Offenbarung und Wunder 9783111578811, 9783111227504


226 21 4MB

German Pages 71 [72] Year 1908

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Der Begriff der Offenbarung
Der Christ und das Wunder
Recommend Papers

Offenbarung und Wunder
 9783111578811, 9783111227504

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Offenbarung und Wunder von

D. w. Herrmann Professor der Theologie zu Marburg

Verlag von Alfred Töpelmann

(vormals I. Ricker)

Gießen 1908

Vorträge der theologischen Konferenz zu Gießen 28. Folge

Der Begriff der Offenbarung 2. verbesserte Auslage

des als III. Folge der Vorträge der theologischen Konferenz zu Gießen 1887 erschienenen Vortrags

Der Begriff der Offenbarung bildete in der zweiten Hälfte

des 18. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 19. Jahr­

hunderts den Hauptgegenstand aller theologischen Kontroversen.

Es ist aber nicht meine Absicht, heute dieses alte Kampffeld des Rationalismus und Supranaturalismus aufzusuchen. eine historische Betrachtung habe ich es abgesehen.

Nicht auf

Ich erbitte

mir vielmehr Aufmerksamkeit für die Darlegung eines Streites,

in dem wir alle stehen, ich meine den Kampf des Glaubens in

uns selbst.

Man kann den Begriff der Offenbarung so entwerfen, daß man von dem Begriffe Gottes

und seines Verhältnisses zur

Welt ausgeht und dann die Frage erhebt, wie Gott eS anfange, um sich den Menschen mitzuteilen.

Ich gestehe aber, daß mir

für ein solches Unternehmen die Muße fehlt.

Einer solchen Be­

trachtung mögen sich die Seligen überlassen; ein Mensch, der

selig werden will, wird dagegen leicht in der Lage sein, daß er dafür keine Zeit hat.

Wir dürfen nicht meinen, daß wir die

Gegenstände der religiösen Begriffe in guter Ruhe betrachten können wie ein Astronom die Sterne.

Denn als das, was sie

wirklich sind, stehen diese Gegenstände nur dann vor uns, wenn sich unser Inneres an ihnen aufrichtet.

Deshalb dürfen wir

die Frage, was die himmlischen Dinge seien, nicht trennen von

der Frage, wie die himmlischen Dinge an uns wirken und uns dadurch gewiß werden.

selbst.

So ist es auch mit der Offenbarung

Wollen wir sehen, was die Offenbarung ist, so müssen

wir darauf achten, wie die Offenbarung uns gewiß wird und

uns hilft.

Es ist ja nicht schwer zu sagen, was im allgemeinen

Der Begriff der Offenbarung

5

unter Offenbarung, unter den biblischen Ausdrücken diroKaküntciv

und cpavepouv zu verstehen sei, das Enthüllen eines bisher

Verhüllten, das Hervorführen eines bisher Verborgenen.

Aber

den wirklichen Sinn solcher Worte erfassen wir doch erst, wenn

wir an uns selbst erfahren, wie das, was wir längst Offenbarung genannt haben, uns aus etwas alt Gewohntem zu etwas unbe­ greiflich Neuem wird. Deshalb lernt man in behaglicher Ruhe,

etwa in einem bequemen Schriftstudium, die Offenbarung noch nicht kennen.

Es muß noch etwas anderes dazu kommen, was

weniger erfreulich ist als das Nachsinnen über die Schristge-

danken, das ist die Anfechtung, die Not. Wer nichts davon weiß, daß er im Dunkeln sitzt, kann auch gar keine Vorstellung davon bekommen, daß Gott ihn aus der Finsternis zu seinem wunderbaren Lichte fühtt. Also den Kampf der Anfechtung in uns selbst müssen wir uns ansehen, wenn wir wissen wollen,

was die Offenbarung ist. Das Wesen der Anfechtung aber besteht darin, daß wir uns unglücklich fühlen. Das sind die

Angefochtenen, die in allen Regionen ihrer Existenz nichts ent­

decken können, was sie im Innersten zufrieden machen könnte. Aus jeder Freude, welche die Welt spendet, fallen sie in die ttübe Stimmung zurück, in der ihnen alles eitel vorkommt. Durch den Druck der Welt, durch Krankheit, Nahrungssorgen,

Verkehr mit unausstehlichen Menschen werden ihre Kräfte nicht

gespannt, sondern aufgelöst.

Nun diese Angefochtenen, dem Tode

Verfallenen, im tiefsten Unglücklichen sind wir selbst, wenn uns die Offenbarung ferne bleibt, die die Quellen unseres persönlichen

Lebens mit Licht und Wärme durchdringen kann.

Jene Leidens­

last der Menschheit erfährt sogar bei uns Christen noch eine eigentümliche Steigerung.

In uns arbeitet nicht nur wie in

allen Menschen der unruhige Lebenstrieb, an dem das Leiden empfunden wird, sondern in uns dämmett auch eine Ahnung

davon auf, in welcher Form allein wahrhaftiges kraftvolles Leben möglich wäre. Denn wir sind dazu erzogen, das Gute in seinem ewigen Anrecht an unsern Willen zu verstehen, und wir wissen

6

Der Begriff der Offenbarung

daher recht wohl, daß nur der Weg des Gesetzes ein Weg des Lebens sein kann.

Daraus ergibt sich für den Christen, der sich

in der Anfechtung befindet, der unerbittliche Schluß, daß er, der in seinem Innersten keine rechte Freude spürt, es auch nicht besser verdient hat. Zu der Anfechtung durch die Not gesellt

sich also bei dem Christen die Anfechtung durch das innere Selbstgericht der Schuld; zu dem Überdruß an der Welt kommt

bei uns der Überdruß an uns selbst.

Wenn uns irgend etwas

aus diesem Todeszustand wieder aufbrächte, dann könnten wir das doch wahrlich mit dem Prophetenwort begrüßen: „das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht."

Was uns in

solcher Lage und in solcher Weise als etwas nie Erlebtes vor­ käme, das könnten wir mit innerer Wahrhaftigkeit Offenbarung

nennen. verändert.

Denn dadurch wäre die Welt und wir selbst für uns Wir hätten nicht nur einen Zuwachs an Kenntnissen

bekommen, sondern eine neue Art, alle Dinge zu sehen, einen

neuen Sinn und Mut.

Was das an uns bewirkt, das ist

Offenbarung.

Sind wir soweit gekommen, so können wir nun auch sagen, was der Inhalt der Offenbarung sei.

Nur das, was uns aus

der Anfechtung rettet, d. h. uns aus der Verlorenheit unsres bis­

herigen Zustandes erhebt, macht auf uns den Eindruck des über­ wältigend Neuen, einer wahrhaftigen Offenbarung.

Vielleicht

stimmen wir darin alle überein, daß wir so etwas kennen müssen, wenn das Wort „Offenbarung" für uns einen rechten Sinn be­ kommen soll. Aber wenn wir nun in den Rahmen dieses all­

gemeinen Offenbarungsbegriffs dasjenige eintragen wollen, was uns als Offenbarung dargeboten wird, so fangen die Schwierig­ keiten an und vielleicht auch die Differenzen.

Alltäglich kann

man unter uns folgendes hören: Die heilige Schrift umfaßt die

Fülle von Offenbarungen, welche uns gegeben sind; ihre Lehren und Erzählungen sind die Mittel, durch die Gott unsere Finster­ nis erhellen will. Das darf man beileibe nicht leugnen, sonst

träte man ja von dem „Formalprinzip" der evangelischen Kirche

Der Begriff der Offenbarung

zurück, würde ein haltloser Schwärmer oder ein ganz Ungläu­

biger, also auf jeden Fall rechtlos in der evangelischen Kirche.

Nun gut, wir wollen es einmal damit versuchen.

Das

Weib ist aus der Rippe des Mannes gemacht, der Wüstenzug Israels ist von Wundern umgeben, ein Stern zeigte den Weisen

aus dem Morgenlande den Weg zum Christkinde, von allen

Geschlechtern der Kinder Israels sind 144 000 versiegelt, von

den Toren des neuen Jerusalems ist jedes aus einer Perle ge­ macht.

Viele Christen nennen alle diese Dinge Offenbarungen

und nehmen sie als Wahrheit hin, weil sie in dem heiligen Buche

geschrieben stehen.

Aber wehe dem Christen, der nichts davon

weiß, daß die Offenbarung etwas anderes ist als die Summe

solcher Dinge. Diese Erzählungen sind uns natürlich etwas Neues, wenn wir sie zum ersten Male lesen, aber die Neuheit der Offen­ barung haben sie nicht.

Sie vergrößern den Kreis dessen, was

wir für wirklich halten, aber sie versetzen uns

neue Wirklichkeit.

ihnen zustimmen

nicht in eine

Denn wir selbst bleiben dieselben, mögen wir oder sie ablehnen.

Ist aber in uns selbst

nichts weiter als der alte Mensch, so wird auch durch solche Mitteilungen nur der Wirklichkeit des alten

hinzugefügt.

Menschen etwas

Eine Offenbarung also, welche diese Wirklichkeit

des alten Menschen durchbricht und uns sagen läßt: „das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden", empfangen wir

dadurch nicht. Aber vielleicht haben wir nur eine schlechte Auswahl aus der

Schristoffenbarung

greifen.

getroffen.

Wir

wollen

zu

Höherem

Der allmächtige Gott hat die Welt geschaffen; er hat

sich von Ewigkeit her eine Gemeinde erwählt, in deren Dienst

hat seine Weisheit die ganze Schöpfung gestellt, die Gestirne, die durch den Weltraum rollen, und den Wurm, der am Wege

zertreten wird.

Die Menschheit, aus der die Gemeinde Gottes

hervorgehen soll, liegt in einem Streite mit Gott, den jeder vom Weibe Geborene als ein Flucherbe überkommt.

Um die,

welche ihm feind waren, zu retten, hat Gott seinen Sohn in

8

Der Begriff der Offenbarung

die Welt gesandt und sein Blut zu einem Mttel der Ver­

söhnung gemacht; er hat endlich denen, die dem Sohne folgen, seinen heiligen Geist gegeben, der sie zum Eingang in eine

ewige Herrlichkeit vollbcreiten wird.

Das sind doch sicherlich

nach der Meinung der meisten unter uns die wichtigsten und mächtigsten Schriftgedanken, und wohl dem Christen, der in

ihnen lebt.

Aber wehe dem Christen, der sich einbildet, die

Summe dieser Schristgedanken mache die Offenbarung aus, die alles für ihn neu machen könne.

Wir können diese Gedanken

kennen lernen und können uns sogar so in sie eingewöhnen, daß

sie uns ebenso sicher werden wie die in der Schule überkommene Lehre, daß sich die Erde um die Sonne drehe.

Aber wir haben

daran keine Offenbarung, wir haben daran nicht einmal einen

sicheren Besitz.

Den Satz, daß sich die Erde um die Sonne

drehe, haben uns gelehrte Leute vorgesprochen, und schwerlich werden wir jemals eine Erfahrung machen, die uns das Zu­ trauen, daß die Sache sich so verhalte, erschüttern könnte.

Aber

mit jenen Sätzen, welche die Heilige Schrift uns vorspricht, ver­

hält es sich anders.

Wir können leicht in

eine Erfahrung

kommen, welche uns das schnell erworbene Vorurteil, diese Sätze seien wahr, entreißt.

Wenn uns eine rechte Not befällt, so

lassen wir freilich die Erde ruhig um die Sonne laufen; aber wir können leicht dahin kommen, daß wir Gott nicht im Himmel thronen lassen.

Wenn wir uns ganz und gar unglücklich und

kraftlos fühlen, was ist solch ein Gefühl anders als eine Leug­ nung Gottes?

Wenn wir in solcher Stimmung befangen sind,

so sehen wir nur die Welt,

die uns erdrückt und vernichtet;

einen Gott, der uns in allmächtigen Armen emporhebt, sehen

wir nicht.

In solchen Momenten soll es uns schon klar werden,

daß jene Schriftgedanken, die uns den Himmel zu öffnen schienen, uns nur die Welt des alten Menschen erweitert hatten. Wir können uns aber sogar einbilden, daß wir nach wie

vor alle jene Dinge für wahr halten.

Schaffen wir denn damit

die Taffache fort, um die sich die Welt des alten Menschen

Der Begriff der Offenbarung

dreht?

9

Es bleibt dabei, daß keineswegs unser Herz in Freude

aufwallt und von Liebe überquillt; es ist dann nach wie vor nichts darin als angstvolle Selbstsucht.

Und ein solcher Mensch

will sich einbilden, er habe eine Offenbarung empfangen, die als

etwas unbegreiflich Neues in sein Leben getreten sei und eine neue Welt um ihn geschaffen habe!

Es sieht so selbstverständlich aus, daß die Summe der ge­

waltigen Schristgedanken den Inhalt der Offenbarung ausmache, aber es ist dennoch nicht richtig.

Denn, wenn es der Fall wäre,

dann müßten wir ja dadurch, daß wir diese Gedanken aus dem

wunderbaren Wort der Heiligen Schrift empfangen und uns ihnen unterwerfen, in ein neues Wesen versetzt werden.

Luther

aber weist wohl mit Recht auf die Tatsache hin, daß dies nicht

der Fall sei, und daß eben deshalb die katholische Christenheit

beflissen sei, ihren Glauben an eine solche Offenbarung zu er­ gänzen, indem sie sich durch ihre geistlichen Übungen und andere Werke über den Stand des alten Menschen zu erheben sucht. Jene Schristgedanken bilden nicht den Inhalt der Offenbarung,

sondern sie sind die Gedanken, welche in rechter Weise zu fassen,

der Mensch erst dadurch befähigt wird, daß ihn die Offenbarung

überall etwas Neues sehen läßt.

Freilich kann der Mensch,

bevor er durch die Offenbarung in ein neues Wesen gebracht ist, jene Schristgedanken sich aneignen, aber er macht dann etwas

Altes daraus und bleibt selbst, wie er war.

In ihrem wirk­

lichen Sinn können wir jene Gedanken erst erfassen, wenn wir eine Offenbarung geschaut haben, die wirklich etwas Neues für

uns ist, weil sie uns selbst erneuert.

Es ist nicht so, daß wir

eine Summe religiöser Lehren, welche die Heilige Schrift uns

darreicht, uns aneignen müßten, um dadurch erneuert und er­ löst zu werden. Wir müssen im Gegenteil bereits erneuert und erlöst sein,

um in die Gedankenwelt der Heiligen Schrift uns hineinfinden

zu können.

Was ist nun also der Inhalt der Offenbarung,

wenn die Schriftlehren es nicht sind?

Unter Christen sollte doch

Der Begriff der Offenbarung

10

wohl über die Beantwortung dieser Frage kein Zweifel herrschen.

Man muß schon viel unfruchtbare Theologie getrieben und recht schlechte Unterweisung genossen haben, wenn man darüber in Zweifel ist.

Für den Christen, ja für den frommen Menschen

überhaupt, der nichts weiter sucht als Gott, versteht eS sich von selbst, daß eben Gott der Inhalt der Offenbarung ist.

Offenbarung ist Selbstoffenbarung Gottes.

Alle

Irgendwelche Mit­

teilung können wir erst dann Offenbarung nennen, wenn wir Gott darin gefunden haben.

Gott aber finden und haben wir,

wenn er uns unwidersprechlich so berührt und ergreift, daß wir

genötigt werden, uns ihm gänzlich zu unterwerfen.

In anderer

Weise ist's nicht möglich, denn Gott ist der Allmächtige.

Den

allmächtigen Gott aber haben wir noch nicht gefunden, wenn

wir uns in unsern geheimsten Gedanken, in dem, was uns freut

und ängstigt, der Abhängigkeit von ihm entziehen.

Die Offen­

barung des Allmächttgen erleben wir in dem Moment, wo wir

uns mit tiefer Freude unter seine Macht beugen.

Gott offen­

bart sich uns, indem er uns zwingt, ihm ganz und gar zu ver­ trauen. Seine Macht ist sein unerbittlicher Ernst und seine un­ überwindliche Güte.

Was helfen uns irgendwelche Mittellungen

über Gott, wenn wir sie zwar für wahr zu halten meinen, aber

sie im Stillen mit dem Gedanken begleiten, besser wäre es doch, wenn Gott nicht wäre.

hegen, das innerlich

Solchen Gedanken kann nur ein Wesen

von Gott geschieden ist, dem also Gott

nicht offenbar, sondern verborgen ist.

Wir selbst können nun

diesen Gedanken der Gottlosigkeit nicht in uns austilgen.

Denn

der unruhige Lebcnstrieb, dem der Gedanke Gottes unbequem

ist, well er in Gott keine Ruhe findet, das sind eben wir selbst. Gott allein kann das ändern, wenn er uns so nahe kommt, daß

wir uns ganz von ihm bezwungen wissen und in fieudigem Ver­

trauen uns ihm gänzlich unterwerfen.

Nehmen wir einmal an, es wäre möglich, daß Gott einen Menschen in solcher Weise berühren könnte, das wäre ein Er­ eignis, das wirklich eine Offenbarung zu heißen verdiente.

Wenn

Der Begriff der Offenbarung

11

wir das erleben, so tritt etwas völlig Neues in unsere Welt,

das uns nie etwas Altes werden kann.

Sonst mögen sich unsere

Gedanken ausdehnen, soweit sie wollen, wir finden überall die­ selbe Welt, die in dem Leben, das sie darreicht, den Tod ver­ birgt, die das Lebendige, das sie erzeugt, zu einem Kampf ums

Dasein verurteilt, der mit Vernichtung enden muß.

Dieser Welt

gegenüber verhärtet sich notwendig unser Lebenstrieb zu der un­

ersättlichen Selbstsucht, die ihr eigenes Leben sich nur so denken kann, daß sie anderen das Leben verkümmert.

Das wird alles

anders, diese Welt des Todes verschwindet, und wir selbst wer­ den reich und satt und froh, wenn wir mit einem Wesen Zu­

sammentreffen,

das

uns

seine allmächtige Liebe fühlen läßt.

Denn damit stehen wir ja in einer gänzlich neuen Umgebung. Wir haben nun ein Wesen vor uns, gegen das wir uns nicht

zu wehren brauchen, dem wir nichts geben, sondern von dem wir alles empfangen sollen.

Das allein ist wahrhaftige Offenbarung.

Das ist freilich etwas anderes als die schön geordnete Summe christlicher Lehren, mögen sie in der Bibel stehen oder im Kate­

chismus.

Diese Lehren bringen uns nicht in eine neue Wirk­

lichkeit, sondern im Gegenteil, wir bringen sie ohne Mühe in der Welt des alten Menschen unter.

Auch auf solche hohe Lehren

wie die von der Trinität und von der Wiedergeburt verfällt der Mensch mit seinen Gedanken

und macht sich

seinen Vers

darauf, wie es möglich sei, daß drei Personen eins sein können oder wie es möglich sei, daß Gott den Menschen unbeschadet

der Freiheit des menschlichen Willens zu einem neuen Wesen machen könne.

Wenn einem das gelungen ist, so hat man die

vermeintliche Offenbarung glücklich in der Welt des alten Men­ schen untergebracht.

Sie wird nun selbst etwas Altgewohntes

und geniert den alten Menschen gar nicht mehr. Anders ist es mit der wahrhaftigen Offenbarung. Wenn wir

sie nur überhaupt erfahren, so bleibt sie uns etwas unbegreiflich Neues. Solange wir in uns selbst mit Sünde zu kämpfen haben,

erleben wir es als eine wunderbare Offenbarung, daß dieser Gott,

©er Begriff der Offenbarung

12

die ewig lebendige, frei daherströmende Liebe, dennoch uns lieben kann, die wir den Tod in den Gebeinen fühlen und immer

wieder in den Gedanken fallen, daß der andere sterben müsse,

damit wir leben.

Solange wir das Kreuz zu tragen haben,

soll es uns wohl eine wunderbare Tatsache bleiben, daß Gott

in den Herzensgrund einer gequälten Kreatur eine Freude legen kann, die durch keine Last erstickt wird.

