

Csampai/Holland 1984, S. 26 (Egon Voss) und S. 284 (Attila Csampai). Koerth 1973, S. 96ff. Zu der Kölner Inszenierung vgl. außerdem Schiedermair 1977, S. 12. Reclam (Leipzig) 1964. Vgl. den Reprint der Choudens-Ausgabe, Könemann Music Budapest, 1992, S. 291ff. Der Regie-Klavierauszug Carmen (1949) enthält das Ballett; Koegler 1958 erwähnt die Streichung. Regie-Klavierauszug Carmen (1949), vgl. Koerth 1973, S. 107ff. 103

der Regisseur Bizets Oper in russischer Sprache am Stanislawski-NemirowitschDantschenko-Musiktheater in Moskau heraus. Er griff dabei auf die 1964 erschienene Ausgabe von Fritz Oeser zurück, die Felsenstein für eine authentische Rekonstruktion der Urgestalt halten mußte und zu der er eine von Oeser überarbeitete Fassung seiner Übersetzung beigesteuert hatte.13 Oeser hatte seine Edition unmittelbar nach ihrem Erscheinen im Jahrbuch der Komischen Oper vorgestellt.14 Mit den Moskauer Sängern von Carmen, Micaela und Jose brachte Felsenstein die Oper 1972 ein zweites Mal an der Komischen Oper wiederum in Oesers Fassung heraus. Dabei verwendete er jedoch wieder die in vielen Formulierungen prägnantere Übersetzung von 1949, die im Regiebuch handschriftlich nachgetragen wurde.15 Nur diese Inszenierung ist durch ein ausführliches Regiebuch des Regieassistenten Peter Ehrlich mit eingeklebten Fotos16 sowie eine achtzigseitige, maschinenschriftliche Inszenierungsbeschreibung von Klaus Schlegel,17 einem langjährigen Mitarbeiter der Komischen Oper in verschiedenen Funktionen, gut dokumentiert. Eine Publikation der Akademie der Künste der DDR enthält neben zahlreichen Abbildungen, einer gekürzten und redigierten Fassung von Schlegels Inszenierungsbeschreibung auch Interviews und Materialien zu den älteren Carmen-Versionen des Regisseurs.18 Felsenstein verfaßte im Zusammenhang mit der Inszenierung von 1972 eine ausführliche Inhaltsangabe der Oper, die sinngemäß mit seiner Nacherzählung der Handlung in dem großen Interview übereinstimmt, das Manfred Wekwerth und andere 1971 im Auftrag der Akademie der Künste mit ihm führten.19 Von der Premiere der letzten Inszenierung existiert ein Tonbandmitschnitt. Die von den russischen Sängern offensichtlich nur phonetisch erlernten Dialoge werden künstlich und mit bedeutungsschwangeren Dehnungen aufgesagt, die Mitwirkenden betonen den Namen der Titelfigur bisweilen »Carmen«, aber nicht durchgehend. Wjatscheslaw Ossipow sang das hohe B am Ende der Arie des Don Jose, wie in der Aufführungstradition üblich, nicht im Pianissimo, auf das Felsenstein und der Dirigent Dmitri Kitajenko größten Wert legten: »Denn Fortissimo würde in diesem Zusammenhang bedeuten, daß Jose Carmen anschreit, daß er brüllt. In Wirklichkeit enthüllt er in diesem Moment ganz tiefe Gefühle seiner Seele, und das kann nur im Pianissimo vor sich gehen.«20 Auch bei späteren Aufführungen konnten sich Regisseur und Dirigent

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Kranz 1977, S. 104. Zur Problematik dieser Fassung vgl. Dean 1965 und 1973, zum Einfluß Felsensteins auf diese Edition vgl. unten. Felsenstein war mit der Redaktion seiner Übersetzung durch Oeser nicht rundweg einverstanden, vgl. seine Briefe Rep. II, a, Nr. 1585ff. vom Juli und Dezember 1963 sowie Januar 1964 und Oesers Antworten Rep. II, b, Nr. 1673ff. Jahrbuch der Komischen Oper, Bd. IV, S. 108ff., Nachdruck in Csampai/Holland 1984, S. 196ff. Vgl. Koerth 1973, S. 33ff. Regie-Klavierauszug Carmen (1972). Zitate aus Klaus Schlegels Inszenierungsbeschreibung stets nach der unredigierten Fassung. Schlegel war Regieassistent und Dramaturg, später Leiter des Betriebsbüros der Komischen Oper und übersetzte mit Joachim Herz mehrere italienische Opern. Koerth 1973. Die Tragödie der Carmen (1972) in Felsenstein 1976, S. 236ff., Felsenstein 1991, S. 94ff. Kitajenko im Interview mit Kranz 1977, S. 106.

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hier freilich nicht gegen den Sänger durchsetzen, wie Vorstellungsberichte des Abendspielleiters Peter Ehrlich belegen: »Die Arie, die ohne >Traumcarmen< vorgetragen wurde, empfand ich als einzige Schonung für das hohe B, das dann mit Stentorkraft zu lange und fehl am Platz herausgeschmettert wurde. Das Publikum applaudiert.«21 Die russische Besetzung - glaubt man den Vorstellungsberichten Ehrlichs - tendierte zu spontaner Sentimentalität: »Auf das Gejammere am Schluß in der Art alter italienischer Tenöre fallen wir nicht herein. Nur eine Masche«.22 Am 2. August 1973 legte Felsenstein eine für ihn charakteristische Aktennotiz an: »In meiner persönlichen kritischen Unterredung mit Frau Sarkissjan am Tag nach der Aufführung kam eine von mir völlig unerwartete und geradezu bestürzende Beichte über den Gesangsstil im 3. und 4. Akt. Es wäre ein wichtiger Dirigent vom Bolschoi-Theater in der Aufführung gewesen und, da man in Moskau immer behauptete, sie würde die Carmen ohne Stimme singen, wollte sie ihm zeigen, daß sie singen kann. Ich habe ihr gesagt, das wäre ein Verrat, den ich ihr nicht zugetraut hätte.«23 Eine andere Besetzung, die Felsenstein zufriedengestellt hätte, konnte nicht gefunden werden, Experimente mit Gästen scheiterten: »Das pausenlose Charmieren dieser Carmen mit allen möglichen Figuren dieses Stücks stellte nicht nur die Konzeption, sondern bereits die Dramaturgie der Oper in Frage. Schließlich wirkte Frau Yachmi wie ein Fremdkörper in der Aufführung, da sie auf furchtbar nivellierende Weise selbst elementare Gesetze der Partnerbeziehung auf große Strecken außer acht ließ. Objektiv muß berichtet werden, daß das Publikum leider dieser Stadttheater-Carmen Beifall zollte.«24 Nicht zuletzt wegen dieser Schwierigkeiten wurde die Inszenierung im Unterschied zu Die Hochzeit des Figaro oder der bis 1992 gespielten Aufführung von Offenbachs Ritter Blaubart bald nach dem Tod des Regisseurs abgesetzt. Die Lesart der Handlung hatte sich seit der enthusiastisch aufgenommenen Inszenierung von 1949 nicht grundlegend verändert.25 Obwohl Felsenstein jedesmal mit einem anderen Bühnenbildner zusammenarbeitete, blieben die Grundrisse der Bilder und damit das Arrangement annähernd gleich. Die ins Regiebuch eingeklebten Bilder zeigen nahezu identische Haltungen wie die bei Koerth 1973 abgebildeten Fotos der älteren Inszenierungen. Schon in der Kölner Aufführung von 1933 gab es den Treppenaufgang zum Eingang der Fabrik auf der linken Seite der Bühne, der in jeder Neuinszenierung wiederkehrte.26 Alle drei Bühnenbildner seit 1949 verlegten den letzten Akt von einem Platz vor der Arena in einen dunklen Raum unter der Tribüne, von dem ein Treppenaufgang zu den teilweise sichtbaren Sitzplätzen führte. Während des Schlußduetts waren die Reaktionen der Zuschauer des Stierkampfs nicht nur klanglich, sondern auch visuell wahrnehmbar.27

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Vorstellungsbericht vom 16.11.1973, S. 1. Zu diesen Berichten vgl. Kobän 1997a mit zahlreichen weiteren Beispielen zu Vogelhändler und Zar und Zimmermann. Vorstellungsbericht vom 19.11.1973, S. 5. Aktennotiz vom 2.8.1973. Vorstellungsbericht vom 18.2.1973, S. l. Vgl. die aus unterschiedlichen Jahren stammenden Texte bei Felsenstein 1976, S. 231 ff. Vgl. die Fotos bei Koerth 1973, S. 98ff. Vgl. Döhring 1980, S. 528ff. zur musikalischen Dramaturgie des Schlußduetts. 105

3. Felsensteins Deutung des dramatischen Konflikts Wer diese Oper inszeniert, muß ihre Leerstellen mit Bedeutungen füllen und die Offenheit eindeutig strukturieren. Dies gilt besonders für einen Regisseur wie Felsenstein, dessen Regiestil auf eine unmittelbare Verständlichkeit des Bühnengeschehens und der Absichten der Figuren zielt. Der Regisseur brachte die Figurenkonstellation der Oper auf eine knappe Formel: »Micaela liebt Joso, Jose liebt Carmen, Carmen liebt Escamillo und Escamillo liebt nur sich selbst.«28 Das Thema der Oper sei demnach die »ungeheuere Verwechslung des Liebesobjekts«.29 Die offene Struktur von Carmen verschärfte er so zu einem eindeutigen Konflikt; die Paradoxie der Liebeskonzepte und die Ambivalenz der Situationen gingen dabei verloren. Aus der Konkurrenz verschiedener Auffassungen von Liebe, deren Unvereinbarkeit bei Bizet miteinander konfrontiert wird und die bis zuletzt nebeneinander existieren, wurde in der Lesart des Regisseurs eine Illusion über den Partner, die so lange währt, wie das sexuelle Glück anhält.30 In den ersten Tagen der Beziehung zwischen Jose und Carmen habe »der Sexus pausenlos so stark regiert«, daß »die Prüfung des Liebesobjekts noch nicht stattfinden konnte. [...] Das ist die Tragödie und die Strafe der großen Liebe, daß man jemanden so liebt, wie man ihn haben will.«31 Diese Sicht reduziert die Vielfalt der erotischen Konzepte auf einen einzigen und unteilbaren Liebesbegriff. Der Akzent liegt nicht auf dem Widerspruch zwischen Dauer und Intensität. Felsenstein psychologisierte Carmens Promiskuität und unterzog damit das Schwanken zwischen Jose und Escamillo einer eindeutigen Wertung. Den Wechsel zweier gleich intensiver Beziehungen bei Bizet interpretierte er als Irrtum über den wahren Geliebten. Im Unterschied zu Bizets Oper kannte die Inszenierung nur einen unteilbaren Liebesbegriff, der auf eine dauerhafte Beziehung mit einem idealen Partner hinzielte. Felsensteins Escamillo ging mit Carmen im letzten Bild der Inszenierung eine Ehe ein, während sie der Escamillo von Bizets Oper im Bewußtsein liebt, daß ihre Leidenschaft nur befristet ist und nicht länger als sechs Monate dauert.32 »Als Höhepunkt der >ritualen Handlung< reicht Escamillo Carmen seinen Degen zum Kusse, - mit dieser >Waffenweihe< wird zwischen beiden zugleich das Ehegelöbnis vollzogen.«33 Wie schon in der Zauberflöte entsteht die Liebe auch in Carmen plötzlich. Sie erscheint als irrationaler Affekt, der den Menschen wie ein Blitz trifft. Diese Liebe führt Jose im ersten Akt in eine Entscheidungssituation, die sich im zweiten Akt gesteigert wiederholt. Das breit ausgemalte Tableau am Beginn der Oper bezog Felsenstein auf den dominierenden thematischen Aspekt der auf der Bühne erzählten Handlung. Er interessierte sich weder für die potentiell inszenierbaren sozialen Gegen-

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Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 10. Felsenstein 1991, S. 94. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 61. Felsenstein 1991, S. 98f. III, 6 (Csampai/Holland 1984, S. 143). Diese Stelle im Gesangstext ließ Felsenstein jedoch unverändert. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 81.

