Okzitanische und katalanische Verbprobleme: Ein Beitrag zur funktionellen synchronischen Untersuchung der Verbalsystems der beiden Sprachen (Tempus und Aspekt) 9783111626444, 3484520329, 9783484520325


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German Pages 264 [272] Year 1971

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Okzitanisch und katalanisch im Verständnis der romanischen Sprachwissenschaft und der Sprecher
Forschungsbericht
Hauptteil
Schlußbemerkungen
Anhang
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Okzitanische und katalanische Verbprobleme: Ein Beitrag zur funktionellen synchronischen Untersuchung der Verbalsystems der beiden Sprachen (Tempus und Aspekt)
 9783111626444, 3484520329, 9783484520325

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BEIHEFTE ZEITSCHRIFT

FÜR

ROMANISCHE

BEGRÜNDET FORTGEFÜHRT

ZUR

VON

VON

HERAUSGEGEBEN

GUSTAV

WALTHER VON

127. Heft

GRÖBER

VON

KURT

PHILOLOGIE

WARTBURG

BALDINGER

BRIGITTE

SCHLIEBEN-LANGE

Okzitanische und katalanische Verbprobleme Ein Beitrag zur funktionellen synchronischen Untersuchung des Verbalsystems der beiden Sprachen (Tempus und Aspekt)

MAX N I E M E Y E R VERLAG 1971

TÜBINGEN

ISBN 3-484-52032-9 © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1971 Alle Rechte vorbehalten. Printed in Germany Satz: Bücherdruck Helms KG Tübingen Einband von Heinr. Koch Tübingen

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort Okzitanisch und katalanisch im Verständnis der romanischen Sprachwissenschaft und der Sprecher

XI 1

Forschungsbericht

5

1.

Okzitanisch

6

1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 1.4.1. 1.4.2. 1.5.

Gesamtdarstellungen der okzitanischen Syntax Monographien zu Einzeldialekten Untersuchungen zum Verbalsystem des Okzitanischen Untersuchungen zu Einzelproblemen Zum Surcomposé Zu „anar + Inf." Historische Abhandlungen Zusammenfassung

6 11 11 13 13 13 14 15

2. 2.1. 2.2. 2.3.

Katalanisch „Materialsammlungen" Deskriptive Grammatiken Einzeluntersuchungen Zusammenfassung

17 17 17 19 22

3. 3.1. 3.1.1. 3.1.2.

Allgemeine Romanistik Verbalperiphrasen Methodisches Inventarisierung der Periphrasenbestände in einzelnen romanischen Sprachen Einzelprobleme „Aller + Inf." im Französischen Zusammenfassung von 3.1.1. - 3.1.3.1 Surcomposé - Geschichte der Forschung - Zusammenfassung Verbalsystem Zusammenfassung

24 24 24 29 34 34 36 37 39 45 50 64

Allgemeine Sprachwissenschaft Verbalperiphrase - Hilfsverb Traditionelle Sprachwissenschaft

67 67 67

3.1.3. 3.1.3.1. 3.1.3.2.

3.2.

4. 4.1. 4.1.1.

V

4.1.2. 4.1.2.1. 4.1.2.2. 4.1.2.3. 4.2. 4.3. 4.4. 4.4.1. 4.4.2.

Strukturalistische Richtungen Nordamerikanischer Strukturalismus Transformationelle Grammatik Europäischer Strukturalismus Kategorien, die mit der Wortart „Verb" auftreten Aspekt - Aktionsart Verbklassen Nicht-transformationelle Klassifizierungen Transformationelle Subkategorisierungen

Hauptteil 0.1. 0.2. 0.3. 0.4. 0.4.1. 0.4.1.1. 0.4.1.2. 0.4.1.3. 0.4.2. 0.4.2.1. 0.4.2.2. 0.4.2.3. 0.4.3. 0.4.4. 0.4.5. 0.4.6.

Okzitanisch Katalanisch Verbalsystem Verbalperiphrasen Kriterien zu ihrer Identifizierung Semantische Paradigmatische Syntaktische Konstituierende Bestandteile der Periphrasen Hilfsverben Grammatikalische Form der Vollverben Verbindungselement Kombinatorik Syntaktische Kombinatorik Zur Frage der „Grammatikalisierung" Stilistische Verwendung - Platz im System

68 68 70 72 75 79 85 85 86 91 92 93 93 95 98 98 100 100 103 103 104 105 105 107 108 111

1. Das Verbalsystem des Okzitanischen und des Katalanischen . . .

112

1.1.

113 115 115 116 119 121 122 123 124 125 125 125

1.2.

1.3.

1.4. 1.5. 1.6.

Präsens Okzitanisch Katalanisch Imperfekt Okzitanisch Katalanisch Präteritum Okzitanisch Katalanisch Futur Einfaches Plusquamperfekt Konditional

2. Zusammengesetzte Zeiten — Sekundäre Perspektive

126

2.1. 2.1.1.

127 127 129 132 132

2.1.2. VI

Zusammengesetzte Zeiten mit „habere" Zeitraum Präsens Okzitanisch Katalanisch Zeitraum Imperfekt

2.1.3. 2.1.4.

Zeitraum Präteritum Zeitraum Futur / Konditional

133 134

2.2.

Überkomponierte Zeiten

134

2.3.

2.4.

Okzitanisch

138

Typ Typ Typ Typ

139 148 150 150

1 2 3 4

Überblick

151

Katalanisch

152

Exkurs zum Französischen Historischer Exkurs

153 154

Anar + Infinitiv

155

Historischer Exkurs

156

Französisch Katalanisch Okzitanisch

163 163 163

Moderner Gebrauch

164

Okzitanisch

164

Typ „Historisches Präsens" Typ „Inchoativum" Typ „Ingressivum" Typ „Nahes F u t u r " Kombination mit dem Imperfekt Kombination mit dem Präteritum Kombination mit dem Futur Kombination mit dem Konditional Kombination mit zusammengesetzten Zeiten Kombination mit Imperativ und Infinitiv

167 170 171 171 172 174 176 176 176 177

Katalanisch

177

Präsens Imperfekt Präteritum Futur / Konditonal Zusammengesetzte Zeiten / Infinitiv

178 179 179 180 181

Volere + Infinitiv

181

Historischer Exkurs Modernes Okzitanisch Katalanisch

182 183 184

3.

Aspektuelle Untersysteme • Gestaltung durch Periphrasen .

185

3.1.

Resultat

185

Okzitanisch Katalanisch

185 188

VII

3.2.

3.3.

3.4.

Passiv Periphrasen mit Partizip

188 189

Tenii + Partizip Präsens Imperfekt Präteritum

189 192 192 192

Tenir de + Partizip Quedar + Partizip Restar + Partizip Deixar + Partizip

193 193 194 194

Einfache Wiederholung

195

Okzitanisch Katalanisch

195 197

Schau

198

Historischer Exkurs

199

(Se) prendre a + Infinitiv Partielle Schau

200 201

Modernes Okzitanisch

203

„Me preni e me'n vau" „Partielle Schau"

203 204

Estre a + Infinitiv

205

Katalanisch

205

„Agafo i me'n vaig" Estar + Gerund Anar + Gerund Seguir +• Gerund

206 206 208 211

Phase

213

Okzitanisch

213

Anar + Infinitiv; voler + Infinitiv Anar per + Infinitiv Estre per + Infinitiv Estre a punt de + Infinitiv Comengar de / a + Infinitiv Se metre / se botar a + Infinitiv Estre en trin de + Infinitiv Contunhar de / a + Infinitiv Finir de + Infinitiv u. a Finir per + Infinitiv u. a Venir de + Infinitiv

213 214 214 215 215 215 216 216 216 217 217

Katalanisch

218

Schlußbemerkungen 1. Charakterisierung der beiden Sprachen nach Maßgabe der Untersuchungen

219

1.1. 1.2. 1.3.

219 220 220

VIII

Okzitanisch Katalanisch Vergleich der beiden Sprachen

219

2. Ergebnis in Hinsicht auf die eingangs gestellten Fragen

221

2.1. 2.2. 2.3. 2.4.

221 221 221 221

Einheit der Sprachen Stellung in der Romania „Konservative" Sprachen Bewußtsein der Sprecher. Normative Bemühungen

3. Ergebnisse für die sprachwissenschaftliche Fragestellung 3.1. 3.2. 3.3.

222

Unterscheidung der Periphrasen von gleichlautenden Vollverbfügungen Funktion der Verbalperiphrasen Verhältnis von System und Norm

222 222 223

4. Probleme

223

Anhang Statistiken Kartenmaterial Informanten Untersuchte Texte Literaturverzeichnis

225 226 229 236 237 239

IX

VORWORT

Zwei Überlegungen waren es, die zum Plan der vorliegenden Arbeit führten: 1. Die Konzentration der Bemühungen der Sprachwissenschaftler, gerade auch im Bereich der Romanistik, auf das Verb und seine Kategorien ist unübersehbar. So sind in den letzten zehn Jahren gerade auf diesem Gebiet eine Reihe von wichtigen Werken erschienen, die von verschiedenen Ansatzpunkten her versuchen, diese Problematik in den Griff zu bekommen. Und diese Konzentration auf das Verb hat seine guten Gründe: — Im Verb und seinen Kategorien vollzieht sich die Lokalisierung des sprachlichen Vollzugs in der Situation. Personale und temporale Deixis sind untrennbar mit dem Verb verbunden. — Das Verb ist in dieser Qualität auch der Mittelpunkt der sprachlichen Aktualisierung im Satz: — Die Verbmorpheme sind großteils Satzmorpheme (Hjelmslev; „ A u x " in der T G ) ; — Die Besetzbarkeit des Verbs entscheidet über die Art der Prädikation. 2. Wenn wir uns nun aber den Bemühungen um das Verb im Bereich der romanischen Sprachen zuwenden, so müssen wir feststellen, daß sich die Diskussion auf dem Gebiet vor allem des Französischen und des Spanischen abspielt. Es ist befremdlich, wie sehr gerade die Sprache, von der unsere heutige Romanistik ihren Ausgang genommen hat: das Provenzalische, vernachlässigt wird, und Ähnliches gilt fürs Katalanische, wenn auch in geringerem Maße (weshalb dann auch in meiner Untersuchung das Okzitanische etwas im Vordergrund stehen wird). So sind zwar die romanischen Literatursprachen in der Größenordnung des Französischen und des Spanischen in dieser Hinsicht gut erforscht und bilden das Versuchsfeld für ständige Neudiskussionen (und das aus gutem Grund: selbstverständlich eignen sich allgemein zugängliche Sprachen besser für Methodendiskussionen) — es wird aber vielfach übersehen, daß gerade zentrale Probleme des romanischen Verbs, wie die Organisation in sekundärer und tertiärer Perspektive, die aspektuellen Subsysteme, gerade unbedingt in diesem großen Sprachgebiet zwischen VaXI

lencia und Lyon betrachtet werden müssen, nicht nur in Paris und Madrid. So entstand also der Plan, solche Erscheinungen des romanischen Verbs im okzitanischen und katalanischen SpraQhraum zu untersuchen. Freilich ist das Unternehmen dorniger, als es zunächst scheinen mag: 1. Die besondere Situation der beiden Sprachen macht eine Reihe von methodischen Vorüberlegungen notwendig, die bei der Untersuchung einer der großen Schriftsprachen überhaupt nicht auftauchen. Allerdings macht gerade diese Problematik von durchgehender Bilinguismus-Situation und verschiedenen Ausprägungen normativen Bewußtseins einen zusätzlichen Reiz einer solchen Studie aus. 2. Methodendiskussionen, die für die großen romanischen Sprachen geführt wurden, betreffen selbstverständlich unsere Sprachen nicht minder: Die Tatsache, daß kaum Literatur zum untersuchten Sprachraum vorliegt, besagt keinesfalls, daß nun deren Untersuchung bei einem Nullpunkt beginnen könnte. Diese beiden Schwierigkeiten machen es notwendig, Gegenstand und Methode ausführlich zu bestimmen, wie es in der Einleitung zu den untersuchten Sprachen und im Forschungsbericht dann auch geschieht. Die Darstellung beschränkt sich auf Funktionen des Verbs in den beiden Sprachen im Bereich von Tempus und Aspekt in synchronischer Hinsicht, mit besonderer Berücksichtigung der Verbalperiphrasen zum Ausdruck dieser Kategorien. Das hindert nicht, daß sich die vorliegende Untersuchung auch versteht als Beitrag — zur S y n t a x , nicht nur zur Bestimmung isolierter Funktionen; — zum Studium des r o m a n i s c h e n Verbs, nicht nur zu den beiden Sprachen; — zur G e s c h i c h t e einzelner Funktionen. Eine solche Untersuchung wäre nicht möglich ohne die hilfreiche Auskunft vieler Kenner der beiden Sprachen, die die lückenhaften Angaben von Grammatiken und die Kenntnisse der Verfasserin weitgehend ergänzen mußten. Ihnen sei hier noch besonders gedankt, jenen unter ihnen vor allen Dingen, die von Beginn an meine Bemühungen um die beiden Sprachen ermuntert haben. Was nun meine wissenschaftliche Bemühung um die Verbproblematik angeht, so vollzog sie sich selbstversändlich in der Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Verbdiskussion. Die wertvollsten Anregungen allerdings stammten teilweise aus zu Unrecht in Vergessenheit geratenen oder etwas am Rand der Diskussion gebliebenen Beiträgen: Guillaume, TesniSre, Damourette und Pichon, die vier großen Grammatiker der Dreißigerjahre wurden mit großem Gewinn herangezogen. Was XII

die Verbalperiphrasen angeht, so kann nicht genug auf Benveniste verwiesen werden, zum Surcomposé auf Bonnard, zum okzitanischen Verb auf Larsen und Sutherland. Abschließend sei voller Dankbarkeit gesagt, daß die allererste Anregung, sowohl was Sprachbereich als auch was Verbproblematik angeht, von meinem Lehrer Prof. Coseriu ausging. Anregungen von ihm standen natürlicherweise am Anfang vieler Überlegungen von mir. So kann es nicht verwundern, wenn seine Auffassungen über sprachliche Phänomene meine Ausfuhrungen auch dort prägen mögen, wo dies nicht ausdrücklich vermerkt ist. Freiburg, Dezember 1970

Brigitte Schlieben-Lange

XIII

OKZITANISCH UND KATALANISCH IM VERSTÄNDNIS DER ROMANISCHEN SPRACHWISSENSCHAFT UND DER SPRECHER 1

Die Lage der beiden Sprachen ist in mancher Hinsicht einer besonderen Betrachtung wert, einmal was ihre Behandlung in der romanischen Sprachwissenschaft („Sprache"-„Dialekt"-Diskussion; Einheit der Sprachen; Klassifikation der Romania u n d Einordnung der beiden Sprachen) angeht, zum anderen in Hinsicht auf ihren besonderen Status: sie sind nicht Staatssprachen; das Okzitanische ist zudem eine Sprache ohne allgemeinverbindliche Norm. Daraus ergeben sich besondere Konsequenzen für das Sprachbewußtsein der Sprecher der beiden Sprachen, insbesondere für das der Schriftsteller. Eine ausführliche Darstellung dieser gesamten Problematik würde im Rahmen dieser Darstellung des Verbalsystems der beiden Sprachen zu weit führen. Es seien nur kurz die Fragen festgehalten, die sich aus der besonderen Lage ergeben und die wir bei unserer Untersuchung des Verbs nicht aus den Augen verlieren dürfen.

1.

Aus der Diskussion der Romanistik zu den beiden Sprachen:

1.1.

Zur Einheit

Verhalten sich die verschiedenen Dialekte des „okzitanischen" Sprachraums in Hinsicht auf die verbale S y n t a x , bes. die Verbalperiphrasen gleich, das heißt: läßt sich in diesem Punkt der Syntax eine Einheit feststellen? Weiter gefaßt: In welchem Maß läßt sich ein einheitliches Verhalten innerhalb der gesamten Romania feststellen? 1 Die vorliegende Arbeit ist als Dissertation beim Fachbereich Neuphilologie der Universität Tübingen eingereicht worden. Sie enthielt eine ausführliche Darstellung der hier angeschnittenen Problemkreise, die unter dem Titel: Okzitanisch und Katalanisch: Ein Beitrag zur Soziolinguistik zweier romanischer Sprachen (TBL 20, Tübingen 1971) gesondert erscheint. Einen - programmatisch gehaltenen - Vortrag habe ich auf dem 6e Congrès de langue et littérature d'Oc im August 1970 in Montpellier zu einem Aspekt dieser Problematik vorgelegt: Er erscheint unter dem Titel: Das sprachliche Selbstverständnis der Okzitanen im Vergleich zur Situation des Katalanischen, in: Interlinguistica, Festschrift für Mario Wandruszka, Tübingen 1971.

1

1.2.

Zur Klassifikation

1.2.1. Läßt sich eine Übereinstimmung der „südromanischen" Sprachen, der „Romania continua" gegenüber dem Französischen feststellen? 1.2.2. Welche Beiträge kann die Untersuchung der verbalen Syntax zur Gallorornania-Iberoromania-Problematik leisten? 1.2.3. Haben die untersuchten Sprachen in Hinsicht auf die untersuchten Erscheinungen irgendwelche Gemeinsamkeiten, die sie sowohl vom Norden als auch vom Süden unterscheiden? 1.3.

Zur Diachronie

1.3.1. Zeigen die untersuchten Sprachen einen konservativen Stand im Vergleich mit den anderen romanischen Sprachen? 1.3.2. Finden sich etwa in den untersuchten Sprachen verschiedene historische Phasen derselben Entwicklung nebeneinander? 1.4.

Zum Einfluß der Staatssprache

Macht sich der Einfluß der jeweiligen Staatssprache auf dem untersuchten Gebiet bemerkbar? 2.

Zur Norm und zum Selbstverständnis

2.1. Welche Behandlung erfahren Verbalsystem und besonders Verbalperiphrasen in den normativen Bemühungen um beide Sprachen? 2.2. In welchem Maße sind die Verbalperiphrasen dem Wechselspiel von Einfluß und Abwehr des Einflusses der Staatssprache ausgesetzt? Werden sie als Idiotismen empfunden und übertrieben? Oder werden sie als Einflüsse empfunden und deshalb gemieden? 2.3. Läßt sich ein Unterschied in der Behandlung durch verschiedene Schriftsteller, je nach ihrem Verhältnis zu ihrer Sprache, feststellen? 2.4. Entspricht dem Unterschied zwischen der sprachlichen Situation des Okzitanischen und des Katalanischen auch ein Unterschied in der Behandlung dieser sprachlichen Erscheinungen? Gerade das Wechselspiel von Einfluß und Abwehr und die verschiedenen Verhaltensformen der eigenen Sprache gegenüber müssen unbedingt im Auge behalten werden, da sonst Fehlinterpretationen naheliegen. 2

Soweit die Fragen, die sich aus der Berücksichtigung der besonderen Lage der beiden Sprachen ergeben. Auch wenn wir uns dieser ihrer Problematik stets bewußt bleiben, kann man doch hinsichtlich der Nützlichkeit und Durchführbarkeit einer Untersuchung verbaler Syntax im Katalanischen und Okzitanischen geteilter Meinung sein, und es sind in der Tat gerade hierzu extreme Meinungen vertreten worden: Auf der einen Seite vermutet man die „absence d'une syntaxe propre au provençal. Diese Ansicht ist in dieser Schärfe nur fürs Okzitanische vertreten worden; aber eine gewisse Skepsis in Hinsicht aufs Katalanische, allerdings in wesentlich geringerem Maß, läßt sich doch auch nicht verleugnen. Andererseits erwartet man sich vom Katalanischen gerade besondere Aufschlüsse wegen der „importance qu 'elle offre (= la langue catalane) pour éclaircir beaucoup de points obscurs de la linguistique romane"2. Diese Erwartung ist auch aufs Okzitanische auszudehnen. Sie rechtfertigt sich aus der Brückenstellung und dem konservativen Charakter der beiden Sprachen. Wissenschaftsgeschichtlich ist die Erwartung insofern berechtigt, als es sich um bisher vernachlässigte Gebiete handelt. So extrem also sind die Ansichten über die Nützlichkeit und Ergiebigkeit einer Beschäftigung mit den beiden Sprachen und insbesondere ihrer Syntax. Wir bleiben uns der hier dargelegten besonderen Problematik bewußt, betrachten die beiden Sprachen jedoch — indem wir G. Colons optimistische Erwartung teilen — als Exempel und Sonderfälle romanischer Syntax: ,,L 'étude de la syntaxe occitane devient un cas particulier, et peut-être artificiellement isolé, de la syntaxe romane"3.

1 2 3

Zitiert nach Robert Lafont, La phrase occitane, Montpellier 1967, S. 29, nach G. Paris: Penseurs et poètes, S. 119. Germán Colón Doménech: Enquête linguistique sur le dialecte catalan de Castello in: Orbis I ( 1 9 5 2 ) , S. 1 1 6 - 1 1 9 , S. 119. Lafont, PO, S. 17.

3

FORSCHUNGSBERICHT

Nachdem nun die Fragen gestellt sind, die es gilt, aufgrund der besonderen politischen und sprachlichen Verhältnisse stets im Auge zu behalten, soll die Lage der Forschung zu den Verbalsystemen der beiden Sprachen und dem Platz der Verbalperiphrasen im Verbalsystem skizziert werden. Für das Okzitanische und Katalanische wird in der Darstellung Vollständigkeit angestrebt; die wichtigsten Werke zu den anderen romanischen Sprachen sollen in ihrer Bedeutung für unsere Problematik umrissen werden. Werke der Allgemeinen Sprachwissenschaft werden am Schluß zur Klärung von Begriffen und Methoden herangezogen — die Auswahl ist dort völlig durch die Thematik bestimmt. Die Zusammenstellung des Forschungsberichts ist also ganz themabezogen. Ziel ist es nicht, ein Panorama der allgemeinen Problematik verbaler Kategorien und Verfahren zu geben — was auch schlechterdings vermessen wäre —, sondern vielmehr die Voraussetzungen aufzuzeigen, von denen eine Arbeit auf dem Gebiet des Verbs in romanischen Sprachen ausgehen kann, und zwar sowohl, was 1. Problemstellung, 2. Methoden und 3. konkiete Ergebnisse anlangt.

5

OKZITANISCH 1

1.

Hier soll nur von wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Okzitanischen die Rede sein. All die normativen und deskriptiven Werke, wie sie für die einzelnen Mundarten so zahlreich aus der Feder von Schriftstellern, Geistlichen und anderen sprachbewußten Okzitanen vorliegen, werden im Forschungsbericht nicht berücksichtigt. Die interessanten Materialien, die sie oft enthalten, werden im Hauptteil bei den Einzelinterpretationen zum Tragen kommen 2 . Die Literatur zum Altprovenzalischen erscheint ebenfalls nicht in diesem Forschungsbericht; nur dort wird sie erwähnt, wo sie zur Behandlung von Einzelproblemen erhellend ist. 1.1.

Gesamtdarstellungen der okzitanischen Syntax

Zu Beginn unseres Jahrhunderts beschäftigte man sich erstmals mit n e u provenzalischer Syntax, nachdem im 19. Jh. das Altprovenzalische im Mittelpunkt des Interesses gestanden hatte und mehrmals versichert worden war, das Neuprovenzalische sei für syntaktische Studien wenig ergiebig3 . Diese neue Beschäftigung geschah zunächst in der Form von „ M a t e r i a l s a m m l u n g e n " — so der Titel des ersten Werks dieser Art —, das heißt loser Sammlungen auffälliger und möglicherweise fürs Provenzalische4 charakteristischer Züge, denkbar als Ergänzung zu Meyer-Lübkes „Grammatik der romanischen Sprachen" 5 . Der erste Artikel in dieser Richtung heißt: „Materialien zu einer neuprovenzalischen Syntax" von Eugen H e r z o g 6 , der erklärt, nichts weiter zu wollen als „Materialien für eine künftige Darstellung bereitstellen" (S. 3) „ohne Betrachtung der historischen Entwicklung und ohne systematische Vergleichung mit Nachbarsprachen und Nachbardialekten" (S. 3). Seine Grundlage sind Texte aus der Felibrige-Literatur. Im uns interessierenden Bereich verweist er auf den „Gebrauch des doppelt zusammengesetzten Perfects" (S. 9), das seiner Ansicht nach „völlig gleichbedeutend mit dem Perfect" (S. 9) ist, und er kommt zu der abschließenden Bemerkung:

1 2 3

4 5 6

Dazu als Bibliographie: Glanville Price: Bibliographie de la syntaxe occitane, in: Studia Neophilologica 37 ( 1 9 6 5 ) , S. 2 7 9 - 3 0 0 . Ich klammere auch die normativen Grammatiken wie Alibert, Salvat usw. im Forschungsbericht aus. Cf. S. 3; außerdem Lafont, PO, S. 29; so enthält zum Beispiel Eduard Koschwitz: Grammaire historique de la langue des Félibres, Greifswald-Avignon-Paris 1894, überhaupt keine syntaktischen Bemerkungen. Ich verwende bewußt „Provenzalisch" in Anlehnung an die besprochenen Werke. So z. B. E. Herzog im hier besprochenen Aufsatz, S. 4 . in: 25. Jahresbericht der K. K. Staatsunterrealschule im 5. Bezirke von Wien, Wien 1900.

6

Man sieht also immerhin, dali Koschwitz' Behauptung „la syntaxe des Félibres ne diffère pas beaucoup de celle du français littéraire" nicht zu wörtlich zu verstehen ist. Es findet sich eine Reihe Punkte, die das Provençalische v o m Französischen entfernt und mit den südromanischen Sprachen vereinigt ( . . . ) ; in gewissen Fällen stellt es einen älteren Sprachzustand dar als das Schriftfranzösische. . . (S. 2 2 / 2 3 )

Ungleich vollständiger ist R o n j a t s ,ßssai de syntaxe des parlers provençaux modernes"1. Er vergleicht Texte aus allen okzitanischen Dialekten und versucht erstmalig eine systematische Darstellung der gesamten okzitanischen Syntax, mithin auch des Verbalgebrauchs. Die Materialien, die er vorlegt, sind auch heute als Unterlage für eine neue Untersuchung durchaus wertvoll. Es kann nicht übersehen werden, daß er deutlich Gegenposition gegen die Leugnung einer neuprovenzalischen eigenständigen Syntax bezieht und sich leidenschaftlich für den Nachweis der Originalität engagiert, was ihm von seinen Kritikern mehrfach zum Vorwurf gemacht wurde 8 . Die letzte dieser „Materialsammlungen" aus dem Anfang dieses Jahrhunderts: „Zur galloromanischen Syntax"9 von Arthur F r a n z bringt zu unserer Problematik nichts wesentlich Neues. Er kritisiert vor allem Ronjats engagierte Haltung und seine Methode, die mehr ästhetisch-stilistisch als grammatisch und mehr wertend-idiomatisch als an den tatsächlichen Gegebenheiten orientiert sei. Er weist eindringlich auf die Unterschiede zwischen den okzitanischen Mundarten hin und die Gefahr, als einheitlich zu behandeln, was in Wirklichkeit starke Divergenzen aufweist. Ausführlicher beschäftigt er sich auf dem Gebiet des Verbs mit der schrittweisen Ersetzung des Passé simple durch das Passé composé von der Peripherie her. Bis vor einiger Zeit war Ronjats Darstellung die einzige halbwegs vollständige; Romanisten, die vergleichend arbeiteten, waren fast fünfzig Jahre lang auf seine Informationen angewiesen. Nach dieser langen Zeit der Vernachlässigung okzitanischer Syntax bedeutete die „Etude syntaxique des parlers gévaudanais" von Charles C a m p r o u x 1 0 einen großen Schritt vorwärts. Der Übergang von der „Materialsammlung" zur systematischen Gesamtdarstellung ist vollzogen. Was zu7

Mâcon 1913. Jules Ronjat übernimmt diese seine Thèse mit geringfügigen Änderungen in den 3. Band seiner „Grammaire istorique des parlers provençaux modernes", Montpellier 1937. 8 So z. B. von Arthur Franz im nächsten besprochenen Aufsatz; cf. Rez. von Mario Roques, in: Romania 4 3 ( 1 9 1 4 ) , S. 159. 9 Jena 1 9 2 0 (Supplementheft 10 der ZFSL). 10 Paris 1958. Ergänzend dazu: ders.: Note sur le subjonctif imparfait dans „Discours e Dicho" de F. Mistral, in: Actes et Mémoires, S. 3 5 0 - 3 5 6 . Es soll auch noch darauf hingewiesen werden, daß um dieselbe Zeit n o c h eine andere bedeutende Dialektsyntax herausgekommen ist, die in mancher Hinsicht auffällige Übereinstimmungen in der verbalen Syntax zwischen Midi und äußerstem Norden des frz. Sprachgebiets erkennen läßt: Louis Remacle: Syntaxe du parler wallon de La Gleize, Paris 1952-60.

7

nächst als Ergänzung zu Ronjat für die Mundarten des Gévaudanais geplant war, wurde zur wichtigsten Darstellung okzitanischer Syntax. Der Autor wendet sich entschieden gegen die Isolierung von Einzelfakten, wie die bisherigen Darstellungen sie betrieben hatten, da dies ja gerade dem Wesen der Syntax widerspreche, die eben Relationen und nicht Elemente zum Gegenstand hat. Wohl müßte sich okzitanische Syntax immer im Vergleich mit französischer abwickeln, aber eben nicht als Sammlung von isolierten Fakten, sondern als Darstellung eines Systems, das in sich funktioniert und dann als Ganzes einem anderen, nämlich dem französischen, vergleichend gegenübergestellt werden kann. Was die Methode anbetrifft, so strebt Camproux die Darstellung der gesprochenen Sprache an und kontrolliert seine schriftlichen Zeugnisse durch jahrelange Zuhörerfahrung" . Weit über die Hälfte des Buchs ist einer Beschreibung des Verbs in den Mundarten des Gévaudanais gewidmet. Mithin ist diese Darstellung das Ausführlichste, was zum untersuchten Problembereich vorliegt. Diese Schwerpunktsetzung begründet Camproux 12 mit der zentralen Stellung des Verbs im Satz, aber auch mit der ganz pragmatischen Feststellung, auf dem Gebiet des Verbs seien seine Untersuchungen am ergiebigsten gewesen. Innerhalb des verbalen Bereichs widmet Camproux die größte Aufmerksamkeit dem Modusgebrauch, charakterisiert durch die syntaktische Selbständigkeit des Subjonctif, und der Beschreibung des Temporalsystems. Er stellt ein System von vier einfachen Zeichen fest: Présent, Imparfait, Prétérit, Futur, das nun durch vier verschiedene Verfahren verfünffacht wird, so daß ein System von insgesamt zwanzig Tempora in fünf Gruppen vorliegt: temps simples, temps composés, temps avec „de", temps surcomposés, temps surcomposés avec „de". Die temps composés sind Ausdruck des Resultats und einer nahen Vergangenheit. Soll die resultative Bedeutung klargemacht werden, so werden die temps avec de verwendet. Die temps surcomposés werden bestimmt als „parfait de l'action antérieure indéterminée"13 und ausführlich beschrieben. Was schließlich die letzte Gruppe von Tempora betrifft, so sagt Camproux, daß sie „assez largement et d'une façon toute naturelle"14 gebraucht werden, und beschreibt ihre Funktion folgendermaßen:

11 Zur Methode: „Je contrôlais surtout (. . .) les tournures écrites par les tournures orales, si bien qu'il n'est aucun des exemples que je conservais, qui n'ait été à la fois relevé, sinon dans les termes exacts, du moins dans l'emploi exact, à la fois dans le texte écrit et dans le langage parlé. Au contraire, il m'est arrivé bien des fois de noter des tournures parlées que je ne retrouvais que très rarement dans les textes écrits, ou que je n'y ai même jamais trouvées. Si bien que l'on peut dire que tous les faits relevés sont tous sans exception du domaine de la langue parlée." (S. 17f.). 12 S. 14. 13 S. 45. 14 S. 51.

8

Ces temps de formes surcomposées renforcées de de, n'expriment point de nuance particulière hors de celle q u ' o n peut attendre de l'ajout de „ d e " au parfait de l'action antérieure indéterminée. C'est-à-dire que ces f o r m e s périphrastiques indiqueront également l'antériorité indéterminée mais en soulignant d'une façon plus énergique la valeur du perfectum. Il faut cependant souligner que la valeur d'indétermination disparaît la plupart du temps: il ne reste plus alors que la valeur d ' a n t é r i o r i t é 1 5 .

Allerdings fehlt in Camproux' Buch eine Behandlung der Verbalperiphrasen. Was sich bescheiden als Darstellung der Syntax eines kleinen Mundartgebiets ankündigt, ist in Wirklichkeit die bis dahin vollständigste Syntax des Okzitanischen mit einer Darstellung ihrer Besonderheiten in systematischem Zusammenhang, mit einer guten methodischen Grundlage, die eben durch die Beschränkung auf das Gévaudanais gegeben ist 16 . Ein zweiter moderner Versuch zur okzitanischen Syntax ist vor kurzer Zeit erschienen: Robert L a f o n t s „La phrase occitane"11. Lafont ist Schüler von Camproux und dehnt dessen Fragestellung auf den gesamten okzitanischen Raum aus. Er geht vom Ansatz aus, der Camproux ermöglicht hatte, das Stadium der Materialsammlungen zu überwinden, der Untersuchung der Syntax als Bereich der Relationen zwischen Elementen. Daraus leitet er die Berechtigung ab, den untersuchten Bereich sowohl räumlich als auch zeitlich auszudehnen, solange nur die Relationen die gleichen bleiben. Seine Untersuchung umfaßt also den ganzen räumlichen und zeitlichen Bereich des Okzitanischen, so daß in seinem Buch tatsächlich die weitestreichende Darstellung vorliegt. Andererseits erkennt er gut eine mögliche Konsequenz: daß es nämlich auf dem Gebiet der Syntax überhaupt arbiträr sein mag, eine Einzelsprache zu untersuchen, daß man vielmehr in vielerlei Hinsicht von einer gemeinromanischen Syntax sprechen könnte 1 8 . Anders als Camproux benutzt er schriftliche Quellen, literarische wie auch nicht-literarische (Gerichtstexte, Grammatiken) 19 . Sein linguistischer Ansatzpunkt liegt ganz in der Sprachtheorie Gustave Guillaumes und Bernard Pottiers — Syntax ist für ihn primär Aktualisierung, das heißt Benutzbarmachung von Vorstellungen für die und in der Rede und zwar in den Bereichen von Raum und Zeit — das Verb wird aktualisiert in 15 S. 51 - Das ausführliche Zitat soll zeigen, in welchem Maß sich Camproux auf die gesprochene Sprache bezieht und sonst nicht erwähnte Erscheinungen ausführlich behandelt. 16 Aus der Camproux-Schule ist eine Arbeit zur okzitanischen Syntax hervorgegangen, die leider nicht veröffentlicht vorliegt, aber sehr aufschlußreich ist: Henri Descazeaux: Syntaxe castillane et syntaxe occitane, DES, Montpellier 1962. Die Kenntnis verdanke ich Herrn Prof. Lafont, der mir freundlicherweise ein Exemplar überlassen hat. 17 Montpellier 1967. 18 Cf. oben S. 3. 19 Begründung und Klarlegung dieses Verfahrens S. 25.

9

der „chronogénèse", das Nomen in der „topogénèse" 20 ; in zweiter Linie ist Syntax Aufeinanderfolge, das heißt Reihung und Akkordierung aktualisierter Syntagmata. Unter dem Stichwort „chronogénèse" bringt Lafont 100 Seiten lang Beiträge zum okzitanischen Verb, und zwar sowohl Belegmaterial als auch Interpretationen im Rahmen der Sprachtheorie Gustave Guillaumes 21 , die teilweise, gerade im Fall des Surcomposés, bestechen 22 . Hier finden wir auch erstmalig eine Zusammenstellung der wichtigsten okzitanischen Verbalperiphrasen 23 . Die ganze Arbeit steht auch besonders unter dem Gesichtspunkt, daß verschiedene Dialekte — und ebenso selbstverständlich auch verschiedene Sprachen — verschiedene Phasen derselben Entwicklung aufweisen können 2 4 . Weitere Gesamtdarstellungen liegen zum G a s k o g n i s c h e n v o r , so als ältestes Werk der zu besprechenden: Victor L e s p y: Grammaire béarnaise25. Gerhard R o h 1 f s charakterisiert es in „Le Gascon"26. 1963 erschien eine kleine.Syntax: Jean B o u z e t : Syntaxe béarnaise et gasconne21. Rohlfs' Buch bringt keine Hinweise auf die Syntax — die beiden anderen Werke sind sich trotz 100 Jahren zeitlicher Entfernung recht ähnlich. Es sind „Materialsammlungen", ohne Interpretationen, die, was das Verb betrifft, versichern, der Zeitengebrauch unterscheide sich im Gaskognischen nicht von dem des Französischen 28 , dann allerdings doch einige „Merkwürdigkeiten" nachweisen können.

20 Dieser Begriff ist analog zu dem der „chronogénèse" gebildet, findet sich aber bei Guillaume noch nicht. 21 Zu den Theorien Guillaumes zum Verb cf. unten S. 41f. und S. 56f. 22 Cf. unten S. 41f. 23 Über die Häufigkeit und Verteilung wird der Natur der Untersuchung gemäß nichts gesagt, sondern nur über die mögliche Interpretation innerhalb des Systems. 24 Cf. dazu oben S. 2. Herr Prof. Lafont hat mir freundlicherweise die Materialien zu seinem Buch, die er nicht verwerten konnte, überlassen. 25 Pau 1858, 1880 2 . 26 Tübingen 1970 2 . 27 Pau 1963 - Lespys und Bouzets Bücher bewegen sich auf der Grenze zwischen normativer und deskriptiver Darstellung und sind deshalb in den Forschungsbericht aufgenommen. 28 Lespy: , Les temps et les modes dans nos verbes sont les mêmes que dans la conjugaison française." (S. 329). Bouzet: „Le béarnais emploie les temps de l'indicatif dans les mêmes conditions que le français." (S. 28).

10

1.2.

Monographien zu Einzeldialekten

Die normativen Grammatiken wurden bereits trotz ihrer unbezweifelten Nützlichkeit als Informationsquelle ausgeschieden - Camproux' Monographie zum Gévaudanais wurde wegen ihrer Bedeutung unter die Gesamtdarstellungen eingereiht. Was bleibt, trägt nicht allzuviel zu unserer Problematik bei. Die Dissertationen, die unter Rohlfs' Leitung angefertigt wurden 29 , bringen wenig zur Syntax; ebenso bieten die beiden punktuellen Untersuchungen von Andreas B 1 i n k e n b e r g 30 allenfalls Belegmaterial, aber keine Interpretation. Die Beschreibung der Mundart von Vinzelles (Basse-Auvergne) von Albert D a u z a t 3 1 beschränkt sich auf die Syntax und bringt eine bemerkenswerte Interpretation des Surcomposé 32 . 1.3.

Untersuchungen zum Verbalsystem des Okzitanischen

Zwei Artikel liegen vor, die sich ausdrücklich mit Problemen des Verbs im modernen Okzitanisch befassen. Eine recht scharfsinnige systematische Analyse der auffälligsten Eigenheiten des okzitanischen Verbalsystems gibt J.K. L a r s e n : Perfektum og aorist i provençalsk33. Das Hauptproblem beim Gebrauch der provenzalischen 34 Tempora sei es, wie einst im Lateinischen, die beiden in einer Form zusammengefallenen Funktionen: Aorist und Perfekt, durch getrennte 29 Willy Schönthaler: Die Mundart des Bethmale-Tales (Ariège), Diss. Tübingen 1933. Hugo Bendel: Beiträge zur Kenntnis der Mundart von Lescun (Basses-Pyrénccs), Diss. Tübingen 1934 (Eine Studie von Rohlfs geht voraus, allerdings auch auf Phonetik und Lexikon beschränkt: Gerhard Rohlfs: Le patois de Lescun, Palma de Mallorca 1931). Marianne Löffler: Beiträge zur Volkskunde und Mundart von Ustou (Ariège), Diss. Tübingen 1942. Robert Grözinger: Beiträge zur Kenntnis der Mundart von Bagnèrcs-de-Luchon (Haute-Garonne), Diss. Tübingen 1946. 30 Andreas Blinkenberg: Le patois d'Entraunes, Kopenhagen 1939 (Acta Jutlandica XI, 1); ders.: Le patois de Beuil, Kopenhagen 1948. 31 Albert Dauzat: Notes sur la syntaxe du patois de Vinzelles et des patois de la Basse-Auvergne, in: Annales du Midi 24 (1912), S. 3 8 2 - 3 9 6 ; S. 5 5 1 - 5 6 0 (Syntaxe du Verbe). Eine andere punktuelle Untersuchung desselben Autors sei hier noch erwähnt: A. Dauzat: Quelques aspects de la langue de Mistral, in: Recueil Brunei, S. 3 2 7 - 3 3 8 . 32 Er gibt zwei Bedeutungen: „époque tout à fait vague" (S. 552) und „einfaches Passé composé" von Verben wie „avoir fini" (S. 552f.) Diese Deutung (1912!, also noch vor Ronjat, Essai) nimmt er wieder auf in: A propos des temps surcomposés: Surcomposé provençal et surcomposé français, in: FM 22 (1954), S. 2 5 9 262. 33 in: In memoriam Kr. Sandfeld, Kopenhagen 1943, S. 1 1 2 - 1 2 7 . 34 Ich verwende hier bewußt „provenzalisch" wegen des Gebrauchs des Autors und der Beschränkung auf die prov. Literatur. 11

Formen auszudrücken. Eigenheiten, die bei der Beschäftigung mit dem provenzalischen Verb auffallen, seien alle als Möglichkeiten und Verfahren zu deuten, eine dieser beiden Funktionen deutlich zu machen: So wäre das Surcomposé eine Verdeutlichung der Perfektfunktion, etwa der spanischen Periphrase ,,tener + Part." entsprechend — die Aoristfunktion würde hervorgehoben durch zahlreiche Verfahren: voulé + Inf., zöu de + Inf., vague de + Inf., Wendungen vom Typ „canto que cantaras", ana + Inf. Diese Darstellung behandelt in der Tat die auffälligsten Eigenheiten des provenzalischen Verbalsystems in einleuchtendem Zusammenhang. Wie in anderen Aufsätzen 35 versucht Jan S a b r s u l a in L'aspect et le caractère de l'action verbale en provençal36, die Wiedergabe der slawischen Verbalkategorien Aspekt und Aktionsart in einer romanischen Sprache festzustellen, und zwar hier anhand von Texten aus dem Umkreis des Félibrige. Er kommt zu dem Ergebnis, daß sich die Verhältnisse im Provenzalischen nicht wesentlich unterscheiden von den anderen romanischen Sprachen: Der Ausdruck des Aspekts (perfektiv-imperfektiv) 37 erfolge durch eine Kombination von Tempusformen mit Adverbien und lexikalischem Inhalt der Verben. Als Inhaltsklassen schlägt er „konklusiv", „nicht-konklusiv" und eine durch den Kontext bestimmte Mischklasse vor 3 8 . Die Kategorien, die er unter der Bezeichnung „ordre du procès" (= Aktionsart) zusammenfaßt, werden durch „préverbes" (= Präfixe) oder die Fügung „Verb + Nomen" ausgedrückt. Am Schluß seines Aufsatzes wechselt Sabrsula von der Frage nach den Bezeichnungen einzelner Kategorien auf die der Bedeutung über, stellt die Frage nach der Bedeutung der Verbalperiphrasen und kommt zu folgendem Schluß: Leur fonction sémantique est de spécifier certaines valeurs temporelles ou modales du futur, mais non des valeurs aspectuelles 39 .

