Offenbarungsphilosophie und Geschichte: Über die jüdische Krise des Historismus [1 ed.] 9783666317354, 9783525317358


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Offenbarungsphilosophie und Geschichte: Über die jüdische Krise des Historismus [1 ed.]
 9783666317354, 9783525317358

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Inka Sauter

Offenbarungsphilosophie und Geschichte Über die jüdische Krise des Historismus

Schriften des Dubnow-Instituts

Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow

Schriften des Dubnow-Instituts Herausgegeben von Yfaat Weiss Band 33

Inka Sauter

Offenbarungsphilosophie und Geschichte Über die jüdische Krise des Historismus

Vandenhoeck & Ruprecht

Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: HawaiiF3 – Grafikbüro Leipzig unter Verwendung eines Porträts von Franz Rosenzweig (1926). Mit freundlicher Genehmigung des Leo Baeck Institute, New York. Lektorat: Rudolf Wansing, Berlin Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2626-4552 ISBN 978-3-666-31735-4

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Erster Teil Aus der Geschichte Franz Rosenzweig und der Auftakt des 20. Jahrhunderts 1. Eine Krisenschrift: 1917–1921 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Der »Stern« im Krieg (38) | Stillstellung der Zeit (46) | Ein polemischer Faden (56) 2. Ideenfragmente: 1908–1920 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Geschichtliche Welten (68) | Dialogische Revisionen (78) | Beständige Prägungen (86) 3. Theologische Sprache: 1921–1929 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Differenz und Affinität (98) | Erneuerung der Heimkehr (106) | Tradition in Übersetzung (115)

Zweiter Teil Eintritt in die Geschichte Der Verlauf des 19. Jahrhunderts und Hermann Cohen 4. Anerkennung durch Geschichte: Heinrich Graetz . . . . . . . . . . . 129 Neue Fragen (133) | Eine Philosophie der Geschichte  (139) | In Trennung gebunden (149) 5. Religion und Fortschritt: Hermann Cohen . . . . . . . . . . . . . . . 159 Abschied von der Theologie (161) | Asymptotische Annäherung (172) | Geschichtsphilosophie des Judentums (181) 6. Philosophische Sprache: Von Cohen zu Rosenzweig . . . . . . . . . . 193 Fragile Symbiose (196) | Theologie statt Religion (204) | Geschichte in Divergenz (214)

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 Inhalt

Dritter Teil Bewahrung der Geschichte Walter Benjamin und die Mitte des 20. Jahrhunderts 7. Theologischer Rest: Frühjahr 1940 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Entfesseltes Geschehen (228) | Vergangene Hoffnungen (237) | Verflochtene Zeiten (244) 8. Verkehrte Geschichte: 1912–1931 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Rückzug aus der Politik (255) | Der geschichtsphilosophische Kern  (266) | Übertragung im Ursprung (280) 9. Materialistische Sprache: 1933–1940 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Politische Heuristik (296) | Häretische Stimmung (307) | Verstellter Horizont (320) Schlussbetrachtung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Werkausgaben (345) | Ungedruckte Quellen (348) | Gedruckte Quellen (348) | Forschungsliteratur (359) Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377

Vorwort

Im Zentrum der vorliegenden Studie steht die Zerrüttung des modernen Geschichtsbegriffs. Sie weist weit ins 19. Jahrhundert zurück, in eine Zeit, in der dieser Begriff – so Reinhart Koselleck – zum grundlegenden Kollektiv­ singular in der deutschen Sprache wurde, und verlängert sich bis in das Jahr 1940. Damit endet der betrachtete Zeitraum vor dem radikalen Bruch im 20. Jahrhundert, den der Holocaust bedeutet. »Die Geschichte«, als Pro­ blem verstanden, bezieht sich dabei in spezifischer Weise auf die Jahre am Ausgang des Ersten Weltkrieges: Das Zerschellen der noch nicht sehr alten Gewissheiten des 19. Jahrhunderts wurde seinerzeit mit der Umschreibung »Krisis des Historismus« gefasst und fand als solche Eingang in die Historiografie. Dieser Zeitformation gehören die philosophischen Reflexionen des Judentums an, entlang derer sich diese Arbeit entfaltet. Sie waren präfiguriert durch den Wissenshorizont des 19. Jahrhunderts; an ihnen kann die Spannung von Theologie und Geschichte nachverfolgt werden, die in einer zuvor nicht gekannten Deutlichkeit in der Erosion jenes Bezugsgefüges hervortrat, das die Geschichte selbst aufgeboten hatte. Bei aller historischen Distanz gibt es indessen auch einen Rest, der bis in die Gegenwart fortwirkt. Nicht gänzlich hat das Problem der Geschichte seine Relevanz eingebüßt. Zwar ist von dem sinnstiftenden Begriff, mit dem die Protagonisten dieser Studie ringen, kaum mehr als ein semantischer Überhang geblieben, doch gilt es, diesen in seiner historischen Anatomie zu verstehen. In den Voraussetzungen wie auch im Hinblick auf das Erkenntnisinteresse und in der Denkweise ist meine Perspektive stark von Dan Diner geprägt worden. Er weckte mein Interesse für den Geschichtsbegriff jener Epoche, die Moderne genannt wird, machte mir dessen Zentralität bewusst und übernahm schließlich die Betreuung der diesem Buch zugrunde liegenden Promotionsschrift. Insbesondere für die Einsichten in das Spannungsverhältnis von Geschichtsphilosophie und Historie, in die semantische Zähigkeit sinn­ gebender Strukturen, für die Sensibilisierung auf die Zeitgebundenheit wie der damit einhergehenden Brüchigkeit von Begriffsgehalten und für den Fokus auf jüdisches Geschichtsdenken als deren Prisma gilt ihm mein umfassender, beständiger Dank. Geschrieben wurde die Dissertation am Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow in Leipzig. Im Juli 2019 wurde sie an der Fakultät für Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaften der dortigen Universität eingereicht und am 10. Dezember desselben Jahres verteidigt.

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 Vorwort

Herzlich danke ich der Direktorin des Dubnow-Instituts, Yfaat Weiss, für die Aufnahme der Studie in die Schriftenreihe und meinem Forschungsressortleiter Jan Gerber für die kontinuierliche Begleitung der Promotion. Darüber hinaus gilt mein Dank Susanne Zepp für die Unterstützung in der Anfangsphase des Projekts und Raphael Gross für die in dessen Endphase. Ich danke dem Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk für die Promotionsförderung, die diese Arbeit maßgeblich ermöglicht und mir durch ihre ideelle Förderung vielseitige Impulse gegeben hat, und dem Freiburger SFB 948 »Helden – Heroisierungen – Heroismen« für ein Forschungsstipendium, während dessen vor allem das (der Chronologie nach) letzte Kapitel geschrieben werden konnte. Benjamin Pollock danke ich sowohl für die Übernahme des Zweitgutachtens als auch für die Möglichkeit, am Franz Rosenzweig Minerva Research Center in Jerusalem die Publikation vorzubereiten. Aus der Arbeit wäre nicht das vorliegende Buch geworden ohne die geduldige Begleitung und das Zutun vonseiten der wissenschaftlichen Redaktion des Dubnow-Instituts, hier vertreten durch ihre Leiterin Petra Klara GamkeBreitschopf sowie durch Margarita Lerman, und das sorgfältige Lektorat von Rudolf Wansing – allen dreien danke ich sehr herzlich. Über die Jahre haben viele weitere Personen Anteil am Entstehen dieser Studie genommen. Erste Bekanntschaft mit dem Geschichtsdenken Hermann Cohens und Franz Rosenzweigs habe ich zu Studienzeiten in einem Seminar von Ashraf Noor am Dubnow-Institut machen können. Nicolas Berg wurde nicht müde, sich mit mir über Herausforderungen des Themas auszutauschen, und Anna Pollmanns Forschungsperspektive ist durch das »Problem der Geschichte« auf das Engste mit meiner eigenen verbunden, weswegen sie über weite Strecken der Erarbeitung eine wichtige Diskussionspartnerin für mich war. Auch bin ich dem Ressort »Politik« und dem Kreis der Doktorandinnen und Doktoranden des Dubnow-Instituts  – insbesondere Judith Siepmann und John Will – für die Auseinandersetzung mit dem Thema und meiner Herangehensweise verbunden. Für unzählige Gespräche und kritische Lektüren gilt Zarin Aschrafi, Stefan Hofmann, Christoph Kasten und Magnus Klaue mein zutiefst empfundener Dank. Der Rückhalt und unermüdliche Beistand meiner Mutter Lore und meiner Schwestern Olga und Julia waren mir eine unschätzbare Unterstützung. Mein Vater Heinz verstarb leider zu früh – ihm ist dieses Buch gewidmet. Inka Sauter

Frankfurt am Main, im Frühjahr 2022

Einleitung

Im Oktober 1921 veröffentlichte Siegfried Kracauer eine Besprechung zu Georg Lukács’ Die Theorie des Romans. Gleich zur Eröffnung legte er dar: »Das in der Gegenwart mächtige Bedürfnis nach Religion, nach einem die Seele voll überwölbenden Glauben wird durch die ganze geschichtsphilosophische Lage unserer Zeit bedingt.«1 Kracauer erkannte damit den Kern des Werks in jener von Lukács formulierten »transzendentalen Obdachlosigkeit«,2 die das Ende eines Prozesses markiert, in dem die gottgewisse Welt der Vormoderne sich auflöste. In den Worten Kracauers: »Die Philosophie der letzten Jahrhunderte ist ein einziger Versuch, den Riß zu überbrücken, der sich nach dem Entschwinden eines die gesamte Realität einfangenden Sinnes durch die Welt zieht […].«3 Die geschichtsphilosophische Lage ihrer Zeit war durch das 19. Jahrhundert hervorgebracht worden und so wird damit  – obschon nicht von Kracauer oder gar Lukács selbst, aber doch im Weitwinkel betrachtet – das Spannungsverhältnis von Theologie und Geschichte bezeichnet. Während der vormodernen Weltsicht ein umfassender Sinn des Geschehens noch selbstverständlich war, wurde dieser Sinn durch die Geschichtsphilosophie als Idee des Fortschritts der Menschheit in die Welt hinein versetzt. Durch diese neue Gewissheit entfaltete sich die »geschichtliche Welt«.4 Sie formte sich im »langen 19. Jahrhundert« von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg.5 Mit dem Schwinden des Glaubens an die Geschichte am 1 Kracauer, Georg Lukács’ Romantheorie, zit. nach ders., Werke  5.1, 282–288, hier 282 (zuerst: Neue Blätter für Kunst und Literatur, 4. Oktober 1921). – Sofern nicht anders ausgewiesen, folgen Rechtschreibung und Grammatik in den Zitaten der Originalquelle. 2 Lukács, Die Theorie des Romans, 30. Die Ausgabe ist text-, aber nicht seitenidentisch mit der von Kracauer rezensierten, die 1920 bei Cassirer erschienen ist. 3 Kracauer, Georg Lukács’ Romantheorie, zit. nach ders., Werke 5.1, 282. 4 Der Topos wird in Quellen des in der vorliegenden Studie betrachteten Zeitraums verschiedentlich verwendet. Er verweist auf die Denkform, die sich im 19. Jahrundert mit der Geschichte als Referenzkonzept ausprägte. So legte Johann Gustav Droysen 1858 dar: »Die sittliche Welt unter dem Gesichtspunkt ihres Werdens und Wachsens betrachtet ist die Geschichte.« Nur wenige Jahre später schrieb er geradezu programmatisch von der »ethischen, geschichtlichen Welt«. Insbesondere durch Wilhelm Dilthey, der 1910 die Abhandlung Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften veröffentlichte, kam ihm verstärkte Aufmerksamkeit zu. Droysen, Grundriss der Historik, 10; ders., Die Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft, 22. 5 So benannte Eric Hobsbawm seine dreibändige Geschichte von 1789 bis 1914. Vgl. ders., Das lange 19. Jahrhundert.

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Ende des Jahrhunderts war das Individuum mit sich, mit seiner eigenen Immanenz konfrontiert. Kracauer ging zwar nicht auf diese Veränderung ein, aber die darin angelegte Kontingenzerfahrung ist es, die er im Einklang mit Lukács zu seinem Thema machte. So schloss er seine Besprechung mit der Hoffnung, dass die »aus den Fugen gegangene Welt von dem Fluche der Sinnlosigkeit erlöst« werde.6 Dieser Text Kracauers steht in einer Reihe von mehreren zwischen Herbst 1921 und Frühjahr 1923 erschienenen Kritiken, in denen er versuchte, die allgemeine Zeitformation abzubilden. Obschon das grundlegende Problem der Geschichte darin nur am Rande benannt wird, wurde von kaum jemandem sonst die intellektuelle Konstellation am Ausgang des Ersten Weltkrieges so verdichtet beschrieben. Kracauer hatte ein feines Sensorium für die Fragen einer Gegenwart, die sich nicht mehr auf die Vergangenheit berufen wollte und noch nicht der Zukunft zuwenden konnte, und damit für die geschichtsphilosophische wie theologische Problemlage um 1920. So charakterisierte er insbesondere drei Momente, die wegweisend sind: In seiner Darstellung von Lukacs’ Romantheorie steht der Sinnverlust im Zentrum; hinzu kommen in weiteren Texten die Frage des gedanklichen Übergangs und eine generationelle Deutung.7 So umkreiste Kracauer eine Zeit, deren Kennzeichen ein Begriff der Krisis ist, der seine theologische Herkunft noch nicht vollends hinter sich gelassen hatte.8 Im Mitte November 1921 gedruckten Text Katholizismus und Relati­ vismus unterzog er Max Schelers ersten Band des Werks Vom Ewigen im Menschen einer kritischen Lektüre. Darin fügte er seiner in Georg Lukacs’ Roman­theorie angeführten Gegenwartsdiagnose der Hoffnung auf Erlösung hinzu, dass die »Menschheit« zwar danach dränge, »einen Zugang zum religiösen Glauben zu finden«, dass sie aber »im allgemeinen dieses Ziel nur mit den Mitteln eines Denkens zu erreichen [vermag], das mehr den Willen zum Glauben als den Glauben selber bekundet«.9 Auf Schelers phänomenolo­ gischen Zuschnitt der Religiöse[n] Erneuerung (so der Titel des ersten Ban6 Kracauer, Georg Lukács’ Romantheorie, zit. nach ders., Werke 5.1, 288. 7 Zu den die Zeitformation am Ende des Krieges umreißenden Texten gehört zweifelsohne neben den im Folgenden aufgeführten Die Wartenden, ein Text, der im Frühjahr 1922 erschien. Dieser weiter ausgreifende zeitdiagnostische Text kann zusammen mit Katholizis­ mus und Relativismus und Die Wissenschaftskrisis als Reflexion der Zeit gedeutet werden. Da für diesen Zusammenhang der geschichtsphilosophische Aspekt zentral ist, wurde hier zuerst die Besprechung zu Lukács thematisiert. Stephanie Baumann situiert u. a. Katholizismus und Relativismus und Die Wissenschaftskrisis im Kontext der Historismusdebatte. Kracauer, Die Wartenden, zit. nach ders., Werke 5.1, 383–394; zum Zusammenhang der drei Texte vgl. ebd., 394, Anm. 5. Vgl. Baumann, Im Vorraum der Geschichte, 258 f. und 266–271. 8 Vgl. zu der Ablösung von und erneuten Verbindung zur Theologie Koselleck, Art. »Krise«. 9 Kracauer, Katholizismus und Relativismus, zit. nach ders., Werke 5.1, 309–317, hier 317 (zuerst: Frankfurter Zeitung, 19. November 1921).

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des) bezogen, ist in diesem »Willen zum Glauben« noch die Hoffnung angezeigt, den Riss, der durch die Welt geht, zu überwinden. In der religiösen Neuformierung am Ausgang des Ersten Weltkrieges sah Kracauer so das zentrale Problem der Krise, wenn er die »geistige Lage der Zeit« als »Ende mehr als schon Anfang« begriff, das »in den tausend gebrochenen Farben des Übergangs schillert«.10 Im März 1923 widmete sich Kracauer schließlich der Wissenschafts­krisis. Unter diesem Titel wurde eine Doppelbesprechung zu Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie von Ernst Troeltsch und Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre von Max Weber veröffentlicht. Darin sah er eine Krise in denjenigen Wissenschaften sich bahnbrechen, die das menschliche Zusammenleben in Vergangenheit und Gegenwart zum Gegenstand haben: in Geschichte und Soziologie. Troeltsch und Weber kreisten demnach um das Problem der Wertrelativität, um den Verlust des Absoluten, der bis in die Fundamente der beiden Wissenschaften ausgegriffen habe. Vermittels dieser Zuordnung apostrophierte Kracauer ein weiteres Kennzeichen der Krisenzeit, indem er die Frage des Sinnverlusts noch im Einklang mit Troeltsch und Weber vor allem im Hinblick auf die Jugend deutete – Kracauer, der 1889 geboren wurde, war allerdings selbst Vertreter der durch den »Großen Krieg« geprägten, noch jungen Generation.11 »Nicht von der Wissenschaft selber oder mit Hilfe philosophischer Spekulation vermag die durch das erwachte Gewissen der Jugend heraufbeschworene ›Wissenschaftskrisis‹ gelöst zu werden«, postulierte er zum Ende seiner Besprechung in existenzphilosophischer Sprachfärbung, »sie erfordert vielmehr zu ihrer Überwindung den wirklichen Austritt aus der ganzen geistigen Situation, in der Wissenschaften wie die hier gemeinten in solchem Ausmaß überhaupt möglich sind.«12 Das letzte Werk des protestantischen Theologen Troeltsch schließt mit dem Appell, »Geschichte durch Geschichte [zu] überwinden«.13 Kracauers Forderung ist hingegen Zeichen der generationellen Distanz. Nicht mehr sollte die geschichtliche Welt des 19. Jahrhunderts revidiert und fortgesetzt, sondern die epistemische Ordnung, die Wissensstruktur selbst, sollte verändert werden. So ist in dem »Fluche der Sinnlosigkeit«14 das Thema angezeigt, das sich eben der Erosion der geschichtlichen Welt zuwendet, die nicht nur Kracauer zu überwinden suchte. 10 Ebd. 11 Vgl. Siegfried Kracauer, Die Wissenschaftskrisis, zit. nach ebd., 591–600, hier 591 (zuerst: Frankfurter Zeitung. Hochschulblatt, 8. und 22. März 1923). 12 Ebd., 600. Der Begriff der »Situation« ist u. a. bei Scheler und etwa auch bei Martin Buber prominent. Vgl. dazu und zum Begriff allgemein Laucken, Art. »Situation«, bes. 927. 13 Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, 772. 14 Kracauer, Georg Lukács’ Romantheorie, zit. nach ders., Werke 5.1, 288.

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Die Krisis des Historismus, die Troeltsch in einem im Juni 1922 in der Neuen Rundschau veröffentlichten Artikel diagnostizierte, ist trotz der generationellen Distanz zum Namen dieser Zeitformation avanciert.15 Troeltsch verhandelte unter dem »Historismus« nicht nur ein Problem der Geschichtswissenschaft, sondern die philosophische Überspannung der Geschichte, die eine ganze Welt zu formen vermochte.16 So bedeutete der Historismus bei Troeltsch: »die Historisierung unseres ganzen Wissens und Empfindens der geistigen Welt, wie sie im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts geworden ist«.17 Damit seien alle Erscheinungen, »Staat, Recht, Moral, Religion, Kunst« in den »Fluß des historischen Werdens« gestellt.18 Wenngleich die »breiten überindividuellen Zusammenhänge« in der Geschichte dadurch verstehbar würden, so »erschüttert« es für Troeltsch doch auch »alle ewigen Wahrheiten, seien sie kirchlich-supranaturaler und damit von der höchsten autoritativen Art, seien es ewige Vernunftwahrheiten und rationale Konstruktionen von Staat, Recht, Religion und Sittlichkeit«.19 Durch die Philosophie des beginnenden 19. Jahrhunderts zum Reflexionsradius erklärt, hatte die Geschichte im Verlauf dieses Jahrhunderts zu dem einen, alles umspannenden Grundbegriff werden können  – seine spezifische, die christliche Heilserwartung ablösende Ausrichtung drückte sich in der ihr eingeschriebenen Vorstellung des Fortschritts aus.20 Auch die Historiografie, die sich bald von dem philosophischen Gehalt zu entfernen suchte, führte noch den semantischen Rest eines Begriffs mit, dessen Extension nicht nur die Vergangenheit betraf. Idealismus und Romantik beförderten die Herausbildung des Kulturprotestantismus, der sich im Namen des Christentums der in Entfaltung befindlichen geschichtlichen Welt anpasste. Durch historische Forschung sollte etwa in der von David Friedrich Strauß begründeten Leben-Jesu-Forschung der Realitätsgehalt des Christentums erwiesen werden, und dennoch trug sie zu einem Schwinden des Glaubens bei.21 Noch im historischen Bewusstsein 15 Troeltsch, Die Krisis des Historismus (Juni 1922); im Folgenden zit. nach ders., Kritische Gesamtausgabe 15, 437–455. 16 Wie Reinhart Koselleck aufzeigt, entwickelte sich »die Geschichte« als Kollektiv­singular zum Grundbegriff. Vgl. dazu u. a. ders., Die Herausbildung des modernen Geschichts­ begriffs. 17 Troeltsch, Die Krisis des Historismus, 437. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Zur Ausprägung des Fortschrittsbegriffs vgl. Koselleck, Fortschritt; ders., »Fortschritt« und »Niedergang«, bes. 167–175. 21 Vgl. dazu – als Zeichen der Zeit – etwa Strauß, Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet; und bereits retrospektiv, aber noch der Zeit verbunden Schweitzer, Geschichte der Leben-JesuForschung. Lucien Hölscher zeigt das Hervorgehen des Gegensatzes von »religious« und »secular« gerade auch aus Überlegungen zur Beförderung des Glaubens u. a. im Rückblick auf ein späteres Werk von Strauß auf. Vgl. dazu ders., The Religious and the Secular, 44.

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bedingte der eine, umfassende Geschichtsbegriff einen philosophischen Bedeutungsüberschuss, der ihm weit mehr abforderte als bloße Repräsentation des Vergangenen. Zum zentralen Problem wurde der Verlust indes erst mit dem Ersten Weltkrieg, also an dem Punkt, an dem das Geschehen die hoffnungsgesättigte Geschichte konterkarierte und die Krise des Historismus ihre Form erhielt.22 Während in der deutschen, zumeist protestantisch gefärbten Philosophie und Geschichtswissenschaft nicht zuletzt durch das zunehmend ethnisch verstandene Nationalgefüge als Sinnhorizont die Krise bald kompensiert wurde, hatten Reflexionen im Namen des Judentums einen anderen Standort. Jüdische Vorstellungen der Geschichte sahen sich einerseits mit den christlichen Reaktionen auf die Veränderungen des 19. Jahrhunderts konfrontiert, andererseits kamen mit den säkularisierten Adaptionen der Sinngebung in den nationalen Gefügen ganz neue Herausforderungen auf sie zu. Am Ende eines Jahrhunderts des Kampfes um rechtliche Gleichstellung wurde einerseits durch den erstarkenden Antisemitismus die nationale Zugehörigkeit auf einer neuen Ebene infrage gestellt und andererseits der Bezug zum Judentum zunehmend rechtfertigungsbedürftig.23 In der gegen die drohende doppelte Bindungslosigkeit gerichteten Suche nach einem Sinn im weltlichen Geschehen zeigte sich der moderne Geschichtsbegriff in seiner normativen Bedeutungsschicht. In der Spannung zwischen Tradition und Hoffnung trat der ihm eingeschriebene Säkularisierungsprozess zutage. Um diesen Problemkomplex, um den Zusammenhang einer Zeitdiagnostik mit den ideen- wie erfahrungsgeschichtlichen Linien des langen 19. Jahrhunderts und um seine Wirkung auf jüdische Geschichtsauslegungen geht es in dieser Arbeit – verdichtet im Denken von Hermann Cohen, Franz Rosenzweig und Walter Benjamin. Diese drei stehen für drei die Krise umfassende Zeiten. Cohen, geboren 1842, hielt am Ausgang des Ersten Weltkrieges, in einer Zeit also, in der er den geschichtlichen Sinnhorizont nicht mehr in Korrespondenz mit dem Geschehen bringen konnte, an einer Geschichte fest, die sich wieder ihres ethischen Gehalts bewusst werden sollte. Bis zum Schluss, er verstarb im April 1918, dachte er innerhalb der Paradigmen des 19. Jahrhunderts und so blieb die Geschichte im Fundament seines Denkens verankert. Rosenzweig versuchte dagegen in jenen Jahren vermittels einer neuen Verbindung von Theologie und Philosophie im Namen des Judentums die Geschichte als epistemisches Ordnungsprinzip hinter sich zu lassen. 1886 geboren und in einem liberalen Elternhaus aufgewachsen, bedeutete dies 22 Vgl. dazu u. a. Hölscher, Mysteries of Historical Order, 134 und 148; an Hölscher anknüpfend Tamm / Olivier, Introduction, 3 f. In ihrem Sammelband findet sich bezeichnenderweise auch ein Beitrag zu Franz Rosenzweig und Mircea Eliade: Keedus, Time Outside History. 23 Zum erstarkenden Antisemitismus vgl. u. a. Rürup, Emanzipation und Antisemitismus.

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für ihn zugleich eine Aneignung des Judentums durch diese Abwendung. Benjamin, der 1892 geboren wurde, nahm das Problem von Theologie und Geschichte im Frühjahr 1940, also zwanzig Jahre nach der geschichtlichen Krise, am Beginn desjenigen Krieges wieder auf, der zum zweiten weltumspannenden wurde. Er suchte der Ausweglosigkeit des Geschehens eine bewusst theologisch geprägte Geschichtsphilosophie entgegenzustellen. Indem Kracauer, der sich zu Beginn der 1920er Jahre auch mit Rosenzweig über die Probleme des Sinnverlusts und der »religiösen Erneuerung« auseinandersetzte,24 1923 mit Blick auf Troeltsch und Weber eine generationelle Dimension hervorhob, deutet sich ein Unterschied zwischen dem Denken Cohens auf der einen und dem Rosenzweigs wie Benjamins auf der anderen Seite an. Die geschichtliche Krise fand bei Cohen noch nicht ihren vollen Ausdruck, auch nicht in seinem 1919 erschienenen Nachlasswerk Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, sondern erst bei Rosenzweig in seinem 1921 veröffentlichten Text Der Stern der Erlösung. Benjamin nahm im Frühjahr 1940 angesichts einer neu sich anbahnenden Katastrophe dasjenige Problem in Über den Begriff der Geschichte retrospektiv wieder auf, dem sich auch Rosenzweig am Ende des Ersten Weltkrieges gestellt hatte. Trotz geschichtlicher Distanz dachten alle drei über das ihnen gegenwärtige Geschehen und die geistesgeschichtlichen Brüche im Rahmen der allgemeinen Geschichte nach. Im Brennglas der Krise zeigt sich in dieser Gemeinsamkeit ein entscheidender Unterschied zu anderen Stimmen der Zeit. Eine jüdische Perspektive sah sich den Auswirkungen des 19. Jahrhunderts in anderer Intensität gestellt, als es für christliche Denker, nicht nur für Troeltsch, auch der von Kracauer adressierten »Jugend«, der Fall war. Das Judentum war in der deutschen philosophischen Tradition des 19. Jahrhunderts in den Vorstellungen einer fortschreitenden Geschichte zumeist ausgeklammert oder gar offen angefeindet worden.25 Es wurde in der geschichtlich gewordenen Philosophie etwa bei Georg Wilhelm ­Friedrich Hegel als bloße und bei Friedrich Wilhelm Joseph Schelling zumindest als notwendige Vorstufe gedacht. Damit wurde es trotz verschiedener Deutungsschattierungen aus der erdachten Menschheitsentwicklung weitgehend 24 Das intellektuelle und persönliche Spannungsverhältnis zwischen Rosenzweig und Kracauer, das sich auch direkt an zentralen Topoi aus Die Wartenden, Katholizismus und Relativismus und Die Wissenschaftskrisis orientierte, aber den epistemischen Problemkomplex der Geschichte nur vermittelt berührte, hat Matthew Handelman 2011 herausgearbeitet. Die inhaltsreichen Briefe Rosenzweigs an Kracauer hat Stephanie Baumann ebenfalls 2011 mit dem kommentierenden Fokus auf die Frage der Prophetie veröffentlicht und dort bereits auf Rosenzweigs kritische Reaktion auf Katholizismus und Relativis­ mus hingewiesen. Vgl. dies., Drei Briefe; Handelman, The Forgotten Conversation. 25 Vgl. dazu u. a. Brumlik, Deutscher Geist und Judenhass sowie verschiedene Beiträge in Kravitz / Noller (Hgg.), Der Begriff des Judentums in der klassischen deutschen Philosophie.

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ausgeschlossen. Durch die Wissenschaft des Judentums, wie sie sich auf dem Fundament der Haskala, der jüdischen Aufklärung,26 mit ihrer Gründungsschrift Etwas über die rabbinische Literatur von Leopold Zunz im Jahre 1818 zu formieren begann,27 war die Geschichte aber auch selbst zum Medium geworden, das Judentum zu verstehen, und zugleich zum Schauplatz des Kampfes um rechtliche Gleichstellung und gesellschaftliche Anerkennung. Der Beitrag des Judentums zur Geschichte der Menschheit mit ihrem noch nicht gänzlich säkularisierten, aber schon in Verwandlung begriffenen Telos wurde zunehmend selbstbewusst christlichen, idealistischen, materialis­ tischen wie romantischen Stimmen entgegengesetzt. Mit den geschicht­ lichen Interpretationen wurde das Judentum zugleich als Religion verstanden. Ihren Ausdruck fand diese Verschiebung in der Reformbewegung. Reflektiert und erweitert wurde sie in ebender Wissenschaft des Judentums, die mit dem 1854 gegründeten Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau ihre zentrale Institution erhielt. So sehr die Geschichte als Wissenschaft im Verlauf des Jahrhunderts auch ihren philosophischen Überschuss einbüßte, wurde dieser doch aufbewahrt und in philosophischer Reflexion noch zum Beginn des 20. Jahrhunderts – vor allem von Cohen – wieder auf die und in die Idee des Judentums zurückgeführt. Cohen, der von 1857 bis 1861 am Jüdisch-Theologischen Seminar lernte, wandte sich in den 1860er Jahren der Philosophie des gerade wiederentdeckten und damit neu etablierten Kantianismus zu. Bis zu seinem Lebensende suchte er das Judentum als Religion mit seinem kritisch-idealistischen Maßstab zusammenzudenken. Sein letztes, postum veröffentlichtes Werk Religion der Vernunft ist Ausdruck einer Versöhnung der Philosophie Kants mit dem Judentum. Durch den Begriff der Religion fasste er das Judentum als Geschichtsphilosophie auf  – in doppelter Verwandlung. Dessen Kern wurde bei Cohen zur Idee und diese wiederum zur Bedingung der Zukunftsausrichtung der Geschichte selbst. Die anfänglich vorsichtige Öffnung für die Geschichte in der Wissenschaft des Judentums mündete am Ende des 19. Jahrhunderts bei Cohen in die Begründung seines Geschichtsbegriffs in der jüdischen Prophetie. Auf Interpretationen jüdischer Tradition, die sich in diesem Sinne der geschichtlichen Welt anverwandelten, wirkte sich ein »Austritt aus der ganzen geistigen Situation« in anderer Dimension aus. Durch die historische Forschung hatten sie in einem das ganze Jahrhundert durchwirkenden Kampf um Anerkennung das Judentum zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung werden lassen. Auch dafür hatten sie den Begriff der Religion ins Zentrum gerückt, in der Hoffnung, dass das Judentum als solches anerkannt 26 Zur Haskala allgemein vgl. u. a. Schulte, Die jüdische Aufklärung. 27 Zu Leben und Werk von Leopold Zunz vgl. Schorsch, Leopold Zunz.

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würde. Erst von diesem Standort aus konnte das Judentum in die von der geschichtlichen Welt des 19. Jahrhunderts hervorgebrachte religiöse Krise driften. Was der Kollaps der geschichtlichen Welt des 19. Jahrhunderts für diejenigen Vorstellungen des Judentums bedeutete, die durch diese Welt, durch diese Zeit hindurchgegangen waren, in der das Wissen durch die eine umfassende, geradezu als selbst agierend gedachte Geschichte präfiguriert wurde, ist der Gegenstand dieser Arbeit. So werden die Widersprüche, die sich für diejenigen auftaten, die am Ende ihrer Entfaltung standen, zum Ausgangspunkt genommen. Gravitationszentrum ist dafür Rosenzweigs Der Stern der Erlösung, der, bei zwar nicht unerheblichem Unterschied in der Antwort, in seiner Problemstellung dennoch in Kracauers Diagnose einstimmte. In seinem zwischen August 1918 und Februar 1919 niedergeschriebenen Werk versuchte Rosenzweig die zum »Offenbarungsersatz« gewordene Geschichte, wie er ihre wissenschaftliche Figuration im März 1919 charakterisierte, durch eine Offenbarungsphilosophie zu überwinden.28 Nur noch vermittelt durch theologische Reflexion ging er darin auf die geschichtlichen Grundkonzepte des Fortschritts und der historischen Schule ein. Jedoch nahm er eine mit kaum zu überbietender Verve vorgebrachte Kritik der philosophischen Tradition »von Jonien bis Jena«,29 von den Vorsokratikern bis zu Hegel, zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen. So schrieb er sich aus dem Idealismus heraus – und hinein in ein Judentum, dessen theoretische Bestimmung sich durch diesen Weg veränderte.30 Das Werk schließt mit einem Offenbarungsgeschehen, das in Judentum wie auch Christentum gleichermaßen seine Repräsentanz hat; wechselseitig aneinandergebunden durch eine noch dem Idealismus entlehnte Auffassung von Weltgeschichte, 28 Rosenzweig an Eugen und Margrit Rosenstock-Huessy, 28. März 1919, zit nach ders., The »Gritli«-Letters (1914–1929), hier 1919, (15.  Januar 2022), 67–70, hier 67. Rosenzweigs Briefe an Margrit (und teilweise auch an Eugen) Rosenstock-Huessy wurden sowohl von Inken Rühle und Reinhold Mayer als auch vom Rosenstock-Huessy Fund um 2000 veröffentlicht. Da die Onlineedition des ERH-Fund etwas vollständiger ist, wird hier und im Folgenden diese als Quelle angegeben. Vgl. Rosenzweig, Die »Gritli«-Briefe, Tübingen 2002; ders., The »Gritli-Letters« (1914–1929), (15. Januar 2022). Die Briefe sind transkribiert von Ulrike von Moltke und hg. von Michael Gormann-­Thelen und Elfriede Büchsel. 29 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 10. Im Folgenden wird aus der Ausgabe im Suhrkamp Verlag von 1988 zitiert: Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung. Mit einer Einführung von Reinhold Mayer und einer Gedenkrede von Gershom Scholem, Frankfurt a. M. 1988, die Referenz findet sich dort auf Seite 13. Diese Ausgabe ist seitenidentisch mit der vierten Auflage in Der Mensch und sein Werk: Franz Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften 2: Der Stern der Erlösung. Mit einer Einführung von Reinhold Mayer, Den Haag 1976. 30 In diesem Sinne arbeitet Paul Mendes-Flohr Rosenzweigs Konflikt mit der Historiografie in den 1910er Jahren heraus. Vgl. dazu ders., Franz Rosenzweig and the Crisis of Historicism.

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der das Judentum entrückt und das Christentum ausgesetzt ist. So wandte sich Rosenzweig einem Judentum zu, das in seiner Vorstellung außerhalb der Weltgeschichte steht. Der argumentative Gang des Werks verweist zugleich auf Rosenzweigs Werdegang. Nachdem er 1907 ein Medizinstudium abgebrochen hatte, studierte er Geschichte bei Friedrich Meinecke und Philosophie bei Heinrich Rickert in Freiburg im Breisgau. Rosenzweig trat damit in ein umkämpftes geisteswissenschaftliches Feld ein. Die Widersprüche der Disziplin verschafften sich verschiedentlich, insbesondere im Methodenstreit um Karl Lamprecht in den 1890er Jahren, in den Debatten um das konflikthafte Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften und um Max Webers Forderung der Wertfreiheit der Wissenschaft Ausdruck. Meinecke und R ­ ickert wollten beide, obschon je unterschiedlich, das Geschichtsverständnis erneuern und gaben neben Troeltsch der Debatte um den Historismus ihre Kontur. Der geistesgeschichtliche Bruch zeigte sich zwar bei ihnen kaum, jedoch dachten sie über die schon vor dem Krieg schwelenden Probleme der Geschichtswissenschaft nach, die dem Bruch seine spezifische Ausprägung verliehen. So beschrieb Gerhard Masur, der 1926 bei Meinecke zu Leopold von Rankes Begriff der Weltgeschichte promoviert wurde,31 in einem 1928 veröffentlichten Literaturbericht. Zur gegenwärtigen Lage der Geschichts­ philosophie die »doppelte Wurzel« der »Erschütterung der historischen Weltansicht«.32 Eine »›intrascientifische‹ Krisis, die lange vor dem Jahre 1914 akut geworden war«, sah er »mit der ›extrascientifischen‹ Krisis des historischen Bewußtseins« verbunden, »die einer breiteren Öffentlichkeit erst offenbar wurde, als der Weltkrieg und die ihm folgenden umwälzenden Erschütterungen den ganzen Bestand der abendländischen Kultur und somit ihr Geschichtsbild fragwürdig gemacht hatten«.33 Im Schatten einer längst erschütterten Geschichtswissenschaft wurde ­Rosenzweig 1912 bei Meinecke zu Hegels politischer Philosophie promoviert. Den großen Einschnitt in seiner Biografie sah er auch nicht im Krieg, sondern im Sommer 1913, in dem sogenannten Leipziger Nachtgespräch. Nach diesem wollte er in der Rückschau des Gesprächspartners Eugen Rosen­stock – ab Mitte der 1920er Jahre Rosenstock-Huessy – aufgrund eines relativistischen Standpunkts zuerst zum Christentum konvertieren, besann sich aber wenige Monate später und schrieb den berühmten Satz an seinen Großcousin Rudolf Ehrenberg: »Ich bleibe also Jude.«34 Nach dem Leipziger 31 Vgl. dazu Ritter, Einleitung, in: Meinecke, Akademischer Lehrer und emigrierte Schüler, 44–47; für die Dokumente vgl. ebd., 194–220. 32 Masur, Literaturbericht, 104. 33 Ebd. 34 Rosenzweig an Rudolf Ehrenberg, 31. Oktober und 1. November 1913, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 132–137, hier 133.

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Nachtgespräch studierte Rosenzweig an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums bei Cohen, der selbst erst 1912 von Marburg nach Berlin gegangen war.35 Cohen konzentrierte sich in diesen Jahren voll auf seine Philosophie des Judentums, in deren Zentrum ein geschichtsphilosophischer Begriff der Religion stand. Noch sein Nachlasswerk Religion der Vernunft ist Zeugnis des Glaubens an die Geschichte, den Rosenzweig nicht mehr teilen konnte. Die mit dem Nachtgespräch im Sommer 1913 einsetzende, klar auf das Judentum orientierte Suche stand aber nicht von Anfang an in dieser Differenz und wurde durch den Krieg bald unterbrochen. Dennoch drückte sich bereits ein spezifischer Abstand zum kritischen Idealismus Cohens im Denken Rosenzweigs aus, der in der geschichtlichen Krise kulminierte. So rückte er im letzten Jahr des Krieges von der Geschichte als epistemischem Ordnungskonzept ab. Das Schwinden dieses eine Generation zuvor noch geradezu selbstverständlichen Bezugsgefüges ist aber nicht nur für den individuellen Lebensweg des ehemaligen Hegelforschers von Bedeutung. Seine Abwendung ist mehr noch Ausdruck einer Zäsur der geschichtlichen Welt des 19. Jahrhunderts. Der »Große Krieg« steht so trotz differierender Selbstbeschreibung im Zentrum von Rosenzweigs Biografie. In völlig anderer Haltung und dennoch an signifikanten Stellen ähnlicher Perspektive bildet der Krieg auch in der intellektuellen Biografie ­Benjamins ein Schlüsselereignis. Im Sommer 1912, als Rosenzweig in Freiburg promoviert wurde, nahm Benjamin sein Studium am selben Ort auf, ging während des Studiums zwar bald nach Berlin, dann nach München, aber auch er musste sich in einer prägenden Lebensphase zum Krieg verhalten. Als R ­ osenzweig an der mazedonischen Front seine Gedanken zum Judentum in Form zu bringen begann, gab Benjamin seinen Studien in Bern eine neue Richtung und legte dort im Sommer 1919 seine Dissertationsschrift Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik vor. Danach, um 1920, versuchte er sich an einer geschichtsphilosophischen Verhältnisbestimmung von Theologie und Politik. Erst zwanzig Jahre später stellte sich Benjamin diesem Problem erneut. Ausdruck der Wiederaufnahme der Thematik ist seine letzte Schrift Über den Begriff der Geschichte. Nach Jahren des Exils wandte er sich in neuer historischer, geradezu existenzieller Lage wieder denjenigen Fragen zu, die er zwanzig Jahre vorher umkreist hatte. Auch Benjamin suchte die überkommenen Vorstellungen des Geschichtsbegriffs durch eine Theologie zu überwinden, die er indes selbst nur noch durch Geschichtsphilosophie hindurch verstehen konnte. Benjamin dachte nicht mehr in den Paradigmen des 19. Jahrhunderts, wie Cohen, auch nicht dagegen, wie Rosenzweig, sondern in diese hinein. Emblematisch für 35 Zur Geschichte und Ausrichtung der Institution vgl. Wiese, Art. »Hochschule für die Wissenschaft des Judentums«.

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­ enjamins Wiederaufnahme des geschichtsphilosophischen Problems steht B die 1937 neu beginnende Auseinandersetzung mit dem Historismus, der ihm neben dem Fortschrittsdenken in Über den Begriff der Geschichte zum Zeichen eines Geschichtsbegriffs geworden war, der dem ihm gegenwärtigen Geschehen nicht gewachsen war. Der Historismus steht nicht nur für die Krise in der Schlussphase des Ersten Weltkrieges, sondern in der Rückschau gerade auch für das sukzessive Erodieren des Bezugsgefüges des langen 19. Jahrhunderts insgesamt und verweist damit auf den philosophischen Kern der geschichtlichen Welt. In der sich wandelnden Semantik des Wortes »Historismus« verdichtet sich das Problem. Der Historismus, mit dem Benjamin sich auseinandersetzte, war ein anderer, als der von Troeltsch verhandelte; und dennoch deuten beide auf »die Geschichte«, wie sie das 19. Jahrhundert hatte prägen können. Bereits mit dem Fin de Siècle wurde der Historismus zu einem polemischen Sammelbegriff für die historische Schule, die die Geschichtsphilosophie hinter sich zu lassen suchte. In Wiederaufnahme der Polemik Friedrich Nietzsches gegen die Geschichtsschreibung sah etwa Rickert den Historismus bereits 1905 in »Relativismus« und letztlich in »Nihilismus« münden; in nur leichter Modifikation konnte er dies auch 1924 noch vertreten.36 Meinecke dachte als Historiker über Individualität und Entwicklung als Grundbegriffe der geschichtlichen Anschauung schon vor dem Krieg in Weltbürgertum und Nationalstaat nach und nahm sie 1924 auf anderer Ebene in Die Idee der Staatsräson und in neuer begrifflicher Zuordnung in sein 1936 in zwei Bänden erschienenes Werk Die Entstehung des Historismus auf.37 Im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und inmitten des Nationalsozialismus hielt Meinecke an seiner Geschichtsauffassung im Kern fest. Die Krise hatte auf Rickert und Meinecke, wie auf viele andere deutsche protestantische Professoren, in deren nationalgeschichtlichem Selbstverständnis kaum langfristige Auswirkungen. Anders sah es bei denen aus, deren Zugehörigkeit zur deutschen Geschichte immer wieder öffentlich infrage gestellt wurde. So lag Cohens Problem mit dem Historismus gerade in nationalen »Gespenstern«.38 Ihm war die zunehmende Vernehmbarkeit völkischer Stimmen in der Geschichtswissenschaft das erste Problem der 36 Rickert, Geschichtsphilosophie, 401 f.; ders., Die Probleme der Geschichtsphilosophie, 129. Die erste Auflage der Festschrift erschien zweibändig 1904 und 1905. Rickerts Text Geschichtsphilosophie wurde 1905 im zweiten Band abgedruckt (51–135). Die Festschrift findet sich unter dem Herausgeber Wilhelm Windelband im Katalog von Rosenzweigs Bibliothek mit der offenbar falschen Jahresangabe 1909. Vgl. dazu Waszek (Hg.), Rosenzweigs Bibliothek, 151. 37 Meinecke, Die Entstehung des Historismus; ders., Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte; ders., Weltbürgertum und Nationalstaat. 38 Cohen, Einleitung mit kritischem Nachtrag (1896), XVI.

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Historiografie. Seine Kritik am Historismus war damit zugleich noch ganz anders gelagert als diejenige Rosenzweigs oder Benjamins, sie verblieb im Rahmen des Geschichtsbegriffs des 19. Jahrhunderts, während für Rosenzweig und Benjamin dieser Geschichtsbegriff selbst zum Problem wurde. Trotz dieser semantischen Differenz wird in dieser Studie nicht die Genese des deutungsoffenen Wortes »Historismus« zum eigenen Gegenstand gemacht – obschon Meineckes Neuauslegung in Die Entstehung des Historis­ mus für Benjamin durchaus eine Rolle gespielt haben dürfte. Stattdessen wird der Geschichtsbegriff mit der ihm zugehörigen Wissensordnung ins Zentrum gerückt; und nur aus dieser Perspektive wird den Fragen histo­ rischer Relativität in der historischen Schule, wie sie ex post unter den Namen Historismus gestellt wurde (und in einer von mittlerweile vielen Definitionen des Wortes noch wird),39 im Denken Rosenzweigs und Benjamins nachgegangen. So liegt Rosenzweigs Kritik an der Geschichtswissenschaft die Relativität des Ereigniszusammenhangs zugrunde, die er zuerst innerhalb der Disziplin, mit und nach Der Stern der Erlösung von außen einbrachte. Und auch Benjamins Verdikt gegen den Historismus im Frühjahr 1940 ist auf ein ähnliches Problem gerichtet. Der Verlust des Absoluten, den Kracauer in seinen Besprechungen zu Beginn der 1920er Jahre vermerkte, ist noch nicht für Cohen, aber schon für Rosenzweig und in anderer Intensität für Benjamin das zentrale Problem in Konfrontation mit einem Geschehen, dessen katastrophische Züge auf eine im bloßen historischen Verstehen angelegte Grund- und Sinnlosigkeit trafen. Gleichwohl zieht sich durch die verschiedenen Wahrnehmungsweisen von »Historismus« eine Spannung zwischen Geschichtswissenschaft und philosophischem Überschuss des modernen Geschichtsbegriffs. Cohen hatte die Hoffnung, diese Trennung zu überwinden und auch die Historiografie philosophisch zu verstehen  – im Namen des Fortschritts der Menschheit. Rosenzweig ließ die Wissenschaft hinter sich und verwandelte den philosophischen Überschuss zurück in Offenbarungsglauben. Bei Benjamin finden sich ebenjene Motive, die Rosenzweig in der Übertragung aufrechterhielt, im Namen der Geschichte. So liegt im Fundament dieser gedanklichen Konstellation die Bewahrung einer geschichtlichen, nicht nur historischen Weltsicht, in der Vergangenes in einem allgemeinen Deutungsraster sinnhaft erscheinen sollte. Rosenzweig stellte dieses, wie auch andere Momente, die der Geschichtsphilosophie zugehörten, in Der Stern der Erlösung ins Zentrum, entzog sie aber dem geschichtlichen Bezugsgefüge. Im 19. Jahr39 Zu den verschiedenen Definitionen vgl. bes. Oexle, Krise des Historismus  –  Krise der Wirklichkeit; Rüsen, Konfigurationen des Historismus; Schnädelbach, Geschichtsphilosophie nach Hegel. Zur Begriffsgeschichte von »Historismus« vgl. Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus; Wittkau, Historismus.

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hundert durch Geschichtsphilosophie ersetzt, rückte Rosenzweig an die Stelle der Geschichte die Offenbarung. Mit der Krise des Historismus wird so zwar auf Troeltschs Artikel von 1922 verwiesen, jedoch wird der Topos mehr noch als Zeichen einer Zeit verstanden, in der der Geschichtsbegriff selbst zum Problem wurde.

Methodische Herangehensweise und Forschungsstand In Der Historismus und seine Probleme verstand Troeltsch den Begriff des »geschichtsphilosophischen Fortschrittes« als »Säkularisation der christ­ lichen Eschatologie«.40 Damit bezeichnete er einen Übertragungs- und Ablösungsprozess, der in der Krisenzeit in neuem Kontrast sichtbar wird und den vor allem Karl Löwith in Meaning in History am Beginn des Kalten Krieges in der philosophischen Tradition zurückverfolgte.41 Mit der ideengeschichtlichen Frage nach Säkularisierung und Geschichte gerät aber nicht nur die Verbindung beider, sondern zugleich auch die Verselbstständigung des Grundbegriffs einer ganzen Epoche in den Blick, der in seiner Übersetzung den maßgeblichen Anspruch einer umfassenden Geltung beibehielt. Hans Blumenberg wies in seiner Kritik an Löwith in den 1960er Jahren darauf hin, dass der Begriff der Säkularisation – und in Ableitung auch der der Säkularisierung  – einem Rechtstitel entsprungen war, dessen Semantik er noch mit sich führte: der Enteignung von Kirchengütern.42 Bei der Herausbildung der einen, alles umspannenden Geschichte geht es so um die Entstehung eines Bedeutungsfelds, das nicht nur von Säkularisierung, Profanisierung und Verweltlichung durchzogen ist, sondern auch die Moderne mit ihrem Möglichkeitsraum formte. In dieser Ausdifferenzierung wird den Übertragungen nachgegangen, durch die Tradition und Moderne zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Es handelt sich allerdings nicht um ein einseitiges Bedingungsgefüge, vielmehr sind es wechselseitige Einschreibungen, alte Motive, die neuen Ausdruck gewannen, gerade erst sich generierende Gedanken im Gewand von Tradition, die in die Zeitformation einwirkten und ihr eine ideelle wie intellektuelle Gestalt gaben.

40 Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, 57. 41 Das Verständnis von Geschichtsphilosophie als säkularisierter Eschatologie ist auch heute noch zuallererst mit Löwiths 1949 veröffentlichter Studie verbunden. Die deutsche Übersetzung erschien 1953 unter dem Titel Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Aber das Thema geht nicht auf Löwith, der in der Konstellation des Kalten Krieges dachte, sondern bis tief in die in dieser Arbeit betrachteten Zeiten zurück. Vgl. ders., Meaning in History; ders., Weltgeschichte und Heilsgeschehen. 42 Vgl. Blumenberg, »Säkularisation«, 241; ders., Die Legitimität der Neuzeit, 20.

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Zugleich sind Repräsentationen des im 19. Jahrhundert geprägten Geschichtsbegriffs in dessen auseinandertretender Semantik von Vergangenheit und Zukunft in ein Verhältnis zum jeweiligen historischen Geschehen gesetzt, selbst wenn sie ihm die Bedeutung absprechen, und so spiegeln sie in spezifischer Form jene Spannung von »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont«, die sich in der Krisenzeit neu anordnete.43 Im Hinblick auf jüdisches Geschichtsdenken wird diese Verschiebung in anderer Intensität sichtbar. Die neue Zeit forderte Vorstellungen des Judentums in anderer Weise heraus als die dem Christentum verbundenen. Die verschiedenen Ebenen dieses Wandels werden durch eine erfahrungs- und ideengeschichtlich ausgerichtete Interpretation beleuchtet. Die philosophischen Überlegungen von Cohen, Rosenzweig und Benjamin werden in der historischen Konstellation gedeutet, in deren Zentrum die Zeit des Ersten Weltkrieges als Bruch mit der geschichtlichen Welt des 19. Jahrhunderts steht. Wie der Kern der Moderne in den Momenten ihrer Erosion aufscheint, so werden der moderne Geschichtsbegriff und sein Bezugsgefüge auf diesen Einschnitt hin befragt. Um die Zäsur und den ihr eingeschriebenen Verlust von Tradition sichtbar zu machen, werden insbesondere drei Werke für verschiedene Zeiten untersucht: Cohens Religion der Vernunft steht für das lange 19. Jahrhundert von seinem Ende her, Rosenzweigs Der Stern der Erlösung für die geschichtliche Zäsur am Ausgang des Ersten Weltkrieges und Benjamins Über den Begriff der Geschichte für die Reflexion der mit dem zweiten, bald die Weltordnung betreffenden Krieg drohenden Katastrophe. So beleuchten die Schriften von Cohen, Rosenzweig und Benjamin die geschichtliche Krise von ihrer Inkubation bis zur Wiederaufnahme des Problems. Für diese historische Ausrichtung der Studie sind verschiedene Forschungsfelder zu berücksichtigen: historiografische Arbeiten zur Krise des Historismus, zur deutsch-jüdischen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert und Studien zu Cohens, Rosenzweigs und Benjamins Geschichtsdenken. Doppelter Ausgangspunkt für die Deutung von Rosenzweigs Der Stern der Erlösung als Krisenschrift ist im Allgemeinen die Geschichte des modernen Geschichtsbegriffs, mit dem Fokus auf seiner Erosion, und im Besonderen die Geschichte deutsch-jüdischen Geschichtsdenkens. Hintergrund bildet die spätestens ab dem Ende des Ersten Weltkrieges geführte Debatte über

43 Für diese Spannung werden die von Reinhart Koselleck in der Bestimmung des modernen Geschichtsbegriffs geprägten Konzepte von »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« herangezogen. Diese werden allerdings nicht in scharfer Definition verstanden, sondern sie werden entsprechend den Reflexionen von Cohen, Rosenzweig und Benjamin auf die Erosion des modernen Geschichtsbegriffs hin und das sich damit neu konfigurierende, fragile Verhältnis von Erfahrung und Erwartung befragt. Vgl. dazu Koselleck, »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont«.

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Geschichte und auch Historismus.44 Um zu verstehen, was Rosenzweigs Abkehr von dem Geschichtsbegriff des 19. Jahrhunderts für seine Interpretation des Judentums bedeutete, warum er sich nicht mehr der Wissenschaft des Judentums zuwenden konnte, sind die Arbeiten von und im Umfeld von Yosef Hayim Yerushalmi wegweisend. Ausgangspunkt ist das viel diskutierte  – und kritisierte  – Werk Zachor. Erinnere dich! von Yerushalmi. Die darin erörterte Ablösung des traditionellen Gedächtnisses durch die moderne Geschichtswissenschaft ist hier nicht so sehr das Thema als vielmehr deren Auswirkung, die Frage nach dem »Glauben ungläubiger Juden«, wodurch Yerushalmi die im 19. Jahrhundert gewordene Geschichte in ihrem umspannenden Horizont charakterisierte.45 Auch die Studie Michael ­Brenners Propheten des Vergangenen. Jüdische Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert erweitert das Feld der Historiografie,46 die indes nur im Hinblick auf denjenigen Bedeutungsüberschuss der Geschichte betrachtet wird, durch den sie als säkularisierte und zugleich säkularisierende wirken konnte. Yerushalmis in den 1980er Jahren veröffentlichte Studie wird in der Forschung, insbesondere auch von David N. Myers,47 zwar kritisiert,48 dennoch 44 Neben den oben angeführten Verständnissen des Historismus von Troeltsch und ­Meinecke wäre u. a. noch Karl Heussis Studie zur Krisis des Historismus aus dem Jahr 1932 zu nennen, in der er auf die Krise zu Beginn der 1920er Jahre zurückschaut und ihre seinerzeit andauernden Auswirkungen zum Problem macht. Zu den bereits recht unterschiedlichen historischen Begriffsbestimmungen in der deutschen Sprache kommt hinzu, dass »historicism« im Englischen noch eine weitere Bedeutung hat. So wird der Begriff nicht zwangsläufig mit der Geschichtswissenschaft oder historischer Relativität in Verbindung gebracht, sondern – insbesondere seit Poppers The Poverty of Historicism – auch als geschichtliche Prognose (vor allem im Hinblick auf den Marxismus) oder – allgemeiner – als Geschichtsphilosophie verstanden. Bei Leo Strauss heißt es hingegen 1953 an Troeltsch erinnernd: »Historicism asserts that all human thoughts or beliefs are historical and hence deservedly destined to perish.« Auch Frederik C. Beiser knüpft für seine Definition in The German Historicist Tradition wieder direkt an Troeltsch an und denkt dessen Begriffsbestimmung weiter. Vgl. Heussi, Die Krisis des Historismus. Zu »historicism« vgl. Popper, The Poverty of Historicism; Strauss, Natural Right and History, 25; Beiser, Introduction, 2. 45 Yerushalmi, Zachor, 92. Die englischsprachige Ausgabe erschien bereits 1982: ders., Zakhor. Vgl. dazu im Kontext jüdischer Geschichtsauslegung seit der Zeit der Aufklärung Myers, Art. »Geschichte«, 443–447. 46 Brenner, Propheten des Vergangenen. 47 In Jüdische Geschichtsschreibung heute findet sich ein aufschlussreicher Beitrag von Myers über seine Perspektive auf Yerushalmis Zachor und Yerushalmi antwortet im selben Band: Myers, Selbstreflexion im modernen Erinnerungsdiskurs; Yerushalmi, Jüdische Historiographie und Postmodernismus. 48 Allgemeiner zur Kritik, bes. zu Amos Funkenstein und Yerushalmi, vgl. etwa Grözinger, Jüdische Geschichtsschreibung zwischen Mythos und Moderne  – eine Verortung der Differenz.

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hat der von ihm paradigmatisch angesetzte Kanon jüdischen Geschichtsdenkens in der Moderne seine Gültigkeit erhalten und wird auch in dieser Arbeit in den Blick genommen. Trotz seiner Kritik führt Myers in Resisting History. Historicism and Its Discontents in German-Jewish Thought die jüdischen Geschichtsauslegungen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, die bei Yerushalmi den Ausblick boten, unter dem Fokus der Ausbildung der Krise des Historismus weiter aus.49 Nach einem Rückblick ins 19. Jahrhundert (von Samson Raphael Hirsch zu Heinrich Graetz) betrachtet Myers Hermann Cohen und Franz Rosenzweig. Darüber hinaus erörtert er die Geschichtsreflexionen von Isaac Breuer und Leo Strauss. Die Studie gibt damit insbesondere einen detaillierteren Überblick zu Cohens und Rosenzweigs Auseinandersetzungen mit dem, was er unter »historicism« versteht.50 In der Zusammenstellung mit Breuer und Strauss drückt sich Myers’ Per­ spektive aus, in der das Problem der durch die Geschichte sich einstellenden Fragilität der Tradition in den Hintergrund rückt. Diese Arbeit wendet sich hingegen Benjamins Denken zu, wodurch eine Differenz im gewählten Zugang besteht. Myers macht das Problem, das auch in dieser Arbeit zugrunde gelegt wird, zu seinem Gegenstand, berührt aber seiner Schwerpunktsetzung entsprechend nur am Rande die von Rosenzweig und Cohen in ihren zentralen Schriften gegebenen Antworten im Namen des Judentums. An diesem Punkt wird hier angesetzt und die entgegengesetzte Perspektive eingenommen. Der Fokus liegt auf genau den Werken, in denen das Problem überwunden werden sollte und zugleich seine Spuren hinterließ. Erst in deren Antworten wird die historische Distanz sichtbar  – wobei allerdings nicht die Quellen des Judentums selbst der Gegenstand sind, sondern es wird den Auswirkungen des modernen Geschichtsbegriffs nachgegangen. Vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges schwand der Bezug zur Tradition, der in der Krise des Historismus gerade auch zur 49 Myers, Resisting History. 50 Wie schon für »Historismus« und »historicism« allgemein, so gibt es auch in Bezug auf den Kontext Rosenzweigs keine Einigkeit, was mit dem Begriff zu fassen sei. Obschon David N. Myers dessen Unschärfe problematisiert, arbeitet er exponiert mit dem Begriff. In Resisting History versteht er »historicism« im Anschluss an Calvin Rand und bestimmt in seiner Samuel Braun Lecture vom Mai 2000 ebenfalls mit Rand »Causality and contextualization« als die zwei Säulen des »historicism«. Robert Gibbs umkreist mit Blick auf Rosenzweigs Umfeld die Relativität, wenn er schreibt: »What the historicists rejected […] was the existence of some overall purpose and plan to history’s process.« In verschiedener Intensität oder mit verschiedenen Schwerpunkten wird »historicism« so im Bedeutungsfeld des deutschsprachigen modernen Geschichtsbegriffs verstanden, umfasst allerdings zumeist nicht dessen semantische Breite. Myers, Resisting History, 18–20; ders., The Problem of History in German-Jewish Thought, 12; Gibbs, Correlations in Rosenzweig and Levinas, 7.

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Disposition gestellt war. Aus dieser Perspektive rückt Benjamin in den Blick, der noch im Frühjahr 1940 wie kaum ein anderer genau dieses Problem zu seinem eigenen machte.51 In den breit angelegten Forschungsfeldern der allgemeinen wie der jüdischen Geschichtsschreibung ist so auch die mittlerweile recht umfassende Literatur zu Rosenzweigs, Cohens und Benjamins Geschichtsdenken zu berücksichtigen, in der der hier verfolgte historische Ansatz zwar in Teilen vorbereitet, aber bis dato noch nicht zum zentralen Thema gemacht wurde. In der Forschung zu Cohen zeigt sich noch immer eine gewisse Sphärentrennung zwischen dem Erkenntnistheoretiker und dem Denker des Judentums, die es weiter zu überbrücken gilt.52 Diese Studie versteht sich, nicht nur durch die Schwerpunktsetzung, sondern mehr noch durch die historische Kontextualisierung auch als ein Beitrag zur Verbindung der beiden Forschungsfelder zu Cohen, deren Trennung nicht ganz zu dem Denker des kritischen Idealismus passen will. Die Forschung zu Rosenzweigs Werk erlebt dagegen in den letzten zwei Dekaden eine ungebrochene Hochkonjunktur.53 Der Fokus liegt dabei auf Der Stern der Erlösung und die Herangehensweise ist zumeist philosophisch. In dieser Ausrichtung der Forschung ist Rosenzweigs Abkehr von der Geschichte seit Alexander Altmanns Text Franz Rosenzweig on History von 51 Aus der Perspektive der geschichtlichen Krisenformation liegt eine von Myers abweichende Zusammenstellung nahe. So eröffnet Peter Eli Gordon bezeichnenderweise seine Besprechung von Myers Buch mit Walter Benjamin und der Überschrift »Angelus Novus«. Vgl. dazu Gordon, Davis N. Myers, Resisting History (Rezension). 52 Dennoch gibt es mittlerweile fundierte Studien zu Cohens kritischem Idealismus auf der einen wie auch zu seiner Philosophie des Judentums auf der anderen Seite. Die erste intellektuelle Biografie hat Beiser vorgelegt: ders., Hermann Cohen. Vgl. neben den verschiedenen instruktiven Einleitungen in die einzelnen Bände der Werkausgabe zur Erkenntnistheorie an der Schwelle zur Religionsphilosophie bes. Holzhey (Hg.), Der Marburger Neukantianismus in Quellen, Bd. 2; ders., Der systematische Ort der »Religion der Vernunft« im Gesamtwerk Hermann Cohens; Munk, Der andere kritische Idealismus von Hermann Cohen; Wiedebach, Stufen zu einer religiösen Metaphorik, 295–309. Vgl. zur Religionsphilosophie Cohens Kohler (Hg.), Der jüdische Messianismus im Zeitalter der Emanzipation; Schwarzschild, The Tragedy of Optimism. Writings on Hermann Cohen; Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland. 53 Bereits zu Beginn der 1950er Jahre erschien Nahum N. Glatzers Franz Rosenzweig. His Life and Thought. Dieses Werk übernahm und beförderte jedoch, darin ist sich die Forschung weitgehend einig, die Mythenbildung zur Person Rosenzweigs. Und so ist eine auf dem Stand der Forschung befindliche intellektuelle Biografie Desiderat. In den 1970er Jahren begann eine, über einzelne Studien hinausgehende Rezeption. 1980 fand die erste namhafte Konferenz statt und spätestens seit der Gründung der Internationalen Rosenzweig Gesellschaft in Kassel im Jahr 2004 sind regelmäßige Neuerscheinungen zu Rosenzweig zu verzeichnen. Die Herausgabe der Werke Rosenzweigs um 1980 ist für die zunehmende Rezeption eine wichtige Grundlage.

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1958, der 1970 veröffentlichten Studie Von Georg Simmel zu Franz Rosenzweig von Hermann Liebeschütz und dem 1982 erschienenen Système et révélation von Stéphane Mosès gesetztes Thema.54 Gegenwärtig wirft insbesondere Myriam Bienenstock in ihren Arbeiten die Frage nach einer geschichtlichen Säkularisierung auf. In kritischem Anschluss an die von Löwith am Beginn des Kalten Krieges wieder aufgenommene Debatte um Geschichtsphilosophie als säkularisierte Eschatologie zeigt Bienenstock die Differenz zwischen Cohen und Rosenzweig auf.55 Dabei geht sie auch auf Löwiths Auseinandersetzung mit Rosenzweig im Kontrast zu Martin Heidegger und Blumenbergs (vor allem in Die Legitimität der Neuzeit) ausgeführte Gegenposition in der Frage des Rechtstitels von Verweltlichung ein. Sie erklärt Cohen folgerichtig zu ebendem Verteidiger der Neuzeit, als der auch Blumenberg gedanklich figurieren wollte.56 Bienenstock arbeitet aber nicht nur zu Rosenzweigs Denken im Kontrast zu Cohens, sondern auch zu dessen Spannungsverhältnis zu Hegel, Schelling und dem deutschen Idealismus im Allgemeinen.57 An die Ausdeutung der aufbewahrenden Abkehr Rosenzweigs vom Idealismus anknüpfend, nimmt diese Arbeit deren historische Dimension in den Blick und bezieht aus dieser Perspektive auch die Forschungen zu Benjamin in die Betrachtung ein. Die seit fünfzig Jahren florierende Benjamin-Forschung kann in ihrem Umfang kaum mehr gewürdigt werden; und die Erörterung der Literatur zu seiner Geschichtsphilosophie würde mittlerweile mindestens eine eigene Arbeit erfordern.58 Hier sind insofern insbesondere diejenigen Studien be54 Vgl. dazu Altmann, Franz Rosenzweig on History, wieder abgedruckt in und im Folgenden zit. nach Mendes-Flohr (Hg.), The Philosophy of Franz Rosenzweig, 124–137; Liebeschütz, Von Georg Simmel zu Franz Rosenzweig; Mosès, Système et révélation; die deutsche Übersetzung erschien als ders., System und Offenbarung. 55 Bienenstock, Cohen und Rosenzweig; dies. (Hg.), Der Geschichtsbegriff: eine theologische Erfindung?, darin bes. die Einleitung, 7–11, sowie dies., Ist der Messianismus eine Eschatologie?, 128–147. 56 Vgl. dies., Cohen und Rosenzweig, 212 f. 57 In diesem Forschungsfeld sind im Hinblick auf die Hegelrezeption in Rosenzweigs Geschichtsverständnis u. a. auch die Studien von Heinz-Jürgen Görtz relevant, bes. Tod und Erfahrung, 1984 erschienen, und In der Spur des »neuen Denkens« von 2008. In den früheren Arbeiten versteht Görtz Rosenzweigs Denken als »eschatologische Dialektik«, in den späteren beschreibt er es als »eschatologisch-dialektische Erfahrung« – beide Bezeichnungen verweisen auf eine strukturelle Nähe zu Hegel. Bei der Frage nach dem Verhältnis Rosenzweigs zu Schelling sind die Studien von Wolfdietrich Schmied-Kowarzik zu nennen, in denen er die gedanklichen Transformationen herausarbeitet. Vgl. Görtz, In der Spur des »neuen Denkens«, 139; ders., Tod und Erfahrung, 326; zu Schmied-Kowarzik vgl. neben den einschlägigen Kongressbänden u. a. ders., Rosenzweig im Gespräch mit Ehrenberg, Cohen und Buber. 58 Die Benjamin-Bibliografien geben schon erste Eindrücke von der Breite des Forschungsfeldes. Vgl. dazu u. a. Brodersen, Walter Benjamin; Wesseling (Hg.), Walter Benjamin.

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rücksichtigt worden, die den historischen Aspekt in die Analyse einbeziehen. So werden etwa Gérald Raulets Schriften zum Thema als ein Ansatzpunkt genommen.59 Aber auch die umfassende intellektuelle Biografie Benjamins von Jean Michel Palmier, die zuerst auf Französisch und 2009 auf Deutsch erschien, ist eine wichtige Referenz.60 Vor allem aber haben die philosophischen Arbeiten von Stéphane Mosès zu Benjamin und R ­ osenzweig die Weiche für die Verhältnisbestimmung der beiden Denker gestellt. An Walter Benjamin und Franz Rosenzweig von 1982 und L’ange de l’histoire. Rosenzweig, Benjamin, Scholem von 1992 anknüpfend,61 werden die beiden geschichtlichen Krisendenker in einen Fragenhorizont gestellt, der in dieser Arbeit in seiner historischen Genese  – nicht nur in Rosenzweigs, sondern auch in Cohens und Benjamins intellektueller Biografie – nachverfolgt wird. Die philosophische Perspektive, wie sie für die Forschung zu den drei Denkern und ihren Werken charakteristisch ist, wird dafür durch werk-, begriffs- und erfahrungsgeschichtliche Fragen erweitert. Die spezifische historische Ausrichtung zeigt sich in der Gliederung.

Aufbau der Studie Die Grundstruktur der Studie ist an derjenigen historischen Distanz orientiert, die sich erstens in Rosenzweigs Anspruch der Überwindung der »gesamten geistigen Situation«, der epistemischen Ordnung des 19. Jahrhunderts, zweitens zu Cohen und auf anderer Ebene drittens auch zu Benjamin anzeigt. So ist sie nicht nach der Chronologie gegliedert, sondern von Rosenzweigs Reaktion auf die geschichtliche Krise ausgehend, wird zurück- und vorgeblickt. Diese Denkbewegung wird auf drei Stufen gleichsam als mikro59 Vgl. dazu u. a. Raulet, Werkgeschichte als Zeitgeschichte. Aber auch die Fallstudien von Burkhardt Lindner zu Benjamins intellektueller Biografie, v. a. zu Das Kunstwerk in sei­ ner technischen Reproduzierbarkeit, und Uwe Steiners Betrachtungen der Dissertationsschrift Benjamins wie seiner Positionsbestimmung um 1920 sind wichtige Referenzwerke. Vgl. etwa Lindner (Hg.), Benjamin-Handbuch; Steiner, Walter Benjamins »Wendung zum politischen Denken«. 60 Palmier, Walter Benjamin. 61 Vgl. dazu Mosès, L’ange de l’histoire sowie die deutsche Übersetzung, die für diese Arbeit herangezogen wurde: ders., Der Engel der Geschichte; ders., Walter Benjamin und Franz Rosenzweig. Zeitlich zwischen diesen beiden Texten von Mosès liegt ein Beitrag von Ulrich Hortian, der den Unterschied zwischen Rosenzweigs Denken jenseits der Politik zu Benjamins politischem Denken thematisiert. Obschon Hortian auf den zentralen Aspekt der geschichtlich-brüchigen Zeitformationen kurz eingeht, sind im Hinblick auf Rosenzweigs Werk gewisse Vereinheitlichungen zwischen 1910 und 1918 vorgenommen worden, die einen Zugang zu der spezifischen Krisenantwort in Der Stern der Erlösung verstellen, insbesondere wird der Begriff der Religion auf das Werk angewandt. Vgl. dazu Hortian, Zeit und Geschichte bei Franz Rosenzweig und Walter Benjamin.

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skopische und makroskopische Vor- und Nachgeschichte betrachtet: Zuerst wird sie werkimmanent zum Thema, dann in Rosenzweigs intellektueller Biografie nachvollzogen und  – für die Gesamtstruktur maßgeblich  – in der ideengeschichtlichen Großbewegung, die das 19. vom 20. Jahrhundert trennte, im Kontrast von Rosenzweig zu Cohen und zu Benjamin herausgearbeitet. Dementsprechend ist die Schrift in drei Teile aufgeteilt, in denen die den Geschichtsvorstellungen eingeschriebenen historischen Erfahrungen zur Geltung kommen. Der erste Teil widmet sich Rosenzweig und dem Auftakt des 20. Jahrhunderts, der zweite dem Verlauf des 19. Jahrhunderts und Cohen und der dritte Benjamin und der Mitte des 20. Jahrhunderts.62 So wird Der Stern der Erlösung zu Beginn auf den Status des Geschichtsbegriffs hin befragt. Um die geistesgeschichtliche Zäsur, für die dieses Werk steht, gruppieren sich die weiteren Kapitel und Teile. Ausgehend von Der Stern der Erlösung wird im ersten Teil Rosenzweigs eigene intellektuell-biografische Vorgeschichte, seine Suche nach einer sinnvollen Geschichte und ihrem Verhältnis zu Gott vor dem Krieg und die Nachgeschichte, die Gründung des Freien Jüdischen Lehrhauses 1920 sowie seine theologische Neuorientierung in der Mitte der 1920er Jahre in den Blick genommen. Auf einer allgemeineren Ebene wird im zweiten Teil die Vorgeschichte im 19. Jahrhundert zulaufend auf Cohens Denkbewegung, seinem jenseits des Geschehens stehenden Festhalten an einem Fortschrittsbegriff, betrachtet. Die Wiederaufnahme der Grundkonstellation der historischen Krise in Benjamins sich der Theologie erinnernden Geschichtsphilosophie, die in seiner Biografie nachverfolgt wird, bildet den Gegenstand des dritten Teils. Durch die Krisenzeit hindurch zeigt sich die geistesgeschichtliche Zäsur, deren vorhergegangenes, noch nicht im Fundament erschüttertes Denken von Cohen (bis hinein in die postum 1919 erschienene Religion der Vernunft) vertreten wird und deren Folgen Benjamin im Frühjahr 1940 unter neuen historischen Bedingungen reflektierte. Weil der Bruch erst in der Gesamtschau sichtbar wird, steht Cohen in der Mitte der Studie. Sein Denken ist ein letzter Ausdruck des alten Denkens, in dem Rosenzweig noch das neue vorgezeichnet sehen wollte;63 es ist eine »Ahnung des Wahren«, die Benjamin bei ihm zu erkennen meinte, der er aber »den Rücken« zugekehrt habe.64 62 Der erste und der dritte Teil sind nicht chronologisch strukturiert, sondern folgen den in den einzelnen Kapiteln abgebildeten Zeiträumen. Die Gliederungspunkte des zweiten Teils, der weitgehend an der Chronologie orientiert ist, verweisen auf Schwerpunkte  – auch sie sind jedoch nicht als fixe Begrenzungen zu verstehen. 63 Vgl. Rosenzweig, Das neue Denken, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 139–161, hier 152. Der Beitrag erschien zuerst als ders., Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum »Stern der Erlösung«, in: Der Morgen 1 (1925), H. 4, 426–451. 64 Benjamin an Gershom Scholem, Januar 1921, zit. nach ders., GB 2, 126–132, hier 130.

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Beide bezogen sich zwar auf Cohen und meinten etwas Gesuchtes in seinem Denken zu finden. In der Unterschiedlichkeit des jeweils Intendierten zeigen sich aber die verschiedenen Deutungsmuster: Rosenzweig sah ein Denken des Judentums jenseits der Geschichte bei Cohen angelegt, an das er anknüpfen wollte. Benjamin suchte dagegen bei Cohen nach einem theologischen Fundament der Geschichtsphilosophie. Auch damit dieser Unterschied sichtbar wird, der seinen Ausgangspunkt bei Cohen selbst nimmt, steht der Cohen-Teil zwischen der Darstellung Rosenzweigs und Benjamins. Cohen wird dabei im Rahmen des Denkens des 19. Jahrhunderts verstanden und tiefer in den historischen Kontext eingebettet als Rosenzweig und Benjamin. So beginnt der zweite Teil nicht mit ihm, sondern mit dem Historiker Heinrich Graetz, der ein Lehrer und Widerpart in Cohens Interpretation des Judentums war. Anhand des Lebenswegs von Graetz, dessen Werk einen philosophischen Anfang jüdischer Historiografie in der Moderne markiert, wird der Resonanzboden für Cohens Auffassung des Judentums zugänglich gemacht, wie er sich in der Wissenschaft des Judentums formierte. Von der Auseinandersetzung um die Grenzen der historischen Interpretation zwischen Graetz und Samson Raphael Hirsch, dem Denker der Neo-Orthodoxie, der zuerst der Lehrer von Graetz war, bis hin zu Cohens messianischer Hoffnung, die noch in Religion der Vernunft in einer Geschichtsphilosophie des Judentums ihren Ausdruck fand, wird zurückgeblickt. Damit wird ein Säkularisierungsprozess freigelegt, den Cohen durch seine geschichtsphilosophische Perspektive beförderte und auf den Rosenzweig mit seiner Abkehr von der Geschichte reagierte. Eine Weiterentwicklung des Versuchs Rosenzweigs, die Offenbarung gegen die hegemoniale Geschichte aufzustellen, wird im dritten Teil in Benjamins Geschichtsdenken erörtert, das er an prominentester Stelle in seinem Text Über den Begriff der Geschichte ausführte. In der Nachwirkung der Krise entfaltete Benjamin eine theologisch gefärbte Geschichtsphilosophie, mit der er sich gegen Historismus und Fortschrittsdenken zu verwehren suchte – im Namen eines ganz eigenen historischen Materialismus. Er dachte auf neuem Fundament über die Verhältnisbestimmung von Geschichte, Theologie und Politik nach, die schon am Ausgang des Ersten Weltkrieges sein Thema war. Im Angesicht von Verfolgung, Exil und Internierung wies Benjamin dem 19. Jahrhundert indes einen neuen Stellenwert zu. Die Reflexion des theologischen Restbestands versetzte er wieder in einen geschichtlichen Rahmen. Diese Zuordnung deutet zugleich auf die Grenzen von Rosenzweigs Versuch, der Geschichte als epistemischem Ordnungskonzept zu entkommen. Die Studie befragt den modernen Geschichtsbegriff aus den Momenten seiner Erosion heraus, die sich in der zweifachen Abgrenzung Rosenzweigs, in der spezifischen Distanz zur deutschen Geschichtswissenschaft wie zur

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Wissenschaft des Judentums, emblematischen Ausdruck verschaffte. Durch Rosenzweigs Antwort auf die Krise des Historismus, in der der Verlust von Tradition in neuer Intensität zum Problem wurde, geht sie dem intrinsischen Zusammenhang von Geschichte und Moderne nach, den Rosenzweig, C ­ ohen und Benjamin auf ihre je eigene Weise in ihrer je eigenen Zeit reflektierten. Im Angesicht des Schwindens der Sinnstruktur der geschichtlichen Welt des 19. Jahrhunderts wird das Fundament jüdischen Geschichtsdenkens, das sich in ihrem Rahmen hatte ausprägen können, in einen allgemeinen Problemzusammenhang gerückt. Rosenzweig suchte sich diesem zu entziehen, indem er die Offenbarung an die Stelle der Geschichte rückte. Diese erneute Ersetzung verweist auf die fundamentale historische Distanz, die sich im Denken Cohens zu dem von Rosenzweig und auch zu dem Benjamins im Bezug zur jüdischen Tradition manifestierte. In der Gegenwartsdiagnose, die Kracauer zu Beginn der 1920er Jahre in seinen Kritiken formulierte, wird somit berührt, was Rosenzweig mit seinem 1921 veröffentlichten Hauptwerk darzustellen versuchte und was Benjamin noch im Frühjahr 1940 in neuer historischer Formation vergegenwärtigte. Obschon Rosenzweig selbst in seinem Werk durchaus einen Anfang sah und es möglich ist, dass Kracauer bei aller Kritik ebenjener Gestus des Heraustretens aus der Geschichte bedeutend erschien,65 nimmt diese Studie damit nicht so sehr das Neue in den Blick, sondern gerade das darin bewahrte Alte: die »tausend gebrochenen Farben des Übergangs«.

65 So schrieb Kracauer im August 1923 an Leo Löwenthal: »Rosenzweigs Buch ist doch bedeutend, freilich ein Systemgesabber, das den Idealismus in uns tötet, um ihn hinterher wieder aufzurichten. Einzelnes sagt mir aber sehr zu.« Kracauer und Theodor W. Adorno an Leo Löwenthal, 22. August 1923, zit. nach Löwenthal / K racauer, In steter Freundschaft, 44 f., hier 44.

Erster Teil Aus der Geschichte Franz Rosenzweig und der Auftakt des 20. Jahrhunderts

1. Eine Krisenschrift: 1917–1921

Im Oktober 1925 erschien in Der Morgen ein Beitrag von Franz R ­ osenzweig unter dem Titel Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum »Stern der Erlösung«. Die im Philo-Verlag erst seit April des Jahres erscheinende Zweimonatsschrift stand dem Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens nahe und setzte sich mit der deutsch-jüdischen Geschichte und Gegenwart aus verschiedenen Perspektiven auseinander. Von Julius Goldstein herausgegeben, bot sie kulturellen, politischen wie religiösen Interpretationen und Positionen des deutschen Judentums ein Forum: von Leo Baeck über Siegfried Kracauer bis hin zu Ernst Lissauer. Dabei zeigte sie sich offen für neue Ansätze. Für Rosenzweig selbst war das »Neue« zum philosophischen Programm geworden, was sich schon im Titel seines Beitrags anzeigte. Als Das neue Denken im vierten Heft der Zweimonatsschrift gedruckt wurde, fügte der Herausgeber dem Beitrag allerdings eine Vorbemerkung hinzu.1 Dieser Vorgang war zwar für das Medium nicht ungewöhnlich. Bereits im zweiten Heft hatte Goldstein betreffs eines Artikels zu den Ausgrabungen am Sinai erläutert, warum auch dieses archäologische Thema für seine Zeit wichtig sei, und zu einer Übersetzung, die unter dem Titel Zwei Legenden erschien, die »Fülle schöner alter Geschichten […] in Talmud und Midrasch« ihrer schweren Lesbarkeit gegenübergestellt.2 Dass jedoch einem Text, den der Verfasser selbst als »nachträgliche Bemerkungen« charakterisierte, eine Vorbemerkung vorangestellt wurde, ist doch signifikant – zumal es sich nicht um den Versuch handelte, den Leserinnen und Lesern Facetten der in Vergessenheit zu geraten drohenden Tradition wieder nahezubringen, wie es bei den Ausgrabungen und der Übersetzung der Fall war. Dennoch wollte Goldstein auch in Bezug auf Das neue Denken die Aufmerksamkeit für einen nicht gleich zugänglichen Gegenstand gewinnen. So heißt es die Vorbemerkung eröffnend: »Der folgende Beitrag von Franz Rosenzweig gehört zu dem wesenhaft Neuen und geistig Entscheidungsvollen, das zu künden eine der Aufgaben dieser Zeitschrift ist. Es mußten daher die Bedenken schweigen, die mit dem Worte ›zu schwer‹ hin und wieder an mein 1 Goldstein, Vorbemerkung zu Franz Rosenzweig »Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum ›Stern der Erlösung‹«. 2 Ders., Vorbemerkung zu Rudolf Hallo »Die Ausgrabungen am Sinai und das Problem des Moses- und des Gottesnamens«; ders., Vorbemerkung zu »Zwei Legenden mitgeteilt von Else Schubert-Christaller«.

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Franz Rosenzweig und der Auftakt des 20. Jahrhunderts 

Ohr gelangten.«3 Goldstein wollte darauf vorbereiten, dass Das neue Denken ein Werk behandele, das bestimmt sei, »der philosophischen Arbeit einen Ruck zu geben«, den nicht jeder vertrage. Der Beitrag in Der Morgen solle dafür den »polemischen Faden« offenlegen, der in dem Werk selbst nicht sichtbar sei.4 Mit dieser Vorbereitung ersuchte Goldstein seine Leserinnen und Leser geradezu um Nachsicht einem schwierigen Thema gegenüber und ignorierte die Frage, ob Rosenzweig mit den »nachträgliche[n] Bemerkungen« vielleicht selbst eine Einordnung hatte vornehmen wollen. Auf die Vorbemerkung des Herausgebers folgt jedoch unmittelbar zu Beginn des Aufsatzes eine einleitende Erklärung des Verfassers, die ebenfalls das grassierende Unverständnis zum Anlass des Textes nahm.5 Einer doppelten Vorwarnung gleich wurde Das neue Denken also vier Jahre nach dem Erscheinen von Der Stern der Erlösung mit aller Behutsamkeit der Öffentlichkeit übergeben. Der schlichte Grund dieser Vorsicht lag darin, dass Der Stern der Erlösung auch in Rosenzweigs eigener Einschätzung sogar von vielen, die ihn lobten, nicht verstanden worden sei. Er ging von einer »›gesellschaftlichen Verwechslung‹« aus, nach der das Buch »gekauft und – bedenklicher – auch gelesen worden [sei] als ein ›jüdisches Buch‹«.6 Der Leitfaden sollte dem entgegenwirken, indem er, wie er apostrophierte, sowohl einer Lesart Abhilfe schaffe, die das Buch als »schönes jüdisches Buch« für den »Tagesgebrauch« lese, als auch einer, die es als Beitrag zur »Religionsphilosophie« verstehe.7 Dagegen charakterisierte er den Stern der Erlösung als »überhaupt kein ›jüdisches Buch‹, wenigstens nicht das, was sich die Käufer, die mir so böse waren, unter einem jüdischen Buch vorstellen; […] [s]ondern er ist bloß ein System der Philosophie«.8 Am 11. März 1925, während Rosenzweig die »nachträgliche[n] Bemerkungen« überarbeitete, teilte er seinem Großcousin Hans Ehrenberg betreffs der zweifelhaften Berühmtheit seines Werks mit: »Ich schreibe ja eben gegen dieses Renommee. Natürlich nicht gegen seine Quantität, die mir schon 3 Ders., Vorbemerkung zu Franz Rosenzweig »Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum ›Stern der Erlösung‹«. 4 Ebd. 5 Vgl. Rosenzweig, Das neue Denken, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 139. 6 Ebd. 7 Vgl. ebd., 140. Rosenzweig setzte als Beleg dafür hinzu, dass das Wort »Religion« im Stern der Erlösung nicht vorkomme. Vgl. zu Rosenzweigs Distanz zum Begriff der Religion u. a. Batnitzky, Idolatry and Representation, 145–168; Gordon, Rosenzweig and Heidegger, 134 f. 8 Rosenzweig, Das neue Denken, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 140. Allgemein zum Stern der Erlösung auch im Hinblick auf die Systemfrage vgl. bes. Mosès, System und Offenbarung; Mendes-Flohr, Art. »Stern der Erlösung«; Pollock, Franz Rosenzweig and the Systematic Task of Philosophy.

Eine Krisenschrift: 1917–1921

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recht ist, sondern gegen seine Qualität. Deshalb übertreibe ich bewußt nach der andern Seite, der allgemeinphilosophischen.«9 Dass diese Übertreibung durchaus auch zu neuen Missverständnissen führen könnte, war für ihn kaum relevant, gab er dem Text diese Schwerpunktsetzung doch nicht aus didaktischem Impetus heraus. Nur Monate zuvor, im Herbst 1924, war in der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums eine kurze Besprechung von Der Stern der Erlösung erschienen, in der es heißt, dass ­Rosenzweigs »Dialektik […] für den philosophisch geschulten Leser schwer zu genießen [ist] und dem philosophisch Ungeschulteren völlig unverständlich bleiben [müsste]«.10 Ein Grund für Rosenzweigs Betonung der allgemeinphilosophischen Orientierung dürfte damit auch in der Erklärungsbedürftigkeit der »andern Seite« gelegen haben. Die Seite indes, die Rosenzweig dem Vertrauten gegenüber nicht zu benennen brauchte, rückte in der Retro­ spektion in den Hintergrund: die theologische. Auf der Suche nach einem Verlag verfasste Rosenzweig im Sommer 1919 einen Briefentwurf an Martin Buber, in dem er das Werk allerdings noch anders einordnete als 1925. Darin heißt es: »Es ist nun mein Wunsch, das Buch in einem Rahmen erscheinen zu lassen, der es schon äußerlich als das kennzeichnet, was es nach meiner Absicht werden sollte und hoffentlich auch geworden ist: ein jüdisches Buch.«11 In seiner Sicht war es also zuerst, trotz der ambivalenten Beschreibung in Das neue Denken, ein jüdisches Buch, nur dass er es vier Jahre nach dessen Erscheinen in dem Zusammenhang fehlgedeutet sah, der es im allgemeinen Verständnis zu einem solchen machen würde. 1919 sah Rosenzweig noch nicht die Notwendigkeit dieser Differenzierung, sondern einer anderen. So schloss er in seinem Briefentwurf an Buber noch aus, dass Der Stern der Erlösung beim Buchverlag Kauffmann veröffentlicht würde, da er keine »Wissenschaft des Judentums« sei, dagegen präferierte er den Löwit Verlag oder den Jüdischen Verlag – auch wenn weder das »Basler Programm« noch das »Judenedikt von 1812« in seinem Text vorkämen, wie er mit polemischem Unterton einräumte.12 Ob der Brief, der eine persönliche Kontaktaufnahme mit Buber nach dem Krieg hätte darstellen sollen, überhaupt versandt wurde, ist nicht zu klären. Der Stern der Erlösung erschien im Frühjahr 1921 bei Kauffmann und mit Buber trat Rosenzweig erst nach dessen Veröffentlichung in einen Gedankenaustausch.

9 Rosenzweig an Hans Ehrenberg vom 11. März 1925, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 1025 f., hier 1026. 10 Marck, Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung (Rezension), 260. Vgl. zu der Rezension im Kontext Meyer, Zwischen Philosophie und Gesetz, 177 f. 11 Rosenzweig, Briefentwurf an Martin Buber (wahrscheinlich August 1919), zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 643–645, hier 644. 12 Vgl. ebd.

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Die unterschiedlichen Ansätze Rosenzweigs zur Interpretation von Der Stern der Erlösung zeugen zwar auch von einer Veränderung der Wahrnehmung in den Jahren nach der Publikation. Mehr noch verweisen sie allerdings auf dessen Anspruch. Dass die Frage, inwiefern es sich bei dem Werk um ein jüdisches Buch handele, sich nicht in die Aufteilung einer theologischen und philosophischen Seite einfügte, hat einen Grund: Das Werk stellt nichts weniger dar als den Versuch der Neubestimmung dieses Verhältnisses insgesamt.13 Theologie und Philosophie waren für Rosenzweig im 19. Jahrhundert problematisch geworden und könnten nur im Einklang miteinander wieder wirken. So postulierte er in Das neue Denken: »Die theologischen Probleme wollen ins Menschliche übersetzt werden und die menschlichen bis ins Theologische vorgetrieben.«14 Aus dieser allgemeinen Perspektive gestand er denn auch in Das neue Denken zu, dass Der Stern der Erlösung ein »jüdisches Buch« sei.15 Damit wollte Rosenzweig den Text noch immer nicht der Denkbewegung zugedacht wissen, die im 19. Jahrhundert philosophische Auslegungen des Judentums hervorgebracht hatte. Stattdessen sah er die Zuordnung in seinem »neuen Denken« begründet, das er 1925 als »Sprachdenken« begriff.16 Zu dessen Bestimmung rekurrierte er in seinen »nachträgliche[n] Bemerkungen« auf Schelling, der seinen Idealismus in eine Offenbarungsphilosophie münden ließ.17 Im April 1918 hatte sich Rosenzweig in der deutschen Philosophie orientiert, indem er seiner Mutter Adele darlegte: »Ich bin ja Antihegelianer (und Antifichteaner); meine Schutzheiligen unter den Vier sind Kant und  – vor allem  – Schelling.«18 Und in einem hierzu zeitnah

13 Vgl. dazu u. a. Mendes-Flohr, Franz Rosenzweig’s Concept of Philosophical Faith. 14 Rosenzweig, Das neue Denken, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 153. Vgl. dazu auch Mendes-Flohr, Franz Rosenzweig’s Concept of Philosophical Faith, 368. 15 Rosenzweig, Das neue Denken, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 155. 16 Zu Rosenzweigs »Sprachdenken« vgl. u. a. Bauer, Rosenzweigs Sprachdenken im »Stern der Erlösung« und in seiner Korrespondenz mit Martin Buber zur Verdeutschung der Schrift; Benjamin, Rosenzweig’s Bible, 26–64; Dubbels, Figuren des Messianischen in Schriften deutsch-jüdischer Intellektueller 1900–1933, 41–71. 17 Rosenzweig, Das neue Denken, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 148. 18 Ders., Brief an die Mutter, 15. April 1918, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 538 (Hervorhebung im Original). In der Forschung ist Rosenzweigs Schelling-Rezeption so weit angenommen, jedoch sorgt für Diskussionen, wie weit seine Kenntnis von dessen Werk ging. Myriam Bienenstock legt  – im Einklang mit Wolfdietrich Schmied-Kowarzik  – kohärent dar, dass Rosenzweig Schellings Spätphilosophie in weiten Teilen von Hans Ehrenberg übernommen hat, und betont, dass es fraglich ist, ob er sie selbst gelesen hat. Vgl. dazu und zu Rosenzweigs Nähe zu Schelling

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verfassten Brief an Hans Ehrenberg schrieb er: »Schelling […] ist doch im ganzen meine Art, die ich anerkennen muß.«19 Auch in Der Stern der Erlösung finden sich entsprechend zentrale Motive aus Schellings Philosophie20 – nicht indes aufgrund eines intensiven Studiums von dessen Schriften, sondern angestoßen durch Hans Ehrenberg und wohl auch durch ihn vermittelt.21 Seit den 1910er Jahren allgemein verstärkt rezipiert, rückte Schelling in seiner Spätphilosophie den Begriff der Offenbarung ins Zentrum und wies dem Judentum darin einen zentralen Ort zu – beides im Kontrast zu Hegel.22 Für Rosenzweig war diese Anerkennung eines jüdischen Beitrags am Erlösungsgeschehen Ansatz, philosophische und theologische Gedanken intrinsisch zu verbinden. Diesem inneren Zusammenhang entsprechend, beschrieb er in Das neue Denken, was das Werk Der Stern der Erlösung zu einem jüdischen Buch mache: »nicht eins, daß von jüdischen Dingen handelt, denn dann wären die Bücher der protestantischen Alttestamentler jüdische Bücher; sondern eins, dem für das, was es zu sagen hat, und gerade für das Neue, die alten jüdischen Worte kommen«.23 Vier Jahre nach dem Erscheinen von Der Stern der Erlösung hatte sich die allgemeine Lage weitgehend beruhigt und so verwies nur noch dieses »Neue« auf diejenige geschichtliche Krisenzeit am Ausgang des Ersten Weltkrieges, aus der das Werk hervorgegangen war. Dennoch führte Rosenzweig in Das neue Denken dessen grundlegende Bedeutungsschichten auf: Es sollte zuerst ein System der Philosophie sein, dann die Inauguration des neuen Denkens und abschließend ein Buch des Judentums – allerdings ganz und gar nicht in dem Sinne, was bis dahin darunter verstanden wurde.

insgesamt Bienenstock, Auf Schellings Spuren im »Stern der Erlösung«; Liebeschütz, Von Georg Simmel zu Franz Rosenzweig, 156–164; Mosès, System und Offenbarung, bes. 125; Schmied-Kowarzik, Rosenzweig im Gespräch mit Ehrenberg, Cohen und Buber, 61–90. 19 Rosenzweig an Rudolf Ehrenberg vom 14. April 1918, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 535–537, hier 537. 20 So adaptierte Rosenzweig den Begriff der »Weltseele« im Text explizit vom »jungen ­Schelling«. Vgl. ders., Der Stern der Erlösung, 48. 21 Vgl. dazu bes. Schmied-Kowarzik, Rosenzweig im Gespräch mit Ehrenberg, Cohen und Buber, 69 f. 22 Vgl. zu Schellings offenbarungs- wie geschichtsphilosophischer Auffassung des Judentums u. a. Danz, »Ihre Wahrheit hat die alttestamentliche Religion nur in der Zukunft«. Einen Einblick in Schellings Philosophie im Kontext der Romantik gibt u. a. Frank, Vorlesungen über die Neue Mythologie, Bd. 1. Gegen die Zurordnung Schellings zur Romantik (im Namen von Idealismus und existenzieller Position) richtet sich SchmiedKowarzik, Rosenzweig im Gespräch Ehrenberg, Cohen und Buber, 46–48. 23 Rosenzweig, Das neue Denken, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 155.

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Der »Stern« im Krieg Der Stern der Erlösung reflektiert in ganz eigener Weise seine Entstehungszeit.24 Inmitten des Geschehens im August 1918 an der mazedonischen Front begonnen und im Februar 1919 in der gesellschaftlichen Umbruchphase vollendet, wurde dessen Manuskript am Ausgang des Weltkrieges geschrieben.25 Den Beginn legte Rosenzweig noch in Feldpostbriefen nieder. Obwohl die mazedonische Front lange Zeit nicht die aktivste im Krieg darstellte, war die Möglichkeit des gewaltsamen Todes allgegenwärtig und der Stellungskrieg wurde zum paradigmatischen Bild der Zäsur der Moderne.26 In Das neue Denken fand dies zwar keine Erwähnung mehr, aber der Schützengraben ist in Der Stern der Erlösung in eindrücklicher Form eingeschrieben. So heißt es in dessen Auftakt: »Mag der Mensch sich wie ein Wurm in die Falten der nackten Erde verkriechen vor den herzischenden Geschossen des blind unerbittlichen Tods, mag er es da gewaltsam unausweichlich verspüren, was er sonst nie verspürt: daß sein Ich nur ein Es wäre, wenn es stürbe […].«27 Gerade in den Wochen, in denen Rosenzweig die Arbeit am Manuskript aufnahm, kündigte sich in seiner Umgebung eine neue Eskalationsstufe an. So teilte er am 4. September 1918 Rudolf Ehrenberg mit: »Hier ists ruhig, 24 In der Rosenzweig-Forschung gibt es eine ausgreifende Diskussion darüber, ob Der Stern der Erlösung in Reaktion auf den Krieg gelesen werden kann. Benjamin Pollock etwa sucht in seinem Beitrag From Nation State to World Empire aus dem Jahr 2004  – allerdings unter dem Vorzeichen der »politischen Theologie« – zu zeigen, dass der Krieg keine signifikanten Auswirkungen auf Rosenzweigs Denken gehabt habe. Dagegen machen Stéphane Mosès und Wolfgang D. Herzfeld Spuren des Ereignisses im Stern der Erlösung aus. Mosès betont erneut in einem Interview aus dem Jahr 2006 die Bedeutung des Krieges. Vielleicht hat das Ereignis nicht zu der Resignation geführt, die im Nachgang nationalistischer Euphorie mitunter mit dem Ausgang des Ersten Weltkrieges verbunden wird, aber Auswirkungen auf Rosenzweigs Denken hatte es. Zeugnis davon gibt vor allem seine aufbewahrende Abkehr von dem Geschichtsbegriff des 19. Jahrhunderts, die begrifflich im letzten Jahr des Krieges zum Tragen kam. Vgl. zu der Diskussion u. a. Pollock, From Nation State to World Empire; Herzfeld, Einleitung, in: Rosenzweig, Feldpostbriefe, 17 f.; Mosès, Ein Teil der Landkarte der jüdischen Moderne, 38 f. 25 Dies beschrieb Rosenzweig in seinem Briefentwurf an Buber folgendermaßen: »In den letzten Monaten des Krieges und in den ersten der Revolution, August 18 bis Februar 19, entbanden sich die aufgesammelten Kräfte in einem größeren systematischen Buch.« Rosenzweig, Briefentwurf an Martin Buber (wahrscheinlich August 1919), zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 644. 26 Wolfgang D. Herzfeld weist darauf hin, dass die Zeilen in der Eröffnung von Der Stern der Erlösung nicht monokausal aus dem Geschehen erklärt werden können. Jenseits der wichtigen Ergänzung Herzfelds in systematischer Hinsicht wird in den von Rosenzweig gezeichneten Bildern im Auftakt seines Werks dennoch eindeutig der Stellungskrieg aufgerufen. Ders., Einleitung, in: Rosenzweig, Feldpostbriefe, 17 f. 27 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 3.

Eine Krisenschrift: 1917–1921

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wahrscheinlich Ruhe vor dem Sturm, da die andren Offensivabsichten haben; hier sind sechzig, im Wardarabschnitt achtzig Tanks beobachtet; wir richten uns auf Nahverteidigung ein; hoffentlich kommt es nicht dazu.«28 Aus der Sorge heraus, dass es bald zu direkten Kampfhandlungen kommen werde, führte er weiter aus: »Ich könnte einen ruhigen Winter gut brauchen, denn ich habe […] ein Buch zu schreiben angefangen, zwar nicht mein ›eigentliches‹,  – das schreibe ich nicht eher, als ich kann-darf-muß, also sicher nicht während des unbehausten Kriegsdaseins – aber doch die Vorstudie dazu; mein System, muß ich wohl sagen.«29 Keine zwei Wochen vor der Schlacht von Dobro Pole, die das Ende der mazedonischen Front einleitete, kündigte Rosenzweig also mit diesem Brief Ehrenberg sein im Entstehen begriffenes Werk an und beschrieb seine geistige Orientierung: »Es ist vor vierzehn Tagen plötzlich dagewesen und seitdem sitze ich unter einer Dusche von Gedanken. Dich geht es besonders an, denn es ist weiter nichts als der ausgewachsene Brief an dich vom vorigen November.«30 Der Brief vom 18. November 1917, auf den Rosenzweig damit hindeutete und der zwei Jahrzehnte später von Edith Rosenzweig unter dem Titel »Ur­ zelle« des Stern der Erlösung veröffentlicht wurde,31 stellt die erste Annäherung an den Gedankengang dar, den er in seinem Werk ausführte. Trotz der geradezu als eruptiv charakterisierten Niederschrift sind nicht nur die letzten Monate, sondern das gesamte letzte Jahr des Krieges der Zeitraum, in dem es geformt wurde, in dem Rosenzweig das Problem durchdachte und es letztlich auszuformulieren begann. Insbesondere näherte er sich im November 1917 einem neuen Verständnis von Offenbarung an, das er in Der Stern der Erlösung ins Zentrum rückte. Für deren Engführung hob er hervor, dass er in seinen Überlegungen der letzten Jahre nicht zu dem »Zentralbegriff« vorgedrungen sei, sondern immer nur »geschichtsphilosophische, nie rein begriffliche Ergebnisse« hatte erzielen können.32 Dagegen habe er mit dem neuen Ansatz seinen »philosophischen Archimedespunkt« gefunden.33 In Rekurs auf Eugen Rosenstock, der im Zuge ihres Briefwechsels im 28 Ders. an Rudolf Ehrenberg, 4. September 1918, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 603–605, hier 603. Nicht zufällig ist dies der erste Brief im zweiten Teil von Briefe und Tagebücher, dem ersten Band von Rosenzweigs Werkausgabe Der Mensch und sein Werk. Mit ihm wird geradezu eine neue Schaffensperiode Rosenzweigs als eingeleitet betrachtet. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Vgl. Rosenzweig, Kleinere Schriften, 357–372. 32 Ders., »Urzelle« des Stern der Erlösung. Brief an Rudolf Ehrenberg vom 18. November 1917, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 125–138, hier 125. Signifikant ist, dass er diesem Gedanken in Klammern seinen 1914 verfassten, seinerzeit ungedruckten Artikel Atheistische Theologie hinzusetzte. 33 Ebd.

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Vorjahr zu seinem Vertrauten geworden war, führte Rosenzweig aus, dass ­Rosenstock ihm die Offenbarung als »Orientierung« beschrieben habe.34 In ihr gebe es demnach ein »wirkliches, nicht mehr zu relativierendes Oben und Unten in der Natur«.35 Und vermittels dieser Überlegung kam er zu seinem eigenen Verständnis – erneut in auffälliger Abgrenzung zur Verlaufsvorstellung der Geschichte: »So ist der Offenbarungsbegriff dieser Welt nicht das Allgemeine, weder die Arche noch das Telos, weder die natürliche noch die geschichtliche Einheit, sondern das Einzelne, das Ereignis, nicht Anfang oder Ende, sondern Mitte der Welt.«36 Zehn Monate nach dieser ersten Beschreibung kündigte Rosenzweig in dem Brief an Ehrenberg vom 4. September 1918 noch verhalten seine Vorstudie an, es wurde allerdings doch das Buch. In diesen Brief integrierte er eine Gliederung, die er mit Der Stern der Erlösung überschrieb.37 Sie ist bereits, wie späterhin auch die publizierte Fassung, in drei Teile geteilt, mit je einer Einleitung und drei Büchern. In dieser Aufteilung ist die Systematik des Werks abgebildet. So sind bereits dem ersten Teil die »Elemente« und »das Immerwährende«, dem zweiten die »Bahn« und das »Allzeiterneuerte« und dem dritten die »Gestalt« und »das Ewige« zugeordnet.38 An das Schema anschließend, legte Rosenzweig dar, dass »die ›spezielle‹ Religionsphilosophie […] unter III« komme und dass »der Hauptteil […] wohl der II« zugedacht werde.39 Während die Offenbarung bereits die buchstäbliche Mitte bildete, ging die spätere Abgrenzung zur Religionsphilosophie so selbst noch aus dieser hervor.40 Obschon die Umstände es erschwerten, arbeitete Rosenzweig in den folgenden Monaten weiter an dem Buch. Am 8. September 1918, nur vier Tage nach seinem Brief an Rudolf Ehrenberg, teilte er Hans Ehrenberg mit, dass »alles auf Offensive eingestellt« und er »[n]ahe an die Mitte des ersten Teils« vorgedrungen sei.41 Am selben Tag schrieb er an Gertrud Oppenheim: »[E]s gehen in den nächsten Tagen einige Pakete mit Briefen etc. zum Aufbewahren an dich. Wir müssen unser Gepäck möglichst erleichtern, um besser davonlaufen zu können.«42 Am 25. September berichtete er ihr, dass er »einen Rückzug als ›Kranker‹ gehabt« habe und dass er bei dem dritten Buch 34 Ebd., 125. 35 Ebd., 125 f. 36 Ebd., 133 (Hervorhebung im Original). 37 Rosenzweig an Rudolf Ehrenberg, 4. September 1918, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 604. 38 Ebd. 39 Ebd., 605. 40 Ebd., 604. 41 Rosenzweig an Hans Ehrenberg, 8. September 1918, zit. nach ebd., 605–607, hier 605 f. 42 Ders. an Gertrud Oppenheim, 8. September 1918, zit. nach ebd., 607.

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des ersten Teils angekommen sei.43 Auch nach seiner weitgehenden Genesung verblieb Rosenzweig als »Leichtkranker« im Lazarett, wie er seiner Mutter wiederum eine Woche später aus Belgrad mitteilte, wo er die nächsten Wochen blieb.44 Erst um den 20. Oktober herum verließ er das Lazarett. In seinen Briefen zeigte er sich erfreut über die Zeit, die er dort zum Arbeiten hatte finden können, während »die Zustände immer schauderöser [sic] geworden« seien.45 Über Kassel kam er am 25. Oktober zur »Flak Ersatzabteilung« nach Freiburg im Breisgau.46 Noch bis zum 1. Dezember blieb er in der Stadt, in der er zwei Jahre vor dem Krieg bei dem Historiker Friedrich Meinecke zu Hegels politischer Philosophie promoviert worden war. Nach seiner Entlassung vom Militär quartierte er sich zeitweise bei seiner Mutter in Kassel ein und hielt dort am 5. Januar 1919 fest: »Ich stecke tief in der Arbeit, seit Ende August eigentlich ohne Unterbrechung. Die privaten und die politischen Ereignisse seitdem habe ich wie mit einem zweiten Leben erlebt. Im Februar hoffe ich zu Ende zu kommen.«47 Nicht dieses zweite, den historischen Ereignissen ausgelieferte, sondern ein anderes Leben floss also seiner eigenen Ansicht nach geradezu in Der Stern der Erlösung ein, der seine Aufmerksamkeit nicht nur von den letzten Kriegsmonaten und der Demobilisierung, sondern auch von der Arbeit an seinem Buch über Hegel ablenkte. In der zweiten Januarhälfte 1919 kehrte Rosenzweig nach Freiburg zurück und es wäre die Vorbereitung der Publikation dieses ersten Buchs an der Zeit gewesen, aber inmitten des gesellschaftlichen Umbruchs schloss Rosenzweig stattdessen zuerst das Manuskript von Der Stern der Erlösung ab. So berichtete er am 16. Februar 1919 Margrit Rosenstock – der Ehefrau seines Freundes Eugen, für die er zu dieser Zeit so intensive Gefühle hegte, dass er ihr nicht nur fast täglich schrieb, sondern sich auch nach Säckingen in deren Elternhaus begab –, dass er mit dem Text Der Stern der Erlösung fertig geworden sei.48 Mit diesem Werk, das sich, wie Rosenzweig selbst es bedachte, in eine ganz eigene Spannung zu dem ihm gegenwärtigen Geschehen setzte, suchte er nichts weniger als die Philosophie des 19. Jahrhunderts zu überwinden. Nicht nur ist es Ausdruck des durch den Krieg zerrütteten Erfahrungsraums, vielmehr noch ist es damit Zeichen einer Krise des Denkens allgemein. Unter 43 Ders. an Gertrud Oppenheim, 25. September 1918, zit. nach ebd., 607 f. 44 Ders., Brief an die Mutter, 1. Oktober 1918, zit. nach ebd., 609 f. 45 Ders., Brief an die Mutter, 19. Oktober 1918, zit. nach ebd., 613 f., hier 613. 46 Vgl. dazu den Zwischentext der Herausgeberinnen Rosenzweig / Rosenzweig-Scheinmann, in: ebd., 615. 47 Rosenzweig an Mawrik Kahn, 5. Januar 1919, zit. nach ebd., 622 f., hier 623. 48 Ders. an Margrit Rosenstock-Huessy, 16. Februar 1919, zit. nach ders., The »Gritli«Letters, hier 1919, 37 f., (15. Januar 2022).

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deren Signum wollte Rosenzweig den Idealismus, wie er ihn verstand,49 mit dessen eigenen Mitteln hinter sich lassen und die Offenbarung wieder in den Bereich allgemeinmenschlicher Erfahrung heben. Trotz tiefgreifender Kritik blieb sein argumentativer Gang indes an ebenjene Philosophie angelehnt,50 wenn er seinen Text Der Stern der Erlösung als philosophisches System verstanden wissen wollte, den er ganz in diesem Sinne in drei Teile gliederte. Diese Teile entsprechen indes nicht mehr der ehedem kanonischen Aufteilung in Logik, Ethik und Ästhetik. Auch betrachtete er das System nicht von außen, sondern sah sich in dessen Mitte gestellt.51 Dennoch spielen die Teile in einer bei aller Differenz an die hegelsche Dialektik gemahnenden Aufhebung zusammen.52 Zumindest sah sich Rosenzweig bemüßigt, seine Methode von der dialektischen abzugrenzen.53 Für ihn erfolgte die Vermittlung der »Elemente« »Gott«, »Welt« und »Mensch« erst durch die Zeitstruktur der »Bahn« von »Schöpfung«, »Offenbarung« und »Erlösung« – und beide zusammen formen die Figur, die die Erstausgabe zierte: das Schild Davids. In der im September 1918 an Rudolf Ehrenberg geschickten Übersicht findet sich ein Untertitel, der im gedruckten Buch nicht mehr vorhanden ist. Er lautet: »Ein Weltbild«.54 Obgleich er herausgestrichen wurde, integrierte Rosenzweig ihn in die Titel der einzelnen Teile, die schließlich mit »immerwährende Vorwelt«, »allzeiterneuerte Welt« und »ewige Überwelt« über49 Dass Rosenzweig den Idealismus nicht in seinen Facetten verhandelt, sondern schematisiert und vereinfacht, zeigt Katrin Neuhold in ihrer 2014 erschienenen Studie auf. Allerdings argumentiert sie selbst aus Hegels wie auch Cohens jeweiliger Vernunftperspektive und blendet die historische Ebene dabei aus. Der Idealismus war zu Rosenzweigs Zeit eben auch ein polemisches Schlagwort geworden. Vgl. dazu Neuhold, Franz Rosenzweig und die idealistische Philosophie. 50 So geht etwa Roberto Navarrete Alonso im Einvernehmen mit Stéphane Mosès in seinem Beitrag »Der Jude, der in deutschem Geist macht«. Das Hegelbuch Franz Rosenzweigs und seine Wirkung davon aus, dass auch zentrale Konzepte des dritten Teils von Der Stern der Erlösung an Hegel orientiert seien. Vgl. dazu u. a. Mosès, Hegel beim Wort genommen; ders., Politik und Religion, 857; Navarrete Alonso, »Der Jude, der in deutschem Geist macht«, 275, sowie u. a. Mosès, System und Offenbarung, 160–162. 51 Vgl. dazu u. a. die Schlussbetrachtung in Pollock, Franz Rosenzweig and the Systematic Task of Philosophy, 312–316. 52 Else Freund versteht, wie Görtz herausstellt, den Aufbau von Der Stern der Erlösung als »Systemstufen« und Görtz selbst interpretiert Rosenzweigs Denkbewegung als »dialektische Erneuerung des Sinnes der Hegelschen ›Phänomenologie des Geistes‹« und als »eschatologische Dialektik« im Kontrast zu Hegels »teleologischer[r] Dialektik des Geistes«. Vgl. dazu Görtz, Tod und Erfahrung, 21 und 326 f.; zu Freund vgl. ebd., 39–41. Die Dissertationsschrift von Freund erschien zuerst 1933: dies., Die Existenzphilosophie Franz Rosenzweigs. 53 Vgl. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 256 f. 54 Ders. an Rudolf Ehrenberg, 4. September 1918, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 604.

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schrieben wurden. Worauf der ehemalige Untertitel des Werks allerdings noch die Betonung legte, ist die Figur, die Rosenzweig mit Der Stern der Erlösung buchstäblich nachzeichnete. Auch hier sind die drei Teile in drei Bücher unterteilt, durch deren Topoi und Anordnung das Hexagramm entsteht. Allerdings ging Rosenzweig damit nicht möglichen Traditionsgehalten der Figur nach, die er kaum als solche benannte,55 sondern definierte sie neu.56 In diesem Sinne schrieb er am 21. November 1918 noch vor seiner Entlassung aus dem Militärdienst aus Freiburg an Margrit Rosenstock: »[W]ie mögen es die Pytagoreer aufgefasst haben? Ich könnte jetzt hier auf der Bibliothek allerlei nachsehen, aber ich habe keine Zeit dazu, weil ich ja selber ›auffassen‹ muss, damit im Brockhaus von 2018 mal steht: vgl. Rosenzweigs ›Stern der Erlösung‹.«57 Das erste gleichseitige Dreieck wird im ersten Teil, dessen Einleitung das Motto »in philosophos!« voransteht,58 durch die Grundbegriffe »Gott«, »Welt« und »Mensch« als inkommensurable Größen gebildet. Der Ort dieser »Elemente« ist die »immerwährende Vorwelt« und ihre Sprache die »Mathematik« in ihrer dauernden Gültigkeit.59 Diese erste Ebene war für R ­ osenzweig die der philosophischen Begriffe. Ausgehend von der großen Frage nach dem All wollte er zeigen, wie Gott, Mensch und Welt letztlich jeweils nur auf sich selbst zurückzuführen sind und sich nicht – was seiner Ansicht nach den Idealismus kennzeichnete  – aus einem Prinzip des Denkens ableiten lassen. Das zweite Dreieck wird im nachfolgenden Teil durch die ordnende 55 Nur einmal findet sie Erwähnung: Ders., Der Stern der Erlösung, 386. Für einen Überblick zur Geschichte des Symbols vgl. Oegema, Art. »Davidschild«. 56 Die Ausführungen zur Struktur von Der Stern der Erlösung finden sich in Sauter, Dia­ logische Revisionen, 341 f. 57 Franz Rosenzweig an Margrit Rosenstock-Huessy, zit. nach ders., The »Gritli«-Letters, hier 1918, 164 f., hier 164, (15. Ja­nuar 2022). Obschon sich Rosenzweig nicht auf den an Jakob Böhme orientierten Theosophen Franz von Baader bezog, findet sich eine analoge Neudefinition der triadischen Struktur bei Baader, der in seinen Sendschreiben (das Walter Benjamin Gershom ­Scholem um 1918 anempfahl) gerade auch auf die »Schechina« einging. Baader beschrieb die einzelnen Dreiecke in seinem Text Ueber den Blitz als Vater des Lichtes von 1815 im Rahmen einer mystischen Philosophie zwar ganz anders als Rosenzweig, aber das Vorgehen selbst ist dennoch ähnlich. Auch das Problem der Zeit wird bei Baader bereits 1818 unter dem Titel Sur la notion du temps respektive in der deutschen Übersetzung Ueber den Begriff der Zeit verhandelt, freilich ebenfalls anders als bei Rosenzweig. Vgl. zu den beiden Dreiecken Baader, Ueber den Blitz als Vater des Lichtes, 34; zum »Zeitpro­blem« vgl. ders., Ueber den Begriff der Zeit; zum Begriff »Schechina« vgl. ders., Zweites Sendschreiben an den Herrn Professor Molitor in Frankfurt, 348–351. 58 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 3. 59 Vgl. ebd., 3–99, bes. 21–23. Bezeichnenderweise bezieht sich Rosenzweig dabei auch auf Cohens Erzeugung aus einem bestimmten Nichts und damit auf dessen Überlegungen zur Infinitesimal-Methode. Vgl. ebd., 23. Zu Rosenzweigs Verständnis von Mathematik und dem Differenzial vgl. Handelman, The Mathematical Imagination, 104–144.

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»Bahn« von »Schöpfung«, »Offenbarung« und »Erlösung« geformt.60 Unter dem Motto »in theologos!« kreist dieser zweite Teil um das 1925 benannte »neue Denken« in der »allzeiterneuerten Welt«.61 Die Sprache dieser Welt ist die »Grammatik«.62 Dafür differenzierte Rosenzweig den bloßen Gedanken, dessen immanente Abfolge nicht relevant sei, vom sprachlich gefassten, der notwendig ein Nacheinander der Artikulation besitze, und bestimmte so auch diese Sprache spezifisch zeitlich. Vermittlungsinstanz von der Offenbarung zur lebendigen Sprache war für Rosenzweig die »Liebe«.63 In der Liebe des Menschen reflektiere sich demnach die Liebe Gottes und das »Liebes­ gebot« bilde den Kern der Offenbarung.64 Im dritten Teil wird schließlich unter dem Motto »in tyrannos!« die »Gestalt« des »Sterns« zum Thema.65 Erst in diesem Teil ist das Judentum und in nahezu gleichem Umfang, wie Rosenzweig in Das neue Denken betonte, auch das Christentum der Gegenstand.66 Die Offenbarung wirke demnach im »ewigen Leben« des Judentums, auf dem »ewigen Weg« des Christentums und über diese beiden Reprä­sentationen der Offenbarung vermittelt in der »ewigen Wahrheit« als Absolutes.67 Damit verwies sie für Rosenzweig auf die »ewige Überwelt«, deren Sprache die »Liturgik« sei.68 Gekennzeichnet durch Vorwegnahme, ordnete er auch dieser Sprache eine zeitliche Dimension zu: die Ewigkeit. Die damit anvisierte Revision der Philosophie nahm die im Kriegsgeschehen verstärkte Präsenz des Todes zum argumentativen Ausgangspunkt.69 Nach der metaphorischen Deutung des Schützengrabens heißt es so weiter: »[M]ag er [der Mensch] deshalb mit jedem Schrei, der noch in seiner Kehle ist, sein Ich ausschreien gegen den Unerbittlichen, von dem ihm solch unausdenkbare Vernichtung droht.«70 Ebendiese existenzielle Angst des einzel60 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 103–291; zur »Bahn« vgl. u. a. ebd., 285 f. 61 Ebd., 103. 62 Vgl. u. a. ebd., 122. 63 Vgl. bes. ebd., 181–204. 64 Vgl. u. a. ebd., 200, 229 und 239–242. 65 Vgl. ebd., 295 und 328. 66 Vgl. Rosenzweig, Das neue Denken, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 140 und 153 f. 67 Ders., Der Stern der Erlösung, 295–472. 68 Ebd., 327. 69 Diese Interpretation ist in der Rosenzweig-Forschung insbesondere in Bezug auf die oben angeführte Diskussion der Wirkung des Krieges auf Rosenzweigs Denken durchaus umstritten. Die metaphorische Beschreibung des Todes evoziert indes das Kriegsgeschehen und so wird in dieser Arbeit an Mosès anknüpfend diese Textebene in den Vordergrund geholt. Bereits Görtz führte an, dass der Krieg häufig als Begründung für die Formulierung der Anfangspassage genommen wird, und legte eine allgemeinere philosophischtheolo­gische Deutung des Phänomens des Todes vor. Vgl. dazu u. a. Mosès, Politik und Religion, 857; Görtz, Tod und Erfahrung, 35 f. und 389–393. 70 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 3.

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nen Menschen, der verzweifelt an seinem »Ich« festzuhalten suche, war für Rosenzweig der blinde Fleck der Philosophie, die »zu all dieser Not ihr leeres Lächeln [lächelt] und mit ausgestrecktem Zeigefinger das Geschöpf, dem die Glieder in Angst um sein Diesseits schlottern, auf ein Jenseits hin[weist], von dem es gar nichts wissen will«.71 Der Gedanke schließt mit: »Denn der Mensch will ja gar nicht irgend welchen Fesseln entfliehen – er will bleiben, er will leben.«72 Diesem Bestreben entsprechend, sind die ersten Worte von Der Stern der Erlösung »Vom Tode« und die letzten »Ins Leben«.73 Gegen die Präsenz des allgegenwärtigen Todes, nicht nur im Kriegsgeschehen, sondern allgemein menschlich verstanden, richtete Rosenzweig in Kritik an der Philosophie von »Jonien bis Jena«, von der vorsokratischen Philosophie bis zu Hegel, ein Denken auf,74 das er vier Jahre später programmatisch als »neu« bezeichnete. So beginnt Der Stern der Erlösung mit dem Tod, der als jeden Menschen betreffender (nicht nur als Ausdruck des – nicht explizit genannten – Schützengrabens) verstanden wird und an dem die bisherige Philosophie gescheitert sei. Er sei die offene Stelle jedes hermetischen Systems. Gemeint ist damit jedoch auch nicht das bloß allgemeine Phänomen, sondern der je einzelne persönliche Tod, der ausgeschlossen worden sei, um den Absolutheitsanspruch der Philosophie, den Systemgedanken, aufrechterhalten zu können.75 Damit warf Rosenzweig dem Idealismus den »Handschuh«, den Fehdehandschuh hin.76 Sich selbst situierte er hingegen im Gefolge Søren Kierkegaards in demjenigen »philosophische[n] Zeitalter, das mit Schopenhauer angeht, über Nietzsche weiterführt und dessen Ende noch nicht gekommen ist«.77 Er richtete sein Augenmerk also nicht nur im Hinblick auf den Idealismus auf die Philosophie des 19. Jahrhunderts, sondern wandte sich auch für seine eigene Perspektive der Weltkonstitution zu, in der das je einzelne »Ich« in seiner Vergänglichkeit zuerst zum Problem wurde. Die Zusammenstellung von Kierkegaard (mit dem »ewigen Augenblick«),78 Arthur Schopenhauer (mit der Kritik des Zeitstromes) und Friedrich Nietzsche (mit 71 Ebd. 72 Ebd. 73 Ebd., 3 und 472. 74 Ebd., 13. 75 Dass Rosenzweig damit in gewissem Sinne noch an Hegel anknüpft, zeigt Görtz auf. Vgl. dazu ders., Tod und Erfahrung, 34. 76 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 13. 77 Ebd., 8. Kierkegaard hielt aus Rosenzweigs Perspektive aus der Philosophie noch heraus, was Schopenhauer und Nietzsche in sie hineintrugen. 78 Kierkegaard sah im Rückgriff auf das »nunc stans« der Scholastik, das stehende Jetzt, den Menschen als »Synthese des Zeitlichen und des Ewigen«, Schopenhauer im selben Topos den Menschen als Ding an sich. Vgl. ders., Der Begriff der Angst, 92–99; Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung 1, 379–395, hier 386.

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einer subjektiven Philosophie, die von der Polemik gegen die Historie kaum zu trennen ist), zeichnen den gedanklichen Ansatz des Werks vor. Schopenhauer legte in Die Welt als Wille und Vorstellung bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Kritik des Geschichtsbegriffs vor.79 Diese Kritik dachte Nietzsche in seiner Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben aus dem Jahr 1874 in aller Schärfe gegen die Geschichtswissenschaft weiter.80 Obschon Rosenzweig diese Werke nicht nannte, waren sie doch untrennbar mit den Namen verbunden, durch die er sein Zeitalter zu begreifen und aufzuheben suchte. Im letzten Teil von Der Stern der Erlösung wird diejenige Angst bezwungen, die den einzelnen Menschen ohne Offenbarung und Gottgewissheit sich in »die Falten der nackten Erde« verkriechen lässt, indem »dem Knochenmann das siegesgewisse Grinsen [zerbricht]«.81 In dieser Überwindung ist die Bedeutungsschicht von Der Stern der Erlösung angezeigt, in der die Zäsur der Moderne ihren noch rohen Ausdruck suchte. Fast sieben Jahre nach dem Kriegsende, in Das neue Denken, ist sie verschwunden. In dem Rückgriff auf Kierkegaard, Schopenhauer und Nietzsche zeigt sich indessen ein roter Faden an, mit dem das Werk philosophiegeschichtlich aus der Zeit hervorging und zugleich aus dieser herauszutreten suchte. Nicht so sehr das unmittelbare Kriegsgeschehen als vielmehr ein geschichtlicher Einschnitt kam darin zum Vorschein, auf den Rosenzweig nur noch in der Bezeichnung »neues Denken« rückblickend verwies. Um diesen Bruch ein- und aufzufangen, orientierte er sich allerdings an einem Denken, das selbst für den Beginn des 19. Jahrhunderts stand.

Stillstellung der Zeit In dem Text Das neue Denken leitete Rosenzweig seine Darstellung des zweiten Teils von Der Stern der Erlösung mit einer »erzählende[n] Philosophie« ein, wie sie »Schelling in der Vorrede seines genialen Fragments ›Die Weltalter‹ geweissagt« habe.82 Die spezifisch zeitliche Ausrichtung des Nachdenkens über die Offenbarung wurde damit in Rosenzweigs eigener – retrospektiver  – Darstellung in Schellings Fragment präfiguriert. Die unvollendete Schrift Schellings war im August 1913 erst hundert Jahre nach ihrer 79 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung 2, bes. Über Geschichte, 563–573. 80 Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen II: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. 81 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 438. 82 Ders., Das neue Denken, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 148.

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Entstehung bei Reclam zur Veröffentlichung gekommen.83 Sie stellt den auf die Vergangenheit gerichteten ersten Teil einer auf drei Teile angelegten Abhandlung dar. Der zweite hätte die Gegenwart und der dritte die Zukunft verhandeln sollen.84 In dem 1913 gedruckten Text reflektierte Schelling auf die Sprache als Medium der Offenbarung und dachte über die durch sie geformte Wirklichkeit nach. Vor allem aber richtete er darin sein Augenmerk auf das Verhältnis von Ewigkeit und Zeit.85 Einer ausgemachten gedanklichen Nähe entsprechend, resümierte Rosenzweig im März 1921: »Wenn sie [Die Weltalter von Schelling] fertig geworden wären, so verdiente der Stern, außerhalb der Juden, nicht, daß ein Hahn nach ihm krähte.«86 An Schellings Forderung einer »erzählenden Philosophie« anknüpfend, charakterisierte er 1925 sein »Sprachdenken« durch dessen »Zeitlichkeit«; und die Figur, die er mit Der Stern der Erlösung versinnbildlichte, wurde durch zeitliche Bestimmung gestaltet: »Immerwährendes«, »Allzeiterneuertes« und »Ewiges«. In den drei Büchern des zweiten Teils, der der »allzeiterneuerten Welt« als Wirklichkeit zugedacht ist, werden die zeitlichen Bestimmungen des gesamten Werks wiederholt. Danach ist die »Schöpfung […] der immerwährende Grund der Dinge«,87 die »Offenbarung […] die allzeiterneuerte Geburt der Seele«88 und die Erlösung »die ewige Zukunft des Reichs«.89 Die Offenbarung von Schöpfung und Erlösung ist der Vermittlungsbegriff der Systematik insgesamt, die von einem »Er« der Schöpfung zu einem »Ich« und »Du« der Offenbarung bis zu dem »Wir« der Vorwegnahme der Erlösung reicht.90 Im Rückgriff auf die Quellen des Judentums wie des Christentums  – die freilich nicht als wissenschaftliche Quellen verstanden werden sollten – entfaltete Rosenzweig sein Denken, das sich im Kern auf die lebendige Sprache bezog. Durch die zeitliche Überordnung der Grundbegriffe werden dem Menschen demnach Gott und die Welt als geschaffene offenbar und der Mensch und die Welt in eine Beziehung zur Ewigkeit gesetzt. Vergangenheit 83 Schellings Fragment Die Weltalter erschien als Band 5581–5583 in Reclams UniversalBiblio­thek ohne Jahreszahl, zur Datierung vgl. etwa Marquardt, Reclams Universal-­ Bibliothek, 208. 84 Vgl. Kuhlenbeck, Erläuterungen des Herausgebers, in: Schelling, Die Weltalter, 227–236, hier 227. 85 Vgl. ebd., 206 f. 86 Rosenzweig an Hans Ehrenberg, 21. März 1921, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 701. Diese Stelle hebt insbesondere auch Hans Liebeschütz hervor. Bei ihm heißt es dazu: »Er [Rosenzweig] hat ganz konkret ausgesprochen, daß für seine Person der Anfang des Neuen Denkens bei der Philosophie des späten Schelling lag.« Liebeschütz, Von Georg Simmel zu Franz Rosenzweig, 159. 87 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 124. 88 Ebd., 174. 89 Ebd., 229. 90 Vgl. u. a. ebd., 168, 194–196 und 278–281.

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und Zukunft werden in dieser Vorstellung zwar erhalten, aber nicht mehr in einer bloß additiven Abfolge des Zeitverlaufs verstanden, sondern sie werden vermittels der Offenbarung vergegenwärtigt.91 Es ging Rosenzweig allerdings nicht um ein Ignorieren der Chronologie – im Gegenteil. Der Zeitverlauf gestaltete erst sein Weltbild und fand in dem von Ernst Troeltsch 1922 zum Verstehen des Historismus herangezogenen Motiv des »Flusses des Geschehens« seinen wiederholten Ausdruck. Jedoch deutete Rosenzweig dieses Bild nicht nur als fortströmenden Fluss der Ereignisse, als Metapher für die Relativität des historischen Verlaufs aus, sondern auch als einen »in sich selber fließenden Strom«.92 So destillierte er eine für seine weitere Deutung zentrale »lebendige Zeit« aus dem zum Bild der Geschichte gewordenen Fluss.93 Durch die Offenbarung wollte Rosenzweig die Zeit in ihrem Fundament neu orientieren.94 Den Kern der Zeitfigurationen im Bereich der »allzeiterneuerten Welt« verhandelte er so auf zweierlei Ebenen: Zum einen sei in der lebendigen Sprache im Aussprechen, Auffangen und Antworten des Gesprächs eine Abfolge angelegt, die nicht als bloß ablaufende Chronologie verstanden wird, und zum anderen sei in der durch die Sprache sich ausdrückenden Offenbarung die alles umfassende Ewigkeit vorgezeichnet. Die Offenbarung vergegenwärtige immer auch Schöpfung und Erlösung.95 Durch diese Vermittlung werde der Zeitverlauf in eine Beziehung zur Ewigkeit gesetzt, durch die er ein Mehr zur bloßen Reihenfolge der Einzelmomente werde. Seine Überlegung war auf die »Verewigung des Augenblicks« gerichtet.96 Für den Zugang zu einem Zeitkonzept, in dem die Zeit nicht einfach verrinnt, umkreiste Rosenzweig die Frage nach dem richtigen Gebet und versah die Einleitung des dritten Teils mit der Überschrift Über die Möglichkeit das Reich zu erbeten.97 In dieser Einleitung, die sich der »ewigen Überwelt« zuwendet, führte er seine Ansicht aus, dass die Menschen nur in Freiheit glauben könnten, wenn Gott keine Zeichen sandte, die seine Gegenwart den Menschen bewiesen.98 Geradezu auf das Theodizee-Problem verweisend, legte Rosenzweig dar, dass der Mensch, wenn Gott sich nicht direkt zeige, auch nicht das Kommen seines Reichs durch das Gebet erzwingen dürfe. Das Gebet müsse sich dem Nächsten zuwenden, um darin das Ewige zu finden.99 91 Vgl. u. a. ebd., 203 f., 207, 228, 278 und 301 f. 92 Ebd., 320. 93 Ebd. 94 Vgl. u. a. ebd., 144 f., 243 f. und 467. 95 Vgl. u. a. ebd., 122 f. und 278. 96 Ebd., 324. 97 Vgl. ebd., 295–330. 98 Vgl. ebd., 296. 99 Vgl. ebd., 306.

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In einer geschichtlichen Betrachtung der Kirche sah Rosenzweig mit Goethe eine neue Zeit anbrechen, die er  – in nicht gekennzeichnetem Rekurs auf Schelling – als »johanneisch« benannte.100 In der »johanneischen Welt« des Christentums sei ein neues Gebet, das Gebet an das eigene Schicksal möglich geworden, das eine »lebendige Zeit« geschaffen habe.101 Der Schwärmer richte sein Gebet direkt auf das »Kommen des Reichs« und verzögere es damit; »das Gebet an das Schicksal« sei hingegen dem »richtigen Augenblick« gewidmet.102 Damit würde das »Kommen des Reichs […] nicht bloß weder beschleunigt noch verzögert, sondern – wohlgemerkt, wenn es möglich wäre, jenes Gebet als einziges zu beten  – geradezu stillgelegt«.103 In dem Leben Goethes scheine »ja wirklich die Zeit stillzustehen«.104 Da aber »Zeitlichkeit […] nicht Ewigkeit« sei und die »Zeitlichkeit […] den Halt des Ewigen« brauche, müsse die Ewigkeit in die Zeit geholt werden, indem sie in spezifischem Sinne »beschleunigt« werde, »sie muß stets schon ›heute‹ kommen können«.105 Die richtige »beschleunigende Kraft« fand Rosenzweig in der Vorwegnahme des Reichs.106 Dafür reflektierte er in Anlehnung an Schopenhauers Bestimmung des Augenblicks auf das »Nunc stans«, das »stehende Jetzt«, das er als »Stunde« begrifflich zu fassen suchte.107 Indem er es als Stunde verstand, wurde es ihm zum Übergang vom individuellen Gebet an das eigene Schicksal zur »Liturgik«.108 »Und nach dem Bild der selbstgestifteten Stunde, in welcher der Mensch sich von der Vergänglichkeit des Augenblicks erlöst, schafft er nun die Zeiten um, welche die Schöpfung seinem Leben gesetzt hat«,109 hob Rosenzweig hervor und leitete daraus einen Zeitrhythmus ab, 100 Der Topos stammt aus Schellings Spätwerk, an das Rosenzweig sich anlehnte, auch wenn es, wie Bienenstock hervorhebt, keinen Beleg dafür gibt, dass er es selbst gelesen hat. Zumindest ging Rosenzweig in seinem 1914 verfassten und 1917 veröffentlichten Kommentar zu Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus auf Topoi aus Schellings Spätphilosophie ein. Mosès weist in Rosenzweigs Adaption der »johanneischen Kirche« allerdings auch darauf hin, dass diese »mit dem Gedanken Hegels am Ende der Rechtsphilosophie in Einklang gebracht werden« könne. Rosenzweig, Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, in: ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 3–44, hier 35; Mosès, Judentum und Christentum, 669. 101 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 320. 102 Ebd. 103 Ebd. 104 Ebd. 105 Ebd., 321. 106 Ebd. 107 Ebd., 322. 108 Bruckstein zeigt eine entsprechende strukturelle Nähe der »jüdische[n] Liturgie« bei Rosenzweig zu Edmund Husserls Phänomenologie auf. Vgl. dazu dies., Zur Phänomenologie der jüdischen Liturgie in Rosenzweigs »Stern der Erlösung«. 109 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 323.

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der im Kreislauf einen »festen Punkt des Anfangs und des Endes« benötige, denn ohne diesen »wäre [er] noch nichts als bloße Folge der Augenblicke; erst durch die Festlegung jenes Punktes, das Fest, wird die Wiederholung, die im Durchlaufen der Kreisbahn geschieht«.110 So verband Rosenzweig seine Überlegung zum Gebet mit dem Festkalender. In dessen Rhythmus amalgamierten sich Zeit und Ewigkeit, wenn es weiterhin heißt: »In der alltäglich-wöchentlich-alljährlichen Wiederholung der Kreise des kultischen Gebets macht der Glaube den Augenblick zur ›Stunde‹, die Zeit aufnahmebereit für die Ewigkeit; und diese, indem sie Aufnahme in die Zeit findet, wird selber – wie Zeit.«111 Ein solches Gebet war für Rosenzweig ein kollektives, »das Gebet der Gemeinde«, das sich im Allernächsten auf das Allerfernste richtete.112 Dieses Gebet finde in der im Festkalender wiederholten litur­ gischen Gebärde seinen Ausdruck,113 die den Zusammenhang von Schöpfung und Erlösung in der Offenbarung abbilde.114 Wie aber das zeitliche Leben erst wirklich lebendig werden müsse, bevor es ewiges werden könne, so schloss Rosenzweig seine Ausführungen zum Gebet mit dem Menschen, der gleichermaßen »ungläubiges Welt- und gläubiges Gotteskind« sei.115 Das »Weltkind« Goethes, das sich in dem Gedicht Diné zu Coblenz zwischen zwei Propheten (die Theologen Johann Caspar Lavater, der Moses Mendelssohn herausgefordert hatte, und Johann Bernhard Basedow, der sich der Pädagogik verschrieben hatte) gesetzt sah,116 verstand Rosenzweig so zugleich auch als »Gotteskind«. In dieser doppelten Deutung verdichtete er den notwen­ digen Zwiespalt, der den dritten Teil von Der Stern der Erlösung auf die »ewige Überwelt« und die »göttliche Wahrheit« ausrichtete.117 Erst aus dieser zeitlich-ewigen Perspektive werden das Judentum und das Christentum zum Gegenstand. Leitlinie innerhalb der Systematik ist dabei die jeweilige Gemeinschaftskonstitution, die in der Spannung zwischen Weltgeschichte und Ewigkeit formiert wird. Während das Judentum außerhalb der Weltgeschichte stehe, lebe die »christliche Welt, schon das christliche Volk […] in der Spirale der Weltgeschichte«.118 Diesem Unterschied entsprechen auch verschiedene Relationen zur Ewigkeit in Judentum und Christentum. Beiderlei Ewigkeitsbezug war für Rosenzweig wesentlich durch die »Liturgik« als Sprache der »Überwelt« geformt. In ritueller »Vor110 Ebd. 111 Ebd., 324. Zum philosophischen Motiv der Wiederholung in der Zeit und der Parallelen zu Kierkegaard vgl. Sharvit, History and Eternity, bes. 171–173. 112 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 325. 113 Vgl. ebd., 329. 114 Vgl. ebd., 326 f. 115 Ebd., 330. 116 Goethe, Diné zu Coblenz, 265. 117 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 329. 118 Ebd., 417.