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sätze, noch für eine präzise Schilderung des Milieus. Sein Realismus bezog sich auch hier nur auf die Beglaubigung der Affekte und die Verkettung der Fabel, nicht auf eine Schilderung des Milieus gesellschaftlicher Außenseiter, in dem die Handlung der Oper spielt.34 Die Handlung begann bei Felsenstein in sexuell aufgeheizter Atmosphäre.35 Vor der Zigarettenfabrik flanierten in der Inszenierung nicht nur Playboys, sondern auch Bürger, die trotz unverhohlener Neugier ihre verlogene moralische Abscheu über die Arbeiterinnen zu Schau stellten. Kontrastierend dazu langweilte sich die Wache, in der Lesart des Regisseurs ein Strafbataillon aus Vorbestraften und Kriminellen;36 Morales versuchte, sich gegenüber Micaela als einziger Mann von Format unter einem Haufen von Dummköpfen zu präsentieren.37 Der sexuell ausgehungerte Zuniga, zum ersten Mal auf Wache vor der Fabrik, hoffte auf ein Abenteuer mit einer der Arbeiterinnen und fragte Jose über seine Chancen aus.38 Auch dieser Dialog, der Joses - bei Felsenstein ungekürzte - Vorgeschichte als Seminarist und Totschläger einführt, wurde über die dialogische Funktion hinaus psychologisiert. Jose verstand die Neugier des Vorgesetzten, die allein sexueller Gier entsprang, als Akt des Vertrauens und beichtete Zuniga seine ganze Lebensgeschichte, die diesen überhaupt nicht interessierte.39 In Felsensteins Deutung war Carmen eine Prostituierte, die sich nach wahrer Liebe sehnte. Ihre Promiskuität verstand er im Unterschied zum Libretto der Oper nicht als eigenständiges, auf Freiheit und Augenblicksgenuß basierendes Liebeskonzept, sondern als die Pervertierung wahrer Liebe: »Carmen ist eine Hure, aber keine billige Hure; sie ist anspruchsvoll und aus einer großen erotischen Leidenschaft heraus - aber unbewußt - von einer unerfüllten Sehnsucht ergriffen.«40 Nicht zufällig verglich sie der Regisseur daher mit Verdis Violetta.41 Felsenstein vermutete, sie sei in ihrer Jugend vergewaltigt worden: »Durch ihr Escamillo-Erlebnis ist sie wieder zu einem Mädchen geworden - so wie sie war, ehe sie brutal verführt wurde.«42 Er phantasierte sogar über einen frei erfundenen, »sehr geschickten Zuhälter«, der sie zu einer »Liebeskünstlerin« erzogen habe, »die außerordentlich begehrt ist und, wenn ihr ein Mann gefällt, unerhört viel Spaß daran hat.«43 Ihr Spott über die Liebe in der Habanera war für den Regisseur indirekter Ausdruck der unerfüllten Sehnsucht: »Ihr Triumph liegt darin, daß sie von allen bewundert und begehrt wird - und keine Frau sich mit ihr messen kann, sondern alle sie neidlos als die Schönste anerkennen müssen. Wäre sie zu echter Liebe fähig, so hätte sie alles das nicht nötig - es ist bei ihr eine Ersatz-

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Vgl. Dahlhaus 1982, S. lllff. und 117ff. Der Regie-KJavierauszug Carmen (1972) ist hier deutlicher als das Typoskript der Inszenierungsbeschreibung, die in der Druckfassung diesbezüglich weiter purgiert wurde. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 2. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 3. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 6f. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 7. Felsenstein 1991, S. 94. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 13. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 49. Felsenstein 1991,8. 94. 107

funktion fur das fehlende große Gefühl.«44 Sie liebt nicht den Mann, sondern die Macht über die Männer und »hat unter Umständen sogar Freude daran, wenn der Mann sich die Pulsadern aufschneidet oder sich aus unglücklicher Liebe erschießt.«45 Ehe sie Jose begegnet, ist Felsensteins Carmen eine Femme fatale, die Liebe als Gefühl noch nicht erlebt hat und sich dafür an den Männern rächt. Der Regisseur erzählte ihre Geschichte als Wandlung von der zynischen Prostituierten in der Habanera zur großen Liebenden im letzten Akt, die bereit sei, für ihre Liebe zu Escamillo zu sterben.46 Auslöser ihres Auftrittslieds, so Felsenstein, sei ihre Spottlust. Je mehr Männer sie anbeten, desto größer sei ihr Verlangen, die Liebe lächerlich zu machen. Er begründete die Nummer aus der Situation heraus; die Carmen der Inszenierung sang ein Lied, dessen Text sie zu einer bekannten Melodie im Augenblick neu erfunden hatte.47 Diese Idee wurde offenkundig durch die Entstehungsgeschichte der Habanera inspiriert, bei deren Komposition Bizet eine fremde Vorlage verwendete.48 Beim Refrain stellte sie fest, daß alle Anwesenden einstimmten bis auf einen: Während Zuniga von ihr fasziniert war und sie auf der Stelle begehrte, zeigte sich Jose von Carmen überhaupt nicht beeindruckt. Sie war darüber weder enttäuscht noch in ihrer Eitelkeit gekränkt, sondern wollte wissen, wie das möglich sei.49 Die ungestillte Sehnsucht nach dem »totale[n] Liebesgefühl, für das eine Frau sich aufopfert«,50 kann Carmen nur durch die Liebe eines Mannes erfahren, der »stärker ist als sie«.51 Dieser Mann, dem sie bisher nicht begegnet ist, schien nun vor ihr zu stehen. In der zweiten Strophe wandte sie sich daher direkt an Jose, der sich bei der ersten halb fasziniert, halb vom Taumel der Anwesenden angewidert abwandte. Nun sahen sich Jose und Carmen in die Augen,52 doch wiederum wandte er sich ab, fest entschlossen, ihr zu widerstehen, und setzte sich auf einen Poller vor dem Wachlokal. Carmen ging nach dem Ende der Habanera zur Treppe der Zigarettenfabrik zurück und schien die Bühne zu verlassen; sie setzte sich eine Weile, nahm die Akazienblüte vom Dekollete, ging langsam auf Jose zu und warf ihm die Blume an die Stirn.53 Für Carmens Annäherung an Jose verwendete Felsenstein in seiner Moskauer und der zweiten Berliner Inszenierung die ungekürzte Urfassung dieser Stelle nach der Ausgabe von Fritz Oeser, in der das sogenannte Schicksalsthema in 28 Takten vom Orchester gesteigert wird.54 Bizet hat diese Stelle im Verlauf der Proben mehrmals umgearbeitet und auf 12 Takte verkürzt; Oeser war der Ansicht, dies sei auf Druck des Regisseurs geschehen. In der ursprünglichen Version fehlt auch der kleine Dialog über

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Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 10. Felsenstein 1991, S. 94, vgl. abgeschwächt Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 11. Felsenstein 1991, S. 94. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S.U. Vgl. Dean 1978, S. 306f. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 13. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 9. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 9. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 14. Regie-Klavierauszug Carmen (1972), gegenüber S. 58ff. Oeser-Klavierauszug, S. 57f., zum philologischen Befund der Stelle vgl. Oeser 1964, S. 743.

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die Putznadel, den Felsenstein bereits lange vor Oesers Entdeckung in der Inszenierung von 1949 gestrichen hatte.55 1963 berichtete Oeser dem Regisseur von seiner Entdeckung: »Darüber muß ich Ihnen noch schreiben, weil Sie da eine Diskrepanz zwischen Absicht und Ausführung gefühlt haben und sich deshalb freuen werden, wenn Sie Ihr Urteil und Ihre Entscheidung nun >philologisch< gerechtfertigt finden. Sie hatten die gesprochenen Worte Carmens vom >Gevatter< und >süßen Kettenschmied< gestrichen, obwohl Sie die nicht so idiotischen französischen Worte leicht hätten in ein besseres Deutsch übertragen können.«56 Dieser Eingriff überrascht, weil die Unterbrechung der Musik durch gesprochenen Text als typisches Stilmittel zu Felsensteins Theaterkonzept gehört. Freilich verzichtete der Regisseur an dieser Stelle generell auf die Kontrastwirkung der Vorlage. Bizets Jose ist während der Habanera gänzlich unbeteiligt mit der Putznadel seines Gewehrs beschäftigt.57 Im Libretto fehlt jede psychologische Motivation, weshalb sich Carmen für Jose entscheidet und ihm die Blume zuwirft. Dort ist es kein mit Vor- und Rückbezügen belasteter Vorgang, sondern ein rein zufälliger, spontaner Einfall Carmens. Da Felsenstein im Unterschied dazu einen psychologischen Prozeß darstellen wollte, durfte nach seinen Regieprinzipien die Musik nicht unterbrochen werden. Joses Erregung wuchs; während er auf dem Poller saß und Carmen sich von hinten näherte, war er ihr nach Felsensteins Deutung schon widerstandslos ausgeliefert: »Aber die Faszination Carmens ist stärker als sein Wille. Jose erliegt diesem teuflischen Zauber - wird unfähig, sich ihr weiter zu entziehen, verfällt ihr völlig.«58 Während die Arbeiterinnen ordinär-lässig in die Fabrik zurückkehrten, starrte Jose auf die Blume; er war »wahnsinnig vor Begierde - eine Begierde, die ihm selbst völlig unfaßbar ist.«59 Die Musik, die den Abgang der Arbeiterinnen begleitet und zu der sich die Bühne langsam leert,60 deutete Felsenstein daher in seiner Logik konsequent als emotionalen Ausdruck von Joses Gefühlen: »Da ist dieses große Geigenthema, das blitzartig die Hörigkeit eines bis dahin mit solchen erotischen Kräften kaum in Berührung gekommenen Bauernjungen zum Ausdruck bringt, der ja auch in diese verrufene Fremdenlegionärssoldateska gar nicht hineingehört.«61 Der Auftritt Micaelas riß Jose aus der Verzauberung. Die in ihm geweckte Liebesbereitschaft führte in Felsensteins eigenwilliger Deutung zur ersten Verwechslung der Liebesobjekte. Die Verwirrtheit Joses, die Felsenstein nicht als verlegene Schüchternheit verstand, sondern als erotische Erregung durch Carmen, mißverstand die Micaela der Inszenierung als Zeichen seiner Verliebtheit und bezog sie auf sich.62 Im Vergleich zum Libretto und zur Komposition, die durch Joses Anspielung auf einen bedrohli-