35 Cf. dazu: Jan Sabrsula: Les équivalents de l'aspect slave en italien, in: Philologica Pragensia IV, 3, S. 1 4 7 - 1 6 0 ; ders.: K otâzce slovesného vidu ve francouzstiné, in: Cizi jazyky ve skole IV, 3, S. 9 7 - 1 9 5 ; ders.: Les locutions semelfactives et l'aspect perfectif en français, in: Acta Universitatis Carolinae, Philologica 2, Romanistica Pragensia II, S. 9 9 - 1 1 1 ; ders.: Contribution aux problèmes de méthode de la recherche dans le domaine de l'aspect verbal (Langues Romanes), in: Actes Strasbourg X, Bd. 1, S. 157-174;(Cf. besonders Diskussionsbeiträge Pottier, Coseriu); ders.: Les systèmes d'expression du temps, du mode et de l'ordre du procès, in: Philologica Pragensia 6 (1963), S. 3 4 9 - 3 6 2 ; ders.: Un problème de la périphérie du système morphologique: à propos des formations prémorphologiques, in: TCLP 2 (1966), S. 1 8 3 - 1 9 2 . 36 37 38 39

in: Kwartalnik Neofdologiczny (Warszawa) 9 (1962), S. 2 4 9 - 2 6 0 . Zur Terminologie cf. unten S. 80. Zu lexikalischen Verbklassen, cf. unten S. 85. Sabrsula, L'Aspect . . ., S. 259.

12

1.4.

Untersuchungen zu Einzelproblemen

Zwei Erscheinungen des okzitanischen Verbalsystems sind stärker beachtet worden: das Surcomposé, dessen Funktion sich von der des französischen Surcomposé unterscheidet, und die Periphrase „anar + Inf.", die in ihrer — teilweise noch vorhandenen — Präteritalfunktion aufs Katalanische hinweist. 1.4.1.

Zum Surcomposé

In seinem Buch „Les formes surcomposées en français"40 widmet Maurice C o r n u viel Aufmerksamkeit dem okzitanischen Gebrauch der Formen. Er stellt zwei Hauptverwendungstypen fest, einmal die Ersetzung des Passé antérieur in seinen Verwendungsmöglichkeiten und zum anderen die Verwendung „à valeur spéciale", die Entrückung der Handlung in eine unbestimmte Vorzeit 4 '. Dieser zweite Gebrauch nun sei in den okzitanischen Mundarten besonders häufig. In zahlreichen Rezensionen wurden Cornus Interpretationen diskutiert 42 ; darunter bezieht sich auch eine ganz speziell aufs Okzitanische: Albert D a u z a t: A propos des temps surcomposés43, der besonders auf die resultative Funktion im Okzitanischen hinweist, die bei der Kombination mit bestimmten Verben (z. B. finir) zustandekommt.

1.4.2.

Zu „anar + Inf."

In einem Festschriftenbeitrag „Notes de syntaxe gasconne"** weist Edouard B o u r c i e z unter anderem auf die präteritale Verwendung der Periphrase „anar + Inf." hin. Dieser Gebrauch ist zwar mehrfach vorher erwähnt worden 45 , aber mehr als historisches Faktum, während nun Bourciez ausdrücklich auf die gegenwärtige Situation hinweist und den geographischen Bereich der modernen Verbreitung eingrenzt. Das Thema wird in einer scharfsinnigen Analyse der verschiedenen Verwendungstypen wieder aufgenommen von L. M a r q u è z e - P o u e y : „L'auxiliaire aller dans l'expression du passé en gascon"*6. Er unterscheidet zwischen dem rein präteritalen Gebrauch, der dem katalanischen entspricht, der aber auf ein kleines Gebiet beschränkt und dort nun völlig

40 41 42 43 44 45

Bern 1953 (Romanica Helvetica 4 2 ) . Zur Diskussion von Cornus Typen cf. unten S. 4 2 f . Cf. unten S. 4 3 f . in: FM 2 2 ( 1 9 5 4 ) , S. 2 5 9 - 2 6 0 ; cf. oben S. 11. in: Homenaje Menéndez-Pidal, Bd. 1, S. 6 2 7 - 6 4 0 . Cf. Lespy, S. 360; Maxime Lanusse, De l'influence du dialecte gascon . . . , Grenoble 1893, S. 4 2 9 - 4 3 1 . In beiden Werken findet sich ein Hinweis auf einen Beitrag von Paul Meyer, in: Revue de Gascogne IX, den ich leider nicht einsehen konnte. 4 6 in: Via Domitia 2 ( 1 9 5 5 ) , S. 1 1 1 - 1 2 1 .

13

grammatikalisiert ist, und einem stilistischen Gebrauch mit inchoativ-moralisierender Nuance, der auch in den angrenzenden Gebieten zu finden ist. Gerade zu diesem Problem gibt es zwei große Arbeiten, in denen zwar das Okzitanische nicht im Mittelpunkt der Untersuchung steht und deren Hauptgewicht auf der historischen Genese der Form liegt, die sich aber auch ausführlich aufs Okzitanische beziehen. Beide Arbeiten werden demnächst erscheinen. Es sind dies die Habilitationsschriften von Germà Colón: „La perífrasis „va + infinitivo" como expresión de un pasado. Su estudio en catalán, con referencias al francés y al provenzal"47 und von Theo B e r c h e m : „Studien zum Funktionswandel bei Auxiliarien und Semi-Auxiliarien in den romanischen Sprachen - Morphologisch-syntaktische Untersuchungen über Gehen, Haben, Sein"4*. Beide Arbeiten dürfen mit Spannung erwartet werden. 1.5.

Historische Abhandlungen

Obwohl ich mich in diesem Forschungsbericht auf deskriptiv-synchronische Untersuchungen beschränken will, erscheint es mir unvermeidbar, auf einige historisch ausgerichtete Arbeiten hinzuweisen, die für die Behandlung der Verbalperiphrasen im Okzitanischen unerläßlich sind. Zunächst sei auf die beiden Arbeiten von Rudolf D i 11 e s hingewiesen — wobei vor allem die über den Infinitiv wertvolle Unterlagen liefert: „Über den Gebrauch der Participien und des Gerundiums im Altprovenzalischen"49 und „Über den Gebrauch des Infinitivs im Altprovenzalischen"50. Zwei moderne Aufsätze speziell zu Verbalperiphrasen liegen vor, einmal von D. R. S u t h e r 1 a n d: „Flexions and catégories in Old Provençal"51. Hauptgesichtspunkt ist es, die Grenze zwischen literarisch-stilistischer Freiheit und grammatikalischen „Versteinerungs"vorgängen abzustecken. Sutherland kommt dabei zu folgendem Ergebnis fürs Altprovenzalische: In its verb system, Old Provençal shows a marked preference for indicating aspects of the verb such as duration, process, prospect, possibility over purely chronological distinctions 5 2 .

47 Die Angaben über den Titel sowie die Tatsache, daß die Habilitationsschrift in den Beiheften zur ZRPh erscheinen soll, entnehme ich Kurt Baldinger, La formación de los dominios lingüísticos en la península ibérica, Madrid 1963, S. 117, Fußn. 127; zu der Theorie von Colón cf. unten S. 2 0 f . 48 Habil.-Schrift Erlangen 1966. Über die Veröffentlichung sind mit keine Einzelheiten bekannt. Ein Résumé liegt vor: Considérations sur le parfait périphrastique vado + infinitif en catalan et galloroman, in: Actas, Madrid XI, Bd. 3, S. 1 1 5 9 - 1 1 7 0 . 4 9 in: Programm der dt. K.K. Staats-Rcalschule in Budweis, 1902. 5 0 in: RF 15 ( 1 9 0 3 ) , S. 1 - 4 0 . 51 in: Transactions of the Philological Society 1959, Oxford 1960, S. 2 5 - 7 0 . 5 2 Sutherland, S. 45.

14

Seine Interpretationen von „anar + Ger." und „esser + Part. Präs." müssen unbedingt beachtet werden, besonders in Hinsicht auf die Unterscheidung zwischen verschiedenen Sprachstilen. Zum Bemerkenswertesten, was über die Periphrase „anar + Inf." vorliegt, gehört der Aufsatz von Arne-Johan H e n r i c h s e n : „La périphrase anar + infinitif en ancien occitan"53. Er macht erstmalig den Grad der Grammatikalisierung der Periphrase und ihre Verbreitung in den mittelalterlichen romanischen Sprachen klar 54 . Ich möchte hier seine Ergebnisse ausführlich zitieren, da sie gut als Ausgangspunkt für eine Untersuchung auf diesem Gebiet dienen können: Et ce qui est important (. . .) c'est que dans le même texte il y a des exemples où la périphrase a le sens d'un futur et d'autres où elle a celui d'un passé simple. . . 5 On pourrait dire que (. . .) l'occitan occupe une position intermédiaire entre le français et le catalan. Le français a gardé seulement le sens futural de la périphrase, tandis qu'en catalan moderne elle a le sens d'un prétérit et a complètement évincé le passé simple de la langue parlée. En occitan moderne, la périphrase vit d'une vie précaire, mais la langue a gardé des traces des deux sens prétérital et futural . Si l'on compare l'ancien occitan et l'ancien catalan, on constate que dans les deux langues il y a une forte tendance à remplacer le passé simple par la périphrase anar + infinitif. Cette tendance se manifeste sensiblement à la même époque dans les deux langues, à savoir au courant du XlVe et du XVe siècle, avec une légère avance pour l'occitan. L'aire de ce phénomène couvre donc tout le Midi de la Erance et la Catalogne, tandis que l'espagnol, à part quelques passages du Cid, d'une interprétation plus ou moins douteuse, et le portugais ne prennent pas part à cette évolution 5 6 .

Zur Lage der Forschung zum okzitanischen Verb läßt sich zusammenfassend Folgendes feststellen: 1. Es gibt einige Materialsammlungen ohne systematische Prätentionen, die allerdings manchmal ausschließlich auf Texten aus der Félibrige-Literatur beruhen. 2. Zwei systematische Darstellungen der Syntax liegen vor, die von sehr verschiedener Art sind, eine über die gesprochene Sprache eines kleinen Mundartgebiets, die andere über das gesamte Okzitanische in seiner räumlichen und zeitlichen Ausdehnung und ausgehend von schriftlichen Zeugnissen. 53 in: Omagiu Rosetti, S. 3 5 7 - 3 6 3 . Arne-Johan Henrichsen ist einer der besten Kenner der altprovenzalischen Syntax; ich verweise hier kurz auf seine anderen Werke: Les phrases hypothétiques en ancien occitan - Etude syntaxique, Bergen 1955; La syntaxe de l'ancien occitan - Problèmes et méthodes, in: Actes et Mémoires, S. 1 9 0 - 1 9 4 . 54 Solange die Arbeit von G. Colón noch nicht im Druck vorliegt, sind die Angaben von Henrichsen die weitestreichenden zu dieser Frage. 55 Henrichsen, S. 360. 56 Henrichsen, S. 362.

15

3. Ein Beitrag führt sämtliche auffälligen Eigenheiten des okzitanischen Verbalsystems auf das Bemühen zurück, zwischen „ A o r i s t " und „Perf e k t " zu unterscheiden. 4. Als H a u p t p r o b l e m e erscheinen das S u r c o m p o s é (im Vergleich mit d e m Französischen) und die Periphrase „anar + Infinitiv" in präteritaler F u n k tion (dies im Vergleich m i t d e m Katalanischen). 5. A n m e r k u n g e n über andere Verbalperiphrasen f i n d e n sich sporadisch — eine systematische Darstellung f e h l t .

16

KATALANISCH 1

2.

Die Situation der Forschung zum Katalanischen ist in mehrerlei Hinsicht recht verschieden von der des Okzitanischen. Die wissenschaftlichen deskriptiven Grammatiken nehmen hier einen wesentlich wichtigeren Platz ein. Sie sollen nicht, wie im Fall des Okzitanischen die Mundartgrammatiken, aus diesem Forschungsbericht ausgeschlossen sein. 2.1.

„Materialsammlungen"

Wir finden eine Aufstellung vor, die den ersten Beschäftigungen mit okzitanischer Syntax ähnlich ist und zwar „Syntaktische Notizen zum Catalanischen"2 von Leo S p i t z e r . Obwohl dieser Artikel nichts enthält, was direkt unser Thema beträfe, sei aus der Einleitung zitiert zur Charakterisierung dieser Syntax, die — wie im Fall des Okzitanischen — erst einmal ihre Daseinsberechtigung beweisen muß: Meine bescheidenen Zusammenstellungen haben keinen anderen Zweck als etwa den, den Herzog mit seinen „Materialien zu einer neuprovenzalischen Syntax" erreichen wollte: Die relative Selbständigkeit des von ihm behandelten Sprachgebietes aufzudecken, wobei ich noch die Autonomie des Catalanischen viel höher einschätzen möchte als die des Neuprovenzalischen 3 .

2.2.

Deskriptive Grammatiken

Als einziges Beispiel eines glücklichen Musterfalls der Kombination von deskriptiver und normativer Grammatik soll hier die zweibändige „Gramática catalana"4 von Antonio M. Badia Margarit besprochen werden. Er kennzeichnet sein Anliegen so: Dentro de lo dicho, quiere ser una gramática descriptiva esencialmente práctica5.

y normativa,

pero no

Es geht also um eine Deskription des heutigen Katalanischen, mit ständiger Referenz aufs Kastilische. Der Gedanke normativer Verbindlichkeit verdrängt nicht die Beschreibung, steht aber doch stets im Hintergrund. Ein 1

Zur Bibliographie: A. Griera, Bibliografía lingüística catalana, Barcelona 1947; Antonio M. Badia Margarit: La filología catalana entre dos congresos de lingüística ( 1 9 0 6 - 1953), in: Actas Barcelona VII, Bd. 1, S. 9 9 - 1 0 9 ; A. M. Badia Margarit u.a.: Situación actual de los estudios de lengua y literatura catalanas (= Norte, XI, 1970); ein Verzeichnis der Grammatiken findet sich bei A. M. Badia Margarit: Gramática Catalana, Bd. 1, S. 4 7 - 5 2 .

2 3 4 5

in: RDiR 6 ( 1 9 1 4 / 1 5 ) , S. 8 1 - 1 3 8 , 2 3 7 - 2 4 0 (Nachträge). Spitzer, S. 81. Barcelona 1962. Badia Margarit, Gl, S. 53.

17

großer Teil des ersten Bandes ist dem Verb gewidmet 6 , darin wieder ein beträchtlicher Abschnitt den Verbalperiphrasen 7 . Eine glückliche Hand hat Badia Margarit, wenn es darum geht, Besonderheiten des Katalanischen im Vergleich mit dem Kastilischen hervorzuheben, ohne aber je in Gefahr zu sein, eine Idiotismensammlung aufzustellen, sondern immer im Hinblick auf das Gesamtsystem, das selbstverständlich in beiden Sprachen recht ähnlich ist. Die große Besonderheit des katalanischen Verbalsystems ist das periphrastische Präteritum. Weiterhin erscheinen Badia folgende Punkte in Bezug auf Periphrasen der Beachtung und Untersuchung wert: 1. die Frequenz betreffend: — Das Passiv wird im Katalanischen wesentlich häufiger gebraucht als im Kastilischen 8 . — Verbalperiphrasen sind im Katalanischen, sowohl was die Möglichkeiten als auch was die tatsächliche Frequenz angeht, seltener als im Kastilischen 9 . 2. die Funktion betreffend: — Das Katalanische kennt nicht den im Kastilischen so nützlichen Unterschied zwischen „ser + Part." und „estar + Part." zur Differenzierung eines Zustands- und eines Handlungs-Passivs10. — Nur im Katalanischen findet sich die Periphrase „deure + Inf." zum Ausdruck ein£r Vermutung, wie sie im Kastilischen eher durch ein Futur oder „deber de + Inf." ausgedrückt wird 1 1 . Die Darstellung von Badias Grammatik mag als repräsentativ für die deskriptiven Beschäftigungen mit katalanischer Syntax genügen — die anderen Grammatiken sind in wesentlich größerem Maße praktisch ausgerichtet 12 .

6

S. 2 7 1 - 4 7 1 . Unverkennbar ist in diesem Teil die Orientierung an S. Gili y Gaya: Curso superior de sintaxis española. 7 Badía Margarit, GC, S. 3 8 5 - 3 9 7 . 8 Badía Margarit, GC, S. 3 8 9 . 9 In diesem Zusammenhang spricht sich -B.M. über die Schwierigkeit aus, zwischen genuinen Periphrasen und Kastellanismen zu unterscheiden: „. . .aquí sólo aceptamos las que tienen precedentes en catalán clásico (. . .), o que tienen un uso habitual en la lengua moderna (pero eliminando siempre los casos de castellanismos evidentes)." (S. 393). 10 Badía Margarit, GC, S. 3 8 8 . 11 Badía Margarit, GC, S. 391. 12 Zu den anderen Grammatiken verweise ich noch einmal auf die Bibliographie bei Badia Margarit, GC, S. 4 7 - 5 2 . Eine historische Arbeit zur katalanischen Syntax sei hier noch erwähnt: A n f ó s Par: Sintaxi Catalana segons los escrits en prosa de Bernat Metge, Halle/Saale 1923, Beihefte zur ZRPh 66.

18

2.3.

Einzeluntersuchungen

Die auffälligste Eigenart des katalanischen Verbalsystems ist die fast allgemeine Ersetzung 13 des einfachen Präteritum durch die Periphrase „anar + Inf.". So ist es selbstverständlich, daß die meisten Einzeluntersuchungen dieser Tatsache gewidmet sind. Die erste ausführliche Beschäftigung mit dieser Erscheinung ist der Artikel von M . d e M o n t o l i u : „Notes sobre el perfet perifràstic caíala"14 : Die Periphrase „anar + Inf." habe im Altkatalanischen (genauso wie im Altprovenzalischen und im Altspanischen' 5 ) ein vollständiges Paradigma neben den einfachen Zeiten gebildet, und zwar jeweils mit der temporalen Bedeutung von ,,anar", also „vaig fer" mit Präsensbedeutung, ,,anèt fer" mit präteritaler Bedeutung. Die Funktion der Periphrase selbst sei „inchoativ" 1 6 . Von dieser Funktion aus bahnen sich die divergierenden Entwicklungen im Französischen zu „ F u t u r " und des Katalanischen zu „Präteritum" an, während das Okzitanische den alten Verhältnissen am nächsten bleibt 1 7 . Der Wechsel des Tempus (Präsens > Präteritum) und das Eintreten fürs Präteritum sind auf die Schwächung der historisch entwickelten Präteritalformen zurückzuführen (in Parallele zur französischen Entwicklung). Zwei Umstände seien es gewesen, die gerade diese Art der Ersetzung gefördert haben: 1. die Gleichheit der Formen von „anar" in der 1. und 2. P. PI. im Präsens und im Präteritum, in beiden Tempora nämlich „anam", „anats"; 2. die häufige Nachbarschaft des historischen Präsens (mit präsentischer Periphrase „anar+ Inf.") mit dem Präteritum in historischen Erzählungen. Diese funktionelle Ersetzung habe dann zwei materielle Konsequenzen gehabt: 1. die analoge Durchgestaltung des periphrastischen Paradigmas, das heißt Ersetzung der „unregelmäßigen" Formen „anam", „anats" durch „vam" und „vau"; 2. die Übernahme einfacher Präteritalformen ins Präsensparadigma: „estic" usw. Die zeitlich nächste Untersuchung zum Problem von A l e m á n y S e l f a : „Una perífrasis homérica que hoy tiene exacta equivalencia en valenciano y en catalán, y la tuvo también en el castellano antiguo"1* nimmt in keinem 13 Zum Bereich der Ersetzung cf. unten S. 124. 14 in: Estudis Romànics (Llengua i Literatura) I ( 1 9 1 6 ) , S. 7 2 - 8 3 . 15 Für den Gebrauch in den beiden anderen Sprachen Belegmaterial aus der Chrestomathie von Appel und aus dem Cid. 16 Bei der Deutung als Inchoativum beruft er sich auf Meyer-Lübke, Grammatik, III, S. 3 4 3 . 17 „Nosaltres ens permetrem afegir (. . .) que la raó de la diferencia d'aquesta evolució entre el provençal, que romangué fidel a la fusió perfeta entre eis dos elements de la conjugació perifrástica, i el català, que deriva el present d'aquesta conjugació cap el sentit de passat, la veiem en el fet que el català deixà desaparèixer les complicades formes de l'antic perfet que tingué necessitat de substituir, mentre el provenpal ha conservât amb tota fidelitat el perfet llati." Montoliu, S. 81. 18 in: Festschrift Bonilla, Madrid 1927, S. 6 3 1 - 6 3 8 .

19

Punkt Bezug auf Montoliu und bringt gänzlich andere Gesichtspunkte. Die drei wichtigsten sind festzuhalten: 1. Die katalanische Periphrase entspräche materiell und funktionell genau einem altgriechischen Verfahren, das allerdings in seiner Anwendung auf e i ) j L beschränkt war. 2. Die modernen Formen mit dem Einschub -re- resultieren aus der Kombination mit dem Präteritum. 3. Formen wie „yva + Inf." 1 9 sind in dieser Form nicht annehmbar (Imperfekt und Aorist schließen sich aus) und deshalb als Ortsadverb „y" und „Periphrase im Präsens" zu erklären. Weitgehende Aufschlüsse über Genese, Funktion und Verlauf der Ersetzung des Präteritums durch die Periphrase darf man sich von der Habilitationsschrift von Germà C o l o n 2 0 erwarten. Sein Kongreßbeitrag zum 9. Romanistenkongreß „Le parfait périphrastique catalan „va + infinitif""21 enthält bereits wichtige Hinweise. Seine Hauptthesen seien kurz zusammengefaßt: 1. Im Gegensatz zu den Behauptungen Montolius und Badias hat die Periphrase bereits im Altkatalanischen Vergangenheitsbedeutung. Das kann aufgrund äußerer (Vergleich mit lat. Texten oder Texten aus anderen romanischen Sprachen; Aussagen von Grammatikern; Textvarianten) und innerer Kriterien festgestellt werden. 2. Der Unterschied zwischen einfacher Form und Periphrase läßt sich folgendermaßen fassen: „narration objective" / „style direct" (S. 169). Es handelt sich also um einen stilistischen Unterschied; die Funktion dagegen ist die gleiche: Il exprime une action passée qui a commencé, qui s'est poursuivie et qui est terminée. (S. 170)

3. Besonderer stilistischer Wert und Grund zur Verwendung im beschriebenen Sinn ist die „tension" (S. 170) des Verfahrens, das einen „fait e x t r a o r d i n a i r e " (S. 171) 2 2 , einen „choc imprévisible et décisif" (S. 170), eine „rupture" (S. 171) anzeigt. Es bewirkt die „actualisation, la présentification d'un fait" (S. 174). 4. Der Bereich, wo die Periphrase ihre Bedeutung gewinnen konnte, war die Erzählung, wo historisches Präsens und aktualisierende Periphrase zusammentreten zur Aktualisierung des erzählten Geschehens.

19 Er wendet sich hier gegen Menendez Pidal, der die Wendung „ir + Inf." entweder als wörtlich oder als futurisch verstanden wissen will (Cantar de Mio Cid, I, S. 349). 2 0 Cf. dazu oben S. 14. 21 in: Actas Lisboa IX, S. 1 6 5 - 1 7 6 . 22 Den Begriff des „extiaordinaire" übernimmt Colon von Damourette und Pichon, dazu cf. unten S. 34f.

20

Les deux procédés, la périphrase et le présent historique, se compénètrent et unissent leurs forées. Il n'y a donc pas lieu d'être surpris si la narration historique préfère le présent va + inf. au passé anà + inf. (S. 173).

5. Die völlige Grammatikalisierung, definiert durch die Kombinierbarkeit mit Verben, die einen ßewegungscharakter der Gesamthandlung ausschließen, ist am Ende des 14. Jahrhunderts anzusetzen. Wichtig für unsere Untersuchung sind vor allem folgende Gesichtspunkte: 1. Zur Methode — Methoden zur Feststellung der Bedeutung 2 3 — Definition der Grammatikalisierung — Einbeziehung der stilistischen Ebene 2. Zur Deutung der Funktion — Genese: Zusammenwirken von historischem Präsens und Periphrase — Funktion der „Aktualisierung" 2 4 Auch über andere Verbalperiphrasen im Katalanischen liegen Einzeluntersuchungen vor, vor allem von Josep R o c a P o n s 2 5 . Zwei davon sind für unsere Fragestellung besonders interessant: 1. „Estar

+ gerundi

en català

antic"26

Man kann Folgendes festhalten: 1. Als Funktion der Periphrase bezeichnet Roca Pons eine Kombination von „durativ/imperfektiv" und „aktuell". Es handelt sich in erster Linie um eine Aspektverdeutlichung. 2. Als Kriterien für das Vorliegen einer Periphrase gegenüber einer Interpretation als zwei selbständige Verben gibt er: syntaktische Nachbarschaft und Verlust der Eigenbedeutung des Hilfsverbs. 3. Im Vergleich mit verwandten Periphrasen k o m m t Roca Pons zu dem wichtigen Schluß, daß trotz des teilweisen (unter 2 als Kriterium erwähnten) Bedeutungsverlusts jeder Bestandteil der Periphrase einen Teil der ursprünglichen (sowohl genetisch als auch systematisch zu verstehen) Bedeutung in die neue Einheit hineinträgt: — Im Vergleich mit „estar + Part." (Passiv) erweist sich das Gerund als Träger der aktiven Bedeutung, des „procès en el seu desenrotllam e n t " (S. 191) — Im Vergleich mit ,ßnar + Ger." („moviment") erweist sich estar als statisch. 23 Cf. oben S. 20. 24 Zur Frage „anar + Inf." cf. o b e n S. 1 3 - 1 5 ; außerdem bringen die Ausgaben mittelalterlicher Texte Hinweise. Cf. weiterhin: Henry Mendeloff: The Catalan Periphrastic Perfect Reconsidered, in: RJb 19 ( 1 9 6 8 ) , S. 3 1 9 - 3 2 6 (Ergebnis: Es handelt sich um ein unlösbares Problem.). 25 Zu den Veröffentlichungen von Roca Pons zum Spanischen cf. unten S. 31. Außer den beiden hier besprochenen Aufsätzen liegt noch seine Behandlung der Kopulativa im Altkat. vor: Verbs auxiliars afins a estar en català antic, in: ER VI ( 1 9 5 7 / 5 8 ) , S. 1 6 5 - 1 6 8 . 26 in: ER VIII ( 1 9 6 1 ) , S. 1 8 9 - 1 9 4 .

21

4. Als Postulat stellt Roca Pons eine Untersuchung in Hinsicht auf drei Faktoren auf: . . .una investigacio sobre el valor fonamental i derivats de estar + gerundi en tota la Romänia ha de partir d'un estudi profund sobre el g e r u n d i , del verb e s i o r i del m o d e d ' a c c i ö dels verbs emprats en la perifrasi 2 7 .

2. „Tenir + participi en catalä antic"28 Es gilt wieder, einige Gesichtspunkte festzuhalten: 1. Zur Methode — Als Kriterium für das Vorliegen einer Periphrase wird der Verlust des semantischen Vollgehalts, also der Idee des Besitzes bei tenir angegeben. — Die Einbeziehung des Charakters des Vollverbs (perfektiv/imperfektiv) ist unabdingbar. 2. Ergebnisse — Frequenz: In dieser Hinsicht liegt das Altkatalanische zwischem dem Kastilischen und dem Italienischen. — Genese: Die Periphrase machte eine Entwicklung durch, die der der Periphrase „habere + Part." im VL analog ist. Zusammenfassend soll zum Stand der Forschung zum katalanischen Verbalsystem Folgendes festgehalten werden: 1. In der Deskription der katalanischen Grammatik finden sich gute Gesamtdarstellungen, die Verbalsystem und auch Periphrasen ausführlich behandeln. Allerdings sind sie durchweg normativ gefärbt 2 9 . 2. Das Hauptproblem ist die Ersetzung des einfachen Präteritums durch die Periphrase „anar + Infinitiv". Hierzu gibt es einige Veröffentlichungen, die sich vor allem mit der historischen Seite des Problems auseinandersetzen. 3. Zu anderen Periphrasen liegen Einzeluntersuchungen vor, allerdings ausschließlich zur historischen Fragestellung 30 . Bei der Behandlung wird vor allem auf folgende Punkte Wert gelegt:

27 Roca Pons, Estar + gerundi, S. 192; Hervorhebungen von mir. 28 in: Miscelánea Griera 2, S. 2 9 7 - 3 1 2 . 2 9 Für diese Gruppe habe ich nur die Grammatik von Badia Margarit besprochen, weil sie die ausführlichste und am wenigsten praktisch ausgerichtete ist. 30 Weil synchrone Untersuchungen weitgehend fehlen, habe ich die historischen Arbeiten ausführlicher besprochen als die zum Okzitanischen. Eine Notiz zu den Periphrasen mit Gerund im modernen Kat. enthält noch: Ramón Aramón i Serra: Notes sobre alguns calcs sintäctics en Tactual catalä literari, in: Festschrift Gamillscheg, S. 1 - 3 3 , S. 31.

22

— F r e q u e n z der V e r w e n d u n g gegenüber d e m Kastilischen (geringer) und gegenüber dem Okzitanischen und Norditalienischen ( e t w a gleich) 3 ' — Kriterien zur Feststellung des periphrastischen Charakters — Postulat nach der Berücksichtigung der k o m b i n i e r t e n V e r b e n (Colon, Roca Pons).

31 So Aramón i Serra, S. 31; Roca Pons, Estar + gerundi, S. 191; Tenir + participi, S. 3 0 9 .

23

3.

ALLGEMEINE ROMANISTIK

3.1.

Verbalperiphrasen

3.1.1.

Methodisches

Die Beiträge, die sich mit Verbalperiphrasen im Rahmen der gesamten Romania befassen, sind sehr selten. Mit einer einzigen Ausnahme, der von Eugenio Coseriu, wird das Problem auf die iberoromanischen Sprachen beschränkt. Das Problem der Verbalperiphrasen als Methodenproblem ist für die Romanistik, genauer: fürs Spanische erstmalig von Amado A l o n s o gestellt worden in seinem Aufsatz: Sobre métodos: construcciones con verbos de movimiento en español1. Er kennzeichnet seine Arbeit selbst als Entwurf zu einer wünschenswerten Beschäftigung mit einer Erscheinung, die er als typisch für die „innere Sprachform" des Spanischen 2 und als charakteristisch für idiomatisches Sprechen bezeichnet: . . . constituyen una manifestación de la específica „forma interior del lenguaje" del español (la Innere Sprachform de Humboldt), y uno de los rasgos más fisonómicos de nuestro estilo idiomàtico 3 .

Er bestimmt die von ihm skizzierte Erscheinung vom „verbo de movimiento" her und behandelt die mit diesem Verb erscheinenden Formen als sekundär, gleich ob es sich um Adjektive oder Verbalformen handelt. So ist also das Problem der Verbalperiphrasen nicht eindeutig gestellt. In der Beschäftigung mit den Verbalperiphrasen müssen nach Alonso zwei Gesichtspunkte beachtet werden: 1. Die Grammatikalisierung. Sie ist immer „cosa de más o de menos" 4 . Folgende Phasen im Vorgang der Grammatikalisierung stellt er fest: - voller lexikalischer Wert — empleo metafórico - cambio semántico (d. h. Übergang zu einer allgemeinen Notion) - gramaticalización. 2. Die Unterscheidung zwischen — grammatischem Zwang und — stilistischer Wahlmöglichkeit.

1 2

3 4

in: RFH I (1939), S. 1 0 5 - 1 3 8 ; wieder abgedruckt in: Estudios Lingüísticos. Temas españoles, Madrid 1962, S. 1 9 0 - 2 3 6 . Ich zitiere nach der zweiten Ausgabe. Cf. A. Alonso: La subagrupación del catalán, in: RFE 13 (1926), S. 1 - 3 8 ; 2 2 5 261, wo gerade das Vorhandensein von Verbalperiphrasen als Argument für den „iberischen" Charakter des Katalanischen angeführt wird. S. 191. A. Alonso, Sobre métodos, S. 195.

24

Der einzige, der sich mit der Problematik der Verbalperiphrasen in der Gesamtromania befaßt, ist Eugenio C o s e r i u . In drei Beiträgen umreißt er das methodische, deskriptive und historische Problem. In der ersten Veröffentlichung bezieht er sich ausdrücklich auf den eben besprochenen Aufsatz von Amado Alonso: Sobre las llamadas „Construcciones con verbos de movimiento": un problema hispánico5. In diesem Beitrag beschränkt sich Coseriu darauf, seine These aufzustellen: Esta breve nota no constituye la defensa de una tesis, sino que presenta la tesis misma (o „hipótesis") c o m o tal y la propone como programa de trabajo 6 .

Zunächst modifiziert er die Fragestellung gegenüber Alonso: Es muß zwischen zwei Arten von Konstruktionen mit Bewegungsverben unterschieden werden, solchen, in denen das Verb mit Adjektiven („kopulativ" — es werden „predicaciones nominales" gebildet) kombiniert ist, und den anderen, in denen eine Kombination mit einer Verbalform (zu einer „Verbalperiphrase") erfolgt. Die Betrachtung dieses zweiten Typs aber darf nicht willkürlich auf Bewegungsverben eingeschränkt werden, sondern umfaßt eine Serie von Verben, der auch estar, seguir angehören. Wenn nun dieser zweite Typ behandelt werden soll, so ist es notwendig, zwischen den „construcciones inmediatas" (echten Periphrasen) und den „construcciones mediatas" (ähnliche, u. U. materiell gleiche Fügung, bei der beide Teile getrennt funktionieren 7 ) zu unterscheiden. Wenn nun so der untersuchte Typ eingegrenzt ist als: „construcción inmediata": konjugiertes Verb (Bewegungsverben und einige andere) + infinite Verbalform, so stellen sich drei Fragen: 1. nach der Verbreitung dieser Serie in den romanischen Sprachen; 2. nach der Funktion; 3. nach dem historischen Ursprung. Zu diesen drei Fragenbereichen skizziert Coseriu seine Antworten: 1. Es handelt sich nicht um eine spanische Erscheinung — so war ja die These von Alonso — sondern eher um eine hispanische, ja sogar allgemein romanische. 2. Die verwendeten Verben (estar, andar usw.) funktionieren als „formas aspectivas del verbo ser"8 im Rahmen des komplexen romanischen Aspektualsystems. 3. Der griechische Ursprung der Periphrasen ist zu erwägen. 5 6 7

8

Montevideo 1962. Coseriu, Construcciones, S. 5. Karl-Hermann Körner: Die „Aktionsgemeinschaft finites Verb + Infinitiv" im spanischen Formensystem, Hamburg 1968, identifiziert diese Bestimmungen von Coseriu mit denen der „Immediate Constituent Analysis" (S. 105). Das ist in diesem Fall möglich (cf. unten S. 68f.), aber nicht unbedingt zu parallelisieren. Coseriu, Construcciones, S. 8.

25

In zwei weiteren Aufsätzen 9 erläutert nun Coseriu dieses Programm und weitet die Betrachtung auf einen ganzen Bereich des romanischen Verbalsystems aus. In „Tomo y me voy" - Ein Problem vergleichender europäischer Syntax10 verfolgt Coseriu diese Wendung durch sämtliche europäischen Sprachen und ihre Erforschung durch die Wissenschaftsgeschichte. In dem anderen Beitrag „El aspecto verbal perifrästico en griego antiguo"11 stellt er das romanische Aspektsystem (als „System von Möglichkeiten", das nur teilweise zu realisiert sein braucht) dem griechischen gegenüber, um Ähnlichkeiten in den Verfahren aufzudecken. Wie sieht nun seine Antwort auf die im ersten Artikel gestellten Fragen aus 12 ? F r a g e d e r F u n k t i o n : In den romanischen Sprachen müssen mehrere aspektuelle Teilsysteme unterschieden werden, so vor allem das der „Handlungsstufe" (grado 13 ', Phase): eine schon von J. Harris im 18. Jahrhundert erkannte Kategorie, die die objektive Phase des Verlaufs einer Handlung betrifft: „imminentiell", ingressiv, incho]4 ativ, progressiv, regressiv, konklusiv, egressiv

und der „Schau"

(visiön)15:

die Kategorie, die die Betrachtung der Handlung in ihrer Gesamtheit oder in ihrem Ablauf betrifft: global-kursiv, und verschiedene Arten der Kursivität 16

Was nun die Kategorie der Schau betrifft, so gibt es in den romanischen Sprachen (und im Griechischen) eine Opposition zwischen der „globalen" und der „kursiven" 17 Schau (letztere in verschiedenen Arten): Ausdruck der „globalen" Schau sind parataktische Konstruktionen vom Typ „tomo y me voy"; dagegen gibt es verschiedene Arten der partialisierenden Schau, als merkmalloses Glied dieser Reihe einfach die Betrachtung der Handlung zwischen zwei Punkten, ausgedrückt durch „estar + Ger.", als andere Arten der Schau solche, die durch die übrigen Glieder der Serie bezeichnet werden, die Gegenstand des ersten Aufsatzes war:

9 10 11 12 13 14 15 16 17

Beide Arbeiten gehen über den Rahmen der Romanistik hinaus, sollen aber doch hier besprochen werden. in: VR 25 ( 1 9 6 6 ) , S. 1 3 - 5 5 . in: Actas del III Congreso español de estudios clásicos, S. 9 3 - 1 1 6 . Ich ändere hier die oben auf S. 25 gegebene Reihenfolge und ziehe die Frage nach der Bedeutung vor. Coseriu, Aspecto griego, S. 110. Coseriu, T o m o y me voy, S. 41. Coseriu, Aspecto griego, S. 107ff. Coseriu, T o m o y me voy, S. 41. Coseriu weist in diesem Zusammenhang auf Hayward Kcniston: Verbal Aspect in Spanish, in: Hispania 19 ( 1 9 3 6 ) hin, der fürs Spanische zwischen einem „unitary aspect" und „fractionative, particularizing aspect" unterschieden hat, cf. unten S. 32f.

26

estar h a c i e n d o

En español, estar + gerundio es el t é r m i n o general y n e u t r o de la „visión parcializ a d o s " , pues expresa simplemente la consideración estática de la acción verbal e n t r e dos p u n t o s , A y B, q u e p u e d e n t a m b i é n ser el p u n t o inicial y el final de la acción considerada, así c o m o p u e d e n coincidir en un p u n t o único, C. Andar + ger., t a m b i é n expresa la consideración d e la acción entre dos p u n t o s , pero, además, „ a c o m p a ñ a " d i n á m i c a m e n t e a ésta en varios m o m e n t o s de su desarrollo (por lo cual, en este caso, los dos p u n t o s nu p u e d e n coincidir). Venir + per. e ir + ger. agregan al valor de estar + ger. la „progresividad": venir + ger. considera la acción retrospectivamente, desde un p u n t o anterior, indefinido, hasta el p u n t o C (que coincide con el „ m o m e n t o " en el q u e se considera la acción); en cambio, ir + ger. es „ p r o s p e c t i v o " : considera la acción e n t r e el p u n t o C y un p u n t o ulterior, indefinido. F i n a l m e n t e , seguir + ger. es una combinación de retrospectivo y „prospectivo"18.

Die gleiche Funktion haben entsprechende (estar und andere Verben + Ger., bzw. + a + Inf.) Konstruktionen in anderen romanischen Sprachen. Zwischen den beiden Kategorien der „Schau" und der „Phase" kann Synkretismus vorliegen: T a m b i é n en las lenguas románicas hay sincretismos entre las dos categorías; así, en español, en el caso de venir, ir, seguir + g e r u n d i o . En el francés actual, el sincretismo entre las dos categorías es p r á c t i c a m e n t e t o t a l 1 9 .

F r a g e d e r V e r b r e i t u n g : Coseriu stellt fest, daß die Realisierungen im Bereich der Aspektkategorie „Schau" durch die genannten Verfahren verschieden sind: . . . t a m b i é n en el d o m i n i o románico se va desde un m á x i m o de realización, en español y p o r t u g u é s - seguidos por el catalán ( . . . ) y el italiano - , hasta un m í n i m o de realización, en trances .

Ausdrücke für die „partialisierende Schau" haben alle romanischen Sprachen 21 , für die Verbreitung von Konstruktionen vom Typ „tomo y me voy" zur Bezeichnung der „globalen Schau" scheint das nicht zuzutreffen: 18 19 20 21

Coseriu, Aspecto griego, S. 108. Coseriu, A s p e c t o griego, S. 110, Fufen. 36. Coseriu, A s p e c t o griego, S. 115. mit A u s n a h m e des Provenzalischen; cf. u n t e n

27

Por lo que concierne a las lenguas románicas, sólo en galorromance y en catalán no he encontrado perífrasis para la visión global. ( . . . ) El provenzal, cuyo verbo estar (esta, istaj es defectivo y de uso limitado, parece no conocer ninguno de los dos tipos de perífrasis. Curioso es el caso del catalán, que conoce y utiliza ampliamente (en parte, por influjo del español) las perífrasis de estar, anar, seguir, venir + gerundio, pero que no parece poseer perífrasis para la visión global 2 2 .