Der Christ darf er­

fahren, daß, wie des Gottlosen Freude nicht recht im Grunde

des Herzens ist, so auch nicht das Trauern eines Christen. Jeder Moment der Anfechtung, in welchem wir das erfahren

und dadurch überwinden, hat immer wieder die Frische eines nie Erlebten. Es ist nicht nur eine disputable Sache für den Theologen,

sondern

es ist eine heilsnotwendige

Sache für den Christen, daß er imstande ist, so die wahrhaftige

Offenbarung

von

der

Mitteilung

Lehren und Berichten zu unterscheiden.

von

Offenbarung ist

dem Christen die Selbstoffenbarung Gottes d. h. die Taffache, daß Gott ihn durch einen unwidersprechlichen Erweis seiner all­

mächtigen Liebe überwältigt und aus

einem unglücklichen zu

einem fröhlichen und getrosten Menschen macht.

Das allein

sollen wir für Offenbarung halten. Die christlichen Lehren sollen uns wert und teuer sein, so­ fern in ihnen Gedanken durch Gott erlöster Menschen zusammen­ gefaßt sind.

Aber diese Gedanken werden wahrlich nicht recht

gewürdigt, sondern sie werden zu Mitteln der Sünde gemacht, wenn man ihre Summe die Offenbarung nennt. Sie sind aller­

dings Lebensgedankcn, nämlich die Lebensgedanken, die Gott dem

durch ihn befreiten Menschen ins Herz gibt.

Daß wir in ihnen

leben und denken lernen, darauf kommt alles an.

Aber wenn

man die Darreichung dieser Gedanken in Schrift- und Kirchen­ lehre die Offenbarung nennt, so mutet man ja dem Menschen

zu, daß er selbst sie sich aneigne. Denn von einer Offenbarung, welche den Menschen dazu bringen könnte, solche Dinge als Wahrheit zu denken, wird ja dann ausdrücklich abgesehen.

Ihm

Ter Begriff der Lffendarung

13

selbst wird es überlassen, daß er aus der dargebotenen Lehre

etwas für sich mache.

Wenn das anginge, dann wäre freilich

die Erlösung eines Menschen eine leichte Sache.

Das wäre eine

Erlösung, die selbst nichts anderes wäre als eine neue Sünde. Es verhält sich vielmehr so, daß wir erst durch Gottes Offen­

barung, die etwas anderes ist als eine Summe heiliger Lehren, neue und erlöste Menschen geworden sein müssen, dann ist in

uns das lebendige Wesen vorhanden, das in jenen Gedanken sich

bewegen kann.

Vorher ist alles Aneignen derselben eitel Schein.

Und dieser Schein ist um so widerwärtiger, wenn man dann

die Vollkommenheit des Glaubens darin sucht, daß man ein möglichst vollständiges System dieser Schriftgedanken kennt und

bekennt und die Christlichkeit anderer daran mißt, ob sie ein ebenso großes Quantum von Lehren mit sich führen.

Luther

sagt von solchen Leuten, daß sie den neuen Wein des Evan­

geliums in die alten Schläuche menschlicher Willenskraft gefaßt haben.

Also wir unterscheiden die Offenbarung Gottes von den

Lebensgedanken

des Erlösten,

Schrift uns darbietet.

wie

sie

vor

allem

die Heilige

Dann müssen wir aber auch Rede stehen

auf die Frage, wie wir denn zu solcher Offenbarung kommen.

Wir haben uns dem Verdacht ausgesetzt, daß wir den einzelnen Menschen mit seinem inneren Leben als die eigentliche Stätte

der Offenbarung Gottes ansehen und von objekttven Mächten der Offenbarung nichts wissen wollten.

Es gibt ja in der Tat

Theologen, welche meinen, die Offenbarung Gottes sei ein Vor­ gang in der Seele, in welchem der Einzelne ohne irgendwelche Bezugnahme auf etwas Äußeres es verspüre, daß Gott ihn be­

rühre.

Wer so etwas erlebe, der habe Gottes Offenbarung emp­

fangen und sei in dem Trachten nach solchen Erlebnissen fromm oder religiös.

Mystik.

Nun, gehöre ich nicht zu den Bekennern dieser

Ich will zwar die Erlebnisse, welche man dort Offen­

barung nennt, nicht mit harten Worten herabsetzen.

Denn ich

weiß sehr wohl, daß eine solche fromme Gefühligkeit bei manchem

Der Begriff der Offenbarung

14

aus einem herzlichen Verlangen nach Gemeinschaft mit Gott

entstehen kann.

Aber ich darf doch nicht verschweigen, warum

es mir unmöglich ist, in den Regungen, in welch« der Mensch

das Umfaßtsein vom Unendlichen unmittelbar zu fühlen meint, die Offenbarung Gottes an den Menschen zu sehen. Erstens kann der Mensch in seinem Gefühlsleben allein die

Gegenwart Gottes als einer Macht, die ihn rettet und über sich selbst hinaushebt, nicht erfahren.

zen aufiommt, hat Sünde an sich.

Was in unserem eigenen Her­

Deshalb ist auch das in der

eigenen Gefühlserregung ergriffene Unendliche das Erzeugnis eines nach Gott verlangenden, aber von Gott geschiedenen Herzens.

Zweitens entbehrt eine solche Offenbarung gerade dessen, womit sie uns helfen sollte.

Sie hat keine von den Schwankungen unseres

inneren Lebens unabhängige Gewißheit.

Sind die erregten Ge­

fühle auf das gewohnte Maß der Alltagsstimmung herabgesunken,

so bemertt der Mensch, daß er nach wie vor auf der Erde liegt.

Die Gottverlassenheit des natürlichen Lebens wird dann um so stärker empfunden, und aus dieser Empfindung enffteht notwendig der Zweistl, ob nicht das beglückende Erlebnis der Gottesnähe

ein Traum und Gedicht der Seele gewesen sei, die freilich nach etwas anderem dürstet, als die Welt ihr geben kann.

Das Auf­

kommen dieser mystischen Frömmigkeit in der christlichen Ge­

meinde

ist ein

merkwürdiges Beispiel davon,

wie

leicht

der

Mensch die volle Wirklichkeit, in der er steht, übersieht und in

Träumen lebt. Für einen Christen sollte die Antwort auf die Frage, wie er an die wahrhaftige Offenbarung Gottes kommt, wahrlich nicht schwer zu finden sein.

Er soll nicht mit Flügeln gen Himmel

steigen, soll nicht nach außerordentlichen Entzückungen trachten, aber er soll die Wirklichkeit anschauen und sich zu Herzen nehmen,

in welche er täglich gestellt ist.

Fänden wir nicht in chr die

Offenbarung Gottes als den Felsen, der uns trägt, oder als

den Stein des Anstoßes, an dem wir zerschellen, so würden wir

sie überhaupt nicht finden.

Aber sie ist vorhanden als ein un-

Der Begriff der Offenbarung leugbares Element unserer Welt.

15

Zunächst haben wir daran zu

denken, daß mit dem Anspruch, uns das alles zu ver­ schaffen, uns die Überlieferung von Jesus Christus gegeben ist, die ebenso zu unserer eignen Wirklichkeit gehört wie der

Rock, den wir anziehen, und das Haus, das wir bewohnen. Die Frage aber, wie dann Jesus selbst uns zur Offenbarung Gottes wird, können wir wiederum nicht in der Studierstube er­

ledigen. Wir müssen uns dazu in die Nöte des prattischen Lebens

begeben, wir müssen sehen, wie in der Anfechtung uns dieses Faktum als die Offenbarung Gottes rettet.

Nehmen wir einmal an, wir

hätten alles, was in unserer Kirche zum Preise des Erlösers ge­ lehrt und gepredigt wird, nicht nur gehört, sondern auch willig

ausgenommen.

Diese Gedanken, in welche wir uns eingewöhnt

haben, sind uns ganz angenehm, solange es uns in trivialem

Sinne gut geht.

Wir spüren vielleicht auch einen Hauch des

Lebens, aus welchem diese Gedanken gequollen sind und merken cs, wie unsere Seele sich danach ausstreckt.

Aber es kommen

auch für den Trägsten andere Zeiten, wo er aus solchem ruhigen Genießen herausgeschleudert wird.

Er gerät in Verhältnisse, in

denen er nichts zu spüren meint als eine vernunftlose Gewalt, die sein Glück zertritt.

Er sieht dabei nichts weiter heraus­

kommen, als daß er und andere, die ihm teuer sind, unglücklich

werden

und verkümmern.

In solcher Anfechtung hören wir

wohl die Mahnung, wir sollen uns an die Lehren halten, die

das Wort des Apostels auSlegen: „Welcher auch seines eigenen Sohnes nicht hat verschont, sondern hat ihn für uns alle dahin­

gegeben, wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken."

hören die Mahnung und kennen die Lehre.

Wir

Aber die Organe,

mit denen wir uns an solche Lehren klammern sollen, sind zu

schwach, oder sie sind vielmehr gar nicht vorhanden, wenn wir

uns gänzlich unglücklich und kraftlos fühlen.

Oder aber, dem

Sünder wird seine Untreue, die er sich lange verborgen hat, plötzlich enthüllt.

Solange noch Leben in dem Sünder ist,

richtet er sich selbst und verurteilt sich dazu, daß er alles be-

Der Begriff der Offenbarung

16

zahlen müsse, was er verschuldet hat. Er versucht sich zu bessern; aber er macht die Erfahrung, daß sein Wille keineswegs zurück­

schnellt in die gerade Richtung, weil er krumm gewachsen ist. Die Besserung zeigt sich als eine unabsehliche Aufgabe mühsamer Selbsterziehung. Und nicht einmal die ersten Schritte kann der Sünder auf dieser endlosen Bahn machen. Denn nur aus

Freude und Frieden heraus kann man das Gute wollen und das Böse hassen. Der Sünder aber, der sich selbst richtet, ist ja eben dabei, alles zu vernichten, was in ihm selbst wie Freude

und Friede aussieht.

Sollte uns wirllich in solcher Lage das

helfen können, daß wir die Lehre vernehmen, die Strafforderung

des gerechten Gottes sei durch das Blut seines Sohnes ausge­ glichen? Oder sollte darin vielleicht die Hilfe liegen, daß wir

uns in der Kirche das Wort der Sündenvergebung spenden lassen, das wir in ruhigeren Zeiten schon oft mit gläubigem

Herzen zu hören meinten?

Es muß ein recht sanftes Gewissen

sein, das sich durch solche Lehren stillen läßt. Der Sünder muß noch gar nicht in dem Selbstgericht stehen, das ihn gänzlich kraftlos macht, wenn er sich die Kraft zutraut, solche Lehren

und Verkündigungen für wahr zu halten. offenbar.

Das,

Der Fehler dabei ist

wovon man die Erlösung

eines verlorenen

Menschen erwartet, stellt Forderungen an uns, die wir eben nicht erfüllen können, sofern wir verloren sind. wahrhaftigen

Lebens

gehört

dazu,

Was für eine Glut

um den Gedanken

paulinischen Wortes als Wahrheit denken zu können!

jenes

Und wir

selbst sollten diese Glut in uns anblasen können, die wir tot und kalt sind, weil wir unglücklich sind?

Könnten wir wirklich

mit freiem Entschluß solch Bekenntnis des erlösten Menschen als Wahrheit denken, dann lägen wir eben nicht mehr in Anfechtung

und Todesnot, sondern ständen frei darüber. Nun sagt man uns aber, das Wort des Evangeliums sei nicht etwas Totes, dessen wir uns annehmen müßten, um etwas

daraus zu machen, es lebe vielmehr in ihm eine Wahrheitsmacht, .bie den Verzagten stärkt und den Trotzigen niederwirst.

Es

Der Begriff der Offenbarung

17

werde durch das Wort der heilige Geist Gottes in unser Herz

gegeben, und in seiner Kraft könnten wir glauben, was dem Un­ glücklichen und dem Sünder unglaublich und unfaßbar sei.

Das

Aber wenn man mit solcher Lehre alles ab­

ist recht geredet.

gemacht zu haben meint, so

hat man nicht die Hilfe gezeigt,

sondern die Hilflosigkeit vermehrt.

Soll etwa der verzweifelnde

Mensch sich Hinsehen und warten, bis der heilige Geist ihin ein­

gegossen wird?

Soll er etwa darum beten, daß der heilige Geist

ihm gegeben werde?

Wenn er nichts weiter tut als das, so

wird es ihm gar nichts helfen.

Wohl will der himmlische Vater

seinen heiligen Geist geben allen denen, die ihn darum bitten. Aber sie müssen eben ihn selbst

bitten,

und ihn

können sie nur bitten, wenn sie ihn gefunden haben.

selbst

Ist das

letztere nicht der Fall, so hilft auch das Gebet um den heiligen Der heilige Geist wird auf solche Weise nicht

Geist nichts.

kommen, wohl aber ein anderer Tröster, die Zeit, die das Außer­ ordentliche gemein macht, und schließlich das Ende eines solchen

Hinsterbens, der Tod. Dennoch ist es richtig, daß eine rettende Wahrheitsmacht

durch das Wort des Evangeliums wirkt und daß uns der heilige Geist dadurch verliehen wird.

Aber wir müssen bestimmter da­

von reden können, wenn wir nicht fruchtlos reden sollen.

Der

heilige Geist — das ist für jeden ein leeres Wort, der nicht mit wachen Augen sieht und weiß, wie ihm selbst der heilige Geist Gottes gegeben wird.

Lassen wir also nicht bloß eine Lehre

aus unserm Gedächtnis durch

unsern Mund laufen, sondern

reden wir von dieser Sache wie Christen, die die Anfechtung kennen und die Erlösung. Evangeliums

ist Christus

Die Wahrheitsmacht im Wort des selbst;

und

der

heilige

Geist,

in

welchem wir Lebensgedanken fassen können, wird uns dadurch verliehen, daß Christus ein Element unseres inneren Lebens wird, wie die Überlieferung von ihm ein Element unseres äußeren Lebens bereits ist.

der Anfechtung

Wie geschieht das?

Einfach so, daß der in

kämpfende Mensch Jesum Christum als etwas

Herrmann, Offenbarung und Wunder.

2

Der Begriff der Offenbarung

18

Wirkliches wahrnimmt.

Unsere Not macht uns einsam, unsere

Sünde bereitet uns den Eindruck, daß wir von Gott verlassen sind.

Daraus erwächst dann der Wunsch und Gedanke deS

Toren, es sei kein Gott.

Sind wir in schwerem Unglück, so

wird dem Angefochtenen die ganze Welt zu einer Macht deS Unheils.

Sind wir in schwerer Gewissensnot, so wird unS

alles, was an und um uns ist, zur Sünde und zur Strafe für

die Sünden.

Christen bezeugen uns, in solcher Erfahrung könne

uns das Wunderbare und das Rettende an der Person Jesu

verständlich

werden.

Ihnen selbst sei die Erscheinung dieser

Person der einzige Bestandteil der wirllichen Welt, der sich

nicht in dieses trübe Einerlei hinabziehen läßt.

Jede andere

Tatsache, so ersteulich sie auch sonst sein möge, könne ihnen durch Sünde und Unglück so verdorben werden, daß sie an­

fange, ihnen Gott zu verbergen.

Die Tatsache dagegen, daß

es so etwas gebe wie die Erscheinung Jesu, lasse sich nicht zu

einem solchen Mittel der Gottlosigkeit machen. Augen von ihm abwenden.

Man könne die

Aber wenn er dem Menschen so in

den Weg trete, daß er ihn sehen müsse, so sei nur ein Doppeltes

möglich.

Dem in der Sünde verhärteten Menschen, der cs gerne

sähe, wenn Gott nicht wäre, werde dadurch der Gedanke aufge­ drängt, es möchte doch wohl einen Gott geben, in welchem das

Gute Macht hat, und durch welchen das Böse gerichtet wird.

Dem Unglücklichen aber, der gern aus der Sünde heraus und im Guten selig wäre, trete in der Erscheinung Jesu der Gott

nahe, der sich seiner erbarmt.

Wenn uns das von Christus

gesagt wird, so werden wir zugeben müssen, daß ein Mensch, der das an Christus erlebt, ein Recht hat, von Gottes Offenbarung zu reden.

Dem Menschen, der in der Welt lebt, mögen über Gott

noch so schöne Dinge gesagt werden, — Gott bleibt ihm trotz­

dem verborgen.

Denn wenn diese Lehren richtig sind, so sind

sie höchst wunderbar und allem entgegen, was der Mensch sonst mit seiner Vernunft als wirklich feststellt.

Der Mensch denkt

Der Begriff der Offenbarung

19

daher im Stillen sicherlich von diesen Lehren, daß sie höchst

schwächlich und schlecht begründet sind.

Aber deshalb verspürt

er auch aus solchen Lehren nicht die Allmacht eines Gottes, der den Glauben in ihm schafft, sondern er vernimmt eben nur Lehren, die von ihm verlangen, daß er sie für wahr halten und etwas aus ihnen machen soll. In eine ganz andere Situation

werden wir dagegen versetzt, wenn wir in der Welt einer Tat­ sache begegnen, die wir wenigstens uns selbst als eine von uns

erfaßte Tatsache feststellen können, die aber auch ohne alle Lehre über sie durch die bloße Macht ihres Inhaltes uns zu der Ge­ wißheit bringt, daß es einen Gott gibt, und daß dieser Gott in ihr sich uns zuwendet.

In den christlichen Lehren erhebt sich

sicherlich nur derjenige Mensch zu Gott, der sie als Wahrheit

denken kann.

Aber er kann sich erst dann so zu Gott erheben,

wenn Gott ihn gefunden und sich ihm offenbart hat.

Und das

tut Gott nach dem Zeugnis von Christen durch die Erscheinung Jesu, die als ein in der Welt wirkliches Fattnm uns berühren

kann, sei es durch die Evangelien, sei es durch das christliche

Leben erlöster Menschen um uns her.

Wie wird uns nun die Person Jesu zu einer von uns selbst erfaßten Tatsache, und was ist an dem Inhalt dieser Tat­ sache das, das den Zweifel überwinden, die Gewißheit begründen

und dadurch uns Gott offenbaren kann.

Auf diese Frage kann

man eine erschöpfende Antwort nicht geben, und wenn man noch so viele Worte machte. Aber dennoch läßt sich mit wenigen

Worten ganz genau sagen, wodurch uns Jesus die Offenbarung Gottes wird.

Er wird dies durch alles das, wodurch er uns

nötigt, ihm zu vertrauen. Wenn sonst ein Mensch uns Ver­ trauen abgewinnt, so machen wir auch die Erfahrung, daß der

unmittelbare Eindruck seiner Person uns viel reicher vorkommt als alles, was wir etwa zur Rechtfertigung unseres Vertrauens anderen sagen könnten. So ist es auch mit Jesus Christus. Viel reicher als alles, was wir uns in bestimmten Vorstellungen

als Gründe unseres Vertrauens zu ihm vergegenwärtigen mögen, 2*

Der Begriff der Offenbarung

20

bleibt der Inhalt des Bildes, das in den von ihm ergriffenen

Menschen entstand und das wir uns immer neu im Verkehr mit Christen alter und neuer Zeit aus ihrer heiligen Über­ lieferung und aus dem Zeugnis ihres Lebens gewinnen müssen.

Ob dieses Bild Jesu der Ausdruck einer unvergleichlichen Wirk­

lichkeit oder ein Gebilde der Legende sei,

historische Forschung ausmachen.

uns keine

kann

Wenn

wir uns aber

innerlich soweit sammeln können, daß wir von der Frage nicht mehr loskommen, ob wir nicht etwas finden können, dem wir

uns in freier Hingabe ganz unterworfen wissen,

wenn also

die Frage nach Gott eine uns bezwingende Notwendigkeit ge­

worden ist, so wird es uns möglich, in diesem Bilde Jesu die

Offenbarung einer uns erlösenden Wirklichkeit zu sehen.

Wir

müssen dann nur darauf achten, daß uns in diesem Bilde mit erschütternder Anschaulichkeit eine geistige Macht erscheint, der wir uns in reinem Vertrauen hingeben müssen.