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wegnahme« in den »Festen des jüdischen Kalenders« und im »Kirchenjahr« würden in den je einzelnen sich wiederholenden Ereignissen Schöpfung, Offenbarung und Erlösung vergegenwärtigt.119 Allerdings differenzierte ­Rosenzweig zwischen der »Vorwegnahme« im »ewigen Leben« im Judentum und der auf dem »ewigen Weg« im Christentum. Das Judentum als solches sei durch »Verinnerlichung« im Leben aus der Weltgeschichte herausgestellt; das Christentum sei durch »Entäußerung« auf dem Weg, an ihrer Seite.120 Der Gedanke der Verinnerlichung war mit und seit Schleiermachers Schrift Über die Religion von 1799 allerdings gerade zum Kern des Christentums erklärt worden.121 Rosenzweig zog also zur Bestimmung des Judentums einen emblematisch auf den Protestantismus des 19. Jahrhunderts wie auf die deutsche Romantik verweisenden Topos heran, den er zweifach wendete: Nicht nur wurde er von einem Charakteristikum des Christentums zu einem des Judentums, auch wurde er vom Modus des einzelnen Menschen zu einer kollektiven Kondition. In dem Unterschied von innen und außen, von Judentum und Christentum, fand zugleich der gegen den bloßen Ablauf der Zeit gerichtete Verweisungszusammenhang seinen Anklang, der der begriff­ lichen Umkehrung ihre grundlegende Orientierung gab.122 Dafür wählte Rosenzweig zwei – im weitesten Sinne – mathematische Gleichnisse. Drei Monate bevor er begann, das Manuskript von Der Stern der Erlösung zu schreiben, am 11. Mai 1918, führte er in einem Brief an Hans Ehrenberg das zahlentheoretische Gleichnis von »Irrational- und Rationalzahl« aus – und in Der Stern der Erlösung findet sich das geometrische von »Punkt« und »Linie«.123 Im ersten Vergleich entspricht das Christentum der Rationalzahl, die als Bruch und als endliche oder periodische Dezimalzahl darstellbar ist. Das Judentum wird als Irrationalzahl versinnbildlicht, die sich nicht mehr in einem Bruch ausdrücken lässt und nur als unendliche, nicht periodische Dezimalzahl darstellbar wäre.124 Die Unendlichkeit der Rationalzahl ist in die Zahlenfolge integriert, die der Irrationalzahl hingegen fällt aus ihr heraus. Rosenzweig deutete diesen Unterschied in der Unendlichkeit im Hinblick auf Judentum und Christentum aus, wenn es heißt: »Erst in der Irrationalzahl schlägt jene Grenze des rationalen Zahlenreichs körperlich, 119 Ebd., 401 und 407. 120 Ebd., 442. 121 Vgl. Schleiermacher, Über die Religion, 199–201. 122 Zu den verschiedenen Zeitrepräsentationen vgl. Sharvit, History and Eternity, bes. 193 f. 123 Vgl. Rosenzweig an Hans Ehrenberg, 10. und 11. Mai 1918, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 558–563, hier 561 f.; ders., Der Stern der Erlösung, 379. Das Bild von Irrational- und Rationalzahl wird insbesondere von Mosès paradigmatisch für Rosenzweigs Zeitkonfigurationen gedeutet. Vgl. dazu ders., Der Engel der Geschichte, 72 f. 124 Vgl. Rosenzweig an Hans Ehrenberg, 10. und 11. Mai 1918, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 561 f.

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zahlenhaft, gegenwärtig an jeden einzelnen seiner Punkte und erlöst es aus der ›linearen‹ Abstraktheit.«125 Das zweite Bild besagt, dass es im Judentum eine Ewigkeit in der »Verinnerlichung« im »Leben« gibt, die Rosenzweig als »Punkt« beschrieb, und im Christentum dagegen eine »Entäußerung« auf dem »Weg«, der »Linie«. »Die Unendlichkeit eines Punkts kann nur darin bestehen, daß er nie ausgewischt wird; so erhält er sich in der ewigen Selbsterhaltung des fortzeugenden Bluts.«126 Die zweite dagegen »hört auf, wenn es nicht mehr möglich wäre, sie zu verlängern; sie besteht in dieser Möglichkeit ungehemmter Verlängerung«.127 In der spezifischen, abzählbaren Unendlichkeit dieser Linie sah Rosenzweig den Ausdehnungswillen des Christentums repräsentiert. Beide Bilder zusammengenommen verdeutlichen, dass sein zentraler Gedanke auf die Struktur der Ewigkeitsbezüge gerichtet war, dass es ihm darum ging, zu zeigen, dass die Ewigkeit im Judentum jenseits des bloß chronologischen Zeitverlaufs liege. Denn das, wogegen er diese Bezüge wandte, den Verlauf der Weltgeschichte, beschrieb er eben im Bild des »Stroms der Zeit«.128 Sowohl die Unendlichkeit der sich verlängernden Linie als auch die der Rationalzahl lassen sich in dieses einfügen, wohingegen dies beim Punkt und bei der Irrationalzahl nicht möglich ist. Mit der Offenbarung wurde für Rosenzweig nicht nur die Zeit, sondern damit zugleich auch der Raum im Sinne seines Weltbilds neu strukturiert und die ewige Wahrheit könne darin »Bewährung« finden.129 Er wählte den Begriff der »Bewährung« bewusst, da er an die Wahrheit angelehnt sich auf deren zeitliche Bedeutung richtete. Der Mensch könne zwar die Wahrheit schauen, aber nur anteilig, in einem durch die Offenbarung gesetzten spezifischen Bezug zur Ewigkeit. Sowohl Judentum als auch Christentum wiesen für Rosenzweig einen solchen Bezug auf.130 Aber es war für ihn das »aus aller Welt-Geschichte herausgestellte Ewige Volk«, das die Ewigkeit vorwegzunehmen im Stande war.131 Dafür rückte Rosenzweig, wie auch Hermann ­Cohen in Religion der Vernunft  – allerdings in anderer Deutung  – den prophe­tischen Topos des »Rests Israels« ins Zentrum, den er in ein Distanzverhältnis zum »Strom der Zeit« setzte. Das Judentum erhalte sich »durch Verengung, durch Bildung immer neuer Reste« und sei so dem Verlauf des Geschehens entrückt.132 Dennoch sei es damit nicht zeitlos, sondern »[e]s 125 Ebd., 562. 126 Ders., Der Stern der Erlösung, 379. 127 Ebd. 128 Ebd., 468. 129 Ebd., 422 und 438. 130 Zum Wahrheitsverständnis bei Rosenzweig und seiner doppelten Repräsentanz vgl. u. a. Amir, Ewigkeit und Wahrheit, 160 und 163 f. 131 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 372. 132 Ebd., 450.

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wartet etwas in ihm«.133 Der »Rest« warte in einem »ewig zu gewärtigende[n] Heute« auf die Ankunft des Messias.134 So führte Rosenzweig die Figur des Messias ein, die als Grenzbegriff in der Peripherie der Systematik von Der Stern der Erlösung verblieb – sie wurde kaum mehr benannt. Für einen dem messianischen Gedanken verbundenen inneren Weltbezug des »Rests Israels« rekurrierte Rosenzweig auf das kabbalistische Motiv der »Schechina«.135 Gerade dieses Motiv als Teil einer jüdischen Tradition könnte er indes auch den Schelling nahestehenden romantisch theosophischen Denkern Franz von Baader und Joseph Molitor entlehnt haben.136 Rosenzweig, der nicht darlegte, aus welchen Quellen er es kannte, verwies in seiner Deutung auf den Zusammenhang der Gegenwart mit der messianischen Zeit, die er in diesem Sinne als »›kommende‹ Welt« begriff.137 Durch die »Schechina« als »Wohnen« Gottes in der Welt sah Rosenzweig auch das »Gesetz« des Judentums im Rahmen seiner Philosophie gerechtfertigt.138 Durch dieses seien die gegenwärtige Welt und die künftige ununterscheidbar – im Verhältnis des »Rests« zum »Gesetz« müsse die Erlösung geschehen.139 Diese auf den Bezug zur Ewigkeit gerichtete »Verinnerlichung« kon­ trastierte Rosenzweig mit der christlichen »Entäußerung«. Während der »Rest Israels« sich im Warten jenseits der Weltgeschichte befinde, seien die Christen auf dem »eisernen Weg«.140 Mit der Einfügung des Zeit- und Weltlichen in die Kreisbewegung des Kirchenjahres lebten die Christen »in der Spirale der Weltgeschichte«.141 Diese Zeitbestimmung nannte Rosenzweig »christliche Weltzeit«, in der der »Augenblick« als »Mittelpunkt« und nicht als »Vertreter der Ewigkeit« gedeutet werde.142 Das den Christen Gegenwärtige sei immer gleich weit vom Anfang wie vom Ende entfernt und zugleich seien sie immer auf dem »Laufenden«.143 Dieser »Weltzeit« entsprechend, veränderten sich die Christen mit der Welt, sie träten als einzelne Heiden ins Christentum ein und blieben damit auch ein Teil der Welt. Die darin angelegte Spannung zwischen einzelnem Leben und Welt beschrieb Rosenzweig in Abgrenzung zum »ewigen Leben«: »Der Welt ist kein ewiges Leben verliehen; an ihr bricht der Kreis des einzelnen Lebens auseinander und 133 Ebd. 134 Ebd., 452. 135 Ebd., 455. 136 Vgl. Baader, Zweites Sendschreiben an den Herrn Professor Molitor in Frankfurt, 348–351. 137 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 342. 138 Ebd., 455. 139 Ebd., 456. 140 Ebd., 376. 141 Ebd., 417. 142 Ebd., 377. 143 Ebd., 378.

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fließt hinein in die Spirale einer Geschichte, in der über die ewige Erhaltung und Erneuerung der Seele ständig der säkulare Fortschritt der Welt Gewalt gewinnt.«144 Auf begrifflicher Ebene verwies er mit dieser Formulierung auf die säkularisierende Wirkung des geschichtlichen Fortschrittsdenkens, das wiederum im Christentum angelegt war. Die Figur, die er mit seinem Werk nachzeichnete, verband er hingegen in ganz eigener Weise mit dem Judentum, wenn es heißt: »In der innersten Enge des jüdischen Herzens leuchtet der Stern der Erlösung.«145 Es gibt drei Zeitrepräsentationen in Der Stern der Erlösung: die der Weltgeschichte, die »christliche Weltzeit« und das Warten im »ewig zu gewärtigende[n] Heute« im Judentum. Die mittlere Repräsentation ist mit den anderen beiden verbunden, denn das Christentum war für Rosenzweig der Grund für die Struktur der Weltgeschichte und durch den Ewigkeits­bezug war es zugleich am Judentum orientiert. So konstatierte er in seinem zahlen­ theoretischen Gleichnis: »Das Unendliche ist als Infinitesimalzahl die geheime Triebkraft, die ewig unsichtbare, der ›sichtbaren‹ Wirklichkeit der Rationalzahl. Als Irrationalzahl hingegen wird es offenkundig, sichtbar und doch ewig fremd, – Zahl und doch nicht Zahl […].«146 Für die sichtbare Wirklichkeit steht die weltgeschichtliche Zeit und die unsichtbare für den Bezug zur Ewigkeit. Dieses Bild besagt damit auch, dass das Judentum für das Christentum der Beleg dafür ist, dass es sich auf dem Weg befindet und nicht am Ziel. »Indem der Jude um den Verlust der unerlösten Welt sich den Besitz der Wahrheit in seinem Vorwegnehmen der Erlösung erkauft, straft er den Christen Lügen, der sich auf seinem Eroberungsfeldzug in die unerlöste Welt jeden Schritt vorwärts mit Wahn erkaufen muss.«147 Rosenzweig nahm zwar an, dass Juden und Christen »am gleichen Werk« in Bezug auf Gott arbeiteten, aber auch, dass sie dabei gegeneinander gerichtet seien: »Zwischen beiden hat er in aller Zeit Feindschaft gesetzt und doch hat er sie aufs engste wechselseitig aneinander gebunden.«148 Auf dieses nachgerade antagonis­tische Verhältnis ging er 1925 in Das neue Denken nicht mehr ein. Auch ist das Christentum in Der Stern der Erlösung noch im Gegensatz zu seiner retrospektiven Deutung in eine ambivalente Beziehung zur Ewigkeit gesetzt. Den die Wissensordnung betreffenden Widerpart der Zeitreflexion bildet »die Geschichte«, die Rosenzweig kaum noch benannte und zugleich 144 Ebd., 417. 145 Ebd., 457. 146 Rosenzweig an Hans Ehrenberg, 10. und 11 Mai 1918, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 562. Mit dem Rekurs auf die Infinitesimalzahl deutet Rosenzweig zwar auf Cohens Das Prinzip der Infinitesimal-­Methode und seine Geschichte, allerdings interpretiert er das Infinitesimal damit anders als Cohen. 147 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 460. 148 Ebd., 462.

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in mehrfacher Weise einzugrenzen suchte. So heißt es im Übergang vom zweiten zum dritten Teil: Bevor die »Offenbarung in einen Kreis der Welt eintritt, ist dieser Kreis dem Gesetz der Entwicklung untertan, das ihn reif zur Überweltlichkeit werden läßt. So hat alles Weltliche in aller Zeit seine Geschichte: Recht und Staat, Kunst und Wissenschaft, alles was sichtbar ist.«149 Auf Geschichte reflektierte er in Der Stern der Erlösung zumeist nur in ihren einzelnen Zuweisungen als »alle Geschichte«, an anderer Stelle als »Kirchengeschichte«, »Kaisergeschichte« oder als in ihrer Bedeutung eingeschränkte »Weltgeschichte« und auch die »jüdische Geschichte, […] aller weltlichen Geschichte zum Trotz« wird benannt – Geschichte suchte Rosenzweig also wieder im Plural zu verstehen.150 Sie sollte nicht mehr das Agens darstellen, sondern wurde durch die Offenbarung in ihre Schranken verwiesen. Der Begriff »die Geschichte«, als Kollektivsingular verstanden, wie er im 19. Jahrhundert zu dem einen, alles umspannenden Begriff geworden war, ist in Der Stern der Erlösung hingegen auffällig absent – er hat keinen eigenen systematischen Ort.151 Rosenzweig meinte ihn überwunden zu haben und so findet er nur noch in der Peripherie Erwähnung. Jedoch zeigt sich in diesen Randbemerkungen eine Auseinandersetzung, die den Begriff nicht bloß einzuschränken suchte, sondern zugleich in der Abgrenzung dessen Modus des Verstehens für die Temporalstruktur der Offenbarung bewahrte. So ging die Reflexion der Zeit in der grundlegenden Denkfigur letztlich auch aus der kritischen Frage nach »der Geschichte« hervor. 149 Ebd., 290. 150 Ebd., 290, 371, 391 f. und 450. 151 In der Rosenzweig-Forschung wird Rosenzweigs Geschichtsdenken gerade in Der Stern der Erlösung weithin diskutiert. An der Auffassung einer mehrfachen, anderen oder absoluten Geschichtsvorstellung setzt auch die Diskussion über die Frage nach der Wirkung des Krieges auf Rosenzweigs Denken an. Bereits Altmann meinte in seinem Text Franz Rosenzweig on History: »Revelation creates an absolute history.« Damit wird die philosophisch-theologische Perspektive als Geschichtsdenken verhandelt, das jenseits des hergebrachten  – relativistischen oder fortschrittsorientierten  – Geschichtsbegriffs stehe. Stéphane Mosès folgert Mitte der 1980er Jahre aus dem bei Rosenzweig anvisierten »Endstadium der Welt«, dass es um »Geschichte« gehe, und nimmt bei Rosenzweig im Hinblick auf das »jüdische Volk« eine »andere Geschichte« an. Bei Benjamin Pollock ist dann Rosenzweigs Erlösungsdenken »a historical conception of the realization of the Kingdom of God«. Im Kontrast zu diesen exemplarisch angeführten Auffassungen, die in verschiedener Intensität Rosenzweigs Offenbarungsphilosophie als Geschichtsdenken begreifen, geht es in dieser Arbeit um den grundlegenden Begriff der Geschichte, wie er sich im 19. Jahrhundert ausgeprägt hatte, den Rosenzweig mit seinen eigenen Mitteln hinter sich lassen wollte. Aufgrund dieser Aufhebungsbewegung verblieb er im Reflexionsradius der geschichtlichen Welt. Diese Bindung rechtfertigt nicht nur die Interpretation seines Denkens als geschichtlich, sondern eröffnet vielmehr noch die Möglichkeit, den Spuren des modernen Geschichtsbegriffs nachzugehen. Zu den genannten Lesarten als Geschichtsdenken vgl. A ­ ltmann, Franz Rosenzweig on History, 135; Mosès, Hegel beim Wort genommen, 76 f.; Pollock, Franz Rosenzweig’s Conversions, 4.

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Ein polemischer Faden Die bei Schelling entdeckte »erzählende Philosophie« beschrieb Rosenzweig in Das neue Denken in signifikanter Abgrenzung, wenn er anschließend spezifizierte: »Wer erzählt, will nicht sagen, wie es ›eigentlich‹ gewesen, sondern wie es wirklich zugegangen. Auch wenn der große deutsche Historiker in seiner bekannten Definition seines wissenschaftlichen Wollens jenes und nicht dieses Wort gebraucht, meint er es doch so.«152 Leopold von Ranke, auf den Rosenzweig sich bezog, musste nicht eigens benannt werden;153 längst war er zur Symbolfigur der deutschen Geschichtsschreibung geworden. In Entgegensetzung zu ihm formulierte Rosenzweig seinen eigenen Ansatz: »Der Erzähler will nie zeigen, daß es eigentlich ganz anders war – es ist geradezu Kennzeichen des schlechten, begriffsvergessenen oder sensationslüsternen, Historikers, darauf auszugehen –, sondern er will zeigen, wie das und das, was als Begriff oder Name gerade in aller Munde ist […] eigentlich geschehen ist.«154 Vordergründig eine scharfe Linie ziehend zwischen einem Erzählen, das sich in eine unmittelbare Beziehung zur Gegenwart setze, und dem Zeigen des Historikers, bleibe diese Bestimmung letztlich doch selbstreferenziell.155 Beispiel für das, was in aller Munde sei, waren Rosenzweig so gerade der Dreißigjährige Krieg und die Reformation.156 Das historische Feld, das mit diesen Ereignissen aufgerufen wird – die christliche Neuzeit – ist in gewissem Sinn noch die Zeit von Der Stern der Erlösung, allerdings von ihrem Ende her. Nicht als Epoche, die es zu überdenken gelte, sondern als Weichenstellung für das Problem des beginnenden 20. Jahrhunderts wurde diese Zeit aufgerufen. Indem der Rekurs auf den Historiker Ranke, der nicht sagte, was er sagen wollte, Rosenzweig als Überleitung zu einem »Sprachdenken« diente, das die Zeit anders konfigurierte, verwies er auf den mit dem »neuen Denken« überwundenen und doch fortwirkenden Wissenshorizont.

152 Rosenzweig, Das neue Denken, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 148. 153 Vgl. Ranke, Vorrede der ersten Ausgabe, VII. 154 Rosenzweig, Das neue Denken, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 148. 155 Theodor W. Adorno verwies in Jargon der Eigentlichkeit letztlich wohl auch aufgrund von solcher Rhetorik auf Rosenzweig. Obschon mit Schwerpunkt auf der Bibelübersetzung, trifft die Sprachkritik doch auch die Äußerung zu Ranke. Vgl. ders., Jargon der Eigentlichkeit, 415. Vgl. dazu u. a. Beck / Coomann, Adorno, Kracauer und die Ursprünge der Jargonkritik; Bauschulte, »Die Ontologie wird nichts zu lachen haben«, 48 f.; Kasten, Mit Luther gegen Luther, 43–48. 156 Vgl. Rosenzweig, Das neue Denken, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 148.

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So reflektierte er in Der Stern der Erlösung die Chiffre »1800«, für die ihm Goethe und – bei aller Kritik – auch Hegel einstanden und die auf die Schwelle zur geschichtlichen Welt verwies.157 Diese neue Zeit, die er als die »johanneische Welt« begriff, beurteilte er durchaus ambivalent, sie habe zwar das Gebet auf den richtigen Augenblick gerichtet und die lebendige Zeit entdeckt, die »Zeitlichkeit des Lebens vollendet«,158 aber damit habe sie auch eine andere Veränderung bewirkt: »Es ist ja kein Zufall, daß nun zum ersten Mal ernsthaft begonnen wurde, die Forderung des Gottesreichs zu Zeitforderungen zu machen.«159 Die großen Forderungen am Beginn dieser Epoche seien von »Herz-worten des Glaubens« zu »Schlag-worten der Zeit« geworden.160 Die »Ismen«, deren geschichtliche Grundlegung Rosenzweig damit anzeigte, wähnte er am Ende von Der Stern der Erlösung überwunden: »Standpunkte, Welt- und Lebensanschauungen, Ismen jeglicher Art  – das wagt sich alles unter diesem letzten einfachen Blick der Wahrheit nicht mehr hervor.«161 In dieser Zeitdiagnostik umkreiste er den modernen Geschichtsbegriff, ohne ihn zu benennen. »Die Geschichte« scheint in dieser Weise an verschiedenen Stellen in Der Stern der Erlösung auf – in gewissem Sinn ist das Werk durchzogen von einer Kritik des Geschichtsbegriffs. Was Rosenzweig im dritten Teil offenlegte, wurde im zweiten auf anderer Ebene vorbereitet. In Randbemerkungen kritisierte er darin die historische Schule und die Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts. Gleichwohl ließ er auch seine eigenen Überlegungen aus der Abgrenzung zum modernen Geschichtsbegriff hervorgehen. So eröffnete er seine Ausführungen zum zweiten Teil mit einer Darstellung des »Wunder[s]«.162 Im Rahmen von Vorsehung und Prophetie verstanden, verweise das Wunder auf die »Bahn« von »Schöpfung«, »Offenbarung« und »Erlösung« insgesamt, es sei ein Sichzeigen der »Gesetzmäßigkeit« des Weltgangs nach Gottes Willen.163 Indem er das Wunder nicht als einen Einbruch in die Naturgesetzmäßigkeit verstand, sondern gerade als Beleg für eine solche, wieder göttlich verstandene Gesetzmäßigkeit, invertierte er die aufklärerische Kritik. Korrelativ begriff er die »allzeiterneuerte Welt« der Offenbarung in Umkehr des von Max Weber verbreiteten Diktums als eine »verzauberte Welt«.164 In dieser gedanklichen Rückübertragung legte Rosenzweig den Fokus auf die »historische Aufklärung«.165 157 Zu 1800 als Beginn einer »neue[n] Epoche« vgl. ders., Der Stern der Erlösung, 110. 158 Ebd., 320. Vgl. dazu auch Altmann, Franz Rosenzweig on History, 125–129. 159 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 319. 160 Ebd. 161 Ebd., 469. 162 Ebd., 103–123. 163 Ebd., 106. 164 Ebd., 246. 165 Ebd., 108.

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Diese habe das Verhältnis von Glauben und Wissen radikal verändert, indem sie das Wissen transformierte. In seiner Sicht gab es mehrere Aufklärungen, »die epochenweise nacheinander dem in die Welt getretenen Glauben das Wissen repräsentieren, mit dem er sich auseinanderzusetzen hat«.166 Allerdings ging er davon aus, dass das Wunder zwar bereits mit der auf die Vernunft gerichteten Aufklärung aus der Naturwahrnehmung verbannt worden sei, dass aber – fundamentaler – mit der »historischen Aufklärung« der Glaube insgesamt sein Bezugsgefüge eingebüßt habe.167 Um den zugrunde liegenden Dualismus zu überwinden, wollte er nicht einfach den Glauben wiederum mit dem Wissen austauschen, sondern beide versöhnen. Indessen diagnostizierte Rosenzweig ebenfalls, dass der Glaube selbst nicht frei von dieser Dynamik geblieben sei, dass auch die Theologie im 19. Jahrhundert historisch geworden sei. Dabei steckte er das Feld der Auseinandersetzung durch die protestantische Theologie ab.168 Durch die historische Kritik habe die Geschichte Einzug in die Theologie gehalten und diese von innen heraus verändert. Dies setze mit dem »Fortschrittsgedanken« der rationalen Aufklärung ein und münde in die historische Begründung der Theologie.169 Rosenzweig hielt der »historischen Theologie« des 19. Jahrhunderts vor, dass sie sich einem Geschichtsbegriff anverwandelt habe, der sich nicht nur auf die Vergangenheit berief.170 Der »Fortschrittsgedanke« habe dazu geführt, dass der Glaube auf die Gegenwart und die Zukunft gerichtet worden sei. Damit werde die »unwesentliche« Vergangenheit im »Entwicklungsgedanken neutralisiert« und die »wesentliche« der Gegenwart angeglichen.171 Gegen diese »historische Theologie« richtete Rosenzweig sein eigenes, nicht mehr selbst unter dem Vorzeichen der Geschichtsphilosophie stehendes Verständnis von Offenbarung – wie er es bereits im November 1917 angezeigt hatte. Eine signifikante Demarkationslinie zog Rosenzweig im Rahmen der »allzeiterneuerten Welt« zwischen Judentum und Christentum als Offenbarungsrepräsentationen und dem Islam, der, seiner Ansicht nach, von Gott nur »ein Buch« erhalten habe.172 Entgegen seiner »nachträgliche[n] Bemerkungen« von 1925, in denen er meinte, dass der Islam nur etwas weniger Thema gewesen sei als Judentum und Christentum,173 ist dessen Präsenz 166 Ebd. 167 Vgl. ebd. 168 Vgl. ebd., 112–114. 169 Ebd., 111. 170 Ebd., 112. 171 Ebd. 172 Vgl. ebd., 158. 173 Vgl. Rosenzweig, Das neue Denken, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 140.

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in Der Stern der Erlösung allerdings recht randständig. Nur in kurzen Bemerkungen, insbesondere in einem Exkurs im dritten Buch des zweiten Teils, das der Erlösung gewidmet ist, wird er zum eigenen Gegenstand.174 Darin bestimmte Rosenzweig den Islam über eine Zeitreflexion, die jedoch vielmehr etwas über die geschichtliche Welt des 19. Jahrhunderts aussagt als über den Islam. Unter dem Deckmantel des Islam setzte sich Rosenzweig mit der historischen Schule auseinander, indem er resümierte: »Daß jedes Zeitalter gleich unmittelbar zu Gott sei, ist ja eben auch der echte Gedanke des reinen, zum bloßen Werkzeug der Erkenntnis des Gewesenen ausgelöschten Historikers.«175 Mit dem Zitat Rankes,176 dessen Namen er auch hier nicht anführte, wollte Rosenzweig zeigen, dass die Geschichtsvorstellung des Islam der sinnentleerten, weil ohne Dimension der Zukunft firmierenden, der historischen Schule entspreche – ohne dass er diese selbst zum Thema machte. Diese Vorstellung als der einen Seite des Geschichtsbegriffs konfrontierte er in seinem Exkurs mit einer noch den Übergang von Geschichte zur Offenbarung markierenden Geschichtsphilosophie. Bezeichnend ist nicht nur, dass er das Christentum vom Islam abgrenzte, sondern auch, wie er dies begründete: Er schrieb ihm ein Interesse am »›geschichtsphilosophischen‹ Hintergrund« zu, weil es »das Walten Gottes in der Geschichte« suche.177 Gleichwohl verschob er nicht nur die Geschichtsvorstellung der histo­ rischen Schule, sondern auch die Idee eines unendlichen Fortschritts in die Weltformation jenseits der Offenbarung, wenn er apostrophierte: »Und im Gedanken des Fortschritts scheint zwar zunächst wenigstens der Zusammenhang, das Wachstum, die Notwendigkeit genau wie im Reich Gottes lebendig zu sein. Aber alsbald verrät er sein Inneres durch den Begriff der Unendlichkeit […].«178 In diesem Gedanken liege auch die Annahme, dass jeder Augenblick »an die Reihe« kommen werde und damit das Moment des Eintretens des »ewigen Augenblicks« dispensiert sei.179 Rosenzweig differenzierte dafür zwischen der von ihm postulierten Vorwegnahme der Zukunft und den Geschichtsvorstellungen, in denen die Zukunft als »eine in unendliche Länge hingezogene, nach Vorwärts projizierte Vergangenheit« gesehen werde.180 Die innerweltliche Unendlichkeit stellt in dieser Sicht ein Derivat der Ewigkeit dar. Der Begriff der Offenbarung bezeichnete für Rosenzweig dagegen keine Ablösung oder Austauschbarkeit von Vergangenheit und Zu174 Vgl. ders., Der Stern der Erlösung, 129–131, 135–137, 184–186, 191–193, 202, 240–242 und 251–253. 175 Ebd., 253. 176 Ranke, Erster Vortrag vom 25. September 1854, 59 f. 177 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 251. 178 Ebd., 253. 179 Ebd. 180 Ebd., 253 f.

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kunft. Schopenhauers Kritik am Geschichtsbegriff evozierend, betonte er: »Denn ohne solche Vorwegnahme ist der Augenblick nicht ewig, sondern ein sich immerwährend Weiterschleppendes auf der langen Heerstraße der Zeit.«181 So notwendig die Dimension der Zukunft für Rosenzweig auch war, entsprach ihm das, was als innerweltliche, linear vorgestellte Zukunft gedacht wurde, nicht der Wirklichkeit. Die Gegenwärtigkeit von Zukunft und Vergangenheit konfigurierte er durch die Offenbarung von Schöpfung und Erlösung neu – jenseits des Geschichtsbegriffs. Dennoch konfrontierte Rosenzweig die Offenbarungsvorstellungen in Judentum und Christentum im dritten Teil von Der Stern der Erlösung mit einer eigenen geschichtlichen Deutung. Darin dechiffrierte er einen Säkularisierungsprozess, der mit der Aufbewahrung heidnischer Unterschiede durch den Zwiespalt von Staat und Kirche einen Anfang gefunden habe und im Machtstreben der Nationen ende. Auch das »jüdische Volk« bettete er in diese Reflexion ein, allerdings als Vorbild für die weltlichen, christlichen Völker.182 So habe das Christentum mit dem »Erwähltheitsgedanken« eine drastische Veränderung ins Werk gesetzt, die sich in den neuzeitlichen Staaten in neuer Ausprägung zeige.183 Die Kirche sei mit ihrer Gründung hinausgeströmt in die Welt und durch dieses Nachaußentreten sei ihr Gesetz mit den weltlichen Traditionen der einzelnen Völker, die Teil der Christenheit geworden seien, auch durch das der Welt geformt worden.184 Mit dem »Kaisertum« habe sich ein allgemeiner Herrschaftsanspruch durchgesetzt,185 der in den Staaten in dem »Anspruch auf Ewigkeit« seinen Nachhall finde.186 Zwar habe das »jüdische Volk« den »Glaubenskrieg« entdeckt, es kenne ihn aber nicht mehr, er liege in dessen »mythischer Vergangenheit«.187 Der »Krieg als religiöse Handlung« sei seither »der christlichen Weltzeit vorbehalten«.188 Aber  – und hier kommt das zugrunde liegende Motiv R ­ osenzweigs zum Tragen – auch die aus der christlichen Welt hervorgegangenen Staaten führten noch Glaubenskriege.189 Für Rosenzweig hatte das Christentum also den Krieg verändert, er war zu einem höheren Kampf 181 Ebd., 254. 182 Vgl. ebd., 365 f. Den Gedanken zu Staat und Krieg stellte Rosenzweig für die zweite Auflage den Randtitel »Messianische Politik der Völker« anbei. Vgl. Verzeichnis der Randtitel, in: ebd., 517–522, hier 521. 183 Ebd., 366. 184 Vgl. ebd., 415. 185 Ebd., 311. 186 Vgl. ebd., 391. 187 Ebd., 367 f. 188 Ebd., 367. 189 Vgl. ebd.; vgl. dazu außerdem bes. Mosès, Politik und Religion, 862; Voigts, Kritische Anmerkungen zu Franz Rosenzweig, 147.

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geworden und diese Struktur erhalte sich auch nach dem Wegfall des Glaubens. Dies beruhe auf einem Drang zur Ewigkeit, den die einzelnen Völker verspürten, allerdings im Rahmen der »Weltgeschichte«.190 Rosenzweig beschrieb diese Adaption in Kontrast zum Judentum: Das Blut der einzelnen Völker der Welt kreise nicht, sondern »es fließt in unrückläufigem Gefälle abwärts durch die Landschaft der Zeit in den Ozean der Geschichte«.191 Um diesem Gefälle zu entgehen, strebten sie die eigene Verewigung an und versuchten, den Strom der Weltgeschichte aufzuhalten. Sie stauten das Wasser des Stroms und erschufen »kleine Ewigkeiten, künstlich erwählte Völker«.192 Die Beschreibung der »Weltgeschichte« erfolgt in Der Stern der Erlösung vor allem im Hinblick auf das »Leben« im Judentum. In Bezug auf den christlichen »Weg« wird das Wort in den Hintergrund gerückt. Allerdings diagnostizierte Rosenzweig: »Macht ist deswegen der Grundbegriff der Geschichte«, und begründend setzte er hinzu: »weil im Christentum die Offenbarung begonnen hat, sich über die Welt zu verbreiten, und so aller, auch der bewußt nur rein weltliche Ausdehnungswille zum bewußtlosen Diener dieser großen, Ausdehnungsbewegung geworden ist«.193 Indem er explizit den »bewußt rein weltlichen Ausdehnungswillen« in diesen Gedanken integrierte, verwies er auf jene aufbewahrende Säkularisierungsdynamik des modernen Geschichtsbegriffs, die auch im vage bleibenden Verhältnis von »Weltgeschichte« und »christlicher Weltzeit« fortwirkt. Zugleich begriff R ­ osenzweig den »in sich selber weitertreibende[n] Gang« der »Weltgeschichte«, der »Völker Leben und de[n] diesem Leben umgelegte[n] harte[n] Panzer von Recht und staatlicher Ordnung« als »Schöpfungsgrund, den die Erlösung zum Reich Gottes braucht«.194 Auch machte er ein mit der Figur

190 Voigts weist anhand von Rosenzweigs Entwurf für eine Vorlesungsreihe in Kassel von Mai bis Juli 1920 mit dem Titel Jüdische Geschichte im Rahmen der Weltgeschichte darauf hin, dass Rosenzweig mehr als einen Begriff der Weltgeschichte verwandte. In Der Stern der Erlösung figuriert das Wort in negativer Konnotation oder wird in seiner Bedeutung eingeschränkt, in dem Entwurf von 1920 wird hingegen der Zusammenhang mit einer anderen, wahren Weltgeschichte angedeutet, allerdings nicht ausgeführt, wenn es heißt: »Weltgeschichte ist unsre Geschichte. Nun noch in einem andern Sinne: sie ist nicht vergangen. Weltgeschichte ist ebenso vergangen, wie sie zukünftig ist,  – sie ist jetzt. Wir tragen sie ganz in uns. Nur was wir in uns tragen, ist Weltgeschichte.« Rosenzweig, Jüdische Geschichte im Rahmen der Weltgeschichte, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 539–552, hier 539 (Hervorhebung im Original); vgl. zum Drucknachweis ebd., 855. Vgl. zu dem Zitat von Rosenzweig und dessen widersprüchlichen Reflexionen auf Weltgeschichte Voigts, Kritische Anmerkungen zu Franz Rosenzweig, 145. 191 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 420. 192 Vgl. ebd., 371. 193 Ebd., 450. 194 Ebd. 269.

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des »Kaiser[s]« korrelierendes »Erlösungssehnen der Welt« aus.195 Allerdings konstatierte er anschließend, dass »es überhaupt im strengen Sinn keine Geschichte des Reichs Gottes [gibt]. Das Ewige hat keine Geschichte, höchstens eine Vorgeschichte.«196 Das Sehnen und Wachsen der Welt sah Rosenzweig zwar im Rahmen des Erlösungszusammenhangs, verstand es aber gerade nicht als »Geschichte«, sondern, wenn überhaupt, als »Vorgeschichte«. Die Weltgeschichte in dieser Restriktion als aus dem Christentum hervorgegangene Kriegs- und Staatengeschichte zu begreifen, deutet auf Hegels Geschichtsphilosophie und auf die Entstehungszeit von Der Stern der Er­ lösung.197 Einzelne Worte in der Darstellung lassen das Geschehen iterativ aufscheinen, etwa indem Rosenzweig von einer »Heerstraße der Zeit« und in Bezug auf das Christentum von einem »eisernen Weg« sprach. Schließlich zeigt sich so durch den nur mehr im Negativbild repräsentierten Geschichtsbegriff bei Rosenzweig auch ein Anspruch an, aufgrund einer neuen Verbindung von Theologie und Philosophie dem weltgeschichtlichen Ereignis seine Bedeutung abzusprechen. Das 19. Jahrhundert hatte eine epistemische Ordnung hervorbringen können, die die vorhergehenden Formen in ihrer Immanenz überschrieben hatte und die der Zäsur nicht standzuhalten vermochte, dagegen richtete Rosenzweig seine Offenbarungsphilosophie. Während er Hegel bei aller philosophischen Aufbewahrung geradezu für obsolet zu erklären suchte,198 wurde ihm für die Bewältigung dieser Krise der bloßen Immanenz neben Goethe vor allem Schelling zum Gewährsmann. So blieben seiner Kritik am Idealismus zentrale Motive der Konstellation um 1800 eingeschrieben. 195 Ebd., 391. Pollock sieht in dieser Wendung einen durchaus positiven Bezug auf Geschichte, den er als Beleg dafür nimmt, dass der Krieg keine oder nicht die zum Teil wohl angenommenen resignativen Auswirkungen auf Rosenzweigs Denken gehabt habe. Es geht Rosenzweig darin indes nicht um »die Geschichte«, sondern um eine wieder offenbarungsgesättigte Weltvorstellung, die trotz aller Transformation am ehesten wohl als »Eschatologie« begrifflich gefasst und durchaus auch als Reaktion auf den Krieg gelesen werden kann, wie dies etwa Altmann in Bezug auf Rosenzweigs Überlegungen zum »Kingdom« macht. Das »Erlösungssehnen der Welt« bezieht sich auf ein erhofftes göttliches Wirken, darauf, dass jene bloß menschlichen Zusammenhänge, die seinerzeit als Geschichte begriffen wurden und zu dem Krieg geführt hatten, als Reflexionsradius nicht mehr ausreichten. Vgl. dazu Pollock, From Nation State to World Empire, 334 und 352; ders., Franz Rosenzweig’s Conversions, 181–183. Zur Eschatologie vgl. Altmann, Franz Rosenzweig on History, 132–135; Bienenstock, Ist der Messianismus eine Eschatologie?, 129. Dazwischen liegt wohl Görtz’ Bezeichnung der »Glaubensgeschichte« für ­Rosenzweigs Erlösungsdenken, das er indes auch als »eschatologische Dialektik« begreift. Vgl. ders., Tod und Erfahrung, 325–328. 196 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 392. 197 Vgl. dazu Mosès, System und Offenbarung, 161. 198 Dass Rosenzweig trotz dieses Anspruchs in seiner Denkbewegung an Hegel angelehnt bleibt, zeigt insbesondere Görtz in seiner umfassenden Studie zur Wirkung der Phäno­ menologie des Geistes auf Rosenzweig: ders., Tod und Erfahrung.

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Insbesondere scheinen Überlegungen aus Schellings Spätphilosophie zum Verhältnis des Judentums zur Geschichte in Rosenzweigs Gedankengang eingeflossen zu sein, wie es etwa der Topos der »johanneischen Welt« anzeigt. Zu Beginn der 1840er Jahre hatte sich Schelling das Ziel gesetzt, das Christentum philosophisch zu legitimieren. Dafür ging er von einer doppelten Geschichte aus, neben die Weltgeschichte setzte er eine zweite, göttliche, die in die erste hineinrage. So heißt es in der Philosophie der Offenbarung – ideengeschichtlich noch an der Schwelle zum modernen Geschichtsbegriff: »Es gibt insofern eine doppelte Geschichte der vermittelnden Potenz; es gibt gleichsam eine historia sacra und eine historia profana ihrer Wirkung.«199 Aber nicht nur die Vorstellung einer »doppelte[n] Geschichte« spiegelt sich bei Rosenzweig, auch der von ihm ausgemachte Status des Judentums in Bezug auf die profane Geschichte wurde bei Schelling vorgezeichnet. So betonte dieser in der Philosophie der Offenbarung geradezu paradigmatisch für die Philosophie des – gerade noch – beginnenden 19. Jahrhunderts: »Wie die Hülse vom Winde verweht wird, wenn das lebendige Korn, das sie in sich trägt, heraus ist, so wurde das jüdische Volk auseinander geweht, und hat seit dem keine eigene selbständige Geschichte mehr; es ist im eigentlichen Sinne ausgeschlossen von der Geschichte.«200 Im Gegensatz zu anderen Idealisten sah Schelling darin jedoch etwas für die Geschichte Notwendiges, wenn er als Beantwortung der Frage der Auserwähltheit  – für die Zeit vor Beginn des Christentums  – betonte, »daß das israelitische Volk nach dem Maßstab der anderen Völker gerade am wenigsten bestimmt war eine eigene Geschichte zu haben« und dass es sich »eben aus diesem Grunde mehr […] eignete, der Träger der göttlichen Geschichte (im Gegensatz zur Welt­geschichte) zu seyn«.201 Auch nach dem christlichen Gründungsereignis und der Zerstreuung bleibe, »solange sie an ihrer väterlichen Religion halten«, ein »Zusammenhang mit der wahren Geschichte, dem wahren, göttlich gewollten Proceß«.202 Sie seien das »vorbehalten Volk, vorbehalten dem Reich Gottes«.203 Eine analoge Verhältnisbestimmung findet sich bei Rosenzweig, nur kreiste er nicht um eine geschichtsphilosophische Legitimation des Christentums, sondern um die Rechtfertigung des jenseits der »weltlichen Geschichte« stehenden Judentums.204 Obschon er sich mit Der Stern der Erlösung aus dem Idealismus herausschrieb, erneuerte er so dessen Geschichtsvorstellung, nach der das Judentum aus dem Verlauf der Weltge199 Schelling, Neunundzwanzigste Vorlesung, zit. nach ders., Sämtliche Werke 2.4, 119–151, hier 119. 200 Ebd., 150 (Hervorhebung im Original). 201 Ebd., 148. 202 Ebd., 150 (Hervorhebung im Original). 203 Ebd., 151. 204 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 450.

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schichte herausgesetzt war. In einer Zeit, in der »die Geschichte« nicht mehr hoffnungsgesättigt war, stellte er seine Konstruktion allerdings unter andere Vorzeichen. In der Abwendung von Hegel zugunsten Schellings verdichtete sich das Problem der geschichtlichen Welt. In einem Feldpostbrief, der auf den 2. Februar 1916 datiert unter den Paralipomena veröffentlicht wurde, stellte ­Rosenzweig fest, dass »die Katastrophe als die allgemeine Form des geschichtlichen Prozesses von uns erkannt wird«.205 Auch wenn es sich dabei nur um eine kurze Äußerung zum historischen Geschehen unter vielen anderen handelt, die Rosenzweig inmitten des Krieges festhielt und die mitunter widersprüchlich anmuten; auch wenn zum Zeitpunkt der Niederschrift der Notiz noch verschiedene Weichenstellungen vor ihm lagen, so ist in diesem Fall doch etwas benannt, was er – nur folgerichtig – nicht mehr in Der Stern der Erlösung aufnehmen wollte: der Gedanke des »geschichtlichen Prozesses« selbst. Die Konfliktlinie des Werks verlief zwischen dem modernen Geschichtsbegriff und einer selbst noch aus dessen Kritik hervorgegangenen Offenbarungsphilosophie, die wieder erlösungsorientiert sein sollte. Vermittels einer Adaption der doppelten Geschichtsvorstellung Schellings suchte Rosenzweig sich von dem säkularisierten wie säkularisierenden Ordnungsprinzip des Wissens zu befreien, das das 19. Jahrhundert geprägt hatte. Im Versuch dieser Überwindung ist Der Stern der Erlösung eine Krisenschrift. So stellt der in die Peripherie gedrängte Begriff der Geschichte, der doch noch der Widerpart ist, letztlich einen polemischen Faden dar – wie Goldstein es auf ganz anderes bezogen in seiner Vorbemerkung zu Das neue Denken formulierte –, der im Werk zwar nicht benannt, diesem aber eingewoben ist. Im Auftakt des 20. Jahrhunderts dachte Rosenzweig in mehrfachem Sinn aus der Geschichte.

205 Ders., Paralipomena. Auf den 11. Februar 1916 datierter Brief, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 61–124; vgl. für den gesamten Brief ebd., 66–72, hier 68.

2. Ideenfragmente: 1908–1920

Friedrich Meinecke veröffentlichte 1930 in der Historischen Zeitschrift einen kurzen Nachruf auf Franz Rosenzweig, der am 10. Dezember 1929 verstorben war. Er würdigte dessen 1920 erschienenes Buch Hegel und der Staat mit dem Rosenzweig »der deutschen Geistesgeschichte ein Werk von bleibendem Werte« hinterlassen habe.1 Obwohl Meinecke ihn auch als »Philosoph und Erneuerer jüdischen Geistes« bezeichnete,2 übersah er geflissentlich, dass Rosenzweig im Vorwort des exponierten Buchs selbst deutlich machte, dass er es 1919 weder hätte umarbeiten können noch es nach dem Krieg überhaupt geschrieben hätte.3 Nicht nur der Geschichte verbunden, sondern auch aus politischem Interesse hatte Rosenzweig sich vor dem Krieg dem Denken Hegels zugewandt, dessen Bahnen er nach der Zäsur des Krieges nicht mehr verfolgen wollte. Den ehedem gehegten Anspruch und die neue Lage nach dem Krieg beschrieb er in dem Vorwort in eindrücklicher Form: »Der harte und beschränkte Hegelsche Staatsgedanke […] sollte hier in seinem Werden durch das Leben seines Denkers hindurch gleichsam unter dem Auge des Lesers sich selber zersetzen […].«4 Rosenzweigs Absicht bestand genauer darin, durch die Selbstauflösung des hegelschen Staatsgedankens eine »innen wie außen geräumigere deutsche Zukunft«5 zu eröffnen. Aber: »Es ist anders gekommen. Ein Trümmerfeld bezeichnet den Ort, wo vormals das Reich stand.«6 Das Buch war für Rosenzweig selbst so schon 1919  – noch vor seiner Publikation  – veraltet. Dessen ungeachtet blieb es für den Doktorvater auch postum ein wichtiger Beitrag zur »deutschen Geistesgeschichte«. Meinecke überging 1930 allerdings nicht nur Rosenzweigs eigene Einschätzung der Arbeit zu Hegel, Der Stern der Erlösung fand nur in der Formulierung »Erneuerer jüdischen Geistes« seinen Anklang. Zwar rekurrierte er auch auf Rosenzweigs Weg ins Judentum, deutete diesen aber als bloße Reaktion auf das Kriegsgeschehen. So heißt es in der Historischen Zeitschrift weiter: »Der Weltkrieg machte ihn 1 Meinecke, (Nachruf ohne Titel), 219. 2 Ebd. 3 Vgl. Rosenzweig, Vorwort, in: ders., Hegel und der Staat, Bd. 1, V–XII, hier XII. Zur Bedeutung von Hegel und der Staat vgl. u. a. Bienenstock, Rosenzweig’s Hegel; Navarrete Alonso, »Der Jude, der in deutschem Geist macht«. 4 Rosenzweig, Vorwort, in: ders., Hegel und der Staat, Bd. 1, XII. 5 Ebd. 6 Ebd.

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irre an dem zuerst verfolgten Wege, die Höhen der deutschen protestan­ tischen Kultur zu erforschen; darum flüchtete er in die Welt seines Blutes.«7 Erhalten ist auch eine frühere Skizze, in der Meinecke sich an Rosenzweig als seinen Schüler erinnerte. In einem Beitrag zu der von Martin Buber besorgten »Gabe« zu Rosenzweigs 40. Geburtstag im Dezember 1926 evozierte Meinecke ein bald nach dem Krieg mit Rosenzweig geführtes, für ihn auch in der Rückschau noch bewegendes Gespräch. Rosenzweig habe ihm seinerzeit mitgeteilt, dass »die ganze geistige Grundlage und Voraussetzung ihrer Hegelarbeit, das Vertrauen auf die Festigkeit und Kontinuität der humanistisch-protestantischen Kultur Deutschlands […] erschüttert oder doch aufs schwerste bedroht sei«.8 Auch wenn Rosenzweig – in Meineckes Retrospektion – gehofft habe, dass die Welt, in der er herangewachsen sei, nicht vollends zerstört sei, habe er nicht mehr an sie glauben können.9 Meinecke, der sich sehr genau an dieses Gespräch zu erinnern schien, schloss seinen Beitrag an das »deutsche Volk« appellierend mit der Hoffnung, »dem Gotte, der in der Geschichte waltet«, näherzukommen.10 Mit diesem Zusammenhang legte er ungewollt sein Unverständnis gegenüber Rosenzweigs Standortbestimmung offen.11 Der deutsche Historiker versperrte sich gegen Rosenzweigs aus der Geschichte führende Denkbewegung. Im Kontrast zu der Einschätzung von 1930, die in dem wichtigsten Medium der deutschen Geschichtswissenschaft veröffentlicht wurde, gestand Meinecke Rosenzweig 1926 dennoch zumindest zu, dass ihm das »Gefühl des inneren Bruches« niemals stärker zum »Ausdruck gebracht worden« sei.12 Die Einsicht in die geistesgeschichtliche Konstellation am Ausgang des Krieges, die Rosenzweig demnach Meinecke darlegte, wurde Mitte der 1920er Jahre allerdings mit einer Kultur konfrontiert, die er nicht mehr als bedroht ansehen wollte – die Krisenzeit war insbesondere für Meinecke längst überwunden. Dem Meinecke mündlich mitgeteilten zeitdiagnostischen Urteil hatte Rosenzweig im Sommer 1920 noch eine Rechtfertigung nachgeschickt.13 Er führte aus, dass nicht erst der Krieg Veränderungen in seiner Perspektive bewirkt habe, sondern bereits eine in der Rückschau als schicksalhafte Nacht wahrgenommene Zusammenkunft mit dem zum Protestantismus konver7 Meinecke, (Nachruf ohne Titel), 220. 8 Hier zit. nach Meinecke, 25. Dezember 1926: An Franz Rosenzweig, zit. nach ders., Werke 10, 289 f., hier 290. 9 Vgl. ebd. 10 Ebd. 11 Vgl. ebd. 12 Ebd. 13 Das Teilkapitel Dialogische Revisionen, aber auch andere Passagen dieses Kapitels, wie etwa die kurzen biografischen Ausführungen zu Rosenzweig und die kursorische Darstellung des Werks Meineckes, sind eingeflossen in Sauter, Dialogische Revisionen.

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tierten Eugen Rosenstock und Rudolf Ehrenberg im Juli 1913 in Leipzig. Nach eigenem Empfinden habe er – wie er im Sommer 1920 darlegte – im Nachgang der Auseinandersetzung einen »Zusammenbruch« erlitten und sei vom Historiker zum Philosophen geworden.14 Meinecke sah in Rosenzweigs neuem Selbstverständnis nur eine Flucht vom Kriegsgeschehen. In den Selbstbeschreibungen Rosenzweigs wurde hingegen die Bedeutung des Krieges in den Hintergrund gerückt und das Leipziger Nachtgespräch zum entscheidenden Wendepunkt erklärt. So schrieb er im Oktober 1916 an Hans Ehrenberg: »Der Krieg selber bedeutet mir in keiner Weise einen Abschnitt, ich hatte 1913 so viel erlebt, daß 1914 schon gradezu den Weltuntergang hätte bringen müssen, um mir noch zu imponieren.«15 Zwar veränderte sich diese Einschätzung des Krieges in dessen letztem Jahr, dennoch entfaltete der Disput von 1913 für Rosenzweigs Denkbewegung eine ganz eigene Wirkung, indes längst nicht in der Eindeutigkeit, wie er sie in seinen Retrospektionen darstellte. Die Brüche in Rosenzweigs Biografie, so unscharf die Grenzen – trotz seiner eigenen Stilisierung eines radikalen Bruchs im Jahr 1913 – auch zu ziehen sind, wurden aus der Per­ spektive des deutschen Historikers Meinecke nicht wahrgenommen. Gerade die mit dieser Position verbundene Sichtweise war es jedoch, die Rosenzweig nach dem Krieg zurücklassen wollte. Die zunehmend nach außen getragene Parteinahme für das Judentum und die Abkehr von der Geschichtswissenschaft bilden allerdings keinen mit 1913 fixierten Einschnitt in Rosenzweigs intellektueller Biografie. Sie stehen vielmehr für zwei ineinanderfließende Denkbewegungen: die Suche nach einem Sinn im Weltgeschehen – zunächst 14 Vgl. Rosenzweig an Friedrich Meinecke, 30. August 1920, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 678–682, 679 f. Die Wirkungen des Nachtgesprächs auf Rosenzweig sind in der Forschung umstritten. Seit Nahum  N.  Glatzer (1953) wird eine Mystifizierung des Gesprächs vorgenommen. Es wird als Ausgangspunkt für Rosenzweig gesehen, seinen Glauben in einer Form von Erleuchtungserlebnis an Jom-Kippur im Oktober 1913 gefunden zu haben. Dagegen deutet es Pollock (2014) als Überwindung seines »Marcionismus«. Seine These ist, dass Rosenzweig in der Auseinandersetzung im Jahr 1913 nicht den Glauben (»faith«), sondern die Welt (»world«) und damit letztlich die Geschichte (»history«) fand, was sich auch noch in Der Stern der Erlösung ausdrücke. Zu Recht weist er dabei erneut auf die fehlende Belegbarkeit des Jom-Kippur-Erlebnisses hin sowie auf wichtige Kontinuitäten in Rosenzweigs Denken bezüglich der Frage nach der Theologie, die zeitlich hinter das Nachtgespräch zurückreichen. Mit Blick auf das Weltverständnis ist Pollocks Argumentation nachvollziehbar, allerdings ist damit nicht direkt Rosenzweigs fortgesetztes Ringen mit dem Geschichts­begriff des 19. Jahrhunderts selbst adressiert, das andere Kontinuitäten freisetzt. Vgl. dazu Pollock, Franz Rosenzweig’s Conversions, 2 f., 62 und 113; zu Rosenzweigs Verständnis des Marcionismus vgl. ders., On the Road to Marcionism, 226–228; zur Stilisierung des Erleuchtungserlebnisses vgl. u. a. Glatzer, Franz Rosenzweig, 25 f. 15 Ders. an Hans Ehrenberg im Oktober 1916, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 241–244, hier 242.

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noch unter dem Vorzeichen des Geschichtsbegriffs, später im Namen der Offenbarung – und das Verhältnis des Judentums zur Welt.

Geschichtliche Welten Als Rosenzweig sich im Sommer 1909 in Freiburg auf eine Unterredung mit seinem späteren Doktorvater einstellte, hatte er sein genaues Thema zwar noch nicht gefunden, sein Interessenschwerpunkt lag aber bereits auf der »Vorgeschichte der nachbismarckschen politischen Gesinnung«,16 wie er im August des Jahres an Hans Ehrenberg schrieb. Diese »Gesinnung« brachte er in den verschiedenen politischen Strömungen in ihrem Grunde mit Hegel in Verbindung. Nach Abbruch eines Medizinstudiums und einem Aufenthalt in Berlin hatte Rosenzweig erst im Jahr zuvor offiziell begonnen, Geschichte bei Meinecke und Philosophie bei Heinrich Rickert in Freiburg im Breisgau zu studieren.17 Der erste Vermerk zu Hegel in seinen Tagebüchern ist auf Mai 1908 datiert, an selber Stelle werden auch Kant, Fichte und S­ chelling genannt.18 Rosenzweigs Interesse galt also den großen Vertretern der deutschen Philosophie an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert. Diese vier begriff er als Vorbereiter der ihm gegenwärtigen Kultur. Im Herbst 1908 las er Meineckes erst in dem Jahr erschienenes Werk Weltbürgertum und Natio­ nalstaat und zeigte sich tief beeindruckt von dessen historischer Methode.19 So schrieb er an Hans Ehrenberg, dass es rasend schön sei bei Meinecke, denn »[e]r behandelt die Geschichte, als wenn sie ein platonischer Dialog wäre und nicht Mord und Totschlag, Ölfarbe, Reim, Dissonanz, Buchvorwort und Verbeugung. Man schwebt!«20 Ein kurzes Kapitel zu ­Hegel aus Weltbürgertum und Nationalstaat wurde der Ausgangspunkt für Rosen­ zweigs Dissertation.21 Damit reihte er sich bei aller Kritik noch in die Hegel-­ Renaissance um 1910 ein, die Wilhelm Windelband, der Begründer des 16 Ders. an Hans Ehrenberg, 4. und 6. August 1909, zit. nach ebd., 91–93, hier 92. 17 Die Einflüsse auf Rosenzweig in den Jahren seines Studiums waren nicht auf Meinecke und Rickert beschränkt. So war er, noch bevor er diesen offiziellen Schritt ging, während seines Berlin-Aufenthalts schon mit dem Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin und dem Historiker Kurt Breysig in Kontakt gekommen, die beide zu dieser Zeit in Berlin lehrten. Vgl. dazu Herzfeld, Einleitung zu den Jugendschriften; zu Rosenzweigs Nähe zu Wölfflins Geschichtskonzept vgl. Gibbs, Correlations in Rosenzweig and Levinas, 115 f. 18 Rosenzweig, Tagebucheintrag vom 29. Mai 1909, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 82. 19 Vgl. ders., Brief an die Mutter, 13. November 1908, zit. nach ebd., 88 f., hier 88. 20 Ders. an Hans Ehrenberg, Ende Oktober oder Anfang November 1908, zit. nach ebd., 88. 21 Vgl. Meinecke, Strassburg / Freiburg / Berlin 1901–1919, 196. Vgl. dazu u. a. auch MendesFlohr, Franz Rosenzweig and the Crisis of Historicism, 141; Gordon, Rosenzweig and Heidegger, 101 f.; Scharf, Thinking in Translation, 22.

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südwestdeutschen Neukantianismus und Mentor Rickerts, seinerzeit als Erneuerung des Hegelianismus bezeichnete.22 Meinecke stellte sich in Weltbürgertum und Nationalstaat der Aufgabe, »das wahre Verhältnis universaler und nationaler Ideale in der Entstehung des modernen deutschen Nationalstaatsgedankens nachzuweisen«.23 Vom Siebenjährigen Krieg bis zu Bismarck arbeitete er die Genese dieses Verhältnisses heraus. Sein Kapitel zu Hegel fiel allerdings recht bündig aus.24 Darin befragte er die bei Hegel zentrale Spannung von partikularer empirischer Staatlichkeit und universaler Absolutheit der prognostizierten geschichtlichen Entwicklung. Meinecke ging insgesamt der Verbindung und den Übergängen von universalistischer und nationaler Perspektive nach; Rosenzweig knüpfte an diesen Gedanken an, wenn er die »Enge« des hegelschen Staatsgedankens zu zeigen suchte. Meinecke besprach Hegel unmittelbar vor Bismarck und sah ihn als dessen Vorbereiter an. Diese gedankliche Nahsicht bot Rosenzweig einen Ausgangspunkt, die ihm gegenwärtige politische Lage ideengeschichtlich zu begründen.25 So leitete ihn ein dezidiert politisch-historisches Interesse,26 er suchte seine Gegenwart aus der Geschichte zu verstehen. Seinen Anspruch formulierte er in dem Brief an Ehrenberg vom August 1909: Er wolle »überrealpolitische Tendenzen feststellen für eine Zeit, in der sich die realpolitischen grade erst gegen unterrealpolitische durchsetzten«.27 Im Sommer 1912 wurde Rosenzweig mit seiner Arbeit zu Hegels politischer Philosophie promoviert.28 Meinecke eröffnete sein Gutachten mit dem Satz: »Ich kann mich über die Arbeit nur unter dem Vorbehalt aussprechen, daß ein Philosoph vom Fach eigentlich berufener wäre über sie zu urteilen als ich.«29 Sein Gesamteindruck war dennoch, dass sie sich »zweifellos über 22 Windelband, Erneuerung des Hegelianismus. Die Schrift ist im Katalog von Rosenzweigs Bibliothek aufgeführt. Vgl. zu Windelband in Rosenzweigs Bibliothek Waszek (Hg.), Rosenzweigs Bibliothek, 151. 23 Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, 24. 24 Ebd., 236–243. 25 In seinem Brief an Hans Ehrenberg vom August 1909 taucht in der zeitgeschichtlichen Diagnose als großer Einschnitt so neben 1871 auch 1890 – das Jahr des Rücktritts Bismarcks – auf. Vgl. Rosenzweig an Hans Ehrenberg, 4. und 6. August 1909, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 93. 26 Vgl. dazu die Studie von Herzfeld zu Rosenzweigs Schriften in den Jahren des Krieges. Ders., Rosenzweig, »Mitteleuropa« und der Erste Weltkrieg. 27 Rosenzweig an Hans Ehrenberg, 4. und 6. August 1909, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 93. 28 Vgl. dazu und zur Verzögerung der Publikation der Dissertationsschrift bes. die von Herzfeld edierten Materialien. Ders. (Hg.), Franz Rosenzweigs Jugendschriften (1907– 1914), Teil 2, 152–156. Diese Ausführungen zu Weltbürgertum und Nationalstaat finden sich in leichter Variation auch in Sauter, Dialogische Revisionen, 326 f. 29 Meinecke, Gutachten, zit. nach Herzfeld (Hg.), Franz Rosenzweigs Jugendschriften (1907– 1914), Teil 2, 153.

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das übliche Niveau der Dissertationen« erhebe und er empfahl sie zur Annahme.30 Bis August 1914 arbeitete Rosenzweig intensiv an der Publikationsfassung.31 Dieses Unterfangen nahm er nach dem Krieg zwar wieder auf, distanzierte sich allerdings von seinem Standpunkt der Vorkriegsjahre. Hegel und der Staat erschien 1920 in zwei Bänden; mit einem Vorwort sowie ebenfalls nach dem Krieg verfassten Schlußbemerkungen, in denen Rosenzweig sein eigenes Unterfangen historisierte.32 Zwar zeigt sich in den Schlußbemerkungen noch der vormals leitende Anspruch, die politische Gegenwart durch ihre Geschichte zu verstehen – allerdings nicht mehr in Erwartungshaltung, sondern retrospektiv. Rosenzweig nahm darin Meineckes Ansatz erneut auf und skizzierte den Weg von Hegel zu Bismarck. Gerade weil Hegel die Grundlage des Staats im Willen der Einzelnen ausmache, habe er noch keinen Begriff der Nation entwickeln können, wie er sich mit Bismarck verwirklicht habe.33 In der »nationalen Grundlage« des 1871 gegründeten Reichs sah Rosenzweig dasjenige Prinzip, das dem »Hegelschen Staatsideal, das am Ende in den Hafen des preußischen Partikularstaats einfuhr, fremd oder wenigstens nicht notwendig war«.34 Bismarck hingegen sei selbst insofern in der Nähe des hegelschen Staatsgedankens verblieben, dass auch bei ihm Nation und Staat auseinandertraten. Der »Traum« eines Zusammenkommens beider Begriffe sei zwar mit 1871 in Teilen erfüllt worden, aber durch die »Zerstörung der Ganzheit ebendieser nationalen Grundlage« sei er als Forderung auf neuer Basis präsent geworden.35 Am Ende des Werks steht der Gedanke: »Wenn der Bau einer Welt zusammenkracht, werden auch die Gedanken, die ihn erdachten, werden auch die Träume, die ihn durchwebten, unter dem Einsturz begraben. Was eine fernere Zukunft bringt, ob Neues, Ungeahntes, ob Erneuerung des Verlorenen,  – wer dürfte sich vermessen, das vorauszusagen.«36 Trotz dieser Abschottung gegen die Zukunft machte Rosenzweig einen »Schimmer von Hoffnung« in den letzten Zeilen eines Gedichts Hölderlins aus, das er »in vergangenen, besseren Tagen zum Leitspruch der Darstellung« genommen hatte.37 Darin wird die begrenzte Lebenszeit der Menschen der Dauer der 30 Ebd. 31 Vgl. dazu ebd., 154 f. 32 Vgl. neben dem Vorwort auch Rosenzweig, Schlußbemerkungen, in: ders., Hegel und der Staat, Bd. 2, 239–246. Shlomo Avineri sieht einen direkten Zusammenhang dieser Zeitdiagnostik Rosenzweigs mit seiner Vorstellung des Judentums. Ders., Rosenzweig’s Hegel Interpretation, hier 832–835. 33 Vgl. Rosenzweig, Schlußbemerkungen, in: ders., Hegel und der Staat, Bd. 2, 243 f. 34 Ebd., 244. 35 Ebd. 36 Ebd., 246. 37 Ebd.

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Nationen entgegengesetzt. Fragen des Judentums werden in Hegel und der Staat nicht gestreift. Das zentrale Motiv des Verhältnisses von Staatlichkeit und Nation war indes längst zu einem stehenden Thema der Judenheit des deutschen Kaiserreichs geworden. Schon mit Beginn seiner historischen Studien war Rosenzweig in eine generelle Orientierungsphase der Geschichtswissenschaft geraten.38 Das Jahr 1910 war dabei für ihn weichenstellend. Während der Arbeit an Hegels politischer Philosophie begegnete er Karl Lamprecht, dessen Kulturgeschichte in den 1890er Jahren zu einem die Disziplin erschütternden Streit geführt hatte, an dem sowohl Meinecke als auch Rickert als Gegner Lamprechts in Erscheinung getreten waren.39 Rosenzweig sah sich gedanklich zwischen den Renegaten der Kulturgeschichte und den Verfechtern der Ideengeschichte gestellt. Er setzte sich dabei zwar schon von Lamprecht ab, mit dem er im Herbst 1910 in Berlin auch in direkten Kontakt kam, orientierte sich aber in gewissem Sinn an dem die Grundlagen der Disziplin erschütternden und erneuernden Gestus.40 Für Rosenzweig fand das entscheidende Ereignis des Jahres indes bereits im Januar statt.41 Zu dieser Zeit suchte er die Relativität historischer Ereignisse mit geschichtsphilosophischen Reflexionen aufzufangen, die mit seiner an Mei­ necke geschulten Hegelforschung korrespondierten, aber über den strikten Ansatz des Historikers hinausgingen. Auch wenn sein Blick auf Hegel schon zu Beginn seiner Beschäftigung kritisch war, adaptierte er eine Grund­ figur aus dessen Logik und entwickelte selbst eine geschichtsphilosophische »Konstruktion«,42 um die eigene Gegenwart aus der Vergangenheit zu verstehen. Viktor von Weizsäcker legte weit mehr als drei Jahrzehnte später – mitunter in etwas verschobener Erinnerung – dar, dass Rosenzweig seine Vor-

38 Vgl. dazu u. a. Mendes-Flohr, Franz Rosenzweig and the Crisis of Historicism, 140. 39 Zu Lamprecht und dem »Methodenstreit« vgl. etwa Flöter / Diesener (Hgg.), Karl Lamprecht (1856–1915). Zu Meinecke und Lamprecht vgl. Ries, Karl Lamprecht und Friedrich Meinecke oder: Wie objektiv soll Geschichte sein? 40 Die Begegnung mit dem Denken Lamprechts hielt er in einem Brief vom Herbst 1910 aus Berlin an Hans Ehrenberg fest und noch 1917 bezeichnete er ihn als »großen Historiker«. Vgl. Rosenzweig an Hans Ehrenberg, 28. Oktober 1910, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 113–115, hier 114; ders., Brief an die Eltern, 20. September 1917, zit. nach ebd., 442–446, hier 443. 41 Vgl. die von Herzfeld edierten Aufzeichnungen: Rosenzweig, Die Leitsätze des BadenBadener Kreises und das Referat von Franz Rosenzweig auf der Tagung am 9. Januar 1910 mit dem Titel »Das 18. Jahrhundert in seinem Verhältnis zum 19ten und zum 20ten«, 243–252. Darin findet sich auch bereits eine Bemerkung zu Lamprecht: ebd., 245. 42 Zum Begriff der Konstruktion in der Philosophie zu Beginn des 19. Jahrhunderts – bes. bei Schelling – vgl. Bienenstock, Weltgeschichte – oder Heilsgeschehen?, in: dies., Cohen und Rosenzweig, 190–213, hier 201 f.

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stellung auf einer Tagung in Baden-Baden am 9. Januar 1910 präsentierte.43 Die Zusammenkunft war, soweit bekannt, vor allem von Hans Ehrenberg vorbereitet worden.44 Bei dieser Gelegenheit begegnete Rosenzweig wohl auch erstmalig Eugen Rosenstock.45 Die Veranstaltung richtete sich an junge Historiker und Philosophen aus dem Südwesten Deutschlands – vor allem aus Freiburg, Heidelberg und Straßburg –, die sich auf neue Wege der geschichtlichen Gegenwartsdeutung begeben wollten.46 Insbesondere nahmen auch andere Meinecke-Schüler um Siegfried Kaehler teil, die sich als »Freiburger Kreis« begriffen, dem sich auch Rosenzweig zu dieser Zeit zugehörig fühlte.47 In einem Briefentwurf aus der Vorbereitungszeit an den im August 1914 verstorbenen Meinecke-Schüler Walter Sohm gab Rosenzweig seiner Erwartung an das Treffen Ausdruck, dass es die Bedeutung der »Konstruktion« für die Historiker (auch im Unterschied zu den Philosophen) zeigen werde: »[U]nser Baden-Badener Bund wird, wenn ich es […] einmal wissenschaftlich-theoretisch fassen darf, grade in der Absicht liegen, gründliche und feingliedrige Synthesen zu konstruieren.«48 In einem anderen Briefentwurf aus dieser Zeit führte er seine Hoffnung auf die Inauguration einer neuen geschichtlichen Deutung seiner Gegenwart aus. Diese solle sich in ihrem Unterschied zu »1800« wissen. Denn wie die Früheren des Aufklärungszeitalters sich schon im Gegensatz zu ihren Vorläufern sahen, so sah Rosenzweig auch in seiner Zeit einen – nun neuen – qualitativen Bruch: »1800 gab 43 Vgl. Weizsäcker, Begegnungen und Entscheidungen, 11. Weizsäcker schrieb seine Erinnerungen zwischen April und August 1945 nieder und so sind gewisse Verschiebungen darin zu finden. Zur Verschriftlichung vgl. ebd., 5. 44 Vgl. zu der Veranstaltung u. a. Mendes-Flohr, Franz Rosenzweig and the Crisis of Historicism, 142 f.; Scharf, Thinking in Translation, 22–24; Schmied-Kowarzik, Rosenzweig im Gespräch mit Ehrenberg, Cohen und Buber, bes. 65. 45 Vgl. dazu den Zwischentext der Herausgeberinnen Rosenzweig / Rosenzweig-Scheinmann, in: Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 125; SchmiedKowarzik, Hans Ehrenbergs Einfluß auf die Entstehung des »Stern der Erlösung«, 75. 46 Vgl. Rosenzweig an Hans Ehrenber, 28. Dezember 1910, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 115 f., hier 116. Mendes-Flohr beschreibt Rosenzweigs Ausrichtung treffend als »neo-Hegelian«. Ders., Franz Rosenzweig and the Crisis of Historicism, 142. 47 Vgl. zu Rosenzweigs Bindung zu und Bruch mit diesem Kreis bes. die nachfolgend erwähnten Beiträge von Ina Lorenz und Wolfgang  D.  Herzfeld. Herzfeld veröffentlichte 2008 an seine Einordnung des Verhältnisses von Rosenzweig zu Kaehler anknüpfend auch die Briefe Rosenzweigs an Kaehler, die für Lorenz das zentrale Quellenkorpus bilden. Lorenz, »Erkennen als Dienst am Menschen«, 191–195; Herzfeld, Franz Rosenzweig und Siegfried A. Kaehler; Rosenzweig / Adele Rosenzweig / Kaehler, Briefe, ediert von Wolfgang D. Herzfeld. 48 Rosenzweig, Briefentwurf an Walter Sohm (ohne Datum), zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 98–100, hier 99.

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man sich in reinen Widerspruch zum verflossenen Zeitalter, man fühlte sich anti-, die von 1900 empfinden sich a-, jene mußten da hassen, wo wir gleichgültig sein können.«49 Die im 19. Jahrhundert um- und erkämpften Kulturbestände – wie »soziale Idee, historische Weltansicht, Nationalismus, Realismus der Arbeit«50 – würden demnach im 20. Jahrhundert als Selbstverständlichkeiten verstanden werden. Bei der Zusammenkunft am 9. Januar 1910 hielt Richard Kroner, der Rickert nahestehend im selben Jahr die Zeitschrift Logos mitbegründete, einen Vortrag über Henri Bergsons Philosophie; und auch Ehrenberg trug vor.51 Rosenzweig präsentierte seine historische »Konstruktion«, die darin bestand, vom Standpunkt des beginnenden 20. Jahrhunderts das 19. Jahrhundert in seinem Hervorgehen aus dem 18. zu betrachten, und die damit zu einer zwar rückblickenden, aber in die Gegenwart strebenden geschichtsphilosophischen Deutung wurde.52 Sowohl das 18. Jahrhundert als auch das 20. sah Rosenzweig in seinem Vortragsmanuskript im Gegensatz zum 19. und über diese Abgrenzung in spezifischer Weise miteinander verbun49 Ders., Briefentwurf an Franz Frank (ohne Datum), zit. nach ebd., 100 f. 50 Ebd., 101. 51 Im ersten Heft der deutsch-russischen Zeitschrift, deren Eröffnungsbeitrag Heinrich Rickerts Text Vom Begriff der Philosophie war, erschien so auch ein Text von Kroner über Henri Bergson, der als Wegmarke in der deutschen Bergson-Rezeption gesehen werden kann. Vgl. dazu Kroner, Henri Bergson; Rickert, Vom Begriff der Philosophie. Zur Zeitschrift Logos in Bezug auf Kaehler und Rosenzweig vgl. Herzfeld, Franz Rosenzweig und Siegfried A. Kaehler, 176–179. 52 Weizsäcker legte retrospektiv dar, dass Rosenzweig in seinem Referat das 17. Jahrhundert als These, das 18. als Antithese und das 19. als Synthese bezeichnet habe. In Anbetracht des Referats trügt seine Erinnerung ihn allerdings nach 35 Jahren allem Anschein nach. Rosenzweig hatte eine die Jahrhunderte synthetisierende Deutung bereits in seinen Tagebuchaufzeichnungen zum Barock für das 16., 17. und 18. Jahrhundert vorgelegt sowie in Notizen zum Barock für das 17., 18. und 19. Jahrhundert, sodass die Verwirrung in den verschiedenen Jahrhundertkonstellationen begründet liegen könnte. In den Tagebuchaufzeichnungen und Notizen rekurrierte Rosenzweig auf kunstgeschichtliche Epochen – Renaissance, Barock und Rokoko –, um die Jahrhunderte ins Verhältnis zu setzen. Das Referat auf der Baden-Badener Konferenz ist von Wolfgang D. Herzfeld ediert und eingeleitet sowie 2008 in Band 3 des Rosenzweig-Jahrbuchs erschienen, in dem auch die Briefe Rosenzweigs an Kaehler abgedruckt wurden. Die Aufzeichnungen zum Barock sind ebenfalls von Herzfeld ediert und im Jahr darauf im Rosenzweig-Jahrbuch veröffentlicht worden. Vgl. Weizsäcker, Begegnungen und Entscheidungen, 11; Rosenzweig, Die Leitsätze des Baden-Badener Kreises und das Referat von Franz Rosenzweig auf der Tagung am 9. Januar 1910 mit dem Titel »Das 18. Jahrhundert in seinem Verhältnis zum 19ten und zum 20ten«, 245–252; zur historischen Einordnung vgl. Herzfeld, [Vorbemerkung zu] Die Leitsätze des Baden-Badener Kreises und das Referat von Franz Rosenzweig auf der Tagung am 9. Januar 1910 mit dem Titel »Das 18. Jahrhundert in seinem Verhältnis zum 19ten und zum 20ten«, 240–243; die Leitsätze finden sich ebd., 243–245, und Rosenzweigs Entwurf der »Diskussionsrede zur Einleitung« findet sich ebd., 245 f.; Rosenzweig, Der Barock; ders., Notizen zum Barock (1908/09).

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den. In der Verhältnisbestimmung machte er einen Grund aus, warum das »Jahr 1800 ›modern‹« erscheinen könne.53 Als kritischer Ausgangspunkt im Hinblick auf die Geschichtswissenschaft diente ihm der »schlimme trockene Historismus, den wir uns endlich nicht mehr als ein letztes Ziel zu betrachten entschlossen haben«.54 Mehr noch, er ließ diese »trockene« Geschichtsrepräsentation zum Ausdruck des 19. Jahrhunderts werden, wenn es des Weiteren heißt, dass der Historismus »in seiner grünen Jugend vor etwa 100 Jahren mit seinem siegesgewissem Ruf ›Individualität überall‹ die ›Geschichte der Gang durch die Welt‹ ans Licht des Zeitalters getreten war«.55 Rosenzweig schloss seinen Vortrag mit der Diagnose eines Abgrunds zwischen Persönlichkeit und Welt, der sich im 19. Jahrhundert aufgetan habe, und fügte eine Einschätzung der Philosophie seiner Zeit an, in der anklingt, worauf seine Syntheseleistung sich richtete: »Die Kultur ist ihr nicht das sich auf Erden verwirklichende Reich Gottes wie sie es in der klassischen deutschen Geschichtsphilosophie von Kant bis Hegel war […] sondern sie ist auf jenes Reich Gottes (die ›absol. Werte‹) nur bezogen«.56 Durch das Problem der Kontingenz kultureller Formation wurde ihm die Abwesenheit der Gottgewissheit zum Thema. So grenzte er, der zeitlichen Distanz eingedenk, in einem Entwurf für die Diskussionsrunde seine Geschichtsdeutung von der Hegels ab. Der Feststellung, dass Kultur und Staat im 20. Jahrhundert gerade im »Gegensatz zu Hegel« nebeneinander stünden, fügte er in Klammern hinzu: »Nicht mehr Gott in der Geschichte, sondern die Geschichte nur noch als Symbol Gottes.«57 In den weiteren Ausführungen sah er dennoch das 20. Jahrhundert als Möglichkeitsraum, aus dem Frage-Antwort-Verhältnis des 18. und 19. herauszutreten, um zur »Wahrheit der Gegenwärtigkeit« zu gelangen.58 Rosenzweigs eigene, in Verbindung von historischer Individua­ lität und synthetisierender Interpretation an Ranke und Hegel gemahnende Denkbewegung trat zwar am Ausgang des Krieges in den Hintergrund, aber den Kern dieser geschichtsphilosophischen Interpretation bewahrte er – nicht zuletzt vermittels der Chiffre 1800 und seiner Interpretation von Goethe und Hegel – auch in Der Stern der Erlösung. 1910, in Baden-­Baden, bestand Rosenzweigs Anspruch aber noch darin, die geschichtswissenschaftliche Lage seiner Zeit einzuholen. Er wollte damit eine philosophisch-

53 Rosenzweig, Die Leitsätze des Baden-Badener Kreises und das Referat von Franz Rosenzweig auf der Tagung am 9. Januar 1910 mit dem Titel »Das 18. Jahrhundert in seinem Verhältnis zum 19ten und zum 20ten«, 249. 54 Ebd., 248. 55 Ebd. 56 Ebd., 252. 57 Ebd., 245. 58 Ebd., 246.

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historische Objektivität des neuen Jahrhunderts der, seiner Ansicht nach, vorherrschenden subjektiven Interpretation gegenüberstellen. Sieben Jahre nach seinem Vortrag beschrieb Rosenzweig diesen als unglücklich.59 Im Dezember 1910 sah er das Problem allerdings noch nicht in seinem Vortrag selbst, wenn er gegenüber Hans Ehrenberg resümierte: »Du mußtest einmal die Konsequenz aus Baden-Baden ziehn; es war ja eben nicht bloß die ›Badener Idee‹ geblieben, sondern wir haben ja gesehn, was die Idee in der Realität angerichtet hat.«60 Rosenzweigs Beitrag hatte starke Kritik hervorgerufen, die zu einer Spaltung der Teilnehmer zwischen Philosophen und Historikern führte – wobei Rosenzweig wohl den Philosophen zugezählt wurde. In Weizsäckers Rückschau sprengte die Gruppe um Kaehler die Veranstaltung. In der Tat zog sich Rosenzweig daraufhin von den anderen Meinecke-Schülern zurück und übermittelte Kaehler im April 1910 sogar einen Abschiedsbrief.61 Kaehler wiederum schrieb im August 1910: »Rosenzweig ist ganz ausgeschieden aus dem Kreis, ein Semester lang dahin lebend, den ehemaligen Bekannten auf Schritt und Tritt begegnend und ausweichend, ein peinliches Erlebnis für alle Teile.«62 Es ist zwar gerade auch im Hinblick auf Kaehler durchaus möglich, dass antisemitische Beweggründe bei der Ablehnung von Rosenzweigs Vortrag im Januar 1910 eine Rolle gespielt haben, wie Weizsäcker erinnerte,63 den inhaltlichen Dissens bildete aber wohl die Kollision von philosophischer und historischer Zeitdeutung. Obschon die Konfliktlinien des Treffens nicht im Detail geklärt werden können, ist das Resultat doch eindeutig: Die Gesellschaft junger Historiker und Philosophen kam nicht zustande. Hans Ehrenberg gegenüber deutete Rosenzweig im Dezember 1910 BadenBaden allerdings durchaus auch als »Gewinn«. Ohne dieses Ereignis hätte 59 Rosenzweig, Brief an die Eltern, 20. Februar 1917, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 351. 60 Ders. an Hans Ehrenberg, 28. Dezember 1910, zit. nach ebd., 115 f. 61 Ders. an Siegfried A. Kaehler, 16. April 1910, zit. nach ders. / Adele Rosenzweig / Kaehler, Briefe, ediert von Wolfgang  D.  Herzfeld, 199 f. Vgl. dazu auch Lorenz, »Erkennen als Dienst am Menschen«, 192 f. 62 Kaehler an Johannes Kramer, 30. August 1910, zit. nach ders., Briefe 1900–1963, 123–127, hier 125. 63 Zumindest schrieb Kaehler in einem Brief vom Februar 1909 betreffs abendlicher Aktivitäten, dass Rosenzweig, der wohl nicht an diesen Eskapaden partizipierte, damit »unausgesprochen doch unter dem Bann seiner Race« stehe, und verschwieg im Sommer 1933 Edith Rosenzweig die Briefe ihres verstorbenen Mannes, die sich in seinem Besitz befanden. Zu Kaehlers Äußerung vom Februar 1909 vgl. ders. an Johannes Kramer, 18. Februar 1909, zit. nach ders., Briefe 1900–1963, 111–115, hier 113; zu Edith Rosenzweigs Anfrage und der negativen Antwort vgl. ders. an Edith Rosenzweig, 1. Juli 1933, zit. nach Rosenzweig / Adele Rosenzweig / Kaehler, Briefe, ediert von Wolfgang D. Herzfeld, 238 f.; vgl. dazu auch Lorenz, »Erkennen als Dienst am Menschen«, 190 f. und Herzfeld, Franz Rosenzweig und Siegfried Kaehler, 195.

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er eine neue »Weltlust« nicht verspürt.64 Drei Monate später, im Februar 1911, schrieb er demselben Adressaten, dass er »nun auch die Tendenz zur exten­siven historischen Universalität habe; früher wie du weißt nur die zur intensiven. Das Vehikel dahin war mir die Theologie.«65 Rosenzweig setzte danach zwar nicht mehr auf einen Paradigmenwechsel in der deutschen Geschichtswissenschaft, die Problemstellung seines Vortrags hielt er aber präsent. Sein Tagebuch vom Sommer und Herbst 1910  – in dem er unter anderem Johann Gottfried Herders um 1790 entstandene, 1800 zuerst veröffentlichte Schrift Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit und Friedrich Schleiermachers Reden Über die Religion ausführlich exzerpierte – ist geprägt von Überlegungen zur Geschichte und dem Verhältnis des 18. zum 19. Jahrhundert.66 So heißt es dort am 24. August, dass das »geschichtsteleologische Pathos Hegels« dazu gehört habe, »den spezif[isch] 19. sclaren Historism [sic] (die Causalität des bisherigen Ablaufs) durchzudrücken«.67 Und Rosenzweig deutete diese Veränderung in Bezug auf die Denkstrukturen insgesamt aus: »Das 19 scl. hat dann in Ranke praktisch, in Hegel theoretisch Herders ›Tradition‹ zum Wesen der Geschichte gemacht. […] [B]ei beiden ein Auflösen starrer Substanzen in lebendigen Fluß bei Ranke des Erzählens bei Hegel der Dialektik.«68 Nicht nur die in Rosenzweigs Interpretation für das 19. Jahrhundert bezeichnende Beweglichkeit des Denkens arbeitete er exzerpierend heraus, sondern er nahm auch die mit Hegel in neuer Intensität aufgeworfene Frage nach Gott und Geschichte wieder auf. In einem Eintrag vom 24. Oktober heißt es: »Bei Herder wandert allenfalls Gott durch die Geschichte, bei Hegel wird er in ihr.«69 Und er führte kurz darauf in Adaption seiner Baden-Badener 64 Rosenzweig an Hans Ehrenberg, 28. Dezember 1910, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 116. Aus der Selbstdeutung Rosenzweigs in seinem Brief an Ehrenberg arbeitet Heinz-Jürgen Görtz eine Annäherung an die »›Positivität‹ der Religion« heraus. Vgl. dazu Görtz, »Gott in der Religion«, nicht »Gott in der Geschichte«, 231. 65 Rosenzweig an Hans Ehrenberg, 14. Februar 1911, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 117. 66 In der Werkausgabe sind die ausgreifenden Exzerpte nur in Auszügen abgedruckt. Das Tagebuch vom Sommer und Herbst 1910 befindet sich im Leo Baeck Institute New York, Franz Rosenzweig Collection (1832–1999), AR 3001, Box 1, Folder 19, Rosenzweig, Tagebuch vom 31. Juli bis 21. September 1910, (15.  Januar 2022), hier zit. nach Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 103–110. 67 Leo Baeck Institute New York, Franz Rosenzweig Collection (1832–1999), AR 3001, Box 1, Folder 19, Rosenzweig, Tagebuch vom 31. Juli bis 21. September 1910, Eintrag vom 24. August 1910, (15. Januar 2022). 68 Ebd. 69 Rosenzweig, Tagebucheintrag vom 24. Oktober 1910, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 106 (Hervorhebung im Original).

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Deutung den Unterschied dieser Zeit zu seiner Gegenwart aus: »Das 19. scl. glaubte an die Macht der Geschichte, wir heut nur an ihren Wert; wir fühlen uns nicht mehr unter, sondern in ihr stehend; sie ist nur deshalb etwas für uns, weil wir etwas für sie sind.«70 In einem Brief an Rudolf Ehrenberg, der undatiert ist, aber aufgrund der thematischen Nähe zu einem Brief an Hans Ehrenberg vom 26. September 1910 wahrscheinlich zu dieser Zeit verfasst wurde,71 erdachte und erzählte Rosenzweig einen Monolog, in dem der junge Hegel in seine Vergangenheit und Zukunft blickte. Zentrales Thema ist das sich wandelnde Verhältnis von Gott und Geschichte. Rosenzweig legte Hegel eine »Wand der Geschichte hinter der Gott ja sitzen sollte« in den Mund und führte aus, wie eine schrille Stimme »Gott ist tot« gerufen habe.72 Auch der zum Scheitern verurteilte Versuch, sich dem Fortgang der Geschichte zu entziehen, wird berührt. So heißt es: »Und so war das Schicksal aller, dies, dass alle Bäche in einem Strom zusammenfließen sollten, was uns einst das Göttlichste und der ganze Gott gewesen war – dies, die Geschichte wurde euch zum Ungöttlichsten von allem.«73 Rosenzweig sah im ersonnenen Blick des jungen Hegel ein ganzes Zeitalter im Verfallsprozess befangen und proklamierte: »Die Geschichte blieb das gemeinsame Verbrechen von euch allen« – er schloss mit dem Fehlen des »reinen Gott[es] des Glaubens«.74 Gegenüber Hans Ehrenberg beantwortete er am 26. September 1910 ebenfalls die Frage nach dem Verhältnis von Gott und Geschichte – zwar nicht im Zerrspiegel des jungen Hegel, aber in Überlegungen, die das Thema des Gedankenspiels aufnehmen. Sie weigerten sich, legte Rosenzweig im Selbstzitat aus einem Tagebuch, das wohl auf das beschriebene folgte, aber nicht erhalten ist, dar, »›Gott in der Geschichte‹ zu sehen, weil wir die Geschichte (in religiöser Beziehung) nicht als Bild, nicht als Sein sehen wollen; sondern wir leugnen Gott in ihr, um ihn in dem Prozeß, durch den sie wird, zu restaurieren«.75 Hegel hatte die Geschichte als »Theodizee« begreifen können. Für Rosenzweig war nach dem 19. Jahrhundert die Religion selbst zur Rechtfertigung Gottes geworden. Seinen Standpunkt, der sich noch nicht auf 70 Ebd. (Hervorhebung im Original). 71 Der Brief ist von Benjamin Pollock 2012 vorgestellt, datiert und in Teilen bereits in eng­ lischer Übersetzung veröffentlicht worden. Von Enrico Lucca und Roberto Navarrete Alonso ist er im Anschluss 2016 vollständig auf Deutsch ediert worden. Vgl. dazu dies., Vom Gott der Aufklärung zum Gott der Religion; der Brief findet sich ebd., 313–319. Vgl. zur Deutung des Briefes auch Pollock, »Within Earshot of the Young Hegel«; ders., Franz Rosenzweig’s Conversions, 40–43. 72 Rosenzweig an Rudolf Ehrenberg, September 1910, zit. nach Lucca / Navarrete Alonso, Vom Gott der Aufklärung zum Gott der Religion, 318. 73 Ebd., 319. 74 Ebd. 75 Ders. an Hans Ehrenberg, 26. September 1910, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 111–113, hier 112 (Hervorhebung im Original).

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Judentum oder Christentum, sondern zu dieser Zeit auf Religion überhaupt bezog, machte er an selber Stelle explizit: »Der Kampf gegen die Geschichte im Sinne des 19 scl. ist uns deshalb zugleich Kampf für die Religion im Sinne des 20.«76 Damit zog er den zum Christentum konvertierten Großcousin auf seinen eigenen Standpunkt und universalisierte diese Perspektive implizit. Die Frage nach dem Verhältnis von Gott und Geschichte stellte Rosenzweig so bereits 1910 und in seinen Exzerpten berücksichtigte er durchaus auch den Status des Judentums etwa in den Reden Schleiermachers. Dem Problem der Religion ging er aber noch nicht im Namen des Judentums nach. In der Episode von Baden-Baden zeigte sich vielmehr Rosenzweigs Ambition, neue Weichen für die Geschichtswissenschaft zu stellen, wie auch ein aufgenötigter Abstand zur deutschen Historiografie. Sein Bestreben versiegte mit der Enttäuschung. Die Ambivalenz deutsch-jüdischer Zugehörigkeit, die sich seinen Überlegungen zu Staat und Nation wie zu Gott und Geschichte eingeschrieben hatte, mündete in der geschichtlichen Krisenzeit in die Parteinahme für ein selbstbewusstes Judentum. Eine erste Etappe in dieser Hinwendung war das Leipziger Nachtgespräch und eine nächste die folgende Korrespondenz der Protagonisten des Gesprächs im Jahr 1916: Im Austausch mit Eugen Rosenstock trat Rosenzweig seinen Weg ins Judentum an, den er über die Jahre des Krieges weiterverfolgte. Auf die geschichtsphilosophische Zusammenschau der geistesgeschichtlichen Konstellation von 1800 mit der seiner Gegenwart aus der Studienzeit bezog er sich noch in seiner Abwendung von Geschichte – allerdings in mehrfacher Verwandlung. In einem der Feldpostbriefe in den Paralipomena hielt er im Herbst 1916 fest: »Der Badener Vortrag war noch ein Kampf gegen ›1800‹; ich spürte ›1800‹, wollte es aber nicht anerkennen  – aus Historismus.«77 Diese Zeilen legte Rosenzweig inmitten der neuen Auseinandersetzung nieder.

Dialogische Revisionen Am Abend des 7. Juli 1913 trafen sich Eugen Rosenstock, Rudolf Ehrenberg und Franz Rosenzweig im Hause der Ehrenbergs in Leipzig. Rosenstock und Rosenzweig diskutierten bei dieser Zusammenkunft den eigenen Stand­ punkt in der Welt. Das Verhältnis von Judentum und Christentum wurde zwar angesprochen, aber es war zu dieser Zeit die nicht spezifizierte Konfron76 Ebd., 113. Diese Passage und Teile aus den Ausführungen zu Baden-Baden finden sich auch in Sauter, Dialogische Revisionen, 328 f. 77 Rosenzweig, Paralipomena. Auf den 19. November 1916 datierter Brief, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 93–111, hier 94. Vgl. dazu auch Görtz, »Gott in der Religion«, nicht »Gott in der Geschichte«, 231.

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tation von überzeitlichem Glauben und philosophisch-historischem Wissen, um die das Gespräch – in Rosenstocks Rückschau von 1935 – kreiste. Demnach sei das Verhältnis von »Offenbarungsglaube und Philosophiegläubigkeit« zur Disposition gestellt worden.78 Der zu dieser Zeit ideengeschichtlich arbeitende Hegelforscher Rosenzweig habe sich dem Glaubensstandpunkt des zum Protestantismus Konvertierten gestellt und habe diesem nicht standhalten können. In seiner eigenen Darstellung war Rosenzweig von einem »Dualismus [von] Offenbarung und Welt« ausgegangen, den er nicht habe metaphysisch belegen können.79 Der überzeugte Christ habe ihn aus seinen »letzten relativistischen Positionen« herausgedrängt und ihn »zu einer unrelativistischen Stellungnahme« gezwungen.80 Rosenzweig entschied sich daraufhin zur Konversion, wollte aber in Affinität zum Urchristentum als Jude Christ werden.81 In den Folgemonaten besann er sich so nicht nur auf das Christentum, sondern auch auf sein Judentum. Im Spätsommer 1913 fuhr er nach Kassel und geriet mit seiner Mutter in Streit über sein Konversionsvorhaben. Auch deshalb reiste er nach Berlin weiter und verbrachte dort die hohen Feiertage. In diese Zeit fällt seine Revision der Entscheidung zur Konversion. So teilte er im Oktober seiner Mutter mit, dass er »den Rückweg, um den ich mich fast drei Monate vergeblich zergrübelt hatte, gefunden zu haben hoffe«.82 Rosenzweig verwies mit dieser Formulierung darauf, dass ihn die Frage, ob eine Konversion 78 Rosenstock, Judentum und Christentum. Einleitung, zit. nach Rosenzweig, Briefe, 638 f., hier 639. Der Briefwechsel insgesamt findet sich ebd., 637–720 (Anhang I). 79 Rosenzweig an Rudolf Ehrenberg, 31. Oktober und 1. November 1913, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 133. 80 Ebd. Ob es sich dabei um eine Position des historischen Relativismus handelt, ist in der Forschung umstritten. So deutet Pollock sie etwa als »most probably not the historicist position of his Baden-Baden episode«, sondern als »subjectivist position« im Rückverweis auf Rosenzweigs Tagebuchaufzeichnungen von 1906 und 1907. Aber gerade Nietzsche ist für Rosenzweig auch späterhin der große Vertreter einer subjektiven Philosophie, zugleich ist in Rosenzweigs intellektuellem Umfeld in Freiburg – insbesondere bei Rickert – der »Relativismus« kaum mehr von einer Kritik am »Historismus« wie auch am »Nihilismus« zu trennen. Bereits der frühe Subjektivismus ist demnach mit ersten Ansätzen der Reflexion des Problems der Geschichte verbunden. Vgl. Rickert, Geschichtsphilosophie, 401 f.; Pollock, Franz Rosenzweig’s Conversions, 50; zu den Tagebüchern ebd., bes. 23–25. Vgl. für Rosenzweigs frühe, keineswegs kohärente Reflexion des Problems in Rekurs auf Nietzsche u. a. Rosenzweig, Tagebucheinträge vom 12. und 19. Februar 1906 sowie vom 25. Mai 1906, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 27 f. und 45 f. Zu den Tagebüchern von 1906 und 1907 allgemein vgl. Mendes-Flohr / Reinharz, From Relativism to Religious Faith; speziell zum Geschichtsproblem und dessen Zusammenhang mit Rickerts Weltphilosophie vgl. ebd., 170. 81 Vgl. Rosenzweig an Rudolf Ehrenberg, 31. Oktober und 1. November 1913, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 134. 82 Ders., Brief an die Mutter, 23. Oktober 1913, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 127–131, hier 131.

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überhaupt notwendig sei, durchgehend beschäftigt hatte. Auch die noch vorhandene Unsicherheit seinem neu gefundenen Standpunkt gegenüber wird darin deutlich. Dessen inhaltliche Begründung begann er in jenem Brief an Rudolf Ehrenberg vom Herbst 1913, in dem er seine Entscheidung nicht zu konvertieren rechtfertigte. Darin findet sich das Postulat der »Anerkennung dieses Volks Israels selber vom Standpunkt christlicher Theologie«.83 Das in der Anerkennungsforderung angelegte schiefe Verhältnis von Judentum und Christentum kann als ein Ausgangspunkt für Rosenzweigs weitere Reflexionen gesehen werden. Auffällig ist, dass er bereits im Herbst 1913 in geschichtlicher Fassung darlegte, was noch den Kerngedanken seines negativen Geschichtsdenkens in Der Stern der Erlösung bildet, wenn es heißt: »[W]ir sind schon am Ziel, ihr seid noch auf dem Weg.«84 Dies schrieb Rosenzweig als erste Antwort auf Rudolf Ehrenbergs Frage, wer das »Volk Israel« sei, mit der einhergehenden Aufforderung, es ihm zu zeigen: »Du bist kein einfach ›vorgefundener‹ Jude mehr, so oder so mußt Du jetzt in der Welt Jude sein.«85 Die Frage, was es heißt, in der Welt Jude zu sein, wurde für Rosenzweig zum Dreh- und Angelpunkt seiner weiteren Denkbewegung – im Herbst 1913 stand er noch am Beginn seiner Überlegungen. Nach einer Unterredung mit Rudolf Ehrenberg ergriff Rosenstock 1916 die Initiative und nahm den Kontakt zu Rosenzweig wieder auf. Beide waren ins Kriegsgeschehen involviert: Rosenzweig war an der mazedonischen Front, Rosenstock an der Somme und in Verdun stationiert.86 Mit einem Brief Rosenstocks vom 29. Mai 1916, den er schrieb, während er sich in Rosen­ zweigs Elternhaus befand,87 entspann sich eine tiefgreifende Auseinandersetzung, nicht mehr über das Verhältnis von Relativität eines historischphilosophischen Standpunkts zum fixierten der göttlichen Offenbarung und deren Wirken in der Welt, sondern über das richtige Verständnis der Offenbarung und über das Verhältnis von Judentum und Christentum. Den Einstieg in den Dialog bildeten allerdings nicht die großen Fragen, sondern Rosenstocks Impressionen zum »Schellingianum«.88 Er adressierte Rosenzweig damit zuerst als Ideenhistoriker, der in seinem Kommentar Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus darzulegen suchte, dass ein Fragment in Hegels Handschrift die Abschrift eines Entwurfs von Schelling sein 83 Ders. an Rudolf Ehrenberg, 31. Oktober und 1. November 1913, zit. nach ebd., 137 (Hervorhebung im Original). 84 Ders. an Rudolf Ehrenberg, 4. November 1913, zit. nach ebd., 141–143, hier 142. 85 Ehrenberg an Franz Rosenzweig, 3. November 1913, zit. nach ebd., 138–140, hier 140. 86 Vgl. Gormann-Thelen, Chronology, XXIV. 87 Vgl. Rosenstock an Franz Rosenzweig, 29. Mai 1916, zit. nach Rosenzweig, Briefe, 641– 643, hier 641. 88 Vgl. ebd.; zum inoffiziellen Titel »Schellingianum« vgl. Rosenzweig an Eugen Rosenstock, 8. Juni 1916, zit. nach ebd., 643–646, hier 644.

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müsse; und dass dieser ein volles idealistisches System enthalte. Der Text erschien 1917, vorgelegt von Rickert in den Sitzungsberichten der Heidelber­ ger Akademie der Wissenschaften.89 Bezeichnend ist, dass der Austausch mit einem für den Disput scheinbar neutralen Referenztext wieder aufgenommen wurde. Rosenzweig erarbeitete sich mit Unterstützung Ehrenbergs für den Kommentar einen Überblick über Schellings Schaffensperioden, deren letzte indes eine ganz eigene Bedeutung in Der Stern der Erlösung erhielt.90 Das Verhältnis von Judentum und Christentum kam in dem Briefwechsel mit Rosenstock hingegen nur langsam zur Sprache. Anfang Juli 1916 blickte Rosenzweig gegenüber Rosenstock explizit auf das Leipziger Nachtgespräch zurück und resümierte: »In Leipzig allerdings waren wir Thesis und Antithesis (aber nicht gleichwertig, sondern ich der Schüler).«91 Er führte aus, dass sich das polare Verhältnis von 1913 aufgelöst habe, dass er jedoch noch nicht wisse, wo er selbst stehe und daher auch nicht eindeutig bezeichnen könne, wie beide nun – eben 1916 – zueinander stünden.92 Was Rosenzweig so noch nicht benannte, war sein sich ausprägendes Verständnis des Judentums, das zu diesem Zeitpunkt zwar noch keinen systema­tischen Ausdruck gefunden hatte, aber schon eine eindeutige Perspektive in der Auseinandersetzung bot. Die beschriebene Offenheit des eigenen Standpunkts führte Rosenzweig 1916 aber nicht im Hinblick auf das Neue, sondern auf das Alte aus; er nutzte sie dazu, seinen einstigen Lebensentwurf infrage zu stellen. So plane er nach Abdruck des Hegelbuches kein weiteres Buch mehr.93 Im Verlauf des Briefwechsels wurde Rosenzweig zunehmend deutlicher, wie er sein Judentum in Konfrontation mit dem Christentum Rosenstocks verstanden wissen wollte. Die Frage Rudolf Ehrenbergs, wer denn das »Volk Israel« sei, griff Rosenzweig im September 1916 wieder auf und beantwortete sie gegenüber Rosenstock nun dahingehend, dass selbst »der leerste, entwurzelte und entkrönte Zivilstandsjude« von seinem »jüdischen Willen noch erfaßt« werde, aber Rosenstock, der zum Christentum konvertiert war, nicht mehr.94 Damit distanzierte sich Rosenzweig implizit von seiner drei Jahre zuvor vertretenen Auffassung, als Jude Christ werden zu wollen. Er bestimmte das Verhältnis von 89 Rosenzweig, Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, wieder abgedruckt in: ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland. Zur Geschichte des System­ programms, die mit Rosenzweigs Publikation begann, vgl. Hansen, »Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus«; zu Rosenzweigs Interpretation vgl. ebd., 19–44. 90 Vgl. Schmied-Kowarzik, Rosenzweig im Gespräch mit Ehrenberg, Cohen und Buber, 69 f. 91 Rosenzweig an Eugen Rosenstock, 6. Juli 1916, zit. nach ders., Briefe, 646–648, hier 647. 92 Vgl. ebd. 93 Vgl. ebd., 647 f. 94 Ders. an Eugen Rosenstock, September 1916 (ohne Datum), zit. nach ebd., 657–662, hier 659.

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Judentum und Christentum neu und nahm an, dass der »einzelne Jude […] nicht als Jude Christ [werde], sondern als Null«.95 Rosenzweigs Ausgangspunkt für das ihm gegenwärtige Judentum und dessen Verhältnis zum Christentum war  – und das ist signifikant  – der »johanneische Christus« in Anlehnung an Schellings geschichtsphilosophische Interpretation der Offenbarung.96 Er begriff die mit der Französischen Revolution beginnende und zu seiner Zeit noch wirksame Phase als »johanneische Epoche des Christentums«.97 Bereits in einem Tagebucheintrag zu Beginn des Jahres hatte er einen – pessimistischen – Grundgedanken niedergelegt, um den es ihm bei dieser neuen Phase des Christentums in Bezug auf seine Gegenwart ging: »Das Ergebnis der Aufklärung, die Johanneisierung (d. h. Missionsfähigwerdung) der Kirche, zeigt sich erst in diesem, auf allen Seiten über die christliche Welt hinausgreifenden und zu überchristlicher Politik führenden Kriege.«98 Die »Verkirchlichung der Welt« sei »Aufgabe und Wesen der (johanneischen) Epoche seit 1800«.99 Zugleich ging Rosenzweig gegenüber Rosenstock aber auch davon aus, dass im Judentum das Johannesevangelium  – insbesondere das Postulat, in der Welt zu bleiben – Geltung haben könne. Er problematisierte die alte, feindselig gestellte Frage nach der Gültigkeit weltlicher Gesetze für das Judentum.100 Im Kern ging es Rosenzweig darum, inwieweit er als Jude Teil haben konnte an einer Welt, in der das Judentum per definitionem partikular und seit 1789 der Frage nach dem Verhältnis zur Welt auf neuer Ebene ausgesetzt war. Und aus der christlichen Perspektive sei mit dieser Epoche der »nackte (A. T.-lose) Jude«101 wahrnehmbar geworden. Auch Rosenstock kam auf die schon von Rudolf Ehrenberg aufgeworfene Frage zurück und stellte zur Disposition, was passieren würde, wenn Juden nicht mehr nach dem Gesetz und den Traditionen lebten.102 Im Judentum gebe es laut Rosenstock nicht »die Möglichkeit zur Theologie, zur Wahrheitsforschung, so wenig wie zur Schönheit«.103 Man würde darin im bloßen Leben verweilen. Diese längst vorgeprägten Zuschreibungen konnte Rosenzweig wohl nur als Affront verstehen. 95 Ebd., 660 (Hervorhebung im Original). 96 Ders. an Eugen Rosenstock, Oktober 1916 (ohne Datum), zit. nach ders., Briefe, 666–675, hier 672. 97 Ders. an Eugen Rosenstock, 30. November 1916, zit. nach ebd., 705–710, hier 707. 98 Rosenzweig, Tagebucheintrag vom 14. Januar 1916, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 183 (Hervorhebung im Original). 99 Ebd. 100 Vgl. ders. an Eugen Rosenstock, Oktober 1916 (ohne Datum), zit. nach ders., Briefe, 672. 101 Ebd. 102 Vgl. Rosenstock an Franz Rosenzweig, 30. Oktober 1916, zit. nach ebd., 680–682, hier 680. 103 Ebd., 682.

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Trotz der Differenzen in der Wahrnehmung des Judentums waren sie sich in ihrer Zeitdiagnose weitgehend einig. Rosenstock fasste diese im November 1916 zusammen: »Mein Zorn richtet sich gegen -logien, -ismen, -iker usf.«104 Die Einschätzung, dass das Problem der Zeit die verschiedenen »-ismen« seien, teilte Rosenzweig ohne Vorbehalt. Ein entscheidender Unterschied lag jedoch in der Herleitung. So rekurrierte Rosenstock provokativ auf die Zerstörung des zweiten Tempels: »Seit 70 n. Chr. gibt es nur ἔθνη [ethnä] und das auserwählte ἔθνος [ethnos] ist zum bloßen Färbereagenz alles Völkischen herabgesunken.«105 Rosenzweig ignorierte in seiner Antwort zunächst den Seitenhieb und nahm den Gedanken von der anderen Seite auf: »[E]rst das neunzehnte Jahrhundert bildet zu ἔθνος den -ισμóς [-ismos], aber nunmehr den Nationalismus.«106 Und dies bedeute »die vollendete Christianisierung des Volksbegriffs«.107 Der Unterschied zum antiken Heidentum liege darin, dass die Früheren dachten, »von Gott zu sein«, aber die neuen annehmen, »zu Gott zu gehen«.108 Rosenzweig sah so in der Adaption christlicher Erlösungsvorstellung einen Grund, warum auf die Französische Revolution der Weltkrieg gefolgt sei, und kehrte den von Rosenstock vorgebrachten Einwand ins Positive. Er konstatierte, dass gerade weil »die Auserwähltheit Färbereagenz aller Nationalität überhaupt geworden ist, die jüdische Auserwähltheit etwas Einzigartiges« sei.109 Damit kritisierte Rosenzweig den Nationalismus als verwandelte christliche Heilsvorstellung und hob zugleich den fundamentalen Unterschied zwischen modernen Nationsvorstellungen und dem »Volk Israel« hervor. Bereits im September 1916 stellte Rosenzweig die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Offenbarung, wie auch die nach Rosenstocks Verständnis von Sprache. Rosenstocks Antwort dürfte insbesondere in Bezug auf das Verhältnis von Sprache und Zeitlichkeit für Rosenzweig interessant gewesen sein.110 Denn der Christ Rosenstock führte aus, dass es im Denken ein zeit­liches Nacheinander gebe, das darin aber nicht offenliege, und er daher lieber von der Sprache als von der Vernunft ausgehe.111 Diesen Grundgedanken nahm auch Rosenzweig auf. Daran anknüpfend, verstand Rosenstock die Frage nach Natur und Offenbarung als Frage nach natürlichem Verstand 104 Rosenstock an Franz Rosenzweig, 26. November 1916, zit. nach ebd., 700–705, hier 700. 105 Ders. an Franz Rosenzweig, 30. Oktober 1916, zit. nach ebd., 680. 106 Rosenzweig an Eugen Rosenstock, 7.–9. November 1916, zit. nach ebd., 685–694, hier 686 (Hervorhebung im Original). 107 Ebd. 108 Ebd. (Hervorhebung im Original). 109 Ebd. 110 Zur sprachphilosophischen Beeinflussung vgl. bes. Stahmer, »Speech-Letters« and »Speech-Thinking«; Brasser, Rosenstock und Rosenzweig über Sprache. 111 Vgl. Rosenstock an Franz Rosenzweig, 28. Oktober 1916, zit. nach Rosenzweig, Briefe, 675–680, hier 676.

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und Offenbarung. Auch der natürliche Verstand erschließe sich die Erscheinungswelt durch Analogien und finde sich so in der Welt zurecht. Der Übergang zur Offenbarung liege darin, »die eigene Position nicht als erkennende Mitte, sondern als von oben bedingt anzunehmen«.112 Rosenstock machte eine gewisse Autonomie von Verstand und Sprache in der Wissenschaft aus und sah einen fundamentalen Unterschied zwischen der heidnischen Sprachauffassung zu der der christlichen Offenbarung. Die Sprache sei im Bereich des Heidentums – auch in der Moderne – in sich selbst gefangen, erst die Offenbarung habe die babylonische Sprachverwirrung geheilt.113 Rosenzweig knüpfte Anfang November an die Reflexionen zur Offenbarung an, interpretierte sie aber nicht als jüdische oder christliche, sondern spezifizierte sie nicht und verdeutlichte, dass er durch die Konvergenz der Positionen auch Rosenstocks Rekurs auf die Sprache verstehe. Er apostrophierte: »[E]s sprachelt jetzt bei mir auch lebhaft.«114 Bald darauf beschrieb er sein sich herauskristallisierendes »dialogisierendes Verfahren«, das er insofern von dem Rosenstocks abgrenzte, dass seines kein schon gekanntes Ganzes brauche. Rosenzweig ging nun davon aus, dass es jeweils einen Augenblick gebe, in dem das Leben spreche, und dass diese einzelnen Monologe auf der Ebene des Weltgeheimnisses einen Dialog darstellten, was der Inhalt der Offenbarung sei.115 Er nahm an, dass das Wesen der Offenbarung darin liege, »daß sie eine absolute symbolische Ordnung in die Geschichte bringt«.116 Diese Selbstbekenntnisse verwiesen demnach auf den »großen Tag« der Weltgeschichte.117 Und er führte aus: »Alle ›Monologe‹ handeln ja nur von den πρῶτα [prota] und ἔσχατα [eschata] und es ist die wahre Synthese der ›ersten‹ und ›letzten‹ Dinge, daß sie den Inhalt der ›mittleren Dinge‹ d. i. der dialogischen Weltgeschichte bilden.«118 Den Gedanken einer offenbarungsfundierten, dialogischen Weltgeschichte adaptierte Rosenzweig von Schelling. Den Topos blendete er zwar in Der Stern der Erlösung zugunsten eines Begriffs der Weltgeschichte als Kriegs- und Staatengeschichte aus, aber das dialogische Verfahren blieb der Kern seines Offenbarungsbegriffs. Rosenzweig konstatierte im Herbst 1916 indessen: »Die ganze Wahrheit also wirklich steckt in der Geschichte […].«119 Von dieser Einschätzung rückte 112 Ebd., 677 (Hervorhebung im Original). 113 Vgl. ebd., 678 f. 114 Rosenzweig an Eugen Rosenstock, 7.–9. November 1916, zit. nach ebd., 687. 115 Vgl. ders. an Eugen Rosenstock (ohne Datum, überschrieben mit »Sonnabend«), zit. nach ebd., 710–713, hier 711 f. 116 Ders. an Eugen Rosenstock, 30. November 1916, zit. nach ebd., 705–710, hier 710. 117 Ders. an Eugen Rosenstock (ohne Datum, überschrieben mit »Sonnabend«), zit. nach ebd., 712. 118 Ebd. 119 Ebd. (Hervorhebung im Original).

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er in Der Stern der Erlösung im Hinblick auf die Geschichte kategorisch ab, dachte sie aber ex negativo auch weiterhin mit. Erst im letzten Jahr des Krieges schränkte er das Konzept Geschichte durch das der Offenbarung ein.120 Das Leipziger Nachtgespräch kann damit als eine Weiche in der tiefgreifenden Offenbarungs- und Weltreflexion Rosenzweigs gesehen werden, durch die er sich nicht nur bewusst als Jude verstehen wollte, sondern vielmehr noch das Judentum philosophisch zu begründen suchte. Im November 1916 hielt er die Relevanz des Gesprächs in seinen Paralipomena fest: »Was es bedeutet, daß Gott die Welt geschaffen hat und nicht bloß der Gott der Offenbarung – das weiß ich genau aus dem Leipziger Nachtgespräch vom 7. Juli 1913.«121 Auch der anschließende Briefwechsel mit Rosenstock im Jahr 1916 gab zentralen Begriffen von Der Stern der Erlösung in Rosenzweigs Denken erste Konturen. Allerdings bedeutete dies hier noch keine Abkehr von dem Geschichtsbegriff des 19. Jahrhunderts. So schrieb Rosenzweig im Januar 1917 den Text Ökumene. Zur Geschichte der geschichtlichen Welt und im Dezember des Jahres Thalatta. Seeherrschaft und Meeresfreiheit, die zusammen Globus. Studien zur weltgeschichtlichen Raumlehre bildeten.122 Die Schrift steht am Übergang – nach dem Krieg dachte er an, dass sie postum publiziert werden könne.123 Rosenzweig suchte in ihr die »Weltgeschichte« definitorisch auf jene Einheit hin zu deuten, deren Vorschein im Kaisertum er auch in Der Stern der Erlösung noch befragte.124 Sie zeigt deutlich, dass das dialogische Denken in Rosenzweigs Reflexion der Weltgeschichte zuerst nicht entgegengesetzt war. Es ging eben aus dem Gedanken einer »dialo­ gischen Weltgeschichte« hervor. So beschrieb er die Geschichte als »Hervorbilden von Ich-und-Du-Verhältnissen aus dem ungeschiedenen Chaos des Es«.125 Die geschichtliche Abkunft des dialogischen Denkens trat im letzten Jahr des Krieges zunehmend in den Hintergrund. In seinem Brief an Rudolf Ehrenberg vom 18. November 1917 sah Rosenzweig einen Ansatz, jenseits von Geschichtsphilosophie über die Offenbarung nachzudenken – und die 120 Vgl. dazu auch Herzfeld, Rosenzweig, »Mitteleuropa« und der Erste Weltkrieg, 335. 121 Rosenzweig, Paralipomena. Auf den 19. November 1916 datierter Brief, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 99 (Hervorhebung im Original). 122 Vgl. zu den Titeln die editorische Anmerkung des Herausgeberteams Mayer / Mayer, Bemerkungen, in: ebd., 850 f., hier 850. 123 Vgl. dazu ebd., 851. Vgl. auch den Tagebucheintrag vom 9. Juni 1922. Die Passage ist nicht veröffentlicht, aber digitalisiert in Leo Baeck Institute New York, Franz Rosenzweig Collection (1832–1999), AR  3001, Box 1, Folder 19, (15. Januar 2022). 124 Vgl. Rosenzweig, Globus. Studien zur weltgeschichtlichen Raumlehre, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 313–368, hier 313 f. und 319; ders., Der Stern der Erlösung, 311. 125 Ders., Globus. Studien zur weltgeschichtlichen Raumlehre, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 313.

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Weltgeschichte wurde in Der Stern der Erlösung gerade nicht in den Passagen benannt, in denen auf die Einheit der Welt im Erlösungszusammenhang verwiesen wurde. Was in diesem Text nicht mehr formuliert werden konnte, war die Verbindung von Wahrheitsreflexion und Geschichtsbegriff. Dennoch wurden die Auffassung jüdischer Kollektivität, die Vorstellung säkularisierter Motive christlicher Heilsvorstellung im Nationalismus des 19. Jahrhunderts, das Verhältnis von Synagoge und Kirche und vor allem der Begriff der Offenbarung nach dem Nachtgespräch zu zentralen Ansatzpunkten für die Konzeption von Der Stern der Erlösung.126

Beständige Prägungen Nachdem 1913 das Sammelbuch des Vereins jüdischer Hochschüler Bar Kochba mit dem Titel Vom Judentum erschienen war, sandte Rosenzweig auf Einladung Bubers für ein geplantes, zweites Buch im Frühjahr 1914 einen Beitrag mit dem Titel Atheistische Theologie ein. Der Text wurde abgelehnt und das Sammelbuch kam aus anderweitigen Gründen nicht zustande.127 Rosenzweig setzte sich in seinem Text mit der Leben-Jesu-Schule und ihrer Adaption in der, wie er sie nannte, »Volksjudentums-Theologie« auseinander.128 Dies bedeutet eine kritische Betrachtung von Bubers Ansatz – ohne ihn zu benennen.129 Zeitdiagnostisch machte Rosenzweig eine der protestantischen Hinwendung zur historischen Interpretation nachempfundene Dynamik aus. Entsprechend beschrieb er das Fundament seiner Kritik: »Nach den großen religionsphilosophischen Systemversuchen der ersten Jahrhunderthälfte, […] kam auch bei uns, gleich wie in der christlichen Theologie, eine Epoche der Flucht zur geschichtlichen Einzelforschung.«130 Auf dieser Grundlage führte er die theologische Strömung ein, die den eigentlichen Gegenstand seiner Kritik bildete: »[D]ie letzten Jahre haben nun 126 Dieses Teilkapitel findet sich mit Abweichungen auch in Sauter, Dialogische Revisionen, 330–340. 127 Vgl. dazu Mayer / Mayer, Bemerkungen, in: Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 858. Aus den Debatten um das Sammelbuch ging 1916 die Zeitschrift Der Jude hervor. Vgl. dazu bes. Lappin, Der Jude 1916–1928, 19–27. 128 Rosenzweig, Atheistische Theologie, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 687–697, hier 690. 129 Bienenstock arbeitet in dieser Kritik in Rosenzweigs Text heraus, dass es um den »Mythos« in der Geschichte geht; hier wird der Fokus im Einklang mit Bienenstocks weiteren Ausführungen kursorisch auf den Status von Geschichte insgesamt gelegt. Vgl. dazu dies., »Wo sich Mythos bildet, da schlägt das Herz der Geschichte«, in: dies., Cohen und Rosenzweig, 214–241, hier 214–218. 130 Rosenzweig, Atheistische Theologie, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 690.

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auch den Empfänger der Offenbarung im Judentum wieder zum Merkziel systematischer Betrachtung gemacht: das auserwählte Volk.«131 Im Herbst 1913 war Rosenzweig an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums Cohen begegnet. In Atheistische Theologie stellte er dessen Denken als ebenfalls kritisch verstandenen Gegenpart zu der auf das Volk gerichteten Theologie auf, wenn es heißt: »Cohens Ansätze zu einer streng rationalistischen Umdeutung des Offenbarungsbegriffs waren […] das bedeutendste Zeugnis des ›Wiedererwachens der Philosophie‹ auch in unserer Mitte.«132 Flankiert von einer Kritik des Rassebegriffs machte Rosenzweig dagegen in einer einseitigen Auslegung des Merkziels, des »auserwählte[n] Volk[s]«, eine »Verdiesseitigung« aufgrund einer historischen Begründung aus. Obwohl sich Cohen und Buber beide dem Geschichtsbegriff verbunden sahen, der in der von Rosenzweig kritisch beleuchteten Zeit, der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, seine Form erhalten hatte, hob er vor allem in der »Volksjudentums-Theologie« die Verweltlichung hervor. Allerdings schloss Rosenzweig seine Betrachtung mit einer selbstreferenziellen und -kritischen Hoffnung auf Einschränkung, nicht mehr nur der »Einzelforschung«, sondern der »Geschichtlichkeit« insgesamt, die auch sein eigenes Denken betraf.133 »Wie er nun aber den Menschen unter dem Fluche der Geschichtlichkeit vorfindet, in sich geteilt zwischen erstem Empfänger und letztem Erfüller des Worts, zwischen dem Volk das am Sinai steht und der messianischen Menschheit,« schrieb er dem  – nicht weiter spezifizierten – Denker einer prospektiven, synthetisierenden Theologie zu, »da wird er den Gott, dem durch seine geschichtliche Tat die Geschichtlichkeit der Geschichte Untertan wird, nicht ausschalten können.«134 Kurz vor dem Krieg richtete Rosenzweig die Geschichte so auf Gott aus und näherte sich selbst erst durch sie dem Gedanken an ihn an. Trotz seiner scharfsichtigen Kritik an der »Verdiesseitigung« in der Geschichte, formt sie damit auch sein eigenes gedankliches Bezugsgefüge. So gilt der Vorbildcharakter für die neueren Vorstellungen des Judentums, den Rosenzweig in der protestantischen Theologie des 19. Jahrhunderts ausmachte, in gewissem Sinne auch für seine eigene Argumentation, wenn er sich nicht nur in der Problembeschreibung, sondern auch in der Antwort darauf an ihren Denkformen orientierte. In dieser diagnostischen Ambivalenz zeigte sich das Problem, die beiden für Rosenzweig mit und nach dem Nachtgespräch dominanten Fragen: die nach 131 Ebd. 132 Ebd.; vgl. dazu auch Bienenstock, »Wo sich Mythos bildet, da schlägt das Herz der Geschichte«, in: dies., Cohen und Rosenzweig, 222 f. 133 Rosenzweig, Atheistische Theologie, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 697. 134 Ebd.

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einer sinnvollen Geschichte und die nach der Stellung des Judentums in der Welt in Einklang zu bringen. Und das bedeutete, dass die Spannung zwischen jüdischer Gegenwart und deutscher protestantischer Kultur sein Nachdenken bestimmte. Jahre zuvor hatte Rosenzweig Hans Ehrenberg ermuntert, als dieser vor der Frage stand, ob er zum Christentum konvertieren solle. Rosenzweig erläuterte den eigenen Eltern im November 1909 die Gründe für dessen Entscheidung. Seine Zeitdiagnose fiel eindeutig aus: »Wir sind in allen Dingen Christen, wir leben in einem christlichen Staat, gehen in christliche Schulen, lesen christliche Bücher, kurzum unsre ganze ›Kultur‹ ist ganz und gar auf christlicher Grundlage.«135 Das Judentum könne man nicht annehmen, sondern es müsse »einem anbeschnitten, angegessen, angebarmizwet«136 werden, das Christentum dagegen könne angenommen werden. Der Sohn wollte mit dieser Darstellung des Judentums wohl auch den Eltern die nicht vollzogene religiöse Erziehung vorhalten. Aber neben einem solchen Seitenhieb wird in dieser stellvertretenden Rechtfertigung vor allem deutlich, dass Rosenzweig sowohl das Bedürfnis nach Religion schon in dieser Zeit nachvollziehen konnte, als auch, dass er die Hegemonie des Christentums in seiner Umwelt anerkannte.137 Korrelativ sticht im Briefwechsel mit Rosenstock 1916 und sogar noch in Der Stern der Erlösung heraus, dass es Rosenzweig zuerst um ein Verständnis von Offenbarung überhaupt ging, bevor er die jüdische von der christlichen vermittels der negativen geschichtlichen Zuordnungen zum Weltgeschehen unterschied. Nicht zuletzt dürften aber wohl auch berufliche Gründe bei Rosenzweigs Unterstützung der Entscheidung seines Vertrauten eine Rolle gespielt haben. Denn nur in wenigen Fällen erhielten Juden ohne zu konvertieren an Universitäten im Wilhelminischen Kaiserreich einen Lehrstuhl. Hans Ehrenberg wurde 1910 in Heidelberg habilitiert, während Rosenzweig in Freiburg studierte.138 Auch jenseits strategischer Überlegungen bildeten in dieser Zeit für Rosenzweig im Speziellen das Nachdenken über Hegel und im Allgemeinen die deutsche protestantische Kultur wichtige Bezugsgrößen seines Selbstverständnisses. Entgegen Rosenzweigs späterer Wahrnehmung, dass das Nachtgespräch einen radikalen Einschnitt markierte, war auch nach dem Disput von 1913 die Hegelschrift präsent. Sein Tagebuch von 1914 spiegelt zumindest bis zum Beginn des Krieges weit stärker die intensive Arbeit daran als 135 Rosenzweig, Brief an die Eltern, 6. November 1909, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 94 f., hier 94. 136 Ebd. 137 Diese Episode findet sich auch in Sauter, Dialogische Revisionen, 328. 138 Zur Konversionsfrage im Umfeld Rosenzweigs im Hinblick auf berufliche Möglichkeiten vgl. Horwitz, Warum ließ Rosenzweig sich nicht taufen?, 79–82.

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tiefgreifende Reflexionen des Judentums.139 Auf dem Fundament der um 1910 zuerst als geschichtliches Problem begriffenen Theodizee versuchte Rosenzweig im Nachgang des Nachtgesprächs das Judentum sogar selbst als die der Geschichte adäquate Kollektivität zu verstehen. So findet sich in seinem Tagebuch im Sommer 1914 – wenige Monate nach seiner Kritik an der »Verdiesseitigung« – der im Jargon seiner Zeit verfasste Eintrag: »[F]ür die Geschichte, ich meine nicht für ihre ›Erklärung‹ der ›Ursprünge‹, sondern als in ihr lebendige Kraft, gibt es nur eine einzige Rasse, das ist die jüdische.«140 Neben der Problematik der Begrifflichkeit zeigt sich darin vor allem, dass Rosenzweig ein Jahr nach der Forderung Ehrenbergs, dass er in der Welt Jude sein solle, zuerst die Geschichte als rechtfertigendes Bezugsgefüge für das Judentum heranzog. Auch das im Briefwechsel mit Rosenstock thematisierte Verständnis des Nationalismus in Abgrenzung zu jüdischer Kollektivität wurde von Rosenzweig bereits im selben Eintrag und im selben Jargon vorweggenommen; jedoch aus einer volkstümlichen Vorstellung herausgelöst und auf einen anderen Kern zurückgeführt: »Bei uns allein ist Volkstum und Blut (durch die Offenbarung) in eine unlösliche historische Beziehung gesetzt.  – Bei allen andern Völkern ist nur das Volkstum, nicht das Blut historisch lebendig, das Blut bloß dunkle Prähistorie.«141 Die Verbindung von Blut und Offenbarung nahm Rosenzweig auch in Der Stern der Erlösung wieder auf und führte daran den Unterschied der modernen Völker zum »Rest Israels« aus.142 Seine später gefundene Antwort, nach der das Judentum außerhalb der Weltgeschichte stehe und daher seinen exzeptionellen Charakter bewahre, ging so paradoxerweise gerade aus seinen geschichtlichen Überlegungen zum Judentum hervor. In den Jahren des Krieges korrelierte in Rosenzweigs Nachdenken die unmittelbare Parteinahme für das Judentum mit zunehmender Kritik an der deutschen Gegenwart. So heißt es im September 1914: »Ich habe noch nie gewußt, wie ganz und gar nicht ich mich als Deutscher fühle wie seit dem Kriegsausbruch.«143 Und er zeigte sich einer Zukunft nach einem deutschen Sieg skeptisch gegenüber: »Freilich wird der Frieden nach einem deutschen Sieg wahrscheinlich so widerwärtig werden, daß man sich vielleicht die Zustände dieser Kriegsmonate wieder zurückwünschen wird.«144 Allerdings hatte er sich aus Pflichtgefühl freiwillig zum Sanitätsdienst gemeldet. In der 139 Vgl. Rosenzweig, Tagebuch von Mai bis Oktober 1914, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 151–176. 140 Ders., Tagebucheintrag vom 14. Juni 1914, zit. nach ebd., 156 (Hervorhebung im Original). 141 Ebd. (Hervorhebung im Original). 142 Vgl. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, bes. 449–453. 143 Ders., Brief an die Eltern, 9. September 1914, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 174. 144 Ebd.

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Zeit nach seiner Promotion reflektierte er verschiedentlich die Bedeutung des Unterschieds von Staat und Nation für die deutschen Juden. Noch drei Monate nach der sogenannten »Judenzählung«, der umfassenden statis­ tischen Erhebung zum 1. November 1916, durch die der Antisemitismus im Militär lanciert wurde, diagnostizierte er in kritischem Rekurs auf Bismarck: »›Wir Deutschen‹ kannst du in Bezug auf Staatsangehörigkeit ruhig sagen, solange dieser so vortrefflich zählende Staat dich noch dazu ›zählt‹. Das Volk (im Gegensatz zum Staat) zählt uns nicht, sondern (nach Bismarcks klassischem Wort) ›sieht es uns an‹.«145 Im Briefwechsel mit Rosenstock stand Rosenzweig im November 1916 vor der Frage, inwieweit er als Jude noch Anteil an der deutschen Kultur haben könne. Er schrieb eine Woche nach der statistischen Erhebung von der mazedonischen Front: »Zur deutschen Kultur habe ich ein intensives Dankbarkeitsverhältnis […].«146 Aber er bezweifelte eine Anerkennung seiner Person vonseiten dieser Kultur: »[N]immt sie meine Gaben […] an, gut; wenn nicht, auch gut; es würde mir nichts ausmachen, sie in dauernder Anonymität zu veröffentlichen.«147 In seinen rund um die Publikation von Hegel und der Staat geschriebenen Briefen zeigt sich trotz skeptischer Haltung, dass Rosenzweig eine fortwährende Anonymität problematisch geworden wäre.148 Aber er erkannte mit seiner Einschätzung vom Herbst 1916 doch die Verstrickung von deutscher protestantischer Kultur, Wilhelminismus und Antisemitismus. So konstatierte er im Dezember des Jahres in einem Brief an seine Eltern in Anlehnung an die bei Hegel herausgearbeitete Divergenz zwischen Staat und Nation: »Ich bin Jude und in Deutschland nur Staatsangehöriger!«149 Er sah sich indes nicht nur genötigt, zwischen Staat und Nation zu differenzieren, auch scheint er versucht zu haben, das Wilhelminische Kaiserreich, von dem er sich als zurückgestoßen erfuhr, von den Tiefenschichten der deutschen protestantischen Kultur loszulösen, der er sich weiterhin zugehörig fühlte. Ein Jahr vor der sogenannten Judenzählung legte Rosenzweig den Entwurf eines Bildungsprogramms nieder, dem er den Titel Volksschule und Reichs­ schule gab.150 In diesem forderte er eine Reform des deutschen Schulwesens. Es findet sich darin auch die »Geschichtskunde« als eine der drei wich145 Ders., Brief an die Eltern, 16. Februar 1917, zit. nach ebd., 349 (Hervorhebung im Original). 146 Ders. an Eugen Rosenstock, 7.–9. November 1916, zit. nach ders., Briefe, 692. 147 Ebd. 148 Vgl. u. a. ders. an Gertrud Oppenheim, 4. Mai 1919, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 628; ders. an Rudolf Ehrenberg, 14. Mai 1919, zit. nach ebd., 629 f.; ders., Brief an die Mutter, Mai 1921, zit. nach: ebd. 704–706, hier 705. 149 Ders., Brief an die Eltern, 29. Dezember 1916, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 325 f., hier 326. 150 Vgl. Rosenzweig, Volksschule und Reichsschule, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 371–411.

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tigen Bildungsstränge neben »Sprachkunde« und »Naturkunde«.151 Diese Schrift zeigt aber vor allem, dass Rosenzweig sich zu dieser Zeit noch aktiv um die deutsche Bildung sorgte. 1917, zwei Jahre nach diesem Entwurf, wandte er sich mit Zeit ists … (Ps. 119, 126). Gedanken über das jüdische Bil­ dungsproblem des Augenblicks dezidiert der jüdischen Perspektive zu. Adres­ saten dieses öffentlich an Cohen gerichteten Appells waren die deutschen Juden.152 In seinem Aufruf forderte er die Institutionalisierung eines jüdischen Religionsunterrichts, den jüdische Theologen tragen sollten. Er strebte eine eigene »jüdische Sphäre« an, in der die deutsche Umwelt zumindest in ihrem Inneren ausgeblendet werden könne. Die »jüdische Welt« seiner Gegenwart sollte demnach zu einem neuen Bewusstsein kommen. Auf staatliche Anerkennung seines Programms hoffte er nicht.153 Stattdessen setzte er auf die Unterstützung der Gemeinden. Diese wollte er mit einem neuen Selbstbewusstsein versehen wissen und forderte: »Die Gemeinschaft selber muß in eindrucksvoller Zusammenfassung nach innen wirksam, nach außen sichtbar werden.«154 Rosenzweig ging es damit um ein deutsch-jüdisches Selbstverständnis, das er in dieser Dopplung zuerst als ein jüdisches begriff. Im Januar 1918, in einem Brief an Helene Sommer, verteidigte er diesen Standpunkt zur jüdischen Bildung und ging auf das Verhältnis von »Deutschtum und Judentum« ein.155 Darin zog er seinen Großonkel Adam Rosenzweig als Personifikation einer möglichen Symbiose heran und führte aus, dass er »[d]urch ihn und nur durch ihn […] Einblick und ein wenig auch Zutritt in das, was ich in dem Schriftchen [Zeit ists … (Ps. 119, 126)] eine ›jüdische Welt‹ nenne«, bekommen habe.156 Er habe es zugleich vermocht, ihm die »deutsche Welt« nahezubringen.157 Und er charakterisierte ihn entsprechend: »in Einer Person Deutschtum und Judentum«.158 Obgleich Rosenzweig das Zurücktreten deutscher Kulturbestände in seiner Selbst­ reflexion eingestand, wollte er auch im Januar 1918 die Dopplung von Deutschtum und Judentum im Grund aufrechterhalten. Trotz seiner Betonung des »und« suchte er den Akzent aber auf das Judentum zu legen. So unterschrieb er den Brief mit: »Deutscher und Jude, und nun allerdings, nach freier Wahl und Entscheidung mit dem Schwergewicht (mag auch meine 151 Zur »Geschichtskunde« vgl. ebd., 393–399; zur philosophischen Verbindung der drei Stränge vgl. ebd., 400. 152 Vgl. Rosenzweig, Zeit ists … (Ps. 119, 126). Gedanken über das jüdische Bildungsproblem des Augenblicks, zit. nach ebd., 461–481, hier 461. 153 Ebd., 463. 154 Ebd., 480. 155 Vgl. Rosenzweig an Helene Sommer, 16. Januar 1918, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 505–510. 156 Ebd., 506. 157 Ebd. 158 Ebd.

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Masse noch auf dem Ersten ruhen), mit dem Ton des persönlichen Willens auf dem Zweiten.«159 Im Oktober 1918 legte Rosenzweig seiner Mutter, bereits ganz im Sinne seines zeitdiagnostischen Urteils gegenüber Meinecke, dar: »Ich habe eben 1914 nie an eine Niederlage geglaubt, immer nur höchstens an […] ein Nichtsiegen, aber Erhaltenbleiben des Bismarckschen Resultats. Und so noch bis in dieses Jahr. Nun ist alles hin, und die Welt, wie ich sie mir vorstellte, ist nicht mehr da.«160 Die Anerkennung durch die deutsche protestantische Umwelt strebte er nach dem Krieg nicht mehr an. Korrelativ stellte er gegenüber der Mutter im Oktober 1918 die Unzeitgemäßheit von Hegel und der Staat heraus: »Du fürchtest für den ›Hegel‹ den Papiermangel, ich ganz etwas andres: den Lesermangel. Wer soll denn dies Buch über diesen bloody German lesen, der noch nicht einmal an die heilige Allianz glaubte, geschweige denn an diesen unheiligen Völkerbund.«161 Nur vier Monate bevor er dieser Befürchtung Ausdruck verlieh, beschrieb er allerdings sein methodisches Vorgehen gegenüber Hans Ehrenberg in signifikanter Weise. So denke er »eben ›wissenschaftlich‹, also als Europäer (oder Deutscher) von 1900 […] und [bekomme daher] von vornherein durch die Geschichte die Gegenstände des Vergleichens sogar bis auf ihre Reihenfolge vorgeschrieben«.162 Darin zeigt sich trotz aller Resignation in Anbetracht der deutschen Zustände eine Ambivalenz in Rosenzweigs Stellung zur deutschen historischen Schule. 1916 hatte er sich gegenüber Rosenstock als »südwestdeutsche[r]« Schüler verstanden und er nahm diese Zuordnung so auch zwei Jahre später, inmitten der Konzeptionierungsphase von Der Stern der Erlösung, nicht zurück.163 Kurz nach seiner Unterredung mit Meinecke Ende Juni 1920 schrieb Rosenzweig an Margrit Rosenstock. In diesem Brief rekapitulierte er ­ ­Mei­neckes Reaktion dem resignativen Vorwort von Hegel und der Staat gegenüber und führte dessen Optimismus vor. Vor allem aber monierte er, dass sein akademischer Lehrer in dem gesamten Gespräch nicht nach ihm gefragt habe.164 Meinecke habe die Hoffnung gehabt, die Traditionen des 19. Jahrhunderts fortzuführen,165 und – wie Rosenzweig zwei Monate später darlegte – im Nachgang des Gesprächs versucht, ihn dazu zu bewegen, zu ha159 Ebd., 510 (Hervorhebung im Original). 160 Ders., Brief an die Mutter, 19. Oktober 1918, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 613 f., hier 614. 161 Ebd. 162 Ders. an Hans Ehrenberg, 13. Juni 1918, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 577–580, hier 578. 163 Ders. an Eugen Rosenstock, Oktober 1916 (ohne Datum), zit. nach ders., Briefe, 674. 164 Ders. an Margrit Rosenstock-Huessy, 1. Juli 1920, zit. nach ders., The »Gritli«-Letters, hier 1920, 145 f., hier 146, (15. Januar 2022). 165 Vgl. ebd.