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Regie-KJavierauszug Carmen (1949), S. 3 5. Brief Oesers an Felsenstein vom 29.4.1963, Rep. II, b, 1668, Blatt 3. I, 5 (Csampai/Holland 1984, S. 55). Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 14. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 15. Oeser-KIavierauszug, S. 59, Ziffer 88 bis Seitenende. Felsenstein 1991, S. 95, vgl. Regie-Klavierauszug Carmen (1972), S. 59. Regie-Klavierauszug Carmen (1972), gegenüber S. 78: »Im Verlauf des Duetts hat sich eine Beziehung ergeben, die auf der neuen Erosbeziehung zu Carmen liegt.«

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eben »Dämon« im Mittelteil des Duetts gerade den Kontrast unterschiedlicher, jedoch im Prinzip gleichwertiger Liebeskonzepte herausstellen, verstand Felsenstein die beiden unmittelbar aufeinander folgenden Szenen Joses mit Carmen und Micaela als kausale Folge, in der die frühere Szene als Voraussetzung einer späteren erscheint. Diese Maxime des Dramas der geschlossenen Form ließ zwar die erwünschte Psychologisierung entstehen, sie brachte jedoch zwangsläufig mit sich, daß der Regisseur unter der Prämisse einer Entwicklung im Duett eine wachsende Verliebtheit Micaelas entdecken mußte, von der im Libretto nichts steht und die auch aus der Musik des Duetts kaum herauszuhören ist. Jose erschrak bei Micaelas Auftritt. Im Dialog mit ihr befürchtete er voller Angst, seine Liebe zu Carmen zu verraten, die er vor Micaela und damit vor seiner Mutter verbergen wollte.63 Wie stets bei Felsenstein kontrastierten in diesem Duett die Visionen: »Das Carmen-Bild wird durch Mutter und Heimat verdrängt.«64 Micaela fügte sich nicht nur in die von Joses Mutter arrangierte Vernunftheirat, sondern sie liebte Jose wirklich. Felsenstein betrachtete sie nicht als dramatische Hilfsfigur, die im Unterschied zu ihrer aufregenden Rivalin die Langeweile der Normalität verkörpern soll, sondern als echte und gleichwertige Gegenspielerin Carmens: »Der Unterschied in der fraulichen Potenz zwischen Micaela und Carmen? Es gibt keinen.«65 Micaela deutete Joses Verwirrung als Freude über die Nachricht von der Mutter und als Bestätigung ihrer Liebe zu ihm. Während des Dialogs erkannte auch Jose, daß seine Jugendfreundin in den zwei Jahren, seit er sie zum letzten Mal gesehen hatte, vom Kind zur begehrenswerten Frau herangewachsen war. Der vom Carmen-Erlebnis aufgewühlte Jose übertrug seine Liebessehnsucht auf Micaela, die ihre Gefühle erwidert glaubte. Im zweiten Teil des Duetts berührten sich beim Oktavenunisono ihre Hände, und hier erfahrt der Zuschauer, »daß Micaela und Jose - was beide nicht wissen, füreinander bestimmt sind.«66 Den Kuß des Sohnes, den Micaela der Mutter zurückbringen soll, verstand Felsenstein als Ansatz zu einem erotischen Kuß, dem sie sich jedoch entzog. Doch dies bewies in Felsensteins Interpretation gerade die Stärke von Micaelas Liebe zu Jose: »In ihrer weiblichen Begierde hat sie den Wunsch, den Kuß als Braut zu empfangen.«67 Zu dieser Hochzeit kommt es nicht; sie wird durch die Tragödie Don Joses verhindert. Felsenstein deutete das Finale des ersten Akts, das in der Oeser-Fassung durch die Steigerung vom gesprochenen Dialog über das Melodram zum Gesang dem Musiktheaterverständnis des Regisseurs nahezu idealtypisch entsprach, wie die Szene zwischen Carmen und Jose im zweiten Akt als tragischen Konflikt antagonistischer Prinzipien. Ähnlich wie in Hoffmanns Erzählungen kulminierte auch in dieser Inszenierung das Leben einer Hauptfigur in einem zentralen Entscheidungsprozeß, der kausal aus der gesamten Biographie der Figur begründet wurde. Den Streit bei einem

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Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 15f. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 16. Regie-Klavierauszug Carmen (1972), gegenüber S. 62. Gegenüber S. 66 unten heißt es bei dem Spitzenton Micaelas: »wie in einem Orgasmus«. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 19. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 22.

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Ballspiel, der zu einem Duell führt, das Jose für sich entschied,68 stilisierte er zum Charakterfehler des Jähzorns, der wie in Otello den tragischen Konflikt nach streng aristotelischen Maximen auslöst. Felsenstein steigerte den Konflikt durch die Einbeziehung der Vorgeschichte zur existentiellen Krise Joses, indem er die Militärzeit als freiwillige Sühne für den Mord verstand, den er zum straflosen Akt der Notwehr herabmilderte.69 Wie schon bei der Zauberflöte und in Otello rückte er auch hier ein pittoreskes Detail ins Zentrum der Handlung, das für die Affektstruktur der Oper letztlich bedeutungslos ist und bezeichnenderweise in der Rezitativfassung fehlt.™ Bei dieser Verschärfung blieb Felsenstein nicht stehen. Jose mußte seine Liebe zusätzlich noch vor einem Rivalen verbergen. Aus Zunigas Verhalten im zweiten Akt schloß der Regisseur auf eine Eifersucht auf Jose, die er während der Habanera entstehen ließ. Der Leutnant wollte Carmen erst durch Strenge imponieren, sie dann im Gefängnis besuchen und mit ihr schlafen.71 Felsenstein hatte damit auch einen Grund gefunden, weshalb »die ganze Seguidilla gesungen wird«, ehe Zuniga mit dem Haftbefehl zurückkehrt: »Daß es länger als fünf Minuten dauert, liegt daran, daß er sexuell so verwirrt ist, daß er fünfmal den Haftbefehl zerreißen und neu schreiben muß.«72 Dadurch entstand eine tragische Ironie en miniature, die Carmen gegen Zunigas Willen die Verführung Joses ermöglichte. Zuerst gelang es Jose, der Verführung Carmens zu widerstehen. Sie hat jedoch noch nie einen Mann erlebt, der ihrer Verführung widerstand. Joses Verweigerung steigerte ihren Einfallsreichtum. Sie appellierte an sein Heimatgefühl, Jose durchschaute jedoch ihre Übertreibungen. Als sie zuletzt bemerkte, daß er die Blume behalten hat, geriet sie vor Freude außer sich.73 Zuletzt entfloh sie in der Gewißheit, ihn am Abend bei Lillas Pastia zu treffen. Die verdeckte Handlung zwischen den Akten rekonstruierte Felsenstein sorgfältig aus dem Text der Dialoge. Während der Haft wuchs Joses Pflichtgefühl wieder. Er befreite sich nicht mit der Feile aus dem Gefängnis und war im zweiten Akt trotz seiner Liebe zu Carmen eigentlich bereit, dem Ruf der Trompeten zu folgen, obwohl er sich nichts sehnlicher wünschte als eine Liebesnacht mit Carmen. Der Konflikt entlud sich in der Blumen-Arie. Jose wollte Carmen davon überzeugen, daß er zwar bleiben möchte, aber wegen des Soldateneids gehen müsse.74 Die aufbewahrte Blume verstand Carmen als Beweis, daß er seine Liebe zu ihr ernst meinte. Am Beginn der Arie wählte Felsenstein seinen bewährten Kunstgriff einer Vision: »Aus den Bildern seiner Liebe und seiner Qual kommt Jose mit dem piano in einen erlebten Traum (>Dann fing ich an, dich anzuklagen^, aus dem er schließlich mit dem fortissimo-Ausbruch >Dein Antlitz, o Carmen, wiederzusehen

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I, 3 (Csampai/Holland 1984, S. 51). Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 5. Die Vorgeschichte Joses wird im Dialog mit Zuniga eingeführt, vgl. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 5f. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 25. Felsenstein 1991, S. 96, vgl. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 31. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 30. Vgl. auch Felsenstein 1991, S. 96. Regie-Klavierauszug Carmen (1972), gegenüber S. 211. 111

wieder in die Realität zurückfindet.«75 Um jeden konventionellen Vortrag zu vermeiden und die Arie möglichst intensiv wirken zu lassen, erklärte er sie als »Liebesbeichte und selbstzerfleischendes Bekenntnis.«76 In ihr, so Felsenstein, vollziehe sich gesteigert die Konstellation vom Ende des ersten Akts. »Die Tragödie des Jose ist total - er wird schuldlos schuldig. Die Befreiung Carmens erfolgte von ihm in völliger Bewußtlosigkeit - von ihr, der er hörig wurde, dazu gezwungen. Verzweifelt und unter Aufbietung aller Kräfte ringt er nun um ihr Verständnis, daß er seiner Pflicht nachkommen muß - vergebens.«77 Und Jose" verfallt Carmen endgültig: »Sein Willen ist durch die Begierde ausgelöscht.«78 Die dramaturgischen Requisiten der Tragödie, die Felsenstein hier herbeizitierte, um seine Deutung des dramatischen Konflikts aufzuwerten, wirken auf den ersten Blick befremdlich. Der Zusammenhang zwischen Jose" und dem schuldlos-schuldigen Ödipus, der sich in Schuld verstrickt, indem er ihr zu entgehen trachtet, scheint weit hergeholt. Bei Bizet ist von tragischer Dialektik nichts zu merken. Sein Jose schwankt zwischen der von den Trompeten symbolisierten Soldatenpflicht und der Neigung, bei Carmen zu bleiben. Felsenstein betrachtete diese Szene offenkundig nicht als Episode, sondern als Teil eines übergeordneten dramatischen Zusammenhangs. Von tragischer Dialektik läßt sich nur dann sprechen, wenn man wie Felsenstein das Leben Joses als verzweifelten Versuch versteht, sich vom in der Vorzeit der dargestellten Handlung begangenen Mord zu rehabilitieren. Dies scheitert, denn am Ende der Oper begeht Jose einen zweiten Mord, der ihn endgültig zugrunde richtet und in dem sich nach Felsensteins Verständnis sein tragisches Schicksal erfüllt. Unter dieser Voraussetzung wird die Vorgeschichte Joses zum integralen Bestandteil des Texts, zugleich entsteht damit eine Einheit der Handlung, bei der das Leben Joses in der Blumen-Arie kulminiert. Die kryptische Bemerkung, Joses Verführung durch Carmen sei eine »furchtbare Szene, die ebenso schön wie grauenhaft« sei, bezieht sich offenbar auf den sophokleischen Schauer, der Felsensteins Spanien hier durchwehte und den die »Hochzeitsfeier«79 der beiden als Höhepunkt der Tragödie und zentrale Entscheidungssituation der Oper auslösen sollte. Die herbeizitierte Dialektik führte jedoch auch zu einer Aufwertung Carmens. Selbst wenn Regiebuch und Inszenierungsbeschreibung sie als »Raubtier«80 bezeichnen, verstand sie der Regisseur offensichtlich nicht als Femme fatale, die den Mann durch ihre teuflische Erotik vernichtet, denn die Gründe für Joses Untergang liegen wie bei Otello in ihm selbst und seinem Charakter begründet. Unter der Prämisse, jede Szene sei in der dramatischen Entwicklung die notwendige Folge

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Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 55. Regie-Klavierauszug Carmen (1972), gegenüber S. 223. Vgl. auch die analytisch gemeinte Formulierung von der »so jämmerlich zur >Blumen-Arie< herabgewürdigten seelischen Selbstentblößung eines redlichen Mannes«, in Oeser 1964, S. 221, die offenkundig von Felsenstein inspiriert wurde. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 53. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 28. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 49. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 54, Regie-Klavierauszug Carmen (1972), gegenüber S. 225.