Dann kann

uns auch das nicht verborgen bleiben, was aus diesem Bilde Jesu vertrauenerweckend und dadurch befreiend auf uns wirkt.

Alles das läßt sich auf zwei Züge an dem überlieferten Bilde Jesu zurückführcn.

Jesus enthüllt uns das Gute und

macht den Anspruch, daß er das Gute in der Welt wirklich

mache, das ist das Eine.

Das Zweite ist dies; er lebt in un­

getrübter Zuversicht zu der Liebe eines Gottes, den er als die

heilige Macht des Guten erkannt hat. eine einfache Folgerung

Aus beiden ergibt sich

Das Gewissen ist bekanntlich um so

reizbarer, je mehr der Mensch den Ernst und den Umfang der sittlichen Forderung erfahren hat.

Wie empfindlich für das

Schlechte muß also die Seele gewesen sein, der zum ersten Male das Gute in seinem vollen Glanze erschienen ist, und die nun

den ungeheuren Gedanken auf sich genommen hat, daß von ihrer Existenz und Wirklichkeit die Verwirklichung des Guten in der

Welt abhänge. von

Schuld,

Trotzdem fällt auf diese Seele kein Schatten keine

Erinnerung

an

ein Vergehen

stellt sich

zwischen Jesus und seinen Gott, den er doch als die verzehrende

Der Begriff der Offenbarung

Allmacht des Guten

21

Das schließen wir

kennen gelernt hat.

nicht etwa aus einzelnen Worten Jesu, in denen er seine SündWir entnehmen es auch nicht nur daraus,

losigkeit bezeugt.

daß es allem Eifer des Hasses nicht gelungen ist, an dem Bilde seines Lebens die Spur einer sittlichen Verfehlung aufzufinden. Wir entnehmen vielmehr das Zeugnis dafür der Erinnerung,

die seine Jünger von dem letzten Zusammensein mit ihm be­ halten haben.

Jesus hat danach die Kraft gehabt, angesichts

seines Todes, also in den Momenten, wo das Gewissen uner­ bittlich die Summe des Lebens zieht, etwas auszusprechen, was

niemand sagen kann, der sich selbst von einer Schnld bedrückt weiß.

Er hat danach gesagt, daß alle in der Erinnerung an

ihn vereinigten

Menschen in dem Rückblick aus seine Person

die Erkenntnis finden würden, daß durch seinen Tod ihnen der neue Bund der Gnade und Vergebung beschafft sei.

höchsten Klarheit

der

sittlichen Erkenntnis

Aus der

heraus konnte so

nur ein Mann sprechen, der wirklich niemals unter der Last dessen, was er sich zutraute und von sich forderte, zusammen­

gebrochen war. In solcher Weise läßt sich alles dasjenige an dem über­

lieferten Bilde Jesu zusammenfassen, was auf uns als etwas Wirkliches dann zu wirken vermag, wenn wir an das Lebens­ zeugnis von Christen, mit der in uns selbst erwachten Lebens­

frage herantreten, ob wir nicht auch einmal etwas finden können,

dein wir uns ohne allen inneren Widerstand zu unterwerfen

vermöchten.

Tun wir das, so bedürfen wir keiner Anstrengung

des Fürwahrhaltens, um das in diesem Bilde uns Bezeugte als etwas geschichtlich Wirkliches aufzufassen.

Wir bedürfen auch

keiner apologetischen Künste, um das, was uns in solcher Weise zur Tatsache wird, gegen den Zweifel zu schützen.

Sondern

hier handelt es sich dann einfach darum, ob wir an dem vorüber­ gehen wollen, was uns eine überwältigende Wirklichkeit wird,

oder ob wir vor ihm stehen bleiben wollen. Denn an diesem von uns selbst in der Überlieferung seiner Gemeinde erfaßten

Der Begriff der Offenbarung

22

geistigen Bilde Jesu erleben wir in immer neuen überraschenden

Offenbarungen die Berührung der einzigen Macht, die wir Gott

nennen können, weil sie allein uns selbst im Innersten bezwingt. Diese von uns selbst erlebte Gewalt des geistigen Bildes Jesu

enffcheidet darüber, daß er uns die Offenbarung Gottes wird und macht uns die Vorstellung unmöglich, daß wir in diesem Bilde ein Erzeugnis menschlicher Phantasie

vor

uns haben.

Durch die Gewalt seines Inhalts wird es dem davon ergriffenen

Menschen der Ausdruck einer wunderbaren Wirklichkeit. danach

können die Bemühungen historischer Beweise

dieser Sache etwas helfen.

Erst

uns

in

Wer auf sie seine religiöse Zuver­

sicht gründen wollte, würde bald erfahren müssen, daß sie ihn mehr beunruhigen als aufrichten.

Die lebendige Religion wur­

zelt ganz und gar in dem, was der Fromme selbst erlebt.

Und Gott sei Dank, daß es so ist.

Denn eine Offen­

barung, die uns retten soll, darf nicht erst durch unsere An-

sttengungen uns als eine Tatsache festgestellt werden.

Wenn

wir nun aber vor der uns so offenbar gewordenen Wirklichkeit der Person Jesu stehen bleiben, was haben wir davon?

Wir

haben davon, daß wir ihn entweder hassen müssen, weil er die

Macht, welche der Sünde tödlich feind ist, über den Horizont der Menschheit heraufführt; oder wir müssen ihn lieben und ihm

verttauen.

Und wenn wir das Vertrauen zu ihm fassen, daß

er wohl Recht behalten möchte, so fängt in uns der Glaube an

sich zu regen, der die Lebensgedanken Gottes denken kann, weil die Gewalt Christi, der dies Verttauen uns abgewinnt, in ihm

wirffam ist.

An die ihm offenbar gewordene Wirklichkeit Jesu

knüpft sich für den Menschen, der ihm vertraut, die Wirklich­

keit einer Macht über alle Dinge, die dafür sorgt, daß er mit seiner Sache

zum Siege kommt.

Das ist

anderes als der Gedanke unseres Gottes.

wiederum nichts

Die geistige Macht,

die uns durch das in seiner Gemeinde lebende Bild Jesu be­ rührt, und die Macht, die wir uns in dem Siege seines Werkes

vorstellen, ist der Gott, auf den wir hoffen.

In solcher Weise

Der Begriff der Offenbarung

23

wird für den Christen die Gewißheit von Gott begründet und getragen durch Jesus Christus. Und diese Gewißheit wird uns

zu einer Erlösung, indem wir aus das Kreuz Jesu blicken und

uns klarmachen, daß Jesus in seinem Kreuzestode sein ganzes

Leben zu einem Zeugnis dafür zusammengefaßt hat, er habe von uns Sündern nicht lassen wollen. So

Gottes.

wird

uns Jesus

zu

einer erlösenden

Offenbarung

Sein Dasein in unserer Welt wird uns als die Tat­

sache verständlich, in welcher Gott selbst sich uns zuwendet.

Diese Offenbarung Gottes macht uns zu neuen Menschen.

Denn

dadurch sind wir neue Menschen, daß wir eine Macht kennen,

die uns in die Gegenwart Gottes stellt und uns emporhält, wenn Not und Sünde uns ins Bodenlose hinabziehen wollen.

Wenn wir diese Erfahrung an Christus machen, so nehmen wir uns nun nicht mehr vor, irgendwelche Lehren über Gott und gött­

liche Dinge für wahr zu halten.

Wir haben vielmehr nun die

Fähigkeit und die Nötigung empfangen, die Wirklichkeit eines Gottes, dessen lebenweckende Liebe wir bereits erfahren haben, als Wahrheit zu denken.

Wir sind nun auch imstande, unseren Brü­

dern Zeugnis zu geben von einer Wirklichkeit, die uns glücklich

und freimacht, nicht bloß von Lehren, die wir mit Schristbeweisen und Vernunftbeweisen mühsam unterstützen. Endlich ist dadurch

das in uns geschaffen, woraus allein wahrhafttge Liebe kommen kann.

Denn es ist nun ein Grund zur Freude in uns gelegt,

der uns wohl einmal verdunkelt, aber nicht entrissen werden kann, weil Christus fest und sicher in unserer Welt steht.

Der

Gedanke daran bildet aber den Lebensnerv der unzerstörbaren

und unerschöpflichen Freude, die allein uns innerlich zu wahr­ haftiger Liebe freimacht.

Der unglückliche in Trauer gebundene

Mensch kann nicht lieben, sondern nur der glückliche und freie. Und dieses befreiende Glück wird dem Menschen geschenkt, wenn er durch alles, was sich ihm als Überlieferung aufdrängt, sich

endlich dahin durchgerungen hat, daß er in Jesus Christus eine

Tatsache seiner eignen Wirklichkeit erkennt und sie deshalb auf

24

Ter Begriff der Offenbarung

sich wirken läßt, weil er in ihr das Eine findet, um dessen

willen er alles Andere fahren lassen kann.

Die durch die Bemühungen der kirchlichen Presse geschaffene Sprachverwirrung eröffnet mir die ziemlich sichere Aussicht, daß den obigen Ausführungen entgegengehalten wird, das sei Mysti­

zismus, oder auch ein ganz unberechtigtes Zutrauen zu der Möglichkeit, in dem Inhalt der Überlieferung etwas zu entdecken,

was uns eigenes Erlebnis werden könne. Mit solchen Anklagen möchte ich es so machen, wie es Luther den Teufeln gegenüber anrät: ich will sie fröhlich verachten, als wären sie nichts.

Denn

sie sind entweder Zeugnisse gewohnheitsmäßiger Unwahrhastigkeit oder eines Unverstandes in theologischen Dingen, mit dem eine Diskussion zu führen ganz unfruchtbar und überflüssig wäre.

Anders verhält es sich mit einem Einwurf, welcher mir

von sehr beachtenswerter Seite gemacht wurde.

Luthardt hat

mir vorgehalten, eine solche Auffassung der Offenbarung und

des Glaubens bezeichne einen elementaren Standpunkt, den zwar die Jünger in ihren Anfängen eingenommen hätten, den aber

die Kirche längst überwunden habe.

Wer in dieser Kirche lehren

wolle, der müsse imstande sein, einen höheren Standpunkt ein­ zunehmen. Er müsse die in der Schristoffenbarung vorliegenden Lehren als Offenbarung hinnehmcn und in der Kirche vertreten. Diesen Einwand Luthardts habe ich gern gehört, denn er hebt

doch wenigstens, wenn auch als einen Fehler, das hervor, worauf es mir vor allem ankommt. Denn nach meiner Meinung braucht die christliche Kirche nicht solche Lehrer, die hohe Lehren aus der Überlieferung aufnehmen und sich dann berufsmäßig

bemühen, denselben ihre Vernunftbeweise anzuhängen. Die Kirche Christi braucht vielmehr solche Lehrer, welche wissen und zeigen können, was wahrhaftiger von Gott erweckter Glaube ist.

Das

können sie aber nur, wenn sie fähig und bereit sind, die Offen­

barung Gottes als eine in unsrer eignen Wirklichkeit stehende Tat-

Der Begriff der Offenbarung

25

fache von einer Überlieferung von Lehren und Berichten zu unter­ scheiden.

Wenn das von Luthardt verteidigte Verfahren so, wie

es jetzt leider immer noch geschieht, fortgesetzt wird, so werden notwendig der Gemeinde unerträgliche Lasten aufgehalst, und eS wird ein Glaube gepflegt, der freilich vielen leicht, aber allen verderblich ist. Denn Lehren für wahr halten wollen, die man

doch noch nicht als Wahrheit denken kann, ein solches Vor­ nehmen muß den Willen zur Wahrheit lähmen, ohne den kein

Mensch den Weg zu Gott findet.

Die Predigt, die zu jener

Praxis anleitet in der Meinung, dadurch den Menschen das Heil zu bringen, würde noch viel heilloser wirken, wenn nicht durch die Schriftlehren, die sie mißbraucht, manchem das sichtbar

werden könnte, was er selbst als den Grund seines Heils erleben

kann.

Der Kirche ist cs sehr nötig, daß alle, die in ihr lehren

wollen, fähig und bereit sind, sich immer wieder auf den „elemen­ taren" Standpunkt des anfangenden Glaubens zu stellen.

Denn,

wenn es wahr ist, daß wir täglich erneuert werden, so soll der Glaube wohl täglich in uns anfangen. Dann muß uns aber in immer neuer Anwendung verständlich gemacht werden, wie wir nach dem Erlebnis der Tatsache suchen sollen, daß ein Gott sich unser annimmt, der Sünde vergibt.

Dazu bedarf es freilich für die Kirche im ganzen einer wissenschaftlichen Arbeit, welche den Theologen im Stile Luthardts erspart bleibt, einer historischen und einer philosophischen,

die sich nicht durch kirchliche Wünsche ihre Richtung geben läßt, sondern ihren eigenen Gesetzen treu, also bei der Wahrheit bleiben will. Einer solchen Wissenschaft wird freilich die Kirche nur dann Raum lassen können, wenn sie endlich einsieht, daß reli­

giöser Glaube niemals in wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern immer nur in den Erlebnissen einzelner Menschen wurzeln kann. Dem einzelnen Pfarrer aber wird auch eine schwere

Aufgabe gestellt, wenn er immer wieder zeigen soll, wie Gott aus den Nöten des innern Lebens den Glauben machen kann, und

wie

dann

solcher Glaube, der nichts

anderes

ist

als

26

Der Begriff der Offenbarung,

eine Regung des Geistes Gottes, in den christtichen Lehren, die

in früheren Zeiten der Kirche erzeugt sind, Lebensgedanken des Erlösten spüren kann.

Das ist schwerer, als wenn man diese

Lehren selbst mit einiger Gefühlswärme vorträgt und durch den

kräftigen Ausdruck der eigenen Erregung die Zuhörer zu einer wertlosen Zusttmmung zu bewegen

sucht.

Aber der Umstand,

daß diese Praxis bequemer ist, wird doch schließlich diejenigen, die es mit der evangelischen Kirche ernst meinen, nicht abhalten

können, das andere Verfahren in ernstliche Erwägung zu ziehen.

Der Christ und das Wunder Vortrag

gehalten auf der theologischen Konferenz zu Gießen am 18. Juni 1908

Dieses Thema hat nicht nur deshalb ein neues Interesse

in der evangelischen Kirche gewonnen, weil viele an das Wunder mit banger Sorge denken, und weil es Pflicht der Theologie ist, uns diesem Gedanken gegenüber ein gutes Gewissen zu er­

kämpfen.

Zur Behandlung des Themas fordert auch die Tat­

sache auf, daß in der neuesten Zeit eine Behandlung des Wun­

derproblems sich zu verbreiten beginnt, die große Erfolge verspricht. Uns liegt in dieser Beziehung besonders nahe die Ausführung über das Wunder in Stanges Schrift „Das Frömmigkeitsideal

der modernen Theologie" 1907.

Stange sieht hier in dem Bestreben, den Wunderbegriff zu eliminieren, einen der Hauptzüge der mobcmen liberalen Theo­ logie.

Daß zahlreiche Erscheinungen

läßt sich nicht bestreiten.

dieses Urteil

bestätigen,

Wie mir scheint, liegt die Tatsache

schon darin vor, daß Theologen, die Stange als liberal klassi­ fizieren wird, in der Regel überhaupt keine Neigung haben, auf

den Wunderbegriff ernstlich einzugehen.

Dem gegenüber ist eS

durchaus am Platze, den Schein zu bekämpfen,

als ob der

Wundergedanke zu den Pudenda der Religion gehöre, wovon man möglichst wenig sprechen müsse.

Stanges Absicht, daS

Wunder als ein Hauptstück des christlichen Glaubens zu ver­ treten, billige ich durchaus.

Natürlich hat er auch darin recht,

daß man den Unterschied zwischen dem Wunder, wie es die

heidnische Frömmigkeit kennzeichnet, und den Wundern, an denen

der christliche Glaube sich nährt, beachten muß.

Aber gerade an

diesem wichtigen Punkte scheint mir Stange seine Ausführungen

29

Der Christ und das Wunder

in einen Rahmen gespannt zu haben, der für die Bedeutung

des Wundergedankens zu eng sein möchte.

Wir hören von ihm, in der heidnischen Frömmigkeit komme die irrationale Tatsache des Wunders lediglich als ein Hinweis auf das Wirksamwerden der göttlichen Kausalität in Betracht, nach der biblischen Auffassllng

dagegen

sei die Tatsache des

Wunders immer zugleich ein Maßstab für die besondere Art

des göttlichen Wirkens.

Für die biblische Religion sei es charak­

teristisch, daß sie den Gott der Wunder nicht bloß in vereinzelten außergewöhnlichen Begebenheiten des geschichtlichen Lebens er­

kennt, daß vielmehr die Werke seiner Schöpfung insgesamt als

Tat seiner Wundermacht verstanden werden.

Daher brauche hier

die Frage gar nicht zu entstehen, wie es möglich sei, daß in dem Zusammenhang des natürlichen Geschehens in einzelnen Aus­ nahmefällen die für alles Geschehen geltenden Regeln aufgehoben werden.

Es erinnere vielmehr an die heidnische Weltanschauung,

wenn das Wesen des Wunders in der Durchbrechung des natür­

lichen Kausalzusammenhanges gesehen werde.

Denn nach der

heidnischen Auffassung bilde das göttliche Wirken in der Welt eine besondere Sphäre neben dem natürlichen Weltgeschehen.

Die

Schranke der heidnischen Religion trete darin zutage, daß die

religiöse Stimmung immer nur im Hinblick auf einzelne Momente der sinnlichen Erfahrung zustande kommt, während im übrigen

das Bewußtsein von der Welt gegenüber dem religiösen Bewußt­ sein sich indifferent verhält.

Grade auf heidnischem Boden ent­

stehe daher die Nötigung, dasjenige Geschehen in der Welt, durch

das die religiöse Vorstellung geweckt wird, von allem Geschehen zu unterscheiden.

andern

Das könne natürlich nur durch die

Negation der für die gewöhnliche Erfahrung geltenden Regeln erreicht werden. Die Spitze dieser Ausführungen ist offenbar gegen die Vor­

stellung gerichtet, daß im Wunder eine Durchbrechung des Natur­

zusammenhanges vorliege.

Um diese Vorstellung abstoßen zu

können, benutzt Stange dasselbe Mittel wie Ritschl, er beruft

Der Christ und da» Wunder

30

sich darauf, daß in der heilige« Schrift die ganze Schöpfung Gottes als ein Wunder gewürdigt werde. Aber Stange bestreitet nun nicht nur, wie Ritschl, daß die biblische Vorstellung vom

Wunder sich mit dem Gedanken des Naturgesetzes nicht vertrage, sondern zieht daraus noch eine viel weiter greifende Folgerung.

Er spricht den zunächst verblüffendm Satz auS: „Für die bi­ blische Auffassung dagegen hat daS Wunder nicht die Bedeutung,

die Gewißheit von der Existenz Gottes zu begründen" (S. 10).

Es scheint schwer zu versteh«, was denn sonst dem in der Welt lebenden Menschen die Gewißheit von der Wirklichkeit Gottes begründen könne, wenn nicht das Wunder.

noch einen Schritt weiter.

Aber Stange geht

Er bestreitet sogar, daß in der bi­

blischen Religion überhaupt einzelne Momente der sinnlichen Er­

fahrung eS seien, worin die Überzeugung von der Wirllichkett des Göttlichen gegründet sei.

Damtt wäre also nicht nur daS

Wunder als Grund des Glaubens beseitigt,

sondern auch die

besondere, d. h. an einzelne empirische Fakta geknüpfte Offen­ barung. Es ist nun sehr interessant, zu sehen, was Stange dazu bewegt, der biblischen Frömmigkeit eine Überzeugung von der Wirklichkeit Gottes zuzuttauen, die sich nicht auf Wunder und überhaupt nicht auf besondere Tatsachen gründet, in denen Gott

wirffam hervortritt.