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bilitieren, was er ablehnte.166 Sein Abschied von der Geschichtswissenschaft korrelierte sowohl mit dem historischen Großereignis des Krieges als auch mit der Erfahrung von Diskriminierung und Zurücksetzung. Nicht nur die Parteinahme für das Judentum und die Suche nach einer jüdischen Welt führte ihn zu einer Dispensierung des Geschichtsbegriffs insgesamt. Sonst hätte er wohl nicht 1914 das Judentum zunächst geschichtsphilosophisch rechtfertigen wollen. Die Aufnahme seiner dem Judentum gewidmeten Studien vor dem Krieg und sein Appell an die deutschen Juden im Jahr 1917 verweisen auf eine Suchbewegung und auf die Distanzierung von der deutschen Geschichtswissenschaft. Auch wenn Rosenzweig in seinem Rechtfertigungsbrief Ende August 1920 Meinecke den Einschnitt darlegte, den 1913 für ihn bedeutete, vollzog er die Abwendung vom modernen Geschichtsbegriff als Referenzsystem erst im letzten Jahr des Krieges.167 Der kritische Stellenwert, den Rosenzweig nun der Geschichte beimaß, zeigte sich in seiner Radikalität im März 1919. Er schrieb an Eugen und Margrit Rosenstock: »Die Wissenschaft muss qua ›Wissenschaft‹ darauf verzichten ›Gott in der Geschichte‹ zu finden (oder selbst auch nur ›zuweilen den Finger Gottes in ihr‹); dass sie es qua Wissenschaft sich zutraute, war die Hegel-Rankesche Überhebung des Idealismus. In Lamprecht-BreysigSpengler lernt sie nun fortiter peccare.«168 Nur wenige Wochen nach der Fertigstellung des Manuskripts von Der Stern der Erlösung hielt er diese Zeilen fest, in denen er seine Interpretation des beginnenden 20. Jahrhunderts von 1910 auf neuem Fundament wieder aufnahm. Indem er aber Hegel und Ranke zusammendachte und den Renegaten der Geschichtswissenschaft – Lamprecht, Kurt Breysig und Oswald Spengler – entgegenstellte, wurde in doppelter Reminiszenz sowohl diejenige Historiografie benannt, die der geschichtlichen Welt des 19. Jahrhunderts ihre wissenschaftliche Form zu geben verhalf, als auch die, die sie durch geschichtliche Synthesen zu reformieren suchte. Beiden hatte sich Rosenzweig vor dem Krieg verbunden gesehen und, er fügte eine bezeichnende Zeitdiagnose an: »Die Geschichte war doch nur deshalb die Modewissenschaft des 19. scl. geworden, weil sie

166 Vgl. ders. an Margrit Rosenstock-Huessy, 29. August 1920, zit. nach ebd., 183–185, hier 184. 167 Vgl. bes. die verschiedenen unter der Rubrik »Zur Politik« abgedruckten Texte, die 1917 geschrieben wurden. Zwar rekurrieren diese nicht so sehr auf die hegelsche Vernunft, aber die Geschichte ist deren Bezugsgefüge. Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 243–368; vgl. für die Drucknachweise ebd., 847–851. 168 Ders. an Eugen und Margrit Rosenstock-Huessy, 28. März 1919, zit. nach ders., The »Gritli«-Letters, hier 1919, 67–70, hier 67, (15. Januar 2022).

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sich für Offenbarungsersatz anpries. Wir können nur wünschen, dass sie das verlernt. Und nun hat sies verlernt.«169 1910 sprach Rosenzweig (noch im Kontrast zum 19. Jahrhundert) für seine Gegenwart den Prozess an, in dem die Geschichte werde; mit Der Stern der Erlösung ordnete er der Geschichte einen anderen Status zu. Erst darin weisen seine Gedanken die Zeichen der Überwindung der Wissensordnung der geschichtlichen Welt auf. Dennoch erklärte er sich just zu der Zeit, in der Der Stern der Erlösung veröffentlicht wurde, zur Mitwirkung an der Festschrift für Meinecke zum 60.  Geburtstag bereit.170 Der ehemalige Kommilitone Kaehler, von dem Rosenzweig 1910 Abstand genommen hatte, dem er sich aber am Ausgang des Krieges wieder annäherte,171 fragte ihn im Frühjahr 1921 für einen Beitrag an. Rosenzweig sagte im Sommer des Jahres trotz zeitlicher Engpässe zu und verfasste wohl Ende des Jahres eine thematische Skizze.172 Kaehler selbst trug einen Text zu Adolf Stoecker bei, in dem er auffälligerweise nicht dessen Antisemitismus zum Thema machte.173 Rosenzweig war sich der Haltung Kaehlers sehr bewusst. An Margrit Rosenstock schrieb er am 26. Mai 1920: »Wenn Kähler […] herkommt, so ists ihr [der Mutter] ganz recht. Malgré tout ›ehrt‹ das nämlich ihr Haus. Reserveleutnant, Theologensohn, Neffe von Stoecker – kurzum. Ich konnte ihn unbedenklich einladen.«174 Und er setzte allgemein hinzu: »Weisst du, der Antisemitismus der Christen lässt mich sehr kalt.«175 Die Festschrift erschien ohne einen Beitrag Rosenzweigs.176 Der Grund für seine letztendliche Nichtbeteiligung lag allem Anschein nach allerdings nicht in Kaehlers Anti169 Ebd. 170 Vgl. dazu Lorenz, »Erkennen als Dienst am Menschen«, 203 f. 171 Insbesondere in den Briefen an Margrit Rosenstock-Huessy von 1920 spiegelt sich diese Kontakt­aufnahme. Vgl. Rosenzweig, The »Gritli«-Letters, hier 1920, (15.  Januar 2022). Vgl. dazu auch Herzfeld, Franz Rosenzweig und Siegfried A. Kaehler, 188–195. 172 Vgl. Rosenzweig an Siegfried A.  Kaehler (ohne Datum, handschriftlich von Kaehler hinzugesetzt: Sommer 1921), zit. nach ders. / Adele Rosenzweig / Kaehler, Briefe, ediert von Wolfgang D.  Herzfeld, 219–221; vgl. für den Entwurf ebd., 221–223. Laut Lorenz kam die Anfrage von Kaehler im Frühjahr 1921. Für diese Zeit spricht auch Rosenzweigs Entschuldigung der späten Antwort zu Beginn seines von Kaehler auf Sommer 1921 datierten Briefes. Vgl. dazu Lorenz, »Erkennen als Dienst am Menschen«, 203. 173 Vgl. Kaehler, Stöckers Versuch eine christlich-soziale Arbeiterpartei in Berlin zu begründen (1878). Mitte der 1930er Jahre trug Kaehler den Eintrag zu Stoecker für die Neuauflage der Deutschen Biografie mit dem bezeichnenden Titel Die Großen Deutschen bei, in dem er den christlichen Antisemitismus Stoeckers breit ausführte. Vgl. ders., Adolf Stöcker. 174 Rosenzweig an Margrit Rosenstock-Huessy, 26. Mai 1920, zit. nach ders., The »Gritli«-Letters, hier 1920, 115–117, hier 117, (15. Januar 2022). 175 Ebd. 176 Vgl. Wentzcke (Hg.), Deutscher Staat und deutsche Parteien.

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semitismus und auch nicht direkt in Rosenzweigs eigenem »neuen Denken«, sondern wohl schlicht in anderen thematischen Schwerpunkten.177 1927 widmete Kaehler seine Habilitationsschrift, die er unter dem Titel Wilhelm von Humboldt und der Staat veröffentlichte, dem »Freiburger Kreis«.178 Obschon Rosenzweig dem Kreis an dieser Stelle nicht hinzugezählt, sein Name nicht auf der Rückseite des ersten Blattes aufgeführt wird, hob Kaehler dessen kritische Lektüre auf der letzten Seite der Publikationsfassung hervor. So heißt es im Nachwort: »Von ganz besonderer Bedeutung aber ist für die abschließende Gestaltung des Buches geworden die Anteilnahme und die Beurteilung, welche ihm Dr. Franz Rosenzweig in Frankfurt a. M. und Dr. Hans Rothfels, Professor der Geschichte in Königsberg Pr., durch manche Stufe der Entwicklung widerfahren ließen.«179 Die Friktion von 1910 hinderte Rosenzweig also keineswegs daran, Kaehlers Humboldtstudien zu begleiten. Die Wiederaufnahme des Kontakts gegen Ende des Krieges, der über Jahre bestehen blieb, war nicht in bloßer Erinnerung an die ehemalige Freundschaft begründet. Der Austausch über Humboldt ist vielmehr noch Zeichen für beständige Prägungen, dafür, dass der Abschied von der Geschichtswissenschaft, den Rosenzweig im Sommer 1920 Meinecke darlegte, nicht in aller intellektuellen Konsequenz vollzogen wurde. Zu Beginn der 1920er Jahre verfasste er so auch noch drei bündige Besprechungen zu Hegelstudien, die trotz ihrer Kürze den stilisierten Pragmatismus, Hegel und der Staat zur Veröffentlichung zu bringen, konterkarierten.180 Rosenzweig suchte sich zwar nicht nur von der Geschichtswissenschaft, sondern auch von dem Bezugsgefüge der einen, alles umspannenden Geschichte insgesamt zu befreien, und seine Orientierung verschob sich damit drastisch. Der Bruch in seinem Denken, den er an verschiedenen Stellen scharf zu zeichnen suchte, gestaltete sich indes je nach Perspektive mitunter weniger radikal, als es seinem Selbstbild zu entnehmen war.

177 Vgl. dazu Lorenz, »Erkennen als Dienst am Menschen«, 203 f. 178 Kaehler, Wilhelm von Humboldt und der Staat, 3. Kaehler nennt für diesen Kreis umseitig namentlich zuerst die Verstorbenen (Walter Sohm, Berthold von Möller, Johannes Kramer und Wilhelm Mayer), dann die noch Lebenden (Lina Mayer geb. Kuhlenkampff, Frances Magnus und Erich Marcks). Vgl. dazu ebd., 4. 179 Ders., Nachwort, in: ebd., 573–579, hier 579; vgl. zur kritischen Lektüre Rosenzweig an Siegfried A.  Kaehler, 22. September 1924, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 989 f.; zu der um 1920 noch äußerst kritischen, 1924 dann versöhnlichen Stellungnahme Rosenzweigs zu Kaehlers Humboldtbild vgl. Lorenz, »Erkennen als Dienst am Menschen«, 199–202 und 205. 180 Vgl. Rosenzweig, Bücher über Hegel, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 53–59; für die Drucknachweise vgl. ebd., 843 f.

3. Theologische Sprache: 1921–1929

Im Sommer 1926 veröffentlichte der Oberrabbiner der Hochdeutschen Israe­ litengemeinde zu Altona, Joseph Carlebach, einen Artikel zu Franz Rosenzweigs Der Stern der Erlösung in dem 1914 gegründeten Periodikum Jeschurun. Monatsschrift für Lehre und Leben im Judentum. Der Titel der Zeitschrift zeigt ihr Selbstverständnis an. Sie solle an eine Zeit erinnern, »in der unter diesem Banner für die Wiederbelebung des religiösen Geistes Unvergängliches geschaffen wurde«, wie es in der ersten Ausgabe heißt, womit sie an die von Samson Raphael Hirsch Mitte des 19. Jahrhunderts gegründete Monatsschrift Jeschurun angelehnt war.1 In ein Medium also, das sich der Neo-Orthodoxie zuordnete, brachte Carlebach fünf Jahre nach Erscheinen des Werks von Rosenzweig eine ausführliche und lobende Besprechung ein – zwar unter dem schlichten Titel Der Stern der Erlösung (von Franz Rosen­ zweig), aber als Untertitel wählte er Ein Versuch zu seiner Würdigung. Es habe in der letzten Zeit an einem »geistige[n] Welt-Panorama« gefehlt, schrieb Carlebach, aber nun liege endlich wieder ein Buch vor, »von grossem Format, von mächtigen Dimensionen«.2 Und er wurde in seiner Einschätzung noch konkreter: »Das Buch eines grossen jüdischen Denkers und Philosophen, ein Buch, das uns wieder neuen Glauben an die unerschütterliche Geisteskraft unseres Volkes gibt, uns von neuem wandeln lehrt im Lichte Gottes.«3 In lobenden Worten wird in dem Text die Systematik von Der Stern der Erlösung skizziert und für Kritik nur ein kurzer Absatz übrig gelassen. Darin aber nannte Carlebach einen Punkt, der gerade aus einer (neo-)orthodoxen Perspektive größeren Raum hätte einnehmen können. »Die Schilderung des Judentums ist allerdings, um in Rosenzweigs Begriffsbildungen zu bleiben, zu metajüdisch«,4 problematisierte er zum Ende der Ausführungen, »es ist ein Judentum, darin Judenheit und Judentum identische Begriffe sind, wo Judesein nicht eine Aufgabe, ein Ziel, sondern schöpfungsmässige, eingewachsene Eigenschaft zu sein scheint.«5 Auch werde die »Weltferne und Weltvergessenheit des Judentums […] u. E. übertrieben. Aber das sind unbedeutende Einzelheiten.«6 Das Werk werde durch diese mangelnde Diffe1 Wohlgemuth, Jeschurun. 2 Carlebach, Der Stern der Erlösung (von Franz Rosenzweig), 333. 3 Ebd. 4 Ebd., 516 (Hervorhebung im Original). 5 Ebd. 6 Ebd.

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renzierung nicht weniger bedeutend. Dies allein schon, weil Rosenzweig sich in Carlebachs Einschätzung in einem entscheidenden Punkt von »Hermann Cohen und andere[n] Forscher[n] der Philosophie des Judentums« unterscheide, und zwar sei das »die Tatsache, dass er die Lügenzunge sogenannter liberaler Theologen nicht nachspricht, dass er den aufklärerischen Dünkel nicht kennt vor dem jüdischen Gotte und der jüdischen Lehre, die Wahrheit sind und ewig bestehen«.7 Dass Rosenzweig sich zum Denken mancher liberaler Theologen distanziert zeigte, trifft zwar zu, dass er jedoch erst von diesem Feld selbst ausgehend über es hinauskommen wollte und die historische Aufklärung als einen – wenn auch kritischen – Ausgangspunkt für Der Stern der Erlösung wählte, wurde von Carlebach ignoriert. Und obschon Rosenzweig sich 1923 dem »Gesetz« zuwandte, bedeutete auch dies keine Öffnung zur Orthodoxie. In Rosenzweigs Anspruch, gegen alle Widerstände die Theologie neu zu begründen, der sich letztlich vor allem in seiner Übersetzungstätigkeit in den 1920er Jahren niederschlug, changierte er zwischen Judentum, Christentum und den Nachwehen des Idealismus. Zunehmend verstand er unter Theologie, was er in Das neue Denken als »die alten jüdischen Worte« bezeichnete – im Namen seines Sprachdenkens gegen die Wissenschaft gerichtet.8 Die Annäherung an ein ganz eigenes Verständnis von theologischen Dingen jenseits der Disziplin ist Zeichen einer Suchbewegung, die nicht in ihren Äußerungen, aber in ihrem Kern bis zum Ende tentativ blieb. Durch diese Unschärfe war sie vielleicht auch offen für Missverständnisse. Zumindest verschaffte sich im Falle Carlebachs ein solches Ausdruck, als er den entscheidenden Punkt unberücksichtigt ließ, dass Rosenzweigs Reflexion des Judentums von einem christlich-idealistischen Wissenshorizont ihren Ausgang nahm.

Differenz und Affinität »[W]enn ich mich überhaupt in die Parteien des gegenwärtigen Judentums einordnen kann, so immer noch am ehesten in die ›liberale‹. Glücklicherweise bin ich zu einer solchen Einordnung ja nicht oft gezwungen. Aber eine direkt verkehrte muß ich doch vermeiden.«9 Diese Selbstbeschreibung gab Rosenzweig im Februar 1924 als Begründung seiner Absage bezüglich der Mitwirkung an der Festschrift zum 60. Geburtstag Nathan Birnbaums an – 7 Ebd., 516 f. 8 Rosenzweig, Das neue Denken, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 155. 9 Ders. an Maximilian Landau, Anfang Februar 1924, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 943.

Theologische Sprache: 1921–1929

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er trug später aber doch zwei Übersetzungen synagogaler Gesänge bei.10 Zu den Autoren des Sammelbandes zählten unter anderen Simon Dubnow, Hans Kohn, Martin Buber, Ernst Simon, Joseph Wohlgemuth, Jacob Rosenheim und Joseph Carlebach. Bezeichnenderweise schrieb Carlebach noch 1934 an Simon entgegen Rosenzweigs eigener Verortung: »Mir ist übrigens neu, dass je sich Franz Rosenzweig als liberaler Jude gefühlt hat.«11 Carlebach sah also etwas in Rosenzweig, was nicht Rosenzweigs Selbstbild entsprach. Die Kritik nahm 1926 zwar nur einen kleinen Raum ein. Das dagegen­ gesetzte, ausgiebige Lob deutete aber auf jenes Missverständnis, das sich an der Frage der Theologie kristallisiert; wurde eine jüdische Theologie doch erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eingefordert und das in einer Tradition, die Carlebach mit den liberalen Theologen adressierte. Auf die Wissenschaft des Judentums allgemein bezog sich Rosenzweig zwar tatsächlich nicht eingehend, aber er sah Cohen trotz tiefgreifender Unterschiede als seinen Lehrer an. Sein theologisches Interesse wollte Rosenzweig allerdings jenseits der etablierten Theologie verstanden wissen. So heißt es in Das neue Denken: »Theologisches Interesse hat […] dem neuen Denken zum Durchbruch verholfen. Gleichwohl ist es kein theologisches Denken. Wenigstens ganz und gar nicht, was man bisher unter einem solchen verstehen mußte.«12 Vermittels des »neuen Denken[s]« sollten fern von wissenschaftlichen Ansprüchen die theologischen Probleme wieder in den Bereich des Menschlichen und die menschlichen in den Bereich der Theologie übertragen werden.13 In Der Stern der Erlösung stellte er dafür das zentrale Postulat einer neuen Verbindung von Theologie und Philosophie auf. Beide seien demnach »aufeinander angewiesen, und erzeugen so miteinander einen neuen zwischen Philosophie und Theologie gestellten, sei es nun Philosophen- oder Theologentyp«.14 Dabei bezog sich Rosenzweig gerade auch in Der Stern der Er­ lösung zuerst auf christliches Denken, wie es sich insbesondere im deutschen Idealismus niedergeschlagen hatte, und versuchte über dieses hinauszugehen. Die kritischen Ansatzpunkte waren ihm Schleiermacher, die historische Theologie und die Leben-Jesu-Forschung.15 Auch wenn er eine – in der Wortwahl indes auffällige – »rabbinische Theologie« anführte und auf 10 Vgl. Kaplan / Landau (Hgg.), Vom Sinn des Judentums. 11 Carlebach an Ernst Simon, August 1934, zit. nach ders., Ausgewählte Schriften 4, 209. 12 Rosenzweig, Das neue Denken, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 152. 13 Vgl. ebd., 153. 14 Ders., Der Stern der Erlösung, 118. 15 Ebd., 111–114. Zu Rosenzweigs Auseinandersetzung mit Albert Schweizers Geschichte der Leben-Jesu-Forschung in Der Stern der Erlösung vgl. Barba, Das Denken Rosenzweigs zwischen Theologie und Philosophie.

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andere jüdische Quellen rekurrierte,16 blieb die christliche Prägung der Theologie des 19. Jahrhunderts die wesentliche Referenz. Aber nicht nur die kritische Auseinandersetzung, auch die eigene kirchengeschichtliche Deutung Rosenzweigs im zweiten Teil von Der Stern der Erlösung wurde durch eine christliche Philosophie geformt. So wird im Gedankengang des Werks die geschichtliche Interpretation des Christentums aus Schellings Spätwerk adaptiert. Auch Rosenzweig ging zuerst von der »petrinischen«, dann von der »pauli­nischen« und zuletzt von der »johanneischen« Epoche aus.17 Insbesondere die letzte Phase habe den Menschen als modernen Heiden ins Zentrum gerückt. Gegen diesen wollte Rosenzweig den Offenbarungsglauben im Judentum wie aber auch im Christentum vergegenwärtigen und die Theologie damit im säkularisierten Umfeld neu aufstellen. Seine geschichtliche, christlich orientierte Interpretation mündete zwar im dritten Teil von Der Stern der Erlösung in die Reflexion jüdischer Tradition im Festkalender, aber dafür blieb die theologische Perspektive das Fundament. Im abschließenden Teil von Der Stern der Erlösung, vor allem im dritten Buch, in dem die zeitlichen Bestimmungen von jüdischer und christlicher Erinnerung und Vorwegnahme mit der göttlichen Wahrheit verbunden werden, findet der Theologiebegriff selbst keine Verwendung mehr. R ­ osenzweig dachte sich an diesem Punkt der Argumentation der theologischen Sphäre enthoben. Den unterschiedlichen Bezug des Offenbarungsglaubens im Judentum und im Christentum zur Weltgeschichte und – im Gegensatz dazu – zur göttlichen Wahrheit wollte er zwar nicht mehr im theologischen Bereich verstanden wissen, bewahrte diesen aber in seiner Denkbewegung auf. So gliederte er den dritten Teil in signifikanter Weise. Er lehnte ihn mit der Trias von Leben, Weg und Wahrheit an das Johannesevangelium an, genauer: an Johannes 14,6.18 Judentum und Christentum haben demnach beide Anteil an der Wahrheit: Ersteres in der Verinnerlichung im ewigen Leben der Generationen, das Zweite in der Entäußerung auf dem ewigen Weg der Mission. Diese Bilder werden im ersten und zweiten Buch ausgedeutet, und das letzte Buch ist die Zusammenführung beider im Zeichen der Wahrheit, die vom Ende der Zeit her gedacht wird. Obwohl die verschiedenen Etappen des Christentums geschichtsphilosophisch nachvollzogen werden, endet die Denkbewegung Rosenzweigs in seinem Hauptwerk mit der göttlichen Wahrheit, die im Judentum die der zeitlichen Bestimmung entsprechende Repräsentation erfahre. Für ihn war eine Konsequenz der christlichen Weltzeit, dass das Christentum, da es sich in der heidnischen Umwelt verbreite, sich dieser anpasse und damit zumindest potenziell den Bezug zur Wahrheit ver16 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 130. 17 Ebd., bes. 310–320. 18 Nach der Lutherbibel heißt es dort: »Jesus spricht zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.«

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lieren könne. Das Judentum dagegen situierte er außerhalb des Geschehens – außerhalb der Weltgeschichte. Wahrheits- und Zeitdenken sind in Der Stern der Erlösung auf das Innerste miteinander verbunden. Auch die Wahrheit Gottes offenbare sich demnach immer nur anteilig bis zur »messianischen Zeit«,19 in der sie vollends gegenwärtig werde. Diese Ausrichtung verstand Rosenzweig als Eschatologie – gerade auch im Bereich des Judentums. Im Randtitel der zweiten Auflage von Der Stern der Erlösung benannte er gar den Abschnitt, der sich der Zugänglichkeit der Wahrheit am Ende der Zeit widmet Die Gestalt der Bewährung: Eschatologie.20 Die Lehre von den letzten Dingen wird darin in dem Sinne verstanden, dass der Ort der vollen Wahrheit erst das Ende sei, diese aber eben in Anteilen schon durch die Liturgie zugänglich gemacht werden könne.21 Zugrunde liegt dieser Vorstellung die Bewahrung der Vergangenheit der Schöpfung und der Zukunft der Erlösung in der Gegenwart der Offenbarung. Entsprechend konstatierte Rosenzweig in Der Stern der Erlösung: »[Z]ur Zukunft [gehört] vor allem das Vorwegnehmen, dies, daß das Ende jeden Augenblick erwartet werden muss.«22 Im Gegensatz zum Christentum sei das Judentum gerade von dieser Vorwegnahme der erfüllten Zeit gekennzeichnet. Da Rosenzweig die vorherrschende Vorstellung von Theologie als christlichem Topos nicht nur bewusst war, sondern er sie auch bei aller Kritik zur Voraussetzung für sein eigenes Denken nahm, ist die Emphase der jüdischen Lehre mit Bezug zur allgemeinen göttlichen Wahrheit auch als implizite Aneignung dieses Bereichs zu sehen. Am Beginn von Rosenzweigs Suche nach einem jüdischen Standpunkt in der Welt hatte noch die Forderung nach Anerkennung in der christlich geprägten Umwelt und deren Theologie gestanden. Entsprechend hatte Rosenzweig in seinem Brief an Rudolf Ehrenberg vom 31. Oktober und 1. November 1913 gerade »[d]ie Anerkennung dieses Volks Israels vom Standpunkt christlicher Theologie«23 eingefordert. Zugleich waren Probleme der Theologie in seiner Wahrnehmung, insbesondere ihre historische Interpretation, auf der Aufklärung fußende christliche Hinwendungen zur neuen Zeit, genauer: protestantische.24 Noch kurz bevor Rosenzweig Der Stern der 19 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 452. 20 Ebd., 442 f., sowie Verzeichnis der Randtitel, in: ebd., 522. Zu Rosenzweigs Reflexion auf Eschatologie im Kontrast zu Hermann Cohens Messianismus vgl. bes. Bienenstock, Ist der Messianismus eine Eschatologie?, 146 f. 21 Vgl. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 443. 22 Ebd., 261. 23 Vgl. Rosenzweig an Rudolf Ehrenberg, 31. Oktober und 1. November 1913, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 137 (Hervorhebung im Original). 24 Vgl. bes. ders., Atheistische Theologie, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 687–690.

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Erlösung verfasste, meinte er in einem im Frühjahr 1918 geschriebenen Text mit dem Titel Die Wissenschaft und das Leben eine Antwort auf dieselbe Frage auch in diesem Feld gefunden zu haben, insbesondere bei dem seinerzeit wohl bekanntesten protestantischen Theologen Adolf von Harnack, und er pointierte: »Mag es sich nun damit verhalten wie es will, – wir dürfen nicht übersehen, daß hier dem christlichen Bekenntnis unabsehbare Kräfte, die ihm verloren zu gehen drohten, erhalten worden sind und durch keine andre Macht als eben die Theologie.«25 Anschließend forderte er: »Und eben das ists, was wir brauchen […].«26 Es solle sich eine jüdische Theologie etablieren, die auch die gebildete (und akkulturierte) Judenheit seiner Zeit ansprechen könne, in Analogie zu der protestantischen Perspektive. Diese Theologie war für Rosenzweig 1918 so noch ein Ansatz für sein Verständnis einer Erneuerung des Judentums. Dies änderte sich zwar nach Der Stern der Erlösung, aber auch in seiner Reflexion der jüdischen Gegenwart nahm er christliche Motive auf,27 wie sein für eine Vorlesungsreihe am Freien Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt am Main verfasster Entwurf Der jüdische Mensch aus dem Jahr 1920 zeigt. Dessen Fokus liegt auf einer Bestandsaufnahme der Lage deutscher Judenheit. Im Speziellen dachte er über die zwei Welten der Juden nach und im Allgemeinen über das Problem des Selbst- und Weltverständnisses der Menschen in der Moderne. Nicht 1789 habe den Menschen an sich geschaffen, diagnostizierte Rosenzweig, sondern erst die »Judenemanzipation […] (denn sie zerriß ein nicht mensch-, ein natur- und gottgegebenes Band)«.28 Die Judenheit, die mit der Akkulturation ihre ursprüngliche Welt verlassen habe, stände seitdem in einer schon national geordneten, christlich geprägten Umwelt. Die Standortbestimmung zwischen zwei Ordnungsprinzipien, dem jüdischen und dem christlich-nationalen, war für Rosenzweig das Problem des 19. Jahrhunderts schlechthin, das er daher sogar das »luciferische« nannte.29 Rosenzweig reagierte damit explizit auf die Säkularisierung, den fundamentalen Wandel der jüdischen Lebenswelt im 19. Jahrhundert. Er denunzierte diese Veränderung zwar als Verfall, sah aber zugleich in der Lage nach dem Krieg die Möglichkeit der Selbstvergewisserung und Erneuerung.30 Die Frage, die Rosenzweig nach seinem Hauptwerk  – und als 25 Ders., Die Wissenschaft und das Leben, zit. nach ebd., 483–489, hier 487. 26 Ebd. 27 So weist beispielsweise David N. Myers auf die Affinitäten von Rosenzweigs Anspruch, das Judentum zu aktualisieren, zu protestantischen Positionen seiner Zeit hin. Vgl. Myers, Resisting History, 97 f. 28 Rosenzweig, Der jüdische Mensch, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 559–575, hier 559. 29 Ebd., 571. 30 Vgl. ebd., 572 f.

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Konsequenz aus diesem  – in den Fokus rückte, war so die nach einem jüdischen Selbstverständnis in der modernen Welt. Für ihn war dies zuerst noch eine theologische Frage. Bald aber benannte er sie nicht mehr als solche und wollte sie nicht mehr in einem wissenschaftlichen Rahmen beantwortet sehen, sondern im alltäglichen Leben selbst. 1917, in seinem öffentlichen Appell an Cohen mit dem Titel Zeit ists … (Ps. 119, 126). Gedanken über das jüdische Bildungsproblem des Augenblicks, der zum Initial der Gründung der Akademie für die Wissenschaft des Judentums im Jahr 1919 wurde, forderte Rosenzweig noch eine jüdische Theologie, die institutionell etabliert sein sollte.31 Zugleich zweifelte er in diesem Zusammenhang aber schon an, dass eine Anerkennung in der deutschen Hochschullandschaft möglich wäre. Seine Forderung nahm er in dem kurze Zeit später verfassten Werk in der Form nicht wieder auf, sondern modifizierte seinen Anspruch einer philosophisch-theologischen Perspektive. Ihm ging es auch 1920 noch um Fragen der Theologie, aber die institutionelle Anerkennung war nicht mehr sein Ziel, sondern eine selbstbewusste jüdische Sphäre. Die praktische Umsetzung seines Aufrufs »Ins Leben«, der das Werk Der Stern der Erlösung beschließt, nahm Rosenzweig jedoch nicht an der Akademie, sondern mit der Gründung des Freien Jüdischen Lehrhauses in Frankfurt am Main 1920 auf. Im Allgemeinen lag der Grund dieser Umorientierung in der neuen Bestimmung der Offenbarungsphilosophie, die er gegen die wissenschaftliche Disziplin der Theologie abzugrenzen suchte. Im Speziellen zeigte sich diese Ausrichtung an einer Personalie: Im Mai 1919 – ein Jahr nach dem Ableben Cohens – wurde Eugen Täubler Gründungsdirektor der Akademie der Wissenschaft des Judentums. Der Historiker vertrat eine wissenschaftliche Agenda, die Rosenzweigs neuer Vorstellung des Lehrens und Lernens widersprach. So schrieb Rosenzweig an den Geheimrat Leopold Landau32 Anfang Februar 1920: »Täublers Standpunkt (ist) mir nicht unverständlich, schon aus dem einfachen Grunde, weil ich ihn vor etwa 10 Jahren – selber hatte.«33 Rosenzweig ging davon aus, dass er diese »›Täublersche‹-Epoche« hinter sich gelassen habe, sah in dem Leiter der Akademie eine Repräsentanz des Denkens vor 1918 und nicht zuletzt daher konnte er sich keine untergeordnete Position vorstellen.34 Er bemühte sich stattdessen um eine eigene Bildungseinrichtung, eben das Freie Jüdische 31 Vgl. Rosenzweig, Zeit ists … (Ps. 119, 126), zit. nach ebd., 475. 32 Leopold Landau war Mitglied des kurze Zeit nach Hermann Cohens Tod gegründeten Arbeitsausschusses, aus dem heraus sich der Verein zur Gründung und Erhaltung einer Akademie für die Wissenschaft des Judentums im Mai 1919 konstituierte. Vgl. SternTäubler, Eugen Täubler und die Wissenschaft des Judentums, XVIII. 33 Rosenzweig an Leopold Landau, 3. und 4. Februar 1920, zit. nach Hoffmann, Jüdisches Lernen oder judaistische Spezialwissenschaft?, 30. 34 Ebd., 31.

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Lehrhaus, dessen Programmatik er zu Beginn des Jahres 1920 in dem Text Bildung und kein Ende ausführte. Darin grenzte er sich in aller Konsequenz von der Wissenschaft des Judentums ab. Diese ahme demnach bloß die anderen Wissenschaften nach, bliebe gar hinter diesen zurück. Und er diagnostizierte: »Unterricht und Forschung sind beide verkümmert. Sie sinds, weil uns das fehlt wodurch Wissen wie Lehre erst lebendig werden: das – Leben.«35 Die ehedem fixierten Orte dieses Lebens, »das Dasein in den Schranken des alten jüdischen Gesetzes, im jüdischen Haus, im synagogalen Dienst« seien durch die Emanzipation zersprengt worden.36 Für Rosenzweig war also der einzige Zusammenhang der deutschen Judenheit nur noch die Emanzipation selbst. Im Lehrhaus werde demgemäß eine Sprechstunde zentral sein, in der sich zuerst auf diesem schmalen Fundament begegnet werden könne: »Denn sie vereinigt jeden mit jedem in dem was jeder mit jedem gemein hat: das noch so keimhafte, noch so verborgene, Bewußtsein, jüdischer Mensch zu sein.«37 In der Rede zur Eröffnung des Lehrhauses im Herbst 1920 mit dem Titel Neues Lernen erläuterte Rosenzweig daran anknüpfend seinen Anspruch, die jüdischen Menschen seiner Gegenwart zusammenzubringen. Ihm ging es seiner Zeitdiagnose entsprechend nicht um Gelehrte des Judentums, sondern um: »Ein Lernen nicht mehr aus der Tora ins Leben hinein, sondern umgekehrt, aus dem Leben, aus einer Welt die vom Gesetz nichts weiß oder sich nichts wissen macht, zurück in die Tora. Das ist die Signatur der Zeit.«38 In der zunehmend säkularen Umwelt seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, deren Auswirkungen Rosenzweig selbst verspürte, lag der Grund für den Ansatz, durch das Leben zur Thora zu gelangen. Diesen gedanklichen Weg konnte er allerdings nur auf dem Fundament seiner Vorstellung der lebendigen Sprache und ihres Zusammenhangs mit der Offenbarung einschlagen. Rosenzweig wandte sich also in seiner philosophisch-theologischen Perspektive von der Wissenschaft vollends ab und strebte einen freien Zugang zum Judentum an – auf der nicht mehr benannten Grundlage protestantischer und idealistischer Positionen als kritischem Ausgangspunkt. In einer Vorlesungsreihe am Lehrhaus, der Rosenzweig den Titel Anlei­ tung zum jüdischen Denken gab, erklärte er 1921 programmatisch: »Es gibt nichts Untheologischeres als die Theologie.«39 Korrelativ zu seinem Postulat einer neuen Verbindung von Theologie und Philosophie verstand er unter 35 Rosenzweig, Bildung und kein Ende, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 491–503, hier 502. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Rosenzweig, Neues Lernen, zit. nach ebd., 505–510, hier 507. 39 Ders., Anleitung zum jüdischen Denken, zit. nach ebd., 597–618, hier 604.

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der Theologie also zweierlei: auf der einen Seite die etablierte – christlich geprägte – Theologie, von der er Abstand nahm, und auf der anderen die Lehre von Gott, Welt und Mensch, die er aktiv mit dem Lehrhaus in seiner Gegenwart zu verankern versuchte. In diesem Sinne gründeten Buber, Viktor von Weizsäcker und Joseph Wittig die im Verlag Lambert ­Schneider veröffentlichte und dem Patmos-Kreis nahestehende jüdisch-christliche Zeitschrift Die Kreatur. Diese wurde im Andenken an Florens Christian Rang von einem Juden, einem Protestanten und einem Katholiken herausgegeben.40 Auch wenn Rosenzweig aufgrund seiner Krankheit nicht selbst mitwirken konnte, beförderte er das Projekt intensiv und sein unmittelbares Umfeld partizipierte daran: Neben Buber und Weizsäcker vor allem auch Hans Ehrenberg und Eugen Rosenstock, der zu dieser Zeit den Doppelnamen Rosenstock-Huessy annahm. Rosenzweig führte im Juli 1925 dem Letztgenannten auf die Programmatik verweisend aus: »Die Kreatur soll doch selber keine theologische Zeitschrift sein, sondern – das ist ja grade der Witz – nur theologisch fundiert.«41 Wie Judentum, Protestantismus und Katholizismus ins Verhältnis zu setzen wären, war hier also nicht mehr seine Frage. Auch machte er ein Jahr später entsprechende detaillierte Anmerkungen zum Vorwort der ersten Ausgabe und bat darum, in die Agenda den Begriff der »Untheologie« aufzunehmen. Er schrieb Ende April 1926 an Buber: »Die Untheologie muß unbedingt hinein, weil die Leute auf deinen und Wittigs Namen – Weizsäckers kennen sie nicht – sonst auf Theologie raten werden.«42 Seine an Buber gerichtete Bitte deutet erneut auf das gegenüber RosenstockHuessy angezeigte theologische Fundament. Es war nicht so sehr eine Abkehr von der Theologie als vielmehr ein Verweis auf jene Kritik, die Rosenzweig an der Disziplin wie der Wissenschaftlichkeit insgesamt hatte, gegen die er sein »neues Denken« richtete. Gleichwohl wird in dieser Abgrenzung eine Ambivalenz deutlich, deren Grund sich bereits in Rosenzweigs vager Bestimmung von Der Stern der Erlösung als jüdischem Buch zeigte. In Das neue Denken zählte er in einer Auflistung, die als Beleg für die Geltung der neuen Richtung der Philosophie herangezogen wurde, mehr christliche als jüdische Denker auf. Sie standen in dem Text zwar dafür, dass Rosenzweig nicht als Einziger auf die Zäsur des alten Denkens reagiere. Allerdings war in der Aufzählung ausgerechnet Cohen der zuerst Genannte, der sich mit seinem Spätwerk dem neuen Denken genähert habe, und zusammen mit Buber der Vertreter des Judentums sei. Obwohl in Rosenzweigs Sicht Der Stern der 40 Vgl. zum Format der Zeitschrift allgemein Frank, Die Kreatur und Walter Benjamins Periodika-Netzwerk der 20er Jahre, 30–37. 41 Rosenzweig an Eugen Rosenstock-Huessy, 10. Juli 1925, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 1051. 42 Ders. an Martin Buber (ohne Datum, vermutlich 27. April 1926), zit. nach ebd., 1091.

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Erlösung doch weit jenseits der »Wissenschaft des Judentums« liege, war ihm dessen Denken 1925 Zeichen der Neubegründung.43 In Der jüdische Mensch stellte Rosenzweig der sakralen Sphäre eine profane anbei. Zwar könne man in »zwei Welten« leben, aber nicht »in zwei Gesetzen«.44 Die Spaltung wollte er in der philosophisch-theologischen Perspektive überwinden und verkündete vor dem Hintergrund seines eigenen Werdegangs in Rekurs auf Cohens letztendliche Hinwendung zum Gesetz: »Man kann nicht an den ›deutschen Idealismus‹ und das ›Judentum‹ glauben – beides sind Gesetze, eines muß das andere untertan machen.«45 In den Jahren nach Der Stern der Erlösung bewegten sich Rosenzweigs Reflexionen in diesem Spannungsfeld, das eine Gesetz hinter sich lassen zu wollen und das andere sich anzueignen – letztlich aber noch in Parallelstellung zu dem bereits bekannten. Der ehemalige Hegelforscher, der sich mit dem Staat und dessen Gesetzen wie auch mit der Moral und deren Gesetzen auseinandergesetzt hatte und der in Der Stern der Erlösung diese in Abgrenzung zum Liebesgebot gerade innerhalb des fortlaufenden Stroms des Geschehens situierte, stellte sich so dem Problem, das »jüdische Gesetz« systematisch in die Auffassung der Offenbarung zu integrieren und es konstitutiv von den historisch fixierten Gesetzen zu unterscheiden.46 Dementsprechend schrieb Rosenzweig noch 1922 an Rudolf Hallo, seinen Nachfolger am Freien Jüdischen Lehrhaus: »Glaubst du, das Gesetz wäre so schwer zu halten? Sieh dir doch die Leute an. Es ist ein sehr zahmes Gesetz, und wenn ich will, fange ich morgen früh an. Ich […] hätte mit Sicherheit auf die Weise ein, nein das Zentralproblem meines Lebens (nach Abschluß des Sterns) aus meinem Leben herausgeschoben, nämlich – das Gesetz.«47

Erneuerung der Heimkehr Ebenfalls aus einer Perspektive des neo-orthodoxen Judentums, indes aus einer ganz anderen als Carlebach, äußerte sich Isaac Breuer 1924 über das Werk Der Stern der Erlösung, zwar nicht öffentlich, aber durchaus wertschätzend und nahm den Kritikpunkt Carlebachs von 1926 in Teilen vorweg. Der Enkel Hirschs stand im Gegensatz zu Carlebach, der eine neo-orthodoxe Interpretation in die Einheitsgemeinde einzubringen suchte, für die Aus43 Vgl. ders., Das neue Denken, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 152. 44 Ders., Der jüdische Mensch, zit. nach ebd., 573. 45 Ebd. (Hervorhebung im Original). 46 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 457. 47 Ders. an Rudolf Hallo, 27. März 1922, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 761–768, hier 761 (Hervorhebung im Original). Teile dieses Unterkapitels sind eingeflossen in Sauter, Dialogische Revisionen, 342–347.

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trittsgemeinde und somit für eine auf Abschottung gerichtete Interpretation des Judentums.48 Dennoch schickte Breuer im März 1924 einen Dankesbrief an Rosenzweig. Er schrieb: »Unendlich über allem, was namentlich von sogenannter nationalistischer Seite (Buber) in den letzten Jahren geschrieben worden ist, stehen Ihre Ausführungen über das Judentum.«49 Wie in der Besprechung Carlebachs steht auch im Brief Breuers die Würdigung des Werks im Zentrum. Aber während Carlebach seinen Kritikpunkt nur andeutete, wurde Breuer darin zumindest etwas präziser. »Wenn ich auch persönlich der Meinung bin, dass bei diesen Ausführungen das Talmudjudentum […] einigermaßen zu kurz gekommen ist und Feiertage und Gebet, die das Judentum sicher nicht erschöpfen zu einseitige Berücksichtigung gefunden haben«,50 räumte Breuer ein und verwies damit auf diejenige Betonung jüdischer Traditionsbestände bei Rosenzweig, die der zeitlichen Bestimmung ihre Form geben. Aber trotz der Kritik an der Einseitigkeit sah Breuer in Rosenzweigs Werk die Tradition repräsentiert, wenn es weiterhin heißt: »[S]o finden sich doch im Einzelnen so tiefe Erkenntnisse, die dermaßen im Einklang mit unserer Überlieferung stehen, dass ich mich dem Verfasser zu dauerndem Dank verpflichtet fühle.«51 Breuer machte damit in Der Stern der Erlösung eine Dominanz derjenigen Motive aus, die – auch wenn er das so nicht benannte – in Analogie zum Christentum gesehen werden könnten. Rosenzweig antwortete Ende des Monats auf Breuers Brief, gestand ein, dass das »Gesetz« keine adäquate Behandlung erfahren habe, und führte dafür zwei Gründe an: »Der sachliche: da im dritten Teil Judentum und Christentum zunächst parallel behandelt 48 Zwar lassen sich gewisse Affinitäten zwischen Breuer und Rosenzweig feststellen, aber in der Forschung wird Rosenzweigs Geschichtsreflexion im Negativbild häufig als »Metageschichte« bezeichnet und damit Breuers eigener späterer Zentralbegriff verwendet, was eine Deckungsgleichheit evoziert, die die Unterschiede verbrigt. Breuer war ein klarer Streiter für die Austrittsgemeinde, der deren Programmatik in eine Geschichtsphilo­ sophie übertrug. Zu Breuer und dem Austrittsstreit vgl. Morgenstern, Von Frankfurt nach Jerusalem; zu den Parallelen von Breuer und Rosenzweig vgl. Horwitz, Exile and Redemption in the Thought of Isaac Breuer; Lawitschka, Metageschichte; Myers, Resisting History; synoptisch zum Verhältnis von Breuer und Rosenzweig auch Voigts, Kritische Anmerkungen zu Franz Rosenzweig, 130–133. Zu Breuers Begriff der Metageschichte vgl. u. a. Sauter, Weltwende, 348 f. 49 Zit. nach Leo Baeck Institute New York, Franz Rosenzweig Collection (1832–1999), AR  3001, Box 4, Folder 14, Isaac Breuer an Franz Rosenzweig, 11. März 1924 (nachfolgend mit angepasster Rechtschreibung zit.), (15.  Januar 2022). Der Brief wurde von Josef R. Lawitschka in den Anhang seiner Dissertationsschrift aufgenommen. Vgl. dazu ders., Metageschichte, 164. 50 Leo Baeck Institute New York, Frank Rosenzweig Collection (1832–1899), AR 3001, Box 4, Folder 14, Isaac Breuer an Franz Rosenzweig, 11. März 1924. 51 Ebd.

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werden sollten, so mußte ich gewissermaßen beide von außen darstellen.«52 Daher sei er nicht auf das Dogma, das man nur verstehen könne, wenn man Christ ist, und nicht auf das Gesetz, das man nur verstehen könne, wenn man Jude ist, eingegangen. Dass Rosenzweig bald auch auf die Frage, ob es im Judentum Dogmen gebe, zu antworten sich bemüßigte, blieb, sofern es schon geplant war, unerwähnt.53 Die Distanz drückte sich nicht zuletzt in der Begrifflichkeit aus. Rosenzweig dachte über das Gesetz und das in ihm gründende Problem für die Parallelstellung zum Christentum nach. Breuer adressierte das »Talmudjudentum, das Judentum des Choschen hamischpot«.54 Trotz Rosenzweigs systematischer Rechtfertigung zeigt erst der folgende zweite Grund an, warum insbesondere das Gesetz in Der Stern der Erlösung nicht ausreichend thematisiert wurde, so räumte er ein: »Der persönliche Grund aber ist, daß ich es damals nur sehr wenig, und auch jetzt erst höchstens skizzenhaft können würde.«55 In Der Stern der Erlösung steht das Gebot der Nächstenliebe im Zentrum des Buchs zur Offenbarung, das die Mitte des gesamten Werks bildet, und wird gegenüber weltlichen Gesetzen zum Primat erhoben.56 Erst im dritten Teil machte Rosenzweig das Gesetz im Judentum zum Gegenstand und bereitete nicht hinreichend systematisch auf, wie es im Verhältnis zu seiner Fokussierung des Liebesgebots im zweiten Teil steht. Gegenüber Breuer legte er also eine Leerstelle offen, die er, wenn sein Leben anders verlaufen wäre, nach der Abfassung von Der Stern der Erlösung hätte füllen wollen.57 Im Januar 1922 war Rosenzweig an amyotropher Lateralsklerose erkrankt, wurde zunehmend bewegungsunfähig und befürchtete im März 1924, dass er nicht mehr lange leben werde. Wenn er im Alter noch ein Buch hätte schreiben können, resümierte er in seinem Brief an Breuer, dann wäre das »ein Buch über das Gesetz geworden«.58 Tatsächlich lassen 52 Rosenzweig an Isaac Breuer, 28. März 1924, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 951. 53 So schrieb Rosenzweig 1925 in seinem Text Apologetisches Denken: »Es ist oft gesagt und noch öfter nachgesagt worden, daß das Judentum keine Dogmen habe. So wenig das nun richtig ist – schon ein oberflächlicher Blick auf die jüdische Geschichte oder in das jüdische Gebetbuch lehrt das Gegenteil –, etwas so Richtiges ist doch damit gemeint. Das Judentum hat nämlich zwar Dogmen, aber keine Dogmatik.« Ders., Apologetisches Denken, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 677–686, hier 677. 54 Leo Baeck Institute New York, Franz Rosenzweig Collection (1832–1999), AR 3001, Box 4, Folder 14, Isaac Breuer an Franz Rosenzweig, 11. März 1924. 55 Rosenzweig an Isaac Breuer, 28. März 1924, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 951. 56 Vgl. ders., Der Stern der Erlösung, 239. 57 Vgl. ders. an Isaac Breuer, 28. März 1924, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 951. 58 Ebd.

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sich in Rosenzweigs Briefen und Tagebuchaufzeichnungen nach Der Stern der Erlösung vermehrt Reflexionen des Gesetzes finden, anstatt es allerdings autoritativ anzunehmen, versuchte er, es in seiner eigenen Systematik zu verstehen und in diese zu integrieren. Zugleich nahm Rosenzweig je nach Empfänger durchaus verschiedene Positionen ein, so meinte er in einem Brief an Eugen Rosenstock-Huessy im Sommer 1924 im Gegensatz zu seinen Äußerungen gegenüber Breuer, dass er in Der Stern der Erlösung bereits eine Theorie des Gesetzes vorgelegt habe.59 Zu der Frage verfasste Rosenzweig im Sommer 1923 eine kleine Abhandlung, auf die er auch im Brief an Rosenstock-Huessy Bezug nahm, mit dem Titel Die Bauleute. Über das Gesetz.60 Er veröffentlichte diese aber erst im Sommer 1924 – sie war Breuer zum Zeitpunkt seines Briefes somit wohl noch nicht bekannt – und richtete sie an Buber. Rosenzweig war Buber 1914 begegnet und eingeladen worden, seinen Beitrag für ein angedachtes zweites Sammelbuch Vom Judentum zu schreiben.61 Darüber, dass sein Text Atheistische Theologie seinerzeit nicht angenommen worden war, zeigte er sich im Nachhinein, in seinem an Buber gerichteten Briefentwurf vom Sommer 1919, erleichtert: Noch nicht wirklich durchdacht sei er gewesen.62 Ein Austausch zwischen Buber und Rosenzweig kam erst im Oktober 1921 durch eine Anfrage Simons zustande. Simon bat Buber – im Auftrag Rosenzweigs – um Mitwirkung an einer Festschrift für den Frankfurter Rabbiner Nehemia Anton Nobel zum 50. Geburtstag.63 Der Angefragte sagte zu und der Kontakt intensivierte sich bald. So hielt Buber im Frühjahr 1922 eine erste Vorlesung am Freien Jüdischen Lehrhaus unter dem Titel »Religion als Gegenwart«.64 Nicht zuletzt durch diese Tätigkeit entwickelte sich eine rege

59 Vgl. ders. an Eugen Rosenstock-Huessy, 25. August 1924, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 984 f., hier 984. 60 Rosenzweig, Die Bauleute, in: Der Jude 8 (1924), H. 8, 433–445. Im Folgenden zit. nach ders., Die Bauleute. Über das Gesetz, in: ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 699–712; vgl. zur Veröffentlichung in der von Buber herausgegebenen Zeitschrift und dem dazugehörigen Austausch zwischen Rosenzweig und Buber die Veröffentlichung von Lappin, Der Jude 1916–1928, 376–385. 61 Vgl. Verein jüdischer Hochschüler in Prag (Hg.), Vom Judentum. 62 Vgl. Rosenzweig, Briefentwurf an Martin Buber (wahrscheinlich August 1919), zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 643. Trotz dieser Einlenkung zeigt Francesco Barba die anhaltende Relevanz des Textes Atheistische Theologie für Rosenzweigs Verständnis der historischen Theologie auf und arbeitet heraus, dass sich Rosenzweig in seiner Kritik an dieser auch noch in Der Stern der Erlösung in weiten Teilen an Albert Schweitzers Geschichte der Leben Jesu Forschung orientierte. Vgl. Barba, Das Denken Rosenzweigs zwischen Theologie und Philosophie. 63 Vgl. Simon an Martin Buber, 18. Oktober 1921, zit. nach Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, Bd. 2, 89 f. 64 Vgl. Buber an Franz Rosenzweig, 8. Dezember 1921, zit. nach ebd., 92.

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intellektuelle Freundschaft und noch Mitte der 1920er Jahre begannen sie gemeinsam mit der Übersetzung der hebräischen Bibel.65 Davor stand ein Disput, dessen Gegenstand die Frage nach dem Verhältnis von Offenbarung und Gesetz war. In seinem Geleitwort zu Vom Judentum stellte Hans Kohn 1913 beeinflusst von Bubers Reden über das Judentum die kantische Frage »Was wir tun sollen« und auch Rosenzweig setzte zehn Jahre später in Die Bauleute bei dieser Frage an.66 Buber verfasste für die Gesamtausgabe seiner Reden über das Judentum 1923 ein neues Vorwort, das er Rosenzweig im Februar des Jahres zuschickte. Dies nahm er zum Anlass, auch die Reden einer Relektüre zu unterziehen. Insbesondere in der an achter Stelle abgedruckten Rede mit dem bezeichnenden Titel Cheruth wurde ein ganzheitliches Jüdischsein gefordert und zugleich das Gesetz als sekundär aufgefasst. Mehr noch: Buber stellte in dieser 1919 erstmals gehaltenen Rede die Befolgung des Gesetzes aus bloßem Gehorsam zur Disposition. Denjenigen, denen nicht die Gewissheit zuteil geworden sei, dass das Gesetz »göttlichen Ursprungs« sei, solle, so Buber, »ein Weg vorgezeichnet [sein], der mit der Annahme des überlieferten Gesetzes nicht vereinbar ist«.67 Damit stellte er aber den verbindlichen Charakter des Gesetzes fundamental infrage – ein Schritt, den Rosenzweig im Gegensatz zu Buber nicht zu gehen bereit war. Er wählte den Weg einer öffentlichen Reaktion, die er ein Jahr nach deren Fertigstellung in Der Jude publizierte. Wohl auch aufgrund des zu dieser Zeit bereits bestehenden freundschaftlichen Kontakts erschien Rosenzweig diese Form der Stellungnahme möglich, jedoch schickte er Buber den Text bereits im Sommer 1923.68 Rosenzweig wollte nicht zwingend eine ebenfalls öffentliche Antwort und das Vorgehen wurde von Buber, soweit nachvollziehbar, ganz und gar nicht als Affront verstanden.69 Im Gegenteil: Als Rosenzweig zweifelte, ob er den Text publizieren solle, ermutigte Buber ihn dazu.70 Obschon Buber im Juli 1924 Rosenzweig mitteilte, dass er eine Nachbemerkung zu Die Bauleute verfassen müsse, wurde der Text ohne einen solchen Kommentar abgedruckt.71 Eine öffentliche Reaktion Bubers blieb vorerst zwar aus, aber er äußerte sich in seinen 65 Der Beginn der gemeinsamen Übersetzungsarbeit geht auf eine Anfrage Lambert Schneiders an Martin Buber im Mai 1925 zurück. Vgl. Schneider an Martin Buber, 6. Mai 1925, zit. nach ebd., 218. 66 Kohn, Geleitwort, VII; vgl. auch Rosenzweig, Die Bauleute, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 700. 67 Buber, Cheruth, in: ders., Reden über das Judentum, 199–235, hier 223 f. 68 Vgl. Rosenzweig an Martin Buber, 8. August 1923, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 917 f., hier 917. 69 Vgl. ders. an Martin Buber, 12. August 1923, zit. nach ebd., 919. 70 Buber an Franz Rosenzweig, 24. Juni 1924, zit. nach ders., Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, Bd. 2, 196. 71 Vgl. ders. an Franz Rosenzweig, 13. Juli 1924, zit. nach ebd., 200 f.

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Briefen an Rosenzweig ausführlich zu der Frage, ob das Gesetz von Gott offenbart worden sei und verneinte dies.72 Der nach der Abfassung und vor der Veröffentlichung von Die Bauleute aufgenommene Briefwechsel wurde von Buber mehr als zehn Jahre später im Almanach des Schocken Verlags unter dem bezeichnenden Titel Offenbarung und Gesetz veröffentlicht.73 Rosenzweig knüpfte in Die Bauleute an die von Buber angestrebte Ganzheit und Einheit der Menschen im Judentum an, denen im Kollektiv eine Kraft innewohne, und wollte das Gesetz in diese Vorstellung integrieren. Seinen Ansatz fand er in Bubers Kritik an der Neo-Orthodoxie, deren Annahme einer weltlichen und einer religiösen Sphäre der Einheit entgegenstehe. Im Kontrast zu seiner eigenen Auffassung des jüdischen Menschen in der Moderne von 1920, reflektierte er in Die Bauleute aber nicht auf den ihm gegenwärtigen Zustand, sondern auf einen anzustrebenden – das Postulat der Ganzheit ließ sich sonst kaum mit der Diagnose der zwei Welten in Einklang bringen. Demgemäß fragte Rosenzweig Buber in seiner öffent­ lichen Reaktion: »Ist das, wovon Sie sprechen – und ich sage es gleich: wahr sprechen  –, nicht vielmehr nur das Gesetz der westlichen Orthodoxie des verflossenen Jahrhunderts?«74 Diese Orthodoxie, insbesondere in der Auslegung von Hirsch, habe die Einschränkung des Gesetzes durchgesetzt und Buber knüpfe in seiner Kritik auch an diese Sicht des Gesetzes an, ohne die Möglichkeit einer offeneren Auslegung in Betracht zu ziehen. Eine solche wollte Rosenzweig geben und suchte damit schließlich auch das gelebte Judentum philosophisch zu rechtfertigen. Dafür wurden in Die Bauleute sowohl die Liberalen, namentlich Abraham Geiger, mit einer »pseudohistorischen Theorie seines Ursprungs«, als eben auch die »westliche Orthodoxie« mit einer »pseudojuristischen« Verpflichtungsauffassung des Gesetzes kritisiert.75 Die Scheidung der ersten in »Wesentliches« und »Unwesentliches« wie auch die der zweiten in »Verboten-Erlaubt« sah Rosenzweig als unzulässige Aufteilung – mehr noch: Spaltung – des Judentums an.76 Der Schwerpunkt der Ausführungen Rosenzweigs lag auf dem »Gesetz«, wie es seiner Ansicht nach im 19. Jahrhundert zur Anwendung gekommen war  – ohne dass er seine Wortwahl historisch hinterfragen würde  –, und so wandte er sich nicht ausführlich gegen die liberale Position. Er forderte: »Gerade das, was die Orthodoxie grundsätzlich freigegeben hatte, gerade das muß jüdisch geformt werden.«77 Wurde das Gesetz in Der Stern der Erlösung 72 Vgl. ders. an Franz Rosenzweig, 24. Juni 1924, zit. nach ebd., 196, sowie Rosenzweig an Martin Buber, 13. Juli 1924, zit. nach ebd., 200 f. 73 Buber, Offenbarung und Gesetz. 74 Rosenzweig, Die Bauleute, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 703. 75 Ebd., 704. 76 Ebd., 705. 77 Ebd., 706.

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vor allem als Zeichen der Ewigkeit besprochen, wurde es 1923 als heutiges – eben als Gebot – dargestellt. Damit fand Rosenzweig einen Weg vom Gebot der Nächstenliebe, das integraler Bestandteil der Systematik in Der Stern der Erlösung ist, zum »ewigen Gesetz« im Judentum. Der Übergang bleibt allerdings systematischer Natur. In Der Stern der Erlösung ging er zwar noch nicht auf den Gedankenschritt vom Gebot der Nächstenliebe zum Gesetz ein, aber bereits im Herbst 1919 reflektierte er in einem Vortragsentwurf mit dem Titel Das Wesen des Judentums auf das Gesetz und stellte dessen Zen­ tralität für die Einheit des Judentums heraus. Seine Antwort auf die von Leo Baeck 1905 angestoßene Debatte um Das Wesen des Judentums in Analogie zu Harnacks Wesen des Christentums fiel dahingehend aus,78 dass es kein Wesen des Judentums geben könne, das nicht von Gott her bestimmbar wäre, und es nicht sinnvoll sei, im Bereich der bloß menschlichen Angelegenheiten darüber zu diskutieren. Zugleich machte Rosenzweig drei Merkmale aus, die das Judentum als Ganzes konstituierten: das Gesetz, den Geist und das Blut, die im 19. Jahrhundert auseinandergetreten seien. Damit wandte er sich vor allem gegen die Aufspaltung in die ihm gegenwärtigen Strömungen des Judentums – in Liberalismus, Orthodoxie und Zionismus.79 Der Orthodoxie ordnete er das Gesetz, dem Liberalismus den Geist und dem Zionismus das Blut zu. Wie in Der Stern der Erlösung stand auch in seiner Auseinandersetzung mit der Wesensfrage das Gebot der Liebe im Zentrum. So betonte er: »Und des Gesetzes erstes Wort ist das der Liebe. Und die Vielzahl, die 613-Zahl der Gesetze hat nur symbolischen Wert. 613=Tora. Und an einer Mizwoh ›hängen‹ alle anderen.«80 Diese Grundannahme vertrat Rosenzweig auch in Die Bauleute. Obgleich er das Liebesgebot nicht benannte, wiederholte er dessen Denkfigur in seiner Reflexion des Gesetzes. »Gebot aber,« postulierte er, »Gebot das sich unmittelbar im Augenblick wo es vernommen wird, in Tat umsetzt, muß das Gesetz wieder werden. Es muß die Heutigkeit wiederkriegen, die alle großen jüdischen Zeiten als die einzige Bewährung seiner Ewigkeit empfunden haben.«81 Das zentrale Motiv war demnach die Tat in ihrer Gegenwärtigkeit. Im Anschluss an Bubers Plädoyer für eine Kraft des jüdischen Kollektivs sah auch Rosenzweig die Notwendigkeit, dass der Inhalt sich wieder in eine 78 Das Wesen des Judentums von Leo Baeck besprach Rosenzweig in der zweiten Auflage 1925 in Apologetisches Denken. Darin machte er bezeichnenderweise Baeck den Vorwurf, das Gesetz vernachlässigt zu haben. Vgl. Rosenzweig, Apologetisches Denken, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 685. 79 Vgl. ders., Das Wesen des Judentums, zit. nach ebd., 521–526, hier 524. 80 Ebd., 522 f.; ebd., 523, Anm. 3: »Den 613 Ver- und Geboten entspricht symbolisch der Zahlenwert von Tora = 611+1. und 2. Gebot des Dekalogs, die als von Gott selber gegeben gelten.« 81 Rosenzweig, Die Bauleute, zit. nach ebd., 708.

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Kraft wandle. Zuerst vorsichtig, aber im Verlauf der Argumentation immer offensiver, wollte er das Gesetz für seine Gegenwart öffnen, damit es wieder »heutiges Gesetz« werde.82 In der Vergegenwärtigung von dessen Offen­ barung sah er eine potenzielle Erweiterung angelegt und er führte aus: »[W]ie weit die Pflöcke des Zelts der Tora hinausgerückt werden können und welche unserer Taten dazu bestimmt ist, sie herauszurücken«, könne er zwar nicht wissen, aber, »[d]aß sie herausgerückt werden, und durch uns, darf uns für sicher gelten«.83 Die Zugehörigkeit zum Judentum war für Rosenzweig dabei hinreichende Gewähr der Möglichkeit, das Gesetz durch Taten zu erweitern. Entsprechend proklamierte er, »daß wir nur Söhne zu sein brauchen, um Bauleute zu werden«.84 Zwar zog er in Zweifel, wie sehr sie noch Söhne seien, aber das Motiv des Tuns als zukunftsweisendes – und damit auch die kantische Frage – hielt er aufrecht. Seine Betonung des Gesetzes als gegenwärtiges Gebot blieb dabei, wie es sich in der Kritik Breuers für Der Stern der Erlö­ sung angedeutet hatte, durchaus auch im Bereich einer Vergleichbarkeit mit christlich geprägter Moralphilosophie. Obwohl die Mizwot durch Paulus und Luther als »starres Gesetz« betrachtet worden waren, distanzierte sich Rosenzweig nicht von dieser Wahrnehmung, sondern machte sie implizit zum Ausgangspunkt, wenn er das Gesetz zu öffnen suchte. Im März 1922 legte er Hallo dar: »Das Judentum ist nicht Gesetz. Es schafft Gesetz. Aber es ist es nicht. Es ist Judesein.«85 Das Primat der Ganzheit bestimmte er durch die Zugehörigkeit zum jüdischen Kollektiv, aber das Gesetz blieb keine bloße Hinzufügung. In Teilen bereits mit Wesen des Judentums und mehr noch mit Die Bauleute forderte Rosenzweig eine Gleichursprünglichkeit von Gesetz und Kollektiv. Eine erste Reaktion von Simon zeigt an, dass die in Die Bauleute vertretene Position auf verschiedenen Ebenen auf Widerspruch stieß. So schrieb Simon im Oktober 1924 an Rosenzweig: »Zu Ihren Bauleuten sagte mir Baeck etwas sehr richtiges: Sie halten den Minhag für ein Organ der halachischen Fortentwicklung, in Wahrheit ist er das unterschiedslos konservierende Gefäß und wirkt also reaktionär.«86 Der von Simon nur angerissene Punkt ist, dass in Rosenzweigs Interpretation selbst das Gesetz in einen dynamischen, mithin zukunftsweisenden Radius gerückt wird. Aber nicht nur darin sah Simon ein Problem, sondern ebenfalls in Rosenzweigs Auffassung des jüdischen Kollektivs: »Daß sie nämlich das empirische Judentum, auf das sie bei 82 Ebd., 708. 83 Ebd., 709. 84 Ebd. 85 Rosenzweig an Rudolf Hallo, 27. März 1922, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 762 (Hervorhebung im Original). 86 Simon an Franz Rosenzweig, 24. Oktober 1924, zit. nach ders., Sechzig Jahre gegen den Strom, 38–40, hier 40.

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ihrer Rückkehr zufällig auftrifft, verabsolutiert. Zwar nicht idealistisch als dessen ›Wesen‹, sondern naturalistisch als dessen heute lebendige Daseinsform.«87 In Der Stern der Erlösung grenzte Rosenzweig das »ewige Volk« von den modernen Völkern ab, in Die Bauleute wird keine Differenzierung mehr vorgenommen.88 Während Buber selbst zunächst nur in Briefen auf Die Bauleute antwortete, gab es sowohl von liberaler Seite als auch aus den Reihen des gesetzestreuen Judentums öffentliche Reaktionen. In der Jüdisch-liberalen Zeitung wurde Mitte November 1925 der Artikel Über die Lehre und über das Ge­ setz. Kritisches zur Auseinandersetzung zwischen Martin Buber und Franz Rosenzweig veröffentlicht.89 Darin wird die  – auch von Simon bereits angedeutete  – andrängende Idee eines national gefassten Judentums kritisiert.90 Darüber hinaus wird sowohl die Nähe zum Idealismus als auch die Legitimation einer orthodoxen Position in Rosenzweigs Text herausgestellt. In Der Israelit. Centralorgan des orthodoxen Judentums erschien dagegen bereits 1924 eine in mehrere Ausgaben aufgeteilte Antwort auf Rosenzweigs Versuch, das Gesetz zu aktualisieren, in der allerdings nicht auf dessen idealistische Grundlage rekurriert wird. Der Verfasser ist Jacob Rosenheim, Herausgeber der Zeitschrift und Mitbegründer sowie späterer Vorsitzender der Agudat Jisra’el.91 Unter dem Titel Abrahamitisches oder mosaisches Judentum? verhandelte Rosenheim aus der Perspektive einer an Hirsch geschulten Orthodoxie neue Positionen des Judentums und exponierte den Text Die Bauleute.92 Rosenzweig habe  – seinem pädagogischen Anspruch gegenüber Buber entsprechend – versucht, referierte Rosenheim, »die einer jungen Generation starr erscheinenden Tafeln der Sinaioffenbarung in einen fließenden Strom unendlichen Werdens zu verwandeln«.93 Er lehne sich mit der Öffnung des Gesetzes an die Figur Abrahams an, die das Gesetz schon eingehalten habe, obwohl es noch nicht zugänglich war. Zugleich erhob ­Rosenheim aber im Gegensatz zu Simons Einwand gegen Rosenzweig den Vorwurf, er argumentiere zu subjektivistisch. Rosenzweig bedankte sich Anfang Dezember 1924 bei Rosenheim für die »schöne Polemik« und hob hervor,94 dass Rosenheim den gleichen Vorbehalt habe wie Simon. Dabei 87 Ebd. 88 Vgl. etwa Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 372. 89 Maybaum, Über die Lehre und über das Gesetz. Vgl. dazu und zu Maybaums Positionsverschiebung in den 1930er Jahren Meyer, Zwischen Philosophie und Gesetz, 188 f. 90 Maybaum, Über die Lehre und über das Gesetz. 91 Vgl. dazu Morgenstern, Art. »Neo-Orthodoxie«, 344. 92 Rosenheim, Abrahamitisches oder mosaisches Judentum?, nachfolgend zit. nach ders., Ohole Ya’akov 1, 173–208. 93 Ebd., 198. 94 Rosenzweig an Jacob Rosenheim, 2. Dezember 1924, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 1006.

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bezog sich Rosenzweig freilich nicht auf die Frage von kollektiver oder individueller Besinnung, sondern auf die einer schöpferischen, geschichtlichen Interpretation des Gesetzes. Auf den anderen Punkt rekurrierte er aber, wenn er weiterhin schrieb: »[D]ie Gefahr des Individualismus besteht zwar für den Einzelnen, aber nicht für die Gesamtheit. Denn die ›Auswahl des Könnens‹ geschieht doch aus dem Gut der Gesamtheit.«95 Trotz des kritischen Grundtons in seiner Besprechung charakterisierte Rosenheim den Verfasser der Bauleute in einer Anmerkung als »vorurteilslose[n], vom reinsten Wollen beseelte[n] Denker«.96 Und noch 1928 resümierte er in einem Text mit dem Titel Franz Rosenzweig und die Orthodoxie, dass ihm in seiner Besprechung von Die Bauleute »doch die Wirkungen, die der Gesamtkomplex des überlieferten Glaubenssystems auf sein Denken ausübt, als eine Art Probe auf die Möglichkeit dessen [erschienen], was ­Nathan Birnbaum den ›Ueberzeugungsvorstoß‹ in das Lager der Entfremdeten nennt«.97 Rosenzweig habe demnach zwar eine schöpferische Auffassung des Gesetzes, die das Sinai-Ereignis in den Hintergrund stelle, aber für die Heimkehr ins Judentum könne auch eine solche Auffassung vielleicht noch gerechtfertigt sein. In diesem Text Rosenheims aus dem Jahr 1928 war allerdings nicht mehr die Frage des Gesetzes der Gegenstand, sondern die Bibelkritik das Konfliktfeld – darin wurde seine Perspektive auf Rosenzweig weit kritischer.

Tradition in Übersetzung »Unsre Differenz von der Orthodoxie«, teilte Rosenzweig 1927 Rosenheim mit, »liegt darin, daß wir aus unserm Glauben an die Heiligkeit, also die Sonderstellung der Tora, und an ihren Offenbarungscharakter keine Schlüsse über ihren literarischen Entstehungsprozeß und über den philologischen Wert des auf uns gekommenen Textes ziehen können.«98 Der Grund für Rosenzweigs Auseinandersetzung mit dieser Fragestellung liegt in der Aufnahme eines Projekts mit Buber: der »Verdeutschung der Schrift«, als die sie ihre Bibelübertragung programmatisch begriffen.99 Mit diesem Unterfangen stellte sich Rosenzweig nicht in die Tradition von Moses Mendelssohn, Leopold Zunz oder gar Samson Raphael Hirsch, sondern orientierte sich an 95 Ebd. 96 Rosenheim, Abrahamitisches oder mosaisches Judentum?, 207. 97 Ders., Franz Rosenzweig und die Orthodoxie, zit. nach ders., Ohole Ya’akov, Bd. 1, 209– 213, hier 209. 98 Rosenzweig an Jacob Rosenheim, 21. April 1927, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 1134–1137, hier 1134. 99 Vgl. allgemein zu der Bedeutung dieser Bibelübersetzung bes. Benjamin, Rosenzweig’s Bible.

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Martin Luther. Scharfe Kritik daran gab es zunächst nicht vonseiten Rosenheims, sondern von der anderen Seite. So schrieb Rosenzweig im Januar 1927 an Leo Baeck, dass es in »liberalen Kreisen […] arg verketzert« worden sei.100 Gemeint war vor allem eine überaus kritische Rezension Siegfried K ­ racauers. In der Frankfurter Zeitung vom 27. und 28. April 1926 hatte Kracauer seine konfrontative Besprechung mit dem Titel Die Bibel auf Deutsch veröffentlicht. Darin verband er das Übersetzungsprojekt mit der Zeitstimmung der »religiösen Erneuerung«, warf Buber und Rosenzweig eine »archaisierend[e]« Sprache im Sinne der »altertümelnden Neuromantik« vor und sah die »Situation Luthers« von ihrer Zeit im Fundament geschieden.101 Zu Kracauers Polemik vermerkte Rosenzweig gegenüber Buber: »Das neue Gift geht mir ins Blut, Kochs damals nur in den Magen.«102 Die Übersetzung war indes nicht das einzige Zeichen von Rosenzweigs allgemeiner werdenden »religiösen Erneuerung« in der Mitte der 1920er Jahre. Die Verdeutschung der Schrift stand wie Die Kreatur nicht mehr unter dem unmittelbaren Vorzeichen einer Konkurrenz von Judentum und Christentum, die Rosenzweig im Nachgang des Nachtgesprächs auch in Der Stern der Erlösung zum Thema machte. Vielmehr bedeutete sie eine offene Annäherung an roman­tische Motive und an protestantische Vorstellungen. Für Rosenheim war im Unterschied zu Kracauers Kritik nicht die Übersetzung selbst der Stein des Anstoßes, sondern, dass Rosenzweig sich damit der Bibelwissenschaft wie der ihr eingeschriebenen Historisierung der sakralen Quellen öffnete. Dafür konnte Rosenheim kein Verständnis mehr aufbringen. In seinem Text von 1928 über Franz Rosenzweig und die Ortho­ doxie, dessen unmittelbarer Auslöser Rosenzweigs Besprechung des ersten Bandes der Encyclopaedia Judaica war, wurde Rosenheim so auch wesentlich kritischer und konfrontativer. »Jetzt hat nun Rosenzweig«, schrieb Rosenheim, »nach rechts gewendet, eine halb schüchterne halb grollende Zurechtweisung an ›unsere Orthodoxie‹ gerichtet, weil sie die Verbal-Inspiration […] und nicht nur die inhaltliche und historische Bibelkritik, sondern auch die Textkritik ablehnt.«103 Und mehr noch: Rosenzweig fälle ein Urteil über »die 100 Rosenzweig an Leo Baeck, Januar 1927, zit. nach: ders., Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 1125. 101 Kracauer, Die Bibel auf Deutsch, zit. nach ders., Werke 5.2, 374–386, hier 380 und 384 (Hervorhebung im Original); Vgl. zu Kracauers Kritik an der Verdeutschung der Schrift, auch mit Blick auf Benjamin, Jay, Politics of Translation; mit Schwerpunkt auf den Status von Luther vgl. Kasten, Mit Luther gegen Luther; in Rekonstruktion der in Briefen weitergeführten Debatte um Kracauers Rezension und der ästhetischen Leitfrage von Autonomie und Heteronomie vgl. ders., »Art Must Become Pious or End«; Palmer, No Holy Marriage. 102 Rosenzweig an Martin Buber, 28. April 1926, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 1092 f., hier 1093. 103 Rosenheim, Franz Rosenzweig und die Orthodoxie, zit. nach ders., Ohole Ya’akov, Bd. 1, 209.

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rabbinischen Autoritäten aller Zeiten«.104 Zur Übersetzung äußerte sich Rosenheim soweit nachvollziehbar nicht. Dies war im Feld der Neo-Orthodoxie allerdings keine festgezogene Grenze. Carlebach etwa lobte das Unterfangen der Bibelübertragung noch im Sommer 1929 und nur wenige Monate später, in einem Nachruf auf Rosenzweig, würdigte er neben Der Stern der Erlösung wie weiteren Schriften Rosenzweigs erneut die Bibelübersetzung.105 Im Sommer 1928, in der Besprechung des ersten Bandes der Encyclopae­ dia Judaica wandte sich Rosenzweig tatsächlich erneut und fundamentaler gegen die Orthodoxie. Darin gründete wohl auch die konfrontative Wahrnehmung durch Rosenheim. Zugleich nahm Rosenzweig  – ganz entgegen seiner eigenen Abwendung von einer christlichen Perspektive um 1920 – mit der Bibelwissenschaft wieder Partei für eine protestantische Disziplin. Während Der Stern der Erlösung, von neo-orthodoxer Seite davor, wenn überhaupt, doch auch positive Reaktionen hervorgerufen hatte und dem Text Die Bauleute trotz aller Kritik eine gewisse Achtung entgegengebracht wurde, ist diese Öffnung zumindest für Rosenheim nicht mehr tragbar. Zugleich rekurrierte Rosenzweig erneut auf das im Frühjahr 1918 benannte Fundament seiner theologischen Position. So betonte er in der Besprechung: »Ein Mann wie Harnack umfasst gleichmäßig die Wissenschaft des neutestamentlichen Kanons, die mittelalterliche Dogmengeschichte, das ihm gegenwärtige Wesen des Christentums und läßt diese verschiedenen Inhalte seines Wissens einander wechselweise befruchten. Wir haben nichts dergleichen.«106 Noch 1917 hatte Rosenzweig in Zeit ists … (Ps. 119, 126) diagnostiziert: »Der Deutsche, auch der Deutsche im Juden, kann und wird die Bibel deutsch – luthersch, herdersch, mendelssohnsch – lesen; der Jude kann sie einzig hebräisch verstehen. […] [F]ür die Sprache des jüdischen Gebets gilt es ganz zweifellos und eindeutig: sie ist unübersetzbar.«107 Und er wurde in seinem Aufruf sogar noch expliziter: »An der Sprache hängt der Sinn, und es ist wahrhaftig eine Unterschätzung der Innigkeit, mit der sich Christentum und deutsche Sprache seit Luther und länger schon vermählt haben, wenn man glaubt, jüdische Inhalte in deutscher Sprache ohne fremdgläubigen Beiklang mitteilen zu können.«108 Während Rosenzweig 1917 also die exklusive Bedeutung der hebräischen Sprache für die Juden – auch seiner Zeit – herausstellte, vertrat er im Zentrum von Der Stern der Erlösung bereits eine Auffassung der lebendigen Sprache, die unabhängig von Differenzen 104 Ebd., 210. 105 Vgl. Carlebach, Das Bibelübersetzungswerk von Buber und Rosenzweig; Rosenzweig, Replik; Carlebach, Franz Rosenzweig. 106 Rosenzweig, Zur Encyclopaedia Judaica. Zum ersten Band, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 731–734, hier 733. 107 Ders., Zeit ists … (Ps. 119, 126), zit. nach ebd., 463. 108 Ebd., 466.

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einzelner Sprachen verstanden wurde. Obgleich er darin im abschließenden Teil das Hebräische als ewige Sprache herausstellte, fokussierte er, nachdem er Der Stern der Erlösung geschrieben hatte, zunehmend das Moment der Lebendigkeit.109 So verabschiedete sich Rosenzweig im Verlauf der 1920er Jahre sukzessive von der Vorstellung, dass Hebräisch dafür nötig wäre, »die jüdischen Inhalte ohne fremdgläubigen Beiklang« zu vertreten und rückte die Frage des Übersetzens ins Zentrum seines Denkens. Bereits in dem zu Rosenzweigs Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Text Büchlein über den gesunden und kranken Menschenverstand aus dem Jahr 1921, den er als eine populäre Version des Kerngedankens von Der Stern der Erlösung verstand, aber ungedruckt ließ,110 deutete er an, worauf er sich in der Übersetzungsfrage berief: Seine Vorstellung einer allgemeinen Sprache, die in der lebendigen Sprache Anklang finde und die das Ziel des Geschehens sei. Die verschiedenen Sprachen der Menschen seien das Zeichen dafür, dass die Welt noch unerlöst sei. Dauerhaftigkeit weisen demnach nur die Namen und die Gewissheit auf, »dass der Anfang, den der stets einzelne Mensch mit seinem Wort setzt, fort-gesetzt würde bis zum letzten Ziel der allgemeinen Sprache«.111 Denn in jedem Wort stecke die Kraft, »sich fortsetzen und übersetzen zu lassen über den Strom der Zeit bis hin zu dem Augenblick wo es letztes Wort geworden ist« und somit »das Wort Gottes«.112 Mit dieser Sprachvorstellung öffnete sich Rosenzweig der Möglichkeit des Übersetzens, dem er sich bereits 1920 praktisch zuwandte. Zuerst versuchte er sich zusammen mit seiner frisch angetrauten Frau Edith an der Übersetzung des Tischdanks, die er Gershom Scholem zusandte.113 Nach einer Kritik Scholems, antwortete Rosenzweig diesem, dass er selbst noch Verbesserungsmöglichkeiten in seiner Übertragung sehe. Er benannte in seiner Replik aber auch ein grundlegendes Problem, das er 1917 bereits hervorgehoben hatte. »Die deutsche Sprache ist, in diesen drei Namen [Notker Labeo, Luther und Hölderlin], christliche Sprache geworden«, diagnostizierte R ­ osenzweig noch 1921, »[w]er ins Deutsche übersetzt, muß in irgendwelchem Maße ins 109 Zu den Kontinuitäten in Rosenzweigs Denken von Der Stern der Erlösung zur Übersetzung vgl. u. a. Bauer, Rosenzweigs Sprachdenken im »Stern der Erlösung« und in seiner Korrespondenz mit Martin Buber zur Verdeutschung der Schrift. 110 Vgl. dazu den Tagebucheintrag, in dem Rosenzweig auch auf eine prospektive postume Publikation von Globus eingeht. Leo Baeck Institute New York, Franz Rosenzweig Collection (1832–1999), AR 3001, Box 1, Folder 19, Tagebucheintrag, 9. Juni 1922, (15. Januar 2022). 111 Rosenzweig, Büchlein über den gesunden und kranken Menschenverstand, zit. nach ders., Mein Ich entsteht im Du, 25–80, hier 54. 112 Ebd. 113 Vgl. dazu den Zwischentext der Herausgeberinnen Rosenzweig / Rosenzweig-Scheinmann, in: Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 697 f.

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Christliche übersetzen.«114 Rosenzweig sah dabei den Grad der Intensität dieser Prägung durch den der christlichen Vorherrschaft diktiert: »Je größer die Nähe ist, in die das Christentum sich die übersetzte Welt herangezwungen hat, um so christlicher wird das Deutsch der Übersetzung sein müssen.«115 Gegenüber Scholem rechtfertigte er sich dafür, diese Übersetzung dennoch angefertigt zu haben, mit dem Verweis darauf, dass wenn er Christen oder – wichtiger noch – Juden, die kein Hebräisch könnten, zu Gast hätte, er auch diesen den Dank nahebringen wolle. Damit deutet er nun implizit in Bezug auf die Sprache an, was er in Neues Lernen allgemein postulierte: Aus einem Alltagsverständnis heraus ins Judentum zu gelangen. Entsprechend schrieb er an Scholem weiter: »Wir können solange wir deutsch sprechen […] nicht um diesen Weg herum, der uns immer wieder erst aus dem Fremden in unser Eigenes führt. Das einzige, was wir haben, ist die Gewißheit, daß er uns schließlich dahin führt.«116 Trotz seiner anfänglichen Bedenken der christlichen Sprachprägung ge­ genüber vertiefte Rosenzweig zu dieser Zeit seine Übersetzungsarbeit. In dem 1922 verfassten Nachwort zu Sechzig Hymnen und Gedichte des Jehuda Halevi rekurrierte er zuerst wieder auf den Gedanken einer allgemeinen Sprache.117 »Es gibt nur Eine [sic] Sprache«,118 stellte er so knapp zwei Jahre nach seinem Brief an Scholem heraus und nivellierte damit seine Einschätzung der christlichen Sprachprägung. »Man kann übersetzen, weil in jeder Sprache jede andere der Möglichkeit nach enthalten ist; man darf übersetzen, wenn man diese Möglichkeit durch Urbarmachung solchen sprach­lichen Brachlands verwirklichen kann«,119 führte er weiterhin aus, »und man soll übersetzen, damit der Tag jener Eintracht der Sprachen, die nur in jeder einzelnen, nicht in dem leeren Raum ›zwischen‹ ihnen erwachsen kann, komme«.120 114 Rosenzweig an Gershom Scholem, 1. März 1921, zit. nach ebd., 698–700, hier 699. 115 Ebd. 116 Ebd., 699 f. Zu dieser Auseinandersetzung zwischen Scholem und Rosenzweig wie auch zu Rosenzweigs später gewonnener Auffassung einer Hebraisierung der deutschen Sprache im Radius der Bibelübersetzung vgl. Benjamin, Rosenzweig’s Bible, bes. Kap. 3: Bible Translation and the Shaping of German Identity, 103–134, hier 109 f. 117 Rosenzweig schrieb am 20. Dezember 1922 an Buber, dass er das Nachwort diktiert habe und so nur noch die Anmerkungen fehlen würden. Die erste Auflage erschien 1924 unter dem Titel Sechzig Hymnen und Gedichte des Jehuda Halevi und die zweite, auf 92 Hymnen und Gedichte erweiterte 1926. Vgl. Rosenzweig an Martin Buber, 20. Dezember 1922, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 874 f.; ders., Sechzig Hymnen und Gedichte des Jehuda Halevi; ders., Jehuda Halevi; zu den späteren Auflagen vgl. ders., Der Mensch und sein Werk 4.1: Sprachdenken – Jehuda Halevi. 118 Rosenzweig, Nachwort, in: Sechzig Hymnen und Gedichte des Jehuda Halevi, 107–119, hier 109, wieder abgedruckt als Vorwort in ders., Der Mensch und sein Werk 4.1: Sprachdenken – Jehuda Halevi, 1–18, hier 3.  119 Ders., Nachwort, 109. 120 Ebd.

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Um diese erlösungsorientierte Sprachauffassung zu bebildern, wählte Rosenzweig Luther als Exempel.121 Luther habe die Bibel deswegen übersetzen können, »weil es im Deutschen möglich ist, Eigentümlichkeiten des Hebräischen […] wiederzugeben«.122 Er habe die Fähigkeiten für eine solche Übersetzung gehabt, deswegen habe er sie ausführen dürfen. Und er »mußte übersetzen, weil das deutsche Volk jetzt diesen Zustrom fremden Sprachgeists brauchte«, schloss Rosenzweig den Reigen.123 »[D]er Sinn alles Übersetzens« sei, verallgemeinerte er den an Luther entfalteten Gedanken der Bibelübersetzung, »das Kommen ›jenes Tags‹«.124 Nicht nur rückte Rosenzweig sein eigenes Unterfangen damit neben das Beispiel Luthers, auch verstand er es, obschon auf neuer Grundlage, in dieser Traditionsbestimmung in seinem mit Der Stern der Erlösung verabschiedeten Wissenshorizont. Vermittels der eschatologischen Deutung der Frage des Übersetzens öffnete er sich sogar wieder der Weltgeschichte, wenn es heißt: »So ist das Eintreten eines Volks in die Weltgeschichte bezeichnet durch den Augenblick, wo es sich die Bibel übersetzend aneignet.«125 Auf dieses Motiv der weltgeschichtlichen Bedeutung rekurrierte Rosenzweig in verschiedenen Texten, die er seine Übersetzungsarbeiten begleitend und reflektierend verfasste, auch fokussierte er zunehmend den nationalen Charakter der Sprache.126 Wie aber das Übersetzungsprojekt  – in dieser Deutung  – zu der Auffassung eines Judentums, das außerhalb des Stroms der Zeit stehe, ins Verhältnis zu setzen wäre, bleibt offen. Auf einer unmittelbaren Ebene sprach Rosenzweig damit zwar die christlich geprägte, moderne Nationsvorstellung mit ihrer jeweiligen Sprache an und noch nicht explizit das Judentum, aber die Zentralität des eschatologischen Motivs im Bereich der 121 Vgl. ebd. 122 Ebd. 123 Ebd. 124 Ebd., 110. 125 Ebd., 110 f. 126 So reflektierte er u. a. auch in dem im Sommer 1926 verfassten Text Die Schrift und Luther sowie in dem im April 1929 geschriebenen Weltgeschichtliche Bedeutung der Bibel auf einen Begriff der Weltgeschichte, der sich nicht direkt mit dem in Der Stern der Er­ lösung verwendeten in Einklang bringen lässt. Dieser spätere Begriff könnte vielleicht im Anschluss an die »dialogische Weltgeschichte« und den 1920 in Jüdische Geschichte im Rahmen der Weltgeschichte nur stichpunktartig angedeuteten positiven Begriff der Weltgeschichte gelesen werden. Die Reflexion auf nationale Motive wäre dafür allerdings eine neue Komponente. Allgemeiner kann diese Reflexion als Zeichen dafür genommen werden, dass Rosenzweig sich gedanklich bei aller Distanz und Kritik des Geschichtsbegriffs des 19. Jahrhunderts immer wieder auch im Radius der »geschichtlichen Welt« bewegte. Vgl. ders., Die Schrift und Luther, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 749–772; ders., Weltgeschichtliche Bedeutung der Bibel, zit. nach ebd., 837–840; ders., Jüdische Geschichte im Rahmen der Weltgeschichte, zit. nach ebd., 539.

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Übersetzung weist auf die Bindung an seine Offenbarungsvorstellung – und auf eine neue Schwerpunktsetzung.127 Auch wenn Rosenzweig sich in dieser Zeit intensiv mit dem Denken Bubers befasste, der von Breuer 1924 in seinem Brief als Paradebeispiel nationalistischer Positionen herangezogenen worden war, lag der Grund für die erneute Fokusverschiebung nicht in der Zusammenarbeit. Im Gegenteil: Im Januar 1925 schrieb Rosenzweig an Buber, als er von dem Plan einer neuen Bibelübersetzung der Berliner Jüdischen Gemeinde hörte: »Ich halte grade als Deutschjude eine neue offizielle Bibelübersetzung nicht bloß für unmöglich sondern sogar für verboten und nur eine jüdisch revidierte (teils viel teils wenig revidierte) Lutherbibel für möglich und erlaubt.«128 Ein knappes Jahr später räumte er allerdings ein, dass sie in der Umsetzung ihres eigenen Übersetzungsprojekts »Schritt für Schritt und anfangs nur widerwillig (ich) und schweren Herzens (Buber) […] dann vom Luthertext abgekommen« seien.129 Auch Buber rekapitulierte im Februar 1930 – kurz nach Rosenzweigs Ableben und im Gedächtnis an diesen – unter dem Titel Aus den Anfängen unserer Schriftübertragung, wie sich die Zusammenarbeit entwickelt hatte.130 Anlass seien ihre Debatten während Rosenzweigs Übersetzungsarbeit an den Gedichten Jehuda Halevis gewesen. Dabei habe Rosenzweig Buber des Öfteren um Rat gebeten und die Fragen, ob die Bibel übersetzbar sei, und wenn ja, wie sie zu übersetzen wäre, seien immer mehr ins Zentrum ihrer Diskussionen gerückt.131 Buber verwies 1930 auch auf Rosenzweigs Nachwort und machte deutlich, dass der Rekurs auf Luther von Rosenzweig eingefordert wurde. »Rosenzweigs damalige Grundanschauung […] war«, erinnerte Buber, »daß Luthers großes Werk noch immer die Grundlage für alle

127 Zu Kontinuität und Bruch in der Vorstellung des »Geistes« gerade auch im Hinblick auf die neue weltgeschichtliche Schwerpunktsetzung in der Übersetzungsfrage vgl. Durand, »Geist der Übersetzung«, 75–81. 128 Rosenzweig an Martin Buber, 25. Januar 1925, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 1021. 129 Ders. an Eugen Mayer, 30. Dezember 1925, zit. nach ebd., 1073 f., hier 1073. Im selben Brief, kurz vor diesem Zitat, nahm er erneut auf die Übersetzungspläne der Gemeinde Bezug: »Ich widersprach dem Gedanken einer neuen Übersetzung, und zwar genau mit der Begründung, die Sie in Ihrem Brief unübertrefflich formulieren. Aber Sie wollten meine Einwände gar nicht gelten lassen. – Ich habe, seit ich den Plan der neuen Berliner Gemeinde-Übersetzung hörte, sogar heftig daran gedacht, einen großen Aufsatz dagegen zu schreiben und die jüdisch revidierte Lutherübersetzung statt dessen zu verlangen. Es wäre ein schöner Aufsatz geworden, mit vielen Bosheiten gegen die deutschen Juden. Statt dessen bin ich nun selbst der Sünder.« Vgl. dazu u. a. auch Benjamin, Rosenzweig’s Bible, 111. 130 Vgl. Buber, Aus den Anfängen unserer Schriftübertragung (Februar 1930), in: ders. /  Rosenzweig, Die Schrift und ihre Verdeutschung, 316–329, hier 317. 131 Vgl. ebd.

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Versuche in deutscher Sprache sein müsse, daß also keine Neuübersetzung, sondern nur eine Luther-Revision unternommen werden könne […].«132 In Rosenzweigs Text Die Schrift und Luther, den er wenige Monate nach Kracauers Besprechung verfasste, ist Luther so auch zur Grundlage des Übersetzungsvorhabens avanciert. Die Frage des Verhältnisses von Judentum und Protestantismus ignorierte er und betonte stattdessen, dass Luther sich als ein »erste[r] Könner dieser Kunst fühlen« könne.133 Damit stellte er das Unterfangen der Verdeutschung der Schrift in eine Linie mit dem Reformator des Christentums. Zugleich eröffnete er den Text mit dem Diktum: »Übersetzen heißt zwei Herren Dienen.«134 Explizit deutete dies auf die zwei variierenden Sprachen, aus der und in die übersetzt werde, und implizit – vielleicht auch ungewollt – bei der angestrebten Übersetzung aus dem Hebräischen ins Deutsche auf die zwei Sphären des jüdischen Menschen in der Moderne von 1920. Zwar habe der Glaube Luthers Arbeit geleitet, aber die Wirkung, die sein Werk entfaltete, sei von diesem gelöst worden, argumentierte Rosenzweig weiter. Denn das Buch sei zu einem »Grundbuch nicht nur einer Kirche, was weniger bedeuten würde, sondern der nationalen Sprache selber geworden.«135 Zwar stehe die Sprachentwicklung nicht still, sie sei aber verlangsamt worden, was sich nicht zuletzt an der anhaltenden Verstehbarkeit der lutherschen Übersetzung zeige.136 Zugleich sei die Übersetzung eines Werks etwas Einmaliges, durch die, wenn sie erfolgreich sei, sich eine »Vermählung der beiden Sprachgeister«137 ergeben könne und damit das »fremde Buch ein eigenes«138 werde. Hier klingt an, was an verschiedenen Stellen von Rosenzweig angedeutet wurde und was seiner gleichzeitig vertretenen Auffassung einer Spracheinheit auf einer unmittelbaren Ebene hätte entgegenstehen können: Ein an Herder und die deutsche Romantik gemahnender, nachgerade essenzialistischer Rekurs auf »Sprachgeister«. Es sollte ein Verständnistext bezüglich des eigenen Übersetzungsprojekts sein und da die Bibel von Luther bereits in diesem Sinn übertragen wurde, prognostizierte Rosenzweig: »Kein neuer Übersetzungsversuch kann jene nationale Bedeutung erreichen«,139 was nach seiner mit Der Stern der Er­ lösung gewonnenen Position auch nicht das Ziel hätte sein sollen. Aber nicht nur dieser Wirkung der Lutherbibel, gleich einer dreifachen, müsse sich 132 Ebd., 317 f. 133 Rosenzweig, Die Schrift und Luther, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 752. 134 Ebd., 749. 135 Ebd., 753. 136 Vgl. ebd., 754 f. 137 Ebd., 755. 138 Ebd., 756. 139 Ebd.

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jede neue Bibelübersetzung stellen, postulierte Rosenzweig in einer seine frühere Denkweise erneut aufscheinen lassenden Wortwahl: »Einmaligkeit des kircheversichtbarenden, Einmaligkeit des schriftsprachebegründenden, Einmaligkeit des weltgeistvermittelnden Buchs.«140 Dass der Text die Verdeutschung der Schrift begleitete und durchaus als eine Rechtfertigung des Projekts, nach anfänglichem Zweifel, gesehen werden kann, bleibt zu bedenken. Allerdings fand Rosenzweig einen Ausweg aus dem von ihm selbst aufgeworfenen Dilemma, so könne der »dreifache Verhau« zwar nicht niedergelegt, aber »übersprungen werden«.141 Denn weil das Buch eine Bedeutung über räumliche Grenzen hinweg habe, dürfe es nicht eingeschlossen werden und seine Gegenwärtigkeit müsse bewahrt werden. Selbst die moderne Wissenschaft habe gegen die Lutherbibel gewirkt und diese philologisch kritisiert, zugleich aber keinen Ersatz vorgelegt. Trotz der notwendigen Revision bleibe damit auch in seiner Zeit die Lutherbibel das Vorbild. Luther sei doch auch selbst an das, wogegen er sich richtete – die Vulgata –, gebunden geblieben und daher eben auch revidierbar. Zugleich habe er versucht, das Deutsche »den unvertrauten hebräischen Formen« anzunähern, und könne in diesem Aspekt Ausgangspunkt bleiben.142 Auch in diesem Text wiederholte Rosenzweig das Diktum »Es gibt nur Eine Sprache« und machte eine Möglichkeit aus, diese in den Wurzelschichten der Worte aufzudecken.143 »Ich sagte zu Anfang«, resümierte er zum Ende seines Textes, »daß alles Sprechen Übersetzen sei. Das Gespräch der Menschheit hat mit diesem Buch angehoben. In diesem Buch liegen zwischen Rede und Wider­rede halbe, ganze Jahrtausende.«144 Und nur derjenige, der es »angehoben hat«, könne sagen, wann das Gespräch zu Ende gehe.145 Wie die nationalen Sprachen zur sakralen wie auch zur allgemeinen ins Verhältnis zu setzen wären, führte Rosenzweig nicht aus. Das Übersetzungsprojekt setzte Rosenzweig noch im Januar 1929 in ein – wenn auch abgrenzendes – Verhältnis zu Luthers Position, gerade in Rekurs auf den vermeintlich abgelegten Begriff der Theologie. So teilte er Margarete Susman, die sich ihm seit ihrer Lektüre von Der Stern der Erlösung 1921 verbunden fühlte,146 mit: »[I]ch hoffe, daß unsre Theologie davidischer sein wird als Luthers; aber die theologische Fragestellung, das ›Was kann in der 140 Ebd., 758. 141 Ebd. 142 Ebd., 759. 143 Vgl. ebd., 769. 144 Ebd., 771. 145 Ebd., 772. 146 Hervorgegangen ist aus dieser Lektüre die Rezension, aber auch die Verdeutschung wurde von Susman besprochen. Vgl. dies., Der Stern der Erlösung; dies., Die neue Übersetzung der Heiligen Schrift.

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Bibel stehen?‹, dieses letzte inhaltliche Ernst nehmen, ohne das ja alle Philologie unfruchtbar bleibt, hat Luther genau so gehabt wie wir.«147 Dass Rosenzweig so zuletzt wieder von »unserer Theologie« schrieb und zugleich keinen Unterschied zwischen christlicher und jüdischer machte, ist bezeichnend, war diese Verflechtung bei aller Reflexion des konfrontativen Verhältnisses von Judentum und Christentum doch bereits der Denkbewegung von Der Stern der Erlösung eingeschrieben – die Konkurrenz war nun Luther selbst. In der im Brief an Susman aufgebrachten Abgrenzung tritt zugleich hervor, dass Rosenzweigs Überlegungen zum Übersetzen der Theologie ganz und gar nicht entrieten, dass sie nur nicht mehr im Rahmen der etablierten Disziplin verstanden werden sollten. Im August 1934 schrieb Carlebach in dem Brief an Ernst Simon, in dem er auch deutlich machte, dass ihm Rosenzweigs Nähe zu den Liberalen nicht bekannt gewesen sei: »[D]ass Sie mich mit Schoeps und Is. [sic] Breuer gemeinsam nennen, der ganze Beigeschmack, den das Wort ›Theologie‹ hat, ein Begriff, gegen den die Orthodoxie immer gekämpft hat und den sie als Assimilationsprodukt zurückgewiesen hat; alles das erscheint mir ungerecht.«148 Zum einen betonte Carlebach also, dass er in seiner Auffassung von Orthodoxie nicht mit Breuer übereinstimme, auch wenn sich beide auf Hirsch beriefen und sich in der Einschätzung von Der Stern der Erlösung nahekamen. Zum anderen aber machte er ungewollt explizit, dass ihm Rosenzweigs Überwindungsversuch nicht zugänglich war. Was Rosenzweig in Der Stern der Erlösung nicht nachsprach, war etwas ganz anderes, als Carlebach dachte; seine Kritik an der Theologie des 19. Jahrhunderts hatte ein anderes Fundament. Der Grund dafür, dass Carlebach Rosenzweigs kritisches Verhältnis zur liberalen Theologie aus seiner eigenen Position heraus zu verstehen suchte, könnte darin gelegen haben, dass Rosenzweig mit der wissenschaftlichen Disziplin der Theologie auch den Begriff der Religion ablehnte. Dass er sein Denken dabei aber durchaus als theologisches verstand, wurde damit ausgeblendet. Gerade für sein neues Verständnis von Theologie wollte Rosenzweig den Begriff hinter sich lassen, der eine formierende Wirkung auf die von Carlebach angeführte liberale Theologie entfaltet hatte. Der Begriff der Religion war im 19. Jahrhundert zum Zentralbegriff der Reformbewegung geworden und Rosenzweig ließ diesen in Der Stern der Erlösung aus seinen Überlegungen ganz bewusst heraus. So schrieb er 1924 an Buber: »Die neue Blamage des Worts Religion erfüllt mich natürlich mit 147 Rosenzweig an Margarete Susman, 27. Januar 1929, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 1207. Mara Benjamin arbeitet an dieser Passage kohärent die Konkurrenz zu Luther heraus, die sich durch Rosenzweigs Denken zieht. Vgl. dazu dies., Rosenzweig’s Bible, 115–117. 148 Carlebach an Ernst Simon, August 1934, zit. nach ders., Ausgewählte Schriften 4, 209.

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ausgesprochener Schadenfreude. […] [I]m Stern kommt das Wort […] wirklich nicht vor, obwohl es doch so ein ›relichiöses‹ [sic] Buch ist!«149 In den Jahren der Bibelübersetzung milderte er sein Verdikt gegen den in der Umbruchzeit verworfenen Begriff zwar ab, in Das neue Denken distanzierte er sich aber dennoch von der »Religionsphilosophie« – letztlich, weil sie ihm zu idealistisch war.150 Diese Ablehnung war Rosenzweigs Versuch der Neubegründung einer philosophischen Theologie oder theologischen Philosophie indessen nur negativ eingeschrieben. Dass die Vorstellung einer jüdischen Theologie mit dem Begriff der Religion, wie er sich im 19. Jahrhundert herausbildete, auf das Innigste verbunden war, dass die Religion in der noch im Zenit einer gottgewissen Welt stehenden Zeit zum philosophischen Pendant der Theologie geworden war, ignorierte Rosenzweig. Und ebendiese nicht mehr thematisierte, doppelte Übertragung zeigt sich in dem Missverständnis Carlebachs. Auch die Forderung einer jüdischen Theologie war erst im 19. Jahrhundert aufgekommen, sie war insbesondere von Geiger programmatisch aufgestellt worden.151 Dessen Position war für Rosenzweig allerdings gerade das Paradebeispiel einer falschen Trennung von Wesentlichem und Unwesentlichem im Judentum. In eine Linie mit Geiger stellte er sich also nicht, aber in eine mit Cohen. Denn trotz aller Differenz sah er – entgegen Carlebachs Einschätzung, dass er die »Lügenzunge der liberalen Theologie« nicht nachspreche  – Cohen als seinen Lehrer an. Auffällig ist, dass, trotz dieser Zuordnung und der unterschiedlichen Positionen im Bereich der deutschen Orthodoxie, ein vom Idealismus ausgehendes Werk wie Der Stern der Er­ lösung, wenn es denn überhaupt gelesen wurde, so doch auch wohlwollend aufgenommen wurde und die Kritik sich im Gros in Anmerkungen zu mangelnder Differenzierung und der Vernachlässigung gewisser Aspekte erschöpfte. Ein Grund lag vielleicht darin, dass sich nicht nur in der Re149 Rosenzweig an Martin Buber, 27. April 1924, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk  1.2: Briefe und Tagebücher, 958 f., hier 958. In Das neue Denken wiederholte er diesen Punkt – dann aber weniger scharf im Ton. 150 Vgl. ders., Das neue Denken, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 140. 151 Christian Wiese, Walter Homolka und Thomas Brechenmacher beschreiben Geiger in diesem Sinne als »eigentliche[n] Gründer einer modernen jüdischen Theologie«. George Y. Kohler spannt in seinem Überblick Theology as a Discipline of the Wissenschaft des Ju­ dentums das Feld der Debatten über Geiger hinaus auf und weist zurecht darauf hin, dass es länger zurückreichende Traditionen gibt, die als Theologie begriffen werden können. Er spricht daher von einer »modern re-introduction of theology to Jewish thought«. Der Begriff der Theologie selbst veränderte sich allerdings im Nachgang der Aufklärung und auf jenes neue Verständnis in Bezug auf das Judentum wollten Geiger und auch Carlebach aus entgegengesetzter Perspektive hinaus. Wiese / Homolka / Brechenmacher, Vorwort, X; Kohler, Theology as a Discipline of the Wissenschaft des Judentums (1830–1910), 68.

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formbewegung des 19. Jahrhunderts, sondern gerade auch im Feld der NeoOrthodoxie, wenn auch nicht die Frage nach einer jüdischen Theologie, so doch ein postuliertes bewusstes Verhältnis zur Moderne auf die Positionen auswirkte. Zumindest waren geschichtsphilosophische Anklänge sowohl in der Besprechung von Der Stern der Erlösung von Carlebach wie auch in der Kritik der Bauleute von Rosenheim vorhanden; und Breuer, dessen Denken selbst zur Geschichtsphilosophie strebte, verstand sich als Kantianer.152 Bereits Hirsch hatte Mitte des 19. Jahrhunderts das Judentum zwar in Abgrenzung, aber dennoch im Nexus zur geschichtlichen Welt des 19. Jahrhunderts zu verstehen gesucht – und in dieser Tradition standen die drei aufgeführten Vertreter der deutschen Orthodoxie in ihrer Unterschiedlichkeit. Das theologisch-philosophische Missverständnis Carlebachs verweist letztlich darauf, dass in Rosenzweigs Nachdenken, obschon mit verschiedenen Positionsbestimmungen, auch sein neues Verständnis von Theologie die christliche noch zum Ausgangspunkt hatte.

152 So ist Breuers Werk durch eine geschichtsphilosophische Verbindung des gelebten Judentums mit Kant gekennzeichnet. Vgl. zu Breuers Werk im Hinblick auf die krisenhafte Zeitformation am Ausgang des Ersten Weltkrieges Maier, Isaac Breuer (1883–1946); kursorisch zur Krisenzeit auch Sauter, Weltwende.

Zweiter Teil Eintritt in die Geschichte Der Verlauf des 19. Jahrhunderts und Hermann Cohen

4. Anerkennung durch Geschichte: Heinrich Graetz

Im November 1917 veröffentlichte Hermann Cohen den Text Zur Jahrhun­ dertfeier unseres Graetz.1 Im letzten Jahr des Weltkrieges betonte er darin, dass Heinrich Graetz »im besten Sinne ein Universalhistoriker« gewesen sei, und rückte ihn neben den für das lange 19. Jahrhundert stehenden Historiker Leopold von Ranke.2 Mit der Bezeichnung »Universalhistoriker« wie dem Vergleich mit Ranke verwies Cohen am Ende des Jahrhunderts gleichermaßen auf zweierlei: auf dessen geschichtliche Wissensordnung in der Spannung von Historiografie und Geschichtsphilosophie wie den ihr entsprechenden Kampf um Anerkennung des Judentums. Seit der Aufklärung hatte sich in Auseinandersetzung mit der christlichen Heilsvorstellung die Idee eines Fortschritts der Menschheit zuerst in der Philosophie allmählich durchgesetzt. Im deutschen Idealismus fand sie ihre volle Entfaltung. Die Geschichtsphilosophie bot zunehmend einen weltlichen Sinnhorizont, der den als Gott gegeben gedachten sukzessive ersetzte  – eine geistesgeschichtlich wirksame Säkularisierung brach sich Bahn. Zuerst in Übertragung, später in Abgrenzung zu einer idealistischen Sinnkonstruktion formierte sich die moderne deutsche Geschichtswissenschaft. Paradigmatisch steht das Werk Rankes für die sich in kritischer Auseinandersetzung mit Hegel konsolidierende Historiografie. Während diese Dynamiken im Christentum insbesondere den Kulturprotestantismus hervorbrachten, der in seinen verschiedenen Ausprägungen die geschichtliche Welt mitgestaltete, wurde auch das Judentum zum Gegenstand geschichtsphilosophischer Interpretation wie auch historischer Forschung. Von Moses Mendelssohn und der jüdischen Aufklärung war die Frage nach Geschichte noch, wenn überhaupt, außerhalb der sakralen Sphäre verhandelt worden.3 In der Wissenschaft des Judentums wurde hingegen insbesondere die rabbinische Literatur zum Untersuchungsobjekt der Historiografie, wobei geschichtsphilosophische Sinnkonstruktion und historio-

1 Cohen, Zur Jahrhundertfeier unseres Graetz; im Folgenden zit. nach ders., Zur Jahrhundertfeier unseres Graetz (1917), in: ders., Werke 17, 541–555. Vgl. dazu auch Beiser, Hermann Cohen, 347–349. 2 Vgl. Cohen, Zur Jahrhundertfeier unseres Graetz (1917), 553. 3 Zu Moses Mendelssohns Auseinandersetzung mit Geschichte vgl. Hess, Moses Mendelssohn and the Polemics of History.

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grafischer Rückblick auch in dieser Denkströmung zunächst noch verbunden waren.4 Korrelativ war das 19. Jahrhundert für die Judenheiten in den deutschsprachigen Ländern geprägt von einem Jahrzehnte währenden Kampf um politische Emanzipation, vom Eintritt in das sich herausbildende Bürgertum – mithin von drastischen Veränderungen des zuvor traditionell strukturierten Lebens. Nicht nur waren zahlreiche Konversionen zum Christentum Ausdruck dieses Wandels, auch wurden Auslegungen des Judentums selbst zunehmend an den zeitgenössischen philosophischen Begründungen orientiert und das Judentum wurde verstärkt als »Religion« begriffen – in Parallelstellung zum Christentum. Diese neuen Vorstellungen des Judentums korrelierten zwar mit durch den Aufstieg des Bürgertums geschürten Hoffnungen auf Emanzipation. Aber erst im Kaiserreich erlangten die deutschen Juden trotz fortdauernder Widerstände und Anfeindungen die staatsbürgerliche Gleichstellung. Wie kaum jemand verkörperte Mendelssohn den Beginn jener Veränderungen, die hundert Jahre später in ein »deutsches Judentum« mündeten, wie Cohen es vertrat. Eine Epoche, die als Emanzipationszeitalter begriffen wurde.5 Inmitten dieses Zeitraums liegen Leben und Werk von Graetz, die in ihrer Wechselwirkung von den zähen Auseinandersetzungen um die politische Stellung der Juden als auch von der Herausbildung des modernen Geschichtsbegriffs zeugen. 1817 in Xiondz, in der damaligen preußischen Provinz Posen geboren, erlebte Graetz von Kindheit an die prekäre Rechtslage.6 Die Erfahrung von Ungleichheit und Ausgrenzung wie die Verwandlungen der jüdischen Umwelt waren und blieben für ihn prägend. Vor diesem Hintergrund berührte seine Denkbewegung auf verschiedenen Ebenen immer wieder das Verhältnis von Judentum und beginnender Moderne, was sich noch in einer spezifischen Distanz zum Konzept der »Theologie« ausdrückte. Zuerst suchte er in der Neo-Orthodoxie, wie Samson Raphael Hirsch sie vertrat, nach einem Umgang mit den Veränderungen, danach studierte er Geschichte und Philosophie. Letztlich beantwortete er die neuen Fragen mit einer selbstbewussten jüdischen Geschichte jenseits christlicher wie nach4 Zur Geschichtsauslegung und der Wissenschaft des Judentums allgemein vgl. u. a. Schorsch, From Text to Context; Krone, Wissenschaft in Öffentlichkeit; Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland. 5 Emblematischen Ausdruck fand diese Bezeichnung in Bezug auf die westeuropäischen Juden am Ende der Epoche in der Studie Wiener, Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation. 6 Die Provinz war auf dem Wiener Kongress – nur zwei Jahre vor Graetz’ Geburt – Preußen zugeschlagen worden und die preußischen Behörden führten dort das »Judenreglement« von 1797 wieder ein, während in Preußen sonst das vergleichsweise freiere »Judenedikt« von 1812 galt. Vgl. dazu Schick, Art. »Posen«, 601.

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christlicher Historiografie. Graetz trug den Kampf um Anerkennung damit in der Disziplin aus, die sich seinerzeit als Wissenschaft etablierte. Mit seiner zwischen 1853 und 1876 erschienenen elfbändigen Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart wurde er einer der Begründer moderner jüdischer Historiografie.7 Geschichte bedeutete für Graetz indes nicht nur die Hinwendung zur Vergangenheit, sondern sein Blick war auch auf die Zukunft gerichtet. Es »ist […] von der idealen Aufgabe des Historikers nicht abzutrennen, daß er die Vorschau halte in die Zukunft«8, betonte so auch Cohen in Zur Jahrhundert­ feier unseres Graetz im Allgemeinen und erläuterte im Besonderen: »Graetz hat sich niemals genuggetan in seiner Erforschung der Vergangenheit. Wie er mit seinem Herzblut geschrieben, so hat er für den Fortbestand seiner Glaubensgemeinschaft wirken und schaffen wollen.«9 Dass Cohen Graetz im Herbst 1917 diese Absicht zuerkannte, ist erstaunlich. Cohen war dem Denken von Graetz an zwei Wendepunkten seines eigenen Werdegangs begegnet: Der Historiker war ein Lehrer Cohens am 1854 gegründeten JüdischTheologischen Seminar in Breslau gewesen. Cohen hatte die Institution 1861 nach vier Jahren vorzeitig verlassen. Als er 1880 in den von H ­ einrich von Treitschke initiierten Konflikt um die deutschen Juden eingriff und sich damit erstmals nach mehr als einem Jahrzehnt wieder zum Judentum in der Öffentlichkeit äußerte, wandte er sich auch gegen Graetz’ auf die Juden als Kollektiv gerichtetes Geschichtsdenken. Cohen, der einen philosophischen, im Judentum begründeten und der Menschheit verpflichteten Begriff der Geschichte vertrat, bezog gegen den darin angelegten jüdischen Partikularismus Position.10 In dem die Kontroverse über den Antisemitismus einleitenden Artikel Unsere Aussichten im November 1879 nahm Treitschke Anstoß an dem elften Band der Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, dessen Zeitraum bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts reicht.11 Graetz forderte darin in dezidierter Kritik an den Anfein7 Vgl. Graetz, Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Vgl. zu Graetz als einem der Begründer moderner jüdischer Historiografie u. a. Brenner, Propheten des Vergangenen, 82; zu Leben und Werk von Graetz bes. Pyka, Jüdische Identität bei Heinrich Graetz; mit Fokus auf die Genese der Geschichte der Juden vgl. Kessler, »Garrulous, Lamenting, Whiney, but Always Interesting«. 8 Cohen, Zur Jahrhundertfeier unseres Graetz (1917), 547. 9 Ebd. Für Cohen hatte Graetz in der Frage nach der Zukunft des Judentums »versagt«. 10 Vgl. Cohen, Ein Bekenntniß in der Judenfrage. Im Folgenden zit. nach Der »Berliner Antisemitismusstreit« 1879–1881. 11 Vgl. Treitschke, Unsere Aussichten, 573. Die Auseinandersetzung, in der sich zahlreiche Gelehrte zu Wort meldeten, dauerte zwei Jahre. Einen ersten Überblick geben neben der von Karsten Krieger bearbeiteten Quellensammlung die beiden Autoren Zimmermann / Berg, Art. »Berliner Antisemitismusstreit« sowie bes. auch bezüglich der Reaktionen aus protestantischen Kreisen Jensen, Gebildete Doppelgänger, 197–324.

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dungen von christlicher Seite die »Anerkennung des Judenthums«, Cohen hingegen ging von einer Verbindung der »israelitischen Religion« mit dem Protestantismus aus und postulierte auf dieser Grundlage eine »nationale Verschmelzung«.12 Auch noch im Herbst 1917 stellte Cohen heraus, »daß der 11. Band von Graetz« den deutschen Juden kein »Wegweiser« sein dürfe.13 »Man hätte wünschen mögen, daß der 11. Band nicht gerade 1870 zur Veröffentlichung gekommen wäre«,14 überlegte er auf die Zeitgebundenheit der Position verweisend. »Die aktuellen Fragen, die dort zur Behandlung kamen, wären vielleicht zu einer anderen Bearbeitung gekommen, wenn die damalige Krise abgewartet worden wäre.«15 Durch die retrospektive Einschätzung des Werks löste er sein Bild von Graetz von dem als falsch ausgemachten Erwartungshorizont; er blickte aus neuer Perspektive auf das Wirken seines ehemaligen Lehrers.16 So liest sich die von Cohen für Graetz gewählte Bezeichnung des »Universalhistorikers« nicht nur als Würdigung, sondern auch geradezu als postume Versöhnung am Ende des 19. Jahrhunderts. Im Hinblick auf Graetz verweist sie auf jene Spannung von Erfahrung und Erwartung, die sich erst in dessen eigener Lebenszeit neu figurierte. Graetz widmete sich nicht zuletzt auch aufgrund seiner Prägungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts der jüdischen Geschichte. In den Unterschieden im Geschichtsdenken von Graetz und Cohen spiegelt sich damit die grundlegende Veränderung im Selbstverständnis der Judenheiten in den deutschsprachigen Ländern in ihrem Übergang zur Moderne, die sich in dem Topos des deutschen Judentums ausdrückte. So sehr sich ihre Wege auch kreuzten, steht Graetz doch für eine andere Zeit als Cohen. Im Denken von Graetz, insbesondere in seiner Auseinandersetzung mit Hirsch, gewinnt die Wirkung des modernen Geschichtsbegriffs auf Auslegungen des Judentums Kontur, die bei Cohen schon selbstverständlich geworden war – in doppelter Repräsentanz. Es zeigt sich paradig12 Graetz, Geschichte der Juden, Bd. 11, 582; Cohen, Ein Bekenntniß in der Judenfrage, zit. nach Der »Berliner Antisemitismusstreit« 1879–1881, 358 f. Im Verlauf der Auseinandersetzung verteidigte sich Graetz gegen den Angriff Treitschkes auch dahingehend, dass seine Hoffnung auf Anerkennung des Judentums nicht den nationalen Gedanken verfolge. So heißt es in seiner zweiten und letzten Antwort auf Treitschke: »Sie aber imputiren mir, als spräche ich von jüdischer Nationalität, als wollte ich diese anerkannt wissen. Ist Judenthum mit Nationalität identisch?« Vgl. Graetz, Mein letztes Wort an Professor von Treitschke, zit. nach Der »Berliner Antisemitismusstreit« 1879–1881, 191 (Hervorhebung im Original). 13 Cohen, Zur Jahrhundertfeier unseres Graetz, 549. 14 Ebd. 15 Ebd. 16 Die Emblematik des Nähe-Distanz-Verhältnisses betont entsprechend auch David N. Myers in dem Kapitel Hermann Cohen and the Problem of History at the Fin de Siècle. Vgl. ders., Resisting History, 35–67, hier 55–57.

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matisch sowohl die Verbreitung des philosophischen Fortschrittsdenkens mit seinen Implikationen als auch das Konflikthafte dieser Dynamiken, das Ringen um den Status der sakralen Quellen. Obschon Cohen mit der Zukunftsvorstellung von Graetz nicht übereinstimmte, verwies er in seiner Retrospektion darauf, dass sich erst während der Lebenszeit des Historikers »die Geschichte« in ihrer umfassenden Semantik herausgebildet hatte. Im Rückblick auf Graetz werden so Ausprägung und Tiefendimension der geschichtlichen Wissensordnung sichtbar, in der Cohen selbst sein Denken entfaltete.

Neue Fragen Die Wissenschaft des Judentums bildete sich angesichts der seit der Aufklärung andrängenden Fragen der Zeit heraus. In Korrespondenz mit der Reformbewegung des beginnenden 19. Jahrhunderts, die Ritus und Observanz mit Blick auf christliche Praktiken befragte, suchte diese Denkströmung – bei beträchtlicher Uneinigkeit  – das Judentum geschichtlich zu verstehen und darin dessen Anerkennung vonseiten der christlichen Umwelt einzufordern.17 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden demgegenüber allerdings auch Strömungen im Judentum, die sich der Erhaltung der Tradition verschrieben. So formierte sich die »Orthodoxie« in Abgrenzung zur Reformbewegung. Während die traditionelle Orthodoxie sich der Moderne insgesamt versperrte, stellte sich die Neo-Orthodoxie dem Neuen, indem sie die sakralen Quellen gegen die historische Interpretation abriegelte.18 Einen frühen Ausdruck fand die neo-orthodoxe Position in Hirsch. Sein – an den deutschen Idealismus gemahnendes – Ziel war ein: »sich selbst begreifendes Judentum«.19 Er vertrat das Prinzip tora im derekh erez , das sich sowohl auf die Notwendigkeit orthodox interpretierter jüdischer˙Lehre als auch auf die weltlicher Bildung richtete.20 So galten dessen Gedanken, neben den Quellen der jüdischen Tradition, vor allem der Philosophie Kants wie auch den Schriften Goethes und Schillers.21 Bevor sich Graetz der Wissen17 Vgl. dazu u. a. Meyer, Die Anfänge des modernen Judentums; ders., Antwort auf die Moderne; Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland. 18 Zur Geschichte der Neo-Orthodoxie im 19. Jahrhundert vgl. Liberles, Religious Conflict in Social Context; Morgenstern, Von Frankfurt nach Jerusalem. 19 Hirsch (Ben Usiel), Neunzehn Briefe über Judenthum, 100. 20 Die Formel ist dem talmudischen Traktat Pirke Avot entnommen. Vgl. Morgenstern, Art. »Neo-Orthodoxie«, 341. 21 Insgesamt zu Leben und Werk von Hirsch vgl. Tasch, Samson Raphael Hirsch. Zu diesem Punkt wie auch zu der Forschungsdiskussion um die verschiedenen Prägungen von Hirsch vgl. ebd., 15.

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schaft des Judentums zuwandte und die Reflexion der Geschichte auch auf das Judentum ausdehnte, beschritt er den Weg der Neo-Orthodoxie. Graetz’ Kindheit war von einer jüdischen Umwelt in Posen geprägt, bereits als Heranwachsender sah er sich von den Veränderungen seiner Zeit herausgefordert. Mit 13 Jahren schickten ihn seine Eltern zur Talmudschule nach Wollstein und mit 16 Jahren begann er ein Tagebuch zu führen, dem er seine Erfahrungen, Sorgen und Hoffnungen anvertraute.22 Darin verdeutlicht sich eine Spannung zwischen dem erwarteten Lernen und einem regen Interesse an aufgeklärtem Wissen, die Graetz bereits in frühen Jahren begleitete. Er zweifelte in seiner Adoleszenz im Allgemeinen an dem Sinn seines Tuns und im Speziellen an der Verbindlichkeit des Talmuds. Diese frühen Jahre waren der Anfang einer langen Zeit der Entbehrungen, der Zukunftsängste und auch der Erwartungen. So begleiteten ihn bereits in seiner Zeit in Wollstein Sorgen um Obdach, Essen und Kleidung – Sorgen, die er erst Mitte der 1850er Jahre vollends hinter sich lassen konnte. Im Frühjahr 1836 spielte Graetz mit dem Gedanken, den ersten Ort des Lernens zu verlassen, und nahm dies zum Anlass, sowohl über seine eigenen Pläne als auch über den Talmud zu sinnieren. »Zu dieser Zeit ging eine Veränderung in meinem Gemüthe vor, die ich ewig bei mir zu bleiben wünsche«,23 hielt er zu Pessach in seinem Tagebuch fest. »Schon eine geraume Zeit, seitdem ich die Philosophie, die Geschichte, verschiedene Religionen samt ihren Entfernungen von den Absichten ihres Stifters kennen gelernt, da empörten mich nicht allein verschiedene Stellen in der Tauro.«24 Nicht so sehr diese selbst waren der Stein des Anstoßes für Graetz, sondern vielmehr die religiöse Praxis in seiner Umgebung, so zeigte er sich befremdet davon, wie seine »Religionsgenossen die Gesetze und die ganze Tauroh halten«.25 Und er pointierte an gleicher Stelle: »Nur diese [Weise] machte mich dem Talmud, den ich bald für nichtnützende Spitzfindigkeiten, Sophistereien, bald für die Vernunft schärfende Mittel angesehen, abgeneigt.«26 Von Reform wollte der junge Graetz allerdings nichts wissen. So heißt es in dem Tagebucheintrag weiterhin, dass eine »Reform, d. h. die Auslassung einiger mit dem ganzen verflochtenen Gesetze, das ganze Gesetz aufheben würde«.27 Anschließend erwähnte er erstmals Samson Raphael Hirsch: »Wie angenehm mußte mir also ein neues Buch, […] Neunzehn Briefe über Judenthum, seyn, worin ich 22 Vgl. Michael, Anmerkung 1 zu »Erstes Heft«, in: Graetz, Tagebuch und Briefe, 1. Zum Tagebuch allgemein vgl. auch den kommentierten Vorabdruck: Michael, The Unknown Heinrich Graetz. 23 Graetz, Tagebucheintrag vom April 1836, zit. nach ders., Tagebuch und Briefe, 15 f., hier 15. 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Ebd. 27 Ebd.

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eine noch nie gehörte und geahnte Idee des Judenthums mit überzeugenden Argumenten, wie dieses die beste Religion und zum Heile des Menschen nothwendig ist, fand.«28 Hirsch setzte im Gegensatz zur Reformbewegung das Judentum und die moderne Welt in ein zwar separates, aber dennoch notwendiges Verhältnis zueinander und suchte damit die Fragen seiner eigenen Zeit einzufangen – ein Ansatz, der für den jungen Graetz zunächst als eine Antwort auf die Problemstellung seines fragilen Selbstverständnisses im Angesicht der anbrandenden Moderne erschien. »[S]o abtrünnig ich dem Talmud vorher gewesen, so söhnte mich dieses Buch mit ihm aus«, hielt er entsprechend in seinem Tagebuch fest.29 Die von Graetz gewürdigte Schrift, Neunzehn Briefe, hatte Hirsch unter dem Pseudonym Ben Usiel 1836 herausgegeben. Er setzte sich darin mit dem geschichtsphilosophischen Kern der neuen Zeit auseinander und suchte dessen Verhältnis zum Judentum zu bestimmen. Die Erstlingsschrift war als fiktiver Briefwechsel konzipiert. Es korrespondieren darin Benjamin, der Zweifler, der die Fragen seiner Gegenwart an das Judentum heranträgt, und Naphtali, der Gottesfürchtige, der diese beantwortet. Als Ausgangspunkt hatte Hirsch bezeichnenderweise die Frage nach der Bestimmung des Menschen gewählt, um von hier aus die Gültigkeit der jüdischen Lehre in der Moderne festzulegen. Im zweiten Brief, der zugleich das erste Antwortschreiben ist, formulierte er im Namen Naphtalis einen »Eintritt in die Geschichte«, sah aber die Beantwortung der geschichtsphilosophisch interpretierbaren Formel in den sakralen Quellen.30 Demnach sei das Judentum zwar in die Geschichte eingetreten, vermittels der göttlichen Offenbarung aber eben nicht vollends den Bewegungen der Weltgeschichte unterworfen. So müsse auf der einen Seite der höchste Zweck im Judentum immer Gottes Wille bleiben, denn »durch dieses Volkes Geschick und That [werde] die Lehre über Gott und Menschenberuf unmittelbar zur Anschauung gebracht«; und auf der anderen Seite schloss er an: »zu der auf anderem Wege mittelbar durch Geschichtserfahrung die Menschheit heranerzogen werden soll«.31 Hirsch unterstrich aber in dem Text Neunzehn Briefe, dass im Judentum die »Stimmen« des Anfangs gehört werden müssten, »die dieses Volkes Bestimmung [anzeigten], für die und zu der es eintrat in die Geschichte, und mit ihr sein Geschick«.32 Dies war keine Abwehr der Verhandlung jüdischer Geschichte allgemein. Aber die als von Gott gegeben betrachteten Quellen sollten für Hirsch nicht zum Gegenstand historischer Untersuchung werden, sondern 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Hirsch (Ben Usiel), Neunzehn Briefe über Judenthum, 7. 31 Ebd., 36. 32 Ebd.

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ihre uneingeschränkte wie unhinterfragbare Gültigkeit bewahren.33 Die Neunzehn Briefe beeindruckten Graetz so sehr, dass er 1837 nach Oldenburg ging – drei Jahre lernte er bei Hirsch. Kurz bevor Graetz sich auf den Weg zu dem Denker der Neo-Orthodoxie begab, besuchte er zum ersten Mal einen christlichen Gottesdienst, »um den Unterschied zwischen unserem Kultus und dem christlichen zu sehen. Die Orgelmusik betäubte mich anfangs und stimmte mich zur Andacht, weil es mir neu war, aber da dieses lange ohne Unterbrechung fortdauerte, war es mir gleichgültig.«34 Von der Predigt fühlte er sich auch nicht sonderlich angesprochen und er zeigte sich irritiert ob des Verhaltens des Pfarrers: »[A]ls wenn die Geistlichen erhaben über das Menschseyn, über die Sterblichkeit wären, und nur da seyn, um wie eine Gottheit seine Gemeinde zu beglücken.«35 Der christliche Ritus sagte ihm insgesamt nicht zu – eine Distanz, die nicht erst von Hirsch angestoßen werden musste und die mit seiner kritischen Haltung gegenüber der Reformbewegung korrelierte, die sich an ebenjenen Ritus anlehnte. Noch im hohen Alter war die Adaption christ­licher Bräuche der Stein des Anstoßes seiner Kritik an der Reformbewegung.36 Graetz’ ablehnende Position traf in Oldenburg allerdings auf fruchtbaren Boden. Zwei Jahre nach den Neunzehn Briefen veröffentlichte Hirsch eine Folgeschrift mit dem Titel Erste Mittheilungen aus Naphtali’s Briefwechsel. Graetz beurteilte am 31. Juli 1837 in seinem Tagebuch sowohl die Schnelligkeit der Verschriftlichung als auch die Stoßrichtung der Schrift als bemerkenswert: »Daran ist drei Wochen geschrieben worden. Was dies Buch für Sensation wohl machen wird. Je suis très curieux. Die Reformatoren werden darin ganz hart angegangen, wozu sie unmöglich schweigen können.«37 Der Denker der Neo-Orthodoxie wandte sich mit diesem Text erneut und expliziter gegen die intellektuelle Resonanz von Reformbestrebungen, gegen die Nachahmung anderer Wissenschaften und namentlich insbesondere gegen den Reformer Abraham Geiger, der auch für Graetz zu einem zentralen Kontrahenten wurde.38 33 Die Ausführungen zu Neunzehn Briefe finden sich auch in Sauter, Weltwende, 338 f. 34 Graetz, Tagebucheintrag vom 20. Februar 1837, zit. nach ders., Tagebuch und Briefe, 31 f., hier 31. 35 Ebd. 36 Zur Orientierung am christlichen Ritus in der Reformbewegung vgl. u. a. Meyer, Jüdische Gemeinden im Übergang, hier 125–134. Zur Umgestaltung und dem Bedeutungswandel der Synagogen vgl. Knufinke / Keßler, Art. »Synagoge«, 624–626. 37 Graetz, Tagebucheintrag vom 16. Juni 1844, zit. nach ders., Tagebuch und Briefe, 62. 38 Hirsch (Ben Usiel), Erste Mittheilungen aus Naphtali’s Briefwechsel, etwa 1–13. So drohte Graetz in seinem Tagebuch im Juni 1843 – zu einem Zeitpunkt, an dem er bereits Abschied von Hirsch genommen hatte: »Ihr [Geiger und seine Anhänger] sollt euch noch mehr über mich ärgern. Mein ganzes Leben, meine Kraft sollen dem Judenthum und der Wahrheit

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Hirsch insinuierte wieder in Form eines fiktiven Briefdialogs im Namen Naphtalis – der Empfänger der Briefe heißt nun Simeon –, dass der Morgen anbrechen solle, »wo man endlich der vergeblichen Versuche müde sein wird, das Judenthum mit ihm fremdartigen Elementen zu vermählen«.39 Mit dieser Kritik auch am Wirken der Wissenschaft des Judentums verband Hirsch seine eigene Programmatik, indem er die ersehnte Zukunft beschrieb: »[W]o man es zuerst in der Wissenschaft wagen wird, Jude zu seyn, d. h. unbekümmert um die Richtungen der Zeit, das Judenthum aus allen seinen Elementen, unverkürzt, geistig aufzubauen […] und man wird wieder anfangen im Leben Jude zu seyn, nachdem man es in der Wissenschaft wieder geworden.«40 Aus diesen wenigen Worten ließ sich trotz Gegnerschaft durchaus auch eine gewisse Offenheit einer Wissenschaft des Judentums gegenüber ableiten, die es nur richtig zu interpretieren gelte. Die Schrift dürfte neben der Kritik an der Reform auch Graetz’ Streben nach einem bewussten jüdischen Selbstverständnis wie seiner bereits vorhandenen Affinität zur Wissenschaft entsprochen haben. In jenen Jahren versuchte er auch selbst in die publizistische Öffentlichkeit zu treten und schickte verschiedene Artikel und Besprechungen an Ludwig Philippson, den Herausgeber der seit dem Frühjahr 1837 erscheinenden Allgemeinen Zeitung des Judentums. Soweit nachvollziehbar, wurden die eingesandten Texte allerdings zumeist nicht angenommen.41 Unter diesen Einsendungen befand sich wohl im Herbst 1839 auch eine Kritik an Isaak Markus Josts Geschichtsschreibung.42 Dieser hatte ein halbes Jahr zuvor die 1837 erschienene Schrift Chorew. Versuche über ­Jissroëls Pflichten in der Zerstreuung, zunächst für Jissroëls denkende Jünglinge und Jungfrauen von Hirsch kritisch besprochen; und Graetz, der Chorew selbst noch vor der Drucklegung hatte lesen dürfen, fühlte sich wohl auch berufen, geweiht seyn, die Falschen sollen zu zittern haben vor mir.« Ders., Tagebucheintrag vom 16. Juni 1844, zit. nach ders., Tagebuch und Briefe, 132 f., hier 132. Zu Abraham Geiger vgl. u. a. Wiese, Einführung, XXIII–XXXIV; Meyer, Abraham Geiger – Der Mensch. 39 Hirsch (Ben Usiel), Erste Mittheilungen aus Naphtali’s Briefwechsel, 75. 40 Ebd. (Hervorhebung im Original). 41 In der von Markus Brann zusammengestellten Übersicht zu den Schriften von Heinrich Graetz findet sich nur ein Artikel, der vor 1843 veröffentlicht wurde und der eindeutig Graetz zugeordnet werden konnte. Vgl. Brann, Verzeichnis von H. Graetzens Schriften und Abhandlungen, 125. 42 Die Hauptwerke von Jost sind die neunbändige Geschichte der Israeliten seit der Zeit der Maccabäer bis auf unsere Tage und die danach verfasste Allgemeine Geschichte des israe­ litischen Volkes. Vgl. ders., Geschichte der Israeliten seit der Zeit der Maccabäer bis auf unsere Tage; ders., Allgemeine Geschichte des israelitischen Volkes, sowohl seines zweimaligen Staatslebens als auch der zerstreuten Gemeinden und Secten, bis in die neuste Zeit. Vgl. dazu auch Kessler, »Garrulous, Lamenting, Whiney, but Always Interesting«, 247–249.

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seinen Lehrer zu verteidigen, indem er das Werk des Kritikers anging.43 »Heute habe ich wieder etwas dem Philippson abgeschickt«,44 legte er in seinem Tagebuch nieder. »Kritiken gegen Josts Geschichte. Der hat gewaltige Böcke geschossen, und diese sollen nun auf die Jagd getrieben werden. Ob ers wohl aufnimmt? Es liegt mir sehr viel daran.«45 Auch in diesem Fall wurde Graetz’ Hoffnung auf eine Publikation des Textes nicht erfüllt. Dass Graetz 1840 aus Oldenburg wegging, war nicht auf Hirschs Ablehnung gegenüber der sich formierenden Wissenschaft des Judentums zurückzuführen, sondern hatte persönliche Gründe.46 Die gelehrte Öffentlichkeit blieb Graetz um 1840 noch weitgehend verschlossen; zeitweise sah er sich gar genötigt, als Hauslehrer tätig zu werden.47 Aber seinen nun eingeschlagenen Weg, der ihn letztlich nach Breslau führte, begriff er nicht als Umkehr, sondern als durchaus folgerichtig. So blieb Hirsch trotz kritischer Haltung für Graetz präsent, er half ihm sogar, eine Anstellung als Religionslehrer zu finden, und schrieb ihm ein Gutachten für die Bewerbung an der Universität Breslau. Am 27. Juli 1842 hielt Graetz in seinem Tagebuch fest: »Heute endlich habe ich mein Gesuch wegen Immatrikulation extra ordinem […] eingeschickt. Als Vorwort soll mir B. U. dienen.«48 Nach anfänglichen Schwierigkeiten mit der Anerkennung seiner bis dahin außerakademischen Bildung bekam er nunmehr die Möglichkeit, in Breslau zu studieren. In einem 1853 für die Bewerbung am – seinerzeit in Gründung begriffenen – Jüdisch-Theologischen Seminar verfassten Lebenslauf strich er die für seinen Werdegang entscheidenden Disziplinen im Studium heraus: »In den Jahren 1842–45 besuchte ich die königliche Universität zu Breslau, wo ich mich besonders auf Geschichtsstudien […], sowie auf die philosophischen Disziplinen im Umgange mit Herrn Professor Braniß verlegte.«49 In seinen Studienjahren setzte sich Graetz verstärkt mit der Stellung der Juden in Preußen auseinander. So publizierte er 1843 in Der Orient, einem Medium, das die Emanzipation der Juden zur zentralen Agenda hatte, einen Bericht zur »tausendjährige[n] Feier des deutschen Reiches in einigen Synagogen unseres preußischen Vaterlandes«, die in den Synagogen »gewisser43 Zumindest hielt er auch den Affront der Rezension in seinem Tagebuch fest: Graetz, Tagebucheintrag vom Ende März / Anfang April 1839, zit. nach ders., Tagebuch und Briefe, 68 f., hier 68. 44 Ders., Tagebucheintrag wahrscheinlich vom Herbst 1839, zit. nach ebd., 73. 45 Ebd. 46 Er dachte an seine berufliche Zukunft und hegte überdies eine Antipathie gegen die Ehefrau von Hirsch. Vgl. Graetz, Tagebucheintrag vom 1. Mai 1840, zit. nach ebd., 77 f., hier 78. 47 Vgl. dazu Pyka, Jüdische Identität bei Heinrich Graetz, 67 f. 48 Graetz, Tagebucheintrag vom 27. Juli 1842, zit. nach Tagebuch und Briefe, 121–123, hier 123. 49 Brann, Heinrich Graetz (Anhang), 344.

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maßen Befremden erregt« habe,50 gebe es doch – wie Graetz betonte – gerade keine »deutsche Einheit«.51 Seinen Ausführungen war eine Kritik des die Juden diskriminierenden preußischen Staats eingeschrieben und er schloss mit den emblematischen Fragen: »Wo ist die deutsche Gesetzgebung, die uns als ebenbürtig ansieht, wo sind auch nur die Menschenrechte, die wir errungen, wenn ich auch von dem Rechte eines freien Deutschen nicht sprechen will?«52 Zwei Jahre nach diesen programmatischen Fragen beendete Graetz sein Studium mit einer Dissertation über Gnostizismus und Judenthum, konnte diese jedoch nicht an der Universität Breslau einreichen, denn als Juden war es ihm dort untersagt, zu promovieren.53 Er reichte in Jena ein und hoffte zuerst darauf, die Leitung einer in Planung befindlichen konservativ geprägten Religionsschule in Breslau übernehmen zu können – dies scheiterte aufgrund von differenten Gehaltsvorstellungen.54 Seine 1846 veröffentlichte Dissertation widmete er seinem ehemaligen Mentor Hirsch, den er darin als »geistvollen Kämpfer für das geschichtliche Judenthum« bezeichnete.55 Graetz attestierte ihm also noch einen Kampf für das geschichtliche Judentum, aber dies war  – soweit nachvollziehbar  – eine der letzten wertschätzenden Äußerungen über den Denker der Neo-Orthodoxie von Graetz. Letztlich war es die Historisierung der sakral aufgefassten Quellen, die den Bruch mit Hirsch besiegelte. Mit seinen Studien wandte sich Graetz fortan nicht nur der Wissenschaft zu, sondern auch einer konservativen Interpretation des Judentums, wie Zacharias Frankel sie vertrat.56

Eine Philosophie der Geschichte Im Sommer 1842 beschrieb Graetz eine Alltagsbegebenheit in seinem Tagebuch, in der sich seine Reflexion auf Geschichte synthetisierte. »Wie das Rad des Schicksals so kömmt mir so ein Postwagen vor«,57 setzte er seinen Gedankengang an. Er selbst habe in einem solchen gesessen, zwischen einer 50 [Graetz], Breslau, 25. August, 284. 51 Ebd. 52 Ebd., 285. 53 Brann, Heinrich Graetz (Anhang), 344. Heinrich Graetz kritisierte diese Praxis, Juden von preußischen universitären Laufbahnen fernzuhalten, auch 1844 in Der Orient: [ders.], Bericht über die Gratulation der hiesigen Universität an die Königsberger, 307. 54 Vgl. dazu Pyka, Jüdische Identität bei Heinrich Graetz, 164 f. 55 Grätz, Gnostizismus und Judenthum, 3. Ismar Schorsch weist darauf hin, dass sich bereits in den Schlussbemerkungen der Dissertation von Graetz der Anklang hegelscher Topoi findet. Vgl. Grätz, ebd., 131; Schorsch, From Text to Context, 282. 56 Zum Verständnis des konservativen Judentums von Frankel vgl. u. a. Brämer, The Dilemmas of Moderate Reform. 57 Graetz, Tagebucheintrag vom Juni 1842, zit. nach ders., Tagebuch und Briefe, 118 f., hier 118.