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einer früheren, mußte Felsenstein einen Zusammenhang dieser Szene zu Escamillos Auftritt am Beginn des Akts konstruieren. Wiederum psychologisierte der Regisseur die bei Bizet episodische, von dramatischen Kontrasten bestimmte Abfolge zu einer kausalen Entwicklung. Während die Carmen der Oper als statische Persönlichkeit dargestellt ist, die sich vor allem selbst treu bleibt und sich nicht verändert, entdeckte Felsenstein aus dem Blickwinkel des idealistischen Theaters auch in dieser Figur einen Charakter, der im Verlauf des dramatischen Konflikts zu sich selbst findet. Durch diese Sicht verwandelte sich die spöttische Carmen des ersten Akts durch ihre Begegnung mit Escamillo in eine liebende Frau. Als Ziel ihrer Entwicklung verstand er die uneingeschränkte Liebe zu Escamillo, die nun ihr Verhältnis zu Jose überschattet. Ihre neu erwachte Liebe sei schon im zweiten Akt so groß, daß sie ähnlich wie Jose in der Szene mit Micaela ihre Gefühle auf den falschen Partner übertrage und ihn zu lieben glaube: »Scheinbar ist sie unverändert die Carmen, die Jose ihren Dank abstatten will für das, was er für sie getan hat - daß sie es im Sinne der Liebe als seine Geliebte tut, weiß sie nicht, weil ihr selbst nicht bewußt ist, daß sie in der Begegnung mit Escamillo etwas kennengelernt hat, was ihr bisher völlig unbekannt war, daß sie zur Liebe erweckt, zur liebenden Frau wurde.«81 Carmens Liebesgefühl für Jose verstand Felsenstein als eine Art von gefühlsbedingter Verblendung mit tragischen Zügen: »Das ist die Tragödie und die Strafe der großen Liebe, daß man jemanden so liebt, wie man ihn haben will.«82 Nach dieser Deutung liebt Carmen nicht Jose, sondern ihre von Escamillo erweckte Vision einer großen Liebe, die sie irrtümlich auf Jose überträgt. Sie will nun nicht mehr aus Dankbarkeit mit ihm schlafen, sondern erwartet ihn mit dem neuen Liebesgefühl, das ihr durch Escamillo zuteil wurde. »Die Verwandlung in ihr hat Escamillo vollzogen; aber das praktische Objekt, der Partner, wird jetzt Josö.«83 Für Felsenstein war das ein psychologischer Vorgang »wie er im Leben nicht selten vorkommt und der unweigerlich tragisch endet!«.84 Nicht anders als in Le nozze di Figaro, wo diese Spekulation, bei der Felsenstein ebenfalls aus seiner Lebenserfahrung zu schöpfen behauptete,85 zur Entlastung Almavivas diente, ist das Konzept der vertauschten Liebesobjekte auch hier eine psychologische Hilfskonstruktion, um vor dem Hintergrund eines unteilbaren Liebesbegriffs Carmen als positive Figur zu retten. Ihre große Liebe zu Escamillo macht die Hure »zu einer Heiligen«. Carmen, »die in der Liebe so Erfahrene, kann solange keine richtige Frau sein, bevor sie die wahre Liebe nicht kennengelernt hat. Danach brennt ihr Körper - und alles bei ihr überdreht sich. Sie ist eine völlig andere geworden - erfüllt von einem ungestillten Verlangen«.86 Selbst wenn Felsensteins Wortwahl auf eine sexuell bedingte Leidenschaft hinzudeuten scheint, meinte der Regisseur eine opferbereite Liebe, die er vor allem als ethisches Prinzip verstand. Diese Form hingebungs-

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Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 48. Felsenstein 1991, S. 99. Felsenstein 1991, S. 98. Felsenstein 1976, S. 246. »Nur unter Tausenden hat einer das Glück, den anderen so zu lieben, wie der auch wirklich ist. Meistens geht das ja deshalb schief« (Felsenstein 1991, S. 99). Inszenierungsbeschreibung Carmen, 5. 5l. 113

voller Liebe entdeckte Carmen erst durch Escamillo. Ihn liebte sie wie eine »richtige Frau«,87 die so hingebungsvoll und opferbereit ist wie Micaela. »Der Tag kommt, wo sie alles das, was wie ein Vulkan in ihr brennt, sklavisch vor einem Gott ausbreiten wird - aber diesen Gott gibt es bisher für sie nicht. Im 2. Akt lernt sie durch Escamillo alles, wonach sie verlangt, kennen - aber gerade damit beginnt die Tragödie der Carmen. Escamillo kann sie nicht lieben, weil er sich selbst zu sehr liebt - Jose könnte sie glücklich machen, aber ihn liebt sie nicht.«88 Carmens Liebe zu Jose ist keine taktische Intrige, mit der sie einen neuen Schmuggler gewinnen will. Sie ist auch keine Femme fatale, die über den Mann triumphiert. Im Augenblick glaubt sie, Jose zu lieben und mit ihm leben zu können. Wem ihre Gefühle in Wahrheit gelten, begreift sie nach Felsenstein erst, wenn sie im dritten Akt Escamillo davor bewahrt, von Jose erstochen zu werden: »Der Neuheit dieses Gefühls, dem sie unterworfen ist, wird sie sich erst viel später voll bewußt erst als sie im Gebirge Escamillo vor Jose rettet, erkennt sie den wahren Partner, dem diese Liebe gilt.«89 Carmen spürte in dieser Lesart zwar die Stärke von Joses Liebe, doch ihre Erwiderung dieses Gefühls mündete unweigerlich in eine jähe Enttäuschung. Am Irrtum, den ersehnten Liebhaber im scheinbar uninteressierten Jose des ersten Bildes gefunden zu haben, zerbrach die Beziehung nach zwei Wochen.90 Sie stilisierte ihn in ihrer Liebe »zu einem Hyperapoll. Wenn er dieser Vorstellung nicht gerecht wird, haßt sie Jose mit solcher Größe, wie die Liebe zu ihm ist.«91 Eine solistische Musiknummer stand bei Felsenstein nie isoliert, sondern war stets auf den Fortgang der Handlung bezogen. Carmen triumphierte innerlich bereits, ehe noch Jose sein »Ich liebe dich« am Ende seiner Arie aussprach: Unmittelbar davor notiert das Regiebuch als Haltung für Carmen: »Ohne Entwicklung, triumphal. [...] >Ich hab' ihn!! Er wird Schmuggler!Karten-Arie< steht von vornherein fest - sie kommt nicht aus einer Entwicklung«.110 Das Kartenlegen von Frasquita und Mercedes begründete Felsenstein als bloße Taktik: Die beiden Zigeunerinnen bemerken Carmens Niedergeschlagenheit und versuchen sie aufzuheitern. Doch sie tun dies nicht in menschlicher Anteilnahme, sondern aus purer Berechnung. Sie befürchten, daß Carmen in ihrer Depression nicht fähig sein wird, die Zöllner am Engpaß zu verführen. Das Unternehmen der Schmuggler droht daher zu scheitern."1 Das Legen der Karten verstand Felsenstein nicht als Befragung des Schicksals, sondern lediglich als Versuch, Carmen aus ihrer Verzweiflung zu reißen. Die beiden Frauen, bei Felsenstein keine Zigeunerinnen, wollten Carmen zum Widerspruch herausfordern und wandten sich daher demonstrativ an sie, die links vor ihnen an der Rampe saß.112 Ihre Solopassagen bezog er nicht auf ihre im Text erwähnten Wunsche nach einer leidenschaftlichen Liebe und der Vernunftheirat mit einem alten, aber reichen Mann. Sie waren indirekt an Carmen adressiert und sollten sie durch krampfhafte Heiterkeit aufmerksam machen. Die Frauen lasen in Felsensteins Deutung nicht wirklich aus den Karten, sondern versuchten, sich gegenseitig durch improvisierte Prophezeiungen zu überbieten. Zuletzt waren sie so von ihren eigenen Worten mitge-

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Regie-Klavierauszug Carmen (1972), S. 282.

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Regie-KJavierauszug Carmen (1972), gegenüber S. 282. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 62. Regie-Klavierauszug Carmen (1972), gegenüber S. 282. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 62f. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 65. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 64. Regie-Klavierauszug Carmen (1972), gegenüber S. 286.

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rissen, daß sie den Moment, in dem Carmen das Wort ergriff, zuerst gar nicht bemerkten.113 Anfangs sah und hörte Carmen nichts. Sie war versunken in ihre Ausweglosigkeit und weinte. Plötzlich erwachte sie jedoch aus ihrer Niedergeschlagenheit und ärgerte sich darüber, daß sich Nichtzigeuner über ihren Glauben an die Karten lustig machten.114 Wut über die Karten erfaßte sie; sie stand auf und trat zu den beiden Frauen. Ihr Solo war in Felsensteins Interpretation im Unterschied zu anderen Deutungen weder ein Akt des Fatalismus, noch ein Bekenntnis zum Leben oder gar Widerstand gegen das Schicksal.115 Carmens Niedergeschlagenheit übertrug sich auf ihren Glauben an die Karten; da sie in ihrer Ausweglosigkeit ihr ganzes Leben zerstört glaubte, traute sie auch der Wahrsagekunst nicht mehr.116 Am Ende des Terzetts erkannten Frasquita und Mercedes das Scheitern ihres Versuchs, Carmen aufzuheitern. Sie gaben die geplante Verführung der Zöllner für verloren.117 Erst Danca'iros Nachricht, daß der Engpaß streng bewacht sei, riß sie aus ihrer Lethargie. Sie vergaßen Carmens Niedergeschlagenheit und lachten laut auf, als sie die Namen der Zöllner erfuhren. Carmen überwand ihre Depression nicht selbst, sondern brauchte dafür die Aufgabe, die Danca'iro den Frauen gestellt hatte. Damit war der Affekt für den Beginn des Ensembles geschaffen: Nicht aus der Faszination des Schmuggeins, sondern um sich selbst zu betäuben, führte die Carmen der Komischen Oper das Ensemble an.118 In dieser Szenenfolge inszenierte Felsenstein nicht viel mehr als routinierte Kontraste zwischen Versöhnungsabsicht und kalter Zurückweisung, überdrehter Heiterkeit und tiefer Niedergeschlagenheit. Den Streit zwischen Jose und Carmen verdrehte er ins Gegenteil. Joses Besitzdenken entschuldigte er als Liebe; er wurde von Carmen beleidigt und versuchte sich zu versöhnen. Jose war bei Felsenstein zwar naiv, aber gutwillig, die unschönen Seiten seines Charakters waren bis auf den Jähzorn zurückgedrängt. Felsenstein billigte Carmen keinen Entscheidungsprozeß zu, durch den sie sich langsam von Jose löst; die Kartenarie und der vorangehende Dialog waren durch die Erkenntnis psychologisiert, sie liebe einen anderen. Ganz gegen sein Theaterkonzept inszenierte er keine auf die Handlung bezogene aktive Haltung: Die Verfluchung der Karten blieb isoliert. Felsenstein nahm auf diese Szene auch nirgends später begründend Bezug; in seiner Nacherzählung der Handlung überging er sie völlig.119 Ganz offensichtlich betrachtete er Carmen nicht als Subjekt des Geschehens, wie es ohne Schwierigkeiten aus dem Solo herauszulesen wäre, wenn man es als totale Verneinung interpretieren würde.