Er sagt: „Der typische Vorzug der bi­

blischen Frömmigkeit macht sich vielmehr darin bemerkbar, daß die religiöse Gewißheit als ein beständiges Begleitmoment des empirischen Bewußtseins auftritt."

Während daher die heidnische

Frömmigkeit allerdings zu einem Konflikt des religiösen Bewußt­

seins mit dem empirischen Bewußtsein von der Welt führe, der sich eben in dem heidnischen Wunderbegriff ausspreche,

das von der

Mischen Frömmigkeit nicht zu erwarten.

so

sei

Hi«

habe daher auch der Wunderbegriff eine and«e, freilich auch fundamentale Bedeutung, er spreche aus, daß Gott der lebendige

ist.

An diesen sehr wichtigen Gedanken knüpft nun Stange

seine Begründung dessen, was er als einen Grundzug b« biblischen

Der Christ und daS Wunder

Frömmigkeit bemerkt zu haben meint.

Schranke an dem,

31

„Alles Leben findet seine

was nicht seine eigene Tat ist."

„Wenn

also Gott int vollsten Sinne der Lebendige ist, so muß alles

Geschehen in der Welt in uns den Eindruck erwecken, daß in ihm Gottes gegenwärtiger Wille sich als wirksam erweist."

Also die biblische Frömmigkeit sieht nach dieser Auffassung in jedem taffächlich sich vollziehenden Ereignis ein Wunder. Und

da sie sich in dem gegenwärtig lebendigen Christentum fortsetzt, so soll es mit der christlichen Frömmigkeit ebenso stehen.

Aber

ich denke, eine Religion, die wirllich diese Art hätte, wäre kampf­

lose Zuversicht.

Daß die biblische Frömmigkeit das nicht ist,

bedarf wohl keines Beweises, das kann jedem schon die bloße Erinnerung an den Psalter zeigen. und abwogt.

Sie ist ein Leben, das auf-

Ihre sittliche Art verstattet ihr kein Ausruhen,

das Sttllstand oder ein einfaches Sich-ausleben wäre.

Deshalb

muß sie sich auch den Gedanken, in dem ihr Leben sich aus­ spricht, den Gedanken des gegenwärttg in dem wirklichen wirken­

den Gottes, immer neu erkämpfen.

Das ist diesen Frommen

aber deshalb möglich, weil sie ihr Auge für die Ereignisse öffnen

können, in denen ihnen das Wirken Gottes sichtbar wird.

Nach

Stanges Worten ist es so, daß wir in Ereignissen Wundertaten Gottes sehen, weil uns Gott der Lebendige ist.

wird das leugnen wollen.

Keiner von uns

Aber vollständig können wir darin

die Bedeutung des Wunders nicht bezeichnet finden. Wir erleben

frellich Wunder, weil wir an Gott glauben; aber nur dadurch, daß wir Wunder erleben, können wir an Gott glauben.

Diese

Bedeutung des Wunders, den Glauben zu begründen, kommt also in Stanges Darstellung nicht zu ihrem Recht.

Ebenso­

wenig kann ich es billigen, wenn der Gegensatz des Wunders zu der Gesetzmäßigkeit des Geschehens bestritten wird.

Der Wunder­

glaube auch der christlichen Gemeinde bewegt sich ohne Zweifel

im allgemeinen in der Vorstellung, daß in der Welt, in der sie lebt, Dinge geschehen können und geschehen, die nicht gesetzmäßig sind.

Darin möchte wohl etwas Richtiges liegen.

Es scheint

Der Christ und das Wunder

32

mir unvorsichtig, wenn Stange diese Vorstellung, die für jeden

wundergläubigen Christen einfach selbstverständlich ist, heidnisch

nennt. Von diesem Versuch Stanges, den religiösen Wunderge­

danken über den Konflikt mit der wissenschaftlichen Erkenntnis des Wirllichen zu erheben, unterscheidet sich sehr vorteilhaft die

Haltung R. Rothes, des stärksten Apologeten des Wunders int vorigen Jahrhundert.

Er bewahrt sich bei seiner Verteidigung

des Wunders die volle Aufrichtigkeit des religiösen Denkens, die

unerschrocken sehen läßt, daß mit dem Gedanken des Wunders

etwas gemeint ist, was nur in irrationalen Vorstellungen aus­ gedrückt werden kann.

Hieriit hat Rothe seine theologische Um­

gebung weithin überragt, auch die Orthodoxie und Schleier­

macher miteingeschlossen.

Mit Thomas von Aquino hatten

auch unsere Orthodoxen unter dem Wunder einen Vorgang ver­

standen, der innerhalb der Natur auftritt, aber durch natürliche Kräfte nicht vermittelt ist.

Darin schien das Eingeständnis ge­

macht zu werden, daß die Religion in dem Wunder eine Wirk­ lichkeit behauptet, die der Eingliederung in ein rational faßbares

Weltbild widerstrebt.

Aber wie der große Scholastiker, so haben

auch unsere Orthodoxen sich voit dem Druck des Irrationalen

durch ein sehr einfaches Mittel zu befreien gewußt.

Sie behan­

delten die Wirklichkeit des lebendigen Gottes als eine beweisbare Tatsache, also als etwas Rationales.

Dann war es leicht, zu

argumentieren, daß Gott als die prima causa an die Mithilfe der causae secundae in seinem Tun nicht gebunden sei.

Da­

mit hat man die Vorstellung eines begreiflichen Wunders erreicht:

es ist aus dem Verhältnis Gottes zur Welt begreiflich geworden.

An diesem alten Bestandstück der christlichen Dogmatik hat man oft getadelt, daß dabei dem Theologen das Verständnis

für den unantastbaren Gedanken der Natur verloren gehen müsse. Darauf kommt auch Schleiermachers Kritik im ersten Bande der Glaubenslehre hinaus (vergl. § 47), obgleich auch hier, wie

so ost die glänzendsten Einsichten mit seinen Irrtümern ver-

Der Christ und das Wunder

bunden sind.

Aber wenn die Dogmatik mit ihrem Wunder­

gedanken in Konflikt

so

33

kommt

mit

dem Gedanken der Natur,

wäre das, falls in der Dogmatik die Religion zu Worte

kommen darf, durchaus kein Fehler.

Sondern ein Fehler, näm­

lich eine Unklarheit liegt gerade dann vor, wenn in der Dog­ matik mit dem Wundergedanken etwas angestellt wird, was darauf hinauskommt, seine Kollision mit dem Gedanken der Natur zu

verhüllen.

Denn von der Religion selbst ist ohne Zweifel der

Wundergedanke so gemeint, daß er aussprechen soll, die Natur sei nicht das Ganze der dem Menschen erfahrbaren Wirllichkeit.

Die Natur im Sinne der Naturwissenschaft bedeutet aber den

gesetzmäßigen Zusammenhang des nachweisbar Wirklichen über­ haupt.

Wer also aus der Religion heraus den Mut faßt, von

einer Erfahrung des Wunders zu reden, müßte sich auch einge­

stehen, daß er etwas als wirklich vorstellt, was mit den Erkennt­ nismitteln der Wissenschaft nicht erfaßt werden und zur Natur

nicht gehören kann.

Trotzdem wird aus verschiedenen Gründen

in Abrede gestellt, daß dieser Gedanke des Wunders, das der Fromme zu erfahren behauptet, dem Gedanken der Natur wider­ streite, der schließlich für jeden Menschen unabweisbar ist.

Schleiermacher und viele andere meinen, es sei sehr wohl

möglich, einen Vorgang als ein Wunder Gottes zu denken und

ihn zugleich als ein Glied in dem gesetzmäßigen Zusammenhang

der Natur zu denken.

Ich will nicht verschweigen, daß ich dieser

Auffassung früher auch gefolgt bin.

Jetzt rechne ich sie zu den

in der Dogmatik beliebten Mitteln, sich die Härte des religiösen

Gedankens zu verschleiern.

gung genötigt.

Dazu hat mich die folgende Erwä­

Sowie man sich vergegenwärttgt, daß der Fromme,

der von der Erfahrung eines Wunders redet, dieses Wunder sowohl wie seine eigene davon getroffene Existenz in die Natur

miteinrechnet, muß man auch einräumen, daß er von einem Bestandteil der Natur etwas aussagt, was dem Begriff der

Natur widerspricht.

Er denkt das nicht Gesetzmäßige als dem

gesetzmäßigen Zusammenhänge des Wirklichen angehörig, oder Herrmann, Offenbarung und Wunder.

3

Der Christ und das Wunder

34

vielmehr er sagt etwas, was überhaupt nicht gedacht werden Der Konflikt des Wunders mit dem Gedanken der Natur

kann.

wird vielen solange nicht bemerklich werden, als sie von Wun­

dern im allgemeinen reden. zwischen

Dagegen

muß der Widerspruch

beiden Gedanken jedem sofort fühlbar werden, sobald

er das Wunder als mit seiner eigenen Existenz verknüpft denkt.

Das hat aber Jesus seinen Jüngern zugemutet.

Er hat zwar

nie von ihnen verlangt, daß sie ihre Jüngerschaft darin betätigen sollten, von andern erzählte Wunder zu glauben, aber er hat

von ihnen crtocirtet, daß sie Wunder erleben und daß sie Wun­ der tun. Wunder sollen wir erleben in der Erhörung unserer Sitten.

Zum christlichen Glauben gehört nicht nur die Zuversicht, daß Gott uns erhört, sondern er ist selbst nichts anderes wie diese

Zuversicht.

Alles, was zu ihm gehören soll, muß sich als ein

Moment in diesem Vorgang des Gebetes und seiner Erhörung

verstehen lassen.

Die Erinnerung daran kann in der christlichen

Gemeinde wie ein eiserner Besen wirken, der aus dem Heiligtum hinausfegt, was nicht die Art der Religion, sondern des Ge­ schäfts hat.

Dann freilich darf vor allem das seiner Erhörung

gewisse Gebet des Christen selbst nicht die Art des Geschäfts tragen. Trotz aller irdischen Ängste muß es ein Suchen Gottes sein.

Aber ist es das in Wahrheit, so sucht in ihnen der Mensch

mit allen Nöten, die sein Dasein mit der Natur verflechten, die

Rettung in dem Zutrauen, daß Gott ihn hört.

Gebet

Dieses rechte

liegt nun bereits ohne Worte in dem Glauben, daß

Gottes Güte und Weisheit in unseren Lebensführungen wirkt. Aber wenn ein Christ" der Erhörung seines Gebetes gewiß wird,

so wird in diesem Erlebnis der Gedanke der Natur aufgelöst,

in dem er sich sonst bewegt.

Jedem Menschen also, der von

dem auf ihn wirkenden Gott redet, können wir zumuten, daß er Ereignisse als wirklich anerkennen wird, die für ihn supra

et contra naturam sind.

Denn so

wird ein Mensch alles

nennen müssen, was er in dem Bereich der Natur für wirklich

Der Christ und das Wunder

35

hält, aber doch nicht in dem Zusammenhang der Dinge begründet

denken oder aus der Gesetzmäßigkeit des Geschehens verstehen Ohne Zweifel stehen wir so zu jedem Ereignis, worin

will. sich

uns das Wirken

Gottes

auf uns selbst enthüllt.

Wir

wollen dabei einen Vorgang, der als in Raum und Zeit sich

vollziehend der Natur angehört, doch nicht der Natur angehörig

nennen.

Die alte Theologie hat daher, sofern sie das mit der

Formel supra et contra naturam sagen wollte, eine erfreuliche

Aufrichtigkeit bewiesen.

Die moderne Theologie dagegen, die

dieser Formel ausweichen

will, bringt sich in den Verdacht,

daß sie nicht merken lassen möchte, was sie für wirklich hält. Wunder, die in solcher Weise tatsächlich

für uns supra et

contra naturam sind, sehen wir, falls wir an Gott glauben können, in unserer Vergangenheit.

Denn wir haben dann ohne

Zweifel Ereignisse vor Augen, in denen Gott sich uns offen­

barte und uns dadurch einen neuen Lebensanfang gab.

Darin

sehen wir also eine Wirklichkeit, die uns in dem Geschehen ver­ sagt blieb, das wir durch den Gedanken der Natur geistig be­ wältigen sollen.

Und solche Wunder sehen wir auch in unserer

Zukunft Heraufziehen.

Denn wenn wir auf Gott vertrauen, so

erwarten wir in dem, was geschehen wird, nicht bloß ein Weiter­ wirken dessen, in das wir uns ergeben müssen.

Wir sind dann

vielmehr davon überzeugt, daß Gott uns neue Wege in die

Zukunft öffnet, und hören seinen Zukunft zu gestalten.

Ruf, uns selbst eine neue

Wer also an Gott glaubt, ist in der

Regung seines Glaubens davon überzeugt, daß er Dinge er­ lebt und Dinge vollbringen kann, die durch die Natur nicht möglich sind.

Diese Denkweise geht aus der Gewißheit hervor,

daß Gott sich uns offenbart.

Sie aufgeben, heißt also, die Re­

ligion aufgeben.

Es ist daher eine Lebensfrage für die Religion, ob sie diese

Unterscheidung des Wunders von dem als natürlich verstandenen Geschehen behaupten kann.

Weise.

Sie kann es aber nur auf eine

Der Fromme muß die Kraft dazu immer von Neuem 3*

Der Christ und da- Wunder

36

auS der Wirklichkeit gewinnen, die ihm zur Offenbarung des auf ihn wirkenden Gottes wird.

Und das hat nun freilich die alte

Theologie sich noch nicht klar gemacht.

Sie hat gemeint, die

Vorstellung des Wunders, in der die erwachende Religion sich aussprechen will, durch eine Theorie sichern zu können.

nicht möglich.

Das ist

Die Scholastiker haben auch ebenso, wie vor

ihnen Augustin und nach ihnen unsere Orthodoxie, die Natur als etwas ihnen Gegebenes angesehen, während wir darin eine

Aufgabe sehen, an der unser Denken beständig arbeitet.

Sollen

wir es zu einer Erfahrung nachweisbarer Dinge bringen, so

müssen wir alles, was uns zur Empfindung kommt, durch den Gedanken der Gesetzmäßigkeit zu verknüpfen suchen, so daß daraus der Zusammenhang entsteht, den wir Natur nennen.

Die alte

Theologie brauchte sich darum noch nicht zu kümmern.

In

unserer Zeit dagegen verliert die Theologie die Fühlung mit den

geistigen Bedürfnissen der Menschen, wenn sie auf den so ge­

faßten Gedanken der Natur keine Rücksicht nimmt.

Es ist ver­

geblich, sich seiner Wucht durch die Bemerkung entziehen zu wollen, daß ja die Naturgesetze keineswegs wie ein unveränder­ liches Schicksal auf dem Geschehen lasten.

Die Naturgesetze, die

aus der Erfahrung gewonnen werden, sind freilich immer re­

visionsbedürftig, denn die Erfahrung selbst ist niemals fertig. Aber das Naturgesetz oder der Gedanke des gesetzmäßigen Zu­ sammenhangs der Natur selbst, ist allerdings unserm Denken als

die ewige Voraussetzung aller Erfahrung in Raum und Zeit

klar geworden.

Das beweist das Vorhandensein der Wissenschaft

und unsere innere Verbindung mit ihr.

Keiner von uns wagt

sie zu verleugnen.

Der Christ selbst gebraucht notwendig diesen Gedanken der Natur, auch ohne daß er es weiß; denn alle unsere Arbeit ist

von der Voraussetzung getragen, daß die Dinge, die wir be­

nutzen, in eine von unserm Denken beständig gesuchte, unver­

brüchliche Ordnung gefaßt sind. keine Wunder.

In Geschäften statuiert man

Der einfache Entschluß zur Arbeit schließt den

Der Christ und das Wunder

37

Gedanken ein, daß die Dinge, an denen wir arbeiten wollen, in ihrem Entstehen und Wirken einer Gesetzmäßigkeit gehorchen, deren unser Denken sich bemächtigen kann. Wir können aber nicht leugnen,

daß wir diesen Gedanken in dem Moment nicht mehr anwenden, wo der Glaube in uns auflebt, daß die von liebevoller Fürsorge erfüllte Macht Gottes uns die Wirllichkeit schafft, in der wir leben und wirken.

Beide Gedanken, den leitenden Gedanken

unserer Arbeit und den leitenden Gedanken unseres Glaubens, können wir nicht in einen zusammenfassen, so daß der eine durch

den andern sich fortsetzte.

Sondern indem der eine von beiden

in uns mächtig wird, tritt der andere zeitweilig zurück, um sofort wieder in alter Kraft sich zu melden, wenn für ihn der Moment

gekommen ist, der ihm gehört.

Dem Gedanken der Natur ge­

hört der Moment der Arbeit oder der Hingabe an die Sache.

Dem Gedanken der göttlichen Fürsorge gehört der Moment der inneren Sammlung, in dem wir uns selbst von allen Objekten

unterscheiden und ein eigenes Leben gewinnen wollen.

Etwas

anderes als dieser Wechsel der Betrachtungsweise und der sie

leitenden Gedanken ist uns Menschen nicht möglich, falls wir nicht das eine von beiden aufgeben und damit entweder aus der

Welt der Religion oder aus der Welt der Arbeit ausscheiden wollen.

Im christlichen Leben bildet diese Notwendigkeit, zwischen dem Gedanken der göttlichen Fürsorge und dem Gedanken der

Natur oder des gesetzmäßigen Zusammenhangs des Geschehens

abzuwechseln, eine Quelle seiner Energie.

Sie erzeugt die innere

Spannung, oder das Irrationale, ohne das wir uns das Lebendige

überhaupt nicht vorstellen können.

Das Leben, das wir begriffen

zu haben meinen, ist für uns erloschen. Dagegen ist ein Geschehen, das wir noch nicht aus dem gesetzmäßigen Zusammenhang mit

seiner Umgebung verstanden haben, für uns noch nicht Arbeits­

mittel geworden.

Der Gegensatz der beiden Betrachtungsweisen

wird uns erleichtert, weil uns vollkommen deutlich ist, wie ein

kräftig reges Lebensgefühl die Arbeit beflügelt, und wie auf der

Der Christ und daS Wunder

38

andern Seite in der füllen Hingabe an die Sache oder in der

Arbeit unser Lebcnsgefühl genährt wird.

Die Lebensgedanken

und die Arbeitsgedanken lassen sich nicht zu einem gleichartigen Gedankengebilde in einem Systen verflechten.

Aber die Behaup­

tung eines eigenen Lebens und die Arbeit, in der wir die durch­

gängige Gesetzmäßigkeit alles Geschehens voraussetzen, sind aller­ dings

im Menschen miteinander verknüpft, solange er geistig

gesund ist

und nicht entweder in dem Eifer einer unklaren

Religion oder in dem Eifer einer ihre Schranken verkennenden Wissenschaft, die Pflicht des Menschen, sich auf sich selbst zu

besinnen, vergißt. Sich über jenen Charakter unseres eigenen Lebens hinweg­

zusetzen, ist nun aber die philosophischen

Systematik.

alte Unart der

Das

können

theologischen und

wir

uns

an

der

Stellung illustrieren, die zwei so verschieden gerichtete Denker, wie Stange und Schleiermacher, zum Wunder einnehmen.

Stange meint, eine Kollision finde zwischen dem christlichen Wundergedanken und dem Gedanken der Natur deshalb nicht

statt, weil dem Christen Gott als der absolut Lebendige, oder als die wirkende Macht in allem Wirklichen gewiß ist.

Der Christ

kenne daher keine Natur, die das Wunder ausschlösse, in seinem Glauben an Gott sei der Gedanke einer solchen Natur vertilgt.

Das erweist sich in zwei Richtungen als ein Irrtum.

Erstens

ist dem Glauben der Gedanke der Wirklichkeit Gottes kein Axiom.

Das ist er dem Fanatismus, der das Herz verhärtet, aber nicht dem Glauben, in dem die Seele lebendig wird.

Damit ist na­

türlich nicht etwa gesagt, daß dem Glauben der Gottesgedanke eine Hypothese sei.

Er gehört aber zu dem Lebenskampf, der

in uns beginnt, wenn wir zum Glauben erweckt werden.