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Frau, »die im Begriff war den Schleier zu nehmen, und einem leicht erleuchteten Lutheraner, einem preußischen Beamten, der weiter keine Tugenden (hat) als die, für sein Gehalt dem König zu dienen«.58 Retrospektiv sah Graetz in dieser Szenerie Judentum, Katholizismus und Protestantismus repräsentiert: »[I]ch ein Sohn Zions zwischen einer Nonne und einem Offizianten!«59 Und gerade in dieser Zusammenstellung versinnbildlichte er »die drei Perioden der Geschichte«.60 Er selbst begriff sich als ein »Reliquium« des »grauen Alterthums«, die »Frau mit den eingefallenen Augen und dürren Händen« stand für die katholische Kirche  – und damit für das christlich dominierte Mittelalter. Und der Beamte war demnach Vertreter der Reformation und der Neuzeit. »Jetzt lebt Pythagoras auf, die Zahl sitzt auf dem Thron«,61 brachte Graetz den protestantisch-bürokratischen Stil auf den Punkt. »Die Menschen werden gezählt, die menschlichen Tugenden werden gezählt, das Menschenherz ist nur noch ein bequemes Taschen-Ein-maleins.«62 Sie »alle drei« waren in Graetz Rückschau »modernisirt, alle drei durch den Strudel der Revolution und den Kühlofen der Polizei gezogen, versteinert und kalt«.63 Die Fahrt war auch in der Retrospektion bald an ihr Ende gekommen und Graetz entschloss sich im unmittelbaren Nachgang dazu, Hirsch um das Gutachten für seine Immatrikulation an der Universität in Breslau zu bitten.64 Neben der anklingenden Distanz zu der sich anbahnenden Moderne ist die Reflexion dieser Begebenheit bezeichnend, weil in ihr noch eine  – auch im deutschen Idealismus vertretene  – Periodisierung der Geschichte vorgenommen wurde, in der die jüdische Geschichte als Relikt einer vergangenen Zeit begriffen wird. Bald darauf rekurrierte Graetz indes nicht mehr auf diese vorherrschende Geschichtsvorstellung, sondern ging auf die geschichtliche Stellung des Christentums nur noch in Bezug auf die jüdische Geschichte ein. Der christlich strukturierten geschichtlichen Fortschrittsidee setzte Graetz eine andere entgegen: die einer selbstbewussten jüdischen Geschichte. Korrelativ zu diesem Perspektivwechsel ließ Graetz zwei Jahre nach der besagten Fahrt mit dem Postwagen – nun bereits in Breslau eingelebt – den Aufstand der oberschlesischen Weber 1844 in Der Orient Revue passieren, den er in seinem Tagebuch als »neu aufgelegte Hep-Hep-Geschichte«

58 Ebd. 59 Ebd. 60 Ebd. 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Ebd. 64 Vgl. Graetz, Tagebucheintrag vom 12. Juli 1842, zit. nach ebd., 120 f.

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bezeichnete.65 Aufgrund von im Umfeld der »Miniatur-Revolte« verübter Übergriffe auf Juden stellte er den Zusammenhang einer publizistischen Öffentlichkeit,66 die einen Hass auf Juden schüre, und physischen Attacken her, wenn er schrieb: »Sie sehen, daß das Scheibeneinwerfen in jüdischen Häusern und die literarischen Angriffe gegen Juden größtentheils ein und das­ selbe geheime Motiv haben und daß hier die aufgestutzten und zugespitzten Phrasen das bedeuten, was dort die Steine thun.«67 In seinen persön­lichen Aufzeichnungen machte er nach der Veröffentlichung deutlich, dass er froh sei, »daß die Seitenhiebe, die ich der Christenheit versetzt habe, passirt sind und nicht an der Elephantenhaut der Zensur sitzen geblieben sind«.68 Graetz war sich der vorherrschenden feindseligen Haltung gegenüber Juden in seiner Zeit sehr bewusst. Nicht die Wertschätzung von außen, von der deutschen Historiografie, sondern die von innen, von Gelehrten der Wissenschaft des Judentums, wurde für ihn entsprechend zur maßgeblichen Größe. Im Verlauf des Jahres 1846 publizierte Graetz eine Artikelserie unter dem programmatischen Titel Die Construction der jüdischen Geschichte. Eine Skizze.69 Darin nahm Ben Usiel, wie er seinen einstigen Lehrer mitunter noch zu nennen pflegte, mit dessen Auffassung des Judentums nunmehr einen Platz unter vielen ein, die auf die Frage: »Was ist Judentum?« geantwortet hätten. Die anderen Genannten sind Salomon Ludwig Steinheim, der an Kant geschult war, ferner der der rationalistischen Philosophie zugeneigte Schriftsteller Isaak Mieses und ausgerechnet auch der radikale Reformer und Hegelianer Samuel Hirsch, die allesamt ihre Wirkung in der Mitte des Jahrhunderts entfalteten.70 Deren einzelne neuere Beiträge zum Verständnis des Judentums in der Moderne hatten für Graetz zwar einen Anteil an der Wahrheit, bedürften aber einer Synthese, die er mit der Skizze vermittels einer geschichtsphilosophischen Antwort vorzulegen suchte. Im März 1846 wurde der erste von vier Teilen in der von Frankel herausgegebenen Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judentums veröffentlicht. Wie im Nachwort zum (erstmaligen) Wiederabdruck des Textes im Schocken Verlag 1936 von Ludwig Feuchtwanger herausgestrichen wurde, war die Wahl dieses Mediums für Graetz in diesen Jahren bezeichnend. Die

65 Ders., Tagebucheintrag vom 5. Juli 1844, zit. nach ebd., 133 f., hier 133. 66 Ebd. 67 [Graetz,] Die oberschlesischen Weber und die Juden, 214 (Hervorhebung im Original). Eine Übersicht der »Hep-Hep-Unruhen« des Jahres 1819 gibt Jersch-Wenzel, Rechtslage und Emanzipation, 43–45. 68 Graetz, Tagebucheintrag vom 5. Juli 1844, zit. nach ders., Tagebuch und Briefe, 133. 69 Ders., Die Construction der jüdischen Geschichte. Im Folgenden zit. nach dem ersten Wiederabdruck: ders., Die Konstruktion der jüdischen Geschichte. 70 Vgl. ebd., 5 f.

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seit 1844 erscheinende Zeitschrift hatte es sich zum Ziel gesetzt, »die Lösung der Frage, wie nicht aus einer zerstörenden, niederreißenden Reform, sondern aus der Lehre des Judentums selbst die Fortentwicklung desselben hervorgehen müsse, zum Bewußtsein zu bringen«.71 Das Medium sollte also einem Judentum förderlich sein, das aus sich selbst heraus historische Entwicklung ermögliche, und situierte sich damit zwischen Reform und Orthodoxie. Bereits nach dem dritten Jahrgang, in dem auch Graetz’ Die Construction der jüdischen Geschichte erschien, gab Frankel das Unterfangen auf, eine einheitliche konservative Strömung in die allgemeine jüdische Öffentlichkeit zu tragen, konzentrierte sich stattdessen auf die Wissenschaft und gründete 1851 die Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, die wenige Jahre später zum Medium des Jüdisch-Theologischen Seminars avancierte. Fast neunzig Jahre wurde darin die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Judentum abgebildet und befördert.72 Graetz war Frankels Einstellung zum Judentum Mitte der 1840er Jahre bereits zugeneigter als der Neo-Orthodoxie und wählte einen ähnlichen Weg wie der neue Förderer, so wurde er 1854 Dozent am Seminar und übernahm 1869 die Redaktion der Monatsschrift.73 Mit der Schrift Die Construction der jüdischen Geschichte wollte Graetz eine geschichtliche Entwicklung aufzeigen, die sich nach innen gegen Bestrebungen wandte, das Judentum auf eine »Kirche« mit »Glaubensbekenntnis« zu reduzieren, und die Gültigkeit des Talmud rechtfertigt – allerdings bereits in geschichtlicher Funktion.74 Nach außen war sie im Allgemeinen gegen die christliche Geschichtsschreibung, die dem Judentum, in den Worten von Graetz, seit dem Verlust »seiner staatlichen Selbständigkeit […] alle Geschichte im höheren Sinn des Wortes rein ab[spricht]«75 gerichtet, sowie im Speziellen gegen die von Hegel aufgebrachte und von dessen Schüler – Graetz ehemaligem Dozenten – Christlieb Julius Braniß zwar in Teilen relativierte, aber im Gros weiterverfolgte privative Einschätzung jüdischer Geschichte als Präludium der christlichen im Rahmen weltgeschichtlicher Entwicklung.76 Graetz ging es also 1846 insgesamt darum, der jüdischen Geschichte »ihr Recht zu vindizieren«.77 Vermittels Braniß hinterließ Hegel – trotz des Versuchs der Abgrenzung – im Denken von Graetz seine Spuren. Mit der 71 Zit. nach Feuchtwanger, Zur Geschichtstheorie des jungen Graetz von 1846, 97. 72 Die letzte Ausgabe der Monatsschrift ist auf 1939 datiert: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 83 (1939), H. 1. 73 Vgl. dazu Pyka, Jüdische Identität bei Heinrich Graetz, 205. 74 Graetz, Die Konstruktion der jüdischen Geschichte, 18. Vgl. dazu u. a. Kurz, Eine jüdische Geschichte konstruieren. 75 Graetz, Die Konstruktion der jüdischen Geschichte, 49. 76 Vgl. ebd., 93–95. 77 Ebd., 49.

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Skizze wollte Graetz doppelt Anerkennung erreichen. Sie postuliert einerseits eine geschichtliche Synthese der verschiedenen Versuche, das Judentum mit der neuen Zeit ins Verhältnis zu setzen, durch die andererseits die Fortentwicklung jüdischer Geschichte legitimierend nachvollzogen wird. Im Zentrum steht eine Idee des Judentums, die in der Geschichte Entfaltung findet. »Die Totalität des Judentums aber ist nur in seiner Geschichte erkennbar; in der Geschichte muß sich sein ganzes Wesen, die Summe seiner Kräfte explizieren,« stellte Graetz nachgerade apodiktisch fest.78 Aber die Geschichte selbst sei demnach zugleich nur Medium: »Denn die Geschichte zeitigt eben nur die Keime der Idee, und die Mannigfaltigkeit der Formen, in denen sich die Geschichte gefällt, sind eben nur konkret gewordene Momente der Idee.«79 Nur konsequent verortete Graetz damit seine Konstruktion explizit im Umfeld der – in seinen Worten – »noch jungen Wissenschaft: Philosophie der Geschichte«.80 Analog zu Hirsch in den Neunzehn Briefen formulierte auch Graetz einen »Eintritt in die Geschichte«, aber im Gegensatz zu seinem ehemaligen Lehrer war dieser Eintritt nicht dem beständigen Lernen verpflichtet, sondern nur der Anfang einer Entwicklung – für den Jüngeren war das Judentum »keine Religion der Gegenwart, sondern eine der Zukunft«.81 Darin zeigte sich nicht zuletzt auch die Wirkung der Fortschrittsidee im Reflexionsbereich der jüdischen Geschichte an. Graetz sah sowohl ein politisches Moment als auch ein religiöses in der Grundidee des Judentums angelegt, sodass er das Telos einer Staatsverfassung in dieser genauso situieren konnte wie eben die Notwendigkeit des Religiösen.82 Für Graetz war das Judentum aber zuerst »als Negation« in die Welt getreten und die zugehörige Aufgabe sei es, dieses vermittels der beiden Motive positiv zu bestätigen.83 Die an Hegel angelehnte Denkfigur wird auffälligerweise mit dem Begriff des Protestantismus konturiert, wenn es weiterhin heißt: das Judentum »negiert das Heidentum, es tritt gleichsam als Protestantismus auf«.84 Den Topos wollte Graetz aber nicht mit der historischen Reformation in Verbindung gesetzt wissen, sondern er verstand das Motiv der Negation – versinnbildlicht als Protestantismus – abstrakt als Geist, der im Gegensatz zum Körper stehe, auf den das Heidentum zentriert sei. Mit dieser Denkfigur knüpfte Graetz an Braniß an, der im Gegensatz

78 Ebd., 8. 79 Ebd., 9. 80 Ebd. 81 Ebd., 18. 82 Vgl. ebd., 15. 83 Ebd., 10 und 15. 84 Ebd., 10.

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zu Hegel den Unterschied von Heidentum und Judentum betonte.85 Graetz wollte seinem ehemaligen Philosophiedozenten aber gerade nicht darin folgen, das Christentum als Synthese von Heidentum und Judentum zu sehen.86 Der Protestantismus als spezifisches, historisches Phänomen wurde in der Skizze schlichtweg nicht thematisiert, aber die christlich geprägte Geschichtsschreibung war eine der entscheidenden Antipoden der Argumentation. Graetz versuchte jedoch, die jüdische Geschichte in einen systematischen Zusammenhang zu bringen, und band sich damit – obwohl er sich von der hegemonialen Geschichtsschreibung explizit abgrenzte – nicht zuletzt auch an christliche Präfigurationen in ihrer säkularisierten Form von Geschichtsphilosophie. Das Judentum verblieb für Graetz so nicht auf der einen Seite der Dichotomie von Geist und Körper, sondern es entfaltete seine Idee im Geschichtsverlauf. Er konstruierte dem Titel entsprechend die jüdische Geschichte anhand der Gottesidee als Grundbegriff, die sich in drei Perioden mit je drei Phasen und unterschiedlichen Ausformungen der konkreten Momente dieser Idee entfalte. Die erste Periode sei demnach der Zeitraum vor dem babylonischen Exil, in dem ein politischer Charakter vorherrschend gewesen sei, die zweite sah er in der nachexilischen Zeit, die sich durch ein Primat des Religiösen auszeichne; und durch den Verlauf der dritten Periode, den 17 Jahrhunderten der Zerstreuung – wie er herausstellte –, sei das Judentum im Begriff, Wissenschaft zu werden. Die Gültigkeit der jüdischen Lehre in dieser letzten Periode konnte für Graetz dadurch aufrechterhalten werden, dass in der Zerstreuung die Einheit des Judentums durch den »Talmudismus«  – eine für das 19. Jahrhundert signifikante Begriffskonstruktion  – gewahrt wurde.87 Die Grundstruktur jüdischer Geschichte sah Graetz also in einer Abfolge von zuerst politischer und dann religiöser Ausprägung der Idee in der Geschichte, deren dritte Periode demnach zu einer Synthese der ersten beiden führen solle. So schloss er die Skizze mit der religiösen Staatsidee als Telos, zog aber zuerst im hegelschen Bild die Manifestationen zusammen: »Und da sich diese drei Momente [das Politisch-Soziale, das Religiöse und das Theoretisch-Philosophische] geschichtlich ausgeprägt haben, so müssen sie in der ursprünglichen Idee des Judentums, wie der Baum im Pflanzenkeime, gelegen haben.«88 Aus dieser Denkfigur destillierte Graetz sodann in geschichtsphilosophischer Manier das Telos einer religiösen Staatsverfassung: »[E]s stellt sich nach dieser historischen Ansicht heraus, daß es die Aufgabe der judentümlichen Gottesidee zu sein scheint, 85 Vgl. dazu Pyka, Jüdische Identität bei Heinrich Graetz, 152 f. 86 Vgl. dazu ebd., 153. 87 Graetz, Die Konstruktion der jüdischen Geschichte, 52. 88 Ebd., 96.

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eine religiöse Staatsverfassung zu organisieren, die sich ihrer Tätigkeit, ihres Zweckes und ihres Zusammenhanges mit dem Weltganzen bewußt ist.«89 Obwohl mit der Skizze  – gleichwohl geschichtsphilosophisch interpretiert – in der Wahrnehmung von Graetz nicht zuletzt auch die Agenda der Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judentums befördert werden sollte, stellte Frankel dem Text im Frühjahr 1846 eine Distanzierung der Redaktion anbei, aus der hervorgeht, dass er den Artikel recht kritisch betrachtete und sich genötigt sah, den Abdruck zu kommentieren. »Auch das Divergierende, so es nicht in directem Widerspruche mit dem Vorwort des Blattes steht, muß hier seinen Platz finden«, heißt es in einer Fußnote, die direkt hinter den Namen des Verfassers gesetzt ist. Und Frankel schrieb weiterhin: »Doch darf sich auch die Redaction gestatten, manchen Stellen, die direct oder indirect einen Angriff gegen die vorgesetzte Tendenz enthalten, eine Anmerkung anzufügen: Es ist dieses eine Selbstvertheidigung.«90 Denn der Herausgeber hatte eine weitere Fußnote im Text gesetzt, in der er auf knapp zwei Seiten ausführte, dass Graetz das monotheistische Prinzip fälschlicherweise nur als Folge der Grundidee im Judentum darstelle.91 Damit machte Frankel die Grundausrichtung der Skizze zum Problem, nicht jedoch, weil sie geschichtsphilosophisch konstruiert war, sondern weil in ihr kein Primat des monotheistischen Prinzips vertreten wurde. Graetz ging es aber gerade auch um eine dezidierte Abgrenzung vom Christentum, die durch ein solches gemeinsames Prinzip als Grundlage verwischt worden wäre. Trotz der kritischen Haltung der Redaktion wurden auch die nächsten Teile des Textes im Verlauf des Jahres 1846 publiziert.92 Während der erste Teil der Skizze mit der Anmerkung »Schluß folgt« versehen war und der zweite bereits im April 1846 mit dem Zusatz »Schluß« veröffentlicht wurde, folgten noch ein dritter und ein vierter Teil als »Zweiter Artikel« im Oktober und November des Jahres.93 Der letztendliche, im Herbst veröffentlichte Schluss der Skizze 89 Ebd. 90 Frankel, Fußnote zu »Die Construction der jüdischen Geschichte«, in: Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judentums 3 (1846), H. 3, 81. 91 Ebd., 89 f. Zu Frankels Fußnoten vgl. u. a. Pyka, Jüdische Identität bei Heinrich Graetz, 143 f.; mit Blick auf Cohen vgl. Krone, Wissenschaft in Öffentlichkeit, 215 f. 92 Graetz hatte zum Ende des ersten Artikels, in dessen zweitem Teil, angekündigt, dass die Skizze mit Fokus auf die dritte Periode »näher entwickelt werden« solle, wenn diese denn auf Anklang stoße. Ders., Die Construction der jüdischen Geschichte (Schluß), 132. 93 Der zweite Artikel vom Herbst 1846 beginnt mit der expliziten Abgrenzung gegen christliche Geschichtsschreibung, die dem Judentum eine Geschichte im engeren Sinn abspreche, und widmet sich der dritten Periode jüdischer Geschichte. Pyka stellt einen Hiatus zwischen den im Frühjahr und den im Herbst veröffentlichten Teilen heraus. Während der erste, im Frühjahr veröffentlichte Artikel in der zugrunde liegenden Struktur noch stärker am Denken von Braniß orientiert gewesen sei, entfalte Graetz im zweiten, im Herbst veröffentlichten Artikel eine eigene Vorstellung. Hegel und Braniß wurden tat-

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ist mit einer weiteren, an den letzten Satz gefügten Fußnote Frankels versehen. »Wir freuen uns, daß der Verf. im Wesentlichen mit unserer Ansicht übereinstimmt«, heißt es nun mit Verweis auf eine Nachschrift, die nicht abgedruckt werden konnte.94 Es war jene »judenthümliche Gottesidee«, die sich »ihres Zusammenhanges mit dem Weltganzen bewußt« sei, die eine Annäherung an Frankels Monotheismus darstellte. Darin war die interpretative Möglichkeit einer terminologischen Versöhnung von partikularem und universalem Anspruch angelegt, die Cohen 1917 in einer zweiten Würdigung zum 100. Geburts­tag des »verewigten Lehrers« vornahm.95 Cohen ging es jedoch – im Gegensatz zu Graetz – um eine dezidiert universalistische Sicht auf jüdische Geschich­te. Graetz richtete sein Augenmerk weitgehend exklusiv auf die jüdische Geschichte, was sich erst im von der Redaktion positiv hervorgehobenen Schluss der Skizze relativierte. Ob oder inwieweit Graetz damit die Ausrichtung seiner Skizze im Publikationsprozess veränderte, ist nicht nachvollziehbar, da seine Reaktion auf die Kritik nicht öffentlich gemacht wurde. Aber gerade der Schluss wurde für Cohen siebzig Jahre später zu einem Ansatz, seinen eigenen Erwartungshorizont darzulegen, wenn er explizierte: »Die monotheistische Gottesidee hat die Aufgabe, eine religiöse Staatsverfassung zu organisieren als Weltorganisation, d. i. als die des Staatenbundes der nach der Idee des Messianismus sich entwickelnden Menschheit.«96 Während seine erste Würdigung im Herbst 1917 auf den Historiker und den Konflikt darüber reflektierte, ob das Judentum als partikulares Kollektiv oder als prophetische Religion zu begreifen sei, wurde der Dissens in der Frage nach der Geschichtsphilosophie schließlich eingeebnet. Dass Cohen sich 1917 in geschichtsphilosophischer Hinsicht wohlwollend auf Graetz bezog, war nicht selbstverständlich, sondern zeugte von einer Denkbewegung, die letztlich auch die Position des ehemaligen Lehrers in sächlich erst zum Schluss der Skizze explizit kritisiert und gegen die beiden Salomon Ludwig Steinheim, Samson Raphael Hirsch und nun auch Joseph Salvador positiv hervorgehoben  – Isaak Mieses und Samuel Hirsch tauchten nicht mehr auf. Vgl. Graetz, Die Konstruktion der jüdischen Geschichte, 95; vgl. dazu auch Pyka, Jüdische Identität bei Heinrich Graetz, 149 f. und 161. 94 Frankel, Fußnote zu »Die Construction der jüdischen Geschichte. Zweiter Artikel (Schluß)«, 421. 95 Dieser Text Cohens wurde im Herbst 1917 in dem Heft der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums veröffentlicht, in dem verschiedene Würdigungen und die Übersicht zu seinen Schriften erschienen. Cohen, Graetzens Philosophie der jüdischen Geschichte; im Folgenden zit. nach ders., Graetzens Philosophie der jüdischen Geschichte (1917), in: ders., Werke 17, 557–574. Myriam Bienenstock legt überzeugend dar, wie sich Cohens Zukunftsvorstellung von derjenigen Graetz’ unterscheidet und dennoch an diesen gebunden bleibt. Vgl. dazu Bienenstock, Weltgeschichte – oder Heilsgeschehen?, in: dies., Cohen und Rosenzweig, 205. 96 Cohen, Graetzens Philosophie der jüdischen Geschichte (1917), 574.

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neuem Licht erscheinen ließ. Cohen nahm 1917 eine zwar noch kritische, aber durchaus auch würdigende Perspektive auf die Skizze von Graetz ein. Gleichwohl sah er Inkohärenzen, die Graetz mit dem »Schluss« zwar nicht habe auflösen können, die aber in leichter Modifikation einen Weg in den Universalismus ermöglichten.97 Cohen knüpfte damit allerdings nicht so sehr an Graetz selbst als vielmehr an Frankels Kritik der geschichtsphilosophischen Position an, die er in den Anmerkungen der Redaktion 1846 geäußert hatte. Frankel hatte gefordert, das »monotheistische Prinzip«98 ins Zentrum zu stellen – und genau das tat Cohen in seiner Revision der frühen Schrift von Graetz, um abschließend die Hoffnung auf einen Staaten­bund daraus zu extrapolieren, die stärker mit Cohens eigener Gegenwart im Angesicht des Weltkrieges verbunden war denn mit Graetz’ Perspektive. Graetz hatte – trotz des von Frankel positiv hervorgehobenen Schlusses der Skizze, in der das weltgeschichtliche Ganze seine Erwähnung fand – seinen Blick nach innen gerichtet: auf die jüdische Geschichte in ihrer immanenten Bewegung. Trotz der Unstimmigkeiten war die Skizze eine Vorbereitung für das umfassende Geschichtswerk von Graetz. In seinem elfbändigen Opus magnum trat das Telos der Geschichte zwar zugunsten einer historisch ausgerichteten Perspektive in den Hintergrund, wurde aber aufbewahrt und die Zeiträume der jüdischen Geschichte weitgehend beibehalten  – zentral sind darin die in der Skizze noch unausgeführten historischen Quellen.99 Zugleich hatte Graetz bereits im Herbst 1838 zum jüdischen Neujahr den Gedanken festgehalten, dass die Juden »ein so erhabenes Leben« in Erez Israel »entfalten könnten«.100 Eine Idee, die sich in der Fokussierung der Staatsidee noch niederschlagen sollte und die sich in den 1860er Jahren insbesondere in seinem freundschaftlichen Austausch mit Moses Hess Ausdruck verschaffte.101 97 Vgl. bes. ebd., 566. 98 Frankel, Fußnote zu »Die Construction der jüdischen Geschichte«, 89 f.; zu Cohens direktem Bezug auf die Kritik Frankels an Graetz vgl. Cohen, Graetzens Philosophie der jüdischen Geschichte (1917), 563–566. 99 Die Epochen wurden jedoch um eine vierte erweitert. Vgl. dazu u. a. Bienenstock, Weltgeschichte – oder Heilsgeschehen?, in: dies., Cohen und Rosenzweig, 303. 100 Graetz, Tagebucheintrag vom 20. September 1838, zit. nach ders., Tagebuch und Briefe, 64 f., hier 64. 101 Der erste veröffentlichte Brief an Hess ist auf den 11. Oktober 1861 datiert und der letzte auf den 5. Juli 1872. Vgl. Graetz, ebd., 232 f. und 322 f. Shulamit Volkov konstatiert, dass es nicht verwundert, dass Hess eine Affinität zu Graetz’ Geschichtsdenken hatte, betont aber zugleich, dass sich die liberale und die zionistische Geschichtserzählung erst Jahrzehnte später herausbildeten. Philipp Lenhard sieht – auch mit Blick auf Hess – in der frühen Skizze von Graetz eine »Nationalgeschichte«. Lenhards Perspektive ist allerdings historisch auf die Kontinuitäten und Diskontinuitäten gerichtet und so zeigt er darin auch die Ambivalenz der Begrifflichkeiten auf. Vgl. dazu Volkov, Reflections on German-Jewish Historiography, 311; Lenhard, Volk oder Religion?, 358 f.

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Aber dies blieb eine Vorstellung, die sich historisch vor der Entstehung von Zionismus und Liberalismus generierte und die Graetz später mit der historischen Forschung kompensierte. So reiste er 1872 zwar nach Palästina und gründete ein Waisenhaus in Jerusalem,102 eigentlicher Zweck der Exkursion war aber die Recherche für die zuletzt verfassten ersten beiden Bände der Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart.103 Zwischen der geschichtsphilosophischen Skizze und der Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart lag indes die (gescheiterte) Revolution von 1848, die in Graetz’ Tagebuch unvermittelt, aber extensiv verhandelt wird.104 In den persönlichen Aufzeichnungen folgte einem Eintrag im Januar 1848, der sich im pessimistischen Ton den Problemen der eigenen Zukunftsplanung widmet, ein kurzer Passus vom 30. April 1848. »Nein, nein, welche Veränderung im Großen u. Kleinen, in Staat u. Familie! Welch ein (Wechsel?) der Weltgeschichte in der kürzesten Zeit!«105 Diese erste Reaktion war sowohl von Begeisterung den möglichen Veränderungen gegenüber als auch von Unsicherheit über den Ausgang des Geschehens geprägt. »Kaum 2 Monate, u. der ganze Status quo des Weltzustandes ist in Frage gestellt,«106 diagnostizierte Graetz entsprechend. Er brachte diesen Eintrag nicht zu Ende, aber die letzten Worte waren: »Die Menschen u. Verhältnisse stehen auf dem Kopf, die wildesten Leidenschaften sind im Gange, u. die festesten Massen gerathen in Fluß, eine unbekannte, göttliche Gewalt.«107 Was folgte, war eine zweimonatige Pause, bis er wieder etwas niederschrieb, und das Revolutionsgeschehen blieb der bestimmende Gegenstand der folgenden Einträge. Die Ereignisse ließen ihn sein politisches Selbstverständnis schärfen, so reflektierte er nun in seinen Ausführungen auf das Schicksal der Demokratie allgemein und beklagte nach dem Scheitern der revolutionären Bestrebungen den Sieg der Reaktion:108 »Die Tage der großen Dinge sind vorüber, von dem großen Weltenbrande ist nur noch Rauch geblieben, die Gluth ist

102 Die Reisevorbereitungen werden in den Briefen von Graetz vom Ende des Jahres 1871 und Beginn des Jahres 1872 dargelegt. Vgl. Graetz, Tagebuch und Briefe, 313–316; zum Waisenhaus vgl. ebd., 324 f. 103 Vgl. Graetz, Vorwort, in: ders., Die Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, Bd. 1, VII–XIV, hier VIII–XIII. 104 1853 erschien der vierte Band. Dieser widmet sich dem im Titel angegebenen Zeitraum Vom Untergang des jüdischen Staates bis zum Abschluss des Talmud. Der zuletzt veröffentlichte zweite (in zwei Teilbände unterteilte) Band erschien 1875 und 1876. 105 Graetz, Tagebucheintrag vom 30. April 1848, zit. nach ders. Tagebuch und Briefe, 175 f., hier 175. 106 Ebd., 176. 107 Ebd. 108 Vgl. etwa ders., Tagebucheintrag vom 16. Juli 1849, zit. nach ebd., 191 f.

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mit Blute gelöscht worden«,109 resümierte er am 29. Juli 1849. »Der Demokratie des Wunderjahres 48 ging es wie einem Armen, der plötzlich einen ungeheuren Lotteriegewinn machte«, schrieb er metaphorisch, »sie verlotterte diesen Gewinn mit derselben Schnelligkeit, mit der sie ihn bekam, u. findet sich am Ende fast noch ärmer als vor dem Gewinn.«110 Auch der elfte, 1870 und damit im Vorschatten des Kaiserreichs veröffentlichte Band der Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart endet mit dem Jahr 1848, mit dem Umbruch und der Hoffnung auf Emanzipation, die er mit sich brachte. Das Ereignis wird darin aber gerade nicht mehr mit einem Scheitern in Verbindung gesetzt. »Die Fesseln für die Juden [sind] gefallen. Die Freiheit ist für sie errungen, sie selbst scheinen als Wächter derselben eingesetzt; die Erringung der Gleichheit und Brüderlichkeit steht noch bevor«,111 rekapitulierte Graetz in den letzten Sätzen des zeitlich weit in seine eigene Lebenszeit hineinragenden Bandes.112 »Die Anerkennung der Juden als vollberechtigte Bürger ist bereits so ziemlich durchgedrungen; die Anerkennung des Judenthums aber unterliegt noch schweren Kämpfen.«113 Die Fortschrittsgeschichte, die Graetz damit nicht nur rekapitulierte, sondern vielmehr noch einzufordern suchte, wurde fast ein Jahrzehnt später auf neuer Ebene infrage gestellt. So nahm Heinrich von Treitschke den elften Band der Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart zum Ausgangspunkt seiner antisemitischen Ausführungen in dem Text Unsere Aussichten.

In Trennung gebunden Am 10. August 1854 wurde das Jüdisch-Theologische Seminar in Breslau gegründet. Graetz hielt in seinem Tagebuch fest, dass der »Schimmer eines Zukunftswerks […] diese Scene« beleuchtete.114 Für die Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums war dies ein überaus wichtiger Schritt, aber auch für Graetz persönlich bedeutete dies eine Sicherheit im Privatleben und eine wissenschaftliche Reputation, die er in den Jahren zuvor hatte missen müssen.115 In seine Freude mischte sich allerdings auch der Gedanke an sei109 Ders., Tagebucheintrag vom 29. Juli 1849, zit. nach ebd., 194. 110 Ebd. 111 Graetz, Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, Bd. 11, 582. 112 Zu den Lebensphasen von Graetz, die im Band 11 berührt werden, vgl. Kessler, »Garrulous, Lamenting, Whiney, but Always Interesting«, bes. 233. 113 Graetz, Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, Bd. 11, 582. 114 Ders., Tagebucheintrag vom 22. September 1854, zit. nach ders., Tagebuch und Briefe, 212. Vgl. zur Gründung und Geschichte des Seminars u. a. Wilke, Art. »Breslau«. 115 Vgl. dazu Pyka, Jüdische Identität bei Heinrich Graetz, 210 f.

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nen ehemaligen Mentor, für den er in seinen persönlichen Aufzeichnungen ab den 1840er Jahren verstärkt den Namen Hirsch oder das Kürzel H. anstatt B. U. verwandte.116 So schrieb er am 22. September 1854: »Nur das Eine freut mich, daß H(irsch), dieser hölzerne, hochnöthige Pflichtmensch, der die Krankheit meines Gemüths noch vermehrt u. mir alle Poesie geraubt, er ist ein Gegner des Seminars.«117 Hirsch war, nachdem er zeitweise in Emden und Nikolsburg gewirkt hatte, 1851 Rabbiner der neu gegründeten Israelitischen Religionsgesellschaft in Frankfurt am Main geworden, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1888 wirkte. In Preußen war es für die Juden noch bis in die Zeit des Kaiserreichs hinein gesetzlich festgeschrieben, Mitglied der offiziellen Gemeinde zu sein, unabhängig von den vertretenen Strömungen. Hirsch setzte sich mit der Religionsgesellschaft gegen diesen Zwang ein. Die von ihm in Frankfurt in Abkehr von der liberal geprägten Einheitsgemeinde über die Jahre geforderte und schließlich etablierte Austrittsgemeinde entsprach seinen Überzeugungen einer an den Fragen der Zeit orientierten Orthodoxie.118 Die »Trennungsorthodoxie« konnte allerdings erst 1876 durch das »Gesetz über den Austritt aus der Synagoge« in Preußen rechtlich bestätigt werden.119 Hirsch wurde in diesen Jahrzehnten zum erbitterten Gegner der Histo­ risierung sakraler Quellen wie des Fortschrittsbegriffs. So kristallisierte sich an der Spannung zwischen Graetz und Hirsch die doppelte Wirkung des modernen Geschichtsbegriffs auf Interpretationen des Judentums. Im Jahr der Gründung des Jüdisch-Theologischen Seminars erschien die erste Ausgabe des von Hirsch herausgegebenen Periodikums Jeschurun. Ein Monatsblatt zur Förderung jüdischen Geistes und jüdischen Lebens in Haus, Gemeinde und Schule, das zum Medium seiner Agenda wurde. Im Prospec­ tus wird die Aufgabe, die sich die Zeitschrift stellte, auf den Punkt gebracht: »Belehrung zur Erkenntnis und richtige Würdigung der Institutionen des Judenthums und seiner Anforderungen einerseits, prüfender Einblick in die wirkliche Lösung dieser jüdischen Aufgabe in der Gegenwart zur Erkenntnis vorhandener Mängel und ihrer Abhülfe andererseits.«120 Ebenfalls 1854 setzte sich Hirsch in Die Religion im Bunde mit dem Fortschritt explizit mit dem Begriff »Fortschritt« und damit zugleich auch mit der Geschichte auseinander, wie sie im 19. Jahrhundert auf die Zukunft ausgerichtet wurde und 116 Vgl. u. a. Graetz, Tagebuch und Briefe, 132, 139, 145, 162, 167, 193 und 214 f. 117 Ders., Tagebucheintrag vom 22. September 1854, zit. nach ebd., 212. 118 Mit dieser Strömung ging eine tiefgreifende Auseinandersetzung innerhalb der deutschjüdischen Orthodoxie einher, die als »Austrittsstreit« bekannt wurde. Zum Disput zwischen Seligmann Bär Bamberger und Hirsch vgl. Morgenstern, Von Frankfurt nach Jerusalem, 144–150. 119 Ebd., 144. 120 [Hirsch], Prospectus, 3 (unpaginiert).

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in der Reformbewegung wie auch in der Wissenschaft des Judentums ihren Niederschlag fand. Den Text veröffentlichte er separat und ebenfalls ohne seinen Namen zu nennen, doch mit der Unterzeile »von einem Schwarzen« gab er sich als gesetzestreuer Jude zu erkennen.121 Er antwortete damit auf eine im selben Jahr erschienene Broschüre mit dem Titel Die religiösen Wirren in der israe­ litischen Gemeinde zu Frankfurt a. M., mit der – in den Worten Hirschs – eine »neue Heilsoffenbarung« suggeriert werde, gegen die er sich mit seiner eigenen Broschüre richtete.122 Darin stellte er die ihm dringliche Frage, was seine Auffassung von jener der »Reformer« unterscheide, und schrieb: »Sie wollen die Religion im Bunde mit dem Fortschritte – und wir haben gesehen, wie dieses Prinzip von vorn herein die göttliche Wahrhaftigkeit dessen, was sie Religion nennen, negirt – wir aber wollen den Fortschritt im Bunde mit der Religion.«123 Während seinen Kontrahenten der »Fortschritt« das Maßgebliche sei, durch das die »Religion« bedingt werde, sei ihnen die »Religion« das Erste und der »Fortschritt« das durch sie Bedingte.124 Er schloss mit den kämpferischen Worten: »Bei Philippi sehen wir uns wieder.«125 Trotz einer gewissen Affinität zu einer konservativen Perspektive, war Hirsch ein erbitterter Gegner auch dieser Strömung im Judentum. Hirsch bezog sich zwar nicht auf die Skizze von Graetz, aber der Dissens zeichnete sich dennoch in der Vorstellung des Fortschritts ab, mit dem Hirsch hier genauso wie mit dem Begriff der Religion polemisch spielte. Auch wenn Graetz ebenso nur eine Entwicklung im Judentum selbst zum Gegenstand hatte, so näherten sich seine Reflexionen, im Gegensatz zur Vorstellung von Hirsch, einem solchen Begriff des religiösen Progresses an. Vor allem aber wandte sich Graetz der Geschichte im Spiegel historischer Forschung auch über die von Hirsch gesetzten Grenzen hinaus zu. Hirschs Werk stand dagegen für eine Abschirmung der jüdischen Lehre gegen die Herausforderungen der neuen Zeit. Er verschärfte diese Position in den Jahren nach Graetz Weggang aus Oldenburg und wandte sich zunehmend konfrontativ gegen die fortschreitende Verwandlung des gesetzestreuen Judentums in eine konfessionalisierte Religionsgruppe. »›Religion‹ 121 [Hirsch], Die Religion im Bunde mit dem Fortschritt, von einem Schwarzen. 122 Ebd., 3. In seiner Schrift Samson Raphael Hirsch und die Israelitische Religionsgesellschaft schrieb Mendel Hirsch, der Sohn von Samson Raphael Hirsch, zwar, dass die Broschüre vom damaligen Gemeinderabbiner verfasst worden sei, im Katalog des Leo Baeck Instituts ist aber kein Verfasser angegeben. Vgl. dazu Hirsch, Samson Raphael Hirsch und die Israelitische Religionsgesellschaft zu Frankfurt am Main, 66; Kreutzberger (Hg.), Bibliothek und Archiv, 113. 123 [Hirsch], Die Religion im Bunde mit dem Fortschritt, von einem Schwarzen, 15. 124 Vgl. ebd. 125 Ebd., 41.

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nennt man die Thora, jüdische Religion; […] konnte man einen ehrwürdigern, heiligern Namen für die Thora finden?«, schrieb er 1855 in seinen Betrachtungen des jüdischen Kalenderjahres zum Monat Siwan in der Zeitschrift Jeschurun: »Und doch hat man mit diesem Namen das Wesen der Thora getödtet.«126 Nachgerade apodiktisch stellte er gegenüber dieser als geschichtsphilosophisches Verdikt begriffenen Ansicht heraus, dass die Thora »von vornherein ihren außermenschlichen Ursprung dokumentiert, die […] keine Entwicklung und keine Geschichte hat, deren Volk vielmehr allein eine Geschichte hat und dessen Geschichte eben nichts anderes ist, als die fortgesetzte Erziehung zu der unwandelbar ewigen Höhe dieser Thora«.127 Noch 1861 äußerte Hirsch unter dem Titel Vorläufige Abrechnung in einer Auseinandersetzung mit Frankel, die wiederum für den jungen Cohen weichenstellend wurde, das Diktum: »Lieber Jude ohne Wissenschaft als Wissenschaft ohne Judentum.«128 Einerseits legt dies eine gewisse Resignation von Hirsch offen, hatte er doch 1837 noch eine Wissenschaft gefordert, in der das Judentum Entfaltung finde, andererseits zeigt sich retrospektiv der Scheideweg, an dem sich Graetz Anfang der 1840er Jahre befunden hatte. Die Divergenz der Positionen von Graetz und Hirsch manifestierte sich 1855 nicht nur in den nun verschiedenen Auffassungen jüdischer Geschichte, sondern auch in der unterschiedlichen Terminologie – insbesondere im Begriff der Religion. Graetz adaptierte im Kontext der Wissenschaft des Judentums das Wort, gegen das Hirsch 1855 so erbittert anschrieb und das sich mit und nach Schleiermachers an der Schwelle zum 19. Jahrhundert gehaltenen Reden Über die Religion angeschickt hatte, eine geschichtsphilosophische Semantik zu entfalten.129 Auch Graetz öffnete sich bei Weitem nicht allen von der Reform eingebrachten Neuerungen, insbesondere die Adaption des christlichen Ritus blieb ihm ein Dorn im Auge. So betonte er noch 1869 in einem Brief, in dem auch Hirsch und der Jeschurun eine von Gleichgültigkeit geprägte Erwähnung fanden, seine Gegnerschaft zu der Agenda Geigers unter dieser 126 Hirsch, Siwan, zit. nach ders., Gesammelte Schriften 1, 83 (Hervorhebung im Original). 127 Ebd., 85 (Hervorhebung im Original). Teile der Ausführungen zum Periodikum Jeschu­ run, der Broschüre und dem Eintrag zum Monat Siwan finden sich auch in Sauter, Weltwende, 339–341. 128 Hirsch, Vorläufige Abrechnung, 357. Zu diesem Diktum im Kontext der Auseinandersetzung mit Graetz vgl. Myers, Resisting History, 30–32. 129 Obschon noch nicht als Geschichtsphilosophie bezeichnet, schrieb Schleiermacher der Geschichte bereits deutlich ihren (im Begriff von Verweltlichung stehenden) philosophischen Gehalt zu: »Geschichte im eigentlichsten Sinn ist der höchste Gegenstand der Religion, mit ihr hebt sie an und endigt mit ihr  – denn Weißagung ist in ihren Augen Geschichte und beides gar nicht von einander zu unterscheiden – und alle wahre Geschichte hat überall zuerst einen religiösen Zweck gehabt und ist von religiösen Ideen ausgegangen.« Ders., Über die Religion, bes. Zweite Rede, 206–247, hier 232 f.

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Prämisse. »Gegen die Verchristianisirung des Judentums, die in der Cultusreform liegt,« proklamierte Graetz, »werde ich bis zum letzten Hauch und mit allen Waffen, die mir zu Gebote stehen, kämpfen.«130 Im ein Jahr später veröffentlichten elften Band der Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart beklagte er erneut die Affinitäten zum christlichen Ritus in den Reihen der Reform, zeigte darin jedoch eine gewisse Ambivalenz zu dem von Geiger 1835 bis 1847 herausgegebenen Periodikum Wissen­ schaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie.131 So schrieb er im zehnten Kapitel, das dem Zeitraum von 1830 bis 1840 gewidmet ist: »Wer vermag heute schon abzuwägen, ob der Gewinn oder der Schaden größer war, den sie dem Judenthume gebracht hat?«132 Einerseits habe die Zeitschrift wissenschaftliche Errungenschaften – wenn auch verkürzt, so doch verständlich – publik gemacht, andererseits habe sie »Irrtümer verbreitet, indem sie das Judenthum zur Theologie, d. h. zu einer Kirchen- und Dogmen-Religion gemacht und dessen Vertreter, die Rabbinen und Träger der Lehre, zu Geistlichen und Pfarrern gestempelt« habe.133 Obschon er das Wort Religion allein – ohne Voranstellung von »Alltag« oder »Dogmen« – gerade nicht als anstößig empfand, zeigte er in der Deutung der Irrtümer seine Skepsis gegenüber einem Verständnis des Judentums als Theologie. Vier Monate nach der offenen Kritik am Begriff der Religion in Bezug auf das Judentum, im Oktober 1855, veröffentlichte Hirsch in Jeschurun den ersten Teil seiner Besprechung von Graetz’ Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Die Auseinandersetzung mit dem 1853 erschienenen, zuerst publizierten vierten Band war in zwölf Artikel aufgeteilt – der letzte Teil erschien erst im März 1858.134 Graetz wandte sich in diesem vierten Band der Entstehungszeit des Talmuds zu und zog aus verschiedenen Richtungen Kritik auf sich, diejenige des Denkers der Neo-Orthodoxie war allerdings die umfangreichste.135 Hirsch machte seinem ehemaligen Schüler 130 Graetz an Raphael Kirchheim, 7. Februar 1869, zit. nach ders., Tagebuch und Briefe, 296 f., hier 297. Vgl. dazu auch Schorsch, From Text to Context, 278 f. 131 Zu Geigers in der Zeitschrift dargelegtem Programm einer jüdischen Theologie im ideengeschichtlichen Kontext vgl. Grözinger, Abraham Geigers theologische Wende vor dem Hintergrund der neuzeitlichen Debatte um Religion und Vernunft. 132 Graetz, Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, Bd. 11, 503. Vgl. zu dieser Auseinandersetzung auch Krone, Wissenschaft in Öffentlichkeit, 235 f. 133 Graetz, Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, Bd. 11, 503. 134 Hirsch, Geschichte der Juden. Erster und zweiter Artikel; vgl. für den letzten Teil der Besprechung ders., Geschichte der Juden. Zwölfter Artikel. In der Werkausgabe von Hirsch umfasste diese insgesamt fast 200 Seiten: ders., Geschichte der Juden, in: ders., Gesammelte Schriften 5. Die Ausführungen zur Besprechung finden sich auch in Sauter, Weltwende, 340 f. 135 Zu den verschiedenen Kritiken, die das Gesamtwerk begleiteten, vgl. Krone, Wissenschaft in Öffentlichkeit, 221–241.

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darin direkt den Vorwurf, sich dem anzubiedern, was als »Wissenschaftlichkeit« bezeichnet werde.136 Schlimmer noch: Graetz sehe in den rabbinischen Autoritäten nicht Träger, sondern Schöpfer der Tradition.137 Er habe die Zeit der Entstehung des Talmuds auf ihre politisch-historischen Umstände zurückzuführen gesucht und sie damit – auch wenn Hirsch das so nicht benannte – zu historisieren versucht. Hirsch warf Graetz im letzten Teil seiner Besprechung vor, dass er es nicht habe unterlassen können, »Sätze […], die als integrierende Bestandteile des göttlichen Gesetzes und in seinem Inhalt nachgewiesen überliefert sind, als aus dem politischen Drang der Zeiten resultiert zu lehren«.138 Graetz nahm die Kritik von Hirsch erst wahr, als sie bereits mitten im Prozess der Veröffentlichung war, und trotz seiner bereits länger schon ablehnenden Haltung gegenüber Hirsch echauffierte er sich darüber. So hielt er am 13. April 1856 im Tagebuch fest: »Der Lumps [sic] greift meine Geschichte an, als sei (sie) ganz bedeutungslos, u. verunglimpft mein religiöses Verhalten. Eins freut mich dabei, daß ich nun mit diesem Gottestrabanten völlig gebrochen habe. Ich mag mit ihm u. seinem Gelichter nichts zu thun haben.«139 Dieser Eintrag ist der letzte im Tagebuch. Im elften Band der Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart wurde »Ben Usiel« im Kontext der Konfrontation von Reform und Orthodoxie kurz erwähnt, Jost dagegen erhielt eine  – obschon noch immer kritische, so doch – mehrere Seiten umfassende Würdigung.140 Graetz hatte sich für die Wissenschaft des Judentums entschieden und sein Werk damit dem Grundparadigma der Moderne anvertraut. Diese Hinwendung zur Wissenschaft war mit einer neuen Denkform verbunden, in der das Judentum zum Gegenstand der historischen Untersuchung wurde. Obwohl dies ganz und gar nicht das Ziel von Graetz war, wurde es unter diesem Gesichtspunkt zunehmend profaniert. Allem Anschein nach war er in diesem Punkt allerdings nicht frei von Zweifel. »Das Mißtrauen gegen die kritische Behandlung der biblischen Quellen ist auch ungerechtfertigt. Sie haben es durchaus nicht nöthig, eine eximirte Stellung zu beanspruchen oder hinter denselben Schutz zu suchen«,141 sah sich Graetz bemüßigt, seine historische Perspektive im Vorwort zum 1874 veröffentlichten ersten Band 136 Hirsch, Geschichte der Juden, zit. nach ders., Gesammelte Schriften 5, 321. 137 Vgl. ebd., 322. 138 Ebd., 495. 139 Graetz, Tagebucheintrag vom 13. April 1856, zit. nach ders., Tagebuch und Briefe, 217 f. 140 Graetz, Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, Bd. 11, 454–457 und 504. Letztlich dürfte auch ein Grund für diese umfassende Darstellung darin liegen, dass Jost 1860 verstorben war. 141 Graetz, Vorwort, in: ders., Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, Bd. 1, X.

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der Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart zu rechtfertigen. »Weit entfernt zu verlieren, gewinnt die biblische Geschichte durch die kritische Behandlung, wie an Gewißheit, so auch an Großartigkeit und Wunderhaftigkeit.«142 Zugleich hielt Graetz zu dieser Zeit und mit der klaren Ausrichtung auf historische Forschung am Motiv der Anerkennung fest. So strich er heraus, dass »die kritische Behandlung« erkläre, wie die Errungenschaften jüdischer Geschichte »in den universal-historischen Bildungsprozeß so tief eingreifen konnten«.143 Was für den Denker der Neo-Orthodoxie keine Relevanz in der Agenda hatte oder haben musste, wurde für Graetz mithin zur entscheidenden Prüfung. Als Historiker wurde er in ein Verhältnis zur hegemonialen deutschen Geschichtsschreibung gesetzt und eine neue Konfliktlinie entstand. Graetz hatte bereits frühzeitig eine Abneigung gegen ein übersteigertes deutsches Nationalgefühl gehegt,144 und sein Verhältnis zu der deutschen Geschichtswissenschaft war und blieb distanziert. So war der elfte Band der Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart auch eine Kritik an der christlichen Judenfeindschaft  – weit ins 19. Jahrhundert hinein. Dies nahm Treitschke zum Anlass für jene Auseinandersetzung, die seinerzeit als »Treitschkiade« oder auch als »Federkrieg« bekannt war.145 Auch Cohen äußerte sich in dieser Konfrontation der Positionen und Auffassungen. Mit Ein Bekenntniß in der Judenfrage wandte er sich sowohl gegen Treitschke als auch gegen Graetz, seinen ehemaligen Lehrer am Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau. Die von Graetz ins Zentrum gerückte Kritik am Christentum wie auch dessen Perspektive auf die ausschließende jüdische Geschichte standen nachgerade konträr zu dem Anspruch Cohens, der 1880 eine auf universalistischem Fundament ruhende »nationale Verschmelzung« postulierte.146 Graetz verstarb unerwartet im September 1891. Auf seinem Lebensweg durchschritt er das 19. Jahrhundert in seiner sich ausprägenden Denkform. Die historischen Verwerfungen wie die fortschreitende Akkulturation hatten ihn zu einem der wichtigsten Vertreter jüdischer Geschichtsschreibung werden lassen. Ein letztes Zeichen dieses Wegs ist ein Beitrag zur Jubiläumsbeilage zum fünfzigjährigen Bestehen des Jewish Chronicle mit dem Titel A Fifty Years’ Retrospect. In der englischen Originalversion wurde der Text 142 Ebd. 143 Ebd. 144 Er hatte bereits im Nachgang des Weberaufstands 1844 seine Antipathie gegen den deutschen Nationalismus in seinem Tagebuch festgehalten. Vgl. Graetz, Tagebucheintrag vom 5. Juli 1844, zit. nach ders., Tagebuch und Briefe, 133 f. 145 Zimmermann / Berg, Art. »Berliner Antisemitismusstreit«, 279. 146 Cohen, Ein Bekenntniß in der Judenfrage, zit. nach Der »Berliner Antisemitismusstreit« 1879–1881, 359.

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Mitte November 1891 veröffentlicht. Eine deutsche Übersetzung, die von Graetz nicht mehr autorisiert werden konnte, erschien in der Israelitischen Wochenschrift in Magdeburg, in mehrere Teile gesplittet, zwischen Ende November 1891 und Januar 1892.147 Ein Rückblick auf 50 Jahre erzählt keine bloße Fortschrittsgeschichte, sondern eine Geschichte der jüdischen Selbstbehauptung wie des entstehenden Antisemitismus. Der Originaltext und die Übersetzung weichen indes an einer signifikanten Stelle voneinander ab. Im Original heißt es: »For nearly two decades, from 1861–1879, nothing occured of special moment to the Jews.«148 Damit betonte Graetz, dass in diesem Zeitraum – in den die Gründung des Kaiserreichs fällt – nichts Hervortretendes in der jüdischen Geschichte passiert sei. Durch das mit dem Jahr 1879 markierte Ende rief er die Auseinandersetzung mit Treitschke auf. In der postum angefertigten deutschen Übersetzung ist der Satz geändert und der Zeitraum auf 1861 bis 1870 verkürzt.149 Anstatt des Antisemitismus wurde in der deutschen Übersetzung der Vorschatten der Gründung des deutschen Kaiserreichs und die sich im Zuge dessen durchsetzende rechtliche Gleichstellung in der Jahreszahl evoziert. Die Skepsis, die sich in Graetz zeitdiagnostischer Retrospektion Ausdruck verschaffte, war das Zeugnis eines Jahrzehnte währenden Kampfes um individuelle wie kollektive Anerkennung, in dessen Prozess sich diejenige deutsche Judenheit formte, für die wie kaum ein anderer Graetz’ ehemaliger Schüler Cohen einstand. Cohen studierte zwar in seiner Jugend bei Graetz, fand aber im Verlauf seines Wirkens eine andere – ja, in anderer Dimension geschichtsphiloso­ phische – Position. Ein Anknüpfen an den Erwartungshorizont von Graetz war für Cohen keine Option mehr. Dies war Ausdruck einer Distanz, die nicht zuletzt in der tiefgreifenden Veränderung des Erfahrungsraums begründet lag. Die deutsche Judenheit wurde in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts in ein neues Spannungsfeld gerückt. Auf der Grundlage einer Anerkennung de jure, der rechtlichen Gleichheit, zeigte sich in neuer Intensität das Defizit der de facto nicht vorhandenen – der Diskriminierungen, die sich im Entstehen und Erstarken des Antisemitismus neuen Ausdruck verschafften. Die Konfrontationslinien verschoben sich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts und wiederum neue Fragen wurden aufgeworfen. Dennoch kann Cohen in der Nachfolge einer geschichtsphilosophischen Perspektive auf das Judentum gesehen werden. Diejenigen Pro­ blemstellungen, die Mitte des 19. Jahrhunderts virulent geworden waren und 147 Graetz, Ein Rückblick auf 50 Jahre. 148 Ders., A Fifty Years’ Retrospect, 5. 149 Ders., Ein Rückblick auf 50 Jahre (1. Januar 1892), 3. Vgl. zu dem Text von Graetz insgesamt und der Abweichung in der deutschen Version Sauter, Ein skeptischer Blick auf die Geschichte.

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deren Kern der moderne Geschichtsbegriff war, kamen im Denken Cohens zu voller Blüte. In diesem die Wissensordnung des Selbst- und Weltverständnisses betreffenden Sinn – nicht in Bezug auf das Ziel der Geschichte – war Graetz ein Vorläufer Cohens. So verwies Cohen in seiner Rückschau auf die Lebensgeschichte von Graetz, in der er ihn in eine Reihe mit Leopold von Ranke stellte, auf den Verlauf des 19. Jahrhunderts.

5. Religion und Fortschritt: Hermann Cohen

»Der Geschichtsbegriff ist eine Schöpfung des Prophetismus«, betonte Hermann Cohen in Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. »Die Propheten sind die Idealisten der Geschichte. Ihr Sehertum hat den Begriff der Geschichte erzeugt, als des Seins der Zukunft.«1 In diesen wenigen Worten verdichtete sich Cohens Interpretation des Judentums, deren Kern der »Messianismus« bildete, der aus dem Monotheismus abgeleitet die Prophetie in eine geschichtsphilosophische Deutung übertrug. In seinem postum 1919 veröffentlichten Werk wollte Cohen damit den Geschichtsbegriff in der Krisenzeit der Moderne wieder auf einen sakralen Grund zurückführen. Denn die Vorstellung von Geschichte, die der »geschichtlichen Welt«2 des 19. Jahrhunderts einen weltlichen Sinnhorizont hatte geben können, büßte in der Historiografie ihren zukunftsorientierten Charakter ein.3 Bereits am Fin de Siècle hatte Cohen sein Spätwerk angedacht, aber zum Mittelpunkt seiner Reflexion wurde es erst ab dem Herbst 1914  – Anfang Mai 1917 war das Manuskript weitgehend verfasst.4 Danach wandte sich Cohen bezeichnenderweise auch wieder dem Denken seines ehemaligen Lehrers und zeitweiligen Kontrahenten Heinrich Graetz zu. Seine beiden Würdigungen Zur Jahrhundertfeier unseres Graetz und Graetzens Philosophie der jüdi­ schen Geschichte wurden während der Zeit veröffentlicht,5 zu der Cohen

1 Hier und im Folgenden wird nach dem Wiederabdruck der zweiten Auflage von 1929 zitiert: Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, 305. Vgl. zu dem Zusammenhang von »Prophetismus« und Geschichtsbegriff bei Cohen u. a. Bienenstock, Hermann Cohen on the Concept of History, 55–70. 2 Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, 297. 3 So differenzierte Cohen gerade in Bezug auf seine Definition des Geschichtsbegriffs in Religion der Vernunft zwischen der in die Vergangenheit weisenden »Historie« und der auf die Zukunft gerichteten »Geschichte«. Ders., Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, 305. Zu Cohens Zukunftsorientierung in Abgrenzung zu Karl Löwiths Interpretation Cohens vgl. Fiorato, Notes on Future and History in Hermann Cohen’s Anti-eschatological Messianism, 135–141. Die begriffliche Differenz liest Myers im Hinblick auf die Geschichtswissenschaft. Vgl. dazu Myers, Resisting History, 39 f. 4 Vgl. Cohen an Paul Natorp, 28. November 1914, zit. nach Holzhey (Hg.), Der Marburger Neukantianismus in Quellen, Bd. 2, 435–437, hier 436 f.; vgl. dazu auch Wiedebach, Einleitung, in: Cohen, Werke 17, XVI. 5 Vgl. Cohen, Zur Jahrhundertfeier unseres Graetz (1917); ders., Graetzens Philosophie der jüdischen Geschichte (1917).

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die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums im Kern verfasst hatte  – ein halbes Jahr vor seinem eigenen Ableben. Cohen verstarb am 4. April 1918 im Alter von 75 Jahren. Wie mit dem Spätwerk eine jahrzehntelange Suchbewegung an ihr Ende kam, so schlug Cohen 1917 einen versöhnlichen Ton gegen Graetz an, der knapp vierzig Jahre früher nicht denkbar gewesen wäre. Nicht im Bereich der Geschichte, sondern in dem der Philosophie erstrebte und erreichte Cohen Anerkennung in der akademischen Öffentlichkeit des deutschen Kaiserreichs. Während Graetz in der Zeit wirkte, in der der moderne Geschichtsbegriff auch in der Wissenschaft seine Form erhielt, sah sich Cohen mit der beginnenden Krise konfrontiert: Philosophie und Geschichte traten auseinander. Graetz hatte noch den Weg von einer geschichtsphilosophischen zu einer historischen Perspektive zurücklegen können, Cohen ging in gewissem Sinn den umgekehrten. Seine Denkbewegung vollzog er in einer anderen Zeit. Einerseits war die rechtliche Gleichstellung der deutschen Judenheiten erreicht  – und obschon noch mit zahlreichen Widerständen verbunden, so doch die Möglichkeit wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Anerkennung eröffnet. Andererseits erhielt der Antise­ mitismus seinen Namen und verband sich mit einem zunehmend rasse­ ideologisch aufgeladenen Nationalismus. Cohen suchte in seinem Werk gegen diese gefährliche Tendenz den Begriff der Menschheit zu restituieren und diagnostizierte 1896 noch hoffnungsvoll: »Die Zeichen mehren sich, dass die Gespenster wieder verscheucht werden, die man in einem verkehrten, verirrten nationalen Historismus als heimische Hausgeister anerkannt und geduldet hat.«6 Dies war eine Hoffnung, die enttäuscht wurde. Dennoch blieb ihm die erneute Verbindung von Philosophie und Geschichte zentrales Motiv, welches sich in der Kritik an der Philosophielosigkeit der Historiografie ausdrückte und mehr noch in einer religiös vermittelten geschichtsphilosophischen Perspektive.7 Was eine Generation zuvor erst hinterfragt wurde, musste nun gerechtfertigt werden. Die Selbstverständlichkeit eines sakralen Sinnzusammenhangs war bereits prekär geworden und so stand eben­jener Begriff der Geschichte im Zentrum von Cohens Reflexion, der durch die Entdeckung der Zeitdimension der Zukunft inauguriert worden war. Cohens Denken zielte damit nicht einfach auf eine Rückkehr zu religiösen Vorstel­lungen der Vormoderne, sondern die Religion sollte der Prüfung der Vernunft unterzogen werden. Cohen suchte letztlich eine Hoffnung 6 Ders., Einleitung mit kritischem Nachtrag (1896), XVI. 7 In Bezug auf das Problem der Philosophielosigkeit kritisierte Cohen 1908 etwa, dass der Internationale Kongreß der historischen Wissenschaften in Berlin ohne eine Sektion zur Geschichte der Philosophie stattfand. Vgl. ders., Auch ein Zeichen vom Geiste der Zeit (1908), zit. nach ders., Schriften zu Philosophie und Zeitgeschichte 2, 335–340.

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auf die Menschheit zu erneuern, die in der Philosophie der Aufklärungszeit  – genauer: in derjenigen Immanuel Kants  – ihren vollen Ausdruck gefunden hatte.8

Abschied von der Theologie »Darum mag ich mit der ganzen Theologie Nichts [sic] zu schaffen haben, weil sie den eigentlichen wissenschaftlichen Standpunkt gar nicht behauptet«,9 resümierte Cohen mit Anfang zwanzig eine Episode, die ihn vier Jahre zuvor Abstand von der Theologie hatte nehmen lassen. Im Sommer 1842 in Coswig geboren, wurde Cohen von seinem Vater Gerson, der Kantor und Lehrer in der örtlichen Gemeinde war, frühzeitig mit der hebräischen Sprache und der Traditionsliteratur in Kontakt gebracht.10 Nachdem Cohen vier Jahre das Gymnasium in Dessau besucht hatte, ging er 1857, mit 15 Jahren, an das von Zacharias Frankel geleitete Jüdisch-Theologische Seminar in Breslau. In einer Würdigung zum fünfzigjährigen Bestehen der Institution im Jahr 1904 erinnerte er sich: »›Ich will Cohen aus Dessau hören‹ pflegte Frankel zu sagen, wenn er zur Inspektion der Talmudklasse bei Graetz eintrat, von dem er wußte, daß er keine besondere Sympathie für mich hatte.«11 Dies war die erste Begebenheit, die Cohen nach ein paar einleitenden Sätzen zum Seminar allgemein in den Sinn kam. »Nicht daß er [Graetz] mir irgendwann irgendwie ein Unrecht oder eine Kränkung zugefügt hätte; aber heute darf ich es ja wohl sagen«,12 so Cohen in seiner Rückschau weiter, »es regte sich in mir schon in diesen jungen Jahren eine Art von historischem Bewußtsein, und dieses harmonierte nicht immer mit der scharfen, kantigen Persönlichkeit dieses großen Forschers […].«13 Cohen verließ das Seminar bereits im Jahr 1861. Der Anlass dieses Abschieds von der Theologie war aber nicht sein gespanntes Verhältnis zu Graetz, sondern eine Auseinander-

8 So gibt etwa Micha Brumlik einen Einblick in Cohens Kantianismus in Bezug auf das Judentum allgemein und George Y. Kohler zeigt exemplarisch auf, wie Cohen Kants Bild des Judentums korrigierte. Vgl. dazu Brumlik, Art. »Gottesidee«; Kohler, Against the Heteronomy of Halakhah. 9 Cohen an Eduard Steinthal (ohne Datum, wahrscheinlich 1865), zit. nach ders., Briefe, 11–18, hier 14. 10 Vgl. dazu Beiser, Hermann Cohen, 7–9. 11 Cohen, Ein Gruß der Pietät an das Breslauer Seminar, zit. nach ders., Jüdische Schriften, Bd. 2, 418–424, hier 418. 12 Ebd. 13 Ebd. Myers geht davon aus, dass Cohen sich an dieser Stelle auf Frankel bezieht. Vgl. ders., Resisting History, 44. Aufgrund des Kontexts ist aber doch wohl Graetz gemeint, der mit Cohens frühem »historischem Bewußtsein« nichts habe anfangen können.

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setzung zwischen Samson Raphael Hirsch und Frankel, in die der Schüler des Seminars einzugreifen versuchte.14 Hirsch übersetzte und veröffentlichte im Januar 1861 in seiner Zeitschrift Jeschurun den ersten Teil einer Besprechung der Mischna-Interpretation von Frankel, die dieser 1859 auf Hebräisch veröffentlicht hatte. In dem Send­ schreiben, wie die Reaktion auf Frankel betitelt ist, wird die Rückführung der mündlichen Lehre auf »menschlichen Ursprung« angeprangert.15 »Ich bedaure euch, ihr Söhne meines Volkes, bedaure eure Eltern und Freunde! Man schickt euch in diese Anstalt, in dem Vertrauen, daß ihr dort zu Gesetzeslehrern in Israel herangebildet werdet«,16 so werden die Seminaristen in der Besprechung direkt adressiert. »[U]nd ihr kehrt zu euren Eltern heim voller Irrlehren […] wenn ihr eben treue Schüler eures euch irreführenden Lehrers Frankel gewesen. Öffnet doch selbst eure Augen […].«17 Es nimmt nicht wunder, dass die Studenten das Sendschreiben als Affront begriffen. In Reaktion veröffentlichten sie am 29. Januar 1861 in der Allgemeinen Zeitung des Judentums eine mit dem Titel Verwahrung versehene Erklärung, die auch Cohen unterzeichnete und in der Hirsch – wohl nicht ganz unbegründet – für die Publikation und auch die im Text vertretene Position verantwortlich gemacht wurde. Mit der Besprechung und dieser Replik wurde eine erbittert geführte Debatte angestoßen, in deren Rahmen Hirsch im Februar 1861 dem zweiten Teil des Sendschreibens eine längere Anmerkung der Redaktion hinzufügte und in der folgenden Ausgabe den Text Vorläufige Abrechnung veröffentlichte.18 Auch Hirsch selbst machte in seiner redaktionellen Anmerkung, ganz im Sinne der Besprechung, dem Leiter des Seminars anhand von dessen Mischna-Interpretation den Vorwurf, die Offenbarung Gottes am Berg Sinai historisiert zu haben. Ein Verdikt, das er bereits wenige Jahre davor gegen Graetz ausgesprochen hatte. 1861 betonte er, dass beide bezeichnenderweise Lehrer des Seminars seien.19 Für Hirsch hatten erst Graetz und dann Frankel die Grenze überschritten, welche die sakralen Quellen vor einer Profanierung durch die Geschichtswissenschaft bewahre. Der junge Cohen schätzte den Denker der Neo-Orthodoxie trotz des Vorwurfs gegen Frankel und schrieb, parallel zu seiner Unterzeichnung der Verwahrung, Hirsch persönlich einen Brief, in dem er ihn von der Observanz seines Lehrers zu überzeugen suchte – der Empfänger antwortete öffentlich. In seinem Periodikum 14 Zu diesem Abschied vgl. auch Beiser, Hermann Cohen, 13–15. 15 Fischer, Ein Sendschreiben 1, 206. 16 Ebd., 211. 17 Ebd. 18 Vgl. Hirsch, Anmerkungen der Redaktion; ders., Vorläufige Abrechnung. 19 Vgl. ders., Anmerkungen der Redaktion, 258 und 269.

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Jeschurun richtete er sich im Februar 1861 an Cohen unter Nennung von dessen Initialen und schrieb: »Ich zolle Ihrem Pflichtbewußtsein volle Anerkennung, das sich gedrungen fühlte mir zu bezeugen, wie der von Ihnen verehrte Lehrer ganz in altem orthodoxen Sinne lebe.«20 Es folgen Beispiele, die er Cohens Brief entnahm: »›mit dem Talith über dem Kopf in der Synagoge stehe, mit Ihnen am Freitag Abend Semiroth singe und auch beim Schiur bei Gelegenheit eifrig bemerke: ein Iere Schamaim müsse hier machmir sein!‹«21 So zitierte er einen Halbsatz aus Cohens Brief und wandte sich erneut in polemischem Duktus gegen das Seminar.22 Diese Begebenheit verhalf Cohen zu seiner ersten (allerdings ungewollten) öffentlichen Äußerung.23 Vor allem aber trug sie zu seiner Entscheidung bei, sich von der Theologie abzuwenden. Auch mehr als vierzig Jahre später, in seiner Erinnerung an das Seminar, stellte Cohen noch heraus, dass der »äußere Anlaß« für das Verlassen des Seminars eben dieser von Hirsch begonnene Streit mit Frankel gewesen sei. »Die buchstäbliche, äußerliche, dem Geiste der Geschichte wiederstreitende Ansicht von der Quelle großer göttlicher Ideen, sie war und ist mir in innerster Seele zuwider«, schrieb Cohen zum fünfzigjährigen Bestehen der Institution. »Das ist der Ruhm Frankels, daß er […] an eine Gemeinde dachte, wie die fortschreitende Wissenschaft sie fordert – und sie möglich macht. […] Und das ist der ewige Sinn des geschichtlichen Judentums.«24 Jahrzehnte mussten indes vorübergehen, bis Cohen diesen Sinn benannte. Nach dem Disput von 1861 wandte sich Cohen der Philosophie zu. Er immatrikulierte sich an der Universität in Breslau, zwei Jahre später wechselte er nach Berlin, um seine Studien fortzusetzen und das Abitur nachzuholen, das er 1864 absolvierte. Bereits 1865 wurde er in Halle promoviert und arbeitete in der folgenden, von ökonomischer Unsicherheit geprägten Zeit an der

20 Hirsch, Briefkasten der Redaktion, 297. 21 Ebd. 22 Vgl. ebd., 297 f. 23 Beiser weist darauf hin, dass es sich mit dem einen Satz nicht schon um eine regelgerechte Publikation Cohens handele, wie in der Forschung mitunter suggeriert, aber es bleibt dennoch eine erste öffentliche Äußerung. Auch geht Beiser davon aus, dass Hirsch auf den Brief öffentlich antwortete, weil er davon bewegt gewesen sei. Dies bleibt allerdings deutungsoffen, da Hirsch seine Antwort zwar damit eröffnet, dass er die Beweggründe von Cohens Brief als »ehrenvoll« bezeichnet und daher »keinen Anstand nehme ihn hiermit öffentlich zu beantworten«. Aber dies ist auch strategisch zu sehen: Durch den wohlwollenden persönlichen Beginn hob Hirsch in der weiteren Komposition seiner Antwort die sachliche Differenz umso schärfer hervor. Ders., Briefkasten der Redaktion, 297. Vgl. dazu auch Beiser, Hermann Cohen, 14. 24 Cohen, Ein Gruß der Pietät an das Breslauer Seminar, zit. nach ders., Jüdische Schriften, Bd. 2, 423.

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von Chaim Heymann Steinthal und Moritz Lazarus gegründeten Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft mit.25 In diesen Jahren äußerte er sich noch drei Mal – an anderen Stellen – zu seiner Auffassung des Judentums, Motive seiner späteren Reflexion vorbereitend, bevor er 1873 als Privatdozent nach Marburg ging und schließlich die Möglichkeit erhielt, sich voll und ganz der akademisch verankerten Philosophie zu widmen. Zuerst veröffentlichte er 1867 anonym einen Text mit dem Titel Heinrich Heine und das Judentum, in dem er gerade dessen über einen Pantheismus vermittelte Bindung an den Monotheismus im Namen des Fortschritts der Menschheit apostrophierte.26 Im Jahr darauf griff er in eine Auseinandersetzung ein, deren Anfang die Ablehnung der Bewerbung eines Juden am pathologischen Institut in Berlin bildete.27 Cohen reflektierte auf die Gefahr für das Judentum, die sowohl die judenfeindliche Stimmung seiner Zeit mit sich brachte wie auch damit einhergehend die Probleme der Konversion. Nicht jedoch die Handlung des Institutsdirektors war der Anlass seiner Kritik, sondern die allgemeine Situation der Juden in Preußen, in der ihnen, wenn sie sich nicht taufen lassen wollten, der Weg in die Forschung verstellt war.28 Sein Beitrag wurde anscheinend nicht in diesem Sinne aufgefasst und ein weiterer nicht abgedruckt.29 Schließlich hielt Cohen 1869 einen Vortrag zur kulturgeschichtlichen Bedeutung des Sabbats, in dem er eine historische – letztlich historisierende – Perspektive auf den zentralen Topos der jüdischen Tradition einnahm und zugleich dessen Adaption im Christentum aufzeigte. Den Vortrag ließ er bezeichnenderweise 1881, im Nachgang von Ein Bekenntniß in der Juden­ frage, mit einem Nachwort von 1880 versehen erstmals abdrucken.30 In diesen drei Äußerungen berührte Cohen die Fragen, die für ihn Jahre später (wieder) zentral werden sollten: die nach dem Verhältnis der geschichtsphi25 Allgemein zur Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft vgl.  Berg, Art.  »Völkerpsychologie«. 26 Vgl. Cohen, Heinrich Heine und das Judentum, zit. nach ders., Jüdische Schriften, Bd. 2, 2–44 (wieder abgedruckt in: ders., Werke 12, 193–258). 27 Vgl. Mitteilung von Dr. med. Meilitz; Mitteilungen von Dr. med. Meilitz und Dr. Rudolf von Virchow. Die Erklärung von Dr.  Rudolf Virchow wurde in der Zukunft bereits veröffentlicht. 28 Hermann Cohen äußerte sich im August 1868 in der Zukunft zu dieser Frage und dieser Text wurde im Anhang des zweiten Bandes der Jüdischen Schriften wieder abgedruckt. Vgl. ders., Virchow und die Juden, in: ders., Jüdische Schriften, Bd. 2, 457–462 (wieder abgedruckt in: ders., Werke 12, 259–269). 29 Vgl. Strauß, Anmerkungen zu »Virchow und die Juden«, in: Cohen, Jüdische Schriften, Bd. 2, 482 f. 30 Der Text wurde von Cohen 1881 mit einem Nachwort publiziert und in den Jüdischen Schriften wieder abgedruckt. Vgl. ders., Der Sabbat in seiner kulturgeschichtlichen Bedeutung, in: ebd., 45–66; Der Sabbat in seiner kulturgeschichtlichen Bedeutung. Nachwort (aus dem Jahre 1880), in: ebd., 66–72.

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losophischen Vorstellung eines Fortschritts der Menschheit zum Judentum, diejenige nach wissenschaftlicher wie auch gesellschaftlicher Akzeptanz von Juden erst in Preußen, dann im deutschen Kaiserreich und schließlich auch die Frage nach (historischen) Übertragungen jüdischer Traditionen ins Christentum wie die damit verbundenen Gemeinsamkeiten. Aber zunächst fand er einen anderen Schwerpunkt in der Wissenschaft. Nach seinem Weggang aus Breslau konzentrierte sich Cohen auf die Philosophie Kants. Aus ihr leitete er einen kritischen Idealismus ab, vermittels dessen die Grundlagen, mithin die Gesetze, der Wissenschaften aufgerichtet werden sollten.31 Damit entfaltete er selbst einen wissenschaftlichen Standpunkt, den er Mitte der 1860er Jahre an der Theologie vermisst hatte, und erreichte als Jude eine akademische Anerkennung, die der vorherigen Generation lange verwehrt worden war. Sieben Jahre nachdem Graetz 1869 eine Honorarprofessur an der Universität in Breslau erhalten hatte, wurde Cohen der Nachfolger des Philosophieprofessors Friedrich Albert Lange in Marburg, wo er den Neukantianismus der Marburger Schule begründete. Mit dieser Berufung an die Philipps-Universität im Jahr 1876 war er der erste nicht konvertierte Jude auf einem philosophischen Lehrstuhl im Kaiserreich.32 Cohen trat zuerst mit Arbeiten zur Philosophie Kants in Erscheinung: Kants Theorie der Erfahrung veröffentlichte er im Jahr der Gründung des Kaiserreichs, sechs Jahre später kam Kants Begründung der Ethik heraus und schließlich, als das erste Werk zu Kant bereits in zweiter, erweiterter Auflage vorlag, publizierte er noch 1889 Kants Begründung der Ästhetik.33 Nach mehr als einem Jahrzehnt brach Cohen sein öffentliches Schweigen zum Judentum in der Auseinandersetzung um Heinrich von Treitschke mit seinem Text Ein Bekenntniß in der Judenfrage. Ausgehend von der rechtlichen Gleichstellung des jüdischen Bevölkerungsteils hatte Graetz 1870, für Treitschke den späteren Anlass des Streits gebend, im elften Band seiner Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart eine Anerkennung des Judentums gefordert. Treitschke hatte in Unsere Aus­ sichten ebendiese Position auf- und angegriffen. Er forderte, dass seine »israelitische[n] Mitbürger […] Deutsche« werden sollten, und formulierte das 31 Zu Cohens »kritischem Idealismus« vgl. etwa Munk, Der andere kritische Idealismus von Hermann Cohen. 32 Vgl. Brumlik, »Gottesidee«, 474. Die 1870er Jahre bedeuteten eine Phase, die für Cohen zur Folie für den Liberalismus wurde. Vgl. ders., Einleitung mit kritischem Nachtrag (1896), XV. Von Rudolf Virchow, zu dem Cohen 1868 seinen Text Virchow und die Juden geschrieben hatte, wurde der Begriff »Kulturkampf« zwar nicht erfunden, aber doch publik gemacht. Vgl. dazu etwa Ruppert, Kirchenrecht und Kulturkampf, 1 f. 33 Schließlich veröffentlichte er noch 1907 einen Text Kommentar zu Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft. In der Werkausgabe sind seine Schriften zu Kant vertreten in: Cohen, Werke 1.1, 1.2, 1.3, 2, 3 sowie 4.

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Verdikt: »Die Juden sind unser Unglück.«34 Damit stieß Treitschke eine Auseinandersetzung an, die zwei Jahre andauerte, weite Kreise zog und antisemitische Positionen »salonfähig« machte.35 Cohen war sich der neuen Dimension bewusst, die judenfeindliche Äußerungen im Zuge dieser Debatte erhielten, und wandte sich auch in den folgenden Jahren immer wieder öffentlich gegen den Antisemitismus  – obwohl sein Text Ein Bekenntniß in der Judenfrage vielfach missverstanden wurde, ließ er sich darin nicht beirren.36 Cohen schrieb Treitschke Ende des Jahres 1879 zweimal persönlich an, in der Hoffnung auf Verständnis, aber dessen Antwort fiel nicht so aus, wie Cohen dies gehofft hatte.37 Erst danach richtete er im Januar 1880 gegen den deutschen Historiker in einer öffentlichen Replik die Forderung einer »nationale[n] Verschmelzung«,38 die in der zeitgenössischen Wahrnehmung einer Rechtfertigung der Position Treitschkes nahekam.39 Im Unterschied zu Treitschke gründete Cohen diese Forderung allerdings in einem Universalismus, der eine Nation nicht als über die Abstammung fixierte Entität verstand und einen ideellen Begriff des Judentums betonte. Dafür kritisierte Cohen in Ein Bekenntniß in der Judenfrage die Position von Graetz harsch: »Es ist ein Unglück, daß ein jüdischer Geschichtsschreiber, der immerhin ein solches zwar bedingtes Ansehen sich erarbeitet hat, eine so schreckliche Perversität der Gefühlsurtheile zu Stande bringen konnte.«40 Neben der 34 Treitschke, Unsere Aussichten, 573 und 575. 35 Im November 1880 unterschrieben mehr als siebzig Persönlichkeiten ein Manifest der Berliner Notablen gegen Antisemitismus, unter ihnen auch Rudolf Virchow. Weitere Unterzeichner waren Theodor Mommsen, der bald darauf Treitschke wortwörtlich entgegenhalten sollte, dass er den Antisemitismus »salonfähig« mache, und der berühmte Historiker Johann Gustav Droysen. Vgl. Manifest der Berliner Notablen gegen Antisemitismus vom 12. November 1880. 36 Vgl. dazu u. a. Beiser, Hermann Cohen, 123. 37 Vgl. Cohen, Zwei Briefe Hermann Cohens an Treitschke. Vgl. dazu u. a. Beiser, Hermann Cohen, 116. 38 Cohen, Ein Bekenntniß in der Judenfrage, zit. nach Der »Berliner Antisemitismusstreit« 1879–1881, 353 und 359. Zu dem Text insgesamt vgl. Beiser, Hermann Cohen, 117–123. 39 George Y.  Kohler betrachtet die Debatte unter dem Fokus der Kontinuitäten der Konversionsmotivik und zeigt darin auf, wie sich Cohen klar gegen Treitschke wandte. Damit wird allerdings das Neue der erst im 19. Jahrhundert sich ausprägenden intrinsischen gedanklichen Verquickung von Protestantismus und – zuerst prospektiver – deutscher Nation in den Hintergrund gerückt. Vgl. dazu Kohler, German Spirit and Holy Ghost – Treitschkes Call for Conversion of German Jewry, bes. 175. 40 Cohen, Ein Bekenntniß in der Judenfrage, zit. nach Der »Berliner Antisemitismusstreit« 1879–1881, 351. Auffällig ist, dass Cohen sich in seinem Brief an Treitschke (noch) despektier­licher gegen Graetz aussprach als in Ein Bekenntniß in der Judenfrage. So bezeichnete Cohen den Angriff Treitschkes gegen Graetz in seinem zweiten Brief als »gerechte Abfertigung jenes Perversen Gemüthes«. Ders., Zwei Briefe Hermann Cohens an Treitschke, 197.

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Position von Graetz, die für Cohen jenseits einer sinnvollen Diskussion lag, wandte er sich insbesondere auch gegen ein von seinem früheren Förderer bei der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, Moritz Lazarus, in der besagten Auseinandersetzung aufgebrachtes Verständnis von Nationalität. Er konstatierte,41 dass seinem eigenen »Idealbegriffe einer Nationalität« der von Lazarus eingesetzte empirische, statistische Begriff der Nationalität »nicht gewachsen« sei.42 Cohen orientierte diesen eigenen Begriff der Nationalität an der Grundlage einer »religiöse[n] Gemeinsamkeit« zwischen der »israelitischen Religion« und dem Protestantismus und sah in dieser Verbindung »ein Anfassungsmittel […] für die Aneignung jener anderen objectiven Bedingungen, die ein jedes für sich unzulänglich bleiben [würde] für den empirischen Begriff der Nationalität«.43 Für Cohen war die »religiöse Gemeinsamkeit […] das Mittel […], den Mangel des objectiven Merkmals der Abstammung für das Gefühl zu ersetzen, zum mindesten die letztere weniger missen zu lassen«.44 Und er appellierte an seine jüdischen Zeitgenossen, bestrebt zu bleiben, sich »dem idealen Volksbegriff mit […] Herzblut anzunähern«.45 Es ging Cohen also darum, das Judentum nach innen wie nach außen als Religion zu rechtfertigen, und er richtete sich damit an zweierlei Publikum. Seine Hoffnung war insgesamt auf eine Versöhnung von »israelitischer Religion« und deutscher Nation gerichtet, die er im Kern auch noch im Angesicht des Krieges mit seiner Schrift Deutschtum und Judentum. Mit grundlegenden Betrachtungen über Staat und Internatio­ nalismus ausführte.46 Diese Schrift veröffentlichte er im Juli 1915. Schon die Überschrift wies auf die Auseinandersetzung mit Treitschke zurück.47 41 Der in Ein Bekenntniß in der Judenfrage vertretenen Konvergenz von »israelitischer Religion« und Protestantismus konnte Lazarus nicht zustimmen, was zum persönlichen Bruch zwischen ihm und Cohen führte. Vgl. Fiorato, »Es ist also doch wieder dahin gekommen, daß wir bekennen müssen«, 90–94; Stoetzler, Moritz Lazarus und die liberale Kritik an Heinrich von Treitschkes liberalem Antisemitismus. Zum vorhergehenden Verhältnis von Cohen zu Lazarus vgl. Sieg, Der frühe Hermann Cohen und die Völkerpsychologie, 461 f.; Wiedebach, The National Element in Hermann Cohen’s Philosophy and Religion, 30–32; Beiser, Hermann Cohen, 118–122. 42 Cohen, Ein Bekenntniß in der Judenfrage, zit. nach Der »Berliner Antisemitismusstreit« 1879–1881, 347. 43 Ebd., 358 f. (Hervorhebung im Original). 44 Ebd., 359. 45 Ebd. 46 Vgl. Cohen, Deutschtum und Judentum, mit grundlegenden Betrachtungen über Staat und Internationalismus (1915). Wieder in und im Folgenden zit. nach ders., Werke  16, 465–560. 47 So hatte Ludwig Bambergers Beitrag von 1880 bereits diesen Titel. Vgl. ders., Deutschthum und Judenthum. »Deutschtum« war dabei ein vergleichsweise neues Wort, das zuerst weitgehend definitionsoffen blieb. Je nach Parteiung wurde es verschieden verstanden. Im zweiten Band des Deutschen Wörterbuchs von Grimm aus dem Jahr 1860 heißt es sogar noch: »DEUTSCHTHUM n. für deutschheit ist erst in der letzten zeit aufgekom-

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Die Konjunktion des Begriffspaars schien über Jahrzehnte in den De­ batten über das Selbstverständnis der deutschen Juden auf und fand in der Weimarer Zeit weite Verbreitung.48 Cohens Schrift vom Sommer 1915, die als erster Band der Reihe Von deutscher Zukunft erschien, trug zu der späteren Popularität bei. Darin knüpft Cohen aber nicht an Interpretationen anderer an, sondern präsentierte seine ganz eigene Auffassung einer Verbin­ dung von »Deutschtum und Judentum«. Er postulierte – an den kategorischen Imperativ Kants anknüpfend und diesem eine nationale Legitimation unterlegend  – die Durchsetzung des »weltbürgerliche[n] Geist[s] der deutschen Humanität«.49 Zentrale Ausformung der Idee war für Cohen der im Sinne seines Idealismus verstandene Protestantismus. Dafür löste er ihn von ­Martin Luther, indem er akzentuierte: »[D]er geschichtliche Geist des Protes­ tantismus [ist] unabhängig […] von dem Verlaufe der Reformation in Wittenberg […].«50 Ihm ging es stattdessen um die »Tendenz der Reformation«, mit der »in alles religiöse Denken und Tun gleichsam der Lichtstrahl der Idee, und zwar als Idee, als Hypothese, in das religiöse Gewissen einfällt«.51 Im Speziellen liege demnach das Deutschtum im Idealismus begründet, der im Protestantismus zum intrinsischen Bestandteil der Religion geworden sei. Im Allgemeinen sei »[m]it der Reformation« der »deutsche Geist in den Mittelpunkt der Weltgeschichte« getreten.52 Die philosophische Verbindung des Judentums mit dem Idealismus war für Cohen indessen genauso evident wie die seines deutschen Geistes mit dieser Philosophie, wenn er konstatierte: »[D]er Leitstern des ewigen Friedens ist die messianische Idee des israelitischen Prophetismus, des Schwerpunktes der jüdischen Religion.«53 Durch die idealistische Auffassung des men, doch wird es meist ironisch gebraucht: man will damit übertriebene anhänglichkeit an deutsches wesen bezeichnen.« Im deutschen Kaiserreich adressierte das Wort noch ebenjenes Wesen, büßte aber die ironische Bedeutung ein. Bei Weigand in Deutsches Wör­ terbuch heißt es allerdings bereits 1857 unter dem Eintrag »deutsch«: »das Deutschthum (= deutsches Wesen)«, in der zweiten Auflage von 1873 lautet der Passus: »das Deutsch­ thum (erst im 19. Jahrh. aufgekommen) = deutsches Wesen«. Jacob Grimm / Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 2, 1053; Weigand, Deutsches Wörterbuch (1857), 243; ders., Deutsches Wörterbuch (1873), 321. 48 Insbesondere in der sogenannten Kunstwartdebatte, die für Walter Benjamin eine wichtige Etappe seiner Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Judentum und Politik war, erschien auch ein Beitrag mit diesem Titel. Am Beginn der 1920er Jahre wurde das Begriffspaar in den Untertitel der C. V.  Zeitung aufgenommen. Auch wurde 1926 ein (drittes) Sonderheft von Der Jude zum Thema Judentum und Deutschtum veröffentlicht. Lissauer, Deutschtum und Judentum. 49 Cohen, Deutschtum und Judentum, zit. nach ders., Werke 16, 530. 50 Ebd., 476 (Hervorhebung im Original). 51 Ebd. (Hervorhebung im Original). 52 Ebd., 475. 53 Ebd., 544 (Hervorhebung im Original).

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Protestantismus jenseits des historischen Ereigniszusammenhangs konnte Cohen so auch Maimonides als »Wahrzeichen des Protestantismus im mittelalterlichen Judentum« begreifen.54 Seine Sicht auf ein ideelles Deutschtum, das sich aus der Verbindung von Protestantismus und der Philosophie Kants speiste, gewann Cohen zwar nicht erst in den Jahren des Krieges, allerdings wurde es im Zuge dessen in neuem Vokabular in den Vordergrund gerückt.55 Dennoch war auch 1915 für Cohen, wie der Untertitel seiner Schrift anzeigt, der Staatenbund das Medium für den Weltfrieden als Ziel der Geschichte und er postulierte: »Das Deutschtum muss zum Mittelpunkte eines Staatenbundes werden, der den Frieden in der Welt begründen […] wird.«56 Für den akademisch anerkannten Kantianer, der stark von der liberalen Phase des Kaiserreichs zu Beginn der 1870er Jahre geprägt war, war es fast selbstverständlich, in einem solchen Sinn ein Patriot zu sein – er sah darin 1880 und auch 1915 keinen Widerspruch zu einem bewussten Judentum. Eine Auffassung, die Graetz noch nicht teilen konnte. Mit dem erstarkenden Antisemitismus in der Kriegszeit wurde jedoch auch Cohens Position zunehmend erschüttert. »Mein Patriotismus wird immer mehr rein historisch,«57 teilte Cohen am 27. Oktober 1916 seinem ehemaligen Marburger Kollegen Paul Natorp mit. Zugleich richtete sich Cohens Wunsch nach Erhalt der Errungenschaften der Emanzipation nicht nur inmitten des Krieges, sondern bereits 1880 eben auch dezidiert an seine jüdischen Zeitgenossen. So strebte er eine Veränderung der Vorstellung des Judentums an, die sich insbesondere in seiner Begriffswahl zeigte. Das Wort »Judentum«, das er 1915 durch die »jüdische Religion« spezifizierte, findet sich in Ein Bekenntniß in der Judenfrage bezeichnenderweise noch nicht und wurde in Cohens anderen Texten dieser Zeit nur selten verwandt, obwohl es der Sache nach zunehmend zentral für sein Denken wurde – programmatisch verhandelte er es unter dem Namen der »israelitischen Religion«. Im Nachwort zu dem 1869 gehaltenen Vortrag Der Sabbat in seiner kulturgeschichtlichen Bedeutung aus dem Jahr 1880 ging 54 Ebd., 479. George Y. Kohler stellt zu anderer Textgrundlage, aber dennoch auch auf diese Protestantismus-Interpretation passend, heraus: »His Neo-Kantian method of integrative reading is admittedly selective in adopting those parts of the Guide’s philosophy that fit the needs of Judaism in modernity as Cohen identified them«. Vgl. Kohler, Moses as a Superhuman, 89 (Hervorhebung im Original). 55 Der Weg zur Menschheit führte für ihn schon Jahrzehnte zuvor über die deutsche Nation und deren Staat als partikulares Gefüge, in dem sich die universalistische Idee ausformen solle. Vgl. u. a. Cohen, Von Kants Einfluß auf die deutsche Kultur (1883), zit. nach ders., Schriften zu Philosophie und Zeitgeschichte 1, 367–396, hier 367. 56 Ders., Deutschtum und Judentum, zit. nach ders., Werke  16, 541 (Hervorhebung im Original). 57 Cohen an Paul Natorp, 27. Oktober 1916, zit. nach Holzhey (Hg.), Der Marburger Neukantianismus in Quellen, Bd. 2, 451–453, hier 453.

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Cohen, wieder in Entgegensetzung zum Antisemitismus und in der Hoffnung der »nationalen Verschmelzung«, sogar so weit, dazu aufzufordern, den »Sonntag der Kulturvölker als […] Sabbat« anzuerkennen – ein Vorschlag, den er nicht wiederholte.58 Aber mit seiner Auffassung des Judentums als Religion trat er zum Fin de Siècle kontinuierlich in Erscheinung. 1903 wurde er Mitglied der neu gegründeten Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums.59 In diesem Kontext wirkte er an der Konzeptionierung der Reihe »Grundriss der Gesamtwissenschaft des Judentums« mit, in der auch sein Werk Religion der Vernunft erschien.60 Die durchaus philosophischen Arbeiten, die Cohen neben seiner akademischen Tätigkeit an der Philipps-Universität über das Judentum verfasste, richteten sich zumeist an ein deutsch-jüdisches Publikum; im Rahmen seiner systematischen Philosophie kamen diese Reflexionen dagegen nur zögerlich und in Übertragung zur Sprache. Seinen Begriff des Judentums überschrieb Cohen so zuerst mit »Monotheismus« und später vor allem mit »prophetischer Messianismus«. Der Eingriff in den Streit um Treitschkes Aufsatz 1880 war also keine bloße Episode in Cohens Werdegang, sondern eine öffentliche Positionsbestimmung als deutscher Jude, die er trotz der erstarkenden Widerstände aufrechtzuerhalten suchte und die letztlich aus seinem an Kant geschulten Universalismus folgte. Zugleich hob Cohen in seiner Reflexion des Judentums die Motive hervor, die mit einer solchen Position vereinbar waren. Diese Betonung verdeutlichte sich in ihrer Tiefendimension in seiner 1888 veröffentlichten Schrift Die Nächstenliebe im Talmud. Als ein Gutachten dem Königlichen Landgerichte zu Marburg erstattet. In dem Gutachten stellte Cohen den universalistischen Gehalt der Gebote und Verbote im Judentum heraus. Nachdem ein Marburger Volksschullehrer im Dezember 1886 den Talmud als das »Gesetz der Juden« bezeichnet hatte, das nur unter diesen gelte, und sie andere »betrügen und bestehlen« dürften,61 erstattete der Vorsteher der Marburger Gemeinde Anzeige. Zwei Sachverständige wurden vom Gericht bestimmt: Paul de Lagarde – ein erklärter Antisemit – und Cohen.62 58 Cohen, Der Sabbat in seiner kulturgeschichtlichen Bedeutung. Nachwort (aus dem Jahre 1880), zit. nach ders., Jüdische Schriften, Bd. 2, 71. 59 Vgl. dazu Erster Jahresbericht der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums, bes. 60–63. 60 Vgl. dazu Adelmann, Die »Religion der Vernunft« im »Grundriss der Gesamtwissenschaft des Judentums«. 61 Vgl. hierzu die Anmerkungen zu Cohens Text: Strauß, Anmerkungen zu »Die Nächstenliebe im Talmud«, in: Cohen, Jüdische Schriften, Bd. 1, 338 f., hier 338. 62 In den einschlägigen Periodika, darunter war auch die Orthodoxie vertreten, wurde Cohens Aussage gewürdigt (vgl. ebd., 338 f.). Zur Berichterstattung zum Prozess vgl. etwa Eine Anklage wegen Beschimpfung der Religion (Orig.-Bericht der »Jüdischen Presse«); Eine Anklage wegen Beschimpfung der Religion (Orig.-Telegramm der »Jüdischen Presse«); Letzte Zeitungsnachrichten; Zeitungsnachrichten.

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Die Wahl de Lagardes und der Verlauf der Verhandlung enttäuschten Cohen. Der Angeklagte wurde zwar verurteilt, aber Cohens Gutachten fand kaum Beachtung und er sah sich genötigt, sich in der Verhandlung zu rechtfertigen. De Lagarde veröffentlichte sein Gutachten im Nachhinein und in Reaktion tat Cohen es ihm gleich.63 In Die Nächstenliebe im Talmud ging Cohen davon aus, dass es zwar auch »im Judentum Gläubige im erweiterten Sinne des Wortes« gebe, dass aber dennoch alle diejenigen, die sich dem Judentum verpflichtet sehen, eine »›Beschimpfung‹ des Talmud in Bezug auf dessen moralische Grundbegriffe als eine ›Beschimpfung der jüdischen Religionsgesellschaft‹« fühlten.64 Er selbst sei kein Gelehrter des Talmuds und auch aufgrund dieser Einschränkung wolle er keine »Charakteristik« von dessen Rechts- und Sittenlehre geben, mehr noch aber, weil er die Notwendigkeit des historischen Vergleichs sehe. Cohen konstatierte in impliziter Wiederaufnahme des Disputs von 1861 allgemein: »Das Recht, wenn es noch so ausdrücklich als göttliches sich ausgibt, hat seinen Ursprung in den historischen Verhältnissen und ist so zugleich φύσει [natürlich] und – wandelbar.«65 Im römischen Recht oder im Kirchenrecht werde man »verwerfliche Menschensatzung erwarten, und so auch im Talmud dieselbe natürlich finden«.66 Cohen stellte dagegen dessen universalistischen Gehalt heraus und tat dies insbesondere anhand der Figur des Noachiden, des »Frommen der Völker der Welt«, und des Grundsatzes, dass das geltende, staatliche Recht gerade durch die Autorität im Talmud bindend ist.67 »Wo Rassenhaß und Verleumdung toben, herrscht die Phrase. Phrase und Vorurteil wirken epidemisch und stecken unversehens auch die strenge Arbeit der Wissenschaft an«,68 beendete Cohen gegen de Lagardes Gutachten gerichtet seine eigenen (veröffentlichten) Ausführungen; und im abschließenden Satz synthetisierte Cohen seine Verteidigung des Talmuds gegen die antisemitischen Angriffe in auffälliger Wortwahl: »Der Wissenschaft und dem Leben tut dasselbe not: Ehrfurcht vor der Wahrheit.«69 Cohens Urteil über die Theologie hallte auch in diesen Worten nach, aber mehr noch in seiner Interpretation des Judentums. Dessen philosophisch ge63 Vgl. Strauß, Anmerkungen zu »Die Nächstenliebe im Talmud«, in: Cohen, Jüdische Schriften, Bd. 1, 339. Zu den Gutachten vgl. auch Das Gutachten des Herrn Prof. Paul de Lagarde; Das Gutachten des Herrn Professor Cohen; Ein Gutachten über den Talmud. 64 Vgl. Cohen, Die Nächstenliebe im Talmud, zit. nach ders., Jüdische Schriften, Bd. 1, 145–174, hier 151. 65 Ebd., 156. 66 Ebd. 67 Vgl. ebd., 158–160 und 162. 68 Ebd., 174. 69 Ebd.

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formte Reflexion begleitete ihn über Jahrzehnte; bis in sein Spätwerk hinein suchte er den Zwiespalt zwischen Judentum und systematischer Philosophie aufzuheben. Schließlich wandte sich Cohen mit seinem an Kant geschulten kritischen Idealismus dem Begriff der Religion – und das hieß über diesen vermittelt, dem Judentum – zu. Damit näherte er sich der Frage an, welche die Theologen nicht hatten stellen wollen: der nach dem Grundverhältnis des Judentums zu den Richtlinien der Vernunft.

Asymptotische Annäherung Cohens akademische Studien waren zuerst der systematischen Relektüre Kants gewidmet. Später, am Fin de Siècle, entfaltete er auf diesem Fundament ein eigenes System, in dem er seinen (kritisch verstandenen) Begriff des Idealismus entwickelte. 1883 publizierte er mit Das Prinzip der InfinitesimalMethode und seine Geschichte einen Text, in dem er seinen Ansatz grund­ legte.70 Nur wenige Jahre nachdem Cohen sein Schweigen zum Judentum gebrochen hatte, veröffentlichte er damit die ersten methodischen Überlegungen, die sein eigenes System vorbereiteten. Dennoch dauerte es fast zwanzig Jahre, bis er den ersten der – klassischerweise – drei Teile des Systems in den Druck gab. Logik der reinen Erkenntnis veröffentlichte er 1902, Ethik des reinen Willens bereits zwei Jahre danach und schließlich 1912 den dritten Teil, Ästhetik des reinen Gefühls.71 Bereits seine Schriften zu Kant enthielten eigenständige Elemente und seine Philosophie ging aus diesen hervor. Den Kern bildete so ein an Kant angelehntes, diesen aber drastisch erweiterndes Erzeugen aus reinem Denken, wonach »das Denken […] die Grundlagen des Seins« erschaffe.72 Zugleich verband Cohen in seinem kritischen Idealismus eine historische mit einer systematischen Perspektive und unterlegte der Geschichte der Philosophie damit letztlich sowohl eine Reflexion des »Ursprungs« als auch – anhand ausgewählter Quellen – eine sinnvolle, zielorientierte Entwicklung.73 70 Cohen, Das Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte (wieder abgedruckt in: ders., Werke 5.1, I–VII und 1–162). 71 Ders., Logik der reinen Erkenntnis; ders., Ethik des reinen Willens; ders., Ästhetik des reinen Gefühls. In der Werkausgabe Hermann Cohens sind die Systemschriften erschienen als ders., Werke 6; ders., Werke 7; ders., Werke 8; ders., Werke 9. Da sich die verschiedenen Auflagen der Schriften jedoch unterscheiden, wird nachfolgend, sofern nicht gesondert ausgewiesen, auf die jeweiligen Erstausgaben zurückgegriffen. 72 Ders., Logik der reinen Erkenntnis, 18.  73 Vgl zur philosophiegeschichtlichen Ausrichtung u. a. ders., Vorrede, in: ebd., V–IX. Zur historischen und systematischen Perspektive bereits in Das Prinzip der Infinitesimal-­ Methode und seine Geschichte vgl. etwa Schulthess, Einleitung, 8 und 37.

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Während Cohen ein Primat des Denkens vor der Anschauung erst in seiner eigenen Erkenntnistheorie ausführte,74 bereitete er den Grundgedanken seiner ethischen Überlegungen bereits in seiner Schrift Kants Begründung der Ethik von 1877 vor. Darin begriff Cohen die »identische Doppelaufgabe« im Bereich der Sittlichkeit als »unendliche Aufgabe der asymptotische[n] Annäherung an den Idealen Grund der Unabhängigkeit vom Mechanismus der Mittel-Causalität«; gerichtet war sie auf »das Noumenon der Freiheit, wie das des Endzwecks«.75 Auch im System der Philosophie bezog er sich auf den Zentralbegriff des sittlichen Ideals, dem sich im Verlauf der Geschichte die Menschheit annähern solle. Dieser Vorstellung ordnete Cohen als politisches Ziel einen »ethischen Sozialismus« zu,76 den er nicht an Marx anlehnte, sondern aus dem kategorischen Imperativ Kants ableitete, und dessen Reflexion sich noch bis in seine letzte Arbeit fortsetzte.77 Im Januar 1886 berichtete Cohen dementsprechend von einem Vortrag im Fortbildungsverein in Marburg, in dem er den kategorischen Imperativ als »unbedingte[s] Gebot« ausgeführt habe. Im ersten Teil sei er auf Staat, Gesetz, Gesellschaft und auch Religion eingegangen und im zweiten auf den »Socialismus«, der eben demjenigen kategorischen Imperativ folge, der (auch) in Cohens Worten lautete: »Handle so, daß Du die Menschheit sowohl in deiner Person als auch in der Person eines jeden Andern niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck brauchst.«78 Ein Gedanke, der eine Verbindung der kritisch-idealistischen Philosophie mit dem Alltäglichen und dem Zeitgeschehen aufrechterhielt und Cohens Ethik auf das Tiefste prägte. Mit der Entfaltung des Systemgedankens ging insgesamt eine Suchbewegung nach der Stellung – vorerst nicht explizit des Judentums, sondern allgemein – der Religion einher, aber im Rahmen der systematischen Schriften strebte Cohen, wenn überhaupt, noch eine Psychologie als Lehre von

74 Vgl. Holzhey, Einführung des Herausgebers, 8 f. 75 Cohen, Kants Begründung der Ethik, 253. 76 Vgl. Holzhey, Einführung des Herausgebers, 21–23. Vgl. auch Cohen, Einleitung mit kritischem Nachtrag (1896), LXIV–LXXI; ders., Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, 361. 77 In der Ethik des reinen Willens brachte er den Begriff des Sozialismus in ein Verhältnis zur ethischen Kultur des Staats und in der Religion der Vernunft stellte er den ethischen Sozialismus als von Maimonides vorgezeichnet dar. Zu seinem Begriff des Sozialismus (auch in seiner Verschiebung von Kant zu den Quellen des Judentums respektive Maimonides) vgl. Cohen an Mathilde Burg, 14. Januar 1886, zit. nach ders., Briefe, 58 f.; ders., Einleitung mit kritischem Nachtrag (1896), LXIV–LXXI; ders., Ethik des reinen Willens, 240 f.; ders., Religion der Vernunft, 365. 78 Ders. an Mathilde Burg, 14. Januar 1886, zit nach ders., Briefe, 58 f. (Hervorhebung im Original).

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der Einheit des Bewusstseins an.79 Für die Religion war kein eigener Bereich vorgesehen. Obschon Cohen zu dieser Zeit über den Stellenwert der Religion in Bezug auf die Ethik nachdachte, konnte und wollte er ihr noch kein eigenständiges Verhältnis zur Vernunft zugestehen. In einer für Friedrich Albert Langes Geschichte des Materialismus verfassten Einleitung mit kritischem Nachtrag hatte er 1896 sogar die »Auflösung der Religion in Ethik« postuliert, wobei er zugleich die Aufnahme der Gottesidee in die Ethik forderte.80 Direkt vor diesem Diktum dachte er Lange den Ausspruch zu, dass der Antisemitismus »unser Unglück« sei. So zeigte sich auch ein reaktives Moment in dieser Ablehnung der Religion in systematischer Hinsicht. Die beginnende Dreyfus-Affäre mag dabei ihre ersten Auswirkungen gezeigt haben, wenn Cohen ein Jahr nach der Verurteilung des jüdischen Offiziers Alfred Dreyfus wegen vermeintlichen Landesverrats in Frankreich das Verdikt Treitschkes in Umkehrung evozierte, auf die »Überläufer, die man ebenfalls auf dem Gewissen« habe, verwies und zugleich darauf, dass diejenigen, die nicht zum Christentum konvertierten, keinen »politischen Schutz« genössen.81 Ob die Verurteilung von Dreyfus der spezifische Grund war oder die allgemeine »Krise des Gottesglaubens«, die Cohen mit dem Antisemitismus in Verbindung setzte,82 wie er im Januar 1896 festhielt und hinzufügte, dass er es mit seiner Schrift »gewagt habe zur Offensive überzugehen«,83 sei dahingestellt. Eindeutig ist in der Einleitung, dass das Postulat der »Auflösung« keine persönliche Abwendung vom Judentum darstellte, sondern eine Entgegnung auf den Antisemitismus im christlich-geprägten Staat. Cohen verband seine Parteinahme für die Ethik in diesem Sinne immer wieder mit einer Kritik am Antisemitismus. Insofern konnte seine Forderung der »Auflösung der Religion in Ethik« als ein Plädoyer für »religiöse Toleranz« auf dem gemeinsamen Fundament einer allgemeinen Sittlichkeit verstanden werden.84 Denn in der Möglichkeit des Plurals der verschiede79 Den Plan, eine Psychologie abzufassen, gab Cohen nie auf, auch wenn er ihn nicht umsetzte, und die Aufgabe der Psychologie benannte er bereits in der Ethik des reinen Wil­ lens. Vgl. ders., Ethik des reinen Willens, 475 und 603. 80 Cohen schrieb im Herbst 1895 an Natorp, dass er die Einleitung im Entwurf verfasst habe. Vgl. ders. an Paul Natorp, 13. Oktober 1895, zit. nach Holzhey (Hg.), Der Marburger Neukantianismus in Quellen, Bd. 2, 238. Vgl. auch Cohen, Einleitung mit kritischem Nachtrag (1896), LIX; vgl. ebenso das Variantenverzeichnis in der Werkausgabe: ders., Werke 5.2, 126–144, hier 140. 81 Cohen, Einleitung mit kritischem Nachtrag (1896), LXI. 82 Ders. an Dr. Moritz Kirschstein am 1. Januar 1896, zit. nach ders., Briefe, 67 f., hier 68. 83 Ebd. 84 Cohen ging in dem Text zu Dreyfus von 1899 auf die religiöse Toleranz ein, wobei er zugleich die bloße Toleranz als nicht ausreichend betrachtete und sieben Jahre später auch das Problem der herablassenden Konnotation explizit machte. Vgl. ders., Unsere Ehrenpflicht gegen Dreyfus, zit. nach ders., Jüdische Schriften, Bd. 2, 346–351, hier 348 f.; ders.,

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nen Bekenntnisse, wie Cohen 1896 ausführte, zeitige der Begriff der Religion einen ausschließenden Gehalt des hegemonialen Christentums, dem er einen sittlichen Universalismus entgegenzustellen suchte.85 So wurde in der Ethik des reinen Willens die Gottesidee zum Ideal der Menschheit und die Religion erhielt zwar einen zentralen Ort, dieser aber lag in ihrer historischen – und mehr noch: geschichtsphilosophischen – Funktion gegenüber dem Mythos: »In dieser Richtung auf die Zukunft entsteht die Religion im Unterschiede zum Mythos: die Religion der Propheten«, schrieb Cohen entsprechend 1904.86 Als die Einleitung mit kritischem Nachtrag 1914 in überarbeiteter Form, in dritter Auflage, neu erschien, zeigte sich indes eine gedankliche Veränderung. Auf der einen Seite war die Marburger Schule im schleichenden Niedergang begriffen, so hatte sich für die Festschrift zum 70. Geburtstag von Cohen 1912 keine (breitere)  akademische Öffentlichkeit mehr gefunden.87 Auf der anderen Seite war Cohen mit seiner Emeritierung in dem Jahr seines Jubiläums nach Berlin gegangen, um an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums zu lehren und sich voll und ganz dem Stellenwert des Judentums in seiner Philosophie zu widmen. Im Unterschied zur ursprünglichen Version ging es ihm in der Einleitung 1914 nicht mehr um eine »Auflösung der Religion«, sondern um ihre »Aufnahme […] in Ethik«.88 Im folgenden Jahr veröffentlichte Cohen schließlich eine Schrift, in der sich die neue Bedeutung, die er der Religion beimaß, bereits im Titel niederschlug: Der Begriff der Religion im System der Philosophie. Cohen führte darin eine – systematische – »Eigenart« der Religion aus. Ein Gedanke, der auch in den Text Religion der Vernunft einfloss.89 In dieser langen Suchbewegung findet sich ein zentrales Moment von Kontinuität: die messianische Vorstellung, die Cohen in der Prophetie gründete und in seine Philosophie aufnahm. Von Frankel, wie auch von anderen Reformern des 19. Jahrhunderts, beeinflusst, ging Cohen in seiner Reflexion Der geschichtliche Sinn der Dreyfus-Affäre, zit. nach ebd., 351–359, hier 354 f. Vgl. zu Cohens Auseinandersetzung mit der Dreyfus-Affäre auch Beiser, Hermann Cohen, 175–178. 85 Vgl. Cohen, Einleitung mit kritischem Nachtrag (1896), LVII–LIX. 86 Ders., Ethik des reinen Willens, 380 (Hervorhebung im Original). 87 Zu den Problemen von Konzeption und Umsetzung der Festschrift in ihrer paradigmatischen Bedeutung vgl. bes. die Briefe von Paul Natorp an Albert Görland im Verlauf des Jahres 1911, zit. nach Holzhey (Hg.), Der Marburger Neukantianismus in Quellen, Bd. 2, 391–403. 88 Cohen, Einleitung mit kritischem Nachtrag zur neunten Auflage der Geschichte des Materialismus von Friedrich Albert Lange in dritter erweiterter Auflage (1914), zit. nach ders., Werke 5.2, 5–125, hier 106. 89 Ders., Werke  10, bes.  10 f. Zu der Religion der Vernunft in ihrem Verhältnis zum System vgl. Holzhey, Der systematische Ort der »Religion der Vernunft« im Gesamtwerk ­Hermann Cohens.

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des Judentums vom Monotheismus aus und übertrug diesen sukzessive in eine eigene geschichtsphilosophische Interpretation, die er schließlich unter dem Topos des Messianismus fasste.90 Bereits sein 1880 entstandener Aufsatz Ein Bekenntniß in der Judenfrage kann unter diesem Aspekt im Rahmen seiner später systematisch ausgeführten religionsphilosophischen Überlegungen gesehen werden. Darin rekurrierte Cohen in Konfrontation mit den Positionen von Treitschke und mehr noch von Graetz gerade auf den einen Gott und die messianische Verheißung, um seinen Begriff des Judentums – ohne dieses selbst zu benennen  – zu charakterisieren und diesen zugleich auf das sittliche Ideal der Menschheit hin auszurichten: »Der israelitische Monotheismus charakterisiert sich durch die beiden Ideen der Geistigkeit Gottes und der messianischen Verheißung«, definierte Cohen 1880. »Die eine betrifft das Wesen der Gottheit, die andere die geschichtliche Aufgabe, das sittliche Ideal des Menschengeschlechts.«91 Eben diese zutiefst miteinander verbundenen Motive fanden daraufhin in der Ethik ihren Niederschlag und blieben konstitutiver Bestandteil der Philosophie des Judentums – die Geistigkeit Gottes wurde zur Gottesidee und die messianische Verheißung zum Messianismus. In dem wohl zu Beginn der 1890er Jahre verfassten Vortrag Die Messias­ idee ging Cohen zuerst ausführlicher auf seine Deutung der Prophetie ein und schloss seine Darstellung mit dem Satz: »Diese Erfindung, mit der sie [die Propheten] den nationalen Egoismus bekämpften, und in der sie, und sie allein, die Idee der Menschheit entdeckten, das ist die Idee des Messias.«92 90 In der von Kohler herausgegebenen kommentierten Quellensammlung Der jüdische Mes­ sianismus im Zeitalter der Emanzipation wird aufgezeigt, dass Cohen nicht der Erste war, der auf den Messias in geschichtlicher Funktion im 19. Jahrhundert reflektierte, und dass er Elemente von seinen Vorgängern (u. a. auch Salomon Formstecher und Samuel Hirsch) übernahm. Allerdings kommt, allem Anschein nach, der Begriff des Messianismus selbst noch nicht in diesen Quellen vor. Vgl. Kohler (Hg.), Der jüdische Messianismus im Zeitalter der Emanzipation. 91 Cohen, Ein Bekenntniß in der Judenfrage, zit. nach Der »Berliner Antisemitismus« 1879–1881, 341 (Hervorhebung im Original). 92 Cohen, Die Messiasidee, zit. nach ders., Jüdische Schriften, Bd. 1, 105–124, hier 124. Der Vortragstext ist, soweit nachvollziehbar, zuerst in den Jüdischen Schriften publiziert worden. Bruno Strauß datierte den Vortrag auf (wahrscheinlich) Februar 1892, was auffällig präzise ist, aber nicht weiter belegt wurde. Dieter Adelmann geht dagegen davon aus, dass der Text nicht vor 1898 geschrieben worden sei. Holzhey wiederum vertritt kohärent die Annahme, dass er in der ersten Hälfte der 1890er Jahre verfasst wurde. In der Allgemeinen Zeitung des Judentums findet sich in der Ausgabe vom 18. März 1892 auf der Titelseite eine Ankündigung der Veröffentlichung des Textes im zweiten Quartal des Jahres, der Artikel wurde zwar dann wohl doch nicht abgedruckt, dies spricht aber klar für die Datierung von Strauß. Diese wird dadurch unterstrichen, dass der Messianismus-Begriff in dem Text Einleitung mit kritischem Nachtrag von 1896 spezifizierter verwendet wird als in Die Messiasidee. Vgl. Anzeige für das zweite Quartal. Zur Datierungsfrage vgl. etwa Wiedebach, Einleitung, in: Cohen, Supplementa 1, VIII f.

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Der Begriff des Messianismus war in diesem Text jedoch noch randständig, im gesamten Text fand er ein einziges Mal Verwendung.93 Gerade in der Schrift Einleitung mit kritischem Nachtrag von 1896 wurde der Begriff dagegen exponiert und als »Schlussstein des Systems der Ethik« bezeichnet.94 Cohen differenzierte darin zwischen einem eschatologischen, auf Erlösung gerichteten und einem prophetischen, an Bildung orientierten Messianismus und setzte beide mit dem Christentum in Verbindung. Der »echten [prophetischen] Bedeutung des Messias entspricht auch jene Ansicht, […] dass Christus eine Idee sei, welche die Wesenseinheit des Menschengeschlechts und das Ideal seiner Vollkommenheit bezeichne«, schrieb Cohen und prognostizierte weiterhin: »Die Zukunft des Gottesglaubens wird davon abhängen, wie deutlich, gründlich und rückhaltlos aufrichtig dieser geschichtliche Sinn und Werth des Messianismus das sittliche Bewusstsein der Menschen ergreifen und erfüllen wird […].«95 Der auf Bildung gerichtete prophetische Messianismus ist Cohens eigener Zentralbegriff. Dennoch werden in der Einleitung – und das ist signifikant – beide Formen des Messianismus nur in Bezug auf das Christentum beschrieben, in dem sie ihren jeweiligen Ausdruck gefunden hätten. Und Cohen setzt seiner Philosophie des kritischen Idealismus entsprechend noch hinzu, dass dieses Bewusstsein »in der vor keiner sogenannten Erfahrung zurückschreckenden Zuversicht auf den ewigen Frieden der in Erkenntniss [sic] geeinigten Menschheit« gründe.96 ­Cohen umriss also 1896 die geschichtsphilosophische Bedeutung des Messianismus, verwies auf das Ziel des ewigen Friedens der Menschheit und zeigte seinen am Ideal und nicht an der Empirie orientierten Grundgedanken an. Das Judentum wurde aber gerade an dieser Stelle nicht genannt.97 In der Vorrede zur Logik der reinen Erkenntnis sah sich Cohen mit einer »allgemeine[n] Weltlage« konfrontiert, die »dem Geiste echter Philosophie« – das meinte der »Weltanschauung des Idealismus«  – widerspreche.98 Darin sah er den Grund für »die Hintanstellung von Recht und Gerechtigkeit hinter Macht und Wohlfahrt, und die Zurücksetzung der Humanität hinter 93 So schrieb Cohen im Kontext eines Rekurses auf den Propheten Ezechiel, der für ihn insgesamt eine zentrale Rolle einnahm: »Aber schon die bloße Berührung mit Menschen anderer Sitten mußte den menschlichen Horizont erweitern. Und als ein mächtiger Eroberer ihnen Achtung schenkte, wie sie dann religiösen Patriotismus standhafter als im eigenen Lande im Elend bewähren, da lockern sich die letzten Schranken des partikularen Messianismus und wie ein Davids Sproß erscheint nunmehr Cyrus.« Ders., Die Messias­ idee, zit. nach ders., Jüdische Schriften, Bd. 1, 113. 94 Vgl. Cohen, Einleitung mit kritischem Nachtrag (1896), LXIII. 95 Ebd. 96 Ebd. 97 Vgl. ebd., LXII f. 98 Cohen, Vorrede, in: ders., Logik der reinen Erkenntnis, VIII.

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die Religion«.99 Den ersten Teil seines Systems situierte Cohen damit in einer Zeitformation, die er insbesondere auch in einem am 9. Juni 1899 in der Allgemeinen Zeitung des Judentums veröffentlichten Text mit dem bezeichnenden Titel Unsere Ehrenpflicht gegen Dreyfus anlässlich der Wiederaufnahme des Verfahrens und der vorläufigen Aufhebung des Urteils von Dezember 1894 herausstellte.100 »Der Judenhaß [bedeutet] nicht nur die Aufhebung der Humanität«, heißt es 1899 in impliziter Vorwegnahme seiner drei Jahre später akzentuierten Zeitdiagnose, in diesem Kontext aber explizit auf den Antisemitismus bezogen, »sondern schlechterdings den Verfall in die Barbarei. Denn die Gerechtigkeit ist das Fundament der Staaten.«101 Im Sommer 1899 hegte Cohen die Hoffnung auf einen endgültigen Freispruch von ­Dreyfus, sah in dieser Entwicklung ein Zeichen der Verbesserung der Lage für die Juden insgesamt und forderte erneut die Anerkennung der »Sittlichkeit des Judentums«.102 Für Cohen bedeutete der Umgang mit Dreyfus letztlich aber einen Verfall des Rechts, des Grundbegriffs des modernen Staats. So gründete er 1902 seine Erwartung einer Verbesserung der Weltlage im Rahmen seines Systems zuerst in der Philosophie als Grundlegung der Wissenschaften, mithin als Zeugin der Objektivität. Dieser Vorrede fügte er eine persönliche Note hinzu, in der er seine Hoffnung auf die künftige Durchsetzung von Freiheit und Wahrheit mit einem – obschon kurzen, so doch bedeutungsschwangeren  – Verweis auf den Messianismus verband: »[E]s ist nicht allein mein Glaube an die religiöse Wahrheit des prophe­ tischen Messianismus, der solchen Optimismus in jeder Zeit- und Lebenslage zum Leitstern macht.«103 Damit trennte Cohen 1902 eine de facto ihm begegnende Religion – hinter die die Humanität zurückgesetzt werde – von der »religiöse[n] Wahrheit des prophetischen Messianismus«. Seine Stoßrichtung war: Die Anerkennung der religiösen Wahrheit des prophetischen Messianismus, seiner Idee des Judentums, unabhängig von den verschiedenen historischen Religionen, oder genauer: unabhängig von der Dominanz des Christentums.104 Der erste Ort dieser Wahrheit war für ihn die Ethik. In der Ethik des reinen Willens erklärte Cohen den Messianismus ganz im Sinne seiner Ausführungen in der Einleitung mit kritischem Nachtrag zum 99 Ebd. 100 Ulrich Sieg sieht entsprechend in Cohens Reaktion auf die Dreyfus-Affäre einen Schlüssel für seine Zeitwahrnehmung. Vgl. dazu Sieg, Der Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus, 259–263. 101 Cohen, Unsere Ehrenpflicht gegen Dreyfus, zit. nach ders., Jüdische Schriften, Bd. 2, 349. 102 Ebd., 350. 103 Cohen, Vorrede, in: ders., Logik der reinen Erkenntnis, VIII. 104 Korrelativ zu dieser Wendung arbeitet John C. Lyden bei aller Kontinuität die Neujustierung von Cohens Verhältnis zum Christentum ab 1900 heraus. Vgl. Lyden, Hermann Cohen’s Relationship to Christian Thought, bes. 295 und 301.

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Zielgeber der Menschheitsentwicklung. Seine Ethik war im Besonderen auf einen sittlichen Staat als anzustrebendes Ideal – als Aufgabe – ausgerichtet, dessen Zentralbegriff das Recht bildet, und im Allgemeinen war der Staatenbund die zur Menschheit hin vermittelnde Idee. Diese Vorstellung wurde mit der Idee des einzigen Gottes begründet, aus der Cohen die Aufgabe der Vervollkommnung des Menschen in der Menschheit ableitete und damit das sakrale Motiv in eine geschichtliche Entwicklung übersetzte. Für diese Ausrichtung auf die Vervollkommnung des Menschen in der Menschheit rekurrierte er auf die Propheten als Wegweiser der Geschichte. Seine Reflexion die Ethik begründender, religiöser Vorstellungen war so an denjenigen Momenten des Judentums orientiert, die er 1880 hervorgehoben hatte und die er nun explizit in eine geschichtsphilosophische Deutung übertrug. »Der ethische Wert des Messianismus besteht in dieser seiner politischen, man möchte sagen, geschichtsphilosophischen Bedeutung. Die Geschichte der Völker, als die Geschichte der Menschheit, das ist das Problem des prophetischen Messianismus«,105 führte Cohen den Gedanken 1904 aus und verwies anschließend auf das weltgeschichtliche Telos: »Hier auf Erden soll Friede werden unter den Menschen, unter den Völkern.«106 Die aus der Prophetie extrahierte Idee des sittlichen Fortschritts der Menschheit wurde so zum konstitutiven Bestandteil der Ethik. Denn in dem Motiv des Weltfriedens sah Cohen »die gewaltigste Idee, welche die Ethik aus einem der philosophischen Methodik fremden Gebiete zu entlehnen und aufzunehmen hat; das lehrreichste Beispiel für den unlöslichen historischen Zusammenhang zwischen Ethik und Religion«.107 Das Judentum benannte Cohen in der Ethik des reinen Willens allerdings nicht im Rahmen seiner Reflexion des »prophetischen Gottes«, obwohl es eindeutig gemeint war.108 Er verwies an dieser Stelle stattdessen auf Martin Luther und die Übereinstimmung des Reformators mit den Propheten.109 Erst in seinen Ausführungen zu den Juden und dem Staat ging Cohen im zweiten Teil des Systems explizit auf das Judentum ein – indem er sich gegen den Antisemitismus richtete. Anhand der Figur des Shylock stellte er die Gefahr des »Judenhasses« heraus und setzte dagegen die Beförderung der Sittlichkeit im und durch das Judentum.110 »In der Tat, für einen Juden, der 105 Cohen, Ethik des reinen Willens, 384 (Hervorhebung im Original). 106 Ebd., 385. 107 Ebd. 108 Einerseits strich Cohen so (weiter oben im Text) heraus, dass »[d]er Sinn des israeli­ tischen Monotheismus […] von vornherein im Messianismus« liege, und andererseits konstatierte er, dass »[d]er Universalismus des Gottes der Propheten nunmehr erkannt« sei. Ebd., 384. 109 Vgl. ebd., 381. 110 Ebd., 468.

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auf Grund geschichtlichen Verständnisses den Anteil kennt, […] welchen der Gedanke des Prophetismus an der Erziehung des Menschengeschlechts hat, und in alle Ewigkeit haben wird«,111 konstatierte Cohen, »für ihn, als Kulturmenschen, kann es keinen tiefern Schmerz geben, als der durch den Undank gegen den ewigen Juden verübt wird.«112 Wenn Cohen also in der Ethik das Primat des Staats gegenüber der Religion betonte, so wandte er sich damit letztlich auch gegen die ihm gegenwärtige, christlich legitimierte judenfeindliche Stimmung und hob gerade in dieser Konfrontation die Übereinstimmung des Judentums mit dem sittlichen Ideal der Menschheit hervor.113 Anfang Dezember 1904 dankte die Frankfurter Loge des Ordens Bne Briss Cohen für den zweiten Teil seines Systems der Philosophie. »Wir danken Ihnen aus tiefstem Herzen, dass Sie wie früher in Rede und Schrift bei jeder sich Ihnen bietenden Gelegenheit so auch dieses Mal eingetreten sind für die Ehre unserer Gemeinschaft und die weltgeschichtliche Sendung unseres Glaubens«, heißt es in dem Brief, der zusammen mit dem Antwortschreiben Cohens im zweiten Bericht der Großloge für Deutschland im Jahr 1905 veröffentlicht wurde. »Wir wissen, Sie konnten davon nicht schweigen in der Ethik.«114 Cohen reagierte nur eine Woche später. »Sie weisen mit Recht darauf hin, dass es die Pflicht der Wahrhaftigkeit war, welche die Würdigung des Judenthums in meiner systematischen Ethik forderte.«115 Und er setzte grundlegend hinzu: »Meine Begeisterung für das Judenthum wurzelt in der Ueberzeugung von dem ethischen Werthe unserer Gottesidee: im Zusammenhange meiner wissenschaftlichen Einsichten steht mein Judenthum.«116 Dies war eine Verbindung, die er im Rahmen seines Systems noch nicht in dieser Form explizit gemacht hatte. Aber nicht in einer Vernachlässigung oder gar Verleugnung des Judentums lag der Grund für diese Zurückhaltung, forderte Cohen doch die konsequente Anerkennung der Sittlichkeit des Judentums, sondern in einer protestantisch geprägten, deutschen Philosophie, deren ablehnende Haltung gegenüber dem Judentum sich bereits im Werk von Kant manifestierte und – für Cohen wohl ein gravierenderer Stein des Anstoßes – deren in der Vernunft fundierter, allgemeiner Wahrheitsbegriff sich einer Verschmelzung von Judentum und systematischer Philosophie auf den ersten Blick zu versperren schien. Aber genau diese Verbindung von kritischem Idealismus und der Idee des Judentums strebte Cohen an. Mit und nach dem System der Philosophie, insbesondere vermittels der Ethik, wurde der »Messianismus« 111 Ebd. (Hervorhebung im Original). 112 Ebd. 113 Vgl. ebd., 468 f. 114 Cohen, Briefwechsel der Frankfurter Loge mit Br. Dr. Cohen in Marburg, 25. 115 Ebd., 26. 116 Ebd.

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zunehmend zentral für sein Denken – der Begriff war ihm gleichsam zur Chiffre seiner Auffassung des Judentums geworden.117 Den Kern seiner Position, die Vorstellung des einen (wahren) Messianismus, der sich vor allem im Judentum, aber auch im Christentum Ausdruck verschaffe, hatte C ­ ohen um 1900 bereits gefunden, aber zu dieser Zeit rückte er die historisch wie philosophisch grundlegende Verbindung von Judentum und Messianismus im Rahmen der akademischen Philosophie noch nicht in den Vordergrund. In dem Brief von 1904 schrieb Cohen jedoch auch, dass er sich freue, bevor er mit »grösseren Arbeiten über die Idee des Judenthums hervortrete, die Bedeutung derselben innerhalb eines philosophischen Systems«118 aufgezeigt haben zu können. Dieses Vorhaben veränderte sich in den Jahren des Krieges. Nicht um vom System getrennte Arbeiten zur Idee des Judentums ging es ihm dann, sondern um die tiefgreifende Verschmelzung seiner Philosophie mit der angezeigten Idee des Judentums. Cohen ließ im System der Philosophie das Judentum eher mitschwingen, als dass er es ausführlich behandelte. Auch einen Zusammenhang von Judentum und Wissenschaft erwähnte er im Dezember 1904 noch vorsichtig. So war diese Verbindung in der Ethik nur unterlegt und er exponierte sie im Rahmen seines Systems auch nicht begrifflich. Die Nennung des vagen »Zusammenhangs« ist bezeichnend für das Verhältnis von Philosophie und Judentum im Denken Cohens an der Jahrhundertwende  – erst ein Jahrzehnt später, in seiner letzten Schaffensperiode fand diese Denkbewegung entschiedenen Ausdruck. Cohen verließ damit letztlich den abgesicherten Bereich des in seiner Allgemeingültigkeit anerkannten Begriffs der Ethik.

Geschichtsphilosophie des Judentums In einem kurzen Text zu Martin Luthers Gedächtnis vom Herbst 1917 schrieb Cohen: »Grätz hat in der Programmschrift zu seinem Lebenswerk den denkwürdigen Ausspruch formuliert: Das Judentum ist schon in seinem Ursprung Protestantismus.«119 Cohen nahm damit den von Graetz 1846 in unbestimmter philosophischer Hinsicht, nur grob als Abstraktion verstandenen Begriff und schrieb diesem seine eigene Auffassung des Protestantismus ein. Diese Deutung der Philosophie der Geschichte von Graetz sagte damit weit mehr über Cohens eigene Position aus als über Graetz’. Eine Verschiebung hatte in dessen Denken stattgefunden. Denn in den Jahren nach 117 Vgl. die Texte in Jüdische Schriften, die mit und nach der Jahrhundertwende verfasst wurden. Zur Orientierung vgl. Gesamt-Inhaltsverzeichnis der drei Bände nach zeitlicher Folge, in: Cohen, Jüdische Schriften, Bd. 1, IX f. 118 Ders.. Briefwechsel der Frankfurter Loge mit Br. Dr. Cohen in Marburg, 26. 119 Ders., Zu Martin Luthers Gedächtnis, zit. nach ders., Werke 17, 533–540, hier 537.

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der Ethik des reinen Willens rückte er zunehmend das Judentum – letztlich auch als Wort – ins Zentrum seiner Schriften. Im Herbst 1917 betonte er zwar eine Affinität, die er bereits 1880 unter dem Namen der »israelitischen Religion« angezeigt hatte, die er nun aber mit der Verbindung von Judentum und Protestantismus klar benannte und dafür ausgerechnet Graetz heranzog. 1914, zehn Jahre nach der Veröffentlichung des zweiten Teils seines philosophischen Systems, machte Cohen die Überschneidung von seinem Verständnis des Judentums und der zugehörigen Interpretation des Christentums begrifflich explizit. So fügte er in der dritten Auflage der Einleitung mit kritischem Nachtrag, kurz vor seinen Ausführungen zum prophetischen und eschatologischen Messianismus, eine Erinnerung an seine erste Begegnung mit Friedrich Albert Lange ein, in der er selbst gesagt haben wollte: »[W]as sie Christentum nennen, nenne ich prophetisches Judentum.«120 Auch wenn das Judentum durch die christliche Gesellschaft einer Nichtbeachtung bis Abwertung und offenem Antisemitismus ausgesetzt war, gab Cohen die Hoffnung auf Versöhnung der beiden »Religionen« nicht auf. In dem prophetischen Messianismus sah er die mögliche Gemeinsamkeit; die protestantische Theologie war die Adressatin einer erhofften Anerkennung und Verbindung. Dieser Erwartung entsprechend, hielt Cohen 1910 auf dem »Fünften Weltkongress für Freies Christentum und Religiösen Fortschritt« einen Vortrag mit dem Titel Die Bedeutung des Judentums für den religiösen Fortschritt der Menschheit, der in mehrere Sprachen übersetzt wurde.121 Dem Vortrag widmete Isaac Breuer, der Enkel Samson Raphael Hirschs, 1911 eine ausführliche Besprechung in Der Israelit mit dem vielsagenden Titel Was läßt Hermann Cohen vom Judenthum übrig?122 – eine rhetorische Frage, war es doch kaum etwas, was Breuer den Ausführungen Cohens abgewinnen konnte. Obgleich Breuer den Philosophen respektierte, war ihm dessen Interpretation des Judentums ein Dorn im Auge. Cohen verleugne den »Gesetzescharakter des Judentums überhaupt« und degradiere »das Judentum zu einem bloßen Formalprinzip der Sittlichkeit« polemisierte Breuer.123 Der Angegriffene ließ sich freilich davon nicht beirren und strebte weiterhin die Symbiose von kritischem Idealismus und Judentum an, die 120 Ders., Einleitung mit kritischem Nachtrag (1914), zit. nach ders., Werke 5.2, 104. 121 Vgl. ders., Die Bedeutung des Judentums für den religiösen Fortschritt der Menschheit, zit. nach ders., Werke 15, 429–454. 122 Breuer setzte sich zweimal dezidiert mit Arbeiten Hermann Cohens auseinander: einmal 1911 in der Artikelserie in Der Israelit, in der er Cohen scharf kritisierte, und einmal 1915 in den Jüdischen Monatsheften mit Deutschtum und Judentum unter dem Titel Von deutscher Zukunft. In dem Artikel von 1915 zeigte sich eine gewisse Konvergenz der beiden Positionen – jedoch nicht in der Frage nach dem Judentum, sondern in der nach der »deutschen Zukunft«. Vgl. Breuer, Was läßt Hermann Cohen vom Judentum übrig?; ders., Von deutscher Zukunft. 123 Ders., Was läßt Hermann Cohen vom Judentum übrig? II, 2.

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ihren vollen Ausdruck schließlich in der Religion der Vernunft fand – das »Gesetz« erhielt darin jedoch eine neue Präsenz und der Bezug zur protestantischen Theologie veränderte sich. Fünf Jahre nach dem Weltkongress und ein Jahr nach Beginn des Krieges trat Cohen mit der Schrift Der Begriff der Religion im System der Philosophie in die Öffentlichkeit, die seinem Spätwerk den Weg ebnete. Am 1. Oktober 1913 erschien eine von Cohen verfasste Besprechung der Antrittsrede eines protestantischen Theologieprofessors an der Universität Tübingen in der Allgemeinen Zeitung des Judentums, die in gewissem Sinn die Schrift Der Begriff der Religion vorbereitete.124 Die Rede war mit dem Titel Die Eigenart der alttestamentlichen Religion versehen, Cohen übernahm diese Überschrift für die Rezension und hob hervor, welche »Anerkennung und Bedeutung« der Verfasser der »prophetischen Religion« mit dieser Rede habe zukommen lassen.125 Denn der Theologe sei nach Cohen zu dem Ergebnis gekommen, dass »›[d]ie Entdeckung der Teleologie in der Geschichte […] der Ruhm der alttestamentlichen Religion‹« sei.126 Für Cohen eine Würdigung, die seiner eigenen Auffassung so nahe kam, dass er diesen Satz mit dem »Sinn der Geschichte« identifizierte und diesen wiederrum mit dem »Sinn des menschlichen Daseins«.127 In der »Entdeckung der Teleologie in der Geschichte« in der »jüdischen Religion« bestehe, so Cohen, »der genaueste Sinn und Wert ihrer Eigenart«.128 Und er diagnostizierte: »Der Prophetismus ist als die Seele der jüdischen Religion erkannt.«129 Cohen rückte in seinen eigenen Schriften zwar den Begriff der Teleologie in den Hintergrund, aber die Affinität der geschichtsphilosophischen Darstellung und die darin ausgemachte Anerkennung der für Cohen zentralen Motive im Judentum von einem protestantischen Theologen ließen ihn auf eine wissenschaftliche Verständigung hoffen. Ein Jahr später, in der Schrift Der Begriff der Religion, deren Manuskript Cohen im Herbst 1914 fertigstellte,130 bestimmte er bezeichnenderweise gerade durch den Topos der »Eigenart« die Binnenstruktur der Religion im – wie der zweite Teil des Titels anzeigt – System der Philosophie: Obschon Cohen die Religion hier allgemein interpretierte, war dieser doch noch die jüdische unterlegt, wie sie in der Besprechung vom Herbst 1913 adressiert 124 Vgl. dazu Strauß, Anmerkungen zu »Die Eigenart der alttestamentlichen Religion«, in: Cohen, Jüdische Schriften, Bd. 2, 481. 125 Cohen, Die Eigenart der alttestamentlichen Religion, zit. nach ders., Jüdische Schriften, Bd. 2, 410–415, hier 410. 126 Ebd., 412. 127 Ebd., 413. 128 Ebd. 129 Ebd., 414. 130 Vgl. dazu Poma, Einleitung, 7 f.