Die Verfahren zum Ausdruck dieser Kategorie sind jedenfalls in den romanischen Sprachen — mit Ausnahme der galloromanischen? — vorhanden; nur der Grad der Realisierung in der Norm der Einzelsprachen ist verschieden. F r a g e d e s h i s t o r i s c h e n U r s p r u n g s : Coseriu führt diese romanische Kategorie aufgrund überraschender Übereinstimmungen bis in Einzelheiten und der Verbreitung auf griechischen Ursprung zurück. Eine letzte theoretische Untersuchung zum Problem der spanischen Verbalperiphrasen, diesmal derer mit Infinitiv, ist kürzlich erschienen. Sie wird vom Verfasser selbst als „Vorstudie" aufgefaßt, das heißt wieder als Arbeitsprogramm für eine spätere Materialstudie: Karl-Hermann K ö r n e r : „Die ,rAktionsgemeinschaft finites Verb + Infinitiv" im spanischen Formensystem. Vorstudie zu einer Untersuchung der Sprache Pedro Calderón de ¡a Barcas"23. Körner diskutiert die bisherigen Versuche zur Bestimmung der Verbalperiphrasen und verwirft vor allem zwei Ansätze: 1. Die onomasiologische Annäherung, die die Verbalperiphrasen als Ausdruck von Aspekt oder Aktionsart definiert; 2. Den semantischen Ansatz, der Verbalperiphrasen durch den Bedeutungsverlust des Hilfsverbs bestimmt. Die Erfaßbarkeit durch Verbalkategorien erwies sich als ein noch anerkannteres Charakteristikum unseres Formtyps als der Bedeutungsverlust oder die Bedeutungsveränderung des finiten Verbs, die allerdings ebenfalls von der Mehrzahl der genannten Studien beobachtet w e r d e n 2 4 .

Zweierlei kann nach Körner zu einer treffenderen Charakterisierung der „Aktionsgemeinschaft" angeführt werden: 1. Die sogenannten „Hilfsverben" müssen als „Morphempolster' aufgefaßt werden, wobei „morphematisch" mit „paradigmabildend" gleichgesetzt wird: Unsere Form besteht aus einem Lexem und den ein „Morphempolster" bildenden Morphemen. Morpheme zeichnen sich ( . . . ) dadurch aus, daß sie jeweils durch eine begrenzte Anzahl von Morphemen austauschbar sind, mit denen sie ein Paradigma bilden und nicht dadurch, daß sie keine oder weniger Bedeutung haben als die Lexeme .

22 23 24 25

Coseriu, Aspecto griego, S. 113, Fußn. 43. Hamburg 1968. Körner, S. 50. Körner, S. 76.

28

2. Der besondere Charakter der Verbalperiphrase ist metaphorisch, das heißt, er resultiert aus dem Gegensatz zwischen den Verwendungsweisen eines Verbs, einmal mit voller lexikalischer Bedeutung und andererseits in grammatischer Verwendung 26 . Abschließend diskutiert Körner die vorgeschlagenen Methoden, die ermöglichen sollen, zwischen periphrastischem und Vollverb-Gebrauch eines Auxiliars zu unterscheiden, und äußert sich skeptisch, ob es solche objektive, formale Kriterien überhaupt geben kann — in allen bisherigen Vorschlägen handelt es sich ausschließlich um Kriterien, die nur dem Sprecher oder Hörer einer Sprache nützen, der schon über das nötige „saber técnico" 2 7 verfügt, nicht aber um formale Kriterien, die eine Klassifikation im großen Stil, etwa durch eine Maschine ermöglichen würde. Obwohl Körner sich aufs Spanische und da wieder auf einen Form typ beschränkt, ist seine Arbeit eine dankenswerte Sichtung der Äußerungen zum Problem der Verbalperiphrasen. 3.1.2.

Inventarisierung der Periphrasenbestände in einzelnen romanischen Sprachen

Während die bisher besprochenen methodischen Erörterungen von ihren Autoren als Arbeitsprogramme konzipiert waren, die einer künftigen Inventarisierung als Grundlage dienen könnten 2 8 , leiden die bereits vorliegenden Inventarisierungen manchmal gerade unter der merkwürdigen Unschärfe der Definitionen und Kriterien. Die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis auf diesem Gebiet der romanischen Sprachwissenschaft ist auffällig. Die einzige umfassende Inventarisierung liegt fürs Französische vor - das Spanische dagegen ist am vielfältigsten behandelt und unter den meisten Aspekten untersucht worden. Die französischen Verbalperiphrasen sind, besonders in ihrer historischen Entwicklung und ihrer räumlichen Verbreitung, aufs genaueste inventarisiert von Georges G o u g e n h e i m in seiner Thèse: Etude sur les périphrases verbales de Ta langue française29. Es ist nicht möglich, über französische Verbalperiphrasen zu handeln, ohne auf sein umfangreiches, fast erschöpfendes Material zurückzugreifen. Der interessanteste Gesichtspunkt, der von ihm in aller Ausführlichkeit behandelt wird, ist die Stellung der Periphrasen im Werk der französischen Grammatiker, das heißt also ihre

26 Körner, S. 8 2 f f . 27 Körner, S. 115f. Mit der Erwähnung des „saber técnico" spielt Körner auf den von Coseriu eingeführten Begriff an. 28 Das trifft auch für Coserius erste Arbeit zu, während die beiden folgenden ja bereits einen Teil der Verwirklichung dieses Programms darstellen. 2 9 Thèse, Paris 1929.

29

Annahme oder Ablehnung in den normativen Bestrebungen. Besonders wichtig ist weiterhin auch der Gesichtspunkt der Zuordnung einzelner Periphrasen z u m Inventar bestimmter literarischer Gattungen oder zumindest zu b e s t i m m t e n Stilebenen. G o u g e n h e i m schließt alle romanischen Sprachen außer d e m Okzitanischen aus seiner Studie aus. Trotz dieser ausdrücklichen Einbeziehung des Okzitanischen benützt G o u g e n h e i m keine Primärtexte, sondern bezieht seine Informationen über die Dialekte und auch übers Okzitanische aus „Fehlerlisten". S o weist er zwar auf wichtige Parallelen hin, behandelt das Okzitanische aber nicht erschöpfend und positiv mit. Er ordnet die Periphrasen nach den von ihnen ausgedrückten Kategorien und k o m m t zu vier Hauptgruppen: — durative

— „futur prochain"

— futurische

— modale Periphrasen

Dieses Ordnungsprinzip bringt es mit sich, daß die materiell gleiche Periphrase mehrmals auftaucht, ohne daß sich die Frage n a c h einer möglichen funktionellen Einheit überhaupt stellt. Seine D e f i n i t i o n der Verbalperiphrase: Nous entendons par périphrases verbales les locutions formées d'un verbe, en général à un mode personnel, dont le sens propre est plus ou moins effacé, et d'une forme nominale, participe ou infinitif, d'un autre verbe qui, lui, a gardé tout son sens. Le premier verbe sert à indiquer que le procès exprimé par le second est affecté de certains caractères de temps ou d'aspect, de mode, d'action 3 0 . stellt keine Kriterien bereit für die Entscheidung, o b eine solche Verbindung im Einzelfall als Periphrase

interpretiert werden m u ß oder nicht.

Es gibt für keine andere romanische Sprache eine derart umfangreiche Inventarisierung — der Begriff der Verbalperiphrase ist seither j e d o c h theoretisch wesentlich schärfer gefaßt w o r d e n 3 1 . 30 Gougenheim, PV, S. I. 31 Was die Verbalperiphrasen im Französischen angeht, so liegen noch mehrere Gesamtdarstellungen vor, die ich aber hier nicht in aller Ausführlichkeit besprechen will, da eine solche Ausdehnung den Rahmen der hier geplanten aufs Okzitanische und Katalanische bezogenen Bestandaufnahme sprengen würde. Fürs Französische liegt noch vor die Arbeit von Karl-Richard Bausch: Verbum und verbale Periphrase im Französischen und ihre Transposition im Englischen, Deutschen und Spanischen, Diss. Tübingen 1963, die mit Übersetzungsvergleichen arbeitet. Ein Panorama der durch Periphrasen ausdrückbaren Bedeutungen gibt auch Mario Wandruszka: Sprachen - Vergleichbar und unvergleichlich, München 1969, darin: Verbale Periphrasen, S. 3 3 3 - 3 4 9 . Eine theoretische Erörterung des Phänomens im Französischen bringt Henry G. Schogt: Les auxiliaires en français, in: La linguistique 1968/2, S. 5 - 1 9 , wo er vorschlägt, nur diejenigen Verben als Hilfsverben zu bezeichnen, die nicht in allen Tempora verwendet werden können, die Defektivität des Paradigmas also zum Kriterium zu machen. In ähnlichem Sinn spricht er sich in: Le système verbal en français contemporain, Den Haag - Paris 1968, S. 6 3 - 7 0 aus. Dort finden sich interessante Beobachtungen über die Kombinierbarkeit von Tempora und Periphrasen und deren Unmöglichkeit bei gewissen Redebedeutungen.

30

Für das Spanische liegen die m e i s t e n U n t e r s u c h u n g e n vor, und zwar jeweils getrennt n a c h der Art der Periphrasen: W. A .

B e a r d s l e y : Infinitive

R. K. S p a u l d i n g : History in

Constructions and Syntax

Spanish32

of the Progressive

Constructions

Spanish33

Hans C h m e 1 i c e k : Die Gerundialumschreibung Ausdruck

von

Partizip

Josep R o c a

im Altspanischen

zum

Aktionsarten34

Werner M a 11 h i e s : Die aus den intransitiven dem

in Old

des Perfekts

gebildeten

P o n s : Estudios

sobre

Verben

Umschreibungen perífrasis

verbales

der Bewegung im

und

Spanischen35

del español36,

die

sich hauptsächlich auf Periphrasen m i t Partizip Perf. b e z i e h t . Es sei hier nur die Arbeit von C h m e l i c e k in ihren m e t h o d i s c h e n Grundlagen umrissen, die n o c h h e u t e bei einer ähnlichen U n t e r s u c h u n g b e d a c h t w e r d e n müssen. Z u n ä c h s t stellt er d e n historischen Prozeß der G e n e s e einer Verbalperiphrase v o n der Auseinanderrückung zweier V e r b e n bis zur völligen V e r s c h m e l z u n g in der Periphrase dar. Im Verlauf der Erörterung dieses historischen Prozesses führt er Kriterien a u f , die zur Feststellung der Einheit d i e n e n k ö n n e n 3 7 . N u n will er aber diesen E n t s t e h u n g s p r o z e ß nicht nur historisch verstanden wissen, s o n d e r n als g e n e t i s c h e n Vorgang, der jederzeit v o m Sprecher wiederholbar ist:

32 33 34 35 36

37

Eine weitere theoretische Erörterung zu Kriterien der Auxiliarität im Französischen liegt vor in: L.M. Brieër-van Akerlaken: Le problème des verbes auxiliaires en français contemporain, in: Folia Linguistiea 1 (1967), S. 1 9 4 - 2 3 1 . Darin wird vorgeschlagen, ein Hilfsverb als solches zu betrachten, wenn ein distributionelles Kriterium und ein paradigmatisches Kriterium erfüllt sind, dann nämlich, wenn es (distributioneil) nicht alleine stehen könnte und wenn es (paradigmatisch) in Opposition zu anderen Formen des Paradigmas steht. Ein weiterer Beitrag zu dieser Fragestellung war mir leider nicht zugänglich: Dominique Willems: Analyse des critères d'auxiliaritc en français moderne, in: Travaux de Linguistique (Gent) I. Diss. New York 1921. Berkeley (Calif.) 1926. Hamburg 1930. Jena - Leipzig 1933. Madrid 1958. Vom gleichen Autor liegen noch mehrere kleine Beiträge vor: E n t o m del valor auxiliar del verb castellà ir amb el partieipi, in: Estudis Romànics 4 ( 1 9 5 3 - 5 4 ) , S. 9 5 - 1 0 5 ; Sobre el valor auxiliar y copulativo del verbo „andar", in: Archivum 4 (1954), S. 1 6 6 - 1 8 2 ; weiterhin eine neue Zusammenfassung mit erweiterter Perspektive: El aspecto verbal en espanol, in: Linguistiea Antwerpiensia 2 (1968), S. 3 8 5 - 3 9 9 ; cf. auch seine Arbeiten zum Katalanischen, cf. oben S. 21 f. Zum Beispiel Zugehörigkeit von Objekten und adverbialen Bestimmungen zum einen oder anderen Verb; semantischer Widerspruch zwischen den beiden Verben. 31

Damit gehört die Bildung der Einheit bei der Gerundialumschreibung zu jenen Prozessen, die nicht, nachdem sie einmal von der Sprache vollzogen sind, aufhören zu existieren, sondern die kontinuierlich jederzeit von neuem eintreten 3 8 .

Die derart entstandenen und feststellbaren Periphrasen dienen dem Ausdruck von Aktionsarten. Hier folgt Chmelicek eng den von Deutschbein 39 fürs Englische aufgestellten Kategorien, insbesondere in der Einteilung nach Phasenaktionsarten und Mutationsaktionsarten. Um nun die jeweilige Funktion einer Periphrase zu bestimmen, müssen vielerlei Faktoren in Betracht gezogen werden 4 0 : 1. Die Funktion der infiniten Form — im Fall des Gerundiums werden die Periphrasen immer „imperfektiv" sein 4 1 . 2. Die lexikalische Grundbedeutung des sogenannten Hilfsverbs 42 ; 3. Der lexikalische Gehalt des Vollverbs 43 ; 4. Die Zeit, in der die Periphrase steht 4 4 . Eine moderne Untersuchung wird ganz ähnlich verfahren müssen wie Chmelicek. Eine Gesamtdarstellung der spanischen periphrastischen Verfahren zur Bezeichnung von Aspektkategorien gibt Hayward K e n i s t o n : Verbal Aspect in Spanish45. Nach ihm enthalten bereits die einfachen Zeiten aspektuelle Nebenbestimmungen, die aus ihrer Primärfunktion herrühren — so ist zum Beispiel das Präteritum „integrativ" (oder „komplexiv" in einer anderen Terminologie). Das Verfahren der Verbalperiphrasen nun dient dazu, solche Sekundärfunktionen besonders zu bezeichnen 46 : 38 Chmelicek, S. 100. 39 Chmelicek bezieht sich auf Deutschbeins System der neuenglischen Syntax, Cöthen 1917; zur Formulierung von dessen Einteilung, cf. auch: Die Einteilung der Aktionsarten, in: Englische Studien 54 (1920), S. 8 0 - 8 6 ; Aspekte und Aktionsarten im Neuenglischen, in: Neuphilologische Monatsschrift 10 (1939), S. 1 2 9 148 und 190 -201. 40 Chmelicek formuliert nicht in dieser Deutlichkeit - eine solche Forderung läßt sich aber aus verstreuten Ansätzen abstrahieren. 41 Cf. Chmelicek S. 22: „Diese (= imperfektive) Bedeutung erhält die Umschreibung durch das Gerundium, das seit dem Lateinischen imperfektiven Charakter hatte, und durch die Verwendung nur imperfektiver Verben als 1. Kompositionsglieder." 42 Cf. Fußn. 41; cf. Chmelicek S. 18: „Aber wenn auch der Eigenwert des konstanten Teils in der Verbindung verloren geht und das finite Verb die Funktion eines Hilfsverbs annimmt, so tritt damit doch kein völliger Verlust des Vorstellungsbegriffs, der seiner Eigenbedeutung zugrunde liegt, ein. Wie die Beispiele zeigen, bleibt das Vorstellungselement des finiten Verbs immer noch so weit erhalten, daß es der Verbindung die Vorstellung einer Bewegung an sich (andar), einer zielstrebigen Bewegung (ir), einer Ruhestellung (estar, seer, yacer) vermittelt."; ausserdem S. 63 ff. 43 Chmelicek, S. 81ff. 44 Chmelicek, S. 96ff. 45 in: Hispania 19 (1936), S. 1 6 3 - 1 7 6 ; cf. auch Coserius Hinweis auf Keniston, cf. oben S. 26. 46 Das impliziert, daß sie disponibel werden zur Kombination mit anderen Tempora.

32

The simple tenses, then, are capable of expressing a variety progressive, iterative, customary. But the very fact that the form a variety of functions has made it necessary to create indicating the particular aspect which the speaker wishes to avoid ambiguity or to stress a particular aspect 4 7 .

of aspects - unitary, same tense may perlinguistic devices for convey, either to

Zwei A r t e n von Aspektkategorien werden nun besonders durch solche zusätzliche Verfahren, nämlich eben d u r c h Verbalperiphrasen gekennzeichnet: In addition to these aspects which are conditioned by the attitude there are aspects which are phases of the action or state itself 4 8 .

of the speaker,

Innerhalb der Kategorie der „ a t t i t u d e " 4 9 unterscheidet er einen „unitary a s p e c t " (ausgedrückt durch Wendungen v o m T y p „ t o m o y me v o y " 5 0 ) und mehrere „fractionative a s p e c t s " (ausgedrückt d u r c h Gerundperiphrasen). Innerhalb der „ p h a s e " zeigt er die Verfahren zur Bezeichnung des Anfangs und des E n d e s einer Handlung oder eines Zustands. Seine B e o b a c h t u n g e n zu der Kombinierbarkeit dieser aspektuellen Verfahren mit bestimmten T e m p o r a sind äußerst a u f s c h l u ß r e i c h 5 1 . Die Untersuchungen z u m Portugiesischen, Italienischen und Rumänischen sollen hier nicht ausführlich behandelt werden, da keine direkten Vergleichspunkte gegeben sind und da die -

mir b e k a n n t e n -

Arbeiten auch

keinen wesentlichen methodischen Beitrag l i e f e r n 5 2 . 47 Keniston, S. 165. 48 Keniston, S. 166. 49 Zur Diskussion der verschiedenen Aspektkategorien, insbesondere zur Übereinstimmung dieser von Keniston als „attitude", von Coseriu (cf. oben S. 26) als „Schau" bezeichneten mit einer bestimmten Art von Aspektdefinitionen, cf. unten S. 82f. 50 Keniston rechnet zu diesen Verfahren zur Bezeichnung eines „unitary aspect" im Gegensatz zu Coseriu (cf. Tomo y tne voy, S. 29, Fußn. 23) auch „ir a + Inf.", cf. dazu unten S. 160. 51 Eine Erörterung zu Kriterien der Auxiliarität im Spanischen sei hier noch erwähnt: Elisabeth Douvier: Le verbe auxiliaire espagnol, in: Bulletin des Jeunes Romanistes 10 (1964), S. 2 3 - 3 0 . Hier werden sehr interessante syntaktische Kriterien zur Unterscheidung des Hilfsverbsgebrauchs angeführt, auf die ich noch ausführlich zurückkommen werde, cf. unten S. 102. Cf. außerdem auch unten S. 72. 52 Eine Berliner Dissertation (Karl-Heinz Klöppel: Aktionsart und Modalität in den portugiesischen Verbalumschreibungen, Diss. Berlin 1960) befaßt sich mit portugiesischen Verbalperiphrasen. Wohl trennt Klöppel in seinen methodischen Vorbemerkungen zwischen der Aktionsart eines Verbums in lexikalischer Hinsicht und der eines Tempus bzw. einer Periphrase. In den Einzelinterpretationen aber gehen diese Gesichtspunkte oft durcheinander. Charakteristika, die dem Tempus oder der Verbklasse zukommen, werden der Periphrase zugeschrieben usw. Nirgends wird auch der Unterschied gemacht zwischen dem wörtlichen und dem grammatikalischen Gebrauch einer Wendung. Zu den einzelnen Periphrasen werden unzählige Redebedeutungen zusammengetragen, ohne daß versucht würde, einen Zusammenhang zwischen diesen Einzelbedeutungen zu sehen. Wenn auch einzelne

33

3.1.3.

Einzelprobleme

3.1.3.1. „Aller + Infinitiv" im Französischen Einer der grundlegenden Aufsätze zur gesamten Verbalperiphrasenproblematik, der auch heute noch wertvolle Anregungen geben kann, auch über das Teilproblem hinaus, auf das er sich beschränkt, ist Edouard P i c h o n s: De l'accession du verbe aller à l'auxiliariîé en français52. „Auxiliaires" sind dadurch definiert, daß sie grammatikalische Präzisionen erbringen. Das nicht-lexikalische Gebiet der Sprache (die Grammatik also) ist durch ,,taxièmes" s 4 gegliedert. Aus diesen Prämissen ergibt sich fürs Hilfsverb: 1. Hilfsverben sind nicht notwendigerweise semantisch entleert. 2. Sie behalten einen Zug ihrer lexikalischen Bedeutung 55 bei ihrer Übertragung auf die grammatische Ebene bei. 3. Dieser Zug, nun als „taxième", ist es gerade, der grammatikalisch unterscheidend wirkt, also systembildend 5 6 . Für „aller" im Französischen wären folgende drei Inhaltszüge anzunehmen: 1. Spontaneität 2. Dauer 3. Bewegung vom Sprecher weg.

53

54 55 56

Interpretationen für den Lusitanisten interessant sein mögen, so bringt die Dissertation doch insgesamt keine neuen Ansätze für einen methodischen Zugriff; im Gegenteil, sie weist vielerlei Verwechslungen auf, vor denen man sich zu hüten haben wird. Im Rahmen einer weiteren orientierten Untersuchung behandelt Stanko Skerlj: Syntaxe du participe présent et du gérondif en vieil italien, Paris 1926, die Verwendung von Gerundperiphrasen im Altitalienischen. Die Arbeit, wiewohl die älteste, die sich ausdrücklich mit Gerundperiphrasen befaßt, bleibt wertvoll, weil sie die altitalienischen (mit Hinweisen aufs Altprovenzalische und Altfranzösische) Verwendungsmöglichkeiten aufzeigt, die sonst in der Problemstellung (Gerundperiphrasen als „hispanisches" Problem) o f t vernachlässigt werden. in: Revue de philologie française et de littérature 45 (1933), S. 6 5 - 1 0 8 . Zur gleichen Frage, zwar nicht was das Verhältnis Lexikon - Grammatik beim Hilfsverb anbetrifft, sondern die Bedeutung der in Frage stehenden Periphrase, cf. auch: Damourette - Pichon: Il a fait, il vient de faire, il va faire, in: Revue de Philologie française 43 (1931), S. 8 1 - 1 1 8 ; Damourette - Pichon: Des mots à la pensée, t. V, S. 7ff. Zur Theorie der beiden Autoren zum franz. Verbalsystem cf. unten S. 56. „Taxièmes" wären demnach die kleinsten Einheiten grammatikalischer Bedeutung und würden den Semen auf lexikalischem Bereich entsprechen. Unter Verwendung der beiden Terminologien könnte man also sagen, daß ein Sem auf die taxiematische Ebene transponiert wird. Die Grammatikalität einer Erscheinung ist bei Damourette und Pichon immer von ihrem Systemcharakter her definiert.

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Das entspräche genau der dreifachen Verwendung als Hilfsverb: 1. + Infinitiv — „extraordinaire" 2. + Gerundium — „duratif" 3. + Infinitiv - „ultérieur" 57 Was das „extraordinaire" anbetrifft, so weist er mit allem Nachdruck aufs Okzitanische hin und auf den möglichen Zusammenhang mit der Vergangenheitsverwendung im Katalanischen 58 . Ob allerdings das „extraordinaire" als grammatikalische Kategorie des Französischen gerechnet werden kann, läßt er offen, da es zu keiner anderen Form in Opposition steht 5 9 . Bis zu einem gewissen Grad abhängig von den Ansichten Pichons 60 ist 57 Hier weist Pichon ausdrücklich auf den Unterschied zwischen Ultérieur und Futur hin, wie auch in den anderen Werken ausgeführt, cf. Fußn. 53. Ob die Verhältnisse im Okzitanischen genauso liegen, stellt Pichon zur Diskussion: „Par contre, pour le Pays d'Oc, la question est moins claire; elle demande à être ré-étudiée" (Pichon, S. 82) „Aux provençalistes de nous dire si c'est là (seil: der Gebrauch bei Mistral) un gallicisme du provençal mistralien, ou si la distinction taxiématique qui nous occupe ici existe bien dans la région provençale et alors quelle est son aire." (Pichon, S. 84). In diesem Zusammenhang verwendet Pichon auch, meines Wissens zum ersten Mal, den heute in der Sprachwissenschaft weithin angenommenen Begriff des . „Diatopischen": „Ces vues diachroniques doivent se compléter par des vues diatopiques, si j'ose ainsi parler.. . " (a.a.O. S. 81f.). Dieser Begriff ist von Flydal (der diesen Begriff von Pichon kannte, da er gerade mit diesem Aufsatz viel gearbeitet hat, cf. unten S. 36): in: Remarques sur certains rapports entre le style et l'état de langue, in: Norsk Tidskrift for Sprogvidenskap 16 (1951), S. 2 4 0 - 2 5 7 , übernommen worden. Coseriu kennt drei Ebenen der „Spracharchitektur": die diatopische, die diastratische und die diaphasische, cf. unten S. 95. Unabhängig (? ) von dieser Entwicklungslinie verwendet P. Ivic den Begriff der Diatopie: „The term diatopy was introduced by P. Ivic ( 1 9 6 0 - 6 1 ) , S. 102" (Zitat aus Ivic, Beitrag zur Jakobson-Festschrift, II, S. 995). 58 „Un dernier tour, encore plus aberrant, n'a plus, que je sache, aucune position en pays d'Oui. Je veux parler de l'expression d'un passé au moyen de l'auxiliaire aller, suivi de l'infinitif du verbe auxilié." (Pichon, S. 105). Dieser Gebrauch war im Französischen des 14. - 16. Jhs. bekannt. „Toutefois, orginellement, ce tour devait avoir été un présent narratif avec une nuance de spontanéité, d'inattendu un peu semblable à celle de l'extraordinaire." (Pichon, S. 106) „La tentative de créer un passé narratif exprimé par aller a été en français quelque chose d'atrophique, d'avorté, dont je ne sache pas qu'il reste aucune trace." (Pichon, S. 107) Cf. Colons Stellungnahme, cf. oben S. 20f. 59 Im Gegensatz zum „Ultérieur", das in deutlicher Opposition zum „Antérieur" in seinen beiden Ausformungen des Antérieur-Acquisition (avoir fait) und des Antérieur-Source (venir de faire) steht. Cf. dazu besonders Damourette-Pichon: Il a fait. 60 Cf. dazu das Vorwort des hier besprochenen Buchs, S. 5. Überhaupt will es mir scheinen, als seien die Interpretationen von Damourette und Pichon, vielleicht aufgrund der eigenwilligen Terminologie, vielleicht wegen der psychologisierenden Grundlage, zu Unrecht etwas in Vergessenheit geraten. Andererseits scheint manches gerade aus der Terminologie (cf. oben Fn. 57) und auch von den Interpretationen in die Sprachwissenschaft eingegangen zu sein, ohne daß man sich über die Herkunft so recht im klaren wäre.

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Leiv F 1 y d a 1: „Aller et venir de suivis de l'infinitif comme expressions de rapports temporels"61. Er bezeichnet die Funktion der Periphrase „aller + Infinitiv" als „aspect de l'imminence", dem genau symmetrisch die „récence" (ausgedrückt durch „venir de + Infinitiv") gegenübersteht. Die Imminence-Periphrase neigt, ihrer futurischen Natur gemäß 62 , zu modalen Verwendungsarten, die Flydal im einzelnen untersucht. Breiten Raum nimmt weiterhin die Abgrenzung des Gebrauchs von einfachem Futur und Periphrase ein — die Ergebnisse faßt Flydal so zusammen: A la différence du futur simple, la fonction essentielle de la périphrase semble être, le plus souvent, de faire considérer l'action future comme déjà déterminée par la situation présente, que le rapport de proximité entre en ligne de compte ou n o n 6 3 .

Dieser ursprüngliche Unterschied verwischt sich allmählich. Die Periphrase kann immer mehr auch dort eintreten, wo keinerlei Bezug zur Gegenwart gegeben ist 64 . Damit wäre ein Kreislauf geschlossen, der sehr häufig im Ausdruck der temporalen Funktionen auftritt, daß nämlich die Zeiten durch aspektive oder modale Periphrasen ersetzt werden, die allmählich wieder zu reinen Tempora werden 65 . Zusammenfassung An dieser Stelle halte ich es für angebracht, kurz das Résumé aus dem von 3.1.1. bis 3.1.3.1. Gesagten zu ziehen. Die Problematik des im Folgenden besprochenen Surcomposés ist so andersartig, daß sich zwei getrennte Zusammenfassungen aufdrängen. Ganz allgemein lassen sich folgende Tendenzen festhalten:

61 Oslo 1943. 62 Zum Phänomen der Ersetzung des Futurs durch modale Wendungen (und auch umgekehrt) cf. Eugenio Coseriu: Sobre el futuro romance, in: Revista Brasileira de Filologia 3 (1957), S. 2 2 1 - 2 2 5 . Cf. weiterhin zur Problematik Futur/Modi die Beitrage von Lerch, Müller und Wunderli. Cf. unten S. 125. 63 Flydal, S. 100; cf. dazu die Bestimmung von Damourette—Pichon: 11 a fait, S. 98ff. in der Diskussion von Gougenheims Begriff des „ f u t u r prochain". 64 Was das Verschwinden des Unterschieds betrifft, cf. Marcel Cohen: Quelques considérations sur le phénomène des verbes auxiliaires, in: Studii çi cercetäri lingvistice 11 (1960), S. 4 3 3 - 4 4 2 , der auf die Tatsache hinweist, daß Kinder, die Französisch lernen, zunächst überhaupt nicht über das einfache Futur verfügen, weiterhin auch Hyperkorrektismen für den schwankenden Gebrauch anführt. 65 So Flydal S. 8f. Zu diesem Problem sei weiterhin noch hingewiesen auf: W. Assmann: Die nichtfuturische Umschreibung des französischen Verbums durch „aller + Inf." . . . Diss. Göttingen 1913; Rostaing - Dauzat: L'emploi d'aller devant l'infinitif, in: FM 12 (1944), S. 1 7 3 - 1 7 5 .

36

1. Diejenigen Arbeiten, die die Problematik theoretisch zu fassen versuchen, verstehen sich selbst als „Arbeitsprogramm" (Coseriu; von ihm allerdings teilweise verwirklicht), „Vorstudie". 2. Es gibt keine umfassende vergleichende Darstellung der Erscheinung in allen romanischen Sprachen (nur teilweise von Coseriu), weder was die Frequenz (sowohl absolut als auch was die Zahl der entwickelten Verfahren anlangt) noch was Gleichheit, Ähnlichkeit oder Unterschiede der Funktion anbetrifft. 3. Am genauesten ist das Französische inventarisiert, unter den vielfältigsten Aspekten das Spanische. Für jede neue Arbeit in diesem Bereich lassen sich folgende Problemkreise aufzeigen: 1. Bestimmung der Funktion der Periphrasen 2. Frequenz- und Funktionsunterschiede zwischen den einzelnen romanischen Sprachen 3. Ist die Verwendung der einzelnen Periphrasen stilistisch (wahlfrei) oder obligatorisch? 4. Handelt es sich bei der Einführung um einen abgeschlossenen historischen Prozeß oder eine jederzeit nachvollziehbare schöpferische Möglichkeit? Handelt es sich um ein System von Möglichkeiten, das in verschiedenem Maße realisiert ist? Bei der Feststellung und Beschreibung von Verbalperiphrasen müssen Methoden entwickelt werden: 1. zur Unterscheidung der Verbalperiphrasen von solchen Fügungen, wo zwei Vollverben nebeneinander stehen 6 6 ; 2. zur Darstellung der Gesamtfunktion im Einzelfall als Kombination von — Funktion der infiniten Form — lexikalischem Gehalt des „Hilfsverbs" — aus diesen beiden Faktoren resultierender „idealer" Periphrasenfunktion 6 7 — lexikalischem Gehalt des Vollverbs — Tempus, in dem die Periphrase steht.

3.1.3.2. Surcomposé Die Einordnung des Forschungsberichts zum Surcomposé an dieser Stelle ist etwas diskutabel, weil es sich ja um keine Verbalperiphrase im engeren Sinne des Wortes handelt 1 ; im Rahmen des folgenden Berichts zur Verbalsystemdiskussion in der romanischen Sprachwissenschaft würde die Be-

66 Cf. unten S. 9 8 - 1 0 3 . 67 Diese Bestimmung der „idealen" Periphrasenfunktion wird noch etwas modifiziert werden müssen, cf. unten S. 95f. 1 Zu einer Definition cf. unten S. 9 5 f f .

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sprechung jedoch wieder zu sehr in die Einzelproblematik zurückführen — daher die Einordnung an dieser Stelle! Wie wir bei der Besprechung der Arbeiten zum okzitanischen Verbalsystem gesehen haben (Punkt 1 des Forschungsberichts, besonders 1.4.1.), erwies sich das Surcomposé als eines der interessantesten Probleme der okzitanischen verbalen Syntax. So soll an dieser Stelle auch die Forschung zum französischen Surcomposé skizziert werden 2 . In der Behandlung dieses Problems macht sich bei den Autoren, die dazu Stellung nehmen, eine merkwürdige methodische Unsicherheit bemerkbar. Mehr als bei der Behandlung anderer Fragen wechseln die Gesichtspunkte, und kaum einer der Autoren trennt die Fragen nach Funktion, Ursprung, Verbreitung und Redebedeutungen. Zweifellos stehen auch all diese Faktoren in Wechselwirkung; so wird wohl die Frage der Entstehung nur von der Funktion und vielleicht der Verbreitung her gelöst werden können. Aber es wäre gerade bei solch einem vielschichtigen und zugegebenermaßen dornigen Problem eine anfängliche Trennung nach verschiedenen Gesichtspunkten unerläßlich. Aus gutem Grund fordert Helmut Lüdtke 3 in der Besprechung der umfangreichsten Arbeit zum Surcomposé die Trennung der vier methodischen Aspekte: 1. systematisch 2. geographisch 3. sprachsoziologisch 4. diachronisch 4 Die Arbeiten zum Surcomposé lassen sich in zwei Gruppen teilen: — die Aufsätze vor dem Erscheinen von M. Cornus umfangreicher Darstellung, die wohl durch sein fast erschöpfend zu nennendes Belegmaterial, aber nicht alle in der Theorie überholt sind; — Arbeiten nach M. Cornus Buch, vornehmlich Besprechungen. Ich möchte bei dem Bericht über die Forschung zum Surcomposé zwei verschiedene Wege einschlagen: Zunächst sei die Geschichte der Forschung 2

3 4

Ich beschränke mich hier auf die Arbeiten zum Französischen. Ein merkwürdiger Parallelismus läßt sich im Rumänischen feststellen: Maria Manoliu: Une déviation du système de conjugaison romane: temps composés avec a fi „être", à la diathèse active, en roumain, in: Recueil d'Etudes Romanes, S. 1 3 5 - 1 4 4 . Auf das Vorhandensein von überkomponierten Formen im Nordital. weist P. Meriggi: Paralleli nell'evoluzione del sistema verbale romanico e germanico, in: ZRPh 50, S. 1 2 9 - 1 4 1 , hin in Verbindung mit der parallelen Entwicklung in germanischen Sprachen. Zu dieser Parallele cf. J. Klare: Die doppelt umschriebenen Zeiten im Deutschen und Französischen, in: BRPh 3 (1964), S. 1 1 6 - 1 1 9 . Zum Vorkommen in anderen rom. Sprachen cf. die unten besprochene Arbeit von Sestak. in: Romanische Forschungen 71 (1959), S. 4 6 9 - 4 7 0 . Diese Trennung von Aspekten hatte er bereits in einer anderen Arbeit gefordert. Sie wird von E. Coseriu: Sincronia, Diacronia e Historia, Montevideo 1958, S. 124 übernommen, cf. Lüdtke S. 469.

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in ihren verschiedenen Linien skizziert, anschließend seien die verschiedenen Ansichten, die vertreten wurden, systematisch geordnet und verglichen. 1.

Geschichte der Forschung

Die erste ausführliche Beschäftigung mit dem Surcomposé liegt vor in dem Aufsatz von Lucien F o u l e t : Le développement des formes surcomposées (1925) 5 . Er beschreibt die Funktion des Passé surcomposé als Doppelfunktion: Or le passé surcomposé est précisément une forme qui nous permet de maintenir temps6. à la fois l'idée de parfait et celle d'éloignement dans le

Er legt besonderen Wert auf die Betonung der temporellen Seite dieser Bestimmung, des „éloignement dans le temps". Er erklärt die Entstehung des Surcomposé, wenn auch vorsichtig, als Ersetzung des Passé antérieur analog zur Ersetzung des Passé simple durchs Passé composé. Damit war die Eröffnung der Surcomposé-Diskussion gegeben. Es soll noch darauf hingewiesen werden, daß der Artikel von Foulet noch nicht überholt ist, im Gegenteil: nach dem Erscheinen von Cornus Buch wurde in den Kritiken vielfach wieder auf die Funktionsbestimmung und die Ersetzungstheorie von Foulet hingewiesen 7 . Auf Foulets Arbeit folgt unmittelbar die von L. C 1 é d a t : En marge des grammaires: Les tens composés et surcomposés (1926) 8 . Er stellt fürs Französische zwei Verwendungstypen fest, den relativen Gebrauch als ,,Antérieur" und den absoluten Gebrauch als „passé de l'action accomplie"9 in Sätzen vom Typ ,,ii a eu vite fait". Die Fälle, in denen das Surcomposé einen „recul dans le passé" darstellen würde, qualifiziert er als unfranzösisch. Was die Entstehung anbetrifft, so setzt er sie gemeinsam mit den Tens Composés an, eine Ansicht, die später Cornu wiederaufnehmen wird, theoretisch gestützt durch Guillaumes Theorien. C. d e B o e r wendet sich in mehreren Punkten entschieden gegen Foulet in seinem Aufsatz: Les temps „surcomposés" du français (1927) 1 0 . Er spricht sich entschieden gegen eine temporale Interpretation des Surcomposés aus, wie sie mit Foulets „recul dans le passé" gegeben ist: die Primärfunktion ist einfach völlige Abgeschlossenheit, die „réalisation définitive" 11 , die unter Umständen temporale Nebenbedeutungen im angeführten Sinn hervorbringen könnte. Die „temps surcomposés" fügen den ent5 6 . 7 8 9 10 11

in: Romania 51 ( 1 9 2 5 ) , S. 2 0 3 - 2 5 2 . Foulet, S. 228. Cf. unten S. 43. in: Revue de philologie française et de littérature 38 ( 1 9 2 6 ) , S. 3 3 - 4 7 . Clcdat, S. 41. in: R U R 3 ( 1 9 2 7 ) , S. 2 8 3 - 2 9 5 . De Boer, S. 283.

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sprechenden „temps composés" nichts an Bedeutung hinzu — sie treten lediglich für die „temps simples correspondants affaiblis"'2 ein. Eine Besprechung der drei genannten Arbeiten stellt Antonin S e s t â k s : Les temps surcomposés en français13 dar. Er betont gegenüber de Boer den temporalen Aspekt der Formen. Weiterhin hält er ihm entgegen, daß das Passé surcomposé in keiner seiner Anwendungen das Passé composé in seiner Verwendung als „parfait-présent " ersetzen kann. Es ergibt sich also als Hauptfunktion „un entier accomplissement d'un fait passé" 14 . Er führt weiterhin Beispiele aus dem Provenzalischen an und stellt eine Übereinstimmung mit der französischen Funktion fest. Beispiele wie „Quan ho he tingut tot vist m'en he anat" 1 5 sollen beweisen, daß es die in Frage stehenden Formen auch im Katalanischen, Spanischen und Portugiesischen gibt, und daß vielleicht die Provence als Ausstrahlungszentrum angenommen werden könnte. Was die Entstehung angeht, so schließt er sich Clédats Auffassung einer gemeinsamen Genese der Temps composés und der Temps surcomposés an. Nachdem in den Zwanziger-Jahren französische Syntaktiker in den angeführten Beiträgen versucht hatten, Herkunft und Funktion des Surcomposé im Französischen zu bestimmen, gab es in den Dreißiger- und VierzigerJahren keine spezielle Diskussion um das Surcomposé — es spielt dagegen gerade in Erscheinungen dieser Zeit eine Rolle, die eine in der einen oder anderen Weise extreme Richtung in der französischen Linguistik repräsentieren: Damourette und Pichon, Tesnière, Guillaume. D a m o u r e t t e und P i c h o n behandeln das Surcomposé erstmalig in: „II a fait, il vient de faire, il va faire"16. Sie charakterisieren es als „bisantérieur" oder „biacquisitif11 : 12 De Boer; S. 283. An dieser Stelle definiert er auch die Funktion der solchermaßen abgeschwächten Temps composés mit „subjectivité", dazu unten S. 146f. Zur „réalisation définitive": „Je l'ai apprise, cette poésie" - „Ne lui demandez pas de vous la réciter, il n'a pas dit: je l'ai apprise" (Foulet). Recul dans le passé? Non; le sens est: je l'ai apprise, mais je ne la sais plus. Ce passé n'est pas lointain, mais bien passé, définitivement passé. Ne lui demandez pas donc pas de la réciter." (S. 2 2 8 ) . Mir ist nicht ganz klar, wie de Boer hier von einer Funktionsgleichheit mit dem Passé composé sprechen kann. Der Unterschied zwischen beiden Formen liegt nicht in der Abgeschlossenheit, sondern im Resultat - außerdem ist es offensichtlich, daß beim Surcomposé eine Reflexionsstufe mehr vorliegt als beim Composé. 13 in: Casopis pro moderni filologii 19 ( 1 9 3 3 ) , S. 1 8 6 - 1 9 3 ; 2 9 2 - 3 0 7 . 14 Sestäk , S. 2 9 5 . 15 Diese Beispiele haben zwar etwas mit dem Surcomposé zu tun, sind aber d o c h nicht einfach gleichzusetzen. Ich werde ausführlich darauf zurückkommen. 16 in: Revue de Philologie Française 4 3 ( 1 9 3 1 ) , S. 8 1 - 1 1 8 ; außerdem cf. Des mots à la pensée, Bd. 5, S. 2 9 2 - 3 0 3 . Zum Verbalsystem bei Damourette und Pichon, cf. unten S. 56. 17 Gemäß der Definition von il a fait als „acquisitif", das dem „antérieur-source" (venir de) gegenübersteht.