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Regie-Klavierauszug Carmen (1972), gegenüber S. 295, Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 65. Regie-Klavierauszug Carmen (1972), gegenüber S. 293. Vgl. Adorno 1953, S. 80. Regie-Klavierauszug Carmen (1972), gegenüber S. 296. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 66. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 67. Felsenstein 1991, S. 99.

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5. Die Arie der Micaela Felsenstein wertete die meist für langweilig gehaltene Micaela beträchtlich auf. Sie war die geheime Hauptfigur seiner Inszenierung. Micaela vertrat ein Verständnis von Liebe, das in seiner Deutung am Ende moralisch triumphierte. Er nannte sie »die eigentliche Heldin dieser Oper, da sie die Kraft und den Mut aufbringt, Jose Carmen zu entreißen - nicht um ihn für sich zurückzugewinnen, sondern um ihn vor dem Teufel zu retten.«120 Sie bewies hingebungsvolle Opferbereitschaft, die Felsenstein als Inbegriff von Liebe verstand. Bereits die von Felsenstein erfundene Vorgeschichte zu ihrem Auftritt im dritten Akt weist in diese Richtung. Micaela hat alle Ersparnisse geopfert, um den Bergführer zu bezahlen, der sie ins Lager der Schmuggler führt.121 Anders als bei seiner bläßlichen Interpretation des Karten-Terzetts mobilisierte er bei Micaelas Arie im dritten Akt alle argumentativen Mittel, um sie zur handelnden Figur zu stilisieren. Ohnehin zeichnet schon die Dialogfassung ein differenzierteres Bild dieser vielgescholtenen Figur. Während sie in der Rezitativbearbeitung als musikalische Chiffre von Joses Vergangenheit und sentimentale Gegenspielerin Carmens fungiert, die für die erzählbare Handlung ohne größere Bedeutung bleibt, vertritt sie in der Dialogfassung zwar die traditionelle weibliche Rolle, doch geht sie mit ihren Gefühlen ungewöhnlich ökonomisch um. Von ihrer Liebe zu Jose spricht Micaela im dritten Akt nur noch in der Vergangenheitsform. Sie beweist Mut, wenn sie in eine nächtliche Felsenwildnis hinaufsteigt, in welcher der in der Rezitativfassung gestrichene Bergführer umkehrt, um im Wirtshaus zu warten. Nicht einmal Escamillos Stierherde, der sie zufallig begegnen, jagt ihr Angst ein. Diese Gefahren nimmt sie nicht etwa auf sich, um Jose wiederzugewinnen, sondern weil sie sich dessen Mutter verpflichtet fühlt, die vor ihrem Tod dem Sohn verzeihen möchte. Micaelas Arie entspricht textlich wie musikalisch einer Da-capo-Form. Der erste Teil wird nach einem kontrastierenden Mittelteil mit identischem Text musikalisch leicht variiert wiederholt. Wenn man wie Felsenstein Arien als dramatische Monologe unter dem Aspekt einer Entwicklung betrachtet, ist Micaelas Arie in der von Bizet vertonten Fassung undramatisch, denn Angst mündet hier wiederum in Angst. Felsenstein wählte daher ein Verfahren, mit dem ganz ähnlich in den fünfziger Jahren bei den Händel-Festspielen in Halle barocke Da-capo-Arien dem landläufigen Begriff von Dramatik angepaßt wurden.122 Er entschied sich, wie man es in Halle nannte, für die »Durchtextierung« und veränderte den Text der Wiederholung so, daß die tendenziell statische musikalische Form durch einen dynamischen Text mit einer Entwicklung aufgelöst wurde. War Micaela im ersten Teil noch ängstlich, so hat sie bei der Wiederholung im zweiten jede Angst verloren und an Zuversicht gewonnen.

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Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 70. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 68. Heinz Rückert, der Regisseur dieser Händel-Aufführungen, inszenierte ab 1955 mehrfach an der Komischen Oper, und sein Mitarbeiter Rudolf Heinrich war seit der Zauberflöte Felsensteins bevorzugter Bühnenbildner. 119

Schon der Dialog mit dem Bergführer war vom Spannungsverhältnis zwischen Angst und innerer Erregung bestimmt. Der Bergführer verließ sie; Micae'la meinte in der Wildnis allein zu sein. Unbewußt lief sie dem Bergführer einige Schritte hinterher. Sie wehrte sich gegen die plötzlich in ihr aufsteigende Angst, drehte sich um und blickte nach vorn.123 Sie sah auf die hohen Berge in der Umgebung und wurde von der Vision überwältigt, das Gebirge stürze über ihr zusammen. An dieser Stelle setzte die Musik ein. Schon die Textfassung der ersten Strophe läßt Micae'la gegenüber der gedruckten Version der Übersetzung aktiver erscheinen. In der Inszenierung lautete sie: »Ich bin nicht so leicht zu erschrecken, so sagte ich, aber es ist nicht wahr. Ich tu es, so als war ich tapfer, mein banges Herz vergeht vor Angst. Einsam in dieser Wildnis, ich verliere den Mut. Du wirst gewiß mich nicht verlassen, du gibst mir deinen Schutz, mein Gott.«124 Zu diesem Text wich Micae'la wieder zurück; allmählich gewann sie Sicherheit und Mut, wovon sie gegenüber dem ängstlichen Bergführer gesprochen hatte. Gebete interpretiert das realistische Musiktheaten von Felsenstein über Herz und Friedrich bis hin zu Harry Kupfer niemals als unterwürfiges Flehen oder gar als Ritual, sondern stets als unbedingte Forderung. Auch Micaelas Arie wurde so eine aktive Haltung abgerungen. Felsenstein war der Ansicht, sie sei nicht nur gläubige Katholikin, sondern besäße eine tiefe persönliche Beziehung zu Gott.125 Dieser Glaube gebe ihr die Kraft, »in der schwersten Stunde ihres Lebens Gott anzuflehen - nicht um seine Hilfe zu erflehen, sondern in der unabdingbaren Forderung, daß er ihr hilft.«126 Der Wunsch, Jose zu retten, verlieh ihr die Stärke, die Angst zu überwinden. Auf dem Höhepunkt der Gewißheit, daß Gott ihr helfen werde, beglaubigte Felsenstein die Steigerung des Tempos im Mittelteil der Arie dem Text entsprechend durch eine weitere Vision: Micae'la sah plötzlich Carmen vor sich. »Wenn es sich nur um eine Erzählung über Carmen handelt, gibt es keine Antwort auf die Frage, welche Funktion die Musik dabei einnimmt. Die Musik macht eindeutig klar, daß es sich um eine Vision handelt (die Micae'la unbewußt überkommt), in der sie auf Leben und Tod mit Carmen kämpft.«127 Sie war voller Feindschaft gegen diese Frau, und zwar nicht als Rivalin, sondern im Kampf gegen das Böse, das »den Mann vernichten will«.128 Durch ihren Haß auf Carmen gewann Micae'la wieder Zuversicht und gelangte zum festen Entschluß, die Femme fatale zu bekämpfen. Bei diesem Kampf, so Felsenstein, »zeigt sich, daß Micaela die Stärkere ist, daß sie Carmen überlegen ist - überlegen im Kampf, überlegen im Sieg, überlegen in der Liebe«.129

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Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 70, Regie-Klavierauszug Carmen (1972), gegenüber S. 322. Regie-Klavierauszug Carmen (1972), S. 322ff. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 70. In der gedruckten Fassung bei Koerth 1972, S. 76 stark gemildert. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 70. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 71. Regie-Klavierauszug Carmen (1972), gegenüber S. 323. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 72.

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Bei der Wiederholung des -Teils dankte sie daher Gott mit gefalteten Händen für den neu gewonnenen Mut mit einem frei erfundenen Text, der mit der Vorlage nichts gemeinsam hat: »Ich bin nicht so leicht zu erschrecken, so sagte ich, und es ist auch wahr. Ich tu nicht so, bin wirklich tapfer, mein Herz ist stark, hat keine Angst. Einsam in dieser Wildnis, mir fehlts nicht mehr an Mut, ich bin nicht mehr bedroht. Denn du wirst niemals mich verlassen, du gibst mir deinen Schutz, mein Gott. Beschütze mich, Herr und Gott, du gibst mir Mut, mein Gott.«130 Am Ende war der Prozeß der Selbstfindung abgeschlossen und die Handlungsbereitschaft zurückgewonnen: »Leuchtend in der Kraft ihres Selbstbewußtseins erfüllt Micaela eine unbeirrbare Entschlußkraft«, so Felsenstein.131 Im Nachspiel war sie zum Handeln bereit und ging los, um Jose in der Wildnis zu suchen. Den Text Micae'las in der folgenden Dialogszene strich der Regisseur und ersetzte ihn bis auf einen Ausruf durch eine stumme Aktion.132 Micaela bewies Mut, indem sie noch auf Jose zuging, während dieser schon mit dem Gewehr auf Escamillo anlegte. Sie versteckte sich erst, nachdem sie den Torero erblickt hatte. Dessen Auftreten lenkte Jose so ab, daß er Micaela übersah. Felsenstein zufolge versteckte sich Micaela nicht aus Angst, sondern weil sie befürchten mußte, daß ihre Anwesenheit Jose in seiner jetzigen Situation schaden könne.133 Nicht nur in Felsensteins Übersetzung, sondern auch im französischen Originaltext spricht Micaela von ihrer Liebe zu Jose in der Arie nur mehr in der Vergangenheitsform. Der bevorstehende Tod der Mutter spielte in seiner Lesart der Handlung keine Rolle. Als Vorgeschichte ihres Aufstiegs zum Schmugglerlager wird er in Schlegels Inszenierungsbeschreibung und im Regiebuch nicht erwähnt.134 Ein Gefühl der Dankbarkeit gegenüber der Pflegemutter zog Felsenstein als Beglaubigung nicht in Betracht. Das Opfern letzter Ersparnisse und der Wunsch, Jose zu retten, zeigten, worauf der emphatische Liebesbegriff des Regisseurs zielte. Felsensteins Liebesideal meint eine reine Hingabe, die mit dem hedonistisch-sinnlichen Liebeskonzept der Oper Bizets letztlich unvereinbar ist. Es ist kein Zufall, daß bei Felsenstein die Ehe einen besseren Ruf als im Libretto genießt und nicht sehr verwunderlich, daß ihn Carmens Solo und die Wunschträume von Frasquita und Mercedes nach reicher Heirat im Kartenterzett ratlos ließen. Dafür entdeckte er die hingebungsvolle Liebe zuletzt auch noch im vierten Akt der Oper zwischen Carmen und Escamillo.