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worden war. Zugleich kann die Schrift von 1915 als Übergang vom System zur Religion der Vernunft gelesen werden, wenn Cohen darin sein Postulat der »Auflösung der Religion in Ethik« rekapitulierte und revidierte und dagegen eben die »Eigenart der Religion« im System der Philosophie richtete, die nicht als Selbstständigkeit missverstanden werden solle.131 Vermittels dieser Zuordnung setzte Cohen die drei »Sonderrichtungen des Bewusstseins«, das Denken, das Wollen und das Gefühl, wie auch die Lehre vom »Gesamtbewußtsein«,132 die Psychologie, ins Verhältnis zur Religion. Gleichzeitig führte er bereits in dieser Schrift Zentralbegriffe seiner Philosophie des Judentums ein, die in ausführlicher Form den Gegenstand der Religion der Vernunft bilden.133 Der kritische Idealismus, den Cohen im System der Philosophie entfaltete, ist auch in Der Begriff der Religion seine Methode.134 In seinem Spätwerk blieb er es in der Verbindung der »histo­ rischen« Quellen mit der Vernunft. Im Bereich der Religion kreisten die Ausführungen allerdings nicht mehr um den »philosophische[n] Idealismus« der Naturerkenntnis als Primat und dessen Analogiebildung in der Ethik, sondern um das »einzige Sein Gottes«.135 In Religion der Vernunft ging es Cohen seiner universalistischen Per­ spektive entsprechend nicht darum, das Judentum als die einzige Religion darzustellen, die Anteil an der Vernunft habe. »[I]ch suche zu begreifen, wie auch andere monotheistische Religionen an der Religion der Vernunft ihren fruchtbaren Anteil haben«, eröffnete er seine Ausführungen. Er setzte jedoch hinzu, dass sich diese anderen monotheistischen Religionen im Hinblick auf »Ursprünglichkeit« nicht mit dem Judentum messen könnten.136 Während sein historischer Blick somit klar das Judentum als die erste Religion kennzeichnete  – das Christentum war darin der implizite und manchmal auch explizite Gegenpart –, galt es, den unmittelbaren Bezug zur Vernunft aufzuzeigen. Dafür prüfte Cohen eben die Quellen des Judentums und fand in diesen die von der Ethik zuerst berührten, geschichtsphilosophisch repräsentierten Richtlinien der Vernunft bestätigt. So löste er letztlich den ihn jahrzehntelang begleitenden Zwiespalt zwischen systematischer Philosophie und Judentum auf. Diese Versöhnung fand ihren paradigmatischen Ausdruck in dem Satz: »Offenbarung ist die Schöpfung der Vernunft.«137 Den Messianismus als solchen, den Begriff der Menschheit und eine teleologische Vorstellung bewahrte Cohen in seiner letzten Schaffens­periode. 131 Vgl. Cohen, Werke 10, 42–44. 132 Ebd., 108. 133 Vgl. etwa ebd., 70–78, 113 und 126–130. 134 Vgl. dazu bes. Poma, Einleitung, 17. 135 Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, 54. 136 Ebd., 39. 137 Ebd., 84.

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Aber  – und dies war die Perspektivveränderung in systematischer Hinsicht – das Individuum, das aus ethischer Sicht nicht hinreichend hatte gerechtfertigt werden können,138 wurde in den Jahren des »Großen Krieges« zu einem zentralen Begriff. Seine Ethik war zunächst auf einen sittlichen Staat ausgerichtet, in dessen Kern die Rechtswissenschaft stand, die zwischen dem einzelnen Menschen und dem idealen Allgemeinbegriff der Menschheit vermittele. Nun veränderte Cohen seinen Blick auf diesen Übergang vom Menschen zur Menschheit. Die Begriffe von Staat und Recht blieben zwar Angelpunkte seiner Reflexion, aber sie erhielten ein anderes Fundament: die »Korrelation von Gott und Mensch«.139 Bereits in dem Text Die Lyrik der Psalmen, der wohl auf den Spätsommer 1914 datiert werden kann, fand sich die »Korrelation von Gott und Mensch« und wurde mit dem »ästhetischen Bewußtsein« als »Vermittlung« für »das Gottvertrauen« verbunden.140 Den Begriff der Korrelation definierte Cohen bald darauf in seiner systematischen Schrift, eine Bestimmung aus der Logik der reinen Erkenntnis aufnehmend, als »wissenschaftliche Grundform des Denkens, in unserer Terminologie des Urteils«, deren »allgemeiner Name […] der des Zwecks« sei; im Besonderen verstand er ihn nun jedoch als »Theodizee«.141 Der Mensch werde demnach als »tätiger Faktor« und »Gott dagegen als das Ziel gedacht«.142 Während Cohen die Korrelation von Gott und Mensch in Der Begriff der Religion systematisch einführte, situierte er diese in seinem Spätwerk auch historisch. Den ersten Ausdruck dieser die Einzigkeit des je einzelnen, sündhaften Menschen begründenden Verbindung sah Cohen in der Offenbarung am Sinai und grenzte sich zugleich von einer partikularistischen Position ab. So heißt es in Religion der Vernunft: »Der Mensch, nicht das Volk, nicht Mose; der Mensch als Vernunftwesen ist das Korrelat zum Gotte der Offenbarung.«143 Der Korrelation von Gott und Mensch, so Cohen, entspreche eine Begegnung der einzelnen Menschen

138 Auf den Begriff des Individuums war Cohen in der Einleitung mit kritischem Nachtrag wie auch in der Ethik des reinen Willens zwar eingegangen, hatte ihn aber dem Bereich der Religion zugeordnet, was letztlich ein weiterer Hinweis darauf ist, dass er das Konzept der Religion auch der protestantisch-theologischen Diskussion entnahm. Zum Individuum vgl. (unter vielen anderen Stellen) etwa ders., Einleitung mit kritischem Nachtrag (1896), LII f.; ders., Ethik des reinen Willens, 50 f., 57 und 250–252. 139 Vgl. ders., Werke 10, 60 f.; ders., Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, 95 f. 140 Ders., Die Lyrik der Psalmen (1914), zit. nach ders., Werke 16, 163–198, hier 168. Der Text wird von Wiedebach unter Vorbehalt auf den Spätsommer 1914 datiert. 141 Ders., Werke 10, 47 und 69. 142 Ebd., 63. Den »Zweck« in Bezug auf die »Korrelation« hielt Cohen auch in der Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums präsent. Vgl. ders., Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, 108–112. 143 Ebd., 92.

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miteinander, die durch das Leid und das Mitleid konstituiert werde.144 Diese Reflexion des Leidens führte ihn weiter zu der Kritik sozialer Ungleichheit und Armut. Er deutete die Propheten an seine ethische Position anknüpfend als »Sozialpolitiker« und erklärte einen – an Kant geschulten – Sozialismus zu ihrer politischen Agenda.145 Um diese Ausrichtung grundzulegen, dachte Cohen in seiner letzten Schaffensperiode über das Motiv des menschheitlichen »Stellvertreter[s] des Leidens« nach und setzte die doppelte Verbindung der Korrelation vermittels der Denkfigur des Messias in den geschichtsphilosophischen Zusammenhang.146 1915 betonte er zwar, dass der Messias in der jüdischen Tradition vom »Volk Israels«  – in seiner Sicht dem »Rest Israels«  – vertreten werde, versinnbildlichte das Leiden aber gerade in einem christlichen Motiv: »Unser Kapitel faßt die letzten Forderungen und Ausblicke der Philosophie der Geschichte in seinen tragischen Bildern zusammen«, hielt er am Beginn des Krieges fest und insinuierte in Bezug auf die Eigenart der Religion anschließend: »Was wäre alle Geisteswürde des Menschen ohne die Dornen­k rone des Leidens!«147 In der Religion der Vernunft grenzte sich Cohen dagegen explizit von einer »christologische[n] Deutung« ab. Diese habe den »Geschichtsbegriff überhaupt« verfehlt, weil »sie den Stellvertreter des Leidens zum Stellvertreter der Schuld gemacht« habe.148 »Einen solchen gibt es nicht und kann es nicht geben, sofern die Ethik die methodische Norm der Religion bleibt.«149 Damit wurde die Religion erneut ins Verhältnis zur Ethik gesetzt und die zugrunde liegende Auseinandersetzung mit christlichen Vorstellungen und Bildern trat deutlich hervor, vor allem aber wurde die Zentralität des Geschichtsbegriffs für Cohens Auffassung des Judentums herausgestrichen. Nicht nur hatten die Propheten demnach den Geschichts­begriff in seiner Zukunftsorientierung erzeugt;150 auch der Messias figurierte in der Deutung des Stellvertreters als »Idealbild des Menschen der Zukunft, der Menschheit« – einem »Atlas« gleich, der die »sittliche Welt der Zukunft trägt«.151 Symbolisiert sei dieser aber nicht in einer Person, sondern im »Rest Israels«, im »messianischen Volk«, in den »Frommen«.152 Ganz im Sinne der 144 Vgl. ebd., 166. 145 Vgl. ebd., 287; ders., Werke 10, 72 f. 146 Vgl. ders., Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, 291–313. 147 Ders., Werke 10, 131 (Hervorhebung im Original). Robert Erlewine deutet Cohens Jesus-­ Interpretation ausgehend von Der Begriff der Religion im System der Philosophie im Kontext aus und zeigt auf, wie Cohen den »Jewish Jesus« in den Vordergrund holt. Vgl. dazu Erlewine, Hermann Cohen and the Jewish Jesus. 148 Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, 308. 149 Ebd. 150 Vgl. ebd., 305. 151 Ebd. 152 Ebd., 312; Cohen, Werke 10, 126 und 130.

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geschichtsphilosophischen Verbindung von Ethik und Religion endet die Religion der Vernunft mit der Hoffnung auf den weltgeschichtlichen Frieden. Im Angesicht des Krieges schrieb Cohen abschließend auf die unendliche Aufgabe in der Geschichte verweisend: »In dieser geschichtlichen Ewigkeit vollführt sich die Friedensmission der messianischen Menschheit.«153 Cohens Interpretation des Judentums kreiste so auf dem Fundament der tradierten Quellen um eine geschichtlich wirksame, durch den transzendenten Gott angestoßene, beförderte und zielorientierte, aber immanente, geschichtliche Entwicklung zum ewigen Frieden der Menschheit, das heißt um eine Geschichtsphilosophie des Judentums. Den Kern bildete die Erzeugung von Geschichte in der Prophetie. In der Religion der Vernunft findet sich ein signifikanter Unterschied zur Darstellung der Religion in der Ethik des rei­ nen Willens. 1904 entstand Religion für Cohen – noch im Rahmen von Geschichtsphilosophie begründet – durch die Dimension der Zukunft; in den Jahren des Krieges verhalf die Dimension der Zukunft wiederum dem Geschichtsbegriff zu seiner Ausprägung. Die für Cohen zunächst noch selbstverständliche, alles umspannende eine Geschichte war erklärungsbedürftig geworden. Die Geschichte selbst musste geradezu neu begründet werden – und so war die Geschichtsphilosophie des Judentums in ihrer wechselseitigen Bedingung zu verstehen. Während Cohen die Idee des Judentums trotz dieser Verschiebung schon lange in der Prophetie fundierte und diese geschichtsphilosophisch deutete, nivellierte er die Frage nach dem Talmud zumeist perspektivisch. In seiner letzten Schaffensperiode rückte er jedoch Vernunft und Offenbarung in dasjenige Verhältnis, nach dem die Offenbarung die Vernunft geschaffen habe, und veränderte auf diesem Fundament seine Blickrichtung. Bereits in seinem Gutachten von 1888 hatte Cohen den universalistischen Gehalt der Gebote und Verbote im Judentum verteidigt. In seinem Spätwerk knüpfte er daran an – insbesondere die Figuration des Noachiden erhielt in dem Text Religion der Vernunft ihren zentralen Ort.154 Aber mehr noch: Cohen nahm die Reflexion des Talmuds als konstitutives Moment im Judentum in seinen Gedankengang auf und überschrieb dessen Deutung nun gerade  – paradigmatisch – mit »Gesetz«. In Die Nächstenliebe im Talmud hatte er diesen in der Auseinandersetzung (und seit Luther) als Anwurf ausgesprochenen Topos noch vermieden, aber in seiner letzten Schaffensperiode verband sich sein in der systematischen Philosophie gewonnener Begriff des Gesetzes mit der Reflexion des Talmuds. In der Schrift Deutschtum und Judentum legte Cohen seine Herleitung des Gesetzesbegriffs offen. »Erinnern wir uns dagegen, daß auch in Kants Ethik als zwei Pole gleichsam die beiden 153 Ders., Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, 533. 154 Vgl. u. a. ebd., 141–144 und 382 f.

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Grundbegriffe der Autonomie und des allgemeinen Gesetzes, der Freiheit und der Pflicht zusammenwirken,« erweiterte er dessen Reflexion der angestrebten Verbindung entsprechend, »so erkennen wir in diesem innersten Heiligtum des deutschen Geistes die innerste Verwandtschaft, die in ihm mit dem Judentum obwaltet.«155 In der Religion der Vernunft benannte er diese Übertragung von Kants Philosophie auf den Grundgedanken des Judentums nicht mehr, unterlegte sie aber seinen Überlegungen. »Und wie die Offenbarung das notwendige Mittel der Korrelation ist, so auch das Gesetz. Offenbarung und Gesetz sind daher identisch«, stellte er in Religion der Ver­ nunft heraus. »Wäre das Gesetz nicht die notwendige Form für den Vollzug der Korrelation zwischen Gott und Mensch, so wäre auch die Offenbarung nicht. So ist das Gesetz Gottes ein notwendiger Begriff des Monotheismus.«156 Das Gesetz wurde damit auch in den Messianismus aufgenommen. Es dürfe dafür aber nicht nur »Religionsgesetz« sein, sondern müsse als Sittengesetz begriffen werden. Der Unterschied zwischen menschlicher Autonomie und von Gott gelenkter Heteronomie lag für Cohen in dem von Ethik und Religion, nicht in der Sache selbst begründet. »Das Gesetz ist Sittengesetz, oder Hilfswerk zum Sittengesetz«, apostrophierte er gegen die (auch) seiner Ansicht nach zuerst von Paulus aufgebrachte, aber auch ihm noch gegenwärtige christliche Polemik des bloß Statutarischen. »Einen anderen Sinn hat es nicht als allein den zur Erziehung und zur Heiligung des Menschengeschlechts.«157 Wieder berührte Cohen damit in aufklärerischem Vokabular sowohl den Gegenstand des Disputs zwischen Frankel und Hirsch von 1861 als auch in Entgegnung die Anfeindungen, denen sich die deutsche Judenheit ausgesetzt sah. Er löste den Widerspruch zwischen sakraler Gültigkeit und profaner Historisierung durch die gottgegebene, menschliche Vernunft auf  – das Primat blieb die Sittlichkeit, nachgerade als Apotheose. Eine Reminiszenz seiner Jugend zeigte sich indes nicht nur in dieser Aufnahme des Talmuds in seine Überlegung zum Sittengesetz, sondern auch in der prophetischen Poesie, die Eingang in die Religion der Vernunft fand. Während in der Ethik des reinen Willens von 1904 im Rahmen der Ausführungen zum Messianismus Luther selbstverständliche Referenz war,158 wurde dieser in der Religion der Vernunft nicht mehr benannt  – dafür fand Graetz mit seiner Interpretation des Hohelieds im entsprechenden Teil zum Messianismus Erwähnung.159 Bereits in dem 1912 publizierten Werk 155 Cohen, Deutschtum und Judentum, zit. nach ders., Werke  16, 481 (Hervorhebung im Original). 156 Ders., Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, 394 f. 157 Ebd., 399. 158 Vgl. Cohen, Ethik des reinen Willens, 381. 159 Vgl. ders., Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, 299.

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Ästhetik des reinen Gefühls betrachtete Cohen die Poesie als Voraussetzung aller Künste.160 Zu dieser Zeit zeigte sich zuerst die gedankliche Verbindung von seiner Reflexion der Poesie und dem Wirken von Graetz an. So hob er hervor, dass es ihm eine »besondere Genugtuung« sei, »der Deutung des Hohen Liedes zu gedenken, die von meinem Lehrer, unserem großen Lehrer Graetz, herrührt«.161 Auch in seinem Spätwerk sah Cohen die Poesie der Propheten als zentral an. Diese Verweise sind Ausdruck einer Verschiebung des Resonanzraums von der protestantischen Theologie zur Wissenschaft des Judentums. Während Cohen in der Einleitung mit kritischem Nachtrag den Messianismus noch über das Christentum bestimmte, führte er ihn in Der Begriff der Religion im System der Philosophie klar über das Judentum ein und legte damit die im Rahmen des Systems zunächst nur implizite Grundlegung offen. Der »reine Messianismus« wurde nun zum Kriterium, das Judentum und Christentum unterscheide, und der »moderne Protestantismus« näherte sich diesem nunmehr (nur noch) an.162 Als Cohen also 1917 Graetz die Worte zudachte, dass das Judentum in seinem Ursprung Protestantismus sei, schwang in diesen der gewonnene Begriff des Ursprungs der »Religion der Vernunft« im Judentum mit und vereinnahmte in der Abspaltung des »modernen Protestantismus« zugleich den Begriff des Protestantismus insgesamt.163 Die Anerkennung vonseiten des Christentums war in Cohens Philosophie vom Zentrum in die Peripherie gerückt, geradezu zum Nachtrag geworden. Kein Paradigmenwechsel jedoch, sondern eine Verbindung von kritischem Idealismus und den Quellen des Judentums war es, die Cohens Philosophie in seiner letzten Schaffensperiode anleitete. In der Religion der Vernunft synthetisierten sich so schließlich die zwei Säulen seines Selbstverständnisses: sein Verständnis des Judentums und die an Kant geschulte Philosophie. 160 Vgl. bes. ders., Ästhetik des reinen Gefühls, Bd. 1, 367; ders., Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, 299 und 310. Sowohl im Speziellen zu Cohens Verbindung von Erkenntnis und Liebe in der Charakteristik der Ethik Maimunis von 1908 als auch im Allgemeinen zur neuen Bedeutung der Poesie in Cohens letzter Schaffensperiode vgl. Wiedebach, Stufen zu einer religiösen Metaphorik, bes. 304–307. 161 Cohen, Über den ästhetischen Wert unserer religiösen Bildung, zit. nach ders., Werke 16, 199–235, hier 219. Der Text wurde von Bruno Strauß auf das Jahr 1914 datiert, was aber zweifelhaft ist. In den Corrigenda zu Band 5 wird der Text als Verschriftlichung eines Vortrags betrachtet, den Cohen höchstwahrscheinlich im Winter 1911/12 in Breslau gehalten hat. Als Beleg dafür wird das im Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur 16 (1913) abgedruckte Verzeichnis der Vereine für jüdische Geschichte und Literatur in Deutschland und Bericht über deren literarische Tätigkeit im Winterhalbjahr 1911/1912 angegeben. Cohen bezieht sich auch in seinem Text Der heilige Geist von 1915 kurz auf Graetz’ Kommentar zu den Psalmen. Vgl. dazu Cohen, Der heilige Geist (1915), zit. nach ders., Werke 16, 437–464, hier 450. 162 Ders., Werke 10, 66 f. 163 Vgl. dazu u. a. Wiese, Art. »Protestantisierung«, bes. 39.

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Auf März 1918 – Cohen verstarb am 4. April des Jahres – ist das Vorwort zur dritten, überarbeiteten Auflage von Kants Theorie der Erfahrung datiert. Cohen benannte darin bezeichnenderweise eine »Eigenart des deutschen Geistes«.164 Die messianische Hoffnung formulierte er nicht erneut, diese hatte er in der Religion der Vernunft bereits ausführlich dargelegt, sondern einen »Segensspruch« im Hinblick auf sein »nationales Bewusstsein« als »politisches Glaubensbekenntnis«.165 In diesem zeigte er sich zuversichtlich, dass »der Geist der deutschen Philosophie, der Geist Kants in seiner geschichtlichen Ewigkeit die Menschheit zum wahrhaften Frieden der Humanität, zur Vereinigung im Geiste bringen wird«.166 Und wie Cohen das Werk seines philosophischen Förderers Lange 1896 in der Einleitung mit kritischem Nachtrag einer Zeitformation zugeordnet hatte, in der »der Liberalismus für das Recht als das Fundament des Staates, für den Rechtsstaat mit Begeisterung eintrat«, so blieb Cohens eigene Referenz die kurze liberale Phase im deutschen Kaiserreich, die er implizit noch im März 1918 präsent zu halten suchte.167 Bereits 1880 hatte er sein Nationalitätsideal angeführt, durch das die religiöse Fortentwicklung der deutschen Judenheit im nationalen Rahmen Anerkennung finden solle. Iterativ suchte er der zunehmenden völkischen Kontamination des Nationalen einen idealen Begriff der Nation entgegenzusetzen, der explizit nicht durch Abstammung, sondern ethisch fixiert war. Cohen führte sein Verständnis dessen in seinen zentralen Schriften aus: eben in der Einleitung mit kritischem Nachtrag, aber auch in der Ethik des reinen Willens und letztlich noch in der Religion der Vernunft.168 Ihren Grund hatte diese Verhältnisbestimmung in der Frühphase des Kaiserreichs, die nicht ein Jahrzehnt dauerte und in der er den Vorschein eines Ideals wahrgenommen zu haben meinte, dessen Verwirklichung er bis zum Ende anstrebte. In seinem Glaubensbekenntnis vom März 1918 zeigte sich damit das Spannungsfeld, in dem Cohen sich bis zu seinem Lebensende bewegte: Auf der einen, empirischen Seite stand die deutsche Judenheit, die sich wiederholten, sich verstärkenden antisemitischen Angriffen und dem zunehmend rasseideologisch aufgeladenen Nationalismus ausgesetzt sah. Auf der anderen, ideellen Seite schien der ethische Staatsbegriff auf, den Cohen im 164 Cohen, Vorrede zur dritten Auflage, zit. nach ders., Werke 1.1, XX–XXV, hier XXI. 165 Ebd., XXV. 166 Ebd. 167 Cohen, Einleitung mit kritischem Nachtrag (1896), XV. Cohens Verhältnis zum Liberalismus – mit Max Weber als Ausgangspunkt für das Begriffsverständnis – betrachtet Paul Egan Nahme aus dem Moment der Krise am Ende des Ersten Weltkrieges heraus. Vgl. dazu ders., Hermann Cohen and the Crisis of Liberalism. 168 Vgl. Cohen, Einleitung mit kritischem Nachtrag (1896), LXXI–LXXV; ders., Ethik des reinen Willens, 557 f.; ders., Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, 421 f.

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»deutschen Geist«, der für ihn eben die Philosophie Kants und die Idee des Protestantismus meinte, gegründet sah und in dem die »jüdische Religion« auf dem Fundament der Sittlichkeit in der anzustrebenden Menschheit und vermittels des Begriffs der Nationalität letztlich wahre Anerkennung finden könne und solle. Idee und Wirklichkeit näherten sich indes in Cohens eigener Lebenszeit nicht an – im Gegenteil –, dennoch erhielt er die Hoffnung aufrecht.169 Im Rückbezug auf die sakralen Quellen des Judentums erneuerte Cohen die Ideale der Aufklärungszeit im Namen der Geschichte und gab damit eine Antwort auf die Krise der Moderne, der das Denken des langen 19. Jahrhunderts eingeschrieben war. Indem Cohen die Propheten als die Idealisten der Geschichte bezeichnete, ging es ihm – als Zeichen einer Zeit, in der die Fundamente der epistemischen Ordnung des 19. Jahrhunderts brüchig wurden – um die Wiedergewinnung eines »ethischen Begriff[s] der Geschichte«.170 Das Konzept der Vervollkommnung schwand zwar in den Jahren des Krieges, wurde aber durch eine angestrebte Überwindung von Leid ersetzt. Obwohl die geschichtsphilosophische Zielvorstellung sich veränderte, wurde sie im Begriff der Menschheit aufrechterhalten. Auf sakralem Fundament entwarf Cohen damit eine dem Fortschrittsdenken der geschichtlichen Welt verhaftete Geschichtsphilosophie des Judentums, die sich im Topos der »Religion der Vernunft« emblematischen Ausdruck verschaffte und deren Kern der Messianismus bildete.

169 Eine entsprechende Deutung legt George L.  Mosse in seiner Studie zur Wirkung des Bildungsbegriffs auf deutsch-jüdische Intellektuelle vor. Vgl. dazu ders., Jüdische Intellektuelle in Deutschland. 170 Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, 309.

6. Philosophische Sprache: Von Cohen zu Rosenzweig

Die Zeitschrift Neue Jüdische Monatshefte stellte der Ausgabe vom 10. April 1918 eine Notiz im Andenken an Hermann Cohen voran. Darin wird ein Sonderheft angekündigt, in dem gewürdigt werden solle, »[w]as er der deutschen und der jüdischen Wissenschaft bedeutet hat«.1 In der Zeitschrift, in der auch seine letzte Veröffentlichung zu Lebzeiten noch erschien, konnte er, heißt es weiter, »den liebsten Gedanken seines Herzens mit wundervoller Kraft predigen«.2 Bei diesem Gedanken handelte es sich um nichts Geringeres als die Vereinbarkeit deutscher und jüdischer Zugehörigkeit. Cohen habe sich stets dafür eingesetzt, »daß man Volljude und dennoch gleichzeitig Volldeutscher sein kann«.3 Die Zeitschrift war im Herbst 1916, kurz nach einem programmatischen Streit zwischen Cohen und Martin Buber über den Zionismus in Konkurrenz zu der von Buber herausgegebenen Monatsschrift Der Jude gegründet worden. So war es nur konsequent, diejenige Verbindung von »Deutschtum und Judentum« ins Zentrum des Andenkens Cohens zu stellen, die dieser insbesondere 1915 postuliert hatte.4 Das im April 1918 angekündigte Sonderheft erschien einen Monat später. Der inhaltliche Teil wird von zwei Arbeiten Cohens gerahmt: Ein Teil des dritten Kapitels zur Schöpfung aus der Religion der Vernunft ist an den Anfang gestellt und am Ende ein Auszug aus Cohens Mahnung des Alters an die Jugend veröffentlicht. Eine bibliografische Übersicht von Cohens Schriften ergänzt das Heft. Die Auswahl der Würdigungen wird mit der Rede am Grabe Cohens von Ernst Cassirer eröffnet,5 der wohl sein engster Vertrauter war. Auf diese folgen die bei der Trauerfeier vorgetragenen Ausführungen des langjährigen Weggefährten in Marburg Paul Natorp.6 Weitere Schüler und Vertraute Cohens kommen danach: Zuerst Benzion Kellermann und Jakob Klatzkin, die beide bei Cohen in Marburg studiert hatten.7 Auch Karl Joël, dessen Onkel Manuel Joël am Jüdisch-Theologischen Seminar in Bres1 Traueranzeige zu Hermann Cohen. 2 Ebd. 3 Ebd. 4 Zu dieser Konkurrenz und der Frage nach dem Zionismus in Bezug auf die Zeitschrift Neue Jüdische Monatshefte vgl. Lappin, Der Jude 1916–1928, 37 f. 5 Vgl. Cassirer, Hermann Cohen. 6 Vgl. Natorp, Nachruf an Hermann Cohen. 7 Klatzkin veröffentlichte bereits 1919 seine umfangreiche Würdigung Hermann Cohen im Jüdischen Verlag. Zu Kellermanns erster Begegnung mit Cohen vgl. etwa Lattki, B ­ enzion Kellermann, 63.

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lau Religionsphilosophie gelehrt und dort den jungen Cohen unterrichtet hatte, trug seine Erinnerungen an Cohen bei. Den Reigen schloss ein kurzer Text von Franz Rosenzweig. In den Beiträgen zeigte sich eine Divergenz an der Frage nach der von der Redaktion der Neuen Jüdischen Monatshefte einen Monat davor neben dem Judentum hervorgehobenen Stellung des »Volldeutschen« im Denken Cohens, die vor allem Natorp exponierte, während Cassirer sie ignorierte. Die »Vaterlandstreue« sei ihm »ebenso selbstverständlich« gewesen, parallelisierte Natorp, »wie die Treue zu seinem angestammten Judentum«.8 Und weiterhin heißt es: »So wenig dieses ihm je in die vage Allgemeinheit einer Menschheitsreligion zerfloß, so wenig das Deutschtum in die leere Abstraktion des Menschentums.«9 Bei Klatzkin blieb unter dem richtungsweisenden Titel Hermann Cohens Philosophie des Judentums von der bei Natorp und der Redaktion betonten Bedeutung des Deutschtums nur mehr eine Bewahrung der »jüdische[n] Nationalität in unserem deutschen National­staate«;10 und Kellermann schloss seine Ausführungen Die religionsphilosophische Bedeutung Hermann Cohens mit dem Satz: »[Die] Liebe zum Judentum ist für Cohen das Zaubermittel, mit dem er die Probleme des Judentums und der Menschheit für Generationen geklärt, erhellt und gelöst hat.«11 Während Natorp also die Reflexion des Deutschtums im Andenken Cohens akzentuierte und sie sogar in Teilen gegen den Menschheitsbegriff in Anschlag brachte, stellte Kellermann den universalistischen Begriff ins Zentrum. Neben Natorp erwähnte nur Joël noch eine »Einheit von Deutschtum und Judentum«.12 Obschon sich bei der Einschätzung des Deutschtums im Denken Cohens große Unterschiede zeigten, bestand weitgehende Einigkeit darin, Cohen als bedeutenden und strengen Idealisten darzustellen – bis auf eine Ausnahme: Rosenzweig zeichnete ein ganz anderes Bild, das weit mehr über Rosenzweig selbst aussagte als über Cohen. »Ich habe Hermann Cohen erst in seinen Berliner Jahren gehört«, schrieb Rosenzweig unter dem schlichten Titel Der Dozent. Eine persönliche Erinne­ rung.13 »Auch gelesen hatte ich vorher, außer einigen jüdisch-theologischen Gelegenheitsarbeiten, so gut wie nichts von ihm. […] So war ich auf nichts vorbereitet, als ich im November 1913, einer Aufwallung nicht von Inte­ resse, nur von Neugier folgend, seine Vorlesung in der Lehranstalt aufsuch8 Natorp, Nachruf an Hermann Cohen, 355 f. 9 Ebd., 356. 10 Klatzkin, Hermann Cohens Philosophie des Judentums, 369. 11 Kellermann, Die religionsphilosophische Bedeutung Hermann Cohens, 374. 12 Joël, Zur Erinnerung an Hermann Cohen, 376. 13 Rosenzweig, Der Dozent, 376. Der Text wurde später erneut abgedruckt als ders., Ein Gedenkblatt, in: ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 239 f. Im Folgenden wird nach der Erstpublikation in Neue Jüdische Monatshefte zitiert.

Philosophische Sprache: Von Cohen zu Rosenzweig

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te.«14 Rosenzweig war wenige Monate nach dem Leipziger Nachtgespräch freilich nicht aus bloßer Neugierde nach Berlin gegangen, sondern um der Forderung Rudolf Ehrenbergs, dass er in der Welt Jude sein müsse, gerecht zu werden.15 Auch wenn das Studium bei Cohen nur kurze Zeit dauerte, hinterließ es seine Spuren. Allerdings stellte Rosenzweig in seiner Erinnerung von 1918 nicht Cohens Werk, sondern die Person ins Zentrum. »Was war das für ein Zauber, der im gesprochenen Wort dieses Mannes wohnte? In seinem gesprochenen mehr als in seinem geschriebenen, das leicht eine gewisse Farbe der Ferne annahm«,16 differenzierte er entsprechend. Im Frühjahr 1918 resümierte Rosenzweig also seinen eigenen Weg nach Berlin, seinen persönlichen Blick auf Cohen und schloss seine Ausführungen mit einem Zitat Goethes. Die Frage nach dem Deutschsein klang bei Rosenzweig zwar an, wenn er schrieb: »Wie denn dieser deutsche, mit höchstem, freiesten und wohlgegründetstem Bewußtsein deutsche Jude vielleicht in tieferen Bindungen seiner Seele ein jüdischer und nur jüdischer Jude war, als die vielen die heute mit sehnsüchtig klarstem Willen danach verlangen, Nurjude zu sein.«17 Damit verwies Rosenzweig aber mehr noch auf seine eigene Suche nach einem jüdischen Selbstverständnis in der modernen Welt, die wenige Monate nach seinem Text im Gedenken an Cohen in die Niederschrift von Der Stern der Erlösung mündete. Bereits zu Beginn des Jahres 1918 hatte Rosenzweig sich mit den Grundgedanken der Religion der Vernunft vertraut machen können und so steht auch der Text Der Dozent unter diesem ersten Eindruck. Obgleich sich das Denken Cohens durch dieses Werk Rosenzweig – in retrospektiver Selbstdarstellung – neu erschloss, dauerte es noch fünf Jahre, bis er seinen Zugang ausführte. Erst 1923 schrieb er die Einleitung in die Akademieausgabe der jü­ dischen Schriften Hermann Cohens, die im Jahr darauf veröffentlicht wurde. Darin vollzog er Cohens gedanklichen Weg von Breslau bis Berlin nach und ging von einer tiefgreifenden »Umkehr« Cohens mit dessen Übersiedlung nach Berlin im Jahr 1912 aus – entgegen Cohens eigenem Narrativ, der in seinem öffentlichen Bekenntnis als Jude von 1880 die Wasserscheide sah.18 14 Ebd., 376 f. 15 Vgl. u. a. den Zwischentext der Herausgeberinnen Rosenzweig / Rosenzweig-Scheinmann, in: Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 150 f., hier 150. 16 Rosenzweig, Der Dozent, 377. 17 Ebd. 18 Vgl. Rosenzweig, Einleitung in die Akademieausgabe der jüdischen Schriften Hermann Cohens, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 177–233, hier 189. Zwar nicht in Rekurs auf Rosenzweig, aber darüber hinaus gibt John C. Lyden einen Einblick in die verschiedenen Stilisierungen und konterkariert diese mit Kontinuitäten in Cohens Denken und anderen Verschiebungen als den mit 1880 und 1912 verbundenen – insbesondere gegenüber dem Christentum. Vgl. dazu Lyden, Hermann Cohen’s Relationship to Christian Thought, 279–282.

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Rosenzweig prägte mit dieser Darstellung von Leben und Werk Cohens die Rezeption eines zweifachen Gelehrten, des Kantianers und des Juden: eines Denkers, der sich mit seinem Spätwerk letztlich vollends für das Judentum entschieden habe.19 Bevor er aber dieses doppelte Bild Cohens zeichnete, bevor er die Religion der Vernunft verinnerlicht zu haben meinte,20 war sein Verhältnis zu Cohen in anderer Weise zwiespältig. Einerseits zeigte er sich skeptisch bis ablehnend der idealistischen Philosophie gegenüber und andererseits bewunderte er die Person. Eine Aufteilung, die in kritischer Revision an der von Cohen vollzogenen Konjunktion von »Deutschtum und Judentum« ansetzte und die noch in Der Dozent wirkte. Indessen trat Cohens bewusste Übertragung jüdischer Tradition in eine philosophische Sprache in kaum einem anderen Text in vergleichbarer Deutlichkeit hervor wie in Deutschtum und Judentum. Rosenzweig knüpfte zwar im Namen seiner Verbindung von Theologie und Philosophie an Cohens Übertragung an. Aber auch wenn er sich schon 1915 mit der besagten Schrift Cohens auseinandersetzte,21 ignorierte er deren Signum. Die Religion der Vernunft deutete er hingegen als Vollendung der Heimkehr Cohens und zugleich machte er darin eine Affinität zu seinem mit Der Stern der Erlösung inaugurierten eigenem »neuen Denken« aus.

Fragile Symbiose Die programmatische Schrift, die Cohens erstes Andenken in den Neuen Jüdischen Monatsheften vorzeichnete, war Deutschtum und Judentum. In je unterschiedlicher Perspektive ging es in den Würdigungen letztlich auch um die Frage des Verhältnisses von deutschem und jüdischem Denken. Cohens Schrift selbst war allerdings in einem Moment veröffentlicht worden, in dem die nationale Thematik und damit verbundene Konfliktlinien zunehmend deutlich hervorgetreten waren. Bereits im Jahr vor der umfassenden Posi19 Vgl. dazu u. a. Wiedebach, Einleitung, in: Cohen, Werke 16, X f.; Beiser, Hermann Cohen, 6 und 363–366. 20 So kann, wie Wolfdietrich Schmied-Kowarzik es annimmt, das Werk Der Stern der Erlö­ sung als Antwort auf Cohens Religion der Vernunft gelesen werden. Pierfrancesco Fiorato arbeitet daran den Unterschied heraus, der sich in Rosenzweigs Voraussetzungen der Systematik im Gegensatz zu Cohens verdeutlicht, und Michael Zank zeigt die Implikationen von Rosenzweigs Deutung Cohens als Vertreter des »neuen Denkens« auf. Vgl. dazu Schmied-Kowarzik, Franz Rosenzweigs »neues Denken« im 75. Jahr nach seinem Tod, 58; Fiorato, Die Voraussetzung des Denkens bei Cohen und Rosenzweig; Zank, Rosenzweig und Cohen. Vgl. zur Thematik auch Fiorato / Wiedebach, Hermann Cohen im »Stern der Erlösung«. 21 Vgl. Rosenzweig, Deutschtum und Judentum, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 169–175.

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tionsbestimmung hatte Cohen einen Vortrag in der Kant-Gesellschaft mit dem Titel Über das Eigentümliche des deutschen Geists gehalten, der seine Beiträge in der Kriegszeit eröffnete.22 Im Januar 1915 hatte er unter anderem einen öffentlichen Appell an die amerikanischen Juden gerichtet, in dem er bei ihnen für eine Unterstützung der deutschen Sache warb, und 1916 veröffentlichte er eine zweite, erweiterte Auflage von Deutschtum und Judentum – sowie einen kurzen, ganz anderen Text mit demselben Titel.23 Aber vor allem die Schrift von 1915 wurde breit rezipiert  – und harsch kritisiert. So griff etwa der völkische Publizist Max Hildebert Boehm Cohens idealistische Amalgamierung von Deutschtum und Judentum in den Preußischen Jahrbü­ chern im Dezember 1915 und im März 1916 antisemitisch an und legte darin zugleich eine Offenheit seines deutschnationalen Denkens für eine zionistische Position an den Tag.24 Boehm ging es freilich nicht darum, den Zionismus zu verstehen, sondern um seine antisemitische Fantasie. Zugleich hatten sich zionistische Vorstellungen zu dieser Zeit bereits stark ausdifferenziert, sodass er vielleicht meinen konnte, zu finden, was er suchte, ohne dass dies notwendig etwas über den Zionismus aussagte.25 Im dezidiert völkischen Medium Der Panther erschien im selben Jahr ein offener Brief, der Cohens Position scharf attackierte. Bruno Bauch, der damalige Mitherausgeber der Kant-Studien, reagierte zuerst auf diesen Brief, indem er – ebenfalls in Der Panther  – Position gegen Cohen bezog. Darüber hinaus veröffentlichte er 1917 einen im Jahr zuvor schon einmal separat publizierten Text mit dem Titel Über die Nation nun ausgerechnet in den Kant-Studien. Darin äußerte auch er sich wohlwollend über den Zionismus, wie er ihn verstand, im Rahmen eines explizit völkischen Verständnisses von Nation. Aufgrund des Textes von Bauch erklärte Cassirer im Herbst 1916 seinen Austritt aus der Kant-Gesellschaft und auch Cohen sah im Abdruck dieses Beitrags ein 22 Vgl. Cohen, Über das Eigentümliche des deutschen Geistes, zit. nach ders., Werke  16, 135–146; vgl. dazu allgemein Wiedebach, Einleitung, in: Cohen, Werke  16, XXVII  f.; Beiser, Hermann Cohen, 300–304. 23 Vgl. Cohen, »Du sollst nicht einhergehen als ein Verläumder«. Ein Appell an die Juden Amerikas, zit. nach ders., Werke 16, 299–310; ders., Ein kritisches Nachwort als Vorwort. Deutschtum und Judentum, zit. nach ebd., 546–560; ders., Deutschtum und Judentum (1916), zit. nach ders., Werke 17, 111–132. Zum Unterschied des zweiten Textes mit dem Titel Deutschtum und Judentum vgl. Beiser, Hermann Cohen, 326–329. 24 Vgl. dazu Wiedebach, Einleitung, in: Cohen, Werke 17, XIII f. Im Nachgang dieser Artikel und nach Veröffentlichung des Artikels Juden und Europäer von Arnold Zweig im Frühjahr 1917 erhielt Boehm sogar die Möglichkeit, seine Ansicht in Der Jude unter dem vielsagenden Titel Emanzipation und Machtwille im modernen Judentum publik zu machen. Ders., Emanzipation und Machtwille im modernen Judentum. 25 Stefan Vogt legt den Fokus auf etwaige Nähen von deutschem Nationalismus und Zionismus unter dem Raster der »subalternen Positionierungen«, das er der postkolonialen Theorie entlehnt. Vgl. dazu ders., Subalterne Positionierungen.

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paradigmatisches Zeichen. Der Konflikt führte schließlich zur Spaltung der Gesellschaft, zum Austritt von Bauch und zur vom Abtrünnigen initiierten Gründung der Deutschen philosophischen Gesellschaft.26 Für Cohen ergab sich im Herbst 1916 in dreifacher Hinsicht ein Zusammenhang. Am 27. Oktober, keine Woche vor der sogenannten »Judenzählung« im Deutschen Heer, schrieb er an Natorp in Bezug auf den von Bauch begonnenen Konflikt in der Kant-Gesellschaft: »Die ganze Sache geht ja auch vom Panther aus, Sie müssen d. Aufsatz von B[auch] dort lesen. Und ferner ist der Zusammenhang klar mit dem Angriff von Böhm gegen mich in d. pr. Jahrb. Auch mein Empfang bei Harnack klärt sich so auf.«27 Cohen hatte Adolf von Harnack allem Anschein nach zu dieser Zeit besucht, nachdem der Kontakt im Januar 1913 von Cohens ehemaligem Marburger Kollegen, dem Theologen Martin Rade, vermittelt worden war.28 Zumindest schrieb Rade an Harnack im Juni 1916: »Den armen Cohen hast Du schwer gekränkt. Hast ihn, wahrscheinlich beim Drange der Geschäfte, hart ablaufen lassen.«29 Bezeichnend ist Cohens Verweis auf Harnack in dem Brief vom Herbst 1916 jedoch vor allem, weil er damit seine Begegnung mit einem der wichtigsten Vertreter protestantischer Theologie seiner Zeit in eine Reihe mit Bauch und Boehm stellte. Und Cohen setzte gegenüber Natorp 1916 noch eine für ihn folgenschwere Orientierung dieser Parteiung hinzu: »Die Leute wollen durchaus kein deutsches Judentum anerkennen, ihnen ist allein der Zionismus willkommen, der daraus wieder neue Kraft zieht gegen uns.«30 Dementsprechend gab sich Cohen desillusioniert: »Es ist wirklich so, als ob der Judenhass einen Herzpunkt im deutschen Geiste bildete.«31 Diese grundlegenden Zweifel vermochten zwar Cohens Positionen zu erschüttern, führten aber nicht zu einer gänzlichen Abkehr von ihnen. So bewahrte er letztlich doch seinen Glauben an einen durch das Deutschtum beförderten menschheitlichen Zustand. Mit Ein kritisches Nachwort als Vorwort zur zweiten Auflage von Deutsch­ tum und Judentum rechtfertigte sich Cohen im Sommer 1916 gegen die vielfältigen Anwürfe. »Ein Deutschtum, das die Selbstaufgabe meiner Religion und meiner religiösen Vergangenheit von mir verlangen könnte, würde 26 Vgl. dazu u. a. Beiser, Hermann Cohen, 317–321. 27 Cohen an Paul Natorp, 27. Oktober 1916, zit. nach Holzhey (Hg.), Der Marburger Neukantianismus in Quellen, Bd. 2, 452. In diesem Brief drückte er auch das Historischwerden seines Patriotismus aus. 28 So legte Rade am 3. Januar 1913 Harnack nahe, dass er sich doch bei Gelegenheit mit ­Cohen treffen könne. Vgl. dazu Graf, »Der Kant der Kirchengeschichte« und der »Philosoph des Protestantismus«, 126. 29 Rade an Adolf von Harnack, 24. Juni 1916, hier zit. nach ebd., 126 f. 30 Cohen an Paul Natorp, 27. Oktober 1916, zit. nach Holzhey (Hg.), Der Marburger Neukantianismus in Quellen, Bd. 2, 452. 31 Ebd., 453.

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ich nicht als ein Ideales Volkstum, dem die staatliche Kraft und Würde einwohnt, anerkennen«, legte Cohen dar: »Ein solches Volkstum würde uns nicht die Zuversicht geben, mit der wir allesamt an den Sieg in diesem Weltkrieg als an ein Gottesgericht der Weltgeschichte glauben.«32 Und er insinuierte gar: »Wäre ich in ein solches Volkstum und in einen solchen Staat hineingeboren, so würde ich mich allerdings berechtigt halten, eine ›öffentlich-rechtliche Heimstätte‹ in Anspruch zu nehmen.«33 Damit öffnete sich Cohen aber nicht einer zionistischen Perspektive, sondern er untermauerte seinen Glauben an die Menschheit, vermittelt durch Rechtsstaat und Staaten­bund – in doppelter Entgegensetzung. In Cohens Wahrnehmung verbanden sich im Jahr 1916 zwei Konfliktlinien gegen seine Hoffnung auf eine Anerkennung des Judentums als Religion im Rahmen der deutschen Nation: die antisemitischen Anfeindungen und die zionistische Gegenposition. Ebenfalls ein Jahr nach Deutschtum und Judentum und wenige Wochen vor der zweiten Auflage veröffentlichte Cohen im Mai 1916 einen Text mit dem Titel Zionismus und Religion. Ein Wort an meine Kommilitonen jüdi­ schen Glaubens, in dem er den Gedanken einer Anerkennung des Judentums in der deutschen Nation in der anderen Entgegensetzung ausführte.34 Nach eindringlicher Bitte des Kartellconvents deutscher Studenten jüdischen Glaubens – des Dachverbands deutsch-jüdischer Studentenverbindungen – im Dezember 1915, sich zum Zionismus zu äußern,35 verfasste Cohen eine ausführliche Positionsbestimmung. Er hatte sich früher schon gegen den Zionismus ausgesprochen und eine Erklärung gegen diesen mitunterzeichnet, die im Februar 1914 publiziert worden war.36 In Zionismus und Religion begründete Cohen seine Position mit seiner universalistischen, philosophischen Interpretation der Religion.37 Der in den K. C.-Blättern erschienene Artikel war als Abrechnung mit dem Zionismus angelegt und bildete den Anfang derjenigen Auseinandersetzung mit Buber, die wenige Monate später zur Gründung der Neuen jüdischen Monatshefte führte. Cohen diagnostizierte in diesem Text: »[D]er glaubenstreue Jude, der sein Vaterland liebt, wie seine Religion, und seine Religion liebt, wie sein Vaterland […] dieser Schwärmer wird vom Zionismus verspottet und verachtet.«38 Der Zionismus sehe in diesem nur einen »Heuchler« und so werde »das gesamte nichtzionis32 Cohen, Ein kritisches Nachwort als Vorwort, zit. nach ders., Werke 16, 557. 33 Ebd. 34 Vgl. Cohen, Zionismus und Religion. Hier und im Folgenden zit. nach ders., Werke 17, 211–221, hier 214 f. 35 Vgl. dazu bes. Wiedebach, Hermann Cohens Auseinandersetzung mit dem Zionismus, 373. 36 Dieser Erklärung folgte bereits eine kurze öffentliche Auseinandersetzung zwischen dem Justizrat Emil Fraenkel und Cohen. Vgl. zu der Erklärung und zu diesem Disput Sauerland, Im Namen einer deutsch-jüdischen Symbiose, 157. 37 Vgl. dazu Wiedebach, Hermann Cohens Auseinandersetzung mit dem Zionismus, 373 f. 38 Cohen, Zionismus und Religion, zit. nach ders., Werke 17, 213.

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tische Judentum zur Schadenfreude aller Judenfeinde der inneren Unwahrheit geziehen«.39 In dieser Konfrontation exponierte Cohen sein vermittelndes Verständnis des Begriffs der Nationalität, dem er sich über Jahrzehnte angenähert hatte. In Konfrontation mit dem Zionismus nahm die Verhältnisbestimmung von Nation und Nationalität für Cohen allerdings an Dringlichkeit zu, sah er sich doch mit einer weiteren Bewegung konfrontiert, die Nation und Nationalität in ein eindeutiges Bedingungsgefüge setzte. So fügte er in die zweite Auflage von Deutschtum und Judentum den Gedanken ein, dass »Staat und Nationalität […] nicht identisch« seien und dass erst der Staat »die Mehrheit der Nationalitäten zu der Einheit der Nation« vereinige.40 Die Nationalität war Cohen 1916 zum Bindeglied von Religion und Nation auf dem Fundament des Menschheitsideals des prophetischen Messianismus geworden. Diesen wollte er in dem persönlichen Schicksalsjahr des Krieges nicht nur gegen eine völkische, sondern ebenso gegen eine zionistische Position richten. »Wenn nun der Zionismus Religion und Nationalität gleichsetzt, so erheben wir den Einspruch, daß wir Nichtzionisten keineswegs die Religion außer Verbindung setzen mit der Nationalität«,41 stellte Cohen in Religion und Zionismus heraus. »Wir setzen nur beide nicht identisch, sondern machen die Nationalität zu einem anthropologischen Mittel für die Fortpflanzung der Religion. […] So ist die Nationalität die naturgemäße Bedingung und Grundlage für den Fortbestand der Religion.«42 Und er schloss mit einem Appell an die »Kommilitonen«. Diese sollten beherzigen, dass sie »eine Religion der sittlichen Wahrheit haben, die daher nicht nur eine Vergangenheit von Jahrtausenden geborgen hat, sondern die in dem Gedanken des einzigen Gottes die Grundlage der Religion der Zukunft ist, der ewigen Religion der Menschheit«.43 Im August 1916 reagierte Buber in Der Jude auf Cohens Artikel.44 Auch Buber hegte zwar eine messianische Hoffnung. Das Ziel der Menschheit im Weltfrieden strebten beide an, aber der Weg zu diesem Ziel war grundverschieden.45 Die Diskrepanz verdichtete sich im Verständnis von Nationalität. 39 Ebd. 40 Cohen, Deutschtum und Judentum, zit. nach ders., Werke 16, 523. Vgl. zu dem Problemkontext des Zionismus bei der Neuauflage von Deutschtum und Judentum, v. a. zum Zusammenhang der Einfügung zur Nationalität und dem Nachwort, Wiedebach, Einleitung, in: Cohen, Werke 17, XXIX f. 41 Cohen, Zionismus und Religion, zit. nach ebd., 214 (Hervorhebung im Original). 42 Ebd. (Hervorhebung im Original). 43 Ebd., 215 (Hervorhebung im Original). 44 Zu der Auseinandersetzung vor dem Hintergrund von Deutschtum und Judentum vgl. u. a. Barash, Politics and Theology; Wiedebach, The National Element in Hermann C ­ ohen’s Philosophy and Religion, 15–40. 45 Dana Hollander arbeitet trotz grundsätzlicher Unterschiede eine gewisse inhaltliche Nähe von Buber und Cohen heraus. Vgl. dazu dies., Buber, Cohen, Rosenzweig, and the Politics of Cultural Affirmation, bes. 93.

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»Nein, Herr Geheimrat, mit dem Begriff der Naturtatsache ist die Nationalität nicht zu definieren«,46 entgegnete Buber unter dem richtungsweisenden Titel Begriffe und Wirklichkeit. »Sie ist eine geschichtliche Wirklichkeit und eine sittliche Aufgabe.«47 Und wenn dies Akzeptanz finden würde, dann wäre zwischen Nationalität und »Nation wohl nur ein Unterschied des Grades«.48 Aber auf die Definitionen wollte Buber es gar nicht ankommen lassen. So fühle er, wenn er einen »Vers von Bialik oder einen Brief aus Erez Israel« lese: »hier ist Nation, nein, hier ist mehr als Nation – hier ist Volk«.49 Cohen überlegte zunächst, eine Antwort auf Buber in dessen Zeitschrift zu veröffentlichen. Allerdings kam der Publikation eine harsche Kritik an Cohens Philosophie von Rafael Seligmann in Der Jude dazwischen,50 die Cohen zu den vermehrten Anfeindungen seiner Person die Kritik vereinheitlichend hinzuzählte. Am 13. September schrieb er an Buber: »Es tut mir herzlich Leid, dass Sie dem Pamphlet des Herrn Seligmann Aufnahme gewährt haben  – es könnte im Panther stehen. Ich bedaure daher, meine Erwiderung auf ihren offenen Brief in ihrer Zeitung nicht erscheinen zu lassen.«51 Cohen veröffentlichte seine Duplik stattdessen in den K. C.-Blättern und Buber antwortete noch ein letztes Mal in Der Jude.52 Zum Rezipientenkreis, in gewissem Sinne also den Adressaten des schriftlichen Streitgesprächs, gehörte Rosenzweig, der am 25. November 1916 an seine Eltern nach Cohens Duplik und Bubers die öffentliche Kontroverse abschließenden Triplik schrieb: »Cohens Aufsatz in den K. C.-Blättern ist recht bedeutend, aber er abstrahiert sich beim Schreiben, Buber konkretisiert sich, sodass obwohl Cohen mehr ist als Buber, dennoch Bubers Aufsatz mehr ist als Cohens.«53 Die Konkretisierung zog Rosenzweig zwar der Abstrahierung vor, mit der idealistischen Philosophie Cohens konnte er ohnehin nicht wirklich etwas anfangen, aber – und das ist auffallend – dennoch war ihm Cohen mehr als Buber. Bereits im Vorjahr hatte sich Rosenzweig mit Cohens Schrift Deutschtum und Judentum in einem zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Text auseinandergesetzt und unter demselben Titel ausgeführt, dass Cohen nicht als bloßer »Konjunkturdenker« gesehen werden dürfe, sondern seine Ausführungen in einem fest verankerten Judentum auf der 46 Buber, Begriffe und Wirklichkeit. Brief an Herrn Geh. Regierungsrat Prof. Dr. Hermann Cohen, in: Der Jude 1 (1916), H. 5, 281–289, hier 283. 47 Ebd. 48 Ebd., 284. 49 Ebd., 286. 50 Vgl. Seligmann, Einige Worte über Hermann Cohen. 51 Cohen an Martin Buber, 13. September 1916, zit. nach Wiedebach, Hermann Cohens Auseinandersetzung mit dem Zionismus, 387. 52 Vgl. dazu Wiedebach, Einleitung, in: Cohen, Werke 17, XXVIII–XXX. 53 Rosenzweig, Brief an die Eltern, 25. November 1916, zit. nach ders., Feldpostbriefe, 331– 333, hier 332 (Hervorhebung im Original).

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einen und in einer Bindung an den Idealismus auf der anderen Seite gegründet seien.54 Während Cohen das Deutschtum für Rosenzweig damit auf eine philosophische Schule verengt hatte, sah er selbst eine Unvergleichbarkeit von diesem zum Judentum. Rosenzweig ging in Bezug auf die von Cohen angezeigte Verbindung davon aus, dass dieser nicht die nationale, sondern die »Kirchengeschichte« für das Deutschtum nehmen müsse, um diese überhaupt mit der Geschichte des Judentums parallelisieren zu können.55 Rosenzweig gestand Cohens Einschätzung 1915 jedoch – selbst noch voll in geschichtsphilosophischer Reflexion stehend – insofern einen Punkt zu, dass auch er es für möglich hielt, dass »in dieser deutschen Geschichte als dem Bruchstück einer – im weiteren Sinn als üblichen – Kirchengeschichte die idealistische Bewegung um die Wende des achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert eine Bedeutung hätte, die der ihr von Cohen zugebilligten gleich käme«.56 Die Chiffre »1800« floss als Beginn der neuen Zeit noch in Der Stern der Erlösung ein. Im Falle Rosenzweigs war es neben Goethe insbesondere Hegel, der durch diese Wende evoziert wurde – ein Denker, dem Cohens Philosophie fernstand. In der Genese seines an Kant geschulten kritischen Idealismus wies er gerade Hegel keinen Ort zu. Nach dem 1917 an Cohen gerichteten öffentlichen Appell Zeit ists  … (Ps. 119, 126). Gedanken über das jüdische Bildungsproblem des Augenblicks rekurrierte Rosenzweig wieder auf seine nicht publizierte Antwort auf ­Cohens Schrift von 1915. Insbesondere im Herbst des Jahres schlossen sich an seine direkte Kontaktaufnahme mit Cohen betreffs Zeit ists … (Ps. 119, 126) eingehende Reflexionen von dessen Auffassung des Deutschtums an. Denn im Rahmen seines jüdischen Bildungsreformvorschlags ging Rosenzweig auch auf das Spannungsverhältnis von deutscher Umgebungskultur und jüdischer Selbstbehauptung ein und richtete sich damit implizit gegen Cohens Schrift von 1915. So schrieb er im Herbst 1917 an seine Eltern, dass Cohens geistige Interpretation des Deutschtums zu eng gefasst sei. Mehr noch: ­»[Cohen] läßt vom ganzen Deutschtum eigentlich nichts übrig als seine eigene Philosophie und das was er aus dem Deutschtum als Kronzeugen dafür anführen zu können meint«, polemisierte er im vertrauten Umfeld. »Da hat ers leicht, sich für einen besseren Deutschen zu halten, wie die ›eigentlichen‹. Denn C ­ ohenianer ist er natürlich ein besserer!«57 Insgesamt sei bei Cohen, wenn überhaupt, dann nur ein »Europäertum« vorhanden und kein Deutschtum. Zugleich gehe aber das Judentum »keine Kreuzung 54 Vgl. ders., Deutschtum und Judentum, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 170 f. 55 Vgl. ebd., 175. 56 Ebd. 57 Rosenzweig, Brief an die Eltern, 20. September 1917, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 442–446, hier 444.

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ein«. Bei Cohen bleibe es so »persönlich beim Nebeneinander und sachlich bei den tollen Equilibristiken der Schrift Deutschtum und Judentum, die auf das Christliche im Deutschen reflektiert und das dann für jüdisch erklärt«.58 Trotz des kritischen Tons stand Cohen in Rosenzweigs Sicht aber so fest im Judentum, wie er selbst es gerade in diesen Jahren anstrebte, und dafür bewunderte der Jüngere den Älteren. Noch im Januar 1918, kurz bevor er sich mit den Grundgedanken der Religion der Vernunft vertraut machte, nahm er in seinem Brief an Helene Sommer wieder Bezug auf den 1917 an Cohen gerichteten Appell und rekurrierte bezeichnenderweise auf seine eigene Familiengeschichte und deren Verquickung mit der ersten Konsolidierungsphase der Wissenschaft des Judentums.59 So war sein Urgroßvater Samuel Meir Ehrenberg ein Lehrer von Leopold Zunz. Zugleich verdeutlichte Rosenzweig in diesem Brief die Affinität von Zeit ists … (Ps. 119, 126) zu seiner Antwort auf Cohens Schrift von 1915, indem er den Zusammenhang von Deutschtum und Christentum exponierte, den er bereits mit dem Verweis auf die Kirchengeschichte angezeigt hatte. Im Januar 1918 diagnostizierte Rosenzweig – nun allgemein: »So meine ich ist gerade dieser Gegensatz von Judentum und Christentum, der für uns deutsche Juden praktisch wird als ›Deutschtum und Judentum‹.«60 In diesem Gegensatz war eine sukzessive Ersetzung der nationalen durch eine theologische Frage chiffriert, an der sich die Verschiebung von Rosenzweigs Sichtweise zeigt. Ihm wurde die Frage nach der theologischen Grundierung der ihm gegenwärtigen Zeitformation zum neuen Ausgangspunkt seines ehedem geschichtlichen Denkens. Dies hieß indes auch, dass er geschichtliche, mithin christlich säkularisierte Motive, die sein Denken geprägt hatten, dem theologischen Bereich einverleibte und dessen Struktur damit veränderte. Im Jahr 1916  – im Nachgang der Schrift Deutschtum und Judentum  – sahen sich Cohen und Rosenzweig beide persönlichen wie intellektuellen Weichenstellungen gegenüber. Während Cohen sich gegen die sich verstärkenden Anfeindungen verteidigte und mit Buber die Kontroverse über den Zionismus austrug, nahm Rosenzweig an der mazedonischen Front den intellektuellen Austausch über Judentum und Christentum mit Eugen Rosen­ stock auf. Das Spannungsverhältnis von Christentum und Deutschtum, wie dessen begrifflicher Einschreibung, überschritt Rosenzweig in diesem Disput durch eine definitorische Engführung des Judentums im Kontrast zum Christentum. Im September 1916 schrieb er an Rosenstock, dass er C ­ ohen 58 Ebd., 445. 59 Vgl. ders. an Helene Sommer, 16. Januar 1918, zit nach ebd., 505–510, bes. 506. Dieser Brief wurde im Oktober 1933 in Der Morgen unter dem bezeichnenden Titel Deutschtum »und« Judentum abgedruckt. Rosenzweig, Deutschtum »und« Judentum. 60 Ders. an Helene Sommer, 16. Januar 1918, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 508.

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persönlich kenne und ihn »auf Grund dieser Kenntnis, nicht auf Grund seines Gedruckten, grenzenlos« verehre.61 Darin zeigt sich jene einseitige Würdigung Cohens im Denken Rosenzweigs an, die er noch in Der Dozent ansprach. Trotz persönlicher Bindung und familiärer Erinnerung hatte er zu dieser Zeit kein Interesse, Cohens systematische Schriften zu lesen.

Theologie statt Religion Zu Beginn des Jahres 1918 erhielt Rosenzweig einen Korrekturbogen von der Religion der Vernunft, der allerdings nicht vollständig war.62 Rosenzweig war mit der kurzen Zeit des Studiums bei Cohen trotz aller Differenzen bald zu einem vertrauten Schüler geworden.63 So schickte Cohen ihm wenige Monate nach dem öffentlichen Appell Zeit ists … (Ps. 119, 126) den Bogen. Seinen ersten Eindruck teilte Rosenzweig Anfang März des Jahres – durchaus kompetitiv – Rudolf Ehrenberg mit: »Es ist ein Werk, dem schwerlich auf christlicher Seite etwas Gleichwertiges gegenüberzustellen ist seit Hegel und Schelling. Es ist weit mehr als ich mir je davon erhofft hatte.«64 Wenige Tage später bedankte er sich direkt bei Cohen und schrieb: »Die Blätter haben mir durch dunkle Tage geholfen. Wie soll ich das in Worte fassen?«65 Der Soldat hatte in dieser Zeit Sorge, den Krieg nicht zu überstehen, und das letzte Kriegsjahr war schon bald von gravierenden persönlichen Verlusten geprägt: Rosenzweigs Vater Georg verstarb am 19. März und Cohen am 4. April. Das Spätwerk Cohens erhielt damit auch eine sehr persönliche Beachtung und weckte Rosenzweigs Interesse für dessen Philosophie. So teilte er seiner Mutter Mitte April 1918 mit: »Ich will jetzt das Cohensche System lesen, schon damit ich möglichst bald nach Erscheinen des neuen Buches eine große Besprechung schreiben kann.«66 Im November 1919 fragte er Bruno Strauß, ob »schon eine Sammlung von Cohens jüdischen Aufsätzen 61 Ders. an Eugen Rosenstock, 5. September 1916, zit. nach ders., Briefe, 625–655, hier 655. 62 Vgl. ders. an Rudolf Ehrenberg, 5. März 1918, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 514 f., hier 514; ders., Unveröffentlichte Briefpassagen, zit. nach ders., Feldpostbriefe, 550–553, hier 550. 63 Cassirer beschrieb in seinen Notizen zum Vortrag Hermann Cohens Philosophie in ihrem Verhältnis zum Judentum der Rosenzweig Gedächtnisstiftung am 12. April 1931 diese Nähe. Auch wenn Cassirer diese in einem spezifischen Kontext erinnerte, scheint er damit das bald sehr enge Lehrer-Schüler-Verhältnis auf den Punkt zu bringen. Vgl. dazu Cassirer, Hermann Cohens Philosophie in ihrem Verhältnis zum Judentum, bes. 125 f. 64 Rosenzweig an Rudolf Ehrenberg, 5. März 1918, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 514. 65 Ders., Brief an Hermann Cohen, 9. März 1918, zit. nach ebd., 521–524, hier 522. 66 Ders., Brief an die Mutter, 16. April 1918, zit. nach ebd., 538 f., 538.

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unternommen« werde.67 Und er insinuierte: »Eine Einleitung müßte man wohl dazu schreiben, das wäre das Reizvolle an der Sache.«68 Diese verfasste Rosenzweig 1923 persönlich, ein Jahr später erschienen Cohens Jüdische Schriften. Allerdings stellte Rosenzweig bezüglich seiner Einleitung gegenüber Margarete Susman heraus, dass sie ihn vor die Herausforderung gestellt habe, »die Aufgabe so akadämelich [sic] anzufassen, wie es dem Verfasser des geschätzten Buchs über Hegel und den Staat nur möglich war«.69 Trotz dieser Einschränkung zeichnete Rosenzweig darin das doppelte Bild von Cohens Denken, das es ihm ermöglichte, an Cohen anzuknüpfen. Paradigmatischen Ausdruck verschaffte sich die gesuchte Nähe in einer Episode aus Cohens Biografie, die Rosenzweig in der Einleitung erzählte. Es ist zwar fraglich, ob sie sich zugetragen hat, aber sie sagt viel über Rosenzweigs Bild von Cohen aus.70 Wenige Jahre nachdem der junge Cohen das Jüdisch-Theologische Seminar in Breslau verlassen habe, führte Rosenzweig aus, »stellte sein Gönner Steinthal den jungen Doktor dem großen Zunz mit den Worten vor: ›Herr Dr. Cohen, ehemaliger Theologe, jetziger Philosoph‹«.71 Auch für Rosenzweig war dies eine prägnante Formulierung für Cohens frühen Werdegang und er fuhr scheinbar nebenbei fort: »Worauf übrigens der kaustische Alte sofort replizierte: Ein ehemaliger Theologe ist immer ein Philosoph.« In diesem Satz sah Rosenzweig 1923 einen Anknüpfungspunkt für seine eigene Deutung Cohens angelegt, wenn er weiterhin schrieb: »Cohen selbst sollte einst noch die Umkehrung dieses Worts, für die heute die Beispiele zu häufen wären, unserer Generation vorleben.«72 In der »Umkehrung dieses Worts« deutet sich eine wechselseitige Übertragung von Theologie und Philosophie an, die affin zu Rosenzweigs eigener Forderung 67 Ders. an Bruno Strauß, 3. November 1919, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 652. 68 Ebd. 69 Rosenzweig an Margarete Susman, 22. August 1924, zit. nach ebd., 982 f., hier 983. 70 Rosenzweigs anekdotischen Erinnerungen an Cohen, auch die in der Einleitung, sind zumeist nur durch ihn selbst überliefert und damit nicht weiter belegbar. Sie lassen sich aber, wie Steven S. Schwarzschild gezeigt hat, mit Cohens Philosophie abgleichen und damit häufig als unwahrscheinlich klassifizieren. Ders., Franz Rosenzweig’s Anecdotes about Hermann Cohen (1970). 71 Vgl. Rosenzweig, Einleitung in die Akademieausgabe der jüdischen Schriften Hermann Cohens, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 185. Bienenstock zeigt auf, dass sich sowohl Löwith und im kritischen Anschluss an diesen auch Blumenberg auf diese Anekdote bezogen und wie sich ihre Deutungen unterschieden. Bezeichnenderweise schließt auch Mendes-Flohr seinen Artikel zu Rosenzweigs Verhältnis­ bestimmung von Theologie und Philosophie aus dem Jahr 1989 mit der Anekdote. Vgl. dazu Bienenstock, Weltgeschichte – oder Heilsgeschehen?, in: dies., Cohen und Rosenzweig, 190–192; Mendes-Flohr, Franz Rosenzweig’s Concept of Philosophical Faith, 368 f. 72 Rosenzweig, Einleitung in die Akademieausgabe der jüdischen Schriften Hermann Cohens, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 185.

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nach einer neuen Verbindung von Theologie und Philosophie ist, wie er sie in Der Stern der Erlösung exponierte. Sein Schwerpunkt lag auf der Reflexion einer philosophisch legitimierten Theologie. Cohens spätere Arbeiten, allen voran die Religion der Vernunft, situierte er in eben diesem Deutungsradius und sah sie als Zeichen der »Heimkehr« Cohens.73 Dies war eine Interpretation, die Rosenzweig vor allem seiner Einleitung zu Cohens Jüdische Schriften unterlegte und mit der er indirekt auf eine Neuformierung des Judentums verwies – verändert eine Heimkehr doch auch die Wahrnehmung des vormals Vertrauten. An dieser gedanklichen Präsenz Cohens verdichtet sich zugleich Rosenzweigs eigene Hinwendung zur Theologie. Die Einleitung spiegelt durch die Veränderung der Deutung in den Jahren, die das lange 19. Jahrhundert zu seinem Ende führten und Rosenzweigs Bild von Cohen zur Reife brachten, seine Denkbewegung. So ordnete er Deutschtum und Judentum 1923 ganz anders ein als 1915. Vor allem aber zeigt sich seine Neuorientierung in der Darstellung von Cohens weiterer Schrift des Jahres 1915, von Der Begriff der Religion im System der Philosophie.74 In der Auseinandersetzung mit dem von Cohen an die protestantische Theologie gerichteten Text erhält insbesondere die Absenz des Wortes »Religion« in Der Stern der Erlösung ihren Resonanzraum. Sowohl die Verschiebung von Cohen zu Rosenzweig als auch die in Rosenzweigs Denken selbst synthetisieren sich in der begrifflichen Umbesetzung: An die Stelle der Religion Cohens trat in Rosenzweigs Denken die Theologie. Cohen hatte die Hoffnung, vermittels eines geschichtsphilosophischen Begriffs der Religion die äußere wie innere Anerkennung seiner Idee des Judentums zu erwirken. Rosenzweig strebte nach der Wiedergewinnung eines jüdischen Selbstverständnisses überhaupt, für das er eine philosophisch-theologische Perspektive gegen die Geschichte einnahm. In der Kritik an Deutschtum und Judentum hatte Rosenzweig 1915 im Verweis auf Idealismus und Kirchengeschichte in polemischer Zuspitzung auf den philosophisch interpretierten Protestantismus in Cohens Denken hingedeutet. Gleichwohl hatte er betont, dass Cohen nicht als Konjunkturdenker gesehen werden dürfe, seine Schrift Deutschtum und Judentum nicht auf die Zeit reduziert werden könne. 1923 hob er dagegen das Moment der Konjunktur hervor und entzog der Schrift durch die nun ausgemachte Zeitgebundenheit ihre Bedeutung. »Vom Krieg selber ist zwar kaum die Rede, 73 Vgl. ebd., 221–223. 74 So ist diese Schrift mit Rosenzweigs eigenem Gang nach Berlin verbunden, nachdem er zuerst Cohens entsprechende Vorlesung gehört hatte. Er berichtete davon in seinen Briefen und hielt noch ein Jahr später in seinem Tagebuch seine Eindrücke fest. Vgl. etwa ders. an Rudolf Ehrenberg, 8. Februar 1914, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 148–150, hier 149; ders., Tagebucheintrag vom 11. Dezember 1915, zit. nach ebd., 182.

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dennoch ist es Professorenkriegsliteratur«, schrieb Rosenzweig zwei Jahre nach der Veröffentlichung von Der Stern der Erlösung, »und deshalb heute nach dem bitteren Ende, und für den Jüngeren auch damals schon schwer zu lesen«.75 Deutschtum und Judentum lag als Verbindung der an Kant geschulten Philosophie und der Reflexion des Judentums letztlich quer zu Rosenzweigs Vorstellung von Cohens »Heimkehr« ins Judentum. Stattdessen akzentuierte er in der Einleitung primär die Schrift Der Be­ griff der Religion im System der Philosophie.76 Dies bedeutete eine Fokusverschiebung, die zum einen wohl besser in seine am Ausgang des Krieges gewonnene theologische Sicht passte, war darin doch an die Stelle der Frage nach »Deutschtum und Judentum« die nach »Judentum und Christentum« gerückt. Zum anderen verband sich ihm Der Begriff der Religion mit seiner persönlichen Erinnerung an den Dozenten Cohen. So war er, wie er in der Einleitung rekapitulierte, gerade erst nach Berlin gekommen, um bei Cohen zu studieren, als dieser seine »Grundgedanken der Religionsphilosophie […] an der Berliner Lehranstalt vortrug«, die er »im Spätjahr 1915 in den ›Philosophischen Arbeiten‹ der ›Marburger Schule‹ veröffentlichte«.77 Bereits im Februar 1914 berichtete Rosenzweig Rudolf Ehrenberg, dass er »[b]ei Cohen zum anerkannten Diskussionsführer avanciert« sei.78 Im Dezember 1915 hielt er in seinem Tagebuch fest, dass »Cohens ›Begriff der Religion‹ […] mit Recht der Schule gewidmet« sei.79 In den privaten Aufzeichnungen legte er seine Skepsis gegenüber Cohens Verbindung von systematischer Philosophie und Judentum in dieser Schrift dar. »Jüdisch darin, daß er eine Einzeichnung des Judentums in ein auf außerjüdischem Boden gewachsenes System (wenn auch in diesem Fall des Verfassers eigenes) versucht.«80 Und Rosenzweig notierte in signifikanter Wortwahl weiterhin: »Aber auch in seinem Begriff des Judentums selbst ganz abhängig von christlich-theologischen Strömungen, nur in einzelnen Elementen jüdisch – kein Versuch das Judentum aus sich selbst heraus zu konstruieren.«81 Dass Rosenzweig eine solche Konstruktion 75 Rosenzweig, Einleitung in die Akademieausgabe der jüdischen Schriften Hermann Cohens, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 217. 76 Vgl. ebd., 205–207. 77 Ebd., 205. Vgl. dazu auch Schmied-Kowarzik, Rosenzweig im Gespräch mit Ehrenberg, Cohen und Buber, 113–143, hier 116 f. 78 Rosenzweig an Rudolf Ehrenberg, 8. Februar 1914, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 149. 79 Ders., Tagebucheintrag vom 11. Dezember 1915, zit. nach ebd., 182. 80 Ebd. 81 Ebd. Ein halbes Jahr später, im Sommer 1916, schrieb Rosenzweig in seinen Paralipo­ mena – in einem Brief, in dem er extensiv über den Begriff der Offenbarung nachdachte –, dass man »[a]n Cohen […] sehr deutlich« sehe, »daß eigentlich Rationalismus nichts ist als mangelnde Bewußtheit«. Dieser Satz wie die ganze Passage scheinen dabei auch unter dem Eindruck vom Text Der Begriff der Religion Cohens gestanden zu haben, denn ­Rosenzweig fuhr fort: »Ob Herrmann ihn zwingt, nun einmal den Begriff der Offen-

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mit Cohens Vorgehen konfrontierte, deutet allerdings weit stärker auf seine eigene Distanz zur Tradition als die ausgemachte Abhängigkeit Cohens von christlich-theologischen Strömungen. In die Einleitung nahm er seine Kritik an Cohens Text Der Begriff der Religion von 1915 freilich nicht mehr auf, aber er gestand in Rekurs auf die Schrift noch zu: »Gewiß sind […] Einflüsse protestantischer Theologie, Wilhelm Herrmanns des befreundeten Marburger Kollegen Kritik an der Ethik des reinen Willens und seine ›Wirklichkeit Gottes‹, jetzt, aber eben erst jetzt, wirksam geworden […].«82 Auch habe Cohen nun gegenüber Natorps Religionsphilosophie seine Position zu bestimmen versucht. Rosenzweig erwähnte damit zweifellos wichtige Faktoren in Cohens Denken dieser Zeit. Natorp und Cohen standen trotz räumlicher Entfernung in engem Kontakt. Darüber hinaus reagierte Cohen explizit auf Herrmann in Der Begriff der Religion und dessen Kritik an der Stellung der Religion in der Ethik des reinen Willens.83 Er sah sogar eine gewisse Affinität zu seinem Verständnis der Korrelation in Herrmanns »Darlegung […] über ›die Wirklichkeit Gottes‹«.84 Auch der protestantische Theologe Ernst Troeltsch attestierte in seiner Rezension von Der Begriff der Religion Cohen ein direktes Anknüpfen an Herrmann, wobei Cohen und Herrmann seiner Ansicht nach allerdings aneinander vorbeiredeten, und implizit meinte er eine kritische Auseinandersetzung mit seiner eigenen Religionsgeschichte auszumachen.85 Ob diese herausgelesene doppelte Adressierung von ­Cohen beabsichtigt war, sei dahingestellt, wichtig ist vor allem, dass selbst der Cohen kritisch gegenüberstehende protestantische Theologe mit seiner Einschätzung darauf verwies, dass Cohen an den in dieser Disziplin geführten Debatten partizipierte und seine Hoffnung auf Anerkennung des Judentums als Religion entsprechend konkretisierte. Während er die um 1890 erschienenen drei Bände des Lehrbuchs für Dogmengeschichte von Adolf von Harnack intensiv gelesen hatte,86 stand er neben Natorp insbesondere eben mit Herrmann und auch barung einzuführen?« Wie Rosenzweig im Austausch mit Rosenstock in dieser Zeit bald selbst sein erstes Verständnis der Offenbarung zu synthetisieren suchte, so fand also zumindest in der Peripherie auch eine – kritische – Auseinandersetzung mit Cohens Vorstellung wie auch über diese vermittelt mit protestantischer Theologie statt. Rosenzweig, Paralipomena. Auf den 20. Juli 1916 datierter Brief, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 81–90, hier 89. 82 Ders., Einleitung in die Akademieausgabe der jüdischen Schriften Hermann Cohens, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 205. 83 Vgl. Cohen, Werke 10, 56 f. 84 Ebd., 124. 85 Vgl. Troeltsch, Hermann Cohen, Der Begriff der Religion im System der Philosophie (Rezension), bes. 61. Zur überschaubaren Rezeption der Schrift Cohens vonseiten der protestan­ tischen Theologie, v. a. von Herrmann und auch von Troeltsch, vgl. Poma, Einleitung, 42–47. 86 Vgl. dazu Graf, »Der Kant der Kirchengeschichte« und der »Philosoph des Protestantismus«, 134; Wiedebach, Die Hermann-Cohen-Bibliothek, 106 f.

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mit Rade in intellektuellem Austausch und suchte  – aus philosophischer Perspektive  – in die protestantische Theologie zu intervenieren. Auch in der Religion der Vernunft schwang schließlich noch eine Entgegnung auf die »Christologie« mit. Die Auseinandersetzung mit dem liberalen Protestantismus wurde also im Rekurs auf die Religionsschrift von 1915 auch in der Einleitung von Rosenzweig wahrgenommen. Für den Jüngeren waren diese Einflüsse im Denken des späten Cohen jedoch nicht das Entscheidende, wie er 1923 herausstellte, sondern: »entscheidend ist, daß er [Cohen] nun durch sein Leben an den Punkt geführt war, wo sein Mund von dem, wovon sein Herz voll war, übergehen konnte, übergehen durfte«.87 Dass Cohen aber mit seinem Weggang aus Breslau die Theologie hinter sich gelassen hatte, sich über Jahrzehnte dem Begriff der Religion aus philosophischer Perspektive annäherte und sich erst auf diesem Fundament an die protestantische Theologie mit seiner Forderung der Anerkennung des Judentums als Religion wandte, wurde von Rosenzweig zwar am Rande berührt, aber nicht mehr in seiner Bedeutungstiefe ernst genommen.88 Der später zunehmend verdeckte Dissens zwischen Rosenzweig und Cohen bleibt allerdings am Begriff der Religion haften. So wirkte die frühere Einschätzung Rosenzweigs von Cohens Verständnis der Religion noch in der Einleitung nach – obschon er seine Kritik nicht mehr in gleicher Deutlichkeit äußerte. Auch ist sie nicht mehr der Religionsschrift von 1915 zugeordnet, sondern gerade dem von Cohen selbst als Beginn seiner öffentlichen Positionsbestimmung als Jude gesehenen Text Ein Bekenntniß in der Ju­ denfrage von 1880. Cohen verband, in Rosenzweigs Sicht, bezeichnenderweise die »Humanisierung der Religion« mit dem christlichen Motiv der »Humanisierung Gottes« im Allgemeinen und im Besonderen mit dem »modernen ›Gedanken der sittlichen Autonomie‹, wie er zumal in der deutschen Reformation und der Kantischen Philosophie ausgebildet« sei. In diesen Gedankengang fügte Rosenzweig eben die Bekenntnisschrift ein.89 Aus der Amalgamierung von deutschem Idealismus und Religion leitete er in Cohens Denken eine weitreichende Konsequenz ab. »Im Sinne dieses 87 Rosenzweig, Einleitung in die Akademieausgabe der jüdischen Schriften Hermann Cohens, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 205. 88 In seinem Beitrag für das 2018 erschienene Rosenzweig-Jahrbuch bereitet Philipp von Wussow das Distanzproblem, das sich bei Rosenzweig rhetorisch verschleiere, im Verhältnis von Rosenzweigs Einleitung zu Cohens Der Begriff der Religion im System der Philosophie auf. Die Wasserscheide der Geschichte zwischen Rosenzweig und Cohen wird darin allerdings nicht thematisiert. Vgl. von Wussow, The Place of Religion in the System of Philosophy, 169. 89 Rosenzweig, Einleitung in die Akademieausgabe der jüdischen Schriften Hermann Cohens, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 191.

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weltgeschichtlichen Zusammenhangs, der durch Hegel und seine Schule Gemeingut der deutschen Bildung wurde und also von Cohen hier rezipiert wird, sind alle modernen, zumal alle deutschen, Juden Protestanten«,90 referierte Rosenzweig. Auf der anderen Seite seien in dieser Richtung aber auch »alle Christen Israeliten«.91 In diesem Sinne legte er in der Einleitung dar, wie Cohen im Nachgang der Bekenntnisschrift einem »katholischen Kollegen, der sich 1883 vor der Lutherfeier der Universität bei ihm Rats [sic] holte, wie er es mit der Teilnahme halten werde, die Antwort gegeben habe: Wenn ich nicht hingehe, wer sollte dann hingehen!«92 Auch zeitdiagnostisch traf Rosenzweig die programmatische Affinität zum Protestantismus, die – obschon nicht mehr als Programm, aber als Bezugsgefüge – auch ihn selbst betraf. Für Cohen konnte er sie in den Marburger Jahren noch gelten lassen. Anders verhielt es sich mit dem Wort »Religion« selbst, das erst in dessen Berliner Zeit sein neuer gedanklicher Schwerpunkt wurde. Dennoch scheint Rosenzweig versucht zu haben, es in den Hintergrund zu rücken, wenn er es in der Einleitung als idealistisch verbrämten Bestandteil des Gemeinguts der deutschen Bildung vorstellte. Bereits im Januar 1919, wenige Wochen vor der Fertigstellung des Manuskripts von Der Stern der Erlösung, schrieb er: »Allein schon daß das Wort Religion, ohne zu zerbrechen, sichs gefallen läßt, daß man es in den Plural setzt, ist der beste Beweis dafür, daß kein Wort von der Sache, die es meint, weniger weiß als dies.«93 Dass Cohen 1896 auch eine Kritik an der möglichen Pluralbildung des Wortes im Kontext seines später revidierten Postulats der »Auflösung der Religion in Ethik« geübt hatte,94 war für Rosenzweig aber wohl eher nicht relevant. Cohen hatte zu Beginn der Dreyfus-­Affäre das Problem des Plurals in der Gefahr des Ausschlusses durch die de facto bestehende Hegemonie des Christentums gesehen, die er am Fin de Siècle noch durch das Primat der Sittlichkeit kompensieren wollte. Rosenzweig teilte dieses Fundament nicht mehr. Ihm ging es grundsätzlicher noch um den Verlust des Gottesbezugs, den er in eschatologischer Perspektive erneuern wollte. Er richtete seine Bestrebungen auf eine Selbstbesinnung des deutschen Judentums im Namen einer philosophischen Theologie, der er auch das Christentum zuordnete, und sah dafür die Pluralbildung des Wortes als fehlgeleitet an. 90 Ebd. 91 Ebd.; vgl. auch Cohen, Ein Bekenntniß in der Judenfrage, zit. nach Der »Berliner Antisemitismusstreit« 1879–1881, 342. 92 Rosenzweig, Einleitung in die Akademieausgabe der jüdischen Schriften Hermann Cohens, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 191 f. (Hervorhebung im Original). 93 Rosenzweig an Mawrik Kahn, 5. Januar 1919, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 622. 94 Vgl. Cohen, Einleitung mit kritischem Nachtrag (1896), LVII–LIX.

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1921 legte Rosenzweig gegenüber Buber diejenige Bedeutungsebene offen, die seine Ablehnung in einen sprechenden Kontext setzte: »Das Wort ›Religion‹ liegt mir […] nicht, weil es zu sehr ein Fuchsbau geworden ist, aus dem die idealistischen Ausflüchte hinten herausführen, wenn man schon meint, nun hätte man den Fuchs und nun könnte er einem nicht mehr entwischen.«95 In diesem Bild klang noch die frühere Beschäftigung mit Cohens Religionsschrift an und wohl auch aufgrund der angenommenen Kontamination der Religion mit der Philosophie des 19. Jahrhunderts verschärfte sich Rosenzweigs Antipathie zunächst, sie trat jedoch im Zuge der Übersetzung der hebräischen Bibel in Zusammenarbeit mit Buber wieder in den Hintergrund. Die Abkehr vom Begriff der Religion in der Krisenzeit entsprach mit und nach Der Stern der Erlösung einer neuen Distanz in ­Rosenzweigs ohnehin schon ambivalenter Haltung zur etablierten protestantischen Theologie  – die theologischen Neubegründungen in seinem christlichen Umfeld verfolgte er aber weiterhin mit regem Interesse und beförderte Mitte der 1920er Jahre die Gründung der Zeitschrift Die Kreatur. Während Rosenzweig 1913, am Beginn seiner Suche nach einer jüdischen Perspektive in der modernen Welt, die »Anerkennung dieses Volks Israels selber vom Standpunkt christlicher Theologie« gefordert hatte und noch im März 1918 eine Orientierung an der protestantischen Theologie Harnacks andachte,96 verschwand die offen postulierte Analogie mit dem Text Der Stern der Er­ lösung. Allerdings ist auch in diesem Werk der deutsche Idealismus noch der kritische Ausgangspunkt und die Darstellung der »allzeiterneuerten Welt« geht aus einer Auseinandersetzung mit der protestantischen Theologie des 19. Jahrhunderts hervor. Trotz der Nähe im Ansatz, war der Graben zwischen Rosenzweig und Cohen weit tiefer, als die bloße Auslassung eines Begriffs den Anschein geben könnte. In Rosenzweigs Ablehnung der Religion verdichtete sich nichts Geringeres als ein Bruch mit der Wissensordnung des 19. Jahrhunderts. Für Cohen war der Kern der Religion der geschichtsphilosophische Erwartungshorizont der Durchsetzung des allgemeinen Ziels der Menschheit. Rosenzweig suchte sich hingegen mit Der Stern der Erlösung einer philosophischen Theologie im Namen des Judentums jenseits der Geschichte anzunähern – die Menschheit und die Vernunft waren nicht länger seine vorrangigen Bezugsgrößen.97 95 Rosenzweig an Martin Buber, 9. Dezember 1921, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 732 f., hier 732. 96 Ders. an Rudolf Ehrenberg, 31. Oktober und 1. November 1913, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 137 (Hervorhebung im Original); vgl. auch ders., Die Wissenschaft und das Leben, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 487. 97 Zwar reflektierte er noch auf die Menschheit, aber nicht mehr im bloß geschichtlichen Rahmen. Vgl. bes. ders., Der Stern der Erlösung, 361.

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Für diese Neuorientierung wollte Rosenzweig, in Wiederaufnahme des Diktums von Zunz, dennoch gerade Cohen nicht mehr als Philosophen, sondern als Theologen verstehen. In einem Entwurf für eine Vorlesungsreihe mit dem Titel Glauben und Wissen legte er 1920, offenbar noch unentschlossen ob seiner Deutung Cohens, dar: »Zunz und Cohen  – das war richtig Mitte des Novecento. Will ichs umdrehen? Auch das nicht. In Wahrheit hat ja Cohen nie aufgehört, ›Theologe‹ zu sein.«98 Nicht nur die Suchbewegung in Rosenzweigs Bild von Cohen, das er drei Jahre später in einer klaren Zweiteilung scharf zeichnete, verschafft sich in dem letzten Satz Ausdruck, vielmehr noch verweist er darauf, dass Rosenzweig mit der »Theologie« Cohens Judentum meinte, das er nicht mehr als Religion verstehen wollte. So übertrug er seine Vorstellung von Theologie auf Cohens Denken. Auch hielt Rosenzweig in der Reflexion von Zunz und Cohen in seinem Vorlesungsentwurf von 1920 fest, dass das Wissen den Glauben verändert habe.99 In dieser Wahrnehmung deutete er auf die Verwandlung und Auflösung von Tradition, deren Medium im 19. Jahrhundert die Geschichte geworden war.100 Diesen Prozess beförderte Cohen mit einem streng systematisch gefassten Wissenschaftsbegriff. Seine volle Ausprägung erhielt er gerade in jener philosophischen Übertragung jüdischer Traditionsbestände, die Cohens Judentum für Rosenzweig bei aller Kritik am Idealismus überhaupt hatte zugänglich werden lassen. Obschon Rosenzweig Zunz heranzog, um Cohens frühes Denken zu beschreiben, knüpfte er selbst nicht mehr an die mit diesem Namen verbundene Denkströmung des 19. Jahrhunderts an. Mit Bildung und kein Ende, dem Programmtext für das Freie Jüdische Lehrhaus von 1920 wandte sich Rosenzweig nicht nur von der Akademie für die Wissenschaft des Judentums ab, für deren Gründung er sich noch gemeinsam mit Cohen eingesetzt hatte, sondern er rechnete darin auch kurzerhand mit der namensgebenden Denkströmung insgesamt ab, indem er ihr die Anlehnung an andere Wis-

98 Ders., Glauben und Wissen, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 581–595, hier 581. Vgl. zum Kontext der Reihe Mayer / Mayer, Bemerkungen, in: ebd., 856. In einem undatierten Entwurf für einen Vortrag hielt Rosenzweig ebenfalls fest: »Zunz und Cohen. Aber Cohens letztes Buch: Die Religion der Vernunft. Philosophie und Theologie. Wie kann das Verhältnis sein? Wie ist es bei Cohen gelöst? Idealismus – Kantische Abgrenzung. Die doppelte Buchführung des neunzehnten Jahrhunderts. ­Cohens biografische Elementenmischung. Zugleich die des neunzehnten Jahrhunderts. Die jüdische Tatsache und die idealistische Forderung.« Rosenzweig, Über Hermann Cohens »Religion der Vernunft«, zit. nach ebd., 225–227, hier 225; zum – unbekannten – Kontext vgl. Mayer / Mayer, Bemerkungen, in: ebd., 846. 99 Vgl. Rosenzweig, Glauben und Wissen, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 582. 100 Vgl. ebd., 585–587.

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senschaften attestierte.101 Rosenzweig hatte nicht nur von der Geschichte als Wissenschaft Abstand genommen, auch wollte er 1920 mit der Wissenschaft allgemein nichts mehr zu schaffen haben. Mit der des Judentums jedoch erst recht nicht, weil sie in Rosenzweigs Sicht ein Derivat anderer Wissenschaften war  – ein Verdikt, das an den Begründer der Neo-Orthodoxie, an Samson Raphael Hirsch, gemahnt. Hatte Hirsch 1838 der Wissenschaft des Judentums doch einen ganz ähnlichen Vorwurf gemacht.102 Rosenzweig setzte diesem Zustand allerdings ein »neues Lernen« entgegen, ein Lernen aus dem Leben in die Thora hinein,103 das Hirsch ferngelegen hätte. Auch die Negativität der Geschichtsreflexion in Der Stern der Erlösung, das Judentum, das außerhalb des Stroms der Zeit stehe, scheint zwar auf den ersten Blick zu demjenigen der Neunzehn Briefe von Hirsch zu passen, aber Rosenzweig fehlte die Gewissheit der Tradition.104 Er suchte nach einem philosophischen Weg zum Judentum, anstatt sich schlicht der Tradition zuzuwenden, und führte so auch die Distanz zur Weltgeschichte in einem modernen Wissensradius aus. Hirsch hatte sich der Geschichte erst vorsichtig, in strengen Grenzen geöffnet. Rosenzweig musste sich von dieser wieder befreien. Und das hieß auch, das er die Anerkennungshoffnung theologisch kompensierte. Der schmerzhafte Prozess, in dem das Judentum zur Religion hatte werden können und die darin erst angelegte Hinwendung zur Theologie als Wissenschaft entzog sich Rosenzweigs Blickfeld. Weit mehr als ein Jahrhundert nachdem der Protestantismus mit dem Initial der Reden Schleiermachers Über die Religion sich von einer ausgemachten Äußerlichkeit der Theologie zu einer Innerlichkeit der Religion bewegt hatte,105 war es eine neue Verinnerlichung von Theologie, die Rosenzweig im Namen seines Überwindungsversuchs der Trennung von Glauben und Wissen anstrebte – keine schlichte Rückkehr zur jüdischen Tradition.106 Statt ihrer stand im Zentrum von Rosenzweigs Kritik an der Religion die Erneuerung des Theodizee-Problems, das aus seiner Perspektive nicht mehr geschichtlich be101 Vgl. Rosenzweig, Bildung und kein Ende, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 502. 102 Hirsch führte diesen Vorwurf bezeichnenderweise gerade auch im Hinblick auf den Systemgedanken aus. Vgl. ders. (Ben Usiel), Erste Mittheilungen aus Naphtali’s Briefwechsel, 5–13. 103 Rosenzweig, Neues Lernen, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 505–510, hier 507. 104 Insbesondere Roland Tasch stellt in seiner Studie zu Leben und Werk von Samson Raphael Hirsch diese Affinität im Schluss heraus. Vgl. ders., Samson Raphael Hirsch, 451–458. 105 Vgl. Schleiermacher, Über die Religion, 199–201. 106 Zu Rosenzweigs Kritik an der Trennung des Glaubens vom Wissen bei Schleiermacher und in seiner Rezeption vgl. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 111–113.

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antwortet werden konnte, und das hieß für ihn gerade: nicht mehr mit dem Religionskonzept.107

Geschichte in Divergenz »Hermann Cohen sagte einmal zu mir – er war schon über siebzig –: ›Ich hoffe doch noch, den Anbruch der messianischen Zeit zu erleben […]‹«,108 erinnerte sich Rosenzweig fast unvermittelt in dem Kommentar zum Gedicht Die frohe Botschaft in seiner 1924 publizierten, Buber zugeeigneten Übersetzung Sechzig Hymnen und Gedichte des Jehuda Halevi. Rosenzweigs Anmerkung verhandelt die Figurationen des falschen Messias in den vergangenen Zeiten. Vermittels dieser Episode mit Cohen ordnete er dem 19. Jahrhundert letztlich einen eigenen zu, wenn er schrieb: »Damit meinte er [Cohen], ein Gläubiger des falschen Messias des neunzehnten Jahrhunderts, die Bekehrung der Christen zum ›reinen Monotheismus‹ seines Judentums, die er in der liberalen protestantischen Theologie sich vorbereiten zu sehen meinte.«109 In Rosenzweigs eigenem Denken war die »messianische Zeit« mit Der Stern der Erlösung der weltgeschichtlichen entrückt und er wollte mit dem falschen Messias des 19. Jahrhunderts wohl auch den »-ismus« des Messianismus entlarven. Den Glauben an die Geschichte als Offenbarungssurrogat benannte Rosenzweig zwar nur an anderer Stelle, aber die messianische Verheißung verstand Cohen in Rosenzweigs Retrospektion als eminent geschichtliche, als bald sich anbahnende. Eine Hoffnung, die Rosenzweig nicht mehr teilen konnte. »Ich fuhr zusammen vor dieser Gewalt des ›bald, in unsern Tagen‹ und wagte nicht zu sagen, daß diese Zeichen mir keine Zeichen wären, sondern erwiderte nur, ich glaubte es nicht zu erleben«,110 akzentuierte er entsprechend die Grenze zwischen ihm und Cohen und erinnerte weiterhin: »Darauf er: ›Aber wann meinen Sie denn?‹ Da hatte ich nicht das Herz, keine Zahl zu nennen und sagte: Wohl erst nach Hunderten von Jahren. Er aber verstand: wohl erst nach hundert Jahren, und rief: ›O bitte sagen Sie fünfzig!‹«111 107 So exzerpierte Rosenzweig bereits in seinem Tagebuch im Jahr 1910 bezeichnenderweise gerade auch die Stelle aus Über die Religion, in der Schleiermacher »Die Geschichte« zum »höchste[n] Gegenstand der Religion« erklärte. Leo Baeck Institute New York, Franz Rosenzweig Collection (1832–1999), AR  3001, Box 1, Folder 19, Tagebucheintrag vom 19. September 1910, (15. Januar 2022). 108 Rosenzweig, Anmerkung zu »Die frohe Botschaft«, in: ders., Sechzig Hymnen und Gedichte des Jehuda Halevi, 159 f., hier 159. 109 Ebd. 110 Ebd. 111 Ebd., 159 f.

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In dieser Anekdote verdeutlicht sich – obwohl sie sich kaum so abgespielt haben dürfte – Rosenzweigs Bruch mit dem Erwartungshorizont ­Cohens.112 Rosenzweigs Erzählung steht quer zu Cohens Vorstellung einer asymptotischen, mithin unendlichen Annäherung, dennoch verweist sie auf Cohens in die protestantische Theologie gesetzte Hoffnung und auf seine grundsätzliche Zukunftsorientierung, die sich freilich ganz anders gestaltete, als Rosenzweig es beschrieb. Cohen glaubte trotz des »Liebäugeln[s] mit dem Pantheismus« in der protestantischen Theologie weiter daran, dass die Menschheitsreligion zur Geltung komme oder zumindest zum gemeinsamen Ziel werde. Rosenzweig hingegen konnte weder im Besonderen eine Anerkennung des Judentums vonseiten der Disziplin sich vorbereiten sehen noch im Allgemeinen zu Beginn der 1920er Jahre eine geschichtliche messianische Vorstellung teilen. Dass Rosenzweig diese Episode nicht noch im Haupttext der Einleitung wiederholte, sondern nur in einer Fußnote darauf verwies, war dabei nur konsequent.113 Denn in dem 1923 verfassten Text entwarf er eben den doppelten Cohen, den Marburger Idealisten und den Heimkehrenden der letzten Schaffensperiode – die Episode, die Cohens auch mit »über siebzig« noch gehegte Hoffnung veranschaulichen sollte, ließ sich nicht nahtlos in dieses Bild einpassen. Bei seiner ersten Lektüre des Manuskripts von Religion der Vernunft hatte Rosenzweig zwar einen Punkt noch nicht akzeptieren können, nämlich, dass Cohen ein »Fremdwort« als Zentralbegriff gewählt habe.114 Er wisse nicht, hatte Rosenzweig im März 1918 an Cohen selbst geschrieben, 112 Die im Jehuda Halevi bereits in der ersten Ausgabe angeführte Episode hatte Rosenzweig zu Beginn des Jahres 1917 in einem Brief an Gertrud Oppenheim noch etwas anders dargelegt. Der Kerngehalt der Annahme des prophetischen Monotheismus vonseiten des Christentums und die Konkretion der messianischen Verheißung waren auch darin enthalten, aber Rosenzweig meinte gegenüber Oppenheim gesagt zu haben, dass er wohl nicht glaube, dass es in fünfzig Jahren geschehe, und Cohen habe auf diese Zeitangabe verneinend erwidert, dass sie in hundert Jahren Erfüllung finde. Im Rekurs auf Schwarzschild betont auch Bienenstock, dass diese Geschichte sich  – unabhängig von den Abweichungen – nicht so zugetragen haben dürfte, und arbeitet heraus, dass Rosenzweig Cohen mit dieser Anekdote zu einem »Eschatologen« umdeutete. Vgl. Rosenzweig an Gertrud Oppenheim, 5. Februar 1917, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 344–346, hier 345. Vgl. dazu Bienenstock, Ist der Messianismus eine Eschatologie?, 136 f. und 147; dies., Weltgeschichte – oder Heilsgeschehen?, in: dies., Cohen und Rosenzweig, 200 f.; Schwarzschild, Franz Rosenzweig’s Anecdotes about Hermann Cohen (1970), 36 f. 113 Vgl. Rosenzweig, Einleitung in die Akademieausgabe der jüdischen Schriften Hermann Cohens, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 197. 114 Am 5. März schrieb Rosenzweig an seine Eltern: »›Correlation‹ heißt auf deutsch: Bund, gelegentlich auch bloß Band. Er hat sich leider auf das greuliche Fremdwort festgebissen.« Ders., Brief an die Eltern, 5. August 1918, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 516 f., hier 516.

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»was ich darum gäbe, wenn ich das unglückliche Wort ›Korrelation‹, diesen Weiber- und Kinderschreck, diesen bissigen Hund am Eingang ihres Hauses, wegwischen könnte.«115 Aber trotz der Aversion gegen den Begriff stellte Rosenzweig in Retrospektion das Motiv der Korrelation von Gott und Mensch im Spätwerk Cohens heraus. In der Einleitung meinte er gar eine Neubegründung der Korrelation jenseits des Idealismus im Denken Cohens ausmachen zu können, die es ihm ermöglichte, eine Nähe von seinem eigenen »neuen Denken« zu dem des späten Cohen zu sehen, in der sich freilich weit mehr von Rosenzweigs eigener Offenbarungsinterpretation niederschlug als von Cohens Verbindung von Vernunft und Offenbarung. So sah Rosenzweig Cohen in seiner letzten Schaffensperiode über den »großen Gedanken der Immanenz« des 19. Jahrhunderts hinausgehen, und zwar »aus dem einfachen Grunde, weil er an Gott glaubte und sein ererbtes Judentum ihm nun zur beherrschenden Lebensmacht geworden war«.116 Ob es an der akademischen Form lag, die er zu wahren suchte, oder sich ein anderer Grund finden ließe, in jedem Fall führte er die aus seiner Perspektive andrängende Kritik an Cohens Festhalten an einem »ethischen Begriff der Geschichte« in der Einleitung nicht aus.117 Im Gegenteil: In seiner Spiegelung Cohens kam dem 19. Jahrhundert stattdessen eine  – obschon noch immer kritische, so doch bedeutende  – Präsenz zu.118 So eröffnete Rosenzweig die Darstellung von Cohens Werdegang in der Einleitung nach einer kurzen Vorstellung der im Zentrum stehenden Person mit der deutschen Universität und ihrem Ausdruck in Jena zu Beginn des 19. Jahrhunderts und das heißt: mit Fichte und Schelling, mit Goethe und Schiller und vor allem mit Hegel.119 In diesem Reigen habe sich das »weltgeschichtliche Wunder« einer Verschmelzung von »Philosophie« und »nationale[r] Kultur« ausgedrückt. »So entstand das, was man den deutschen Idealismus nennt.«120 Und Rosenzweig akzentuierte Cohens philosophischen Anspruch 115 Ders. an Hermann Cohen, 9. März 1918, zit. nach ebd., 523. 116 Rosenzweig, Einleitung in die Akademieausgabe der jüdischen Schriften Hermann Co­ hens, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 209. 117 Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, 309. 118 So meinte Rosenzweig, dass Cohens Gedanken an Hegel »immer wieder anklingen«. Auch schrieb er an seine Mutter kurz nach dem Tod Cohens: »Daß Cohen viel hegelianischer war als er wußte, ist viel gesagt worden und richtig. Aber für mich war gerade das Hegelianische an ihm das was ich nicht schlucken konnte.« Ders., Einleitung in die Akademieausgabe der jüdischen Schriften Hermann Cohens, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 181; ders., Brief an die Mutter, 15. April 1918, zit. nach Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 538. Zur Distanz zwischen Cohen und Hegel, die Rosenzweig damit nivellierte, vgl. etwa Bienenstock, Einleitung, in: dies., Cohen und Rosenzweig, 13–30, hier 15 f. 119 Vgl. Rosenzweig, Einleitung in die Akademieausgabe der jüdischen Schriften Hermann Cohens, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 177–179. 120 Ebd., 179.

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in Marburg auf diesem Fundament: »Was Cohen als Philosophiegeschichte erstrebt, ist nicht mehr und nicht weniger als eine Geschichte der einen menschlichen Vernunft, also nichts anderes als was bei Hegel Kern und Stern des Systems war.«121 Rosenzweig las Cohen also letztlich durch das ihm von seiner Hegelinterpretation gewiesene Tor hindurch und spitzte damit den Systemgedanken und die zugehörige Geschichtsphilosophie im Denken Cohens (vor dessen Gang nach Berlin) in diesem Sinne zu – ­Cohens Abstand zu Hegel übergehend. Cohen habe, rechtfertigte Rosenzweig sein Vorgehen, den »Weg zum System […] in bewußter Ablehnung und unbewußter Nachfolge der großen Denker [beschritten], die zu Anfang des Jahrhunderts Kants Denken und Goethes Leben zu der Kulturmacht des deutschen Idealismus verschmolzen hatten«.122 Für Rosenzweig war Cohens »Kantianismus […] stets mit so viel nachkantischem Idealismus im Stil des neunzehnten Jahrhunderts versetzt«, wie er im Rekurs auf dessen SpinozaAufsatz von 1910 herausstellte, »daß er deswegen schon auf der Bahn jener Jugendschriften hätte verharren können«, in denen letztlich das »Natura sive Deus des Jahrhunderts Galileis und Newtons« als »das Deus sive Spiritus des Jahrhunderts Hegels und Rankes« gelesen wurde.123 Der »spinozisierenden Jugendsünde« setzte sich Cohen für Rosenzweig aber mit seinem Gang nach Berlin zunehmend klar entgegen, so schrieb er weiterhin: »[I]m Kampf gegen jeglichen Pantheismus, auch den des Geistes, steifte ihm den Nacken sein Judentum, das erst jetzt vollends Sprache gewann.«124 Auf der einen Seite rückte Rosenzweig also den Marburger Cohen in eine Reihe mit dem deutschen Idealismus und auf der anderen Seite löste er den späten Cohen aus dem idealistischen Denken des 19. Jahrhunderts heraus. Parallel dazu setzte sich Rosenzweig in der Einleitung exponiert mit Cohens Geschichtsphilosophie auseinander  – seiner eigenen, gegen Ende des Weltkrieges ausgedrückten Abwendung von der Geschichte zum Trotz. So schrieb er: »Im Menschen der Menschheit und in seinem Staate, beide streng als Aufgaben verstanden, als Aufgaben, die nur in der Ewigkeit des sittlichen Fortschritts zu verwirklichen und nirgend verwirklicht sind, gipfelt so die ethische Kultur.«125 Und er stellte heraus, dass diese Vorstellung ihren Grund im Judentum hatte: »[D]iesen Gipfel der Kultur verdankt die Menschheit, wie seine tiefste Grundlage, dem monotheistischen Gottesglauben, dem prophetischen Judentum.«126 Rosenzweig, der sich gerade von der Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts abgewandt hatte, war es indes 121 Ebd., 181. 122 Ebd. 123 Ebd., 215. 124 Ebd. 125 Ebd., 196. 126 Ebd.

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wichtig, diese unendliche Aufgabe nicht in einen bloßen Progress münden zu lassen, sondern die Relation zur Ewigkeit zu betonen. Für ihn war aber erst mit dem Spätwerk ein konstitutives Moment in Cohens ethische Auffassung eingedrungen. Das Individuum und die Liebe fanden vermittels der Korrelation von Gott und Mensch zuerst in das philosophische System, dann in Religion der Vernunft Eingang. So apostrophierte Rosenzweig in der Einleitung bei der Darstellung der Korrelation: »Von dieser Doppelentdeckung [wechselseitig von Gott und Mensch] aus fällt nun aber neues Licht auch auf die sittliche Menschheit und auch auf ihre Geschichte.«127 Das Leiden trete in den Vordergrund und dies ermögliche eine neue Dimension der Ethik. Dass Cohen auch in seinem Spätwerk durchaus noch einen – wenn auch der Empirie entgegengesetzten – Begriff des Fortschritts aufrechterhielt und im »Rest Israels« das Symbol der Zukunft der Menschheit als »Stellvertreter des Leidens« sah, rückte Rosenzweig in den Hintergrund.128 Konvergenz zeigte sich so nur noch im Wort »Ewigkeit«, deren Figuration beide allerdings ganz unterschiedlich verstanden. Während Cohen die Ewigkeit mit der Unendlichkeit noch im Einklang sah, entrückte Rosenzweig sie dem Zeitverlauf. Dennoch – und trotz der Einschränkung, die akademische Form zu wahren  – wollte Rosenzweig gerade Cohens spätes Geschichtsdenken in einen Radius von Gegenwärtigkeit rücken, wie er ihn selbst in Der Stern der Erlösung gesetzt hatte, und deutete den anderen Aspekt, die Gegenseitigkeit von Gott und Mensch, extensiv im Hinblick auf sein eigenes »neues Denken« aus. Rosenzweig ging sogar so weit, zu proklamieren, dass Cohen mit der Korrelation in »philosophisches Zukunftsland« vorgestoßen sei.129 Bereits eine Woche nach Cohens Tod hatte er in diesem Sinn an seine Mutter geschrieben: »Ich habe das sichere, durch Anzeichen gestützte, Gefühl daß Cohens Religionsphilosophie keine glatte Konsequenz seines übrigen Systems ist, sondern etwas wie eine neue Phase.«130 Eine neue Phase, die Rosenzweig eben nicht nur in Cohens eigener Denkbewegung ausmachte, sondern die der in aller Negativität noch geschichtlich Denkende zur Signatur der Zeit erklärte. Letztlich adressierte er damit die Wasserscheide des Jahres 1918, die seiner Ansicht nach ein altes von dem neuen Denken trennte. Auf anderer Ebene deutete sie auf die Übergangszeit vom 19. zum 20. Jahrhundert. 127 Ebd., 206. 128 Vgl. Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, 291–313. 129 Rosenzweig, Einleitung in die Akademieausgabe der jüdischen Schriften Hermann Cohens, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 208. 130 Ders., Brief an die Mutter, 15. April 1918, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.1: Briefe und Tagebücher, 538.

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Trotz der ausgemachten Affinität zwischen seinem neuen Denken und Cohens Korrelation schrieb Rosenzweig im Januar 1924 an Buber: »Weshalb können wir heut nicht vom Messias sprechen, wo doch das 19. Jahrhundert wenigstens Messianismus ganz ehrlich sagen konnte. […] [W]ir müssen Volk sagen, weil das uns heut der Weg ist, unseren Glauben zu bewähren. Wie es dem Cohenschen Jahrhundert der Messianismus war.«131 Da Rosenzweig in seinen eigenen Reflexionen den Begriff der Menschheit weitgehend vermied, scheint der Messianismus in dieser Entgegensetzung auch zu einer Chiffre desselben geworden zu sein. Die in diesem »-ismus« adressierte Menschheit sah Rosenzweig zum Volk geronnen. Während in dem Sonderheft der Neuen Jüdischen Monatshefte vom Mai 1918 in den anderen Beiträgen die Zukunftsträchtigkeit der idealistischen Philosophie Cohens und ihre Bedeutung für die Menschheit betont wurde, konnte Rosenzweig diese Einschätzung nicht mehr teilen. Er sah zwar ein Zukunftswerk in Cohens Philosophie, aber weit jenseits des Idealismus und das hieß für ihn, auch ohne zentralen Bezug auf Menschheit und Vernunft. Mit seinem Verweis auf das Volk in dem Brief an Buber wollte sich Rosenzweig indes nicht nachträglich in der Kontroverse mit Cohen von 1916 auf dessen Seite schlagen. Im Gegenteil  – für Rosenzweig hatten, wie er in der Einleitung andeutete, sowohl Cohen mit seinem Spätwerk als auch Buber mit Ich und Du jeweils diese Phase ihres Wirkens hinter sich gelassen; und so rückte Rosenzweig diese beiden einfach an seine eigene, in der geschichtlichen Krise geformte Position heran.132 Ihm stellte sich das Problem der politischen Zuordnung nicht mehr und auch Cohen attestierte er 1923 einen tiefer liegenden Grund für seine Ablehnung des Zionismus. Sichtbar sei dieser erst in der bloßen Erwähnung als »Episode« in der Religion der Vernunft geworden.133 Was er damit gesagt haben wollte, bebilderte er mit »einem Ausspruch« Cohens, als dieser ihm sein »allzu tolerantes Verhältnis zum Zionismus« vorgeworfen habe.134 Rosenzweig erinnerte: »Da […] schob [Cohen] seinen ungeheuren Kopf, den die zartesten Locken umgaben, dicht und drohend an mich heran und sprach: ›Ich will ihnen etwas sagen‹ und dann, die Stimme zu einem donnernden Flüstern dämpfend: ›die Kerls wollen glücklich sein!‹«135 Daran anschließend proklamierte Rosenzweig: »Die Zukunft des Zionismus ist darin beschlossen, ob diese Worte für ihn

131 Ders. an Martin Buber, 27. Januar 1924, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 1.2: Briefe und Tagebücher, 942 f., hier 942. 132 Vgl. Rosenzweig, Einleitung in die Akademieausgabe der jüdischen Schriften Hermann Cohens, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 218 f. 133 Ebd., 219. 134 Ebd. 135 Ebd.

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oder gegen ihn gesagt sind.«136 In Verbindung mit Cohens geschichtlicher Einordnung des Zionismus in seinem Spätwerk als »Episode« insinuierte ­Rosenzweig: »Gegen einen Zionismus, der sich seine Wege und Ziele im Bezirk der Episode absteckt, und der nicht ahnt, daß wir […] mit einer glücklichen Volksgeschichte nicht zum Messianismus gekommen wären, würde er nicht bloß recht behalten.«137 Auch Rosenzweig sah einen im Zionismus angestrebten bloßen Nationalstaat im Rahmen der Weltgeschichte skeptisch, fügte jedoch in Verkehrung von Cohens Satz an, dass »der Zionismus, der ihn [Cohen], ich hoffe es, widerlegen wird, […] ihm recht geben« wird.138 Rosenzweig wollte sich mit dieser Diagnose nicht zum Zionisten erklären. Auch wenn er gewisse Affinitäten zu Bubers Vorstellung jüdischer Kollektivität zeigte, verstand er sich im Bereich des Judentums am ehesten noch als liberal. Ihm ging es letztlich vor allem um eine Auflösung der Fronten. In Rosenzweigs Denken mit und nach Der Stern der Erlösung war die zuvor selbst geforderte Anerkennung des Judentums vonseiten der protestantischen Theologie verschwunden, an deren Stelle waren eine innere Selbstverständigung und eine äußere Selbstbehauptung getreten. Weder konnte er die von Cohen angestrebte  – geschichtsimmanente  – Anerkennungsoption des Judentums als Religion in der deutschen Nation noch teilen, noch ersetzte er seinen verlorenen geschichtsphilosophischen Erwartungshorizont mit einer zionistischen Perspektive, sondern er richtete seine Hoffnung auf eine Selbstbesinnung des modernen Judentums. An Positionen der Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert knüpfte er nicht mehr an – die Referenzen in Der Stern der Erlösung sind primär der deutschen Philosophie und der protestantischen Theologie entnommen. Seine Orientierungsfiguren im Judentum waren Cohen, als Repräsentant einer vergehenden Kultur, und Buber, als esoterischer Verbündeter in seinem Projekt der Erneuerung. Über Cohen vermittelt, rekapitulierte Rosenzweig jedoch in der Einleitung die intellektuelle Formierung des »emanzipierten deutschen Judentums« der Mitte des 19. Jahrhunderts.139 »Zunzens Entwurf einer Wissenschaft des Judentums, […] Hirschs Neunzehn Briefe, Geigers Anfänge, […] Steinheims, Samuel Hirschs und Formstechers religionsphilosophische Systeme« waren für Rosenzweig unter den Zeichen dieser »geistig bewegtesten Jahrzehnte«.140 In dieser Reihe finden sich mit Salomon Ludwig Steinheims und Samuel Hirschs religionsphilosophischen 136 Ebd., 219 f. 137 Ebd., 220. 138 Ebd. 139 Ebd., 184. 140 Ebd.

Philosophische Sprache: Von Cohen zu Rosenzweig

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Systemen und den Neunzehn Briefen von Hirsch gerade die Ausgangspunkte für Die Construction der jüdischen Geschichte, die Heinrich Graetz 1846 veröffentlicht hatte  – mit der nicht mehr genannten Ausnahme von Isaak Mieses; also von der Skizze, in der sich Graetz explizit an der »noch jungen Wissenschaft: Philosophie der Geschichte«141 versucht hatte und die Cohen 1917 würdigte. Diese Zeit war für Rosenzweig allerdings längst vergangen. Das »deutsche Judentum« war, wie er festhielt, »nach erreichter politischer Emanzipation in den Verdauungsschlaf einer Satuiertheit« versunken, »aus dem es leiblich zwar durch die neue antisemitische Welle Ende der siebziger Jahre, geistig aber erst durch die zionistische Bewegung unserer Tage wieder erweckt wurde«.142 Auffälligerweise sah Rosenzweig  – im Zusammenhang mit seinen retrospektiven Überlegungen zur Kontroverse zwischen Buber und Cohen – gerade in Cohens später Würdigung von Graetz »die großartigste Palinodie des grausamen Angriffs, den der alte Schüler vor 37 Jahren gegen das ›Palästinensertum‹ des großen nationalen Historikers gerichtet hatte«.143 Rosenzweig deutete also die beiden Aufsätze Cohens von 1917 zu Graetz als poetischen Widerruf, den er jedoch weniger inhaltlich ausführte, denn schlicht symbolisch anführte, bevor er eben die »Episode« ins Spiel brachte, als die Cohen den Zionismus begriff. Mit der Bezeichnung des nationalen Historikers zeigte sich zugleich an, dass Rosenzweig Graetz nicht mehr nur bezogen auf dessen Lebenszeit und deren Möglichkeitsraum verstand – nicht in der jüdischen Geschichte in Preußen Mitte des 19. Jahrhunderts  –, sondern in Bezug auf seine eigene Gegenwart. So sehr Rosenzweig sich den Zuordnungen zu entziehen suchte, wurde er doch immer wieder auf sie zurück­ geworfen. Cohen war für Rosenzweig zur Ikone des deutschen Judentums des 19. Jahrhunderts geworden – Emblem einer vergangenen Epoche des Idealismus wie der politischen Emanzipation. Die intrinsische Verbindung von Geschichte und Judentum im Begriff der Religion, die für Cohen das Fortschrittsdenken zum Kern von Tradition hatte werden lassen, trennte ihn im doppelten Sinne von Rosenzweigs Generation. Rosenzweig konnte weder die Erwartung der Anerkennung des Judentums als Religion noch den diese begründenden Glauben an die Geschichte teilen. Cohens Hoffnung auf die Menschheit war, begründet durch die Propheten und die Vernunft, Ausdruck einer Verweltlichung der im Signum der Geschichte sich bahnbrechenden Moderne. Der Krieg stellte einen Bruch mit dieser Denkforma141 Graetz, Die Konstruktion der jüdischen Geschichte, 9. 142 Rosenzweig, Einleitung in die Akademieausgabe der jüdischen Schriften Hermann Cohens, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 184. 143 Ebd., 219.

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Der Verlauf des 19. Jahrhunderts und Hermann Cohen 

tion des 19. Jahrhunderts dar. Rosenzweig stand in einem jede Kohärenz entbehrenden Erfahrungsraum und suchte nach Wegweisern in der neuen Zeit. Cohens philosophische Sprache wurde ihm dafür zu einem Ansatz, um die erodierte epistemische Ordnung zu überschreiten. Die Zäsur, die die geschichtliche Welt mit diesem Ereignis erfuhr, ließ damit in doppelter Übertragung Rosenzweigs Abstand zur Tradition zutage treten. Zwar schickte er sich an, die Geschichte im Namen des Judentums zu überwinden, aber bei aller Kritik lehnte er sich auch in seiner theologischen Reflexion noch an das geschichtliche Bedingungsgefüge an, dem der Begriff der Religion zugehörte.

Dritter Teil Bewahrung der Geschichte Walter Benjamin und die Mitte des 20. Jahrhunderts

7. Theologischer Rest: Frühjahr 1940

Walter Benjamins Schrift Über den Begriff der Geschichte steht für die Mitte des 20. Jahrhunderts. Durch die Erfahrung von Exil und Verfolgung getrennt von dem Denken Hermann Cohens und Franz Rosenzweigs, ist sie der Kritik eines Geschichtsbegriffs gewidmet, der dem Geschehen nicht standzuhalten vermochte. Acht Monate nach Beginn des zweiten, bald die Weltordnung betreffenden Krieges kündigte Benjamin Gretel Adorno den Text an  – er schrieb: »Der Krieg und die Konstellation, die ihn mit sich brachte, hat mich dazu geführt, einige Gedanken niederzulegen, von denen ich sagen kann, daß ich sie an die zwanzig Jahre bei mir verwahrt, ja, verwahrt vor mir selber gehalten habe.«1 In der neuen Lage holte Benjamin damit hervor, was bereits am Ausgang des Ersten Weltkrieges seine Überlegung war. So wandte er sich angesichts einer zur Katastrophe strebenden Gegenwart dem fragilen Status der Geschichte als epistemischem Problem der Moderne zu. Zwar hatte sich Benjamin der Frage geschichtlicher Deutung in den zwei Dekaden, auf die er in seinem Brief an Gretel Adorno verwies, immer wieder gestellt, aber erst im Frühjahr 1940 ging es in dieser Form um eine Hinwendung zum Vergangenen.2 Insbesondere hatte er im Mai 1937 Gretel und Theodor W. Adorno gegenüber seine »Theorie des Fortschritts« zu entfalten begonnen,3 auf die er drei Jahre später rekurrierte: »Das Gespräch unter den marronniers war eine Bresche in diesen zwanzig Jahren. Noch heute händige ich sie Dir mehr als einen auf nachdenklichen Spaziergängen eingesammelten Strauß flüsternder Gräser denn als eine Sammlung von Thesen aus.«4 In Über den Begriff der Geschichte richtete Benjamin gegen den Verfall von Fortschrittsdenken und von Historismus in zwanzig Thesen eine Geschichtsphilosophie, die sich der Theologie erinnert. Für Benjamin bedeutete dies, sich zwanzig Jahre nach der geschichtlichen Krise dem Problem in neuer historischer Konstellation zu stellen. So deutete sich in den brüchig gewordenen Gewissheiten, die sich bereits in der Denkbewegung von Rosenzweig zu Cohen zeigten und die noch Benjamin berührte, ein Zu1 Benjamin an Gretel Adorno von Ende April / Anfang Mai 1940, zit. nach ders., GB  6, 435–437, hier 435. 2 Zur Datierung der Thesen vgl. u. a. Weigel, Art. »Angelus Novus«, 97. 3 Vgl. Gödde / L onitz, Anmerkungen zu dem Brief an Gretel Adorno von Ende April /  Anfang Mai 1940, in: Benjamin, GB 6, 437 f., hier 438. 4 Benjamin an Gretel Adorno von Ende April / Anfang Mai 1940, zit. nach ders., GB 6, 435 f.

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sammenhang an.5 Die Frage, ob Religion oder Theologie das richtige Orientierungskonzept sei, war Benjamin indessen nicht mehr zugänglich. Die dem Religionsbegriff eingeschriebene Anerkennungshoffnung des Judentums, die Cohen am Horizont hatte denken können, ist für ihn im Frühjahr 1940 zerstört. Benjamins Anliegen war es vielmehr, im Namen der Geschichte, in einer Zeit, in der alle Sicherheiten ins Wanken gerieten, offenzulegen, was von dem ehemaligen Bedeutungsgefüge, dem einen, alles umspannenden, sinnstiftenden Begriff übrig geblieben war und was es an ihm zu bewahren galt. Während sich Rosenzweig in seinem Kampf mit dem 19. Jahrhundert auf eine Rückbesinnung auf das Judentum richtete, war Benjamins Denken klar geschichtsphilosophisch. Seine Überlegungen zielten nur noch auf einen theologischen Rest im Fundament der Geschichte.6 Dieser Ausrichtung entsprechend, setzte sich Benjamin über zwei Jahrzehnte – anders als Rosenzweig – mit Cohen auseinander. Er erschien bereits um 1920 namentlich in der Peripherie seiner Schriften und blieb dort bis 1939.7 In dieser Evokation legte er allerdings eine gewisse Unentschlossenheit an den Tag, die – der Sache nach – noch in den Thesen über den Begriff der Geschichte nachhallt. Obschon Benjamin Cohen zu Beginn des Jahres 1939 in einer harschen Abrechnung mit dem Neukantianismus heranzog, zeigte er sich über die Jahre ambivalent gegenüber dessen Werk. Vor Kritik scheute er nicht zurück, rekurrierte aber dennoch immer wieder vom Rande her auf Cohen, insbesondere dem Text Ethik des reinen Willens kam dabei ein besonderer Status zu.8 Diese Schrift, die Cohen mit seiner geschichtsphilo5 Zu der Nähe in den theologischen Motiven und dem direkten Bezug von Benjamin auf Rosenzweig vgl. vor allem die Arbeiten von Stéphane Mosès. Aber auch Jean-Michel Pamier widmet Benjamins Bezug zu Cohen und mehr noch zu Rosenzweig sein letztes Teilkapitel des Kapitels Judentum und Philosophie in der Biografie Walter Benjamin. Lumpensammler, Engel und bucklicht Männlein. Vgl. dazu Mosès, Walter Benjamin und Franz Rosenzweig; ders., Der Engel der Geschichte; Palmier, Walter Benjamin, 295–316. 6 In diesem Sinne problematisiert Daniel Weidner 2009 eine »bruchlos[e]« Übertragung von Rosenzweigs auf Benjamins theologische Überlegungen. Insgesamt fordert er für die Forschung zu Benjamin »eine Reflexion der aktuellen Diskussion, eine umfassende Historisierung Benjamins, eine besondere Sensibilität für die literarische Form seiner Texte sowie schließlich das stete Mitreflektieren der bisherigen Rezeptionsgeschichte«. Weidner, Kapitalismus als Religion lesen, 57 f. 7 In den Briefen wird Cohen zwar schon eher genannt, aber in Bezug auf die Schriften wird er zuerst in Zur Kritik der Gewalt zitiert und der letzte Verweis findet sich in einer im Januar 1939 fertiggestellten Rezension zu Richard Hönigswald. Vgl. Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, zit. nach ders., GS 2.1, 179–203, hier 198 f.; ders., Richard Hönigswald, Philosophie und Sprache (Rezension), zit. nach ders., Werke und Nachlaß 13.1, 574–579, hier 575. 8 Vgl. neben Zur Kritik der Gewalt etwa Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, zit. nach ders., GS 1.1, 123–201, hier 128 f., 134 und 191; ders., Erkenntniskritische Vorrede, in: Ursprung des deutschen Trauerspiels, zit. nach ebd. 207–237, hier 226; ders., Franz Kafka. Zur Wiederkehr seines Todestages, zit. nach ders., GS 2.2, 409–438, hier 412.

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sophischen Idee des Judentums verbunden sehen wollte, war für ­Benjamin in gewisser Weise wichtig. Die Religion der Vernunft, die Rosenzweig zum Eingang in Cohens Denken hatte nehmen wollen, wurde von Benjamin dagegen weitgehend ignoriert. Auch Rosenzweigs Denken war in Benjamins Rezeption von Distanz geprägt. Zwar besuchte er Rosenzweig im Dezember 1922, sprach mit ihm aber gerade über die Gefahren von Der Stern der Erlösung, die er bei wohl nur grober Lektüre auszumachen meinte.9 Dennoch zitierte er Mitte der 1920er Jahre in Ursprung des deutschen Trauerspiels ausführlich aus dem ersten Teil des Werks.10 Er übermittelte Rosenzweig sogar das Buch, um seiner spezifischen Verbundenheit Ausdruck zu verleihen  –, die sich indes nicht auf dessen theologische Perspektive bezog.11 Um 1930 tauchte Rosenzweig an verschiedenen Stellen in Benjamins kleineren Schriften und Notizen auf und 1934 wurde er in dem Essay Franz Kafka mit Cohen zusammengedacht.12 Zuletzt fand er 1935 in einem Brief Benjamins Erwähnung.13 In der zwar nur kurzen Schrift Über den Begriff der Geschichte, die aber in mehreren Versionen mit verschiedenen Konvoluten an Notizen überliefert ist, werden weder Rosenzweig noch Cohen genannt.14 Die den Thesen eingeschriebene Frage nach dem theologischen Rest der Geschichte lässt jedoch Motive aufscheinen, die an Rosenzweigs (an Cohen geschärfter) Kritik des modernen Geschichtsbegriffs, des diesen konterkarierenden Geschehens und der unterlegten Verhältnisbestimmung des Sakralen und Profanen gemahnen. Auch Benjamin knüpfte an allgemeine Geschichtsvorstellungen des 19. Jahrhunderts nur mehr kritisch an, aber das geistesgeschichtliche 9 Zu Benjamins Besuch bei Rosenzweig im Dezember 1922 vgl. Benjamin an Gershom Scholem, 30. Dezember 1922, zit. nach ders., GB 2, 299–301. 10 Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, zit. nach ders., GS 1.1, 203–430, hier 286 f. und 291 f.; Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 83 f. und 234 f. 11 So schrieb Benjamin am 1. Februar 1928 an Martin Buber: »Das Trauerspielbuch habe ich auch an Rosenzweig senden lassen und weil er vielleicht nicht die Möglichkeit hat, sich jetzt damit zu beschäftigen, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie ihm bei Gelegenheit sagen wollten, in welchem Sinn es geschah: ich bin ihm für die großartige Theorie des Tragischen, die er im ›Stern der Erlösung‹ entwickelt, verpflichtet und habe mich häufig auf sie bezogen.« Benjamin an Martin Buber, 1. Februar 1928, zit. nach ders., GB 3, 330. Das Buch ist tatsächlich in den Katalog zu Rosenzweigs Bibliothek eingetragen. Vgl. dazu Waszek (Hg.), Rosenzweigs Bibliothek, 49. 12 Vgl. Benjamin, Bücher, die lebendig geblieben sind, zit. nach ders., Werke und Nachlaß 13.1, 183–185, hier 185; ders., Privilegiertes Denken. Zu Theodor Haeckers »Vergil« (1932), zit. nach ebd., 340–347, hier 346; ders., Notizen 4, zit. nach ders., GS 6, 207; ders., Franz Kafka, zit. nach ders., GS 2.2, 418 und 430. 13 Vgl. ders. an Alfred Cohn, 18. Juli 1935, zit. nach ders., GB 5, 127–130, hier 130. 14 Der Text ist in sechs verschiedenen Versionen erhalten, eine davon ist auf Französisch. Nachfolgend wird, wenn nicht aufgrund von signifikanten Abweichungen anders erfordert, auf das Handexemplar Benjamins Bezug genommen. Die Manuskripte und Typoskripte sind abgedruckt in Benjamin, Werke und Nachlaß 19. Das Handexemplar findet sich ebd., 30–43.

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Phänomen von Säkularisierung begriff er als dialektisch und entwarf eine neue, gleichsam resakralisierte Philosophie der Geschichte. Über den Be­ griff der Geschichte ist damit die in Text gefasste Erfahrung der Erosion der geschichtlichen Welt des 19. Jahrhunderts. Eine Erfahrung, die im Frühjahr 1940 untrennbar von dem Zeitgeschehen war.

Entfesseltes Geschehen »Ich habe einen kleinen Essay über das Konzept der Geschichte beendet, eine Arbeit, die nicht nur vom neuen Krieg inspiriert ist, sondern auch von der gesamten Erfahrung meiner Generation, die auf eine härtere Probe gestellt worden sein dürfte, als es die Geschichte jemals gekannt hat.«15 Am 5. Mai 1940, nur wenige Wochen nach der deutschen Okkupation Dänemarks, noch während der Schlacht um das norwegische Narvik und nur fünf Tage, bevor der Krieg auf die Westfront ausgedehnt wurde, legte Benjamin diese Zeilen nieder. Wohl eine Woche nach seinem Brief an Gretel Adorno adressierte er so an den Schriftsteller Stephan Lackner, der in den Jahren des französischen Exils sein Freund und Unterstützer war, seine Thesen auf einer anderen Ebene. Lackner gegenüber setzte er diese mit einer generationellen Deutung in Verbindung, die auf einen spezifischen Erfahrungsraum rekurrierte, der auch noch die zwanzigjährige Verwahrung einbegriff. So heißt es in Über den Begriff der Geschichte: »Das Staunen darüber, dass die Dinge die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert ›noch‹ möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, dass die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist.«16 Wie dieser Vorstellung von Geschichte der Glaube zugehörte, dass es hätte besser werden müssen, so verwies Benjamin auf die Generation, die sich einem Jahrhundert gestellt sah, das den Nationalsozialismus und nach nur zwei Jahrzehnten den zweiten umfassenden Krieg hervorbrachte. Er schrieb damit über diejenigen, die sich mit einem Scheitern des Antifaschismus konfrontierten. Er schrieb aber auch über diejenigen, die schon den Ersten Weltkrieg erlebt hatten, war doch die daran sich ausformende geschichtliche Zäsur der erste Wendepunkt für Benjamins Generation.17 15 Benjamin an Stephan Lackner, 5. Mai 1940, übers. nach ders., GB 6, 441–443, hier 441 (der Brief ist im Original auf Französisch geschrieben; Übersetzung der Verfasserin). 16 Ders., Über den Begriff der Geschichte (Handexemplar), zit. nach ders., Werke und Nachlaß 19, 35 (These VIII). 17 Gérard Raulet sieht in dem Zitat aus dem Brief an Lackner berechtigterweise einen Verweis auf den Hitler-Stalin-Pakt. Dass diese Frontverschiebung – vor Kriegsbeginn – ein Anlass für Benjamins Über den Begriff der Geschichte war, ist plausibel, aber der Selbstdeutung gegenüber Lackner und mehr noch den geschichtsphilosophischen Thesen legte

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Seit dieser Zeit wirkte Benjamin selbst als kritischer Intellektueller und wandte sich Mitte der 1920er Jahre dem Denken von Karl Marx zu. Er verließ Nazideutschland im März 1933. Obgleich er nie Mitglied der kommunis­ tischen Partei wurde, verkehrte er in den entsprechenden politischen Kreisen, die sich in den Jahren des Nationalsozialismus veränderten.18 Die Volksfrontpolitik, der gewaltsame Demonstrationen vorausgegangen waren, der Spanische Bürgerkrieg und die Hoffnungen, die in ihn gesetzt wurden, aber auch die Desillusionierung durch die Ereignisse, auf die die Chiffre »Moskau 1937« verweist, und nicht zuletzt der Hitler-Stalin-Pakt prägten das widerspruchsvolle Milieu Benjamins in Paris. Seine Gedanken waren indes nicht unmittelbar der bewegten Zeit zugewandt, sondern deren historischen Tiefenschichten wie der Moderne insgesamt.19 In seinen für das Institut für Sozialforschung verfassten Schriften, das ihm ein Auskommen ermöglichte, wählte er Themen der französischen, aber auch der deutschen Geistesgeschichte, die zunehmend gegenläufig zum Publikationskontext erschienen.20 Sein Fragment gebliebenes, umfangreiches Passagen-Werk, das er ab 1934 intensiv bearbeitete und Paris, der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, widmete, steht – zusammen mit seinen daraus hervorgegangenen Arbeiten zu dem Dichter Charles Baudelaire  – paradigmatisch sowohl für seinen sich ausprägenden Blick auf das Jahrhundert der Geschichte als auch für seine Affinität zu Frankreich. Darin ging es Benjamin nicht um eine bloße historische Betrachtung, sondern um ein Verstehen der Urgeschichte der Moderne und ihrer Krisenerfahrungen sowie um ein Bewahren der Versprechen und Hoffnungen, die diese Zeit aufgeboten hatte, die jedoch nicht mehr nur ihrer Erfüllung harrten, sondern dem Vergessen anheimzufallen drohten. Bedeutungsebenen, die auch in den Thesen über die Geschichte wiederkehrten. Im Verlauf der 1930er Jahre strebte Benjamin aufgrund seiner Verbundenheit zu Frankreich und der zunehmend gefährlichen Lage in Deutschland eine Naturalisierung an. Nach den Ereignissen des Jahres 1938 war darauf allerdings nicht mehr zu hoffen; und spätestens nach dem 1. September 1939 verschärfte sich die Situation auf verschiedenen Ebenen. Er Benjamin für seine generationelle Deutung eine epistemische Problemstellung zugrunde, die ins 19. Jahrhundert zurückreicht und die auch in Benjamins eigener intellektueller Biografie mit dem Ersten Weltkrieg verbunden bleibt. Zu Raulets Interpretation des Zitats vgl. ders., Entstehungs- und Publikationsgeschichte, 180 f.; ders., Werkgeschichte als Zeitgeschichte, 78. 18 Vgl. dazu etwa Palmier, Walter Benjamin, 553. 19 Diese vermittelte Zuwendung beschreibt Palmier mit Verweis auf den politischen Gehalt von Das Passagen-Werk. Vgl. ebd., 570. 20 So veröffentlichte Benjamin in der Zeitschrift für Sozialforschung u. a. die Aufsätze Der gegenwärtige gesellschaftliche Standort des französischen Schriftstellers (1934), L’œuvre d’art à l’époque sa reproduction mécanisée (1936), Eduard Fuchs. Der Sammler und der Historiker (1937) und Über einige Motive bei Baudelaire (1939).

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wurde als »feindlicher Ausländer« interniert,21 schrieb seine Briefe daraufhin fast ausschließlich auf Französisch und machte es letztlich noch zu seiner öffentlichen Umgangssprache, um weder in Wort noch in Schrift mit der deutschen Sprache aufzufallen.22 Im Frühjahr 1940 versteckte er verschiedene Manuskripte und Schriften in der französischen National­ bibliothek – darunter auch sein Handexemplar von Über den Begriff der Ge­ schichte – und stellte die Weichen für das, was bald darauf zur Flucht wurde. Seine Pläne richteten sich nun auf ein Visum für die Vereinigten Staaten und seine Hoffnungen auf die Bemühungen seiner Vertrauten in Übersee. Max Horkheimer und Adorno versuchten, die nötigen Unterlagen zu besorgen, aber Mitte Juni 1940 musste Benjamin Paris ohne diese in Richtung Süden verlassen. Erst zwei Monate später erreichte er Marseille. Wie die vielen anderen, die ausreisen wollten, suchte er nach Möglichkeiten, das zur Hälfte von Nazideutschland besetzte, zur anderen zum Vichy-Regime gewordene Land zu verlassen. Letztlich blieb nur der Weg über die Pyrenäen, von dem viele in Marseille wieder hatten zurückkehren müssen. Ein Weg, den auch Benjamin ging. Seine Gruppe wurde an der spanischen Grenze abgewiesen und er sah damit das Ende gekommen. In dem auf den 25. September 1940 datierten Abschiedsbrief ist festgehalten, dass wenn ihm auch keine Zeit mehr bleibe, alle Briefe zu schreiben, die er hätte schreiben wollen, seine Gedanken Adorno galten.23 Auch wenn die allerletzten Stationen von Benjamins Lebensweg keine Vorwegnahme in Über den Begriff der Geschichte finden, sind dem Text doch die Erfahrungen der Jahre des Exils in zumeist ökonomisch prekären Verhältnissen und die mit dem Krieg sich dramatisch zuspitzende Lage eingeschrieben. Benjamin verband darin eine zeitdiagnostische Deutung mit geschichtsphilosophischer Fundamentalkritik. Er beabsichtigte, »in einem Augenblick, da die Politiker, auf die die Gegner des Faschismus gehofft 21 Vgl. dazu etwa Palmier, Walter Benjamin, 601. 22 Soma Morgenstern beschrieb Gershom Scholem in diesem Sinne eine Begegnung mit Benjamin in Marseille: »Sein erstes Wort war: ›Auf der Strasse sprechen wir nur französisch.‹ Das fiel mir auf.« Soma Morgenstern an Gershom Scholem, 21. Dezember 1972, zit. nach Scholem, Briefe 3, 297–299, hier 297. Die Sprachfrage führte sogar zu einer langen Pause im Briefwechsel von Gretel und Theodor W. Adorno mit Benjamin. Bis auf eine kurze, auf Englisch verfasste Notiz, die obschon von beiden gezeichnet, wahrscheinlich von Gretel Adorno nach der Internierung Benjamins und seiner Rückkehr nach Paris am 21. November 1939 verfasst wurde, finden sich zwischen August 1939 und Ende Februar 1940 keine Briefe. Am 29. Februar schrieb Adorno: »Mein lieber Walter, daß ich Ihnen erst heute nach so langem Schweigen schreibe, ist einfach erklärt. Ich habe eine schlechterdings unüberwindliche Hemmung gefühlt, Sie in fremder Sprache anzureden.« Zit. nach Adorno / Benjamin, Briefwechsel 1928–1940, 415–421, hier 415. Der kurze, auf Englisch verfasste Brief vom 21. November 1939 findet sich ebd., 414. 23 Benjamin an Henny Gurland, 25. September 1940, zit. nach ders., GB 6, 483.