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Il est clair que dans toutes ces phrases, le type il a eu fait marque une époque antérieure au type il a fait. Cette époque est vu du présent, mais en quelque sorte par réflexion. Le tiroir elle a eu lu sert donc ici à marquer un fait qui a été saisi comme passé acquis, du point du vue d'un passé que maintenant on saisit lui-même comme . 18 passe acquis .

Hier ist erstmals klar formuliert, daß es bei den untersuchten Formen um eine Verdoppelung der Perspektive geht, nicht um eine Kombination von Funktionen oder um eine einfache Ersetzung. Der okzitanische Gebrauch wird dagegen als einfach temporaler abgesetzt: En occitain,il n'en est pas de même. Le type ai agu fach s'emploie pour marquer une nuance spéciale du passé sans double antériorité 1 9 .

In „A propos des temps surcomposés"20 gibt Lucien T e s n i è r e eine eindeutige Definition des Surcomposé: „un temps composé dont le premier élément est lui-même composé"21 und wehrt sich damit gegen Definitionen, die den Anschein erwecken, als sei ein Element eingeschoben. Er wendet sich weiterhin gegen die Vermischung verschiedener Bedeutungen durch Sestak, die in Wirklichkeit geographisch getrennt sind. Er schlägt erstmals ganz klar eine Unterscheidung von zwei Verwendungstypen vor:

2

Le passé surcomposé parisien, peut-être dijonnais d'origine, comme le suppose Foulet, et qui n'est que la conséquence de la disparition du passé simple dans tout le nord de la France. Là où l'on remplace j'eus par j'ai eu, on est bien obligé de remplacer j'eus fini par j'ai eu fini. C'est une simple modification de forme, laquelle ne change rien au sens, qui reste celui d'un passé antérieur à un autre passé. Le passé surcomposé méridional, et plus particulièrement du Sud-Est, qui n'est probablement, comme l'indique Foulet, que le prolongement à travers le français d'un phénomène de substrat qui a son origine dans les patois provençaux. Or c'est précisément dans cette région que le passé simple est resté vivant (. . .). Il en résulte que j'ai eu fini coexiste avec j'eus fini, et a donc été créé pour exprimer une nuance sémantique nouvelle, qui est précisément celle ( . . .) d'une certaine durée dans un passé reculé 2 2 .

Den größten Einfluß auf die künftigen Arbeiten über das Surcomposé hat Gustave G u i l l a u m e gehabt, der in mehreren Aufsätzen 23 das Sur18 Damourette - Pichon, Il a fait, S. 109. 19 Damourette - Pichon, Il a fait, S. 114. 20 in: Bulletin de la Faculté des Lettres de Strasbourg, Dez. 1935, S. 5 6 - 5 9 . Er nimmt das Thema in weiterem Rahmen wieder auf in: Théorie structurale des temps composés, in: Mélanges Bally, S. 1 5 8 - 1 8 3 . 21 Tesnière, Temps surcomposés, S. 56. 22 Tesnière, Temps surcomposés, S. 59. 23 Guillaumes Aufsätze sind vereinigt in den beiden Sammelbänden: Langage et science du langage, Paris - Québec 1964, und Temps et verbe, Paris 1965. Viele davon befassen sich mit seiner Theorie zum Verb, und es würde zu weit führen, auf alle getrennt hinzuweisen.

41

composé als Repräsentation des „aspect bi-extensif", später „bi-transcendental", behandelt. Es würde zu weit führen, Guillaumes Theorien zum Verb hier darzulegen. Er geht davon aus, daß die verschiedenen temps in posse (d. h. am Anfang der chronogénese, repräsentiert durch die nominalen Formen des Verbs) verschiedene Grade der tension repräsentieren. Der Infinitif enthält die volle Spannung des Verbalinhalts, das Partizip Praesens zeigt den Verbalinhalt auf dem Weg von Spannung zur Spannungslosigkeit, im Partizip ist die Spannung des Verbalinhalts erschöpft. Das sind die dem Verb immanenten Möglichkeiten, nun kann aber das Partizip zur Grundlage einer neuen Spannung gemacht werden und zwar mit Hilfe des Infinitivs. Dieser Vorgang ist in einer bitranszendentalen Serie, eben in der Form des Surcomposé wiederholbar. Diese dritte Serie ist mit der Einführung der zweiten als Möglichkeit gegeben. Quant à la différence de valeur de l'aspect extensif et de l'aspect bi-extensif, elle se résume en ceci que les deux aspects ont la même valeur absolue, mais n'ont pas la même valeur relative. L'aspect extensif occupe une position de deuxième plan dans le temps in posse et l'aspect bi-extensif une position de troisième plan 2 4 .

Die Diskussion um das Surcomposé selbst — und weniger um seinen Platz in einem sprachlichen System — begann von neuem mit dem Erscheinen von Maurice C o r n u s : Les formes surcomposées en français (1953) 2 5 . Es ist die bei weitem umfangreichste Arbeit und enthält eine überreiche Dokumentation zu geographischer, sozialer und zeitlicher Streuung des Surcomposés auch in seinen außerfranzösischen Zusammenhängen: im Rätoromanischen, Norditalienischen und besonders gerade Okzitanischen 26 . Weiterhin teilt er auch seine Darstellung ein nach der Kombination mit Tempora; nur die verschiedenen Kombinationen mit lexikalischen Verbklassen berücksichtigt er nicht 2 7 . Cornu schließt sich weitgehend Guillaume an, sowohl was dessen Auffassung von Aspekt 28 als auch die damit verbun-

24 Guillaume, Temps et verbe, S. 24. Es muß also darauf geachtet werden, daß Guillaumes Definition des Aspekts ausschließlich diese drei Möglichkeiten der Perspektive des Handlungsablaufs von Spannung in Richtung auf Spannungslosigkeit betrifft: immanent, transcendant oder extensif, also Wiederbelebung der Spannung durch den Infinitiv, und bi-transcendant. Diese Auffassung bei ihm und seinen Schülern darf nicht verwechselt werden mit den landläufigen Verwendungen des Begriffs „Aspekt". Guillaumes Ideen haben viel Einfluß auf die künftige Beschäftigung mit dem Surcomposé gehabt, so vor allem auf Cornu, cf.S. 42f., und auf Lafont, cf. oben S. 9f. 25 Bern 1953 (Romanica Helvetica 42). 26 Cf. oben S. 13. 27 Das wurde ihm auch von seinen Kritikern mehrfach zum Vorwurf gemacht, so vor allem von Sandmann und von Henry. 28 Cf. oben S. 41f.

42

dene historische Erklärung einer gleichzeitigen Genese 29 anlangt. Er unterscheidet drei Verwendungstypen: 1. in der Subordination als Antérieur zu einem Passé composé; 2. in Verbindung mit Adjektiven wie vite, bientôt, zum Ausdruck des schnellen Abschlusses einer Handlung; in diesen beiden Fällen ersetzt es einfach das Passé antérieur, 3. ein „surcomposé à valeur spéciale", nämlich eben zur Bezeichnung einer weit zurückliegenden Vergangenheit. Dieser letzte Typ findet sich besonders im Okzitanischen und, noch weit häufiger, im Frankoprovenzalischen. Der grundlegende Charakter der Arbeit und die Schwierigkeit des Problems riefen eine Fülle von Rezensenten auf den Plan, die teilweise sehr wichtige Beiträge zur Problematik liefern 30 , vor allem Zeugnisse zu allerersten Verwendungen. Besonders umfangreich und klärend sind drei Besprechungen: Hans N i l s s o n - E h l e 3 1 gibt ein sehr gutes Résumé über die einzelnen Aspekte der Frage. Er nimmt eine getrennte Entstehung für Verwendungstyp 1, der in der Tat mit der Entstehung des Composé mitgegeben sei, und Typ 3 an, der auf adjektivische Verwendung des Vollverbs zurückgehe. Hans Helmut C h r i s t m a n n 3 2 ruft Definition (parfait du prétérit) und Ersetzungstheorie von Lucien Foulet ins Gedächtnis. H. B o n n a r d 3 3 wirft M. Cornu vor, daß er aus seinem Dokumentationsmaterial (früheste Belege; gleichzeitiges Vorkommen mit dem Passé simple) nicht den naheliegenden Schluß gezogen habe, daß der Gebrauchstyp 3 der ursprüngliche sei. Dieser Typ habe die „valeur aspective de super-parfait1134 (im Gegensatz zu den beiden anderen Typen: „prétérit du parfait"): 29 Cf. ebda. Damit k o m m t Cornu auf die schon von Clédat (cf. oben S. 39) geäußerte Ansicht eines nicht voneinander zu trennenden Ursprungs von Composé und Surcomposé zurück. 30 Ich erwähne hier nur die wichtigsten Rezensionen: Bourciez, in: RLaR 72 ( 1 9 5 5 ) , S. 1 2 3 - 1 2 4 Dauzat, in: FM 2 2 ( 1 9 5 4 ) , S. 2 5 9 - 2 6 2 (Titel: A propos des temps surcomposés: Surcomposé provençal et surcomposé français). Gougenheim, in: FM 26 ( 1 9 5 8 ) , S. 6 0 - 6 2 Henry, in: ZRPh 7 3 ( 1 9 5 7 ) , S. 3 0 9 - 3 1 2 Lüdtke, in: RF 71 ( 1 9 5 9 ) , S. 4 6 9 - 4 7 0 Reid, in: ALing 6 ( 1 9 5 4 ) , S. 1 5 0 - 1 5 3 Sandmann, in: VR 14 ( 1 9 5 4 / 5 5 ) , S. 3 8 1 - 3 8 7

31 32 33 34

Sneyders de Vogel, in: Neophilologus 39 ( 1 9 5 5 ) , S. 5 9 - 6 3 (Titel: Les formes surcomposées en français). Remarques sur les formes surcomposées en français, in: Studia Neophilologica 26 ( 1 9 5 3 / 5 4 ) , S. 1 5 7 - 1 6 7 . Zu den „formes surcomposées" im Französischen, in: ZFSL 68 ( 1 9 5 8 ) , S. 7 1 - 1 0 0 . Rez. in: Rom. Phil. 19 ( 1 9 6 0 ) , S. 6 1 - 6 8 . Bonnard, S. 65.

43

L'emploi B (= 3 in unserer Zählung) peut être conservé un certain temps pour exprimer spécifiquement une action dont la sequelle n'est plus présente, nuance que le passé composé ne précise pas: c'est l'état actuel du français parlé dans le midi et dans le domaine franco-provençal. Cette nuance, par une interprétation discutable, a pu donner l'impression d'un „recul dans le passé" 3 5 . Er legt also Wert darauf, d e n z w e i s t u f i g e n Charakter d e s S u r c o m p o s é s z u b e t o n e n . Ob sich n u n T y p 3 v o m T y p 1 aus e n t w i c k e l t hat, läßt er dahingestellt sein — er hält es für w e n i g wahrscheinlich; sicher ist, daß die beid e n G e b r a u c h s t y p e n in d e m A u g e n b l i c k in K o n k u r r e n z treten, w o das Passé simple aus d e m Gebrauch v e r s c h w i n d e t . Diese K o n k u r r e n z wird w o h l meist z u g u n s t e n des T y p s 1 ausfallen. Unabhängig v o n der Arbeit Cornus ist seit der in d e n R e z e n s i o n e n geführt e n D i s k u s s i o n w i e d e r die B e s c h ä f t i g u n g mit d e m S u r c o m p o s é 3 6 . Eine besondere R o l l e spielt es in Emile B e n v e n i s t e s de temps

dans le verbe français37.

A u f s a t z : Les

g e t r e n n t e n französischen V e r b a l s y s t e m e n , d e m S y s t e m der histoire d e m d e s discours:

relations

Er unterscheidet z w i s c h e n z w e i völlig und

die ü b e r k o m p o n i e r t e n F o r m e n g e h ö r e n ausschließlich

d e m z w e i t e n an: Seulement le système du discours subit de ce chef une atteinte sensible: il gagne une distinction temporelle, mais au prix de la perte d'une distinction fonctionnelle. La forme j'ai fait devient ambiguë et crée une déficience. En soi, j'ai fait est un parfait qui fournit soit la forme d'accompli, soit la forme d'antériorité au présent je fais. Mais quand j'ai fait, forme composée devient l'„aoristc du discours", il prend la fonction de forme simple, de sorte que j'ai fait se trouve être tantôt parfait, temps composé, tantôt aoriste, temps simple. A ce trouble, le système a remédié en recréant la forme manquante. En face du temps simple je fais, il y a le temps composé j'ai fait pour la notion d'accompli. Or puisque j'ai fait glisse au rang de temps simple, il aura besoin d'un nouveau temps composé qui exprime à son tour l'accompli: ce sera le surcomposé j'ai eu fait, i'onctionnellement, j'ai eu fait est le nouveau parfait d'un j'ai fait devenu aoriste 3 8 .

35 Bonnard, S. 66. 36 André Burger bezeichnet die Funktion des Surcomposé als „suraccompli" (Essai d'analyse d'un système de valeurs, in: Cahiers Ferdinand de Saussure 19 (1962), S. 6 7 - 7 6 ) . Henry G. Schogt verwundert sich in seinem Buch: Le système verbal du français contemporain, Den Haag - Paris 1968, S. 50, über die Diskrepanz zwischen populärem Charakter des Surcomposé und offensichtlich literarischen Formen wie j'eus eu blessé, die er dann als Erfindungen der Grammatiker einstuft. Daß es sich nicht ganz so verhält, hätte ihn ein Blick in Cornus Buch lehren können. Äußerst aufschlußreich für unsere Problematik ist eine Dialektsyntax: Louis Remacle: Syntaxe du parler wallon de La Gleize, t. 2, Paris 1956, der fürs Wallonische des 16. und 17. Jh. den Gebrauchstyp 3 nachweist (S. 71). 37 in: Bulletin de la Société de Linguistique 54 (1959), S. 6 9 - 8 2 (Nachdruck in: Problèmes de linguistique générale, Paris 1966, S. 2 3 7 - 2 5 0 ; Zitate nach dieser Ausgabe). 38 Benveniste, RT S. 249.

44

Zusammenfassung Um die komplizierte Problematik etwas deutlicher darzustellen, werde ich im Folgenden eine Zusammenfassung nach Problemkreisen entwerfen und gleichzeitig die Fragen skizzieren, die vielleicht noch zu stellen wären. 1.

Funktion

1.1. Welche Verwendungstypen sind bekannt? — Antérieur zu einem Passé composé mit Erzähltempusfunktion; Typ: „Quand il a eu déjeuné, il s'en est allé"; in dieser Verwendung funktionsgleich mit dem Passé antérieur. -

Sonderfall: Die Verwendung des Passé composé ist auf Ereignisse des gleichen Tags beschränkt (in okzitanischen Dialekten) — das Surcomposé ist ein Antérieur zu einem solchen Passé composé39.

— Schneller Abschluß einer Handlung in der Vergangenheit; Typ: ,,11 a eu vite fini"; in dieser Verwendung wie Passé antérieur40. — Surcomposé à valeur spéciale (Cornu): Handlung in einer unbestimmten Vergangenheit (erstmalig Dauzat, Camproux; „recul dans le passé" — Foulet), deren Resultat in der Gegenwart möglicherweise nicht mehr vorhanden ist; Typ: „Je l'ai eu apprise, cette poésie". -

Zu diesem Verwendungstyp werden verschiedene subjektive und modale Nuancen angeführt: „subjectivité" (de Boer); „rare, extraordinaire" (Ronjat); „éventuel" (Lafont).

— Vergangenheit eines Resultats; dieser Verwendungstyp wird mehrmals von Dauzat erwähnt: Zu einem resultativen Präsens avoir fini besteht eine einfache Vergangenheit avoir eu fini. 1.2. Handelt es sich um eine einheitliche Funktion oder um einen Fall von grammatikalischer Homonymie? — Allgemein wird angenommen, daß sich all die angeführten Verwendungstypen mit einer einheitlichen Funktion erklären lassen. — In Hinsicht auf die Entstehung äußern Nilsson-Ehle und Bonnard Zweifel an einer gemeinsamen Geschichte der Verwendungstypen 1 und 3. Eine getrennte Entstehung würde auch zwei getrennte Funktionen implizieren. Trotz dieser Zweifel bezeichnen sie die verschiedenen Verwendungstypen als Varianten. 1.3. Wie wird die — allgemein als einheitlich angenommene — Funktion beschrieben? 39 Auf diese Art der Verwendung im Okzitanischen weisen besonders Dauzat und Bonnard hin. 4 0 Dieser Venvendungstyp ist erstmals deutlich von Cledat hervorgehoben worden.

45

Es gibt vier Versuche, die Funktion zu bestimmen: — R e i n a s p e k t u e l l e F u n k t i o n ; diese Ansicht wird in zweierlei Hinsicht vertreten: — De Boer sprach sich erstmalig für eine rein aspektuelle Funktionsbestimmung aus 4 1 . Für ihn hat ja das Surcomposé die gleichen Funktionen wie das Passé composé unter Betonung der „réalisation définitive". Verwendungen im Sinne eines „recul dans le passé" sind sekundäre Funktionen. — Cornu bezeichnet ebenfalls die Funktion des Surcomposé als Aspektfunktion, allerdings mit einem anderen, von Guillaume übernommenen Begriff des Aspekts 42 . — R e i n t e m p o r a l e F u n k t i o n ; diese Meinung wurde am seltensten geäußert. Lediglich Sestâk spricht sich dafür aus, die Bedeutung „recul dans le passé" als wesentlich anzunehmen 43 . — Kombination einer temporalen mit einer aspektuellen Funktion; es handelt sich hier um die am weitaus häufigsten vertretene Meinung — sie wird gefaßt in Funktionsbestimmungen wie „parfait + éloignement dans le temps" (Foulet), „passé de l'action accompli" (Clédat), „parfait du prétérit" (Christmann, in Anschluß an Foulet), „prétérit du parfait" (Bonnard), „parfait de l'aoriste" (Benveniste), „antérieur + accompli" (Remacle). — Bestimmungen als Funktion „à double échelle"; diese Bestimmungen sind auch entweder mehr temporal oder mehr aspektuell gerichtet — als funktionelle Eigenheit des Surcomposé wird jedoch seine Doppelstufigkeit bezeichnet. — „bisantérieur" -.„biacquisitif" (Damourette-Pichon) — „bi-extensif" (Guillaume; Lafont) — „super-parfait" (Bonnard) Der Verwendungstyp „recul dans le passé" wäre aufzufassen als Nichtvorhandensein einer „échelle".

— „suraccompli" (Burger) 1.4. In welchem Verhältnis werden die festgestellten Verwendungstypen zu den angenommenen Funktionen gesehen? Es lassen sich drei Meinungen zu dieser Frage, je nach Beantwortung der vorhergehenden, feststellen: — Es wird die einheitliche Funktion der verschiedenen Verwendungstypen bezweifelt (cf. 1.2). — Es liegt eine aspektuelle Primärfunktion mit temporalen Sekundärfunk41 De Boer, S. 288: „C'est une question d'aspect et non pas de moment." 42 Cf. dazu oben S. 41f. 43 Cf. dazu oben S. 40.

46

tionen vor (de Boer, Cornu) oder eine temporale Hauptfunktion mit v

aspektuellen Nebenfunktionen (Sestâk). — Die Funktion wird als einheitliche erklärt (entweder Kombination Aspekt-Tempus oder Doppelstufigkeit); die festgestellten Verwendungstypen sind Redebedeutungen (abhängig von Satztyp und gesichert durch regionale Normen). Sind die verschiedenen Verwendungstypen (nach Maßgabe der 1.5. Antworten auf 1.4. als Varianten, Sekundärfunktionen oder Redebedeutungen bestimmt) systembedingt? Hier läßt sich feststellen, daß Faktoren wie: das Auftreten in bestimmten Satztypen, die Kombination mit bestimmten Adverbien zwar zur Erstellung der Verwendungstypen und ihrer Beschreibung 4 4 verwandt werden, nicht aber zu ihrer Erklärung. Es müßte hier noch genau untersucht werden: — das Auftreten in Satztypen: Subordination — absoluter Gebrauch 4 5 . — Kombination mit bestimmten Adverbien 4 6 — Kombinationsmöglichkeiten mit Tempora 4 7 — Kombinationen mit Verbklassen 4 8 . 1.6. Oder sind die verschiedenen Verwendungstypen architekturbedingt? 4 9 Diese Frage führt uns aus dem Gebiet der systematischen Analyse hinaus und muß nach den verschiedenen Dimensionen der Spracharchitektur getrennt gestellt werden. 44 In diesem Sinne auch die transformationeile Beschreibung des Surcomposés durch Nicolas Ruwet: Le constituant „auxiliaire" en français moderne, in: Langages 1966 (Dez.), S. 105-121, dort S. 111-113. Aber auch die anderen Arbeiten gehen in dieser Hinsicht nicht über eine Beschreibung hinaus, mit Ausnahme von Benveniste. 45 Zwar dient dieser Unterschied Cornu (und vielen anderen) zur Unterscheidung zwischen seinen Verwendungstypen 1 und 3 - es wird aber nicht die Frage gestellt, ob das Unterscheidungsmerkmal die Erklärung beinhalten könnte. 46 Gleiche Bemerkung wie unter 45) - der Schritt von der Klassifikation zur Interpretation wird nicht gemacht. 47 Ausführliche Dokumentation bei Cornu; die Frage nach der Erklärung kann jedoch noch gestellt werden. 48 Zu dieser Frage finden sich nur sehr spärliche Hinweise: Dauzat, A propos.. . : Hinweis auf Verben wie finir usw. Nilsson-Ehle, S. 162: „. . .en général, dans les cas les plus caractéristiques du type C, on a affaire à des verbes qui expriment justement une idée d'état." Henry, S. 311: „Un problème (. ..) mériterait d'être étudié de près, (. . .) c'est l'étude sémantique des verbes qui sont employés aux formes surcomposées. Il me paraît qu'il s'agit surtout de verbes dont le sens appelle tout naturellement un répère chronologique." Cf. auch Sandmann, Rez. zu Cornu. 49 Was den Begriff der Spracharchitektur betrifft, wie ihn E. Coseriu (teilweise nach L. Flydal) entwirft (Structure lexicale et enseignement du vocabulaire, in: Actes du premier colloque international de linguistique appliqué, Nancy 1966, S. 1 7 5 252), so komme ich darauf noch ausführlich zurück, cf. unten S. 95. 47

2.

Diatopisch

2.1.

Ist die F u n k t i o n überall d o r t , w o die F o r m v o r k o m m t , die gleiche?

S ä m t l i c h e U n t e r s u c h u n g e n ergeben, d a ß zwei verschiedene G e b i e t e unterschieden werden müssen ( e r s t m a l s d e u t l i c h von T e s n i è r e f o r m u l i e r t ) : — ein G e b r a u c h in Paris, der n i c h t s darstellt als die Ersetzung des Passé antérieur in den b e i d e n V e r w e n d u n g e n 1) und 2 ) ; — ein G e b r a u c h im Südosten des französischen S p r a c h g e b i e t s , ausgehend v o m F r a n k o p r o v e n z a l i s c h e n und O k z i t a n i s c h e n , besonders V e r w e n d u n g s typ 3); — Was das O k z i t a n i s c h e selbst b e t r i f f t , so sind d o r t n o c h die V e r w e n dungstypen 4 ) und l a ) a n z u t r e f f e n . Dieser G e b r a u c h ist auch im N o r d f r a n z ö s i s c h e n n i c h t ganz u n b e k a n n t , b l e i b t aber vorerst ein Provinzialismus. — Fürs Wallonische des 1 6 . und 1 7 . J h . weist R e m a c l e diesen G e b r a u c h ebenfalls n a c h . 2.2.

Wo ist die F r e q u e n z am h ö c h s t e n ?

Es ergibt sich aus allen U n t e r s u c h u n g e n , daß sie im F r a n k o p r o v e n z a l i s c h e n und den angrenzenden G e b i e t e n a m h ö c h s t e n ist. Die Frage m ü ß t e n o c h d i f f e r e n z i e r t gestellt werden n a c h V e r w e n d u n g s t y p e n , nach K o m b i n i e r b a r k e i t m i t T e m p o r a und V e r b k l a s s e n 5 0 . 2.3.

Wo liegen die Z e n t r e n für Ausstrahlung von V e r w e n d u n g s t y p e n

und F r e q u e n z ? — Für das S u r c o m p o s é im Ganzen wurde teilweise die Provence als Ausgangspunkt ( S e s t â k ) a n g e n o m m e n , teilweise Burgund ( F o u l e t , T e s n i è r e ) , teilweise der S ü d o s t e n ( C o r n u ) . — Für den G e b r a u c h 3 ) wird g e t r e n n t davon ein provenzalisches ( F o u l e t , T e s n i è r e ) o d e r f r a n k o p r o v e n z a l i s c h e s Ausstrahlungszentrum a n g e n o m m e n .

3.

D i a s t r a t i s c h

Es k ö n n t e n hier die gleichen Fragen gestellt w e r d e n wie z u m d i a t o p i s c h e n G e s i c h t s p u n k t , was a b e r n o c h nie getan w o r d e n ist. Lediglich C o r n u beschäftigt sich m i t dieser F r a g e und versichert, d a ß sich in soziologischer Hinsicht weder ein F r e q u e n z - n o c h ein F u n k t i o n s u n t e r s c h i e d feststellen l ä ß t .

4.

D i a p h a s i s c h

Wieder sind die gleichen F r a g e n m ö g l i c h wie zu P u n k t 2 ) . Sie w e r d e n gene50 Die Frage nach den verschiedenen sprachaichitektonischen Gesichtspunkten müßte an sich am Anfang stehen und die Frage nach der Funktion dann innerhalb jeder „funktionellen Sprache" (cf. unten S. 9 5 ) getrennt gestellt weiden.

48

rell so beantwortet, daß die Formes surcomposées der langue parlée angehören und dort das Passé antérieur ersetzen. S.

Historisch

5.1. Wann und wie ist das Surcomposé entstanden? Die vertretenen Meinungen lassen sich in zwei große Gruppen einteilen: — Das Surcomposé ist „gleichzeitig" mit dem Composé entstanden, d.h. mit der Einführung des Composé war „in nucleo" schon die Entstehung des Surcomposé gegeben (Clédat, Guillaume, Cornu, Nilsson-Ehle). Das erstmalige tatsächliche historische Auftreten ist belanglos. — Nilsson-Ehle nimmt für die beiden von ihm getrennt behandelten Verwendungstypen 1) und 3) getrennte Entstehung an. Verwendungstyp 1) wäre mit dem Composé gegeben, Typ 3) wäre adjektivischen Ursprungs. — Das Surcomposé sei als Ersatzform für eine andere Form oder Funktion entstanden. — Es ersetzt einfach die F o r m des Passé antérieur, in dem Maß wie das Passé composé das Passé simple ersetzt (Foulet, Christmann). — Es ersetzt die F u n k t i o n des Passé composé, da dieses zum Erzähltempus wird (de Boer, Larsen fürs Okzitanische). — Vereinzelt wird davor gewarnt, das Problem der Entstehung mit dem der Verbreitung zu verwechseln. Die Tatsache, daß das Surcomposé weitgehend das Passé antérieur ersetzt, beinhaltet nicht notwendigerweise, daß das der Grund zu seiner Entstehung war 5 1 . 5.2. Welcher der angegebenen Verwendungstypen ist primär? — Für die Priorität der Verwendung 1) sprechen sich notwendigerweise all diejenigen aus, die die Entstehung mit der Ersetzung des Passé antérieur begründen (auch Cornu, trotz seiner Annahme eines gemeinsamen Ursprungs von Surcomposé und Composé). — Für die Priorität der Verwendung 3) spricht sich ausdrücklich niemand aus. Sie ist nur in der rein aspektuellen Funktionsbestimmung von de Boer und auch in der rein temporalen Bestimmung durch Sestâk impliziert. Bonnard erwägt diese Frage, spricht sich dann aber für die Annahme einer unabhängigen Entwicklung der verschiedenen Verwendungstypen aus. 51 Es muß zu dieser Frage angemerkt werden, daß mit verschiedenen Begriffen von „Entstehung" gearbeitet wird. Eine Frage ist es, ob das Surcomposé mit dem Com posé tatsächlich bereits im System der Sprache enthalten war. Eine andere Frage ist, wenn man die erste bejaht, wann es in der Norm verwirklicht wurde und aus welchem Anlaß, und eine dritte, welche Gründe zu einer besonderen Verbreitung geführt haben.

49

-

Wenn sämtliche Verwendungstypen als Redebedeutungen einer Funktion aufgefaßt werden, die gleichzeitig mit dem Composé entstanden wäre, stellt sich diese Frage nicht (Guillaume, Damourette-Pichon).

5.3. Lassen sich bestimmte Gründe (außer einer innersprachlichen Notwendigkeit) für die Entstehung des Surcomposé angeben? Zwei Meinungen sind möglich: - Es gibt einen historischen Grund für die Einführung des Surcomposé, der für das ganze Gebiet der Verbreitung der gleiche ist und sich von einem Ausstrahlungszentrum aus durchgesetzt hätte. Eine solche Möglichkeit deutet Meriggi mit der Annahme germanischen Einflusses a n 5 2 . Diese Ansicht ist nicht unfundiert, da das Surcomposé entlang der romanisch-germanischen Sprachgrenze besonders früh 5 3 und besonders häufig auftritt (Rätoromanisch; Frankoprovenzalisch in der Schweiz). - Wenn man annimmt, daß das Surcomposé als Möglichkeit im Composé enthalten ist, so konnte es überall dort unabhängig auftreten, wo das Composé eingeführt worden war. Nur dessen Einführung muß dann historisch erklärt werden.

3.2.

Verbalsystem

Es wäre vermessen, in einem kurzen Überblick all die verschiedenen Versuche zu einer kohärenten Darstellung des Verbalsystems einer romanischen Sprache oder der romanischen Sprachen in ihrer Gesamtheit erfassen zu wollen. Es gibt aber trotzdem Gründe, die gerade im Rahmen einer Arbeit, die es vor allem mit Periphrasen zu tun haben soll, eine Darstellung der wichtigsten Theorien zum romanischen Verbalsystem 1 angezeigt erscheinen lassen: 1. Die Funktion der Verbalperiphrasen muß im Rahmen des Gesamtsystems interpretiert werden. 2. In einzelnen romanischen Sprachen (in verschiedenem Maße und in unterschiedlichen Fällen) ersetzen Periphrasen die einfachen Tempora. Ob es sich um eine einfache Ersetzung handelt (Funktionsgleichheit) und wie es dazu kommen konnte (Funktionsähnlichkeit), muß ein Vergleich mit der Funktion der ersetzten einfachen Zeit erbringen. 5 2 Allerdings ist mit einem solchen Hinweis das Problem nicht geklärt, sondern nur in den Bereich der Germanistik verwiesen, in dem die Erscheinung keinesfalls zureichend behandelt worden ist. Hinweise zur Ersetzung der einfachen Formen finden sich bei Kaj B. Lindgren: Über den oberdeutschen Präteritumsschwund, Helsinki 1957. 5 3 Cf. dazu Nilsson-Ehle. 1 Ich verwende hier bewußt den Singular, da die Hauptzüge und auch die Hauptprobleme durch alle Verbalsysteme sämtlicher romanischen Sprachen die gleichen sind.

50

3. Die Verbalperiphrasen k ö n n e n in der K o m b i n a t i o n mit den verschiedenen T e m p o r a verschiedene Bedeutungen a n n e h m e n . Damit diese Wechselbeziehungen richtig interpretiert w e r d e n k ö n n e n , müssen die für die einzelnen T e m p o r a a n g e n o m m e n e n F u n k t i o n e n berücksichtigt w e r d e n . Bei der Darstellung von Arbeiten z u m romanischen Verbalsystem müssen wir t r e n n e n zwischen „ t r a d i t i o n e l l e n " und „ s t r u k t u r a l i s t i s c h e n " Arbeiten, w o b e i ich diese beiden Begriffe in Hinsicht auf die a n g e w a n d t e Methode und nicht die Zugehörigkeit zu einer „ S c h u l e " verwende.

Traditionelle Arbeiten Sie sind charakterisiert d u r c h die „ a t o m i s t i s c h e " 2 Behandlung der einzelnen T e m p o r a 3 , die üblicherweise in der Feststellung der einzelnen Verwendungst y p e n , der Bedeutungen in der „ R e d e " b e s t e h t , in der zweiten S t u f e einzelne T e m p o r a m i t e i n a n d e r vergleicht 4 . Drei Probleme sind es vor allem, die immer wieder b e h a n d e l t w e r d e n : 1. Das Verhältnis der beiden T e m p o r a „ I m p e r f e k t " und „ P r ä t e r i t u m " ; 2. Die Bestimmung des „ K o n d i t i o n a l " als „Vergangenheit des F u t u r s " o d e r als M o d u s ; 3. Das Verhältnis der z u s a m m e n g e s e t z t e n Zeiten zu den e i n f a c h e n 5 . Strukturalistische A r b e i t e n 6 Alle Arbeiten nach strukturalistischen Prinzipien unterscheiden sich von den traditionellen d u r c h die Beschreibung der Relationen der einzelnen T e m p o ra u n t e r e i n a n d e r , die Erstellung eines Systems, das charakterisiert ist d u r c h die oppositionelle Bezogenheit der T e m p o r a . Nicht die R e d e b e d e u t u n g e n eines Einzeltempus also werden u n t e r s u c h t , sondern seine F u n k t i o n (die im Idealfall alle R e d e b e d e u t u n g e n erklärt), die dargestellt wird als Bündel von u n t e r s c h e i d e n d e n M e r k m a l e n 7 , d u r c h deren jeweils eines es in Opposition zu einem anderen T e m p u s steht. Einfache O p p o s i t i o n e n (solche, die 2 3 4 5 6

7

Die Bezeichnung „atomistisch" soll hier nicht depreziativ gemeint sein, sondern als Beschreibung der Methode. Tempus hier als Einheit der Form und nicht der Funktion verstanden. Die traditionellen Arbeiten sind, was Vollständigkeit der Dokumentation angeht, keineswegs überholt. Die Hauptprobleme bleiben auch für die strukturellen Beschreibungen die gleichen. Mit „strukturalistisch" ist hier nicht die Zugehörigkeit zu einer linguistischen Schule gemeint, sondern einzig Arbeiten, die mit der nachfolgend beschriebenen Methode arbeiten. So würde ich zum Beispiel die Arbeiten von Bello und Damourette Pichon in gewisser Hinsicht durchaus als strukturell bezeichnen. Erstmalig wurden die Prinzipien der Phonologie in dieser Art auf eine morphologische Untersuchung ausgedehnt von Roman Jakobson: Zur Struktur des russischen Verbums, in: Charistcria G. Mathesio, Prag 1932, S. 7 4 - 8 4 .

51

durch ein Merkmal unterschieden sind) sind neutralisierbar. Die strukturalistischen Arbeiten zum romanischen Verbalsystem bestehen also in der Erstellung eines Systems und der Beschreibung der Funktionen der einzelnen Glieder dieser Systeme in Oppositionen, die neutralisierbar sind. Einige der wichtigeren Versuche zum romanischen Verbalsystem in dieser Art sollen verglichen werden. Dieser Überblick soll sich nicht nach den untersuchten romanischen Einzelsprachen richten: Die wichtigsten Probleme bei einer Beschreibung des Verbalsystems sind für alle romanischen Sprachen die gleichen 8 . Verschiebungen der Problematik, Gewichtsverlagerungen und Sondererscheinungen, kurzum: die Realisierungen in einer Einzelsprache sind Sache der Untersuchung der einzelsprachlichen N o r m 9 , wie wir sie später durchführen werden. Es ist also durchaus legitim, die einzelnen strukturellen Beschreibungen romanischer Verbalsysteme als Beiträge zu einer allgemeinen Systematik des romanischen Verbs aufzufassen. Im Folgenden soll vielmehr ein methodologisches Ordnungsprinzip den Überblick über die Forschung leiten. Es lassen sich drei Gruppen von Arbeiten unterscheiden: 1. Onomasiologische Arbeiten Bekannt sind die onomasiologischen Arbeiten auf dem Gebiet der Lexikologie: Dinge der außersprachlichen Wirklichkeit werden zum Ausgangspunkt der Forschung genommen: Ihre Aufgabe besteht darin, die Bezeichnung dieser Dinge in den Einzelsprachen zu ermitteln. Dasselbe Verfahren wird auf die grammatikalischen Kategorien übertragen. Faßt man die grammatikalischen Kategorien auf als Möglichkeit, Wirklichkeit zu ordnen, so könnte man versuchen, unter Abstraktion von einzelsprachlichem Denken, solche Möglichkeiten, Wirklichkeit zu ordnen, aufzustellen. So werden „logische" Kategorien gefunden: Der zweite Schritt für den Linguisten besteht darin, die so gewonnenen Kategorien mit dem Material in den Einzelsprachen zu vergleichen, d. h. also die einzelsprachlichen Fakten in das vorgegebene Begriffssystem einzuordnen 1 0 .

8 9

Cf. oben S. 51. Der Begriff der Norm wird hier verwendet nach E. Coseriu, im Sinn der Realisierung eines Systems von Möglichkeiten, nicht im Sinn von „normativer" Grammatik. 10 Die Diskussion um Sinn und Unsinn der onomasiologischen Methode in der Grammatik kam durch Hegers Arbeiten ins Rollen, obwohl es nicht die ersten in dieser Art waren. In einem kürzlich erschienenen Beitrag nimmt Heger zu den verschiedenen Einwänden gegen diese Methode Stellung und modifiziert etwas seine Ansichten über Reichweite und Möglichkeiten der Methode: Klaus Heger: Problèmes de l'analyse onomasiologique du temps verbal, in: Linguistica Antwerpiensia 2 ( 1 9 6 8 ) , S. 2 2 9 - 2 5 0 (dort auch Hinweis auf die früheren Arbeiten in dieser Richtung). Er nimmt dort Bezug auf die wichtigsten Einwände: Die onom. Richtung ersetzt nicht eine sem. Analyse, da sie nur die Funktionen erfassen kann,

52

2. Semasiologische Arbeiten 3. Textlinguistische Arbeiten 1. O n o m a s i o l o g i s c h e

Arbeiten

Obwohl mehr, als man gemeinhin auf den ersten Blick zu glauben geneigt ist, in den traditionellen und teilweise auch strukturalistischen Arbeiten auf onomasiologischen Prinzipien beruht, wurde erst in letzter Zeit diese Betrachtungsweise gerade an Arbeiten zum romanischen Verbalsystem zur Methode ausgebaut. Der erste großangelegte Versuch in dieser Richtung ist William E. B u 11 s „Time, Tense, and the Verb"l[. Er kommt zu folgenden Ergebnissen: 1. Es sind drei Arten denkbar, das Zeiterlebnis grammatikalisch zu kategorisieren: — ein Aspektsystem — ein „tense system" (Rückschau - Vorschau) — ein „vector system" (Orientierung auf der Kalenderachse). Jedes sprachliche System muß eine der drei Möglichkeiten realisieren oder aber eine Mischung aus zweien oder dreien von ihnen. Bei solchen Mischsystemen kommt es naturgemäß, da es sich ja nur um verschiedene Arten handelt, dieselbe außersprachliche Zeitlichkeit zu erfassen, zu Überschneidungen und Redundanzen. Auch im Fall des Spanischen liegt ein solches Mischsystem vor 1 2 . 2. Alle Ereignisse („events") und somit auch Verben und zwar bereits auf der Ebene des Lexikons, sind entweder zyklisch oder nicht-zyklisch. Zyklische Ereignisse beinhalten ihren Anfang, ihren Verlauf und ihr Ende. Sie sind nicht geschehen, ehe sie nicht vollendet sind. Dieser semantische Unterschied impliziert verschiedenes grammatikalisches Verhalten 1 3 .

die in ihr vorgegeben sind; das onomas. Schema ist ein außereinzelsprachlicher Bezugspunkt und daher nie mit einer hist. Sprache deckungsgleich; die Wahl der Begriffskategorien ist willkürlich, in Wirklichkeit aber immer durch vorausgehende semas. Studien determiniert; die Oppositionen im onomas. System sind privativ, die sprachlichen partizipativ. Das onomasiologische Schema hat also die Funktion eines außereinzelsprachlichen Bezugspunkts, der explizit gemacht ist (im Gegensatz zu solchen unausgesprochenen Bezugspunkten, wie es die klassischen Sprachen häufig waren). 11 Berkeley - Los Angeles 1960; 1963 2 . 12 Das Schema, das Bull fürs Spanische vorschlägt, cf. unten S. 54. 13 Zu anderen Verbklassifizierungen cf. unten S. 85ff.

53

pp

RP

-

-

pp

V

V

habíamos vendido

RP

ov

O V

vendimos vendíamos

pp

+ V

RP

+ V

venderíamos i

RAP habríamos

-

V

vendido

RAP OV RAP zero

+ V

zero

Nach Bulls Ansicht ist das spanische Verbalsystem ein Mischsystem: Tensorielle Elemente Vektoriale Elemente Aspektelemente:

Die Pfeile markieren „free variations and Standard confusions" 1 4 , was in einer streng strukturalistischen Terminologie teilweise den Neutralisationen entspräche. Vor allem aufgrund der Bühlerschen Sprachkonzeption und auch in Auseinandersetzung mit Bull entwirft Klaus H e g e r in: „Die Bezeichnung der temporal-deiktischen Begriffskategorien im französischen und spanischen Konjugationssystem"xi ein onomasiologisches Verbalsystem. Alle sprachlichen Zeichen gehören nach Bühler entweder dem Zeigfeld oder dem Symbolfeld der Sprache an, sind also entweder „deiktisch" oder „definitorisch". Die deiktischen Zeichen gehen vom ego-hic-nunc-Mittelpunkt aus. Was nun den verbalen Bereich anbetrifft, so können zwei Arten der Deixis angenommen werden, ein J e t z t " (oder „nicht-jetzt"), das auf den Sprecher bezogen

14 Bull, S. 73. 15 Tübingen 1963 (Beihefte zur ZRPh 104).

54

ist (Kategorie der Z e i t s t u f e n ) , und ein , j e t z t ' ' des Vorgangs ( A s p e k t k a t e g o r i e ) 1 6 . Dieses k o m b i n i e r t e deiktische System ( Z e i t s t u f e + A s p e k t ) m u ß notwendigerweise asymmetrisch sein, da die theoretische Möglichkeit, „einen Vorgang von einem ihm gegenüber vorzeitigen S t a n d p u n k t her als perfektiv, das heißt als „abgeschlossen" und von außen her e r f a ß b a r zu zeigen" 1 7 a u f grund der Irreversibilität der e r f a h r e n e n Zeit nicht d e n k b a r ist. Die Aktionsarten b e t r e f f e n die Begriffe selbst und sind also definitorische Kategorien. Welchen Platz die T e m p o r a und Periphrasen einer romanischen Sprache e i n n e h m e n , soll das Schema auf der folgenden Seite zeigen. In seinem letzten Beitrag 1 8 schlägt Heger noch die Einbeziehung der Vorgangsqualität des k o m b i n i e r t e n Verbs v o r ' ' ' .