Er

muß daher immer wieder gewonnen werden, indem wir in der uns gegebenen Wirklichkeit das Wunder aufleuchten sehen und uns zu Herzen nehmen.

Daß Stange das übersieht, hängt damit zusammen, daß er das Wunder nur als ein Kind des Glaubens kennt, und

Der Christ und das Wunder

39

deshalb sich für berechtigt hält, den alten Gedanken, daß das

Erleben

des

Wunders

der Schöpfungsmoment des Glaubens

ist, dem Heidentum zu überweisen.

Wer ihm darin zustimmen

will (die sogenannte positive Presse hat offenbar daran keinen Anstoß genommen), setzt sich mit einer Überzeugung in Wider­ spruch, die keine theologische Theorie aus dem Leben der Re­

ligion

vertilgen wird.

Denn

das Selbstbewußtsein

der Re­

ligion gegenüber aller andern praktischen Zuversicht spricht sich eben

darin

aus, daß

sie

ihre

Erkenntnis

des Wunders begründet findet. sich

in

der

Tatsache

Das Wunder aber, in dem

uns Gott offenbart, durch das also uns die Wirklichkeit

selbst ein Lebendiges wird, tritt offenbar für unser Bewußtsein

in einen Gegensatz zu der Gesetzmäßigkeit des Geschehens, die,

soweit wir sie herrschen sehen, den Eindruck des Lebens uns hin­ wegnimmt.

Sind

wir

genötigt,

den

gegenwärtigen Moment

unseres Lebens als mit seiner zeitlichen und räumlichen Um­

gebung verknüpft vorzustellen, und sehen wir zugleich, daß der so entstehende gesetzmäßige Zusammenhang des Geschehens sich

für unser Bewußtsein ins Grenzenlose ausbreitet, so enthüllt sich uns eine Tatsache,

die

es uns unmöglich macht,

diese selbe

Wirklichkeit als eine Macht zu denken, die auf die wechselnden Bedürfnisse unseres eigenen Lebens Rücksicht nimmt.

Zweitens wäre der Konflikt zwischen der religiösen Zuversicht

und dem Gedanken der Natur freilich aufgehoben, wenn es mög­ lich wäre, diesen Gedanken so beiseite zu schieben, wie Stange

cs darstellt.

Er meint nämlich, der als endlos vorgestellte gesetz­

mäßige Zusammenhang des Geschehens sei nichts anderes als der

Ausdruck einer „modernen Weltanschauung", in der die Gottvcrlassenheit, die für das Heidentum an einzelnen Punkten bestehe, über das Ganze des Wirklichen ausgebreitet werde.

Ich denke

aber, damit erweist er den Christen einen schlechten Dienst.

Sie

hören es natürlich gern, daß ein Gedanke, der sie so schwer

bedrängt, als ein Wiedererwachen anzusehen sei.

heidnischer Weltanschauung

Dann hätte er ja nicht die Gewalt einer allgemein

40

Der Christ und daS Wunder

gültigen Erkenntnis, sondern wäre der Ausdruck einer persön­ lichen Überzeugung, die obenein der Christ als eine minderwertige Religion geringschätzen dürfe.

Stange verleitet zu dieser Auf­

fassung, die doch dem Christen nur eine kurze Erleichterung ver­

schaffen kann.

Denn wenn er eine Weile mit Stange über

moderne Weltanschauung und Weltbeurteilung gescholten und

den Vorzug der biblischen Religion gegenüber der heidnischen Auffassung gerühmt hat, muß er ja doch bemerken, daß es sich

bei dem Gedanken der Natur gar nicht um so großartige Dinge wie Weltanschauung und Weltbeurteilung handelt, sondern um

ein Erkenntnismittel, das er selbst beständig bei der Feststellung

des Wirklichen gebraucht, an dem er arbeiten will.

Aber zugleich

bemerkt er, daß dem Gedanken der Natur in dieser bescheidenen Rolle ein Vorzug zukommt, den keine noch so erhabene Welt­

anschauung für sich in Anspruch

nehmen kann.

Er hat die

Festigkeit und zwingende Kraft des Allgemeingültigen, denn ohne ihn kann man sich zwar alle möglichen Dinge als wirllich vor­ stellen, aber man kann ohne ihn kein einziges Ding als wirklich

nachweisen.

Dann sieht der Christ aber auch ein, daß der theo­

logische Versuch, der seine religiöse Zuversicht gegen den Ge­

danken der Natur zu schützen schien, daS nur erreichen konnte,

weil er der Gewalt, mit der der Glaube in ewigem Streit liegt, ihre Klarheit und Schärfe nahm.

Aber eine Theologie, deren

Bemühungen schließlich diesen Eindruck hinterlassen, erschüttert

den Glauben, den sie zu schützen vorgab. Zur Entschuldigung dient solchen und ähnlichen Versuchen wie auch dem von Beth (in der Schrift „Das Wunder, prinzipielle

Erörterung des Problems" 1908 S. 24 ff.) die Fehler, die auf

anderer Seite gemacht werden.

Ihnen steht nämlich gegenüber

der Versuch der viel bewunderten Spekulation Schleiermachers, die das Wirken Gottes grade als durch das gesetzmäßige Ge­

schehen vermittelt begreifen will. Er meint, der Christ brauche

nicht daran zu denken, daß das Wirken Gottes, auf das er

vettraut,

jemals aus dem

gesetzmäßigen Zusammenhang

des

Der Christ und daS Wunder

41

Geschehens heraustreten werde. Bei dieser Auffassung wird aller­ dings der wirkliche Inhalt der religiösen Zuversicht nicht deutlich

ausgesprochen. Glauben wir, daß Gott uns hört und uns aus unserer Not rettet, so sehen wir in dieser Fürsorge für den um sein Leben kämpfenden Menschen ohne Zweifel eine andere Macht als die Natur, die uns in hoffnungsloser Finsternis läßt. Die

Zuversicht, daß Gott ihm hilft, kann der Glaube nicht anders aussprechen, als in der Vorstellung, daß um seinetwillen ein

Wirken Gottes stattfindet, das wir von dem gesetzmäßigen Ge­ schehen der Natur unterscheiden.

Diese Vorstellung aber meinen

wir, wenn wir vom Wunder sprechen.

Ich wüßte nicht, warum

wir nicht, um das auszudrücken, die Worte Rothes gebrauchen sollten (Zur Dogmatik, 2. Ausl. 1869, S. 107): „Wenn Gott Wunder tut, so will er damit sagen, daß einer da ist, der kann,

was die geschöpfliche Natur, was überhaupt die Natur nicht kann; er tut im Wunder etwas über den Naturprozeß und die

Naturgesetze hinaus."

Damit wären wir aber wieder bei der

alten Vorstellung angclangt, daß das Wunder als ein supra­

naturales Geschehen innerhalb der Natur anzusehen sei. Das ist aber auch unvermeidlich, solange uns der Name Gottes die auf uns wirkende geistige Macht über alles bezeichnet, die unsere Zu­

flucht ist. Aber im Unterschied von der alten Dogmatik gestehen wir uns ein, daß wir in der Vorstellung eines Vorgangs, der inner­ halb der Natur erscheinen, aber ihrer Gesetzmäßigkeit entnommen

sein soll, logisch Unvereinbares verknüpfen.

Wir gebrauchen diese

Worte nur deshalb, weil wir kein anderes Mittel haben, um unser Vertrauen zu der Macht und Güte Gottes auszusprechen. Wir müssen also darauf gefaßt sein, daß ein anderer, der dieses

Vertrauen nicht kennt, in allem, was wir vom Wunder zu sagen wissen, nur leere Worte hört. Wir müssen uns sogar darüber freuen, wenn er ohne solche Zuversicht zu der rettenden Macht

Gottes so hart vom Wunder und damit von der Religion selbst urteilt.

Denn wenn

er den Wundergedanken

sich

aneignen

wollte, ohne daß in ihm lebendige Religion ihn dazu berechtigte.

Der Christ und da- Wunder

42

so würde er an seinem Wunderglauben nichts weiter haben als eine Trübung seines Bewußtseins von der wirklichen Welt. Damit stehen wir aber wieder vor einer Erkenntnis, die für die alte Theologie, auch für R. Rothe noch unerreichbar war,

während Schleiermacher sie als Schüler Kants gewonnen hatte.

Niemand glaubt in religiösem Sinne an Wunder, weil

sie ihm bewiesen wären.

Was uns bewiesen würde, hat eben

damit aufgehört, für uns ein Wunder zu sein.

Sobald etwas

in sinnlich faßlicher Wirklichkeit vor uns steht, ist es für uns ohne Zweifel ein Naturvorgang geworden.

Ein Wunder ist uns

nur das, was keinem bewiesen werden kann.

Und auch das

geben wir unumwunden zu, daß die bloße Vorstellung eines Wunders einen logischen Widerspruch enthält, also nicht einmal

zu einem klaren Gedanken entwickelt werden kann.

Denn einen

in der Natur sich vollziehenden und doch der Gesetzmäßigkeit der Natur entnommenen Vorgang sich vorstellen, bedeutet ohne Zweifel, logisch widersprechende Vorstellungen in einem Wort ver­

binden wollen.

Trotz dieses logischen Widerspruches halten wir

das Wort „Wunder" fest, und trotz ihrer Unbeweisbarkeit halten wir

Wunder für wirklich.

Aber dabei handelt es sich um Tatsachen,

für die wir keines Beweises bedürfen, weil wir selbst sie erleben.

Und bei dem Worte „Wunder" stört uns der logische Widerspruch, den wir damit auf uns nehmen, nicht; denn er dient uns grade dazu, uns das Erlebnis zu bezeichnen, daß der lebendige Gott sich uns offenbart und uns selbst dadurch lebendig macht, daß er

uns mit sich verbindet.

Damit stehen wir nun aber an dem Punkte, an dem wir uns von der alten theologischen Auffassung scheiden, oder eigent­

lich nur zum Ausdruck bringen, daß wir tatsächlich durch eine tiefe Veränderung unserer geistigen Lage von ihr geschieden sind.

Den alten Wundergedanken halten wir fest.

Denn er ist mit

seiner Betonung des supra et contra naturam der zutreffende Ausdruck dessen, was die Religion

mit dem Wunder meint;

nämlich, daß Gott dem Menschen eine andere Wirklichkeit öffnet

Ter Christ und das Wunder als die Natur.

43

Wir bringen sogar diesen Gedanken der Religion

noch schärfer zum Ausdruck, weil uns die Milderung des Irratio­

nalen, die die Alten darin fanden, daß sie mit der Annahme

des Wunders dem Gedanken der Natur seine Geltung verkürzten, nicht möglich ist.

Wir wissen, daß wir die nachweisbare Wirk­

lichkeit als Natur denken müssen.

Sobald also Vorgänge, von

denen ein in diesem Bereiche stehendes Wesen redet, ihm doch eine von der Natur unterschiedene Wirklichkeit eröffnen sollen, wie der

Wunderglaube der Religion tatsächlich behauptet, so meint man damit etwas zu erleben, was dem notwendig festgehaltcnen Begriff

der Natur, als des grenzenlosen Zusammenhanges der nachweis­ baren Wirklichkeit widerstreitet. Aber trotz dieser schärferen Ausprägung des alten Wunder­

begriffes dürfen wir uns nicht verbergen, daß wir von den Alten in einem anderen ihnen überaus wichtigen Punkt tief geschieden sind.

Das betrifft unsere Stellung zu den wunderbaren Ereignissen, von denen uns die Überlieferung berichtet. Die Zustimmung zu solchen Berichten ist den Frommen der alten Zeit einfach selbst­

verständlich.

Sie zu verweigern, bedeutete ihnen Ausschluß aus

der Welt der Religion.

Von den Tagen des Apostels an ist

es in der christlichen Kirche immer wieder gesagt: das so Be­

richtete müßt ihr annehmen, sonst ist euer Heil bedroht. es

handelt sich bei

Denn

diesen wunderbaren Tatsachen der Heils­

geschichte um Dinge, die geschehen sein müssen, wenn Jesus Christus unser Erlöser sein soll.

So wird es seit 1. Kor. 15

in der christlichen Kirche tausendfach wiederholt.

Aber wir stehen

offenbar in dieser-Beziehung an einem Wendepunkte.

Das er­

zählte Wunder hat für uns nicht mehr die Bedeutung, die es

für die Christen der alten Zeit gehabt hat und haben konnte. Ich würde davon hier nicht sprechen, wenn es sich etwa um Be­

denken handelte, von denen sich der geschulte Historiker zwar bedrängt fühlt, die aber die christliche Gemeinde der Gegenwart

im ganzen doch nichts angehen.

Es ist aber anders, gerade bei

Christen, die von historischer Kritik ganz unberührt sind, kann

44

Der Christ und daS Wunder

man beobachten, wie sie an den biblischen Wundern keineswegs

eine Hilfe, sondern eine Last oder wenigstens einen Gegenstand der Sorge haben.

Das ist, wie mir scheint, nicht durchaus zu

beklagen, denn es ist eine Folge von religiösen Bedürfnissen, die in der Reformation erwacht

sind.

Trotzdem ist eS für die

Theologie, die dem Leben der Kirche dienen will, eine sehr ernste Frage, wie sie den Christen der Gegenwart wieder dazu helfen kann, daß sie an diesen Erzählungen der H. Schrift sich nicht mehr scheu vorbeizudrücken brauchen, sondern sich daran freuen.

Auch diejenigen, die nicht bloß den Gedanken des Wunders

vertreten, sondern auch viele der wunderbarsten Berichte der Bibel als wirkliche Ereignisse behandeln wollen, empfinden die Änderung unserer geistigen Lage in dieser Beziehung. Als Zeug­

nis dafür benutze ich zuerst das Geständnis, mit dem R. Rothe

seine energische Verteidigung

des Wundergedankens abschließt.

Er sagt (S. 109): „Das Bisherige zeigt, daß ich die Bedeutung

des Wunders stark betone; aber ich möchte nicht mißverstanden

werden mit dieser Betonung.

Sie ist keineswegs im Sinne der

älteren Apologetik gemeint, sie gilt dem Wunder in seiner Be­

ziehung nicht zu den nachgeborenen Geschlechtern, die sich bereits im geschichtlichen Besitz der Offenbarung befinden, sondern zur

Offenbarung selbst in ihrem Geschehen; sie besteht darauf, daß anders als durch Wunder kann.

eine Offenbarung

nicht

geschehen

Die apologetische Bedeutung des Wunders stelle ich ganz

in den Hintergrund zurück.

geringer Wirksamkeit.

In unsern Tagen ist sie von gar

Wo die Offenbarung bereits in Kraft

steht, wo, was die Wunder geredet haben, bereits in das Gemein­ bewußtsein eines Gemeinschaftskreises als Überzeugung einge­

gangen und hineingewachsen ist, da ist es von untergeordneter Wichtigkeit, wie man in ihm vom Wunder urteilt.

Man wird

zwar auch hier die Offenbarung nicht vollständig verstehen und genießen können, wofern man nicht auch den wunderbaren Tat­

sachen gerecht wird, welche sie primitiv konstituieren; indes dies

für sich allein tut doch die Sache noch nicht, und es kann dabei

Der Christ und da- Wunder

45

leicht an anderen Stücken fehlen, die in dieser Hinsicht weit

erheblicher sind.

Dem gedankenlosen Wunderglauben namentlich

will ich wahrlich nicht das Wort geredet haben, der sich ein­

bildet, das Geltenlassen des Wunders überhcbe uns der gewissen­ haften scharfen Untersuchung des sich als wunderbar gebenden Tatbestandes in seinem konkreten Detail.

Davon weiß meine

Seele nichts, daß ich diejenigen, welche geschichtlich bereits im Besitz der Offenbarung stehen, drängen wollte, ihren wunderbaren

Ursprung anzunehmen, und daß ich von dieser Annahme mein Vertrauen zu ihrer Gläubigkeit abhängig machen sollte.

Es ist

schon etwas Großes, wenn solchen nur das Licht der Offenbarung

scheint, wenn die christlichen Ideen ihnen aufgegangen sind; und die Hauptsache ist, daß sie im Scheine dieser Sonne ihren Weg

im Leben gehen.

Stoßen sie sich dabei an die Wunder, so sage

ich ihnen: Freunde, aufbringen will ich euch den Wunderglauben

nicht, beneficia non obtruduntur.

in die

ihr euch

Könnt

Wunder nicht finden, nun wohl, so stellt sie beiseite.

Ihr mögt

dann selbst zusehen, wie ihr ohne sie mit der Geschichte fertig werdet, wie ihr ohne sie eine pragmatische Erklärung der als

tatsächlich feststehenden Geschichtserfolge zustande bringt, für die

wir andern in den Wundern den Schlüssel besitzen.

Ich für

meine Person nehme ja die Wunder nicht etwa aus dogmatischer Kupidität an, sondern im historischen Interesse, deshalb, weil ich

bei gewissen unzweifelhaften Geschichtstatsachen ihrer als histo­ rischer Erklärungsgründe nicht entbehren kann, — nicht weil sie mir die Geschichte durchlöchern, sondern gerade um über die klaffenden Risse in ihr hinüberzukommen.

ungeachtet meines dezidierten

Deshalb stimme ich

Wunderglaubens

doch auftichtig

in die Warnung ein, daß man das Geschlecht unserer Tage doch ja nicht dem christlichen

Glauben vollends

entftemden

wolle

durch die Anmutung der Anerkennung der biblischen Wunder."

An dieser Ausführung fällt gewiß uns allen auf, wie stark damals noch bei einem der einflußreichsten Theologen die Hegelschen Gedanken sich bemerklich machen konnten.

Rothe konnte

Der Christ und daS Wunder

46

meinen, daß der Glaube an Wunder überhaupt gar nicht direkt

zu christlicher Frömmigkeit gehöre, weil für diese der Besitz der christlichen Ideen ausreiche.

Daß die Glaubenszuversicht eines

Christen, ohne die die Wahrheit der christlichen Ideen niemandem faßbar werden kann, in der Erfahrung des Wunders wurzele,

fällt ihm hierbei nicht ein.

Das Wunder scheint ihm erst un­

entbehrlich zu werden für den Theologen, der für tatsächlich

vorliegende fragt.

geschichtliche

Erscheinungen

nach

einer

Erklärung

Ich würde das nun gerade nicht Wunderglauben nennen,

sondern wunderliche Spekulation und ein seltsames Verkennen

der Tatsache, daß alle nachgewiesene Wirklichkeit für uns Natur

ist.

Mer viel wichtiger ist für uns das Eingeständnis eines

solchen entschlossenen Vertreters des Wundergedankens, daß die

Anerkennung erzählter Wunder als tatsächlicher Ereignisse von den meisten seiner Zeitgenossen

nicht verlangt werden könne.

Wenn das vor 50 Jahren einer der stärksten Verteidiger des Wunders, die es je gegeben hat, in Deutschland schreiben konnte, wie seltsam mutet uns dann die kirchliche Praxis an, es für

selbstverständlich auszugeben, daß die Zustimmung zu solchen Berichten eine elementare Voraussetzung für die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde sei.

Das ist um so erstaunlicher, als uns aus der Gegenwart

dasselbe von andern Theologen, die in dieser Beziehung eine ähnliche Stellung wie Rothe einnehmen, reichlich bezeugt wird. Ich könnte mich auch auf Stange berufen, will aber einen

anderen Theologen nennen, der sich in seiner geistigen Art nicht wenig von Stange unterscheidet.

Seine Worte lauten so: „Ist

wirklich die naiv gläubige Anschauung früherer Zeiten, die alle Wunder en bloc annahm, unhaltbar geworden?

Darauf muß

uns mit Ja geantwortet werden, und dieses Ja bringt nicht nur die Ansicht einzelner Theologenschulen zum Ausdruck, sondern

es ist Gesamtanschauung aller ernst zu nehmenden theologischen

Richtungen der Gegenwart.

Seit zwei Menschenaltern hat sich

die Auffassung von der biblischen Geschichte erheblich verschoben.