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Regie-Klavierauszug Carmen (1972), S. 325ff. Vgl. auch Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 72. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 72. Regie-Klavierauszug Carmen (1972), gegenüber S. 328. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 73. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 68. Auch das Regiebuch erwähnt den Tod der Mutter an dieser Stelle nicht. 121

6. Carmen und Escamillo Felsenstein berief sich nie auf das Recht des Künstlers, die dramatische Vorlage des Theaterkunstwerks subjektiv neu zu interpretieren. Die Inszenierung war für ihn stets eine objektive Lesart der Partitur, die im Einzelfall eine unterschiedlich optische Erscheinungsform besitzen könne, in ihren Konstanten jedoch unverändert bleibt. Unversehens übertrug er diese Ansicht auch auf die Beziehung zwischen Bizets Oper und ihrer literarischen Vorlage, der er sein Verständnis der Figurenkonstellation entnommen zu haben behauptete. »Ich habe diese Novelle von Merimee nicht mehr so genau im Kopf, aber das Thema ist doch diese ungeheure Verwechslung des Liebesobjekts.«135 Dies scheint schon deshalb wenig glaubhaft, weil die Figur, die dort Escamillo entspricht, eine periphere Randfigur bleibt. Obwohl einige Passagen des Librettos wörtlich der Novelle entnommen wurden und Meilhac und Halevy bei der Szenenanweisung, die Carmens Auftritt beschreibt, direkt auf Merimee verweisen,136 ist die Figurenkonstellation der Oper eine eigenständige Schöpfung Bizets und seiner Librettisten. Der Carmen der Oper fehlen die negativen Züge der Vorlage; sie begeht keine Verbrechen und ist ungleich stärker als liebende Frau akzentuiert. Obwohl sich Felsensteins Deutung demnach keinesfalls auf Merimee berufen kann, versuchte der Regisseur seine Lesart durch die Autorität der Texte zu rechtfertigen. Er zögerte dabei nicht, das altgriechische Novellen-Motto zu manipulieren, das er auf den Besetzungszettel der Inszenierungen von 1949 und 1972 setzen ließ, um einen Bezug zu Merimee zu suggerieren.137 Die Übersetzungen des frauenfeindlichen Epigramms eines gewissen Palladas lauten in etwa übereinstimmend: »Das Weib ist bitter wie Galle. Sie bietet nur zwei angenehme Augenblicke: im Bett und tot.«138 Das Motto, das sich unschwer mit einer Figurenperspektive der Novelle - wenn nicht mit der Erzählperspektive insgesamt - in Übereinstimmung bringen läßt, paßte freilich schlecht zu Felsensteins Konzept der Verwandlung von einer Hure zur selbstlos liebenden Frau. In seiner Fassung blieb vom Original nur noch die Affinität von Liebe und Tod. Sie lautete: »Das Wesen des Weibes ist Verwandlung./ In seinen glücklichsten Stunden ist es gleich nahe verbunden/ Der Liebe wie dem Tode.« Diese Version, die der Besetzungszettel der Komischen Oper in doppelter Fälschung als Wort des Palladas und als Motto der Novelle Merimoes ausgab, trifft freilich genau Felsensteins Interpretation des vierten Akts der Oper. Carmens Entwicklung hat nun ihren Zielpunkt erreicht: »Wir wollen die Metamorphose zeigen, die in diesem Stück vonstatten geht: wie diese Hure zur Braut wird - ebenso frech und herausfordernd, aber rein.«139 Durch die Liebe zu Escamillo gewann die als dramati-

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Felsenstein 1991, S. 94. An diesen Satz anschließend erzählt Felsenstein in dem Interview nicht etwa die Handlung der Novelle, sondern die der Oper. Vgl. I, 5 (Csampai/Holland 1994, S. 55). Koerth 1973, S. 108. Vgl. die deutsche Übersetzung des Mottos in der Reclam-Ausgabe der Novelle, Stuttgart 1963, S. 3 und die französische Übersetzung in der Bibliotheque de la Pleiade, Merimoe, Romans et nouvelles, hg. von Henri Martineau, Paris, 1951, S. 609 und 809ff. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 26, als wörtliches Zitat Felsensteins.

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scher Charakter nach dem Vorbild des Dramas der geschlossenen Form verstandene Carmen Felsensteins den Sinn ihrer Existenz und ihrer Identität als von einer unstillbaren Liebessehnsucht erfüllten Frau, als sei sie eine Figur aus einem idealistischen Drama Schillers. Auch den Auftritt Escamillos in der Taverne motivierte Felsenstein sorgfaltig und funktionalisierte das Couplet für seine auf der Bühne erzählte Handlung. Carmens sofortige Verliebtheit las er offenkundig aus den verkappten Duetten zwischen ihr und Escamillo im Refrain des Couplets.140 Innerhalb eines Theaterkonzepts, in dem der Gesang einen emotionalen Ausnahmezustand darstellt, ist diese Lesart konsequent wie die Behauptung, daß sich Frasquita und Mercedes gleichfalls in den Stierkämpfer verlieben.141 Freilich gibt es weder für das eine noch für das andere einen Beleg im Text, denn wenn man dem nachfolgenden Dialog keine Psychologisierung unterlegt, muß man Carmens Antwort »Du kannst mich lieben, soviel du magst. Aber über meine Liebe würde ich mir an deiner Stelle jetzt nicht den Kopfzerbrechen«142 viel eher als barsche und unmißverständliche Abfuhr lesen. Obwohl der Escamillo der Dialogfassung eigentlich nicht die Absicht hat, die Schenke des Lillas Pastia zu betreten, kommt er herein, als man ihn bittet. Felsenstein hielt ihn für einen nur mittelmäßigen Stierkämpfer, der seinen Ruf vor allem geschickter Reklame verdankte und versuchte, dies auf der Bühne zu zeigen. Er bemerkte die anwesenden Offiziere und wandte sich direkt an sie, indem er in seiner ersten Coupletstrophe den Heroismus des Stierkampfs mit dem Mut des Soldaten verglich.143 Wie stets, brachte Felsenstein auch hier eher zufällige Daten des Texts in einen sinnvoll begründenden Zusammenhang. Dies wird in der Oeser-Fassung begünstigt, weil nach dem Melodram der Auftrittsmusik nicht sofort das Couplet folgt, sondern ein kurzer Dialog eingeschoben ist, in dem Zuniga einen Trinkspruch auf Escamillo ausbringt und dieser mit dem Couplet dafür dankt. Im Unterschied zum unbegründetopernhaften Auftritt in der Rezitativbearbeitung ist in der von Oeser rekonstruierten Fassung das Auftrittslied sorgfältig beglaubigt. Hier brauchte der Regisseur nichts zu erfinden. Neu war allerdings die Interpretation, die er zur Gesangsnummer lieferte und mit der er sein Mißtrauen gegenüber opernhafter Effekthascherei in einen Regieeinfall ummünzte. Er verstand das mitreißende Brio als Manipulation, die Escamillo ganz bewußt für Reklamezwecke einsetzt.144 Bei jedem Detail seiner Schilderung beobachtete der Torero die Wirkung auf seine Zuhörer. Als er sich vergewissert hat, daß kein Stierkampfexperte anwesend ist, trug er umso dicker auf. Nachdem ihm Carmen aufgefallen war, schilderte er, ganz bezogen auf sie, die Wirkung des Stierkampfs auf Frauen. »Sie verfällt ihm, wie Jose ihr verfallen ist.«145

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Diese Nuance fügt erst die Musik hinzu, im Libretto-Erstdruck fehlt darauf jeder Hinweis, vgl. II, 2 (Csampai/Holland 1984, S. 93f.). Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 40. zitiert nach Regie-Klavierauszug Carmen (1972), S. 166. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 38f. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 38, vgl. auch den Brief Felsensteins an Oeser vom 13.7.1962, Rep. II, a, Nr. 1585, Blatt 2. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 40. 123

Doch auch in dieser Beziehung sind die Liebesobjekte vertauscht. Carmens Liebe zu Escamillo ist vergeblich. »Ich meine, ein solches Liebesgenie und für die Liebe geborenes Naturwesen wie Carmen, eine dämonische Göttin, könnte auf diesen angeberischen, aber natürlich sehr imposanten Affen nie hereinfallen, wenn sie nicht in einer Verfassung wäre, die durch ihre Sehnsucht reifer ist als ein reifer Apfel.«146 Doch Escamillo ist, wie Felsenstein es formulierte, »im ethischen Sinne liebesunfähig - weil er zu keinem Opfer fähig ist«.147 Mit anderen Worten: Escamillo sucht allein nach Selbstbestätigung. Freilich ist offenbar allein dieser Charakter in der Lage, Carmens weiblicher Sexualität zu widerstehen und in seiner Liebe daher nicht dem Untergang geweiht. Er verliebt sich in der Schenke des Lillas Pastia auf den ersten Blick in sie und macht ihr, so Felsensteins höchst willkürliche Deutung, durch die Ankündigung, ihren Namen beim nächsten Kampf in der Arena auszurufen, auf der Stelle einen Heiratsantrag. Die Liebe zu Escamillo, so Felsenstein, weckt in ihr im vierten Akt ein lang ersehntes, doch bisher unbekanntes Gefühl der Hingabe. Es erfüllt sie mit einem Glücksgefühl, das ihr unzerstörbar scheint, nicht einmal durch ein Zusammentreffen mit Jose, vor dem sie Frasquita und Mercedes warnen. Sie sucht die Konfrontation mit Jose, um ihre Liebe zu Escamillo vor sich zu prüfen und sich unwiederbringlich von ihm zu lösen. Im vierten Akt zieht Carmen in Felsensteins Interpretation einen Schlußstrich unter ihre Vergangenheit; erst dann fühlte sie sich würdig, Escamillos Frau zu werden.148 Damit erreichte sie ihre Autonomie, in dieser Liebe erfüllte sich ihre Persönlichkeit. Das kurze Duett zwischen den beiden, das den Einzug in die Arena unterbricht, inszenierte Felsenstein als öffentliches Eheversprechen, wenn nicht als Hochzeit. Der eitle Torero will durch den Stierkampf, wie er im dritten Akt ankündigt, seine Liebe zur Schau stellen; der Sieg in der Arena und die Hochzeit mit Carmen gehören für ihn zusammen. Escamillo glaubt Carmen so zu lieben, wie sie ihn liebt; das Gelöbnis wird vor der versammelten Menge vollzogen, wenn Carmen den Degen küßt, den ihr Escamillo reicht.149 Felsensteins Interpretation des Duetts zwischen Escamillo und Carmen ist auch für die gedruckte Übersetzung maßgebend: Für die Stellen, in denen im Französischen nur von Liebe die Rede ist,150 wählt er eine Besitzmetaphorik, die weniger auf leidenschaftliche Liebe als auf Ehe zielt.151 Von Escamillo bestellte Banderilleros bildeten ein Spalier; unter den mit Bändern geschmückten Speeren hindurch ging der Torero mit erhobenem Degen in die Arena ab.152 Präziser läßt sich die Tötung des Stiers für die Geliebte kaum zeigen. Da in der Oeser-Fassung dank einiger Takte obskurer

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Felsenstein 1991, S. 97. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 39. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 82. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 81. IV, l (Csampai/Holland 1984, S. 157). Regie-Klavierauszug Carmen (1972), S. 389. Die gesungene Übersetzung näherte Felsenstein wieder stärker dem Original an. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 81, Regie-Klavierauszug Carmen (1972), gegenüber S. 390.