16 Diese A u f f a s s u n g d e s A s p e k t s bringt Heger selbst in die N ä h e der D e f i n i t i o n v o n Hermann ( k o m p l e x i v / k u r s i v ) , cf. u n t e n S. 8 2 f . 17 Heger, T e m p o r a M e i k tische Begriffskategorien, S. 3 5 . 18 P r o b l è m e s do l'analyse o n o m a s i o l o g i q u e d u t e m p s verbal, in: Linguistica A n t werpiensia 2 ( 1 9 6 8 ) , S. 2 2 9 -

250.

19 Kr ü b e r n i m m t die Einteilung von S ä n c h c z Ruipérez in transformative und nichttransformative V e r b e n , cf. u n t e n S. 8 6 .

55

2. S e m a s i o l o g i s c h e

Arbeiten

Hier seien zunächst zwei Erstellungen von Verbalsystemen genannt, die, streng genommen, nicht strukturalistisch sind, deren Hauptanliegen jedoch auch der Systemcharakter der Sprache ist. Einmal ist es die Beschreibung des französischen Verbalsystems von D a m o u r e 11 e und P i c h o n 2 0 . Sie stellen innerhalb der Gestaltung des französischen Verbs drei wichtige Kategorien 21 (= „répartitoires") fest: énarration (je fis, je fais, je ferai), temporaineté (j'ai fait - je viens de faire, je fais, je vais faire) und actualité. Für alle drei répartitoires ist jeweils das Präsens der Bezugspunkt, um den sich somit das ganze Verbalsystem dreht. Innerhalb der Kategorie der „actualité" unterscheiden die Autoren zwischen dem „noncal" mit dem „nunc" des Präsens als Zentrum, während der „toncal" (repräsentiert durch das Imperfekt als Haupttempus) „die Gesamtheit der übrigen phänomenalen Welten umfaßt" 2 2 . In der Kategorie der „temporaineté" liegt ein Zeitbezug zur Gegenwart vor: innerhalb der Vergangenheit gibt es zwei verschiedene Arten dieses Gegenwartsbezugs, den „fontal" (venir de faire) und den „acquisitif (avoir fait), die auf die Gegenwart bezogene Zukunft wird ausgedrückt durch „aller + Inf.". Die „tiroirs" (Tempora) der Kategorie „énarration" enthalten die reine Situierung der Ereignisse in der Zeit, im „narratif und im „futur". Der zweite Versuch zur Erstellung eines romanischen Verbalsystems, der sich außerhalb der von linguistischen Schulen vertretenen Bahnen entwickelt hat, ist der von Gustave G u i l l a u m e 2 3 . Die „chronogénèse" ist der psycho-mechanische Vorgang der Aktualisierung eines verbalen Begriffs. Sie vollzieht sich in drei Stufen: in posse (infinite Formen), in fieri (subjonctif), in esse (indikative Tempora). Innerhalb dieser indikativen Tempora sind nun drei verschiedene Elemente zu berücksichtigen: die Epoche (die ganze Zeit läßt sich aufgliedern in die zwei Räume i l = Vergangenheit und A = Zukunft), die Chronotypen (u> = „décadent", in die Vergangenheit gerichtet; a = „incident", aufs Futur gerichtet) und die Aspek-

2 0 Diese Auffassung entwickeln Damourette und Pichon in folgenden Beiträgen: Le tiroir tipe saviez et la notion d'actualité dans le français d'aujourd'hui, in: Revue de Philologie française 4 2 ( 1 9 3 0 ) , S. 1 - 48; Il a fait, il vient de faire, il va faire, in: Revue de Philologie française 4 3 ( 1 9 3 1 ) , S. 81 - 118; Des Mots à la Pensée, Bd. 5; cf. weiterhin: Eduard Pichon und Heinrich Hoesli; Über den Ausdruck der Vergangenheit im Französischen, in: Neuphilologische Monatsschrift 2 ( 1 9 3 1 ) , S. 4 8 1 - 4 9 5 und 5 5 5 - 569; cf. auch oben S. 4 0 f . 21 Sie unterscheiden insgesamt 11 Kategorien, wovon diese drei das Tempus betreffen. 22 P i c h o n - H o e s l i , S. 4 8 6 . 2 2 3 Zu seinen Theorien: Temps et Verbe, Paris 1965 ; Langage et science du langage, Paris-Québec 1964. Er hat Lafont (cf. oben S. 9f.), Cornu (cf. oben S. 42f.). und Pottier (cf. unten S. 59f.) beeinflußt.

56

Sehen zeichnet m i t * g€ im Preti Darüt Ausmaß ming

Schema I I entspricht Schema 27b (p. 218-219); zu den mit 0 , (+] und g] gekenniichneten Systemstellen vgl. p. 207-209, zu den mit © gekennzeichneten p. 217; zu den lit * gekennzeichneten Formen existieren innendeiktische Varianten m i t dem Hilfsverb n Pretérito anterior. Darüber hinaus ist f ü r die wichtigsten d a f ü r in Frage kommenden Bezeichnungen das ußmaß der Extensivität ihrer Bedeutungsfunktion (cf. p. 70-71) durch die Kennzeichung

extensiver

extensive

Form

Bedeutungsbereich

FH

I

angegeben. Schema I I vermittelt somit gleichzeitig ein semasiologisches Bild der B e d e u t u n g s V e r h ä l t n i s s e , jedoch n u r insofern, als die Bedeutungsfunktionen sich auf den begrifflichen Bereich der temporalen Deixis beziehen. Die verschiedene Linienführung gibt in der Reihenfolge durchlaufende - unterbrochene - punktierte Linien die hierarchische Abstuf u n g der Extensivität an, z. B. canta (durchlaufende Linien) ist extensiv gegenüber cantará (unterbrochene Li11 / i nien), cantará (unterbrochene Linien) 7—r ist extensiv gegenüber estará cantando j (punktierte Linien). V I \I _J

©

-U4.]

ffl f,x -

i

\ - ^ X -

\

-

1

»i \ tu« cwvUH» J j 1 \w 1 V c 1 \ 11 1 '' \ « « \ 11 \ 1 1 \ 1 1 \1 1 b r t ] ! [Li... [_ jv-i : \i v

ra

te (Wiederbelebung des Verbums nach Ablauf des Vorgangs tension -*• détension durch einen Infinitiv; immanent, transcendant, bi-transcendant)2"'.

5' D. ='

S O 0 M O c>

QuasiNominal

¡c

N2

CL

q u e j e chante

o z o o

en Z » c/i tn

z o¡*> S >

NI

2._

^ i

n sc »

Subjonctif

1

3

a a. a> 3 o o t?

ascendant

NI

q u e j e chantasse

N2

descendant je chante NI

a

Indicatif

PASSÉ

10

FUTUR 2.

N2

Zum spanischen Verbalsystem liegen zwei streng strukturalistische Arbeiten vor, die vor allem auf binäre Oppositionen 25 Wert legen und jedes Tempus als Bündel von Merkmalen charakterisieren. Innerhalb seiner Gramätica estructural26 exemplifiziert Emilio A l a r c o s L1 o r a c h die Prinzipien der Kopenhagener Schule am spanischen Verb und kommt zu folgendem System: -

Pro- + cantaré spectivo - canto

Remotospectivo cantaría

cantaba

+

cante

+

Aspecto

+

canté cantara, -se

Gramática estructural, S. 122

24 Zu seiner Auffassung des Aspekts cf. oben S. 41f. Skizze nach: Langage et science du langage, S. 269. 25 In streng strukturalistischen Arbeiten versucht man, alle morphologische!} Oppositionen auf binäre Opp. zurückzuführen, die privativ sind. Cf. dagegen F.R. Adrados: Gramaticalizaciôn y desgramaticalizaciôn, in: Homenaje Martinet 3, S. 5 - 4 1 , der in der Grammatik auch äquipollente Oppositionen annimmt. 26 Madrid 1951.

57

Die Form „cantaba" zum Beispiel wäre zu interpretieren als in Bezug auf: Modus: merkmallos Zukunft: merkmallos Vergangenheit: merkmalhaft Aspekt: merkmallos. Die zusammengesetzten Zeiten interpretiert er, in Anschluß an Jens Holt 2 7 , als „syntagmatischen Aspekt". Martin S á n c h e z R u i p é r e z kommt in seinem Aufsatz: Observaciones sobre el aspecto verbal en español28 zum gleichen binären System wie Alarcos Llorach, was die einfachen Zeiten angeht. Er unterscheidet sich aber an wichtigen Punkten stark von ihm: 1. Zwar interpretiert er auch die Opposition Imperfekt-Präteritum 29 als Aspektunterschied. In der Feststellung der Merkmallosigkeit ist er aber entgegengesetzter Auffassung wie Alarcos Llorach. Nach Sánchez Ruipérez handelt es sich um eine privative Opposition, die die Dauer betrifft, in folgender Form: -

canté

cantaba

+

Das Präteritum wäre also, was die Dauer betrifft, sowohl neutral als auch negativ. Mit der Funktion „duratividad" glaubt er, alle Redebedeutungen des Imperfekt zu fassen 30 . 2. Die zusammengesetzten Zeiten interpretiert er nicht aspektuell, sondern als Glieder der „correlación de tiempo anterior"*1. Zwei zusätzliche Bemerkungen zu seiner Methode seien noch gemacht: 1. S. Ruipérez unterscheidet zwischen transformativen und nicht-transformativen Verben, die verschiedenes grammatikalisches Verhalten der Tempora bewirken 32 . 27 Jens Holt: Etudes d'aspect, Kopenhagen 1943. Er unterscheidet (im Gegensatz zu Hjelmslev, cf. unten S. 76f. zwischen Aspekt (homosexuell) und Tempus (homo- und heteronexuell). Der flexioneile Aspekt würde den „terme réel", der syntagmatische Aspekt den „terme virtuel" eines Prozesses beinhalten. Cf. auch E. Alarcos Llorach: Sobre la estructura del verbo español, in: BBMP 25 (1949), S. 5 0 - 8 3 . 28 In: Strenae (Fs. García Blanco), Salamanca 1962, S. 4 2 7 - 4 3 5 . 29 Ich verwende der Einheitlichkeit halber die Bezeichnung Präteritum für die Form „canté/chanta". 30 Sánchez Ruipérez, Observaciones, S. 430—432. 31 Sánchez Ruipérez, Observaciones, S. 428. 32 Diese Verbklassen unterschied Sánchez Ruipérez auch in seinem beispielgebenden Buch zum griechischen Verbalsystem: Estructura del sistema de aspectos y tiempos del verbo griego antiguo, Salamanca 1954. Sie wird von Klaus Heger übernommen, cf. oben S. 55. Zu weiteren Verbklassifizierungen cf. unten S. 85ff.

58

2. Er legt Nachdruck auf die Unterscheidung zwischen funktionellen Oppositionen einerseits und stilistischen und kombinatorischen Varianten andererseits. Die beiden besprochenen Arbeiten leiden unter dem Zwang zur Aufstellung binärer Oppositionen. Zweierlei wird nicht berücksichtigt: 1. Das Verhältnis des Präsens zu „Vergangenheit" und „Futur" in den romanischen Sprachen ist gleichartig — die Annahme einer dreigliedrigen äquipollenten Opposition, deren merkmalloses Glied das Präsens ist, das in beiden Richtungen neutralisieren kann, käme den Tatsachen vielleicht näher. 2. Die parallele Gestaltung einzelner Tempora, sowohl funktionell als auch teilweise materiell. Ein Vorschlag, der diesen Einwänden Rechnung trägt, ist P o 11 i e r s Verbalsystem des Spanischen in: Introduction à l'étude de la philologie hispanique 2: Morpho-syntaxe espagnole33. Er charakterisiert es als ternäres System auf zwei Ebenen, die in Aspektopposition 34 stehen. Dabei gehört das Präsens beiden Ebenen an und ist aspektneutral, während jeweils Präteritum/ Imperfekt und Futur/Konditional durch die oppositiven Merkmale perfektiv/imperfektiv charakterisiert sind. Der Präsensbereich dehnt sich mittels Verbalperiphrasen in die anderen Zeiträume aus. Das vollständige System der grammatikalisierten Tempora wäre im Spanischen folgendermaßen organisiert:

ha + p.p.

va +

inf.

S. 76 33 O. O. 1959. 34 Die Aufgliederung des Verbalsystems ist von Guillaume inspiriert. Allerdings deutet er Guillaumes „Chronotypen" in eine Aspektfunktion um.

59

Die Opposition Präteritum/Imperfekt wird in diesem System also als aspektuell beschrieben. In der Festschrift für Walther von Wartburg (1968) kommt er in seinem Beitrag: Pour la définiton d'un système verbal35 fürs Französische zu einem anderen Ergebnis36: in Anschluß an E. Coseriu37 definiert er den Unterschied zwischen Präsens und Imperfekt durch die Opposition aktuell/inaktuell, die die Organisation des ganzen französischen Verbalsystems in zwei Ebenen betrifft. Die zweite Opposition wäre die der „époque" (Präsens und Futur) und eine dritte die des „accompli" (retrospektiv: j'ai fait; prospektiv: je vais faire): subjonctif

M indicatif

inactuel /v/ actuel

vienne venait viendrait vient viendra présent/v/futur S. 519

Ein ebenfalls ternäres System entwirft Eugenio C o s e r i u 3 8 . Die fünf einfachen Zeiten (bzw. 6 im Portugiesischen)39 sind auf zwei Ebenen organisiert, der aktuellen und der inaktuellen. Im Zentrum dieser beiden Ebenen stehen das Präsens und das Imperfekt, die somit in einfacher Opposition stehen und jeweils innerhalb ihrer Ebene das merkmallose Glied sind. Darüber hinaus ist die aktuelle Ebene insgesamt merkmallos gegenüber der inaktuellen. Neutralisationen können also in allen durch die Pfeile angezeigten Richtungen stattfinden: Präteritum «— Präsens —*• Futur Pqp. (-ra) «—Imperfekt —• Konditional Die Auffassung, daß Präsens und Imperfekt als Zentren des romanischen Verbalsystems aufzufassen sind, wird durch folgende Gründe gestützt:

35 Bd. 1, S. 519-522. 36 Pottier befaßt sich hier mit dem Verbalsystem des gesprochenen Französisch, wo er wegen des zurückgehenden Gebrauchs des Präteritum selbstverständlich zu anderen Ergebnissen kommen muß als fürs Spanische. Die Opposition aktuell/ inaktuell betrifft aber nicht die Unterschiede, sondern gerade die Ähnlichkeit der beiden Systeme. 37 Cf. unten S. 60ff. 38 Ich folge hier der Vorlesung „Das romanische Verbalsystem", die E. Coseriu im Sommersemester 1963 und, in erweiterter Form, im Wintersemester 1968/69 an der Universität Tübingen gehalten hat. 39 Zum Bestehen der -ra-Form im ältesten Franz. cf.: Gustave Moignet: La forme en re(t) dans le système verbal du plus ancien français, in: RLaR 73 (1958/59), S. 1 - 6 5 .

60

1. Die Neutralisierungsverhältnisse, besonders die Tatsache, daß Präteritum und Imperfekt einander in keiner Richtung neutralisieren können 4 0 , also in keiner direkten Opposition stehen. 2. Die Beständigkeit dieser beiden Tempora: In der Norm der romanischen Einzelsprachen ist das oben skizzierte Grundsystem von sechs Tempora vielfach vereinfacht worden 4 1 , einzig die Opposition Präsens/Imperfekt ist überall erhalten. 3. Die materielle Gestaltung der Ebenen in horizontaler und vertikaler Richtung fîz

faço

farei

fixera

fazw

fana

Zur Grundeinteilung in Ebenen (aktuell/inaktuell) 42 und zur primären Gestaltung in Perspektiven (prospektiv, parallel, retrospektiv), die so sechs Zeiträume schaffen, tritt eine sekundäre Perspektive, die die entstandenen Zeiträume intern noch einmal aufteilt. Ihr materieller Ausdruck sind die „avoir"- und „aller"-Periphrasen:

/\ / \

/ j'ai fait

J e fais,

\ je vais faire

/ j e faisais \ j'avais fait

j'allais faire

/ \ / \

Im Französischen ersetzt das Zentrum mit den Tempora der sekundären Perspektive die einfachen Tempora der übrigen Zeiträume und zwar in folgender historischen Abfolge, wobei der Vorgang auf der Futur-Seite noch nicht abgeschlossen ist: t 1 40 Der einzige Fall von Neutralisation scheint der des sog. „imparfait narratif zu sein, cf. dazu unten S. 117ff. 41 Es sind ersetzt worden: Pqp.: überall außer im Port., Präteritum: im Franz., Kat., Nordital., Sard., Rätorom., Teilen des Rum.; Futur: ansatzweise im Franz. 42 Zu ähnlichen Ergebnissen kommt unabhängig von Coseriu André Buiger: Signification et valeur du suffixe verbal français -f-, in: CFS 18 (1961), S. 5 - 1 5 : „On pourrait donc donner au suffixe -ç- l'étiquette d'inactuel, au sens de „qui ne se réfère pas à l'actualité du parleur, au moment de la parole"." (S. 13) Zur Auffassung einer Organisation um zwei Zentren kommt auch Hans Weber: Das Tempussystem des Deutschen und des Französischen, Bern 1954. Cf. außerdem die ähnlichen Ansichten von Damourette und Pichon, cf. oben S. 56 und D. Barbelenet: Sur les temps en ais du français, in: Revue de Philologie française 41 (1929), S. 87-117.

61

Diese sekundäre Perspektive wird in manchen romanischen Sprachen noch in einer tertiären Perspektive unterteilt, die ihren materiellen Ausdruck im Surcomposé hat. Als vierte Charakterisierung treten verschiedene Aspektkategorien dazu, vor allem die der Schau und der Phase 43 . Aspektuelle und taxische Nebenbedeutungen der verschiedenen Tempora innerhalb der ersten drei Kategorien liegen wohl vor 4 4 , sind aber Sekundärfunktionen, betreffen also nicht die grundlegenden Unterschiede. 3. T e x t - L i n g u i s t i k Innerhalb der strukturellen Analysen des romanischen Verbalsystems tauchen gewisse Schwierigkeiten auf, so etwa das Verhältnis Imperfekt/Präteritum, einfache/zusammengesetzte Zeiten. So wird gelegentlich die Vermutung geäußert, es möchte sich möglicherweise gar nicht um Systemunterschiede handeln, sondern um Unterschiede im Text. Dies kann in zweierlei Hinsicht vertreten werden: 1. Als Verschiedenheit von Sprachstilen, die, jeder für sich, ein kohärentes System bilden und nie in der gleichen Situation vorkommen, z. B. vulgäre/gehobene Sprache usw. 2. Als Verschiedenheit von Texthaltungen, Einstellungen zum Gesprochenen, z. B. histoire/discours, die innerhalb eines Texts wechseln können. Die beiden Gesichtspunkte sind grundsätzlich verschieden, einmal betrifft der Unterschied die Sprechsituation, das zweite Mal die Textqualität. Sie können sich aber überschneiden. In dieser Hinsicht ist die Problematik des romanischen Verbalsystems verschiedentlich angegangen worden 4 5 . Emile B e n v e n i s t e unterscheidet in seinem Artikel: Les relations de temps dans le verbe français46 zwei Zeitsysteme im Französischen: „histoire" und „discours": L'énonciation historique, aujourd'hui réservée à la langue écrite, caractérise le récit des événements passés. Ces trois termes, „récit", „événement", „passé", sont également à souligner 47 .

43 Cl', dazu oben S. 25ff. 44 So ist zum Beispiel das Imperfekt aufgrund seiner parallelen Perspektive kursiv, das Präteritum dagegen komplexiv. 45 Die erste Arbeit, die, meines Wissens, Textcharakteristika bei der Interpretation eines Verbalsystems zum Prinzip macht, ist: Alfred Schossig: Verbum, Aktionsart und Aspekt in der „Historie du Seigneur de Bayart par le Loyal Serveteur", Halle/Saale 1936 (Beihefte zur ZRPh 87). 46 In: Bulletin de la Société de Linguistique 54 (1959), S. 6 9 - 8 2 ; Nachdruck in: Problèmes de linguistique générale, Paris 1966, S. 2 3 7 - 2 5 ) (Zitate danach). 47 Benveniste, RT, S. 238.

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In diesem System finden sich: Aorist = Passé simple Imperfekt Konditional Plusquamperfekt Il faut entendre discours dans sa plus large extension: toute énonciation supposant un locuteur et un auditeur, et chez le premier l'intention d'influencer l'autre » 48 en quelque maniéré.

Nur in diesem System: Präsens Futur Passé composé außerdem alle Tempora des „historischen" Systems, außer Aorist 49 . Zu einer ähnlichen Unterscheidung kommt Harald W e i n r i c h bei seiner Untersuchung von Texten aus mehreren europäischen Sprachen in seinem Buch: Tempus - Besprochene und erzählte Weltso. In den untersuchten Sprachen seien, je nach Texthaltung, zwei Tempusgruppen festzustellen, so zum Beispiel fürs Französische: Tempusgruppe I (Besprochene Welt) il il il il il

chantera aura chanté va chanter vient de chanter a chanté

il chante Tempusgruppe II (Erzählte Welt) il il il il il il il il 48 49 50 51

chanterait aurait chanté allait chanter venait de chanter avait chanté eut chanté chantait51 chanta Benveniste, RT, S. 241. Zum Platz des Surcomposé cf. oben S. 44. Stuttgart 1964. Wie immer man den Unterschied zwischen den beiden Gruppen bestimmen mag, so kann doch auf keinen Fall das Imperfekt in einer der beiden Gruppen fehlen. Es gehört auf jeden Fall den beiden Gruppen an, mag man nun den Unterschied als einen von Sprachstilen oder einen von Texthaltungen fassen.

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Das Nebeneinander von zwei Vergangenheitstempora im Bereich der „erzählten Welt" erklärt Weinrich als einen Unterschied von Vordergrund (Passé simple) und Hintergrund (Imparfait). Zusammenfassung zu 3.2. S2 1. Das romanische Verbalsystem war — wie auch zum Beispiel das slawische und das altgriechische — ein Versuchsgebiet für die Entwicklung von Methoden zur Bestimmung morphologischer Kategorien. Das führte zu: 1. einer Entwicklung onomasiologischer Methoden im Bereich der Grammatik; 2. einer Verfeinerung strukturalistischer Methoden: — Es erweist sich zwar als deskriptiv möglich, in Hinblick auf die sprachliche Wirklichkeit aber nicht günstig, an binären Oppositionen festzuhalten. — Größte Wichtigkeit für die Gesamtinterpretation kommt der Feststellung der Neutralisationsmöglichkeiten zu 5 3 . 3. der Frage, ob nicht eine Linguistik des Texts Probleme lösen könnte, die sich einem systematischen Zugriff entziehen, oder ob sie zumindest Verwechslungen beseitigen könnte, die eine Analyse erschweren würden. 2.1. Was nun die Systematisierungsversuche angeht, so beziehen sie sich zunächst auf das System der fünf (sechs) einfachen Formen. — Es bedarf keiner Erörterung, daß das Präsens im Zentrum (mit Neutralisationsmöglichkeiten nach beiden Seiten) der Reihe Präteritum — Präsens — Futur steht. — Was nun die Zuordnung des Konditional betrifft, so ist sie sowohl der Funktion nach als auch in materieller Hinsicht (-r-) mit dem Futur korreliert. Wie nun dieses Verhältnis zu beschreiben ist, bereitet etwas mehr Schwierigkeiten: Meist wird das Konditional als „Vergangenheit des Futurs" interpretiert. — Das große Problem ist aber zweifellos die systematische Einordnung des Imperfekt, das in allen romanischen Sprachen etwa die gleichen Rede52 Da das Gewicht in diesem Überblick mehr auf den verschiedenartigen Methoden lag als auf Einzelinterpretationen, habe ich viele wichtige Untersuchungen zum franz. Verbalsystem nicht erwähnt, z. B. Holger Sten: Les temps du verbe fini (indicatif) en français, Kopenhagen 1952; Hans Weber: Das Tempussystem des Deutschen und des Französischen, Bern 1954; Félix Kahn: Le système des temps de l'indicatif chez un Parisien et chez une Bâloise, Genf 1954; Paul Imbs: L'emploi des temps verbaux en français moderne, Paris 1960. Einen Überblick über die Einordnung des Aspekts ins franz. Verbalsystem bei Howard B. Garey: Verbal Aspect in French, in: Language 33 (1957), S. 9 1 - 1 1 0 . 53 Zur Unterscheidung von Neutralisation und Synkretismus cf. unten S. 94f.

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bedeutungen aufweist und in keiner einzigen romanischen Sprache ersetzt worden ist (und im Französischen sogar beiden anzunehmenden Teilsystemen gemeinsam ist). Materiell (-e-) und funktionell (verhält sich zum Konditional wie das Präsens zum Futur; gleiche Neutralisationsverhältnisse) muß es dem Konditional zugeordnet werden. Andererseits scheint seine Funktion etwas mit „Vergangenheit" zu tun zu haben, und deshalb wird es meist in Relation zum Präteritum gesetzt. — Diese Problematik wird oft so zu lösen versucht, daß man das romanische Verbalsystem als in zweiter Linie aspektuell erklärt. — Manche Romanisten sehen dann nur eine Aspektopposition, eben die zwischen Präteritum und Imperfekt, die als perfektiv/imperfektiv (Alarcos Llorach) und als momentan/durativ (Sánchez Ruipérez) beschrieben wird. — Andere übertragen die dort vorgefundene Opposition analog auf das ganze System der einfachen Formen, als Strukturprinzip des romanischen Verbalsystems. Imperfekt und Konditional wären somit imperfektiv, Präteritum und Futur perfektiv, das Präsens neutral (Pottier zum Span.) — Die meisten Redebedeutungen des Imperfekts und vor allem auch die Neutralisierungsverhältnisse ebenso wie die Tatsache, daß es, zusammen mit dem Präsens, das stabilste Tempus ist, berücksichtigt die Zuordnung zum Präsens und Deutung als Zentrum einer „inaktuellen" Ebene (Damourette-Pichon, Coseriu, Pottier zum Franz.) — Ein weiterer Lösungsvorschlag arbeitet mit Textbegriffen (Weinrich). 2.2. Das einfache Formensystem ist gedoppelt durch die „zusammengesetzten" Tempora, bzw. verdreifacht durch die periphrastischen Tempora mit „gehen". Zur Interpretation dieser Formen liegen drei Gruppen von Interpretationen vor: — Es handelt sich um ein taxisches Zweitsystem; die zusammengesetzten Tempora bedeuten einfach Vorzeitigkeit (z. B. Bello; Sánchez Ruipérez) — Es handeit sich um ein aspektuelles Zweitsystem (Alarcos; Benveniste; in anderer Hinsicht auch Guillaume) — Die meisten Deutungsversuche gehen aber dahin, die beiden Periphrasen als Aufgliederung eines Zeitraums zu erfassen, als Tempora, die „etwas mit ihrem Haupttempus zu tun haben", im Gegensatz zu den absoluten einfachen Formen. Dieses „Mit-dem-Haupttempus-zu-tun-Haben" kann in der Norm verschieden interpretiert werden 5 4 . 2.3. Eine weitere Komplikation für die Interpretation bietet das Surcomposé 55 . 54 Cf. unten S. 127ff. 55 Cf. oben 3.1.3.2.

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2.4. Dazu erscheinen noch weitere Teilsysteme, die je nach Sprache in verschiedener Art und Frequenz realisiert werden, eben aspektuelle Kategorien, die durch Verbalperiphrasen ausgedrückt werden. Es wird manchmal die Frage gestellt, ob sie im strengen Sinn systembildend sind. 3. Die Frage, die sich nach der Feststellung der Einzelfunktionen, weiterhin nach der Zusammenordnung zu einem durch Oppositionen und Neutralisationen funktionierenden und möglicherweise noch durch materielle Parallelen gestützten Systemen stellt, ist die nach der typologischen Charakterisierung des romanischen Verbalsystems. Es geht hier um die Frage nach den Funktionen, die auf jeden Fall realisiert werden müssen, nach den Grundoppositionen. So wäre zum Beispiel das slawische Verbalsystem ein primär aspektuelles System.

66

4.

ALLGEMEINE SPRACHWISSENSCHAFT

Sowohl in dem Teil des Forschungsberichts, der sich mit den beiden zu untersuchenden Sprachen befaßte, wie auch im allgemein-romanistischen Teil begegneten uns Probleme, die in die Allgemeine Sprachwissenschaft weiterweisen. Es wird besonders um drei Fragen gehen: 1. Definition, Beschreibung und Erklärung des Verfahrens „Verbalperiphrase" und ihres Konstituenten „Auxiliar"; 2. Kategorien des Verbums, besonders Aspekt und Aktionsart; 3. Lexikalische Klassen von Verben. 4.1.

Verbal periphrase — Hilfsverb

4.1.1.

Traditionelle

Sprachwissenschaft

Meines Wissens beschäftigte sich die traditionelle Sprachwissenschaft nicht ausführlich theoretisch mit der Erscheinung der Verbalperiphrasen. Sie werden wohl in jeder Grammatik erwähnt; eine theoretische Erörterung erscheint jedoch als unnötig. Ihre Behandlung steht unter drei Gesichtspunkten, die untereinander zusammenhängen. 1. Methode der Vergleichenden Sprachwissenschaft Die Beschreibung der modernen Sprachen orientiert sich an der der klassischen Sprachen: Kategorien, die im Lateinischen und Griechischen keine Entsprechung hatten, entgingen meist den Linguisten und wurden somit nicht in die Beschreibung aufgenommen und jedenfalls nicht als grammatikalisch erfaßt. Die Tatsache, daß Kategorien, die im Lateinischen oder Griechischen vorhanden waren, in einer modernen Sprache keinen eigenen Ausdruck haben, wird als Defizienz vermerkt, oder es werden Redebedeutungen aus anderen Kategorien zur Auffüllung dieser scheinbaren Lücke herangezogen. Wenn nun einer einfachen Form im Griechischen oder Lateinischen in einer modernen Sprache eine mehrteilige, eben periphrastische, gegenübersteht, wird das Verfahren als Hilfskonstruktion interpretiert, die schwerfällig die einfachen klassischen Formen wiedergibt!. Diese ,,komparatistische" 2 Sprachwissenschaft geht onomasiologisch vor, indem sie das Bedeu1

2

Cf. dazu Klaus Welke: Untersuchungen zum System der Modalverben in der deutschen Sprache der Gegenwart, Berlin 1965: „Der Begriff der Hilfsverben (auxiliaria, verba servantia) wurde aus der franz. Grammatik entlehnt, zu einem Zeitpunkt als man nach dem Vorbild der lateinischen Grammatik auch Grammatik der deutschen Sprache schuf. Unter Hilfsverben verstand man von Anfang an solche Verben, durch deren Hilfe die zum Muster genommene lateinische Konjugation umschrieben wurde." (S. 39f.) Ich verwende „komparatistisch" hier in einem weiteren Sinne, als es üblicherweise geschieht (Sprachvergleich zum Zweck der Rekonstruktion einer Ursprache), nämlich für Sprachvergleichung ganz allgemein.

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tungssystem der klassischen Sprachen zum Bezeichnungssystem der modernen Sprachen macht 3 . 2. Typologie Die Untereinteilung der flektierenden Sprachen in analytische und synthetische beruht zum Teil auf diesem Kriterium. Diese Typologie ist zumindest am Anfang deutlich wertend: Analytische Sprachformen sind Zersetzungserscheinungen, die von einem synthetischen Idealtyp wegführen. 3. Kriterien für Verbalperiphrasen Die ,,Hilfs"verben sind „mots vides", das heißt, sie haben keine andere Funktion als, wie dargestellt, einfache Formen der klassischen Sprachen umständlich wiederzugeben. Sie haben also keinen eigenen Inhalt, sondern sind lediglich grammatikalisches Instrumentarium. So ist weithin das einzige Kriterium zur Feststellung, ob im Einzelfall eine Verbalperiphrase vorliegt oder nicht, das der semantischen Entleerung 4 . Bei einem fraglichen Fall wird überprüft, ob der Lexikon-Inhalt eines Verbs vollständig enthalten ist oder nicht: Im letzteren Fall liegt eine Verbalperiphrase vor. 4.1.2.

Strukturalistische

4.1.2.1. N o r d a m e r i k a n i s c h e r

Richtungen Strukturalismus

Obwohl in den großen theoretischen Erörterungen des nordamerikanischen Strukturalismus nirgends ausdrücklich das Problem der Hilfsverben behandelt wird, liefert das theoretische und terminologische Instrumentarium doch wichtige Grundlagen für eine Theorie des Hilfsverbs. Es sind dies, der Ausprägung des nordamerikanischen Strukturalismus gemäß, vor allem syntaktische Hinweise, nicht solche zum inhaltlichen Funktionieren. Zwei Methoden dieser Richtung werden wichtig sein: 1. Die „Immediate Constituent Analysis" B 1 o o m f i e 1 d gibt in „Language" 5 eine scheinbar einfache Erläuterung der Immediate Constituent Analysis: Ein Satz wird in seine unmittelbaren Konstituenten (die etwa der Intuition von Satzteilen entsprechen) zerlegt,

3

4

5

Wie sehr andererseits das Muster des Lateinischen und Deutschen die Beschäftigung mit dem Griechischen geprägt hat, wird von E. Coseriu hervorgehoben, in: Aspecto Griego, S. 9 9 f f . Cf. dazu Bernard Pottier: „Los gramáticos tradicionalistas tienden a basar su doctrinas en impresiones semánticas, a menudo bastante justas, porque dependen, más o menos directamente, de hechos formales o funcionales de la lengua." (In: Sobre el concepto, S. 194). London 1933, 10.2.

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diese wieder in ihre unmittelbaren Konstituenten und so fort, bis man bei den „morphemes", im Sinn dieser Analyse bei den „ultimate constituents" anlangt. Es ist also eine wesentlich h i e r a r c h i s c h e Analyse, die vom Satz bis zu den Ultimate Constituents über mehrere hierarchische Stufen fortschreitet, wobei die Immediate Constituents nur jeweils bei der Analyse der nächsthöheren hierarchischen Stufe auftreten. Bloomfield gibt allerdings keine genauen methodischen Anweisungen, wie man zu diesen Immediate Constituents im Einzelfall gelangt. Dieser methodische Ausbau erfolgt bei Z.S. H a r r i s 6 . Er faßt in seiner Definition der ICA präzise ihren sukzessiven (im Prozeß) und hierarchischen (im Ergebnis) Charakter. Die Methode zur Feststellung der zur adäquaten Beschreibung notwendigen Stufen der Analyse ist die Substitution, die die Aufstellung von und Einordnung in distributioneile Klassen ermöglicht. Für die Anwendung dieses Analyse-Prinzips auf das Problem der Verbalperiphrasen ergibt sich Folgendes: Das hierarchische Niveau der Analyse ändert sich, je nachdem ob eine echte Verbalperiphrase oder eine Kombination Vollverb + Vollverb vorliegt 7 . 2. Zwei syntaktische Typen: Exozentrisch — Endozentrisch Bloomfield 8 unterscheidet zwei syntaktische Typen: endozentrische und exozentrische Konstruktionen. Endozentrische Konstruktionen sind dadurch definiert, daß die „resultant phrase" dieselbe Formklasse (= Funktion, definiert als Position, in der eine Form vorkommt) hat wie einer der Immediate Constituents. Exozentrische Konstruktionen dagegen sind dadurch bestimmt, daß die entstehende Formklasse keiner solchen der Konstituenten entspricht. David M. F e l d m a n 9 wendet sich ausdrücklich gegen eine Gleichsetzung von „analytisch" und „exozentrisch". Im Gegenteil: Periphrastische Konstruktionen sind gerade typisch endozentrisch, d. h. sie haben als Gesamtheit die gleiche Funktion wie einer der Konstituenten, sie können als Einheit ein Akkusativ-Objekt haben oder eine adverbielle Bestimmung annehmen 1 0 . Der Begriff der exozentrischen Konstruktion 6 7

Structural Linguistics, Chicago 1951, 16.54. Die verschiedene Analyse kann sichtbar gemacht werden durch verschiedene „stems". Weiterhin können selbstverständlich Substitutionsklassen „Hilfsverb" und „Vollverb" aufgestellt werden. Cf. außerdem oben S. 25, N.7 8 Bloomfield, 12.10. 9 David M. Feldman: A syntactic verb-unit in Spanish, in: Hispania 45 (1962), S. 8 6 - 8 9 ; ders.: Analytic v. Synthetic: A Problem of the Portuguese Verbal System, in: Linguistics 10 (1964), S. 1 6 - 2 1 . 10 ". . . to propose that these periphrastic constructions share with their inflected counterparts the fundamental characteristic of endocentrity." (Analytic. . . , S. 16). „This resultant verbal unit, typified by „posso comer" or its perfective counterpart, is endocentric with relation to other constituents in the phrase; that is, it is employed syntactically as a single finite or nonfinite verb which cannot further be divided without a change of meaning." (Analytic. . . , S. 20f.).

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hingegen läßt sich weder auf die Verbalperiphrasen noch aber auch auf Verbindungen „Vollverb + Vollverb" anwenden, da letztere nicht auf dem gleichen syntaktischen Niveau analysiert werden können 11 . 4.1.2.2. T r a n s f o r m a t i o n e l l e

Grammatik

Obwohl der Konstituent „Aux" in der Transformationellen Grammatik eine zentrale Rolle spielt, herrscht über seine Definition größte Unklarheit. Es lassen sich drei verschiedene Arten der Behandlung feststellen: 1. „Aux" ist definiert als distributionelle Klasse, die nur wenige bestimmte Elemente (z. B. „avoir" und „être") enthält 12 . 2. „Aux" ist keineswegs beschränkt auf die traditionell so benannten Hilfsverben, sondern umfaßt die gesamte Tempusmorphematik. Bei dieser Auffassung erscheint es bereits in der ersten Generationsregel nach dem ersten Auftreten von VP 13 . 3. „Aux" generiert die sämtlichen Verbalmorpheme, die gleichzeitig den ganzen Satz betreffen. Es erscheint daher in der allerersten Regel 14 . Speziell zu einer .Theorie des Funktionierens des Hilfsverbs wird dabei wenig geleistet 15 . R u w e t vergleicht zu Beginn seines Aufsatzes: Le constituant „auxiliaire" en français moderne16 die Analyse des Hilfsverbs von 11 Cf. oben S. 69. 12 In diesem Sinn spricht sich zum Beispiel Jean Dubois in seiner „Grammaire structurale du français: le verbe", Paris 1967, aus, die ansonsten eine Abwendung von distributionellen und Hinwendung zu transformationellen Prinzipien bedeutet: S. 177. 13 So zum Beispiel Nicolaus Ruwet: Le constituant „auxiliaire" en français moderne, in: Langages, Dec. 1966, S. 1 0 5 - 1 2 1 RS1: P • SN + SPréd RS2: SPréd >Aux + SV (CIRC). (S. 106) Andererseits kann sich Ruwet doch auch nicht von der distributionellen Bestimmung (wie unter 12) freimachen und k o m m t auf diesem zweiten Weg zur Unterscheidung zwischen „auxiliaires" und „pseudo-auxiliaires", die einmal nichts mit seiner ersten Bestimmung als Tempusmorphemträger zu tun hat und zum zweiten jeder sprachlichen Intuition widerspricht. (S. 121). 14 So seit Noam Chomsky: Aspects of the Theory of Syntax, MIT 1965. Ich zitiere nach der deutschen Ausgabe: Aspekte der Syntax-Theorie, Frankfurt/Main 1969, S. 90: (3) S NP

Aux

~~VP

15 Wenn das Prinzip der Einfachheit der Beschreibung sich von der sprachlichen Wirklichkeit loslöst, kann es zu offensichtlichen Fehlinterpretationen kommen, cf. dazu: Erica C. Garcia: Auxiliaries and the Criterion of Simplicity, in: Language 4 3 (1967), S. 8 5 3 - 8 7 0 . Die Hierarchie (nun in die Linearität aufgelöst) wird nicht mehr als Hierarchie in der Sprache, sondern in der Beschreibung aufgefaßt. 16 In: Langages Dec. 1966, S. 1 0 5 - 1 2 1 . Weitere Arbeiten zur Anwendung der Transformationellen Grammatik aufs Französische: Nicolas Ruwet: Introduction à la grammaire générative, Paris 1967; Jean Dubois: Grammaire structurale du

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Benveniste 17 und Chomsky. Er glaubt, eine Übereinstimmung zwischen „intuitiver" 18 Erklärung bei Benveniste und „rein formeller" Darstellung bei Chomsky nachweisen zu können. Die Gleichung sieht so aus: Benveniste a) auxiliaire = morphème grammatical b) verbe = lexème c) „somme de l'auxiliant et de l'auxilié..."