Der Christ und das Wunder

Das ist durch verschiedene Gründe bedingt.

47

Erstens ist der

Glaube an die Inspiration der einzelnen Wörter der biblischen

Bücher gefallen.

Das bedeutet aber, daß man zwar im Glauben

des religiösen Inhalts der Schrift gewiß werden kann, daß aber

die Berichte der Bibel über Naturereignisse oder historische Ge­ schehnisse nicht als von Gott inspiriert zu beurteilen sind, sondern

daß sie auf eigener Anschauung der Autoren oder auf Tradition beruhen.

Ein großer Unterschied zwischen einst und jetzt wird

durch diesen Fortschritt der Wissenschaft bezeichnet.

Aber nicht

nur das Schwinden der Jnspirationslehre ist es, was freieren Anschauungen ganz allgemein den Weg gebahnt hat. Es kommen auch starke positive Momente in betracht. die Methode der Literaturgeschichte hin.

Wir wiesen schon auf Sie führt

zu

dem

sicheren Resultat, daß wir unter den Berichten scharfe Unter­

schiede zu machen haben, je nachdem, ob sie erste oder spätere

Quellen repräsentieren, oder ob dieser oder jener Bestandteil in ihnen aus einer alten Quelle herrührt oder von einem Über­ arbeiter hergcstellt ist.

Ebenso kann kein Zweifel darüber be­

stehen, daß wir tendenziöse und tendenziöse Erzähler haben. Das sind einfache Dinge, die jedermann vor Augen hat, und die

grade wegen ihrer Einfachheit jedem anschaulich machen, wie unendlich kompliziert die Frage nach der geschichtlichen Wirklich­ keit der biblischen Erzählungen ist.

Demgegenüber die Augen

zuzuhalten, oder frischweg irgendeine apologetische „Lösung" zu

akzeptieren, das wäre freilich ein Verzicht auf den Wahrheitssinn, der uns Protestanten unmöglich ist.

Noch eins spricht hier mit.

Das Weltbild der biblischen Männer war notorisch ein anderes als das unsrige.

Es war das Weltbild des alten Orients.

Bon

dem Weltzusammenhang und den Weltgesetzen besaß man nicht die exakten Vorstellungen unserer Tage.

Die Erde war das

Zentrum der Welt, alles drehte sich um sie, Gott griff in den

Zusammenhang ein, durch kein festes Gesetz behindert.

es leicht, an Wunder zu glauben.

Da war

Jeder empfindet unmittelbar,

wie ungeheuer tief der Abstand ist, der uns von dieser naiven

Der Christ und da« Wunder

48

Weltanschauung des antiken Menschen trennt.

Die Wucht dieser

Gründe empfinden wir alle." Sie werden freilich sagen, daß diese Worte nicht schwer

wiegen können, denn sie rühren offenbar von einem Theologen

her, der selbst vor den herrschenden kirchlichen Autoritäten nicht schwer wiegen wird.

Der Unsicherheit, die er über die h. Schrift

auszugießen wagt, wird man entgegcnhalten: „Herr, wenn dein

Wort nicht soll gelten, worauf soll der Glaube ruhn?"

Und

wenn wir uns selbst neben solchen Richtern nennen dürfen, so

steigen auch vielleicht uns Zweifel zwar nicht an den geäußerten historischen Einsichten auf, wohl aber daran, ob diese Einsichten gegenwärtig schon so verbreitet sind, wie es in jenen Worten

vorausgesetzt wird.

Aber der Verfaffer der obigen Ausführungen

ist R. Seeberg (Neue Kirchliche Zeitschrift 1908, S. 414—16).

Es kann daher wohl als sicher gelten, daß diese Worte an den meisten Stellen, wo die öffentliche Meinung der kirchlich

interessierten Kreise

in Deutschland mit

wenigen Ausnahmen

hergestellt zu werden pflegt, auf Beifall rechnen können.

also hier auch bereits

die

Sollte

von Rothe ausgesprochene Mei­

nung sich durchgesetzt haben, daß es unter den heutigen Ver­ hältnissen nicht mehr so leicht ist wie früher, an Wunder zu

glauben? Ich bin der Ansicht, daß es eine höchst bedenkliche Wendung wäre, wenn in solchen Worten sich die Meinung Seebergs und

die der jetzt in unfern Kirchen Herrschenden vollständig aus­ spräche.

Das würde doch heißen, daß durch historische Forschung

das Gebiet des möglichen Wunderglaubens eingeschränkt werde.

Gehört aber der Wunderglaube, wie wir alle meinen, zum Leben der christlichen Religion, so würde doch das Ergebnis von See­ berg bedeuten, daß die Wissenschaft in das Lebendige der Reli­ gion schneiden und das beseitigen kann, was ihren Gesetzen wider­

streitet.

Diese Meinung dürfen wir aber nicht auflommen lassen,

denn die Religion, die sich solcher Eingriffe in ihr eigenes Leben

nicht erwehren könnte, hätte sicher nicht die Kraft, uns selbst

49

Der Christ und daS Wunder

aus unsern Nöten zu retten.

Wir müssen in dem Erwachen

unseres Glaubens die Wirklichkeit von Wundern vor Augen

haben, die uns keine Wissenschaft in Frage stellen kann.

Deshalb dürfen wir uns daran freuen, daß Seeberg so­ wohl wie Stange bemüht sind, dem Christen zu zeigen, wie er in seinem Glauben die Anschauung von Wundern gewinnt, die

keine Wandelung wissenschaftlicher Ergebnisse ihm antasten kann, die also etwas anderes sein müssen, als die Dinge, deren Auf­

fassung als wirkliche Tatsachen dem Urteil der Wissenschaft unter­ liegt. Es kommt beiden darauf an, die Vorstellung von Wundern

nicht etwa historisch zu rechtfertigen.

damit nichts entschieden wird.

Sie erklären

beide, daß

Sie wollen auch nicht durch eine

philosophisch genannte Spekulation das Wunder überhaupt ra­ tional machen und dadurch in das Denken des modernen Menschen hinüberrettcn.

Sie wollen einfach die Vorstellung des Wunders

als ein unveräußerliches Element der Religion erweisen.

ist in der Tat der einzige Weg,

das

Das

evangelische Christen­

tum aus der schimpflichen Verwirrung herauszuführen, in der Menschen, die nicht sagen können, was Glaube ist, es wagen dürfen, der Gemeinde ihren Weg zu weisen.

Die Tendenz, die

die beiden Theologen verfolgen, ist dieselbe, aber sie suchen das Ziel mit verschiedenen Mitteln zu erreichen.

Stange sieht natürlich die gänzliche Verkehrtheit des Ver­

suchs, „die naturgesetzliche Möglichkeit der einzelnen Wunder zu erklären und ein rein rationales Verständnis derselben zu ge­

winnen" tS. 12). Wundern.

Er redet dabei, wie Seeberg, von erzählten

Soll ein rationales Verständnis derselben ausge­

schlossen sein, so heißt das natürlich, daß unsere Vorstellung von ihrer Wirklichkeit von dem abhängt, was wir an ihnen,

sowie sie uns erzählt werden, erleben.

Denn eine Wirklichkeit,

die sich von der rein rational verstandenen unterscheidet, kann schlechterdings nichts anderes heißen als eine Wirklichkeit, die

uns durch eigenes Erleben oder als Bestandteil unseres eigenen Lebens feststeht.

Da allein haben wir etwas vor uns, was uns

Herrmann, Offenbarung und Wunder.

4

Der Christ und das Wunder

60

zweifellos wirklich ist, aber andern nicht als solches erwiesen werden, also nicht allgemeingültig oder rational sein kann. Wenn Stange also sagt, die Bedeutung der dem Glauben gewissen Wunder bestehe darin, daß sie in besonderer Weise geeignet sind, die allgemeine Überzeugung von der Wirklichkeit Gottes zu der konkreten Vorstellung von dem lebendigen Gott umzugestalten,

so meint er offenbar ihre Bedeutung als wirklicher Ereignisse. Diese haben sie nicht ohne weiteres dadurch, daß sie in der Über­

lieferung als erzählte Ereignisse austreten, wenn auch diese Über­ lieferung die biblische ist.

Stange ist ebenso wie Seeberg der

Meinung, daß die Möglichkeit, das in der Bibel Erzählte ohne weiteres als wirklich hinzunehmen, so stark im Schwinden ist, daß

man in der theologischen Erörterung auf die geistigen Bedürf­

nisse solcher Leute, die das noch können, keine Rücksicht zu nehmen

braucht.

Es kommt nach ihm darauf an, daß in dem erzählten Er­ eignis dem Christen eine neue Offenbarung des schöpferischen Willens Gottes entgegentritt.

Das Wunder spiele nach biblischer

Anschauung nur im Zusammenhang des heilsgeschichtlichen Wir­

kens Gottes eine Rolle.

Das kann doch aber nur jeder einzelne

von sich selbst wissen, ob bei ihm das erzählte Ereignis die Kraft

hat, zur „Herstellung der persönlichen Gemeinschaft zwischen Gott und dem Menschen" zu wirken.

Stange sagt daher auch, mit

dem Tatbestand des Wunders müsse immer zugleich die Wirkung berücksichtigt werden, die dasselbe im Zusammenhang des religiösen

Lebens hervorbringt (S. 14).

Wir sehen also, daß das, was

bei ihm über die Wirklichkeit des erzählten Wunders entscheidet,

nicht ein objektiver Maßstab ist, sondern ein subjektiver, das

tatsächliche Erleben des Einzelnen.

Er erklärt denn auch ganz

richtig, die Ablehnung des Wundergedankens beruhe immer darauf,

daß man das Recht der religiösen Erfahrung nicht zugestehen wolle (S. 15).

Das Recht der religiösen Erfahrung besteht nun

bekanntlich nur für die, denen sie geschenkt ist.

Nur sofern ein

Mensch für sich selbst dessen gewiß wird, daß Gott sich ihm offen-

Der Christ und das Wunder

bart, wird er Wunder sehen können.

51

Das ist mein Standpunkt

in der Sache, den ich vor dreißig Jahren gegen den heftigen Wider­ spruch solcher Theologen, wie Luthardt vertreten habe. Jetzt kann

ich einem der besten Mitarbeiter an Luthardts Kirchenzeitung aus­ sprechen, daß ich dem Satz, mit dem er die Erörterung über das Wunder abschließt, zustimme. Stange schließt nämlich mit folgen­ den Worten: „In Wirklichkeit aber wird es sich doch immer so verhalten, daß der Glaube an die Wunder nicht auf dem Wege einer wissenschaftlichen Theorie hervorgebracht zu werden ver­

mag, daß vielmehr der Glaube an die Wunder nur aus der Anschauung

der einzelnen Ereignisse

entspringt

und daß er

immer nur in einem Herzen, welches willig ist, auf die Spuren des göttlichen Waltens zu achten, entspringen kann. Eine Theo­ logie aber, welche diese Regel grundsätzlich ignoriert und statt

dessen mit logischen Allgemeinheiten das Problem des Wunders zu lösen sucht, wird niemals imstande sein, den eigentümlichen Bedingungen der durch ihren Gegenstand geforderten Erkenntnis zu entsprechen."

Aber wenn ich in diesen Worten meine eigene

Auffassung ausgesprochen finden kann, so darf ich doch nicht

verschweigen, daß ich ein Zugeständnis darin vermisse, das für uns alle selbstverständlich sein sollte.

Die richtige Behandlung des Wundergedankens, die Stange

in jenen Worten fordert, können wir ja offenbar nur an Er­ eignissen durchführen, deren Tatsächlichkeit für uns außer allem Zweifel steht.

Als solche Ereignisse konnte man in den Zeiten

der Jnspirationslehre die Inhalte aller biblischen Berichte an­

sehen. Evangelische Christen unserer Zeit dagegen, — Stange und Seeberg mit eingeschlossen —, werden sich schließlich immer genötigt sehen, an dem Inhalt biblischer Berichte sich das deut­ lich zu machen, was ihnen auf andere Weise eine zweifellose Tat­ sache wird, nämlich als ein von ihm selbst erlebtes Ereignis.

Seeberg will noch eine dritte Möglichkeit kennen, wie man eine solche Stellung zu dem Inhalt biblischer Berichte gewinnen könne. Wie es damit sich verhält, wollen wir später sehen.

4*

Der Christ und daS Wunder

52

Stange hat sich leider über diesen wichtigen Punkt, soviel ich

sehen konnte, nicht ausgesprochen. In einer andern Beziehung vor allem bieten die Ausfüh­ rungen von Seeberg eine wertvolle Ergänzung dessen, wobei wir Stange stehen bleiben sehen. Stange redet, wie ich bereits hervorhob, ausschließlich von dem Wunder, daß sich dem bereits

erwachten Glauben enthüllt.

Es ist aber nötig, auch an das zu

denken, in dessen Erleben der Glaube erwacht. Daß See berg sich bemüht, das klarzustellen, müssen wir mit Freude begrüßen. Er will ganz richtig allen Glauben an Wunder zurückführen auf

das eine große Wunder unseres Lebens.

Daß wir uns dessen

bewußt werden, ist in der Tat die Hauptsache, nicht aber, wie wir einen Kompromiß mit einzelnen Erzählungen schließen, die

uns vielleicht in Wahrheit immer fremd bleiben sollen.

Wir

müssen also hören, wie Seeberg das Erleben des Wunders be­ schreibt, worin der Glaube selbst geschaffen wird. Seine Aus­ führung lautet so: „Wie ist es zu meinem Glauben gekommen? Ich hörte die Überlieferung der Kirche von einem uralten Ge­

schehen.

Es war eine Geschichte, die viele Begriffe in sich faßte,

und es war ein Komplex von Begriffen, von Urteilen, Gaben und Aufgaben, der auf das engste mit jener Geschichte zusammen­ hing. Es war ein Ganzes, das aus vielen Gliedern besteht. Es widerstrebte mir zunächst, denn es war etwas Fremdes, Altes.

Es erschien unlebendig und unwirklich, überspannt und

einseitig, es wollte nicht stimmen zu meiner natürlichen Lebens­ erfahrung.

Die Begriffe, die ich hatte, machten diese neue Welt

zu einem Phantasiebild, das nirgends das wirkliche Leben be­

rührte." „Dann ist es geschehen. Die Worte, die man mir sagte, wurden eine lebendige Kraft, und sie wurden zu einer Einheit. Nicht ich machte sie dazu, und kein Mensch tat es. Ich empfand

etwas ganz anderes. Der Wille Gottes in seiner Allmacht drang in mein Herz hinein. Der Komplex der Überlieferung

gewann Kraft und Einheit, indem er zum Mittel wurde des

Der Christ unb das Wunder

Hier ist Gott und nur hier, denn hier wirkt

wirksamen Gottes.

Gott unterwirft mich durch seine

er unmittelbar und direkt.

Nicht die Wahrheit und

Offenbarung.

53

Angemessenheit dieser

Gedanken tut es, sondern sie werden wahr und mir angemessen, weil Gott in ihnen wirkt.

Und nicht meine Erwägungen führen

mich zur Unterwerfung, sondern ich bin unterworfen, ich weiß

nicht wie, und

alle Erwägungen

sind nur eine Folge dieser

Kein Beweis führt mich zu Gott, sondern Gott

Unterwerfung.

führt mich zu den Beweisen."

„Was hier geschehen, ist wunderbar.

Und mehr noch: es

ist das eine große unleugbare Wunder unseres Lebens.

Man

hüte sich, das zu verkehren und zu erweichen, etwa indem man

mit dem Begriff »Wunder' spielt und cs ansieht wie die sonstigen

Wunder der Seele.

Es ist nicht wunderbar wie jeder Umschwung

in unserer Seele, sondern cs ist Wunder im strengsten Sinne

des Wortes. Nichts ist nämlich dem Christen so gewiß als dies, daß nicht die Gründe menschlicher Überredung oder die Logik oder die einleuchtende Moral der gehörten Motte sein Herz ge­

wonnen hat, sondern daß Gott selbst es getan hat, indem der

Geist Gottes persönlich sein Herz berührt hat.

Alle Motte und

Begttffe, die er hörte, sind ihm zum Ausdruck der Gegenwart Gottes geworden, das persönliche Leben der Gottheit hat seine

Seele berührt, bewegt, unterworfen und gewonnen.

Der Mensch

hat in sinnlichen Lauten und menschlichen Bcgttffen das Wirken Gottes verspätt.

Dies aber, daß Gott im Natürlichen und Ir­

dischen selbst wirksam ist, ist das Wesen des Wunders."

bis 419.)

(S. 418

Was Seeberg damit gewonnen zu haben meint,

schildett er im Anschluß daran so: „Dies Wunder der Wiedcrgebutt und Bekehrung erleben, das heißt in die Sphäre des

Wunderbaren

eintreten

kraft

eigener

erlebter Erfahrung". —

„Zwei Gedanken haben wir nun gewonnen: Gott wirkt persönlich

auf meine Seele ein, aber dies geschieht nicht anders als durch

geschichtliche Begttffe, durch den Bettcht von einer Geschichte samt dem Urteil über sie.

Wer dieses Doppelten inne geworden ist.

54

Der Christ und daS Wunder

der hat offenbar eine ganz neue Stellung zu den Wundern

gewonnen.

Ich weiß deshalb natürlich noch nicht, ob alle Wun­

der, die berichtet werden, wirklich geschehen sind, aber ich weiß, daß Wunder geschehen.

Ich bin innerlich in die Verfassung

gekommen, die vor dem Wunder nicht erschrickt, sondern die es mir ermöglicht, ihm in Ruhe nachzudenken.

Wunder sind nicht

mehr a priori unmöglich, sondern ich weiß von wirklichen Wun­ dern mit der Sicherheit, die das eigene Erleben verleiht."

Diese Ausführungen haben im Unterschied von denen bei

Stange den Vorzug, daß das Wunder, in dem sich der Glaube

gegründet weiß, überhaupt in Betracht gezogen wird, während es bei Stange so scheinen kann, als ob es im Leben des Glau­

bens auf die Frage nach seinem Grunde gar nicht ankäme.

Bei

Stanges Ausführungen kann daher der Eindruck entstehen, als ob er den Glauben in der Wahrheit seiner Gedanken begründet dächte,

oder als ob er rationalistisch dächte.

Das ist bei Seeberg anders.

Eine erlebte Tatsache wunderbarer Art, ein Erlebnis, das er an der Überlieferung macht, erkennt er als den Grund seines Glaubens an den lebendigen auf ihn wirkenden Gott.

Daß ich darin mit

Seeberg übereinstimme, brauche ich nicht zu sagen.

Ich habe

schon zu einer Zeit, als Seeberg wohl noch Ritschls Vorlesungen

hörte, was mir leider nie beschieden war, in einer Marburger

Rede über das Thema „warum bedarf unser Glaube geschichtlicher

Tatsachen?" dasselbe ausgeführt. Wir Christen sehen in einer Tatsache, die wir durch geschichtliche Überlieferung gewinnen, den Grund unseres Glaubens.

Was Seeberg uns zu sagen hat,

wird uns überdies in der leichten, gefälligen Darstellung geboten, die wir bei ihm gewohnt sind.

Ob er nun aber dem Christen,

den die Wunderfrage beunruhigt, helfen kann, muß sich daran entscheiden, wie er das den Glauben begründende Erlebnis und,

was der Christ dadurch gewinne, beschreibt. Was die Überlieferung dem Menschen darbiete, behandelt er als ein Vielerlei von Begriffen.

Aus diesem den Menschen zu­

nächst fremd berührenden Material werde in einem Moment,

55

Der Christ und daS Wunder

dessen Vernlittelungen wir nicht kennen, plötzlich eine Einheit.

Es werde uns in diesem Moment das Wunderbare klar, daß

Gott zu uns in diesen Begriffen rede.

Gewiß, das den Glauben

begründende Erlebnis ist so beschaffen, daß wir es nicht auf etwas anderes zurückführen, sonst fänden wir ja darin eben nicht den Grund unseres Glaubens. Es ist auch richtig, daß wir

den zu uns redenden Gott darin zu vernehmen meinen.