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hatten, am Boden liegen und ihre Niederlage mit dem Verrat an der eigenen Sache bekräftigen, das politische Weltkind aus den Netzen zu lösen, mit denen sie es umgarnt hatten«.24 Die Kritik richtete sich damit auf die Gegner des Faschismus, deren Radius sich für Benjamin mit dem Hitler-Stalin-Pakt auf die Sozialdemokratie einschränkte. Er wandte sich aber nicht einfach gegen die politischen Positionen, sondern gegen die diesen zugrunde liegende Vorstellung von Geschichte insgesamt. Das »politische Weltkind« sollte demnach insbesondere von dem in der Sozialdemokratie zäh sich aufrechterhaltenden Fortschrittsglauben befreit werden. Diese Loslösung wurde wiederum selbst als geschichtliche Aufgabe verstanden. Die »Schulphilosophie der Sozialdemokratie« meinte Benjamin in seiner epistemischen Dechiffrierung des Scheiterns der Gegner des Faschismus in der philosophischen Richtung zu erkennen, die die »klassenlose Gesellschaft« nur noch als fernes, ungreifbares Ziel im Gang der Geschichte denken könne und sich so mit den Verhältnissen arrangiere. Das ist in Über den Begriff der Geschichte eine Philosophie, die sich dem »Ideal« und der »unendlichen Aufgabe« verpflichtet sah. Namentlich durch Robert Schmidt, August Stadler, Paul Natorp und Karl Vorländer vertreten, wurde die »neukantianische Lehre« adressiert.25 Obwohl Benjamin mit Natorp und ­Stadler zwei enge Vertraute Cohens aufführte und insbesondere dessen Ethik durch den Begriff des Ideals konstituiert wird, nannte Benjamin Cohen selbst in den Thesen nicht. Etwas mehr als ein Jahr zuvor entstand allerdings eine Rezension zu Richard Hönigswalds Philosophie und Sprache, in der dies noch anders aussah. Die für die Zeitschrift für Sozialforschung zugesagte Kritik wurde im Januar 1939 an die Redaktion gesandt, aber weder am angedachten Ort noch zu Lebzeiten Benjamins an anderem abgedruckt.26 Ob es an den Umständen im Allgemeinen oder an dem Tenor der Besprechung im Besonderen lag, ist nicht zu klären, aber sie wurde zusammen mit zwei anderen Rezensionen Benjamins aus dem Redaktionsablauf herausdividiert. Benjamin nahm in seiner Kritik das Buch von Höngiswald als Zeichen eines allgemeinen Abdriftens des Neukantianismus in Opportunismus wahr – jedoch nicht bezogen auf den Nationalsozialismus, der in dem Text nicht thematisiert wird, sondern auf das Bürgertum. In einer Rückschau auf die Genese des Neukantianismus hob er das kritische Moment der Philosophie Immanuel Kants zum Ausgang des 18. Jahrhunderts hervor, das ein Jahrhundert später in dessen anachronistischer Wiederaufnahme bei den 24 Ders., Über den Begriff der Geschichte (Handexemplar), zit. nach ders., Werke und Nachlaß 19, 36 (These X). 25 Ebd., 42 (These XVIII). 26 Zur Anfrage der Zeitschrift für Sozialforschung und zu den weiteren Hintergründen vgl. Benjamin, Richard Hönigswald, Philosophie und Sprache (editorische Anmerkung), in: ders., Werke und Nachlaß 13.2, 610–616.

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»Epigonen« abhandengekommen sei. Als Referenz für die falsche Antiquiertheit galt ihm ausgerechnet die Ästhetik des reinen Gefühls von Cohen. Dies ist in Benjamins Lesart zu Beginn des Jahres 1939 aber nur der Ausgangspunkt eines Verfalls, der sich mit dem Ersten Weltkrieg seinen vollen Ausdruck verschaffte. »Vollends deprimierend wurde das Bild, als die Starrheit, mit welcher Cohen an den strategischen Positionen des 18. Jahrhunderts festgehalten hat, sich lockerte. Cohens Essai ›Die Eigentümlichkeit des deutschen Geistes‹ und Natorps ›Weltberuf‹ bilden hier eine Schwelle«, legte Benjamin auf die erste von Cohens Kriegsschriften verweisend dar. »Der altersschwache Kritizismus begann, nach Sprache und nach Geschichte auszugreifen. In deren Namen hatte einst die historische Schule dem Kritizismus und der Aufklärung insgesamt den Prozess gemacht.«27 Ebendiese frühe Spannung zwischen Kritik, Aufklärung und historischer Schule, die bei Rosenzweig in Der Stern der Erlösung unter dem Topos der »historischen Aufklärung« figurierte,28 ist ein Jahr nach der Rezension ein Ansatz von Benjamins eigener Geschichtsphilosophie  – in der Cohen nicht mehr genannt wird. In der Besprechung zu Hönigswald schrieb Benjamin indes weiterhin: »Zwei Umstände waren es demgemäss, die die ›kritische Philosophie‹ der Sprache und der Geschichte inauguriert haben: die Verkümmerung des oppositionellen Willens im Bürgertum und die Verkümmerung des geschichtlichen Anspruchs, der in ihm lebte.«29 Der Verlust des revolutionären Impetus im Bürgertum und die Hoffnung, Geschichte machen zu können, wie sie dem 19. Jahrhundert noch eigen war, richteten auch Benjamins Kritik am Begriff der »unendlichen Aufgabe« aus. In einer Zeit, in der das politische Problem existenziell geworden war, wies er der Sozialdemokratie eine Geschichtsvorstellung zu, die der »Verkümmerung« der »geschichtlichen Aufgabe« entsprach. In einer Notiz zu Hönigswald findet sich gegen diesen Verfall gerichtet das apodiktische Wort: »Der wird kein guter Philosoph der Geschichte sein, dessen Herz für die bestehende Ordnung schlägt.«30 Welche Ordnung Benjamin damit vorschwebte, die in seiner Gegenwart bestehende oder eine vergangene, bleibt darin zwar offen, fast scheint er aber – selbst geradezu aus der Zeit gefallen – sich gegen das Bürgertum wenden zu wollen. Obschon die Rezension im vollen Bewusstsein der mit den November­ pogromen hervortretenden neuen Dimension der Verfolgung entstanden ist, 27 Ders., Richard Hönigswald, Philosophie und Sprache (Handexemplar der Rezension), zit. nach ders., Werke und Nachlaß 13.1, 575. 28 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 108 f. 29 Benjamin, Richard Hönigswald, Philosophie und Sprache (Handexemplar der Rezension), zit. nach ders., Werke und Nachlaß 13.1, 576. 30 Ders., Richard Hönigswald, Philosophie und Sprache (Entwürfe und Fassungen zu den Drucken und Typoskripten), zit. nach ebd., 872–875, hier 875. In dieser Notiz taucht Cohen noch nicht auf.

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dachte Benjamin darin noch in den Begriffen der Arbeiterbewegung. Auch wenn sich diese in den Thesen verschoben, blieb die geschichtsphilosophische Bestimmung als Opposition der gedankliche Ausgangspunkt. In dem Konvolut N im Passagen-Werk, das den bezeichnenden Titel Er­ kenntnistheoretisches, Theorie des Fortschritts trägt, überlegte Benjamin in einer allem Anschein nach Ende der 1930er Jahre verfassten Notiz: »Der Begriff des Fortschritts dürfte im 19ten Jahrhundert, als das Bürgertum seine Machtposition erobert hatte, die kritischen Funktionen, die ihm ursprünglich eigneten, mehr und mehr eingebüßt haben.«31 Die Vorstellung des Fortschritts selbst habe sich demnach im Verlauf des 19. Jahrhunderts verändert. Nicht von Anfang an habe er sich automatisch vollziehen und nicht sofort »den Gesamtbereich menschlicher Angelegenheiten« umfassen sollen.32 Erst »[d]ie Lehre von der Zuchtwahl« habe diese »Meinung groß« werden lassen.33 So ist auch noch in der an der Sozialdemokratie orientierten Kritik am Begriff des Fortschritts in den Thesen eine letzte Ambivalenz eingeschrieben. Die historisch gewordenen »kritischen Funktionen« der Fortschrittsidee erachtete Benjamin auch im Frühjahr 1940 für seine Gegenwart als notwendig, diese Funktionen lagen für ihn jedoch nicht mehr in dieser Idee. Stattdessen reflektierte er auf vergangene Utopien, in denen Natur und Technik als versöhnbar gedacht wurden.34 Noch in der Hoffnung einer »kritischen Funktion«, aber der Ambivalenz entledigt, wollte er in Über den Begriff der Geschichte das geistesgeschichtliche Fundament des Fortschrittsglaubens insgesamt denunzieren, wenn es heißt: »Die Vorstellung eines Fortschritts des Menschengeschlechts in der Geschichte ist von der Vorstellung ihres eine homogene und leere Zeit durchlaufenden Fortgangs nicht abzulösen.«35 Ein Gedanke, der an Schopenhauer erinnernd sich auch in Der Stern der Erlösung als »lange Heerstraße der Zeit« findet.36 Benjamin richtete aber – im Unterschied zu Rosenzweig – gegen die leere und homogene Zeit die Geschichtsphilosophie selbst neu auf.

31 Das Konvolut  N wird in den Gesammelten Schriften wie folgt datiert: bis Juni 1935 N 1–N 3, bis Dezember 1937 N 4–N 7 und bis Mai 1940 N 8–N 20. Vgl. Benjamin, Konvolut N. Erkenntnistheoretisches, Theorie des Fortschritts, zit. nach ders., GS 5.1, 570–611, hier 596 (N 11 a, 1). Zur Datierung siehe: GS 5.2, 1262. 32 Ders., Konvolut N, zit. nach ders., GS 5.1, 596 (N 11 a, 1). 33 Ebd. 34 Insbesondere die zweckgebundene Betrachtung von Natur und Technik im Rahmen eines »vulgärmarxistischen Begriff[s], von dem was die Arbeit ist«, entspricht dem kritischen Ausgangspunkt, dem er die Utopisten des Vormärz, namentlich Charles Fourier, entgegenstellte. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (Handexemplar), zit. nach ders., Werke und Nachlaß 19, 37 (These XI). 35 Ebd., 39 (These XII). 36 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 254.

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Der ausgemachten Dispensierung der »klassenlosen Gesellschaft« in die unendlich gestreckte Zukunft, der Erwartung, dass sich die Verhältnisse von alleine bessern werden, setzte Benjamin in den Thesen eine »Tradition der Unterdrückten« entgegen, die darüber belehre, »dass der ›Ausnahmezu­ stand‹, in dem wir leben, die Regel ist«. Auf der Grundlage der mit einer verstellten Vergangenheit verbundenen Zeitdiagnose wollte Benjamin zu einem »Begriff von Geschichte kommen, der dem entspricht«.37 Während die Gegner des Faschismus »im Namen des Fortschritts als einer historischen Norm« sich dem wahren Geschehen gegenüber verschlossen, hoffte er auf die Herbeiführung des »wirklichen Ausnahmezustands«, um die »Position im Kampf gegen den Faschismus zu verbessern«.38 In paradoxer Adaption des Auftakts von Carl Schmitts 1922 veröffentlichter Schrift Politische Theo­ logie reflektierte Benjamin also auf einen Ausnahmezustand in Permanenz und setzte dagegen eine Tradition, die – im Wort der »Unterdrückten« noch dem Jargon der Arbeiterbewegung anverwandt  – der historischen Norm entgegengestellt wurde. Nicht mehr ein weltgeschichtlicher Erwartungs­ horizont, sondern eine Neukonfiguration des historischen Erfahrungsraums kam in dieser Verkehrung zur Geltung.39 Die ehedem dem Fortschritt zugedachte kritische Funktion wurde von Benjamin durch die »Tradition der Unterdrückten« in der Geschichtsphilosophie aufrechterhalten und damit der Fortschrittsgedanke selbst in sich gewendet. Dieser Verkehrung entspricht Benjamins Zugang zur Theologie vermittels eines ganz eigenen Begriffs von »historischem Materialismus«.40 Der Text Über den Begriff der Geschichte wird mit einer Verhältnisbestimmung der in Säkularisierung Aneinandergebundenen eröffnet, in der das Bild eines Schachautomaten aufgerufen wird, dessen Konstruktion metaphorisch für die hierarchische Ordnung von historischem Materialismus und Theo37 Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (Handexemplar), zit. nach ders., Werke und Nachlaß  19, 35 (These VIII). Der »Ausnahmezustand« ist allem Anschein nach eine kritische Adaption von Carl Schmitts Wendung in Politische Theologie. Mit dieser Schrift setzte sich Benjamin in Der Ursprung des deutschen Trauerspiels auseinander. Vgl. zum Verweis auf Schmitt Raulet, Lesarten, Varianten, Erläuterungen und Nachweise, in: ebd., 245; Schmitt, Politische Theologie, 13. 38 Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (Handexemplar), zit. nach ders., Werke und Nachlaß 19, 35 (These VIII). 39 Mehr als zwanzig Jahre nach dem Ersten Weltkrieg kehrte Benjamin damit die Ausnahme in der Schrift Politische Theologie von Schmitt um. 40 Sowohl Theologie als auch »historischer Materialismus« entsprachen in Benjamins Geschichtsphilosophie nicht dem seinerzeit gängigen Verständnis. Im Auftakt der Thesen werden sie, wie etwa Lutz Niethammer gegen die Zuordnungskonflikte in der BenjaminRezeption bereits in seinem 1986 erschienenen Buch Posthistoire konstatiert, zusammengedacht. Auch Irving Wohlfarth liest das widersprüchliche Bild des Schachautomaten als Antwort auf die in Benjamins Lebenszeit wie auch in der Rezeption immer wie-

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logie einstehen soll.41 Benjamin rekurrierte dafür auf einen Apparat, dessen Existenz historisch belegt ist und der aus einer Puppe an einem Spieltisch bestand. Der Automat, der sich von alleine zu bewegen schien, verwirrte die europäischen Zuschauer um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ob seiner Funktionsweise. Edgar Allen Poe legte in seinem Essay Maelzel’s Chess-Player von 1836 eine mögliche Lösung des Rätsels vor, in der er davon ausging, dass der Apparat sich weder mechanisch bewege noch durch Magneten angetrieben werde, sondern sich ein Mensch darin verstecke. Und auch für Benjamin handelte es sich um eine Puppe, die heimlich von einem »buckligen Zwerg« gelenkt werde.42 »Zu dieser Apparatur kann man sich ein Gegenstück in der Philosophie vorstellen«, wird das Bild in eine geschichtsphilosophische Perspektive gerückt: »Gewinnen soll immer die Puppe, die man ›historischen Materialismus‹ nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und hässlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen.«43 Wird die Theologie demnach in den Dienst des historischen Materialismus gestellt, ist die Deutung allerdings gegenläufig zur Funktion des Apparats, in dem die Puppe, die den historischen Materialismus versinnbildlicht, von dem Zwerg gelenkt wird. Die Unschärfe im Bild ist aber wohl weniger ein Fehler in der Interpretation als vielmehr Zeichen von Benjamins Ambivalenz. Konfrontiert mit der Fratze der bloß weltlichen Gestaltungsmacht der Menschen, schrieb er der Theologie eine gleichermaßen subordinierte wie weisende Position zu. Ob in der darin angelegten wachsenden Bedeutung messianischer Motive ein Grund lag, warum Benjamin im Frühjahr 1940 Cohen in der Kritik an »Ideal« und »unendlicher Aufgabe« nicht erwähnte, ist zwar nicht zu klären. Aber die Resignation gegenüber dem Versagen des Antifaschismus in einer auf die Katastrophe zulaufenden Gegenwart ließen ihn auf Abstand zu Grundannahmen der Arbeiterbewegung gehen und sich im Namen des historischen Materialismus einer Theologie zuwenden, die weit jenseits der Disziplin lag. Nicht die Theologie insgesamt wurde so im Bild des Schachautoder gestellte Frage nach Messianismus oder historischem Materialismus. Vgl. dazu u. a. ­Niethammer, Posthistoire, 121; Wohlfarth, Märchen für Dialektiker, 122–125. In diesem Sinne weist Sami Khatib darauf hin, dass Benjamins Kenntnis jüdischer wie christlicher Traditionen überschaubar gewesen sei und er keine »entwickelte Theorie des Messianischen« vorgelegt habe. Khatib distanziert seine eigene Lektüre dabei allerdings explizit von »historisierenden Benjamin-Lesarten«. Vgl. dazu ders., »Teleologie ohne Endzweck«, 31 f. 41 Vgl. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (Handexemplar), zit. nach ders., Werke und Nachlaß 19, 30 (These I). 42 Ebd. 43 Ebd.

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maten repräsentiert, sondern nur mehr derjenige Rest, der der Geschichte dienlich sein konnte.44 Von dieser Verhältnisbestimmung ausgehend, wurde eine Geschichtsphilosophie entfaltet, der eine messianische Hoffnung eingeschrieben ist, die die Übertragung des Sakralen ins Weltliche beim Wort nimmt. Damit ging es Benjamin in Über den Begriff der Geschichte um erhaltene wie erhaltende Motive der Geschichtsphilosophie in Wiedergewinnung ihres säkularisierten Bestands. Die These, in der das »politische Weltkind« ins Zentrum gerückt wird, beginnt dieser Ausrichtung entsprechend mit einer Ähnlichkeitsbestimmung von dem eigenen Gedankengang zu den »Gegenstände[n], die die Kloster­ regel den Brüdern zur Meditation anwies«. Diese hätten »die Aufgabe [gehabt], sie der Welt und ihrem Treiben abhold zu machen«.45 Sollte an dieser Parallelstellung die geschichtliche Aufgabe präfiguriert werden, so ist bei Benjamin, wie bereits bei Rosenzweig, das »Weltkind« Goethes Gedicht Diné zu Coblenz entnommen.46 Goethe beschrieb darin seine Begegnung mit dem Theologen Johann Caspar Lavater, dem Pädagogen Johann Bernhard Basedow und ihrem exegetischen Disput über Offenbarung und Taufe  – während er selbst schlicht etwas gegessen habe. Am Schluss steht das bekannte Wort: »Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind in der Mitten.«47 Aus der Selbstbeschreibung Goethes wurde bei Benjamin die Deutung eines politischen Status quo, in dem die vormals apostrophierte bloß weltliche Dimension falschen  – geschichtsphilosophischen  – Propheten entgegengestellt wurde. Mit dem Bild der Meditation im Kloster kam der Bedeutung des Weltkindes eine gleich zweifache Verschiebung zu. Es wurde in der Entrückung von den theologischen Fragen zu einem kontrapunktischen Gleichnis für die Kritik am Fortschrittsdenken insgesamt. Der Befreiung des Weltkindes näherte sich Benjamin zugleich über ein Bild aus dem theolo­ gischen Bereich an. Um den falschen Glauben zu überwinden, zog Benjamin so eine Theologie heran, die »klein und hässlich« geworden, jene Verkehrung ermöglichte, und inkorporierte sie einem historischen Materialismus, der 44 Andreas Pangritz begreift unter dem Stichwort »Theologie« in Benjamins Begriffe den Zugang Benjamins als »Geschichtstheologie«. Er stellt stimmig heraus, dass es sich dabei um etwas »Häretisches« handelt, das immer auch zu Kontroversen der Zeit in Beziehung gesetzt werden kann. Da es sich aber bei Benjamins letzter Bestimmung nur noch um Restbestände handelt, ist die Einordnung als »Geschichtstheologie« etwas zu stark. B ­ enjamin geht es letztlich nicht um Theologie, sondern um einzelne Motive, die er zum Grund von Geschichtsphilosophie erklären kann. Vgl. dazu Pangritz, Theologie, bes. 793–804. 45 Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (Handexemplar), zit. nach ders., Werke und Nachlaß 19, 36 (These X). 46 Siehe zur Adaption des Bildes von Goethe Raulet, Lesarten, Varianten, Erläuterungen und Nachweise, in: ebd., 245. 47 Goethe, Diné zu Coblenz, 265.

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jenseits entwicklungsgeschichtlicher Deutung liegen sollte, der sich vielmehr auf vergangene Hoffnungen richtete.48 Im Angesicht des sich entfesselnden Geschehens entstanden, ist Benjamins letzte Schrift damit nicht nur durch den »neuen Krieg« veranlasst, sondern auch als geistiges Abbild einer Generation gedacht, deren auf weltlicher, mithin historischer Sinngebung ruhender Erfahrungsraum mit dem Ende der geschichtlichen Welt verknöcherte.

Vergangene Hoffnungen »Vergangenes historisch artikulieren, heißt nicht, es erkennen ›wie es denn eigentlich gewesen ist‹«,49 grenzte Benjamin in Über den Begriff der Ge­ schichte seine Vorstellung der Aufgabe des Historikers von der vorherrschenden Auffassung von Geschichtsschreibung ab, »es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick der Gefahr aufblitzt«.50 Seine Befragung des Vergangenen setzte so an einem unter den Namen »Historismus« gestellten Geschichtsdenken an, das sich nur in die Geschichte der Sieger einfühle.51 Mit der Verwendung des Wortes verwies Benjamin auf die Krisenformation am Ausgang des Ersten Weltkrieges, in der es zur polemischen Sammelbezeichnung für den Sinnverlust in der Historiografie des 19. Jahrhunderts geworden war. Er selbst verwandte es vor den Thesen allerdings kaum.52 Im Kern ging es ihm zwar bereits zwanzig Jahre zuvor um eine philosophisch interpretierte Geschichte, aber erst im Verlauf der 1930er Jahre wurde die Forderung einer wahren Geschichtsschreibung ins Zentrum seiner Reflexion gerückt und aus der Kritik an der historischen Schule ent48 Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (Handexemplar), zit. nach ders., Werke und Nachlaß 19, 30 (These I). 49 Ebd., 33 (These VI). 50 Ebd. 51 Vgl. ebd., 34 (These VII). Diese Perspektivierung erinnert noch an Theodor Lessings 1919 erschienene Schrift Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, in der er in der geschichtlichen Krisenzeit die »Einfühlung in Geschichte« betrachtete und hervorhob, dass die Geschichte von »Siegern« geschrieben werde. Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, 66 (Hervorhebung im Original). 52 Eine der Ausnahmen bildet das Trauerspielbuch, in dessen letztem Absatz das Wort in einer spezifischen Form aufscheint, die auf einen historischen Kausalnexus auf relativem Fundament verweist. Spannend ist in diesem Themenfeld die von Heinz Dieter ­K ittsteiner unter dem Titel Erwachen aus dem Traumschlaf 1984 aufgeworfene These von »Benjamins Historismus«. Kittsteiner arbeitet den ambivalenten Bezug Benjamins zu Grundlagen dessen heraus, was von der Krise rückblickend als Historismus verstanden wurde. Unerklärt bleibt aber die späte Verwendung des Historismus-Begriffs. Eine distanzierte Position zu Kittsteiner hat etwa Andreas Greiert. Vgl. dazu und zu Benjamins Verwendung des Wortes »Historismus« Greiert, Erlösung der Geschichte vom Darstellenden, 482 f.; Kittsteiner, Erwachen aus dem Traumschlaf.

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wickelt.53 Insbesondere in seinem für die Zeitschrift für Sozialforschung im Februar 1937 Horkheimer übermittelten Artikel Eduard Fuchs. Der Sammler und der Historiker führte Benjamin den Historismus als Gegenkonzept zu seinem historischen Materialismus ein, der in ebendieser Konfrontation seine erste Bestimmung erhielt. »Der Historismus stellt das ›ewige‹ Bild der Vergangenheit, der historische Materialismus eine Erfahrung mit ihr, die einzig dasteht«,54 heißt es in Eduard Fuchs. In den Thesen wurde dieser Satz mit leichter Abweichung – aus dem »historischen Materialismus« ist darin der »historische Materialist« geworden  – übernommen.55 Die Geschichtsdarstellung wurde so ins Zentrum der Semantik des historischen Materialismus gerückt und ausgehend von jenem Zitat Rankes entwickelt, das zum Sinnbild der Historiografie des 19. Jahrhunderts geworden war. Im Frühjahr 1940 rekurrierte Benjamin in Bezug auf den Historismus allerdings vorrangig auf zwei französische Denker: den Historiker Numa Denis Fustel de Coulanges und den Dichter Gustave Flaubert.56 Nur auf einer unbenannten Ebene deutete er auf die deutsche Historiografie hin, als Zitat auf Ranke und im Hintergrund vielleicht auch auf Friedrich ­Meinecke. Hatte der Verfasser von Weltbürgertum und Nationalstaat es sich doch nicht nehmen lassen, 1936 einen umfassenden Beitrag zum Verständnis des Historismus-Begriffs zu liefern, den er nun als deutsches Spezifikum der Geistesgeschichte darstellte.57 Herbert Marcuse rezensierte das zweibändige Werk in der Zeitschrift für Sozialforschung im ersten Heft des Jahrgangs 1937 und attestierte dem Historiker letztlich Opportunismus.58 Benjamin nahm – 53 Willi Bolle legt zwar im Rückgriff auf Ursprung des deutschen Trauerspiels in dem Eintrag »Geschichte« in Benjamins Begriffe kohärent dar, dass »[d]ie Frage, wie Geschichte zu schreiben sei«, Benjamin »während seiner gesamten Schaffenszeit« beschäftigte, aber diese Frage veränderte sich in den 1930er Jahren. Sie wurde erst im Passagen-Werk mit der Rezeption von Karl Marx verbunden und in Auseinandersetzung mit der Historiografie entwickelt. Vgl. dazu Bolle, Geschichte, 399. 54 Benjamin, Eduard Fuchs, zit. nach ders., GS 2.2, 465–505, hier 468. 55 Ders., Über den Begriff der Geschichte (Handexemplar), zit. nach ders., Werke und Nachlaß 19, 41 (These XVI). 56 Vgl. ebd., 33 f. (These VII). In der französischen Version der Thesen wird an der Stelle zur »Aufgabe des Historikers« namentlich Ranke genannt, was in den deutschen Versionen bei dem Zitat wohl nicht für notwendig befunden wurde. So ist auch davon auszugehen, dass Benjamin den deutschen Kontext der Historismus-Debatte in gewissem Sinne dem französischen unterlegte. Vgl. ders., Thèses sur le concept d’histoire. Französische Fassung, in: ebd., 59–68, hier 62 (These VI); zur Überlieferungsgeschichte der Thesen vgl. Raulet, Entstehungs- und Publikationsgeschichte, in: ebd., 161–208. 57 Meinecke, Die Entstehung des Historismus. 58 Marcuse, Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus (Rezension). Nicht zuletzt, weil Benjamin in dem für die Zeitschrift Maß und Wert im Frühjahr 1938 verfassten Text über das Institut für Sozialforschung Marcuses Aufsatz Über den affirmativen Charakter der Kultur anführt, der in demselben Heft wie die Rezension erschienen ist, liegt es nahe,

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vielleicht nur koinzidierend der Sache nach, aber in den Grundtenor einstimmend  – diesen Gedanken noch nicht in Eduard Fuchs, aber in den geschichtsphilosophischen Thesen auf, wenn er darin, die hegemoniale Historiografie attackierend, notierte: Der Geschichtsschreiber des historischen Materialismus »überlässt es anderen, bei der Hure ›Es war einmal‹ im Bordell des Historismus sich auszugeben«.59 Gegen die sich den Machthabern andienende Geschichtsschreibung wandte Benjamin eine solche des historischen Materialismus, der es darum gehen sollte, »ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt«.60 Die Bedrohung sah er dabei verdoppelt: »Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern.«61 In einer Zeit, in der, nach Benjamins eigener Darstellung, der Feind nicht aufhörte zu siegen, sollten vermittels der Geschichtsschreibung einerseits die Tradition und andererseits deren Erben gerettet werden  – für beides suchte er die »Ueberlieferung […] dem Konformismus« abzuringen.62 In der begrifflichen Unschärfe von Tradition und Überlieferung übertrug Benjamin Bedeutungsreste des vordem sakral Begründeten in das, was im langen 19. Jahrhundert zur Tradition hatte werden können. So entfaltete er von dem zum Emblem der Historiografie einer Epoche gewordenen Zitat Rankes ausgehend, seine eigene Vorstellung einer philosophisch gesättigten Geschichtsschreibung, die Erinnerung und Erfahrung wieder zur Geltung bringen sollte. Nicht nur die »Einfühlung in den Sieger« und das »›ewige‹ Bild der Vergangenheit« stellten demnach jedoch Verfehlungen des Historismus dar, sondern auch der Begriff der »Universalgeschichte« wurde durch die bloße Sammlung der einzelnen Begebenheiten, der »Masse der Fakten«, als entleert gedeutet.63 Obwohl dieser geschichtliche Reflexionsrahmen in den Thesen dem Historismus zugeordnet wurde, war er zugleich auch für Benjamins eigenen Gedankengang maßgeblich. Die Verwandlung des Bezugsgefüges zeigt sich in Aufzeichnungen, die noch nicht auf den Text Über den Begriff der Geschichte gerichtet sind, sondern erste Überlegungen zu einer von Adorno im Herbst 1938 angemahnten Überarbeitung von ­Benjamins Baudelaire-Arbeit darstellen, und die Benjamin mit dem Titel Neue Thesen versehen hat. In der Notiz heißt es in den abschließenden – gedass Benjamin die Rezension bekannt war. Wann ihm das Heft genau zuging, konnte allerdings nicht ermittelt werden. Vgl. Benjamin, Ein deutsches Institut freier Forschung, zit. nach ders., GS 3, 518–526, hier 525. 59 Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (Handexemplar), zit. nach ders., Werke und Nachlaß 19, 41 (These XVI). 60 Ebd., 33 (These VI). 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Ebd., 41 (These XVII).

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strichenen – Sätzen: »Der echte Begriff der Universalgeschichte ist ein messianischer. Die Universalgeschichte im heutigen Verstande ist reaktionär.«64 Auch im Passagen-Werk, in den Notizen zur Theorie des Fortschritts, findet sich dieser definitorische Satz.65 Und in einer Vorstudie zu Über den Begriff der Geschichte wurde die der Kritik am Historismus zugrunde gelegte Auffassung einer echten Universalgeschichte konkretisiert. Darin heißt es: »Die messianische Welt ist die Welt allseitiger und integraler Aktualität. Erst in ihr gibt es eine Universalgeschichte.«66 Nicht die Zeit, sondern die Welt wird von Benjamin in der Notiz der Aktualität zugeordnet. Indem er die echte Universalgeschichte über diese »integrale Aktualität« bestimmte, entrückte er sie dem Geschichtsverlauf. In Vorarbeiten zu den Thesen legte Benjamin nieder: »Witiko und Salambo stellen ihre Epochen als in sich geschlossen ›unmittelbar zu Gott‹ dar. So wie diese Romane das zeitliche Kontinuum aufsprengen, ähnlich muß die Geschichtsdarstellung dieses vermögen.«67 Im Verweis auf Adalbert Stifters dem 12. Jahrhundert als historische Gesamtdarstellung gewidmeten Roman von 1867 und auf Flauberts 1862 veröffentlichte ästhetisierende Erzählung eines Aufstands in Karthago, zeugen diese Sätze von Benjamins Suchbewegung. In den Thesen wurde ihm Flaubert gerade zum Leumund des Historismus. Die Repräsentation und die ihr unterlegte Struktur von Vergangenheit befragend, reflektierte Benjamin neben der »Aufgabe des Historikers« mit seinen Worten zu Stifter und Flaubert auch auf das zweite der Krisenzeit zum Zeichen der Historiografie des 19. Jahrhunderts gewordene Zitat Rankes, nach dem jede Epoche unmittelbar zu Gott sei. Benjamin wollte dieses Wort für eine Aufsprengung des »zeitlichen Kontinuums« fruchtbar machen. Auch seine eigene Auffassung von Vergangenheit, Geschichtsverlauf und Epoche leitete er aus dem Denken des 19. Jahrhunderts ab. In dem die geschichtsphilosophischen Thesen vorbereitenden Gedanken scheint zugleich noch der »geschichtliche Anspruch« durch, den er in seiner Abrechnung mit dem Neukantianismus der historischen Schule zudachte und in der Hoffnung auf Rettung der Überlieferung letztlich gegen diese selbst wandte. Im Angesicht der zur Katastrophe strebenden Ereignisse stand die 64 Benjamin, Neue Thesen, zit. nach ders., GS 1.3, 1173–1175, hier 1175. 65 Vgl. ders., GS 5.1, 608 (N 18, 3). 66 Benjamin, Konvolut I, zit. nach ders., Werke und Nachlaß 19, 109–119, hier 109. 67 Ders., Notiz, zit. nach ebd., 134. Dieses Zitat zieht Kittsteiner heran, um Benjamins Nähe zum Historismus zu belegen. Benjamins Geschichtsdenken vermittels dieses Zugriffs schon als Historismus darzustellen, ist wohl auch der polemisch geführten Auseinandersetzung um Benjamins Nachleben geschuldet. Diese Stoßrichtung nivelliert aber die Veränderung des Historismus-Begriffs selbst. Dennoch geht es Benjamin in der Tat in diesem Rekurs auf Ranke um das historische Bewusstsein, wie es sich auch in der Literatur niederschlug. Vgl. dazu Kittsteiner, Erwachen aus dem Traumschlaf, 151.

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Bewahrung der Geschichte zur Disposition und so wurde in Über den Be­ griff der Geschichte die epistemische Ordnung des 19. Jahrhunderts auf ihre kritische Funktion hin befragt. Mit diesem Anspruch versehen, eröffnete die Geschichtsdarstellung für Benjamin einen spezifischen Möglichkeitsraum des Vergangenen, wenn es heißt: »Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird.«68 Vergangenheit und Zukunft werden so im Sinne einer verstellten Ganzheitsvorstellung von Geschichte aufeinander bezogen. Diese auf Erlösung gerichtete Vergangenheit sollte in Benjamins Überlegungen in einer stillgestellten Gegenwart zugänglich werden, die er als »Jetztzeit« begriff.69 Die Jetztzeit fasse demnach »als Modell der messia­nischen in einer ungeheuren Abbreviatur die Geschichte der ganzen Menschheit zusammen«.70 Noch im Nachhall seiner Überlegungen zum echten Begriff der Universalgeschichte wurde damit eine Spiegelung der Geschichte in der Jetztzeit angenommen. In zwei Versionen der Thesen, dem sogenannten Hannah-Arendt-Manuskript und der von Horkheimer und Adorno in Walter Benjamin zum Gedächtnis 1942 veröffentlichten postumen Abschrift, findet sich darüber hinaus eine andere Formulierung zur Bebilderung des Begriffs. Der am historischen Materialismus geschulte Historiker, heißt es in diesen beiden Versionen, »begründet so einen Begriff der Gegenwart als der ›Jetztzeit‹, in welcher Splitter der messianischen eingesprengt sind«.71 In einer Notiz zu den Thesen ist diesem Satz allerdings noch eine metaphorische Bedeutungseinschränkung zugedacht, wenn es heißt, dass in die »Jetztzeit […] gleichsam Splitter der messianischen eingesprengt sind«.72 Steht das »gleichsam« in keinem der Manuskripte, verschwindet der ganze Satz im Handexemplar, an dessen Stelle ist letztlich diejenige Abbreviatur gerückt, die auf die Menschheitsgeschichte gerichtet ist. Trotz des tentativen Moments verschmelzen in der Vorstellung der stillgelegten Gegenwart Überlegungen zur messianischen Zeit mit denen zur geschichtlichen Aufgabe. So schrieb Benjamin nach seinen Gedanken zur bedrohten Überlieferung zum einen, dass der »Messias […] nicht nur als der Erlöser [kommt], er kommt als 68 Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (Handexemplar), zit. nach ders., Werke und Nachlaß 19, 31 (These II). 69 Das Wort »Jetztzeit« wurde insbesondere von Jean Paul populär gemacht und von Schopenhauer als Synonym für Gegenwart noch in Anführungszeichen gesetzt. Vgl. dazu Kainz, Art. »Klassik und Romantik«, 444; Pröbsting, Art. »Jetztzeit« (I) und Tiedemann, Art. »Jetztzeit« (II). 70 Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (Handexemplar), zit. nach ders., Werke und Nachlaß 19, 43 (These XIX). 71 Ders., Über den Begriff der Geschichte. Das Hannah-Arendt-Manuskript, zit. nach ebd., 16–29, hier 28 (These XV); ders., Geschichtsphilosophische Reflexionen. Von Walter Benjamin. Postume Abschrift, zit. nach ebd., 93–106, hier 105 (Anhang A). 72 Ders., Notiz in Konvolut I, zit. nach ebd., 110 f., hier 110.

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der Ueberwinder des Antichrist«.73 Zum anderen setzte er dem nach, dass »[n]ur dem Geschichtsschreiber […] die Gabe bei[wohnt], im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen ist«.74 Dafür sah Benjamin »das Zeichen einer messianischen Stillstellung des Geschehens« in »einer revolutionären Chance im Kampf für die unterdrückte Vergangenheit« gespiegelt.75 Seiner Generation gestand er in dieser Überlegung gar eine vermittelte »schwache messianische Kraft« zu,76 für deren Wirkung es eben der »Gegenwart« bedürfe, »die nicht Uebergang ist sondern in der die Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist«.77 In einem solchen sich aufspannenden Augenblick sah er die Möglichkeit, historisch gewordene Einzelheiten aus dem »Verlauf der Geschichte« herauszulösen, mithin das »zeitliche Kontinuum aufzusprengen«, damit die in ihnen »aufbewahrt[e] und aufgehoben[e]« Geschichte begreifbar werde.78 Der in dieser Form am historischen Materialismus geschulte Historiker wurde Benjamin zur eingreifenden Instanz.79 Eine »eigentümliche revolutionäre Chance«, charakterisierte er den Zusammenhang von politischer Aktion und Geschichtsschreibung, biete sich dem revolutionären Denker »durch die Schlüsselgewalt eines Augen­blicks über ein bestimmtes, bis dahin verschlossenes Gemach der Vergangenheit«. Und er apostrophierte: »Der Eintritt in dieses Gemach fällt mit der politischen Aktion strikt zusammen und er ist es, durch den sie sich, wie vernichtend immer, als eine messianische zu erkennen gibt.«80 Für das geschichtliche Eingreifen, das durch die Verbindung der Vergangenheit mit der Hoffnung auf Erlösung seine Legitimation erfährt, reflektierte Benjamin zwar auf theologische Motive, konstatierte aber in den Thesen auch: »Marx hat die Vorstellung der messianischen Zeit säkularisiert und das war gut so.«81 Dass der historische Materialismus damit anders als von 73 Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (Handexemplar), zit. nach ebd., 33 (These VI). 74 Ebd. 75 Ebd., 42 (These XVII). 76 Ebd., 31 (These II). 77 Ebd., 41 (These XVI). 78 Ebd., 42 (These XVII). 79 Im Passagen-Werk heißt es: »Zum Begriff der ›Rettung‹: der Wind des Absoluten in den Segeln des Begriffs. (Das Prinzip des Windes ist das Zyklische.) Die Segelstellung ist das Relative.« Und in einer bald folgenden Notiz setzt Benjamin hinzu: »Für den Dialektiker kommt es darauf an, den Wind der Weltgeschichte in den Segeln zu haben. Denken heißt bei ihm: Segel setzen. Wie sie gesetzt werden das ist wichtig. Worte sind seine Segel. Wie sie gesetzt werden, das macht sie zum Begriff.« Benjamin, GS 5.1, 591 (N 9, 3 und N 9, 6; Hervorhebung im Original). 80 Ders., Über den Begriff der Geschichte (Handexemplar), zit. nach ders., Werke und Nachlaß 19, 42 f. (These XVIII). 81 Ebd., 42 (These XVIII). Benjamins Spannungsverhältnis zu Marx zeigt Sami Khatib aus einer politisch-philosophischen Perspektive anhand dieser Thesenversion auf. Vgl. dazu ders., Karl Marx, 328 f.

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Marx verstanden wurde, zeigte die Ausrichtung auf die Vergangenheit, und dennoch wurde in bestimmter Form an geschichtsphilosophische Motive angeknüpft, die Marx im 19. Jahrhundert situieren. So schärfte ­Benjamin in den Thesen einen Begriff des historischen Materialismus, der auf einen »Tigersprung […] unter dem freien Himmel der Geschichte« gerichtet ist, »als den Marx die Revolution begriffen hat«.82 Damit wird die Hoffnung auf den Austritt aus der Vorgeschichte der Menschheit bewahrt. Mehr noch: der Klassenkampf wird der Geschichtsphilosophie zugrunde gelegt und die »kämpfende unterdrückte Klasse«, die bei »Marx […] als die letzte geknechtete, als rächende Klasse auf[tritt], die das Werk der Befreiung im Namen von Generationen Geschlagener zu Ende führt«, wird zum »Subjekt historischer Erkenntnis«.83 In der klaren Benennung dieses »Subjekts« war indessen eine Verschiebung des Kampfes angelegt, der erst damit für Benjamin zum Vorbild für eine letzte Hoffnung in existenzieller Notlage wurde: Der ersehnte Wendepunkt des kommenden Geschehens wurde nicht mehr in der Zukunft, sondern in historischer Deutung gesucht. In Abgrenzung zu der fortschrittsoptimistischen Interpretation der Revolution, wie sie bei Marx zu finden ist, brachte Benjamin in Notizen zu Über den Begriff der Geschichte diese Invertierung auf den Punkt: »Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.«84 Im Frühjahr 1940 stand Benjamin kein weltgeschichtlicher Erwartungshorizont mehr offen. Sein Denken zielte nicht auf eine nächste Etappe im Gang der Geschichte. Aber vergangene, revolutionäre Bestrebungen wurden ihm zum Signum der erhofften Überwindung der gegenwärtigen Konstellation, jenseits eines bloßen Geschichtsverlaufs. So werden zur Bebilderung des Modells der Jetztzeit historische Umwälzungen (und deren Versuche) – von der Großen Revolution über die Julirevolution bis hin zum gescheiterten Spartakusaufstand – hervorgeholt, die einen Index mit sich führen sollen, der sie mit der »erlösten Menschheit« verbinde.85 Benjamin reflektierte deren 82 Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (Handexemplar), zit. nach ders., Werke und Nachlaß 19, 40 (These XIV). 83 Ebd., 38 (These XII). 84 Benjamin, Konvolut IV, zit. nach ders., Werke und Nachlaß 19, 153. 85 Zum »verborgenen Index« vgl. ders., Über den Begriff der Geschichte (Handexemplar), zit. nach ebd., 31 (These II); zur »Französischen Revolution« vgl. ebd., 40 (These XIV und XV); zur »Juli-Revolution« vgl. ebd., 40 f. (These XV); zum »Spartacus« vgl.  ebd., 38 (These XII). In der These XII wird auch die »russische Revolution« genannt, die aber in ihrem Spruch »Kein Ruhm dem Sieger, kein Mitleid den Besiegten« der toten Brüder gedenke und nicht der Erben. Vgl. ebd., 39. Den Spruch entnimmt Benjamin seinem um 1930 verfassten Brecht-Kommentar. Vgl. Raulet, Lesarten, Varianten, Erläuterungen und Nachweise, in: ebd., 248; Benjamin, GS 2.2, 506–510, hier 507.

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fundamentale geschichtliche Bedeutung, wenn er eine Parallele sah zwischen dem Einsetzen eines Kalenders, wie ihn die Große Revolution hervorgebracht habe, und den »Feiertagen, die Tage des Eingedenkens sind«.86 So erklärte er in Über den Begriff der Geschichte das koinzidierende Schießen auf die Turmuhren in der Julirevolution zu einem letzten Ausdruck eines Geschichtsbewusstseins, das vor hundert Jahren verschwunden sei.87 Benjamins Blick richtete sich zwar nicht auf die Zukunft selbst, aber er sucht diese durch vergangene Hoffnungen zu vermitteln, die noch die Befreiung der Menschheit zum Ziel hatten. Mit der Vorstellung einer geschichtlichen Gegenwart strebte Benjamin eine solche Stillstellung der Geschichte an, die ungeachtet aller Gegenläufigkeit einen Rest des Fortschrittsgedankens im Bild der »Notbremse« mit sich führte. Die Stillstellung war dem richtigen Augenblick zugedacht, der zum Prisma der gesamten Geschichte der Menschheit würde. Obwohl die Geschichtsauffassungen des 19. Jahrhunderts für Benjamin nur mehr die »homogene und leere Zeit« bedienten, entwickelte er seinen eigenen auf Erlösung gerichteten Gedankengang in Auseinandersetzung mit diesen. Insbesondere in der Hoffnungsperspektive blieb die eigene Geschichtsphilosophie dem Zentralbegriff der alten verbunden: Der Topos der Menschheit, der einst dem Fortschrittsdenken zugehörte, blieb auch bei Benjamin der Grenzwert der Reflexion.

Verflochtene Zeiten In eckigen Klammern ist in Benjamins Handexemplar der These, die der »kämpfenden Klasse« als dem »Subjekt historischer Erkenntnis« gewidmet ist, hinzugesetzt: »Wenn eine Generation es wissen muss, dann ist es die unsrige: was wir von den Nachgebornen erwarten dürfen, ist nicht Dank für unsere Grosstaten, sondern ein Gedächtnis unserer, die wir erlegen sind.«88 In Vorüberlegungen zu Über den Begriff der Geschichte notierte er, was für den Text wieder verworfen, nur mehr im Wort der »Nachgebornen« mitgeführt wurde: »Beispiel echter historischer Vorstellung: ›An die Nachgeborenen‹ (so das Gedicht von Brecht). Wir beanspruchen von den Nachgebornen nicht Dank für unsere Siege sondern das Eingedenken unserer Niederlagen.«89 86 Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (Handexemplar), zit. nach ders., Werke und Nachlaß 19, 40 (These XV). 87 Ebd. 88 Ebd., 38 f. (These XII). Auffällig ist auch, dass darin »das Eingedenken unserer Niederlagen« gestrichen ist und stattdessen das »Gedächtnis unserer, die wir erlegen sind« steht. 89 Diese Notiz ist nicht in den Band 19 der Werke und Nachlaß-Ausgabe übernommen worden, findet sich aber im Anhang zu Über den Begriff der Geschichte in den Gesammelten Schriften. Vgl. ders., GS 1.3, 1239 f., hier 1240.

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Bertolt Brecht schrieb in dem am 15. Juni 1939 veröffentlichten Gedicht vom erhofften »Gedenken«, nicht vom »Eingedenken« und nicht vom »Gedächtnis«.90 Die Variation in Benjamins Notiz ist Zeichen einer veränderten Wahrnehmung. Er umkreiste das in seiner Gegenwart Unverfügbare, das sich letztlich in der Ausblendung des Gedichts ausdrückte. Nicht gestrichen ist in der Notiz dagegen ein weiteres Zitat von Brecht aus der Drei­ groschenoper: »Bedenkt das Dunkel und die große Kälte / In diesem Tale das von Jammer schallt.« Diese Zeilen sind in Über den Begriff der Geschichte der VII.  These als Motto vorangestellt, die der Kritik an der »Einfühlung in den Sieger« gewidmet ist.91 Dass Benjamin ein Zitat aus dem Schluss der Dreigroschenoper von Brecht wählte und das Gedicht An die Nachgeborenen fortließ, ist auffällig, sind die Thesen diesem Gedicht doch in ihrem Kern verbunden. Die »finsteren Zeiten« und der Appell der »Nachsicht« an die folgende Generation, sind zeitdiagnostische Motive, an denen Benjamin die Kritik an Fortschrittsdenken und am Historismus orientierte. Und die Auslassung von Brechts Gedicht steht nicht allein: die 1930er Jahre sind in den Referenzen der Thesen insgesamt ausgespart.92 Das der 1928 uraufgeführten Dreigroschenoper entnommene Zitat ist im Hinblick auf die Entstehungszeit das späteste von sechs den Thesen vorangestellten Mottos. Die weiteren reichen von einem Satz Hegels von 1807 bis zu 90 Vgl. Brecht, »An die Nachgeborenen«. 91 Zit. nach Benjamin, GS 1.3, 1240. Auch bezieht sich Benjamin in seinem Rekurs auf Fustel de Coulange ungenannt auf Julien Bendas 1938 veröffentlichtes Buch Un régulier dans le siècle und in dessen Bezug auf den Historismus – ohne das Wort – auch auf Louis Dimiers L’evolution contre l’esprit von 1939. Vgl. Benjamin, Konvolut VI, zit. nach ders., Werke und Nachlaß 19, 149 f., und Raulet, Entstehungs- und Publikationsgeschichte, in: ebd., 186 f.; ders., Lesarten, Varianten, Erläuterungen und Nachweise, in: ebd., 251, 299 und 305. Benjamin rezensierte das Buch von Julien Benda in einer Sammelbesprechung in der Zeitschrift für Sozialforschung im dritten Heft des Jahres 1938. Die Beurteilung fiel kritisch aus, dennoch ist die von Benjamin für Benda aufgeführte Gegenüberstellung von mönchischer Weltabgewandtheit und jüdischen Idealen der Gerechtigkeit signifikant, korrespondiert sie doch – bei Benjamin in dialektischer Interpretation – mit seiner Deutung des Weltkindes. Vgl. Benjamin, Roger Caillois, L’Aridité / Julien Benda, Un régulier dans le siècle / Georges Bernanos, Les grands cimetières sous la lune / G. Fessard, Le dia­ logue catholico-communiste est-il possible? (Sammelbesprechung), zit. nach ders., Werke und Nachlaß 13.1, 513–517, hier 514 f. 92 Im Hinblick auf die Zitate in den Thesen selbst ist die aktuellste Referenz womöglich der Spruch »Kein Ruhm dem Sieger, kein Mitleid den Besiegten«, der auf einen sowjetischen Wandteller gedruckt wurde, und den Benjamin seinem Brecht-Kommentar entnahm. Das Zitat eines neueren Biologen, der die unabsehbare Zeit des Universums mit den »Jahrzehntausenden des Menschengeschlechts« ins Verhältnis setzt, konnte bisher nicht datiert werden. Die weiteren Zitate reichen von einem französischen Gedicht von 1830 bis zur Politischen Theologie Carl Schmitts von 1922. Vgl. zum Wandteller Raulet, Lesarten, Varianten, Erläuterungen und Nachweise, in: ebd., 248; zu dem Biologen vgl. ebd., 252; zu dem französischen Gedicht vgl. ebd., 254; zu Schuld und Sühne und dem »Sinngedicht« Kellers vgl. ebd., 244.

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einer Passage aus dem 1921 von Gershom Scholem verfassten Gedicht Gruss vom Angelus. Nicht nur geben diese den Thesen, denen sie zugeordnet sind, bestimmte Stoßrichtungen. In der Gesamtschau verweisen sie auch auf eine andere Reflexion der Vergangenheit. Benjamin verflochten sich im Frühjahr 1940 drei historisch gewordene Zeiten mit seiner Gegenwart: das 19. Jahrhundert, der Ausgang des Ersten Weltkrieges und, schon in der Peripherie, die Weimarer Zeit. Das früheste, der VI. These zugeordnete Motto ist eine materialistisch interpretierbare, auf Erlösung gerichtete Äußerung Hegels aus einem Brief an den Goethe verbundenen Lyriker Karl Ludwig von Knebel, die lautet: »Trachtet am ersten nach Nahrung und Kleidung, dann wird euch das Reich Gottes von selbst zufallen.«93 Benjamin, der sich dem Idealisten erst in den 1930er Jahren durch seine Rezeption von Marx vermittelt zuwandte, zog diesen so gerade für die Rechtfertigung einer Orientierung auf das Lebensnotwendige heran. Die in der Entstehungszeit nächsten Zitate entstammen den 1870er Jahren. So stellte Benjamin Nietzsches Wort: »[W]ir brauchen die Historie, aber wir brauchen sie anders als sie der verwöhnte Müßiggänger im Garten des Wissens braucht« aus Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Le­ ben im Handexemplar der XII. These voran, die das »Subjekt historischer Erkenntnis« birgt.94 Nietzsches Kampfschrift gegen die historische Schule des 19. Jahrhunderts wurde damit von Benjamin an das eingreifende Denken des an Marx geschulten Historikers gekoppelt. In der XIII. These folgt ein Zitat Josef Dietzgens, als Exempel der falschen Vorstellung des Fortschritts in der Sozialdemokratie. Bei Dietzgen heißt es: »Wird doch unsere Sache alle Tage klarer und das Volk alle Tage klüger.«95 Die bald nach der Gründung des deutschen Kaiserreichs geäußerte Einschätzung des Sozialdemokraten, der in der Arbeit gar den »Heiland der neueren Zeit« zu erblicken meinte, wurde von Benjamin, ohne dies noch benennen zu müssen, durch eine Gegenwart konterkariert, in der das Volk dem Nationalsozialismus verschrieben war.96 93 Hegel an Karl Ludwig von Knebel, 30. August 1807, zit. nach ders., Briefe von und an Hegel, Bd. 1, 185–189, hier 186. 94 Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen II: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, 245. Diese und die weiteren Angaben sind, bis auf den Brief von Hegel, den editorischen Anmerkungen im Band 19 der Ausgabe Werke und Nachlaß zu entnehmen: Raulet, Lesarten, Varianten, Erläuterungen und Nachweise, in: Benjamin, Werke und Nachlaß 19, 247 (Dietzgen), 249 (Kraus) und 257 (Nietzsche). 95 Benjamin ordnete dieses Zitat fälschlicherweise dem Text Religion der Sozialdemokratie zu, es findet sich aber in Sozialdemokratische Philosophie. Vgl. Raulet, Lesarten, Varianten, Erläuterungen und Nachweise, in: ebd., 258; Dietzgen, Sozialdemokratische Philosophie (1876), 176. 96 Das Zitat »Arbeit ist der Heiland der neueren Zeit« steht in der XI. These und ist der Schrift Die Religion der Sozialdemokratie entnommen. Vgl. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (Handexemplar), zit. nach ders., Werke und Nachlaß 19, 37; Raulet, Les‑

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Der XIV. These, in der der Tigersprung eingeführt wird, ist die von Karl Kraus stammende Zeile »Ursprung ist das Ziel« vorangestellt.97 Der von Kraus dem »[s]terbende[n] Mensch[en]« und »Gottes Trost und Verheißung« gewidmete Aphorismus wurde von Benjamin mit der Hoffnung auf die das »Kontinuum der Geschichte« aufsprengende Revolution verbunden. Auch wenn dieser Gedanke in Über den Begriff der Geschichte neu hinzukam, stellt das Zitat ein Moment von Kontinuität in Benjamins Denkbewegung dar, hob er es doch bereits in seinem Essay Karl Kraus vom Frühjahr 1931 hervor.98 In den Thesen setzte er dem angestrebten, entrückenden Vergangenheitsbezug der Revolution den der Mode hinzu, der er in ihrer Zitation von Vergangenem eine »Witterung für das Aktuelle« zuerkannte.99 Damit verwies Benjamin auf jenen Zusammenhang, den er in seinen Notizen zur wahren Universalgeschichte als »integrale Aktualität« bezeichnete. Bereits Ende des Jahres 1921 hatte er in der Ankündigung einer geplanten, aber nicht realisierten Zeitschrift, die er – inspiriert von dem gut sechs Monate vorher erworbenen gleichnamigen Bild Paul Klees – »Angelus Novus« nennen wollte, eine »Aktualität« kritisiert, die »ohne historischen Anspruch« sei.100 Mit Verweis auf die deutsche Romantik sollte die »wahre Aktualität« dagegen dem »Geist der Epoche« zugedacht sein.101 Im »Ephemeren« sah Benjamin 1921 sogar eine Parallele zum Engel einer »talmudischen Legende«; und auch seinen Essay über Kraus ließ er mit dem »neuen Engel« in seiner Vergänglichkeit, den er dem Talmud zu entlehnen meinte, schließen.102 In der chronologischen Reihe folgt in Über den Begriff der Geschichte das der IX . These zugeordnete Zitat »Mein Flügel ist zum Schwung bereit / ich kehrte gern zurück  / denn blieb ich auch lebendige Zeit  / ich hätte wenig Glück«, aus Scholems Gruss vom Angelus.103 Das Benjamin zum 29. Geburtstag übermittelte Gedicht war jener Sinnkonstruktion gewidmet, die zum Ende des Ersten Weltkrieges zerrüttet war – endet es doch mit der Zeile »Ich habe keinen Sinn«.104 Nicht aber diese Zeile, sondern die vorgängige,

arten, Varianten, Erläuterungen und Nachweise, 247; Dietzgen, Religion der Sozialdemokratie. Kanzelreden (1870–1875), zit. nach ders., Sämtliche Schriften 1, 95–156, hier 98. 97 Laut der editorischen Anmerkung im Band 19 der Ausgabe Werke und Nachlaß zitiert Benjamin aus der drittletzten Version von Kraus Der sterbende Mensch von 1916. Vgl. Kraus, Der sterbende Mensch, 69. 98 Benjamin, Karl Kraus, zit. nach ders., GS 2.1, 334–367, hier 360. 99 Ders., Über den Begriff der Geschichte (Handexemplar), zit. nach ders., Werke und Nachlaß 19, 40 (These XIV). 100 Benjamin, Ankündigung der Zeitschrift: Angelus Novus, zit. nach ders., GS 2.1, 241–246, hier 241. 101 Ebd. 102 Ebd., 241 und 246; ders., Karl Kraus, zit. nach ders., GS 2.1, 367. 103 Scholem, Gruss vom Angelus, zit. nach Benjamin, Briefe 1, 269. 104 Ebd.

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vom unerfüllbaren Wunsch der Rückkehr geleitete Versinnbildlichung der Geschichte nahm Benjamin in die Thesen auf. In Vorwegnahme des im Text später angeführten Ursprungsgedankens entfaltete Benjamin von diesen Zeilen ausgehend und in Rekurs auf das Bild »Angelus Novus« die Figur eines Engels der Geschichte. Dieser Engel werde von einem Sturm aus dem Paradies fortgetrieben. Der Zukunft den Rücken zugekehrt, könne er nur noch in stummem Schrecken bezeugen, wie die Katastrophen der Vergangenheit sich zu einer einzigen auftürmten. Diese IX . These abschließend, proklamierte Benjamin: »Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.«105 Der Engel, der vom Paradies fortgedrängt die Zukunft nicht sehen konnte, stand so für eine Schau auf das Geschehen, dessen Fortschritt seine Bedeutung vollends verkehrt hatte. Der Ursprung, das Paradies und die Revolution bildeten einen gedanklichen geschichtlichen Zusammenhang. Dieser wurde dem die historischen Ereignisse repräsentierenden Fortschritt entgegengesetzt und darin noch ein Rest des Fortschrittsbegriffs bewahrt. Obschon sich die Referenzen im Text in Benjamins Charakterisierung vom Frühjahr 1940 einfügen, nach der er hervorgeholt, was er verwahrt vor sich selber gehalten habe, sind damit nicht die herangezogenen Werke selbst gemeint. Benjamin las diese zum Teil erst im Verlauf der 1930er Jahre. Dennoch sind sie in signifikanter Weise mit dem 19. Jahrhundert verbunden. Auch die Bilder, die in den Thesen aufgerufen werden, verweisen auf die Zeitformation: Der Schachautomat steht wie Goethes Weltkind an der Schwelle des Jahrhunderts, dem  – auf anderer Ebene  – das Bild der Turmuhren im Kern zugehörte. Vermittels der Werke und Bilder wurde die geschichtliche Welt in denjenigen Fragen hervorgeholt, die ihr krisenhaftes Ende markierten. In den Jahren, auf die Benjamin in seinem Brief an Gretel Adorno verwies, hatte er sich selbst nicht direkt dem Begriff der Geschichte, sondern dem Problem der Politik gestellt. Er hatte dieses aber in einer Grundierung durch geschichtsphilosophische und theologische Motive zu schärfen versucht und so waren seine Gedanken dennoch letztlich von den großen Entwürfen des 19. Jahrhunderts geleitet. Ohne die Geschichte als den menschlichen Angelegenheiten unterlegter Bewegungsbegriff hätte er den der Revolution gewidmeten Essay Zur Kritik der Gewalt, den er im Januar 1921 ausarbeitete, oder das von Adorno so benannte Theologisch-politische Fragment, das allem Anschein nach kurz nach Zur Kritik der Gewalt verfasst wurde, nicht geschrieben.106 Während der Essay den Grundlagen der Rechtsord105 Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (Handexemplar), zit. nach ders., Werke und Nachlaß 19, 36 (These IX). 106 Benjamin, Zur Kritik der Gewalt; ders., Theologisch-politisches Fragment, zit. nach ders., GS 2.1, 203 f. Aufgrund der thematischen Nähe und Benjamins Bezug auf das Gespräch über den Fortschritt vom Mai 1937 hatte Adorno das Fragment wohl zuerst auf

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nung und ihrer Überwindung zugedacht war, wurde im Fragment das »Reich Gottes« dem weltlichen Glücksstreben in wechselseitiger Bindung entgegengestellt und eine »Weltpolitik, deren Methode Nihilismus heißt«, postuliert.107 Über diese Gedanken vermittelt, ging Benjamin auch zurück zu der Zeit, in der er zuerst dem Denken Cohens und dem Rosenzweigs begegnet war. So setzte er sich im letzten Jahr des Ersten Weltkrieges in Über das Programm der kommenden Philosophie mit dem Erfahrungsbegriff im Neukantianismus auseinander, las wenig später Kants Theorie der Erfahrung in der gerade erschienenen dritten Auflage, deren Vorrede Cohens Glaubensbekenntnis an die Eigenart des deutschen Geistes beinhaltet, und begann seine Lektüre von Der Stern der Erlösung bald nach dessen Erscheinen.108 Im Angesicht des als katastrophisch wahrgenommenen Geschehens scheint in Über den Begriff der Geschichte in mehreren Brechungen der Wissenshorizont auf, der am Ausgang des Ersten Weltkrieges offenlag. So wandte sich Benjamin im Frühjahr 1940 erneut dem geschichtlichen Pro­blem zu, das ihm bereits um 1920 zum theologisch-politischen geworden war. Die zwanzigjährige Verwahrung zeitigte jedoch radikale Veränderungen. Benjamin ging 1940 nicht mehr von einer reziproken Ordnung von Sakralem und Profanem aus, wie noch im Nachhall des vergangenen Krieges, und dachte über die Revolution in Adaption von und Abgrenzung zu dem marxschen Bild der Lokomotive nur mehr als »Notbremse« nach.109 Dramatischer Ausdruck der neuen Lage ist die Figur des Engels der Geschichte, die Benjamin den 1921 gehegten Gedanken entlehnte, die er aber erst in der neuen historischen Konstellation zum getriebenen Betrachter des katastrophischen Geschichtsverlaufs erklärte. In der Reflexion historischer Ereignisse, durch die Benjamin den Fortschritt in dem Sturm, der den Engel der Geschichte vom Paradies forttreibt, manifestiert sah, gerann die bereits zwanzig Jahre zuvor gehegte Skepsis vor der Idee des Fortschritts der Menschheit zu der Auffassung, dass sie nur auf einer »homogene[n] und leere[n] Zeit« basiere und die Verhältnisse letztlich euphemistisch überschreibe.110 In einer der letzten Notizen unter der Überschrift Erkenntnistheoretisches. Theorie des Fort­ schritts im Passagen-Werk heißt es: »Mag sein, daß die Kontinuität der Tradieses Jahr datiert. Dass Benjamin aber, wie er in seinem Brief an Gretel Adorno betonte, etwas hervorgeholt habe, zeigt den inneren Zusammenhang des Problems. 107 Ebd., 203 f. 108 Über die Lektüre von Kants Theorie der Erfahrung gibt Scholems Vorbemerkung zu Über das Programm der kommenden Philosophie Auskunft. Vgl. Tiedemann / Schweppen­ häuser, Anmerkungen zu Seite 157–171 »Über das Programm der kommenden Philosophie«, in: Benjamin, GS 2.3, 936–940, hier 939. 109 Vgl. die Notiz in Benjamin, Konvolut IV, zit. nach ders., Werke und Nachlaß 19, 107–158, hier 153. 110 Ders., Über den Begriff der Geschichte (Handexemplar), zit. nach ebd., 39 (These XIII).

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dition Schein ist. Aber dann stiftet eben die Beständigkeit dieses Scheins der Beständigkeit die Kontinuität in ihr.«111 In den geschichtsphilosophischen Thesen trug die Konfrontation mit einer Gegenwart, in der Kontinuität sonst nur noch als Katastrophe vorgestellt wurde, zu Benjamins Reflexion der »Tradition der Unterdrückten« bei, deren genaue Bestimmung er allerdings unterließ. So sehr die ihm gegenwärtige Lage der Anlass für die Thesen war, wurde dieser Anlass mit der Moderne insgesamt verbunden und zugleich in den Referenzen herausdividiert. Mit der Erfahrung von Verfolgung, Exil und Internierung trat in Über den Begriff der Geschichte damit die geschichtliche Welt des 19. Jahrhunderts in neuer Tiefendimension hervor. Nicht nur der Verfall geschichtsphilosophischer Vorstellungen, sondern vielmehr noch deren Erneuerung war sein Gegenstand. Im Verlauf der 1930er Jahre machte Benjamin zunehmend die Moderne als historisches wie geschichtliches Phänomen zu seinem Thema. Die ihm gegenwärtige Zeitformation wurde mit verstellten Schichten persönlicher wie kollektiver Erfahrung verbunden. In seiner Suchbewegung näherte er sich der Theologie an, um die kritische Funktion der Geschichtsphilosophie wiederzugewinnen. »Mein Denken verhält sich zur Theologie wie das Löschblatt zur Tinte«, hielt Benjamin in Notizen zum Passagen-Werk fest: »Es ist ganz von ihr vollgesogen. Ginge es aber nach dem Löschblatt, so würde nichts, was geschrieben ist, übrig bleiben.«112 Wie das Bild des Schachautomaten, so ist auch diese Metapher in gewissem Sinne verschoben. Das Löschblatt soll die Kontur der Tinte schärfen; es ist ein Hilfsmittel für den klaren Schreibfluss. In Benjamins Interpretation stand es jedoch für sein Denken, in dem kaum etwas von »der Tinte« zu erkennen sei, die die Theologie bezeichnet. In der Schieflage verwies Benjamin letztlich noch auf die Unzugänglichkeit vergangener Tradition. Zugleich war seine späte Geschichtsphilosophie geprägt von der Frage, wie Erlösung im säkularisierten Zeitalter überhaupt noch vorgestellt werden kann und zugleich im Angesicht der beginnenden Kata­strophe gedacht werden muss. Die Theologie, wie Benjamin sie verstand, wird damit in der Geschichtsphilosophie aufgelöst. Sie blitzte aber an mancher – im Sinne des Bildes noch nicht getilgter – Stelle auf. »Bekanntlich war es den Juden untersagt, der Zukunft nachzuforschen. […] Die Thora und 111 Zit. nach ders., GS 5.1, 609 (N 19, 1). 112 Die Notiz ist aufgrund ihrer Stellung in der Reihenfolge des Konvoluts N wahrscheinlich auf Ende des Jahres 1937 zu datieren und wird auch als Vorbemerkung zu Über den Begriff der Geschichte gesehen. Benjamin, Notiz, zit. nach ebd., 588 (N 7a, 7); vgl. auch ders., Konvolut II, zit. nach ders., Werke und Nachlaß 19, 120–141, dazu 126 f., hier 126. Pierfrancesco Fiorato hält es für möglich, dass in diesem bekannten Bild in Rekurs auf das Verhältnis von Benjamin und Cohen »eine in Wahrheit genuin ›theologische‹ Haltung aus jüdischer Denktradition in versteckter Form« aufscheine. Vgl. dazu Fiorato, Zum Paradigma des Kommentars im Denken Walter Benjamins, 276.

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das Gebet unterwiesen sie dagegen im Eingedenken«,113 heißt es in einem Thesenfragment, das im Handexemplar der ansonsten durchnummerierten Reihenfolge der Thesen nachgestellt ist. Die Tage des Eingedenkens, die gerade in der Julirevolution noch einen Rest von Bedeutung hatten aufweisen sollen, wurden von Benjamin vermittels der begrifflichen Übereinstimmung in einen – obschon fragilen – Zusammenhang mit Motiven jüdischer Tradition gesetzt. Und auch dasjenige im Gebet und in der Thora vermittelte Eingedenken wurde mit einem Geschichtsindex versehen, wenn er weiter darlegte: »Den Juden wurde die Zukunft aber darum doch nicht zur homogenen und leeren Zeit. Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.«114 Diese Ausführungen lassen das theologische Fundament erahnen. Sie gemahnen bei aller Distanz an Rosenzweigs Überlegung zum »Warten« im Modus eines »ewig zu gewärtigende[n] Heute« und zum Gebet in Der Stern der Erlösung.115 Im Gegensatz zu Rosenzweig suchte Benjamin aber in der Geschichte, wie sie sich in ihrer die menschlichen Angelegenheiten umspannenden Bedeutung im 19. Jahrhundert hatte herausbilden können, nach dem Halt, den Rosenzweig jenseits derselben zu finden hoffte.116 Mit dem »kleinen und hässlichen« Zwerg, der die Theologie versinnbildlichte, dem »heimlichen Index«, der die Vergangenheit auf Erlösung verweisen sollte, der »schwachen messianischen Kraft«, die Benjamin auch seiner Generation noch zuerkannte, und der »kleinen Pforte« zeigt sich ein diminutiver Zusammenhang.117 Der Rückbezug auf Traditionen des Juden113 Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (Handexemplar), zit. nach ders., Werke und Nachlaß  19, 43. Die Sätze sind in eckige Klammern gesetzt und mit XI (XII  a)  überschrieben. Von Horkheimer und Adorno wurde der Absatz 1942 in Walter Benjamin zum Gedächtnis auf der Grundlage einer anderen Version der Thesen als Anhang B veröffentlicht und so auch in Benjamins Gesammelte Schriften übernommen. 114 Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (Handexemplar), zit. nach ders., Werke und Nachlaß 19, 43 (These XI [XII a]). 115 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 452; zum Gebet vgl. die Einleitung zum dritten Teil Über die Möglichkeit das Reich zu erbeten, zit. nach ebd., 295–330, bes. 320. Michael Löwy bezieht sich auf die Stelle bei Benjamin, um bei verschiedener »›Pfeilrichtung‹«, mit Benjamin selbst sprechend, die beiden gemeine Bezugnahme darauf zu betonen, dass jeder Augenblick die messianische Zeit bringen könne. Vgl. dazu Löwy, Walter Benjamin and Franz Rosenzweig, 389. 116 Bezeichnenderweise schließt Palmier seine Benjamin-Biografie mit einem Teil zum Verhältnis von Materialismus und Messianismus und zieht dafür auf den letzten Seiten Der Engel der Geschichte von Stéphane Mosès heran. Auch Palmier sieht in der Parallel­ stellung Benjamins mit Rosenzweig eine generationelle Brucherfahrung repräsentiert, die im Falle Benjamins in der »ständigen Verknüpfung theologischer und materialistischer Kategorien« ausgedrückt werde. Ders., Walter Benjamin, 1198–1201, hier 1201. 117 So umkreist auch Irving Wohlfarth in seinem Text über das »bucklicht Männlein« die Verkleinerung der »messianischen Kraft«. Vgl. dazu ders., Märchen für Dialektiker, 152.

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tums war bei Benjamin nur noch fragmentarisch. Fragmentarisch, nicht nur in seiner Form, auch in seinem Gehalt. Benjamin bediente sich nur noch eines theologischen Rests, der eine Bewahrung der Geschichte ermöglichen sollte, der zur Geschichtsphilosophie werden konnte. Floss das im Schwinden begriffene Denken so in Benjamins Vorstellung ein, wurde es als säkularisierte Vorstellung der messianischen Zeit der Denkformation inkorporiert, die ihm zum Medium der Tradition geworden war: dem historischen Materialismus. Die Evokation der tradierten wie erinnerten Zeiten wurde damit von einem erst im Verlauf der 1930er Jahre entdeckten Denkmuster angeleitet und veränderte dieses zugleich selbst. Auch die tiefer liegenden persönlichen wie kollektiven Erfahrungsschichten stellten sich Benjamin als durch den Nationalsozialismus, die Verfolgung und letztlich noch den Beginn des nächsten Krieges geformt neu ein. Was er darin aber wieder zu seinem Gegenstand machte, war und blieb jener Krise entsprungen, die seine Generation zuerst prägte – der im Hinblick auf die epistemische Frage nach der Geschichte auch Rosenzweig anfangs noch angehörte. Aber bereits am Ende des Ersten Weltkrieges und in den Jahren der Weimarer Republik hatte sich Benjamin anders als Rosenzweig dem Status der Geschichte zugewandt. Gemeinsam ist ihnen nur mehr das Problem der Säkularisierung durch die geschichtliche Welt des 19. Jahrhunderts, das sich von ihrem Ende her stellte.

8. Verkehrte Geschichte: 1912–1931

Im Sommer 1931 räsonierte Walter Benjamin über seinen »Versuch eine Konzeption von Geschichte zum Ausdruck zu bringen, in der der Begriff der Entwicklung gänzlich durch den des Ursprungs verdrängt wäre«.1 Die mit dem Titel Tagebuch vom siebten August Neunzehnhunderteinunddreissig bis zum Todestag versehenen Aufzeichnungen wurden wenige Monate nach dem Essay Karl Kraus niedergeschrieben, der darin allerdings keine Erwähnung findet, und mit dem pessimistischen Satz eröffnet: »Sehr lang verspricht dieses Tagebuch nicht zu werden.« Die Ablehnung einer geplanten Goethemonografie ist als Begründung hinzugesetzt. Während der allgemeinen wie auch der persönlichen Krise niedergeschrieben,2 sind die Überlegungen zur Geschichte einem Gespräch mit dem Ökonomen Albert Salomon und dem Historiker Hajo Holborn entsprungen.3 Ein in diesem Rahmen aufgenommenes Wort Johan Huizingas, nach dem »die Geschichte (der Durchschnittshistoriker) […] mehr [beantwortet] als ein Weiser fragt«,4 leitete ihn zu seiner eigenen Reflexion von Geschichte, die er nicht nur vom Eklektizismus zu befreien suchte, wenn er anschließend herausstellte: »Das Historische, so verstanden, kann nicht mehr im Flußbett eines Ent1 Benjamin, Tagebuch vom siebten August Neunzehnhunderteinunddreissig bis zum Todestag, zit. nach ders., GS  6, 441–446, hier 442 f. Vgl. zu dieser Ursprungsreflexion im Kontext u. a. auch Gagnebin, Geschichte und Erzählung bei Walter Benjamin, bes. 16–26. 2 Von August und September 1931 finden sich keine Briefe von Benjamin in den Gesam­ melten Briefen, was dafür spricht, dass er sich in diesem Zeitraum zurückgezogen hat. Zeichen für eine pessimistische Haltung Benjamins in dieser Zeit sind auch seine Rundfunkarbeiten, die vom Herbst 1931 bis zum Frühjahr 1932 verschiedene Katastrophen der Weltgeschichte thematisierten. Darunter finden sich etwa der Untergang von Pompeji und Herkulaneum, das Erdbeben von Lissabon, ein Zugunglück und ein Theaterbrand. Vgl. zu Benjamins Rundfunkarbeiten insgesamt ders., Werke und Nachlaß 9. 3 Holborn promovierte wie Rosenzweig bei Friedrich Meinecke. Vgl. dazu Ritter, Einleitung, in: Meinecke, Akademischer Lehrer und emigrierte Schüler, 47–56; die Dokumente finden sich ebd., 221–252. 4 Benjamin, Tagebuch vom siebten August Neunzehnhunderteinunddreissig bis zum Todestag, zit. nach ders., GS 6, 442. In Johan Huizingas 1930 erschienenem Werk Wege der Kulturgeschichte heißt es: »Wer den potenziellen Charakter des historischen Wissens recht vor Augen hat«, den »beängstigt […] das Gefühl, daß so vieles von dieser Arbeit, sei es über große oder über kleine Gegenstände, eine seelenlose, beinahe mechanische Produktion von Wissen geworden ist. Mit dem Prüfstein ihres tieferen Erkenntniswertes in der Hand, wird er manchmal geneigt sein, das Sprichwort umzukehren und zu seufzen: Zehn Toren vermögen mehr zu antworten, als ein Weiser fragen kann.« Ders., Wege der Kulturgeschichte, 18.

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wicklungsverlaufes gesucht werden. Es tritt, wie ich wohl schon an anderer Stelle bemerkt habe, hier für das Bild des Flußbetts das des Strudels ein.«5 Mit dem Verweis auf die »andere Stelle« rekurrierte Benjamin auf seine Schrift Ursprung des deutschen Trauerspiels. Mitte der 1920er Jahre als Habilitationsschrift verfasst, wurde sie zwar als solche abgelehnt, 1928 aber dennoch veröffentlicht.6 Darin stellte er seinen Begriff des Ursprungs ins Zentrum, den er eben durch das Bild des Strudels repräsentiert sah. Diese Deutung nahm er im Sommer 1931 wieder auf und konkretisierte seine Metapher: »In einem solchen Strudel kreist das Früher und das Später – die Vor- und Nachgeschichte eines Geschehens oder besser eines status um diesen.«7 So wollte er das Historische nicht in einem linearen Verlauf gedeutet sehen und sprach »sich gegen die Möglichkeit des evolutionistischen und universalen Elements in der Geschichte« aus. Das hinderte ihn jedoch nicht, weiterhin über »die Geschichte« nachzudenken, die er in seinen privaten Notizen durch eine – mit Goethe gesprochen – »fruchtbare Polarität bestimmt« sah. In diesem durch seine Sinnkrise existenziell verstandenen Moment legte Benjamin damit einen Teil des Bedingungsgefüges offen, das in verschiedenen Phasen seines Denkweges zutage trat: »Die beiden Pole einer solchen Auffassung sind das Geschichtliche und das Politische, man könnte scharf pointieren: das Geschichtliche und das Geschehen.«8 Indem er die Überlegungen zu seiner Konzeption mit einer solchen Polarität von Geschichte und Geschehen schloss, stellte er den Begriff des Ursprungs gleichwohl auch in einen differenten Zusammenhang zu dem, den er an »anderer Stelle« ausgeführt hat. Während in den Tagebuchaufzeichnungen das Politische in den Vordergrund trat, war seinem Denken im Trauerspielbuch eine theologische Reflexion unterlegt. Das Wechselspiel von Theologie und Politik, das sich im veränderten Bedeutungsfeld des Ursprungsbegriffs Ausdruck verschaffte, prägte Benjamins Geschichtsdenken in seinen verschiedenen Fassungen. Obgleich die Frage nach dem Judentum und der Theologie in den kurzen Tagebuchaufzeichnungen keine Erwähnung findet, steht sie am Anfang seiner Suchbewegung und ist noch dem Begriff eingeschrieben, den er 1931 gerade als eigene Konzeption von Geschichte verstand. Mit den wenigen Worten – wie auch dem Nichtgesagten – vom Sommer 1931 zeigte Benjamin so das Spannungsfeld an, in dem er sich bereits während des Ersten Weltkrieges bewegte und das er in gewissem Sinn nie ganz verließ. Von einem Ringen mit der Frage nach dem Judentum und einem Rückzug aus der Politik in den 5 Benjamin, Tagebuch vom siebten August Neunzehnhunderteinunddreissig bis zum Todestag, zit. nach ders., GS 6, 443. 6 Ders., Ursprung des deutschen Trauerspiels, zit. nach ders., GS 1.1, 336–409. 7 Ders., Tagebuch vom siebten August Neunzehnhunderteinunddreissig bis zum Todestag, zit. nach ders., GS 6, 443. 8 Ebd.

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Jahren des Krieges, über eine theologisch gesättigte, geschichtsphilosophische Hinwendung zur Politik nach dem Krieg führte ihn seine Denkbewegung in der Mitte der 1920er Jahre zu einer geschichtlichen Kompensation der Krise der Moderne.9 Benjamin vollzog damit eine historische Neuausrichtung auf theologischem Fundament. Diese wurde letztlich jedoch selbst wieder politisch. Über die Jahre changierte sein Nachdenken zwischen theologischen und politischen Motiven im Namen der Geschichte. Benjamin befragte und umkreiste damit die Moderne in ihrer säkularisierten Gestalt.

Rückzug aus der Politik In einem auf den 17. Juli 1916 datierten Brief legte Benjamin seine Position zu der Zeitschrift Der Jude Martin Buber gegenüber dar. »[V]or der Heftigkeit des Widerspruches, mit dem mich so viele Beiträge des ersten Heftes – ganz besonders in ihrem Verhältnis zum europäischen Krieg – erfüllten«, schrieb der 24-jährige Student, »war in mir das Bewußtsein verdunkelt, daß meine Stellung zu dieser Zeitschrift in Wirklichkeit keine andere war und sein konnte als zu allem politisch wirksamen Schrifttum, wie sie der Eintritt des Krieges mir endlich und entscheidend eröffnet hatte.«10 In der Phase, in der Buber seinen Disput mit Hermann Cohen über Zionismus und Religion wie auch in Nachwehen über Deutschtum und Judentum aufnahm, erreichte die Thematik dieses Konflikts Benjamin nicht mehr. Er hatte sich bereits 1912 Ludwig Strauß gegenüber zu beiden Verhältnissen geäußert, zum ersten skeptisch, zum letzten diagnostisch und sich danach anderem zugewandt. Da Benjamin aber, nachdem er Buber 1914, wenige Wochen vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges, persönlich begegnet war, im November 1915 eine Einladung zur Mitwirkung an dem Zeitschriftenprojekt erhalten hatte, musste er sich dem nun doch stellen. Lange hatte er sich nicht über seine Antwort klar werden können. Mit der Kenntnis des ersten, im April 1916 erschienenen Heftes war seine Position jedoch eindeutig geworden. Buber beschrieb in der vorangestellten Losung den Krieg als Bewährung, die den Juden ihre Gemeinschaft zu Bewusstsein bringen werde, und Benjamin, der ein dezidierter Gegner des Krieges war, sah wohl unter anderem darin eine Zustimmung zu diesem Ereignis.11 Dem politischen Zionismus als National­ bewegung gegenüber war Benjamin zwar bereits vor dem Krieg abgeneigt gewesen, aber eine Rückbesinnung auf das, was als jüdisch verstanden wurde 9 Zu Benjamins Geschichtsdenken bis zum Ursprung des deutschen Trauerspiels vgl. bes. Greiert, Erlösung der Geschichte vom Darstellenden. 10 Benjamin an Martin Buber, 17. Juli 1916, zit. nach ders., GB 1, 325–327, hier 325. 11 Buber, Die Losung. Vgl. auch Scholem, Tagebucheintrag vom 18. Juni 1916, zit. nach ders., Tagebücher 1913–1917, 313 f., hier 314.

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und wofür auch Buber eintrat, befürwortete er zunächst. Diese Affinität stand im Widerspruch zu der Kriegsfrage. So löste Benjamin im Sommer 1916 seine Reflexion des Judentums von der politischen Dimension, wie er in seinem Brief an Buber weiter ausführte. Erste sprachphilosophische Überlegungen, mit denen er seine Haltung begründete, markierten damit das vorläufige Ende einer Suche nach Zugehörigkeit, in deren Zentrum die Frage nach dem Judentum im Verhältnis zur Politik stand und die sein Denken wenige Jahre vor dem Krieg prägte. »Ich bin, wie ich Ihnen kaum zu sagen brauche, liberal erzogen worden«, schrieb Benjamin am 10. Oktober 1912 an den jungen Dichter Ludwig Strauß.12 »Mein entscheidendes geistiges Erlebnis hatte ich, bevor jemals das Judentum mir wichtig oder problematisch geworden war. Was ich von ihm kannte war wirklich nur der Antisemitismus und eine bestimmte Pietät. Als Religion war es mir fern, als Nationales unbekannt.«13 Der von September 1912 bis Januar 1913 reichende – nur einseitig erhaltene – Briefwechsel mit Strauß legte Benjamins kaum vorhandenen Bezug zum Judentum und auch sein distanziertes Verhältnis zum politischen Zionismus offen. Anlass des Gedankenaustauschs war die sogenannte Kunstwartdebatte, angestoßen durch den im Kunstwart von Moritz Goldstein im März 1912 veröffentlichten Artikel Deutsch-jüdischer Parnaß.14 Goldstein stellte die These auf, dass er und seine jüdischen Zeitgenossen »den geistigen Besitz eines Volkes« verwalten, das ihnen »die Berechtigung und die Fähigkeit dazu abspricht«.15 Dagegen setzte er die Forderung nach einer Rückbesinnung auf jüdisches Geistesleben, die etwa mit einem entsprechenden Periodikum beginnen könne. Goldsteins Zuspitzung stieß auf scharfe Kritik, aber auch auf Anerkennung. Es äußerten sich liberale Juden, Zionisten und Antisemiten. Neben vielen anderen meldete sich auch Strauß unter dem Pseudonym Franz Quentin zu Wort.16 Strauß plädierte in seinem Beitrag insbesondere für den von Goldstein angeregten Vorschlag einer Zeitschrift. Ein Anliegen, das Benjamin zu dieser Zeit unterstützte, wie er Strauß in einem ersten Brief vom 11. September 1912 mitteilte.17 Benjamin, der gerade sein erstes Semester in Freiburg absolviert hatte und sich vor allem in der freien Studentenschaft 12 Benjamin an Ludwig Strauß, 10. Oktober 1912, zit. nach ders., GB 1, 69–73, hier 69. 13 Ebd., 69 f. 14 Zur Kunstwartdebatte vgl. u. a. Schoeps / Grözinger / Mattenklott (Hgg.), Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 13 (2002). 15 Goldstein, Deutsch-jüdischer Parnaß, 283. 16 Vgl. Sprechsaal, in: Der Kunstwart 25 (1912), H. 13; Sprechsaal, in: Der Kunstwart 25 (1912), H. 22. Der mit Quentin gezeichnete Beitrag findet sich im zweiten Sprechsaal von August 1912, 238–244. 17 Vgl. Benjamin an Ludwig Strauß, 11. September 1912, zit. nach ders., GB 1, 61–65, hier 61.

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engagierte, setzte sich so zumindest zeitweise auch mit zionistischen Positionen auseinander. Das im Brief vom 10. Oktober angezeigte Ereignis, das den gerade Zwanzigjährigen wesentlich drängender – und über vier Jahre schon – beschäftigte als die Bestimmung des Judentums, war die Begegnung mit Gustav Wyneken, der in der »freien Schulgemeinde Wickersdorf« sein Lehrer und allgemein eine prägende Gestalt für die Jugendbewegung war.18 Benjamin vertrat dessen an Hegel orientierte Ideen in der freien Studentenschaft und versuchte 1912, diese mit der Frage nach dem Judentum zu verbinden. »Von Wickersdorf aus, nicht spekulativ, nicht schlechthin gefühlsmäßig, sondern aus äußerer und innerer Erfahrung habe ich mein Judentum gefunden«, schrieb er an Strauß. Damit wollte er nicht Wyneken als Vertreter des Judentums darstellen, nein, er drehte das Beziehungsgefüge um: »Ich habe das, was mir in Ideen und Menschen das höchste war, als jüdisch entdeckt.«19 Im Bewusstsein, nicht mehr in der Tradition zu stehen, reflektierte Benjamin nicht mehr nur auf das Judentum, sondern auch auf etwas Jüdisches, das sich in der Jugendbewegung niedergeschlagen habe. Einen Beleg für diese Auffassung meinte er darin zu finden, dass einige seiner Mitstreiter auch Juden waren. Die Fragilität des Zusammenhangs war ihm aber durchaus bewusst, so sah er in der Verbindung von Wynekens Idee und dem Judentum zwar die Möglichkeit, dass diese Idee trotz anderer Herkunft jüdisch sei, oder aber dass jene, die sich dieser verbunden fühlten, »keine wahren Juden mehr« seien.20 Auffällig ist, dass Benjamin 1912 für eine Affinität von Wynekens Wirken und jüdischen Ideen sich auf Bubers Reden über das Ju­ dentum bezog und eine gewisse Vertrautheit mit den mit Buber verbundenen Prager Zionisten an den Tag legte. Zu dieser Zeit zeigte er sich also durchaus offen für einen »Kultur-Zionismus, der die jüdischen Werte allerorten sieht und für sie arbeitet«.21 Er wandte sich aber bereits gegen einen Nationalismus, der das »Menschheitlichste« nicht durchdrungen habe und berichtete Strauß von seinen bisherigen Erfahrungen mit Zionisten. Diese hätten, im Gegensatz zu Strauß, Leben und Geist nicht jüdisch genommen. »Das Jüdische war ihnen Naturtrieb, der Zionismus Sache politischer Organisation. Ihre Persönlichkeit war im innern keineswegs vom Jüdischen bestimmt: Sie propagieren Palästina und saufen deutsch.«22 Und er fragte Strauß ganz un18 Einen Einblick in Benjamins Umfeld in der Jugendbewegung mit einem Fokus auf den Freideutschen Jugendtag im Oktober 1913, an dem auch Benjamin selbst teilnahm, gibt Dudek, »Mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten«; zu Benjamins Einschätzung des Tages vgl. ebd., 79 f. 19 Benjamin an Ludwig Strauß, 10. Oktober 1912, zit. nach ders., GB 1, 71. 20 Ebd. 21 Ebd., 72 (Hervorhebung im Original). 22 Ebd.

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verblümt: »Haben sie Schule, Kultur, Gemütsleben, den Staat, jemals jüdisch durchdacht?« Im vorhergehenden Brief hatte Benjamin noch allgemein und persönlich zugleich beschrieben, was er bald dem »deutschen Zionismus in seiner Halbheit« zudachte: »Wenn wir zweiseitig, jüdisch und deutsch, sind, so waren wir doch bis jetzt mit all unserm Bejahen auf das Deutsche eingestellt […].«23 Im Kontext der Kunstwartdebatte umkreiste Benjamin also vor allem das Problem, was denn jüdisch sei, wenn sie doch so tiefgreifend von der deutschen Kultur geprägt seien.24 Seinen Brief vom Oktober 1912 an Strauß schloss Benjamin bezeichnenderweise mit einem ganz anderen Argumentationsgang, den er wohl gedanklich der Frage nach einem sinnstiftenden Zusammenhang von Judentum, Jugendbewegung und Moderne unterlegte. So wies er Strauß auf seinen gerade verfassten Dialog über die Religiosität der Gegenwart hin. Dieser Text, dessen Ausgangspunkt eine Diskussion über die Kunst war, wandte sich nicht dem Verhältnis zwischen Judentum und Zionismus oder Judentum und Christentum zu, sondern setzte in einer diagnostizierten »religiösen Krise« eine monistisch-humanistische Position einer dualistisch-religiösen entgegen.25 Das »Ich« des Dialogs verfolgte eine mit Kants Primat der praktischen Vernunft beginnende Neuaufrichtung der Religion, einen »Dualismus von Pflicht und Person«, und der Gesprächspartner, »der Freund«, einen wissenschaftlichen Pantheismus im Sinne des Fortschritts der Menschheit.26 Unmittelbarer Stichwortgeber für diese Entgegensetzung war wohl der sechste Monistentag, der Anfang September 1912 in Magdeburg stattgefunden hatte, und Benjamins damit einhergehende Wahrnehmung monistischer Forderungen. Diesen Tag erwähnte er bereits im ersten Brief an Strauß vom 11. September 1912. Auch richtete sich der Monistenbund seinerzeit zunehmend auf den Kirchenaustritt.27 Der Problemkomplex von Wissenschaft und Religion war also präsent in der Öffentlichkeit des Wilhelminischen 23 Benjamin an Ludwig Strauß, 11. September 1912, zit. nach ders., GB 1, 61. 24 Wie sehr diese Debatte ein reaktives Moment hatte, zeigt sich in Benjamins Brief bereits in den eröffnenden Sätzen. So fügt er der Erwähnung, dass er die Kunstwartaufsätze sämtlich gelesen hätte, in Klammern hinzu: »Ich frage mich, ob es für die philosemitische Presse nicht eine Möglichkeit gegeben hätte, diese Polemik nicht totzuschweigen. Warum hat das ›Berl. Tageblatt‹ nicht einen Artikel wie den von Jakob Löwenberg abgedruckt? Er ist wahrhaftig harmlos und es hätte anständiger ausgesehen.« Vgl. ebd. Benjamin bezieht sich hier allem Anschein nach auf den Artikel Der vornehme Antisemitismus. Dieser Text besteht aus Auszügen einer mit der Debatte verbundenen Korrespondenz von Avenarius, dem Herausgeber des Kunstwart, mit dem Vorsitzenden des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus, Georg Gothein. Die Briefpassagen sind mit einer kurzen Einleitung und einem Schlusssatz versehen: o. A., Der vornehme Antisemitismus. 25 Benjamin, Dialog über die Religiosität der Gegenwart, zit. nach ders., GS 2.1, 16–35, hier 20. 26 Vgl. zu Kant und der Menschheit bes. ebd., 31 f. 27 Vgl. Neef, Politicizing a (Non)Religious Act.

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Kaiserreichs zwei Jahre vor Kriegsbeginn und Benjamin nahm dies zum Anlass, über die Religion in der Moderne zu reflektieren. Obwohl er diesen Dialog parallel zu seinem Austausch mit Strauß verfasste, fragte er darin nach »der Religion der Zeit«,28 anstatt danach zu fragen »ob eine der historischen Religionen in ihr noch Unterkunft finden könne, und wenn man ihr Arme und Beine abschnitte und den Kopf dazu«.29 Benjamin sah zur Bewältigung der Krise »neue Propheten«, erwartete einen »neuen Menschen« und verwies zugleich auf die in der Romantik maßgebliche Vorstellung einer »neuen Religion«.30 Im Januar 1913 beklagte Benjamin in dem den Austausch abschließenden Brief, dass Strauß ihm den Zionismus als politischen Imperativ anempfehle, und legte damit den fundamentalen Unterschied ihrer Haltungen offen. Den Zionismus wollte er, soweit er überhaupt einen Zugang zu diesem hatte, nicht im Bereich der Politik sehen, sondern als Idee und bestimmte seine Position demgemäß: »[I]ch kann nicht den Zionismus zu meinem politischen Element machen. (Und deshalb werde ich ihn in radikaler Politik allerdings bekämpfen müssen.) Im tiefsten Sinn ist Politik die Wahl des kleinsten Übels. Niemals erscheint in ihr die Idee, stets die Partei.«31 Der noch ganz der Jugendbewegung Wynekens Verschriebene war kein Gegner der Politik, nur wollte er den Zionismus nicht als Nationalbewegung interpretiert wissen, die er in linksliberaler, auf die Menschheit orientierter Perspektive ablehnte. Mit dem Beginn des Krieges und dem Suizid seines Freundes Fritz Heinle, den dieser zusammen mit seiner Frau am 8. August 1914 in Reaktion auf den Kriegsausbruch beging, brach Benjamin mit Wyneken und damit auch mit der kriegsbejahenden Jugendbewegung, wie er ihm im Frühjahr 1915 selbst brieflich mitteilte.32 Vom Militärdienst zurückgesetzt, allerdings von der Sorge begleitet, doch noch einberufen werden zu können, verbrachte Benjamin den Sommer 1916 in und um München – in der Stadt, die er 1915 nach Freiburg und Berlin als neuen Studienort gewählt hatte. Mitte Juni 1916 traf er sich dort mit ­Gershom Scholem, um eine Angelegenheit zu besprechen, die ihn sehr bedrängte: Seine Antwort auf die Einladung zur Mitwirkung an der Zeitschrift Der Jude stand noch aus. Scholem war zu dieser Zeit zu seinem Vertrauten geworden, mit dem er offen seinen Standpunkt diskutieren konnte. Kennengelernt hatten sie sich im Jahr zuvor im Nachgang eines Vortrags von dem 28 Benjamin, Dialog über die Religiosität der Gegenwart, zit. nach ders., GS 2.1, 34. 29 Ebd. 30 Ebd., 34; ders., Werke und Nachlaß 3, 13. 31 Benjamin an Ludwig Strauß, 7. und 9. Januar 1913, zit. nach ders., GB 1, 81–86, hier 82. 32 So schrieb Benjamin im Frühjahr 1915 an Wyneken einen letzten Brief, in dem er den Bruch klar herausstellte. Ders. an Gustav Wyneken, 9. März 1915, zit. nach ebd., 263–265.

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expressionistischen Schriftsteller und »geistespolitischen« Aktivisten Kurt Hiller in Berlin. Gesehen hatte Scholem Benjamin zwar bereits 1913, als er sich bei einem »Sprechsaal« der freien Studentenschaft – eine institutiona­ lisierte Veranstaltung, die Benjamin selbst mit initiiert hatte –33 noch als Vertreter der Jugendbewegung Wynekens präsentierte. In einen intellektuellen Austausch, der bald zu einer tiefen Freundschaft wurde, traten beide erst im Sommer 1915 nach besagtem Vortrag, in dem Hiller im Anschluss an ­Nietzsche eine Verdammung der Historie vollzog. Scholem sprach sich, wie er in seinem Tagebuch festhielt, in der anschließenden Diskussion gegen Hiller aus.34 Wenige Tage später begegneten sich Benjamin und Scholem zufällig in der Bibliothek und verabredeten sich, Hillers Ausführungen zum Anlass nehmend, zu einem ersten Gespräch. Scholem war im Sommer 1915 bereits Zionist, was er Benjamin gegenüber in seiner Kritik an Hiller ausführte.35 Und Benjamin »beschäftigt sich«, wie Scholem am 23. Juli 1915 in seinen privaten Aufzeichnungen zu ihrer ersten Begegnung notierte, »viel mit dem ›Wesen des historischen Prozesses‹ und hat geschichtsphilosophische Gedanken«.36 In einem Text Benjamins, der wenige Monate nach der Begegnung veröffentlicht wurde, deuteten sich diese Gedanken an. Im September 1915 erschien in Der Neue Merkur der Artikel Das Leben der Studenten, der auf zwei Vorträge zurückging, die er im Rahmen der freien Studentenschaft noch kurz vor dem Krieg gehalten hatte.37 Der Text wurde ein Jahr später in leichter Überarbeitung in dem von Hiller 1916 herausgegebenen ersten Jahrbuch Das Ziel erneut abgedruckt, in dem auch W ­ yneken und andere Vertreter der Jugendbewegung Artikel publizierten.38 Bald darauf nahm Benjamin ungeachtet der Kriegsgegnerschaft Hillers auch von ihm Abstand, und der Artikel selbst kann durch seinen Entstehungs- wie 33 In Anlehnung an eine in Wien im Frühjahr 1913 gegründete Zusammenkunft des Comités für Schulreform wurde von Benjamin und Ernst Joël eine Wohnung in Tiergarten angemietet, in der Aussprachen und Vorträge abgehalten wurden. Vgl. dazu Honold, Der Leser Walter Benjamin, 52–106, hier 60. 34 Vgl. Scholem, Tagebucheintrag vom 29. Juni 1915, zit. nach ders., Tagebücher 1913–1917, 122 f., hier 123. 35 Vgl. ebd. 36 Diese und andere Passagen übernahm Scholem fast wörtlich in seinen Text Die Geschichte einer Freundschaft. Vgl. ders., Tagebucheintrag vom 23. Juli 1915, zit. nach ebd., 132–134, hier 132; ders., Walter Benjamin, 13. 37 Vgl. Tiedemann / Schweppenhäuser, Anmerkungen zu Seite 75–87 »Das Leben der Studenten«, in: Benjamin, GS 2.3, 915–918, bes. 916. Zu Das Leben der Studenten im Kontext von Benjamins anderen Jugendschriften vgl. Steizinger, Revolte, Eros und Sprache, bes. 135–138. 38 Benjamin, Das Leben der Studenten. Zu der Gegenläufigkeit von Benjamins Aufsatz im Gesamtbild des Jahrbuchs vgl. Tiedemann / Schweppenhäuser, Anmerkungen zu Seite 75–87 »Das Leben der Studenten«, in: Benjamin, GS 2.3, 916.

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auch Veröffentlichungskontext als ein Text im Übergang begriffen werden, in dem sich Benjamin zwar noch mit den Studenten auseinandersetzt, aber in dem dennoch schon die gedankliche Abwendung von der Politik einen geschichtsphilosophischen Ausdruck erhielt. »Es gibt eine Geschichtsauffassung, die im Vertrauen auf die Unendlichkeit der Zeit nur das Tempo der Menschen und Epochen unterscheidet, die schnell oder langsam auf der Bahn des Fortschritts dahinrollen«,39 legte er eröffnend dar und formulierte seinen eigenen Ansatz in Kontrast dazu: »Die folgende Betrachtung geht dagegen auf einen bestimmten Zustand, in dem die Historie als in einem Brennpunkt gesammelt ruht, wie von jeher in den utopischen Bildern der Denker.«40 Die im Brennpunkt gesammelte Historie und die utopischen Bilder stellte Benjamin in spezifischer Weise dem Fortschrittsdenken entgegen, wenn er weiterhin festhielt: »Die Elemente des Endzustandes liegen nicht als gestaltlose Fortschrittstendenz zutage, sondern als gefährdetste, verrufenste und verlachte Schöpfungen und Gedanken tief in jeder Gegenwart eingebettet.«41 Diesen »immanenten Zustand der Vollkommenheit« zur Geltung zu bringen, sei die »geschichtliche Aufgabe«. »Dieser Zustand« sei aber nur vermittels der »metaphysischen Struktur zu erfassen, wie das messianische Reich oder die französische Revolutionsidee«.42 Von dieser geschichtsphilosophischen Reflexion ausgehend, kam Benjamin auf die Studenten zu sprechen: »Die jetzige historische Bedeutung der Studenten und der Hochschule, die Form ihres Daseins in der Gegenwart, verlohnt also nur als Gleichnis, als Abbild eines höchsten, metaphysischen, Standes der Geschichte beschrieben zu werden.«43 Und Benjamin setzte gerade auch in der von Hiller abgedruckten Version noch hinzu, dass »solche Schilderung kein Aufruf oder Manifest« sei – in einem Jahrbuch also, dessen Untertitel Aufruf zu tätigem Geist lautete.44 Die kurze Anfangspassage seines im Sommer 1915 publizierten Textes ist vielleicht keine komprimierte Fassung der geschichtsphilosophischen Überlegungen Benjamins in Gänze, aber sie gibt doch einen Hinweis auf seine Position zu dem Zeitpunkt, als er zum ersten Mal mit Scholem zusammentraf. Vor allem zeugt sie bereits von einer gedanklichen Nähe von »messianischem Reich« und Französischer Revolution in Benjamins Reflexion. Auch über Buber redeten Scholem und Benjamin bei dieser ersten Gelegenheit, ihr primärer Gegenstand war aber die sie einende Kriegsgegnerschaft. Sie zogen allerdings völlig andere Konsequenzen dar39 Benjamin, Das Leben der Studenten, zit. nach ders., GS 2.1, 75–87, hier 75. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Ebd. 43 Ebd. 44 Ebd.

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aus. Scholem versuchte, in der zionistischen Bewegung die Ablehnung des Krieges voranzutreiben, Benjamin dagegen war in diesen Jahren der Politik abgewandt. Er hegte nach Beginn des Krieges und dem Tod Heinles, im Gegensatz zu Scholem, eine intensive Skepsis gegenüber politischen Bewegungen, in der letztlich auch seine Position zu Bubers Zeitschriftenprojekt begründet lag. Der Jude war zwar das Medium einer Rückbesinnung auf das Judentum, das sich aber an Bubers zu dieser Zeit gehegten Hoffnung auf das jüdische Kollektiv orientierte. Benjamin, der bereits vier Jahre davor den politischen Zionismus als Nationalbewegung kritisiert hatte, sah sich nicht nur zur Jugendbewegung, sondern auch zu Bubers 1916 vertretenem Standpunkt in erheblicher Distanz. Trotz aller Unterschiede in der Frage nach dem Zionismus wollte Benjamin im Sommer 1916 mit Scholem auf dem Fundament der geteilten Kriegsgegnerschaft über das erste Heft von Der Jude sprechen, bevor er sich Buber gegenüber äußerte. Benjamin konnte, wie Scholem in seinem Tagebuch am 18. Juni 1916 direkt nach dem Gespräch festhielt, vor allem Bubers dem ersten Heft vorangestellter Losung ganz und gar nicht folgen, auch der Artikel von Hugo Bergmann mit dem Titel Der jüdische Nationalismus nach dem Krieg hatte demnach seine Aversion befördert.45 Scholem selbst sah darin keinen Hinderungsgrund, Beiträge für Der Jude zu verfassen. Scholem sah als erklärter Zionist ein größeres Ziel mit der Zeitschrift Bubers verfolgt, Benjamin teilte diese Haltung nicht. Im Anschluss an das Gespräch schrieb erst Scholem am 25. Juni 1916 an Buber, dass Benjamin aufgrund sowohl der Kriegsgegnerschaft als auch weil er, wie Scholem betonte, »innerlich schwer mit dem Judentum ringt«,46 nicht an Der Jude mitarbeiten werde; in seinem Tagebuch hielt Scholem dagegen bereits am 18. Juni fest, dass sich »klar herausgestellt« habe, »daß Benjamin beim Judentum angelangt ist«.47 Wochen später äußerte sich schließlich auch der Angefragte selbst gegenüber Buber mit seinem auf den 17. Juli datierten Brief. Benjamin rechtfertigte sich darin zuerst für die Verzögerung seiner abschlägigen Antwort auf die Einladung zur Mitarbeit damit, dass er die Unterredung mit Scholem hatte abwarten wollen. Seine primäre Begründung war eben die Frage nach dem Krieg und die damit verbundene Zuordnung von Der Jude zu dem ihm gegenwärtigen »politischen Schrifttum«. Diese fundierte Benjamin in seinem Brief mit einer Reflexion der »Sprache«, in der er die mit diesem Schrifttum einhergehende Tendenz, Sprache als 45 Vgl. Scholem, Tagebucheintrag vom 18. Juni 1916, zit. nach ders., Tagebücher 1913–1917, 314. 46 Ders. an Martin Buber, 25. Juni 1916, zit. nach Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, Bd. 1, 441. 47 Scholem, Tagebucheintrag vom 18. Juni 1916, zit. nach ders., Tagebücher 1913–1917, 313.

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bloßes Mittel aufzufassen, als verheerend einschätzte. Dagegen richtete er eine »un-mittel-bar[e]« Auffassung der Sprache, die das Geheimnis, das Unsagbare, das in der Sprache wirke, umkreise.48 Zugleich rekurrierte Benjamin noch auf seinen im Jahrbuch Hillers veröffentlichten Artikel. Nach einem Verweis auf Friedrich Schlegels Athenäum, das zwei Jahre später Hauptquelle seiner Dissertationsschrift wurde, konstatierte er: »So unmöglich es mir ist wirkendes Schrifttum zu verstehen, so unfähig bin ich es zu verfassen.«49 Und in Klammern setzte er hinzu: »Mein Aufsatz im Ziel war innerlich durchaus im Sinn des Gesagten gehalten, aber an dem Orte an den er am wenigsten gehörte war das sehr schwer zu bemerken.«50 Eine gewisse Zukunftsperspektive schloss Benjamin Buber gegenüber aber an, wenn es weiterhin heißt: »Und so wie mein Unvermögen zur Frage des Judentums jetzt etwas Klares zu sagen mit einer Zeitschrift im Werden zusammenfällt so verbietet nichts zu hoffen daß es eine günstigere Koinzidenz in der Erfüllung geben möge.«51 Erst zum Ende des Briefes berührte Benjamin damit seinen vagen Bezug zum Judentum, dessen Reflexion er mit seinen Ausführungen aus der politischen Sphäre in diejenige der Sprache verschob. Der Brief blieb unbeantwortet.52 Dessen ungeachtet setzte Benjamin seine Überlegungen fort. So kündigte er in einem Brief an Scholem vom 11. November 1916 einen Aufsatz mit dem Titel Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen an. Er versuche, sich in dieser noch unfertigen Arbeit mit »dem Wesen der Sprache auseinander zu setzen und zwar  – soweit ich es verstehe: in immanenter Beziehung zum Judentum und mit Beziehung auf die ersten Kapitel der Genesis«.53 Diese Beschreibung ließ trotz ihrer Allgemeinheit noch seine

48 Benjamin an Martin Buber, 17. Juli 1916, zit. nach ders., GB  1, 326 (Hervorhebung im Original). 49 Ebd., 327. 50 Ebd. 51 Ebd. 52 Genau ein Jahr nach seinem Brief an Buber, am 17. Juli 1917, schrieb Benjamin an ­Scholem: »Ich fand im Frühjahrskataloge des Insel-Verlages Buber, Martin: Die Lehre, die Rede und das Lied. Nun ist das eben die Einteilung sprachlicher Äußerungen die ich in meinem unbeantworteten Brief an ihn machte. Steckt nun etwa vielleicht dahinter die Antwort? Etwa eine zustimmende? Etwa ohne Angaben des Adressaten?« Während Werner Fuld in seiner Benjamin-Biografie der Insinuation eines Plagiats folgt, sah Scholem eher eine Koinzidenz. Zumindest waren seiner Kenntnis nach die in Die Lehre, die Rede und das Lied veröffentlichten Texte Bubers vor 1914 verfasst worden. Benjamin an Gershom Scholem, 17. Juli 1917, zit. nach ders., GB 1, 369–371, hier 371; vgl. zu Scholems Einschätzung der Sachlage auch Gödde / Lonitz, Anmerkungen zu dem Brief an Gershom Scholem vom 17. Juli 1917, in: ebd., 372; Fuld, Walter Benjamin, 73. 53 Benjamin an Gershom Scholem, 11. November 1916, zit. nach ders., GB 1, 343–345, hier 343.

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an Buber gerichteten Ausführungen nachhallen. Auch schloss er an seinen Texthinweis an, dass ihm unter anderem die Neunzehn Briefe von Samson Raphael Hirsch »jederzeit sehr willkommen« seien, gerade auch im Hinblick auf seine gegenwärtige Arbeit.54 Obwohl er sich damit auch mit der Position eines gesetzestreuen Juden in der Moderne auseinandersetzen wollte, ist unklar, ob er die Schrift von Hirsch gelesen hat. Stattdessen rekurrierte er in seinem Sprachtext auf das an Schlegel angelehnte Motiv, das er in seinem Brief vom 17. Juli 1916 zentral gestellt hatte, wenn er die Sprache erneut von der Vorstellung löste, Mittel zu sein, und dagegen das »Mitteilbare«, das »unmittelbar die Sprache selbst« sei, richtete.55 Was damit gemeint sein sollte, suchte er an einer – geschichtsphilosophisch aufgeladenen – sprachgeschichtlichen Verfallskonstruktion zu zeigen, die mit der Genesis argumentierend die Sprache in der Offenbarung begründete. Zentrales Motiv ist darin die Reflexion des Namens, verbunden mit der Vorstellung von »adamitischer Sprache«, die noch habe benennen können.56 In der Vertiefung dessen, was Jüdischsein heißen konnte, begab sich Benjamin so nach seinem Konflikt mit Buber, in dem er bereits Schlegels Athenäum als Referenz herangezogen hatte, auf den Umweg der Romantikrezeption und fokussierte die Theologie im Allgemeinen. Dafür beschäftigte er sich neben Schlegel vor allem mit Franz von Baader, der mit einer mystisch-katholischen Philosophie Schelling nahestand, und dem an Baader geschulten christlichen Kabbalisten Franz Joseph Molitor.57 Mehr noch: Ein Jahr nach seinem Brief an Scholem, in dem er den Sprachaufsatz ankündigte, las er ein Werk Adolf von Harnacks. So schrieb er im Herbst 1917 an Scho54 Vgl. ebd., 344 (Hervorhebung im Original). 55 Ders., Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, zit. nach ders., GS 2.1, 140–157, hier 142 (Hervorhebung im Original). 56 Vgl. ebd., 153. 57 Dass die Schriften Molitors und Baaders wichtige Quellen für Benjamins Wissen um jüdische Traditionen waren, darauf verweist seine Äußerung Scholem gegenüber. So schrieb er, nachdem er die 16 Bände umfassende Ausgabe der Werke Baaders im Mai 1917 erhalten hatte: »Baader und Molitor gehören so sehr zusammen, daß gleich unter dem ersten was ich gelesen habe zwei wichtige Briefe von ihm an Molitor waren, die unter anderem Wesentliches und Schönes über die Schechinah sagen.« Ders. an Gershom Scholem, 23. Mai 1917, zit. nach ders., GB 1, 357–359, hier 357; vgl. Baader, Zweites Sendschreiben an den Herrn Professor Molitor in Frankfurt, 348–351. Zu Baaders Briefen vgl. Gödde / Lonitz, Anmerkungen zu dem Brief an Gershom Scholem vom 23. Mai 1917, in: Benjamin, GB 1, 359 f., hier 359. 14  Jahre später, im Oktober 1931, erschien Benjamins (vom Autor erbetene) Rezension der Arbeit von David Baumgardt über Franz von Baader. Darin stellte Benjamin die »typisch romantische Prägung« Baaders heraus, die er zugleich auch bei Schelling diagnostizierte. Ders., Ein Schwarmgeist auf dem Katheder. Franz v.  Baader, zit. nach ders., Werke und Nachlaß 13.1, 328–333, hier 330; zum Publikationskontext vgl. Ein Schwarmgeist auf dem Katheder. Franz v. Baader (Lesarten, Varianten, Erläuterungen und Nachweise), in: Benjamin, Werke und Nachlaß 13.2, 311–316.

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lem: »Gegenwärtig […] lese ich das Lehrbuch der Dogmengeschichte von Harnack in drei Bänden.«58 Er habe das erste dieser drei Bücher fast durchgelesen und es habe ihm sehr zu denken gegeben, da »es mich zum ersten Mal befähigt mir eine Vorstellung von dem was Christentum ist zu machen und mich fortwährend auf Vergleiche mit dem Judentum führt, für die mein Wissen, euphemistisch gesagt, ganz unzugänglich ist«.59 Vermittels der Lektüre Harnacks versuchte er also in gewissem Sinne auch ein Verständnis des Judentums zu gewinnen und formulierte Scholem gegenüber zwei Probleme: »[G]ibt es im Judentum den Begriff des Glaubens im Sinne des adäquaten Verhaltens zu der Offenbarung? […] Gibt es im Judentum eine irgendwie prinzipielle Scheidung und Unterscheidung zwischen der jüdischen Theologie, Religionslehre und dem religiösen Judentum des einzelnen Juden?«60 Benjamin insinuierte, dass die Antwort auf beide Fragen wohl »Nein« lauten würde, was »sehr wichtige Gegensätze zum christlichen Religionsbegriff konstituieren« würde,61 aber auch diese Ausführung vertiefte er nicht. Bereits im Herbst 1916 hatte Benjamin sich in Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, obschon er eine »immanente Beziehung zum Judentum« darzustellen im Sinn gehabt hatte, nicht eingehend mit Denkern des Judentums auseinandergesetzt. Das Judentum war darin nicht mehr als eine vage Referenz und blieb es auch in seinen weiteren Schriften. Nur noch in Anklängen verweist der Text so auf die Auseinandersetzung, die in Benjamins Reaktion auf die Zeitschrift Der Jude kulminiert war. Vielmehr als die spezifische Annäherung an das Judentum wurden die Fragen nach der Theologie in der Moderne und nach dem Unsagbaren, das über den Bereich des Menschlichen hinausweise, zu seinem Thema. Für Benjamin folgte auf seine erste Affinität zum »Kultur-Zionismus« vor dem Ersten Weltkrieg, auf seine Suche nach einem Zugang zum Judentum jenseits der Politik in den Jahren des Krieges, nicht, wie Scholem dachte, ein Ankommen beim Judentum, sondern eine Zurückwendung zur »Problemgeschichte« der Moderne, wie er sie in seiner Dissertationsschrift Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik vorbereitete.62

58 Benjamin an Gershom Scholem, 22. Oktober 1917, zit. nach ders., GB 1, 388–396, hier 391. 59 Ebd., 391 f. 60 Ebd., 392. 61 Ebd. 62 So charakterisierte Benjamin die Methode seiner ab dem Frühjahr 1918 verfassten, in Bern eingereichten Dissertationsschrift. Vgl. ders., Werke und Nachlaß 3, 11.

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Der geschichtsphilosophische Kern Am Ausgang des Krieges sah sich Benjamin Umbrüchen von Rechtsordnung und Staatsgefüge gegenüber, die ihn jene Grundlagen des Rechts problematisieren ließen, durch die bloß »ein neues Recht zu neuem Verfall« begründet werde.63 Hervorgegangen ist daraus eine »Auftragsarbeit« mit dem Titel Zur Kritik der Gewalt, die Benjamin im Januar 1921 verfasste und in der er sich dem Verhältnis von Recht, Rechtfertigung und Gewalt, der Frage nach der Abwägung von Mittel und Zweck sowie nach der rechtssetzenden und der rechtserhaltenden Gewalt zuwandte. Dieser Text gibt nicht nur Zeugnis von einer erneuten Hinwendung zur Politik, sondern legt zugleich das geschichtsphilosophische Fundament dieser Denkbewegung offen, wenn Benjamin in Auseinandersetzung mit positiver Rechtsphilosophie und Naturrechtsauffassung einen Standpunkt der Kritik wählte, den er als »geschichtsphilosophische Rechtsbetrachtung« bezeichnete.64 Diese Position resultierte aus der Frage nach dem Verhältnis von Wahrheit und Geschichte, die ihn in den Jahren nach seiner Auseinandersetzung mit Buber beschäftigte und die er in Zur Kritik der Gewalt mit einer Reflexion auf das Göttliche beantwortete. Nach seiner Abkehr von der Politik hatte sich Benjamin zunehmend auch der Geschichtsphilosophie gewidmet – und diese drängte angesichts der Ereignisse letztlich wiederum zu politischer Form. Nachdem Benjamin, wenn auch nicht zum Dienst an der Waffe, so doch einberufen werden sollte, erhielt er im Herbst 1917 die Erlaubnis, für eine Ischias-Behandlung in Begleitung seiner frisch angetrauten Frau Dora in die Schweiz zu reisen, und schwankte zwischen Basel und Bern als Ort für seine Promotion. Aber nicht nur die Frage, an welche Universität er gehen sollte, vielmehr noch die, welches Thema er bearbeiten wollte, stand zur Disposition. Diese Suche nach einer Fragestellung führte ihn von Immanuel Kant bis zur deutschen Romantik.65 Konzentriert auf diese Arbeit, hielt er die Geschehnisse in der Welt vorerst auf Abstand; und obwohl er sich diesen kaum entziehen konnte, wandte er sich stattdessen historischen Konzepten von Geschichtsphilosophie zu. In den noch vor dem Eingang zur Moderne stehenden Texten Kants hoffte Benjamin erste Anzeichen dessen zu entdecken, was später in der geschichtlichen Welt des 19. Jahrhunderts volle Entfaltung fand. 63 Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, zit. nach ders., GS 2.1, 202. 64 Ebd.,182. 65 Vgl. zur Romantik und deren »Neuer Mythologie« im Verhältnis zur Aufklärung Frank, Vorlesungen über die Neue Mythologie, Bd. 1; zur neuen Romantikrezeption am Fin de Siècle vgl. ders., Vorlesungen über die Neue Mythologie, Bd. 2. Zu Benjamins »Rezeptionsverweigerung« vgl. Greiert, Erlösung der Geschichte, bes. 76–84.

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»Ich werde in diesem Winter beginnen über Kant und die Geschichte zu arbeiten«,66 teilte Benjamin am 22. Oktober 1917 Scholem mit. Und obwohl er Kants Schriften zur Geschichtsphilosophie zu dieser Zeit noch nicht gelesen hatte, begründete er seine Fokussierung bereits damit, dass er »darin zu erkennen [glaubt,] daß immer die letzte metaphysische Dignität einer philosophischen Anschauung […] sich in ihrer Auseinandersetzung mit der Geschichte am Klarsten zeigt«.67 Anfang Dezember schrieb er in Konkretion seines Vorhabens an denselben Adressaten, dass er »neulich auf ein Thema zu einer Doktorarbeit gekommen« sei, das »eventuell« für ihn »in Betracht käme: Der Begriff der unendlichen Aufgabe bei Kant«.68 In dessen »speziellen Hauptschriften« Idee zu einer allgemeinen Geschichte in welt­ bürgerlicher Absicht und Zum ewigen Frieden fand Benjamin jedoch nicht, was er suchte. So zeigte er sich nur zwei Wochen später, Ende Dezember 1917, Scholem gegenüber enttäuscht über die Ausführungen Kants, in die er die Hoffnung gesetzt hatte, eine Verbindung zu der ihm gegenwärtigen geschichtsphilosophischen Problemstellung zu finden. »Das ist mir besonders in Hinsicht meiner Pläne für das Thema meiner Doktorarbeit sehr unangenehm«,69 gestand er dem Freund, »aber ich finde garkeinen wesentlichen Beziehungspunkt zu den uns nächstliegenden geschichtsphilosophischen Schriften in diesen beiden Arbeiten Kants und sehe eigentlich nur eine rein kritische Stellungnahme zu ihnen ab.«70 Und er benannte die grundlegende Differenz: »Es handelt sich bei Kant weniger um die Geschichte als um gewisse geschichtliche Konstellationen von ethischem Interesse.« Auch wenn der philosophische »Alleszermalmer« am Ende des 18. Jahrhunderts die eine umfassende Geschichte durchaus vorbereitete, dachte er selbst noch nicht in ihrem Rahmen. Historisch gesehen stand er an der Schwelle, an der sich dieses Konzept mit all seiner Bedeutungsfülle langsam erst herauszubilden begann. Erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts erhielt die Geschichte den maßgeblichen Status, über den Benjamin nachdachte. Zwar legte er auf der Suche nach einem Thema für seine Qualifikationsarbeit Kants Schriften so bereits Ende des Jahres 1917 wieder beiseite und fasste daraufhin den Plan, für die Dissertation die Frage ins Zentrum zu stellen, was es heiße, »dass die Wissenschaft eine unendliche Aufgabe«

66 Benjamin an Gershom Scholem, 22. Oktober 1917, zit. nach ders., GB 1, 390. Zu ­Benjamins Auseinandersetzung mit Kants geschichtsphilosophischen Schriften im Rahmen der Themensuche für seine Doktorarbeit vgl. bes. Steiner, Zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte, 169–172. 67 Benjamin an Gershom Scholem, 22. Oktober 1917, zit. nach ders., GB 1, 391. 68 Ders. an Gershom Scholem, 7. Dezember 1917, zit. nach ebd., 401–404, hier 403. 69 Ders. an Gershom Scholem, ca. 23. Dezember 1917, zit. nach ebd., 406–411, hier 408. 70 Ebd.

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sei.71 Damit trat aber die Rezeption des Königsbergers im Neukantianismus Marburger Schule hervor, die in der Schrift Über das Programm der kom­ menden Philosophie den Gegenstand der Kritik bildet.72 Wollte Benjamin darin doch noch die Leerstellen in Kants Philosophie füllen, indem er einen in Revision des Neukantianismus skizzierten, mit sprachphilosophischer Reflexion verbundenen Begriff der Erfahrung anzeigte und vermittels einer als »Lehre« postulierten Erkenntnis in einen sakralen Interpretationsradius rückte.73 So erinnerte sich Scholem in einer späteren »Vorbemerkung« zu dem Programmtext, dass dieser einer Zeit entstammte, in der Benjamin »ein System der Philosophie noch für möglich hielt«.74 Der Freund, der nach Schwierigkeiten der Ausreise im Frühjahr 1918 schließlich selbst nach Bern hatte kommen können, datierte dabei den Nachtrag zur Programmschrift auf den März des Jahres. »Wie sehr die hier angestellten Erwägungen über Kants System und seinen Begriff der Erfahrung damals im Mittelpunkt seines Denkens standen,«75 stellte er in der Rückschau weiterhin heraus, zeige sich an der gemeinsamen Lektüre des »damals gerade in dritter Auflage erschienene[n] große[n] Werk[s] von Cohen Kants Theorie der Erfahrung […] im Sommer 1918«.76 Und in Die Geschichte einer Freundschaft rekapitulierte Scholem, dass sie – davor noch voller Hochachtung für Cohen, den sie in seiner »Alterszeit« in Berlin auch persönlich erlebt hatten – von dem Werk enttäuscht waren. Zugleich betonte er, dass Benjamin zu dieser Zeit »die Termini System und Lehre geradezu gleich[setzte]«.77 Gegenüber Scholem zeigte Benjamin dann auch bereits im Herbst 1917 die Suche nach einem Zusammenhang von Wahrheit, Lehre und Philosophie an und versah sie mit einem auffälligen Kristallisationspunkt: »[I]n der Geschichtsphilosophie wird die spezifische Verwandtschaft einer Philosophie mit der wahren Lehre am Klarsten hervortreten müssen.«78 Auch die Frage nach der unendlichen Aufgabe der Wissenschaft wurde von Benjamin indes nicht weitergeführt; und im März 1918 konnte er noch vor der Beratung mit seinem Doktorvater – Richard Herbertz – Scholem von seinem neuen Beschäftigungsfeld berichten: der Kunstkritik in der Roman71 Ebd., 409. 72 Vgl. dazu Tiedemann / Schweppenhäuser, Anmerkungen zu Seite 157–171 »Über das Programm der kommenden Philosophie«, in: Benjamin, GS 2.3, 936–940, hier 939. 73 Vgl. Benjamin, Über das Programm der kommenden Philosophie, zit. nach ders., GS 2.1, 157–171, bes. 168. 74 Scholem, Vorbemerkung, zit. nach Tiedemann / Schweppenhäuser, Anmerkungen zu Seite 157–171 »Über das Programm der kommenden Philosophie«, in: Benjamin, GS 2.3, 939. 75 Ebd. 76 Ebd. 77 Scholem, Die Geschichte einer Freundschaft, 78. 78 Benjamin an Gershom Scholem, 22. Oktober 1917, zit. nach ders., GB 1, 391.

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tik.79 Zuerst suchte er in diesem nun endgültigen Thema noch von Kants Philosophie ausgehend die Romantik tiefer zu verstehen. Letztlich blieb aber wenig von den ersten Überlegungen in seiner Qualifikationsschrift erhalten. Dieses wenige war dafür aber umso bezeichnender, bewahrte er doch den geschichtsphilosophischen Kern seiner Überlegungen  – allerdings romantisch geprägt. Abseits der Arbeit an der Promotion notierte er in auffälliger Wortwahl und in gewissem Sinn an Schellings und romantische Geschichtsauffassungen gemahnend, dass sich »die Weltgeschichte von der Gottes­ geschichte« in »drei Momenten« unterscheide: »1 In ihr ist getrennt, was in der Gottesgeschichte eins ist[;] 2 In ihr hat zeitlichen Index was in der Gottesgeschichte keinen hat (z. b. Revolution – Anfang[;] Weltgericht – Ende)[;] 3 In ihr findet alles in der Zeit statt (zeitliche Revolutionen, zeitliche Weltgerichte).«80 In einer folgenden Notiz differenzierte Benjamin sogar Naturgeschichte, Weltgeschichte und Gottesgeschichte und setzte die beiden zuerst aufgeführten Begriffe in Relation zu dem letzten. So sei die Naturgeschichte aus dieser Perspektive die Schöpfung und die Weltgeschichte die Offenbarung.81 Der zweifach angeführte Topos der »Gottesgeschichte« wurde zwar auf engstem Raum unterschiedlich verwendet, trotz der differierenden Begriffsverwendung ist er aber signifikant, weil er das, was er benennen sollte, in gewissem Sinne verkehrt. Das auf dem Kollektivsingular beruhende Wort schien bis zum Ende des Ersten Weltkrieges nur am Rande auf und etwas verstärkter in Texten, die entweder selbst einer noch romantischen »Blütezeit« der geschichtlichen Welt entsprungen waren oder sich dieser widmeten.82 79 Ders. an Gershom Scholem, 30. März 1918, zit. nach ders., GB 1, 440–446, hier 440 f. Fiorato stellt in der Suchbewegung Benjamins heraus, dass die Auseinandersetzung mit Kant und dem Neukantianismus auch noch in das Dissertationsthema hineinspielt. Vgl. dazu Fiorato, »Zeitlos und dennoch nicht ohne historischen Belang«, 612–614. 80 Benjamin, Die Ethik, auf die Geschichte angewendet … (fr 65), zit. nach ders., GS 6, 91–93, hier 92. 81 Ders., Arten der Geschichte (fr 66), zit. nach ebd., 92. Dieser Gedanke ist mit Blick auf »Herders Konzeption« niedergelegt. Bei Herder findet das Wort Gottesgeschichte zwar Verwendung, wird aber zumindest in Vom Geist der Ebräischen Poesie nicht als die Gottesgeschichte im Kollektivsingular angeführt, sondern noch als eine spezielle Geschichte aus der Bibel. Vgl. Herder, Vom Geist der Ebräischen Poesie, 995. 82 Insbesondere sah der protestantische Theologe Rudolf Rocholl, der sich bereits 1856 in Beiträge zu einer Geschichte deutscher Theosophie zu Molitors Philosophie der Geschichte geäußert hatte, in seiner 1878 erschienenen Preisschrift Die Philosophie der Geschichte die von Benjamin aufgeführte Trias von Natur-, Menschheits- (oder auch Welt-) und Gottesgeschichte bei Jean Bodin repräsentiert. Auch wenn es keinen direkten Hinweis gibt, dass Benjamin das Buch gelesen hätte, so hat es zumindest in der Literatur, die er für seine Dissertation verwendet hat, eine gewisse Präsenz. Zwar findet sich nur bei Paul Lerch eine Erwähnung von Rocholl, aber diese in einer sich über zwei Seiten erstreckenden, ausführlichen Fußnote zu dessen Werk. Vgl. Rocholl, Die Philosophie der Geschichte, Bd. 1, 54; Lerch, Friedrich Schlegels philosophische Anschauungen in ihrer Entwicklung und systematischen Ausgestaltung, 63 f.

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Benjamin nahm also mit seinen Notizen zur Gottesgeschichte im Verhältnis zur Welt- oder dann auch zur Naturgeschichte keine theologische Perspektive ein, sondern eine mit theosophischen Motiven verbundene geschichtsphilosophische, nach der er das über die menschlichen Angelegenheiten Hinausgehende  – späterhin als das Sakrale verstanden  – in einem weiten Verständnis letztlich mit dem profanen Geschehen verbunden sehen wollte. Die Überlegungen zu einer geschichtlichen Transzendenz trafen in Benjamins Lebenszeit zwar schon bald nach deren Niederschrift auf historische Verwerfungen, die eine neue Weiche darin stellten. Diese Veränderung deutete sich jedoch nur schemenhaft in seiner Dissertation an. So überbrückte die Arbeit an der Qualifikationsschrift die Ereignisse am Kriegsende in doppeltem Sinn. Einerseits zog sich Benjamin aufgrund von akademischen Anforderungen in eine Romantikrezeption zurück, andererseits versuchte er durch diese letztlich auch seine Gegenwart zu verstehen. So beschrieb er am 8. November 1918 seine Situation in der Schweiz Ernst Schoen gegenüber.83 Dem Vertrauten aus der Jugendzeit legte er am Vorabend zur Gründung der Weimarer Republik dar, dass er vollauf in der Arbeit an der Dissertation befangen sei, und zeigte die Spannung in seiner Haltung zwischen akademischer Form und persönlichem Interesse an, wenn er einräumte, dass er diese zwar »nie ohne äußeren Anlass auf [sich] […] genommen hätte«, dass es aber dennoch »keine verlorene Zeit« sei.84 Und er führte weiterhin aus: »Das was ich durch sie lerne, nämlich einen Einblick in das Verhältnis einer Wahrheit zur Geschichte, wird allerdings darin am wenigsten angesprochen sein, aber hoffentlich für kluge Leser bemerkbar.«85 Obschon das noch seine Themensuche nachklingen lassende angemerkte Verhältnis das grund­ legende Interesse blieb, wurde der geschichtsphilosophische Aspekt in der Qualifikationsschrift damit nur am Rande benannt. Das Bedingungsgefüge von historischer und geschichtsphilosophischer Reflexion wurde der Arbeit jedoch eingeschrieben, wenn Benjamin in einer 1921 veröffentlichten Selbstanzeige in den Kant-Studien das Problem der Geschichte philosophisch aussetzte.86 »Der Gegenstand der Arbeit ist der romantische Begriff der Kunstkritik, dargestellt im Lichte eines metahistorischen d. h. absolut gestellten Problems«,87 wurden die bewerbenden Ausführungen eröffnet. »Dieses Pro83 Vgl. Benjamin an Ernst Schoen, 8. und 9. November 1918, zit. nach ders., GB 1, 484–489, hier 484. 84 Ebd., 486. Wie sehr die Romantik Benjamin auch noch bis zu seiner letzten Lebensphase, dann aber in neuer Stellung zu ihr, beschäftigte, wird aufgezeigt in Brüggemann / Oesterle (Hgg.), Walter Benjamin und die romantische Moderne. 85 Benjamin an Ernst Schoen, 8. und 9. November 1918, zit. nach ders., GB 1, 486. 86 Zu dieser war er nach seinem Wiedereintritt in die Gesellschaft aufgefordert worden. Vgl. Ben­jamin an Gershom Scholem, 1. Dezember 1920, zit. nach ders., GB 2, 107–110, hier 109. 87 Ders., Selbstanzeige.

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blem lautet: welchen Erkenntniswert besitzt für die Theorie der Kunst der Begriff ihrer Idee einerseits, der ihres Ideals andrerseits?«88 In Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, das als fünfter Band der Neuen Berner Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte 1920 erschien, wählte Benjamin für die Bearbeitung des angezeigten metahistorischen Problems einen problemgeschichtlichen Zugriff.89 Das bedeutet, dass er zumindest in der Peripherie auch den Neukantianismus Südwestdeutscher Schule berührte, obschon er dies nicht herausstellte. Im recht überschaubaren Literaturverzeichnis wie auch in den Fußnoten im Fließtext findet sich so der zweite Band von Wilhelm Windelbands Geschichte der neueren Philosophie.90 Bei aller Signifikanz dieser Perspektive bleibt aber zu bedenken, dass Benjamin sich dabei nicht weiter auf die »Problemgeschichte« als methodisches Verfahren Windelbands berief und sich sogar bemüßigt sah, den eigenen Ansatz in einer ersten Fußnote als »philosophieproblemgeschichtlich« zu spezifizieren.91 Seine Blickrichtung spiegelte sich zugleich ex negativo in der Frage nach der Geschichtsphilosophie, wenn Benjamin in den einleitenden Worten apostrophierte, dass in der Arbeit »nicht der oft mit unzureichenden Mitteln unternommene Versuch gemacht [werde], das historische Wesen der Romantik darzustellen«,92 und präzisierend noch hinzusetzte: »[D]ie geschichtsphilosophische Fragestellung bleibt aus dem Spiel.«93 Trotz dieser scheinbar klaren Beschränkung zog er bezeichnenderweise in einer dem folgenden ausführlichen Fußnote sowohl ein Diktum Schlegels heran, nach dem die »moderne Geschichte« mit dem revolutionären Wunsch, das »Reich Gottes« auf Erden zu realisieren, begonnen habe, als auch die Forderung einer »neuen Religion«, für die er Novalis zitierte, und subsumierte diese Motive unter den – wie er es nannte – »romantischen Messianismus«.94 Auch erwähnte er im späteren Verlauf seiner Dissertationsschrift den Messianismus im Haupttext und verband ihn mit einer knappen Bemerkung zu Schle88 Ebd. 89 Vgl. Benjamin, Werke und Nachlaß 3, 11. 90 Vgl. ders., Verzeichnis der zitierten Schriften, in: ebd., 132–134, hier 134. Dort findet sich die Angabe Windelband, Die Geschichte der neueren Philosophie in ihrem Zusammenhange mit der allgemeinen Kultur und den besonderen Wissenschaften, Bd. 2. 91 Benjamin, Werke und Nachlaß 3, 11. Dazu und zu einer Weiterführung des methodischen Ansatzes der Problemgeschichte bei Benjamin: Fiorato, »Zeitlos und dennoch nicht ohne historischen Belang«, 614–618. 92 Benjamin, Werke und Nachlaß 3, 12. 93 Ebd. 94 Ebd., 13. Einen Zusammenhang zwischen dieser Rezeption und Benjamins eigenem Konzept legt auch Karl Heinz Bohrer nahe. Vgl. dazu ders., Walter Benjamins Objektivierung der romantischen Ironie, 25; Steiner, Walter Benjamins »Wendung zum politischen Denken«, 51–53.

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gels kritischer Haltung der »Ideologie des Fortschritts« gegenüber.95 Die ausgesparte Frage erhielt so durch die Hintertür Eingang in die Darstellung. Mehr noch: Indem Benjamin den geschichtsphilosophischen Gehalt der Romantik als Messianismus begrifflich fasste, schrieb er diesem seine eigene Vorstellung ein. Obwohl er das Wort nicht für sein eigenes Geschichtsdenken verwandte, wies die Bezeichnung zurück auf seine Überlegung inmitten der Abwendung von der Jugendbewegung und auf seine Auseinandersetzung mit Scholem.96 Weiteren Anstoß wird seine Lektüre Cohens gegeben haben.97 Vielleicht spielten auch Moses Hess, dessen Schrift Rom und Jerusa­ lem er gelesen hatte und der als einer der Ersten den Topos des Messianismus in den Nexus politisch-sozialer Bewegung stellte – allerdings das Wort noch nicht in Rom und Jerusalem verwandte –,98 sowie die Auseinandersetzung mit Buber eine Rolle.99 Schließlich kann im Frühjahr 1919 noch Ernst Blochs Geist der Utopie ein Faktor bei der Begriffswahl zugekommen sein, dachte 95 Benjamin, Werke und Nachlaß 3, 100. 96 So erinnerte sich Scholem, dass er Benjamin, der sich zur Zeit ihrer Lektüre Cohens Gedanken über Bachofen und Kosmogonie gemacht habe, von dem Kampf im Judentum gegen den Mythos erzählte und Benjamin ihm Überlegungen darlegte zur Unterscheidung zwischen zwei »historischen Weltaltern des Gespenstischen und des Dämonischen«, die dem der Offenbarung vorangegangen seien. Scholem schob ein: »[I]ch schlug vor, es [das Weltalter der Offenbarung] eher das Messianische zu nennen«. Scholem, Die Geschichte einer Freundschaft, 79 f. 97 Allerdings nicht so sehr Kants Theorie der Erfahrung als vielmehr Cohens Die drama­ tische Idee in Mozarts Operntexten von 1916, den Benjamin im Verzeichnis der gelesenen Schriften direkt vor Ernst Blochs Geist der Utopie eintrug, dürfte die Verwendung befördert haben. In Goethes Wahlverwandtschaften bezog sich Benjamin auf diesen Text und auch auf die Ästhetik des reinen Gefühls. Vgl. Benjamin, Verzeichnis der gelesenen Schriften, zit. nach ders., GS 7.1, 437–476, hier 444; ders., Goethes Wahlverwandtschaften, zit. nach ders., GS 1.1, 123–201, hier 128 f., 134 und 191. 98 Nachdem Moses Hess Ende des Jahres 1863 nach Paris gegangen war und seine Mitarbeit an den Archives israélites aufnahm, verwandte er das Wort »messianisme« gerade in der Abhandlung über Heinrich Graetz’ Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart von 1864. Vgl. Hess, Études d’histoire sacrée et profane II, 893, sowie ders., Études d’histoire sacrée et profane III, 1038 f. In der 1905 in deutscher Übersetzung erschienenen Ausgabe der Werke von Hess ist es der »Messianismus«, der an dieser Stelle steht. Vgl. ders., Studien zur heiligen und profanen Geschichte, 60 und 65. Im Vorwort heißt es darin: »Die Übersetzungen aus dem Französischen stammen gro­ssenteils von Hulda Thomaschewsky, zum anderen von Rahel Goldberg her.« Das Wort »Messianismus« kommt darin auch in anderen Texten vor, die wahrscheinlich erste Verwendung dürfte in dem 1864 ebenfalls in Archives israélites erschienenen Israels Mission in der Ge­ schichte der Menschheit zu finden sein, die anderen Texte sind auf 1865 und 1870 datiert. 99 In Benjamins Verzeichnis findet sich Rom und Jerusalem, das er demnach noch vor Mai 1917 gelesen hat, und auch wenn Hess in dieser Schrift vielleicht nicht vom Messianismus schrieb, so tat er es doch in anderen Texten, insbesondere in seiner Besprechung von ­Heinrich Graetz’ Werk. Vgl. Benjamin, Verzeichnis der gelesenen Schriften, zit. nach ders., GS 7.1, 437.