Chomsky TPS V have + PP

Nun ist es ganz gewiß nicht neu, daß eine Verbalperiphrase als Verbindung der grammatikalischen Bestimmung im Hilfsverb (a), des lexikalischen Gehalts im Vollverb (b) und einer „idealen Bedeutung der Periphrase" (c) besteht. Um dies festzustellen, hätte es weder Benvenistes noch Chomskys bedurft, und die oberflächliche Übereinstimmung zwischen den beiden ist so erstaunlich nicht, da jede traditionelle Grammatik eine Verbalperiphrase in „grammatikalische Bestimmungen + Vollverb + Periphrasenbedeutung" analysieren würde. Nun leistet die Transformationelle Grammatik aber doch wertvolle Beiträge zur Beschäftigung mit der Hilfsverb-Problematik: 1. Die Entwicklung eines zuverlässigen Substitutionsmechanismus Durch die Erweiterung in die Dynamik, die nicht nur gegebene Texte beschreibt, sondern mögliche Sätze generiert, ist es möglich, die Grenze zwischen grammatischen und ungrammatischen Sätzen (und die Gründe fur solch eine Grenzziehung) zu bestimmen. Nur die Regeln, die „grammatische" Sätze erzeugen, werden beibehalten, bzw. durch Restriktionsregeln brauchbar gemacht. Die Erzeugung von ungrammatischen Sätzen kann wichtig werden als Substitutionsmethode zur Feststellung von wörtlichem und Hilfsverbgebrauch 19 . 2. Die Ausweitung in die Semantik Eine Erkenntnis der Transformationellen Grammatik, die sie von ihren unmittelbaren Vorgängern des nordamerikanischen Strukturalismus wegführt, ist die, daß Syntax und Semantik nicht getrennt werden können, . daß Restriktionsregeln häufig semantische Regeln sind. Aufgrund dieses français: le verbe, Paris 1967; ders.: La phrase et les transformations, Paris 1969; Maurice Gross: Grammaire transformationnelle du français - syntaxe du verbe, Paris 1968. 17 Cf. unten S. 72f. 18 „Intuitiv" ist hier depreziativ für „semantische Überlegungen einbeziehend" gebraucht. 19 Es sei zum Beispiel auf Gross. GT, S. 12ff. verwiesen. Es muß aber festgestellt werden, daß eine solche Verwendung von Transformationen oder Generationsregeln in die „Taxonomik" zurückfuhrt - die Generation der Sätze ist nicht mehr Selbstzweck, sondern Mittel zur Feststellung von Klassen.

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unterschiedlichen grammatikalischen Verhaltens werden die Wortarten subkategorisiert. Diese Richtung der Transformationellen Grammatik ist noch besonders ausbaufähig und kann für die Formalisierung der Verbsyntax sehr wichtig werden 20 . 4.1.2.3. E u r o p ä i s c h e r

Strukturalismus

In seinem Aufsatz „Sobre el concepto de verbo auxiliar"21 klassifiziert Bernard P o 11 i e r die spanischen Hilfsverben und schlägt wichtige Kriterien zu ihrer Identifikation vor. Der Ansatz befindet sich jedoch in der allgemeinen Linguistik, genauer gesagt in einem guillaumistisch beeinflußten Strukturalismus. Drei Ergebnisse sollen festgehalten werden: 1. Man kann von „Hilfsverben" nur auf der Ebene der Rede sprechen. „Auxiliar" ist primär eine syntaktische Funktion; danach lassen sich drei Klassen aufstellen: — Verben, die nicht „auxiliares" sein können; — Verben, die „auxiliares" sein können; — „Auxiliares", die keine Verben sind. 2. Bei Verwendung eines Verbs als „auxiliar" vollzieht sich ein Übergang von der lexikalischen auf die grammatikalische Ebene. Pottier demonstriert das am Beispiel der Bewegungsverben, die auf der grammatikalischen Ebene als Varianten von „estar" funktionieren 22 . 3. Die Auxiliarfunktion ist durch die „Inzidenz" definiert. Auxiliar es todo verbo que es „incidente" de otro verbo en un mismo sintagma verbal 23 .

Mit Hilfe dieser Definition lassen sich Verbalperiphrasen von Verbindungen „Vollverb + Vollverb" durchaus unterscheiden. Es folgen daraus direkte Substitutionskriterien 24 . Einen ganz entscheidenden Beitrag zu einer Theorie des Hilfsverbs leistet Emile B e n v e n i s t e in seinen beiden Aufsätzen: „Etre" et „avoir" dans leurs fonctions linguistiques25 und Structure des relations d'auxiliarite16, besonders in letzterem. Außer einigen interessanten Kriterien zur 20 Zur Verbsubkategorisierung cf. unten S. 86. 21 In: NRFH 15 (1961), S. 3 2 5 - 3 3 1 ; Nachdruck in: Lingüística moderna y filología hispánica, Madrid 1968, S. 1 9 4 - 2 0 2 (Zitate nach dieser Ausgabe). 22 Cf. unten S. 110. 23 Pottier, Sobre el concepto, S. 194. 24 Sie entsprechen denen von Coseriu bei seiner Unterscheidung zwischen „construcciones mediatas y inmediatas" (cf. oben S. 25) und auch solchen, die aus der Immediate Constituent Analysis abzuleiten wären (cf. oben S. 68ff.). 25 In: Bulletin de la Société de Linguistique 55 (1960); Nachdruck in: Problèmes de linguistique générale, Paris 1966, S. 1 8 7 - 2 0 7 . 26 In: Acta Lingüistica Hafniensia 9 (1965/66), S. 1 - 1 5 ; cf. außerdem: ders.: Les relations de temps dans le verbe français, dazu oben S. 62f.

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Feststellung von Periphrasen 27 und der Betonung der Feststellung, daß der Begriff des „verbe auxiliaire" zu vermeiden sei, da es sich um einen Vorgang handle, nicht um eine Klasse von Verben 2 8 , weiterhin der Beobachtung, daß Periphrasen in Opposition zu einfachen Verbformen sich stets als merkmalhafte Glieder dieser Opposition verhalten 2 9 , besteht sein Hauptbeitrag in seiner scharfsinnigen Analyse des internen Funktionierens einer Verbalperiphrase 30 : Ainsi l'examen du rôle à assigner aux deux membres du syntagme d'auxiliation temporelle nous amène à intoduire une distinction entre 1) la fonction propre de chacun d'eux; 2) la fonction de leur somme. L'auxiliant „avoir" („être") a en propre la fonction de flexion: il porte en quelque sorte les désinences et indique la personne, le nombre, le mode, la voix. L'auxilié (participe passé) a en propre la fonction de dénotation: il identifie lexicalement le verbe, dont il porte en quelque sorte le radical. Mais seule la somme de l'auxiliant et de l'auxilié, associant le sens spécifique de l'auxiliant à la forme spécifique de l'auxilié, assure la fonction de temporalité et produit la valeur de parfait 31 . Damit wendet er sich gegen Guillaume und Tesniere (und andere Linguisten), die dem Hilfsverb die grammatikalischen Bestimmungen zuwiesen und dem Vollverb die lexikalischen. Dies trifft zwar zu für grammatikalische Bestimmungen wie Person usw. und den eigentlichen lexikalischen Inhalt des Vollverbs. Was aber die Funktion der Periphrase selbst betrifft, so ist sie gerade eine „verwandelte" 32 Summe der grammatischen Form des Vollverbs (Partizip, aber auch Infinitiv, Gerund 3 3 ) und eines ins Grammatische verwandelten lexikalischen Inhalts des Hilfsverbs 34 .

27 28 29 30 31 32

Cf. unten S. 98ff. Benveniste, RA, S. 3. Benveniste, RA, S. 3. Cf. dazu oben S. 71. Benveniste, RA, S.7. „II est pourtant clair que cette m u t a t i o n fonctionnelle du présent il a en auxiliant de parfait n'est possible que du fait de l'auxiliation. Seule la jonction syntagmatique de il a avec chanté fait du présent de avoir le constituant d'un parfait. On doit bien admettre alors que l'auxilié chanté n'est pas seulement sémantème; il est aussi porteur d'une partie de la fonction grammaticale ( . . . ) Il apparaît donc que l'auxilié doit être reconnu comme bifonctionnel. En sus de sa fonction paradigmatique, qui est d'assurer la liaison sémantique avec le verbe, il remplit une fonction syntagmatique complémentaire de celle de l'auxiliant. Auxilié et auxiliant sont mutuellement adjuvants dans ce procès. (Hervorhebung von „mutation" von mir; Benveniste, RA, S. 7). 33 Benveniste führt seine Analyse am Beispiel des Passé composé durch; das Gesagte ließe sich aber auch auf andere infinite Formen (Infinitiv, Gerund) und andere Hilfsverben übertragen. 34 Cf. oben S. 71. 73

In seinem Aufsatz Signes et symboles dans les grandeurs les moins complexes du plan du contenu35 geht Leiv F 1 y d a 1 von den Theorien der Glossematik und von Ideen Coserius 36 aus. Insbesondere liegt Hjelmslevs Symbolbegriff 37 zugrunde: . . . s y m b o l should be used only of entities that aie isomorphic with their interprétation. . . isomorphic symbols (do not permit) the further analysis into figurae that is characteristic of signs 3 8 .

Flydals Gedanke ist, daß es aufgrund der „triple articulation fondamentale du langage"39 Größen gibt, die weder der Ausdrucksebene noch der Inhaltsebene angehören, sondern denen ein Element einer dieser beiden Ebenen (die ja in Form und Substanz gegliedert sind) als Substanz, das heißt eben als nicht analysierbare Grundlage dient: J'entendrai par SIGNES des grandeurs dont le contenu comporte, en plus d'une substance, aussi une FORME linguistique, qui, elle, est en principe analysable en éléments, ou: figures du contenu, et par les SYMBOLES MOTIVES dont il est ici question, des grandeurs dont le contenu ne comporte aucune forme linguistique qui se laisse analyser en ces mêmes éléments, mais repose sur quelque identité sémantique partielle avec la substance sémantique du signe. Dans le symbole, le contenu du signe, contenu premier ou sens propre, ne sert que de face expressive à un contenu second, le sens figuré ou métaphorique 4 0 .

Charakterisiert sind diese S y m b o l e gerade durch ihre Unanalysierbarkeit, dadurch daß sie keine „Inhaltsform" aufweisen. Die Methoden zur Unterscheidung von Zeichen (signes) und Symbolen sind Kommutation und Substitution. Wenn zwei Größen kommutiert werden können, das heißt, wenn ihre Vertauschung eine Bedeutungsveränderung bewirkt, so handelt es sich um Zeichen. Können sie dagegen in ihrer Gesamtheit substituiert werden, ohne daß die Bedeutung sich verändert, so liegen Symbole vor. Ein typisches Beispiel nun für diese „symbolisation du contenu", die „métaphorisation" 41 , wären die Verbalperiphrasen. Flydal demonstriert das an folgenden Kommutationen und Substitutionen: Quand tu vas te marier, . . . Quand tu vien-s te marier, . . . (Commutation entre signes)

35 In: Proceedings Cambridge/Mass., S. 5 3 7 - 5 4 6 . 36 Vor allem wie dargelegt in: Eugenio Coseriu: La creación metafórica en el lenguaje, Montevideo 1956. 37 Cf. Louis Hjelmslev: Prolegomena to a Theory of Language, Madison 1963 2 . 38 Hjelmslev, Prolegomena, S. 113f. 39 Flydal, Signes et symboles, S. 53740 Flydal, Signes et symboles, S. 538. Der Gedanke, daß die Inhaltsebene insgesamt als Substanz einer höheren Symbolebcne zugrundeliegt, ist einer der Ausgangspunkte strukturalistischer Literaturbetrachtung. 41 Flydal, Signes et symboles, S. 539.

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Quand du VA-S aller te marier, . . . Quand (bientôt) tu I-R-as te marier, . . . (Substitution de la métaphore va- + infinitif -r- de la futurition) au signe 42

Tatsächlich lassen sich die Kommutationen von Einzelelementen oben nicht unten wiederholen. Trotzdem sind natürlich auch die Größen unten kommutierbar. Nur hat sich zweierlei geändert: 1. Das Niveau der Analyse: Nicht Wörter werden kommutiert, sondern Syntagmata. 2. Die Art der Kommutation: Es werden keine lexikalischen Größen kommutiert, sondern grammatikalische. Diese doppelte Verschiebung der Analyse: vom Wort zum Syntagma und vom Lexikon zur Grammatik ist nun das entscheidende Charakteristikum der Verbalperiphrasen. Flydals entscheidender Verdienst ist der Hinweis auf die Nicht-Analysierbarkeit auf der l e x i k a l i s c h e n Ebene. Allerdings betont er nicht genügend, daß von Substitution nur bei okkasionellen Metaphern die Rede sein kann, daß bei automatisierten Metaphern hingegen wieder Kommutation möglich ist, allerdings auf einer ganz anderen Ebene der Analyse 4 3 . Durch diese neue, andersgeartete Kommutierbarkeit unterscheiden sich die grammatischen „Symbole", wie es die Verbalperiphrasen sind, die durchaus in ein System von grammatischen Oppositionen einzuordnen sind, von substituierbaren, wahlfreien Symbolen wie „Plural für Singular" (= Höflichkeit), in denen nun der metaphorische Charakter aus dem Widerspruch zwischen Bedeutung und Situation resultiert.

4.2.

Kategorien, die mit der Wortart „Verb" auftreten

Nachdem ein Teil der traditionellen Sprachwissenschaft die modernen Sprachen am Maß und mit den Kategorien der klassischen Sprachen gemessen h a t t e 4 4 , setzte, vor allem durch die Beschäftigung mit ganz anders gearteten Sprachen, eine Gegenrichtung ein. Die Kategorien einer jeden Sprache sollten ganz unvoreingenommen bei ihrer Beschreibung festge42 Flydal, Signes et symboles, S. 539. 43 Auf die Möglichkeit der Grammatikalisierung weist Flydal am Schluß seines Aufsatzes hin: „Etant donné la haute fréquence d'emploi des signes grammaticaux, leurs contenus symboliques sont particulièrement enclins à se conventionaliser et à devenir par là, à l'intérieur des systèmes que forment ces signes, des pièces parfois très importantes, constituant quelquefois des prolongements du système des signes et quelquefois aussi des systèmes partiels qui, avec le temps, sont préférés à ceux avec lesquels ils font double emploi." (S. 545) Diese Bemerkung betrifft aber lediglich die Konventionalisierung des Gebrauchs, nicht die Verschiebung der Ebenen der Analyse. 44 Cf. oben S. 67 f.

75

stellt werden 4 5 . Nun tauchte aber bei der Aufarbeitung dieses Materials und mit der zunehmend theoretischen Beschäftigung strukturalistischer Richtungen (zunächst innerhalb der Glossematik) die Frage auf, ob nicht doch allgemeine Kategorien anzunehmen seien. Zwei Richtungen der Linguistik tragen dazu bei, daß diese Frage heute eines der umstrittensten Probleme der Sprachwissenschaft ist: 1. die onomasiologische Richtung 46 2. die transformationelle Grammatik Man kommt bei der Unterscheidung von Oberflächen- und Tiefenstruktur zu immer tieferen Strukturen. Diese tiefsten Strukturen werden zuletzt mit einer allen Sprachen gemeinsamen Semantik identifiziert. Die Universalienproblematik 47 soll uns hier nicht weiter beschäftigen, nur die Definitionen der zum Verb genannten Kategorien ohne Rücksicht darauf, ob sie im Einzelfall als universelle oder generelle, als logische oder empirische gesehen werden. Louis H j e 1 m s 1 e v kommt in seinem Essai d'une théorie des morphèmes48 aufgrund des Kriteriums der „direction" 49 zu vier Morphemkategorien, die sich sowohl (jeweils in anderer Ausformung) mit Verben (exposants extenses) als auch mit Nomina (exposants intenses) verbinden. Die Verbalmorpheme sind dadurch charakterisiert, daß sie einen nexus charakterisieren, das heißt also: Satzmorpheme sind 50 . Die vier möglichen Kategorien sind: 1. Relation (homonexuell; dynamisch) Verb: Person und Diathese 51 2. Intensité (heteronexuell; statisch) Verb: Emphase 3. Consistance (homonexuell und heteronexuell; statisch) Verb: Aspekt (einschließlich Tempus) 52 4. Réalité (homonexuell oder heteronexuell; weder statisch noch dynamisch) Verb: Modus 45 Cf. oben S. 68, Fußn. 3. 46 Cf. dazu oben S. 53ff. 47 Es dreht sich hauptsächlich um die Frage, ob die feststellbaren Kategorien generell (und empirisch festgestellt) oder universell (und logisch postuliert) sind. 48 1938; Nachdruck in: Essais linguistiques, Kopenhagen 1959, S. 1 5 2 - 1 6 4 . 49 „Direction" ist definiert als „détermination hétérosyntagmatique", was nach Hjelmslev etwa dem Begriff der Rektion entspricht. 50 Cf. dazu: Louis Hjelmslev: Le verbe et la phrase nominale, 1948; Nachdruck in: Essais linguistiques, S. 1 6 5 - 1 9 1 . 51 „ . . . la catégorie extense de personne et de diathèse sont définies par le caractère homonexuel de la direction nexique qu'elles contractent, celle-ci ne pouvant jamais dépasser les frontières d'un seul nexus." (Hjelmslev, Le verbe, S. 157). 52 Hjelmslev falit Aspekt und Tempus zusammen unter „consistance". Cf. oben S. 58, Fußn. 27.

76

Diese vier Grundkategorien k ö n n e n , j e nach Sprache, w e i t e r aufgeteilt w e r d e n nach Dimensionen.

Diese m o r p h o l o g i s c h e n K a t e g o r i e n sind nicht

universell, sondern allgemein: Les catégories morphologiques que nous avons énumérées sont générales, elles ne sont pas universelles. Elles ne sont pas réalisées dans le système de n'importe quel état de langue, mais elles résident dans le système du langage à titre de possibilités53. N i c h t v o n apriorischen, s o n d e r n v o n empirischen G e g e b e n h e i t e n g e h t John L y o n s

in seiner Introduction

to Theoretical

Linguistics54

aus.

F u n d a m e n t a l , w e n n a u c h nicht neu, ist die U n t e r s c h e i d u n g v o n drei Art e n v o n K a t e g o r i e n , die L y o n s s o formuliert: For terminological convenience in the sections which follow, we shall refer to the 'parts of speech' as primary grammatical categories and such notions as tense, mood, case, etc., as secondary grammatical categories. The traditional syntactic notions of .subject', .predicate', ,object', etc., will be referred to as functional categories 5 5 . Zur primary

category

„ V e r b " g e h ö r e n f o l g e n d e secondary

categories:

— Person ( d e i k t i s c h e Kategorie) — Numerus und Genus56 — Tense

(deiktische Kategorie)57

— Modus (satzunterscheidende Kategorie)58 — A s p e k t : die normalerweise damit b e z e i c h n e t e G r u n d o p p o s i t i o n ist „perfektiv-imperfektiv". O f f e n s i c h t l i c h handelt es sich aber u m eine S a m m e l k a t e g o r i e , die, j e nach Sprache, vielfältig unterkategorisiert ist: To list just these few examples is sufficient to show that the category of aspect incluses a wide variety of possible distinctions. Like tense-distinctions, these all have to do with time; but (. . . ) with the ,temporal distribution or contour' of an action, event or state of affairs, rather than with its .location in time'. Aspect, unlike tense, is not a deictic category; it is not relative to the time of utterance 5 9 . 53 Hjelmslev, Le verbe, S. 162 f. Auf S. 164 bezeichnet Hjelmslev die vier Grundkategorien ausdrücklich als „apriorische" Kategorien. Unser Gebrauch der Begriffe „generell" und „universell" (cf. oben S. 76, Fußn. 47) ist dem Hjelmslevs entgegengesetzt. 54 Cambridge 1968. 55 Lyons, S. 274. 56 „In general syntactic theory, person (like number) is only secondarily, and derivatively, a category of the verb. . ." (S. 281). 57 „The essential characteristic of the category of tense is that it relates the time of the action, event or state of affairs referred to in the sentence to the time of utterance (the time of utterance being ,now'). Tense is therefore a deictic category, which (like all syntactic features partly or wholly dependent upon deixis. . ) is simultaneously a property of the sentence and the utterance." (S. 305). 58 „It is best defined in relation to an .unmarked' class of sentences which express simple statements of fact, unqualified with respect to the attitude of the speaker towards what he is saying." (Lyons, S. 307). 59 Lyons, S. 315. 77

Diese sekundären Kategorien des Verbs lassen sich noch, wie folgt, unterteilen: 1. Deiktisch: Person, Tense Nicht-deiktisch: Modus, Aspekt 2. Nicht nur verbal/selektioniert: Person, Numerus, Genus Rein verbal: Modus, Tense, Aspekt 3. Satzcharakterisierend: — durch Selektion: Person, Numerus, Genus — insgesamt: Modus, Tense Nicht-satzcharakterisierend: Aspekt. Weiterhin verbinden sich mit „Verb" folgende functional categories: - Transitivity / Ergativity Es handelt sich um den syntaktischen „Stellenwert" eines Verbs, um die Möglichkeiten seiner Besetzbarkeit. Die beiden Kategorien sind zwei sprachliche Möglichkeiten zur Bezeichnung desselben Verhältnisses. — Voice Entscheidend ist der Unterschied, den Lyons macht zwischen den Kategorien, die er als Arbeitstitel faßt 6 0 , und den Unterkategorisierungen, die die tatsächlichen Realisierungen einer solchen Arbeitsklasse in bestimmten historischen Sprachen betreffen. Roman J a k o b s o n kommt aufgrund von vier Unterscheidungen: sprachbestimmt/sprechbestimmt; die Teilnehmer/die Handlung betreffend; qualifizierend/quantifizierend; bezeichnend/verhältnisbestimmt 61 zu folgender Aufstellung: Teilnehmer betr.

qualifiz.

Nicht Teilnehmer betr.

bezeichnend

verbindend

GENUS

VOX

quantifiz. NUMERUS

bez.

verb.

STATUS ASPEKT TAXIS

SPRACH bestimmt SPRECH

PERSON

MODUS

TEMPUS EVIDENZ

S. 184

60 Im Gegensatz zu Hjelmslev, der seine Kategorien als apriorisch auffaßt. Cf. oben S. 76f. 61 Ich zitiere nach der französischen Ausgabe: Roman Jakobson, Essais de linguistique générale, Paris, 1963, darin: Les embrayeurs, les catégories verbales et le verbe russe, S. 1 7 6 - 1 9 6 .

78

Es liegen also zehn Kategorien vor, wovon folgende (die weniger bekannt sind) kurz definiert werden sollen: S t a t u s : „Le statut (. . .) définit la qualité logique du procès" 6 2 . Es dreht sich also um Qualifizierungen wie „affirmativ", „negativ", falls diese verbal ausgedrückt werden. T a x i s : „L'ordre caractérise le procès de l'énoncé par rapport à un autre procès de l'énoncé et sans référence à l'énonciation" 6 3 . E v i d e n z : „Nous proposons d'appeler t e s t i m o n i a l la catégorie verbale qui fait entrer en ligne de compte trois procès — le procès de l'énoncé, le procès de l'énonciation, et un „procès d'énonciation énoncé", à savoir la source d'information alléguée relativement au procès de l'énoncé" 6 4 . Zwischen T e m p u s und A s p e k t besteht nach Jakobson ein zweifacher Unterschied: Tempus ist sprechbestimmt (deiktisch), Aspekt dagegen sprachbestimmt und zudem nur quantifizierend. Da wir uns in unserer Untersuchung auf einige Kategorien beschränken wollen, seien alle diejenigen ausgeklammert, die (nach Jakobson) die Sprecher betreffen 6 5 . Taxis, Evidenz und Status sind durch Jakobson hinreichend definiert. Über die Definition des T e m p u s als deiktische Kategorie, die das Verhältnis zwischen Sprechakt und Geschehen betrifft, herrscht auch Einigkeit (Jakobson, Lyons, Heger). Es bleibt zur Definition A s p e k t 6 6 : Die Unstimmigkeiten bei diesem Unterfangen 6 7 lassen es angeraten erscheinen, die wichtigsten Positionen in der Aspektdiskussion zu skizzieren. 4.3.

Aspekt - Aktionsart 68

62 Jakobson, S. 182. 63 Jakobson, S. 183. 64 Jakobson, S. 183. Es handelt sich um die Bezugnahme eines Sprechers in einem Sprechakt auf einen anderen Sprechakt. Im Deutschen zum Beispiel: „Er soll schon wieder ein Buch geschrieben haben." Die deutschen Bezeichnungen für die Kategorien übernehme ich von E. Coseriu. 65 Cf. Schema oben S. 78. 66 Im Gegensatz zu Hjelmslevs Einordnung als eigene Kategorie aufgefaßt. 67 Cf. auch oben S. 54f. 68 Über die Vielfalt der Meinungen informiert schon ein Blick in die terminologischen Wörterbücher (Lazaro Carreter, Marouzeau, Knobloch, in letzterem besonders unglücklich dargestellt). Auch die Artikel und Bücher, die sich um eine Klärung der Begriffe bemühen wollen, wirken eher verwirrend: Luis Cifuentes Garcia: Acerca del aspecto, in: Boletin de Filologia (Santiago de Chile) 8 (1954/55), S. 5 7 - 6 3 ; G. Ivänescu: Le temps, l'aspect et la durée dans les langues indo-européennes, in: Mélanges linguistiques, Bukarest 1957, S. 2 3 - 6 1 ; L. Jenaro MacLennan: El problema del aspecto verbal, Madrid 1962; L. Akerstein: Remarques sur l'„aspect" et l'„ordre du procès", in: Linguistica Antwerpiensia 2 (1968), S. 1 9 - 2 7 .

79

Es sei zweierlei vorausgeschickt: 1. Welche grammatikalischen Kategorien tatsächlich in einer historischen Sprache verwirklicht sind und in welcher Art, kann einzig und allein durch die Untersuchung der betreffenden Sprache festgestellt werden. Ähnliche Kategorien in verschiedenen Sprachen, die eine ähnliche Art der Gestaltung erkennen lassen, können mit demselben Begriff bezeichnet werden. Es geht hier um die Diskussion eines solchen Arbeitsbegriffs: A s p e k t . 2. Der Bereich des Aspekts sei vorläufig umrissen als Bereich der „ n i c h t - d e i k t i s c h e n Z e i t b e t r a c h t u n g "69. Es lassen sich zwei Gruppen von Auffassungen unterscheiden: 1. Der Terminus „Aspekt" genügt zur Bezeichnung der Zeitbehandlung außerhalb des Ich—Hier—Jetzt-Bezugs. 2. Es muß noch ein zweiter Terminus eingeführt werden, der fundamental von der Aspektfunktion unterschiedene Funktionen subsummiert, der der „Aktionsart" oder ein ähnlicher. Innerhalb der ersten Gruppe sind zwei Ansichten möglich: 1. „Aspekt" bezeichnet eine einzige fundamentale Opposition. 2. ,,Aspekt" ist ein Überbegriff für eine Reihe von Subkategorien, die alle mit „nicht-deiktischer" Zeit zu tun haben. Ad 1.1. Als aspektuelle Grundopposition werden im allgemeinen die folgenden zwei angenommen: 1. perfektiv — imperfektiv Die Wurzel zu dieser Auffassung liegt in der slawischen Sprachwissenschaft — in den slawischen Sprachen ist gerade die grammatikalische Grundopposition des Verbs, die in allen Fällen verwirklicht werden muß, die zwischen perfektivem und imperfektivem Aspekt. In manchen Werken, allerdings verhältnismäßig selten, wird die Auffassung vertreten, mit dieser binären Opposition ließe sich die gesamte Kategorie „Aspekt" fassen. Stellvertretend für diese Richtung sei Jens Holt zitiert: On peut définir l'aspect comme une catégorie de morphèmes verbaux fondamentaux qui présente la direction homonexuelle. Par cette fonction elle est séparée de la catégorie du temps qui présente la direction homonexuelle et la direction hétéronexuelle à la fois. La catégorie de l'aspect exprime le terme ou le non69 So in Anschluß an Jakobson, Lyons. Cf. außerdem Dombrovsky: „Vom Tempus als Kategorie unterscheidet sich der Aspekt dadurch, daß er eine absolute Bezugnahme des Sprechers auf die objektive Zeit ( . . . ) darstellt, das Tempus jedoch bezieht relativ die Verbalhandlung auf den Zeitpunkt des Sprechenden." (Zitiert nach: Johann Knobloch u.a.: Sprachwissenschaftliches Wörterbuch, s. v. Aspekt, S. 174).

80

terme du procès (sic). S'il s'agit de l'aspect morphématique, le terme est conçu comme réel, si nous sommes en présence d'un aspect thématique, celui-ci désigne un terme virtuel. Par un procès sans terme on indique une action qui est en mouvement vers son terme, le procès avec son terme désigne une action qui est arrivée à ce point et qui s'en éloigne 1 0 .

2. eine die Dauer betreffende In diesem Sinn äußert sich zum Beispiel Buyssens, der sechs verschiedene die Dauer betreffende Aspekte unterscheidet: „total", „initial", „final", „médial", „partiel", „nul" 7 1 . Ad 1.2. In diesem Fall wird „Aspekt" als Überbegriff für mehrere verschiedene grammatikalische Kategorien verwandt, die aber doch so weit zusammenhängen, daß sich eine gemeinsame Behandlung rechtfertigen läßt. Jakobson zum Beispiel ordnet „Aspekt" als rein quantifizierende, nicht-deiktische Kategorie ein 7 2 . Lyons definiert Aspekt als nicht-deiktische Kategorie und führt eine Reihe von Subkategorien an, wie sie in den einzelnen Sprachen verwirklicht sind 7 3 . Einen wichtigen Versuch zur Darstellung der Unterkategorien der nichtdeiktischen, quantifizierten Zeitbetrachtung stellt Henri F r e i s System dar74 : Zunächst unterscheidet er zwischen „temps subjectif' und „temps objectif", was dem von uns als „deiktisch/nicht-deiktisch" bezeichneten Unterschied entspricht. „Temps o b j e c t i f läßt sich weiter unterteilen in 1. Temps parcouru (selon les phases de la durée), es handelt sich um die Quantität der Handlung; 2. Temps mesuré (selon la longueur ou la brièveté de la durée)', die Dauer der Handlung im ganzen ist betroffen; 3. Temps nombré/compté (selon le nombre de durées)', betrifft die Zahl der Handlungen. 70 Jens Holt: F.tudes d'aspect, Kopenhagen 1943, S. 81; zur Terminologie und zur unterschiedlichen Auffassung Hjelmslevs, cf. oben S. 76f. 71 Eric Buyssens: L'aspect verbal en anglais, in: RBPhH 36 (1958), S. 8 6 9 - 8 7 2 und öfter. Cf. J. Cretellajr.: O aspecto e o tempo no sistema verbal, in: Jornal de Filologia (S. Paolo) 1 (1953), S. 1 3 5 - 1 4 5 , der die beiden hier behandelten Bestimmungen des Aspekts in der Festlegung auf die Opposition „durativ/perfektiv" vermischt. F.benfalls einheitliche, aber von den hier besprochenen grundverschiedene Bestimmungen des Aspekts bringen Guillaume und Koschmieder. 72 Cf. oben S. 78f. 73 Cf. oben S. 77f. 74 Henri Frei hat dieses System in einer nicht veröffentlichten Vorlesung entwickelt. Ich entnehme meine Informationen der Vorlesung von F>. Coseriu: Das romanische Verbalsystem (Tübingen; WS 1968/69) und einer Bemerkung von Felix Kahn: Le système des temps de l'indicatif chez un Parisien et chez une Bâloise, Genf 1954, S. 50, Fußnote 5.

81

Ad 2 -- Zwei Kategorien In diesem Fall wird der Terminus „Aspekt" für eine Erscheinung reserviert; alle anderen, sonst unter diesem Begriff subsummierten Unterscheidungen (wie in 1.2.) werden unter einem anderen Begriff zusammengefaßt: „Aktionsart", „ordre du procès". Es lassen sich drei verschiedene Unterscheidungen zwischen den beiden Kategoriengruppen feststellen: 1. Aspekt: Perfektiv/imperfektiv Aktionsart: andere Arten des Verlaufs. Sigurd Agrell 75 trennte erstmalig in dieser Art zwischen den zwei Kategorien, obwohl beide Begriffe vorher schon geläufig waren, aber eben nicht in dieser bestimmten Weise spezifiziert. Er wies auch die Verschiedenheit des Funktionierens am polnischen Verb nach: Die Aspektopposition ist an jedem slawischen Verb verwirklicht; die Fülle der Aktionsarten dagegen, die sich nicht in einfachen Oppositionen fassen läßt, ist in ihrem Auftreten nicht obligatorisch. Diese erste Ausführung durch Agrell und die Festlegung des Aspektbegriffs auf eine fest umrissene binäre Opposition gegenüber der ungegliederten Fülle der Aktionsarten wurde teilweise einfach in dieser Form übernommen 7 6 , andererseits sind in seinen Ausführungen auch schon andere, später vertretene Unterscheidungen angelegt 7 7 . 2. Aspekt: subjektiv: kursiv/komplexiv Aktionsart: objektiv Die Deutung des Unterschieds Aspekt/Aktionsart als subjektiv/objektiv stammt von Hermann J a c o b s o h n 7 8 . Aber erst Eduard H e r m a n n 7 9 hat sie ausgebaut. Zwar nennt er seine sämtlichen Kategorien Aktionsarten, sieht aber einen wesentlichen Unterschied zwischen den objektiven (= Aktionsart), die eine Qualität des Vorgangs bezeichnen, und den subjektiven (= Aspekt), die das Verhältnis des Sprechers zum Vorgang ausdrücken. Innerhalb dieser subjektiven Aktionsart unterscheidet nun Hermann zwischen der „komplexiven" und der „kursiven" Betrachtung der Handlung: Der Unterschied zwischen kursiv und komplexiv ist, bildlich ausgedrückt, so, daß man sich beim kursiven Verb gewissermaßen in das Innere der Handlung hineinversetzt, während man sie beim komplexiven von außen betrachtet 80 . 75 Sigurd Agrell: Aspektänderung und Aktionsartbildung beim polnischen Zeitworte, Lund 1908. 76 So von Deutschbein (cf. oben S. 32, Fußn. 39), in seinen späteren Beiträgen in Richtung auf 2) modifiziert; weiterhin von Sabrsula in seinen Vergleichen von romanischen und slawischen Sprachen, cf. oben S. 12. 77 Vor allem die Unterscheidung 3), cf. unten S. 83. 78 Hermann Jacobsohn: Besprechung zu Wackernagel: Syntax, in: Gnomon 2 (1926). Allerdings trifft er in einem späteren Artikel eine andere Unterscheidung, cf. unten S. 83. 79 Eduard Hermann: Objektive und subjektive Aktionsart, in: IF 45 (1927), S . 2 0 7 228; ders.: Die altgriechischen Tempora, Göttingen 1943, wo er die subjektiven Aktionsarten als Kategorie der „Schau" bezeichnet. 80 Hermann: Objektive, S. 213f. Den Termini komplexiv/kursiv entsprechen die Begriffe global/kursiv bei Coseriu, cf. oben S. 26.

82

Den Hermannschen Unterschied übernimmt im Grunde Klaus H e g e r 8 1 , zumindest d e m Inhalt nach, wenn er auch terminologisch zur ersten Gruppe zu gehören scheint. In Wirklichkeit aber setzt er die Hermannschen Kategorien mit den F u n k t i o n e n Bühlers gleich: die subjektiven Aktionsarten sind deiktisch, die objektiven definitorisch. Die Deixis beträfe beim Aspekt nicht das J e t z t des Sprechers, sondern das J e t z t der Handlung. Mir scheint das allerdings d e m Grundbegriff der Deixis zu widersprechen, der ja einen beweglichen Ich-Hier-Jetzt-Bezugspunkt beinhaltet, auf den die sprachlichen Äußerungen zentriert sind. Eine Deixis der Handlung ist eben keine Deixis mehr. 3. Aspekt: grammatikalisch Aktionsart: lexikalisch 8 2 Diese Charakterisierung beruht wohl auf zweierlei, einmal auf der Tatsache, daß Aktionsarten in vielen Sprachen (so besonders in den germanischen) durch Wortbildungsverfahren ausgedrückt werden oder d u r c h grammatikalische Verfahren, die nicht systematisch durchgebildet sind und deren Grammatikalität deshalb angezweifelt wird. Der zweite Grund dafür wird die Intuition der Unterscheidung sein, die H e r m a n n mit subjektiv/ objektiv und Heger mit deiktisch/definitorisch k e n n z e i c h n e t 8 3 . Es wird dabei zweierlei außer acht gelassen: — G r a m m a t i k und Lexikon sind zwei verschiedene Verfahren zur Gestaltung der Wirklichkeit — die Grenzen der Bereiche sind je nach historischer Sprache verschieden 8 4 . — Zwar sind die deiktischen Kategorien ein Hauptanwendungsfeld der Grammatik, da es sich ja u m rein relationelle Bestimmungen handelt, deren Bezugspunkt sich von Sprecher zu Sprecher ändert; das ändert nichts daran, daß auch definitorische Kategorien grammatikalisch ausgedrückt werden k ö n n e n 8 5 . 81 Cf. oben S. 54f. Die Identität seiner Auffassung mit der Hermanns, trotz terminologischer Verschiedenheit betont übrigens Heger, Temporal-deiktische Begriffskategorien, S. 23, Fußn. 43. 82 Meines Wissens erstmalig bei Hermann Jacobsohn: Aspektfragen, in: IF 51 (1933), S. 292-318; häufig in Handbüchern, auch Übertragung auf Verbklassen insgesamt, cf. unten S. 85f. 83 Cf. oben S. 82f. 84 Cf. dazu die prägnante Definition von Bernard Pottier, La semántica y los criterios funcionales, in: Hispanistas I, S. 415-419: „Habrá dos tipos de estudios semánticos, porque existen, en nuestras lenguas, dos clases de morfemas: (i) los morfemas que integran las clases cerradas o limitadas; (ii) los morfemas que integran las clases relativamente abiertas o no-limitadas (. ..). Se distinguen así: una sustancia predicativa (la que trae un significado nuevo), „léxica"; - u n a sustancia relativa (la que modiñca las sustancias predicativas), „gramatical". (S. 415). 85 Definitorische Kategorien gibt es besonders im Bereich der Qualifizierung und der Quantifizierung. So ist zum Beispiel „Numerus" eine typische definitorische Kategorie, ohne daß man deshalb Plural und Singular für „lexikalisch" erklären 83

Da es sich keinesfalls darum handeln kann, die Kategorie des Aspekts universell zu definieren, sondern nur darum, den Bereich abzugrenzen und festzustellen, ob es sich um einen homogenen Bereich handelt, kann ich zu dem Schluß kommen, daß sich solch ein homogener Bereich durchaus eingrenzen läßt. Welche grammatikalischen Kategorien allerdings innerhalb dieses Bereichs in einer bestimmten historischen Sprache systematisiert sind, muß in der Untersuchung jeder Einzelsprache festgestellt werden. Ich glaube aber, daß „Aspekt" als Bezeichnung des Bereichs der n i c h t d e i k t i s c h e n , q u a n t i f i z i e r e n d e n Kategorien des Verbs durchaus brauchbar ist. Damit soll nicht die Berechtigung der Abtrennung einer Unterkategorie „Schau" oder der Trennung von lexikalischen und grammatikalischen Verfahren geleugnet werden, im Gegenteil. Nur trüge nicht unwesentlich zur Entwirrung der linguistischen Diskussionen bei, wenn man die einzelsprachlich gemachten Feststellungen als solche bezeichnen wollte, nicht weiterhin versuchte, sie von einer Sprache auf alle anderen zu übertragen, und wenn man all die tatsächlich realisierten Verfahren und Oppositionen als einzelsprachliche Organisationen eines Bereichs der Wortklasse „Verb" bezeichnen wollte, der nun einmal konventionell bestens als „Aspekt"bereich bezeichnet wird. Er umfaßt drei Unterbereiche: 1. Quantifizierung der Handlung durch den Sprecher: nicht-partialisierend partialisierend 2. Quantifizierung der Handlung selbst 86 : Phase Dauer Wiederholung 3. Quantifizierung der Handlung in Hinsicht auf ihr Ende: perfektiv/imperfektiv nach ihrem Ende: resultativ/nicht-resultativ.

würde. Ein Teil der Unstimmigkeiten in der Aktionsartdiskussion mag wohl davon herrühren, daß zwei verschiedene Gesichtspunkte vertreten werden: Am Beispiel der Verbalperiphrase: Einmal wird die Modifizierung eines gegebenen Verbalinhalts betrachtet (Anfang durch „se mettre ä"), oder aber die Entstehung eines neuen Gesamtinhalts, eben „se mettre ä + . . ."). Der Sprecher hat wohl die Intuition der Modifizierung, daß aber die Grenze recht fließend ist, zeigen Übergänge von Verbalperiphrasen ins Lexikon (mit nun freier Verwendbarkeit), cf. unten S. 197. 86 Hier handelt es sich um die Kategorien von Henri Frei, cf. oben S. 81.

84

4.4.

Verbklassen

Dieser letzte Teil des Forschungsberichts, der uns zum Teil wieder in den Bereich der Romanistik zurückführen wird, ist bedingt durch die Einsicht, daß ein entscheidender Faktor zur Bestimmung der Bedeutung einer verbalen Form, sei sie nun einfach oder periphrastisch, die Lexikonbedeutung des Vollverbs (im Fall der einfachen Tempora: des Verbs) ist. Die Forderung nach der Unterscheidung solcher lexikalischer Klassen drängt sich in den einzelnen Untersuchungen zum romanischen Verb auf, es gibt viele sehr brauchbare Vorschläge dazu, sowohl auf romanistischem wie auch auf anglistischem Gebiet. In den Mittelpunkt des allgemein-linguistischen Interesses rückt diese Problematik durch die transformationeile Grammatik, die zur Zeit weithin mit Subkategorisierungsproblemen befaßt ist. 4.4.1.

Nicht-transformationelle

Klassifizierungen87

Bei der Beschäftigung mit dem romanischen Verb muß auffallen, daß es ausgesprochene Selektionsvorlieben zwischen lexikalischen Klassen und einzelnen Tempora gibt, bzw. daß zwei verschiedene lexikalische Klassen in Verbindung mit demselben Tempus zwei verschiedene Bedeutungen bewirken können 8 8 . Um diese beiden Phänomene: Selektionspräferenzen und Bedeutungsänderungen zu erklären, gibt es einige Versuche, die Verben nach bestimmten semantischen Kriterien zu klassifizieren, die geeignet sind, diese Erscheinungen zu erklären. Zwei Hauptrichtungen lassen sich dabei feststellen: 1. Klassifizierungen, die auf dem Kriterium der In-Sich-Abgeschlossenheit der Handlung beruhen. Eine solche Klassifizierung ist die von Andrés Bello 89 in „verbos d e s i n e n t e s " und „verbos p e r m a n e n t e s". Die Klassifizierung von W.E. Bull 90 beruht auf demselben Kriterium, ist nur noch präziser gefaßt: Er gebraucht den Begriff des Z y k l i s c h e n aus der Physik für Handlungen, die in sich abgeschlossen sind und sowohl ihren eigenen Anfang als auch ihr eigenes Ende beinhalten. Innerhalb der Klasse der zyklischen Verben gibt es einen weiteren Unterschied: Handlungen, die sofort nach ihrer Vollendung ohne Zeitintervall wieder von vorn beginnen können, so daß die Verben einmal eine Handlung dieser Art, ein andermal eine ganze Reihe bezeichnen können (z. B. girar), und Handlungen, die erst nach einem 87 Einen ersten vollständigen Versuch dieser Art stellt Emst Leisi: Der Wortinhalt, Heidelberg, 1953, dar. 88 In allen Grammatiken wird zum Beispiel die Sonderbedeutung von ,je sus" erwähnt. 89 Gramática de la lengua castellana, Madrid 1887 1 4 . 90 Time, Tense, and the Verb, Berkeley 1963 2 , S. 4 4 - 4 7 .