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Provenienz die Ermordung des Stiers unmißverständlich mit der Ermordung Carmens zusammenfallt, verliert Escamillo die Geliebte in genau dem Augenblick, da er sie endgültig zu gewinnen glaubt, wodurch Felsenstein die bei Bizet angelegte tragische Ironie noch unterstrich.153 Jose beobachtete in der Inszenierung diese Hochzeit zwischen Carmen und Escamillo; dennoch blieb er, um Carmen zur Rede zu stellen. Felsenstein interpretierte den Jose des letzten Akts als wahnsinnigen »Missionar«154 seiner Liebe. Selbst in der Charakterisierung seiner verblendeten Liebe als »priesterliche Gläubigkeit«155 erfüllte sich demnach in der Katastrophe konsequent die Vorgeschichte eines Mannes, der ursprünglich Geistlicher werden wollte.156 Seine innere Einstellung entsprach nun Micaelas opferbereiter Liebe, deren Gedanken »Ich muß ihn von diesem Dämon erretten«157 Felsenstein als treibende Kraft ihres Handelns im dritten Akt verstand. Wie Micaela ihn, will Jose nun Carmen retten, obwohl seine Gefühle nicht erwidert werden. Joses Liebe erweist sich nun in vergleichbarer Weise opferbereit. Fanatisch hält er an seinem Plan fest, Carmen zu retten: »Ich entreiße Carmen dem Teufel und führe sie ins Paradies - auch wenn sie mich nicht mehr liebt.«158 Er bezog sich dabei offenkundig auf die Passage des Schlußduetts »Carmen, laß mich dich retten und mich selbst retten mit dir«,159 die er assoziativ aufsein Konzept übertrug. Felsensteins Interpretation entschuldigte somit im Unterschied zur dramatischen Vorlage Joses Verhalten. Am Ende von Bizets Oper steht ein Mord, der in seiner ganzen Sinnlosigkeit dargestellt wird. Jose repräsentiert keine moralische Ordnung, die durch seine Tat wiederhergestellt würde, sondern verübt persönliche Rache. Carmen wird durch ihre Untreue nicht schuldig, denn sie war aufrichtig: Treulosigkeit ist nach dem Text der Habanera die Bedingung, unter welcher sie liebt. An keiner Stelle läßt sie ihn über ihre Gefühle im Unklaren. Bizets Jose glaubt, Carmens Körper und das Begehren, das er hervorruft, sei verantwortlich für seinen Ruin. Also muß er sie töten. Schuldig ist für ihn nicht Escamillo, sein Rivale, sondern Carmen, die ihn verließ und sich in seiner Sicht dem Verführer hingegeben hat. Felsenstein inszenierte zwar keinen Eifersuchtsmord, doch löste er die Paradoxie der Vorlage in eine unzweideutige Relation auf. Der Gegensatz zwischen Joses Wunsch nach Bindung und Carmens Streben nach Autonomie spielte in seiner Deutung keine Rolle. Bei Felsenstein ist nicht die Konstellation tragisch, sondern das Schicksal Joses. Sein Wahnsinn enthebt ihn der Verantwortung für seine Tat; er wird wie schon im zweiten Akt der Inszenierung schuldlos schuldig.160 Felsensteins Carmen setzte ihm eine unerbittliche Härte entgegen, um ihn zur Einsicht zu zwingen, daß seine Liebe vergeblich sei. Im Bewußtsein, alles gesagt zu haben, wolle sie »rein vor

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Vgl. Dean 1965, S. 250f. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 84. Felsenstein 1976, S. 249. I, 3 (Csampai/Holland 1984, S. 51). Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 70. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 83. W, 2 (Csampai/Holland 1984, S. 161). Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 85ff.

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ihren Gatten treten«.161 Mit ihren letzten Sätzen bekannte sie sich offen zu Escamillo; Jose verlor die Beherrschung und »besinnungsloser Jähzorn, der ihn schon einmal zum Mörder werden ließ«,162 läßt ihn in Felsensteins Sicht das Messer ziehen und Carmen im Affekt erstechen. Aufgrund fehlender Angaben im Regiebuch und der Inszenierungsbeschreibung läßt sich die Schlußszene nach dem Mord nur ungefähr rekonstruieren. In einem Vorstellungsbericht heißt es: »Große, veristische, sicherlich von geschmacklosen Platten abgehörte Schluchzer servierte der Darsteller, als Carmen tot vor ihm lag, nachdem er entgegen unseren Absprachen und die Figur damit unverständlich machend auf Carmen zuging und sie mordete.«163 Offenbar stand Jose verzweifelt hinter der Leiche Carmens; Escamillo trat, gefolgt von den Banderilleros, aus der Arena, blieb stehen und zog den Hut. Deutlich wird demnach, daß Felsenstein Joses Verhalten weitgehend entschuldigte. Jose ging weder auf Carmen zu, noch lief sie vor ihm davon. Der Regisseur inszenierte keinen brutalen Eifersuchtsmord, sondern eine plötzliche Affekttat, einen zweiten Mord aus Jähzorn, in dem sich das tragische Schicksal des schuldlos schuldigen Jose erfüllt. Er blieb damit sich und seinem Charakter ebenso treu wie Carmen ihrer neu gefundenen Identität. »Im Bewußtsein, ihr Leben erfüllt zu haben, ist sie auch den Drohungen des Rasenden unzugänglich. Indem sie die Arena betreten will, um am Sieg ihres Gatten teilzunehmen, rennt sie in das Messer des seiner Mordtat unbewußten Jose.«164 Im Unterschied zum sinnlosen Tod der weiblichen Hauptfigur bei Bizet interpretierte Felsenstein den Schluß der Oper durch die Akzentuierung der Opferbereitschaft Carmens in einen Sieg der Liebesidee um, für die Carmen in Vollendung ihres Lebens stirbt. Denn in der Auseinandersetzung mit Jose beweist Carmen zuletzt Todesbereitschaft für den Geliebten. Ihre Liebe ist nun nicht mehr egoistisch oder käuflich, sondern in Felsensteins Verständnis von einer Selbstlosigkeit erfüllt, die Micaelas Opferbereitschaft gleicht, wenn diese im dritten Akt furchtlos auf einen Mann zugeht, der ein Gewehr auf sie richtet. Diese mehr als erstaunliche Gleichsetzung von Micaela und Carmen verkehrte den Liebesbegriff der Oper Bizets in ihr Gegenteil. Bei Felsenstein starb sie als Märtyrerin ihrer Liebesidee von der Hand des »Apostels« der opferbereiten Liebe. Ihre Gefühle für Escamillo »vermag selbst der Tod nicht zu vernichten«.165 Carmens Tod ist vor allem ein Theatersymbol für die Unauflösbarkeit des Konflikts, kein tragischer Untergang. Trotz der Katastrophe triumphiert auch hier, nicht anders als in Otello, die Idee der Liebe über das individuelle Unglück der Figuren.

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Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 88. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 89. Vorstellungsbericht vom 16.11.1973, S. l, vgl. das Foto bei Koerth 1973, S. 85. Felsenstein 1976, S. 249. Inszenierungsbeschreibung Carmen, S. 85.

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7. Felsensteins Inszenierung und Oesers Edition Felsensteins CarweH-Interpretation schlug sich auch an einer Stelle nieder, wo man subjektive Lesarten weniger erwartet: in Fritz Oesers sogenannter »Kritischer Neuausgabe nach den Quellen«. Der Herausgeber - Leiter der Alkor-Edition, eines Teil des Bärenreiter-Verlags, der dank einer gesamtdeutschen Händel-Ausgabe gute Beziehungen zu DDR-Verlagen unterhielt - wollte Anfang der sechziger Jahre ursprünglich nur eine revidierte Neuausgabe des in Deutschland nicht mehr geschützten Werks veröffentlichen, die Rezitative und Dialoge in Felsensteins Übersetzung enthalten sollte.166 Bei der Suche nach Bizets Orchestrierung der aus dem Klavierauszug des Komponisten schon länger bekannten Urfassung des Messerkampfs zwischen Don Jose und Escamillo im dritten Akt und des vor der Premiere wieder gestrichenen Morales-Couplets entdeckte der Herausgeber im Archiv der Pariser Opera-Comique die handschriftliche Dirigierpartitur der Uraufführung. Sie enthielt auf überklebten und zusammengenähten Seiten bisher unbekannte Musik, die Bizet während der Proben zur Uraufführung gekürzt oder umgearbeitet hatte. Freilich veröffentlichte Oeser nicht nur seine Entdeckung. Er schuf eine Spielfassung, die nicht nur wörtlich Felsensteins »Tragödie der vertauschten Liebesobjekte«,167 sondern auch dessen Theaterkonzept zugrunde legte. Der Herausgeber ging von der nicht belegbaren Hypothese aus, daß alle Änderungen gegen den Willen des Komponisten erzwungen wurden. Oeser versuchte ähnlich wie bei seiner späteren Hoffmann-Ausgabe eine willkürliche Rekonstruktion dessen, was Bizet seiner Ansicht nach gewollt habe, und ignorierte dabei, daß mit dem vom Komponisten selbst arrangierten Klavierauszug eine Fassung letzter Hand existiert.168 Was als Schlußredaktion des Komponisten verstanden werden kann, deutete Oeser als Verfälschung der ursprünglichen Konzeption durch Sachzwänge der Theaterpraxis. Daß Felsenstein dies überzeugte, überrascht kaum. Über die Urfassung der Szene, in der Carmen Jose die Blüte zuwirft, schrieb Oeser bald nach seiner Entdeckung an Felsenstein: »Man kann sich leicht vorstellen, daß ein Regisseur, dem es nicht gelingt, die Spannung zwischen den beiden durch das Spiel herzustellen, zu Meilhac sagt: Ich brauche hier ein paar Textworte, damit die Leute verstehen, was vor sich geht. Gesagt, getan, und man versucht die Textworte unterzubringen, indem man die Worte auf die Fermate sprechen läßt, wobei man den Ton h zum ftp abdämpft. Nun erweist sich die musikalische Vorbereitung als zu lang oder als überflüssig, man bewegt Bizet dazu, daß er 17 Takte streicht und stattdessen die vier pp-Takte einfügt, - womit der Eros Thanatos ins Neckische umgewandelt ist. Erst wenn die ursprüngliche Version wiederhergestellt ist, wird die Rückerinnerung an diesen Augenblick, wie sie Don Jose vor Beginn der >Blumen-Arie< überfallt, voll wirksam, - und von hier aus gesehen, tut es