Aber

das ist nicht richtig, daß wir Gott daraus vernehmen können, wenn wir ihn nicht suchen. Das Verständnis einer solchen be­

freienden Tatsache ist daher daran gebunden, daß man in dem inneren Vorgang steht, worin der Mensch, ohne schon der Offen­

barung Gottes sich bewußt zu sein, nach Gott verlangt. Wir verlangen nach Gott, wenn wir uns nach einem Herrn über

unsere Seele sehnen, also nach einer Macht, die uns dem vielerlei entreißt und uns die innere Einheit des wahrhaft Lebendigen gibt.

Finden wir das nicht, so bleiben wir innerlich ohne Kraft

und Leben.

Wir sind dann gottlos.

Für einen Menschen aber,

dem dieses innere Elend nicht zur Empfindung kommt, kann Gott

einfach deshalb nicht vernehmlich werden, weil das Vernehmen Gottes ja gerade das Zusammentreffen mit der Macht ist, die

uns dieser Not entnimmt.

Ein Wesen, das nicht die reine Ge­

walt über unsere Seele gewinnen könnte, wird doch kein Christ Gott nennen. Aber dann ist es ja auch klar, daß die Über­ lieferung dem in der christlichen Gemeinde erzogenen Menschen

schon dadurch aus einem Vielerlei eine Einheit wird, daß er nach dieser Macht über seine Seele fragt. Sie wird von vornherein daraufhin angesehen, ob sich aus dem, was sie uns bietet, das uns befreiende Wort Gottes zusammenfügt. Es bleibt dann vieles als für uns, zunächst wenigstens, be­ deutungslos zurück.

Nur das drängt sich daraus an den seiner

inneren Verworrenheit bewußt gewordenen Menschen heran, worin er etwas von der Macht, die ihn allein retten kann, verspürt. Das ist zuerst die Wahrnehmung, daß sich in der Bibel durch

Gott befreite Menschen auszusprechen scheinen.

Im Alten Testa-

Der Christ und daS Wunder

56

ment sind es Menschen, die aus allen Nöten immer wieder zu

freier Hingabe an den Gott befreit werden, der sich ihnen in der Geschichte ihres Volles und in den nur ihnen selbst bekannten Wundern ihrer Seele bezeugt.

Diese Frommen sind

den jetzt Gott suchenden Menschen eine Verheißung, daß auch ihnen aufgetan werde, wenn sie anllopfen wollen.

Aber wenn

wir den Weg der Propheten zu Gott gehen wollen, so müssen wir, wie sie, auf die Wirklichkeit hören wollen, in die wir selbst

gestellt sind.

Jedem Menschen aber, der in unserer geschichtlichen

Lage der Sehnsucht nach dem Gewaltigen folgt, dem allein er sich rein unterwerfen könnte, wird cs schließlich nicht verborgen

bleiben, daß ihm diese ihn rettende Macht in der Person Jesu erscheint.

Allen, die das jetzt noch nicht sehen können, muß ein

Christ sagen, daß ihnen die Wirklichkeit, in der sie stehen, noch verschleiert ist.

Er muß ihnen dazu helfen, daß sie Jesus in

der Kraft seines persönlichen Lebens sehen lernen, als die ein­

zige Erscheinung des Geistes, der kein Verttauen täuscht und der reines Vertrauen fordert.

Er ist die einzige Tatsache, die

Glauben fordern darf, weil er dem Menschen, der Gott sucht, sicherlich als eine zweifellose Tatsache aus der Überlieferung entgegenttitt, und weil er zweitens den Menschen, dem seine

wunderbare Größe aufgeht, im Innersten bezwingt.

Das Wort

Gottes, das uns wirklich als solches gewiß wird, weil es uns völlig niederwirft und

uns aus dem Nichts zu einem neuen

Leben ruft, ist schließlich er allein.

Zu uns, die wir heute

leben, in dem Strom der durch ihn eröffneten Geschichte stehen, hat Gott geredet durch den Sohn.

Ich bezweifle freilich nicht, daß es auch in der Gegenwart viele geben kann, die sich den Grund ihres Glaubens als ein solches Erlebnis vorstellen, wie Seeberg es beschreibt.

dieser Vorstellung

ist

Aber in

doch das Wichtigste verhüllt geblieben.

Ist denn das noch Glaube im Sinne des evangelischen Christen­ tums, was Seeberg beschreibt?

Das ist doch keine Unter­

werfung unter eine Tatsache, die ihr Recht, reine Unterwerfung

Der Christ und das Wunder

zu fordern, durch sich selbst an uns erweist.

57

So können wir

uns der Macht Jesu unterwerfen, weil wir ihn als eine solche

Tatsache selbst erfassen oder gegenwärtig erleben können.

Das

aber, worauf Seeberg uns verweist, ist nicht die Erscheinung Jesu, die uns ein eigenes Erlebnis werden kann, sondern eine

Lehre über ihn und Berichte über ihn, wie vor allem der Bericht von seiner Auferweckung. Die Lehre, daß uns in ihm Gott selbst erscheint, und solche Berichte über ihn sind für den Christen von unschätzbarem Wert.

Aber das den Glauben Begründende kann

darin deshalb nicht bestehen, weil dann der Glaube nicht reiner Gehorsam sein könnte. Es bliebe dann der Christenheit nur die eine Hälfte des Ganzen übrig.

Wir würden dann wohl fort­

fahren können, zu sagen, daß uns unser Glaube wunderbar ge­

geben sei. Aber unmöglich wäre es uns dann, denselben Glauben

zu erleben als eine freie, völlige Unterwerfung. Freilich spricht Seeberg in denselben Worten, die wir ge­ brauchen, von dem Vorgang der Offenbarung: „Gott unterwirft mich durch seine Offenbarung".

Aber darin wird er doch auch

mit uns übereinstimmen, daß man es nicht ernst und streng

genug mit einem solchen Worte nehmen kann.

Wann allein ist

es kein Mißbrauch des Namens Gottes, zu sagen, daß in dem,

was uns widerfährt, Gott unsere Seele sich unterwirft?

Wir

dürfen es nur dann sagen, wenn wir vor einer Erfahrung

stehen, die in uns selbst aus reiner Ehrfurcht völliges Vertrauen hervorgehen ließ. Dann allein können wir uns in uns selbst nichts mehr vorstellen, was ein Recht hätte, sich der Macht zu

entziehen, die uns dabei berührt.

Es hätte keine Wahrheit, es

wäre wirres Gerede, wenn wir eine andere Macht Gott nennen wollten. Suchen wir aber wirklich den Gott, der in uns selbst sich als allmächtig erweist, so sehen wir auch bald, daß nur

eine Macht uns vor diese Tatsache stellen kann.

Nichts anderes

kann einen Menschen so bezwingen als ein persönliches Leben, das durch seine Offenbarung ihn zu freier Hingabe bringt. Alle heidnische Religion ist von der, die wir in der heiligen Schrift sich

58

Der Christ und daS Wunder

emporkämpfen sehen, stark unterschieden.

Der Unterschied liegt

aber nicht etwa in dem, was Stange in den oben angeführten

Worten angab.

Nicht das also ist heidnische Art, daß man die

Wirklichkeit Gottes sich im Wunder erweisen sieht, und daß man damit die sonst unwillkürlich befolgte Vorstellung von dem Ge­ schehen in der Welt unterbricht.

Das ist vielmehr die Art alles

Glaubens an einen lebendigen Gott.

Aber dadurch wird heid­

nische Religion im Unterschied von der in der Bibel herrschenden charakterisiert, daß in ihr der Mensch irgend einer andern un­

bestimmten Macht tatsächlich unterworfen ist.

Die Gottesfurcht

der biblischen Frömmigkeit ist die Furcht vor dem Richter; an

andern Orten ist die Furcht vor Gott nicht sicher geschieden

von dem Grauen vor dem Verhängnis.

Die heidnische Religion

löst sich daher auf, wenn die Menschen die innere Selbständig­

keit gewinnen, die in der Einsicht besteht, daß sie nur da ganz unterworfen sein können, wo sie sich frei hingeben, also in dem

Gehorsam des Glaubens, d. h. des Vertrauens.

Diese sittliche

Erkenntnis, an der die heidnische Religion sterben muß, wird für die biblische Religion, die in der christlichen Gemeinde sich

vollenden soll, ein Weg zum Leben.

Denn durch sie allein

können wir in der Person Jesu Christi das Wunder anschauen,

das, wenn wir es erleben, unfern Glauben begründet, die reine Macht des persönlichen Lebens, die, indem sie uns überwindet, innere Selbständigkeit von uns fordert und uns schenkt. Soviel

ich sehen kann, muß uns dieses wahre, der christlichen Gemeinde

in Jesus Christus geschenkte Heil verloren gehen, wenn wir es doch wieder fertig bringen — um ein Wort von Schlatter

zu gebrauchen — unser Herz mit Herzlosem zu füllen. Deshalb

sollte

uns

die

Ausführung

Seebergs

deutlich

machen, wie sehr das in der Reformation wiedergewonnene reine

Verständnis des Glaubens in der Gegenwart gefährdet ist.

Diese

Auffassung von der Begründung des Glaubens sucht uns doch wohl in der inneren Situation festzuhalten, die dem katholischen

Christentum entspricht.

Denn ein Glaube, der nicht die Klarheit

59

Der Christ und das Wunder

des sittlichen Gehorsams hat, kann zwar sehr fest und mächtig

sein, aber ein Recht, wodurch er jedem Zweifel überlegen sein könnte, hat er nicht.

Er unterliegt dem Schicksal der heidnischen

Religion, die Kraft der sittlichen Erkenntnis muß ihn zerstören.

Was in unsern Kirchen „positiv" genannt zu werden pflegt, ist

immer in der Gefahr, in die heidnische Art der Frömmigkeit zu versinken.

Das tritt dann ein, wenn die Verehrung dessen für

Christen zur Hauptsache wird, worin sie selbst tatsächlich die

persönliche Macht, die sie allein als allmächtig denken können, gar nicht anschauen.

Es ist aber noch ein Zweites, worin die Darstellung Seebergs dem Wunder, auf dem der Glaube beruht, nicht gerecht wird.

Er beschreibt das Wunder einfach mit den Worten: „Dann

ist es geschehen."

Er meint also, als Christ sich bei der Frage

nach dem Grunde seines Glaubens schließlich ganz auf ein inneres

Erlebnis zurückziehen zu müssen.

Daß es sich um ein selbst­

erlebtes Wunder handelt, ist auch unsere Meinung.

Aber damit

ist doch noch nicht gesagt, daß wir als Grund unseres Glaubens

nichts anderes anzugeben vermöchten, als den wunderbaren Vor­ gang, daß plötzlich Begriffe, die uns bisher fremd waren, an­ fangen, unser inneres Eigentum zu werden.

Ist es auch richtig,

daß sich mit dem Erwachen des Glaubens in uns eine tiefe Umwandlung unserer Denkweise vollzieht, die uns in der Tat

bisher Unfaßliches faßbar macht, so wird doch mit dieser inneren Umwandlung der Grund des christlichen Glaubens keineswegs

vollständig bezeichnet.

Es gehört dazu die uns sichtbar gewordene

Tatsache, die wir als die wirkende Kraft des inneren Umschwungs von diesem und von uns selbst unterscheiden.

Ein Glaube, der

nicht imstande wäre, sich so seinen eigenen Grund zu objektivieren,

würde an einer inneren Haltlosigkeit leiden, die ihn wiederum als römische Art des Glaubens kennzeichnen würde. Darüber kommt der Christ nur hinaus, wenn er einen solchen Gehalt der Über­

lieferung kennt, der ihm eine selbsterlebte Tatsache geworden ist

und die volle Macht einer solchen Tatsache über ihn gewonnen

Der Christ und das Wunder

60 hat.

Dann erst kann der Glaube, wenn er zu vergehen droht,

an dem, worauf er seinen Ursprung zurückführte, eine Rettung finden.

In dieser Not würde doch ein Christ keinen Rat wissen,

wenn er wirklich, wie Seeberg sagt, in dem bloßen „Dann ist cs geschehen" eines inneren Erlebnisses den Ursprung seines Glau­

bens fixieren könnte.

Es kommt sehr viel darauf an, daß wir

als Christen imstande sind, den Grund unseres Glaubens von

unserem eigenen Erleben als eine objektive Macht zu unterscheiden, der wir uns in sittlichem Gehorsam unterworfen wissen.

Nicht

unsere innere Umwandlung selbst, sondern das Auftreten dieser Macht in unserm Leben ist das Wunder, das wir erleben müssen, wenn uns der Zugang in die Wunderwelt der Religion erschlossen

werden soll.

Endlich ist auch in dem, was diesen Theologen von der Be­ sinnung auf das Wunder zurückhält, das wir als eine von uns

erlebte Tatsache von uns selbst unterscheiden können, ein für die

katholische Frömmigkeit charakteristischer Zug zu erkennen. Die Sorge um die Rettung der Überlieferung überwiegt die Sorge um die Rettung der Seele.

Seeberg ist freilich imstande, zu sagen,

daß es sich ihm nicht um alle Züge der christlichen Urgeschichte handle, weil wir ja doch nicht wüßten, ob und inwiefern dieses

Einzelne Grund des Glaubens oder Offenbarung für Israel oder

die Jünger Jesu geworden sei.

Mit dieser Unterscheidung würde

er in der römischen Kirche verdächtig werden und nur bei den

Modernisten Platz finden. Aber es kommt ihm doch darauf an als auf das Wichtigste, daß diese Überlieferung als Ganzes Offen­ barung Gottes ist, daß die Tatsachen, aus denen der Glaube der Apostel hervorging, reale Tatsachen sind (S. 434).

Das ist nun

aber für uns jetzt lebende Menschen ganz und gar nicht das Wichtigste.

Was den Glauben der Apostel betrifft, so ist uns

zwar das eine deutlich, daß sie in dem täglichen Umgang mit

Jesus die innere Umwandlung erfuhren, sonst aber ist uns daran, wie Seeberg selbst in den eben angeführten Worten hervorhebt,

manches undeutlich.

Das Wichtigste aber ist uns nicht dieses

Der Christ und das Wunder

61

Vergangene, was für uns zum größten Teil im Schatten liegt, sondern die gegenwärtige Not und Erlösung unseres eigenen

Lebens.

Es ist daher unbegreiflich, wie ein evangelischer Christ

schreiben kann, daß unser Glaube, wenn er nach dem fragt,

was ihn selbst begründet, sich vor allem auf die Geschichte mit

ihren Heilstatsachen erstrecken müsse, die den Glauben der ersten

Jünger Christi hervorgebracht habe.

Es ist ebenso unbe­

greiflich, wenn er der Realität dieser Heilstatsachen dadurch ge­ wiß zu werden behauptet, daß ihm in jenem inneren Erlebnis die Begriffe, in denen der Glaube der Apostel sich ausspricht,

in wunderbarer Weise Wahrheit wurden (S. 433).

Ich sollte

meinen, es verstehe sich von selbst, daß nur das eine unser

Heil schaffende Tatsache für uns werden kann, und das wir uns darauf vor allem besinnen sollen, was mit der Wucht des zweifel­ los Wirklichen in unserm eigenen Leben steht, bevor uns voll­

ständig enthüllt ist, was es für unsere Erlösung bedeutet.

Das

gilt von der Erscheinung der Person Jesu, wie sie uns aus der Überlieferung entgegentreten kann. Dagegen gilt es nicht von irgendeiner Einzelheit, die über ihn berichtet ist. Kein Christ, der überhaupt angefangen hat, nach einem festen Grunde seiner Zuversicht zu Gott zu fragen, wird das ernstlich in

Abrede stellen können. Wenn also in einem Menschen das wirklich religiöse Bedürfnis erwacht ist, wird er durch das Reden von

Heilstatsachen, die uns berichtet seien, auch wenn er dem Bericht

noch so eifrig zustimmeil will, nur beunruhigt werden.

Denn es

wird dann, wenn er wirklich nach Gott verlangt, sofort besonders

lebhaft vor ihn treten, daß er ja diese berichteten Dinge, die Heilstatsachen genannt werden,

nicht

selbst erlebt.

Und der

Mensch kann doch, was ja auch Seeberg nicht bestreitet, den Gott, der ihn rettet, nur in einer ihm selbst zweifellosen Tatsache

finden, die wenigstens er selbst als einen Moment seines eigenen

Lebens vor sich hat, wenn er sie auch anderen nicht aufweisen kann. Steht uns das fest, so können wir in der biblischen Über­

lieferung nur das als eine Heilstatsache für uns selbst erfassen,

Der Christ und daS Wunder

62

was uns durch ihre Vermittlung ein eigenes Erlebnis wird. Und auch das dürfen wir nur dann Heilstatsache nennen, wenn uns darin die geistige Macht erscheint, die uns tatsäch­

lich ganz bezwingt.

Daß wir das an der heiligen Schrift auch

des Alten Testaments hundertfach erleben können, macht ihre Herrlichkeit aus. Aber wir erfahren auch, daß ein Mensch, in dem die Angst des Schuldgefühls erwacht ist, nur durch eins

von allem, was uns die heilige Schrift zu geben hat, bezwungen wird, durch die in der Person Jesu ihm erscheinende Gnade Gottes. Nichts von allem, was uns sonst in der Bibel erzählt

und gelehrt werden mag, kann uns dieses eine verschaffen, daß uns darin die Macht berührt und vernehmlich wird, der wir uns ganz unterworfen wissen können, die uns also das allein All­

mächtige wird.

Mögen wir also getrost von vielen Heilstat­

sachen sprechen, wenn wir nur daran festhalten, nichts anderes

Heilstatsache zu nennen, als ein in unser eigenes Leben ein­ greifendes Faktum, woran uns Gottes Wirken auf uns deutlich

und gewiß wird. Wir können daher unsere Auffassung nahezu, wenn auch

nicht ganz, mit den Worten aussprechen, in denen Seebcrg

schließlich den Laien ans Herz legt, wie sie sich in dieser Sache verhalten sollen.

„Sie sollen nicht grübeln über manche Frage,

die ihnen die Kritik aufgibt und die für sie unlösbar ist. Sie sollen sich auch nicht eigensinnig den Weg in Gottes Reich bei diesem oder jenem Wunder erzwingen wollen.

Eine Laientheo­

logie, wie sie dabei zu entstehen pflegt, ist selten stichhalttg, auch nicht für ihre Urheber. Möchten unsere Christen vielmehr auf­ richtig und einfältig ihr Herz der Liebe Gottes erschließen, wie

sie in dem Evangelium zu ihnen spricht. Wenn sie die erlösende und heiligende Macht dieser Liebe empfinden, dann" — hier würde ich nun fortfahren: dann werden sie in dem Wunder der Liebe Gottes leben und werden danach immer neue Wunder sehen

und Wunder tun. Seeberg dagegen fährt fort: „dann werden sich ihnen nach und nach die Fragen und Rüffel lösen, die die

63

Der Christ und daS Wunder

Offenbarung Gottes dem denkenden Geiste aufgibt."

„Wir leben

dann im Wunder der Liebe Gottes und wissen darum auch, daß dieses Wunderbare einen wunderbaren Anfang in der Geschichte

gehabt hat".

Und damit meint er, wir würden dann schon dessen

gewiß werden, daß

damals im allgemeinen wenigstens solche

Wunder geschehen sind, wie sie uns die heilige Schrift erzählt. Das eigentliche Ziel für Seeberg ist also, daß schließlich

eine positive Stellung zu erzählten Wundern gewonnen werde,

wie sie sonst nicht vorkommen.

Uns ist das eigentliche Ziel, daß

dem Menschen, dem die ihn rettende Liebe Gottes in Christus

erscheint, sein eigenes Leben immer mehr ein Wunder werde.

Es

Seeberg unser Ziel nicht ablehnt.

ist selbstverständlich, daß

Müssen wir denn das seine ablehnen?