85

Zeitintervall oder einer zwischengeschalteten anderen Handlung neu beginnen können (z. B. levantarse). Die n i c h t - z y k l i s c h e n Handlungen schließen in ihren Inhalt keinerlei Anfang oder Ende ein (dormir). The fundamental difference between a cyclic event and dormir is to be found in the fact that termination is not the distinguishing attribute of dormir. All the attributes of dormir are observable at the instant of its initiation, and if the event is prolonged it does not come to an automatic termination 91 . Bull macht auch darauf aufmerksam, daß ein Verb zyklisch oder nichtzyklisch sein kann, je nach den adverbialen Bestimmungen und Objekten, mit denen es gebraucht wird. Eine ähnliche Unterscheidung trifft Howard B. G a r e y 9 2 zwischen telischen und nicht-telischen Verben: ATELIC verbs are those which do not have to wait for a goal for their realization, but are realized as soon as they begin 92 . 2. Klassifizierungen, deren Kriterium die Veränderung eines Zustands ist. Eine Unterscheidung zwischen t r a n s f o r m a t i v e n und n i c h t t r a n s f o r m a t i v e n Verben traf M . S á n c h e z R u i p é r e z bereits in seiner Untersuchung zum Altgriechischen 9 3 . Er unterscheidet dieselben Klassen auch fürs Spanische. Kriterium ist der Vergleich zwischen zwei Zuständen — verändert sich durch eine Handlung zwischen diesen beiden Zuständen etwas, so ist die Handlung transformativ 94 . Die Klasse der transformativen Verben deckt sich mit der der zyklischen bei Bull nur teilweise: Bulls Klasse „girar" fällt nicht darunter 9 5 .

4.4.2.

Transformationelle

Subkategorisierungen

In der transformationellen Grammatik hat es sich erwiesen, daß bei Anwendung einfacher Formationsregeln häufig ungrammatische Sätze entstehen, wenn die Konstituenten nicht weiter spezifiziert sind. Die Einführung von 91 Bull, S. 44. 92 Howard B. Garey: Verbal Aspect in French, in Language 33 (1957), S. 91-110; Zitat von S. 106. 93 Estructura del sistema de aspectos y tiempos del verbo griego antiguo, Salamanca 1954. 94 Observaciones sobre el aspecto verbal en español, in: Strenae, S. 427-435. Diese Unterscheidung übernimmt Klaus Heger: Problèmes de l'analyse onomasiologique du temps verbal, in: Lingüistica Antwerpiensia 2 (1968), S. 229-250. Der Grundgedanke ist der gleiche bei: Robert Godel: Verbes d'état et verbes d'événement, in: CFS 9 (1950), S. 33-50. 95 Robert Martin: Grammaire et lexique: leur concurrence dans l'expression de l'aspect perspectif en français moderne, in: Bulletin des Jeunes Romanistes 6 (1962), S. 18-25, meint denselben Unterschied bei seiner Trennung von perfektiven („orientation vers un état ou transition à un état") und imperfektiven („action non orientée vers un état", S. 22) Semantemen. Die Terminologie erscheint mir wenig glücklich. (Er folgt Arne Klum: Verbe et adverbe, Upsala 1961).

86

Subkategorisierungsregeln, die das Lexikon für die syntaktische Anwendung brauchbar machen, erwies sich als notwendig. In der Intention der Verfasser sollte es sich um rein grammatische Zusatzregeln handeln, die aber doch auf der Grenze zur semantischen Interpretation stehen. Chomsky postuliert in dieser Hinsicht folgende zusätzlichen Regeln: Wir haben innerhalb der Basis unterschieden zwischen Verzweigungsregeln und Subkategorisierungsregeln und zwischen kontext-freien und kontext-sensitiven Regeln. Die kontext-sensitiven Subkategorisierungsrcgeln sind weiter unterteilt in strikte Subkategorisierungsregeln und Selektionsregeln. Diese Regeln fuhren Kontext-Merkmale ein, während die kontext-freien Subkategorisierungsregeln inhärente Merkmale einführen 96 ;

Die Subkategorisierungsregeln für das Verb sind nach Chomskys Vorschlag kontext-sensitiv (im Gegensatz zum Nomen, das kontext-frei subkategorisiert wird), das heißt, sie enthalten Bemerkungen über den syntaktischen Zusammenhang. Sie sind also rein relationell und enthalten keine positiven Bestimmungen zum Verb (im Gegensatz zum Nomen: belebt, unbelebt, usw.) 97 . Innerhalb dieser Kontext-Regeln wird unterschieden zwischen strikten Subkategorisierungsregeln, die das Verb nach seiner Kombinierbarkeit mit bestimmten Satzteilen bestimmen (z. B. Transitivität, Prädikatsnomen), und Selektionsregeln, die es nach den kontext-freien Merkmalen der umgebenden Satzteile einordnen (z. B. Selektion von unbelebten Objekten). Die Entscheidung Chomskys für eine kontext-sensitive Subkategorisierung des Verbs ist heftig kritisiert worden 9 8 . In der Tat läßt er eine wichtige Möglichkeit ungenützt: die Selektionen zwischen Aux99 und V durch kontext-freie Subkategorisierungsregeln für V linear darstellbar zu machen. Die Formalisierung dieser Selektionen wird sicher eines der Hauptanliegen der transformationellen Grammatik in nächster Zeit

96 Noam Chomsky: Aspekte der Syntax-Theorie, Frankfurt/Main 1969, S. 155. 97 Die Entscheidung, die Verben mit kontext-sensitiven Regeln auszustatten, beruht auf rein praktischen Erwägungen, cf. Chomsky, Aspekte, S. 149. 98 Cf. die Rezension zu Chomsky, Aspects von P. H. Matthews, in: Journal of Linguistics 3 (1967), S. 1 1 9 - 1 5 2 . Uriel Weinreich: Explorations in Semantic Theory, in: Current Trends III, S. 3 9 5 477, schlägt eine Einführung von „transfer features" vor, die an verschiedenen Stellen im Satz auftauchen und es unnötig machen würden, zwischen kontextfreien und kontext-sensitiven Selektionsregeln zu unterscheiden. 99 Aux als Träger der Satzmorpheme verstanden, cf. oben S. 70.

87

sein 1 0 0 . Eine Subkategorisierung in der vorgeschlagenen Art wird zwar die Erzeugung von grammatischen Sätzen ermöglichen, allerdings nicht die Bedeutungsänderungen je nach Kombination erklären können.

100 Mir sind zwei Versuche in dieser Hinsicht bekannt: Hans-Jakob Seiler: Probleme der Verb-Subkategorisierung mit Bezug auf Bestimmungen des Ortes und der Zeit, in: Lingua 20 (1968), S. 337-367; Klaus Baumgärtner - Dieter Wunderlich: Ansatz zu einer Semantik des deutschen Tempussystems, in: Der Begriff Tempus eine Ansichtssache? , Beihefte zu „Wirkendes Wort" Düsseldorf 1969, S. 23-49. (cf. S. 89). Nach Fertigstellung meines Manuskripts ist Dieter Wunderlichs vollständige Arbeit erschienen: Tempus und Zeitreferenz im Deutschen, München 1970. 88

#Satz#

(Konjunktion)

Lexem

Generatives Satz-Stemma für Temp-Zusammenhang Aus: Baumgärtner-Wunderlich, S. 30

89

HAUPTTEIL

Gegenstand dieser Arbeit ist ein Teil des Verbalsystems im Okzitanischen und Katalanischen, mit besonderer Berücksichtigung der Verbalperiphrasen. Nach dem ausführlichen Bericht über die Forschungsbemühungen zu den Problemen im untersuchten Bereich sollen nun die Gegenstände der Untersuchung und die angewandten Methoden definiert oder, w o eine Definition nicht möglich ist, arbeitshypothetisch formuliert werden.

91

0.1.

Okzitanisch1

Unter Okzitanisch verstehe ich, in Übereinstimmung mit Ronjat, Bec2 und Lafont die Sprache, die in dem Gebiet gesprochen wird, das von den Sprachräumen des Französischen, Frankoprovenzalischen, Italienischen, Katalanischen, Spanischen (Aragonesisch) und Baskischen eingegrenzt wird. In diesem Gebiet, das etwa ein Drittel Frankreichs umfaßt, wurde das Okzitanische bis zu Beginn des 19. Jhs. gesprochen und wird es heute noch von der ländlichen Bevölkerung gesprochen. Innerhalb dieses Gebiets gibt es fünf große Dialekte: Limousinisch, Auvergnisch, Provenzalisch, Languedokisch, Gaskognisch. Der Untersuchung liegen moderne okzitanische Prosatexte zugrunde 3 . Bei ihrer Auswahl habe ich darauf Wert gelegt: 1. daß möglichst alle Dialektgebiete gleichmäßig vertreten sind — dieses Vorhaben scheitert an der besonderen Lage der Literatur: es liegen bedeutend mehr provenzalische und languedokische Texte vor als Texte aus den anderen Dialektgebieten, so daß sich ein gewisses Übergewicht in dieser Richtung nicht vermeiden ließ. 2. daß die Texte aus einer relativ einheitlichen Zeitspanne stammen: das Hauptgewicht liegt auf Texten des 20. Jahrhunderts; einzelne wurden aus dem 19. Jh. zugezogen. 3. daß die literarischen Texte durch außerliterarische ergänzt werden — da solche Texte selten sind, habe ich mich darauf beschränkt, die Zeitschrift „Viure" heranzuziehen. 4. daß die untersuchten Autoren „gutes Okzitanisch" 4 schreiben. Die Aufführung der untersuchten Texte findet sich, nach Dialekten geordnet im Literaturverzeichnis 5 . Ferner habe ich meine Ergebnisse teilweise von Okzitanischsprechern überprüfen lassen und zusätzliche Informationen von Gewährsleuten verwendet. Eine Liste meiner Informanten fuge ich ans Literaturverzeichnis an 6 . 1 Cf. oben S. 1, Fußn. 1. 2 Pierre Bec: La langue occitane, Paris 1963, S. 11-16: Genaue Aufführung der Grenzen. 3 Die Entscheidung für schriftliche Quellen hat zwei praktische und einen theoretischen Grund: die Überprüfbarkeit einer sicheren Grundlage; die Schwierigkeiten, die Enqueten in verschiedenen Dialektgebieten bereiten würden; die besondere Lage des Okzitanischen in Hinsicht auf seine Schriftsprachlichkeit (wie anderwärts ausgeführt, cf. oben Fußn. 1) als zusätzliches Forschungsobjekt. 4 Cf. dazu meine Arbeit: Okzitanisch und Katalanisch. Ich habe bei der Auswahl Hinweise von Okzitanen befolgt, die aufgrund ihrer Beschäftigung mit den besonderen normativen Problemen über eine besonders sichere Textkenntnis verfugen (Lafont, Taupiac, u.a.). 5 Cf. unten S. 237. 6 Cf. unten S. 236.

92

Das aus Textuntersuchung und Informationen gewonnene Material habe ich aufgrund meiner eigenen Okzitanisch-Kenntnisse7 interpretiert, wobei ich in Zweifelsfragen meine Ergebnisse habe von Okzitanisch-Sprechern überprüfen lassen. 0.2.

Katalanisch

Im Einvernehmen mit allen Romanisten verstehe ich unter Katalanisch die Sprache, die im „Principat", in Valencia, auf den Balearen, in Andorra und im Roussillon gesprochen wird 8 . Da das Katalanische, im Gegensatz zum Okzitanischen, über eine einheitliche Norm verfügt 9 , beziehe ich mich in meiner Untersuchung auf die katalanische Literatursprache. Aufgrund dieser gemeinsamen Norm war es bei der Auswahl der Texte auch nicht notwendig, in besonderem Maße auf die beim Okzitanischen erwähnten Punkte 1), 3) und 4) zu achten. Die untersuchten Texte stammen allesamt aus dem 20. Jahrhundert. Ansonsten gilt das fürs Okzitanische Gesagte: Angaben über die untersuchten Texte und über die Informanten finden sich im Literaturverzeichnis 10 . 0.3.

Verbalsystem

Es soll ein Teil des Verbalsystems der beiden Sprachen untersucht werden, ein Teil also der funktionellen, in Oppositionen organisierten und realisierten Verbalkategorien der beiden Sprachen. Es ist eine Eigentümlichkeit der Darstellung, wenn es so aussieht, als würden bestimmten, im voraus aufgestellten Kategorien Bezeichnungen zugeordnet: der Untersuchungsvorgang ist umgekehrt: Bedeutungen werden als systematisch organisiert erkannt. Sie werden nach Gesamtfunktionen, unterscheidenden Zügen und Nebenfunktionen analysiert. Vorgefaßte Kategorien spielen nur bei der Abgrenzung unseres Untersuchungsgegenstandes eine Rolle: berücksichtigt werden sollen nämlich nur diejenigen Verbalfunktionen, die innerhalb des Tempus-Aspekt-Bereichs liegen. Ausgeschlossen aus unserer Untersuchung sind damit die Kategorien: Person, Numerus, Genus, Diathese, Modus, Taxis, Evidenz und Status 11 . Die beiden Kategorien „Tempus" und „Aspekt" 7 Während meines durch ein Stipendium des DAAD ermöglichten einjährigen Studienaufenthalts in Aix-en-Provence suchte ich alle Möglichkeiten, meine Okzitanisch-Kenntnisse zu verbessern. 8 Zur genauen Begrenzung cf. Badia Margarit: GHC, S. 5 0 - 5 7 . 9 Cf. meine Arbeit: Okzitanisch und Katalanisch . . . 10 Cf. unten S. 236, 238. 11 Die Ausgrenzung der Kategorien erfolgt hier nach der Aufstellung von Roman Jakobsohn, cf. oben S. 78f. Die Begrenzung betrifft lediglich die Hauptfunktionen - Hinweise auf modale usw. Nebenfunktionen werden selbstverständlich gegeben. Cf. S. 36, Fußn. 62.

93

werden als Arbeitstitel verwendet, als Bezeichnung für zwei Bereiche verbaler Kategorien, innerhalb derer die in den beiden untersuchten Sprachen tatsächlich realisierten Funktionen festgestellt werden sollen. T e m p u s ist der Bereich der deiktischen Zeitbetrachtung, das heißt also die Kategorie, die ein Verhältnis zwischen dem Zeitpunkt des Sprechens und der Zeit der besprochenen Handlung herstellt 1 2 . A s p e k t 1 3 ist der Bereich der Kategorien zur Bezeichnung der nichtdeiktischen Betrachtung der Zeit, die meist quantifizierend ist. Es lassen sich drei Unterbereiche aufzeigen: 1. Erste Quantifizierung der Verbalhandlung durch den Sprecher. Es sind dies Kategorien, die einen Vorentscheid darüber beinhalten, ob die Handlung im Ganzen oder in Teilen betrachtet werden soll 1 4 . 2. Quantifizierung in Hinsicht auf den Verbalinhalt. Es ist dies die Kategorie, die bezeichnet, bis zu welchem Grad der Verbalinhalt realisiert worden ist (imperfektiv/perfektiv) und ob die Handlung nach ihrer Vollendung noch weiterwirkt (resultativ). 3. Quantifizierung der Handlung selbst 1 5 : — Phase ihres Verlaufs im Augenblick der Betrachtung (vor Beginn; zu Beginn; in der Mitte; am Ende; nach Beendigung); — Quantität der Handlung = Dauer (momentan, durativ); — Zahl der Verbalhandlungen (semelfaktiv; einmal wiederholt; iterativ; frequentativ). Zur Feststellung der Zahl der Kategorien dient das Kriterium der Kombinierbarkeit: liegt eine einzige Kategorie vor, so ist entweder das eine oder das andere Glied der Opposition realisiert; nur wenn es sich um zwei verschiedene Kategorien handelt, können sie miteinander kombiniert werden 1 6 . Die Funktion der untersuchten Formen wird durch Kommutation festgestellt 1 7 . Die nächste Stufe der Untersuchung nach der Identifizierung durch Kombinierbarkeitsprobe und Kommutationsprobe ist die Analyse in unterscheidende Züge. Der systematische Zusammenhang der festgestellten Kategorien, der sich in der Analyse in Inhaltszüge bereits andeutet, wird weiter ermittelt durch die Neutralisierungsmöglichkeiten zwischen den festgestellten Oppositionen 1 8 . 12 Diese Beziehung berührt nirgends die historische Zeit (Cf. H. Weinrich: Tempus). 13 Cf. oben S. 7 9 - 8 4 . 14 Hierunter verstehe ich die von Hermann und Coseriu als „Schau", von anderen Autoren als Aspekt bezeichnete Kategorie. 15 Nach Henri Frei, cf. oben S. 81. 16 Nach Eugenio Coseriu: Das romanische Verbalsystem (Vorlesung WS 1968/69). 17 Die Untersuchung der Kombinatorik ist dabei komplementär, 1. zur Feststellung distributioneller Varianten; 2. um Hinweise auf die Funktion aus Selektionen und Restriktionen zu erhalten. 18 Es muß unterschieden werden zwischen Neutralisierung und Synkretismus - der

94

Diese Untersuchung in drei Schritten: 1. Kombinatorik: Zahl der Kategorien 2. Paradigmatik: Funktion der Kategorien Beschreibung als Bündel von unterscheidenden Inhaltszügen 3. Systematik: Systematischer Zusammenhang durch Neutralisationen muß sich selbstverständlich innerhalb derselben funktionellen Sprache abspielen 1 9 .

0.4.

Verbalperiphrasen

Besonders berücksichtigt soll das Funktionieren der Verbalperiphrasen werden. Diese sind in den romanischen Sprachen (exemplarisch) definiert als verbales Syntagma, bestehend aus einer finiten Verbalform, die die grammatikalischen Bestimmungen (Person, Modus, Tempus) enthält, und einer infiniten Verbalform, die die Handlung lexikalisch bezeichnet. Scheinbar ist die Form, die die grammatikalischen Bestimmungen enthält, eine inhaltlich leere Form („Hilfsverb", Auxiliar), und die semantische Vollform („Vollverb", „auxilié") enthält keine grammatikalischen Bestimmungen. Was die Verteilung von Morphemen und Semantemen angeht, so hat diese Formulierung ihre Richtigkeit: HV = Träger grammatikalischer

VV = Semantem

Morpheme Was aber die Funktion der Periphrase selbst angeht (und damit die Konstitution eines weiteren grammatikalischen Morphems), so tragen gerade Inhalt des Hilfsverbs und grammatikalische Form des Vollverbs zu ihrer Synkretismus betrifft ein Faktum des Systems, daß nämlich innerhalb eines Paradigmas Oppositionen nicht gemacht sind, die an anderen Stellen des Systems gemacht werden. Die Neutralisierung betrifft die Rede und die Möglichkeit, auf dieser Ebene Unterschiede nicht zu machen, cf. dazu: Eugenio Coseriu, Einführung in die Strukturelle Linguistik, Vorlesupg Tübingen WS 1967/68 (Nachschrift S. 1 3 4 - 1 3 6 ) . 19 Den Begriff der funktionellen Sprache verwende ich, indem ich E. Coseriu folge. Zu ihr gehören nicht die „discours répétés", die „wiederholte Rede". Innerhalb der Technik der Sprache selbst muß dann unterschieden werden zwischen den verschiedenen Schichten einer „historischen Sprache", ihrer Architektur, die diatopisch, diastratisch und diaphasisch (cf. oben S. 35) differenziert ist, und der funktionellen Sprache, die auf verschiedenen Ebenen (Rede, Norm, System, Typ) funktioniert. Cf. dazu Eugenio Coseriu: Structure lexicale et enseignement du vocabulaire, in: Actes du premier colloque international de linguistique appliquée (Nancy 1964), Nancy 1966, S. 1 7 5 - 2 5 2 , darin S. 1 9 4 - 2 0 8 .

95

Konstitution bei 2 0 . Graphisch dargestellt sähe das so aus: HV

VV

SATZ

PERIPHRA

1 lex

+2 +

lex

E>

Man kommt also zu der neuen Definition: Eine Verbalperiphrase ist ein verbales Syntagma, in dem das Hilfsverb die grammatikalische Bestimmung enthält, das Vollverb die lexikalische Bestimmung, und das weiterhin selbst eine weitere grammatikalische Bestimmung beiträgt, die aus einem Sem des Hilfsverbs und der grammatikalischen Form des Vollverbs (nicht im Sinn einer Summe der Teile, sondern als höhere Einheit) resultiert. 0.4.1.

Diese Definition hat folgende Korollare:

Syntax 1. Die Verbalperiphrase enthält keinerlei Satzrelation, zum Beispiel sicher nicht das Verhältnis Verb > Objekt (Hilfsverb • Vollverb). 2. Sie funktioniert als syntaktische Einheit, das heißt keiner der Bestandteile kann getrennt syntaktisch kombiniert werden; nur das ganze Verbalsyntagma kann syntaktische Verbindungen eingehen, z. B. ein Objekt selektionieren oder durch ein Adverb modifiziert werden. 3. Als Verbalsyntagma funktioniert sie genauso wie eine einfache Verbalform, kann also mit dieser kommutiert werden und muß auf demselben syntaktischen Niveau analysiert werden. Semantik 4. Die Verbalperiphrase insgesamt (in ihrer idealen Bedeutung) enthält eine zusätzliche einheitliche grammatikalische Funktion. 5. Diese zusätzliche grammatikalische Funktion (außer den grammatikalischen Bestimmungen, die das Hilfsverb als Träger der grammatikalischen Bestimmungen, abgesehen von seiner Funktion als Konstituent der Periphrasenbedeutung, enthält) basiert auf einem für die Verbalperiphrase charakteristischen Vorgang: der Grammatikalisierung eines Sems (das zunächst ein Inhaltszug eines Lexems unter anderen war). Ein unterscheidender Zug eines im Lexikon enthaltenen Vollverbs wird auf die grammatikalische Ebene transponiert, dort beliebig kombinierbar und als grammatikalischer Zug (in Zusammenwirken mit der Form des Vollverbs, wie oben ausgeführt) unterscheidend. Darin besteht die 20 Cf. oben S. 72f. (Benveniste).

96

(oft verwirrende) Ähnlichkeit zwischen dem Vollverb- und dem Hilfsverb-Gebrauch eines Verbs: Vom Vollverb bleibt ein einziger ins Grammatikalische transponierter und somit frei verfügbarer inhaltlicher Zug: Sem

• Taxem 21

Durch diesen Vorgang ist die Verbalperiphrase der inhaltlichen Analyse auf lexikalischem Niveau entzogen 22 . 6. Dieser grammatikalisierte Inhaltszug wird in seiner Funktion festgelegt durch die grammatikalische Form des infiniten Verbs. 7. Dieses Verfahren steht in der Nähe der Wortbildung. Den beiden Verfahren ist gemeinsam, daß durch eine begrenzte Anzahl von in ihren Funktionen recht genau bestimmbaren Mitteln eine unbegrenzte Anzahl von Elementen in der gleichen Weise modifiziert werden kann. Es fehlt jedoch der Vorgang der Rückkehr ins Lexikon 23 : LEX

WB

Ein bisher nicht vollständig gelöstes Problem stellt die Unterscheidung von Verbalperiphrasen (Hilfsverb + Vollverb) und komplexen Konstruktionen der gleichen Form (Vollverb + Vollverb) dar, die einzig dadurch unterschieden sind, daß das eine Verb einmal als Hilfsverb (somit grammatisch modifizierend) und einmal als Vollverb benützt wird. Es gibt einige Vorschläge zur Unterscheidung der beiden Verwendungstypen im allgemeinen und auch zur Unterscheidung im Fall eines vorliegenden zweideutigen Textes, die im Folgenden diskutiert und ergänzt werden sollen. Allein die beiden Prämissen (die sich aus der Definition S. 96 ergeben): 1. Die Analyse der beiden Konstruktionstypen muß auf gänzlich verschiedenem Niveau durchgeführt werden 2 4 ; 2. Es handelt sich um völlig unterschiedliche syntaktische Strukturen:

21 Cf. oben S. 34f. (Pichon). E. Coseriu: Das romanische Verbalsystem (Vorlesung Tübingen WS 1968/69): „Es ist gerade Bedingung der grammatikalischen Periphrase, daß das Hilfsverb entlexikalisiert ist". 22 Cf. oben S. 74f. 23 Cf. oben S. 83, Fußn. 85. Es entstehen gerade keine neuen Inhalte, sondern Modifizierungen von alten und als solchen im Lexikon weiterbestehenden, cf. unten S. 197. 24 Cf. dazu S. 25, 6 8 - 7 0 , 7 4 - 7 5 .

97

legen einige Kriterien zur Unterscheidung nahe. Zur Unterscheidung dieser beiden Verwendungstypen 25 werden drei Arten von Kriterien vorgeschlagen 26 : 1. semantische (am häufigsten) 2. paradigmatische 3. syntaktische (meist sehr differenziert formuliert und brauchbar). 0.4.1.1. S e m a n t i s c h e

Kriterien

Am weitaus häufigsten werden Hilfsverben als „leer" definiert, und dementsprechend ist das häufigstgenannte Kriterium zur Erkennung der Periphrasen ihr B e d e u t u n g s v e r l u s t . Para distinguir si un verbo estä empleado como auxiliar basta fijaise en se ha perdido su significado propio 2 7 .

Der „semantisch angegriffene Inhalt" 28 , das „effacement du sens" 29 , die „grados de vaciedad" 30 sind die einzigen Kriterien großer Arbeiten zu romanischen Verbalperiphrasen. Dieses Kriterium entspricht der richtigen Auffassung, daß die Hilfsverben, um auf die grammatikalische Ebene transponiert werden zu können, tatsächlich nur einen grammatikalisierten Inhaltszug beibehalten — das fiihrt zum negativen Kriterium der Inhaltsentleerung. Wegen seiner Verschwommenheit ist es wohl schwerlich ein aus25 Im allgemeinen handelt es sich um Kriterien zur Unterscheidung des Gebrauchs in der Rede, zur Entscheidung im Einzelfall - wo sich die Kriterien ausschließlich aufs System beziehen, merke ich das an. 26 Dazu verweise ich auf meinen Forschungsbericht, passim; eine Diskussion einzelner Kriterien findet sich bei Damourette-Pichon: Des Mots à la Pensée, Bd. 5, Karl-Hermann Körner: Die „Aktionsgemeinschaft.. .", S. 1 0 3 - 1 3 0 ; L.M.Brieërvan Akerlaken: Le p r o b l è m e . . . , passim; Henry Schogt: Les auxiliaires en français, in: La Linguistique 1968/2, S. 5 - 6 (keineswegs erschöpfend). 27 Samuel Gili y Gaya: Curso superior de sintaxis española, S. 105. In ähnlichem Sinn hatte sich bereits Rodolfo Lenz: La oración y sus partes, Madrid 1 9 2 5 2 , S. 3 8 3 - 8 4 , geäußert. Cf. Pottier, Sobre el conceptw „Los gramáticos tradicionalistas tienden a basar sus doctrinas en impresiones semánticas, a menudo bastante justas, porque dependen, más o menos directamente, de hechos formales o funcionales de la lengua". (S. 194). 28 Karl-Richard Bausch: Verbum und verbale Periphrase. 29 Georges Gougenheim: PV 30 Josep Roca Rons: Estudios sobre perífrasis verbales, ebenso in seinen Aufsätzen (cf. oben S. 31).

98

reichendes Kriterium. Es gibt einige Spezifizierungen dieses Kriteriums, die auf der Grundlage beruhen, daß sich ein Teil des lexikalischen Inhalts in einen grammatikalischen verwandelt hat: - das Prinzip der „auto-complémentation "31 z. B.: il a eu, il va aller. Wenn ein Verb zweimal innerhalb des gleichen Syntagmas gebraucht wird, so ist es nicht beide Male gleich verwendet. Das kann ein Hinweis darauf sein, daß es sich um Hilfsverbverwendung handelt, kann aber auch auf andere Bedeutungsunterschiede hinweisen, wie im Fall von Damourette-Pichons Gegenbeispiel ,j'aime aimer" 32 . Es kennzeichnet weiterhin nur eben diese Fälle als möglicherweise periphrastisch und weist auf die Möglichkeit solcher Periphrasen im System hin 3 3 , kann aber nicht zu einer Entscheidung im Einzelfall beitragen. — das Prinzip des B e d e u t u n g s w i d e r s p r u c h s 3 4 : z. B. tengo olvidado Wenn die lexikalischen Inhalte der beiden Verben einander diametral gegenüberstehen, so ist wohl das Vollverb durch das Hilfsverb grammatikalisch modifiziert und nicht lexikalisch aufgehoben. Innerhalb der semantischen Kriterien gibt es noch ein gesondertes k a t e g o r i e 11 e s Kriterium: Im Fall von „aller" (und anderen Bewegungsverben) läßt sich zum Beispiel durch Kommutation feststellen, ob dieses Verb zur Klasse der Bewegungsverben gehört und durch sie austauschbar ist. Ist auf dieser Ebene keine Kommutation möglich, gehört das Verb nicht zu dieser Kategorie — Kommutationen müssen auf anderer, eben auf grammatikalischer Ebene stattfinden 35 . Auf der Grenze zwischen Semantik und Syntax befinden sich einige Selektionsregeln der transformationeilen Grammatik: Maurice Gross schlägt zum Beispiel vor, die beiden Klassen V-mt und Aux dadurch zu unterscheiden, daß fur V-mt zusätzlich folgende Restriktionsregeln gelten: nicht kombinierbar mit „avoir peur/fini"; nicht kombinierbar mit „sujets inanimés", die beide nicht für Aux zutreffen 3 6 . 31 Dieses Kriterium wird von Damourette und Pichon, Des Mots à la Pensée, Bd. 5. diskutiert und abgelehnt. Maurice Gross: Grammaire transformationnelle du français - syntaxe du verbe, Paris 1968, S. 13, arbeitet wieder damit. 32 Damourette-Pichon, Des Mots à la Pensée, Bd. 5, § 1601. 33 Der Vorgang wäre folgender: in gewissen Fällen „il va aller" liegt nicht wörtliche Bedeutung vor, diese Möglichkeit existiert also - andere Fälle entsprechen möglicherweise. 34 In dieser Form bei Chmelicek: S. 19-20; M.J. Siebenschein: Aller + infinitive in Middle French, in: Studia Neophilologica 26 (1953/54), S. 115-126. 35 Cf. oben: Flydal und Diskussion dazu, S. 7 4 - 7 5 . Dubois: La phrase et les transformations, Paris 1969, bestimmt ein Verb als Vollverb, wenn es einer lex. Klasse zugehörig ist, S. 115. 36 M. Gross, S. 13-14; ebenso J. Dubois, La phrase, S. 115.

99

0.4.1.2. P a r a d i g m a t i s c h e

Kriterien

Eine Reihe von Kriterien beziehen sich ausschließlich auf den Platz der Verbalperiphrasen im System. Obwohl das gelegentlich behauptet wird, können sie nicht darüber entscheiden, ob eine Verbindung periphrastisch oder wörtlich gebraucht ist, sondern nur ob die Periphrase einen Platz im System hat. Zwei Kriterien liegen vor: —Systembezug durch Oppositionen Dieses Kriterium zur Bestimmung der Grammatikalität (eben im Sinn von Systemhaftigkeit) wird immer wieder von Damourette und Pichon angewandt 37 . Es wird aber auch in Verbindung gebracht mit anderen Kriterien, die nicht über die Grammatikalität, sondern über den Periphrasencharakter entscheiden sollen 38 . - Kriterium der D e f e k t i v i t ä t Es scheint mir, als handle es sich um die Übertragung des Hilfsverbbegriffs aus den germanischen Sprachen aufs Romanische. Im Deutschen wiesen einmal bestimmte Verben (Präteritopräsentia) mit modaler Bedeutung Besonderheiten der Flexion auf, im Englischen ist die Klasse der Modalverben noch heute durch besondere Defektivitäten gekennzeichnet (keine zusammengesetzten Zeiten, ohne „to", ohne Umschreibung mit „to do" usw.). Mit den romanischen Verbalperiphrasen hat das jedoch wenig zu tun. Die Periphrase ,ßller + Inf." durch ihre NichtKombinierbarkeit mit anderen Tempora als dem Präsens und dem Imperfekt bestimmen zu wollen, erscheint mir wenig glücklich 39 . Ein Kriterium, das die paradigmatischen Verhältnisse betrifft, ist allerdings noch hinzuzufügen: In dem Fall daß eine materielle Variante für die Hilfsverbfunktion eingeführt wird, ist die Trennung zwischen den beiden Verwendungsarten deutlich vollzogen. Dieser Fall ist zum Beispiel beim katalanischen Präteritum gegeben 40 . 0.4.1.3. S y n t a k t i s c h e

Kriterien

Diesen Kriterien liegt die Voraussetzung zugrunde, daß die beiden kombinierten Verben in der Verbalperiphrase nicht im Verhältnis von Satz-

37 Z.B. E. Pichon: De l'accession du verbe „aller"; Damourette-Pichon: Des Mots à la Pensée, t.5, passim. 38 L.M. Brieër-van Akerlaken, S. 217. 39 Henry Schogt, Les auxiliaires en français, „Le critère qui mène aux meilleurs résultats est celui des restrictions paradigmatiques. . . " (S. 19). Das zu glauben, fällt besonders im Vergleich mit den anderen romanischen Sprachen schwer. Ähnlich M. Gross, S. 14, und im Anschluß daran J. Dubois, La phrase, S. 115. 40 Die Formen vareig, varem usw. sind auf die Hilfsverbverwendung spezialisiert.

100

teilen zueinander stehen (das Vollverb ist nicht etwa das Objekt des Hilfsverbs, wie in älteren Grammatiken behauptet wurde), sondern daß sie gemeinsam funktionieren (wobei das eine das andere grammatikalisch modifiziert) und eine einzige syntaktische Funktion gemeinsam wahrneh41

men . Ein erstes aus dem Vorhergehenden abgeleitetes Kriterium, das des s y n t a k t i s c h e n Z u s a m m e n r ü c k e n s , ist wenig schlüssig, da die Teile einer Periphrase keineswegs immer unmittelbar nebeneinanderstehen müssen 4 2 . Eine ganze Gruppe von Kriterien, die sehr gut formuliert und an Beispielen erläutert worden sind, beruhen auf dem Prinzip des gemeinsamen syntaktischen Funktionierens: En otros términos, para que los verbos mencionados formen perífrasis, ellos n o d e b e n t e n e r c o m p l e m e n t o p r o p i o , ni expreso ni contextual. Y, naturalmente, la palabra o las palabras con las que se hallan en construcción no deben constituir, precisamente, su complemento 43 . Diese Bedingung, daß das Hilfsverb keine eigenen Bestimmungen haben kann, muß im weitesten Sinn verstanden werden: - Das Subjekt ist für die beiden Verben das gleiche 4 4 . — Das gesamte verbale Syntagma selektioniert die Objekte. Diese Zugehörigkeit zum Gesamtsyntagma kann (muß aber nicht) sich in der Stellung des tonlosen Objektspronomens zeigen 4 s .

41 Dieses Unterscheidungsprinzip ist auch in Matthies (Die aus den intransitiven Verben der Bewegung...) Forderung nach der Unterscheidung nach dem „Mitteilungsziel" enthalten. 42 Dieses Kriterium wird von Josep Roca Pons (vielleicht in Anlehnung an Hanssen) in seinem Artikel: Estar + gerundien català antic, in: Estudis Romànics 8 (1961), S. 189-193: „Finalment, quan eis dos elements están junts i s'ha perdut el sentit locatiu, ens trobem ja, en general, davant la perífrasi durativa". (S. 190). 43 Eugenio Coseriu: Sobre las llamadas „Construcciones con verbos de movimiento": un problema hispánico, Montevideo 1962, S. 7. Ähnlich hatten sich bereits Damourette und Pichón ausgesprochen: Des Mots à la Pensée, t. 5, § 1605: „II semble que le meilleur critère de l'auxiliaire soit le fait que les compléments fixant les circonstances du phénomène se rapportent à l'auxilié et non pas à 1' auxiliaire." 44 So Pottier: Sobre el concepto de verbo auxiliar, S. 199; Ruwet: Le constituant „auxiliaire". ..: „Notons que ( . . . ) des restrictions comparables devront être formulées au sujet de certains autres pseudo-auxiliaires, de façon à exclure, par exemple, *je vais que tu chantes, "j'ai failli que tu meures, *i'ai fini que tu travailles, etc." ( S. 121); ebenso Dubois, S. 115. 45 Dieses Kriterium wurde fürs Spanische vorgeschlagen von Lenz, S. 304, und Chmeliéek, S. 21. Die Beweiskraft wurde von Körner, S. 108-112, angezweifelt: Zwar sei die proklitische Stellung im allgemeinen der Periphrasenverwendung vorbehalten, die enklitische Stellung sage aber gar nichts aus. 101

— Adverbielle Bestimmungen determinieren das VoUverb 4 6 . Eine letzte Gruppe von Kriterien sind sogenannte „ t r a n s f o r m a t i o n s d i s c r i m i n a t i v e s "47. — Passivtransformation: Sie ist nur möglich, wenn ein direktes Objekt vorliegt. Da aber das Vollverb gerade nicht das Objekt des Hilfsverbs ist, ist die Passivtransformation nicht möglich 4 8 . Allerdings ist damit nur ausgesagt 49 , daß das Vollverb nicht das direkte Objekt des Hilfsverbs ist und nichts mehr 50 . — Unselbständigkeit des Hilfsverbs: Das Hilfsverb ist nicht prädikativ — es kann ohne das Vollverb, das von ihm grammatikalisch modifiziert wird, nicht stehen. Im Fall der Periphrasenverwendung sind Reduktionen zum Beispiel auf * , j ' y vais" nicht möglich 5 1 . — Substitutionen der Form „esta y dice": Wenn solche Substitutionen möglich sind, liegt Vollverbgebrauch vor 5 2 . Die letztgenannten Kriterien sind natürlich nichts anderes als praktische Explizitierungen des Prinzips, daß die Hilfsverben keine eigenen Ergänzungen haben, und daß sämtliche syntaktischen Bestimmungen das Vollverb betreffen. Liegt dagegen die Verbindung „Vollverb + Vollverb" vor, so ist die syntaktische Struktur völlig verschieden, und diese unterschiedliche Struktur wird durch die vorgeschlagenen Substitutionen verdeutlicht. Mir erscheint es günstig, den letzten, von Pottier vorgeschlagenen Typ von Substitutionen noch für die einzelnen Fälle auszubauen. Im Fall von , j e

46 In diesem Sinne: Chmeli&k, S. 20, Brieér-van Akerlaken, S. 216, und viele andere. Cf. dazu Pottier, Sobre el concepto: „Es preciso distinguir claramente entre estos dos tipos de construcciones: A - estoy para decirlo a tu padre; B vengo para decirlo a tu padre. Advirtamos que en el caso (B) se queden realizar distintas modificaciones sin que el sentido cambie: „vengo acá para decirlo a tu padre", mientras que no se puede decir, sin que cambie totalmente el valor de estar, „estoy aquí para decirlo a tu padre"."(Zahl der Beispiele von mir verringert, S. 195). 47 Zu diesem Verfahren, cf. Körner, S. 109. Wohl ist dieses Verfahren von dem mit dem gleichen Terminus bezeichneten in der transformationellen Grammatik zu unterscheiden. Obwohl das Verfahren mit solchen Ersetzungen altbekannt ist, hat aber doch die transformationelle Grammatik nicht unwesentlich zu ihrem Ausbau beigetragen, cf. oben S. 71 und die hier erwähnten Vorschläge von Gross, Dubois und Ruwet. 48 Dieses Kriterium wurde vorgeschlagen von Elisabeth Douvier: Le verbe auxiliaire espagnol, in: Bulletin des Jeunes Romanistes 1964, S. 23-30. 49 Wie Körner, S. 113, anmerkt. 50 Elisabeth Douvier kommt auch aufgrund ihres Kriteriums zu dem befremdlichen Schluß: „Les verbes B „a comer", „comiendo" n'ont done point une funetion d'objet, mais une fonetion que nous qualifierons de „circonstant"." (S. 25). 51 Vorgeschlagen von L.M. Brieer-van Akerlaken: S. 212. 52 Vorgeschlagen von B. Pottier, Sobre el concepto, S. 198, übernommen von E. Douvier, S. 23.

102

vais cueillir des fleurs" beispielsweise sind eine Reihe von Ersetzungen möglich, die die verschiedenen potentiellen syntaktischen Beziehungen erhellen: „Je vais à la récolte des fleurs" (lokale Bestimmung) „Je m'en vais pour, afin de cueillir des fleurs" (final) „Je m'en vais, et je cueillirai des fleurs" (Koordination) Sollten sich all diese Substitutionen, die syntaktische Relationen durchsichtig machen, als unmöglich erweisen, so liegt eine Verbalperiphrase vor, deren Wesen gerade in der grammatikalischen Modifikation, nicht in der syntaktischen Relation liegt. 0.4.2.

K o n s t i t u i e r e n d e B e s t a n d t e i l e der

Periphrasen

0.4.2.1. H i l f s v e r b e n Es muß zunächst hervorgehoben werden, daß es nicht möglich ist, die Verben einer Sprache in Hilfsverben und Vollverben einzuteilen 53 . Es ist vielmehr in den untersuchten Sprachen so, daß eine Gruppe von Verben sowohl als Hilfsverben als auch als Vollverben funktionieren kann, und daß im konkreten Redefall unterschieden werden muß — nach den oben diskutierten Kriterien —, um welche Verwendung es sich handelt. Diese Hilfsverben tragen nun durch ihren lexikalischen Inhalt, der auf die grammatikalische Ebene transponiert ist, bei zur Gesamtfunktion der Periphrase 54 . In den romanischen Sprachen treten folgende Verben als Hilfsverben auf 55 :

habere, teuere mit der grammatikalischen Bedeutung der Zugehörigkeit: — Zugehörigkeit zu einem Zeitraum

he de escribir — Besitz eines Ergebnisses. Bewegungsverben mit einem bestimmten grammatikalisierten Richtungsbegriff, ohne konkrete Bewegung:

vre (vadere) x



futurisch progressiv in Richtung Futur

53 Cf. oben S. 72, unten S. 103f. 54 Cf. dazu oben S. 3 4 - 3 5 , 7 2 - 7 3 . 55 Bei der Besprechung der Hilfsverben folge ich im wesentlichen Coseriu: Das romanische Verbalsystem (Vorlesung Tübingen, WS 1968/69).