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Brief Oesers an Felsenstein vom 13.6.1962, Rep. II, b, Nr. 1666. Zur Person Oesers vgl. den Nachruf in Musica, 1982, S. 194ff. Oeser 1964, S. 710. Vgl. Wright 1978, S. 62. 127

mir leid, daß Bizet den ursprünglichen Schluß der ganzen Oper (auch er ist erhalten) umkomponiert hat, denn dort erklang noch einmal das ganze Schicksalsthema.«169 Dieses Briefzitat illustriert nicht nur die Ansichten des Herausgebers über den Verlauf der Proben zur Uraufführung, über die keine Dokumente vorliegen, sondern darüber hinaus seine Vorstellung von Dramatik. Wie Felsenstein verstand Oeser Carmen als klassizistische Tragödie, und wie der Regisseur hielt er die dramatische Kausalität, bei der jeder Augenblick von Vor- und Rückbezügen erfüllt ist, für ein unumstößliches Naturgesetz, dem notfalls durch Verfälschung philologischer Befunde Geltung verschafft werden müsse. Daß die Librettisten im Gegensatz zu konventionellen Dramenmustern bewußt auf Kohärenz verzichtet haben könnten, um die Komplexität von Realität durch eine Dramaturgie des Zufalls abzubilden, der Bizets aphoristische Kürze kongenial entspricht, zogen weder Felsenstein noch Oeser in Betracht. Der englische Musikwissenschaftler und Bizet-Biograph Winton Dean formulierte bald nach Erscheinen der Ausgabe kritische Einwände gegen Oesers Umgang mit der Musik.170 Nicht minder fragwürdig erscheinen jedoch die Eingriffe in den vertonten Librettotext, die auf den ersten Blick nicht erkennbar sind. Der Herausgeber veröffentlichte zusätzlich zum Klavierauszug und zur Partitur in gesonderten Bänden zwei verschiedene kritische Berichte unterschiedlichen Umfangs, die eine bunte Mischung aus kritischem Bericht, Spekulation und Interpretation darstellen.171 Der Benutzer erfährt zwar aus der Zeichenerklärung, daß Hinzufügungen des Herausgebers in eckigen Klammern stehen, doch diese scheinbare Genauigkeit trügt: Erst nach eingehendem Studium des kritischen Berichts wird deutlich, daß Oeser zahlreiche »übergenaue und dem Zeitgeschmack des 19. Jahrhunderts verhaftete«172 Szenenanweisungen der Librettisten strich und dafür neue ergänzte, die offenkundig vom Geist der Inszenierung Felsensteins geprägt sind und - wie der Briefwechsel belegt in enger Absprache mit dem Regisseur hinzugefügt wurden. Manche sind nicht einmal als Zutat gekennzeichnet, so etwa jene im vierten Akt über den Streichersextolen, die nach dem Abgang des Chors zum Schlußduett überleiten: »Carmen geht entschlossen auf Jose zu«.173 Diese Szenenanweisung ist ein treffendes Beispiel für Felsensteins Regieprinzip des »Vorausseins« und nicht ohne gestische Logik; mit derselben Berechtigung könnte hier aber auch Jose auf Carmen zugehen. Nicht jedoch nach Felsensteins Theaterkonzept, das den Gesang als durch Regie zu legitimierenden Ausnahmezustand menschlichen Verhaltens begreift: Da Carmen Jose singend anspricht und nicht umgekehrt, muß die affektive Steigerung, die zu diesem Gesangseinsatz führt, aus einer szenischen Aktion entwickelt werden. In Felsensteins In-

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Brief Oesers an Felsenstein vom 29.4.1963, Rep. II, b, 1668, Blatt 3. Oesers Vorstellung von einem willenlosen, leicht beeinflußbaren Komponisten war offenkundig von seinen Erfahrungen als ehemaliger Mitarbeiter der Bruckner-Gesamtausgabe geprägt. Dean 1965, 1973 und 1978, Didion 1988, S. 163, Didion/Heinzelmann 1992, S. 104ff. Robert Didion und Josef Heinzelmann haben eine verbesserte Neuausgabe vorgelegt, die erstmals auch die Dialoge und Szenenanweisungen philologisch adäquat wiedergibt (Erstaufführung Oper Frankfurt 1992, Klavierauszug Schott, Mainz 2001). Im folgenden ist stets der vollständige kritische Bericht der Partitur gemeint. Oeser 1964, S. 708. Oeser-Klavierauszug, S. 395.

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szenierung trat daher Carmen an Jose heran, nicht Jose zu Carmen: »An Carmens Zustand - sie bleibt erstaunlicherweise, nachdem alle in die Arena abgegangen sind, allein zurück - erkennt man höchste Erregung und beherrschte Entschlossenheit. Sie scheint die Begegnung mit Jose zu suchen, um mit ihm endgültig Schluß zu machen und frei von jeder Bindung das neue Leben mit Escamillo zu beginnen.«174 Im Klavierauszug Bizets heißt es nur, daß Carmen und Jose allein zurückbleiben; im LibrettoErstdruck ist die Szenenanweisung etwas ausführlicher formuliert und beschreibt auch noch die Musik.175 Recht zweifelhaft vor dem Hintergrund von Felsensteins Regiestil ist Oesers Streichung des Ritornells vor der zweiten Strophe von Escamillos Couplet, die er durch zwei Takte der begleitenden Baßfigur ersetzte.176 Bezeichnenderweise findet sich diese Kürzung nicht nur in Bizets Autograph, sondern auch schon in der Strichfassung der Inszenierung Felsensteins von 1949.177 Zwar scheint es sicher zu sein, daß Bizet an dieser Stelle geändert hat, stutzig macht jedoch Oesers Begründung, Bizet habe mit den beiden Takten aussagen wollen, daß Escamillo den Chor seiner Bewunderer abrupt zum Schweigen bringe, »weil er in seiner reklamehaften Stierkampfschilderung fortfahren und sie zum Höhepunkt treiben möchte«.178 Diese Geste steht zwar nicht im Regiebuch von 1972,179 sie wäre jedoch für Felsensteins Regiestil außerordentlich typisch. Oesers Verständnis der Szene stimmt jedoch völlig mit seiner Inszenierung überein: »Sein Lied vom Stierkampf- in seiner reißerischen Dramatisierung und schamlosen Effekthascherei von der Menge frenetisch bejubelt - wird von Carmen mit gläubiger Faszination aufgenommen.«180 Oesers Revision, die sich in der Aufführungspraxis ansonsten nicht durchgesetzt hat, kam den Absichten von Felsensteins Inszenierung, die Bizets effektvolles Couplet zur bewußten Strategie der Figur Escamillo umdeutete, zumindest entgegen. Was immer auch im von Oeser entdeckten Material stehen mag, in Bizets Klavierauszug wird das Ritornell wiederholt, wie es der traditionellen Fassung dieser Nummer entspricht.181 Besonders problematisch sind zwei Hinzufügungen Oesers, die zwar als solche gekennzeichnet sind, aber in die inhaltliche Substanz der Oper eingreifen. Bei den beiden musikalischen Reminiszenzen an den Refrain des Torero-Couplets im zweiten und dritten Akt unmittelbar nach Escamillos jeweiligem Abgang ergänzte Oeser zwei Szenenanweisungen, die Carmens Beziehung zu dem Stierkämpfer verdeutlichen sollen.182 Beide Änderungen nahm Oeser in Absprache mit Felsenstein vor: »Frage: sollte man nicht, wie Sie es auch an der Parallelstelle im 3. Akt (S. 346) getan haben, hier mit einer szenischen Bemerkung nachhelfen, die klarstellt, daß schon die erste

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Felsenstein 1976, S. 249. Vgl. den von Bizet arrangierten Klavierauszug, Choudens [l 875], Nr. 3554, S. 333, Klavierauszug Didion/Heinzelmann, S. 468 sowie IV, 2 (Csampai/Holland 1984, S. 159). Oeser 1964, S. 755. Zur Kompilation dieser Stelle vgl. Dean 1965, S. 853. Regie-KJavierauszug Carmen (1949), S. 105. Oeser 1964, S. 755. Regie-KJavierauszug Carmen (1972), gegenüber S. 156. Felsenstein 1976, S. 244. Vgl. Bizets Klavierauszug, S. 134 und Klavierauszug Didion/Heinzelmann, S. 221. Oeser-Klavierauszug, S. 171 und 346.

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Begegnung mit Escamillo fur Carmen entscheidend geworden ist? Das Nachspiel gilt doch - vor allem der chromatische Gang ab Ziffer 43 und die vorangehende Zweistimmigkeit - Carmen, so daß eine Bemerkung >Carmen sieht Escamillo lange nach< deutlich, aber nicht überdeutlich wäre.«183 Ob die Musik zum Abgang des Chors aus der Schenke des Lillas Pastia im zweiten Akt wirklich so affektgesättigt ist, daß sie eine solche Deutung zuläßt, darf bezweifelt werden. Fragwürdig erscheint die Ergänzung Oesers vor allem deshalb, weil sie Felsensteins subjektive Interpretation kodifiziert, daß sich die Bemerkung Carmens im nachfolgenden Quintett, sie sei verliebt, wie um den Verstand zu verlieren, auf Escamillo beziehe und Jose nur stellvertretend Objekt der neuen Leidenschaft Carmens würde.184 Schwerer noch wiegt die zweite Änderung bei Escamillos Abgang im dritten Akt, bei der die Musik und die dramatische Situation eine solche Hinzufügung eher rechtfertigen würden, zumal Oeser hier eine Urfassung dieser Stelle für vier Solo-Celli entdeckt hat, die in die neuere Auftuhrungstradition Eingang gefunden hat.185 Bei Oeser lautet die ganze Szenenanweisung: »Carmen schaut Escamillo, der sich langsam entfernt, verzückt nach. Danca'iro behält Jose scharf im Auge.«186 Im Erstdruck des Librettos heißt es dagegen: »Don Jose will sich auf den Torero stürzen, Danca'iro und Remendado halten ihn zurück. Escamillo geht langsam ab.«187 Oeser änderte diese Szenenanweisung, weil sie seiner Meinung nach »in krasser Weise der Aussage der Musik widerspricht« und spekulierte, daß Bizet, je näher der Aufruhrungstermin rückte, immer weniger darauf geachtet habe, ob sich die Spielanweisungen der Librettisten noch mit der musikalischen Ausgestaltung vertrügen.188 Abgesehen davon, daß Oesers Spekulation voraussetzt, Bizet habe die Oper von Anfang bis Ende kontinuierlich Nummer für Nummer komponiert, was für sich eine seltsame Ausnahme wäre, spricht auch hier aus Oesers Änderung der Geist des realistischen Musiktheaters