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Bloch darin doch ein »System des theoretischen Messianismus« an, zu dem er freilich nur die »Einleitung« lieferte, wie Margarete Susman es im Januar 1919 auf den Punkt brachte.100 Da Benjamin aber dem Hinweis, dass er die geschichtsphilosophische Frage außen vor lasse, die Fußnote zu Schlegel und Novalis anfügte, lag trotz dieser weiteren möglichen Einflüsse in der Benennung der Kern seines eigenen Begriffsverständnisses in dem von ihm hervorgehobenen geschichtsphilosophischen Aspekt der Romantik. Speiste sich dieser letztlich eben doch auch aus seiner eigenen gedanklichen Verbindung von »messianischem Reich« und »Revolutionsidee«, wie Benjamin sie als parallele Bebilderungen einer auf die Elemente des Endzustands gerichteten metaphysischen Struktur schon im Sommer 1915 aufgerufen hatte. Zwar sah er sich in Distanz zu Schlegels Zielvorstellung,101 aber in dessen Worten war dennoch die Verweltlichung ausgesprochen, die Benjamin in seiner Reflexion auf Geschichte befragte. Denn auch wenn er in seiner Dissertationsschrift den »Messianismus der Romantik«, mithin das Problem einer am »Reich Gottes« orientierten Geschichtsphilosophie, weitgehend beiseiteließ, drückte er dessen Relevanz für seine eigene Denkbewegung aus. So teilte er am 7. April 1919 Schoen mit, dass er den »Messianismus« habe herauslassen müssen, weil er an diesen »ebensowenig wie an irgend etwas anderes, das mir höchst gegenwärtig ist herangehen durfte, ohne mir die Möglichkeit der verlangten komplizierten und konventionellen wissenschaftlichen Haltung, die ich von der echten unterscheide, abzuschneiden«.102 Nach dem Krieg wollte sich Benjamin zwar dem zuwenden, was ihm »höchst gegenwärtig« war, meinte damit aber nicht das Geschehen. So schrieb er am 29. Januar 1919, wenige Wochen nach dem Ende des Spartakus­ aufstands, der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts und nur zehn Tage nach den ersten Wahlen zur deutschen Nationalversammlung an Schoen: »Den Menschen wie Sie und ich stehen nach der Änderung der deutschen Verhältnisse wohl keine andern Wege offen als vorher.«103 100 Bloch, Geist der Utopie, 337; Susman, Geist der Utopie (Rezension). 101 Uwe Steiner betont in seinem 2016 erschienenen Artikel, dass Benjamin die Zielstellung des schlegelschen Diktums, das Reich Gottes auf Erden zu realisieren, wohl nicht geteilt habe, und trifft damit Benjamins Skepsis gegenüber der Theokratie. Dass Benjamin aber dennoch gerade den Begriff des Messianismus wählte, dessen Vorform des Messianischen er für sein eigenes Geschichtsdenken auf verschiedenen Ebenen fruchtbar machte, bleibt auffällig. Die begriffliche Verschiebung lässt sich so durchaus auch quer zu Steiners Deutung lesen, dass Benjamin die Geschichtsphilosophie der Romantik nur als Messianismus bezeichnet habe, um ihr Scheitern zu diagnostizieren. Vgl. dazu Steiner, Walter Benjamins »Wendung zum politischen Denken«, 53. 102 Benjamin an Ernst Schoen, 7. April 1919, zit. nach ders., GB 2, 22–24, hier 23; vgl. dazu auch Steiner, Zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte, 180. 103 Benjamin an Ernst Schoen, 29. Januar 1919, zit. nach ders., GB 2, 10–13, hier 10.

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Auch die Ereignisse nach dem Krieg werden zumeist nur am Rande berührt. Noch die Münchner Räterepublik des Frühjahres 1919 etwa erwähnte Benjamin kaum. Als er aber mitgeteilt bekam, dass sein Studienfreund, Felix ­Noeggerath, in München »wegen Hochverrats im Gefängnis sitzt«, da zeigte er Scholem gegenüber, bei dem er sich nach weiteren Nachrichten erkundigte, seine größte »Entrüstung« und konstatierte: »Auch sonst bestätigt alles die finsteren Zustände. Sehen Sie sich z. B. mal die ›Republik‹ an, welche nicht zu übertreiben scheint.«104 Solche Äußerungen blieben jedoch selten und setzten zumeist einen persönlichen Bezug voraus. Trotz dieser Abschottung gegen die Ereignisse kam im Frühjahr 1919 erneut die Frage nach der Politik auf.105 »Ich habe viel für mich nachgedacht und dabei Gedanken gefasst, die so klar sind, daß ich hoffe, sie bald niederlegen zu können. Sie betreffen die Politik«,106 kündigte Benjamin im September des Jahres Schoen an und setzt die besagten Gedanken mit dem Buch in Verbindung, das und dessen Autor er eben im Frühjahr 1919 in der Schweiz kennengelernt hatte, mit dem Geist der Utopie von Bloch. Dessen »Gespräche [richteten sich] so oft gegen meine Ablehnung jeder heutigen politischen Tendenz […], daß sie mich endlich zur Vertiefung in dieser Sache nötigten«,107 so charakterisierte Benjamin seinen Gedankenaustausch mit Bloch und stellte gleich eine Deutung von dessen Schrift anbei: »Ungeheure Mängel liegen zutage. Dennoch verdanke ich dem Buch Wesentliches und zehnfach besser als sein Buch ist sein Verfasser.«108 Im Nachgang dieser Begegnung plante er, zum angezeigten Themenkomplex mehrere Schriften zu verfassen, und sein Interesse koinzidierte mit einem bezeichnenden Ortswechsel. Im März 1920 reiste er nach Berlin, um mit seinen Eltern etwaige Habilitationswünsche in der Schweiz (aus seiner Sicht) – die finanziell schwieriger werdende Lage (aus Sicht der Eltern) – zu besprechen, und kam nach einem Zerwürfnis über die kollidierenden Ansprüche bei einem Freund 104 Ders. an Gershom Scholem, 15. Juni 1919, zit. nach ebd., 28. 105 Dass die Überlegungen zur Politik nicht durch die Ereignisse dieser Zeit, sondern durch Blochs Geist der Utopie angestoßen wurden, betont auch Uwe Steiner. Vgl. dazu ders., Walter Benjamins »Wendung zum politischen Denken«, 46. 106 Benjamin an Ernst Schoen, 19. September 1919, zit. nach ders., GB 2, 46–49, hier 46. 107 Ebd. 108 Ebd. Mit dem Wesentlichen meinte Benjamin wohl v. a. dessen Position zur Theokratie. Benjamin verfasste eine Rezension zu Blochs Werk, die verschollen ist. Aber eine in Hillers Das Ziel 1920 publizierte Rezension von Salomo Friedlaender, die Benjamin sehr lobte und die unter dem bezeichnenden Titel Der Antichrist und Ernst Bloch veröffentlicht wurde, gibt Aufschluss über den Intensitätsgrad der kritischen Haltung Benjamins gegenüber Blochs Werk. Friedländer, Der Antichrist und Ernst Bloch; neben der Rezension von Friedlaender ist auch der Brief an Scholem zu betrachten. Vgl. zum Gesamtkomplex Steiner, Walter Benjamins »Wendung zum politischen Denken«, 46–49.

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unter.109 So entstanden die politischen Texte auch unter dem Eindruck dieser Rückkehr. Geplant und partiell fertiggestellt war insbesondere ein umfangreicher Essay, dessen erster Teil im Dezember abgeschlossen wurde. »Der ›wahre Politiker‹ ist abgeschrieben«, konnte Benjamin Scholem am 29. des Monats berichten. »Hoffentlich kommt er bald zum Druck. Nach Neujahr will ich die beiden folgenden Arbeiten, welche mit ihm zusammen die ›Politik‹ ausmachen sollen, schreiben.«110 Den zuerst angesprochenen Text versuchte Benjamin noch über Jahre erfolglos zur Publikation zu bringen. Danach sollte allem Anschein nach der zweite Teil in Angriff genommen werden, den Benjamin als Die wahre Politik bezeichnete und für den zwei Kapitel geplant waren, mit den Titeln: Abbau der Gewalt und Teleologie ohne Endzweck.111 Und schließlich dachte er wohl noch an, einen dritten zur »philosophische[n] Kritik des Lesabéndio« von Paul Scheerbart zu verfassen.112 Während die zweite für Die wahre Politik angedachte Kapitelüberschrift die Zentralität geschichtsphilosophischer Motive in den politischen Überlegungen Benjamins offenlegte, deutete die erste bereits auf den einzig erhalten gebliebenen Text aus dem Umfeld der »Politik« hin. Als Benjamin im Januar 1921 Zur Kritik der Gewalt verfasste, stand dieser Text damit zwar im Zusammenhang seiner politischen Überlegungen, aber dennoch ist er eine Auftragsarbeit. Von Emil Lederer für die Weißen Blätter angefragt, wurde er ein halbes Jahr nach der Niederschrift abgedruckt – indes nicht im anvisierten Periodikum. Das Sonderheft Soziologische Probleme der Gegenwart der Weißen Blätter erschien im Frühjahr 1921 und der Gewaltfrage ist in der Ausgabe ein Artikel Lederers gewidmet, der den Titel Soziologie der Gewalt trägt. Benjamins Text war für die Weißen Blätter als zu lang und wohl auch zu komplex angesehen worden.113 So wurde Zur Kritik der Gewalt stattdessen im zu dieser Zeit ebenfalls von Lederer herausgegebenen Archiv für Sozial­ wissenschaft und Sozialpolitik nach zwei postum veröffentlichten Texten abgedruckt: einem von Max Weber und einem von Karl Marx und Friedrich

109 Benjamin kam mit seiner Frau Dora und dem am 11. April 1918 geborenen Sohn Stefan vorerst bei Erich Gutkind in Berlin-Grünau unter. Vgl. u. a. Benjamin an Gershom Scholem, 26. Mai 1920, zit. nach ders., GB 2, 87–90. 110 Ders. an Gershom Scholem, 29. Dezember 1920, zit. nach ders., GB 2, 117–120, hier 119. 111 Neben dem Essay gehört wohl auch eine kurze, im April 1920 geschriebene Notiz mit dem Titel Leben und Gewalt zur »Politik«, die aber auch verschollen ist. Zum Gesamtprojekt der Politik vgl. Tiedemann / Schweppenhäuser, Anmerkungen zu Seite 179–203 »Zur Kritik der Gewalt«, in: Benjamin, GS 2.3, 943–946, bes. 943; zur kurzen Notiz vgl. auch Benjamin an Gershom Scholem, 17. April 1920, zit. nach ders., GB 2, 84–86, hier 85. 112 Darin wollte sich Benjamin insbesondere auch zu Friedlaenders Bloch-Kritik äußern. Benjamin an Gershom Scholem, 1. Dezember 1920, zit. nach ders., GB 2, 109. Vgl. dazu auch Steiner, Walter Benjamins »Wendung zum politischen Denken«, 56 f. 113 Lederer, Soziologie der Gewalt.

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Engels.114 Diese Folge mochte den Anschein einer Nähe erwecken und Benjamin fügte zum Ende seines Briefes an Scholem vom 29. Dezember einen Literaturhinweis an, der diesen Anschein noch verstärkte: »[D]ie Briefe […] die Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis während des Krieges geschrieben hat«, dem er noch hinzusetzte, dass er »von deren unglaublicher Schönheit und Bedeutung ganz betroffen war«.115 Aber auch wenn er sich von den Briefen tief beeindruckt zeigte  – die freilich weniger dem Arbeiterkampf als vielmehr der persönlichen Situation in den Haftanstalten während des Krieges und den Naturbetrachtungen Goethes gewidmet waren –, befasste sich Benjamin noch nicht selbst mit Marx und dem Marxismus.116 Dem kam vorerst nur übertragene Präsenz in seinen Überlegungen zu. In gewissem Sinn setzte sich Benjamin in Zur Kritik der Gewalt vermittels seiner neuen politischen Reflexionen vielmehr noch mit seinen alten, an der Schwelle der jugendbewegten Jahre stehenden geistespolitischen Kontexten auseinander. So rekurrierte er auf einen Aufsatz von Kurt Hiller aus Das Ziel von 1919 mit dem Titel Anti-Kain und den gerade 1921 publizierten Text P ­ olitik und Metaphysik von Erich Unger, der dem Kreis um Hiller nahegstanden hatte, und dessen zwei Vorlesungen zum Thema Benjamin im Januar 1921 hörte.117 Diese beiden rückte er neben eine zur Zeit seiner Lektüre bereits mehrfach aufgelegte, sechs Jahre vor dem Krieg zuerst veröffentlichte Schrift mit dem Titel Réflexions sur la violence von George Sorel. In diesem Text war Sorel noch syndikalistisch geprägt  – 1919 aber längst (proto-)faschistischen Strömungen zugeneigt  –, so sind dem wohl die Erwähnungen von Marx in Benjamins Text geschuldet. Und schließlich scheint noch Cohens Ethik des reinen Willens darin auf. Von einer Fußnote zur Kritik des kategorischen Imperativs Kants abgesehen, erschöpfen sich die weiterführenden Angaben in den Fußnoten in diesen vier Referenzen.118 114 Benjamin, Zur Kritik der Gewalt (1921), nachfolgend zit. nach ders., GS 2.1, 179–203. 115 Ders. an Gershom Scholem, 29. Dezember 1920, zit. nach ders., GB 2, 120. 116 Soweit es nachvollziehbar ist, standen vor seiner Lektüre von Geschichte und Klassenbe­ wusstsein 1924 Texte, die Marx zwar berührten, die sein Denken aber nicht ins Zentrum rückten, wie etwa die Briefe Luxemburgs oder auch das letzte Kapitel von Geist der Uto­ pie. Erstere besinnen sich eher auf Goethe denn auf Marx und Letzteres stellte vor allem eine Auseinandersetzung mit apokalyptischen Motiven dar. Vgl. Luxemburg, Briefe aus dem Gefängnis; Bloch, Geist der Utopie, 391–445. 117 Vgl. Benjamin an Gershom Scholem, Januar 1921, zit. nach ders., GB  2, 127 f., sowie Gödde / L onitz, Anmerkungen zu dem Brief an Scholem vom Januar 1921, in: ebd., 133–135, hier 133. 118 Dennoch dürften auch andere Arbeiten Eingang in das Werk gefunden haben, so insbesondere ein kurzer Aufsatz aus den Blättern für religiösen Sozialismus von 1920 mit dem Titel das Recht zur Gewaltanwendung von Herbert Vorwerk. Von diesem Text fertigte Benjamin ein ausführliches kommentierendes Exzerpt an, in dem die auch in Zur Kritik der Gewalt das Leitmotiv bildende Frage nach dem Verhältnis von Gewalt und Recht aufgeworfen wird. Benjamin, Das Recht zur Gewaltanwendung. Blätter für religiösen Sozialis-

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Die Reihung von Sorel über Hiller und Unger bis zu Cohen bildet einen merkwürdigen Zusammenhang. Diese Zitation kann als Emblem der widerspruchsvollen gedanklichen Lage gesehen werden. Während Sorels Reflexion des politischen und proletarischen Generalstreiks ihre Entsprechung in den Tageszeitungen hatte, in denen sich 1918 und 1919 Aufrufe zum und Berichte über den Generalstreik häuften, setzt sich Hillers als Plädoyer für Gewaltlosigkeit gedachter Artikel Anti-Kain mit diesen Geschehnissen in der gerade entstandenen Weimarer Republik, mithin der Gewalt auf den Straßen, auseinander. Sorels Vorstellung einer Neubegründung menschlichen Zusammenlebens durch Gewalt bezog sich auf die Veränderung von Gesellschaft insgesamt, Hiller dachte über einzelne Gewaltakte nach – beide Aspekte fanden Eingang in Benjamins Überlegungen. In Ungers Politik und Metaphysik wird dagegen das »psycho-physische Problem« aufgeworfen, das Benjamin auf einer anderen Ebene umtrieb.119 Die Frage, wie sich Geistiges und Leibliches zueinander verhalten, spiegelte nicht zuletzt die Schwierigkeit, historische Ereignisse mit geschichtsphilosophischem Denken in Einklang zu bringen, wider. Zumindest stellte Unger eine an Nietzsche erinnernde Geschichtsreflexion an den Anfang seiner esoterischen Überlegungen zur Politik,120 wenn er zur »fundamentalste[n] Voraussetzung« nahm, »jede scheinbare ›Annäherung‹ an einen irgendwie ›idealen Zustand‹ als ein Auf-der-Stelle-treten zu durchschauen und jedes dahin-zielende Manöver auf das schärfste abzulehnen«.121 Auch dieser Text verweist gerade aufgrund der Kritik an der Annäherungsvorstellung auf den Verlust einer sinnvoll zu denkenden Geschichte, was Unger letztlich mit einer nachgerade archaisch anmutenden Kollektivkonstruktion kompensierte.122 Die Eröffnung der Schrift ließ noch den Anlass für Benjamins und Scholems erste Begegnung nachklingen, den im Sommer 1915 gehaltenen Vortrag Hillers, in dem dieser die Geschichte in der Tradition Nietzsches zu überwinden suchte. Auch sind die Beispiele, die Benjamin in Zur Kritik der Gewalt wählte, recht affin zu denen, die Hiller in dem von Benjamin zitierten Aufsatz anführte. Der Gewalttext kann so als späte Abrechnung mit dem pazifistischen Aktivismus Hillers gesehen werden.123 Die Beispiele sind mus I 4 (Exzerpt), zit. nach ders., GS 6, 104–108; vgl. auch Tiedemann / Schweppenhäuser, Anmerkungen zu Seite 104–108 »(fr 76) Das Recht zur Gewaltanwendung«, in: ebd., 691 f. 119 Vgl. Benjamin an Gershom Scholem, Januar 1921, zit. nach ders., GB 2, 128. 120 Zu Ungers kritischer Nietzsche-Rezeption vgl. Voigts, Jüdisches Denken im Frühexpressionismus. 121 Unger, Politik und Metaphysik, 4. 122 Vgl. ebd., 29 f. Vgl. zu Ungers archaistischer Lösung des »psycho-physischen Problems« auch Steiner, Walter Benjamins »Wendung zum politischen Denken«, 59 f. 123 Auch Jean-Michel Palmier stellt die Überlegung in den Raum, dass Benjamin sich bereits in früheren Passagen des Aufsatzes implizit mit Hillers Thesen auseinandergesetzt haben könnte. Vgl. dazu Palmier, Walter Benjamin, 402.

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aber zugleich mehr. Mit der Bebilderung der Reflexion auf die Verbindung von Gewalt und den Grenzen der Rechtsordnung fanden schließlich die Ereignisse Eingang in Benjamins Denken, die er, als sie sich zwei Jahre zuvor ereigneten, noch auf Abstand gehalten hatte. Das bei Weitem umfangreichste Werk, das von Benjamin herangezogen wurde, ist Cohens Ethik des reinen Willens, das am wenigsten in die Reihung passen wollte. Auch nur in einer kurzen Ausführung zum Mythos verwies er darauf – aber gerade diese Bezugnahme hat etwas Auffälliges. Benjamin hatte, wie die Schriften von Unger und Sorel, auch Cohens Ethik für seinen Text eigens angefordert, aber anderes erwartet. So teilte er im Januar 1921 Scholem seinen Lektüreeindruck mit – in einem Brief, dessen Fertigstellung mehrerer Wochen bedurfte und die Zeit der Reinschrift seines Gewaltessays umfasste: »Was ich aber da gelesen habe, hat mich sehr betrübt. Offenbar ist bei Cohen die Ahnung des Wahren so stark gewesen, daß es der unglaublichsten Sprünge bedurft hat, um ihr geradezu den Rücken zuzuwenden.«124 So dürfte er sich erhofft haben, bei Cohen seine Vorstellung der Geschichtsphilosophie als Kristallisationspunkt von Philosophie und Lehre wiederzufinden. Seine Enttäuschung deutete auf die gesuchte Neufiguration von Geschichte in der Zeit der Krise. Benjamin wollte zwar in der Geschichte das Motiv von Transzendenz aufrechterhalten – und diese nicht nur in christlicher Tradition fundiert sehen  –, konnte aber keinen fortschrittsoptimis­ tischen Geschichtsverlauf mehr denken. Trotz der Einschätzung, dass Cohen der Wahrheit den Rücken zugekehrt habe, hielt er dennoch an einem kurzen Rekurs auf diesen fest.125 Zwar rezipierte Benjamin in Zur Kritik der Gewalt primär Sorels Konzept des proletarischen Generalstreiks und sah darin den Grenzwert der Gewalt innerhalb der ihm gegenwärtigen Rechtsordnung. Aber zugleich wandte er sich implizit gegen dessen Vorstellung des Mythos. Während Sorel auch 124 Benjamin an Gershom Scholem, Januar 1921, zit. nach ders., GB  2, 130. Zu den Gemeinsamkeiten des jungen Benjamin mit Cohen hat Astrid Deuber-Mankowsky 2000 die Studie Der frühe Walter Benjamin und Hermann Cohen vorgelegt. Hier geht es im Kontrast dazu um die Unterscheide, oder genauer: um das, was Cohen für Benjamin bedeutete, und damit um die historische Distanz zwischen ihnen. Vgl. dies., Der frühe Walter Benjamin und Hermann Cohen. 125 Benjamin zitiert aus dessen »flüchtige[r] Betrachtung der alten Schicksalsvorstellung«, nach der es die »Ordnungen selbst sind, welche dieses Heraustreten, diesen Abfall zu veranlassen und herbeizuführen scheinen«. Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, zit. nach ders., GS 2.1, 198 f. Bei Cohen geht es an der von Benjamin zitierten Stelle um den Mythos, um Gut und Böse und um das Wunder, wenn es heißt: »Und das Wunder steigert sich dadurch, dass es nicht nur ein Heraustreten aus diesen Ordnungen ist, als welches das Böse sich darstellt; sondern dass es diese Ordnungen selbst sind, welche das Heraustreten, diesen Abfall zu veranlassen und herbeizuführen scheinen. Durch diese Einsicht, die unausweichlich wird, verstärkt sich das Staunen über diese Ausnahmen von dem Herkommen, die so zu einem lebendigen Wunder werden.« Cohen, Ethik des reinen Willens (1907), 362.

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monotheistische Vorstellungen unter den Begriff subsumierte und ihn für den gegen die Demokratie gerichteten Kampf funktionalisierte, rekurrierte Benjamin zu Beginn des Jahres 1921 auf etwas Göttliches, um den Mythos zu beschränken, indem er schrieb: »Wie in allen Bereichen dem Mythos Gott, so tritt der mythischen Gewalt die göttliche entgegen. Und zwar bezeichnet sie zu ihr der Gegensatz in allen Stücken.«126 Das grundlegende Problem der Rechtfertigung von Gewalt in der und gegen die herrschende Rechtsordnung beantwortete Benjamin im Nachdenken über die Revolution so letztlich mit der Reflexion einer die menschlichen Angelegenheiten überschreitenden göttlichen Gewalt, die »rechtsvernichtend« wirke. Die mythische Gewalt, die Sorels Vorstellung des Mythos nachhallen lässt, wird damit eingehegt. Dies deutet an, welche »Ahnung des Wahren« Benjamin bei Cohen zu finden gehofft hatte. In der Ethik des reinen Willens wird im Gegensatz zu der Schrift Sorels der Gottesgedanke gerade nicht mit einer säkularisierenden Interpretation des Mythos überschrieben. Die kurze, distanzierte Bezugnahme auf Cohen verweist vermittels der folgenden Entgegensetzung von Gott und Mythos und der dem Ende zugedachten Feststellung, dass die »Kritik der Gewalt […] die Philosophie ihrer Geschichte« sei,127 noch auf die zunächst gesuchte Verbindung von Wahrheit und Geschichte zurück. So setzte ­Benjamin seine Hoffnung in die »Durchbrechung« des »Umlaufs der mythischen Rechtsform« – mitsamt der »Staatsgewalt« –, durch die sich ein »neues geschichtliches Zeitalter« einleiten könne.128 In Notizen, die allem Anschein nach im Kontext des verschollenen Essays Der wahre Politiker stehen, insinuierte Benjamin diesem Bezugsgefüge entsprechend, dass vielleicht »der tiefste Gegensatz zu ›Welt‹ nicht ›Zeit‹ sondern ›die kommende Welt‹« sei.129 Damit betont er in Abgrenzung zum bloß zeitlichen das weltliche qualitativ Neue in der erhofften, noch an die biblische Verheißung gemahnenden, aber schon im Verstehenszusammenhang von Säkularisierung begriffenen Erfüllung, die sich im Wortsinn des Utopischen erhielt. Im Nachgang der Verhältnisbestimmung stellte Benjamin in den Notizen so seine dieser Übertragung entsprechende »Definition von Politik« auf. Er verstand darunter: »die Erfüllung der ungesteigerten Menschhaftigkeit« und charakterisierte zugleich »das Gebiet der Politik« als das »Profane«.130 Mit dem von Theodor W. Adorno benannten und wahrscheinlich in 126 Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, zit. nach ders., GS 2.1, 199. 127 Ebd., 202. 128 Ebd. 129 Benjamin, Zur Geschichtsphilosophie, Historik und Politik (fr 73), zit. nach ders., GS 6, 98–100, hier 99. 130 Ebd. Daniel Weidner liest diese Stelle zusammen mit dem Theologisch-politischen Frag­ ment in der auf die Frage der Säkularisierung fokussierten Einleitung zu Profanes Leben. Vgl. dazu ders., Einleitung, 9.

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der Zeit bald nach Zur Kritik der Gewalt verfassten Theologisch-politischen Fragment,131 in dem Benjamin explizit auf Blochs Geist der Utopie verwies, setzte er sich schließlich mit der Wirkung der sakralen Ordnung im Profanen auseinander. Darin subsumierte er das profane Glücksstreben reziprok einer messianischen Reflexion des »Reichs Gottes«, an dessen Gedanken die Ordnung des Profanen gerade nicht aufgerichtet werden könne, und schloss seine geschichtsphilosophischen Überlegungen mit dem Postulat einer nihilistischen »Weltpolitik«.132 Das kryptisch anmutende Fragment zeugt so von einer Verdichtung des  – für Benjamin spätestens seit seiner Dissertationsschrift – grundlegenden Problems der Hoffnung auf eine Realisation des »Reichs Gottes« auf Erden im Spannungsverhältnis zur mit der Französischen Revolution ansetzenden »modernen Geschichte«.

Übertragung im Ursprung In einem Bericht zu ihrer ersten Begegnung mit Benjamin auf Capri im Sommer 1924 erinnerte sich die lettische Schauspielerin Asja Lācis, für die ­Benjamin über Jahre starke Zuneigung empfand, dass Benjamin zum Ur­ sprung des deutschen Trauerspiels, an dem er zu dieser Zeit intensiv arbeitete und mit dem er sich habilitieren wollte, gesagt habe: »Ich zeige den prinzipiellen Unterschied zwischen Tragödie und Trauerspiel.«133 Benjamin habe die Differenz darin gesehen, dass »[d]ie Dramen des Barock […] Verzweiflung und Verachtung der Welt aus[drücken] – sie sind traurige Spiele. Während die Haltung der griechischen und der eigentlichen Tragiker der Welt und dem Schicksal gegenüber unbeugsam bleibt.«134 Für Benjamin war – was er gegenüber Lācis wohl noch nicht anführte, aber in seiner Arbeit zum zentralen Gedanken erhob – die Unterscheidung auf diejenige Verweltlichung gerichtet, die in einer Apotheose von Irdischem sich spiegelte und deren paradigmatischer Ausdruck die dem Schwindenden gewidmete Allegorie war.135 In Lācis Retrospektion pointierte er jedoch die literarische Bedeutung dieser Veränderung: »Die Barockdramatik ist tatsächlich der Ursprung der in der deutschen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts verbreiteten 131 Zur Benennung wie auch zur Datierung vgl. Tiedemann / Schweppenhäuser, Anmerkungen zu Seite 203 f. »Theologisch-politisches Fragment«, in: Benjamin, GS 2.3, 946–949. 132 Vgl. ders., Theologisch-politisches Fragment, zit. nach ders., GS 2.1, 203 f. 133 Diese Passage wird u. a. auch in der editorischen Anmerkung zum Trauerspielbuch in den Gesammelten Schriften wiedergegeben, hier aber zit. nach Lācis, Capri 1924, 135. 134 Ebd. 135 Dies wird im zweiten Teil von Ursprung des deutschen Trauerspiels mit dem Titel Allego­ rie und Trauerspiel ausgeführt. Vgl. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, zit. nach ders., GS 1.1, 336–409.

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traurigen Spiele.«136 Lācis, die nach eigener Angabe nicht zufrieden war mit den Ausführungen zur Problemstellung des Themas, fragte nach den Klasseninteressen in der Weltanschauung der Barockdramatiker und Benjamin antwortete in ihrer Erinnerung noch unbestimmt, setzte aber hinzu, dass er Geschichte und Klassenbewusstsein von Georg Lukács lese und beginne, sich für eine materialistische Ästhetik zu interessieren.137 Das damit verbundene, neue politische Problem wurde allerdings nur zögerlich Teil seines Nachdenkens und erst in den 1930er Jahren virulent. Wenngleich er Ursprung des deutschen Trauerspiels inmitten seiner Hinwendung zu Karl Marx verfasste, darin eine dem Ursprung zugeordnete »Dialektik« (im Rekurs auf Hegel) betrachtete und die Vergöttlichung im Barock als »dialektisch« begriff,138 floss diese Denkbewegung nicht unmittelbar in das Werk ein. Den Sommer 1924 verbrachte Benjamin zwar auf Capri, auch weil die Lebenshaltungskosten dort geringer waren, und weilte noch oft in Berlin, aber sein Arbeitsmittelpunkt lag zu dieser Zeit in Frankfurt am Main. Mit seinen Habilitationsbestrebungen war er zu Beginn der 1920er Jahre nicht in die Schweiz zurückgegangen – vermutlich aufgrund finanzieller Schwierigkeiten –, sondern in die Stadt, die bis zu seiner Emigration im März 1933 ein Zentrum seines Wirkens bilden sollte.139 Nach anfänglichen Problemen, in dem neuen akademischen Umfeld Anschluss für die weitere Qualifikation zu finden, gelang es ihm schließlich, den Ordinarius für deutsche Literaturgeschichte Franz Schultz als Befürworter seines Vorhabens zu gewinnen.140 Dessen (ohnehin nicht weit genug gehende)  Unterstützung währte jedoch nicht bis zum Ende. Hinzu kam die zunehmend prekäre ökonomische Lage.141 Die schon unter widrigen akademischen Bedingungen begonnene Arbeit wurde so unter desolaten abgeschlossen. Schultz drängte Benjamin, seine Arbeit im Fachbereich Ästhetik einzureichen. Das Dekanat bestimmte den außerordentlichen Professor Hans Cornelius zum ersten Gutachter und Schultz war fortan nicht mehr am Ausschuss beteiligt. Von der Ästhetik 136 Lācis, Capri 1924, 135. 137 Vgl. ebd., 136. 138 Vgl. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, zit. nach ders., GS 1.1, 226 und 337; und knapp zu Hegels Dialektik 212. Andreas Greiert widmet sich diesem spezifischen Thema zwar nur in einem kurzen Unterkapitel, aber den Implikationen des Ursprungs insgesamt in einem ausführlichen Kapitel. Ders., Erlösung der Geschichte vom Darstellenden, 213–274, bes. 266–268. 139 Vgl. Tiedemann / Schweppenhäuser, Anmerkungen zu Seite 203–430 »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: Benjamin, GS 1.3, 868–981, bes. 868–872. 140 Vgl. dazu Lindner, Habilitationsakte Benjamin, 326. Burkhardt Lindner berichtet in Rekurs auf Werner Fulds Benjamin-Biografie, dass eben »derselbe Professor Schultz [1933] im Talar an der Bücherverbrennung« teilnahm. Ebd., 329. 141 Vermittelt wurde dies von Gottfried Salomon. Vgl. Tiedemann / Schweppenhäuser, Anmerkungen zu Seite 203–430 »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, 874.

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als Disziplin, deren Status an der Frankfurter Universität noch unsicher war, konnte Benjamin weniger erwarten als von der Germanistik.142 Aber dies war nicht sein primäres Problem. Vielmehr stellte es sich heraus, dass Cornelius den Text »schwer zu lesen« fand, wie er sein auf den 7. Juli 1925 datiertes Gutachten eröffnete.143 Er habe daher »die Bitte, in einem kurzen Auszug den kunstwissenschaftlichen Inhalt der Arbeit wiederzugeben«, an Benjamin gerichtet, wie er in eben dem offiziellen Dokument angab, »aber es ist mir abermals nicht gelungen diese Darlegungen zu verstehen«.144 Die für Cornelius überlieferte Unverständlichkeit war auch der Grund für seine Einschätzung, dass Benjamin »den Studirenden [sic] kein Führer auf diesem Gebiet sein kann«, womit das Gutachten schloss.145 Diese Beurteilung besiegelte das Ende von Benjamins akademischem Werdegang, sah er sich damit doch genötigt, sein Habilitationsgesuch zurückzuziehen. Obwohl die an Cornelius gesandte kurze Erörterung der Gesamtarbeit, die der Klärung des Forschungsanliegens dienen sollte, ihren Zweck bei dem neuen Gutachter verfehlte, gab Benjamin in dieser in bezeichnender Weise Auskunft über sein Unterfangen. In Stichpunkten führte er die Grundlinien seiner Arbeit aus und der erste, ausführlichere (mehr als einen Satz umfassende)  IV. Passus war der eigenen Geschichtskonzeption gewidmet. Darin hob Benjamin gerade den Begriff des Ursprungs hervor, der titelgebend geworden war. Definitorisch eröffnete er diesen Absatz: »Ursprung, wiewohl durchaus historische Kategorie, hat mit Entstehung dennoch nichts gemein. Im Ursprung wird kein Werden des Entsprungenen vielmehr dem Werden und Vergehen Entspringendes gemeint.«146 Diese Überlegung deutete ­Benjamin im Trauerspielbuch in dem Bild des Strudels weiter aus, das er auch 1931 heranzog. Im Aufriss erwähnte er diesen Aspekt der Metapher zwar nicht, rekurrierte aber auf deren Grundgefüge: »Der Ursprung steht im Fluß 142 Vgl. dazu Lindner, Habilitationsakte Benjamin, 328 f. 143 Cornelius, Erstes Referat über die Habilitationsschrift von Dr. Benjamin, zit. nach Lindner, Habilitationsakte Benjamin, 332 f., hier 332. Cornelius erwähnt darin auch, dass er Horkheimer die Arbeit zu lesen gegeben habe, wodurch Horkheimers Einwand vom März 1937, dass die Betrachtung der Vergangenheit als Unabgeschlossene theologisch wäre, eine weiter zurückreichende Dimension erhält, als die Auseinandersetzung um Benjamins Text Eduard Fuchs. Der Sammler und der Historiker vermuten ließe. Zur Kritik vom März 1937 vgl. Horkheimer an Walter Benjamin, 16. März 1937, zit. nach ders., Gesammelte Schriften 16, 81–88, hier 83. 144 Cornelius, Erstes Referat über die Habilitationsschrift von Dr. Benjamin, zit. nach Lindner, Habilitationsakte Benjamin, 332. 145 Ebd., 333. 146 Benjamin, Exposé, zit. nach Tiedemann / Schweppenhäuser, Anmerkungen zu Seite 203– 430 »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: Benjamin, GS 1.3, 950–952, hier 950. Diese Zeilen und die in den folgenden beiden Zitaten übernahm Benjamin wörtlich aus ders., Erkenntniskritische Vorrede, in: Ursprung des deutschen Trauerspiels, zit. nach ders., GS 1.1, 226.

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des Werdens und reißt in seine Rhythmik das Entstehungsmaterial hinein. Im nackten offenkundigen Bestand des Faktischen gibt das Ursprüngliche sich niemals zu erkennen und einzig einer Doppeleinsicht steht seine Rhythmik offen.«147 Eben diese Doppeleinsicht findet ihren Nachhall in Über den Begriff der Geschichte, aber bereits Mitte der 1920er Jahre postulierte ­Benjamin: »Sie will als Restauration, als Wiederherstellung einerseits, als eben darin Unvollendetes, Unabgeschlossenes andererseits erkannt sein.«148 Die noch an den Poeschen »Maelström« erinnernde Metapher des Strudels stellte zwar von Anfang an keine sonderlich hoffnungsvolle Denkfigur dar und auch im Trauerspielbuch wurde damit eine Stauung des Geschichtsverlaufs angestrebt, aber die Trümmer, die sich in den geschichtsphilosophischen Thesen zur Katastrophe türmten, waren Mitte der 1920er Jahre noch nicht ins Zentrum gerückt. Noch war nicht die Vorstellung der erst durch die Ankunft des Messias erlösten Menschheit letztes Korrektiv des Geschehens, sondern die »Rettung der Phänomene« leitete Benjamins Gedankengang.149 In der Erkenntniskritischen Vorrede zum Trauerspielbuch, der Benjamin für die erbetene Zusammenfassung die Sätze über den Ursprung (in leichter Abwandlung) entnahm, setzte er so die Überlegung zu Wiederherstellung und Unabgeschlossenheit in signifikanter Wortwahl fort: »In jedem Ursprungsphänomen bestimmt sich die Gestalt, unter welcher immer wieder eine Idee mit der geschichtlichen Welt sich auseinandersetzt, bis sie in der Totalität ihrer Geschichte vollendet daliegt.«150 In seiner Dissertationsschrift hatte Benjamin noch betont, ein »metahistorisches Problem« behandelt zu haben. Nun wurde auf der einen Seite die »heilsgeschichtliche« Vorstellung der Romantik selbst historisiert und auf der anderen der Geschichte ein neuer Stellenwert zugewiesen.151 Dafür benannte Benjamin die seinem Begriff eingeschriebene geschichtliche Welt des 19. Jahrhunderts, aus deren Paradigmen heraus er dachte. Als Signum dessen steht die Reflexion des Ursprungs hinter einer fundamentalen Problematisierung des Postulats Rankes. Die Lösungen der »Fragen echter Methodik« führen – eröffnete Benjamin einen dreifach gewendeten Gedanken – über eine »Revision der Fragestellung […], die in der Erwägung formulierbar ist, wie die Frage: Wie es denn eigentlich gewesen sei? sich wissenschaftlich nicht sowohl beantworten als vielmehr stellen lasse«.152 Damit richtete er sich gegen einen »wissenschaftlichen 147 Benjamin, Exposé, zit. nach Tiedemann / Schweppenhäuser, Anmerkungen zu Seite 203– 430 »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: Benjamin, GS 1.3, 950. 148 Ebd. 149 Benjamin, Erkenntniskritische Vorrede, in: Ursprung des deutschen Trauerspiels, zit. nach ders., GS 1.1, 214. 150 Ebd., 226. 151 Vgl. u. a. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, zit. nach ders., GS 1.1, 337. 152 Ders., Erkenntniskritische Vorrede, zit. nach ebd., 222.

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Verismus«,153 indem er die Bedingungen der Möglichkeit geschichtlichen Wissens aufrief, und kompensierte so vorerst das historistische Krisen­ phänomen in philosophischer Manier. Die Erkenntniskritische Vorrede, die Benjamin nur in Teilen einreichte, sei, wie er Scholem im Februar 1925 selbstironisch und ein wenig stolz mitteilte, »eine maßlose Chuzpe – nämlich nicht mehr und nicht weniger als Prolegomena zur Erkenntnistheorie, so eine Art zweites, ich weiß nicht, ob besseres, Stadium der frühen Spracharbeit, die Du kennst, als Ideenlehre frisiert«.154 Was als kunstphilosophische Reflexion gedacht war, erhielt damit einen allgemeinen philosophischen Ansatzpunkt. So rekurrierte Benjamin darin auf die klassische Philosophiegeschichte von Platon bis Hegel und plädierte in kritischem Ausgang vom Systemgedanken dafür, die Aufteilungen der philosophischen Bereiche als »Denkmale einer diskontinuierlichen Struktur der Ideenwelt« anzusehen.155 Zur Beschreibung dieser Vorstellung in ihrem Verhältnis zu den Dingen wählte er ein der Naturbetrachtung entlehntes Gleichnis: »Die Ideen verhalten sich zu den Dingen, wie die Sternbilder zu den Sternen.«156 Nicht mehr der Unterschied von Schein und Wesen war von Interesse, sondern die Dinge in ihrer Konstellation wurden befragt. Um seine erkenntnistheoretische Vorbereitung in diesem Sinne von den vergangenen philosophischen abzugrenzen, berief sich Benjamin auf Goethe, unter dessen Ägide die Vorrede steht.157 Bereits in Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik verwies er auf die Bedeutung Goethes für seine eigene Reflexion. So schrieb er an Schoen im Mai 1919: »Ich habe zu ihr [der Dissertationsschrift] ein esotherisches [sic] Nachwort für die geschrieben, denen ich sie als meine Arbeit mitzuteilen hätte.«158 Benjamin, der dem Freund gegenüber auch äußerte, dass er der akademischen Form geschuldet den geschichtsphilosophischen Aspekt habe beiseitelassen müssen, aber hoffe, dass für kluge Leser erkennbar sei, was er durch sie gelernt 153 Ebd. 154 Benjamin an Gershom Scholem, 19. Februar 1925, zit. nach ders., GB 3, 13–18, hier 14. So ließ er wohl den philosophischen Teil weg. Vgl. Tiedemann / Schweppenhäuser, Anmerkungen zu Seite 203–430 »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: Benjamin, GS 1.3, 924. 155 Benjamin, Erkenntniskritische Vorrede, in: Ursprung des deutschen Trauerspiels, zit. nach ders., GS 1.1, 213. 156 Ebd., 214. Vgl. zu dieser Metapher Benjamins Auffassung von Idee und zu seinem Konzept des Ursprungs u. a. Mosès, Ideen, Namen, Sterne. 157 Benjamin, Erkenntniskritische Vorrede, in: Ursprung des deutschen Trauerspiels, zit. nach ders., GS 1.1, 207. Vgl. Benjamin an Gershom Scholem, 19. Februar 1925, zit. nach ders., GB 3, 14. 158 Benjamin an Ernst Schoen, 14. Mai 1919, zit. nach ders., GB 2, 25 f., hier 26 (Hervorhe­ bung im Original). Vgl. dazu auch Steiner, Zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte, 181.

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habe, verstand wohl ein an den Schluss gestelltes Kapitel zu Goethe als dieses Nachwort. Darin nahm er die Reflexionen des Dichters über Ideal, Urbild und Urphänomen im Spannungsfeld zur Idee der Kunst in der Romantik als Pforte für sein eigenes Denken.159 Am Ausgang des Krieges befragte er damit eine Verbindung von romantisch fokussierter reiner Form und dem reinen Inhalt, den Goethe ins Zentrum rückte. Bereits die frühen, noch vage am Verhältnis von romantischem »Messianismus« zu seiner Gegenwartslage orientierten Überlegungen Benjamins zu Goethe deuteten darauf, dass sich dessen Stellung zur Geschichte als Kontrapunkt erwies. Goethe »begriff Geschichte nur als Naturgeschichte, begriff sie nur, soweit sie an die Kreatur gebunden blieb«,160 hielt Benjamin dementsprechend fast eine Dekade nach Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik an wieder anderer Stelle und unter anderen Vorzeichen fest. Sein nach Ursprung des deutschen Trauerspiels zwischen 1926 und 1928 verfasster Artikel Goethe für die Große Sowjetische Enzyklopädie war unter dem Eindruck seiner Moskaureise im Winter 1926/27 entstanden und ließ den Dichter einer ihm widerstrebenden Geschichte von Revolution und Aufklärung sowie von Klassen- und Staatslehren begegnen.161 Das Nachdenken über Goethe war spätestens seit der Dissertationsschrift und mehr noch der anschließend verfassten Arbeit über Goethes Wahlverwandtschaften prägend für Benjamins Reflexionen und bereits vor seiner Marxrezeption wurde es im Negativbild geschichtsphilosophisch aufgeladen.162 So verband er im Trauerspielbuch zur Konzeptionierung der geschichtlichen Gestalt der Idee als Ursprung die auf die Form bezogene Idee und das auf den Inhalt gerichtete Ideal. Zugleich dachte er mit und über Goethe nach, wenn er apostrophierte: »Die Ideen – im Sprachgebrauche Goethes: Ideale – sind die faustischen Mütter.«163 In dieser ganz eigenen Ideenlehre nahm Benjamin aber nicht nur Gedanken seiner Dissertationsschrift in neuem Gewand wieder auf, sondern rekurrierte gerade auch auf seine frühen sprachphilosophischen Überlegungen, wie er es in seinem Brief an Scholem vom Februar 1925 verdeutlichte. Diese wiederum hatte er noch mit dem Judentum in Verbindung gesetzt sehen 159 Vgl. bes. das letzte Kapitel: Benjamin, Die frühromantische Kunsttheorie und Goethe, zit. nach ders., Werke und Nachlaß 3, 121–131. 160 Ders., Goethe (Enzyklopädie-Artikel), zit. nach ders., GS 2.2, 705–739, hier 719. 161 Vgl. ebd., 706 und 709. 162 Laut Widmung wurde der Text Goethes Wahlverwandtschaften zwischen 1919 und 1922 niedergeschrieben, 1924/25 wurde die Arbeit veröffentlicht. Vgl. Tiedemann / Schweppen­ häuser, Anmerkungen zu Seite 123–201 »Goethes Wahlverwandtschaften«, in: ­Benjamin, GS 1.3, 811–867, hier 811. 163 Benjamin, Erkenntniskritische Vorrede, in: Ursprung des deutschen Trauerspiels, zit. nach ders., GS 1.1, 215.

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wollen, sodass sich das Problem, wie sich die Tradition gewinnen ließe, ohne zu ihr zurückzukehren, noch in seine Trauerspielarbeit übertrug – dies aber vermittelt über erkenntnistheoretische Prolegomena, die gerade die Geschichte adressierten. Seine eigene Denkbewegung rekapitulierend, setzte Benjamin dementsprechend den Bearbeitungszeitraum seiner abgelehnten Habilitationsschrift bei der Publikation im Jahr 1928 auf fast eine Dekade, von 1916 bis 1925, an.164 Damit verwies er nicht nur auf den besagten Sprachtext, sondern auch auf erste Überlegungen, die er zwischen Juni und November 1916 zu dem späteren Komplex niedergeschrieben hatte. Ein Text, auf den Benjamins Datierung gerichtet ist, trägt den Titel Trauer­ spiel und Tragödie.165 Die Trennung von historisch wirkmächtiger Zeit und empirischem Geschehen, die Benjamin noch 15 Jahre später aufgriff, fand in diesem Text schon eine Erwägung. Aber mehr noch: Er setzte gedanklich die historische mit der erfüllten Zeit ins Verhältnis und legte eine Vorbereitung seiner Ideenlehre nahe, wenn er herausstellte: »Ein solches Geschehen, das im Sinne der Geschichte vollkommen sei, ist vielmehr durchaus ein empirisches Unbestimmtes, nämlich eine Idee. Diese Idee der erfüllten Zeit heißt in der Bibel als deren beherrschende historische Idee: die messianische Zeit.«166 Damit reflektierte er auf die Übertragung von messianischem und geschichtsphilosophischem Erwartungshorizont, die auch in seinen Überlegungen zum »Messianismus« zum Tragen kamen. Noch bevor die Auseinandersetzung mit der romantischen Geschichtsphilosophie zu einer tiefgreifenden Reflexion der sakralen Ordnung im Profanen leitete, wurde also die Frage nach historischer und erfüllter Zeit in der Konstitution von Geschichte aufgeworfen, die letztlich in Benjamins an Goethe und der deutschen Romantik geschulten Ideenlehre nachhallte. Die gedankliche Spannung von sakraler und profaner Orientierung fand damit  – wenn auch nur in sich gekehrt – noch Eingang in die Schrift Ursprung des deutschen Trauerspiels. Auch darin ordnete Benjamin der Philosophie die »Lehre« als anzustrebenden Status zu und suchte damit die »Gegenstände der Theologie« zu umkreisen, »ohne welche der Wahrheit nicht gedacht werden kann«.167 164 Vgl. dazu Tiedemann / Schweppenhäuser, Anmerkungen zu Seite 203–430 »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: Benjamin, GS 1.3, 884 f. 165 Vgl. Benjamin, Trauerspiel und Tragödie, zit. nach ders., GS 2.1, 133–137. Ein weiterer Text, an den Benjamin mit dem Jahr 1916 wohl dachte, war Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie. 166 Ders., Trauerspiel und Tragödie, zit. nach ders., GS 2.1, 134. 167 Ders., Erkenntniskritische Vorrede, in: Ursprung des deutschen Trauerspiels, zit. nach ders., GS 1.1, 208. Benjamin bezog sich an dieser Stelle auf das Traktat und die Scholastik. In Bezug auf die in der Vorrede enthaltenen Motive jüdischer Mystik gehen die Herausgeber der Gesammelten Schriften davon aus, dass Benjamin diese Molitor entnommen haben könnte. Vgl. Tiedemann / Schweppenhäuser, Anmerkungen zu Seite 203–430 »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: Benjamin, GS 1.3, 887.

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Für diese Ausrichtung bezog er sich allerdings nicht direkt auf Judentum oder Christentum, sondern ließ theologische und mystische Motive in seine Darstellung einfließen. Zuerst hatte er sich mit christlichen, romantisch-­ theosophischen Denkern wie Baader und Molitor befasst, denen er neben den Hinweisen Scholems wohl primär seine Kenntnis jüdischer Mystik verdankte. Später formte er seine Vorstellung der theologischen Gegenstände im Austausch mit Florens Christian Rang, den er im Frühjahr 1920 in Berlin kennengelernt hatte. Im Andenken an den protestantischen Theologen war 1926 die von Buber mitherausgegebene, Franz Rosenzweig verbundene Zeitschrift Die Kreatur gegründet worden. In Ursprung des deutschen Trauer­ spiels rezipierte Benjamin aber auch direkt ihm gegenwärtige Philosophen des Judentums in der Moderne  – insbesondere Cohen und Rosenzweig  –, die er in seiner den Vorwehen der Zeitformation gewidmeten Arbeit jedoch unter Perspektiven betrachtete, die zur Theologie erst vermittelt werden mussten. Benjamin war sich der hegemonialen theologischen Tradition sehr bewusst. So setzte er sich im Trauerspielbuch zwar auch mit Der Stern der Er­ lösung auseinander, den er sich von Scholem bereits im Juli 1921 hatte zusenden lassen, berief sich aber noch nicht im Reflexionsbereich der Theologie auf diesen. Die interpretative Verschiebung des Schwerpunkts lag allerdings vielleicht auch darin begründet, dass er sich bereits bei seiner ersten Lektüre skeptisch gezeigt hatte. »Rosenzweig habe ich wieder etwas aufgenommen und erkannt, daß dieses Buch dem Unvoreingenommnen [sic] freilich seiner Struktur nach, die Gefahr es zu überschätzen notwendig nahe legt. Oder nur mir?«, kommentierte Benjamin das Werk am 20. Juli 1921 Scholem gegenüber: »Ob ich selbst wenn ich es zum erstenmale ganz durchgelesen habe es schon werde beurteilen können ist mir noch fraglich.«168 Dennoch besuchte er im Dezember des folgenden Jahres den zu diesem Zeitpunkt schon gelähmten Verfasser des Werks in Frankfurt und berichtete Scholem von der Begegnung: »Ich sprach mit Rosenzweig vom Einfluß seines Buches, seiner Bedeutung, seinen Gefahren; er ist geistig vollständig klar, nur machte es das Gespräch schwer, daß ich überall die Initiative geben mußte ohne das Buch entsprechend genau zu kennen.«169 Trotz dieser Unsicherheit ging Benjamin in Ursprung des deutschen Trauerspiels auf Rosenzweigs Ausführungen zur Tragödie in Der Stern der Erlösung ein.170 Und auch wenn er nicht in der

168 Benjamin an Gershom Scholem, 20. Juli 1921, zit. nach ders., GB 2, 207–209, hier 208. 169 Ders. an Gershom Scholem, 30. Dezember 1922, zit. nach ebd., 299–302, hier 300. 170 Vgl. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, zit. nach ders., GS 1.1, 286 f. und 291 f.; Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 83 f. und 234 f. Siehe dazu auch Tiedemann / Schweppenhäuser, Anmerkungen zu Seite 203–430 »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: Benjamin, GS 1.3, 883. Das erste Zitat aus Der Stern der Erlösung findet sich auch in einem kurzen Text, den Benjamin zu Beginn der 1930er Jahre verfasste:

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Erkenntniskritischen Vorrede, sondern erst im weiteren Verlauf seiner Arbeit Rosenzweig zitierte, weisen seine Gedanken zur Geschichte eine gewisse Nähe zu ihm auf. Auch auf Cohen rekurrierte Benjamin Mitte der 1920er Jahre erneut. Denn obwohl er sich gegen Ende des Krieges nur phasenweise mit dessen Schriften befasste und sich seine Kritik am Fortschrittsdenken allgemein bereits frühzeitig Ausdruck verschaffte, zeigte er im Gegensatz zu Rosenzweig, der erst vermittels der Religion der Vernunft einen Zugang zu Cohens Denken erhielt, ein wenn auch kritisches, so doch aufrichtiges Interesse am Idealismus des Neukantianers. Cohens Nachlasswerk bezeichnete Benjamin hingegen im Dezember 1920 als »offenbar höchst merkwürdige Religion der Vernunft«.171 Ungeachtet dieser Ausklammerung der Religionsphilosophie rekurrierte er im Ursprung des deutschen Trauerspiels auf den ersten Teil von dessen System, auf die Logik der reinen Erkenntnis. So stellte er in der Erkenntniskritischen Vorrede heraus: »Die Kategorie des Ursprungs ist also nicht, wie Cohen meint, eine rein logische, sondern historisch.«172 Den Ursprung, den Benjamin als historische Konkretion der Idee beschrieb, glich er mit der rationalistischen Begründung Cohens ab und ließ damit noch die seiner Ansicht nach nicht verfolgte »Ahnung des Wahren« anklingen. In dem Anspruch, die Philosophie zur Lehre werden zu lassen, drangen seine geschichtsphilosophischen Überlegungen erneut in den Reflexionsbereich der Theologie vor. In einem Brief an Florens Christian Rang vom 9. Dezember 1923 – etwa ein Jahr vor dessen Ableben geschrieben – legte Benjamin das Fundament seiner Gedanken im Trauerspielbuch frei. Er bestimmte Kunstwerke darin zwar als »geschichtslos«. Gleichwohl machte er in der Interpretation der Werke einen Zusammenhang aus, der in der Erkenntniskritischen Vorrede chiffriert wurde und der an Rosenzweigs Trennung von immerwährender Vorwelt und allzeiterneuerter Welt in Der Stern der Erlösung erinnert. So schrieb Benjamin an Rang: »Dieselben Gewalten, welche in der Welt der Offenbarung (und das ist die Geschichte) explosiv und extensiv zeitlich werden, treten in der Welt der Verschlossenheit (und das ist die der Natur und der Kunstwerke) intensiv hervor.«173 Benjamin unterschied zwar die ideelle und die geschichtliche Sphäre, aber er setzte sie bereits in einen sinnbildlichen Benjamin, Oedipus oder Der vernünftige Mythos, zit. nach ders., GS 2.1, 391–395, hier 394. Zur Datierung siehe Tiedemann / Schweppenhäuser, Anmerkungen zu Seite 391–395 »Oedipus oder der vernunftügte Mythos«, in: Benjamin, GS 2.3, 1147–1149, hier 1148. 171 Benjamin an Gershom Scholem, 1. Dezember 1920, zit. nach ders., GB 2, 107. 172 Ders., Erkenntniskritische Vorrede, in: Ursprung des deutschen Trauerspiels, zit. nach ders., GS 1.1, 226. 173 Ders. an Florens Christian Rang, 9. Dezember 1923, zit. nach ders., GB 2, 390–394, hier 393.

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Zusammenhang, dessen eine Seite in Abwandlung noch im Trauerspielbuch nachwirkte. 1923 waren aber »die Ideen […] die Sterne im Gegensatz zu der Sonne der Offenbarung«.174 Der Tag der Geschichte verwies für Benjamin dabei auf den Gerichtstag und die Ideen zeugten von einer Nacht, die nicht den Tag erwarte. Die eschatologische Sicht wurde damit in einem der historischen Zeit entrückten Bild gespiegelt. Benjamin identifizierte in seiner Darlegung Offenbarung und Geschichte – im Gegensatz zu Rosenzweig, der die Geschichte der Offenbarung subordinierte. In einer ersten Version der Vorrede verband Benjamin sogar den Begriff des Ursprungs, seiner Überlegung gegenüber Rang folgend, mit einem Rekurs auf die Offenbarung, was er jedoch aus der später publizierten Variante tilgte. So heißt es zuerst noch definitorisch: »Alles Ursprüngliche ist unvollendete Restauration der Offenbarung.«175 Und bereits in der frühen Version strich er zwei Sätze heraus, die auf dieses Diktum folgten: »Wäre es vollendet, so wäre es mehr als Ursprung oder Element: nämlich Ding und mehr als Teil der Idee, nämlich Wahrheit. (Träfe) es nicht in der Offenbarung sich wieder, so wäre kein Kennzeichen seiner Ursprünglichkeit vorhanden.«176 Dieser Bezug auf eine sakrale Ordnung wurde in der Publikationsfassung zwar in den Hintergrund gerückt, aber mitgeführt. In Nachträgen zum Trauerspielbuch, die auf einem losen Blatt wahrscheinlich im Hinblick auf eine zweite Auflage notiert wurden,177 verstand Benjamin den Ursprung wieder explizit in einem theologischen, aber auch sinnfällig abweichenden Zusammenhang. Er hielt fest, dass der Begriff des Ursprungs der »theologisch und historisch differente, theologisch und historisch lebendige und aus den heidnischen Naturzusammenhängen in die jüdischen Zusammenhänge der Geschichte eingebrachte Begriff des Urphänomens« sei.178 Und er fasste zusammen: »›Ursprung‹ – das ist Urphänomen im theologischen Sinne«.179 Diese Überlegung nahm er auch in sein in den 1930er Jahren zentral werdendes Passagen-Werk auf, in dem der Begriff des Ursprungs um den des Urbilds und schließlich den der Urgeschichte ergänzt wurde.180 Mit den wenigen Worten zum Ursprung und Goethe legte Benja174 Ebd. 175 Ders., Erkenntniskritische Vorrede. Frühere Fassung, zit. nach Tiedemann / Schweppen­ häuser, Anmerkungen zu Seite 203–430 »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: Benjamin, GS 1.3, 925–948, hier 935. 176 Ebd. 177 Vgl. Tiedemann / Schweppenhäuser, Anmerkungen zu Seite 203–430 »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: Benjamin, GS 1.3, 952. 178 Benjamin, Nachträge zum Trauerspielbuch, zit. nach Tiedemann / Schweppenhäuser, Anmerkungen zu Seite 203–430 »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: Benjamin, GS 1.3, 953–955, hier 954. 179 Ebd. 180 Benjamin, GS 5.1, 577.

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min einen Gedankengang vor, in dem die profane und die sakrale Sphäre neu aufeinander bezogen wurden. Nicht mehr ein Moment von Verweltlichung, sondern – im Gegenteil – nun eines von Sakralisierung wurde mit dieser doppelten Verkehrung benannt. In seinem Enzyklopädie-Artikel zu dem Dichter betonte Benjamin, dass »Goethe seine Offenbarungen der physikalischen Welt« unter dem Begriff des »Urphänomen[s]« darstellte.181 In seiner Notiz vollzog Benjamin eine Übertragung von einer pantheistisch anmutenden Naturvorstellung zu einer (in seiner Sicht wieder) theolo­gischen der Geschichte. Aber mehr noch: Er begriff deren Zusammenhänge im Wider­hall seiner 1912 in die Ideen der Jugendbewegung gesetzten Hoffnung als jüdisch. Mit Goethes pagan verstandenem Urphänomen legte er allerdings einen Topos zugrunde, den er in seinem Artikel als der Theologie und Politik entgegengesetzten verstand. Trotz dieser Gegenläufigkeit ordnete er ihn nun dem Bereich der Theologie zu. Das politische Problem war dagegen noch nicht Bestandteil seiner Reflexion des Ursprungs.182 Erst im Sommer 1931 wurde das Geschehen als scharfe Pointierung des Politischen der Konzeption von Geschichte zugeordnet. Die Nachträge verfasste Benjamin in einer Übergangszeit. Im selben Jahr wie Ursprung des deutschen Trauerspiels erschien Einbahnstraße, in dem sich eine tiefgreifende Abkehr von der (bereits kritischen, aber noch zugewandten) Auseinandersetzung mit Idee, Systematik und Akademie in einer neuen – kleinen – Form Ausdruck verschaffte.183 Das Fragment, dessen Bedeutung Benjamin für die deutsche Romantik und für sich entdeckte, wurde zu einem ungleich präsenteren Bezugspunkt.184 Seine Tagebuchaufzeichnungen vom Sommer 1931 gaben dabei einen kurzen Blick auf seine neu sich entfaltende Reflexion von Politik und Geschichte frei, weniger knüpften sie an die Frage nach der Theologie an – erst im weiteren Verlauf der 1930er Jahre nötigte sich Benjamin das Problem auf, das Politische und das Theologische erneut zusammenzudenken. Dennoch verfasste er bereits im Frühjahr 1931 seinen Essay Karl Kraus, in den er in noch immer nur angedeuteter Verbindung von mystischen Motiven und Marx entlehnten Topoi den Satz 181 Ders., Goethe (Enzyklopädieartikel), zit. nach ders., GS 2.2, 719. 182 Zwar bezieht sich Benjamin in Ursprung des deutschen Trauerspiels auf Schmitts Poli­ tische Theologie von 1922 und es gibt gewisse Nähen zwischen Gedanken in Zur Kritik der Gewalt und denen Carl Schmitts zu dieser Zeit, aber Benjamins Rezeption von dessen Souveränitäts-, mithin Säkularisierungstheorie bedingte (noch) keine politisch theolo­ gische Haltung, wie Schmitt sie einnahm. Bei Benjamin ist es dort, wo es eine Verbindung gibt, als theologisch-politisches Problem angezeigt, das gerade selbst der Geschichte verbunden bleibt. Vgl. ders., Ursprung des deutschen Trauerspiels. Nachweise, zit. nach ders., GS 1.1, 410–430, hier 412 f.; Schmitt, Politische Theologie. 183 Vgl. dazu Lindner, Habilitationsakte Benjamin, 324. 184 Vgl. zu Schlegels mystisch-kritischer Interpretation des Fragments die Darstellung von Benjamins Affinitäten: ders., Werke und Nachlaß 3, 56.

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von Kraus »Ursprung ist das Ziel« zuerst aufnahm; und den er schließlich noch derjenigen These in Über den Begriff der Geschichte zum Motto gab, in der er seine Vorstellung einer messianisch aufgeladenen »Jetztzeit« einführte.185 Wenn Benjamin also im Sommer 1924 Lācis gegenüber angezeigt hatte, dass er beginne, sich für eine materialistische Ästhetik zu interessieren, dann war es von dort auch 1931 noch ein langer Weg bis zu seinem ganz eigenen »historischen Materialismus« – erst während des französischen Exils machte sich Benjamin seinen Begriff davon. Mehr als ein Klasseninteresse wurde dafür jedoch das Problem des Verlusts »echter historischer Erfahrung« seine Referenz.186

185 Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (Handexemplar), zit. nach ders., Werke und Nachlaß 19, 40 (These XVI). 186 Ders., Über einige Motive bei Baudelaire, zit. nach ders., GS 1.2, 606–653, hier 643.

9. Materialistische Sprache: 1933–1940

»Die Glocken, die den Feiertagen einst zugehörten, sind wie die Menschen aus dem Kalender herausgesetzt. Sie gleichen den armen Seelen, die sich viel umtun, aber keine Geschichte haben.«1 Mit dieser Deutung eines Gedichts Charles Baudelaires verwies Walter Benjamin am Ende der 1930er Jahre auf die verloren gegangene geschichtliche Welt des 19. Jahrhunderts.2 Wie es in seiner letzten Veröffentlichung in der Zeitschrift für Sozialforschung unter dem bescheidenen Titel Über einige Motive bei Baudelaire heißt, dass »die Erfahrung eine Sache der Tradition, im kollektiven wie im privaten Leben« sei,3 so suchte Benjamin in dem ihm gegenwärtigen Zerfall bei dem französischen Dichter des zweiten Kaiserreichs nach den »auseinandergesprengten Bestandstücke[n] echter historischer Erfahrung«, mithin nach Resten dessen, was vormals Tradition hatte heißen können. Er fand diese in einer Reflexion der kalendarischen Zeitwahrnehmung. Die Glocken hatten eine den bloßen Ablauf aussetzende Ordnung symbolisieren können, solange sie »mit den Feiertagen die Stellen des Eingedenkens« markierten.4 Die in dieser Form rhythmisierte Zeit wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Monotonie der nur noch chronologischen ersetzt.5 Der »Mann, dessen Erfahrung abhanden kommt, [fühlt sich] aus dem Kalender herausgesetzt«, beschrieb Benjamin die Auswirkungen der Loslösung aus dem gefügten Zusammenhang. Im »einst« angezeigt, betrifft dieser Verlust die Glocken, die ihm zum Sinnbild für Tradition überhaupt wurden.6 Gleichnis für das erhoffte Durchbrechen des Geschehens, das Benjamin in seinem Baudelaire-Text, den er im Sommer 1939 an Max Horkheimer übermittelte, mit den »Tage[n] der vollendenden Zeit« andeutete und das in den geschichtsphilosophischen Thesen vom Frühjahr 1940 auf neuer geschichtlicher Grundlage sich wieder einstellte, sind dagegen die verstreuten »Stellen des Eingedenkens«, die dem verlorenen Zusammenhang noch zugehörten.7 1 Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire, zit. nach ders., GS 1.2, 643. 2 U. a. betont Caroline Sauter die zunehmende Präsenz Baudelaires in Benjamins Reflexionen der ausgehenden 1930er Jahre. Vgl. dazu und zu Benjamins Jahrzehnte währendem Nachdenken über Baudelaire dies., Charles Baudelaire, bes. 35–39. 3 Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire, zit. nach ders., GS 1.2, 608. 4 Ebd., 643. 5 Zu den kulturgeschichtlichen Implikationen der vereinheitlichten Zeit in Frankreich im ausgehenden 19. Jahrhundert vgl. bes. Corbin, Die Sprache der Glocken. 6 Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire, zit. nach ders., GS 1.2, 643. 7 Ebd., 637.

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Bereits in dem im Dezember 1933 in der in Prag herausgegebenen Zeitschrift Die Welt im Wort veröffentlichten Artikel Erfahrung und Armut steht eine wegweisende Zeitdiagnose im Zentrum, wenn es heißt: »[D]ie Erfahrung ist im Kurse gefallen und das in einer Generation, die 1914–1918 eine der ungeheuersten Erfahrungen der Weltgeschichte gemacht hat.«8 Was Benjamin in den Jahren des Ersten Weltkrieges selbst noch nicht hatte reflektieren können, akzentuierte er wenige Monate nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten, in dem Verweis auf den weltgeschichtlichen Moment, in dem Erfahrung nicht mehr als selbstverständlich hatte gelten können. Diese Deutung erweiterte er um ein Bild, das emblematisch für das jähe Ende der ehedem gefügten Welt einsteht: »Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war, als die Wolken, und in der Mitte, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige gebrechliche Menschenkörper.«9 Als Benjamin im Herbst 1933 dieser Zäsur der Moderne und dem in sie versetzten »winzigen gebrechlichen Menschenkörper« gedachte, sah er darin einen Zusammenhang zu dem, was sich in seiner Gegenwart anzubahnen begann. Die geschichtliche Krise, in der das historische Bezugsgefüge zerstört wurde, wurde ihm zum Grund einer neuen Reflexion auf Geschichte  – zu dieser Zeit nicht ohne Hoffnung, dass es auch anders werden könne. Die Weltformation des 19. Jahrhunderts war zwar der verloren gegangene Ausgangspunkt, ihr wurden aber noch ein durchaus positiv besetztes »neues Barbarentum« und bald darauf in das Proletariat gesetzte Hoffnungen entgegengestellt.10 1936 übernahm Benjamin seine Gedanken der generationellen Selbstdeutung in Der Erzähler.11 Dort suchte er dem Text gegen den Zerfall einen »alten und anheimelnden Ton« mitzugeben.12 Darin zeigt sich eine Perspektive an, die 8 Benjamin, Erfahrung und Armut, zit. nach ders., GS 2.1, 213–219, hier 214. Zur Publikation vgl. Tiedemann / Schweppenhäuser, Anmerkungen zu Seite 213–219 »Erfahrung und Armut«, in: Benjamin, GS 2.3, 960–963, hier 960. 9 Benjamin, Erfahrung und Armut, zit. nach ders., GS 2.1, 214. 10 Ebd., 215. Gérard Raulet rückt so die »positive Barbarei« ins Zentrum seiner gleichnamigen Studie und liest von ihr aus andere, auch spätere Texte Benjamins. So betrachtet er aus dieser Perspektive gerade auch Über einige Motive bei Baudelaire. Vgl. dazu Raulet, Positive Barbarei, 151–171. 11 Die zitierten Sätze aus Erfahrung und Armut zum Ersten Weltkrieg übernimmt Benjamin mit leichten Veränderungen in seinen Aufsatz Der Erzähler. Ders., Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows, zit. nach ders., GS 2.2, 438–465, hier 439. Vgl. dazu u. a. Gagnebin, Geschichte und Erzählung bei Walter Benjamin, 62. 12 Benjamin übernimmt mit dieser Selbstbeschreibung allem Anschein nach eine Formulierung von Alfred Cohn, dem er dessen Eindruck bestätigt, und den »›alten‹ Ton« des Textes vom »neuen« der »Reproduktionsarbeit« abgrenzt. Benjamin an Alfred Cohn, 17. November 1937, zit. nach ders., GB 5, 605–607, hier 605 f.

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er in seiner persönlichen Rückwendung in der 1938 verfassten Vorrede zur Berliner Kindheit um neunzehnhundert in aller Deutlichkeit formulierte: »[D]ie Bilder meiner Großstadtkindheit [sind] vielleicht befähigt, in ihrem Innern spätere geschichtliche Erfahrung zu präformieren. In diesen wenigstens, hoffe ich, ist es wohl zu merken, wie sehr der, von dem hier die Rede ist, später der Geborgenheit entriet, die seiner Kindheit beschieden gewesen war.«13 Obwohl Benjamin das aus einzelnen Denkbildern bestehende Buch schon seit 1932 bearbeitete, stand die letzte Fassung unter dem Vorzeichen der neuen, sich nur noch steigernden Krise. In den beiden Texten, von 1933 und von 1936, gedachte Benjamin nicht direkt seiner Gegenwart, sondern vermittelte diese über die Reflexion des Ersten Weltkrieges. So war auch die Hoffnung der Präformation, der er in der letzten Fassung der Berliner Kindheit Ausdruck verlieh, auf die vor dem Einschnitt liegende Vergangenheit gerichtet. Diese geschichtliche Perspektive weitete Benjamin in anderen in den 1930er Jahren verfassten Arbeiten auf das gesamte 19. Jahrhundert aus und verband sie mit einem Begriff des historischen Materialismus, den er nicht nur an Karl Marx orientierte, sondern auch an einer ganz eigenen Auffassung von Geschichtsschreibung. Paradigmatischer Ausdruck dieser Blickrichtung ist das Passagen-Werk, wie auch die daraus hervorgegangenen Schriften über Baudelaire, deren letzte Über einige Motive bei Baudelaire ist.14 Bereits 1927 begann er, an seinem unvollendet gebliebenen Opus magnum zu arbeiten; es ruhte allerdings zu Beginn der 1930er Jahre. Erst 1934, im franzö­sischen Exil, trat es wieder in den Vordergrund und er hielt es dort, bis er Paris endgültig verließ.15 Benjamins späte Geschichtsphilosophie ist eingespannt zwischen historischem Materialismus und theologischem Rest. Sein Weg reichte von Karl Kraus über Franz Kafka bis hin zu dem »Eingedenken«, das er bei Ernst Bloch gewann und mit Baudelaire neu erkundete. Seine Auseinandersetzung mit dem Materialismus fand zwar ihren Anfang in der Lektüre von Geschichte und Klassenbewusstsein, seinen eigenen Begriff des historischen Materialismus formte er jedoch erst im französischen Exil. Dort entfaltete er einen nicht unmittelbar auf die Zukunft, sondern auf »dialektische Bilder« gerichteten Begriff. Er wandte sich damit innerhalb des schon lange umkreisten Problems der Geschichte letztlich vergangenen Hoffnungen zu. Die von Benjamin aufgerufenen spezifischen Ebenen von Vergangenheit blieben 13 Benjamin, Berliner Kindheit um neunzehnhundert (Fassung letzter Hand), zit. nach ders., GS 7.1, 385–433, hier 385. 14 Anfang der 1920er Jahre hatte Benjamin den zweiten Teil der Fleur du Mal mit dem Titel Tablaux Parisiens übersetzt, so deutete er fast zwei Jahrzehnte später nicht nur den Dichter geschichtlich aus. Zu Benjamins Übersetzung vgl. Sauter, Charles Baudelaire, 32–34. 15 Vgl. zur Unterbrechung von 1929 bis 1934 Tiedemann, Einleitung des Herausgebers, in: Benjamin, GS 5.1, 11–41, hier 23 f.

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der geschichtlichen Welt des 19. Jahrhunderts verbunden, die, vom Bürgertum geprägt, mit dem Ersten Weltkrieg erodierte und deren Zerrüttung er auch im Verhältnis zum Proletariat noch reflektierte. Wenngleich nur selten benannt, wurden diejenigen jenseits des Klassenkampfes liegenden Erfahrungsschichten, die ihm als deutschem Juden in den 1930er Jahren in Paris zukamen, seinem historischen Materialismus letztlich vermittels der Theologie eingeschrieben.

Politische Heuristik Zeitlich nah beieinander und doch getrennt voneinander stehen zwei Texte Benjamins, die seinen Weg zum historischen Materialismus sichtbar werden lassen: Die vom Spätsommer 1935 bis zum Frühjahr 1936 in verschiedenen Fassungen entstandene Arbeit Das Kunstwerk im Zeitalter seiner techni­ schen Reproduzierbarkeit und der von Max Horkheimer wohl bereits 1933 oder 1934 für die Zeitschrift für Sozialforschung angefragte, von Benjamin allerdings bis zum Beginn des Jahres 1937 immer wieder aufgeschobene Artikel Eduard Fuchs. Der Sammler und der Historiker.16 Der erste Text steht für die Vorbereitung eines Erwartungshorizonts, der den proletarischen Massen Veränderungspotenzial zuzusprechen suchte; der zweite ist auch das Zeugnis einer politischen Wendung, die die Kurzzeitigkeit der in das Proletariat gesetzten Hoffnung ausdrückte. Erst in dem Ende Februar 1937 an H ­ orkheimer geschickten Text wurde der historische Materialismus als Topos von Benjamin – jenseits der Notizen für das Passagen-Werk – in seine Schriften eingeführt. Zuvor verwandte Benjamin den Materialismus versehen mit anderen Adjektiven, wie anthropologisch und dialektisch, und so zeigte sich verdichtet in dem Übergang von der Kunstwerkarbeit zu seinem Artikel über den Kulturgeschichtlicher Eduard Fuchs eine Denkbewegung, die in Über den Begriff der Geschichte mündete. Seit Mitte der 1920er Jahre dachte Benjamin über Grundfragen des Materialismus nach. Seine Überlegungen waren aber bereits kurz nach dem gescheiterten Habilitationsverfahren von intellektueller Ferne und pragmatischer Nähe zur Kommunistischen Partei gekennzeichnet. »Immer radikal, niemals konsequent in den wichtigsten Dingen zu verfahren, wäre auch meine Gesinnung, wenn eines Tages ich der kommunistischen Partei beitreten sollte […].«17 So rechtfertigte er Scholem gegenüber am 29. Mai 1926 16 Vgl. Benjamin, Werke und Nachlaß 16; ders., Eduard Fuchs. Zum Bearbeitungszeitraum vgl. Tiedemann / Schweppenhäuser, Anmerkungen zu Seite 465–505 »Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker«, in: Benjamin, GS 2.3, 1316–1363, hier 1316 f. 17 Benjamin an Gershom Scholem, 29. Mai 1926, zit. nach ders., GB 3, 158–163, hier 159. Vgl. zu diesem Zitat im Kontext u. a. Wohlfarth, »Immer radikal, niemals konsequent …«.

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seine spezifische Affinität. Er stellte bei dieser Gelegenheit sogar in den Raum, dass die Frage der Mitgliedschaft nicht an ein Ob-überhaupt, sondern an ein »Wielange« gebunden sei.18 Zugleich distanzierte er sich von »unumstößlichen Einsichten« der Partei, die er beispielhaft konkretisierend im »Unzutreffenden der materialistischen Metaphysik oder […] der materialistischen Geschichtsauffassung« benannte.19 Seine Skepsis zeigte sich also an dem Gedanken, den er ein Jahrzehnt später ins Zentrum seiner geschichtsphilosophischen Überlegungen rückte  – dann allerdings in neuem Verständnis. Im Mai 1926 schrieb er indessen an Scholem, dass diese »ehernen Waffen im Ernstfall praktisch vielleicht ebenso viel und mehr im Bunde mit dem Kommunismus ausrichten als gegen ihn«.20 Mit einer solchen als Suche verstandenen Hinwendung, deren pragmatische Komponente nicht zu unterschätzen ist, war für Benjamin Mitte der 1920er Jahre aber kein Abschied von seinem »›früheren‹ Anarchismus« verbunden und die »kommunistischen ›Ziele‹« hielt er »für Unsinn und für nichtexistent«.21 Gut fünf Monate nach seinem Rechtfertigungsbrief an Scholem reiste Benjamin nach Moskau, um Asja Lācis zu besuchen, und auch, um die nachrevolutionäre Lebensrealität zu ergründen. Am 6. Dezember 1926 erreichte er die sowjetische Hauptstadt. Mit ein oder zwei Arbeitsaufträgen und der Hoffnung, vor Ort weitere einholen zu können, verweilte er knapp zwei Monate. Insbesondere hatte ihn Buber im Herbst des Jahres für die Zeitschrift Die Kreatur angefragt und Benjamin veröffentlichte im dritten Heft des Jahres 1927 einen Artikel mit dem Titel Moskau. Dies ist auf zweierlei Ebene erklärungsbedürftig: Zum einen stand Benjamins Gegenstand nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit den Leitlinien des Periodikums. Nach einer allgemeinen Anfrage Bubers und Benjamins Vorschlag, etwas über seine, zu dem Zeitpunkt noch prospektive Reise zu schreiben, wurde der Artikel dennoch akzeptiert. Zum anderen hatte Benjamin sich gut zehn Jahre davor bewusst gegen die Mitarbeit an Bubers Zeitschrift Der Jude entschieden und zeigte diesem gegenüber auch weiterhin eine ausgeprägte Antipathie. Diese trat allem Anschein nach jedoch einem Medium gegenüber in den Hintergrund, das sich dem von Benjamin hochgeschätzten, 1923 verstorbenen protestantischen Theologen Florens Christian Rang verpflichtet sah und sich nicht mehr ausschließlich als Organ jüdischer Stimmen verstand. Letztlich wird aber auch Benjamins schwierige ökonomische Lage eine Rolle gespielt haben – um den Aufenthalt in Moskau finanzieren zu können, kam ihm die Anfrage Bubers wohl nur gelegen. 18 Benjamin an Gershom Scholem, 29. Mai 1926, zit. nach ders., GB 3, 159. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 Ebd., 160.

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Zugrunde lag dem Artikel ein Tagebuch, das Benjamin während seines Aufenthaltes führte und in dem sich neben ganz persönlichen Gedanken allgemeine Überlegungen zur Situation nach der Revolution spiegeln. Aber nicht nur darin, auch in seinen Briefen beleuchtete er die Veränderungen einer vom Aufbruch gezeichneten Stadt.22 »Es ist alles im Bau oder Umbau und beinah jeder Augenblick stellt sehr kritische Fragen«,23 beschrieb Benjamin Jula Radt am 26. Dezember 1926 eine Umgebung, die noch von traditionalen Formen des zaristischen Russlands geprägt war, die sich aber anschickte, in die Moderne einzutauchen. Er diagnostizierte weiterhin: »Die Spannungen im öffentlichen Leben – die zum großen Teil einen geradezu theologischen Charakter haben – sind so groß, daß sie alles Private in unvorstellbarem Maße abriegeln.«24 Am 4. Januar 1927 besuchte Benjamin den Kreml, der bald darauf für Besucher unzugänglich wurde. Er kam in eine Szenerie, die wenige Jahre später jedoch nicht nur versperrt, sondern, die nicht mehr vorhanden war. Die Kirchen, die Zeichen des dritten Roms standen noch, die Christi-Erlöser-Kathedrale war noch nicht dem Palast der Sowjets gewichen und Benjamin drängte sich im Zentrum der Sowjetherrschaft eine Überlagerung auf, die er in seinem Tagebuch festhielt: »Jetzt aber hängt am Eingang […] ein Lenin-Bild, wie an einem Orte, wo früher den Göttern geopfert wurde, von bekehrten Heiden ein Kreuz gestellt wurde.«25 Wie ihn nicht erst der Besuch des noch von Sakralbauten dominierten Roten Platzes zum Nachdenken über die theologischen Züge der sowjetischen Realität führte  – dieses aber verstärkte  –, so suchte er in den Geschäften nachgerade obsessiv die Ikonen des alten Glaubens.26 Vier Tage nach seinem Besuch im Kreml notierte Benjamin in seinem Tagebuch, an seine ein halbes Jahr zuvor gegenüber Scholem geäußerten Überlegungen anknüpfend: »Was mich vom Eintritt in die K. P.D. zurückhält sind ausschließlich äußerliche Bedenken. Es wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, den zu verpassen vielleicht gefährlich ist.«27 Über die Chancen wie auch die Probleme dachte Benjamin nach, wenn er einerseits darüber spekulierte, dass er in der Partei seine »Gedanken gleichsam in ein vorgegebenes Kraftfeld projizieren« könne, andererseits bliebe ein »Außenstehen« zulässig, wenn er sich »mit nachweisbarem eigenem und sachlichem Nutzen postieren 22 Zu den großen Veränderungen Moskaus unter Stalins Generalplan ab Mitte der 1930er Jahre und der zeitlichen Koinzidenz mit den Schauprozessen vgl. bes. das thematisch einschlägige Kapitel Baustelle Moskau in Schlögel, Terror und Traum, 60–85. 23 Benjamin an Jula Radt-Cohn, 26. Dezember 1926, zit. nach ders., GB 3, 221–223, hier 221. 24 Ebd., 221 f. 25 Benjamin, Moskauer Tagebuch, zit. nach ders., GS 6, 292–409, hier 351. Zum gesamten Besuch vgl. ebd., 349–351. 26 Vgl. ebd., 371–374 und 378. 27 Ebd., 358.

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könne, ohne zum Bürgertum überzugehen«.28 Auch zeigte er sich unsicher, ob er »gewissen Extremen des ›Materialismus‹ aus dem Wege gehen solle« oder ob er »die Auseinandersetzung mit ihnen in der Partei suchen« müsse.29 Allerdings waren diese Gedanken letztlich auch auf das persönliche Auskommen und berufliche Aussichten gerichtet. Obschon in ganz anderer historischer Lage, verhält es sich im Hinblick auf die Frage der Pragmatik noch ähnlich in Zusammenhang mit Benjamins Erwägungen einer Emi­ gration in die UdSSR in den Jahren des französischen Exils. In der Mitte der 1930er Jahre war seine Reflexion des Materialismus allerdings von theologischen Motiven entfernt. Er knüpfte vielmehr an die Überlegungen an, die aus seiner ambivalenten Bezugnahme auf die Partei hervorgegangen waren. Dies schlug sich vor allem in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit nieder, hatte aber auch seine Vorläufer. 1934 veröffentlichte Benjamin, der weder 1927 noch im französischen Exil in die Partei eintrat, in der Zeitschrift für Sozialforschung einen Artikel mit dem Titel Zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Standort des franzö­sischen Schriftstellers, in dem er sich mit dem Verhältnis der Intellektuellen zur Arbeiterklasse auseinandersetzte.30 Seine Ausführungen begann er mit dem Kriegsausbruch im Jahre 1914 und zumindest in der Peripherie sprach er den Surrealisten – wie schon in seinem im Februar 1929 veröffentlichten Artikel Der Sürrealismus  – einen »anthropologischen Materialismus« zu, den er, zusammen mit der Sektengeschichte, als Ordnungspunkt in das PassagenWerk aufnahm.31 Dies steht in auffälligem Kontrast zum Konzept des historischen Materialismus. Dessen Ort ist in Benjamins unvollendetem Opus 28 Ebd., 359. 29 Ebd. 30 Benjamin, Zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Standort des französischen Schriftstellers, zit. nach ders., GS 2.2, 776–803. Dieser Text ist in der Perspektive und seinen Begriffen mit dem Artikel Der Sürrealismus, der in drei Teilen im Februar 1929 in Die literarische Welt erschien, und dem Vortrag Der Autor als Produzent vom Frühjahr 1934, der zu Benjamins Lebenszeit unveröffentlicht blieb, verbunden. Vgl. ders., Der Sürrealismus, zit. nach ders., GS 2.1, 295–310; ders., Der Autor als Produzent, zit. nach ders., GS 2.2, 683–701. 31 Ders., Zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Standort des französischen Schriftstellers, zit. nach ders., GS 2.2, 776 und 798. In Der Sürrealismus nennt Benjamin den »anthropologischen Materialismus« auch einmal und verbindet ihn neben den Surrealisten mit Nietzsche, Hebel, Büchner und Rimbaud. Er distanziert sich damit mittels der Annäherung an die ästhetisch freizügigen Parteilosen von der Partei. Auch seine Nähe zum Kreis um George Bataille dürfte einen triftigen Grund in dessen Antistalinismus gehabt haben. An anderer Stelle heißt es: »Die wahre, schöpferische Überwindung religiöser Erleuchtung aber liegt nun wahrhaftig nicht bei den Rauschgiften. Sie liegt in einer profanen Erleuchtung, einer materialistischen, anthropologischen Inspiration, zu der Haschisch, Opium und was immer sonst die Vorschule abgeben können.« Ders., Der Sürrealismus, zit. nach ders., GS 2.1, 297 (Hervorhebung im Original). Zum »anthropologischen Materialismus« und seinen Vertretern vgl. ebd., 309 f. Zu einer Verbindung des Topos mit dem Kunstwerkaufsatz vgl. Lindner, Nachwort, 679–685.

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magnum das Konvolut N. Erkenntnistheoretisches, Theorie des Fortschritts. 1934 noch nicht bei einer tiefgehenden Auseinandersetzung mit dem historischen Prisma des Materialismus angekommen, wandte er sich mit dem Text Zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Standort des französischen Schrift­ stellers insbesondere dem Dichter André Gide zu, der sich »vor kurzem« dem »Kommunismus angeschlossen« habe.32 Darin deutete Benjamin auf Probleme der Intellektuellen in und gegenüber der Arbeiterbewegung hin; bald darauf entfaltete er seine eigene materialistische Perspektive. Ende Oktober 1935 schrieb er an Werner Kraft, den er 1933 in Paris nach mehr als zehn Jahren der persönlichen Distanz wiedergetroffen hatte und der 1934 nach Jerusalem gegangen war, dass er sich bemühe, sein »Teleskop durch den Blutnebel hindurch auf eine Luftspiegelung des 19. Jahrhunderts zu richten«.33 Damit verwies er auf die Passagen-Arbeit und auf seinen Blick auf das 19. Jahrhundert insgesamt. Er gestand indes ein, dass dieses Teleskop noch nicht greifbar sei, und so solle sein Text mit dem Titel Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit durch »Fundamentalsätze der materialistischen Kunsttheorie« dieses näherbringen.34 Während darin insbesondere das »Jetzt der Erkennbarkeit« vorbereitet wird,35 das im Passagen-­Werk das »dialektische Bild« konstituiert, ist die geschichtliche Deutung dennoch klar auf die Rolle des Proletariats gerichtet. Die im Spätsommer 1935 zuerst niedergeschriebenen Überlegungen sind von der erwartungsvollen Stimmung unter den neuen Maßgaben der Volksfrontpolitik geprägt, die in Frankreich am Jahrestag der großen Revolution, am 14. Juli 1935, durch eine parteiübergreifende Demonstration an der Bastille zelebriert wurde.36 Der Text steht zwar in geradezu propädeutischem Verhältnis zum Pas­ sagen-Werk, er lässt sich aber nicht ohne Umwege in dessen große Linien einreihen. Die tiefgreifenden und zugleich suchenden Überlegungen zu Ursprung, Tradition, Echtheit und deren Ausprägung in der Autonomie der Kunst im 19. Jahrhundert erhalten einen methodischen Stellenwert, der in einer Zeit, in der es um die nächste Zukunft ging, stärker auf den Kommunismus ausgerichtet ist, als es in Benjamins sonstigen Reflexionen der Fall war. Die fehlende Kongruenz war ihm jedoch kaum bewusst. »Sie steht stofflich in keinem Zusammenhang mit dem großen Buch, […] methodisch aber im engsten«, beschrieb er im Dezember 1935 Kraft erneut seine Kunst32 Benjamin, Zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Standort des französischen Schriftstellers, zit. nach ders., GS 2.2, 794. 33 Ders. an Werner Kraft, 18. Oktober 1935, zit. nach ders., GB 5, 191–194, hier 193. 34 Ebd. 35 Vgl. dazu etwa die Ausführungen des Herausgebers im Nachwort zum »Jetzt der Erkennbarkeit«. Lindner, Nachwort, 690–692. 36 Vgl. dazu Léon, Zwischen Paris und Moskau, 71 f.; Winock, Das Jahrhundert der Intellektuellen, 312.

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werkarbeit, und führte aus, was noch nicht expressis verbis in den Text eingeflossen ist: »[J]eder geschichtlichen Arbeit [muss], besonders wenn sie beansprucht vom historischen Materialismus sich herzuschreiben, eine genaue Fixierung des Standorts der Gegenwart in den Dingen vorhergehen […], deren Geschichte dargestellt werden soll.«37 Benjamin benannte den historischen Materialismus als Grundlage, den er auch bereits in den Bereich von zu schreibender Geschichte der Dinge rückte. Im Passagen-Werk, das er dem »Schicksal der Kunst im neunzehnten Jahrhundert (im Brennspiegel von Paris)« widmete, entfaltete er diese Perspektive. In der heraustretenden Arbeit solle dafür der »gegenwärtig[e] Standard der Kunst fixiert« werden.38 In der im Oktober geschriebenen zweiten Fassung des Textes erhielt Karl Marx namentlich in die Eröffnung Einzug und Lukács ungenannt in die Terminologie.39 Die Ausführungen wurden mit dieser Version in eine Form gebracht, die sie bis zum Ende aufweisen. So sind Anfang und Schluss auch in der letzten autorisierten Fassung beibehalten. Benjamin stellte im Auftakt der zweiten Fassung »prognostische Anforderungen« heraus, die den Gegenstand seines Textes bilden und die er folgendermaßen einordnete: »Es entsprechen ihnen aber weniger Thesen über die Kunst des Proletariats nach der Machtergreifung, geschweige die der klassenlosen Gesellschaft als Thesen über die Entwicklungstendenzen der Kunst unter den gegenwärtigen Produktionsbedingungen.«40 Sein Anliegen war es, mit dieser zeitdiagnostischen Ausrichtung, Begriffe zu geben, die für »die Zwecke des Faschismus vollkommen unbrauchbar sind. Dagegen sind sie zur Formulierung revolutionärer Forderungen in der Kunstpolitik brauchbar.«41 Ist der Text in Bezug auf seine materialistische Geschichtsauffassung am Proletariat orientiert, so sind die Überlegungen zum Klasseninteresse, zur Masse und dem ihm gegenwärtigen Stand der Produktivkräfte auch eine Konzession an die Hoffnung, dass dem »Faschismus« eine andere Massenbewegung entgegenstehen könne. Nicht in parteinaher Konkretion, sondern in dem Rekurs auf Marx und das Klassenbewusstsein lag die angestrebte Bündnisfähigkeit eines Textes, der schon bei den Benjamin vertrauten Lesern auf 37 Benjamin an Werner Kraft, 27. Dezember 1935, zit. nach ders., GB 5, 207–210, hier 209. 38 Ebd. 39 Wie Benjamin in den folgenden Fassungen von Lukács ausgehend einen Begriff von erster und zweiter Technik einführt, wird im Nachwort zu Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit herausgestellt. Vgl. Lindner, Nachwort, 685–687. Lindner weist an anderer Stelle in Bezug auf eine Skizze aus der Einbahnstraße mit dem Titel Installation darauf hin, dass Benjamin schon Jahre zuvor den Ersten Weltkrieg mit einer neuen Naturbeherrschung der Technik im »Rausch der Vernichtung« ausdeutete. Ders., Die »Heiterkeit des Kommunismus«, 79. 40 Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (zweite Fassung), zit. nach ders., Werke und Nachlaß 16, 52–92, hier 53. 41 Ebd.

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harsche Kritik stieß – so sahen Adorno und Horkheimer darin eine Nähe zu Bertolt Brecht.42 In der zweiten und den folgenden Fassungen wird am Schluss das insbesondere auch in Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit exponierte »Menschenmaterial« angesprochen.43 Damit rückte der vergangene Weltkrieg in den Reflexionsradius, dessen falsch ästhetisierte Bilder im Faschismus kritisiert wurden. Anschließend diagnostizierte Benjamin: »Die Menschheit, die einst bei Homer ein Schauobjekt der olympischen Götter war, ist es nun für sich selbst geworden. Ihre Selbstentfremdung hat jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung als Genuss ersten Ranges erleben lässt.«44 Der Benjamin gegenwärtige Standard der Kunst war das Thema. Gleichwohl legte er in dieser Einordnung offen, was er im Oktober 1935 Kraft gegenüber als Blutnebel ansprach. Sein Text ist nicht nur von der in das Proletariat gesetzten Hoffnung geleitet. Trotz der der Zukunft zugewandten geschichtlichen Ausrichtung, in die das Motiv der klassenlosen Gesellschaft gerade nicht aufgenommen war,45 blieb der Erste Weltkrieg dasjenige Prisma, durch das seine Gegenwart wie auch das 19. Jahrhundert ihre Bedeutungsschichten erhielten. Im Herbst 1935 erwog Benjamin noch eine Emigration nach Moskau,46 wohl nicht ganz zufällig versuchte er so auch zweimal, den Kunstwerkaufsatz dort zu publizieren. Diese Bestrebungen waren nicht von Erfolg gekrönt  – ein anderer Text wurde jedoch in Moskau gedruckt. So weilte Benjamin im Sommer 1936 bei Brecht in Dänemark und arbeitete neben den intensiven Gesprächen über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit an einer dieser Arbeit nahestehenden Besprechung, die am 21. August nach Moskau geschickt wurde und unter dem Titel Pariser Brief. André Gide und sein neuer Gegner drei Monate später – und das hieß in Bezug auf Gide in einer anderen Zeit – in Das Wort erschien. Darin verteidigte Benjamin den für den Kommunismus gewonnenen Gide gegen faschistische Literatur, insbesondere Thierry Maulniers Mythos Socialiste, und sah die »polytechnische Bildung der Sowjets« als Exempel für eine Bildung, 42 Vgl. Entstehungs- und Publikationsgeschichte, in: Benjamin, Werke und Nachlaß  16, 319–375, hier 333 f. und 346–353. 43 Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (zweite Fassung), zit. nach ders., Werke und Nachlaß 16, 92. 44 Ebd. 45 Vgl. ebd., 52. 46 Vgl. zu Benjamins Moskau-Plänen zwischen 1933 und 1936 den Aufsatz Warum Walter Benjamins Moskau-Pläne scheiterten von Martin Vialon. Der Text wurde unter dem Titel Zur Geschichte einer Freundschaft. Warum Walter Benjamins Moskau-Pläne scheiterten. Ein Epilog zum 100. Geburtstag von Asja Lacis und Walter Benjamin bereits 1993 veröffentlicht; hier und im Folgenden wird auf den Wiederabdruck von 2016 zurückgegriffen. Vgl. dazu Vialon, Warum Walter Benjamins Moskau-Pläne scheiterten.

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die »imstande« sei, »den Fabrikarbeiter […] zu einer schöpferischen Arbeit zu führen«.47 In diesen Wochen war Benjamins Aufmerksamkeit indessen nicht nur gespalten zwischen Deutschland und der Sowjetunion, sondern sein Blick richtete sich vor allem auch in Richtung Westen. So schrieb er am 11. August an Werner Kraft: »Wir alle können uns fragen, wie lange wir uns der Hälfte der Erdkugel, auf welcher wir uns befinden, […] noch werden anvertrauen können. Und ob wir nach Ablauf einer gewissen Frist noch Zeit haben werden, diese Hälfte mit der anderen zu verwechseln.«48 Und er schloss unmittelbar an, was ihn bei der pessimistischen Einschätzung recht eigentlich beschäftigte: die »Vorgänge« in Spanien, von denen er nicht wisse, ob Kraft sie verfolgen könne. »Immerhin werden Sie darin mit mir einig sein, daß der dortige Kampf von großer Bedeutung auch für uns werden kann. […] Ich entbehre es, hier keine französischen Zeitungen zu finden; Weniges ist ja bedeutsamer als die Einwirkungen der spanischen Dinge auf die französischen.«49 Mitte September kehrte Benjamin nach Frankreich zurück, er hielt sich jedoch nicht lange genug dort auf, um eine neue intellektuelle Konfrontation unmittelbar wahrzunehmen. In einem geistigen Klima, in dem die Zuordnung zu den richtigen politischen Kreisen mit aller Konsequenz gefordert wurde, veröffentlichte André Gide einen Reisebericht, der die Fronten neu ordnete. Trotz verzögerter Wahrnehmung mündete die Reibung an diesen Konfliktlinien auch für Benjamin letztlich in seinen eigenen Begriff des historischen Materialismus. Am 6. November 1936 erschien die seit einem Jahr bestehende, sich auf die Manifestationen des 14. Juli 1935 berufende Wochenzeitung Vendredi mit dem Vorwort zu André Gides Bericht über seine neunwöchige Reise durch die Sowjetunion im Sommer des Jahres auf der Titelseite.50 Aufgrund der offenen Konfrontation in Spanien – ob der Kritik an der Sowjetunion – war Gide von der Publikation des Buchs abgeraten worden, dennoch erschien es am 13. November 1936 unter dem mehrdeutigen Titel Retour de l’U. R.S. S.51 Der Dichter hatte Moskau an dem Tag der Urteilsverkündung im ersten »Moskauer Prozess« verlassen und seine Enttäuschung der sowjetischen

47 Benjamin, Pariser Brief. André Gide und sein neuer Gegner, zit. nach ders., Werke und Nachlaß 13.1, 470–485, hier 483. Zu diesem Text Benjamins vgl. bes. Palmier, Walter Benjamin, 595. 48 Benjamin an Werner Kraft, 11. August 1936, zit. nach ders., GB 5, 356–359, hier 357. 49 Ebd. 50 Gide, Avant-propos au livre »Retour de l’U. R.S. S.«. Zur Zeitung Vendredi und ihrer Ausrichtung vgl. Cellier-Gelly, André Chamson et »Vendredi«, l’hebdomadaire du Front populaire, bes. 98. 51 Zu Gides Reise und der Publikation seines Buchs vgl. Winock, Das Jahrhundert der Intellektuellen, 363–374, bes. 369.

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Realität gegenüber trat in seinem Bericht deutlich hervor.52 Da Benjamin sich von Mitte November bis Anfang Dezember in San Remo und Ravenna bei seinem Sohn Stefan aufhielt, verzögerte sich seine Perzeption des Eklats um einige Wochen.53 Unterdessen wurde seine im August fertiggestellte Verteidigung Gides gegen die Faschisten in Das Wort abgedruckt. Ernst Bloch kommentierte diese mit den trockenen Worten: »Ihren Aufsatz in das Wort habe ich gelesen; er dürfte damit der letzte über Gide gewesen sein.«54 Nach seiner Ankunft in Paris schrieb Benjamin Margarete Steffin in Dänemark, der Brief ist auf den 12. Dezember 1936 datiert: »Während meiner Abwesenheit ist das Buch von Gide ›Retour de Urss‹ [sic] erschienen. Erschienen nicht nur in Buchform, sondern in zahllosen Auszügen in der Presse der Faschisten verbreitet. Gelesen habe ich es noch nicht.«55 Dennoch enthielt er sich der Vertrauten Brechts gegenüber nicht seiner Meinung, wenn er sich in Klammern darüber ausließ, dass er das Buch »mißbillige […] ohne es noch zu kennen«.56 Und kaum wahrte er die Fassung darüber, »daß die Haltung des Mannes, der sich zu diesem Zeitpunkt, auf den Weg macht, um nun mal nachzusehen, wie die Sache da eigentlich aussieht, eine Düpierung darstellt«. Neben dem aus Benjamins Sicht falschen Zeitpunkt von Gides Besuch, vermisste er einen »exakten politischen Zweck« bei diesem und sah den Zweck selbst, wenn überhaupt, in der »trotzkistischen Linie«  – wie er diese verstanden wissen wollte, blieb allerdings offen.57 Gegenüber Steffin machte er zugleich auch deutlich, dass er noch auf Reaktion aus Moskau betreffs der Publikation seiner »Reproduktionsarbeit« warte.58 Sechs Wochen später indes, am 31. Januar 1937 äußerte er sich Horkheimer gegenüber in einem ganz anderen Ton: »Das Buch von Gide hatte ich gerade vor als ihr Hinweis darauf in meine Hände kam. Die Stelle über die Religion ist ausgezeichnet; wohl die beste des Buches. – Zu den gegenwärtigen Vorgängen in der Union fehlt mir jeder Schlüssel.«59

52 Vgl. dazu ebd., 367, sowie Vialon, Warum Walter Benjamins Moskau-Pläne scheiterten, 289 f. 53 Ob Benjamin das Vorwort in der Ausgabe von Vendredi gesehen hat, ist fraglich, wahrgenommen hat er den Bericht zumindest noch nicht im November. Vgl. dazu Benjamins Briefe vom 4. November bis 10. Dezember 1936, in: Benjamin, GB 5, 412–435. 54 Zit. nach ders., Werke und Nachlaß 13.2, 475–486, hier 477. 55 Benjamin an Margarete Steffin, 12. Dezember 1936, zit. nach ders., GB 5, 438 f., hier 438. 56 Ebd. 57 Ebd., 439. 58 Ebd. 59 Benjamin an Max Horkheimer, 31. Januar 1937, zit. nach GB 5, 455–458, hier 458. Das Buch führt Benjamin nach zwei Werken von Eduard Fuchs in seiner Lektüreliste auf und die Retouches à mon retour de I’URSS von Gide sind für den Sommer 1937 verzeichnet. Ders., Verzeichnis der gelesenen Schriften, zit. nach ders., GS 7.1, 473.

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Benjamin suchte einen Schlüssel jedoch nicht nur für die ihm gegenwärtigen Ereignisse, die schließlich seinen Blick auf die UdSSR veränderten, sondern auch für deren Tiefenschichten. So richtete er zehn Jahre nach seiner eigenen Moskaureise sein Denken auf die Frage des historischen Materialismus selbst. In seinem am 28. Februar 1937 an Horkheimer gesandten,60 im Sommer des Jahres in der Zeitschrift für Sozialforschung veröffentlichten Artikel Eduard Fuchs findet sich noch diejenige materialistische Einschätzung, die auch in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit ausgeführt wird: eine Orientierung an dem geschichtlichen Tatbestand der Technik, dem falschen Bewusstsein, der Verdinglichung und der Klasse.61 Daneben ist aber ein neuer Begriff des Materialismus angezeigt, der in Benjamins spezifische Geschichtsphilosophie mündete. »Der Historismus stellt das ewige Bild der Vergangenheit dar; der historische Materialismus eine jeweilige Erfahrung mit ihr, die einzig dasteht«,62 heißt es so etwa schon ganz im Sinne der geschichtsphilosophischen Thesen in Eduard Fuchs. In der »Erfahrung«, schrieb Benjamin jedoch weiterhin, »werden die gewaltigen Kräfte frei, die im ›Es-war-einmal‹ des Historismus gebunden liegen«.63 So übernahm er zwar ganze Absätze fast wörtlich in Über den Begriff der Geschichte – allerdings mit signifikanten Verschiebungen. In der Verhältnisbestimmung von konstruktivem »Moment« im historischen Materialismus und klassischer Geschichtserzählung zeigt sich noch eine, obschon bereits kritische, Verbindung zum Historismus, die in den Thesen nicht mehr anzutreffen ist. Es wird eine gewisse Nähe zu einer Erzählstruktur suggeriert, die sich auch in Ranke als Referenz ausdrückt. Drei Jahre später, in den Thesen, ist diese Annahme ihrer Ambivalenz entledigt, Ranke zum Gegenbild des historischen Materialismus geworden und das Erzählen dem Artikulieren entgegengesetzt. Für das »Es-war-einmal«, aus dem Benjamin in Eduard Fuchs Kräfte freisetzen wollte, wählte er 1940 das Bild des »Bordell[s] des Historismus«. Weist der Historismus in Eduard Fuchs bei aller Kritik einen Anklang von Märchen auf, so suchte Benjamin dem Erzählen Mitte der 1930er Jahre ein Moment von Geborgenheit abzuringen. Ende der 1930er Jahre schrieb er dem theologischen Rest ein bewahrendes Moment zu. Das Motiv der Gefahr und die zugehörige Schärfe des Tons waren im Februar 1937 noch nicht in die Geschichtsphilosophie hineingedrungen und der verdinglichten Kultur setzte er noch eine »echte, d. i. politische Erfahrung« gegenüber.64 Den Gedanken der Freisetzung führte Benjamin mit einer Bestimmung fort, in der er auch auf einen anderen Text 60 Vgl. ders. an Max Horkheimer, 28. Februar 1937, zit. nach ders., GB 5, 463 f., hier 463. 61 Vgl. ders., Eduard Fuchs, zit. nach ders., GS 2.2, 474, 476 und 495. 62 Ebd., 468. 63 Ebd. 64 Ebd., 477.

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deutete: »Die Erfahrung mit der Geschichte ins Werk zu setzen, die für jede Gegenwart eine ursprüngliche ist  – das ist die Aufgabe des historischen Materialismus.«65 Damit verband er in der Reflexion von Ursprünglichkeit die Erfahrung mit der Geschichte und ließ dadurch, in einer vorangestellten Fußnote sogar im expliziten Rekurs auf das Trauerspielbuch,66 diese epochal bestimmte geschichtliche Grundkonzeption in seinen historischen Materialismus einfließen. So wurden die ehemals dem Bereich der Theologie zugedachten Überlegungen zum Ursprung in eine neue Figuration von Geschichtsphilosophie gefügt, die im Februar 1937 allerdings nicht explizit an den theologischen Bereich rückgebunden wurde. Erst drei Jahre nach seinem Fuchs-Text wurden das Moment der Gefahr, die Rettung, aber auch die revolutionäre Chance und die Erlösung ins Zentrum der Betrachtung gerückt und mit ihnen der Theologie eine neue geschichtliche Notwendigkeit zugewiesen. Obwohl sich Benjamin der Stellung seiner Überlegungen zur Theologie noch lange nicht gewiss war, wurde seine Position zur Sowjetunion im Verlauf des Jahres eindeutig. Am 6. Dezember schrieb er einen Brief – wieder an Horkheimer  –, in dem er sich darüber erstaunt zeigte, dass er ob der Vorgänge in Russland »einen offenkundig nicht parteigebundenen Intellektuellen sich in positivem Sinne auf sie beziehen« gehört habe.67 Gemeint ist Alexandre Kojève, dessen Seminar zu Hegels Phänomenologie des Geistes er besuchte und der im von George Bataille im November 1937 gegründeten »Collège de sociologie« zwei Tage vor dem Brief an Horkheimer einen Vortrag mit dem Titel »Les conceptions hégéliennes« gehalten hatte.68 Kojève sei darin davon ausgegangen, dass »Soziologie heute in Moskau« gemacht werde; »geschrieben werden könne sie erst, wenn man dort entschieden habe«,69 referierte Benjamin dessen Standpunkt in klarer Distanz und schloss seine Gesamteinschätzung an: »Es war recht traurig, wenn man auch nicht aus den Augen verlieren darf, daß vieles vielleicht aus Bosheit gegen die Veranstalter des Vortrages von ihm gesagt wurde.«70 Da Kojève auch später keinen Hehl aus seiner Parteinahme für den Stalinismus machte, kann davon ausgegangen werden, dass es wohl weniger Bataille und die anderen – antistalinistischen – Vertreter der Geheimgesellschaft »Acéphale« waren, in deren Umkreis Benjamin auch selbst verkehrte, die ihn zu seiner konfron65 Ebd., 468. 66 Ebd. 67 Benjamin an Max Horkheimer, 6. Dezember 1936, zit. nach ders., GB  5, 616–624, hier 621. 68 Vgl. Gödde / Lonitz, Anmerkungen zu dem Brief an Max Horkheimer vom 6. Dezember 1937, in: ebd., 625–627, hier 626. 69 Benjamin an Max Horkheimer, 6. Dezember 1936, zit. nach ebd., 620. 70 Ebd.

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tativen Position drängten, nur der Ton mag darin begründet gewesen sein. Jenseits der Personalie Kojève wird Benjamins kritische Haltung in seinem Staunen über einen solchen Vortrag mehr als deutlich. »Bei Gide – das ist weniger überraschend  – hat sich eine affektbetonte Opposition nicht nur gegen den Stalinismus sondern auch gegen den dialektischen Materialismus herausgebildet«,71 heißt es in dem Brief an Horkheimer weiter. Damit verwies Benjamin auf eine Differenz zwischen der Sowjetunion und dem Materialismus, wie er ihn seit seinem Text Eduard Fuchs selbst zu begreifen suchte. Noch stärker trat die Trennung im Angesicht des Hitler-Stalin-Pakts zutage; jedoch war er längst nicht das Initial für Benjamins Entfernung von Moskau. In seiner letzten Schrift wurde der Theologie indes ein Ort zugewiesen, der zwar nicht aus seinen Überlegungen zur Kommunistischen Partei hervorging, aber mit seinen politischen, um die 1920er Jahre gehegten Gedanken zusammenhing und so in diese einfloss. Bereits seit den Jahren des Ersten Weltkrieges reflektierte Benjamin auf theologische Momente, die mit seiner Skepsis gegenüber linientreuen Positionen korrelierte – in den 1930er Jahren erhielt dieses Nachdenken eine neue Fassung.

Häretische Stimmung In Die literarische Welt erschien 1929 und 1930 eine Rubrik, in der, wie die Redaktion es in ihrem die Artikelserie einleitenden Aufruf formulierte, »Dichter und Schriftsteller von Namen und Ansehen in wenigen ganz persönlich gehaltenen Zeilen […] ein Buch aufführen [sollen], das ihrer Meinung nach zu bald vergessen oder überhaupt zu wenig beachtet worden ist«.72 Am 17. Mai 1929 veröffentlichte Benjamin darin einen Beitrag mit dem bezeichnenden Titel Bücher, die lebendig geblieben sind. Einer wohl im April begonnenen, aber abgebrochenen Version stellte er eine allgemeine Einleitung voran, die in der Endfassung nicht mehr enthalten ist, in der er einen Passus zweimal zu formulieren versuchte  – beide Varianten sind gestrichen, die eine gleich doppelt. In der einfach gestrichenen heißt es: »[V]ielleicht ist es angebrachter als alles andere, den Blick auf einige große Werke deutscher Wissenschaft zu lenken, die nicht nur weil sie jung sind, nicht so bald zum ›Bildungsschatze‹ der Nation gehören werden.«73 Obwohl sich in der Notiz damit noch Unsicherheiten zeigten, war er sich gewiss, dass »ein kunsthistorisches, ein theologisches und ein politisches« Werk Be71 Ebd. 72 Zit. nach Kaulen, Anmerkungen zu »Bücher, die lebendig geblieben sind«, in: Benjamin, Werke und Nachlaß 13.2, 191–194, hier 191 f. 73 Benjamin, Notizen zu »Bücher, die lebendig geblieben sind«, zit. nach ders., Werke und Nachlaß 13.1, 688 f., hier 689. Vgl. dazu auch ders., Werke und Nachlaß 13.2, 192.

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rücksichtigung finden sollten. Zuerst wird Alois Riegls Spätrömische Kunst­ industrie von 1901 angeführt, dann Franz Rosenzweigs Der Stern der Erlö­ sung, danach bricht der Entwurf ab.74 In der gedruckten Sammelbesprechung finden sich schließlich vier Werke, deren Bedeutung Benjamin – ohne Vorbemerkung – in wenigen Sätzen herausstellte: das kunstgeschichtliche Buch Riegls, ein architekturhistorisches von Alfred Gotthold Meyer von 1907, Rosenzweigs genanntes und Geschichte und Klassenbewusstsein von Georg Lukács.75 Über das am Schluss der Reihung stehende Buch schrieb Benjamin für Die literarische Welt: »Seine Einzigartigkeit beruht in der Sicherheit, mit der es in der kritischen Situation der Philosophie die kritische Situation des Klassenkampfes und in der fälligen konkreten Revolution die absolute Voraussetzung, ja den absoluten Vollzug und das letzte Wort der theore­ tischen Erkenntnis faßt.«76 Lukács’ geschichtsphilosophische Deutung war für Benjamin in philosophischer Vermittlung des Klassenkampfes auf die Revolution ausgerichtet. Eine solche Umwälzung erachtete er also auch vor den Erfahrungen der 1930er Jahre für notwendig – allerdings längst noch nicht in der historischen Formation, die ihn vergangene, gescheiterte Revolutionen und eine erhoffte, messianische Rettung gedanklich verbinden ließ. Gut zwei Jahre nach seiner Moskaureise schrieb er die Besprechung abschließend: »Die Polemik, die von Instanzen der Kommunistischen Partei unter Führung Deborins gegen das Werk veröffentlicht wurde, bestätigt auf ihre Art dessen Tragweite.«77 Den Stern der Erlösung, den Benjamin in Bücher, die lebendig geblieben sind vor Lukács und die öffentliche Distanzierung von der Kommunistischen Partei stellte, charakterisierte er als »[e]in System der jüdischen Theologie. Denkwürdig wie das Werk seine Entstehung in den Schützengräben von Mazedonien«.78 An keiner anderen Stelle rückte er dieses Buch in der Form ins Zentrum seiner Betrachtung. Die nur in der Peripherie berührte Evokation ist indessen eine häufig gewählte Vorgehensweise Benjamins. 74 Ders., Notizen zu »Bücher, die lebendig geblieben sind«, zit. nach ders., Werke und Nachlaß 13.1, 688 f., hier 689. 75 Bereits in Ursprung des deutschen Trauerspiels und erneut zwei Jahre nach Bücher, die lebendig geblieben sind nannte Benjamin Rosenzweig und Lukács zusammen. Dabei rekurrierte er allerdings auf die Tragödien- und die Romantheorie. Vgl. dazu Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, zit. nach ders., GS 1.1, 280; ders., Was ist das epische Theater? (1). Eine Studie zu Brecht, zit. nach ders., GS 2.2, 519–531, hier 524. Stéphane ­Mosès deutet diese beiden Zusammenstellungen als signifikant für Benjamins provokanten Zugriff auf jüdische Tradition. Vgl. dazu Mosès, Walter Benjamin und Franz Rosenzweig, 630. 76 Benjamin, Bücher, die lebendig geblieben sind, zit. nach ders., Werke und Nachlaß 13.1, 183–185, hier 185. 77 Ebd. 78 Ebd.

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Gleiches gilt auch für Geschichte und Klassenbewusstsein. Er tarierte aus, wann er welche Personen und Begriffe nannte, stehen sie doch für kollektive Figurationen und Gedankenwelten, die aus der Distanz in neue Konstellationen traten. So pointierte er in seiner kurzen Darstellung von Der Stern der Erlösung nach der Zeitdiagnostik: »Siegreicher Einbruch der Hegelschen Dialektik in Hermann Cohens ›Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums‹.«79 Damit wurde das Werk Rosenzweigs einerseits mit Cohens Denken und andererseits  – und das ist in Bezug auf das von Rosenzweig hinter sich gelassene Wissensfundament bezeichnend – gerade mit Hegels verbunden. Dies war eine Deutung, die Rosenzweig wohl nicht gern gesehen hätte, glaubte er doch mit seinem Opus magnum sich gerade von dem Denken zu verabschieden, dessen Methode aus der Perspektive Benjamins hereingebrochen sein sollte. Allerdings war sie demnach nicht in Rosenzweigs eigene Denkbewegung hereingebrochen, sondern eben in Cohens letzte Schrift. Zweierlei Verbindung zeigte sich in der kurzen Sammelbesprechung vom Mai 1929 an, die für Benjamins Verständnis von Theologie und Politik entscheidend ist. Ein gedanklicher Zusammenhang von Cohen und Rosenzweig im philosophischen Rahmen dessen, was Benjamin als Theologie verstand, und die Bedeutung der – noch ausschließlich als proletarische verstandenen – Revolution als Kern seiner politischen Ausrichtung. Drei Jahre zuvor, in seinem Rechtfertigungsbrief an Scholem, der eine pragmatische Nähe zur Partei ausgedrückt hatte, setzte Benjamin bereits für seinen Versuch, die »rein theoretische Sphäre zu verlassen«, auseinander, dass dies »auf menschliche Weise nur zwiefach möglich [ist]: in religiöser oder politischer Observanz. Einen Unterschied dieser beiden Observanzen in ihrer Quintessenz gestehe ich nicht zu.«80 So machte er deutlich, dass seine Überlegungen zur Theologie nicht von seiner Vorstellung von Politik zu trennen seien – in gewissem Sinne gibt es damit eine Linie, die sich trotz aller Verwerfungen durch sein Denken hindurchzieht. An seine Überlegungen zur Jugendbewegung und dem Jüdischsein von 1912 gemahnend, dia­ gnostizierte er auch 1926: »›gerechte‹, radikale Politik, die eben darum nichts als Politik sein will, wird immer für das Judentum wirken und, was unendlich viel wichtiger ist, immer das Judentum für sich wirksam finden«.81 In seinem Brief betonte er auch, dass ihm die Rezension Siegfried Kracauers »schlechthin zutreffend vorkam«.82 Gemeint war Die Bibel auf Deutsch. In der Ende April 1926 in der Frankfurter Zeitung erschienenen Besprechung kritisierte Kracauer die Verdeutschung der Schrift von Buber und Rosen79 Ebd. 80 Benjamin an Gershom Scholem, 29. Mai 1926, zit. nach ders., GB 3, 158. 81 Ebd., 159. 82 Ebd., 162.

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zweig auf das Schärfste. Benjamin setzte Scholem gegenüber hinzu, dass sie »zudem mancherlei übernimmt, was ich mündlich ihm [Kracauer] zu dem Thema gesagt« habe.83 Benjamins eigene Überlegungen zur Aufgabe des Übersetzers aus dem Jahr 1921 weisen gewisse Nähen zu Rosenzweigs etwas später niedergeschriebener, erlösungsorientierter Vorstellung der allgemeinen Sprache auf.84 Benjamin umkreiste darin eine »reine Sprache«, die dem Wachsen der Sprachen bis »ans messianische Ende ihrer Geschichte« innewohne.85 Die im Nachhall der Dissertationsschrift zur Kunstphilosophie in der deutschen Romantik stehende Reflexion schloss er mit den Worten: »Die Interlinearversion des heiligen Textes ist das Urbild oder Ideal aller Übersetzung.«86 Bereits 1921 deutete er so im Verhältnis von Dichtung und Übersetzung das Problem des historischen Wandels von Sprache an.87 Fünf Jahre später stimmte er dann auch mit Kracauers Kritik überein. Benjamin richtete sich dabei allerdings vor allem gegen Buber. Am 3. Juni 1926 schrieb er Kracauer persönlich, dass ihm ein Bedauern bleibe, weil er »Rosenzweig, der in meinem Bilde von heutiger Autorschaft durch den ›Stern der Erlösung‹ einen uneinnehmbaren Platz […] behauptet, durch solche Fraternität [mit Buber] für immer beschädigt« sehe.88 Noch knapp zehn Jahre später, am 18. Juli 1935 in einem Brief an Alfred Cohn, knüpfte Benjamin an diese Einschätzung an: »Es ist nicht das wenigst merkwürdige an meinem Verhältnis zu Rosenzweig – dessen ›Stern der Erlösung‹ mich seinerzeit sehr beschäftigt hat und von dem ich von Scholem oft gehört habe – daß seine Freundschaft mit Buber meiner ungemein tief wurzelnden Abneigung gegen diesen letzten niemals hat Abbruch tun können.«89 Zum Ende des Jahres 1929 erhielt Benjamin »den Auftrag, das Thema: die deutschen Juden im Geistesleben des 19. und 20. Jahrhunderts als Unter83 Ebd. Benjamin wurde im September 1926 für eine Rezension von Die Schrift und Luther zusammen mit der Bibelübersetzung angefragt, was er entschieden ablehnte. Vgl. ders. an Gershom Scholem, 18. September 1926, zit. nach ders., GB 3, 194–202, hier 199. 84 Vgl. ders., Die Aufgabe des Übersetzers, zit. nach ders., GS 4.1, 9–21; Rosenzweig, Nachwort, in: Sechzig Hymnen und Gedichte des Jehuda Halevi, 109; ders., Die Schrift und Luther, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk 3: Zweistromland, 769. Zu den übersetzungstheoretischen Affinitäten vgl. u. a. Di Cesare, Übersetzen als Erlösen; Durand, Geist der Übersetzung, 73; Scharf, Thinking in Translation, 134–147. 85 Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers, zit. nach ders., GS 4.1, 14 und 19. Donatella Di Cesare weist darauf hin, dass bei aller Nähe von Rosenzweig und Benjamin der gravierende Unterschied in Bezug auf die Erlösungshoffnung bleibe, dass »[f]ür Benjamin […] dieses auserwählte und zugleich negierte Reich nicht durch Übersetzung erreicht werden« könne. Vgl. dies., Übersetzen als Erlösen. Zu dem Unterschied aus anderer Perspektive vgl. Scharf, Thinking in Translation, 147. 86 Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers, zit. nach ders., GS 4.1, 21. 87 Vgl. ebd., 13. 88 Benjamin an Siegfried Kracauer, 3. Juni 1926, zit. nach ders., GB 3, 167–170, hier 167. 89 Ders. an Alfred Cohn, 18. Juli 1935, zit. nach ders., GB 5, 127–130, hier 130.

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abteilung unter dem Stichwort ›Deutschland‹ [für die Encyclopaedia Judaica] zu behandeln«, wie er Scholem am 1. November des Jahres mitteilte.90 Der Artikel entsprach nicht den Erwartungen und wurde in einer von Nachum Goldmann und Benno Jacob umgearbeiteten Fassung 1930 gedruckt. Benjamin versah seine Belegexemplare mit der Marginalie: »Stark gekürzter, von allem Wesentlichen gereinigter Abdruck Enzyklopädia Judaica Bd V.«91 Sein eigener Text ist nicht erhalten. Die publizierte Version geht im ersten Abschnitt auf die »Geisteswissenschaften« ein. Diese Betrachtung reicht zunächst von Moses Mendelssohn über Salomon Maimon bis zur Wissenschaft des Judentums und zu einem Verweis auf den »Rückschlag der Romantik« in der »Besinnung auf nationale Triebkräfte«, die dem »Judentum völlig unverständlich« geblieben seien.92 Anschließend wird Moses Hess, dessen »philosophische Analyse auf eine Metaphysik des Judentums zurück[gehe], in der sich geschichtsphilosophische und politische Motive durchdringen«, charakterisiert, dann Karl Marx, mit dem »[d]ie Geschichte der Menschheit […] nunmehr als eine Folge von Klassenkämpfen [erscheint]«, und ­Ferdinand Lassalle, der »als Theoretiker […] gegen Marx zurück[tritt]«.93 Selbst wenn Benjamin wohl nicht nur die Romantik anders ausgedeutet hätte, könnte zumindest der thematische Schwerpunkt dieser Charakteristiken auf seinen Anspruch zurückzuführen sein. Schließlich werden noch Denker bedacht, deren Lebenszeit sich mit der Benjamins überschnitt, vor allem Hermann Cohen, Edmund Husserl, Georg Simmel und Sigmund Freud. Dort heißt es zu dem 1918 verstorbenen Haupt der Marburger Schule: »Seiner Weltanschauung nach verbindet Cohen die deutsche Humanitätsphilosophie einerseits mit einem ethisch fundierten, nichtsdestoweniger aber rigorosen Staatsgedanken, andererseits mit dem geschichtsphilosophisch fundierten, doch gleichfalls rigoros betonten jüd. Monotheismus.«94 Auffällig ist, dass der geschichtsphilosophische Grund von Cohens Philosophie genauso wie die »deutsche Humanitätsphilosophie« in dieser Form exponiert werden. Buber erhielt in dem Eintrag keinen eigenen Abschnitt, er wird jedoch im Übergang von Simmel zu Freud genannt: »Unter den neuen deutschen Schriftstellern hat besonders Martin Buber das Judentum in den Mittelpunkt seines Denkens gestellt.« Mit einem folgenden deskriptiv gehaltenen Satz zu dessen Lebenswerk dürfte diese Darstellung 90 Zitiert nach Tiedemann / Schweppenhäuser, Anmerkungen zu Seite 807–813 »Juden in der deutschen Kultur«, in: Benjamin, GS 2.3, 1520 f., hier 1520. 91 Ebd., 1521. Vgl. auch Benjamin, Juden in der deutschen Kultur (zusammen mit Nachum Goldmann und Benno Jacob), zit. nach ders., GS 2.2, 807–813, hier 807. 92 Ders., Juden in der deutschen Kultur (zusammen mit Nachum Goldmann und Benno Jacob), zit. nach ders., GS 2.2, 808. 93 Ebd., 809. 94 Ebd.

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als verhalten gelten. Auch Rosenzweig wurde kein eigener Absatz zugewiesen, er wird nur erwähnt, wenn es in dem Passus zu Cohen weiterhin heißt: »Cohens Schüler haben sich späterhin von ihm fortentwickelt. Bemerkenswert ist Franz Rosenzweigs (1886–1929) Versuch, dem rationalistisch verstandenen Judentum Cohens eine ebenso streng gefügte Philosophie des Judentums auf mystischer Grundlage entgegenzusetzen: ›Der Stern der Erlösung‹ (1921).«95 Wer auch immer für diese Einordnung verantwortlich zeichnete, sie ist in ihrem konfrontativen Gehalt gegenläufig zu der ein halbes Jahr davor von Benjamin gegebenen Zusammenschau von Rosenzweig, Cohen und Hegel. Rosenzweig verstarb am 10. Dezember 1929 und auch Benjamins Anteilnahme an Scholems postumer Würdigung im Jahr 1931 weist darauf hin, dass er dessen Nachwirken rezipierte.96 Mehr noch: Seine Überlegungen zur Theologie verbanden sich bald wieder mit der Person Rosenzweigs, wie auch mit der Rangs. So hielt Benjamin in einer Rezension mit ganz anderem Gegenstand – Theodor Haeckers Vergil ist das Thema – 1932 fest, dass die Theologie kein »Wolkenkuckucksheim« sein solle, und setzte dagegen: »Es sind denn auch in der Tat theologische Denker gewesen, die gerade in unserer Generation erschienen, um den Kampf gegen die Idolatrie des Geistes aufzunehmen: der Jude Franz Rosenzweig von der Sprache, der Protestant Florens Christian Rang von der Politik her.«97 Er fügte noch hinzu, dass es sich bei diesen beiden »um häretisch gestimmte Männer [handelt], denen es nichts Unmögliches ist, die Tradition auf ihrem eigenen Rücken zu befördern, statt sie seßhaft zu verwalten«.98 Ein Anliegen, das auch Benjamin nicht fernlag. Jedoch ordnete er die Theologie der Geschichte zu. In dieser Zeit, wohl im Herbst 1931, notierte Benjamin: »Die Beziehung meines Begriffs des Ursprungs wie die Trauerspielarbeit und der Essay über Kraus ihn entwickelt zu Rosenzweigs Begriff der Offenbarung ist zu untersuchen.«99 Benjamin hatte seinen eigenen Begriff von Offenbarung mit Rang diskutiert und Mitte der 1920er Jahre aus der Erkenntniskritischen Vorrede zum Ursprung des deutschen Trauerspiels herausgestrichen. In Anbetracht dessen ist diese Aufgabenstellung signifikant  – sie wurde allem Anschein 95 Ebd. 96 Vgl. Benjamin an Gershom Scholem, 1. Oktober 1931, zit. nach ders., GB 4, 51–57, hier 52. 97 Ders., Privilegiertes Denken, zit. nach ders., Werke und Nachlaß 13.1, 346. Vgl. zu Rang bes. Jäger, Messianische Kritik. In der Einleitung geht Jäger auch auf Rosenzweig und Benjamins Rezension zu Haecker ein. Vgl. ebd., 1–9, bes. 3 f. 98 Benjamin, Privilegiertes Denken, zit. nach ders., Werke und Nachlaß 13.1, 346. 99 Zit. nach ders., Notizen 4 (fr 184), in: ders., GS  6, 207. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser gehen davon aus, dass diese Notiz unter dem »Eindruck von Scholems Rosenzweig-Kritik« noch im Herbst 1931 abgefasst wurde. Diese Zeitangabe ist zwar nicht gesichert, aber die Notiz steht relativ am Anfang eines Buchs, in dem sich Aufzeichnungen von 1931 bis 1934 finden. Vgl. dazu dies., Anmerkungen zu Seite 207 f. »(fr 184) Notizen 4«, in: ebd., 767 f.

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nach allerdings nicht weitergeführt. Dennoch deutet sie auf einen mit dem Kraus-Essay sich erneut einstellenden Rekurs auf theologische Motive, wie Benjamin sie in seiner Rezension zu Haecker bei Rosenzweig und Rang ausmachte. In der Erkenntniskritischen Vorrede hatte Benjamin seinen Begriff des Ursprungs in das Spannungsfeld von Geschichte und Theologie gestellt. Diesen Gedanken nahm er im Frühjahr 1931 in seinem Essay Karl Kraus tatsächlich wieder auf. Wenige Monate bevor ihn die allgemeine wie persönliche Krise auf einer anderen Ebene zu seiner Konzeption von Geschichte zurückführte, spannte Benjamin Kraus indes – vermittelt über Sensation und Phrase – zwischen »Weltgeschichte« und »Weltgericht« ein. Während er die Sprache im Bild des Gerichts ausdeutete, trieb er die Geschichte über sich hinaus. Der »Allmensch«, verstanden als »Kern der Kreatur«, gewinne die »säkularisierten Gewitter und Blitze, Stürme, Brandungen und Erdbeben« der »Schöpfung« zurück.100 »Nur«, fuhr Benjamin in Bezug auf Kraus fort, »daß die Spanne zwischen Schöpfung und Weltgericht hier keine heilsgeschichtliche Erfüllung, geschweige denn geschichtliche Überwindung findet.«101 Ihm seien »die Schreckensjahre seines Lebens nicht Geschichte, sondern Natur, ein Fluß verurteilt durch eine Höllenlandschaft sich zu winden«.102 Diese in die Vorwelt der Geschichte weisende Interpretation war nur in geschichtlicher Perspektive möglich; die Kreatur wurde bei Kraus in die Zeit des Hochkapitalismus versetzt. So konfrontierte Benjamin den Allmenschen mit dem »Unmenschen«. Für diese Gegenfigur zum »Kern der Kreatur« zitierte Benjamin den Satz »Ursprung ist das Ziel« und entfaltete ein Wechselspiel von »Ursprung« und »Zerstörung«.103 In seiner Sicht verlegte Kraus den Ursprung in einen »Fluchtpunkt«, der darin bestehe, »[d]ie bürgerlich-kapitalistischen Zustände zu einer Verfassung zurückzuentwickeln, in welcher sie sich nie befunden haben«.104 Die in dieser Denkfigur angelegten vergangenen, nicht ergriffenen Möglichkeiten gewannen für Benjamin Jahre später grundlegende Bedeutung. Auch wird im Frühjahr 1931 zum Ende des Textes Klees »Neue[r] Engel« in Verbindung mit einer »Humanität gebracht, die sich an der Zerstörung bewährt«.105 Damit ist ein dialektischer Begriff von Säkularisierung 100 Benjamin, Karl Kraus, zit. nach ders., GS  2.1, 340. Dabei bezieht sich Benjamin auf ­Adalbert Stifters Bunte Steine von 1853, wie Sigrid Weigel hervorhebt. Sie deutet diese Stelle im Hinblick auf Benjamins doppeltes Verständnis von Säkularisierung aus, von dem er in dem Kraus-Essay nur die »schnöde« benenne. Vgl. dazu dies., Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht, 67–69. 101 Benjamin, Karl Kraus, zit. nach ders., GS 2.1, 340. 102 Ebd. 103 Ebd., 360. 104 Ebd., 363. 105 Ebd., 367.

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in dem Essay bereits angelegt, der in den Thesen seinen vollen, aber verschobenen Ausdruck findet.106 Im Frühjahr 1940 war die vormals angestrebte Zerstörung der Bedrohung einer realen Trümmerlandschaft gewichen und die Menschheit musste sich nicht mehr an ihr, sondern gegen diese bewähren. Trotz dieser Veränderung wurden bereits in Karl Kraus materialistische Überlegungen mit mystischen Motiven verbunden. Der Text ist dabei in einem Vokabular gehalten, das an Rosenzweigs angelehnt scheint. Benjamins Notiz zu Rosenzweigs Begriff der Offenbarung deutet allerdings darauf hin, dass er diesen während der Verschriftlichung des Essays nicht präsent gehalten hatte, sondern sich ihm erst im Nachhinein gewisse Affinitäten einstellten. Dieses Wechselspiel von Nähe und Distanz prägte Benjamins Denkbewegung, nicht nur zu einzelnen Denkern – insbesondere eben Rosenzweig und auch Cohen –, sondern zu einer Theologie, die nur mehr als häretische verstanden wurde. Nach einem Jahr des Exils, zuerst auf Ibiza, dann in Paris, entstand ein Text über Franz Kafka, der sich in begrifflicher Nähe zum Essay über Kraus erneut dem Schwinden von Tradition widmete  – nun jedoch unter historischen Bedingungen, in denen sich die Frage nach dem Judentum in Konfrontation mit dem Nationalsozialismus stellte. Noch während der Entstehung des Textes über Kafka nahm Benjamin indes zu einem anderen Problem Stellung, das ihm durch Scholems am 17. Juli 1934 in der Jüdischen Rundschau erschienenen Kritik an Isaac Breuers Der neue Kusari mit dem Titel Politikder Mystik gegenwärtig wurde.107 Benjamin schrieb am 26. Juli 1934 an Scholem, dass er meinte, dessen »Grundfrage begriffen« zu haben. »Wenigstens scheint es mir, daß im Mittelpunkt Deines Angriffs die Idee einer gegen die Profangeschichte gleichsam immunisierten Theokratie und Heilsgeschichte steht. Wie sehr ich solchem Angriff beipflichte, ist nicht nötig hervorzuheben.«108 Für Benjamin, der sich schon um 1920 – zu der Zeit durch Ernst Bloch angestoßen – skeptisch gegenüber der Vorstellung einer Theokratie zeigte, ist der Ansatz Breuers nicht zugänglich. Am selben Tag, an dem er Scholem seine Gedanken zu Politik der Mystik mitteilte, dankte er Kraft für die Zusendung von Scholems Text über Breuer und schrieb, dass

106 Vgl. dazu u. a. Weigel, Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht, 89 f. 107 Vgl. Benjamin an Gershom Scholem, 26. Juli 1934, zit. nach ders., GB 4, 469 f., hier 470. Scholems Stein des Anstoßes in Politik der Mystik ist, dass obschon »[d]er Jude dieses ›Neuen Kusari‹ […] ein Jude sein [will], und nichts als Jude«, ihm in Breuers »langer, freilich überaus dubioser Interpretation des Herrschaftsanspruchs der Theokratie das Dasein im profangeschichtlichen Bereich verboten« wird. Scholem, Politik der Mystik, 2. Vgl. dazu auch Gödde / Lonitz, Anmerkungen zu dem Brief an Gershom Scholem vom 26. Juli 1934, in: Benjamin, GB 4, 471. 108 Benjamin an Gershom Scholem, 26. Juli 1934, zit. nach ders., GB 4, 469 f.