103

venire x

progressiv bis zu einem Punkt egressiv

andare /VWVW\/->

56 keine zielgerichtete Bewegung56

sequi

Kombination von ire und venire

stare

Zustand ohne Bewegung statische Schau Blick auf noch nicht begonnene Handlung Blick auf bereits abgeschlossene Handlung Die weitere Determination erfolgt durch die kombinierte infinite Form.

Verben, die „nehmen", „anfassen" bedeuten57 Verben, die Beginn, Fortsetzung oder Beendigung

beinhalten58

0.4.2.2. G r a m m a t i k a l i s c h e

Vollverben

Form der

Die grammatikalische Gestalt der infiniten Form trägt zur Gesamtbedeutung der Verbalperiphrase bei 59 und zwar dergestalt, daß sie die im Hilfsverb angelegte Bedeutung in einer bestimmten Weise festlegen 60 . Bei der Beschreibung dieser Bedeutungsrichtungen können wir von Guillaumes System der infiniten Formen ausgehen 61 : to

marcher

tl

t2

tn-2

marchant

tn-1

tn

marché

Oder in Pottiers Anwendung auf die Verbalperiphrasen 62 :

56 Bei den Sprachen, die den Unterschied zwischen ire und andare nicht machen, sind diese Funktionen nicht getrennt: das einzige Verb hat dann einfach progressive Funktion, cf. unten S. 209. 57 Cf. dazu Coseriu: Tomo y me voy (cf. oben S. 26-28). 58 Cf. dazu unten S. 109-110. 59 Cf. dazu oben S. 7 2 - 7 3 . 60 Cf. dazu oben S. 96. 61 Guillaume: Temps et Verbe, S. 18. 62 Pottier: Sobre el concepto, S. 199.

104

En oposición con el participio hecho, que señala et término, y con el gerundio haciendo, que expresa el desarrollo, el infinitivo hacer evoca la posibilidad del desarrollo; es el verbo todavía no instalado en el proceso: hecho

haciendo

hacer \)

Gerundium: Partizip: Infinitiv:

Ablauf, Gleichzeitigkeit, Unabgeschlossenheit; Abgeschlossenheit Potentialität Aber auch ideelle Bedeutung des Verbs und somit neutrales Glied in dieser Reihe: INF

GER +

pp

+

Der Infinitiv kann also auch in manchen Fällen für die beiden anderen infiniten Formen eintreten 6 3 . 0.4.2.3.

Verbindungselement

In manchen Periphrasen sind Hilfsverb und Vollverb durch ein Element verbunden. Es kann bedeutungstragend sein: per: Richtung auf de: Richtung von a: Verhältnis Die ideale Systembedeutung einer Verbalperiphrase resultiert aus den drei angeführten Elementen, aber als einheitliche Bedeutung. Es ist nicht nötig, daß alle drei Elemente zusammentreten: die Periphrasen ohne Verbindungselement sind sehr häufig und im Fall der kopulativen Periphrasen ist sogar nur das Hilfsverb ausschlaggebend. 0.4.3.

Kombinatorik

Wenn die ideale Funktion einer Periphrase festgestellt und diese durch Analyse in der vorausgehend besprochenen Weise erklärt ist, so wird die nächste Aufgabe darin bestehen, die Kombinatorik einer solchen Verbalperiphrase zu untersuchen. Es ist eine Stufe der Untersuchung, die der distributionellen Analyse in der Phonologie ähnlich ist, mit dem Unterschied allerdings, daß es sich um Kombinationen von Bedeutungen handelt. Die Periphrasenbedeutung verbindet sich ja in der Realisierung untrennbar (wohl analysierbar, aber zu Morphemen, die nicht allein stehen können) mit zwei Elementen: 63 So zum Beispiel für eine abgeschlossene Handlung: acabar de usw., aber auch für den ganzen Bereich des Gerundiums im Portugiesischen.

105

1. dem Morphemkomplex des Hilfsverbs, das Tempus-, Modus- und Personbestimmungen enthält; 2. einem Semantem, das einer bestimmten inhaltlichen Klasse angehört. Untersuchen wir zuerst das Verhalten dieser beiden Faktoren zueinander in einfachen Verbalformen. Es gibt Selektionserscheinungen zwischen den beiden Elementen, die sich in zweierlei Hinsicht äußern können: 1. Es wäre denkbar, daß die grammatikalische Bedeutung und die lexematische Klassenzugehörigkeit sich völlig ausschließen — ein solcher Fall ist mir im Bereich der einfachen Formen in den romanischen Sprachen nicht bekannt. 2. Es ist möglich, daß die beiden Bedeutungen sich wohl kombinieren lassen, daß dadurch aber eine Redebedeutung des betreffenden Tempus entsteht, die eine logische Folge aus der Kombination der beiden Elemente ist 6 4 . Im Fall der periphrastischen Formen tritt dreierlei zusammen: 1. die „ideale" Periphrasenfunktion, 2. die grammatikalischen Funktionen, wie sie im Hilfsverb enthalten sind: Tempus, Modus, Person, 3. die Lexemklasse. Zweckmäßigerweise wird man die Restriktionsverhältnisse getrennt untersuchen für 1/2 und 1/3. Es gilt dabei genau das oben für die einfachen Formen Ausgeführte: es handelt sich um kombinatorische Bedeutungen, die das ganze Syntagma betreffen und nicht über die paradigmatisch festgestellte Gesamtfunktion hinausgehen, sondern sich innerhalb dieser interpretieren lassen. Diese Kombinationsregeln können entweder für die zugrundeliegenden Bedeutungselemente signifikant sein 65 oder aber einfach Tatsachen, die der Norm angehören 66 . Für beide zu untersuchenden Kombinationsklassen (1/2 und 1/3) stellen sich jeweils folgende Fragen:

64 Zum Beispiel: Die Kombination von Imperfekt und zyklischen Verben (des ersten Typs, cf. oben S. 8 5 - 8 6 : levantarse) wird als Iterativ aufgefaßt - das Imperfekt ändert dabei nicht seine Bedeutung, wie manchmal angenommen wird, sondern es handelt sich um eine Möglichkeit, die in der Gesamtfunktion Imperfekt enthalten ist und gerade nur diese Kombination betrifft. 65 Was den Interpretationsprozeß angeht, so lassen solche Restriktionen unter Umständen sogar Intuitionen über die Funktionen von Tempora oder das Bewußtsein von lexikalischen Klassen innerhalb einer Sprache zu. 66 Solche Restriktionen in der Norm sind etwa die Beschränkung von „aller + Inf." auf Präsens und Imperfekt im Franz., des Surcomposé auf die gleichen Tempora im Franz.

106

1. T o t a l e R e s t r i k t i o n e n : Gibt es totale Restriktionen? Gibt es Tempus-(Person-, Modus-)Morpheme oder lexikalische Klassen, die sich mit einer bestimmten Periphrase unter keinen Umständen verbinden lassen? Handelt es sich dabei um logische Restriktionen oder um Restriktionen in der Norm? 2. F r e q u e n z : Gibt es präferentielle Restriktionen? Kommt eine Periphrase mit einem Tempus (usw.) oder einer lexikalischen Klasse wesentlich häufiger (oder wesentlich seltener) vor als mit anderen? — Wenn es solche Präferenzen gibt, beruhen sie auf einer logischen Wahrscheinlichkeit oder auf der Norm (die natürlich ihrerseits auf der logischen Wahrscheinlichkeit beruhen kann) 6 7 ? — Haben diese Präferenzen etwas zu tun mit den — gesondert zu behandelnden — Bedeutungsänderungen? 3. B e d e u t u n g s v e r ä n d e r u n g e n : Welche Redebedeutungen entstehen bei solchen Kombinationen? — Geht die Norm in dieser Hinsicht über das logisch Erklärbare hinaus? 0.4.4.

Syntaktische

Kombinatorik

Einen weiteren Untersuchungsgegenstand müssen die syntaktischen Kombinationen bilden. Sie unterscheiden sich von den im Vorhergehenden besprochenen innersyntagmatischen Kombinationserscheinungen durch zweierlei: 1. Die Grenze des Syntagmas wird überschritten. 2. Die syntaktischen Kombinationen sind nie bedeutungsverändernd 6 8 . Es handelt sich im untersuchten Fall um Konstellationen 6 9 , das heißt die Übereinstimmungen sind weder in einer Richtung noch auch reziprok gebunden 7 0 .

67 Die Präferenzen müssen natürlich gesehen werden im Zusammenhang mit der absoluten Frequenz der einzelnen Tempora usw. 68 Das trifft auch zu für Metaphern, die resultieren aus dem Fehlen von solchen Harmonisierungen: Er starb morgen. 69 Es handelt sich um den Begriff von Hjelmslev für Funktionen, die in keiner Richtung determiniert sind. 70 Selbstverständlich sind im grammatikalischen Bereich auch Selektionen und Solidaritäten denkbar: Selektion: sine + Ablativ im Lateinischen. Eine Solidarität läge vor zwischen Personalpronomen und Verbalendung im Französischen. Im Fall der Verbalperiphrasen wird es sich weitgehend um Konstellationen handeln: „durante + Subst." tritt üblicherweise mit „estar + Ger." zusammen, das Auftreten des einen Elements ist aber nicht ans Auftreten des andern gebunden. 107

Die Untersuchung solcher außersyntagmatischen Harmonisierungserscheinungen müßte noch wesentlich ausgeweitet werden 7 1 . In unserem Fall sollte also die Untersuchung nicht Halt machen bei der Bestimmung der Funktion der Periphrase und ihren verschiedenen kombinatorischen Redebedeutungen, sondern auch solches syntaktisches Übergreifen miteinbeziehen. Es wird sich handeln um die Untersuchung der Konstellationen zwischen dem verbalen Syntagma (in seinen verschiedenen Elementen) und 1. Adverbien 2. Satztypen — Damit meine ich zunächst die Frage, ob eine Periphrase etwa oft in der Subordination auftritt. — Eine weitere Frage wird dann die nach der Fixierung auf durch bestimmte Konjunktionen eingeleitete Sätze sein 72 . Das Funktionieren einer Periphrase ließe sich also, wenn man alle besprochenen Beziehungen berücksichtigt, schematisch folgendermaßen darstellen:

Satzt;

Adverb

Syntagma

Eine Untersuchung zu den Verbalperiphrasen wird also die drei genannten Arten von Beziehungen berücksichtigen müssen. Es sei noch abschließend auf zwei Fragenkomplexe hingewiesen: 0.4.5.

Grammatikalisierung

Häufig wird in den vorliegenden Untersuchungen mit dem Begriff der Grammatikalisierung gearbeitet. Dieser Begriff wird in viererlei Hinsicht gebraucht: 71 Die erste große Untersuchung in dieser Richtung ist die von Arne Klum: Verbe et adverbe, Upsala 1961. Die transformationeile Grammatik hat ebenfalls, aufgrund des Prinzips der einfachsten Beschreibung, auf solche Erscheinungen hingewiesen (Weinrich: „transfer features"; Ruwet: Beschreibung des Surcomposé als „constituant continu" aus „Adverb + Verb", „Auxiliaire", S. 113). Die ganzen unter „accord" und „compatibilités" zusammengefaßten Erscheinungen gehören in diesen Zusammenhang. 72 Eine Untersuchung in diesem Sinne liegt für ein Gebiet des Katalanischen vor: Magnus Berg: Note sur quelques conjonctions de temps en catalan moderne, in: Etudes Blinkenberg, S. 15-25.

108

1. Historisch: In dieser Hinsicht wird damit manchmal die Tatsache bezeichnet, daß eine Periphrase für eine einfache Form eingetreten ist. 2. Historisch: Die Grammatikalisierung kann analog zur Phonologisierung als Eintreten in einen oppositiven systematischen Zusammenhang verstanden werden 73 . 3. Es wird synonym gebraucht als Bezeichnung für die Entlexikalisierung des Hilfsverbs. 4. Es wird gebraucht als Bezeichnung für das Maß der Verfügbarkeit einer Periphrase. Wenn eine Periphrase potentiell mit allen Verben kombinierbar ist, gilt sie als grammatikalisiert. Ad 1. Die Frage der Ersetzung des materiellen Ausdrucks einer Funktion durch einen anderen Ausdruck wird uns in Einzelfällen beschäftigen, ist aber für unsere Auffassung der Grammatikalisierung irrelevant. Es können ja neue Kategorien entstehen, die deshalb nicht weniger Bestandteile der Grammatik sind. Ad 3. Innerhalb der romanischen Periphrasen lassen sich tatsächlich d r e i G r a d e der Entlexikalisierung feststellen. Anders gesagt: Der Unterschied zwischen der Verwendung als Vollverb und der als Hilfsverb kann drei verschiedene Formen haben. Ausgehend von der Definition der Verbalperiphrase als syntaktischer Einheit, die nur in einer Morphemanalyse und schließlich einer Analyse in Inhaltszüge weiter zerlegt werden kann: HV

(A)



(V)

,

+ W

• Syntax

lassen sich die folgenden drei Typen feststellen: 1. A enthält genau die gleichen inhaltlichen Züge in seiner Verwendung als A wie auch in seinem Gebrauch als Vollverb, z.B. commencer, continuer usw. Die beiden möglichen Interpretationen A

+

Objekt (= V )

A

+

V

= S y n t a g m a (im angenommenen Sinn)

73 In diesem Sinn und in bewußter Analogie zu den Begriffen der historischen Phonologie wurde der Begriff von F.R. Adrados verwendet: Gramaticalizaciôn y desgramaticalizaciön, in: Homenaje Martinet 3, S. 5 - 4 1 .

109

sind gleichermaßen annehmbar 74 . Das hindert nicht, daß diese Art von Periphrasen der normale und geläufige Ausdruck für „Anfang" usw. sein können 75 . 2. A in seiner Hilfsverbverwendung verliert alle Seme bis auf das eine, das (in Verbindung mit der grammatischen Form von V) ein grammatisch unterscheidender Zug wird. Die Ähnlichkeit zwischen dem Lexem und dem Hilfsverb A besteht gerade in einem Inhaltszug, der einmal zusammen mit anderen die Bedeutung des Vollverbs konstituiert und das andere Mal innerhalb einer grammatikalischen Kategorie unterscheidende Funktion hat, z. B. estar, ir, andar76. 3. Das Hilfsverb hat mit einem (noch oder nicht mehr existierenden) Vollverb keinen Inhaltszug mehr gemeinsam. Was den beiden (möglicherweise in gleicher Form existierenden) Verben gemeinsam ist, ist lediglich die Einheit der Kategorie „Verb", das heißt das HV ist nur Morphemträger, ohne zur Bedeutung der Periphrase etwas beizusteuern, was mit seiner Lexembedeutung zu tun hat. Vollkommen entlexikalisierte Periphrasen sind deshalb auch nicht zweideutig, weil kein Zusammenhang mehr zu einem Vollverb besteht, z. B. hé escrito (das zugehörige Vollverb ist nicht mehr lebendig, da durch tener ersetzt), vaig cantar11. Ad 4. Die Verfügbarkeit der Periphrasen (und damit ihr Eingehen in die Grammatik als Element innerhalb einer finiten Anzahl von Elementen zur Modifizierung einer infiniten Anzahl von zu modifizierenden Elementen) ist bei allen drei oben besprochenen Graden der Entlexikalisierung gleich groß (wenn man absieht von kombinatorischen Bedeutungsveränderungen, die ja aber auch bei einfachen Formen auftreten) 78 . 74 Ein Fall, in dem die Entscheidung schwer fällt, ist zum Beispiel der von „acabar de + Inf." im Span.: ,.Advirtamos que „acabar de decir" se refiere a la terminación del proceso, porque acabar impone su sentido al grupo verbal (. ..). Estamos asistiendo a la gramaticalización de este giro." (Pottier, Sobre el concepto, S. 201). 75 Sie können somit auch in Opposition zu anderen (weiter „grammatikalisierten") Periphrasen stehen. Allerdings beruht ihr Funktionieren auf einer Addition der Teile, nicht auf ihrem Produkt auf einer anderen Ebene. Die Beantwortung der Frage, ob diese Periphrasen grammatikalisch sind, kommt also ganz auf die Fragestellung an. 76 Diese Gruppe wird uns hauptsächlich interessieren. Sie ist gerade ambivalent, cf. oben S. 98-103; sie ist auch aufgrund der latenten Verbindung zum Lexikon stets für Neubildungen offen (durch Rekurs aufs Lexikon und das Bewußtsein der Ähnlichkeit), cf. oben S. 3 1 - 3 2 . 77 In diesem Fall können auch morphologische Differenzierungen vorliegen, die auf die Zusammenhangslosigkeit von Hilfsverb und Vollverb der gleichen Form verweisen, wie z. B. die Einführung von Sonderformen im periphrastischen Präteritum des Katalanischen zeigt, cf. oben S. 100. 78 Cf. oben S. 105-106.

110

0.4.6.

Stilistische Verwendung-Platz

im

System

Ein weiterer Hinweis, den wir in den bisherigen Erörterungen zu Verbalperiphrasen häufig finden 7 9 , ist die Einordnung ganzer Periphrasen oder einzelner Verwendungsarten als „stilistische Varianten". Es ist hier nicht der Platz, eine umstrittene Stildefinition zu erörtern. Es sei einzig darauf hingewiesen, daß man, wenn man von einer Arbeitsdefinition als „Ausnützung von sprachlichen Wahlmöglichkeiten" ausgeht, von einem solchen Vorhandensein von Wahlmöglichkeiten in Hinsicht auf die Periphrasen in zweierlei Weise sprechen kann: 1. Der Unterschied zwischen einer Periphrase und einer einfachen Form kann unter Umständen rein k o n n o t a t i v sein, das heißt keine der beiden Formen enthält ein denotatives Mehr — eine der beiden verweist lediglich auf ein anderes Niveau der Spracharchitektur 80 . Das gilt zum Beispiel im Fall der Wahlmöglichkeit zwischen einfacher und periphrastischer Form des Präteritums im Katalanischen 81 . 2. Der Unterschied zwischen den beiden Formen 82 betrifft die Denotation: die Periphrase enthält gegenüber der einfachen Form ein funktionelles Mehr. Es handelt sich aber nicht um einen funktionellen Unterschied, der in allen Fällen gemacht werden muß (oder nur ausnahmsweise in Neutralisationen aufgehoben wird), sondern um eine Opposition, die ausgedrückt werden kann; um einen zusätzlichen Unterschied, der gemacht werden kann, nicht gemacht werden muß. In dieser Hinsicht kann man die Periphrasen in gewissen Fällen als H y p o - E i n h e i t e n bestimmen 83 . Das trifft meiner Ansicht nach etwa zu bei einem bestimmten Entwicklungsstadium der Kategorie der Schau 8 4 . Wenn also bei der Verwendung von Periphrasen Wahlmöglichkeiten bestehen, so kann es sich um solche von den beiden besprochenen Arten handeln, die zu trennen sind.

79 So besonders: A. Alonso, Sobre métodos, cf. oben S. 24; Harri Meier: Está enamorado - anda enamorado. Über die Beziehungen von Syntax und Bedeutungslehre, in: VKR 6 (1933), S. 301-306. 80 Cf. oben S. 95. 81 Cf. unten S. 124. 82 Was diese Erscheinung angeht, so würde man allerdings nicht von einer stilistischen Verwendung sprechen. 83 Diesen Terminus übernehme ich von Coseriu, der ihn (in seinen Tübinger Vorlesungen) definiert in Opposition zu den Archi-Einheiten: Bei diesen handelt es sich darum, daß Unterschiede, die normalerweise gemacht werden, auch nicht gemacht werden können, bei den Hypo-Einheiten dagegen darum, daß Unterschiede gemacht werden können, die normalerweise nicht gemacht werden. 84 Cf. unten S. 199.

111

1.

D A S VERBALSYSTEM DES OKZITANISCHEN U N D DES KATALANISCHEN

Da das Hauptgewicht unserer Darstellung auf den Verbalperiphrasen liegen soll, da weiterhin zahlreiche Untersuchungen zum romanischen Verbalsystem vorliegen 1 , können wir die Darstellung der Haupttempora und ihrer Funktionen sehr knapp halten. Im wesentlichen werde ich mich darauf beschränken können, Abweichungen in der Norm der beiden Sprachen, was Frequenz und Redebedeutungen angeht, anzuzeigen. Was die Beschreibung der Funktionen angeht, so wird man so verfahren müssen 2 , daß man eine Funktion in unterscheidenden Zügen beschreibt und weiterhin ihre merkmallose und ihre merkmalhafte Verwendung unterscheidet. Die Redebedeutungen lassen sich dann folgendermaßen ordnen: 1. Merkmalhafte Verwendung — Charakterisierung der merkmalhaften Bedeutung — und der kombinatorischen Redebedeutungen (mit Verbklassen) - es muß nämlich genau unterschieden werden zwischen den Restriktionen und den resultierenden Redebedeutungen, die in merkmalhafter Verwendung vorkommen, und anderen. 2. Merkmallose Verwendung — im allgemeinen, das heißt, ohne den unterscheidenden Zug, der die merkmalhafte Verwendung ausmacht; — im Neutralisationsfall; eben aufgrund dieses fehlenden unterscheidenden Zuges kann ja das Archimorpherti für die anderen, die durch diesen betreffenden unterscheidenden Zug sich unterscheiden, eintreten 3 . In all diesen Fällen gelten nicht die Restriktionen, die für die Verwendung als merkmalhaftes Glied wirksam sind. 3. Metaphorische Verwendung Es handelt sich um Verwendungsweisen, in der Kontext und verwandtes Tempus in Widerspruch stehen; anders ausgedrückt: die Ersetzung der Funktionen erfolgt in einer Richtung, in der eine Neutralisation unmöglich ist 4 oder zwischen Gliedern des Systems, die nicht in einfacher

1 Cf. dazu Forschungsbericht S. 5 0 - 6 6 . Ich gehe von der Annahme eines in allen romanischen Sprachen gleichartigen Verbalsystems aus, was die Grundoppositionen, die realisierten Kategorien und die Reihenfolge der Wichtigkeit dieser Kategorien angeht. 2 Ich erläutere hier das Verfahren für die Grundtempora - es wird sich bei der Besprechung der kleineren Untersysteme wesentlich vereinfachen. 3 Zur Frage der Neutralisierungen im Verbalsystem cf. Roman Jakobson: Zur Struktur des russischen Verbums, in: Charisteria G. Mathesio, S. 7 4 - 8 4 . 4 Cf. dazu oben S. 94, Fußn. 18.

112

Opposition stehen 5 . Ob solche metaphorischen Verwendungen okkasionell sind oder in der Norm Bürgerrecht haben, entscheidet darüber, ob sie in den „Redebedeutungen" aufgeführt werden 6 . 1.1.

Präsens

muß kombiniert werden mit: kann kombiniert werden mit:

Person Modus Perspektiven Aspektkategorien

enthält in merkmalloser Verwendung nur den Zug „ V e r b a 1 i t ä t " (in Kombination mit Person), der alle verbalen Satzfunktionen ermöglicht: Vereinigung mit Satzmorphemen (damit Zentrum des Satzes in syntaktischer Hinsicht); Selektion von Objekten und Bestimmungen; Akkordierung mit dem Subjekt; Prädikation. In einem sehr weiten Verständnis: Der Zug „Verbalität" ermöglicht die Bildung von Sätzen aus inaktuellen Lexikoneinheiten, Aktualisierung 7 . merkmalhafter Verwendung zusätzlich zum Zug „Verbalität": den Zug „ P r ä s e n s " , durch den es in Opposition steht zu Einheiten, die den Zug „Vergangenheit" oder „Futur" aufweisen; den Zug „ a k t u e l l " , durch den es in Opposition steht zum Imperfekt („inaktuell"). Diese Züge des charakterisierten Präsens lassen sich folgendermaßen darstellen: aktuell inaktuell

Retrospekt. PRÄT. +

Parallel Prospektiv PRÄSENS - 1 FUTUR + IMPERFEKT +

Redebedeutungen merkmalhaft: In diesem Fall liegt die Bezeichnung einer Handlung 8 vor, 5

Leiv Flydal erwähnt in seinem Aufsatz: Signes et symboles dans les grandeurs du plan du contenu, in: Proceedings, S. 537-546, eine Reihe von solchen „Tempusmetaphern" (Ausdruck von H. Weinrich), zum Beispiel das „imparfait de politesse". Er deutet sowohl diese Verwendungsarten als auch die Verbalperiphrasen (cf. Diskussion oben S. 74-75) als Metaphern, beachtet aber nicht, daß es sich um zwei verschiedene Phänomene handelt, einmal die Verlagerung des Niveaus der Analyse, das andere Mal die Widersprüchlichkeit zweier Elemente auf derselben Ebene. 6 Es kann sich bei dieser Aufführung natürlich nur um Typen von Redebedeutungen handeln: der Terminus „Redebedeutung" selbst impliziert ja an sich NichtAufführbarkeit aufgrund der Unendlichkeit möglicher Realisierungen in der Rede. 7 Bei der Besprechung aller künftigen Tempora, werde ich den Zug der „Verbalität" nicht mehr erwähnen; seine Gegenwart versteht sich von selbst. 8 „Handlung" steht hier der Einfachheit halber für alles, was ein Verb bezeichnen kann.

113

1. die mit dem Sprechakt zusammenfällt (mit bestimmten punktuellen Verben)9 ; 2. oder, mit der Nebenfunktion „kursiv", die aus der Unbegrenztheit des Zeitraums nach beiden Seiten herrührt, — die durativ ist (in der Kombination mit nicht-zyklischen Verben) — die iterativ oder habituell ist — in der Kombination mit allen Verbklassen, besonders den zyklischen Verben beider Typen. merkmallos: 1. als negatives Glied (also reine personalisierte Verbalität ohne die Züge, die es positiv charakterisieren)10 zur Bezeichnung .— habitueller Vorgänge11 — sogenannter „allgemeingültiger Wahrheiten" („gnomisches Präsens"). In beiden Fällen gibt es keine Beschränkungen, was die Verbklassen betrifft 12 . 2. im Neutralisationsfall: kann es zunächst für sämtliche Tempora eintreten, zu denen es in direkter Opposition steht, dann aber über diese auch für kompliziertere Einheiten, — für den Zeitraum Vergangenheit (für das Passé défini: „praesens historicum"13)', — für den Zeitraum Futur: „praesens pro futuro"; — für die inaktuelle Ebene. metaphorisch: Es gibt keine metaphorischen Verwendungen, die für das Präsens charakteristisch wären 14 . Das wird daran liegen, daß es für alle übrigen Tempora neutralisierend eintreten kann und damit der charakteristische Unterschied zwischen Neutralisierung und Metapher nicht zu überprüfen ist. Für die beiden zu untersuchenden Sprachen läßt sich für die Redebedeutungen des Präsens Folgendes sagen: 9 10 11

12

13

14

Ich gebrauche hier absichtlich „punktuell" und nicht „zyklisch", da es tatsächlich bei den beiden Präsensarten um einen Ausdehnungsunterschied geht. Es ist anzunehmen, daß der Zug „aktuell" doch auch in dieser Verwendung vorliegt, und daß sich die Merkmallosigkeit auf die Zeitopposition beschränkt. Ich möchte die habituellen Vorgänge, die etwas mit einer noch so weit ausgedehnten Gegenwart (cf. S. 113) zu tun haben, trennen von atemporalen habituellen Voigängen. Es soll nicht der Eindruck entstehen, als selektionierte die Redebedeutung die Verbklassen. Der Vorgang ist selbstverständlich genau umgekehrt. Der Eindruck entsteht durch die Beschreibung, die von den Redebedeutungen ausgeht. Es ist fraglich, ob das „praesens historicum" tatsächlich als Neutralisation aufzufassen ist, oder ob nicht doch eine Tempusmetapher vorliegt. Wegen der einfachen Opposition ist das nicht nachprüfbar. Der stilistische Wert, der möglicherweise als Kriterium zugunsten der metaphorischen Verwendung sprechen könnte, ist aufgrund der häufigen Verwendung stark abgeschwächt. Wenn man von dem problematischen Fall des „praesens historicum" absieht. 114

Okzitanisch Die Redebedeutung „praesens historicum" ist außerordentlich häufig. Das mag auch an der besonderen literarischen Situation liegen, wo doch die Wiedergabe der gesprochenen Sprache einen breiten Raum einnimmt. Gerade aus diesem Umstand ziehen sprachbewußte okzitanische Schriftsteller stilistischen Nutzen, indem sie durch den Wechsel von Vergangenheit und historischem Präsens Bewegtheit in der Erzählung erzielen: L'effect épidictique est réalisé aussi par le fameux présent historique (. . .) ou présent de narration. De cet effet l'occitan use abondamment. En deux mouvements stylistiques: 1-Passage à la présence d'une action d'abord envisagée selon son époque: 2-Présence d'abord, puis fuite vers l'époque. 15

Die Beobachtung von Camproux 16 und von Lafont, daß Präsens und Präteritum in beiden Richtungen aufeinander folgen können, spräche eher für einen metaphorischen Gebrauch in beiden-Fällen 17 . Wichtig ist die extrem große Frequenz dieser Redebedeutung des Präsens auch bei der Erklärung der okzitanischen Sonderbedeutungen der Periphrase „anar + Inf." 18 . Ebenso ist die Häufigkeit der futurischen Verwendung erwähnenswert, die auch aus den besonderen diaphasischen Gegebenheiten zu erklären sein dürfte. Allerdings entstehen durch die Verwendung keine besonderen stilistischen Effekte, was wiederum dafür spräche, daß im anderen Fall metaphorischer Gebrauch vorliegt. An dieser Stelle sei kurz erwähnt, daß der „narrative Infinitiv", besonders eingeleitet durch „de", manchmal noch verstärkt durch „zöu de" und „vague de", außerordentlich häufig vorkommt. Katalanisch Auch im Katalanischen sind praesens historicum und praesens pro futuro häufig, allerdings nicht in dem Maße wie im Okzitanischen. Erwähnenswert ist nur im Vergleich mit dem Kastilischen, daß das Präsens im Konditionalsatz vorkommen kann 1 9 , 15 Lafont, PO, S. 194. 16 Camproux, Syntaxe, S. 36/37. 17 In den Fällen, wo vom Präsens auf das Präteritum umgewechselt wird (was im Französischen nicht möglich ist), scheint mir eine andere Deutung möglich: da es sich grundsätzlich um imperfektive Handlungen im Präsens und um plötzliche komplexive im Präteritum handelt, wäre es denkbar, daß das Präsens in diesem Fall das Imperfekt neutralisiert. 18 Cf. unten S. 167. 19 Cf. Badx'a Margarit: GC, S. 419.

115

Imperfekt20

1.2.

In m e r k m a l l o s e r V e r w e n d u n g enthält es zusätzlich zur Verbalität den unterscheidenden Zug „ i n a k t u e l l " . Es steht damit zum Präsens in direkter Opposition und kann durch dieses neutralisiert werden. In m e r k m a l h a f t e r V e r w e n d u n g enthält es zusätzlich zu „inaktuell" den Zug „ P r ä s e n s " . Dadurch steht es in Opposition zu einem inaktuellen Futur, dem Konditional, und zu einer inaktuellen Vergangenheit, die nur im Portugiesischen durch ein einfaches Tempus repräsentiert ist, in allen andern romanischen Sprachen durch das zusammengesetzte Plusquamperfekt. Es ergibt sich also folgendes Strukturschema der einfachen Tempora:

PRÄTERITUM """ PQP

PRÄSENS +

FUTUR"1"

IMPERFEKT ~ KONDITIONAL"1"

Redebedeutungen merkmalhaft In dieser Hinsicht ist das Imperfekt die Bezeichnung eines verbalen Vorgangs, der nicht in Bezug zum Ich-Hier-Jetzt-Mittelpunkt des Sprechers gesehen wird, andererseits das Präsens dieser nicht-aktuellen Ebene bildet. In Hinsicht auf die Textgestaltung kann diese Inaktualität mehrfach ausgenützt werden: zur Beschreibung des Hintergrunds 21 , als deskriptives Imperfekt, als Folie, auf der sich ein plötzliches Ereignis abspielt (Inzidenzschema22 )23, zur Schaffung eines Rahmens der Erzählung (einleitendes Imperfekt).

20 Cf. Forschungsbericht oben S. 5 0 - 6 6 , besonders 6 4 - 6 5 . Die Kombinationen mit Kategorien sind die gleichen wie beim Präsens. 21 Häufig wird das Imperfekt als „temps du deuxième plan" bezeichnet (z. B. Imbs, Emploi, S. 91). Weinrich hält diese Textfunktion des Imperfekts gerade fur seine besondere Eigenschaft (Tempus, S. 15Off.). 22 Anhand des Inzidenzschemas versucht Wolfgang Pollak: Studien zum .Verbalaspekt', im Französischen, Wien 1960, das Charakteristische des Imperfekts zu erfassen. 23 Diese Textverwendungen basieren natürlich auf den Redebedeutungen, die aus der Kursivität resultieren, cf. unten.

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Was die Bedeutung angeht, so sind gerade zwei Formen der Inaktualität sehr häufig vertreten: die Vergangenheit und die Hypothese. Es kann also weder verwundern, daß das Imperfekt häufig zur Bezeichnung einer Vergangenheit24 verwandt wird, noch aber, daß es in einigen romanischen Sprachen seinen festen Platz im hypothetischen Satzgefüge hat. Andererseits impliziert die präsentische Natur des Imperfekts die NichtBegrenztheit. Das Präsens ist per definitionem nach beiden Richtungen auf der Zeitachse beliebig ausdehnbar, ebenso das Imperfekt. Daraus resultiert die Nebenfunktion der Kursivität25, die im Gegensatz steht zur komplexiven Nebenfunktion der Zeiträume, die nach einer Richtung begrenzt sind 26 . Aus dieser aus dem Zug Präsens resultierenden Nebenfunktion „kursiv" ergibt sich die Redebedeutung der Durativität, die am häufigsten als Charakterisierung des gesamten Imperfekt genannt wird. Sie kann, je nach der Kombinierung von Verbklassen zwei verschiedene Aspekte haben: — in Kombination mit nicht-zyklischen Verben und zyklischen Verben des Typs girar als duratives Imperfekt', — in Kombination mit zyklischen Verben des Typs levantarse als iteratives Imperfekt. Wenn in dieser Kombination die Interpretation als Iterativum ausgeschlossen ist, ist die Handlung nicht realisiert: es handelt sich dann um das Imperfekt „de conatu". merkmallos In diesem Fall bedeutet das Imperfekt eine Einschränkung der Realität, ohne den Zug Präsens (damit auch ohne Kursivität und die besonderen damit verbundenen Kombinationen mit Verbklassen). Es handelt sich vor allem um die Verwendung im hypothetischen Satzgefüge. Neutralisation Als zentrales Glied der inaktuellen Ebene kann das Imperfekt für sämtliche Tempora dieser Ebene eintreten: 1. für das Plusquamperfekt; Ein besonderes Kapitel, das hier zu behandeln mir richtig scheint, ist das „imparfait de rupture" oder „imparfait narratif'21. Es ist bemerkt 24 Allerdings eben nur bestimmter Arten von Vergangenheit, cf. oben und unten. 25 Cf. oben: Präsens S. 114. Cf. Coseriu, in: Diskussion zu Sabrsula, Actes Strasbourg X, Bd. 1, S. 174; en roman on exprime l'action avec des limites définies dans le temps ou sans limites, ou, pour mieux dire, l'action en dehors de son déroulement et dans son déroulement même." 26 Cf. unten passim. 27 Mit „imparfait de rupture" wird das einmalige Auftreten eines Imperfekts am Schluß einer Handlungskette bezeichnet, mit „imparfait narratif die Ausdehnung dieses Verfahrens auf eine ganze Serie von Handlungen. Cf. dazu Ernst Gamillscheg: Das sogenannte „Imparfait historique" („imparfait de rupture"), in: Fs. Klemperer, S. 271-275; Charles Muller: Pour une étude diachronique de l'imparfait narratif, in: Mél. Grevisse, S. 253-269.

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worden, daß im Französischen der schnelle Abschluß einer Reihe von Handlungen und seit dem 19. Jh. auch ganze Handlungsketten, bei denen man die Konstruktion mit dem Passé simple erwarten würde, durch das Imperfekt ausgedrückt werden. Es entsteht dabei ein Ausdruck des Unerwarteten. Diese Redebedeutung ist immer als „suspense" 2 8 , „immobilisation" 2 9 gedeutet worden. Es scheint mir nun so, als ersetzten die in Frage stehenden Imperfekte grundsätzlich das Plusquamperfekt, das in allen angeführten Kontexten den schnellen Abschluß einer Handlung bezeichnen würde 3 0 . Es will mir scheinen, daß das Plusquamperfekt auch einen Teil der Funktionen des Passé antérieur 31 mit übernimmt, und daß diese Bedeutung eines Abschlusses zu einem bestimmten Zeitpunkt (normalerweise ausgedrückt durch Passé antérieur, heute aber nur mehr durch das Plus-que-parfait) in diesem Imperfekt vorliegt. Diskutabel ist allerdings die Frage, ob es sich um eine einfache Neutralisation handelt oder aber — und der stilistische Effekt läßt es fast

28 Muller, S. 262. 29 Etienne Lorck: Passé défini, Imparfait, Passé indéfini, Heidelberg 1914, referiert so die Meinung der Grammatiker, cf. seine Deutung als „Phantasiedenkart". 30 Muller (S. 262) charakterisiert die Verwendung im Zeitungsstil folgendermaßen: „L'impression de témoignage rapide et fidèle sera obtenue en lançant d'abord le fait global ( . . . ) énoncé au passé composé ou au présent, généralement sans indication de date puisqu'il s'est passé dans les vingt-quatre heures qui séparent un numéro du précédent; ce fait sera ensuite détaillé au moyen d'un récit rétrospectif qui énumère et situe ses épisodes; le plus-que-parfait y trouve sa place, mais il est trop encombrant pour y suffire." Und hier nun hat das Imparfait narratif seinen Platz. Er kommt zu dem Schluß: „Les conquêtes de l'imparfait restreignent peut-être le nombre des passés simples, mais sans entamer sérieusement les emplois de cette forme. Ce sont plutôt les temps composés, passé composé et plus-que-parfait, qui sont les victimes de cette lutte." (S. 267). Für eine Erklärung als Ersetzung des Plus-que-parfait hat sich E. Coseriu: Das romanische Verbalsystem, Vorlesung Tübingen WS 1968/69, ausgesprochen. 31 Das Auftauchen und vor allem die Verbreitung des Imparfait narratif hat in gewisser Weise doch etwas mit dem Rückgang des Passé simple zu tun (wie manchmal behauptet wird), allerdings nicht als Eindringen in dessen Bereich, sondern über den Umweg des Plus-que-parfait, das einen Teil der Funktionen des Passé antérieur übernommen hat (zum anderen Teil cf. unten S. 133. Präsens Prät. P.aT^ i Pqp. -

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P.c. * P. surc.

glauben — um eine metaphorische Übertragung ins (zum Plus-queparfait gehörigen) Präsens32. 2. für den Konditional Auch hier gilt es, noch eine zusätzliche Redebedeutung zu besprechen, die möglicherweise als Neutralisation zu verstehen ist. Wenn Kinder spielen und die Rollen ihres Spiels verteilen, so geschieht das im Französischen meist durch den Konditional; es besteht aber auch die Möglichkeit, diese Rollenverteilung im Imperfekt vorzunehmen: ,,Moi, j'étais le roi, et toi, tu étais la princesse. . ." 33 . Ich frage mich, ob es sich nicht um eine Neutralisation des in diesem Gebrauch weitaus häufigeren Konditional handelt. metaphorisch Es gibt, im Gegensatz zum Präsens34, einen Fall, in dem das Imperfekt klar metaphorisch ist, dann nämlich, wenn es in einer aktuellen Situation mit deutlichem Bezug auf den aktuellen Mittelpunkt des Sprechers statt eines zu erwartenden Präsens verwendet wird. In diesem Fall stehen Situation und grammatische Funktion deutlich in Widerspruch zueinander, es handelt sich eindeutig um eine Metapher, da in der Richtung Imperfekt -*• Präsens keine Neutralisation möglich ist. Zwei Redebedeutungen dieser Art kommen sehr häufig vor und sind beinahe in der Norm fixiert: 1. das hypochoristische Imperfekt35 2. das Höflichkeitsimperfekt36 Die Verwendung des Imperfekts ist in allen romanischen Sprachen erstaunlich übereinstimmend. Okzitanisch Es erübrigt sich, Beispiele für alle Redebedeutungen anzuführen. Es sind, mit wenigen Ausnahmen, die zu besprechen sein werden, die gleichen, die oben angeführt worden sind. Nur eine einzige Stelle, wie sie für die romanische Verwendung des Imperfekts nicht typischer sein könnte, sei vorangestellt: (1) Un còp èra un fiume grand tan larg que l'image dau cèu s'i perdió dins lo céu. Venia de luònh. Cent países i vojavan son aiga. Mil riussets fasiàn cent rius e los cent rius mesclavan sas aigas dins lo fiume. 32 Dieser Fall läßt sich genauso schwer erklären wie der des praesens historicum (zu den Schwierigkeiten cf. oben S. 114). 33 Dieses szenische Imperfekt behandelt ausführlich Léon Warnant: „Moi, j'étais le p a p a . . . L'imparfait préludique et quelques remarques relatives à la recherche grammaticale", in: Mél. Grevisse, S. 343-366, und erwähnt sein Vorkommen im Französischen, Spanischen und Rumänischen. 34 Cf. oben S. 114. 35 Cf. dazu Marc Wilmet: L'imparfait dit hypocoristique, in: FM 36 (1968), S. 2 9 8 - 312. 36 Cf. dazu S. 113, Fußn. 5.

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Un jorn, un öme de las bocas dau flume rcmontet de long de la riba, e, de riu en riusset, vengufet dins una comba montanhöla ont d'ömes viviän sens saber