Ich meine, nicht ganz,

und ich meine auch, daß er sich mit einer bedingten Zustimmung zu seinem Ziel begnügen kann, während wir die volle Zustim­

mung zu unserm Ziel verlangen müssen, weil es ja nichts an­ deres bedeutet, als das christliche Leben selbst. Daß wir sein Ziel

nicht gänzlich ablehnen, kann auch er verlangen, denn es bedeutet auch die Erhaltung und unverkürzte Darbietung der biblischen Überlieferung in ihren Hauptzügen an die christliche Gemeinde. Dazu aber wird sich in der Tat jeder verpflichtet fühlen, dem aus dieser Überlieferung, so wie sie ist, die ihn erlösende Macht Gottes ans Herz gegriffen hat.

Wir müssen die Tatsache ehren, daß

uns die Macht, der allein wir uns ganz unterworfen wissen

können, uns aus einer Geschichte offenbar wird, deren einzelne wunderbare Züge keine Gewalt mehr über uns haben, die, wie

Seeberg sagt, den Glauben nicht mehr tragen, sondern zu einer

Sorge für den Glauben werden.

Es ist auf jeden Fall Gottes

Wille, daß die Macht, die uns rettet, uns in der Verbindung mit diesen Dingen erscheint.

Deshalb dürfen auch wir sie nicht

gewalffam daraus lösen wollen, denn jeder derartige Versuch

birgt die Gefahr, daß wir etwas aufgeben, was irgendwie für Menschen zum Mittel der Offenbarung Gottes werden soll, und

vielleicht auch für uns selbst.

Der Christ und das Wunder

64

Aber mit der vollen Bereitschaft, der christlichen Gemeinde diese Überlieferung zu erhalten, müssen wir die strenge Forderung verbinden, daß der Gemeinde klargemacht werde, die Überlieferung habe erst da ein Recht, Unterwerfung zu fordern, wo sie tat­

sächlich einem Menschen zur Offenbarung der einen Macht wird, die er allein Gott nennen darf. Ein Glaube an die erzählten wunderbaren Ereignisse darf also nicht gefordert werden, wie es Sceberg doch schließlich tut. Eine solche Vergewaltigung läßt

er sich zuschulden kommen, wenn er behauptet, ein Mensch, der an der Überlieferung das Wunder einer inneren Umwandelung erlebt, sehe sich dadurch auch genötigt, wenigstens einen Teil der

darin erzählten von dem sonstigen sinnlich faßbaren Geschehen abweichenden Vorgänge als wirkliche Ereignisse anzusehen.

Eine

solche Behauptung bedeutet einen Zwang, der das gerade Gegen­ teil der Gewalt Gottes ist, die uns zu freier Hingabe bringt. Daß es Seeberg und vielen andern so geht, die ihm zustimmen

mögen, wollen wir natürlich nicht bestreiten, denn das können sie allein wissen.

Aber das müssen wir ablehnen, daß man das

der christlichen Gemeinde als etwas Allgemeingültiges hinstellt.

Es ist tatsächlich so, daß in unserer Zeit zahllose Christen einen

solchen Zusammenhang nicht verstehen können zwischen der An­ erkennung uralter Berichte und dem

religiösen Erlebnis des

Wunders, daß sie in dem Wirklichen eine Macht antreffen, die

sie ganz zu überwinden vermag.

Dieses religiöse Erlebnis allein

trägt für unser Bewußtsein den Charakter des völlig Wunder­ baren.

Christen können einander nur dann in christlicher Er­

kenntnis fördern, wenn sie das Eine sich klar zu machen suchen, die innere Umwandlung, die die Macht der Person Jesu an

ihnen bewirkt. Aber Seeberg hat nicht einmal versucht, es verständlich zu machen, wie die Erfahrung der uns völlig be­

zwingenden Macht an dem von uns selbst erfaßten Faktum der Person Jesu sich in der Anerkennung fortsetzen soll, daß uns

erzählte, von allem sonstigen Geschehen abweichende Vorgänge sich wirklich ereignet haben.

Der Christ und daS Wunder

65

Trotzdem ist in dem Unternehmen von Seeberg etwas, was der christlichen Gemeinde angehört. Denn es ist die Sorge um den Schutz der heiligen Überlieferung, die ihn zu seinen Behauptungen treibt.

Aber der nötige Schutz der Überlieferung

liegt einfach in dem, was sie uns erleben läßt.

Er ist darin

gegeben, daß wir in der Verflechtung des Bildes

Jesu mit

solchen Erzählungen den Willen Gottes ehren, sobald die uns

offenbar gewordene Tatsache der Person Jesu uns die Offen­ barung Gottes geworden ist. Wer das wirklich erfahren hat, wird nichts von der Überlieferung missen oder geringachten

wollen, die es ihm vermittelt hat. So schützt der Glaube selbst die Überlieferung, durch deren Kräfte er geschaffen ist. Wie man

so sich zu der Überlieferung stellen kann, die der historischen Kritik ausgeliefert ist, bleibt dem nicht durch ihre Segenssttöme

gehobenen Menschen auch völlig unverständlich. Aber dem Gläu­ bigen wenigstens ist das verständlich.

Und das muß man von

einer in der christlichen Gemeinde laut werdenden Rede verlangen.

Eine theologische Behauptung, die das nicht leisten kann, daß sie religiös verständlich wird, trägt den Charakter des Zungen­ redens, dem wir auch die subjektive Wahrhaftigkeit nicht absprechen wollen, dem wir es aber verwehren müssen, sich der Gemeinde

aufzudrängen.

Dieser Versuch also, die Auffassung der erzählten Wunder als wirkliche Vorgänge auf den Glauben zurückzuführen, ist als gescheitert anzusehen.

Er würde wahrscheinlich gar nicht unter­

nommen werden, wenn man sich das Hindernis nicht immer

wieder verbergen wollte, das einer solchen Auffassung in unserer Zeit entgegensteht.

Wir sagen uns alle, auch Seeberg sagt

sich das, daß wir, wenn vor unsern Augen sich ein höchst un­ gewöhnlicher Vorgang zu ereignen scheint, keineswegs bereit sind,

ihn ein Wunder zu nennen.

Wir reden dann nicht von einem

Wunder, sondern von einem interessanten Problem für die wissen­ schaftliche Forschung.

Das kommt natürlich daher, daß wir jeden

Vorgang, den wir als nachweisbar wirflich ansehcn, auch bereits Herrmann, Offenbarung und Wunder.

6

66

Der Thrift und daS Wunder

als mit seiner Umgebung verknüpft denken, oder als gesetzmäßig.

Deshalb wird es auch der römischen Kirche immer schwieriger, die Wunder, die sie in der Gegenwart registrieren möchte, fest­ zustellen. Wenn sie Ärzte zu diesem Zweck aufbietet, so macht

sie sich dadurch nicht nur lächerlich, sie setzt damit auch höher gebildete Christen in Verlegenheit.

Denn auf solche Christen

macht das Ganze leicht den Eindruck der Unehrlichkeit.

Man

kann sich der Vorstellung kaum erwehren, daß doch die Leiter solcher kirchlichen Bemühungen selbst die nötige Klarheit des Bewußtseins haben, um bei jedem als nachweisbar wirllich vor­

gestellten Vorgang seine Gesetzmäßigkeit mitzudenken.

Für sie

selbst würde also die Sache eine Schauspielerei sein, mit der sie

fteilich auf das arme Volk großen Eindruck machen, bis auch

diese Köpfe bemerken, daß ja das als nachweisbar wirklich vor­ gestellte Ereignis von denselben Menschen auch als gesetzmäßig gedacht wird.

Natürlich überträgt sich aber diese unabweisbare

Auffassung auch auf alles, was uns als vergangenes Ereignis erzählt ist.

Wir sagen uns unwillkürlich, wenn diese Dinge so

als wirklich gesehen werden konnten, wie es überliefert ist, so waren sie auch gesetzmäßig, der religiöse Begriff des Wunders

würde sich also auf sie gar nicht anwenden lassen.

Dann gilt

aber von allem, was uns an äußeren Vorgängen aus dem ge­

schichtlichen Leben Jesu erzählt wird, dasselbe, was Seeberg

bei jedem sonstigen historischen Bericht in der Bibel zugibt, daß nämlich der Glaube selbst oder die von ihm erlebte Offenbarung

Gottes keinen Menschen dazu bringen kann, den Inhalt solcher Berichte als wirklich so geschehen anzusehen.

Nur dazu nötigt

uns unser Glaube, daß wir in der von der christlichen Gemeinde bewahrten Überlieferung beständig nach den Spuren des Wunders suchen, durch das sich dieser Glaube geschaffen weiß. Daß dazu nötig sei, von dem Inhalt dieser Überlieferung irgend etwas,

was uns nicht eigenes Erlebnis geworden ist, als vor Zeiten so geschehen, anzusehen, ist eine Behauptung, die nicht imstande ist,

ihr Recht religiös verständlich zu machen.

Will man sie kirchlich

Der Christ und daS Wunder

67

und „positiv" nennen, so ist sie doch nicht christlich.

Und jeder,

der Gott mehr gehorchen will als den Menschen wird sie schließ­

lich ablehnen. Deshalb müssen wir, wenn wir evangelische Christen bleiben

wollen, in bezug

auf

die in der Heiligen Schrift erzählten

wunderbaren Vorgänge folgendes verlangen.

Sie müssen erstens

ohne Abzug und ohne historische Kritik mitgeteilt werden, wenn sie zu dem Rahmen gehören, in den die Überlieferung uns das

Bild Jesu gestellt hat.

Denn wir müssen daran denken, daß sie

jedem Christen einmal ein Mittel werden können, ihn das erleben

zu lassen, was ihn erlöst, die in der Person Jesu erscheinende Macht des einen, was die volle Macht über unsere Seele gewinnt. Wir müssen zweitens es geschehen lassen, daß alle, die von

dem religiösen Grunderlebnis so reden können, wie cs See berg

tut, das vor der Gemeinde aussprechen und den Versuch machen,

auf solche Weise den inneren Vorgang, an dem das Heil jedes Menschen hängt, verständlich zu machen.

Müssen wir auch nach

der obigen Darlegung darin einen noch nicht überwundenen Rest

heidnischer Frömmigkeit sehen, so hat doch niemand in der Ge­ meinde ein Recht, andere Christen zu vergewaltigen, die von sich

selbst aus diese innere Nötigung zur Verehrung des Unpersön­ lichen noch nicht überwunden haben.

Wir müssen aber drittens fordern, daß in einer evangelischen Kirche alle Mitteilungen aus der biblischen Überlieferung den

Charatter des Evangeliums erhalten.

Das geschieht aber nur

dann, wenn sie nicht zu einem Gesetz gemacht werden, das nur gebietet und nicht überzeugt. Es muß also der Gemeinde dringend

ans Herz gelegt werden, daß sich jeder Mensch in großer Gefahr befindet, der sich einbildet, er solle sich selbst vornehmen, den In­ halt dieser Erzählungen als wirkliche Ereignisse anzusehen.

Er

hat sie immer nur anzusehen als ihm gegebene Mittel zum Heil.

Und das bleiben sie ihm nur, wenn er sich gar nicht mit der Frage, ob das alles so geschehen ist, plagt, sondern immer nur das im Auge hat, wie ihm die eine Macht fühlbar werde, die

5*

Drr Christ und da- Wunder.

68

durch die volle Gewalt über ihn selbst sich als die Macht Gottes erweist. Sobald die Kirche sich so zu diesen Bestandteilen der Überlieferung stellte, wie es religiöser Gehorsam zur Pflicht macht, würde sie mit Freude bemerken, wie viele von denen, die um des Gewissens willen einem Gesetz der Überlieferung nicht

gehorchen können, an den Wundererzählungen Freude haben, weil sie ihnen so, wie sie sind, Spuren der Herrlichkeit des

Herrn aufleuchten lassen.

Durch das Zusammensein mit solchen

Christen würden sicherlich diejenigen nicht gestört werden, denen es natürlich erscheint, in dem ganzen Inhalt der Wunderberichte

wirkliche Ereignisse zu sehen.

Ein Recht, daß die andern um

ihretwillen vergewaltigt werden, können sie nicht beanspruchen, Sie haben sich darein zu fügen, daß

wenn sie Christen sind.

es viele Christen gibt, denen eine solche Zustimmung zu den In dieser Tatsache aber liegt

Wunderberichten nicht gegeben ist.

für alle in der Gemeinde der Hinweis darauf, daß ihre innere

Einheit und ihr Abschluß nach außen nicht in jener Zustimmung

begründet sein kann. kann

aber

nicht

Die Fähigkeit dazu ist individuell bedingt,

als

das

in der Gemeinde Allgemeingültige

religiös verständlich gemacht werden.

Daraus folgt, daß

in einer christlichen Gemeinde neben der Forderung, die bib­ lische Überlieferung als das Ausdrucksmittel des Evangeliums

zu gebrauchen und zu ehren,

nichts

anderes

allgemein

als

gültig behandelt werden darf als in erster Linie die immer rege Frage nach der Macht, der wir uns ganz unterworfen wissen könnten, in zweiter Linie die Erfahrung, daß uns diese Macht nirgends so begegnet, wie in der aus der Über­

lieferung

uns

dem Wunder,

und Reinheit opfern,

die

offenbar

daß

gewordenen

Person

sich mit der Vollendung

der Wille verbindet, sich

durch

sie

gerichtet

noch einen Vorschlag knüpfen.

sind.

für

Jesu,

also

sittlicher

in

Kraft

die Sünder

zu

möchte

ich

Hieran

Wir wollen in der Theologie

wenigstens die Unterscheidung von „Positiv und Liberal" fallen

lassen, die für regierende Juristen, falls sie von evangelischem

Der Christ und daS Wunder

69

Christentum nichts verstehen, und für Zentrumsleute naturgemäß sein mag, für evangelische Theologen aber deshalb unbrauchbar

ist, weil sie das gar nicht zum Ausdruck bringt, woran sich für einen Christen die Geister scheiden und ein höchst notwendiger

Kampf entstehen soll.

Dagegen möchte ich alle evangelischen

Christen um die ernsteste Beachtung des Gegensatzes bitten, der

sich zwischen Seeberg und nur hcrausgestellt hat.

Wir sehen

beide den Grund des Christenstandes nicht in einem erzählten,

sondern in einem selbsterlebten Wunder.

See berg aber sieht

dieses entscheidende Erlebnis darin, daß einem Menschen plötzlich

Erzählungen von äußeren Vorgängen, die ihm bisher unglaub­ lich waren, zu einem Ausdruck wirklicher Ereignisse werden.

Ich

bestreite nun nicht, daß es einem Menschen, der ein Christ wird, so gehen kann.

Aber ich bestreite, daß das das eigentlich Ent­

scheidende ist, das ihn zu einem Christen macht. Das Ent­ scheidende ist vielmehr, daß er aus dieser selben Überlieferung Gott vernimmt.

Seeberg stellt das auch gar nicht in Abrede.

Aber trotzdem tritt

an

diesem Punkte der Gegensatz hervor.

Ich meine, wir müssen mit äußerster Strenge fordern, daß der Christ nicht bei dem Glaublichwerden einzelner Berichte als bei der Hauptsache verweilen darf.

Er hat sich vielmehr mit ganzer

Seele auf das allein zu werfen, worin eben ihm tatsächlich die Macht erscheint, die ihn im Innersten bezwingt.

Meint ein

Mensch, dieser Macht in dem Mirakel zu begegnen, so ist er

allerdings — das ist das Richtige in Stanges oben behan­

delten Ausführungen — ein Heide und kein Christ. Ich bin der festen Überzeugung, daß schließlich doch die beiden ausge­ zeichneten Theologen sich darin mit mir einig finden müssen,

daß die Macht, der allein wir uns ganz unterworfen wissen können, uns in voller Klarheit in dem von uns selbst erlebten

Wunder der Gewalt der Person Jesu über unser Leben erscheint. Daß wir in dem Gehorsam gegen diese aus der heiligen Über­ lieferung uns entgegentretende geistige Macht wahrhaft freie, ernste Menschen werden, wissen wir alle.

Drr Christ und das Wunder

70

Dagegen scheint mir, daß wir kein gutes Gewissen bei der

Behauptung haben könnten, daß daS Glaublichwerden irgend­ einer Summe einzelner Berichte über Jesus einen Menschen zu

einem Christen machte. Bei einer solchen Behauptung müßte uns

Eines schwer auf das Gewissen fallen.

Wir können doch nicht

leugnen, daß wir Christen nur werden, wenn Gottes Reich zu uns kommt.

Und das geschieht doch wohl nur, wenn wir der

von uns erfahrenen Macht Gottes uns ganz und gar unter­ worfen wissen, so daß wir in der Freude an ihr und ihrem Sieg alle unsere Sorgen loswerden.

Deshalb muß ich den

Versuch Seebergs, das Glaublichwerden einzelner Berichte über

Jesus als das Grunderlebnis des Christenstandes hinzustellen, für ein Unternehmen erklären, das in einer evangelischen Kirche

unkirchlich ist und nur wegen der darin waltenden guten Absicht ertragen werden kann.

Ich

hoffe aber, daß Seeberg selbst

davon loskommcn wird, weil er in der Hauptsache doch das Richtige sieht, und von den Gesetzeslehrern in unserer Kirche

sich geschieden hat. Viertens müssen wir verlangen, daß in unserer Kirche die Versuche, den Gedanken des Wunders, der wirklich zum Glauben

gehört, abzuschwächen, bekämpft werden.

Zu diesen Versuchen

müssen wir das Unternehmen rechnen, an dem Wundergedanken

seine Kollision mit dem Gedanken der Natur in Abrede zu stellen.

Wer das Wunder erlebt, wird aus diesem Erleben die Denn der Wundergedanke ist nichts anderes

Kollision sehen.

als der Ausdruck der Zuversicht, daß ein in der Welt lebendes Wesen dadurch, daß es sich in der jedem andern unzugänglichen

Stille von Gott ergriffen weiß, wahrhaft lebendig geworden ist,

was es in der dem allgemeingültigen Erkennen faßbaren Natur

schlechterdings

nicht geben

kann.

Wenn uns das, was der

Glaube ein Wunder nennt, nämlich das Wirken der speziellen Fürsorge Gottes auf uns selbst, gewiß ist, so haben wir eine

Wirklichkeit vor Augen, die sich in Naturbegriffen überhaupt nicht fassen läßt.

In diesem Sinne, also in viel strengerem

Der Thrift und das Wunder

71

Sinne, als es die Scholastiker und ihr protestantisches Gefolge je gedacht haben, gilt für uns das supra et contra naturam.

Sie verstanden unter dem Wunder ein Ereignis, das auch ein Mensch wahrnehmen könne, der das Übernatürliche noch nicht zu fassen vermag, also ein Ereignis, das durch­

aus die Art des Naturvorgangs hat, wenn es auch den Men­ schen etwas sehen läßt, was ihm bisher in der Natur noch

nicht begegnet ist. Daß ein solches Ereignis supra et contra naturam sei, wird von diesen Wundergläubigen zwar behauptet, aber doch in Wahrheit nicht gedacht.

Wir tun das wenigstens

insofern, als wir unter dem Wunder ein Ereignis verstehen, das uns innerhalb der Natur existierende Wesen berührt, aber

für keinen Menschen wirklich sein kann, der noch nichts anderes

zu fassen vermag als Natur. Für uns ist das Wunder ein Ereignis, worin wir die Macht des Gottes walten sehen, für den dieselbe Natur ein ihm unterworfenes Ganzes sein muß, die

für unser Bewußtsein eine unermeßliche aber gesetzmäßig ge­

ordnete Vielheit bleibt. Wo wirklicher Glaube an den lebendigen Gott entsteht,

wird der Mensch Wunder erleben und Wunder tun.

Und wo

ein Mensch durch das Wort der Schrift zu Christus selbst ge­

führt ist, wird er in den Wundererzählungen der Bibel Gaben Gottes ehren, in denen für ihn und andere ein Segen verborgen

ist, den er nicht verderben darf.

Das sei uns genug.

-----------------------

Druck von C. G. Röder G. m. b. H., Leipzig.