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er »noch immer mit Kafka befaßt« sei.109 Ein halbes Jahr arbeitete Benjamin zu diesem Zeitpunkt an dem Text, dem die Profangeschichte in ganz eigener Weise eingeschrieben wurde. In Paris wurde das Jahr 1934 mit den Februarunruhen eröffnet, die die Zersplitterung der Parteien zutage treten ließen.110 Benjamin verfolgte diese zwar mit Spannung, erwartete aber nichts Bahnbrechendes.111 Obgleich diese Zeit geprägt war von den Auswirkungen der wirtschaftlichen wie der politischen Krise, war sein im Sommer des Jahres abgeschlossener Essay Franz Kafka. Zur Wiederkehr seines Todestages dieser nicht unmittelbar zugewandt. Er ist stattdessen einer der wenigen Texte Benjamins, der explizit um das Verhältnis von Judentum und moderner Welt kreist. Durch Kafkas Verhältnis zur Tradition vermittelt, ist die säkularisierte Moderne allgemein das Thema. Obwohl Benjamin im November des Jahres die Hoffnung aufgab, dass der Text noch zum Druck kommen werde, erschienen im Dezember zwei der vier Teile in der Jüdischen Rundschau, am 21. Dezember 1934 der erste Teil mit dem Titel Potemkin und, eine Woche darauf, am 28. Dezember der dritte Teil Das bucklicht Männlein.112 Der Essay über Kafka stand zwar quer zu den materialis­tischen Überlegungen Benjamins in dieser Zeit, er ließ es sich aber dennoch nicht nehmen, auch darin Lukács anzuführen. So konstatierte er diesen in seine Schranken verweisend: »Georg Lukács hat einmal gesagt: um heute einen anständigen Tisch zu bauen, muß einer das architektonische Genie von Michelangelo haben. Wie Lukács in Zeitaltern so denkt Kafka in Weltaltern.«113 Benjamin differenzierte  – ohne auf den deutschen Idealismus oder die Romantik zu verweisen – zwischen Zeitalter und Weltalter vermittels der Scham, die Kafkas Protagonist Josef K. am Ende von Der Prozess empfunden habe, als er aufgrund der »unbekannten Familie« nicht habe entlassen werden können: »Wir wissen nicht wie diese unbekannte Familie – aus Menschen und aus Tieren – sich zusammensetzt. Nur soviel ist klar, daß sie es ist, die Kafka zwingt, Weltalter im Schreiben zu bewegen. Dem Geheiß dieser Familie folgend, wälzt er den Block des geschichtlichen Geschehens wie Sisyphos den Stein.«114 Für Benjamin wurde Kafkas unbekannte Familie damit zum Grund eines Getriebenseins, das ins Leere strebte. Anschließend zitierte er Kafkas Aphorismus: »An Fortschritt glauben heißt nicht glauben, daß ein Fortschritt schon geschehen ist. 109 Ders. an Werner Kraft, 26. Juli 1934, zit. nach ebd., 466–468, hier 466. 110 Vgl. dazu etwa Winock, Das Jahrhundert der Intellektuellen, 309–311. 111 Vgl. Benjamin an Gretel Karplus, 10. oder 11. Februar 1934, zit. nach ders., GB 4, 350– 352, hier 351. 112 Vgl. Tiedemann / Schweppenhäuser, Anmerkungen zu Seite 409–438 »Franz Kafka«, in: Benjamin, GS 2.3, 1153–1276, hier 1172 f. 113 Benjamin, Franz Kafka, zit. nach ders., GS 2.2, 410. 114 Ebd., 428.

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Das wäre kein Glauben.«115 Und er setzte dem hinzu: »Das Zeitalter, in dem Kafka lebt, bedeutet ihm keinen Fortschritt über Uranfänge. Seine Romane spielen in einer Sumpfwelt.«116 Dieser urgeschichtlichen, an seinen KrausEssay anknüpfenden Deutung fügte Benjamin Kafkas Überlegungen zur »schwankende[n] Natur der Erfahrung« an.117 Parallel zu der Ausweisung von geradezu anthropologischer Tragweite ging Benjamin in kaum einem anderen Text so explizit auf »talmudische Legende[n]« ein wie in Franz Kafka. Die Geschichten verleihen dem Text einen Anschein von Traditionsfestigkeit, sie sind aber doch durch die Erzählungen stark vermittelt. Es ließe sich darüber streiten, welche Traditionsbestände Benjamin aufrief, fest steht jedoch, dass er sie nicht im Original gelesen hatte und etwa Scholem während der Arbeit an Franz Kafka um dessen Übersetzung eines Textes Chaim Nachman Bialiks bat, die 1919 unter dem Titel Halacha und Aggada in Der Jude veröffentlicht worden war.118 Benjamins Ausgangspunkt für Kafka und sich selbst war und blieb die moderne Welt, in der der Lehre kein direkter Ort mehr zugewiesen werden konnte; nur noch als Gleichnis erhielt sie Geltung. Scholem gegenüber stellte Benjamin in Bezug auf die Frage nach der Scham als nicht nur persönlicher Formation im Sommer 1934 fest, dass die »Vorwelt – Kafkas geheime Gegenwart – der geschichtsphilosophische Index« sei, »der diese Reaktion aus der Privat­verfassung heraushebt«. Und er wurde in seinem Brief recht konkret: »Das Werk der Thora nämlich ist  – wenn wir uns an Kafkas Darstellung halten – vereitelt worden.«119 Benjamin situierte Kafkas Figuren, die er als Kreaturen begriff, in einer Vorwelt, die demnach jenseits des Werks der Thora liege. Bereits in Karl Kraus sind Vorwelt und Kreatur zentrale Topoi, die allerdings vielleicht bloß zufällig mit Rosenzweigs Terminologie hatten übereinstimmen können; im Kafka-Essay ist es ähnlich und doch anders. Die begriffliche Nähe stellte sich Benjamin 1934 aus einem anderen Grund ein und so zitierte er in Franz Kafka zuerst kurz Cohen und dann, ausführlicher Rosenzweig – beide aus der Peripherie. 115 Ebd. Benjamin dürfte es der von Hans-Joachim Schoeps und Max Brod herausgegebenen Ausgabe von Franz Kafkas Beim Bau der chinesischen Mauer. Ungedruckte Erzählungen und Prosa aus dem Nachlass entnommen haben. Vgl. zu dem Zitat auch Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente 2, 123. 116 Benjamin, Franz Kafka, zit. nach ders., GS 2.2, 428. 117 Ebd. 118 Galili Shahar führt etwa das Buch vom Baal-Schem Tov als Quelle für die Legende von der Prinzessin an, stellt aber im Einvernehmen mit den Herausgebern der Gesammelten Schriften auch heraus, dass Benjamin die Geschichte wohl über Soma Morgenstern bekannt geworden war. Vgl. dazu Shahar, The Tale of the King’s Daughter, 111, Anm. 3. 119 Zit. nach Tiedemann / Schweppenhäuser, Anmerkungen zu Seite 409–438 »Franz Kafka«, in: Benjamin, GS 2.3, 1165.

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In seiner Überlegung zum nicht bekannten und dennoch exekutierten Gesetz in Kafkas Prozess, in der er den Prozess als »immerwährenden« bezeichnete und das ungeschriebene Gesetz der Vorwelt zuordnete, zog ­Benjamin Cohens Ethik des reinen Willens heran.120 Er rekurrierte aber immer noch nicht auf dessen Vorstellung von geschichtsphilosophischer Prophetie, sondern wieder auf die, wie Benjamin sie nannte, »flüchtig[e] Betrachtung der alten Schicksalsvorstellung« und zitierte damit mehr sich selbst als Cohen.121 Dessen Worte, wie auch die diesen vorweggehenden Sätze Benjamins finden sich bereits in Zur Kritik der Gewalt.122 In seinem dreizehn Jahre später geschriebenen Text machte er in Cohens Betrachtungen einen Verweis auf die jenseits des römischen Rechts liegende Vorwelt aus, die er in Kafkas Reflexion auf Gericht und Gesetz wirken sah.123 Rosenzweig, dessen Vokabular an ebender Stelle widerhallte, an der Benjamin in Franz Kafka Cohen nannte, zog er an ganz anderer heran. Von ihm übernahm Benjamin die Figur des »Durchschnittsmensch[en]«, die dieser in seinen Überlegungen zu China aufführte, wie auch eine Passage zum Geist, den Geistern und dem Individuum aus demselben Bereich. Beide Absätze stehen im ersten Teil von Der Stern der Erlösung, der die »immerwährende Vorwelt« verhandelt und dem das Geheimnis zugeordnet ist.124 Benjamin situierte damit Kafkas Figuren in einer Vorwelt, die mit Rosenzweig als noch nicht und nicht mehr durch die Offenbarung zur Welt gewordener Bereich zu verstehen wäre. Eine eindeutige Interpretation blieb allerdings aus. Die Zitate sind kaum für die jeweiligen Argumentationsgänge notwendig – weder für den Cohens und Rosenzweigs noch für den Benjamins. Sie verweisen indessen auf eine andere Bedeutungsebene.125

120 Benjamin, Franz Kafka, zit. nach ders., GS 2.2, 412. 121 Ebd. Darin heißt es nach Benjamin, dass es seine – in Cohens Worten – »Ordnungen selbst sind, welche dieses Heraustreten, diesen Abfall zu veranlassen und herbeizuführen scheinen«. Bei Cohen geht es an dieser Stelle um das Wunder, das die Ordnung über sich selbst hinaustreibt, so ist es zumindest eine Verschiebung, die Benjamin in seiner Deutung vornimmt. 122 Benjamin streicht allerdings ein oder zwei Sätze und ein »planvoll« heraus. Vgl. ebd.; ders., Zur Kritik der Gewalt, zit. nach ders., GS 2.1, 198 f. 123 Benjamin, Franz Kafka, zit. nach ders., GS 2.2, 412. 124 Ebd., 418 und 430. Anders als bei Cohen sind es nicht nur dieselben Stellen, die Benjamin im Falle Rosenzweigs im Trauerspielbuch bereits zitierte. Vgl. zum ersten Zitat im KafkaText und dem Trauerspielbuch Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 81 und 83; zum zweiten Zitat im Kafka-Text vgl. ebd., 64. 125 In Bezug auf Rosenzweig stellt Mosès diese Verschiebung bereits 1982 heraus, vgl. ders., Walter Benjamin und Franz Rosenzweig, 630–632. Ohne Bezug auf Cohen und Rosenzweig, aber allgemeiner auf Benjamins Adaptionsweise bezogen, benennen Jessica Nitsche und Nadine Werner Benjamins Vorgehen mit dessen eigenem Wort »Entwendungen«. Vgl. dazu dies., Der Jäger und das scheue Wild.

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Über die gedanklichen Umwege, die Benjamin allzu oft einschlug, zeigte sich das Thema des Essays in der Evokation des geistesgeschichtlichen Feldes, für das Cohen und Rosenzweig in je unterschiedlicher Weise einstehen – den Unterschied zwischen beiden gestand Benjamin jedoch kaum noch zu. Aus seiner nachzeitigen Perspektive kam ihnen eine verstellte und gleichwohl doch emblematische Bedeutung zu. So waren seine Überlegungen zu Kafka letztlich dem deutschsprachigen Judentum zugedacht, wenn er jenes Volkslied heranzog, das auch in der Berliner Kindheit von 1932 und noch in der Fassung von 1938 das Fanal bildet: Das bucklicht Männlein.126 Darin geht es um die titelgebende Figur, die, wenn sie erschiene, zu Missgeschicken führe. In Bezug auf ihre das Lied abschließende Bitte »Bet’ für das bucklicht Männlein mit«, die auch den Schlusspunkt der Berliner Kindheit darstellt, apostrophierte Benjamin 1934: »Es ist der Grund des deutschen Volkstums so gut wie des jüdischen.«127 Die Bitte des »bucklicht Männlein« an das Kind, es doch auch in das Gebet einzuschließen, wurde bei Benjamin somit zu einem Rest der Gemeinsamkeit, die auf anderem Fundament Cohen und auch Rosenzweig hatten denken können. Und Benjamin schrieb weiter: »Wenn Kafka nicht gebetet hat – was wir nicht wissen – so war ihm doch aufs höchste eigen, was Malebranche ›das natürliche Gebet der Seele‹ nennt – die Aufmerksamkeit. Und in sie hat er, wie die Heiligen in ihre Gebete, alle Kreatur eingeschlossen.«128 Mit der Erfahrung von Ausschluss und Exil erhielt die Kafka zugesprochene, alle Kreatur bedenkende Aufmerksamkeit eine ganz neue Intensität. Dieser Gedanke steht zugleich mit Benjamins sich ausprägendem Blick auf das 19. Jahrhundert in Verbindung. In einer im Herbst 1936 veröffentlichten Briefanthologie zeigte er sich in seiner historischen Breite. Unter dem Titel Deutsche Menschen und einem Pseudonym  – beides Empfehlungen vom Vita Nova Verlag in der Schweiz, wurden Briefe aus gut hun126 Das Volkslied findet, wie Henriette Herwig angibt, mit dem von Benjamin herangezogenen Schluss seit Achim von Arnims und Clemens Brentanos Ausgabe Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder (1806–1808) Verbreitung. Illustrationen zum Lied weisen mitunter judenfeindliche Konnotationen auf. Benjamin schloss insbesondere die Berliner Kindheit mit der Bitte im Volkslied. Dort entnahm er es nach eigenen Angaben seinem Deutschen Kinderbuch von Georg Scherer. Allerdings weicht Benjamins Text, wie Herwig herausarbeitet, von dem Scherers ab. Vgl. dazu die Fassungen von 1932, die von Adorno mit von Benjamin angegebenen Ausnahmen – etwa der des »bucklicht Männlein« – für die Publikation im Jahr 1950 angeordnet wurde, und die von 1938, der Benjamin eine Übersicht beifügte. Benjamin, Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, zit. nach ders., GS 4.1, 235–304, hier 302–304; ders., Berliner Kindheit um neunzehnhundert (Fassung letzter Hand), zit. nach ders., GS 7.1, 429 f.; zum Hintergrund des Liedes in Bezug auf Benjamin vgl. Herwig, Zeitspuren in erinnerten Kindheitsorten, 55 f. 127 Benjamin, Franz Kafka, zit. nach ders., GS 2.2, 432. 128 Ebd.

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dert Jahren, der letzte ist von 1883, gedruckt. Der katholische Denker Karl Thieme, der 1935 Nazideutschland verlassen hatte, vermittelte den Kontakt zu dem Verlag. Nachdem Benjamin länger schon versucht hatte, das Buch zur Veröffentlichung zu bringen, ließ er sich auf die Bedingungen des Verlags ein und wählte das Pseudonym »Detlef Holz«. In den Briefen, die er selbst wohl »Deutsche Briefe« nennen wollte und die er einzeln bereits um 1930 publiziert hatte,129 kommen neben den Ikonen der Zeit auch unbekanntere Stimmen zu Wort, wie etwa Johann Heinrich Kant, der Bruder Immanuel Kants. Aber auch Franz Overbeck, der protestantische Theologe und Vertraute Nietzsches, Franz von Baader, Friedrich Hölderlin und Georg Forster, der die Nachwehen der Französischen Revolution bezeugte, wurden bedacht. Neu hinzugekommen war Mitte der 1930er Jahre ein Vorwort, das zusammen mit einem Brief Carl Friedrich Zelters dem Todestag Goethes zugeeignet ist. Das Zeugnis des Ablebens Goethes gab für Benjamin Anfang und Ende derjenigen Epoche frei, die das Bürgertum zur Geltung brachte. So heißt es in dem im Spätsommer 1936 abgeschlossenen Vorwort: »Es war die Epoche, in der das Bürgertum sein geprägtes und gewichtiges Wort in die Waagschale der Geschichte zu legen hatte. Freilich schwerlich mehr als eben dieses Wort; darum ging es unschön mit den Gründerjahren zu Ende.«130 Als Benjamin dieses Buch seiner Schwester Dora mit einer auf November 1936 datierten Widmung versah, zeigte sich die wahre Bedeutung der Briefe für Benjamin. In ebendem Monat, in dem er sich zu seinem Sohn Stefan nach Italien begab und Gide seinen Reisebericht veröffentlichte, schrieb er: »Diese nach jüdischem Vorbild erbaute Arche für Dora.«131 Was mit der Deutung des »bucklicht Männlein« schon berührt wurde, tritt in der Widmung deutlich hervor: eine ideelle, fernab ethnischer Zuordnungen liegende Vorstellung von deutscher Zugehörigkeit, wie sie ehedem im Namen des akkulturierten deutschen Judentums erhofft worden war. Dies war ein Horizont, den die geschichtliche Welt hatte hervorbringen können. Deren Protagonisten waren zu Bürgern geworden. Nach dem Schwinden ihrer Ideale kam die Krise  – und an diese Ideale erinnerte Benjamin mit den Briefen.

129 Im Nachlass findet sich der Titel Das unterschlagene Deutschland. Vgl. dazu Brodersen, Die Entstehung der »Deutschen Menschen«, 15. 130 Benjamin, Vorwort, zit. nach ders., Werke und Nachlaß 10, 10. 131 Benjamin, Widmungen, zit. nach ebd., 173–175, hier 173. Auch Scholem und Kracauer gegenüber benannte er die Arche, allerdings nicht das »jüdische Vorbild«. Für Scholem wünschte er: »Möchtest Du, Gerhard, für die Erinnerungen deiner Jugend eine Kammer in dieser Arche finden die ich gebaut habe als die faschistische Sintflut zu steigen begann.« Für Kracauer kürzte er diese Zeilen: »diese Arche die ich gebaut habe als die faschistische Sintflut zu steigen begann«. Ebd., 174 und 175.

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Dass Benjamin im November 1936 ein Symbol der bürgerlichen Epoche mit dem Wort der »Arche« nach »jüdischem Vorbild« verband, verweist auf die Gedankenwelt, für die Cohen und Rosenzweig standen. Parallel zu der Briefanthologie versuchte Benjamin, seine Arbeit zur materialistischen Ästhetik zur Publikation zu bringen. Die Bedeutung des 19. Jahrhunderts wurde darin zwar durch die einem anderen Horizont zugewandte Perspektive überdeckt, sie blieb aber auch dieser eingeschrieben. Aus der Nebeneinanderstellung von Rosenzweig und Lukács 1929 ging eine – in spezifischem Sinne – häretische Theologie hervor, die ­Benjamin letztlich zum Bindeglied zwischen dem ideellen Erfahrungsraum des Bürgertums und dem materiellen Erwartungshorizont des Proletariats wurde. In der Reflexion der Grundbedingungen von Geschichte wies er dem 19. Jahr­hundert einen neuen Stellenwert zu und so ist auch sein Begriff von Theologie nicht von der geschichtlichen Welt zu trennen. Der Fluchtpunkt, den er in Karl Kraus anzeigte, wurde – in Kafka Franz vom Ende der Tradition her in expliziter Zuordnung zum Judentum und mit der Briefanthologie Deutsche Menschen im Zeitzeugnis  – in den Jahren nach 1933 sukzessive zu Benjamins eigenem. Auch der spezifische Begriff des historischen Materialismus ist in seiner letzten Ausprägung nur in dieser Formation zu verstehen. Das im Präteritum gehaltene Motiv der noch nicht sinnentleerten Zukunft, das Benjamin in den Thesen im Studium der Thora und im Gebet aufrief und das im Kern seines Theologieverständnisses lag, wurde Mitte der 1930er Jahre noch nicht ausgesprochen. Es stand erst am Ende einer Denkbewegung, die trotz der Kontinuität von Motiven das ihm gegenwärtige Geschehen einzuholen suchte.

Verstellter Horizont Am 15. Juli 1939, dem 47.  Geburtstag Benjamins, wurde unter dem Titel Allemands de quatre-vingt-neuf eine kurze Zusammenstellung von kommentierten Briefstellen und Textpassagen deutscher Zeitzeugen der Französischen Revolution in Europe. Revue littéraire mensuelle veröffentlicht. Nur wenige Wochen später wurde die Zeitschrift in Konfrontation mit dem Hitler-Stalin-Pakt eingestellt.132 In seinem Beitrag übernahm Benjamin ganze Absätze aus Deutsche Menschen. Dennoch ist der Gegenstand verschoben. Nicht nur auf die Vergangenheit bezogen, heißt es in einer auf Deutsch verfassten Vorversion zu Herder: »Das was in der großen Revolution nur als Wetterleuchten am Horizont der Geschichte des Bürgertums aufleuchtet, entlädt sich überm Deutschland der Gegenwart in Gestalt des furchtbars132 Vgl. Niogret, La revue Europe et les roman français de l’entre-deux-guerres (1923–1939), 6.

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ten Unwetters.«133 So sehr die große Revolution sich auch der Menschheit verschreiben wollte, sah Benjamin darin – in von ihm selbst ausgemachter Übereinstimmung mit Horkheimer  – doch auch angelegt, was an deren 150-jährigem Jubiläum in seiner ganzen Radikalität zutage trat: »Im Dritten Reiche wurde das wichtigste Instrument des Terrors der Nationalismus selbst. Ein Terror, der unmittelbar gegen das eigene, mittelbar gegen das internationale Proletariat gerichtet ist.«134 Im Sommer 1939, in einer Zeit also, in der längst eine andere Verfolgung in den Vordergrund getreten war, stufte Benjamin in der kommunistisch geprägten Zeitschrift das Proletariat als gefährdet ein. Mit dem Vokabular des Klassenkampfes in den Nachwehen der antifaschistischen Volksfront wurde der Kern des Nationalsozialismus ausgeblendet. Benjamin dachte auch im Sommer 1939 in den Formen, die er Mitte der 1930er Jahre für sich gefunden hatte. In der schiefen Gegenüberstellung von internationalem Proletariat und chauvinistischem Nationalismus klingt indes an, was nicht benannt wurde: die jüdische Erfahrung. In dem Text findet sich zugleich auch ein Absatz aus Hegels Vorlesun­ gen zur Philosophie der Geschichte, mit dem die politische Ausrichtung in eine spezifische geschichtsphilosophische Deutung überführt wurde, die dem Bild des gefährdeten Proletariats zugrunde liegt. In der Vorbemerkung zum Abschnitt konfrontierte Benjamin einen mit den Verhältnissen versöhnten späten Hegel mit dessen einst gehegten Erwartungshorizont.135 Darin zitierte er aus einem Brief des jungen Hegel an Schelling aus dem Jahr 1795: »[I]ch glaube, es ist kein besseres Zeichen der Zeit als dieses, daß die Menschheit an sich selbst so achtungswert dargestellt wird, es ist ein Beweis, daß der Nimbus um die Häupter der Unterdrücker und Götter der Erde verschwindet.«136 Für Benjamin blieb dieser revolutionäre Impetus zwar in der Methode bewahrt, allerdings nicht bei Hegel selbst, sondern bei Marx. In dessen Übertragung der hegelschen Figur des Gegensatzes auf den Klassenkampf, der Negation auf das Proletariat und der Synthese auf die klassenlose Gesellschaft,137 meinte er  – vermittelt über eine Paraphrase aus Karl 133 Zit. nach Tillman Rexroth, Anmerkungen zu Seite 863–880 »Allemands de quatre-vingtneuf«, in: Benjamin, GS 4.2, 1095–1098, hier 1096. Der Text wurde allem Anschein nach von Benjamin zuerst auf Deutsch verfasst und dann ins Französische übersetzt. Erhalten sind Teile der deutschen Version zu Herder und Hölderlin. Vgl. ebd., 1095. 134 Ebd., 1096. 135 Benjamin zog Hegels Interpretation der Revolution heran und schloss mit dessen Satz: »Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert, als sey es zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen.« Hegel an Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 16. April 1795, zit. nach ders., Werke 19.1, 14–17, hier 15; ders., Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 441. 136 Benjamin, Allemands de quatre-vingt-neuf, zit. nach ders., GS 4.2, 863–880, hier 877. 137 Ebd.

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Korschs 1939 erschienenem Buch Karl Marx –,138 die revolutionäre Kontinuität zu erkennen, die beim späten Hegel zugunsten einer Versöhnung von Göttlichem und Zeitlichem aufgegeben worden sei.139 Der Rekurs auf das Proletariat und die adaptive, methodische Zusammenstellung von Hegel und Marx verweisen zugleich auch auf ein anderes Werk als nur auf die Briefsammlung. Für Das Passagen-Werk wandte sich Benjamin Hegel zu und nahm – im Juni 1935 und im Sommer 1938 – sogar Das Kapital zur Hand.140 In dieser Aneignung exzerpierte er das Buch von Karl Korsch noch im Manuskript und bat Horkheimer in einem Brief vom 24. Juni 1939 um dessen Meinung.141 Denn, wie Benjamin aus Paris erklärte: »Gespräche, die ich darüber hier führen konnte, haben mir von neuem vor Augen gestellt, wie tief unter den Antifascisten jene Zerklüftung reicht, die eine der Ursachen und in noch höherem Grade eine der Folgen der Niederlage gewesen ist.«142 Mehr noch: Er attestierte den Antifaschisten nicht drei Monate nach dem Ende des Spanischen Bürgerkrieges als Grundlage ihrer Zerstrittenheit »Verzweiflung«.143 Wenige Jahre zuvor hatte er noch Hoffnung in die Bewegung gesetzt, die im Sommer 1939 in Auflösung begriffen war, und so veränderte sich seine Perspektive. Diese Gedankengänge schlugen sich im Passagen-Werk nieder, das trotz seines Umfangs fragmentarisch geblieben ist. Es besteht aus einer Fülle von Notizen und Exzerpten, die geordnet in Konvoluten bis Mai 1940 angefertigt wurden.144 In ihnen wurden, vor allem nach Dezember 1937, sowohl die Geschichte präsenter als auch Reste der Theologie verstärkt reflektiert.

138 Zum Wortlaut bei Korsch vgl. Tillman Rexroth, Anmerkungen zu Seite 863–880 »Allemands de quatre-vingt-neuf«, in: Benjamin, GS 4.2, 1098. 139 Da der Titel von Hegel auf Deutsch angegeben ist, wurde die Übersetzung allem Anschein nach für den Text angefertigt. Darin schließt der Satz bezeichnenderweise mit den Worten: »la vraie réconciliation du divin et du temporel«, so tritt das Zeitliche an die Stelle des Weltlichen. Benjamin, Allemands de quatre-vingt-neuf, zit. nach ders., GS 4.2, 877. 140 Vgl. zur Lektüre von Das Kapital Benjamin an Theodor W. Adorno, 10. Juni 1935, zit. nach ebd., 108–112, hier 111; ders., Tagebuchnotizen 1938, zit. nach ders., GS 6, 532–539, hier 537. Vgl. dazu auch Khatib, Karl Marx, 338. 141 Vgl. Benjamin, GS 5.1, 605–608 (N 16 f.) und 813–821 (X 7, 2–X 12a, 3). 142 Vgl. ders. an Max Horkheimer, 24. Juni 1939, zit. nach ders., GB 6, 303–306, hier 304. 143 Ebd. 144 Benjamin ordnete diese in verschiedene mit Buchstaben versehene Konvolute, die jeweils in ihrer Entstehungschronologie durchnummeriert sind, und ließ sie im Juni 1935 sowie im Dezember 1937 fotografieren. Zusammen mit der herangezogenen Literatur können die Notizen so zeitlich grob differenziert werden. Als weiterer wichtiger Anhaltspunkt wird in den editorischen Anmerkungen zu den Aufzeichnungen und Materialien noch die Lektüreliste Benjamins genannt. Vgl. dazu ders., GS  5.2, 1260–1336, hier 1261–1263.

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Für das Werk verfasste Benjamin im Sommer 1935 ein Exposé, dem er den Titel Paris, die Hauptstadt des XIX.  Jahrhunderts gab,145 das er am 10. Juli – nur vier Tage vor dem demonstrativen Beginn der Volksfrontpolitik in Frankreich – an Horkheimer sandte. Das Institut für Sozialforschung gewährte ihm, trotz gewisser Kritik am Text, daraufhin ein Stipendium. Zwar wurde es geschrieben, um diese bestimmte Funktion zu erfüllen, dennoch gibt es Aufschluss über das Vorhaben, das Benjamin viele Jahre begleitete.146 Am 10. Juni schickte er Adorno einen Entwurf unter dem Siegel der Verschwiegenheit nach Oxford, um eine informelle Stellungnahme zu erhalten, bevor er das Exposé an Horkheimer nach New York übermitteln wollte. Darin deutete er die topografische Ausrichtung von Das Passagen-Werk für seine Schreibsituation aus, wenn er konstatierte: »Schreiben kann ich sie [die Arbeit] – soviel ist mir heute und unbeschadet der großen sie fundierenden Masse von Vorarbeiten vollkommen klar – vom ersten bis zum letzten Wort nur in Paris. Natürlich, zunächst, einzig in deutscher Sprache.«147 Wenige Wochen bevor Benjamin Das Kunstwerk im Zeitalter seiner tech­ nischen Reproduzierbarkeit in Angriff nahm, verfasste er also die Übersicht zu seiner Passagen-Arbeit. Darin rückt in konzeptioneller Anlehnung an Marx und in terminologischer an den nicht genannten und vielleicht auch nur vermittelt über Baudelaire bedachten Arthur Schopenhauer der Begriff der »Phantasmagorie« ins Zentrum. Mit Schopenhauer teilte Benjamin das Bild »der traumartigen Beschaffenheit der ganzen Welt«,148 von Marx übernahm er das Motiv des Fetischcharakters der Ware und verband beides in dem Begriff, den Marx im Adjektiv verwandte und mit dem Schopenhauer in Die Welt als Wille und Vorstellung die besagte Vermeintlichkeit der »objektiven Welt« fasste.149 Die Phantasmagorie wurde in Benjamins Interpretation von Marx’ Fetischcharakter, wie Adorno es nach seiner Lektüre 145 Neben dem Exposé vom Sommer 1935 gibt es noch ein zweites in französischer Sprache, das auf März 1939 zu datieren ist. Vgl. dazu Walter Benjamin, Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, zit. nach ders., GS 5.1, 45–59 und ders., Paris, Capitale du XIXème siècle, zit. nach ebd., 60–77. 146 So teilte er Ende Mai 1935 Alfred Cohn mit, dass er mit der Arbeit am Exposé den neuen Titel gefunden habe. Auch sehe er darin »ein Gegenstück zum Barockbuch«. Benjamin an Alfred Cohn von Ende Mai 1935, zit. nach ders., GB 5, 102–105, hier 102. 147 Ders. an Theodor W. Adorno, 31. Mai 1935, zit. nach ebd., 95–100, hier 99. 148 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung 1, 567. 149 Marx, Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis. Vgl. ebenso Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung 1, 567. Von Marx’ Interpretation aus argumentierend, kritisiert Heinz Dieter Kittsteiner die bei Benjamin ausgemachte »Stufenfolge« von »der Phantasmagorie der Ware […] zu einer Phantasmagorie der Geschichte«. Benjamins Perspektive ist aber weniger systematisierend im Sinne der Kritik der politischen Ökonomie als vielmehr historisch und geschichtlich zugleich. Vgl. dazu Kittsteiner, Erwachen aus dem Traumschlaf, 180.

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des Exposés ausdrückte, zum »Korrelat der Verdinglichung«.150 Trug Benjamin sie Baudelaire an, dessen Begriff von Moderne die Epoche des Werks umreißt, geht sie über den Strukturbegriff hinaus. Daneben treten Charles Fourier, die Saint-Simonisten, der Bürgerkönig Louis-Philippe I. und die Barrikaden der Pariser Kommune. Zentrale Weiche war für Benjamin darin und in der Moderne insgesamt der Übergang von der bürgerlichen zur proletarischen Revolution. Die akzentuierte, neue Entgegensetzung, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts zur entscheidenden geworden war, war das Problem, das ihn schon lange auch in seiner persönlichen Standortbestimmung beschäftigte – nun wurde es jedoch zum geschichtlichen. Zugleich ging er über die bloß ökonomische Reflexion hinaus und beschrieb Phantasmagorien des Interieurs, des Raumes und der Zeit.151 Zwischen Tausch- und Gebrauchswert trat der Sammler, der den Dingen einen »Liebhaberwert statt des Gebrauchswerts« zuerkenne.152 Benjamin charakterisierte diesen nur mehr im Traumbild vermittelter, gesuchter Erfahrung und ersehnter Erwartung, wenn es heißt: »Der Sammler träumt sich nicht nur in eine ferne oder vergangene Welt sondern zugleich in eine bessere, in der zwar die Menschen ebensowenig mit dem versehen sind, was sie brauchen, wie in der alltäglichen, aber die Dinge von der Fron frei sind, nützlich zu sein.«153 Die Figur des Sammlers nahm er auch in den Titel seines Textes zu Fuchs auf. Sie stand in gewissem Sinn an der Schwelle zu seinem historischen Materialismus, der im Sommer 1935 weitgehend unerwähnt blieb. Im Passagen-Werk selbst schien der Topos zwar schon früh auf,154 im Exposé wurde er aber nicht genannt. Obschon er sich aus dem Geschichtsraum speiste, der über die Figur des Sammlers vermittelt wurde, gewann die geschichtsphilosophische Grundierung im Sommer 1935 vorerst andere Konturen. So heißt es – erneut implizit in der Nähe Schopenhauers – im Exposé: »In dem Traum, in dem jeder Epoche die ihr folgende in Bildern vor Augen tritt, erscheint die letztere vermählt mit Elementen der Urgeschichte, das heißt einer klassenlosen Gesellschaft.«155 Das Motiv des Ursprungs, das Benjamin ausgehend vom Trauerspielbuch und seinem Essay Karl Kraus in seinen Notizen zum Passagen-Werk in Übertragung von Goethes Urphänomen 150 Vgl. Benjamin, Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, zit. nach ders., GS 5.1, 50. 151 Ebd., 52 und 57. 152 Ebd., 53. 153 Ebd. 154 Im Konvolut N finden sich bereits unter den ersten Unterpunkten grundsätzliche Überlegungen zum historischen Materialismus, wie etwa in N 2, 2. Vgl. Benjamin, GS 5.1, 574. 155 Ders., Paris, die Hauptstadt des XIX.  Jahrhunderts, zit. nach ebd., 47. Schopenhauers »Schleier der Maya« wird damit aufgerufen. Bei Schopenhauer findet sich bereits das Bild von Traum und Erwachen in geschichtlicher Deutung, wenn es heißt: »Was die Geschichte erzählt, ist in der Tat nur der lange, schwere und verworrene Traum der Menschheit.« Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung 2, 568.

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in den theologischen Zusammenhang der Geschichte setzte, erhielt so seine politische Fassung. Urgeschichte und klassenlose Gesellschaft wurden darin in einem intimen Verhältnis gesehen, als spezifische Verbindung zwischen dem ehedem Erhofften und dem in einer nächsten Epoche Erinnerten – dies allerdings im Bild des Traumes, dem das Erwachen zugeordnet wurde. Im letzten Absatz des Exposés steht dementsprechend über die Pariser Passagen: »Sie sind Rückstände einer Traumwelt. Die Verwertung der Traumelemente beim Erwachen ist der Schulfall des dialektischen Denkens. Daher ist das dialektische Denken das Organ des geschichtlichen Aufwachens. Jede ­Epoche träumt ja nicht nur die nächste, sondern träumend drängt sie auf das Erwachen.«156 Die Geschichtskonstruktion drängte so zu einer – freilich nicht benannten – umfassenden Revolution. Für Das Passagen-Werk heißt das, wie Benjamin in verkehrendem Rekurs auf Hegels Bild der List und in Adaption eines Wortes von Honoré de Balzac die Übersicht abschließend schrieb, »die Monumente der Bourgeoisie als Ruinen zu erkennen, noch ehe sie zerfallen sind«.157 Was Benjamin im Begriff der Urgeschichte in dieser Form bewahrte, sind die ihn seit den Jahren des Ersten Weltkrieges begleitenden geschichtsphilosophischen Reflexionen, die sich Mitte der 1920er Jahre im Begriff des Ursprungs gesammelt hatten. Zehn Jahre nach der Einführung des Begriffs aber  – wie er Adorno zur Vorversion des Exposés und in Abgrenzung zum Trauerspielbuch mitteilte – als »Bestätigung des Umschmelzungsprozesses […], der die ganze, ursprünglich metaphysisch bewegte Gedankenmasse einem Aggregatzustand entgegengeführt hat, in dem die Welt der dialektischen Bilder gegen alle Einreden gesichert ist, welche die Metaphysik provoziert«.158 Im Exposé wurde so eine Zukunftsperspektive jenseits metaphysischer Überlegungen begründet, die Benjamins Auffassung des dialektischen Denkens zu dieser Zeit bestimmte: Das Erwachen aus dem Traum. Diesem Bild galt Adornos Kritik. Er kommentierte das Exposé erst Anfang August – nachdem es längst an Horkheimer abgegangen war – und sah in der immanenten Fassung, die das »dialektische Bild« gewonnen habe, eine »geradlinige, fast möchte ich sagen: entwicklungsgeschichtliche Bezogenheit auf Zukunft und Utopie«.159 Adorno meinte den Grund des geschichtsphilosophischen Erwartungshorizonts zu erkennen, der seinen Resonanzraum in der Volksfrontpolitik hatte, wenn es weiterhin heißt: »Nicht bloß die Ursprungsgewalt des Begriffes, die eine theologische war, [ist damit] bedroht«, sondern »jene gesellschaftliche Bewegung im Widerspruch [wird] verfehlt […], um derentwillen Sie das 156 Benjamin, Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, zit. nach ders., GS 5.1, 59. 157 Ebd. 158 Benjamin an Theodor W. Adorno, 31. Mai 1935, zit. nach ders., GB 5, 98. 159 Adorno an Walter Benjamin, 2. und 4.  August 1935, zit. nach ders. / Benjamin, Brief­ wechsel 1928–1940, 138–151, hier 139.

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Opfer der Theologie bringen.«160 Während Adorno in der Tat den Punkt hervorhob, der in aller Deutlichkeit die mit Benjamins Mitte der 1930er Jahre eröffneten Zukunftsperspektive einhergehende Veränderung des philosophischen Fundaments benannte, war ihm nicht dies der Stein des Anstoßes, sondern ihm war Benjamins psychologisierende Darstellung zu einseitig – zu undialektisch. Er forderte, auch die »Kehrseite« zur Utopie, »nämlich das dialektische Bild des Neunzehnten Jahrhunderts als Hölle«, zu enthüllen.161 Nicht nur aufgrund der Kritik Adornos schwand die Zukunftsperspektive in den folgenden Jahren, vielmehr noch fanden die Geschehnisse, die Benjamin in seinem letzten Baudelaire-Text eine historische Erfahrung reflektieren ließen, ihren Widerhall: Zunehmend wurde ihm die Vergangenheit zum Medium eines möglichen Horizonts. Im März 1937 schrieb Horkheimer einen mit extensiven redaktionellen Anmerkungen zum Fuchs-Manuskript versehenen Brief an Benjamin und nahm eine Adorno fast entgegengesetzte Position ein. Keine zwei Jahre nach Adornos Annotation, dass die Theologie, die er in Bezug auf Benjamins Denken nur widerwillig preiszugeben bereit war, der »gesellschaftlichen Bewegung im Widerspruch« hätte weichen müssen, zeigte sich ein anderer Zugang zur Geschichte, wenn Horkheimer in seinem Brief ausgerechnet die Unabgeschlossenheit der Vergangenheit kritisierte. Er merkte an: »Das vergangene Unrecht ist geschehen und abgeschlossen. Die Erschlagenen sind wirklich erschlagen. Letzten Endes ist Ihre Aussage theologisch. Nimmt man die Unabgeschlossenheit ganz ernst, so muss man an das Jüngste Gericht glauben.«162 Adorno kritisierte Benjamin im Namen der Dialektik. Horkheimers Anmerkung betrifft hingegen den geschichtlichen Grund, den Benjamin nie ganz verließ. Im Kern wurde damit die Fundamentalfrage nach dem Verhältnis von Geschichte und Theologie aufgeworfen. In seine ersten Überlegungen zur Überarbeitung des Baudelaire-Buchs unter dem Titel Neue Thesen nahm Benjamin so zwar den Gedanken der Katastrophe auf – allerdings in Bezug auf die Überlieferung, wenn es heißt: »Die Art, in der Baudelaire überliefert worden ist, ist als Katastrophe darzustellen.«163 Aber in verdrehter Wiederaufnahme der Kritik Horkheimers an der Unabgeschlossenheit der Vergangenheit konstatierte er darin auch: »Jeder Augenblick ist das jüngste Gericht für das, was in irgendeinem frühern Geschehen ist.«164 Obwohl sich Adorno und Benjamin im revolutionären Impetus näherstanden, rückten Horkheimer und Benjamin bei aller Gegenläufigkeit durch 160 Ebd. 161 Ebd., 140 (Hervorhebung im Original). 162 Horkheimer an Walter Benjamin, 16. März 1937, zit. nach ders., Gesammelte Schriften 16, 83. 163 Benjamin, Neue Thesen, zit. nach ders., GS 1.3, 1174. 164 Ebd.

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die Ausführungen zur Unabgeschlossenheit der Vergangenheit in einen Fragenhorizont, der Adorno nicht zugänglich war. In ganz anderem Kontext drückte Adorno selbst die Distanz aus, die darin zum Ausdruck kam. So schrieb er am 2. August 1938 an Benjamin in Auseinandersetzung über seinen Wagner-Text: »Ich glaube, es liegt einfach daran, daß ich jene Art von Erfahrungen, die sie und übrigens ganz analog auch Max an der Arbeit vermißt haben, nicht machte.«165 Auch wenn es Adorno im Speziellen darum ging, dass »Wagner […] nicht zu den Gestirnen« seiner »Kindheit gehört« habe, stand dieser Einwand doch im Allgemeinen für dessen Entfernung zu den Denkformen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die für Benjamin und Horkheimer prägend waren. Adorno gehörte nicht zu derjenigen von Benjamin im Herbst 1933 benannten Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war. Den der Kritik der Unabgeschlossenheit der Vergangenheit gewidmeten Absatz aus Horkheimers Brief übertrug Benjamin – ohne den kurzen Satz mit dem expliziten Verweis auf die Theologie mitzunehmen  – in seine erkenntnistheoretischen Notizen zum Passagen-Werk. Dort fügte er nach Horkheimers Ausführungen eine Reflexion des Topos des »Eingedenkens« ein und apostrophierte: »[I]m Eingedenken machen wir eine Erfahrung, die uns verbietet, die Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen, so wenig wir sie in unmittelbar theologischen Begriffen zu schreiben versuchen dürfen.«166 Das Wort »Eingedenken« war Benjamin aus Blochs Geist der Utopie bekannt und bereits in ersten Aufzeichnungen zum Passagen-Werk in den ausgehenden 1920er Jahren hielt er fest: »Was hier im folgenden gegeben wird, ist ein Versuch zur Technik des Erwachens. Die dialektische, die kopernikanische Wendung des Eingedenkens (Bloch).«167 Während Benjamin in der Hinzufügung die Herkunft des Wortes noch klar benannte, entfernte er den Begriff in den ausgehenden 1930er Jahren von der von Bloch geprägten Interpretation. Bereits in der Vorrede zur Berliner Kindheit lag die persönliche und allgemeine Zeitdiagnose in den großen Linien der Geschichtsdeutung begründet. Dementsprechend wurde der theologisch-atheologische Begriff in der Reflexion auf Baudelaire mit »echter historischer Erfahrung« und mit Anklängen der Vorgeschichte verbunden. Dies allerdings noch nicht in einem ersten dreiteiligen Manuskript zu Paris des Second Empire 165 Adorno an Walter Benjamin, 2. August 1938, zit. nach ders. / Benjamin, Briefwechsel 1928–1940, 344–348, hier 344. 166 Benjamin, GS 5.1, 588 f., hier 589. 167 Ders., GS 5.2, 1006. Diese ersten, frühzeitigen Notizen sind zwar nicht eindeutig datierbar, aber sie befinden sich in der ersten Hälfte eines Hefts, in dem eine erste Datierung August 1927 lautet. Vgl. dazu Tiedemann, Anmerkungen zu Seite 991–1038 »Erste Notizen«, in: ebd., 1337–1340, hier 1337; zur Genese von Benjamins Begriff vgl. bes. Marchesoni, Walter Benjamins Konzept des Eingedenkens.

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bei Baudelaire vom Herbst 1938, sondern erst im Frühjahr und Sommer des folgenden Jahres. Das Manuskript, das Benjamin aus der Passagen-Arbeit auskoppelte, übermittelte er Horkheimer im Oktober 1938.168 Nicht Horkheimer jedoch, sondern Adorno reagierte wenige Wochen später mit einer überaus ausführlichen Kritik, die Benjamin – nicht unbegründet – dessen Publikation infrage stellen ließ.169 Obwohl Adorno im Namen des Instituts schrieb, wurde er geradezu persönlich, wenn er fragte: »Können Sie verstehen, daß die Lektüre der Abhandlung, von deren Kapiteln eines der Flaneur und eines gar die Moderne heißt, eine gewisse Enttäuschung in mir produzierte?« Er monierte »die Askese der Deutung«,170 die fehlende Vermittlung des Materialismus und ging so weit, Benjamin anzutragen, dass er sich mit der Arbeit »Gewalt angetan« habe.171 Die harsche Kritik war vielleicht der unmittelbare Anlass eingreifender Veränderungen der Baudelaire-Arbeit, in ihnen fanden aber mehr noch die historischen Ereignisse ihre Resonanz, wenn Benjamin erst in der Überarbeitung den Zusammenhang von Erfahrung und Tradition bedachte, den Adorno gerade nicht einbrachte. Obgleich Adornos Brief auf den 10. November 1938 datiert war, kam noch nicht zur Sprache, was am Vorabend in Deutschland begann. Eine Woche später, am 17. November, in einem Brief Benjamins an Horkheimer wurde zum Thema, was mit diesem Datum verbunden bleibt. »Für den Augenblick, sage ich mir, haben wohl die deutschen Ereignisse, die auf uns allen so furcht­bar lasten, Ihnen weniger als sonst Spielraum für die Korrespondenz gelassen«,172 schrieb Benjamin für das Ausbleiben einer Mitteilung von Hork­heimer betreffs der Publikation seines Baudelaire eine Erklärung suchend. Er löste sich aber schon im nächsten Satz komplett von der zweckgerichteten Perspektive. »Wenn Sie, wie ich annehme noch Angehörige in Deutschland haben, so wird die Sorge um ihr Schicksal Sie nicht weniger mit Beschlag belegen als ich es bei den hiesigen Deutschen erfahre.«173 Fast scheint es, als wäre Benjamin nicht auch selbst betroffen, er schloss aber an: »Was meinen Bruder angeht, so kann ich nur die Hoffnung hegen, daß das, was sich in Deutschland jetzt abspielt, vor den Toren der Zuchthäuser halt macht. Aber wer kann das wissen?«174 Sein Vater Emil war 1926 verstorben, 168 Vgl. dazu etwa Schmider / Werner, Das Baudelaire-Buch, 567–569. 169 Adorno an Walter Benjamin, 10. November 1938, zit. nach ders. / Benjamin, Briefwechsel 1928–1940, 364–374. 170 Ebd., 366. 171 Ebd., 369. 172 Benjamin an Max Horkheimer, 17. November 1938, zit. nach ders., GB 6, 177–179, hier 179. 173 Ebd. 174 Ebd.

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seine Mutter Pauline 1930 und seine schwer erkrankte Schwester Dora wohnte in Paris. Einzig sein Bruder Georg, der im Herbst 1936 aufgrund seiner Tätigkeit für die KPD inhaftiert worden war, war in Deutschland verblieben. Benjamin gedachte indes der Eltern eines anderen: »Ich habe in diesen Tagen auch an Teddies Eltern denken müssen: möchte ihnen Schlimmstes erspart bleiben!«175 Im Frühjahr 1939 sah Benjamin sich neben der Überarbeitung des Baudelaire-Textes auch dazu gedrängt, ein zweites Exposé für das Passagen-Werk zu verfassen. In einem ausführlichen Brief vom 23. Februar 1939 teilte Horkheimer Benjamin mit, dass sich das Institut in einer »ernsten wirtschaftlichen Situation« befinde und dass es sich um die »Erteilung amerikanischer Forschungsaufträge und Stipendien für die einzelnen Mitglieder« bemühe.176 Benjamin, der sich laut Horkheimer auch selbst umschauen solle, antwortete am 13. März: »Lieber Herr Horkheimer, ich habe Ihren Brief mit Erschütterung gelesen. Auch war es kein Leichtes ohne Verzug die Feder in die Hand zu nehmen, um an das beifolgende Exposé zu gehen.«177 Am Tag darauf beklagte er sich in einem Brief an Scholem, dass Horkheimer »[o]hne mir einen Termin anzugeben […] mich auf die Einstellung der Subvention vor[bereitet], die seit 1934 meinen Unterhalt allein bestritten hat«.178 Und er sprach dem Freund gegenüber gar von einer »Katastrophe«, die er »nicht vorausgesehen« habe.179 Auch wenn der von Horkheimer in den Raum gestellte Tag, an dem das Institut die Zahlung hätte einstellen müssen,180 nicht kam, führte dessen Nachricht Benjamin den Ernst seiner Lage vor Augen. So schrieb er an Scholem im Postskriptum: »Es steht so, daß unter den verschiedenen Gefahrenzonen, in die sich die Erde für die Juden aufteilt, für mich Frankreich gegenwärtig die bedrohlichste ist, weil ich hier ökonomisch vollkommen isoliert stehe.«181 Einen Monat nach der Übermittlung an Horkheimer schickte Benjamin an Stephan Lackner, dessen bürgerlicher Name Ernst Morgenroth war, eine kurze Notiz mit einem Brief an dessen Vater Sigmund Morgenroth, den er um finanzielle Unterstützung für eine Ausreise 175 Ebd. 176 Horkheimer an Walter Benjamin, 23. Februar 1939, zit. nach ders., Gesammelte Schriften 16, 564–568, hier 567. 177 Benjamin an Max Horkheimer, 13. März 1939, zit. nach ders., GB 6, 231–233, hier 231. 178 Ders. an Gershom Scholem, 14. März 1939, zit. nach ebd., 235–237, hier 236. 179 Ebd. Benjamin ersuchte Scholem in diesem Brief (erneut), sich bei Schocken für seinen Plan stark zu machen, ein Kafka-Buch für den Verlag zu schreiben, der von Schocken abgelehnt wurde. 180 Vgl. Horkheimer an Walter Benjamin, 23. Februar 1939, zit. nach ders., Gesammelte Schriften 16, 567. 181 Benjamin an Gershom Scholem, 14. März 1939, zit. nach ders., GB 6, 237 (Hervorhebung im Original).

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in Richtung Vereinigte Staaten ersuchte – sein Exposé vom März 1939 fügte er auch diesem Brief bei.182 Zwar knüpfte Benjamin an den Text die Hoffnung, seine Chancen für eine Emigration zu erhöhen, aber er war auch an das gebunden, was seinen historischen Blick insgesamt ausformte: die drohende Katastrophe, die ihm letztlich noch die Vergangenheit zum Ort eines möglichen Horizonts werden ließ. Neben Kürzungen und neuen Schwerpunktsetzungen wurden insbesondere Einleitung und Schluss neu hinzugefügt.183 Während das erste Exposé mit den Pariser Passagen in ihrer historischen Konkretion beginnt, ist dieser Anfang im zweiten dem Haupttext zugedacht. Das Bild der klassenlosen Gesellschaft verschwindet genauso, wie das 1935 in expliziter Verkehrung des hegelschen Bildes der List operierende, optimistisch zu deutende Bild von Traum und Erwachen herausgestrichen ist, das auch in der Deutung des Eingedenkens im Passagen-Werk im weiteren Verlauf abhandenkommt.184 Im Zentrum des Exposés stehen dennoch weiterhin Marx, Fourier, Baudelaire und die Barrikaden.185 Der neue Anfang wie der neue Schluss sind Ausdruck einer veränderten Stoßrichtung, die nicht nur in dem strategischen Charakter eines weiter nach außen gerichteten Exposés begründet gewesen sein dürfte. Der erste Satz lautet: »Der Gegenstand dieses Buches ist die Illusion, die Schopenhauer in der Formel zum Ausdruck brachte, wer das Wesen der Geschichte erfassen wolle, für den genüge es Herodot mit der Morgenzeitung zu vergleichen.«186 Benjamin entlarvte so die Vorstellung einer Wiederholung von Geschichte  – die »ewige Wieder182 Vgl. ders. an Sigmund Morgenroth, 14. April 1939, zit. nach ebd., 257–259, sowie ders. an Stephan Lackner, 14. April 1939, zit. nach ebd., 260. 183 Von Einleitung und Schluss des Exposés vom März 1939 finden sich in Benjamins Nachlass deutsche Versionen, die im Anmerkungsapparat zum Passagen-Werk abgedruckt wurden. Vgl. dazu Tiedemann, Anmerkungen zu Seite 60–77 »Paris, Capitale du ­X IXème siècle«, in: Benjamin, GS 5.2, 1255–1259, hier 1255. 184 Das Bild wird im Passagen-Werk im weiteren Verlauf in die Peripherie verschoben. Das Motiv kommt zwar noch in einer durchaus zentralen Notiz im Konvolut N im PassagenWerk vor, in der es heißt: »Das Jetzt der Erkennbarkeit ist der Augenblick des Erwachens. (Jung will vom Traum das Erwachen fernhalten.)« Vgl. Benjamin, GS 5.1, 608 (N 18, 4). Es ist aber bei Weitem nicht mehr in dem systematischen Zentrum, in dem es sich im ersten Exposé oder in den früheren Aufzeichnungen befand. 185 Caroline Sauter arbeitet die stärkere Präsenz von Baudelaire im zweiten Exposé heraus. Vgl. dazu dies., Charles Baudelaire, 35 f. 186 Zit. nach Tiedemann, Anmerkungen zu Seite 60–77 »Paris, Capitale du XIXème siècle«, in: Benjamin, GS 5.2, 1255. Benjamin rekurriert bei der Verbindung von Herodot mit der Tagespresse nicht direkt auf einen Satz Schopenhauers, sondern auf Literatur auf Französisch, die bereits früh im Konvolut S exzerpiert worden war. Benjamin, GS 5.2, 676 f. Die Herausgeber von Das Passagen-Werk konnten diesen Zusammenhang bei Schopenhauer nicht ausfindig machen. Vgl. ebd., 1259. Bei Schopenhauer, und das war für Benjamins Ausrichtung vielleicht relevant, heißt es: »Hat einer den Herodot gelesen, so hat er in philosophischer Absicht schon genug Geschichte studiert. Denn da steht schon alles,

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kunft des Gleichen«, wie sie nicht erst von Nietzsche apostrophiert wurde – als Illusion. Damit bezog sich Benjamin zugleich auf dasjenige »philosophische Zeitalter, das mit Schopenhauer angeht, über Nietzsche weiterführt und dessen Ende noch nicht gekommen ist«,187 wie Rosenzweig es zum Auftakt von Der Stern der Erlösung noch hatte darlegen können. In Benjamins 1939 in den Vordergrund getretenem Rekurs auf Schopenhauer war eine neue Zeit erreicht und so stellte sich auch die nur mehr erinnerte anders dar. Für Benjamin, der bereits am Ende des Ersten Weltkrieges politisch dachte, war das Fundament ebenjene krisenschwangere Geschichte, die auch Rosenzweig zum Ausgangspunkt machte. Er suchte jedoch schon um 1920 nach anderen Antworten und hatte andere Hoffnungen. Wurden diese letztlich im Zeitgeschehen der ausgehenden 1930er Jahre aufgerieben, sprach Benjamin im Schluss des überarbeiteten Exposés vom Frühjahr 1939 anstatt vom Erwachen aus dem Traum von der »hoffnungslose[n] Resignation […] des großen Revolutionärs« Louis-Auguste Blanqui, der dieser im Gefängnis während der Pariser Kommune Ausdruck verliehen habe und die Benjamin im Frühjahr 1939 geschichtlich deutete, wenn es weiter heißt: »Das Jahrhundert hat den neuen technischen Möglichkeiten nicht mit einer neuen gesellschaftlichen Ordnung zu entsprechen vermocht.«188 Damit jedoch nicht genug, die Hoffnungslosigkeit, die sich durch Blanqui aussprach, wurde zum Ausdruck der Furcht vor dem Neuen insgesamt: »Ihm wird zuletzt die Neuheit zum Attribut dessen, was dem Reich der Verdammnis angehört.«189 Die Denunziation einer fehlgeleiteten Vorstellung von Geschichte, die meinte zu kennen, was komme, und die Zeitdiagnose eines Revolutionärs, dem es vor der Zukunft bangte, am Ende des Zeitalters der Umwälzungen, das nicht gebracht hatte, was erhofft wurde, bilden Anfang und Schlusspunkt von Benjamins später Synopsis. Wenige Monate nach den Novemberpogromen und kurz vor dem Ende des Spanischen Bürgerkrieges trugen so neben Adornos Kritik die sich zuspitzende Lage und die zunehmend prekäre persönliche Situation zu der neuen Perspektive bei.190 Im Frühjahr 1940 wurde Blanqui nur noch als der Vergessenheit Anheimfallender genannt.191 was die folgende Weltgeschichte ausmacht: das Treiben, Tun, Leiden und Schicksal des Menschengeschlechts.« Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung 2, 570. 187 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 8. 188 Zit. nach Tiedemann, Anmerkungen zu Seite 60–77 »Paris, Capitale du XIXème siècle«, in: Benjamin, GS 5.2, 1258. Sami Khatib verweist mit Blick auf das zweite Exposé auf das Zurücktreten der »Traummetapher«. Vgl. dazu ders., Karl Marx, 342. 189 Zit. nach Tiedemann, Anmerkungen zu Seite 60–77 »Paris, Capitale du XIXème siècle«, in: Benjamin, GS 5.2, 1258. 190 Zum »Scheitern der Volksfront« und den Auswirkungen auf Benjamin und sein Umfeld vgl. Palmier, Walter Benjamin, 599 f. 191 Vgl. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (Handexemplar), zit. nach ders., Werke und Nachlaß 19, 38 (These XII).

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Begegnet in dem zweiten Exposé eine Geschichte, die von sich aus keinen Sinn ergibt, einem Revolutionär, der die Verdammnis heraufziehen sieht, so stehen Schopenhauer und Blanqui für die zwei Seiten der geschichtsphilosophischen Überlegungen Benjamins im Frühjahr 1939. Der Revolutionär, der sich in seinen Befürchtungen selbst aufhebt, wird mit Die Welt als Wille und Vorstellung von der falschen Auffassung von Geschichte befreit und zugleich fundamental geschichtlich gedeutet. In der Überarbeitung des zweiten Teils des zunächst angedachten Baudelaire-Buchs legte Benjamin seine Interpretation der »Tage des Eingedenkens« dar. Damit fügt er den resignativen Gedanken wieder einen – verschobenen und vergangenen – Horizont bei. Das Manuskript von Über einige Motive bei Baudelaire wurde am 1. August 1939 an Horkheimer versandt.192 Der Text erschien im Frühjahr 1940. Das in seinem Manuskript zu Paris des Second Empire bei Baudelaire noch nicht enthaltene Zentrum des Textes ist die Reflexion des »Eingedenkens«, in der Erfahrung und Erinnerung mit der Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts verbunden wurden. Die im Dezember 1933 bereits angesprochene, verkümmerte Erfahrung, die nicht mehr mitgeteilt, nicht mehr wirklich erfahren werden konnte und die zugleich schon untrennbar an die Weltgeschichte gebunden war, wurde im Baudelaire-Text mit der Suche nach »echter historischer Erfahrung« konfrontiert,193 wie Benjamin sie auch mit der letzten Fassung seiner Berliner Kindheit anstrebte. Diese Engführung der Erfahrung im »Eingedenken«, ließ sich zugleich nicht von einer Vorstellung von Tradition trennen, die in der Zeit sich aufzulösen begann, in der Baudelaire wirkte. So wurde die Möglichkeit »echter historischer Erfahrung« in Über einige Mo­ tive bei Baudelaire einem geschichtlichen Denken zugeordnet, dem wieder sakrale Motive eingeschrieben waren. Insbesondere wurde der Feiertag zu dem Moment, der sich der bloßen Abfolge enthob.194 Die spätere Baudelaire-Arbeit erhielt damit eine tiefgreifende Nähe zu Über den Begriff der Geschichte, die insbesondere der Fuchs-Text trotz seiner Begrifflichkeit noch nicht aufwies. 1939 wurde das 19. Jahrhundert zu Benjamins Refugium. Geformt durch dieses Jahrhundert, dessen zerstörtes Paradigma die Reflexion leitete, wurde zwar erst im Frühjahr 1940 in Über den Begriff der Geschichte die Theologie in eine subordinierte und doch weisende Position gerückt. Das zur Eröffnung der geschichtsphilosophischen Thesen gewählte Bild des »buckligen Zwerg[es]« deutete indes auf die Figur, mit der die Ber­ liner Kindheit schließt und in der Benjamin in Franz Kafka den Grund des »deutschen Volkstums, so gut wie des jüdischen« ausmachte.195 In diesem 192 Vgl. ders. an Max Horkheimer, 1. August 1939, zit. nach ders., GB 6, 312–314, hier 312. 193 Vgl. ders., Über einige Motive bei Baudelaire, zit. nach ders., GS 1.2, 643. 194 Vgl. ebd. 195 Den Zusammenhang von »bucklige[m] Zwerg« und »bucklicht Männlein« hebt Irving Wohlfarth bereits 1988 hervor, aber er setzt ihn noch nicht in diesen Bezug zur Evokation

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Bedeutungszusammenhang verstand Benjamin die Theologie letztlich vermittels einiger weniger geschichtlich gedeuteter Motive jüdischer Tradition, wie sie sich fast wortgetreu auch bei Rosenzweig finden lassen. Damit wurde nicht einfach die Tradition oder die Theologie, sondern eine solche häretische Formation, wie sie aus Benjamins nachzeitiger Perspektive an die geschichtliche Welt des 19. Jahrhunderts gebunden blieb, zum Fundament seiner Geschichtsphilosophie. Deutlich wird diese doppelte Übertragung, wenn das Eingedenken in Über den Begriff der Geschichte sowohl der vergangenen, jenseits der »homogene[n] und leere[n] Zeit« liegenden Zukunftsvorstellung im Gebet als auch im Kalender versinnbildlicht wird. So heißt es in den Thesen: »Der Tag, mit dem ein Kalender einsetzt, fungiert als ein historischer Zeitraffer. Und es ist im Grunde genommen derselbe Tag, der in Gestalt der Feiertage, die Tage des Eingedenkens sind, immer wiederkehrt.«196 Das der Tradition zugedachte Motiv des Kalenders aus Über einige Motive bei Baudelaire wurde so in die Geschichtsphilosophie aufgenommen und in Bezug auf die vergangene Zeiterfahrung konkretisiert: »Die Kalender zählen die Zeit also nicht wie Uhren. Sie sind Monumente eines Geschichtsbewusstseins, von dem es in Europa seit hundert Jahren nicht mehr die leisesten Spuren zu geben scheint.«197 Diese Diagnose verband Benjamin im Frühjahr 1940 mit einer Reflexion der Julirevolution, die sich in einem letzten Aufbäumen des vergangenen Geschichtsbewusstseins gegen den vereinheitlichten, monotonen Zeitfluss gerichtet habe. In dem voneinander unabhängigen, gleichzeitigen Schießen auf die Turmuhren sah Benjamin einen Rest des Zusammenhangs von Tradition, der dem Kalender seinen Takt vorgab. Zugleich notierte er in seinen Vorüberlegungen zu den Thesen bezüglich der »Jetztzeit« noch: »in die Splitter des messianischen Reiches versprengt sind«.198 Das »messianische Reich« benannte Benjamin in den Thesen nicht mehr, aber seinen Begriff der Jetztzeit ließ er zunächst von dem Topos ausgehen, den er inmitten des Ersten Weltkrieges sogar mit der Französischen Revolutionsidee zusammengedacht hatte. Im Kern seines Nachdenkens im Frühjahr 1940 standen so wieder Überlegungen zur historischen und erfüllten Zeit. Mit diesen Gedanken trat die Theologie – in der geschichtlichen Welt im Übergang von Tradition zu Moderne begründet – in der geschichtsphilosophischen Reflexion wieder hervor. Das Passagen-Werk und trotz des zweckgerichteten Charakters auch die beiden Exposés zeugen von einer Denkbewegung, mit der Benjamin in eines gemeinsamen »Grund[es] des deutschen Volkstums so gut wie des jüdischen«. Vgl. dazu Wohlfarth, Märchen für Dialektiker, 127–131. 196 Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (Handexemplar), zit. nach ders., Werke und Nachlaß 19, 40 (These XV). 197 Ebd. 198 Benjamin, Notiz in Konvolut I, zit. nach ders., Werke und Nachlaß 19, 110 f., hier 110.

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spezifischem Sinn zum Archivar des 19. Jahrhunderts wurde.199 An deren erzwungenem Ende stand eine Geschichtsphilosophie, der die sich anbahnende Katastrophe eingeschrieben war. Was Benjamin 1935 bereits formulierte und was noch nicht, beides verweist auf eine Veränderung in seinem Denken: Geschichte, Theologie und Politik traten nach der Resignation in Fragen des Kommunismus, dem Entsetzen ob der Novemberpogrome und dem nächsten Krieg in ein neues Verhältnis. Mitte des Jahrzehnts waren es dem Proletariat zugewandte ästhetische Überlegungen, die der Theologie nur einen säkularisierten Gehalt von Kult und Ritual zusprachen  – zum Ende war sie ein Rest des Jahrhunderts, dem auch das Proletariat recht eigentlich zugehörte. In Auseinandersetzung einiger Gedanken des Baudelaire-Textes erinnerte Benjamin am 7. Mai, zwei Tage nachdem er in der neuen generationellen Selbstdeutung Stephan Lackner die Thesen ankündigte und drei Tage vor der deutschen Invasion in Frankreich, Adorno und sich selbst an »die prekäre Struktur der Assimilation«.200 Obschon unter fragwürdiger Hinführung zur Erkenntnisposition Marcel Prousts und bezogen auf die französische Emanzipationsgeschichte, stand diese Retrospektion doch vor allem unter dem Vorzeichen dessen, was Benjamin im Sommer 1939 Herder als »Wetterleuchten am Horizont« hatte sehen lassen und was er in seiner Gegenwart sich entladen sah. Dem nationalsozialistischen Terror, der sich nach Beginn des Krieges noch in ungeahntem Maße steigerte, waren die vergangenen Hoffnungen der Epoche des Bürgertums wie der Revolution entgegengestellt, die den Grund der geschichtlichen Welt bildeten. Auch seine Reflexion von Theologie im Frühjahr 1940 ruhte auf diesem Fundament. In Benjamins Denkbewegung wurde so zuerst suchend, später konstitutiv, dasjenige Jahrhundert zum Fluchtpunkt, das Cohen noch hatte repräsentieren können und dem Rosenzweig den Fehdehandschuh hinwarf. Und da Benjamins Generation Erfahrungen machte, die die Geschichte noch nicht gekannt hatte, wurde in keiner seiner früheren Schriften der Topos der Menschheit in der Form exponiert wie in Über den Begriff der Geschichte.

199 So schrieb Ernst Schoen Gershom Scholem am 30. Oktober 1946 in englischer Sprache anlässlich der Frage, wo und wie Benjamins Arbeiten publiziert werden könnten, dass Benjamin sich selbst als einen solchen Archivar gesehen habe. Schoen plädierte mit diesem Verweis dafür, dass Benjamins Schriften zu Europa gehören und daher in deutscher (etwa in der Schweiz) oder vielleicht noch französischer Sprache veröffentlicht werden sollten. Der Brief ist zu finden in der National Library of Israel, Archives, Walter Benjamin Collection, Arc. 4°1598/173, 1–50 (ein Blatt, beidseitig beschrieben). 200 Benjamin an Theodor W. Adorno, 7. Mai 1940, zit. nach ders., GB 6, 444–455, hier 450.

Schlussbetrachtung 

In einem Brief an Max Brod deutete Franz Kafka im Sommer 1921 die Abkehr von der Tradition als Vaterkomplex metaphorisch aus. Die Juden, die anfingen, auf Deutsch zu schreiben, wollten »[w]eg vom Judentum«, schrieb Kafka, »sie wollten es, aber mit den Hinterbeinen klebten sie noch am Judentum des Vaters und mit den Vorderbeinen fanden sie keinen neuen Boden«.1 Selbst für Kafka, der noch in einem persönlichen Spannungsverhältnis zur Tradition stand, war dies ein retrospektives Bild. Für Franz Rosenzweig und Walter Benjamin hatte es keine Bedeutung mehr. Sie standen nicht mehr im Judentum und suchten sich der Moderne anzunähern. Im Gegenteil, sie gehörten derjenigen deutsch-jüdischen Generation an, die der Moderne selbst entsprungen, der Tradition entrückt war und sich nur noch nachgerade von außen dieser wieder annähern konnte. Kafkas Metapher erhält indes dann Geltung, wenn an die Stelle des Judentums der Begriff der Geschichte gesetzt wird: Für Rosenzweig – und in anderer Zeitformation auch für Benjamin  – ist nicht mehr zuerst das Judentum, sondern »die Geschichte« als »Offenbarungsersatz« zur Tradition geworden. In dieser Verkehrung spannt sich bei aller Distanz mit dem Bild ein Bogen von Samson Raphael Hirsch und Heinrich Graetz bis hin zu ­Rosenzweig und Benjamin. Dies bedeutet allerdings keine Tradition jüdischer Geschichtsauslegung, die sie alle verbinden kann, sondern, andersherum, was sich in dem Bogen zeigt, ist die sich ausprägende Wirkung des modernen Geschichtsbegriffs. In der Kontroverse zwischen Hirsch, dem Denker der Neo-Orthodoxie, und Graetz, dessen ehemaligem Schüler, ging es um die Veränderung der eigenen Wissensstruktur, darum, dass in Kafkas Bild der haltgebende Boden der Tradition selbst in der Rechtfertigung sich verwandelte. So veränderte sich ab dem Punkt, an dem die Quellen des Judentums historisch verstanden wurden, ihr Bezugsgefüge. In diesem Zugang war eine geschichtliche, nicht nur in die Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft weisende Deutung angelegt, die zum Hinterfragen des sakralen Gehalts führte. Sie entfaltete sich zuerst in der »noch jungen Wissenschaft: Philosophie der Geschichte«, wie Graetz es 1846 formulieren konnte.2 Das 19. Jahrhundert, das Zeitalter der Emanzipation, dem die Wissenschaft des Judentums zugehörte, war gezeichnet von einem Primat der Ge1 Kafka an Max Brod, Juni 1921, 360. 2 Zit. nach Graetz, Die Konstruktion der jüdischen Geschichte, 9.

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 Schlussbetrachtung 

schichte. Der Kampf um Akzeptanz spielte sich in ihrem Raster ab und die Begriffe wurden durch sie geformt. Insbesondere »Theologie« und »Religion«, die am Ende des Jahrhunderts so selbstverständlich waren, wurden erst in dessen Verlauf zurate gezogen, um das Judentum zu verstehen. Die begrifflichen Aneignungen standen für Apologie und Anerkennung – vor allem aber wurden sie in geschichtlicher Fassung eingebracht und bekämpft. Wie kaum jemand erkannte Hermann Cohen diese Ausprägung in ihrer programmatischen Bedeutung. Er war es, der 1904 den Begriff der Religion auf die in der jüdischen Prophetie eröffnete Dimension der Zukunft zurückführte, und in seinem letzten Werk war es der Geschichtsbegriff selbst, der darin begründet wurde. In dieser kleinen Verschiebung zeigt sich die Erosion der geschichtlichen Welt, der Cohen noch durch die geschichtsphilosophische Bezugnahme auf die »Menschheit« im Namen des Judentums entgegenzuwirken suchte. Cohen hielt bis zum Ende jenseits der Empirie an seinem Glauben an die Geschichte fest. Damit verweisen seine Gedanken auf die ausgreifende Semantik des Geschichtsbegriffs  – Cohen führte ihn bewusst so weit, dass er ihn vermittels der Gewissheit des sakralen Kerns geradezu dem kontingenten Geschehen regulativ entgegenzustellen suchte. Der der geschichtlichen Welt des 19. Jahrhunderts zugrunde liegende Modus des Verstehens ist es auch, von dem Rosenzweig sich abwenden wollte, wenn er die Geschichte als Bezugsgefüge durch die Offenbarung einschränkte und diese zugleich in der Spannung von Zeitlichem und Ewigem dynamisierte. In Martin Bubers 1930 in den Kant-Studien erschienenem Nachruf auf Rosenzweig verdichtete sich diese Abwendungsbewegung. »In Wahrheit handelt es sich gar nicht um den Übergang aus einem historischen Bezirk in einen anderen historischen«, erinnerte Buber an die Distanz zwischen dem 1920 gedruckten Hegel und der Staat und dem nur ein Jahr später veröffentlichten Der Stern der Erlösung. Es handelte sich bei dieser Abwendung stattdessen »um den [Übergang] aus einer Welt, in der das Historische alles Ontische absorbiert, in eine, in der das Historische selber – und zwar eben nicht in einer Dialektik, sondern in der Kontingenz – ontischen Charakter gewinnt«.3 Buber, der sich eines Vokabulars bediente, das in Rosenzweigs Hauptwerk noch nicht seinen Niederschlag fand, traf dennoch das Zentrum von dessen Versuch. Rosenzweig erkannte den säkularisierenden Gehalt des modernen Geschichtsbegriffs und suchte sich ihm mit Der Stern der Erlösung zu entziehen. Als er das Judentum außerhalb der Weltgeschichte situierte, wollte er letztlich auch dessen Übertragungstendenz zwischen Tradition und Moderne entgehen. Auch dafür wandte er sich einem Offenbarungsgeschehen vermittels philosophischer Begründung zu. Noch nicht jedoch im Sinne einer an Martin Heidegger gemahnenden Seins-Philo3 Buber, Franz Rosenzweig, 517.

 Schlussbetrachtung 

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sophie, sondern als Antwort auf den Verlust des Absoluten, den Siegfried Kracauer zu Beginn der 1920er Jahre in seinen zeitdiagnostischen Kritiken benannte. Der Riss, der, mit Lukács gesprochen, durch die Welt ging, der Mensch und Welt voneinander trennte, sollte der marode gewordenen, ja der in Zerstörung begriffenen geschichtlichen Welt entzogen und durch die Offenbarung überbrückt werden. Indem Rosenzweig auf dem Fundament der Emanzipation über die ihr eingeschriebene geschichtsimmanente Hoffnung hinauszudenken suchte, verließ er die Bahnen der Wissenschaft des Judentums. Stattdessen lehnte er sich in Der Stern der Erlösung an protestantische Vorstellungswelten an. Es ging Rosenzweig nicht um ein Zurück zur Tradition, sondern um eine Neubegründung, eine Rechtfertigung, der in seinem Weltbild die sakralen Texte vor allem in Bezug auf die Zeitreflexion zu bedürfen schienen. So nimmt es nicht wunder, dass sich die Fronten der Rezeption von Rosen­ zweigs Leben und Werk Mitte der 1930er Jahre verhärtet hatten. Im Frühjahr 1935 erschienen die Briefe Rosenzweigs, mit denen der um ihn schon zu Lebzeiten gewobene Mythos durch den »wirklichen Menschen« erweitert wurde.4 In vielen Gemeindeblättern wurden Hinweise und Besprechungen veröffentlicht, in denen die Briefe als Zeugnis gewürdigt wurden und zugleich Kritiken hervortraten.5 Auf ganz anderer, den Einbruch der Geschichte in die jüdische Lebenswelt neu zur Disposition stellender Ebene wurde im September des Jahres mit den Nürnberger Gesetzen die rechtliche Gleichstellung der deutschen Juden rasseideologisch zurückgenommen; und am 5. Dezember hielt Ludwig Feuchtwanger, der seit 1930 die Bayrische Israelitische Gemeindezeitung herausgab, im Jüdischen Lehrhaus in Berlin einen Vortrag über Rosenzweig.6 Er nahm die Briefe, wenn nicht zum offenen Anlass der Kritik, so doch zur Grundlage, und die Mythisierung zum Ausgangspunkt. F ­ euchtwanger, der Rosenzweigs persönliche Hinwendung zum Judentum anerkannte, wollte zeigen, dass Der Stern der Erlösung nicht zum Judentum führe. In polemischem Ton legte er den Fokus auf die Genese von Rosenzweigs Phi4 Vgl. dazu Meyer, Zwischen Philosophie und Gesetz, bes. 183–190. 5 Einige der Besprechungen finden sich in Leo Baeck Institute New York, Franz Rosenzweig Collection (1832–1999), Box 3, Folder 3, (15. Januar 2022). 6 Neben zwei anderen, wohl älteren Versionen, in denen nur Rosenzweig das Thema ist, findet sich unter dem Titel Eigenwelt und Umwelt jüdischer Gestalten. Jakob Wasser­ mann und Franz Rosenzweig. Vortrag im Lehrhaus der Jüd. Gemeinde Berlin am 5.XII.35 ein 32-seitiges, durchpaginiertes Typoskript im Leo Baeck Institute New York, Ludwig Feuchtwanger Collection (1908–1973), AR 6001/MF 562, Box 1, Folder 3, (15.  Januar 2022). Im Folgenden wird aus dem Typoskript zitiert und die darin enthaltene Paginierung angegeben.

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losophie, auf seine Schirmherren in der deutschen Philosophie und seine Auseinandersetzung mit christlichen Formen, durch die in der Sicht des Kritikers die jüdischen Traditionen dem Rest des Systems letztlich implementiert erschienen. Dennoch begann Feuchtwanger mit einer generationellen Bestimmung, die Rosenzweigs Denkbewegung zum Zeichen einer allgemeineren Erfahrung machte, wenn er fragte: »Woran erkennt man die Einheitlichkeit, das Gemeinsame einer Generation?«7 Es sei nicht nur das Geburtsdatum, sondern eine »neue Lebenshaltung«, die die Differenz zur vorhergehenden ausmache. Feuchtwanger schrieb: »Jede Generation hat ihre eigene Sprache und meint, wenn sie sich auch des alten Vokabulars bedient, etwas Anderes.«8 Obschon sie dieselben religiösen Bräuche ausführten, täten sie dies doch »mit einer anderen Sinngebung«.9 Er bestimmte die im Vortrag betrachtete Generation als die »in dem halben Menschenalter 1875–1890 geborenen deutschen Juden«.10 Diese Bestimmung ist so unscharf wie alle generationelle Betrachtung. Feuchtwanger, der, 1885 geboren, selbst zu der Altersgruppe gehörte, ging es in seiner Zuordnung zwar nicht so sehr um das Ereignis des Ersten Weltkrieges als vielmehr um den Verlust der Bindung an das Judentum in dieser Generation; aber seine auf Rosenzweig kaprizierten Ausführungen stimmen doch auch in die Ausdeutung der geschichtlichen Krise ein, wenn es heißt: »Der scheinbare endgültige Verzicht des 19. Jahrhunderts auf alle ausserweltlichen magischen, sakramentalen und mystischen Heilswege zugunsten der innerweltlichen ›Bewährung‹ wird wieder in Frage gestellt.«11 Das Problem, das er damit verhandelte, betrifft diejenigen, die zum Beginn des Ersten Weltkrieges erst begonnen hatten, ihren intellektuellen Weg zu gehen; die daher den Bruch in anderer Intensität erlebten – die noch mit »der Pferdebahn zur Schule gefahren« waren, wie Benjamin im Herbst 1933 seine Generation aus ganz anderer Perspektive kennzeichnete. Die Kritik Feuchtwangers war dabei der Mythisierung Rosenzweigs in dem Zeitkontext der Zurücknahme der Emanzipation entgegengestellt und nur aus diesem heraus in ihrer Schärfe zu verstehen. Jenseits einer sich in der Darstellung Ausdruck verschaffenden Antipathie erkannte Feuchtwanger indes das Problem, das dem Text Der Stern der Erlösung eingeschrieben ist: »Auch das Judentum war für ihn zunächst, als er ihm begegnete, Wissensgegenstand, das er im ganzen durchdringen wollte; er hat es so ernst genommen, wie sein Hegel- und Kantstudium […].«12 Von dieser deutschen 7 Ebd., 1. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Ebd. 11 Ebd., 2.  12 Ebd., 24 (Hervorhebung im Original unterstrichen).

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Philosophie kommend, habe er, anstatt schlicht nach dem »Wie« nach dem »Was« gefragt.13 Das Problem der Rechtfertigung, der Theodizee, bildete damit den Grund von Feuchtwangers polemischem Duktus. Statt beim Judentum sei Rosenzweig bei einer »altlutherische[n]« Denkweise angekommen, in der er die »Altersphilosophie Schellings« übernommen habe.14 »[T]rotz seiner schönen, beseelten und wahren Partien zum Verständnis der jüdischen Geschichte und des Lebens im jüdischen Geiste«, so Feuchtwanger im Dezember 1935, gleiche Der Stern der Erlösung im »Denkstil« Ernst Blochs Geist der Utopie und Georg Lukács’ Die Theorie des Romans.15 Und so fasste sich Feuchtwangers Urteil in Wiederaufnahme des von Rosenzweig selbst benannten Problems zusammen, wenn er festhielt, »dass dieses antiidealistische, sogenannte Hauptwerk Rosenzweigs kein jüdisches Buch ist, dass es noch weniger, wie man missverständlicher Weise bis heute immer wieder sagt, im Ansatz oder als Ganzes dazu taugt unserer Zeit, der Zeit des Unglaubens den Weg zum wahren Judentum zurück zu weisen«.16 Dennoch war Feuchtwangers abschließende Einschätzung, dass Rosenzweig in seinem Judentum letztlich »zum stellvertretenden Beispiel jüdischer Erneuerungsmöglichkeit im Religiösen und Persönlichen geworden [sei], beispiellos und nicht dagewesen seit der Emanzipation«.17 Nur Der Stern der Erlösung hatte für Feuchtwanger damit eben nichts zu tun. Im ersten Heft der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums im Jahr 1935 findet sich der Artikel Philosophie und Religion im jüdischen Denken der Gegenwart von Albert Lewkowitz, der zu dieser Zeit schon seit zwei Jahrzehnten als Dozent am Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau wirkte. In dem Beitrag heißt es: »Rosenzweigs gläubiges Denken ist nicht nur ein Gegner der Philosophie, es entwurzelt auch den Glauben des Judentums aus dem Quellreich des Lebens, aus seiner geschichtlichen Wirklichkeit und macht das jüdische Volk zum geschichtslosen Volk des zeitlosen Gottesglaubens, zum Gottesvolk.«18 Diese Einschätzung schon vor Verkündung der Nürnberger Gesetze war auch eine Reaktion auf das reale, zunehmende Ausgestoßensein der deutschen Juden im Nationalsozialismus, die Feuchtwangers Kritik vorausging. Lewkowitz schrieb aber weiterhin: »Über ein Jahrhundert der geschichtlichen Entwicklung führt das gläubige Denken Rosenzweigs zu Samson Raphael Hirsch zurück.«19

13 Ebd., 19. 14 Ebd., 12 und 14 (Hervorhebung im Original unterstrichen). 15 Ebd., 18. 16 Ebd., 12. 17 Ebd., 26. 18 Lewkowitz, Philosophie und Religion im jüdischen Denken der Gegenwart, 8. 19 Ebd.

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Feuchtwangers Vortrag drehte sich letztlich um diese Deutung. Denn Lewkowitz meinte, dass Rosenzweig aufgrund der Stellung zur Geschichte zu Hirsch gekommen sei. Feuchtwanger machte darin stattdessen eine Rückwendung zu christlichen Denkern aus, zu Luther, Schelling und Kierkegaard. Nicht, dass Feuchtwanger den Text von Lewkowitz erwähnen würde; ob er ihn überhaupt gelesen hatte, ist unsicher. Er besprach allerdings dessen ebenfalls 1935 erschienenes Buch Das Judentum und die geistigen Strömun­ gen des 19. Jahrhunderts, das als letzter Band des »Grundrisses der Gesamtwissenschaft des Judentums« erschien, im Februar 1936 in Blätter der jüdischen Buchvereinigung.20 Darin bemängelte er, dass Lewkowitz bei einem Denker wie Hirsch »das jüdisch-Eigentümliche« nur unscharf habe erfassen können, und sah eine solche weiche Argumentation als charakteristisch für das Buch an, dem er Max Wieners 1933 erschienene Studie Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation entgegenstellte.21 Unter dem Vorzeichen der Rücknahme der rechtlichen Gleichstellung der deutschen Juden dachte Feuchtwanger im Dezember 1935 über ein Jahrhundert nach, das gleichermaßen von Anerkennung und Selbstbehauptung wie vom Schwinden der Tradition gekennzeichnet war. Feuchtwanger, der sich aufgrund der ihm gegenwärtigen Entwicklungen der jüdischen Geschichte zuwandte, gab im Jahr darauf Die Konstruktion der jüdischen Geschichte von Graetz in der Bücherei des Schocken Verlags heraus, für den auch sein eigenes Werk Der Gang der Juden durch die Weltgeschichte vorgesehen war. Angedacht war, dass es 1939 erscheinen sollte. Es kam nicht mehr dazu.22 Feuchtwangers Kritik an Rosenzweig vom Dezember 1935 ist beißend und in manchem schiefen Aspekt scheint es, als würde er etwas an Rosenzweig und dem um ihn gewobenen Mythos ausagieren. Dennoch und auch wenn dies nicht Feuchtwangers Gegenstand war, legt sie offen, wie sehr Rosenzweigs Werk in der spezifischen Hinwendung zum Judentum der Krise am Ausgang des Ersten Weltkrieges verbunden ist. In ihrer bereits im August und in veränderter Form wieder im November 1935 erschienenen Besprechung Franz Rosenzweigs Briefe sah auch Margarete Susman,23 die Rosenzweig nahestand und damit aus ganz anderer Perspektive an die Briefe heranging, eben diese Zentralität. Sie machte in der zweiten, geradezu in einer anderen Zeit stehenden Veröffentlichung an ihnen eine »Eigentümlichkeit« der »Distanz« aus und schrieb, »so nah sie uns noch im Persön20 Feuchtwanger, Besprechung zu Albert Lewkowitz, Das Judentum und die geistigen Strömungen des 19. Jahrhunderts (Breslau 1935). 21 Ebd.; vgl. auch Wiener, Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation. 22 Vgl. dazu Mehring / R ieß, Nachwort, 349. Vgl. zum Feuchtwanger-Projekt auch Feuchtwanger, Neue Forschungsaufgaben für die Geschichte der Juden im Mittelalter, 98 und 100. 23 Allgemein zu Margarete Susmans Denkbewegungen vgl. Gilleir / Hahn (Hgg.), Grenzgänge zwischen Dichtung, Philosophie und Kulturkritik.

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lichen und vielfach im Sachlichen sind – in ihrer Problemstellung als ganzer sind sie von unserem heutigen Dasein durch einen gar nicht abzumessenden Abgrund getrennt«.24 Für Susman war Rosenzweigs »Grundproblem […] zunächst das seiner ganzen, teils vom reinen Geist, teils von der Philosophie des bloßen sinnlosen Lebens geprägten Generation: der Versuch, im Nichts dieser Weltstunde wieder Stand zu gewinnen«.25 So sehr Susman damit auch von ihrer eigenen Generation sprach, lag die Distanz darin, dass Rosenzweigs Denken von einer »Beschränkung auf das Gegenwärtigste« gekennzeichnet gewesen sei.26 Diese »verhülle ihm […] die ungeheure Problematik und Gefahr der Verbindung beider ihm vertrauten und lieben Welten im gegenwärtigen Augenblick und in der rasch herannahenden Zukunft«.27 Susman, die auch mit Bloch und Lukács vertraut war, sah in Rosenzweigs Briefen die »Ausschließung alles Utopischen, alles Revolutionären« und verband dieses Fehlen eines Erwartungshorizonts mit der Rede von »Deutschtum und Judentum« bei Rosenzweig.28 Seine jüdische »Wirklichkeit« habe, so Susman, noch mit der deutschen »in keinem Widerspruch« gestanden.29 In der im August veröffentlichten Besprechung hatte sie in der Verbindung von »Deutschtum und Judentum« sogar einen gedanklichen Bogen bis zurück zu Moses Mendelssohn geschlagen, der im November herausgestrichen war.30 Der jüdische Aufklärer stand nicht mehr unter dem Vorzeichen dieser Einheit. Während Susman die erste Besprechung auch mit Mendelssohn schloss, beendete sie die zweite mit dem Bild des »Zusammensturzes der Welt« aus Rosenzweigs Schlußbemerkungen zu Hegel und der Staat.31 So sehr die Bedeutung dieser vergangenen Zeitdiagnose Rosenzweigs sich auch in den nächsten Zusammenbruch einschrieb, sah sie seine Briefe dennoch nicht mit der »Welt an der sie wirkten begraben«.32 Stattdessen sollten sie als deren Zeugnis die Hoffnung bewahren.33 Gemein war den positiven und den negativen Stimmen zu Rosenzweig im Jahr 1935 bei allen Unterschieden die historische wie geschichtliche Deutung. Sie befragten ihn nach dem Status der jüdischen 24 Susman, Franz Rosenzweigs Briefe, in: Blätter des jüdischen Frauenbundes, 2. 25 Ebd., 3. 26 Ebd., 5. 27 Ebd. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Susman, Franz Rosenzweigs Briefe, in: Die Zeitschrift des Schwesternverbandes der Bnei Brith, 4. In ihrer Skizze zu Franz Rosenzweig in dem von ihr 1954 veröffentlichten Sammelband Gestalten und Kreise nimmt Susman die Parallelstellung wieder auf. Dies., Franz Rosenzweig, 287–289. 31 Dies., Franz Rosenzweigs Briefe, in: Blätter des jüdischen Frauenbundes, 7. 32 Ebd. 33 Vgl. ebd.

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Geschichte und sahen ihn noch im Horizont des vergangenen Zeitalters, sei es auch, wie im Falle Susmans, als sichtbare Leerstelle einer zusammengestürzten Welt. Sich selbst deuteten die verschiedenen Stimmen spätestens im Herbst des Jahres – obschon in die Generation Rosenzweigs gestellt – getrennt von der Zeit, für deren Ausgang sein Denken zum Brennglas wurde.34 Die radikalen Umbrüche der 1930er Jahre hatte Rosenzweig nicht erahnen können, daran kann sein Denken kaum bemessen werden. Reaktionen aus dieser Zeit verweisen in der Zusammenschau dennoch auf den entscheidenden Punkt, dass in Rosenzweigs Suche nach einer jüdischen Antwort auf die geschichtliche Krise seine Wissensstruktur an das 19. Jahrhundert gebunden blieb. Der Stern der Erlösung ruht auf diesem Fundament und so kann er gerade auch in Benjamins Über den Begriff der Geschichte erinnert werden. In der Mitte der 1930er Jahre reflektierte auch Benjamin über Kafka und das »bucklicht Männlein« vermittelt auf den »Grund des deutschen Volkstums so gut wie des jüdischen«, den er im alle Kreatur einschließenden Gebet ausmachte. Er suchte jedoch, bevor er sich in seiner Geschichtsreflexion der Theologie erinnerte, das »dialektische Bild« von der Metaphysik zu befreien; und noch 1937 dachte er im Namen des historischen Materialismus, Kräfte aus dem Historismus freisetzen zu können. Es war eine Zeit, in der nicht mehr versucht wurde, dem 19. Jahrhundert zu entkommen, sondern, im Gegenteil, sich dieses neu anzueignen. Für Benjamin galt, dass die Krise des Historismus selbst historisch geworden war und dass durch den »Blutnebel« des Ersten Weltkrieges hindurch die Hoffnungen zunehmend auf einen Erhalt der Maßstäbe des 19. Jahrhunderts gerichtet wurden. Erst in der Entdeckung verborgener Bedeutungsschichten in seinen Überlegungen zur Geschichte im Angesicht von Ereignissen, denen der Begriff des 19. Jahrhunderts aus seiner Perspektive nicht standzuhalten vermochte, umkreiste er einen theologischen Rest in der Geschichte und ließ damit zugleich ihren philosophischen Überschuss wieder sichtbar werden. In diesem in der Geschichtsphilosophie bewahrten Rest von Theologie liegt zugleich ein Grund, warum Benjamin, der Rosenzweigs Philosophie nur an einigen wenigen Stellen seiner Denkbewegung berührte, dieser dennoch so nahe erscheint. Ende der 1930er Jahre, mehr noch im Frühjahr 1940 kam für Benjamin das Problem der Erosion der geschichtlichen Welt in neuer Tragweite zur Geltung – nur konsequent: wieder unter dem Vorzeichen der Geschichte. Benjamin holte die Fragen hervor, durch die zwanzig Jahre vorher die Krise ihre Kontur erhalten hatte. In der in dieser Wiederaufnahme reflektierten Verwandlung von Tradition stand Benjamin in der Nachgeschichte Rosenzweigs. 1940 rief auch er die erste Hälfte des 19. Jahr34 Nicht in Bezug auf die Texte von Susman oder den Vortrag von Feuchtwanger, aber zu der historischen Deutung vgl. Meyer, Vom Ende der Emanzipation.

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hunderts als Referenz auf. Er tat dies aber im Namen eines Geschichtsbewusstseins, das in der Reflexion des Eingedenkens auf der Grenze zwischen Feiertag und Revolution den geschichtsphilosophischen Gehalt des spezifisch zeitlichen Denkens Rosenzweigs freilegte. Trotz der historischen Distanz verweist Benjamins Hinwendung zu den theologischen Motiven, die auch für Rosenzweig zentralen Stellenwert hatten, darauf, dass das, was Rosenzweig in seiner Abwendungsbewegung von der Geschichte fand, angelehnt blieb an eine in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stehende, nicht gänzlich der Verweltlichung anheimgefallene geschichtsphilosophische Begründung des Offenbarungsgeschehens – im Christentum. Damit orientierte sich Rosenzweig noch an derjenigen Zeitformation, die er bereits 1910 in die Nähe seiner Gegenwart gerückt hatte und die, mit der Chiffre »1800«, auch in Der Stern der Erlösung der maßgebliche Einschnitt blieb. Der Zeitkern des Werks ist das krisenhafte Ende des langen 19. Jahrhunderts. Durch diese Affinität in der Distanz von Rosenzweig und Benjamin zeigt sich so die epistemische Frage, die Rosenzweig in Entgegensetzung zum und Benjamin im Bild des Fluchtpunkts mit dem 19. Jahrhundert verband. Der moderne Geschichtsbegriff war nie nur die bloße Repräsentanz des Vergangenen, sondern er bildete, aus der Vorstellung von Heilsgeschehen (der Offenbarung von Schöpfung und Erlösung, von sinnvollem Anfang und Ende) hervorgegangen, einen Sinnzusammenhang und prägte den Kern von individuellen wie kollektiven Selbstverständnissen in einer in Säkularisierung begriffenen Welt. Mit der Erosion der geschichtlichen Welt des 19. Jahrhunderts schwanden die ihm eingeschriebenen Ideale von Menschheit und Vernunft, die einst den Erwartungshorizont ausrichten und für ­Cohen noch das Fundament eines »ethischen Begriff[s] der Geschichte« bilden konnten. Rosenzweig erkannte in dem mit »Menschheit« und »Vernunft« aufgerufenen Bezugsgefüge die Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts. Die Konzepte ließ er auch deshalb hinter sich. Aber dem Judentum wandte er sich vermittelt durch das gedankliche Prisma zu, das er in der Reflexion von »1800« fand; seine Referenzen waren christlich-idealistische Kompensationsversuche der beginnenden Ausprägung der Geschichte; und ins Zentrum stellte er – trotz aller Abgrenzungen dem Kern der protestan­ tischen Denkform entsprechend – die Begegnung von Gott und Mensch. Rosenzweigs Gedanken in Der Stern der Erlösung kreisten nicht mehr um die Frage nach dem, was am Judentum bewahrt und dem, was verändert werden solle, wie sie die Konflikte des 19. Jahrhunderts bestimmt hatte, als vielmehr um die Rechtfertigung Gottes selbst. Auch in Rosenzweigs Antwort auf die geschichtliche Krise bleibt damit das Problem des Geschichtsbegriffs zentral. Durch die Geschichte in ihrer philosophischen Gestalt hatte diese Frage eine weltliche Antwort als Fortschritt der Menschheit erhalten

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können. Als das epistemische Ordnungsprinzip des 19. Jahrhunderts kollabierte, zeigte sich das Problem der Verweltlichung der Geschichte, durch die der Tradition nur noch in der Form von Theodizee Geltung zukam. Wenn Rosenzweig nicht das »Wie«, sondern das »Was« befragte, dann verweist dies darauf, dass das Problem der Rechtfertigung den Grund von Der Stern der Erlösung bildete. Und so blieb auch Rosenzweigs Offenbarungsphilosophie in der Krise ex negativo an die Geschichte gebunden. Überwiegend selbst noch in der erodierten geschichtlichen Welt stehend, wollte Rosenzweig dieser gleichsam mit einem Sprung ins Absolute entkommen, wie Kracauer es zu Beginn der 1920er Jahre für eine Jugend beschrieb, die sich in der Zeit des Übergangs nicht mehr in die überkommenen Formen fügen konnte. In diesem Versuch schwingt zugleich mit, was sich im Untertitel dieser Studie als eigentlicher Widerspruch niederschlägt. Die jüdische Perspektive Rosenzweigs ist nur bedingt eine solche. Die Geschichte bildet den bröckelnden Boden, von dem aus er nach Halt in dem suchte, was eine Generation zuvor trotz aller Ablösungsprozesse Tradition noch hatte sein können. Dafür wurden ihre wiederentdeckten Bestände jedoch dem eigenen Wissenshorizont anverwandelt. Als Paradox steht die jüdische Krise des Historismus für die Suche nach dem Judentum aufgrund der Krise, die sich ihren emblematischen Ausdruck in Der Stern der Erlösung verschaffte. Vielleicht ist das Werk auch deshalb seinerzeit kaum angemessen verstanden worden.

Quellen und Literatur Werkausgaben Benjamin, Walter: Gesammelte Briefe (GB), 6  Bde., hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Frankfurt a. M. 1995–2000. Ders.: GB 1: 1910–1918, hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Frankfurt a. M. 1995. Ders.: GB 2: 1919–1924, hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Frankfurt a. M. 1996. Ders.: GB 3: 1925–1930, hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Frankfurt a. M. 1997. Ders.: GB 4: 1931–1934, hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Frankfurt a. M. 1998. Ders.: GB 5: 1935–1937, hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Frankfurt a. M. 1999. Ders.: GB 6: 1938–1940, hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Frankfurt a. M. 2000. Ders.: Gesammelte Schriften (GS), 7 Bde. in 14 Teilbänden, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991. Ders.: GS 1: Abhandlungen, 3 Teilbde., hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991. Ders.: GS 2: Aufsätze, Essays, Vorträge, 3 Teilbde., hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991. Ders.: GS 3: Kritiken und Rezensionen, hg. von Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt a. M. 1991. Ders.: GS 4: Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen, 2 Teilbde., hg. von Tillmann Rexroth, Frankfurt a. M. 1991. Ders.: GS 5: Das Passagen-Werk, 2 Teilbde., hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1991. Ders.: GS 6: Fragmente vermischten Inhalts. Autobiographische Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991. Ders.: GS 7: Nachträge, 2 Teilbde., hg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991. Ders.: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Christoph Gödde und Henri Loritz, 21 Bde., Frankfurt a. M. ab 2008. Ders.: Bd. 3: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, hg. von Uwe Steiner, Frankfurt a. M. 2008. Ders.: Bd. 9: Rundfunkarbeiten, 2 Teilbde., hg. von Thomas Küpper und Anja Nowak, Berlin 2017. Ders.: Bd. 10: Deutsche Menschen, hg. von Momme Brodersen, Frankfurt a. M. 2008. Ders.: Bd. 13: Kritiken und Rezensionen, 2 Teilbde., hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Berlin 2011.

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Ders.: Bd. 16: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, hg. von Burkhardt Lindner unter Mitwirkung von Simon Broll und Jessica Nitsche, Berlin 2013. Ders.: Bd. 19: Über den Begriff der Geschichte, hg. von Gérard Raulet, Berlin 2010. Cohen, Hermann: Werke, hg. von Helmut Holzhey, 17 Bde., 2 Supplementa, Hildesheim / Zürich / New York 1977–2012 (Reprint). Ders.: Bd. 1: Kants Theorie der Erfahrung, Teilbd. 1: Text der dritten Auflage 1918 und Einleitung von Geert Edel, hg. vom Hermann-Cohen-Archiv am Philosophischen Seminar der Universität Zürich unter der Leitung von Helmut Holzhey, Hildesheim / Zürich / New York 1987. Ders.: Bd. 1: Kants Theorie der Erfahrung, Teilbd. 2: Textkritischer Apparat und Register, hg. vom Hermann-Cohen-Archiv am Philosophischen Seminar der Universität Zürich unter der Leitung von Helmut Holzhey, Hildesheim / Zürich / New York 1987. Ders.: Bd. 1: Kants Theorie der Erfahrung, Teilbd. 3: Erste Auflage 1871, hg. vom Hermann-Cohen-Archiv am Philosophischen Seminar der Universität Zürich unter der Leitung von Helmut Holzhey, Hildesheim / Zürich / New York 1987. Ders.: Bd. 2: Kants Begründung der Ethik nebst ihren Anwendungen auf Recht, Religion und Geschichte. Variantenverzeichnis und Register, mit einer Einleitung von Peter Müller und Peter A. Schmid, hg. vom Hermann-Cohen-Archiv am Philosophischen Seminar der Universität Zürich unter der Leitung von Helmut Holzhey, Hildesheim / Zürich / New York 2011. Ders.: Bd. 3: Kants Begründung der Ästhetik, mit einer Einleitung von Helmut Holzhey, hg. von Helmut Holzhey und Hartwig Wiedebach, Hildesheim / Zürich / New York 2009. Ders.: Bd. 4: Kommentar zu Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft. Register, mit einer Einleitung von Helmut Holzhey, hg. vom Hermann-Cohen-Archiv am Philosophischen Seminar der Universität Zürich unter der Leitung von Helmut Holzhey, Hildesheim / Zürich / New York 2012. Ders.: Bd. 5, Teilbd. 1: Das Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte. Ein Kapitel zur Grundlegung der Erkenntniskritik; Teilbd. 2: Einleitung mit kritischem Nachtrag zur »Geschichte des Materialismus« von F. A. Lange. Variantenverzeichnisse und Register, mit einer Einleitung von Peter Schulthess und Helmut Holzhey, hg. vom Hermann-Cohen-Archiv am Philosophischen Seminar der Universität Zürich unter der Leitung von Helmut Holzhey, Hildesheim / Zürich / New York 1984. Ders.: Bd. 6: System der Philosophie, erster Teil: Logik der reinen Erkenntnis. Variantenverzeichnis und Register, mit einer Einleitung von Helmut Holzhey, hg. vom Hermann-Cohen-Archiv am Philosophischen Seminar der Universität Zürich unter der Leitung von Helmut Holzhey, Hildesheim / Zürich / New York 1977. Ders.: Bd. 7: System der Philosophie, zweiter Teil: Ethik des reinen Willens, mit einer Einleitung von Peter  A.  Schmid, hg. vom Hermann-Cohen-Archiv am Philosophischen Seminar der Universität Zürich unter der Leitung von Helmut Holzhey, Hildesheim / Zürich / New York 2012. Ders.: Bd. 8: System der Philosophie, dritter Teil: Ästhetik des reinen Gefühls, Teilbd. 1, mit einer Einleitung von Gerd Wolandt, hg. vom Hermann-Cohen-Archiv am Philosophischen Seminar der Universität Zürich unter der Leitung von Helmut Holzhey, Hildesheim / Zürich / New York 1982.

 Quellen und Literatur

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Ders.: Bd. 9: System der Philosophie, dritter Teil: Ästhetik des reinen Gefühls, Teilbd. 2. Register zu Band 8 und 9, hg. vom Hermann-Cohen-Archiv am Philosophischen Seminar der Universität Zürich unter der Leitung von Helmut Holzhey, Hildesheim / Zürich / New York 1982. Ders.: Bd. 10: Der Begriff der Religion im System der Philosophie. Register, mit einer Einleitung von Andrea Poma, hg. vom Hermann-Cohen-Archiv am Philosophischen Seminar der Universität Zürich unter der Leitung von Helmut Holzhey, Hildesheim / Zürich / New York 1996. Ders.: Bd. 12: Kleinere Schriften I: 1865–1869, bearb. von Hartwig Wiedebach und Helmut Holzhey. Im Auftrag des Hermann-Cohen-Archivs am Philosophischen Seminar der Universität Zürich hg. von dens., Hildesheim / Zürich / New York 2012. Ders.: Bd. 15: Kleinere Schriften IV: 1907–1912, bearb. und mit einer Einleitung von Hartwig Wiedebach. Im Auftrag des Hermann-Cohen-Archivs am Philosophischen Seminar der Universität Zürich und des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien, Universität Potsdam, hg. von Helmut Holzhey, Julius H. Schoeps und Hartwig Wiedebach, Hildesheim / Zürich / New York 2009. Ders.: Bd. 16: Kleinere Schriften V: 1913–1915, bearb. und mit einer Einleitung von Hartwig Wiedebach. Im Auftrag des Hermann-Cohen-Archivs am Philosophischen Seminar der Universität Zürich und des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien, Universität Potsdam, hg. von Helmut Holzhey, Julius H. Schoeps und Christoph Schulte, Hildesheim / Zürich / New York 1997. Ders.: Bd. 17: Kleinere Schriften VI: 1916–1918, bearb. und mit einer Einleitung von Hartwig Wiedebach. Im Auftrag des Hermann-Cohen-Archivs am Philosophischen Seminar der Universität Zürich und des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien, Universität Potsdam, hg. von Helmut Holzhey, Julius H. Schoeps und Christoph Schulte, Hildesheim / Zürich / New York 2002. Ders.: Supplementa 1: Hermann Cohens Notizen und Reflexionen aus dem Nachlaß Paul Natorps. Mit Einleitung, fortlaufendem Kommentar und Register, hg. vom Hermann-Cohen-Archiv am Philosophischen Seminar der Universität Zürich unter der Leitung von Helmut Holzhey und Hartwig Wiedebach, Hildesheim /  Zürich / New York 2003. Ders.: Supplementa 2: Hartwig Wiedebach, Die Hermann-Cohen-Bibliothek. Im Auftrag des Hermann-Cohen-Archivs am Philosophischen Seminar der Universität Zürich und des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien, Universität Potsdam, hg. von Helmut Holzhey, Julius H. Schoeps und Christoph Schulte, Hildesheim / Zürich / New York 2000. Rosenzweig, Franz: Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften, 4 Bde., Den Haag / Boston, Mass. / Lancaster 1976–1984. Ders.: Bd. 1: Briefe und Tagebücher, Teil  1: 1900–1918, Teil  2: 1918–1929, hg. von Rachel Rosenzweig und Edith Rosenzweig-Scheinmann, unter Mitwirkung von Bernhard Casper, Den Haag / Boston, Mass. / Lancaster 1979. Ders.: Bd. 2: Der Stern der Erlösung, mit einer Einführung von Reinhold Mayer, Den Haag / Boston, Mass. / Lancaster 1976. Ders.: Bd. 3: Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken, hg. von Reinhold und Annemarie Mayer, Den Haag / Boston, Mass. / Lancaster 1984.

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 Quellen und Literatur

Ders.: Bd. 4: Sprachdenken im Übersetzen, 2 Teilbde., Teilbd. 1: Jehuda Halevi. Fünfundneunzig Hymnen und Gedichte. Deutsch und Hebräisch. Der sechzig Hymnen und Gedichte dritte Ausgabe, hg. von Rafael N. Rosenzweig, Den Haag / Boston, Mass. / Lancaster 1983; Teilbd. 2: Arbeitspapiere zur Verdeutschung der Schrift, hg. von Rachel Bat-Adam, Den Haag / Boston, Mass. / Lancaster 1984.

Ungedruckte Quellen Leo Baeck Institute New York Ludwig Feuchtwanger Collection (1908–1973), AR 6001/MF 562, Box 1, Folder 3, Ludwig Feuchtwanger, Eigenwelt und Umwelt jüdischer Gestalten. Jakob Wassermann und Franz Rosenzweig. Vortrag im Lehrhaus der Jüd. Gemeinde Berlin am 5.XII.35 (Typoskript), (15. Januar 2022). Franz Rosenzweig Collection (1832–1999), AR  3001, Box 1, Folder 19, Franz Rosenzweig, Tagebuch vom 31. Juli bis 21. September 1910, (15.  Januar 2022); Tage­buch vom 24. April bis 13. September 1922, (15. Januar 2022). Ebd., ARC 3001, Box 3, Folder 3, Besprechungen zu Franz Rosenzweig, Briefe (1935),

(15. Januar 2022). Ebd., ARC 3001, Box 4, Folder 14, Brief von Isaac Breuer an Franz Rosenzweig, 11.  März 1924, (15. Januar 2022). National Library of Israel, Jerusalem

NLI Arc.  4° 1598/173, 1–50, Ernst Schoen, Brief an Gershom Scholem, 30. Oktober

1946, in: Walter Benjamin Collection (ein Blatt, beidseitig beschrieben).

Gedruckte Quellen Adorno, Theodor W. / Benjamin, Walter: Briefwechsel 1928–1940, hg. von Henri Lonitz, Frankfurt a. M. 1994. Ders.: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, in: ders., Gesammelte Schriften, 20 Bde., Frankfurt a. M. 1970–1986, hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, hier Bd. 6: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt a. M. 1973, 415–526. Anzeige für das zweite Quartal, in: Allgemeine Zeitung des Judenthums 56 (1892), H. 12, 1. Baader, Franz von: Ueber den Begriff der Zeit (Uebersetzung des französischen Textes), in: ders., Sämtliche Werke, 16 Bde., Leipzig 1850–1860, hier Bd. 2, Leipzig 1851, 69–94. Ders.: Ueber den Blitz als Vater des Lichtes, in: ders., Sämtliche Werke, 16 Bde., Leipzig 1850–1860, hier Bd. 2, Leipzig 1851, 27–46.

 Quellen und Literatur

349

Ders.: Zweites Sendschreiben an den Herrn Professor Molitor in Frankfurt, in: ders., Sämtliche Werke, 16 Bde., Leipzig 1850–1860, hier Bd. 4, Leipzig 1853, 341–362. Bamberger, Ludwig: Deutschthum und Judenthum, Berlin 1880. Benjamin, Walter: Briefe, 2 Bde., hg. und mit Anmerkungen versehen von Gershom Scholem und Theodor W. Adorno, Frankfurt a. M. 1966. Ders.: Eduard Fuchs. Der Sammler und der Historiker, in: Zeitschrift für Sozialforschung 6 (1937), H. 2, 346–381. Ders.: Der gegenwärtige gesellschaftliche Standort des französischen Schriftstellers, in: Zeitschrift für Sozialforschung 3 (1934), H. 1, 54–78. Ders.: Das Leben der Studenten, in: Das Ziel. Aufrufe zu tätigem Geist 1 (1916), 141–155. Ders.: L’œuvre d’art à l’époque sa reproduction mécanisée [Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit], übers. von Pierre Klossowski, in: Zeitschrift für Sozialforschung 5 (1936), H. 1, 40–68. Ders.: Selbstanzeige, in: Kant-Studien 26 (1921), 219. Ders.: Über einige Motive bei Baudelaire, in: Zeitschrift für Sozialforschung 8 (1939), H. 1–2, 55–91. Ders.: Ursprung des deutschen Trauerspiels, Berlin 1928. Ders.: Zur Kritik der Gewalt, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 47 (1921), 809–832. Bloch, Ernst: Geist der Utopie. Erste Fassung. Faksimile der Ausgabe von 1918, in: ders., Werkausgabe, 16 Bde., hier Bd. 16, Berlin 1985. Boehm, Max Hildebert: Emanzipation und Machtwille im modernen Judentum, in: Der Jude 2 (1917), H. 5–6, 371–378. Brann, Markus: Heinrich Graetz, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 61 (1917), H. 10/12, 321–346, hier Anhang: Aufzeichnungen des Dr. Graetz über seinen Lebensgang, 343–346. Ders.: Verzeichnis von H. Graetzens Schriften und Abhandlungen. Zusammengestellt von M. Brann, in: ders. (Hg.), Heinrich Graetz. Abhandlungen zu seinem 100. Geburtstage (31.  Oktober 1917), Berlin / Wien 1917, 124–171 (wieder abgedruckt in Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 61 [1917], H. 4, 444–491). Brecht, Bertolt: »An die Nachgeborenen«, in: ders., Gesammelte Werke, 20 Bde., Frankfurt a. M. 1967, hier Bd. 4: Gedichte, 722–725. Breuer, Isaac: Von deutscher Zukunft, in: Jüdische Monatshefte 2 (1914/15), H. 10, 341–352. Ders.: Was läßt Hermann Cohen vom Judentum übrig?, in: Der Israelit, I: 16. März 1911, 2 f.; II: 23. März 1911, 1 f.; III: 30. März 1911, 3 f.; Schluss: 12. April 1911, 3 f. Buber, Martin: Begriffe und Wirklichkeit. Brief an Herrn Geh. Regierungsrat Prof. Dr. Hermann Cohen, in: Der Jude 1 (1916), H. 5, 281–289. Ders.: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, hg. und eingeleitet von Grete Schaeder in Beratung mit Ernst Simon und unter Mitwirkung von Rafael Buber, 2 Bde., Bd. 1: 1897–1918, Heidelberg 1972; Bd. 2: 1918–1938, Heidelberg 1973. Ders.: Franz Rosenzweig, in: Kant-Studien 35 (1930), H. 1, 517–522. Ders.: Die Losung, in: Der Jude 1 (1916), H. 1, 1–3. Ders.: Offenbarung und Gesetz. Aus Briefen an Franz Rosenzweig, in: Almanach des Schocken Verlags auf das Jahr 5697 (1936/37), 147–154. Ders.: Reden über das Judentum. Gesamtausgabe, Frankfurt a. M. 1923.

350

 Quellen und Literatur

Ders. / Rosenzweig, Franz: Die Schrift und ihre Verdeutschung, Berlin 1936. Carlebach, Joseph: Ausgewählte Schriften, 4 Bde., hg. von Miriam Gillis-Carlebach, Hildesheim / Zürich / New York 1982–2007, hier Bd. 4: Briefe aus fünf Jahrzehnten, hg. von Miriam Gillis-Carlebach unter Mitarbeit von Gillian Goldmann, Hildesheim / Zürich / New York 2007. Ders.: Das Bibelübersetzungswerk von Buber und Rosenzweig, in: Der Israelit. Literarische Warte, 22. August 1929, 1 f. Ders.: Franz Rosenzweig, in: Der Israelit, 19. Dezember 1929, 3–5. Ders.: Der Stern der Erlösung (von Franz Rosenzweig). Versuch zu seiner Würdigung, in: Jeschurun 13 (1926), H. 7–8 und H. 9–10, 333–340 und 501–517. Ders.: Hermann Cohens Philosophie in ihrem Verhältnis zum Judentum. Vortrag der Franz Rosenzweig-Gedächtnisstiftung am 12. April 1931, in: ders., Nachgelassene Manuskripte und Texte, 18 Bde., hg. von Christian Möckel, Hamburg 1995–2020, hier Bd. 17: Davoser Vorträge. Vorträge über Hermann Cohen, hg. von Jörn Bohr und Klaus Christian Köhnke, Hamburg 2014, 125–140. Cassirer, Ernst: Hermann Cohen. Worte gesprochen an seinem Grabe am 7. April 1918, in: Neue Jüdische Monatshefte. Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Literatur in Ost und West 2 (1918), H. 15, 347–352. Cohen, Hermann: Ästhetik des reinen Gefühls, 2 Bde., Berlin 1912. Ders.: Ein Bekenntniß in der Judenfrage, Berlin 1880; Reprint: Der »Berliner Antisemitismusstreit« 1879–1881. Eine Kontroverse der Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Kommentierte Quellenedition. Im Auftrag des Zentrums für Antisemitismusforschung bearb. von Karsten Krieger, 2 Teile, München 2003, hier Teil 1, 337–360. Ders.: Briefe, ausgewählt und hg. von Bertha und Bruno Strauß, Berlin 1939. Ders.: Briefwechsel der Frankfurter Loge mit Br. Dr. Cohen in Marburg, in: Bericht der Großloge für Deutschland U. O.B. B. (1905), H. 2, 25 f. Ders.: Deutschtum und Judentum mit grundlegenden Betrachtungen über Staat und Internationalismus, Gießen 1915. Ders.: Einleitung mit kritischem Nachtrag, in: Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus und seine Bedeutung in der Gegenwart, zwei Bücher, hg. von Hermann Cohen, Leipzig 51896, hier Zweites Buch: Geschichte des Materialismus seit Kant, XV–LXXVI. Ders.: Ethik des reinen Willens, Berlin 1904 (2. revidierte und erweiterte Aufl. 1907). Ders.: Graetzens Philosophie der jüdischen Geschichte, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 61 (1917), H. 10–12, 356–366. Ders.: Jüdische Schriften, 3 Bde., mit einer Einleitung von Franz Rosenzweig, hg. von Bruno Strauß, Berlin 1924. Ders.: Kants Begründung der Ethik, Berlin 1877. Ders.: Logik der reinen Erkenntnis, Berlin 1902. Ders.: Das Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte, Berlin 1883. Ders.: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, nach dem Manuskript des Verfassers neu durchgearb. und mit einem Nachwort versehen von Bruno Strauß, Wiesbaden 1988 (Nachdruck der 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1929, zuerst Leipzig 1919). Ders.: Schriften zu Philosophie und Zeitgeschichte, 2 Bde., hg. von Ernst Cassirer und Albert Görland, Berlin 1928.

 Quellen und Literatur

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Ders.: Zionismus und Religion. Ein Wort an meine Kommilitonen jüdischen Glaubens, in: K. C.-Blätter. Kriegsausgabe 11 (Fortsetzung, 1916), 643–646. Ders.: Zur Jahrhundertfeier unseres Graetz, in: Neue Jüdische Monatshefte. Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Literatur in Ost und West 2 (1917), H. 3–4, 51–57. Ders.: Zwei Briefe Hermann Cohens an Treitschke, hg. von Helmut Holzhey, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts 12 (1969), 46–47 und 183–204. C.-V. Zeitung. Blätter für Deutschtum und Judentum 1 (1922), H. 1. Dietzgen, Josef: Sozialdemokratische Philosophie (1876), in: ders., Sämtliche Schriften, 3  Bde., Stuttgart 1920, hier Bd. 1: Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit, 157–198. Dilthey, Wilhelm: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (Jahrgang 1910), Abh. 1, Berlin 1910, 1–123. Droysen, Johann Gustav: Die Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft, in: Historische Zeitschrift 9 (1863), H. 1, 1–22. Ders.,: Grundriß der Historik. Als Manuscript gedruckt, Jena 1858. Eine Anklage wegen Beschimpfung der Religion (Orig.-Bericht der »Jüdischen Presse«). Marburg, 25. April, in: Jüdische Presse 19 (1888), H. 17, 161–167. Eine Anklage wegen Beschimpfung der Religion (Orig.-Telegramm der »Jüdischen Presse«). Marburg, 2. Mai, 2 Uhr Nachmittag, in: Jüdische Presse 19 (1888), H. 18, 173 f. Erster Jahresbericht der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 48, N.  F. 12 (1904), H. 1, 52–64. Feuchtwanger, Ludwig: Besprechung zu Albert Lewkowitz, Das Judentum und die geistigen Strömungen des 19. Jahrhunderts (Breslau 1935), in: Blätter der jüdischen Buchvereinigung 3 (1936), H. 1, 9. Ders.: Neue Forschungsaufgaben für die Geschichte der Juden im Mittelalter, in: Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur 30 (1937), 95–130. Ders.: Zur Geschichtstheorie des jungen Graetz von 1846, in: Heinrich Graetz, Die Konstruktion der jüdischen Geschichte. Eine Skizze, mit Fußn. und einem Nachwort von Ludwig Feuchtwanger, Berlin 1936, 97–107. Fischer, Gottlieb: Ein Sendschreiben, in: Jeschurun. Ein Monatsblatt zur Förderung jüdischen Geistes und jüdischen Lebens in Haus, Gemeinde und Schule 7 (1861), H. 4, 196–214; 7 (1861), H. 5, 241–252; 7 (1861), H. 9, 470–491. Frankel, Zacharias: Fußnoten zu »Die Construction der jüdischen Geschichte«, in: Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judentums 3 (1846), H. 3, 81 und 89 f. Ders.: Fußnote zu »Die Construction der jüdischen Geschichte. Zweiter Artikel (Schluß)«, in: Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judentums 3 (1846), H. 11, 421. Friedländer, Salomo: Der Antichrist und Ernst Bloch, in: Das Ziel. Jahrbücher für geistige Politik 4 (1920), 103–116. Gide, André: Avant-propos au livre »Retour de l’U. R.S. S.« (Vorwort zum Buch »Rückkehr der UdSSR«), in: Vendredi. Hebdomadaire litteraire et politique [Freitag. Literarische und politische Wochenzeitschrift], 6. November 1936, 1. Goethe, Johann Wolfgang von: Diné zu Coblenz, in: Goethe’s Werke, 20 Bde., Stuttgart / Tübingen 1815–1819, hier Bd. 2, Stuttgart / Tübingen 1815, 264 f.

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 Quellen und Literatur

Goldstein, Julius: Vorbemerkung zu Franz Rosenzweig »Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum ›Stern der Erlösung‹«, in: Der Morgen 1 (1925), H. 4, 426. Ders.: Vorbemerkung zu Rudolf Hallo »Die Ausgrabungen am Sinai und das Problem des Moses- und des Gottesnamens«, in: Der Morgen 1 (1925), H. 2, 162. Ders.: Vorbemerkung zu »Zwei Legenden mitgeteilt von Else Schubert-Christaller«, in: Der Morgen 1 (1925), H. 3, 358. Goldstein, Moritz: Deutsch-jüdischer Parnaß, in: Der Kunstwart 25 (1912), H. 11, 281–294. [Graetz, Heinrich]: Breslau, 25. August. Bericht über die Tausendjahrfeier des deutschen Reiches in einigen Synagogen, in: Der Orient 4 (5. September 1843), H. 36, 284 f. [Ders.]: Bericht über die Gratulation der hiesigen Universität an die Königsberger. Weigerung derselben Juden zu promovieren, 20. September 1844, in: Der Orient (1. Oktober 1844), H. 40, 307. Ders.: Die Construction der jüdischen Geschichte. Eine Skizze, in: Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judentums 3 (1846), H. 3, 81–97; (Schluß), in: ebd., 3 (1846), H. 4, 121–132; Zweiter Artikel, in: ebd., 3 (1846), H. 10, 361–381; Zweiter Artikel (Schluß), in: ebd., 3 (1846), H. 11, 413–421. Ders.: A Fifty Years’ Retrospect, in: The Jewish Chronicle. Jubilee Supplement, 13. November 1891, 3–6. Ders.: Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Aus den Quellen neu bearbeitet, 11 Bde., Berlin / Leipzig / Magdeburg 1853–1876. Ders. (Dr. Hirsch Grätz): Gnostizismus und Judenthum, Krotoschin 1846. Ders.: Die Konstruktion der jüdischen Geschichte. Eine Skizze, mit Fußn. und einem Nachwort versehen von Ludwig Feuchtwanger, Berlin 1936. Ders.: Mein letztes Wort an Professor von Treitschke, in: Der »Berliner Antisemitismusstreit« 1879–1881. Eine Kontroverse der Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Kommentierte Quellenedition. Im Auftrag des Zentrums für Antisemitismusforschung bearb. von Karsten Krieger, 2  Teile, hier Teil  1, München 2003, 186–192. [Ders.]: Die oberschlesischen Weber und die Juden, in: Der Orient, 2. Juli 1844, 213 f. Ders.: Ein Rückblick auf 50 Jahre, in: Israelitische Wochenschrift. Eine allgemeine Zeitung des Judenthums, 5 Teile: 26. November 1891, 369 f.; 10. Dezember 1891, 385 f.; 17. Dezember 1891, 394 f.; 1. Januar 1892, 2 f.; 7. Januar 1892, 9 f. Ders.: Tagebuch und Briefe, hg. von Reuven Michael, Tübingen 1977. Grimm, Jacob / Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, 16.  Bde., Leipzig 1854–1954, hier Bd. 2, Leipzig 1860. Das Gutachten des Herrn Professor Cohen, in: Jüdische Presse 19 (1888), H. 22, 213–215. Das Gutachten des Herrn Prof. Paul de Lagarde, in: Jüdische Presse 19 (1888), H. 19, 185 f. Ein Gutachten über den Talmud, in: Allgemeine Zeitung des Judenthums (1888), H. 23, 355–357. Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Briefe von und an Hegel, 4 Bde., Berlin 1970, hg. von Johannes Hoffmeister, hier Bd. 1: 1785–1812.

 Quellen und Literatur

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Ders.: Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten, 19 Bde., Berlin / Leipzig 1832–1887, hier Bd. 19.1: Briefe von und an Hegel, hg. von Karl Hegel, Leipzig 1887. Ders.: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, hg. von Eduard Gans, Berlin 1837. Herder, Johann Gottfried: Vom Geist der Ebräischen Poesie, in: ders., Werke, 10 Bde., Frankfurt a. M. 1989–2000, hier Bd. 5: Schriften zum Alten Testament, hg. von Rudolf Smend, Frankfurt a. M. 1993, 661–1308. Hess, Maurice (Moses): Études d’histoire sacrée et profane [Studien zur heiligen und profanen Geschichte], in: Archives israélites 25 (1864), H. 1: 798–803; H. 2: 893–897; H. 3: 1036–1040. Ders.: Studien zur heiligen und profanen Geschichte, in: ders., Jüdische Schriften, hg. und eingeleitet von Theodor Zlocisti, Berlin 1905, 56–67. Heussi, Karl: Die Krisis des Historismus, Tübingen 1932. Hirsch, Mendel: Samson Raphael Hirsch und die Israelitische Religionsgesellschaft zu Frankfurt am Main, Mainz 1897. Hirsch, Samson Raphael: Anmerkungen der Redaktion, in: Jeschurun. Ein Monatsblatt zur Förderung jüdischen Geistes und jüdischen Lebens in Haus, Gemeinde und Schule 7 (1861), H. 5, 252–269. Ders.: Briefkasten der Redaktion, in: Jeschurun. Ein Monatsblatt zur Förderung jüdischen Geistes und jüdischen Lebens in Haus, Gemeinde und Schule 7 (1861), H. 5, 297 f. Ders. (Ben Usiel): Erste Mittheilungen aus Naphtali’s Briefwechsel, Altona 1838. Ders.: Geschichte der Juden, in: ders., Gesammelte Schriften, 6 Bde., Frankfurt a. M. 1902–1912, hg. von Naphtali Hirsch, hier Bd. 5, Frankfurt a. M. 1910, 318–509. Ders.: Geschichte der Juden. Erster und zweiter Artikel, in: Jeschurun. Ein Monatsblatt zur Förderung jüdischen Geistes und jüdischen Lebens in Haus, Gemeinde und Schule 2 (1855), H. 1, 47–69. Ders.: Geschichte der Juden. Zwölfter Artikel, in: Jeschurun. Ein Monatsblatt zur Förderung jüdischen Geistes und jüdischen Lebens in Haus, Gemeinde und Schule 4 (1858) H. 6, 289–307. Ders. (Ben Usiel): Neunzehn Briefe über Judenthum, Altona 1836. [Ders.]: Prospectus, in: Jeschurun. Ein Monatsblatt zur Förderung jüdischen Geistes und jüdischen Lebens in Haus, Gemeinde und Schule 1 (1854), H. 1 (4 Seiten, unpaginiert). [Ders.]: Die Religion im Bunde mit dem Fortschritt, von einem Schwarzen, Frankfurt a. M. 1854. Ders.: Siwan, in: ders., Gesammelte Schriften, 6 Bde., Frankfurt a. M. 1902–1912, hg. von Naphtali Hirsch, hier Bd. 1, Frankfurt a. M. 1902, 80–113. Ders.: Vorläufige Abrechnung, in: Jeschurun. Ein Monatsblatt zur Förderung jüdischen Geistes und jüdischen Lebens in Haus, Gemeinde und Schule 7 (1861), H. 7, 347–377. Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften, 19  Bde., hg. von Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt a. M. 1985–1996, hier Bd. 16: Briefwechsel 1937–1940, hg. von Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt a. M. 1995. Huizinga, Johan: Wege der Kulturgeschichte. Studien, übers. von Werner Kaegi, München 1930.

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Personenregister

Adorno, Gretel  225, 228, 248 Adorno, Theodor W.  56, 230, 239, 241, 248 f., 251, 279 f., 301 f., 318, 323–328, 331, 334 Arnim, Achim von  318 Avenarius, Ferdinand  258 Baader, Franz von  43, 53, 264, 287, 319 Bachofen, Johann Jakob  272 Baeck, Leo  33, 112 f., 116 Balzac, Honoré de  325 Bamberger, Ludwig  167 Bamberger, Seligmann Bär  150 Basedow, Johann Bernhard  50, 236 Bataille, George  299, 306 f. Bauch, Bruno  197 f. Baudelaire, Charles  229, 239, 293, 295, 323 f., 326–330, 332–334 Baumgardt, David  264 Benda, Julien  245 Benjamin, Dora (Ehefrau, geschieden) ​ 266, 275 Benjamin, Dora (Schwester)  319, 328 f. Benjamin, Emil  274, 328 f. Benjamin, Georg  328 f. Benjamin, Pauline  274, 328 f. Benjamin, Stefan  275, 304, 319 Ben Usiel, siehe Hirsch, Samson Raphael Bergmann, Hugo  262 Bergson, Henri  73 Bialik, Chaim Nachman  201, 316 Birnbaum, Nathan  201, 316 Bismarck, Otto von  69 f., 90 Blanqui, Louis-Auguste  331 f. Bloch, Ernst  272–274, 279 f., 295, 304, 314, 327, 339, 441 Blumenberg, Hans  21, 26, 205 Bodin, Jean  269 Boehm, Max Hildebert  197 f. Braniß, Christlieb Julius  138, 142–146

Brecht, Bertolt  244 f., 301 f., 304 Brentano, Clemens  318 Breuer, Isaac  24, 106–109, 113, 121, 124, 126, 182, 314 Breysig, Kurt  68, 93 Brod, Max  316, 335 Buber, Martin  11, 35, 38, 66, 86 f., 99, 105, 107, 109–116, 119, 121 f., 124 f., 193, 199–201, 203, 211, 214, 219–221, 227, 255–257, 261–264, 266, 272, 287, 297, 309–311, 336 Büchner, Georg  299 Buonarroti, Michelangelo, siehe Michelangelo Carlebach, Joseph  97–99, 106 f., 117, 124–126 Cassirer, Ernst  9, 193 f., 197 f., 204 Cohen, Gerson  161 Cohn, Alfred  294, 310, 323 Deborin, Abram Moiseevič  308 Dietzgen, Josef  246 Dilthey, Wilhelm  9 Dimier, Louis  245 Dreyfus, Alfred  174, 178, 210 Droysen, Johann Gustav  9, 166 Dubnow, Simon  99 Ehrenberg, Hans  34, 36 f., 40, 51, 67–69, 71–73, 75–77, 81, 88, 92, 105 Ehrenberg, Rudolf  17, 38–40, 42, 66 f., 77 f., 80–82, 85 f., 89, 101, 195, 204, 207 Ehrenberg, Samuel Meir  203 Engels, Friedrich  275 f. Feuchtwanger, Ludwig  141, 337–340, 342 Fichte, Johann Gottlieb  68, 216 Flaubert, Gustave  238, 240

378

 Personenregister

Formstecher, Salomon  176, 220 Forster, Georg  319 Fourier, Charles  233, 324, 330 Fraenkel, Emil  199 Frankel, Zacharias  139, 141 f., 145–147, 152, 161–163, 175, 188 Freud, Sigmund  311 Friedlaender, Salomo  274 f. Fuchs, Eduard  229, 238 f., 282, 296, 304–307, 324, 326, 332 Fustel de Coulanges, Numa Denis  238 Geiger, Abraham  111, 125, 136, 152 f., 220 Gide, André  300, 302–304, 307, 319 Goethe, Johann Wolfgang von  49 f., 57, 62, 74, 133, 195, 202, 216 f., 236, 246, 248, 253 f., 272, 276, 284–286, 289 f., 319, 324 f. Goldberg, Rahel  272 Goldmann, Nachum  311 Goldstein, Julius  33 f., 64 Goldstein, Moritz  256 Görland, Albert  175 Gothein, Georg  258 Gutkind, Erich  275 Haecker, Theodor  312 f. Halevi, Jehuda  119, 121, 214 f. Hallo, Rudolf  106, 113 Hardenberg, Georg Philipp Friedrich von, siehe Novalis Harnack, Adolf von  102, 112, 117, 198, 208, 211, 264 f. Hebel, Johann Peter  299 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  14, 16–18, 26, 37, 41 f., 45, 49, 57, 62, 64–66, 68–71, 74, 76 f., 79–81, 88, 90, 92 f., 95, 106, 129, 139, 141–146, 202, 204 f., 210, 216 f., 245 f., 257, 281, 284, 306, 309, 312, 321 f., 325, 330, 336, 338, 341 Heidegger, Martin  26, 336 f. Heinle, Christoph Friedrich  259, 262 Herbertz, Richard  268 f. Herder, Johann Gottfried von  76, 117, 122, 269, 320 f., 334

Herodot 330 Herrmann, Wilhelm  207–209 Hess, Moses  147, 272, 311 Heussi, Karl  23 Hiller, Kurt  259–261, 263, 274, 276 f. Hirsch, Mendel  151 Hirsch, Samson Raphael (Ben Usiel)  24, 29, 97, 106, 111, 114–116, 124, 126, 130, 132–141, 143, 145 f., 150–154, 161–163, 182, 188, 213, 220 f., 264, 335, 339 f. Hirsch, Samuel  141, 145 f., 176, 220 f. Holborn, Hajo  253 Hölderlin, Friedrich  70, 118, 319, 321 Hönigswald, Richard  226, 231 f. Horkheimer, Max  230, 238, 241, 251, 282, 293, 296, 301 f., 304–307, ­321–323, 325–329, 332 Huizinga, Johan  253 Humboldt, Wilhelm von  95 Husserl, Edmund  49, 311 Jacob, Benno  311 Joël, Ernst  260 Joël, Karl  193 f. Joël, Manuel  193 f. Jost, Isaak Markus  137 f., 154 Jung, Carl Gustav  330 Kaehler, Siegfried  72 f., 75, 94 f. Kafka, Franz  227, 295, 314–318, 320, 329, 332, 335, 342 Kant, Immanuel  15, 36, 68, 74, 110, 113, 126, 133, 141, 160 f., 165, 168–170, 172 f., 180, 186–191, 195–198, 202, 207, 209, 212, 217, 231, 249, 258, 266–270, 272, 276, 319, 336, 338 Kant, Johann Heinrich  319 Kellermann, Benzion  193 f. Kierkegaard, Søren  45 f., 50, 340 Klatzkin, Jakob  193 f. Klee, Paul  247, 313 Knebel, Karl Ludwig von  246 Koch, Richard  116 Kohn, Hans  99, 110 Kojève, Alexandre  306 f. Korsch, Karl  321 f.

 Personenregister

Kracauer, Siegfried  9–11, 14, 16, 20, 30, 33, 116, 122, 309 f., 319, 336 f., 344 Kraft, Werner  300–303, 314 f. Kramer, Johannes  95 Kraus, Karl  247, 253, 290 f., 295, 302, 312–314, 316, 320, 324 Kroner, Richard  73 Lācis, Asja  280 f., 291, 297, 302 Lackner, Stephan (Ernst Morgenroth) ​ 228, 329 f., 334 Lagarde, Paul de  170 f. Lamprecht, Karl  17, 71, 93 Landau, Leopold  103 Lange, Friedrich Albert  165, 174, 182, 190 Lassalle, Ferdinand  311 Lavater, Johann Caspar  50, 236 Lazarus, Moritz  163 f., 166 f. Lederer, Emil  275 f. Lerch, Paul  269 Lessing, Theodor  237 Lewkowitz, Albert  339 f. Liebknecht, Karl  273 Lissauer, Ernst  33 Louis-Philippe I.  324 Löwenberg, Jakob  258 Löwith, Karl  21, 26, 159, 205 Lukács, Georg  9 f., 281, 301, 308, 315, 320, 337, 339, 341 Luther, Martin  113, 115–124, 139, 168, 179, 181, 187 f., 339 f. Luxemburg, Rosa  273, 276 Magnus, Frances  95 Maimon, Salomon  311 Maimonides, Moses  168 f., 173 Marcks, Erich  95 Marcuse, Herbert  238 f. Marx, Karl  173, 229, 238, 242 f., 246, 275 f., 281, 285, 290 f., 295, 301 f., 311, 321–323, 330 Masur, Gerhard  17 Maulnier, Thierry  302 f. Mayer-Kulenkampff, Lina  95 Mayer, Wilhelm  95

379

Meinecke, Friedrich  17, 19 f., 23, 41, 65–72, 75, 92–95, 238, 253 Mendelssohn, Moses  50, 115–117, 129 f., 311, 341 Meyer, Alfred Gotthold  308 Michelangelo (Michelangelo Buonarroti) ​ 315 Mieses, Isaak  141, 145 f., 220 f. Molitor, Franz Joseph  53, 264, 269, 286 f. Möller, Berthold von  95 Mommsen, Theodor  166 Morgenroth, Ernst, siehe Lackner Stephan Morgenroth, Sigmund  329 f. Morgenstern, Soma  230, 316 Natorp, Paul  169, 174, 193 f., 198, 208, 231 f. Nietzsche, Friedrich  19, 45 f., 79, 246, 260, 277, 299, 319, 330 f. Nobel, Nehemia Anton  109 Noeggerath, Felix  274 Notker Labeo  118 Novalis (Georg Philipp Friedrich von Hardenberg)  271, 273 Oppenheim, Gertrud  40, 215 Overbeck, Franz  319 Paul, Jean  241 Philippson, Ludwig  137 f. Poe, Edgar Allen  235 Popper, Karl  23 Proust, Marcel  334 Rade, Martin  198, 208 f. Radt, Jula  298 Rang, Florens Christian  105, 287–289, 297, 312 f. Ranke, Leopold von  17, 56, 59, 74, 76, 93, 104, 129, 157, 217, 238–240, 283, 305 Rickert, Heinrich  17, 19, 68 f., 71, 73, 79, 81 Riegl, Alois  308 Rimbaud, Arthur  299

380

 Personenregister

Rocholl, Rudolf  269 Rosenheim, Jacob  99, 114–117, 126 Rosenstock-Huessy, Eugen  16 f., 39 f., 66 f., 72, 78–85, 88–90, 92, 105, 109 Rosenstock-Huessy, Margrit  16, 41, 43, 92–94 Rosenzweig, Adam  91 Rosenzweig, Adele  36, 41, 79, 88, 90, 92, 94, 201 f., 204, 215 f., 218 Rosenzweig, Edith  39, 75, 118 Rosenzweig, Georg  88, 90, 201 f., 204, 215 Rothfels, Hans  95 Salomon, Albert  253 Salomon, Gottfried  281 Salvador, Joseph  145 f. Scheler, Max  10 f. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph  14, 26, 36 f., 46 f., 49, 53, 56, 62–64, 68, 71, 80–82, 84, 100, 204, 216, 264, 269, 321, 339 f. Scherer, Georg  318 Schiller, Friedrich  133, 216 Schlegel, Friedrich  263 f., 271, 273 Schleiermacher, Friedrich  51, 76, 78, 99, 152, 213, 214 Schmidt, Robert  231 Schmitt, Carl  234, 245, 290 Schneider, Lambert  105, 110 Schoen, Ernst  270, 273 f., 284, 334 Schoeps, Hans-Joachim  124, 316 Scholem, Gershom  43, 118 f., 230, 245–247, 249, 259–265, 267 f., 272, 274–278, 284 f., 287, 296–298, ­309–312, 314–316, 319, 329, 334 Schopenhauer, Arthur  45 f., 49, 60, 233, 241, 323 f., 330–332 Schultz, Franz  281 Schweitzer, Albert  109 Seligmann, Rafael  201 Simmel, Georg  311 Simon, Ernst  99, 109, 113 f., 124 Sohm, Walter  72, 95

Sommer, Helene  91, 203 Sorel, George  276–279 Stadler, August  231 Steffin, Margarete  304 Steinheim, Salomon Ludwig  141, 145 f., 220 Steinthal, Chaim Heymann  163 f., 205 Stifter, Adalbert  240 Stoecker, Adolf  94 Strauss, Leo  23 f. Strauß, Bruno  176, 189, 204 f. Strauß, David Friedrich  12 Strauß, Ludwig  255–259 Susman, Margarete  123 f., 205, 272 f., 340–342 Täubler, Eugen  103 Thieme, Karl  319 Thomaschewsky, Hulda  272 Treitschke, Heinrich von  131 f., 149, 155 f., 165–167, 170, 174, 176 Troeltsch, Ernst  11 f., 14, 17, 19, 21, 23, 48, 208 Unger, Erich  276–278 Usiel, Ben, siehe Hirsch, Samson ­Raphael Virchow, Rudolf  164–166 Vorländer, Karl  231 Vorwerk, Herbert  276 Weber, Max  11, 14, 17, 57, 190, 275 f. Weizsäcker, Viktor von  71–73, 75, 105 Wiener, Max  340 Windelband, Wilhelm  19, 68 f., 271 Wittig, Joseph  105 Wohlgemuth, Joseph  99 Wölfflin, Heinrich  68 Wyneken, Gustav  257, 259 f. Zelter, Carl Friedrich  319 Zunz, Leopold  15, 115 f., 203, 205, 212, 220